Das Erlebnis und die Dichtung: Lessing - Goethe - Novalis - Hölderlin 9783666303289, 3525303289, 9783525303283


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Das Erlebnis und die Dichtung: Lessing - Goethe - Novalis - Hölderlin
 9783666303289, 3525303289, 9783525303283

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WILHELM DILTHEY p GESAMMELTE SCHRIFTEN XXVI. BAND

WILHELM DILTHEY GESAMMELTE SCHRIFTEN Von Band XVIII an besorgt von Karlfried GrÝnder und Frithjof Rodi

XXVI. Band

% VANDENHOECK & RUPRECHT IN G³TTINGEN

DAS ERLEBNIS UND DIE DICHTUNG LESSING · GOETHE NOVALIS · H³LDERLIN

Herausgegeben von Gabriele Malsch

% VANDENHOECK & RUPRECHT IN G³TTINGEN

Dieser Ausgabe liegt der Text der dritten erweiterten Auflage von (1910) zugrunde.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Ýber abrufbar. ISBN 3–525-30328-9

 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GÚttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschÝtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÈllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dÝrfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages Úffentlich zugÈnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fÝr Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co., GÚttingen Gedruckt auf alterungsbestÈndigem Papier.

DEM ANDENKEN VON HERMANN USENER

Vorwort zur ersten Auflage.

Einige junge Freunde wÝnschten eine Sammlung meiner AufsÈtze und erboten sich, bei dieser Arbeit mich zu unterstÝtzen. Die vorliegende Sammlung ist Herrn Privatdozenten Dr. Menzer fÝr den Lessing, der Dozentin FrÈulein Dr. Tumarkin fÝr den Goethe, Herrn Dr. Frischeisen-Ko¨hler fÝr den Novalis, fÝr das Ganze aber Herrn Privatdozenten Dr. Misch dankbarst verpflichtet. Ich habe drei AufsÈtze ausgewÈhlt, die einen inneren Zusammenhang bilden, und um denselben zu vervollstÈndigen den Aufsatz Ýber HÚlderlin neu hinzugefÝgt. In bezug auf diesen Zusammenhang, den der Titel sehr unzureichend andeutet, verweise ich auf die AusfÝhrungen des Aufsatzes Ýber Goethe und die dichterische Phantasie. Àber VerÈnderungen und ZusÈtze, welche der erste und der zweite Aufsatz erfahren haben, geben die Anmerkungen Auskunft. Dort finden sich auch Auseinandersetzungen mit EinwÈnden, die gegen meine Aufstellungen erhoben worden sind. Ich gedachte diese Sammlung meinem Bruder und meinem Schwager Hermann Usener zu widmen, als ein Andenken an unsere geistige Gemeinschaft seit den schÚnen Jahren her, in denen die beiden ersten AufsÈtze entstanden. Ich kann sie jetzt nur dem Freund meiner Jugend auf das frische Grab legen zu den andern Zeichen unauslÚschlicher Liebe und bewundernder Verehrung. Berlin, 23. November 1905. Wilhelm Dilthey.

Zur zweiten und dritten Auflage.

In der zweiten Auflage ist die Darstellung des Lebenswerkes von Lessing durch mehrere ErgÈnzungen, deren wichtigste und umfangreichste Nathan den Weisen betrifft, vervollstÈndigt worden. Der dritten Auflage ist eine Einleitung Ýber den Gang der neueren europÈischen Literatur vorausgeschickt. Durch sie wird nun auch die Stelle genauer bestimmt, welche die vier behandelten Dichter in dieser Entwicklung einnehmen. An die Einleitung schließen sich ZusÈtze zum Aufsatz Ýber Goethe, die dessen Bedeutung fÝr die Weltliteratur behandeln. Im September 1910. Wilhelm Dilthey.

INHALTSVERZEICHNIS.

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GANG DER NEUEREN EUROP•ISCHEN LITERATUR GOTTHOLD EPHRAIM LESSING . . . . . . . I. Bildungsjahre . . . . . . . . . . . . . . II. •sthetische Theorie und schÚpferische Kritik III. Das neue Drama Lessings . . . . . . . . IV. Der Kampf mit der Theologie . . . . . . V. Die Weltanschauung Lessings . . . . . . .

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GOETHE UND DIE DICHTERISCHE PHANTASIE Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dichterische Phantasie . . . . . . . . . . . . . . Die dichterische Phantasie Goethes . . . . . . . . Erlebnis und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . Shakespeare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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NOVALIS . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Jugendzeiten (1772-1797) . . . . . . 2. Neue Entwickelungen (1797-1799) . 3. Ausbildung seiner Weltanschauung . . 4. HÚhe dichterischen Schaffens und Tod

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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FRIEDRICH H³LDERLIN . . . . . . . . . . . . Heimat und erste poetische Spiele . . . . . . . . Jugendjahre. Hymnen an die Ideale der Menschheit Reife des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empedokles . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die dichterische Arbeit jeder Zeit ist von der frÝherer Epochen bedingt; Èltere Vorbilder wirken; das verschiedene Genie der Nationen, die GegensÈtzlichkeit der Richtungen und die Mannigfaltigkeit der Talente machen sich geltend: in einem gewissen Sinne ist in jeder Zeit die ganze FÝlle der Poesie vorhanden. Dennoch zeigt die Literatur der neueren VÚlker eine gemeinsame Entwicklung, die in typischen Stufen verlÈuft. Ich gehe derselben nach, um die geschichtliche Stelle zu bestimmen, an welcher im Verlauf der europÈischen Poesie die deutschen Dichter, die ich hier darstelle, eingetreten sind. Wir finden die Poesie zuerst bestimmt von dem Gemeingeist kleinerer politisch-militÈrischer Gemeinschaften. Sie drÝckte in der Lyrik den Geist dieser Gesellschaft aus. Aus Mythos, Heldenleben und historischer Sage derselben schÚpfte sie die Motive ihrer urwÝchsigen Epik. Und sie verkÚrperte deren Ideale in typischen Handlungen und Charakteren. Die Phantasie war gebunden durch eine seelische Gemeinsamkeit, aus der heraus der einzelne sprach, dachte, handelte und dichtete. Die Kultur nahm nun zu; zusammengesetztere Staatswesen entstanden; die christlichen Ideen und die antike Bildung wurden unter der Herrschaft der Kirche zusammengenommen; die poetischen Stoffe wanderten von Volk zu Volk, und aus dem Altertum wirkten dessen Kunstformen herÝber. Der intensiven Ausbildung des christlichen Ideals der Entsagung gegenÝber entwickelte sich das weltliche Leben und machte seine SelbstÈndigkeit geltend. So entstand nun die definitive Zusammenfassung der ganzen bisherigen Entwicklung in der ritterlichen Lyrik und Epik und dem nationalen Epos. In der franzÚsischen ErzÈhlungskunst, dem Parzival Wolframs, dem Nibelungenlied und Dantes gÚttlicher KomÚdie wurde die mittelalterliche Welt sich selber gegenstÈndlich; derselbe allgemeine Geist, der sich in dieser Welt objektiviert hatte, faßte sie nun in der Form der Epik auf. Wie die Phantasie, welche die Stoffe der Epen geschaffen hatte, so war auch die, welche ihnen nun ihre letzte Gestalt gab, gebunden. Sie war von dem Geist beherrscht, der die Gesellschaft erfÝllte, die feudalen politischen Ordnungen durchdrang und in den kirchlichen Glaubenslehren sich Èußerte, und selbst in der Opposition

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gegen die kirchlichen Ideale blieb sie eben durch diesen Gegensatz bedingt. Der Mensch hat sich noch nicht in persÚnlicher und geschichtlicher Selbstbesinnung Ýber seine historische Lage erhoben. Er haftet am Gegebenen, und dessen geographischer und historischer Horizont schrÈnkt ihn ein. Die Phantasie schafft typisch und konventionell. Und die gegenstÈndliche Hingabe an die Breite des Lebens findet immer noch ihre Form im Epos. Von der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts bis zu der des siebzehnten reicht die Epoche der großen Phantasiekunst. Wie in ihr durch das Zusammenwirken der einzelnen KÝnste die Vertiefung in weltliches Innenleben, die Entdeckung von Bedeutung und SchÚnheit in Natur und Leben sich vollzog, ist oft dargestellt worden, nur daß die Stellung der Musik in diesem Vorgang nicht gewÝrdigt worden ist. In diesem Zusammenhang entstand die Dichtung von Petrarca, Lope, Cervantes und Shakespeare. Es war fÝr die Macht der Phantasie in ihr von der hÚchsten Bedeutung, wie Musik und Malerei auf sie wirkten. Sie begann nach der ZerstÚrung des theologischen Systems, das Himmel und Erde mit seinem Gespinst erdichteter Formen und Substanzen umspannt hatte – in dessen Netz auch Dante noch gefangen war, und sie endigte, als von Galilei und Kepler ab die moderne Naturwissenschaft und Philosophie mit ihrer neuen Ordnung von Begriffen zwischen Wirklichkeit und Poesie trat. So suchte diese Dichtung nicht mehr im Himmelreich die Bedeutung des Lebens, und sie war noch nicht durch die GewÚhnungen des wissenschaftlichen Denkens fest verankert im ursÈchlichen Zusammenhang der Wirklichkeit. Aus den LebensbezÝgen selber, aus der Lebenserfahrung, die in ihnen entsteht, unternahm sie einen Bedeutungszusammenhang aufzubauen, in dem man den Rhythmus und die Melodie des Lebens vernÈhme. Das Leben selbst, das von diesem neuen Standpunkt aus gesehen wurde, war in seinem Reichtum und in seiner Kraft gewachsen. In den italienischen Republiken wurde das zuerst gefÝhlt, aber erst in den großen Monarchien von Spanien, England und Frankreich war der freieste Spielraum fÝr die Entfaltung starker PersÚnlichkeiten, kraftvollen Denkens, ungestÝmer und starker Handlungen. Das nationale MachtgefÝhl steigerte alle LebensÈußerungen. In einer glÈnzenden aristokratisch-monarchischen Gesellschaft entwickelte sich die Kunst, sich darzustellen, Herrschaft zu gewinnen, individuelles Dasein zu verstehen, und in den HauptstÈdten konzentrierte sich die Kultur, die Arbeit und das Verlangen nach starker Lebensfreude. So drÈngte das Leben selbst zum Drama. Unter diesen UmstÈnden gestaltete nun die dichterische Phantasie ihre Welt nach einem neuen inneren Gesetz. In der Literatur machte sich ein Typus unabhÈngiger, von den historischen UmstÈnden nicht mehr gebundener Menschen geltend. Ein unendlicher Horizont umgab sie. Die Dichter mußten mit

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einem starken Leben wetteifern, um es durch noch stÈrkere Wirkungen zu Ýberbieten. Und die Renaissance der alten Literatur entwickelte ihre Formensprache. So entstand von Italien aus der neue große Stil, der die FÝlle des Lebens, die Mannigfaltigkeit der Welt und ihre neuverstandene SchÚnheit auszusprechen strebt – in einer Musik der Sprache, die auch auf die Prosa sich erstreckte, und in einer selbstÈndigen Stimmung und malerischen Gestaltung der Szenen, die Ariosto, Tasso, Camoens und Cervantes gemeinsam ist. In der Komposition wird der Kausalzusammenhang der Geschehnisse, das feste RÝckgrat der spÈteren Dichtung, verunklÈrt zugunsten der hÚheren Gesetze, die aus der Freiheit der Phantasie stammen. Und in diesem Ganzen erhÈlt nun der Mensch eine neue Stellung. Indem seine Beziehung zu einer festen transszendenten Ordnung und dem metaphysischen Reich der Ýbersinnlichen Substanzen zurÝcktritt und die Beziehung zum komplizierten Zusammenhang der Natur und der Gesellschaft, wie die spÈtere Ausbildung der Wissenschaft sie erfaßte, noch nicht klar hervorgetreten ist, erhÈlt so das Individuum ein direktes VerhÈltnis zur gÚttlichen Kraft. Aus ihrer schaffenden Tiefe scheinen die persÚnlichen Energien unmittelbar hervorzutreten, und uneingeschrÈnkt von den bindenden VerhÈltnissen des Daseins durchlaufen sie ihren Weg, quer durch das Leben, nach dem Gesetz ihres Wesens. Alles Licht fÈllt in dieser Dichtung auf die Lebenswerte der Personen und den Sinn des StÝckes Welt, das sie umfaßt, sie erleuchtet die Lebenswerte durch Verwandtschaft und Kontrast und den sinnvollen Lebensbezug, unter dem die Handlung erfaßt wird, durch Parallelaktionen. Aus dem Gegensatz, der die Gesellschaft dieser Zeit in eine aristokratische und eine niedere teilt, erhebt sich in Drama und Roman die Nebeneinanderordnung einer Welt vornehmer Daseinsfreude und LebensstÈrke und einer unteren, massiven, die nur durch den Humor dichterisch gestaltet werden kann. Und aus den Tiefen des Lebens ragen in diese Menschenwelt Schatten der Abgeschiedenen, Magie und Zauber, Elfen und Spuk. Wo eine Existenz ist, fÝhlt dies Zeitalter eine seelische Kraft in ihr. Und aus dem Zusammenhang der Dinge erklingt eine unsichtbare Harmonie und umgibt alles. Der bunte Wechsel der Szenen und der Stimmungen wird von dieser romantischen Phantasie zu einer musikalischen Einheit von ganz neuer Art zusammengenommen. Zeit und Raum selbst, dieses feste GerÝst der Wirklichkeit, werden nach den Bedeutungsbeziehungen des Lebens behandelt. Die Lyrik Dantes und Petrarcas war der Ausdruck der neuen weltlichen Innerlichkeit. Die Naturlaute des GefÝhls wurden hier in die SphÈre einer vornehmen, getragenen, kÝnstlerisch beherrschten Stimmungseinheit erhoben. So entstanden unter dem Einfluß der weichen vollklingenden italienischen Sprache die neuen Formen der Lyrik. Eine musikalische Gesetzlichkeit der Form verbreitete sich von hier Ýber alle dichterischen Gattungen. Die Freude an der

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SchÚnheit der Verse und die Freiheit der Einbildungskraft waren die gemeinsame Grundlage der epischen Kunst von Ariosto, Tasso und Camoens. Ariosto verwandelte die mÈchtigen RealitÈten des heroischen Epos in ein heiteres Spiel der souverÈnen Phantasie. Der logische Zusammenhang der Geschehnisse tritt zurÝck hinter die Abstimmung der Farben, hinter die Kraft der einzelnen Szenen und die Darstellung der FÝlle und Heiterkeit des Lebens. Seine Personen kommen irgendwoher aus einer romantischen Wildnis, sie behaupten ihren Platz durch ihre Bedeutung in der Mannigfaltigkeit des Daseins, und sie stehen ganz malerisch da wie Figuren der gleichzeitigen Hochrenaissance. Und wenn nun Tasso und Camoens mit den Kunstmitteln der Zeit noch einmal das heroische Epos des Vergil erneuerten, wenn sie hierzu Zauber, Feen, Ýberirdische KrÈfte, allegorische Gottheiten, Patriotismus, Abenteuerlust und ReligiositÈt und den Klang der Verse aufboten: der Geist der Zeit konnte sich in diesen Formen nicht aussprechen – das heroische Epos verschwand. Diese ganze ErzÈhlungskunst in Versen wurde durch den Roman und die Novellen von Cervantes Ýberboten: Leben und Genie der Zeit wurden hier von dem freiesten und tiefsten unter den damaligen romanischen Dichtern zum Ausdruck gebracht. Die betrachtende Ruhe hÚchster Weisheit herrscht in seinem Don Quixote Ýber allem Wechsel der Seelenbewegungen und allen Irrungen und Illusionen des Lebens; sie schwebt als siegreiche Ironie Ýber jedem Vorgang und jedem GesprÈch. Und wie damals die Bilder der venezianischen Schule die SchlÚsser von Italien und Spanien erfÝllten, ist die Darstellung des Cervantes voll von malerischem Reiz – malerisch nicht nur im Sinn vollendeter Sichtbarkeit, sondern einer Èsthetischen Wirkung, die aus der Anordnung der Figuren in der Landschaft entspringt. Zum Mittelpunkt der Dichtung aber mußte das Drama werden. Alle Mittel fÝr seine hÚchste Entwicklung sind nun da. Das hauptstÈdtische Theater, die unabhÈngigen Menschen, die großen Aktionen, in denen ungezÝgelte Leidenschaft, Machtwille bis zur Grausamkeit regierten, vor allem aber ein Dringen in die Tiefen, in denen Charakter, Schuld und Schicksal verwoben sind: aus diesen stammt die Konzentration und Vereinfachung der Geschehnisse im Drama. Der HÚhepunkt des neuen Drama ist das englische Theater von Marlowe und Shakespeare. Die Jugendkraft der nordischen VÚlker gab ihrer Phantasie die hÚchste StÈrke. Die Sprache war noch erfÝllt von sinnlicher und bildlicher Kraft. Sehen war noch mit dem Denken untrennbar verbunden. Die Prosa selbst drÝckte die Gedanken noch in Bildern aus, nicht absichtlich, sondern unwillkÝrlich. Stil und Ideen eines induktiven Philosophen wie Bacon sind von der Macht der Einbildungskraft getragen. Die medizinischen und philosophischen Auseinandersetzungen des Paracelsus lÚsen alles Sein auf in Kraft,

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fÝhlen Seele in jedem Ding, reden die Sprache der Sinne und sind darin jedem heutigen Gedicht Ýberlegen. In Luthers Jugendschriften ist ein ZustandsgefÝhl, eine Energie der Einbildungskraft bis zur Halluzination, eine Gewalt des Ausdrucks bis zur BrutalitÈt, mit der verglichen die ganze religiÚse Poesie von Klopstock bis heute kraftlos erscheint. Selbst den astronomischen Problemen nÈhert sich Keplers Jugendwerk durch Phantasievorstellungen. Auf solchem Boden erwÈchst die Phantasiekunst Shakespeares. Das ganze Universum erscheint hier lebendig geheimnisvoll erfÝllt von gÚttlichen oder dÈmonischen KrÈften. Ein geistiges Element schwebt wie ein feiner Nebel um alle GegenstÈnde und zeigt sie in einem eigenen Licht. Die Geister, die im Mondlicht spielen, die mÈchtigen Schatten, die aus einer unsichtbaren Welt, angezogen von Mord und Blut, in die sichtbare hineintreten, sind dem Dichter Manifestationen der unsichtbaren Kraft. Auf diesem Hintergrund erscheinen, aufgefaßt mit dem schweren Realismus der germanischen Einbildungskraft, tragische Gestalten, deren unbÈndige Leidenschaft nach Blut zu verlangen scheint. Es tut sich in den KomÚdien und MÈrchenspielen eine Phantasiewelt auf, die wie ein Regenbogen schwebt Ýber der Tragik des Lebens. Die neueren VÚlker traten nun in das Stadium der Wissenschaft. Von den ersten Dezennien des 17. Jahrhunderts ab vollzog sich diese VerÈnderung; Shakespeare und Galilei sind in demselben Jahr 1564 geboren, und Calderon und Descartes sind Zeitgenossen. Die wissenschaftliche Erkenntnis hatte zuerst bei den Ústlichen VÚlkern angesetzt, dann in der Kulturwelt des Mittelmeers – jetzt endlich erreichte sie im Verlauf des 17. Jahrhunderts im Zusammenwirken von Bacon, Galilei, Kepler und Descartes ihr Ziel: die Entdeckung der Ordnung der Natur nach Gesetzen. Die wissenschaftliche Einbildungskraft wurde durch die methodische Verbindung des mathematischen Denkens mit Beobachtung, Induktion und Experiment geregelt. Das physische Universum wurde durch die Beziehung der Bewegungsgesetze auf die wahre Struktur des Sonnensystems als ein mechanischer Zusammenhang erkannt, und diese ErklÈrungsweise wurde auf Licht und Schall, Blutumlauf und Sinnesempfindungen angewandt. Die Erkenntnis des ursÈchlichen Zusammenhangs der Natur ermÚglichte die zunehmende Herrschaft Ýber sie. Zur selben Zeit nahm die Wissenschaft auch von dem Gebiet der geistigen Welt Besitz. Das konstruktive Verfahren der mathematischen Naturwissenschaft wurde auf Recht und Staat Ýbertragen. In der SelbstÈndigkeit der Individuen, in ihrem Recht auf persÚnliches Wohl, Entwicklung ihrer KrÈfte, Freiheit des Gewissens und der Gedanken war das Prinzip einer unendlichen Entwicklung der Gesellschaft gegeben. Die Autonomie der Vernunft erfÝllte die Forscher und wurde von den Philosophen zum Prinzip erhoben. Eine neue Kraft trat damit in die Geschichte der Dichtung. Sie wirkte von

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da ab stetig, unaufhaltsam. Denn die vollstÈndige und adÈquate Àbertragung der Wahrheiten von einer Person, einer Generation zur anderen erwirkt eine bestÈndige Zunahme derselben. Irgendwo in diesem Reich wird zu jeder Zeit ein wichtiger Fortschritt vollzogen. Und wie die Erkenntnis der Wirklichkeit eine neue Grundlage und einen verÈnderten Maßstab fÝr den religiÚsen Glauben, die Metaphysik und die Dichtung schuf, vollzogen sich von jetzt ab entscheidende VerÈnderungen in dieser hÚchsten Region des Geistes. Indem die Vernunft die christliche Theologie sich zu unterwerfen strebte, traf sie hier, wie in allen Weltreligionen, auf einen unfaßbaren, verwunderlichen, dem Verstand paradoxen Kern, der aus dem gewaltsamen Verkehr mit dem Unsichtbaren stammt, sie wird ihn nur zerstÚren kÚnnen, und so wird die ReligiositÈt nach freieren Formen suchen mÝssen. Die AnsprÝche der Metaphysik auf AllgemeingÝltigkeit werden vor dem strengen Maßstab des Wissens nicht standhalten. Und auch die poetische Phantasie wird lange Zeit unter die Herrschaft des Denkens geraten, sie wird oft in der Wissenschaft ihren Feind sehen, und erst wenn das Wissen an Leben und Geschichte heranrÝckt und die Dichtung an das Erfassen der ganzen Wirklichkeit, werden die Lebenserfahrungen des Dichters und das begriffliche Denken sich einander nÈhern. Von der Wissenschaft aus bildete sich die neue Prosa, das FranzÚsisch des Descartes, das Englisch Lockes, das Deutsch Christian Wolfs und seiner Schule. In dieser Prosa herrschten Begriff, Zergliederung, Schlußverfahren. Aber schon in den KÈmpfen des 17. Jahrhunderts zwischen Wissenschaft, Orthodoxie und religiÚser Erfahrung ging die Darstellung Ýber in die Debatte, und in dem Ringen dieser GegensÈtze bildete sich einer der grÚßten Schriftsteller Frankreichs – Pascal. Hier machte sich aber bereits ein anderes mÈchtiges Element geltend, die Gesellschaft, wie sie auf der HÚhe der Selbstherrschaft sich formierte. Sie war das Publikum der Schriftsteller und Dichter. Aus ihr ging die Umformung der Sprache hervor, wie sie zuerst in Frankreich sich vollzog. Diese hÚfische Gesellschaft fand in der Konversation den sublimsten und gefahrlosesten ihrer GenÝsse, und sie sonderte sich von dem untertÈnigen Volk und seiner Sprache durch ihre Delikatesse, ihren Geschmack und den Geist der Konversation, die Auswahl der Worte und die feinsten Unterscheidungen des Ausdrucks. Und nun unternahm die Akademie, die Richelieu im Sinn dieser herrschenden Gesellschaft 1635 grÝndete, die Regulierung der Sprache und der Literatur. UnbekÝmmert um das geschichtliche Leben der Sprache, Ýbte sie im Namen der Vernunft ihr oberstes richterliches Amt. Der Wortschatz wurde vereinfacht. Die gelehrten Worte, die FachausdrÝcke, die konkreten Namen fÝr die Mannigfaltigkeit der Dinge machten den allgemeineren Bezeichnungen Platz. In den SÈtzen wurde jeder Redeteil an seinem Platz festgelegt. Und der Stil des Ganzen wurde derselben Ýbersichtlichen Ordnung

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und Symmetrie unterworfen, die in den franzÚsischen SchlÚssern und GÈrten jener Tage herrschte. Die Sprache wurde so zum Organ der Vernunft. Die Akademie, die antike Tradition und der philosophische Geist vereinigten sich nun, die Gattungen in Poesie und Prosa abzugrenzen und in jeder Dichtungsart der Phantasie in Regeln ihre Bahn vorzuzeichnen – vor allem dem Drama, dessen tiefsinnige in der Zeit der Phantasiekunst geschaffenen Gesetze von diesen rÈsonnierenden KÚpfen nicht mehr verstanden werden konnten. Und diese Normierung von Sprache und Literatur verbreitete sich von Frankreich Ýber die andern Kulturnationen. Was in der Philosophie die Methode war, wurde in der Literatur der Geschmack und seine Regel. Er stand im innigsten Zusammenhang mit den Lebensformen der Gesellschaft, und in der Einheit der literarischen Werke mit der ganzen Zivilisation des Jahrhunderts lag deren Macht und dauernde Bedeutung. Die neue Form der Sprache und Literatur wurde nun im achtzehnten Jahrhundert zum Werkzeug einer mÈchtigen Bewegung, welche der Gesellschaft neue Inhalte, Werte und Ziele gab. Diese Bewegung war getragen von dem Bewußtsein der stetig fortschreitenden Erkenntnis der Wirklichkeit. In dieser Erkenntnis waren die Kulturnationen zu einer Einheit verbunden. Autonomie der Vernunft, SolidaritÈt der Gesellschaft, ihr Fortschritt dem Weltbesten entgegen durch die Herrschaft Ýber die Natur, durch die Regelung von Staat und Recht und durch die Àberwindung jedes kirchlichen oder politischen Widerstandes – das sind die leitenden Ideen dieses Zeitalters der AufklÈrung. Der Forscher wandelte sich in den Schriftsteller, jener war in der dÝnnen Schicht der Wissenschaft mit den anderen Gliedern der Aristokratie des Wissens zu gemeinsamer Arbeit verbunden: dieser will auf die Gesellschaft wirken. Die Bewegung begann in England mit der Revolution von 1688, und ihre grÚßten Schriftsteller waren dort Shaftesbury und Addison. In England nahmen dann Voltaire und Montesquieu die Fortschritte des Staatslebens, der Philosophie und Literatur in sich auf, und sie wurden durch die siegreiche Klarheit und Àberredungskraft ihrer Prosa die leitenden Schriftsteller Europas. Und unter ihrem Einfluß bildeten sich Lessing, der große KÚnig und Kant. Die meisten unter den FÝhrern der Úffentlichen Meinung waren zugleich Forscher, Schriftsteller und Dichter. Auch ihr Publikum war verÈndert wie ihre Ideen. Sie wandten sich an den neuen Stand der Gebildeten, und in ihm nahm die bÝrgerliche Klasse ihren Platz ein. So zeigt nun die Dichtung des 18. Jahrhunderts eine neue Struktur. Gesellschaft, Sprache und die dichterischen Gesetze des klassischen Geistes hatten im 17. Jahrhundert die TragÚdie von Corneille und Racine geschaffen. Corneille war noch ganz bestimmt von dem heroischen Ideal; Racine vertiefte bereits die TragÚdie des Corneille durch die Verfeinerung der GefÝhle in der hÚ-

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fischen Gesellschaft und das Erlebnis der religiÚsen Bewegung von Port-Royal, die von der hierarchischen Tradition zurÝckging auf die religiÚse Erfahrung, und so schuf er das Seelendrama, das mit jedem Fortschritt in der kommenden dramatischen Literatur in Zusammenhang stehen sollte: aber der neue Typus der Dichtung vollendete sich doch erst im 18. Jahrhundert. Der wissenschaftliche Geist drang von der oberen Schicht der Forscher hindurch in die Gesellschaft. Die Vernunft regulierte herrisch das ganze Seelenleben, sie unterwarf sich die Leidenschaften und die Phantasie und erÚffnete den Kampf gegen die religiÚse Tradition, die Selbstherrschaft und die Vorrechte der herrschenden Klassen. Diese Bewegung ergriff auch die Poesie. Der von innen durch das moralische GefÝhl bestimmte Mensch wurde ihr Ideal. In der Seelenverfassung der Dichter regierte der Glaube an die teleologische Ordnung der Welt und die Aufgabe, seine hÚhere Anlage durch die Vervollkommnung seines Wesens zu verwirklichen. Ein neuer Grundzug von der hÚchsten Bedeutung trat damit in der Entwicklung der Poesie hervor. Neben den GefÝhlen und Leidenschaften, die aus den persÚnlichen Schicksalen der Menschen hervorgehen, machen sich jederzeit die universalen Stimmungen geltend, die aus dem VerhÈltnis des Menschen zum Leben und zur Welt stammen. Sie wurden jetzt vom philosophischen Geist des Jahrhunderts in die Helle des Bewußtseins erhoben, und die Herrschaft der Ideen gab ihnen eine außerordentliche Macht. Die alte Gattung des Lehrgedichts erhielt so eine neue Bedeutung und einen weiten Umfang in der ganzen europÈischen Literatur. Die Ideen von der besten Welt, der teleologischen Ordnung und SchÚnheit der Natur, der moralischen Anlage des Menschen, seinem einfachen GlÝck in einem natÝrlichen Leben waren der Gegenstand der Lehrgedichte von Pope und Haller, sie bildeten den Hintergrund der Naturbetrachtung von Thomson und Kleist, der Widerspruch gegen sie rief die Lehrdichtung von Voltaire hervor, und sie erfÝllten die ganze Lyrik der Zeit. Aus ihnen empfingen die Stimmungen Haydns Nahrung, in dessen SchÚpfung und Jahreszeiten nun diese Seelenverfassung ihren letzten und unvergÈnglichen Ausdruck fand. – Aus der ZurÝckverlegung dieser Ideale in einen ertrÈumten Naturzustand entstand der Charakter der idyllischen Dichtung des Jahrhunderts und aus dem GefÝhl ihres Gegensatzes gegen die bestehende Gesellschaft seine Satire: so erklÈrt sich, daß diese beiden Stimmungen die ganze lehrhafte Dichtung durchdrangen. Derselbe Geist der AufklÈrung Èndert nun die Stellung und den Charakter der erzÈhlenden und dramatischen Dichtung. Das Auge der Poeten ist eingestellt auf eine Auffassung des Lebens, die durch die wissenschaftliche Schule hindurchgegangen ist. Sein Werk baut sich auf von dem festen Zusammenhang der ursÈchlichen Beziehungen aus. Es empfÈngt seine Glaubhaftigkeit

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nicht in erster Linie aus der inneren Einheit und Macht einer zweiten Welt in der Phantasie, sondern aus der Àbereinstimmung mit dem Zusammenhang der Dinge in Raum, Zeit und KausalitÈt. Die KrÈfte, die in jene zweite Welt der Phantasie aus der HÚhe und der Tiefe wirkten, sind verschwunden. Das Leben, mit dem sie die Natur erfÝllte, ist nun ein sentimentaler, unwirklicher Zusatz zu der vernÝnftigen Naturauffassung geworden, der kÝnstlich in bildlichen AusdrÝcken oder mit Hilfe der Mythologie hergestellt wird. Alles Leben konzentriert sich auf den Menschen. Die Zergliederung der menschlichen Welt ist das HauptgeschÈft der neuen Philosophie, und die Idee der menschlichen Vollkommenheit das Ziel der Moral. In der Gesellschaft selber erhÈlt die aufgeklÈrte ReligiositÈt noch die starken, aufrechten, in sich zusammengenommenen Charaktere, die eigenrichtig bis zu derber OriginalitÈt in den Romanen der EnglÈnder und den Dramen Lessings uns entgegentreten. Der Wirklichkeitssinn der AufklÈrung fÝhrt die Dichter immer mehr zu einer vollen ganzen Darstellung dieser Menschenwelt. Aber darin liegt nun der Grundzug, in dem ihr realistisches Verfahren Ýber jede Dichtung der frÝheren VÚlker hinausschreitet und die ganze nachfolgende Dichtung vorbereitet – ein Zug, der dieser Menschendarstellung einen idealen Hintergrund gab –, daß die bunte Mannigfaltigkeit des menschlichen Daseins, an der die Phantasiekunst sich ergÚtzt hatte, jetzt in ihrem Zusammenhang mit der gemeinsamen menschlichen Natur und ihrem Ideal der HumanitÈt gesehen wurde. Diese VerÈnderungen im Erlebnis der Dichter wandelten ihr bisheriges VerhÈltnis zu den GegenstÈnden und Gattungen der Poesie, und jede dieser Gattungen erhielt durch sie eine andere Struktur. Wie die neuen Ideale sich dem kriegerischen und kirchlichen Geist der Selbstherrschaft entgegensetzen, trat das heroische Epos zurÝck, und auch die Henriade Voltaires wirkte nur durch die Ideen des nationalen Staates und der religiÚsen Freiheit. Und wie hÈtte nun nicht auch die heroische TragÚdie von dieser VerÈnderung des Geistes getroffen werden sollen! Die Doktrin der Zeit erkannte noch in der TragÚdie die hÚchste Form der Dichtung; auch enthielt die Gesellschaft der AufklÈrung tragische Momente genug in dem Konflikt der herrschenden Klassen und des BÝrgertums, des hierarchischen Zwanges und der Gewissensfreiheit, des Despotismus und der politischen Rechte; dazu besaß die neue Form, welche die TragÚdie in Frankreich erhalten hatte, hÚchst wirksame Mittel der Wirkung in der KontinuitÈt und Einheit der Handlung, in deren Dienst die Einheit von Zeit und Ort und die Gliederung in große Szenen standen, wie der Aufsatz Ýber Lessing zeigen wird. Aber die politische Welt war unpoetisch geworden, die Armeen dieser Zeit waren Maschinen, die von einer unsichtbaren Hand geleitet wurden, die Èußere Politik ging von den Kabinetten aus, die Verwaltung war das Geheimnis des Beamtentums, und die Dichter waren in

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ihrem Haß gegen die Kabinettskriege innerlichst den blutigen MachtkÈmpfen entfremdet. Der Widerspruch des Geistes der AufklÈrung und der heroischen TragÚdie scheint mir noch tiefer zu greifen. Diese Zeit ist erfÝllt von dem siegreichen GefÝhl des Fortschreitens in der persÚnlichen Entwicklung und der Vervollkommnung des Menschen; wo sie einen eigenen tragischen Zug des Lebens ausspricht, sind ihre Helden die Opfer der Politik und des religiÚsen Fanatismus; sie handeln aus einer moralischen Kraft, nicht aus einer fortreißenden Leidenschaft. Und so rufen der einst so viel bewunderte Cato von Addison, die RÚmertragÚdien Voltaires, ja selbst Lessings Emilia nur eine kÝhle Bewunderung hervor. Hier vernimmt man nicht die tiefen Laute, die aus dem Erlebnis der Tragik des Lebens selber stammen. Der Zusammenhang des Handelns, Leidens und Sterbens mit den letzten GrÝnden unseres Daseins wird nirgends sichtbar. Dagegen war die neue Struktur des bÝrgerlichen Schauspiels die eigenste SchÚpfung dieser Zeit. Es beruhte auf der Beobachtung des Lebens; seine Motive lagen in den Problemen der Zeit, und seine Handlung erwuchs aus den GegensÈtzen der bestehenden Gesellschaft. So geht eine direkte Linie von ihm zum modernen Theater. Auch dem damaligen bÝrgerlichen Schauspiel mangelt freilich das VerhÈltnis der Konflikte der Zeit zu der zeitlosen Tragik des Menschendaseins. Alle KrÈfte, die der Dichtung der AufklÈrung zur VerfÝgung standen, kamen in ihren Lustspielen zur Geltung: die hÚchste Entwicklung des geselligen Daseins an den HÚfen, die Èußerste Verfeinerung des Geistes, die SubtilitÈt der GefÝhle, die Lust an der Konversation, die Neigung zur Intrige, ein souverÈner Verstand in der Verwickelung und LÚsung der Handlung, vor allem aber das freudige GefÝhl des Lebens. In immer neuen Verbindungen manifestierten sich hier diese KrÈfte der AufklÈrung von Voltaire bis Marivaux, der Minna Lessings, dem Barbier von Sevilla und der Hochzeit des Figaro von Beaumarchais, diesen vollkommensten SchÚpfungen einer Gesellschaft, welche das zweideutige Leben in Heiterkeit sehen und genießen wollte. Und die ernste Tiefe der AufklÈrung wie ihre Lebensfreudigkeit wirken nun endlich zusammen im Roman, der das Erbe des Epos antrat und auch das Drama in seinem Einfluß ÝberflÝgelte, kraft seines VermÚgens, eine allseitige und objektive Darstellung des Lebens zu geben. Cervantes und Rabelais wurden von keinem Roman dieser Zeit erreicht; aber alle Elemente zu einer neuen Struktur dieser Dichtungsart, welche Ýber beide hinausgehen sollte, bildeten sich: die BegrÝndung der ErzÈhlung auf die Sitten der Zeit, die Gliederung der Handlung nach den GegensÈtzen der Gesellschaft, die Spannung, welche die WechselfÈlle dieses Kampfes hervorrufen, die Tiefe der Psychologie, die Entdeckung einer Entwicklungsgeschichte im Lebensverlauf des Helden und die realistische aus Ernst und Humor gemischte Darstellung. Was hier an verschiedene Dichter

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verteilt war, nahm dann der Roman von Goethe, Balzac und Dickens zusammen. Auf dem Hintergrund dieses Stufengangs der Dichtung bei den neueren VÚlkern mÚgen nun die folgenden Bilder aus der Geschichte unserer deutschen Dichtung hervortreten.

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Bei dem Klang der ersten Verse von Tasso und Iphigenie, bei dem Beginn des Wilhelm Meister ist uns, als trÈten wir durch ein prachtvolles Tor, hinter welchem wir von der Gegenwart und von ihren KÈmpfen ganz abgeschlossen sind und eine heterogene Welt sich auftut, in der KrÈfte unserer Seele ins Spiel gesetzt werden, welche sonst zu ruhen pflegen. Lessing dagegen ist unseres Geschlechts. Wo er den Faden von Ernst und Falk fallen ließ, oder vielmehr wo die Hand des Todes ihn abriß, inmitten der Untersuchung Ýber die EinschrÈnkungen unseres Wesens, welche auf der Natur und den Formen der gesellschaftlichen Verbindungen, der staatlichen wie der religiÚsen, beruhen, inmitten der damit verknÝpften Untersuchung Ýber den Zusammenhang dieser Formen mit den besonderen geographisch-historischen Bedingungen, unter welchen sie sich bilden: da glauben wir diesen Faden wieder aufnehmen zu kÚnnen. Ja uns dÝnkt, daß ein Mann seiner Art unter uns sich besser, weit besser befunden hÈtte, als in der engbrÝstigen Epoche, in welcher er aufwuchs, eingeklemmt zwischen Klopstocks, Gellerts, Kramers religiÚse Empfindsamkeiten und die pedantischen Nachahmungen der großen Formen Corneilles, welche unseren kleinbÝrgerlichen Dichtern schlecht auf den Leib paßten – eingeklemmt zwischen Gelehrtenhochmut und Predigerhochmut. Und wer kann ein paar Seiten dieses schneidigen, nÝchternen, mÈnnlichen Menschen lesen, ohne zu fÝhlen, daß er so, ganz wie er war, unter uns leben, schreiben, handeln kÚnnte, ja daß wir ihn brauchen? Was kÚnnte uns heute ein Mann sein, welcher der ungeheuren VerÈnderung in unserer Anschauung vom Menschen und seiner gesellschaftlichen Natur und der hierdurch bedingten Umgestaltung unsers sittlichen Ideals einen so gewaltigen und gesunden Ausdruck verliehe, als er seinerzeit in Nathan und Antigoeze tat, zum erstenmal wieder in Deutschland seit den großen Jugendschriften Luthers. Aber ehe ein solcher erscheint – und sicher, diese gÈrenden intellektuellen und moralischen ZustÈnde werden ihn hervorbringen, gleichwie sie seiner bedÝrfen – : soll jeder Buchstabe Lessings uns heilig sein. Wir durchmustern, was er zurÝckließ, nicht mit dem neugierigen Auge des Forschers, sondern mit dem Èngstlichen Eifer eines Sohnes, welcher in der Hinterlassenschaft seines Vaters

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nach einem Geheimnis forscht, das fÝr ihn bestimmt war, das nur der Vater in des Sohnes Abwesenheit niemandem anvertraute, anvertrauen durfte. Wenn sein Studium des Lebens, des vergangenen in BÝchern, des gegenwÈrtigen unter Menschen, ihn auf Resultate fÝhrte, die er damals nicht aussprechen durfte: uns wÝrde er sie nicht vorenthalten haben; wir sind die Erben seines Geheimnisses. Wenn dies so war – wenn er wirklich seinen Zeitgenossen etwas vorenthielt, fÝr immer oder auch daß der Tod ihm den Mund schloß, bevor er den Moment fÝr gekommen erachtete, es auszusprechen! – diese Frage gibt der Durchmusterung dessen, was er zurÝckließ, einen Reiz, dem von Fragmenten eines verlorenen Ganzen vergleichbar. Wir sind auf ErgÈnzung angewiesen. Und in der Tat sind gewichtige GrÝnde vorhanden zu glauben, daß er seine letzten, hÚchsten Lebensresultate teils gar nicht, teils in halb verhÝllenden Formen seinen Zeitgenossen vorlegte. Diesen theologisch eingeschrÈnkten, gedrÝckten Zeitgenossen gegenÝber fÝhlte er sich als ein PÈdagog. Schiller und Goethe hatten diese Stellung nicht mehr. Ihm war sie natÝrlich, denn er war der erste Deutsche, welcher, von aller Tradition und aller Neigung wie aller Abneigung ihr gegenÝber vÚllig befreit, sich unmittelbar dem Leben gegenÝber eine selbstÈndige und positive Lebensansicht bildete. Dies kann man selbst von dem in seiner Weltansicht so unvergleichlich originaleren Leibniz noch nicht sagen. Als Lessing hierzu in seiner letzten Epoche fortschreitet, fÝhlt man fÚrmlich es um ihn einsamer und einsamer werden; fÝr diese Entdeckungsreise hatte er keinen Genossen wie einst fÝr seine Èsthetischen StreifzÝge, konnte er keinen haben. Wie er so ganz allein dastand und nun den Kampf mit all den Richtungen aufnahm, welche von der theologischen Tradition freundlich oder feindlich, fÝr ihn gleichviel! ausgingen: mußte er diese isolierte Stellung verdecken, vorÝbergehend sich Bundesgenossen schaffen, langsam die Zeitgenossen zu sich erheben. Dies war seine Stellung, und mit ihr erklÈrt sich die MÚglichkeit, daß weder, was vorliegt, ganz so seine Meinung ist, noch in diesem Vorliegenden die letzten Resultate seines Lebens niedergelegt sind. So viel nahes, leidenschaftliches Interesse unsererseits, so viel RÈtselhaftigkeit seinerseits haftet an Lessings wissenschaftlichen Forschungen. Gibt es Ýberhaupt in der neueren Literaturgeschichte Deutschlands einen Stoff, welcher auf strenge methodische Untersuchung Anspruch hat, so ist es dieser. Als Lessing so plÚtzlich, inmitten einer schÚpferischen TÈtigkeit von ÝberstrÚmendem Reichtum weggerissen ward, faßte zunÈchst sein Èltester, intimster Freund, der vortreffliche Moses M e n d e l s s o h n , die Absicht, Ýber ihn zu schreiben. Der Plan dieser Schrift ist uns in dem Leben Lessings von seinem Bruder erhalten. Nur ein der menschlichen Natur Unkundiger wird gegenÝber

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zwei MÈnnern, welche ihre ersten literarischen FeldzÝge nebeneinander machten, welche die ersten unreifen Formen ihrer Theorien austauschten, eine geschichtliche WÝrdigung des einen, welcher dann mÈchtig voranstrebte, durch den anderen, der zurÝckblieb, wo ihn der gewaltige Freund gelassen hatte, erwarten. Was aber ein solcher Genosse, und er allein ganz geben kann, ist ein Detail von Einsicht in die intellektuelle und moralische Natur eines Genius bis hinab in die intellektuellen Manieren und moralischen Eigenheiten. Einige GrundzÝge dieser Art verdanken wir der Skizze Mendelssohns. So hebt er sehr schÚn die bemerkenswerte Sorglosigkeit hervor, mit welcher diese reiche, lebhaft voranstrebende Natur Resultate im GesprÈch hinwarf. „Ein Exempel – sagt hierbei Mendelssohn – seine Gedanken vom Lachen und Weinen. Ich hatte die Absicht nicht, zu plÝndern, sondern war vielmehr einem unordentlichen Hauswirt zu vergleichen, der Sachen in Verwahrung nimmt, ohne Buch zu fÝhren.“ Lessing geht so weit, in Briefen an Mendelssohn, diese Theorie „meine oder vielmehr Ihre Theorie“ zu nennen. Wie sorglos ihn dann Nicolai plÝnderte, ist nicht zu sagen. Aber wie wenige Mitteilungen dieser Art treten in der Skizze hervor, und was noch merkwÝrdiger ist, wie arm sind die AusfÝhrungen, welche in dem Kapitel „Ýber Lessing“, in Mendelssohns Morgenstunden, und in seiner Schrift an die Freunde Lessings gegeben sind! Man war damals mit Recht grÝndlich enttÈuscht. Nur das VerhÈltnis zwischen Lessing und Mendelssohn schließt sich hier voll auf in einer Weise, welche dem letzteren die hÚchste Ehre macht. Die sich unterordnende Verehrung des Gleichaltrigen, Mitforschenden hat etwas RÝhrendes. Er will nichts sein als ein „JÝnger des Propheten“. So reizbar, bis zur Eifersucht ist diese Verehrung, diese Liebe, daß hieraus allein sich erklÈrt, wie es ihn schmerzte, daß Lessing Gedanken hegte, die er ihm vorenthielt. Aus diesem selben Èlteren Berliner Kreis trat nun Lessings Bruder hervor, K a r l L e s s i n g . 1793-1795, also ein Dutzend Jahre nach Lessings Tode, publizierte er in drei BÈnden den literarischen Nachlaß und das Leben des Bruders. Das alles wimmelt von Unwissenheiten der grÚbsten Art. Jede Seite darin wÝrde Gotthold Ephraim zur Verzweiflung gebracht haben. Wenn die Xenien damals den Vers brachten:

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Edler Schatten, du zÝrnst? Ja, Ýber den grausamen Bruder, Der mein modernd Gebein lÈsset in Frieden nicht ruhn – , so wÝrde Lessings Zorn, nach seiner Art zu denken, kaum die VerÚffentlichung irgendeines Blattes von seiner Hand betroffen haben – wer mÚchte eines missen? – wohl aber das, was sein leichtfertiger Bruder Ýber diese BlÈtter und Ýber ihn schrieb. Indessen finden sich gerade hier unter dem unnÝtzesten Berliner RÈsonnement einige wertvolle Notizen.

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Inzwischen trat dem alten Berlin, welchem Lessings Freunde angehÚrt hatten, eine neue literarische und wissenschaftliche Schule gegenÝber, und sie mußte sich der AutoritÈt des Gewaltigen bemÈchtigen. Eben damals, als das Leben Lessings von seinem Bruder erschien, befand sich F r i e d r i c h S c h l e g e l in Berlin, und seine jugendliche Keckheit fand es hÚchst natÝrlich, neben seinem Bruder auf dem Richterstuhl des großen Kritikers sich niederzulassen, der seit dessen Tode frei war. Er erhob den ersten geistvollen Widerspruch gegen die Auffassung Lessings, wie sie die alte Berliner Schule nunmehr wiederholt, trotz Jacobis Protest, dem Publikum aufgedrÈngt hatte. 1797, jener Biographie auf dem Fuße folgend, erschien das Fragment Ýber Lessing von Friedrich Schlegel, welches dann in dem kritischen Meisterwerk beider BrÝder, den Charakteristiken und Kritiken, wieder abgedruckt und mit einer seltsamen ErgÈnzung versehen wurde, und 1804 ließ Friedrich Schlegel drei BÈnde: „Lessings Gedanken und Meinungen“ drucken, welche eine schlecht maskierte BuchhÈndlerspekulation sind, trotzdem aber das Beste enthalten, was bis dahin Ýber Lessing gesagt worden ist. GegenÝber der herrschenden Ansicht, welche in Lessing einen Mendelssohn verwandten Gelegenheitsdenker sah, fand er mit Recht in ihm einen PÈdagogen zum systematischen Denken. Er fand, wir hÈtten keine deutschen Schriften, welche besser geeignet seien, diesen Geist des Selbstdenkens zu erregen und zu bilden, als die Lessingschen. Und nun liegt die Bedeutung seiner Untersuchung in dem Versuch, diese erregende Kraft der Schriften Lessings in deren innerer Form aufzuzeigen. Àber diese innere Form hatte Friedrich Schlegel damals viel gedacht: denn schon fÝnf Jahre lang hatten ihn seine platonischen Forschungen beschÈftigt. So zeigen schon die Zeitgenossen und die nÈchstfolgende Generation ein außerordentlich starkes Interesse an der Lebensansicht und Weltanschauung, zu welcher dieser wahrhaftige, allen RealitÈten offene, denkgewaltige Mensch gelangt war. Was sie aber darÝber zu sagen wußten, war gÈnzlich unbefriedigend. Seitdem ist mehrfach versucht worden, die zerstreuten BruchstÝcke zu deuten, in denen Lessing sein letztes und hÚchstes Lebensresultat zurÝckgelassen hat. Dasselbe Interesse an diesem RÈtsel hat mich zu der BeschÈftigung mit Lessing gefÝhrt. Um es aufzulÚsen, muß man sich den ganzen Gang der wissenschaftlichen Forschung Lessings vergegenwÈrtigen sowie die Stellung, die sie in der wissenschaftlichen, literarischen, intellektuellen Entwickelung Deutschlands seit 1760 einnimmt. Man muß den Punkt bestimmen, in welchem mit diesen Forschungen seine Dichtung zusammenhÈngt. Nur aus dieser Summe seines Wesens kann seine Bedeutung in unserer Literatur verstanden werden. Durch das Zeugnis der bedeutendsten Zeitgenossen, insbesondere Goethes, dessen •ußerungen den Kanon fÝr die literarhistorische Tragweite derjenigen Erscheinungen bilden, die in seinen Gesichtskreis fielen, ist es er-

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hÈrtet, daß auf den starken Schultern Lessings die Umgestaltung unserer Literatur ruhte. Was in der vielzersplitterten, rastlosen, alle Interessen der Zeit umfassenden TÈtigkeit des Mannes gab ihm diese Stellung?

I. BILDUNGSJAHRE. Als Lessing um die Mitte des Jahrhunderts die literarischen VerhÈltnisse um sich zu beobachten begann, fand er im Vordergrund des geistigen Interesses die theologischen KÈmpfe und die literarischen Streitigkeiten zwischen Bodmer, Gottsched, Klopstock, den lyrischen Dichtern. Jedoch die den Gang unserer Literatur beherrschende Tatsache ist, daß die Reformation in Deutschland mit einer Energie des religiÚsen Bewußtseins aufgetreten war, wie in keinem anderen Lande; hieraus entsprang eine ganz einzige Herrschaft des theologischen Interesses, und sie ward auf lange hinaus erhalten durch die Abwesenheit all der anderen Motive, welche in England und Frankreich Elemente und Interessen der AufklÈrung mitbestimmten. Hierdurch ist der Charakter alles dessen, was naturwÝchsig bei uns entstand, bestimmt, von den dogmatischen Kompendien und dem Kirchenlied ab bis auf Hallers religiÚses Lehrgedicht und die Messiade Klopstocks. Das grÚßte literarische Ereignis um die Mitte des Jahrhunderts, die Messiade, charakterisiert am besten die klÈgliche Unreife dieses deutschen Denkens und Empfindens: ein Gymnasiast faßte einen Plan und begann ein Gedicht, in welchem tÝchtige und ernsthafte MÈnner den Ausdruck ihrer Welt- und Menschenbetrachtung fanden. Wer wird die ungemeine lyrische Energie Klopstocks bestreiten oder dessen Bedeutung herabsetzen wollen? Aber es ist nicht minder bedeutsam, daß niemand beinahe in der Anschauungsweise und dem Gehalt des Gedichtes die unreife Jugendlichkeit unangenehm empfand, niemand beinahe – als ein JÝngling, der zugleich so entschieden fÝr Klopstocks lyrische GenialitÈt eintrat: Lessing. Dennoch war diese Grundrichtung unserer Literatur, wie sie in Klopstock kulminierte, in ihrem Recht gegenÝber den gelehrten Experimenten der Leipziger Schule. Was sollte unserem von dem Weltleben und seinen großen bewegenden Affekten abgesperrten Volke jene Kunst der Renaissance, welche in Italien und Frankreich ihre festen ZÝge erhalten hatte, eine Kunst des Stiles, der großen, festgegliederten, sich gesetzmÈßig entwickelnden Formen, was sollten uns die Helden dieser großen tragischen Kunst, RÚmer, griechische Heroen und die Schicksale der KÚnige! Was

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unter TrÈnen an der Messiade ergriff und mit ruhigeren Empfindungen an Kleists FrÝhling oder Hagedorns zÈrtlichen Liedern, das war doch wenigstens natÝrliche Poesie: denn das war – wohl oder Ýbel – unsere Natur. In diese ZustÈnde und ihre pedantische Abwickelung warf Lessing eine ganz andere Geistesform hinein: er ist das einzige norddeutsche Genie, das in die Poesie mit norddeutscher Art zu empfinden mÈchtig eingriff, bis auf Heinrich v. Kleist, welcher hierin recht eigentlich sein Nachfolger ist. Ein Naturell, in welchem von dem ersten Hervortreten ab ein heller, scharfer Wille dominiert, der klar und heiter die Bewegungen der Welt um sich auffaßt und sich in ihr lebendigstes Treiben einzumischen einen unwiderstehlichen Trieb fÝhlt, dem alles zur Handlung, zum Kampf, zum Tummelplatz lebhafter Bewegung wird; welches demgemÈß von Anfang an in einem Stil erscheint, der einen bewegten, streitenden Willen der Erkenntnis in den einzelnen Akten seiner Handlung zeigt; welches mit derselben Naturnotwendigkeit von Anfang an sich der BÝhne wahlverwandt fÝhlt, diesem idealen Spiegel des bewegtesten Lebens, und zwar zu allererst der komischen BÝhne, der Welt von Plautus, Terenz, Molire – dies Naturell ist, was Lessing als seine seltene, glÝckliche, in unserer beschaulichen Nation und in der beschaulichsten Epoche dieser Nation beinahe unerhÚrte Mitgift in die Literatur wirft. 1. Lessing stammte aus einer alten sÈchsischen Pastorenfamilie, er wurde zu Kamenz 1729 geboren, sein Vater war ein gelehrter orthodoxer Geistlicher, das Hauswesen ehrenfest und tÝchtig. Die treffliche FÝrstenschule zu Meißen machte schon, da er noch fast ein Knabe war, einen die Alten selbstÈndig durchmusternden, poetisch nachfÝhlenden Philologen aus ihm. Als er nun in Leipzig nach Familienherkommen Theologie studierte, kam er in die Schule von Ernesti, vor allem aber von Christ, in welchem aus der Polyhistorie damals jugendfrisch die deutsche Altertumswissenschaft sich losrang. Er disputierte in der philosophischen Gesellschaft von KÈstner. In jugendlicher Genossenschaft mit dem in der Heimat Ýbel beleumdeten Vetter Mylius, einem bedenklichen Literaten und bedenklicheren Dramatiker, lernte er die BÝhne vor und hinter den Kulissen kennen, und von dieser Zeit an war es sein Ehrgeiz, den Deutschen ein dem Ausland ebenbÝrtiges Theater zu schaffen. Das freudige LebensgefÝhl dieser kecken wagemutigen Jahre hat er in anakreontischen Liedern ausgesprochen. Seine gelehrten Studien breiteten sich nach allen Seiten aus. Als er im zwanzigsten Jahre die UniversitÈt verließ, standen die GrundzÝge seiner starken PersÚnlichkeit schon deutlich und fest da. Und so sicher fÝhlte er sich auch bereits seines Berufs, daß er den regelmÈßigen Weg

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zu einer festen Lebensstellung verließ, Ende des Jahres 1748 sich nach Berlin begab und dort die Laufbahn des Schriftstellers ergriff – ohne Geld, ohne Verbindungen, den Eltern entfremdet. Es ist der erbaulichste Anblick, inmitten der damaligen deutschen Literatur diese Natur sich nun bewegen zu sehen. Schon die nÈchsten norddeutschen Kreise, in denen der JÝngling sich findet, die Gleim und Ramler und die anderen Lyriker, sind ihm doch vÚllig heterogen. Er ist unter ihnen wie unter einer Singvogelbrut ein junger Raubvogel, der, weil es im Neste so der Brauch ist, seine Stimme zu kleinen Liedern Ýbt, sich aber dabei wenig behaglich fÝhlt und zuweilen die sonderbarsten GelÝste verspÝrt, auf den einen oder anderen SÈnger zuzufahren. Noch schÈrfer tritt die totale Verschiedenheit seiner Natur hervor, wenn man ihn in dem Ganzen der damaligen Bewegung ansieht. So wunderbar fertig und geschlossen in sich von vornherein die geistige Form seiner Natur erscheint, so tastend, so experimentierend ist das VerhÈltnis derselben zu der Welt, auf welche sie wirken soll. Denn seine knappe schneidige Weise hatte wenig VerstÈndnis fÝr die entliehene Grandezza Gottscheds und nicht viel mehr fÝr Klopstocks religiÚse Empfindsamkeit. Wenn Klopstock mit seraphischer Inbrunst bittet: „Ach gib sie mir, dir leicht zu geben, Gib sie dem bebenden, bangen Herzen“, so bemerkt der JÝngling kurz dazu: „was fÝr eine Verwegenheit, so ernstlich um eine Frau zu bitten.“ Realismus, Gesundheit, Charakter traten der Empfindungsweise und den ZustÈnden, wie sie von Holstein bis in die Schweiz bestanden, keck gegenÝber und mußten in dieser Stellung zunÈchst sich isoliert finden. Mit Spannung fragt man sich, was eine solche Natur mit ihrem mÈchtigen BedÝrfnis der Aktion inmitten dieser Parteien tun wird, ja man fragt, wie ihr inmitten der damaligen deutschen VerhÈltnisse Selbsterhaltung mÚglich sein wird. Denn welche war inmitten dieser VerhÈltnisse Lessings Lage? Wenn man den Schriftsteller vom wissenschaftlichen Forscher als solchem unterscheidet, so ist sein Charakterzug, daß es ihm nicht ausschließlich um den Fortschritt der Wissenschaften zu tun ist, sondern zugleich um direkte Wirkung auf die Nation. Hierdurch erhÈlt fÝr den Schriftsteller der Stil eine hervorragende Bedeutung. Lessing war vermÚge der Form seines Geistes und vermÚge seines Temperaments ein geborener Schriftsteller. Denn ihm war von vornherein natÝrlich, die Wissenschaft in Handlung umzusetzen, seinen Ideen dramatische Wirkung zu geben. Er war ein so sorgsamer Stilist, daß sich selbst von den Briefen an seine Familie Konzepte in seinem Nachlaß gefunden haben. Und so wurde er der erste deutsche Schriftsteller in wahrem, vollem Sinn. Welchen Mut, welchen Charakter dieser schriftstellerische Beruf damals erforderte, davon haben wir einen Maßstab an seinen Zeitgenossen. Die starke Bewegung hatte eine ganze Reihe junger MÈnner, zum erstenmal in Deutsch-

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land, literarischen BeschÈftigungen in die Arme geworfen; aber wir sehen sie alle, die Weiße, Engel, Moritz, Dusch, um die Mitte ihres Lebens, sich in feste Lebensstellungen, zumeist an Lehranstalten, retten. Die Ýbrigen, zumal die lyrischen Dichter, waren von vornherein behagliche Existenzen, welche in VerhÈltnissen, die ihrem inneren Beruf ganz heterogen waren, ihren Lieblingsneigungen gelegentlich nachgingen, oder sie bezogen Hofpensionen. Lessing allein fÝgte sich keiner Stellung, welche ihn daran hindern konnte, seinem inneren Beruf vollauf zu leben. Sein Charakter und die Natur der gesellschaftlichen Elemente, auf welche er sich als Schriftsteller stÝtzen konnte, sind die zureichenden ErklÈrungsgrÝnde fÝr die Unruhe und den ergreifenden Mangel an GlÝck in diesem großen Dasein. Auch er war von der Natur mit jener Heiterkeit, jenem „Himmel im Verstande“ ausgestattet, welche der unmittelbare Ausdruck einer jeden bedeutenden intellektuellen Kraft sind. Aber die Art, wie alles brach, worauf er sich stÝtzen wollte, formierte seinen Charakter. Diese HinfÈlligkeit war nicht sein besonderes UnglÝck: sie war in der Sache selber begrÝndet. Denn worauf konnte, durfte er sich denn stÝtzen? Betrachten wir die gesellschaftlichen Elemente, welche damals einen Schriftsteller in Deutschland etwa tragen konnten, zu einer Zeit, in welcher Voltaire eine fÝrstliche Stellung sich errungen hatte. Die althergebrachten StÈtten deutscher Bildung waren die UniversitÈten und die HÚfe. Die UniversitÈten vertraten die GelehrtenÝberlieferung, von welcher unsere Schriftsteller sich eben befreien wollten; daher haben Herder wie Lessing an UniversitÈtsprofessuren nur vorÝbergehend gedacht. Die Beziehung von Gelehrten und Dichtern zu HÚfen, ohne die Basis einer Wirksamkeit in der Verwaltung, ist immer fÝr dieselben schÈdlich gewesen, im besten Fall ein notwendiges Àbel, und fÝr Lessing war sie ganz unmÚglich, wie seine BerÝhrungen mit dem braunschweigischen Hofe beweisen. Die sozialen Elemente, welche einem Schriftsteller als StÝtzpunkte Ýbrigblieben, der sich von UniversitÈten und HÚfen abwandte, waren noch unfertig. ZunÈchst tritt die Existenz einer heranwachsenden Großstadt hervor. Berlin zÈhlte etwa hunderttausend Einwohner, und – was wichtiger war – der SiebenjÈhrige Krieg hatte dort einen Úffentlichen Geist gebildet, der in freier Diskussion politische und religiÚse Fragen zu erÚrtern unternahm. Damit trat zugleich eine bemerkenswerte Neigung fÝr LektÝre diskutierender, ernsthafter Schriften hervor. Die spÈteren Regierungsjahre Friedrichs erdrÝckten diesen sich kaum regenden Geist, soweit er nicht sich an der religiÚsen Diskussion genÝgte. Ohne daß der KÚnig eine regelmÈßige BeschrÈnkung politischer, finanzieller, nationalÚkonomischer Schriften hÈtte eintreten lassen, lag doch sein System schwer auf der Stadt und niemand wagte offen zu schreiben, da der einsame LÚwe in

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Sanssouci unberechenbar war in seinen Griffen. Lessing hat das mit einer durch persÚnliches Geschick Ýberreizten SchÈrfe ausgesprochen. „Sagen Sie mir – schreibt er Nicolai – von Ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts. Sie reduziert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen, als man will. Lassen Sie es aber doch einmal Einen in Berlin versuchen, Ýber andere Dinge so frei zu schreiben, als Sonnenfels in Wien geschrieben hat; – – lassen Sie Einen in Berlin auftreten, der fÝr die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es itzt sogar in Frankreich und DÈnemark geschieht: und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist.“ Ja Lessing konnte noch zwischen Berlin und Wien schwanken: literarisch dieselbe Erscheinung, wie wir sie politisch 1848 erlebt haben; so schwer erwuchs auch in den ersten KÚpfen unserer Nation die Einsicht in die Bedingungen des Úffentlichen Geistes und der Wirkung auf die Menschen. Trotzdem war der Gedanke an Wien auch unter Kaiser Joseph nur eine ganz flÝchtige Illusion. Dagegen trug ihn der Geist von Berlin und Preußen, mehr als er sich selber bewußt war. Dem Idyll kleiner HÚfe und der pedantischen Luft der UniversitÈten gegenÝber standen hier die Stimmungen und Interessen einer großen Stadt, der nÝchterne Geist der Diskussion und der Analyse, welcher einer solchen eigen ist. DemgemÈß blieb von jenem Moment ab, in welchem der theologische Student UniversitÈt, Studien, seine ganze vorgesehene Zukunft verließ, um in Berlin als Schriftsteller zu leben, bis zur vollen Reife seines Lebens, welche die Literaturbriefe bezeichnen, Berlin der Haltpunkt seiner Existenz. Diese Stadt bedingte den Verlauf seiner Bildungsjahre. Der mutige Entschluß, als freier Schriftsteller zu leben, warf ihn auf eine Reihe von Jahren dort in unruhigen, hastigen Broterwerb; er fand eine Existenz in der Tageskritik und gab fÝr die Berliner Weise derselben eigentlich zuerst den Ton an. Mangel und ein immer wieder, in verschiedenen Lebensepochen, ihn ÝbermÈchtig inmitten seines hastigen Schriftstellerlebens ergreifendes BedÝrfnis einsamer Arbeit trieben ihn nur auf einige Zeit nach Wittenberg, wo er sich zu seiner Rettung des Horaz sammelte und in dem Vademekum fÝr Samuel Gotthold Lange jenen ersten Raubvogelgriff tat, welcher das Entsetzen aller hÚflichen Leute hervorrief. Als er dann 1752, dreiundzwanzig Jahre alt, nach Berlin zurÝckkehrte, traf er hier mit Moses Mendelssohn und Nicolai zusammen, denen er im Monatsklub begegnete, und nun bildete sich die sogenannte Berliner Schule. Lessing war in diesem VerhÈltnis von Anfang an der Bestimmende und Leitende. Aber immer noch blieben seine Experimente, sich ein VerhÈltnis zum Publikum zu schaffen, flÝchtig, von der Not und dem Interesse des Augenblicks eingegeben, ohne weitertragende Berechnung!

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Bis zur Ostermesse 1755 erschienen von ihm fÝnf BÈndchen seiner gesammelten Schriften von verschiedenstem Inhalt. Werfen wir einen Blick auf die hier vereinigten Dichtungen. Lessings Naturell machte ihn zum Dramatiker. Schon von der FÝrstenschule brachte er den Entwurf des jungen Gelehrten mit, und in den nÈchsten Jahren entstanden dann hintereinander mehrere Lustspiele, die sich in der Bahn der herkÚmmlichen KomÚdie bewegten, aber doch den großen Dramatiker schon ahnen ließen. Indem er dann die politische TragÚdie der VerschwÚrung des Samuel Henzi und seiner Verurteilung durch die Berner Oligarchie, die 1749 durch die Enthauptung des Demokraten einen erschÝtternden Abschluß gefunden hatte, zu dramatisieren begann, betrat er damit eine verwegene, aber vielverheißende Bahn: er rief ungeheures Aufsehen mit den Fragmenten des StÝckes hervor, die er in seinen Schriften verÚffentlichte. Lessing besitzt das Impetuose, vermÚge dessen die Handlung eines Dichters unaufhaltsam vorwÈrts geht und in jedem Moment derselben die Gestalten wie aus eigener Kraft sich bewegen. Die Energie, das UngestÝm und die Geschwindigkeit seines Wesens Èußern sich von Anfang an in einem lebendigen Dialog, der voll von natÝrlichen und oftmals Ýberraschenden Wendungen ist. Als ein echter Sohn der deutschen AufklÈrung vertieft er sich nicht gern in die selbstÈndige Naturmacht unserer Leidenschaften, und er verweilt selten in der DÈmmerung unserer zusammengesetzten Stimmungen: seine Menschenkenntnis beobachtet scharf, aber interpretiert dann aus dem Glauben an das Gute der Menschennatur und gewahrt lieber Torheiten als SÝnden. Dieselbe Form seines Wesens kommt in den Gedichten dieser Jugendjahre zum Ausdruck. Eine helle, frohe Laune herrscht in ihnen, die sich auch ÝbermÝtig gehen lassen kann, weil Lessing sicher ist, daß er sich im rechten Moment zusammenzuhalten vermag. Sie sehen die Welt an, wie sie einem offenen Charakter und hellen Verstand erscheint. Es war dieselbe Geistesverfassung, aus der die Verse Voltaires und Friedrichs hervorgegangen sind, und aus ihr ergab sich dieselbe dichterische Form. Hier findet man noch nicht die Modulation eines tiefen, vom Verstande unbewachten und vom Willen losgebundenen Stimmungslebens: Grazie, Gesundheit, eine daraus stammende siegreiche FrÚhlichkeit des Herzens, die mit der Liebe spielt und im mÈnnlichen GefÝhl der Freundschaft lebt, erfreuen noch heute den Leser. Unter den Studenten leben noch jetzt derbe Trinklieder fort. Von den heiter scherzenden Liebesliedern sind gar manche komponiert und gesungen worden; ein anmutig gedrehtes ZÚpfchen zeigen freilich auch diese Produkte der Rokokozeit. Manchmal bricht Lessings starkes, mÈnnliches LebensgefÝhl in diesen „Kleinigkeiten“ durch, und das Gedicht „der Genuß“, welches fÝr ein Erlebnis einen ergreifenden Ausdruck findet, klingt in Zeilen aus, die schon von dem Ton des jungen Goethe etwas

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haben: „Nimm sie zurÝck, die kurze Lust! Nimm sie, und gib der Úden Brust, der ewig Úden Brust, die bessre Liebe wieder!“ Andere Lieder nÈhern sich vielfach durch ihren epigrammatischen Abschluß der Form von Sinngedichten. In den Sinngedichten selber haben von jeher Dichter, was an der Welt sie plagte und verdroß, von sich abgeschÝttelt, eben damals, zur Zeit der Herrschaft des Verstandes, war das Sinngedicht eine beliebte Gattung, und Lessing, der werdende Lustspieldichter, ergÚtzte sich daran, wie der Verstand in jeder Situation des Lebens ein komisches Moment zu entdecken weiß. Mehr muß man in diesen Sinngedichten nicht suchen. Sorglos hat er Èltere Epigramme umgebildet. Situationen, die Lachen erregen, nahm er, wo er sie fand. Und diese Welt, in der sich die Sinngedichte bewegen, Trinker, Geizige, bÚse und buhlerische Weiber, prahlerische Feiglinge, ahnenstolze Edelleute und schlechte Schriftsteller, erscheint uns heute recht verschlissen und verbraucht. Zu den Liedern und Sinngedichten treten dann die gereimten Fabeln und ErzÈhlungen. Sie zeigen deutlich, wie sehr Lessing das epische Talent abging. Ihr Stoff ist meist entlehnt, und sie haben ihr bescheidenes Vorbild Gellert nirgend in der Anmut und in dem Behagen des Vortrags erreicht. So ist all dies nun bis auf wenige Verse untergegangen und vergessen, und wir fÝhlen darin nur heute noch das frÚhliche Lachen, die Sorglosigkeit und die innere StÈrke des jungen Lessing nach. 2. So lagen in der Sammlung seiner Schriften abgeschlossen gleichsam die ersten Stadien seiner Laufbahn hinter ihm, als ihm im FrÝhjahr 1755 mit Miß Sara Sampson der erste große dramatische Wurf gelang. In der Stille eines Gartenhauses zu Potsdam hat er dies dichterische Werk von wahrhaft mÈchtiger Wirkung vollendet. Ramler schrieb von Frankfurt, wo das StÝck zuerst gegeben ward: „die Zuschauer haben 3 1/2 Stunden zugehÚrt, gesessen wie Statuen und geweint“. Lessing selbst war zugegen, und fÝr den sechsundzwanzigjÈhrigen JÝngling war es wohl eine Stunde freudigen SelbstgefÝhls, wo diese Seite seines Lebensberufs ihm im hellsten Lichte erschien. FÝr das VerhÈltnis eines Dichters zum Publikum war bis in unser Jahrhundert das Theater der natÝrliche Schwerpunkt. So unreif die deutschen TheaterzustÈnde waren – Lessing unternahm sofort, gleichzeitig damals mit Weiße, den Versuch, ob sie seine dichterische Zukunft zu tragen imstande seien. Eines Morgens lasen seine Freunde, die getreue Berliner Schule, mit Erstaunen, daß er Berlin verlassen habe und sich in Leipzig bei der Kochschen BÝhne befand. In seinem Kopf bewegten sich die verschiedensten PlÈne von TragÚdien und KomÚdien, wie spÈter in Goethe zur Zeit als er den Clavigo schrieb. Aber leider ist damals wie spÈter eine Gestaltung des deutschen Theaters nach ihrem Sinne mißglÝckt. Erst Schiller konnte,

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I. Bildungsjahre.

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wenigstens zum grÚßten Teil, seine Wirksamkeit und seine Èußere Existenz auf das Theater stellen und dasselbe dauernd mit seinem Geiste erfÝllen. ZunÈchst trieb der SiebenjÈhrige Krieg, bevor Lessing noch zur Entfaltung seiner PlÈne kam, die Kochsche Truppe auseinander. Neben solcher Ungunst der Èußeren VerhÈltnisse machte sich doch auch geltend, daß Lessing damals noch unter dem Einfluß des Auslandes versuchte, tastete – die ihm eigene dramatische Form hatte er noch nicht gefunden. WÈhrend also diese Richtung seiner TÈtigkeit unterbrochen ward, um erst eine Reihe von Jahren danach wieder aufgenommen zu werden, schloß er die Zeiten der Berliner Schule, der Wirksamkeit durch Zeitschriften, durch literarische Kritik im Bunde mit dem Úffentlichen Geiste der Stadt, nunmehr ab durch die Berliner Literaturbriefe. 3.

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Schon ein Jahr zuvor hatte Sulzer vorgeschlagen, Lessing mÚge seine Existenz auf eine Zeitschrift grÝnden. Das war wenig in Lessings Sinn. Wohl aber gab der Krieg die Stimmung zu einer durchgreifenden und rÝcksichtslosen Aktion in der Literatur. Und so grÝndete Lessing fÝr kurze Zeit die L i t e r a t u r b r i e f e . „Der damalige Krieg spannte alles mit Enthusiasmus an“, so erzÈhlt Nicolai ausdrÝcklich, als ErklÈrungsgrund fÝr das energische, zusammengefaßte Vorgehen der Schule in dieser Zeitschrift. Lessing war 30 Jahre alt, als er 1759 dieselbe begann. Er erscheint nunmehr seiner Stellung vÚllig gewiß. WÈhrend seine frÝheren Schriften der Vergessenheit anheimgefallen sind, beginnt mit dieser die Reihe der Werke, welche ihn zu dem unsrigen machen. Wenn Macaulay ihn den ersten Kritiker Europas nennt, so nahm er jetzt, mit dieser Zeitschrift, Besitz von seiner Herrschaft. Die Wirkung der Literaturbriefe war tieferregend und revolutionÈr. Es war der glÈnzende Abschluß seiner ersten Lebensepoche. Ziehen wir also das erste Resultat unserer Untersuchung. WÈhrend die ganze damalige Literatur, Klopstock und seine Freunde mit eingeschlossen, sich an die altbestehenden und die geistige Bewegung einschrÈnkenden gesellschaftlichen Elemente, HÚfe und UniversitÈten anlehnten, wÈhrend auch die selbstÈndigsten unter ihnen, wie Klopstock, Haller, nur besonders begabte ReprÈsentanten der seit dem Pietismus Deutschland beherrschenden religiÚsen Empfindsamkeit waren, unfÈhig, dem deutschen Geiste seine Richtung zu geben: hat Lessing, vermÚge der originalen Energie des norddeutschen Elements in ihm, getragen von dem Úffentlichen Geiste einer beginnenden Großstadt und eines in KÈmpfen werdenden Staates, ein gesundes LebensgefÝhl mit genialer Macht zum Ausdruck gebracht. Eine Analyse dieses LebensgefÝhls wÈre schwer und ist hier entbehrlich; Lessings spÈtere Weltansicht ist die Entfaltung desselben. Die gesellschaftlichen Bedingungen und die litera-

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rischen Parteien zerstreuen nun durch ihre Ungunst seine Existenz und Èußere Wirksamkeit, stÈhlen doch zugleich und sammeln seinen Charakter. Und zwar ist, solange er in dieser kritischen Zerstreuung lebt, Berlin die natÝrliche Basis seiner TÈtigkeit, Nicolai und Mendelssohn sind seine natÝrlichen Genossen; der Kulminationspunkt dieser TÈtigkeit sind die Literaturbriefe. Ihr Zweck war, die aufstrebende deutsche Literatur durch Kritik zu fÚrdern. Vom Beginn des Jahres 1759 bis zum September 1760 regierte Lessing die Zeitschrift und war ihr Hauptmitarbeiter. Alles Lebendige und Zukunftsvolle in unserer jungen Poesie fand bei ihm, auch wo es außerhalb der Grenzen seines eigenen dichterischen VermÚgens lag, volles VerstÈndnis, und zugleich schÝtzte er in philosophischer Àberlegenheit den Erwerb der AufklÈrung gegen die FrÚmmelei des ZÝricher Patriarchen Bodmer und seines unbesonnenen Verehrers Wieland wie gegen das rÝckstÈndige Hofpredigerchristentum aus der Schule Klopstocks. Diese gesunde Position sicherte ihm inmitten der unreifen Parteien jener Tage die geistige Herrschaft. Er zuerst wÝrdigte ganz unbefangen Klopstocks poetische GrÚße; im Gegensatz zu den Berliner Genossen erkannte er die OriginalitÈt und Bedeutung der neuen dichterischen GefÝhlssprache, wie sie in dem Stil der Messiade und in den freien Rhythmen der Klopstock’schen Hymnen hervortrat, und zugleich durchschaute er doch den Grundfehler des neuen christlichen Epos, der in dem Mangel an sinnlicher Anschauung und epischer Ruhe lag. Mahnend, anerkennend und strafend begleitete er den seltsamen Entwicklungsgang Wielands und fÚrderte die Umkehr dieses echten ErzÈhlungsgenies aus christlicher SchwÈrmerei und aus herzloser Darstellung hohler Tugendideale zur Schilderung der Menschenkinder wie sie sind. Er machte die Bahn fÝr unser Drama frei, indem er die Àberlegenheit der germanischen TragÚdie Shakespeares in ihrer Naturwahrheit und schreckenerregenden GrÚße Ýber die hochzivilisierten und wohl geregelten StÝcke der franzÚsischen BÝhne zur Anerkennung brachte. Sein dramatisches Genie erkannte schon damals, daß Hamlet, Lear und Othello der antiken BÝhne in ihren wesentlichen ZÝgen nÈher standen als Corneille, Racine und Voltaire. Der genialste Kritiker Deutschlands wußte aber am besten, daß sich kritische TÈtigkeit nicht in Permanenz erklÈren darf. Als seine Berliner Freunde den Ertrag seines mÈchtigen Auftretens behaglich einzusammeln begannen, zog er sich ganz von ihren kritischen Tribunalen zurÝck, ohnehin war ihm ihre kritische Klugheit, Schreiblust und Alleswisserei Ýber den Kopf gewachsen, besonders Nicolais als eines geborenen Berliners. In einer mehrjÈhrigen ZurÝckgezogenheit von aller Schriftstellerei bereitete er die zusammenhÈngenden und wahrhaft positiven Einwirkungen vor, vermÚge deren er nunmehr die aufgeregten Lebensgeister zu leiten unternahm. Damit begann die zweite Epoche seines Wirkens.

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Schon Fichte hat in seiner Schrift gegen Nicolai bemerkt, daß dies die Bedeutung seines B r e s l a u e r Aufenthaltes (1760-1765) ist. „Daß Lessing in seiner frÝhen Jugend sich in einer unbestimmten literarischen TÈtigkeit herumgeworfen, daß alles ihm recht war, was nur seinen Geist beschÈftigte und Ýbte, und daß er hierbei zuweilen auf unrechte Bahnen gekommen, wird kein VerstÈndiger leugnen. Die eigentliche Epoche der Bestimmung und Befestigung seines Geistes scheint in seinen Aufenthalt in Breslau zu fallen, wÈhrenddessen dieser Geist, ohne literarische Richtung nach außen, unter durchaus heterogenen AmtsgeschÈften, die bei ihm nur auf der OberflÈche hingleiteten, sich auf sich selbst besann und in sich selbst Wurzel schlug. Von da an wurde ein rastloses Hinstreben nach der Tiefe und dem Bleibenden in allem menschlichen Wissen an ihm sichtbar.“ Dementsprechend schreibt Lessing am 5. August 1764 nach einer Fieberkrankheit: „Alle VerÈnderungen unsers Temperaments glaube ich, sind mit Handlungen unserer animalischen ³konomie verbunden. Die e r n s t l i c h e E p o c h e m e i n e s L e b e n s nahet heran; ich beginne ein Mann zu werden, und schmeichle mir, daß ich in diesem hitzigen Fieber den letzten Rest meiner jugendlichen Torheiten verraset habe.“ Nicht ganz siebzehn Jahre noch sollte er leben. Wie kurze Zeit fÝr das, was nun geschah! Zwei Epochen in dieser folgenden TÈtigkeit grenzen sich deutlich ab. Er begrÝndete zuerst die Form unserer deutschen Poesie durch seine Èsthetische Theorie, welche, bis Kants Kritik der Urteilskraft erschien, alle Èsthetische, literarisch-kritische Betrachtung bestimmte und die Produktion selber in wichtigen Punkten leitete. Er gab als Dichter – denn das war er! – unserer Literatur das nie wieder erreichte Vorbild eines echten Lustspiels sowie das einer ergreifend realistischen bÝrgerlichen TragÚdie. Und er ging dann dazu Ýber, vermÚge einer noch tiefer greifenden Einwirkung, den Gehalt unseres geistigen Lebens von der theologischen Bevormundung zu befreien, sowie dem deutschen Geiste einen selbstÈndigen Anstoß von der grÚßten Tragweite zu geben, unter dessen Macht wir noch heute stehen. Der dichterische Ausdruck dieser Epoche war Nathan der Weise.

II. •STHETISCHE THEORIE UND SCH³PFERISCHE KRITIK.

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Die praktische Bedeutung seiner Èsthetischen Theorien fÝr die Entwicklung unserer klassischen Literatur war ungeheuer. Sie bilden ein Ganzes. Vor seinem Geiste stand, als er den Laokoon begann, der Zusammenhang einer die

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Kunst umfassenden Lehre. Eine Wiederherstellung derselben aus dem Laokoon und der Dramaturgie, zusammengenommen mit anderen Quellen, wÈre wohl zu geben. Sie wÝrde schon einen vorlÈufigen Beweis liefern, wie Lessing nichts weniger als ein Gelegenheitsdenker war, ja wie ein großes Geheimnis seiner schriftstellerischen Wirkung darin liegt, daß seine scheinbar zufÈlligen und momentanen •ußerungen einen festen Hintergrund besitzen. Die Poetik des Aristoteles ist das Fundament der Lessingschen •sthetik. Dies zeigte sich zunÈchst in den Abhandlungen Lessings Ýber die Fabel und Ýber das Epigramm. In beiden regiert die Richtung des Aristoteles auf die Bestimmung der poetischen Gattungen und die Feststellung der in ihnen gegrÝndeten Regeln. Diese Richtung wird verstÈrkt durch das reformatorische Streben Lessings, vermittelst klarer Grenzbestimmungen die reinen Formen der Gattungen wiederherzustellen. So hat er 1754 in der mit Mendelssohn gemeinsam verfaßten Schrift: „Pope ein Metaphysiker!“ die Grenzen von Poesie und Philosophie aufgezeigt. Die systematische Ordnung des metaphysischen Denkens in dieser und die freie Begeisterung des Schaffens in jener schließen einander aus. In der Abhandlung Ýber die Fabel (1759) unternahm er, den Begriff der Fabel zu bestimmen und von diesem Begriff aus die breite GeschwÈtzigkeit der Fabeldichtung seiner Zeit einzuschrÈnken. Noch wird hier sein Verfahren den MÚglichkeiten nicht gerecht, welche die Auffassung des uns verwandten und doch fremden Lebens der Tiere dem Dichter fÝr diese Gattung gewÈhrt. Er wÝrdigt nicht richtig den selbstÈndigen Èsthetischen Wert des Nachempfindens der Tierwelt, wie es aus dem Èltesten VerhÈltnis zwischen dem Menschen und den Tieren hervorgegangen ist. Er verkennt die selbstÈndige dichterische Form La Fontaines, der mit souverÈner Heiterkeit die ganze KomÚdie des Lebens in der Tierwelt erblicken lÈßt. Man hÚre seine Definition der Fabel! „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurÝckfÝhren, diesem besonderen Falle die Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine Fabel.“ Aus diesem Begriff der Fabel entsprang die Prosafabel Lessings. Sie war doch hÚchstens Èußerlich von Richardson angeregt. Dem kleinen Gehalt der Gattung soll hier ihre kurze Form entsprechen. Diese Fabeln bringen eine Situation und eine Lehre zu genauer Deckung. Auf wenigen Seiten entsteht ein Bild der typischen Charaktere und Daseinsbeziehungen der Tierwelt, und in diesem spiegeln sich die Leidenschaften und IrrtÝmer der Menschen. Sehr viel spÈter, als diese Abhandlungen Ýber die Fabel hat er dann (1771) seine „Anmerkungen Ýber das Epigramm“ verÚffentlicht. Sie zeigen sein Èsthetisches Verfahren im Stadium der Reife. Der Umfang seiner Induktionen ist bewunderungswÝrdig. Aber auch hier ist sein Ziel ein Begriff des Epigramms, nicht eine Aufgabe, die dann in

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der Literatur in mannigfachen LÚsungen realisiert wird. Und aus dem Begriff ergeben sich ihm auch hier Regeln. Die echten Sinngedichte zerfallen in zwei Teile, deren erster Aufmerksamkeit und Neugier erregt, und deren zweiter dann diese Neugierde befriedigt. So entsteht folgender Begriff des Sinngedichts: „Das Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem nach Art der eigentlichen Aufschrift unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgendeinen einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit Eins zu befriedigen.“ Aus diesem Begriff ergeben sich ihm dann die einzelnen Regeln fÝr diese Dichtungsart. Wie sich so diese Einzelarbeiten als von Aristoteles beeinflußt zeigen, so ist von diesem nun auch der ganze Aufbau der •sthetik Lessings bestimmt, wie er im Laokoon vorliegt, und schließlich seine Theorie des Tragischen – der HÚhepunkt seiner •sthetik. 1.

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Wie hatte A r i s t o t e l e s , der erste große Denker, welcher die Kunst der Untersuchung unterwarf, dieses Problem aufgefaßt? Er begrÝndete eine Technik der dichterischen Produktion, ganz wie er eine solche des wissenschaftlichen Beweises gegeben hatte. Das kÝnstlerische Schaffen fÈllt fÝr ihn unter die gestaltende TÈtigkeit, und zwar sofern ihr Ziel die Hervorbringung von Werken ist, die dann außerhalb der hervorbringenden Person ein Dasein haben. Diese TÈtigkeit unterscheidet sich von dem theoretischen Verhalten, welches die Erkenntnis der unverÈnderlichen Eigenschaften des Wirklichen anstrebt, und sie sondert sich zugleich vom Handeln, dessen Wert in der inneren sittlichen Vollkommenheit gelegen ist. Als eine solche bildende TÈtigkeit ist nun das kÝnstlerische Schaffen auf sein Material angewiesen. In diesem ahmt es Wirklichkeit nach, indem es das Wesentliche, Typische derselben hinstellt. Welches sind nun die Grundunterschiede innerhalb dieser kÝnstlerischen Nachahmung? Der erste entsteht, wenn man von dem Mittel ausgeht, in welchem die Darstellung eines Gegenstandes stattfindet, ein anderer liegt in den GegenstÈnden, die dargestellt werden, und endlich ist ein dritter in der Art und Weise zu bemerken, wie die GegenstÈnde innerhalb eines bestimmten Mittels der Auffassung dargeboten werden. FÝr die Entwicklung der •sthetik war der erste unter den von Aristoteles herausgehobenen Unterschieden grundlegend. Es gibt ein kÝnstlerisches Schaffen in Farben und Formen, und ein anderes in Rhythmus, Wort und Melodie. Diesem Unterschied muß eine Verschiedenheit in der Technik dieser beiden Klassen von KÝnsten entsprechen. Denn jede bildende TÈtigkeit steht nach Aristoteles unter Regeln, die aus der Natur der Sache hervorgehen, und das Endziel jeder Wissenschaft von einer gestaltenden TÈtigkeit

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liegt in der Feststellung dieser Regeln. So entsteht die Aufgabe, aus dem Unterschied des Mittels, in dem diese beiden Klassen von KÝnsten wirksam sind, den ihrer Technik abzuleiten und in Regeln auszudrÝcken. Die Reste, die sich von der Kunstlehre des Aristoteles erhalten haben, versagen nun an dieser Stelle: gerade dadurch war den Nachfolgenden eine Aufgabe gestellt. Und die LÚsung derselben wurde mÚglich, seitdem vom 16. Jahrhundert ab die Sinnesorgane und deren Leistungen von Naturforschern und Philosophen studiert worden sind. Die Betrachtung dieser LÚsungsversuche macht den Zusammenhang deutlich, der zu Lessing hinfÝhrt. Mit tiefem Kunstverstand hat D u b o s in seiner Schrift: Kritische Reflexionen Ýber die Poesie und Malerei (1719) diese Fragen behandelt. Er schrieb als Kunstkenner und Kunstgelehrter, nicht als systematischer Philosoph. Er arbeitete mit dem Material, das seine klassischen Studien, die hohe Èsthetische Kultur des damaligen Frankreich und seine Reisen in anderen LÈndern ihm lieferten. Er beginnt mit einer psychologischen Beobachtung. In der Natur des Menschen liegt ein BedÝrfnis nach Erregung. Diesem BedÝrfnis dient die Kunst, welche seelische Erregungen absichtlich erzeugt. LosgelÚst von dem Zusammenhange mit der Not des Tages, gibt sich der Mensch in der Auffassung kÝnstlerischer Werke den Phantomen von Leidenschaften hin, welche die Schaffenden vor ihn hinstellen. Aus den natÝrlichen Regungen seines Inneren versteht er, was sie ihm zu sagen haben. Da sie nun aber in verschiedenen Mitteln sich ausdrÝcken, so ist zunÈchst von diesen die Art und der Umfang dessen abhÈngig, was in Kunstwerken zur Darstellung gelangen kann. Die TÚne, die das Reich der Musik bilden, sind Zeichen, durch welche die Natur selbst die Energie der Erregungen zum Ausdruck bringt; die Farben und Formen, die das Mittel der Malerei sind, zeigen den innerlich bewegten KÚrper selber: die Ausdrucksmittel dieser beiden KÝnste sind also natÝrlich. Die Dichtung dagegen wirkt durch kÝnstliche Zeichen: denn das Wort und dasjenige, was es bedeutet, sind in der Sprache durch kein inneres Band miteinander verknÝpft. So hat die Dichtung nicht die unmittelbare Erregungskraft, die der Musik oder der Malerei eignet, aber das ganz allgemeine Ausdrucksmittel der Sprache lÈßt sie dafÝr um so freier Ýber den Umkreis der Wirklichkeit schalten. Indem der Maler von den •ußerungen der GemÝtszustÈnde ausgeht, entstehen ihm hierdurch eigene Vorteile fÝr die LÚsung der Aufgabe, die Mannigfaltigkeit menschlicher Erregungen nach Temperament, Alter, Geschlecht, Vaterland und Glaube nachfÝhlen zu lassen. Ebenso ist er dem Dichter in der Darstellung von Massen Ýberlegen; er kann den großen Zug einer einheitlichen Erregung zum Ausdruck bringen, indem er dieselbe an Gruppen oder einzelne Personen verteilt und deren GefÝhlsÈußerungen gegeneinander ab-

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stimmt. Endlich kann der Maler Momente von hÚchster Wirkung, wie die Ermordung des CÈsar, mit hÚchster Kraft und Angemessenheit vor Augen bringen, wÈhrend der tragische Dichter – und hier spricht die Delikatesse der franzÚsischen BÝhne – zu weit hinter der Wirklichkeit bleibt und leicht in das Unangemessene oder gar in das LÈcherliche verfÈllt. Wo aber Gedanken und GefÝhle weder von einer besonderen Bewegung begleitet noch durch Handlungen besonders bezeichnet oder durch den Ausdruck des Gesichts scharf charakterisiert sind: da endet der Bereich der malerischen Darstellung, und die Mittel der Dichtung entfalten ihre ganze Wirksamkeit. „Ein Dichter kann uns vieles sagen, wofÝr dem Maler ein entsprechender Ausdruck fehlt.“ Was die paar Worte des Horatius bei Corneille: „qu’il mourÃt“ ÝberwÈltigend aussprechen, kann uns kein GemÈlde vorfÝhren. Auch vermag der Dichter die Entwickelung der Handlung in ihrem ganzen Verlauf zu geben. Der Maler dagegen kann nur einen Moment herausheben, der in seiner Bedeutung doch erst aus der Beziehung zu dem Ganzen der Handlung verstÈndlich wird. Wenn ein GemÈlde nun gar einen historischen Vorgang zum Gegenstande hat, ist das Interesse des Beschauers an dieser Abbildung von seiner Bekanntschaft mit dem Gegenstande selber abhÈngig, und so ist der KÝnstler auf allgemein bekannte Stoffe eingeschrÈnkt, will er nicht die Grenzen seiner Kunst – etwa durch einen erlÈuternden Text – Ýberschreiten. Und schließlich kann der Dichter unmittelbar die Innerlichkeit seiner Personen zeigen: „Die Èußeren Eigenschaften, wie SchÚnheit, Jugend, MajestÈt und Liebreiz, die der Maler seinen Personen mitgeben kann, rufen nicht dasselbe Interesse hervor als die Tugenden und Eigenschaften der Seele, welche der Dichter den seinigen zu geben vermag.“ Er zeigt Seelenleben in verschiedenen Momenten und unter verschiedenen UmstÈnden: die ZÝge desselben, die so hervortreten, ergÈnzen sich gegenseitig: der Maler kann eine Person nur einmal und nur in Einem GemÝtszustande sehen lassen. Dubos und Lessing stimmen in den grundlegenden SÈtzen Ýberein. Lessing hat den franzÚsischen Kunstschriftsteller studiert und benutzt. Dies erweist seine 1755 erschienene Àbersetzung der Abhandlung dieses •sthetikers Ýber das antike Theater, die einen Teil der Schrift von Dubos Ýber Poesie und Malerei bildete. In dem Vorwort dieser Àbersetzung geht er auf die Grundlehren von Dubos ein. Eben diese mÝssen auch in seinen GesprÈchen mit Mendelssohn, die zu derselben Zeit stattfanden, oft erÚrtert worden sein. Dubos fÝhrte jedoch Lessing nur an sein Problem heran. Sein Absehen war auf die Erkenntnis der LeistungsfÈhigkeit der Dichtung, nicht auf die Einsicht in ihre Technik gerichtet. Seine Lehre von dem Umfang, in welchem Verbindungen von Worten als Darstellungsmittel dienen kÚnnen, rechtfertigte die malende Poesie. So mußte Lessing ihn teils fortsetzen, teils berichtigen.

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Der franzÚsische Kunstrichter, den damals die deutschen •sthetiker immer zur Hand hatten, war B a t t e u x . Lessing konnte indes kaum etwas in ihm finden, das nicht andere Èsthetische Schriften ihm besser geboten hÈtten. Batteux systematisierte Dubos. Aber er systematisierte schlecht. Der verhÈngnisvolle Irrtum der Zeit, der Dichter male mit Worten, der Maler dichte mit Farben, mußte sonach bei diesem Theoretiker des herrschenden Kunststils wiederkehren. Und wenn Lessing auch aus der Schrift Webbs Ýber das SchÚne in der Malerei manches einzelne entnahm: in diesem Hauptpunkt stand es bei Webb nicht anders.

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Mit dem, was diese Schriftsteller und in Verbindung mit ihnen ArchÈologie und Philologie in Lessing anregten, traf nun aber in seinem Geist eine andere wissenschaftliche Bewegung zusammen, welche dasselbe Èsthetische Problem von einer anderen Seite auffaßte und auch seine Ideen Ýber das Drama vorbereitet hat. Denn nun wÈchst in dem Verlauf der •sthetik der AufklÈrung bestÈndig der Geist der p s y c h o l o g i s c h e n A n a l y s e . Die Methode, die Locke auf das Problem des Erkennens angewandt hatte, wird auf alle Gebiete des geistigen Lebens Ýbertragen. Die komplexen psychischen Tatsachen werden zerlegt in die einfachen, und dann wird die Form ihrer Zusammensetzung studiert. Die regelmÈßigen Verbindungen werden beschrieben, welche zwischen den einfachen Eigenschaften der Èsthetischen Objekte und den ihnen zugehÚrigen Èsthetischen GefÝhlen bestehen. Shaftesbury bemerkt das VerhÈltnis, in dem die IntensitÈt des Èsthetischen Eindrucks wÈchst. Hutcheson experimentiert mit einfachen mathematischen Figuren und versucht die ihnen entsprechenden Èsthetischen Werte zu bestimmen. Hogarth prÝft den SchÚnheitswert der Linie an den geraden Linien, an den krummen, an ihren Zusammensetzungen, um schließlich an der Wellenlinie die innigste und wirksamste Vereinigung von Einheit und Mannigfaltigkeit zu finden. Burke bemerkt die Verbindung zwischen der Kleinheit und der GrÚße der GegenstÈnde und deren Èsthetischer Wirkung. Und schließlich untersucht Home ganz allgemein die Beziehungen zwischen bestimmten Èsthetischen EindrÝcken und bestimmten Eigenschaften der Èsthetischen Objekte. Er entdeckt eine große Anzahl solcher Beziehungen, welche die Elemente unserer Èsthetischen Wertbestimmungen ausmachen. Eine Zeit, die so in der subtilsten Analyse des Seelenlebens schwelgt, wird die großen und festen Formen der Kunst sprengen, da diese fÝr das Detail zarter unmerklicher GefÝhle keinen Raum haben. Sie wird den unendlichen Nuancen dieser neuentdeckten Welt nachgehen. Und sie wird das unendliche Er-

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lebnis solcher GefÝhlswelt an denjenigen Menschen aufsuchen mÝssen, in denen es zuerst seine volle Bedeutung gewonnen hat: so wird sie den Menschen ihrer Gegenwart sich zum Gegenstand ihrer Kunst wÈhlen – hÚchstens verkleidet in ideale KostÝme, und wird in der gegenwÈrtigen Gesellschaft das interessanteste Objekt der Dichtung erblicken. Denn in dieser Gesellschaft entsteht nun auch die Mischung der StÈnde, welche alle feiner organisierten Menschen vereinigt. Dies ist die AtmosphÈre, in der Lessing gedichtet und gedacht hat. Auch er sucht die neue Kunst, welche die Gesellschaft und das Leben der Zeit zu ihrem Gegenstande hat. Aus seinen unzÈhligen PlÈnen, welche die ganze dramatische Stoffwelt durchstreifen, treten dann doch schließlich die drei großen dramatischen SchÚpfungen hervor, welche direkt oder in leichter Verkleidung nach franzÚsischer Manier Gesellschaft und Seelenleben seiner eigenen Umgebung zum Gegenstande haben. Und dieser Wendung in der Kunst sucht auch seine Theorie gerecht zu werden. Aber darin liegt nun seine große Position: er hielt zugleich unverbrÝchlich fest an der Forderung der großen Formen in der Kunst. Das Studium des Homer, Sophokles, Shakespeare, Molire lehrte ihn, daß alle große Dichtung an festgefÝgte strenge Technik gebunden ist. Das Alte war vergangen. Eine neue Stoffwelt drÈngte sich hervor. Lessing liebte Diderot, das reichste franzÚsische Genie der Zeit. Er war mit ihm einig, den sich zudrÈngenden modernen Stoffen Raum zu geben. Er schÈtzte den „Hausvater“ desselben sehr hoch und rechnete ihn sogar unter die StÝcke, von denen eine lang andauernde Wirkung auf der BÝhne zu erwarten sei. Er teilte mit Diderot die Àberzeugung, daß „das Theater weit stÈrkerer EindrÝcke fÈhig sei, als man von den berÝhmtesten MeisterstÝcken eines Corneille und Racine rÝhmen kÚnne“. Er Ýbertrug Diderots „Theater“, das dessen beide großen bÝrgerlichen Dramen und seine Abhandlung Ýber die Dichtkunst enthielt. Und wie er Ýber dies Programm des modernen Realismus dachte, zeigt sein Wort: „nach Aristoteles hat kein philosophischerer Geist sich mit dem Theater abgegeben als er.“ Aber die GeschwÈtzigkeit des GefÝhls, von welcher die Handlung Diderots umsponnen ist, hat der deutsche Dichter nach der Sara bald aufgegeben, um, viel schÈrfer als Diderot getan, das bÝrgerliche Drama zu geschlossener Einheit zusammenzuziehen. Dem entsprach die eigene Stellung, die er innerhalb der neuen Èsthetischen Theorie und Kritik behauptete. Wenn die Zergliederung des GefÝhlslebens damals die Perspektive in grenzenlose MÚglichkeiten Èsthetischer Wirkungen erÚffnete, wenn sich unter dem Einfluß dieser Analyse die strenge und einfache Regelgebung der griechischen und dann der franzÚsischen •sthetik in eine große Zahl von Vorschriften zersplitterte, die diesen MÚglichkeiten nachgingen – Lessing verstand sich sehr

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wohl auf diese Methode, aber er hat nur so weit Gebrauch von ihr gemacht, als sie seinem Zwecke dienen konnte, die großen einfachen Formen der Dichtung und die scharfe Abgrenzung ihrer Gattungen vermittelst durchgreifender Prinzipien wiederherzustellen. Sein letztes Absehen war die Reform unserer zerfahrenen deutschen Dichtung, und im Sinne der AufklÈrung suchte er die Grundlage fÝr eine solche in wohlfundierter und klarer Regelgebung. Er ist Dichter und weiß, was der Dichter bedarf. Wenn Schiller spÈter einmal in dem Affekt des Schaffens ausgesprochen hat, wie er alle seine vergangene Èsthetische Arbeit fÝr fruchtbare technische Regeln hingeben wÝrde: eben auf solche war Lessing gerichtet. Das Verfahren, durch das die rationale •sthetik diese Aufgabe gelÚst hatte, war mit Recht aufgegeben. Lessing konnte die Regeln nicht aus dem Èsthetischen Charakter der objektiven Welt selbst, aus der Harmonie des Weltzusammenhanges ableiten. Nur die Zergliederung der Èsthetischen Wirkungen konnte ihn zu seinem Ziel fÝhren. Denn jede Kunstregel ist ja die Anweisung Ýber ein Verfahren, die denkbar hÚchsten Èsthetischen Wirkungen hervorzubringen. Wenn die Analyse des schaffenden Genies, die dann durch Kant und Schiller in den Mittelpunkt der •sthetik treten sollte, damals schon in England eingesetzt hatte, so ging an dieser Lessing gleichgÝltig vorÝber, weil sie ihm nichts nutzen konnte. Aus dieser historischen Stellung Lessings ergibt sich sein VerhÈltnis zu den großen Arbeiten der psychologisch-Èsthetischen Analyse, wie sie Hutcheson, Harris, Hogarth, Burke, Mendelssohn und Home von 1725 bis zum Erscheinen seiner Èsthetisch-kritischen Hauptwerke verÚffentlicht haben. Er hat alle diese Schriften studiert, der Kritik unterworfen oder benutzt. Besonders wichtig sind fÝr ihn die von Harris und Mendelssohn geworden. H a r r i s ’ Dialog Ýber die Kunst, sowie der andere Ýber Musik, Malerei und Dichtung waren vielgelesen, als Lessing seinen Laokoon entwarf, wie sie denn auch in dieser Zeit zweimal ins Deutsche Ýbertragen worden sind. Nach Harris ist der gesamten Kunst gemeinsam, daß sie ein Ganzes hinstellt, welches aus Teilen besteht. In der Ordnung der Teile zum Ganzen liegen nun fundamentale Unterschiede. Wir unterscheiden eine Ordnung der Teile nebeneinander im Raume und eine Ordnung nacheinander in der Zeit. Im ersten Falle erscheint das Ganze als ein abgeschlossenes Werk, im zweiten als eine in der Zeit ablaufende Energie. Die Ordnung der Dinge nebeneinander im Raume ist das Mittel der bildenden Kunst. Sie umfaßt alles, was die Gesichtswahrnehmung darbietet, die Bewegung ausgenommen, welche das abgeschlossene Werk nicht darzustellen vermag: dies ist der Umkreis ihrer Mittel. Wie sie nun so Sukzession nicht abzubilden vermag, ist sie angewiesen auf die Auswahl des richtigen Momentes, welcher den ablaufenden Vorgang vertreten

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kann. In der anderen SphÈre der KÝnste, welche durch den GehÚrssinn wirken, hat die Dichtung eine eximierte Stellung, vermÚge der Natur der menschlichen Sprache, in welcher Laute in Vertretung von Vorstellungen gebraucht werden. So wird in ihr der gesamte Bereich der menschlichen Vorstellungen darstellbar und sie faßt die Kreise aller einzelnen KÝnste in sich. So weit kam Harris in der AusfÝhrung des aristotelischen Grundgedankens. Zu einer wirklichen Technik der Poesie ging er nicht fort. Ja, er hatte sich eine solche unmÚglich gemacht durch die vage Bestimmung ihres Umkreises, welche ganz mit der falschen Praxis einer malenden und musikalischen Poesie in Einklang war. Tiefer noch als der Einfluß von Harris war der M e n d e l s s o h n s auf Lessing. Die beiden kamen, nachdem sie sich 1754 kennen gelernt, bald einander nahe. Sie verfaßten zusammen die bekannte ironische Beantwortung einer Preisfrage der Berliner Akademie. Gemeinsam durchmusterten sie die psychologisch-analytischen Arbeiten der EnglÈnder und versuchten sich an der AuflÚsung des Problems, wie ein tragischer Gegenstand das GemÝt zu erheben vermÚge. Ihre Diskussionen waren beherrscht von der Analyse des GefÝhls, die Mendelssohn dem deutschen Publikum vorgelegt hatte. Besonders Mendelssohns Behandlung der gemischten GefÝhle wurde fÝr Lessing wichtig. An sie knÝpft sich ein großer Teil seiner Zergliederungen von Èsthetischen Wirkungen im Laokoon wie in der Dramaturgie an. Wo Lessing die Darstellung des LÈcherlichen, Ekelhaften und Schrecklichen in der Dichtung behandelt, erwÈhnt er ausdrÝcklich der Lehre des Freundes von den gemischten GefÝhlen. Hier erÚffnet sich uns nun ein Einblick in die WerkstÈtte Lessings. Die ganze Arbeit der Èsthetisch-psychologischen Analyse hatte dieser gewaltige Leser mit durchgemacht, und nun vergleiche man damit die wenigen Seiten im Laokoon und in der Dramaturgie, in die er den Ertrag fÝr seinen Zweck zusammenfaßte! Nicht anders verfuhr er mit seinen ausgedehnten Studien Ýber Bildhauer, Maler und Dichter. Er besaß die Kunst und die Entsagung des Schriftstellers, nur die Momente, die fÝr die BegrÝndung seiner fruchtbaren, weittragenden SÈtze erforderlich waren, zusammenzupacken, alles andere aber unter den Tisch fallen zu lassen. 3.

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Die Darlegung von Lessings VerhÈltnis zu seinen VorgÈngern ermÚglicht jetzt, seine Theorie der Dichtung zu wÝrdigen. Die allgemeine Lehre von ihr ist im L a o k o o n entwickelt. Das Problem dieses Werkes war schon entdeckt, ja die Grundkonzeption war schon gefun-

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den, auf welcher dessen LÚsung beruht: das Gebiet der bildenden Kunst ist das im Raume geordnete kÚrperlich Sichtbare; das Gebiet der Poesie ist die Zeitfolge und das in ihr vermÚge der Sukzession von Lauten Gegebene. Es verhÈlt sich hier genau so, wie wir es bei Lessings theologischen Untersuchungen finden werden. Die Unkunde des wirklichen Bestandes der Untersuchungen schiebt gerade den Unterbau der Theorie Lessings, den er nur Ýbernahm, in den Vordergrund. Was kommt nun aber Lessing zu? ZunÈchst die Fragestellung, welche auf die Sonderung der bildenden Kunst und der Dichtung gerichtet ist, dann aber der Ausgangspunkt, an welchem seine originalen Ideen einsetzen. Es ist wahr, daß die Rede durch ihre kÝnstlichen Zeichen ebensowohl das im Raum nebeneinander Bestehende darstellen kann als das, was sich in der Zeit folgt. Der wissenschaftliche Schriftsteller vermag das im Raum Gegebene, ein Naturobjekt oder eine Maschine durch Worte klar und deutlich zu beschreiben. Aber der Poet will nicht bloß verstÈndlich werden: ihm ist es um die volle Anschaulichkeit und den starken Eindruck dessen zu tun, was er darstellt. So entsteht nun erst das Problem: in welchem Umfang kann durch die Aufeinanderfolge der Worte diese Aufgabe gelÚst werden? Wie kann – und diese Frage ist vielleicht der tiefste Punkt, zu dem die allgemeine Theorie der Dichtung im Laokoon vordringt – die Folge der Worte eine Illusion hervorrufen, welche eben dies in bloßer Wortfolge liegende Mittel vergessen macht? Welche sind dann anderseits die besonderen Vorteile, die sich aus den Wortzeichen dem Dichter ergeben? Der Dichter kann nicht malen, denn die Aufeinanderfolge der Worte, welche nacheinander die Teile des Gegenstandes zur Anschauung bringen, ist nicht rasch genug, als daß der starke Eindruck des ersten Zuges in dem Bilde noch fortdauerte, wenn sein Leser oder HÚrer bei dem letzten angelangt ist: so bildet sich kein wirksames Ganze aus diesen ZÝgen. Anderseits entsteht dem Dichter ein eigener Vorteil aus solcher Darstellung in Worten, indem in ihr das HÈßliche und Ekelhafte, das im LÈcherlichen und im Schrecklichen enthalten ist, nach seiner sinnlichen Wirkung gemindert ist und so als ein untergeordnetes Glied in den Zusammenhang des poetischen Werkes aufgenommen werden kann. Ich zÈhle Lessings weitere Folgerungen nicht auf. Er wurde durch sie nach Aristoteles der zweite Gesetzgeber der KÝnste, insbesondere der Poesie. Die allbekannten Gesetze der bildenden Kunst, wie das der Auswahl des fruchtbarsten Moments oder das von den Grenzen der SchÚnheit, und die noch tiefer greifenden Stilgesetze der Poesie, wie das von der inneren Vollkommenheit als dem wahren Gegenstande poetischer Darstellung, das von der AuflÚsung der SchÚnheit in Reiz als eine in Bewegung gedachte SchÚnheit, das andere von ihrer Darstellung in einem Zeitverlauf – : sie alle haben auf die Phantasie und das Verfahren der KÝnstler und Dichter selber Einfluß erlangt. Insbesondere waren fÝr Goethe und Schiller die

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von Lessing aufgestellten Gesetze der Dichtkunst geradezu leitend. Die Art, wie diese beiden in ihrer Lyrik und ihren epischen SchÚpfungen alle ruhende Erscheinung in den Zug der Bewegung und Handlung auflÚsen, zuweilen mit den durchdachtesten Mitteln, entspringt nicht allein dem Instinkt des Genies, sondern der Einsicht und dem Studium, zu denen in diesen Punkten Lessing anleitete. Ein zweites Verdienst dieser genialen Schrift greift weit Ýber den Kreis von Kunststudien hinaus. Laokoon ist das erste große Beispiel analytischer Untersuchungsweise auf dem Gebiet geistiger PhÈnomene in Deutschland. Die Tatsache ist hÚchst merkwÝrdig, daß Lessing selber, umgeben von lauter systematischen Deduktionen auf diesem Gebiet, noch so wenig auf eine Billigung fÝr diese neue Untersuchungsweise zu hoffen wagte, daß er sich ihretwegen, obwohl mit merklicher Ironie, in der Vorrede entschuldigte. FÝr junge KÚpfe gibt es auch heute kaum ein anregenderes Beispiel dieser Methode. Man kann seine FÈlle nicht glÝcklicher wÈhlen, als es Lessing tut, wenn er vom Unterschied des schreienden Laokoon bei Virgil und des unterdrÝckten Aufschreis desselben in der bildenden Kunst ausgeht. Man kann nicht methodischer entgegenstehende Instanzen und Ýbereinstimmende FÈlle hinzubringen, als er es tut; er ist unermÝdlich in der Analyse von Tatsachen, bis die erklÈrenden Stilgesetze ganz gesichert erscheinen. Und nun erst, nachdem induktiv die Gesetze gefunden sind, gibt er, ganz wie die grÚßten Beispiele der Naturforschung die Methode vorschreiben, eine umfassende erklÈrende Theorie, aus welcher deduktiv sich das Verfahren der einzelnen KÝnste ableiten lÈßt, um dann endlich die Àbereinstimmung dieser Theorie mit einer ganzen Reihe von noch unberÝcksichtigten Verfahrungsweisen Homers zu zeigen. Wie in einem unvergleichlich grÚßeren Fall Newtons Nachfolger zeigten, daß seine Gravitationstheorie auch Ebbe und Flut und die StÚrungen der Planetenbahnen erklÈre, so zeigt Lessing nachtrÈglich, daß das Verfahren des homerischen Genius sich aus den von ihm entdeckten, in der Natur der Poesie gegrÝndeten Stilgesetzen ableiten lasse. Der Laokoon ward abgebrochen. Wir unterdrÝcken unsere Vermutungen Ýber den weiteren Plan. Jedenfalls kann die Stellung der Dramaturgie zu der in dem genialen Werke enthaltenen allgemeinen Theorie der Poesie keinem Zweifel unterliegen. Das Drama ist der HÚhepunkt der Poesie im Geiste Lessings. Schon FrÝhere haben bemerkt, daß Gervinus, der außerordentliche Kenner Lessings, irrt, wenn er dem Epos diese Stellung zuweist. Lessing, dem das Wesen aller Poesie Handlung war, erkannte naturgemÈß in der dramatischen Handlung die Vollendung der Poesie. Vor dieser mÈnnlichen, wahren Anschauung traten all die damals so Ýppig wuchernden Zwitterarten der Kunst ins Dunkel zurÝck, welche durch Beschreibung, Philosophie oder musi-

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kalischen Klang zu wirken suchten. Das Theater ward der Mittelpunkt unserer Literatur. Handlung ward bis in die Lyrik hinab Ýberall von Goethe und den Seinen stÝrmisch begehrt. 4. So bestimmte die D r a m a t u r g i e die wahre Stellung des Drama. Sie faßte aber zugleich das Wesen desselben tiefer als von irgendeinem Theoretiker vor ihm geschehen war. Wie man irrt, wenn man die Theorie des Laokoon als Lessings originale SchÚpfung ansieht, weil hier der historische Zusammenhang von Lessing absichtlich verdeckt ist, so tÈuscht man sich auch, wenn man die Theorie der Dramaturgie darum, weil hier die AutoritÈt des Aristoteles Ýberall sichtlich, gleich einer Schutzwehr, vorgeschoben ist, wie eine kommentierende Anwendung Aristotelischer SÈtze behandelt. Die Dramaturgie ist von einer viel tieferen OriginalitÈt als der Laokoon. Das Wesen der Poesie ist Handlung; das Drama ist die vollendete, vollendet vergegenwÈrtigte Handlung; die Form der Handlung ist Einheit. DemgemÈß bedarf das Drama die strengste Einheit der Handlung – aber diese allein; aus diesem Formgesetz des Drama ergeben sich die Grenzen, innerhalb deren ein Wechsel von Zeit und Ort stattfinden darf: Einheit von Zeit und Ort sind somit nur sekundÈre Forderungen der dramatischen Form. Die Wirkung dieser SÈtze war ungeheuer. Auch in ihnen waltete der Lessing so eigene Genius der produktiven Kritik, zerstÚrend und aufbauend zugleich; denn sie befreiten von den falschen Einheiten der Franzosen, aber sie erneuerten, inmitten formloser dramatischer Experimente, das große Formgesetz der Einheit der Handlung, welches Lessing gegenÝber den Jugendwerken Goethes fest und hoch gehalten hat, und das dann Goethe und Schiller nach dem Tode des großen VorgÈngers in seiner unantastbaren Richtigkeit geschÝtzt haben. Dieses Formgesetz spricht indes nur die kÝnstlerische Bedingung aus, unter welcher eine Handlung wirkt. Daß sie wirkt, der Grad, in welchem sie der Wirkung fÈhig ist: das hÈngt von dem Gehalt der Handlung ab. Und den hÚchsten Grad der Wirkung bringt die tragische Handlung hervor. Gewiß hÈtten die meisten Denker nun hier ein konstruktives Verfahren versucht, durch welches die hÚchste Klasse von Wirkungen bestimmt wÝrde, die eine Handlung auf die menschliche Natur zu Ýben imstande ist. Lessing hÈlt auch hier streng die Linie der induktiven Forschung ein. Er untersucht alle Arten von Wirkungen, welche die dramatische Handlung tatsÈchlich hervorgebracht hat; ein unendliches Material steht ihm, als einem der gelehrtesten Kenner der dramatischen Literatur, zu Gebote. Und er fÝhrt die tragische Wirkung als die hÚchste, welche er auf dem ganzen Gebiet der dramatischen

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Literatur entdeckt, durch eine wundervolle Reihe von SÈtzen auf bestimmte Eigenschaften der dramatischen Handlung zurÝck. Es gibt ein Kennzeichen fÝr die SchÚpfungen des dramatischen Genies Ýberhaupt: „die strenge Folge in den Handlungen nach dem Gesichtspunkt der KausalitÈt.“ Also die genial aufgefaßte Welt zeigt einen ausnahmelosen Zusammenhang der Motivation: sie enthÈlt nirgend die Freiheit. Und zwar macht das dramatische Genie diesen notwendigen Zusammenhang vollkommen durchsichtig. „Wir mÝssen bei jedem Schritt, den der Poet seine Personen tun lÈßt, bekennen, wir wÝrden ihn in dem nÈmlichen Grade der Leidenschaft, bei der nÈmlichen Lage der Sache selbst getan haben.“ Das heißt doch: der Dichter soll die Motivation in der moralischen Welt nicht nur wahr auffassen, sondern auch so darstellen, daß sie vÚllig durchschaubar wird. Zwei GrundzÝge im Charakter der Handlung machen dies mÚglich. Oder vielmehr es ist derselbe Charakter der Handlung, in zwei verschiedenen Beziehungen zum Zuschauer angesehen, welcher hier hervortritt. Isoliere ich die Wirkung der Handlung auf die bloße Intelligenz des Zuschauers, so ist der Charakter der tragischen Handlung jenes Aristotelische: „die Absicht der TragÚdie ist weit philosophischer als die Absicht der Geschichte.“ Gerade dieses tiefsinnigen Wortes bemÈchtigt sich Lessing und erklÈrt es dahin: „Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was jeder Mensch unter gewissen gegebenen UmstÈnden tun werde.“ Man kann nicht kÝhner reden in dieser Beziehung. Der ganze Zusammenhang, der von der allgemeinen menschlichen Natur durch eine Reihe von Bedingungen hindurch bis zu einer einzelnen komplizierten Handlung fÝhrt, soll zur Anschauung kommen. Die Handlung der TragÚdie soll also in die SphÈre des Allgemeinen und Notwendigen, des Philosophischen erhoben sein, und sie kann es, indem hier das allgemeine Gesetz der menschlichen Leidenschaften sich in einem besonderen Falle spiegelt. Eine weittragende Aussicht erÚffnet sich hier: die TragÚdie soll uns nicht Leidenschaften ohne ErklÈrung vorfÝhren, welche schon in Flammen sind, nicht Charaktere ohne ErklÈrung, welche schon fertig sind. Eine Leidenschaft ohne ihre BeweggrÝnde bleibt uns fremdartig, auch in ihren erhabensten Wirkungen nur betÈubend; ein Charakter ohne seine Bedingungen bleibt uns rÈtselhaft, auch in seiner hÚchsten Machtentfaltung nur ein erstaunliches PhÈnomen. Die TragÚdie soll uns in die Mitte der Bedingungen eines tragischen Charakters und in die Genesis seiner Leidenschaft versetzen. Lessing steht hier vor einer Reihe der wichtigsten Wahrheiten Ýber das VerhÈltnis von Poesie, Philosophie und Geschichte. Vielleicht wenn er heute mit seinem alten Interesse fÝr die Dichtung wiedererschiene, wÝrde er diese vor allem entwickeln, um ihrer praktischen Wirkung willen.

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Aber der Charakter der tragischen Handlung bekundet sich erst ganz in ihrer Wirkung auf die GemÝtskrÈfte des Zuschauers. Denn unsere Relation zu Charakteren, ihren Leidenschaften und den aus ihnen fließenden Handlungen ist niemals bloß Vorstellung, wir verstehen nur was wir in uns nachgeschehen lassen. Dies ist das fruchtbare Prinzip des Weltverstandes, der geschichtlichen Anschauung, des dramatischen Schaffens und Verstehens. Auch die hÚchsten Wirkungen der Kunst ruhen auf den Naturgesetzen unserer Affekte, nicht in einem abstrakten VermÚgen der Vorstellungen und der Ideen. Lessing gewann diese Einsicht aus dem Studium des Aristoteles. „Die TragÚdie – sagt Aristoteles – ist die Nachahmung einer Handlung von wÝrdig bedeutendem Inhalt, durch handelnde Personen, nicht durch ErzÈhlung, welche vermittelst des Mitleids und der Furcht die Reinigung derartiger Leidenschaften hervorbringt.“ Also vermittelst des Mitleids und der Furcht wirkt die TragÚdie. Lessing ging nun davon aus, daß Mitleid und Furcht hier in einer inneren psychologischen Beziehung aufeinander gedacht seien: Mitleid und Furcht sind hier ein Begriff; „diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid“. Er berief sich hierfÝr auf eine Stelle im zweiten Buch der Aristotelischen Rhetorik. „Alles das“ – sagt dort Aristoteles – „ist uns fÝrchterlich, was, wenn es einem anderen begegnet oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken wÝrde, und alles das finden wir mitleidswÝrdig, was wir fÝrchten wÝrden, wenn es uns selbst bevorstÈnde.“ Diese RÝckbeziehung der Furcht auf das Mitleid lÈßt sich weder philosophisch noch historisch halten. Das Wesentliche in der Lehre Lessings lag aber darin, daß er mit Aristoteles die Wirkung der TragÚdie in erster Linie auf das Mitleid zurÝckfÝhrte und dieses in seiner ganzen Tiefe faßte. Mitempfindung, Mitfreude und Mitleid, ein Miterzittern unseres Inneren, wie eine zweite Saite mittÚnt mit einer zuerst angeschlagenen: dieses UrphÈnomen der menschlichen Seele – denn jede ZurÝckfÝhrung desselben auf andere psychologische Tatsachen bleibt auch heute noch unsicher – ist die elementare Tatsache, auf welcher die Kunst des tragischen Dichters beruht. Auf Grund dieser seiner Einsicht mußte er in der Handlung und den Charakteren selber die lebendige Bewegung der Leidenschaften verteidigen. Auch hier ist ein Punkt, an welchem seine freie große Seele eine tief einschneidende Èsthetische Wahrheit sah, indem sie in das Gesetz ihrer selbst blickte. Schon der Laokoon spricht Ýberall aus, wie ihm der Stoizismus der rÚmischen und franzÚsischen TragÚdie zuwider war. Das Stoische ist untheatralisch. Unser Mitleiden ist allezeit dem Leiden gleichmÈßig, welches der interessierende Gegenstand Èußert; Bewunderung ist ein kalter Affekt. Wie mußten solche Worte zÝnden, inmitten der abstrakten Moral jener Zeit, welcher jede Leidenschaft SÝnde war! Wie mußte das Wort des Philotas befreiend wirken, welches der

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Ausdruck des Lessing eigenen LebensgefÝhls war: „ich bin ein Mensch und weine und lache gern.“ Das Mittel, dessen sich, um so die Empfindung von Mitleid und Furcht hervorzurufen, der Dichter bedient, angesichts der sich durchkreuzenden Mannigfaltigkeit der wirklichen Welt, ist die dichterische Abstraktion. Die Natur nach ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit ist nur ein Schauspiel fÝr einen unendlichen Geist. Ohne das VermÚgen, aus ihr abzusondern und die Aufmerksamkeit nach GutdÝnken zu lenken, wÝrde es fÝr uns gar kein Leben geben. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des SchÚnen dieser Absonderung zu Ýberheben, uns die Fixierung der Aufmerksamkeit zu erleichtern. Die Kunst zeigt uns ihren Gegenstand oder ihre Verbindung von GegenstÈnden so, daß nichts in ihnen zurÝckgeblieben ist, was nicht das GefÝhl erregt das erregt werden soll. Àberblicken wir die Èsthetischen Entdeckungen Lessings, so ist der schÚpferische Grundgedanke derselben von einer ungemeinen SimplizitÈt. Und unsere Anschauung von dieser großen Natur vereinfacht sich noch einmal, indem wir den Zusammenhang jenes Grundgedankens mit Lessings dichterischen SchÚpfungen, und beider mit seinem geistigen Naturell erblicken. Aus diesem erhob sich ihm, gegenÝber malender, musikalischer, philosophischer Poesie, gegenÝber gedrÝckter, Èngstlicher, jede Empfindung herabstimmender theologischer Moral, gegenÝber einem kalten, aus Tugenden des Anstandes gebildeten dichterischen Ideal, die Grundkonzeption: im Gegensatz zu der bildenden Kunst ist das W e s e n d e r P o e s i e H a n d l u n g ; diese Handlung stellt i n n e r e V o l l k o m m e n h e i t dar; diese innere Vollkommenheit oder der wahrhaft dichterische, weil wahrhaft menschliche und wahre Charakter erscheint in der f r e i e n B e w e g u n g g r o ß e r L e i d e n s c h a f t e n . So reformierte Lessing die •sthetik, weil sein freier Geist eine grÚßere Anschauung mÚglicher dichterischer Wirkungen in sich, in den Alten, in Shakespeare fand, als seine Zeit sie kannte. Ein solcher Kopf mußte wohl Dichter und Kritiker zugleich sein. Wenn er ablehnte ein dichterisches Genie zu sein, so sprach sich darin nur die Empfindung aus, daß keines seiner Werke die Anschauung mÚglicher dichterischer Wirkungen, die er in seiner großen Seele trug, erreichte. Aber die irren sehr, welche in Goethes oder Schillers TragÚdie diese seine Anschauung verwirklicht glauben. Noch ist die TragÚdie nicht in Deutschland gedichtet, in der sein Ideal erfÝllt wÈre.

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III. DAS NEUE DRAMA LESSINGS. Lessing ist der Dichter der deutschen AufklÈrung. Die europÈische Epoche der großen Kunst, deren dichterischer ReprÈsentant Shakespeare gewesen ist, zeigt eine unbeherrschbare Macht der Leidenschaft und der Phantasie. Sie war aus Bedingungen hervorgegangen, die so nie wiederkehren kÚnnen. Die Regelung der Welt durch die mittelalterlichen Ordnungen war gefallen. Der imposante Bau der scholastischen Systeme, die mit ihrer Architektonik metaphysischer Begriffe Himmel und Erde umspannt hatten, war zusammengebrochen. Es begann damals eine jener Zeiten, welche das VerstÈndnis des Lebens aus diesem selber schÚpfen. Mit einer neuen leidenschaftlichen Liebe versenkte sich der Geist in das diesseitige Dasein, und doch waren ihm noch nicht durch die Wissenschaft die Schauer des Jenseits abgenommen. Das Denken vertiefte sich unmetaphysisch in die Charaktere, die Temperamente, die Leidenschaften und in die Kunst der LebensfÝhrung. So gab es der Phantasie der Poeten eine feste Grundlage in der Sammlung, Zergliederung und Vergleichung der PhÈnomene der menschlichen Natur – und ließ ihr doch freie Bahn zu ihrem Aufflug in die Regionen der Deutung von Welt, Leben und Schicksal. Die Sprache der Zeit, sogar ihre Prosa war im Norden ungeregelt und von Bildern erfÝllt. Der Niedergang dieser großen Kunst der Phantasie berÝhrte sich in den ersten Jahrzehnten des siebzehnten Jahrhunderts mit dem Aufgang der europÈischen Wissenschaft. Das geistige Leben erhielt seinen Mittelpunkt in der wissenschaftlichen Arbeit, welche in der Natur eine Ordnung der Erscheinungen nach Gesetzen erkennen lehrte. Und wie nun die Vernunft sicheren Boden und feste Verfahrungsweisen gewonnen hatte, wendete sie im Verlauf dieses Jahrhunderts und dann seit Beginn des achtzehnten ihre Prinzipien auf jedes Gebiet der Wirklichkeit an. Hierbei grÝndete sie ihre SchlÝsse auf den Begriff einer natÝrlichen Ordnung der Dinge nach Gesetzen: von ihm aus unterwarf sie alles, was historisch geworden war, der Kritik. Und sie machte sich ans Werk, die hÚchsten in ihrem Bereich gelegenen Ideale zur Geltung zu bringen: SelbstÈndigkeit der Person, Herrschaft der Menschen Ýber die Natur, Ausbildung nationaler gesetzlich geordneter Staaten, SolidaritÈt und Fortschritt des Menschen. In allen diesen Idealen ist eine Beziehung zu der Verwirklichung der SouverÈnitÈt des Menschen. Das ist der Affekt der grÚßten PersÚnlichkeiten der AufklÈrung von Locke und Leibniz ab. Das Bewußtsein der Macht des Denkens ist in ihnen eins mit dem seiner Gebundenheit an die Natur der Dinge; denn nur durch die Erkenntnis von Wirklichkeit aller Art wird der Mensch

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III. Das neue Drama Lessings.

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Herr Ýber dieselbe. Die Staatsraison, die natÝrliche Theologie, das Naturrecht, die dramatischen Einheiten und die klaren Regeln der Dichtung: alles ist desselben Geschlechts. Aus dieser Lebensverfassung entsprang das neue Ideal der dramatischen Kunst. An die Handlung wird die Anforderung glaubhafter Wahrscheinlichkeit und strenger, ursÈchlicher VerknÝpfung gestellt. Die Charaktere sind nicht wie die Shakespeares gleichsam von ungeheuren Phantomen, die in der Leidenschaft entspringen, vorwÈrts getrieben, sondern der feste Zusammenhang eines mit den Dingen in geregeltem Rapport stehenden Wollens bleibt auch inmitten der Leidenschaft in den Helden dieser Dramen und Romane durchgehends bestehen. Genaue Psychologie der Charaktere, lÝkkenlose Verkettung aller Teile der Handlung, die darauf gegrÝndete realistische Behandlung des zeitlich kausalen Zusammenhangs Ýberwiegen die von der Phantasie bestimmte Behandlung von Raum und Zeit nach ihren Èsthetischen Werten. Die AuslÚsung der gefÝhlsarmen Bestandteile des wirklichen Lebens aus dessen dichterischem Bilde findet ihre Grenze an dem Willen, dies Leben in seiner ganzen RealitÈt sehen zu lassen. Die poetische Wertung der Charaktere nach ihrem VerhÈltnis zur Phantasie wird ersetzt durch das Urteil aus den Forderungen der Gesellschaft. Und die Darstellung der menschlichen GemÝtszustÈnde im Drama nimmt eine neue Form an. Denn der Mittelpunkt der tragischen Dichtung ist nicht mehr die Leidenschaft, welche die klaren Beziehungen des Menschen zur Wirklichkeit aufhebt und so ihn regiert wie ein lang andauernder, ununterbrochener und folgerichtiger Traum. DafÝr hat die AufklÈrung die hÚchsten Darstellungen jener gehaltenen, die ganze PersÚnlichkeit umfassenden Emotion geschaffen, welche auf die ideale Person und die idealen Werte der Menschheit gerichtet ist. Der erste große ReprÈsentant dieser Emotion war Shaftesbury, und darum wirkte er so stark auf die ganze Poesie des achtzehnten Jahrhunderts. So ist der hÚchste Typus der AufklÈrung der vom moralischen GefÝhl geleitete und im verstandesmÈßigen Zusammenhang mit den RealitÈten des Lebens stehende Mensch. Ich wage es diesen Grundzug der moralischen Konstitution der AufklÈrung in seinen Sonderformen bei den drei großen fÝhrenden Nationen zu verfolgen. Die neue große Emotion ist bei Franzosen wie Diderot eine in das Naturwesen Mensch eingewobene Passion. Sie verbindet die vornehmen Seelen miteinander; in den regellosen Wahlverwandtschaften mit begabten Frauen wird das GlÝck dieser Passion ausgekostet: vor allem aber Èußert sich das Genie der Tugend in dem Interesse fÝr die ganze Menschheit und ihren Fortschritt. Die EnglÈnder von Shaftesbury ab gehen vom sittlichen GefÝhl aus, und dieses ist ihnen die natÝrliche Mitgift einer gesunden Seele. Es ist ruhig, stets wirksam,

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das ganze Leben durchdringend, im Gegensatz zu den partikularen Leidenschaften und Affekten, die aus dem Einzelleben entspringen. Die besonderen sozialen und politischen VerhÈltnisse Deutschlands gaben nun der moralischen Konstitution unserer Denker und Dichter ihren eigentÝmlichen Charakter. Von der ReligiositÈt Luthers her war der eigenste Grundzug der deutschen Denkart die Innerlichkeit des moralischen Bewußtseins, gleichsam die RÝckkehr der religiÚsen Bewegung in sich selbst – die Àberzeugung, daß in der Gesinnung und nicht in dem Èußeren Werk der hÚchste Wert des Lebens gelegen sei. Die Zersplitterung der Nation, die Einflußlosigkeit der gebildeten bÝrgerlichen Klassen auf die Regierung mußten diesen Zug verstÈrken. Und wenn die Disziplin des protestantischen Staates als feste Grundlage des bÝrgerlichen Lebens Rechtschaffenheit, PflichterfÝllung, das herbe Bewußtsein der Verantwortlichkeit des Subjektes vor dem Gewissen in Geltung erhalten hatte, so lÚste nun die AufklÈrung nur dies sittliche Bewußtsein los von den christlichen Doktrinen, durch welche es zu einer transzendenten Welt in Beziehung gesetzt worden war. Hierdurch steigerte sich noch die herbe Festigkeit, in welcher die bedeutendsten PersÚnlichkeiten der deutschen AufklÈrung sich der ganzen Welt gegenÝber in dem selbstÈndigen Werte ihrer Person behaupteten. So entstand die eigentÝmliche Form von Heroismus dieser Menschen und der dichterischen Gestalten, die sie schufen. GegenÝber einer politischen Welt, wo staatliche Gebilde, Personen und Ziele zu klein waren, um zu praktischen Idealen werden zu kÚnnen in deren Dienst ein starker Charakter sich genugtun konnte, ja selbst von dieser Welt ausgeschlossen durch eine Staatsform, deren Wesen gerade auf der strengen Scheidung des FÝrsten und seines Regierungsapparates mit seinen Offizieren und seinem Beamtentum von dem ‚BÝrger beruhte: flÝchteten sich diese Menschen in die abstrakte Welt der moralischen Prinzipien, wie sie das Individuum von innen unabhÈngig von allen historischen Bedingtheiten bestimmen – ewig gleich, unverbrÝchlich und unerbittlich. Dies ist das große Erlebnis, das in der Dichtung der deutschen AufklÈrung seinen Ausdruck findet – den hÚchsten in dem Drama Lessings. Erlebnisse sind die Quellen, aus denen jeder Teil eines dichterischen Werkes gespeist wird, in eminentem Sinne aber wird das Erlebnis dadurch schÚpferisch in dem Dichter, daß es ihm einen neuen Zug des Lebens offenbart. Das Geschehnis, das der Dichter darstellt, wird erst bedeutsam, indem dieser Zug darin sichtbar gemacht wird. Das dichterische Werk erhebt sich zu seiner hÚchsten Wirkung, wenn in ihm ein solcher Zug des Lebens den Lesern und HÚrern aufgeht. Und wenn etwas, das halb, dunkel, teilweise in der Gesellschaft der Zeit empfunden wird oder nur abstrakt zum Ausdruck gekommen ist, durch den Dichter ausgesprochen wird: so wird er zum FÝhrer seiner Nation, und sein

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III. Das neue Drama Lessings.

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Einfluß auf die Zeit wird unermeßlich. So war es mit dem Erlebnis, das Lessing vom Philotas ab ausgesprochen hat, und mit der Wirkung, die davon ausgegangen ist. 1. 5

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DÝrfen wir Friedrich II., Kant und Lessing als die mÈchtigsten PersÚnlichkeiten der deutschen AufklÈrung betrachten: so hat Lessing vor beiden voraus, daß er in seinen großen dichterischen Werken das moralische Ideal der AufklÈrung zu voller Darstellung gebracht hat. Daher wir aus diesen den letzten Aufschluß Ýber den Menschen Lessing schÚpfen, so wie uns dann aus allem, was wir Ýber diesen Menschen wissen, Minna, Emilia und Nathan nach Gehalt und Struktur deutlicher werden. Die Dramen Lessings haben ihren Mittelpunkt in seinem Lebensideal. Die Helden derselben, Tellheim, Odoardo, Appiani, Nathan, Saladin, der Tempelherr, sind nicht bewegt von einer partikularen Leidenschaft, die auf die Erlangung eines einzelnen Gegenstandes gerichtet ist, sondern von dem moralischen Affekt. Indem dieser, als die lebendige Sprungfeder ihres Wesens, in Konflikt gerÈt mit KrÈften anderer Art, entstehen die großen Emotionen, welche diese Dramen erfÝllen. In Minna von Barnhelm gerÈt die moralische Konstitution des Helden in Widerspruch mit den zarteren Regungen der Liebe in seiner eigenen Seele, in Emilia Galotti mit dem Eingriff der Selbstherrschaft in das persÚnliche Leben und im Nathan mit dem zudringlichen religiÚsen Fanatismus. Der innere Konflikt der Minna ermÚglicht eine heitere LÚsung, der Èußere in der Emilia gestattet keinen Sieg der moralischen WÝrde – als im Tode, und der im Nathan endigt mit dem Triumph der HumanitÈt Ýber die Herrschsucht der Kirche, den ja die AufklÈrung so nahe wÈhnte. Die Helden dieser Dramen erkennen keine Macht des Schicksals Ýber sich an, und jeder von ihnen behauptet seine persÚnliche WÝrde gegenÝber dessen Eingriffen in irgendeiner Form. Hieraus ergibt sich eine innere Struktur des Drama, die ebenso verschieden ist von der, die ihm Shakespeare, als von der, die ihm Schiller gegeben hat. Dem Lustspiel Lessings fehlt die Verwegenheit der Laune. Da sind nicht unverstÈndige, ja tolle Charaktere, keine in der SouverÈnitÈt der Leidenschaft oder Phantasie mit dem Leben spielenden Personen – nichts von der sorglosen Benutzung des Zufalls bei den Poeten der Phantasiekunst. Wie nÝchtern erscheinen nach Shakespeare oder neben dem franzÚsischen Lustspiel von Beaumarchais Minna und Franziska, der Wachtmeister oder Just! Und Lessings große TragÚdie enthÈlt nicht die innerlich folgerichtige und darum glaubhafte Entwickelung eines großen Wahns, der den Helden zerrÝttet. Das Tragische

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liegt hier vielmehr in der gÈnzlichen HeterogeneitÈt des moralischen Affektes zu der umgebenden Welt und in der so entstehenden UnmÚglichkeit fÝr das sittliche Heldentum, sich ihr gegenÝber zu behaupten. Die Gestalten Lessings haben einen festen Kern und realistisches GeprÈge. Deutsches GemÝt spricht krÈftiger aus ihnen als aus denen irgendeines anderen unserer Dichter. Die Helden Lessings rufen die eigene RÝhrung hervor, welche jede echte Offenbarung der hÚheren Natur des Menschen erweckt. Hierzu kommt dann eine aus ruheloser Energie des Denkens stammende Lebendigkeit derselben, die Lessing allein eigen ist. Sie phosphoreszieren von Logik. Lessing ist der Lehrmeister unseres dramatischen Dialogs. Das Àberraschende, Epigrammatische in diesem Dialog stammt nicht aus der Phantasie oder aus bildlichem Denken, sondern aus einer Art von Leibnizscher Kombinationskunst, aus einer rastlosen logischen Energie, die jeden Satz hin und her wendet und auf den Grund des Grundes zurÝckgeht. Und Lessing ist vor allem der Lehrmeister einer Technik des Drama, welche dieses aus lauter fÝr den Nexus der Handlung notwendigen Momenten aufbaut. Durch ihn wurde das Schauspiel des Sturms und Drangs mit seiner freien Folge der Szenen in Zucht genommen. Sein außerordentlicher dramatischer Verstand erkannte, welche StÈrke der Illusion, welche IntimitÈt des Zuschauers mit dem Vorgang aus der Festhaltung des Ortes und der Zeit zumal dem bÝrgerlichen Drama und dem Lustspiel entsteht. Das hat dann auch nach ihm die Technik so manchen modernen franzÚsischen Dramas wie die von Ibsen gezeigt. Das grÚßte aber, was Lessing lehrte, kam ihm aus der Wahrhaftigkeit seines Wesens – der Verzicht auf alle bloßen Theaterfiguren, auf alle herkÚmmlichen BÝhnenkniffe, ein Zusammenhang der Handlung, welcher an jedem Punkte in Sachverhalten und den in ihnen gegebenen Relationen der Menschen untereinander und mit den VerhÈltnissen gegrÝndet ist. Auch darin ist er der Lehrmeister des heutigen realistischen Drama.

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2. AllmÈhlich und langsam hat sich Lessing zu dieser HÚhe seiner Technik erhoben, durch ein unermeßliches Studium der ganzen Theaterliteratur, durch bestÈndige Verbindung des Nachdenkens Ýber die Regeln des Drama mit Experimenten an den verschiedensten Stoffen. Seine zahllosen EntwÝrfe sind ebensoviel Versuche, hinter das VerhÈltnis der Form des Drama zum regellosen Stoff des Lebens zu kommen. Von frÝh ab hielt er sich in Verbindung mit der BÝhne. Die Lustspiele seiner Jugendjahre Ýberschritten noch das Durchschnittsmaß der Zeit nur durch die zusammengefaßte und lebendige Bewegung der Handlung und die geistreiche NatÝrlichkeit des Dialogs. Er

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Ýbertrug dann in Miß Sara Sampson das moderne Schauspiel Diderots nach Deutschland, wo es von Lenz zu Hebbel, Ludwig und den modernsten Realisten breiteste Entwickelung gewinnen sollte. Aber von der rÝhrenden Redseligkeit dieser bÝrgerlichen Schauspiele wandte er sich sogleich selber ab. In den Zeiten des SiebenjÈhrigen Krieges lockten ihn große, mÈnnliche, kriegerische Stoffe, er wÈhlte fÝr sie den fÝnffÝßigen reimfreien Jambus mit stumpfem Ausgang, und seitdem begann der Vers der franzÚsischen dramatischen Rhetorik, der Alexandriner, zu weichen. Er suchte damals eine zusammengepackte und konzentrierte TragÚdie, in der Knochenbau und Muskulatur durchscheinen wie in dem KÚrper eines Fechters. Das Fragment des Kleonis und der Philotas sind der hÚchste und vornehmste Ausdruck, welchen die durch den SiebenjÈhrigen Krieg erregte neue Stimmung gefunden hat. In ihnen ist zuerst das GrundgefÝhl Lessings, die Independenz des Willens, ausgesprochen. Die BÝhne starrt von Waffen, aber aller kriegerischer LÈrm dient der Manifestation der großen moralischen Person, die eben nur dem Tode gegenÝber ihr Wesen erweist. Dieses GrundgefÝhl findet seinen natÝrlichen Ausdruck in der gedrungenen dramatischen Form, wie sie dann bei Alfieri wiederkehrt. Dieselbe KÝrze findet sich in den Prosafabeln, Liedern und Epigrammen Lessings: er lÈßt nur so viel Stoff zurÝck und braucht genau so viel Worte, als die Energie des Gedankens oder als das Erlebnis bedarf um zu existieren. In der dramatischen Kunst Lessings blieb fÝr die TragÚdie diese Form grundlegend. In dem Lustspiel, das die erste Reife seiner Dramatik bezeichnet, ist natÝrlich dieser Grundzug des Lessingschen Stiles nur unter den anderen Formbedingungen dieser poetischen Gattung sichtbar. So ist in seiner dramatischen Entwickelung die Form der Minna von Barnhelm und die der Emilia Galotti bedingt. 3.

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M i n n a v o n B a r n h e l m ist seit 1763 in Breslau entstanden, wo Lessing unter Tauentzien als GouvernementssekretÈr tÈtig war: in der weltfreudigsten Periode seines Lebens. Das StÝck ist dramatisch angesehen das beste Lessings und mehr als das – es ist unser bestes Lustspiel. Lessing war nun im Vollbesitz aller Mittel fÝr jene realistische Kunst, in welcher bis dahin nur die erzÈhlende Dichtung im englischen Sittenroman mustergÝltig gewesen war. Es galt Menschen und LebensbezÝge, welche die Gegenwart darbot, wahrhaftig und doch poetisch hinzustellen. Die Handlung muß in dieser neuen Wirklichkeitsdichtung aus lauter dem Leben angehÚrigen und fÝr dasselbe charakteristischen Bestandteilen zusammengesetzt sein – ohne die Ýblichen Vertrauten und

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Kammerjungfern und ohne die Kniffe des SituationsstÝckes mit seinen Verkleidungen, Verwechselungen und unmÚglichen ZufÈllen. Die Aufgabe, wie sie Fr¹ron, Marmontel, Diderot hiermit dem Drama stellten, hat erst Lessing in seiner Minna vollstÈndig gelÚst. Die Personen und ihre Beziehungen wurzeln hier in einem Gesellschaftszustande, in dessen sozialer Gliederung und in seinen sachlichen Notwendigkeiten. Das Schicksal fÝgte glÝcklich, daß ein bewegtes StÝck großen Lebens, das mÈchtigste, das in diesem Jahrhundert vor der franzÚsischen Revolution zu sehen war, gerade von dem einzigen, der es darzustellen die Kraft hatte, grÝndlich erlebt und studiert worden ist – die Armee und der Staat des großen KÚnigs. Das Gemeinwesen, dem Tellheim angehÚrt, ist die friderizianische Armee. Was dieses Heer zusammenhÈlt ist der Ehrbegriff als hÚchster Wertmaßstab und als Beweggrund der Handlungen. Ehre, Bravour, strenge Subordination und doch kameradschaftliches Zusammenhalten, mÈnnliche GewÚhnung, das Leben nicht zu hoch zu taxieren – das sind die GrundzÝge des Geistes dieser Armee, wie er in dem Major Tellheim und dem Wachtmeister dargestellt wird – in einem grÚberen Stoff auch im soldatischen Bedienten Just. Diese Charaktere werden durch die Kontrastfiguren des franzÚsischen Abenteurers und des Wirtes erleuchtet. Man gewahrt nur die psychologischen KrÈfte, welche dies Gemeinwesen der Armee zusammenhalten. Der Krieg selbst wird nicht in Szene gesetzt; und nichts von den Trommeln, dem Standrecht, den Marketendern und Spionen der spÈteren MilitÈrstÝcke ist hier zu vernehmen; kein vorlauter tendenziÚser preußisch-patriotischer Zug stÚrt den ruhigen Blick, der ganz auf das Menschliche gerichtet ist; selbst die Bewunderung des großen KÚnigs klingt nur leise. Der Krieg ist vorÝber, die Wunden sind geheilt, und eben indem nach dem Frieden in einem Wirtshaus ein verabschiedeter Offizier, sein Wachtmeister und sein soldatischer Bedienter in rein menschlichen Verwickelungen sich darstellen, erlebt man von innen, ohne theatralischen Apparat das Wesen dieser Armee in seinen großen tragischen wie heiteren ZÝgen. Tellheim ist die schÚnste Charakterfigur des deutschen Lustspiels. Er hat jene freie Beweglichkeit des Seelenlebens, welche unter den wechselnden LebensumstÈnden immer wieder durch ganz neue Seiten Ýberrascht, wie sie nur die SchÚpfungen echter Dichter besitzen. Er nÈhert sich bald der melancholischen GrÝbelei des Molireschen Misanthropen, bald steht er wieder steif und hart da – ein echter Typus des friderizianischen Offiziers, dann wieder gibt er sich gÝtig, liebevoll bis zur weichsten ZÈrtlichkeit – immer doch derselbe Tellheim oder Lessing oder Kleist. Ihm und denen um ihn treten dann vom Beginn des zweiten Aktes ab die Gegenspielerinnen gegenÝber – Minna von Barnhelm, ihr zur Seite Franziska; der Oheim erscheint erst im Schlußakt.

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Gleich das erste FrÝhstÝcksgeplauder Minnas mit ihrer dienstbaren GefÈhrtin, die Klage Ýber „die verzweifelten großen StÈdte“ und dann das lustige Examen, das der Wirt anstellt, zeigen, daß wir es mit einem vornehmen LandfrÈulein zu tun haben. Minna erscheint mit der ganzen Sicherheit und dem starken SelbstgefÝhl, das die GewÚhnung der Herrschaft auf einem großen Gute allen Gliedern der Familie mitteilt. Dies macht doch erst ihr ÝbermÝtiges und allzu hartnÈckig verfolgtes Spiel mit Tellheim begreiflich. Die Damen sind aus Sachsen, dem Lande der Ýberlegenen geistigen, Èsthetischen und geselligen Bildung, und die heitere, liebenswÝrdige Minna weiß Ýber den Shakespeare Wielands Bescheid und ist in ihrer weiblichen Dialektik dem grÝblerischen Tellheim gefÈhrlich gewachsen. Der Zusatz von Lessingscher Dialektik im Charakter dieses liebenden MÈdchens ist etwas stark fÝr ihre zwanzig Jahre. Aber mit tiefer Kunst sind solche aparten und kapriziÚsen ZÝge verwoben in ihr Grundwesen, in die heitere Menschlichkeit, welche GÝte und Freude ausstrahlt, wo sie auch erscheint. „Ich bin glÝcklich und frÚhlich. Was kann der SchÚpfer lieber sehen als ein frÚhliches GeschÚpf?“ Ihre FrÚhlichkeit und ihr Wagemut stammen aus der inneren, festen, treuen Sicherheit einer echt deutschen MÈdchennatur. Ihre heitere Menschlichkeit ist dann in dem Oheim zu bewußter HumanitÈt erhoben. Sein Ausspruch: „Ein ehrlicher Mann mag stecken, in welchem Kleide er will, man muß ihn lieben“ erinnert an ein bekanntes Wort im Nathan. So treffen hier zwei große geistige Gewalten dieser deutschen AufklÈrungszeit aufeinander: der hochgespannte Ehrbegriff der friderizianischen Armee und die heitere Menschlichkeit, dieses schÚnste Erzeugnis unserer damaligen Literatur. Man kÚnnte sagen, daß jener Ehrbegriff mit dem Machtwillen des jungen preußischen Staates zusammenhÈngt und diese heitere Menschlichkeit mit der allgemeinen deutschen Literatur und der gebildeten Gesellschaft, wie sie sich unabhÈngig vom Staat entwickelt hatte. In dem großen KÚnig ist die Idee einer allgemein menschlichen Kultur in unausgeglichenem Streit mit seinem preußischen Machtwillen. Und wenn Lessing selbst ganz erfÝllt war von den Idealen der HumanitÈt, so mußte doch auch er sich zugleich von dem Heldentum und dem Staatsbewußtsein des großen KÚnigs immer wieder angezogen finden. Derselbe Gegensatz geht durch Klopstocks Seele. Erst in einer viel spÈteren Zeit sind die Deutschen zu einer VersÚhnung dieses in ihrer Geschichte gegrÝndeten Gegensatzes gelangt. Die Handlung empfÈngt ihre Wahrscheinlichkeit aus den festeren Formen der Zeit und der dargestellten LebenssphÈre; sie geben dem inneren VerhÈltnis dieser beiden Menschen eine Distanz, welche die MißverstÈndnisse zwischen ihnen begreiflich macht. Der in seiner Ehre gekrÈnkte Offizier, der sich vor der Braut verbirgt, weil er sich ihrer nun unwÝrdig fÝhlt, wird aufgesucht, ge-

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funden, und da Liebe und Dialektik des mutigen MÈdchens abprallen an den edelmÝtigen GrundsÈtzen des Geliebten, so wird er durch die TÈuschung, daß die Braut verarmt sei, zum vollen Bewußtsein und zur freien •ußerung seiner Liebe gebracht. Die Menschlichkeit in ihm siegt Ýber das Bewußtsein der gekrÈnkten Ehre. Denn von der GrÚße des aufgeklÈrten KÚnigs angezogen, hatte der kurlÈndische Edelmann sich in dessen Dienste begeben, und desto schÈrfer brennt in seiner Seele das Leid, ohne den großen Beweggrund der Vaterlandsliebe sich durch seinen Dienst der Verletzung seiner Ehre ausgesetzt zu haben. Dies GefÝhl gelangt in dem mÈchtigsten Moment des StÝckes zu ergreifendem Ausdruck. Minna sucht mit allen Mitteln ihrer Dialektik ihn zu Ýberzeugen, daß die EhrenkrÈnkung, die der Lohn seiner menschlichen Handlung gewesen, ihn nicht von ihr trennen dÝrfe; sie erwÈhnt Othello zufÈllig in diesem Zusammenhang: inzwischen bleibt Tellheim vertieft und unbeweglich mit starren Augen: „Hierher Ihr Auge! auf mich, Tellheim! Woran denken Sie? Sie hÚren mich nicht?“ „O ja! Aber sagen Sie mir doch, mein FrÈulein, wie kam der Mohr in Venezianische Dienste? Hatte der Mohr kein Vaterland? Warum vermietete er seinen Arm und sein Blut einem fremden Staate?“ Wie Kleist hat der preußische Major mitten im Krieg dessen Widerspruch mit dem großen AufklÈrungsprinzip der Menschlichkeit empfunden. Er hat wie Kleist nie daran gedacht, aus kriegerischem Heldentum ein Handwerk im Frieden zu machen. Auch in seiner Seele ist die Sehnsucht dieser sentimentalen Epoche nach einem stillen inneren GlÝck. Und mit Lessing selbst hat er erfahren, wie gefÈhrlich die Dienste der Großen sind und wie wenig sie den Zwang und die Erniedrigung lohnen, die sie kosten. Auf einen solchen Charakter muß das Mitleid mit der Geliebten entscheidend wirken. Und so gelingt die Intrigue des tapferen LandfrÈuleins. Tellheim fÝhlt plÚtzlich in ganzer StÈrke seine Pflicht gegen die Verlobte, und das Bewußtsein der gekrÈnkten Ehre tritt dagegen zurÝck. Was die innere Selbstachtung fordert, wiegt ihm schwerer als alles, was mit der Achtung anderer fÝr ihn zusammenhÈngt. Damit ist der innere Konflikt gelÚst. Da aber die Umwandlung in Tellheim doch durch eine TÈuschung herbeigefÝhrt ist und er Ýberhaupt nach dem Verlust seiner Ehre zu keiner vollen Befriedigung gelangen kÚnnte: ist zu einem heiteren Abschluß das Handschreiben des KÚnigs nÚtig. Einige QuÈlerei, die nachhinkt, ist immer als dem Charakter Minnas unangemessen und ermÝdend getadelt worden. Minna von Barnhelm ist das erste deutsche Muster jener dramatischen Kunst der tiefen idealen GegensÈtze, welche in dem Zustand der Gesellschaft oder in der Natur der Menschheit sich geltend machen und schließlich in der Seele des Helden selbst ausgekÈmpft werden mÝssen. Diese neue dramatische

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Technik ist gegrÝndet in der Innerlichkeit des deutschen Lebens. Nathan, Tasso, Faust sind hierin desselben Geschlechts. Die Haupthandlung ist arm an Èußeren Begebenheiten. Sie gleicht einem kleinen StÝckchen Gold, das auf das zierlichste verarbeitet ist. Sie spielt sich in dem Verlaufe eines Tages ab und an einem Platz – in dem Wirtshaus, das auch den englischen Romandichtern so bequem fÝr die Verwickelung der Begebenheiten lag. Wie die Tiefe dieses Schauspiels in dem fast tragischen Konflikt zwischen den Liebenden besteht, so liegt sein Reichtum, seine FÝlle und seine unerschÚpfliche Heiterkeit in den Nebenpersonen. Jede Szene macht eine selbstÈndige, starke, bald erhabene, bald rÝhrende, bald komische Wirkung. Der dramatische Dialog hat bis auf die Gegenwart gewirkt. UnzÈhlige glÈnzende Lichter blitzen in ihm auf. Und auch in der Kraft der Reflexion, in dem Glanze spielenden Witzes ist dies StÝck der eigenste Ausdruck des 18. Jahrhunderts. Zwei Lustspiele von unvergÈnglichem Werte hat dies Jahrhundert hervorgebracht: die Minna Lessings und den Figaro von Beaumarchais. In dem franzÚsischen StÝcke regiert der von der Sitte losgelÚste grenzenlose Àbermut und die maßlose politische Verbitterung des Frankreich vor der Revolution. Beaumarchais spielt mit seinen Figuren, seine Erfindungskraft in Situationen und SpÈßen ist der Lessings weitaus Ýberlegen, aber keine dieser Figuren ist ein glaubhafter reeller Mensch und sie treffen sich in seinem StÝck wie auf einem tollen Maskenball. Das Lustspiel der deutschen AufklÈrung ist dagegen das Vorbild jeder reellen auf die tatsÈchlichen Relationen eines bestimmten gesellschaftlichen Zustandes gegrÝndeten modernen Dramatik. 4. WÈhrend die „Minna“ die Begeisterung des Theaterpublikums immer wieder neu hervorrief und ein Schwarm von SoldatenstÝcken hinter ihr herkam, zog ihr Verfasser sich fÝnf Jahre hindurch von der dichterischen Arbeit fÝr die BÝhne zurÝck. Es war eine Zeit schmerzlicher Erfahrungen Ýber das deutsche Úffentliche Leben. Der hervorragende MilitÈrschriftsteller Guichard, der im Gefolge des großen KÚnigs lebte und ihm persÚnlich nahe stand, hatte ihm Lessing fÝr die Leitung der KÚniglichen Bibliothek empfohlen. Unser Dichter durfte sich sagen, daß niemand fÝr diese Stellung befÈhigter sein konnte als er. FÝr den KÚnig aber war Lessing nur der junge Mann, der die bedenkliche Sache mit Voltaire gehabt hatte. Es kam zu einer sehr belebten ErÚrterung der eigenwilligen MajestÈt mit Guichard, als dieser noch ein zweites Mal auf Lessing zurÝckgekommen war. Und statt des grÚßten deutschen Schriftstellers der Zeit wurde durch eine seltsame Verwechselung ein tÚrichter BenediktinermÚnch

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berufen. Dann folgte Hamburg und die große EnttÈuschung dort. Seit 1770 saß er nun in dem stillen Winkel WolfenbÝttel als Bibliothekar, in dem „großen verlassenen, verwÝnschten Schloß“, in dem die Schatten der WelfenfÝrsten aus der Rokokozeit umgingen und in dem die Erinnerung gar manches sinnlichen Abenteuers wachgerufen wurde. Und wenn er nach Braunschweig fuhr, Menschen um sich zu haben, trat ihm da ein Hof entgegen, von dem auch gar manches zu erzÈhlen war. Immer vollstÈndiger Ýberblickte Lessing den furchtbaren Zusammenhang, in welchem das von der Selbstherrschaft bedingte Hofleben der Zeit mit der Herabminderung der Charaktere und der Abnutzung der Menschen stand. Und um ihn her nahm die Opposition gegen die Kabinettsjustiz, die Àppigkeit der HÚfe, die mit der Kunst spielte, und die UnterdrÝckung der Úffentlichen Meinung bestÈndig zu. In dieser AtmosphÈre und aus solchen Erfahrungen Lessings ist E m i l i a G a l o t t i entstanden. Das erste echt politische StÝck, das in Deutschland seit Andreas Gryphius geschrieben worden ist. Sein Mittelpunkt war der innere Gegensatz, in welchem die allmÈhlich herangereifte innere SelbstÈndigkeit der Person zum Ýberlebten Fortbestand der gesetzlosen Selbstherrschaft stand. Aus der Natur dieser Staatsform folgt alles in dieser politischen TragÚdie: die Verkettung der Handlung und die innere Form der Charaktere; die Beziehungen der Personen zueinander – das unbestimmte dunkle Grauen, das immer stÈrker von der Todesunterschrift des ersten Aktes ab den Zuschauer umfÈngt. Wenn eben noch der Ugolino von Gerstenberg solche tragischen Schauer durch brutale und Èußerliche Mittel erreicht hatte, so entspringen sie hier aus dem GefÝhl einer unentrinnbaren entsetzlichen Notwendigkeit. Es war die TragÚdie des hÚfischen Lebens. Unter den PlÈnen von RÚmertragÚdien, welche Lessing in den letzten fÝnfziger Jahren entworfen hatte, enthielt einer den Keim der Emilia Galotti. Es war eine Virginia. Nach dem Zusammenhang der historischen Begebenheit war die Ermordung der Tochter durch den Vater das einzige Mittel, welches diesem gegenÝber dem von seiner Leibwache umgebenen Dezemvirn zur Rettung seines Kindes Ýbrigblieb. Und die Bluttat war verklÈrt durch den Untergang des Tyrannen, den sie herbeifÝhrte. Lessing versetzte nun den Vorgang in ein kleines italienisches FÝrstentum und in die Ýppigen Zeiten Ludwigs XIV. Wie durch ein Palimpsest schimmern Figuren und Handlung der rÚmischen Sage durch die Bilder des modernen StÝckes. Das tragische Motiv selbst mußte sich aber umwandeln. Die brutalen VerhÈltnisse fielen weg, welche die Tat des Vaters in jener alten rÚmischen Zeit verstÈndlich machen; keine Art politischer Wirkung durfte an sie geknÝpft werden: so wurde die Motivierung der Bluttat der Mittelpunkt des StÝckes und sie mußte die ganze Ordnung der Handlung bestimmen.

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Ein solcher dramatischer Plan war wie gemacht zu einem Musterbeispiel der in sich geschlossenen, in allen Gliedern psychologisch determinierten Handlung, wie Lessings Theorie sie forderte. Jeder Satz dieser Theorie fand jetzt seine Anwendung in der Emilia Galotti. Als bÝrgerliche TragÚdie war sie besonders geeignet, jene tragische Furcht hervorzurufen, welche aus der NÈhe des Stoffes an das eigene Leben des Zuschauers entspringt. Das GefÝge ihrer Fabel war von solcher Einheit und Kraft, daß es in der bloßen ErzÈhlung wirkt. Das Ganze war so einfach konstruiert wie eine Uhr mit ihren RÈdern und Gewichten. Nichts von der billigen Wirkung durch Àberraschung und Èußere Spannung: der Zuschauer weiß nach der meisterhaften Exposition des ersten Aktes oder vom Beginn des zweiten Aktes ab was kommen wird: die Opfer der Katastrophe aber tappen sich im Dunkeln Ýber ihr Schicksal vorwÈrts und rufen eben hierdurch das stÈrkste Mitleid hervor. Und die Heldin selbst ist unschuldig schuldig. Die fieberhaft vorwÈrtsdrÈngende Handlung verlÈuft in Einem Tage und der Ort ist im ganzen ersten Akte ein Stadtschloß des Prinzen, wo man ihn in seinem Milieu erblickt, im zweiten dann ein Saal im einfachen Hause des Galotti; von da ab spielt sich alles weitere nicht ohne einige Schwierigkeiten und Kunstgriffe in dem Vorsaal auf dem Lustschlosse des Prinzen ab, wo nun Spieler und Gegenspieler sich begegnen. Durch jeden dieser ZÝge blickt eine Regel der Dramaturgie hindurch. Die Struktur der TragÚdie ist bedingt durch den Gesichtspunkt, unter welchem die AufklÈrung die sie umgebende Gesellschaft auffaßte. Wird doch immer die Art, die TragÚdie zu formen, von der Seelenverfassung der Zeit abhÈngig sein, in welcher der Dichter schafft. Das StÝck ist aufgebaut auf den Gegensatz zwischen dem Hof, seinem Herrn mit seinen Kreaturen und den unabhÈngigen Leuten, die ihre Freiheit, ihre Sitte, ihre selbstÈndige Art der LebensfÝhrung behaupten wollen. Das Tragische liegt in der Hilflosigkeit dieser rechtlosen Untertanen gegenÝber der Selbstherrschaft. Indem dieselben von der Intrigue umgarnt und gleichsam erdrosselt werden, kommt ihre Ohnmacht von Szene zu Szene an den Tag – und damit die Misere der politischen Verfassung, in der sie leben. Diese Form der modernen sozialen TragÚdie hat eine Reihe unserer wirksamsten StÝcke bestimmt. In Kabale und Liebe stehen sich die hÚfische Welt und das BÝrgerhaus, das die unabhÈngige schwÈrmerische Natur des Ministersohnes zu sich hinzieht, gegenÝber; im Clavigo die Ehrgeizigen, die vom Hof und dessen WÝnschen abhÈngen, und die schlichten Seelen, die nur vom GemÝt Befehle empfangen. Die Personen sind der Handlung untergeordnet. Dies entspricht der Lehre der Dramaturgie, nach welcher „die Charaktere das Hauptwerk der KomÚdie sind“, dagegen die Wirkungen der TragÚdie aus dem Zusammenhang der Handlung und der Eindruckskraft der Situationen entspringen. Die Grund-

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anlage der Charaktere ist daher bestimmt vom BedÝrfnis der Handlung. Die rasende Eile des Verlaufs schrÈnkt jeden Charakter genau auf die Zahl der fÝr sie erforderlichen Worte ein. So entsteht das Maschinenartige, Ausgedachte, das erkÈltend berÝhrt – das Unlebendige des Ganzen bei hÚchstem mimischen Leben der Teile. Darin aber liegt nun die germanische Tiefe Lessings, wie trotzdem jeder dieser Charaktere in dem Rahmen der Aufgabe, welche die Handlung ihm zuweist, aus eigener Kraft lebt. Dieser Realismus in der Auffassung des Menschen geht durch die ganze AufklÈrung hindurch. Er zeigt sich ebensogut in den Romanen dieser Zeit als in den Zustandsschilderungen Chodowieckis. Die Charaktere des Prinzen, Marinellis, der Mutter Galotti, der Spitzbuben und Bedienten hat Lessing aus der genialen Beobachtung des Lebens um ihn her geschÚpft. Seine Emilia ist eine große wahre Intuition. Sie ist das GeschÚpf eines heißen sÝdlichen Naturells, frÝhreifer Erfahrungen des Beichtstuhls und der TrÈume, die Guastala und sein Hof in einer so gearteten Natur hervorbrachten – zugleich aber ist sie ein rechtes Kind ihres Vaters: scheu, impressionabel, im ersten Momente widerstandslos und dann doch entschlossen und stark. Appiani, Odoardo empfangen das ihnen eigene Leben aus des Dichters Inneren und aus dem, was er an Freunden wie Kleist und Gerstenberg miterfahren hat. Sie sind von starkem Temperament und lebhaften GefÝhlen, aber die feste dauernde Grundlage ihres Wesens ist ihre Rechtschaffenheit. Sie sind zutrauensvoll gegen Menschen ihrer Art und herb verschlossen gegen die Welt. Nach dem Plan seiner Handlung hat dann der Dichter diesen ZÝgen, die sein persÚnliches Ideal aussprachen, einen anderen hinzugefÝgt, der bei edlen Naturen, welche in der MachtsphÈre der Selbstherrschaft leben, so leicht sich ausbildet. Der Despotismus Ýbt einen lÈhmenden Einfluß auf sie. Sie trauen weder sich noch dem Weltlauf. In dieser engen und schlimmen Welt, in der sie existieren sollen, sind sie zur PassivitÈt verurteilt. Sie haben das Handeln verlernt. So zÚgern sie ungeschickt und handeln vorschnell. Sie sind das, was dies Milieu aus vornehmen Seelen machen mußte. Seine Technik, die Personen auf der BÝhne sehen zu lassen, ist fÝr das ganze deutsche Drama bestimmend gewesen. Sie beeinflußte die Jugenddramen Goethes und Schillers und hat die moderne BÝhne vorbereitet. Er stellt seine Personen ins Freilicht, scharf umrissen auf ihrem hellen Hintergrund und in unerbittlicher Deutlichkeit. Jeder Person gibt er eine eigene Energie des Temperamentes und mimische Kraft der •ußerungen mit. Zwischen den Worten ist dem Schauspieler Raum gelassen fÝr unausgesprochene Wendungen, fÝr Mienenspiel und GebÈrde. Und der Zuschauer wird durch das knappe Wort bestÈndig angeregt, zu erraten, was nicht gesagt ist. Nur daß der allmÈhlichen Entstehung der Leidenschaften und ihrer breiten Entladung zu wenig Raum

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gegÚnnt ist. Die Exposition zwar zeigt dem Zuschauer den Prinzen in wechselnden Zustandsbildern und von allen Seiten, dann aber kommt kein Moment wieder, in dem man von unten auf die Leidenschaft anwachsen sÈhe – und doch gibt dies allein die Illusion des wirklichen Lebens und den Maßstab fÝr die StÈrke der Affekte. Die hÚchsten Momente des GesprÈchs treten hervor, wo die Dialektik der Leidenschaft das Wort nimmt. Die neuen Typen, die hier Lessing schuf, sollten lange das Theater beherrschen. Der biedere polternde Hausvater, der in BÝrgerkleidung und Harnisch gleichmÈßig zum Herzen sprach. Das Machtweib Orsina, das dann auch als Lady Milford das gesetzte bÝrgerliche Publikum mit fremdartigen Schauern erfÝllte. Der hÚfische Intriguant, der als Carlos im Clavigo, als Minister in Kabale und Liebe dem moralischen Urteil sich preisgab. Der im GefÝhl der SchÚnheit lebende und so jedem Eindruck hingegebene vornehme Mensch, der als Clavigo und Weislingen zugleich abstieß und entzÝckte. Und aus der VerknÝpfung der knappen Charakteristik Lessings mit der Breite der Leidenschaft und dem Halbdunkel der Phantasie entstand die Form von GÚtz, Clavigo und Kabale und Liebe. Die Handlung selber verlÈuft im Ineinandergreifen der Intrigue des Hofes, die Emilia dem Prinzen in die HÈnde liefern soll, und den hilflosen BemÝhungen der braven Leute, dies abzuwenden: es ist ein hÚchstes Beispiel von dichterischem Gebrauch der tragischen Ironie wie die, welche Emilia retten wollen, sie verderben, wie die Intrigue, durch welche Emilia dem Prinzen ausgeliefert werden soll, sie – dem Tode ausliefert. So drÈngt alles zur Katastrophe. Das letzte abschließende Glied in der Verkettung, die zur Katastrophe hinfÝhren sollte, war die Motivierung der Tat des Vaters. Soll man nun sagen, worin die Notwendigkeit derselben gegrÝndet ist, so liegt sie in keinem Èußeren Zwang der Lage, sondern in den Charakteren des Odoardo und der Emilia, und eben in dieser inneren Motivation konzentriert sich die tragische Kraft des StÝckes. Hier tritt das Lebensideal Lessings in einer neuen Wendung hervor. Der Wert unseres Daseins liegt in letzter Instanz darin, daß wir im GefÝhl der Independenz der Person, ihrer von jedem Èußeren Schicksal unabhÈngigen WÝrde leben. Ein Zusatz zu dieser Charakterform in Odoardo und Emilia macht sie tragisch. In Odoardo ist eine exzentrische StÈrke des moralischen GefÝhls, wie es Lessing und die ganze AufklÈrung erfÝllt, verbunden mit einer ganz ungewÚhnlichen Hilflosigkeit. Hieraus entspringt seine Fremdheit zu Frau und Tochter und ein ratloses Mißtrauen gegen alles um sich her, gegen jede Chance, die die Zukunft bieten mÚchte. Durch die Orsina aufs •ußerste gebracht, ist er in einem Fieber, das Wahnbilder erzeugt. In diesem Kopf nimmt die Wirklichkeit nun eine verzerrte Gestalt an. Vielleicht wÈre er, auch wenn Emilia nicht sprÈche, zu einer Gewalttat geschritten. In dieser Verfas-

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sung findet ihn die Tochter. Sie hat vor kurzem den Prinzen gesehen und der Zauber dieser Natur hat sich ihrer Einbildungskraft bemÈchtigt. Aber wie vermÚchte sie nun das, was sie sich selbst nicht sagen kann und das sie in den Tod treibt, dem Vater gegenÝber auszusprechen! Diese leidenschaftliche und doch schamhafte Seele Úffnet sich jetzt ihm so wenig ganz als frÝher der Mutter. Doch, auch wenn man Emiliens Worte an den Vater in der Schlußszene so auffaßt, bleibt genug Unbefriedigendes zurÝck. Das ist immer empfunden worden. Es ist unfaßlich, daß Odoardo nicht in dem Moment, in welchem der Prinz ihn mit der furchtbaren Bitte verlÈßt, er mÚge sein Freund, sein FÝhrer und Vater sein, denselben ersticht. Es ist ganz unglaubhaft, daß ihn nachher von solchen Gedanken Emilia durch die kÝnstliche Reflexion abhÈlt: „Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben.“ Und der Entschluß der Emilia konnte nur verstÈndlich gemacht werden, wenn durch eine breite Entfaltung ihres Charakters im Verlauf des StÝckes der Zusammenhang so widersprechender Eigenschaften deutlich geworden wÈre, wie sie diesem Entschluß zugrunde liegen. Wie er nun heraustritt, bleibt Eines wenigstens unbegreiflich. In diesem Augenblick des hÚchsten moralischen Entschlusses, dessen ein Mensch fÈhig ist: der WÝrde der Person das Leben zu opfern, muß Emilia in einem solchen Bewußtsein ihrer Kraft leben, daß sie eine VerfÝhrung nicht fÝrchten kann. In einem Moment, der noch von Blut trieft, gegenÝber einem Manne, der eben die Ermordung ihres BrÈutigams, wie sie weiß, verschuldete und sie jetzt gewaltsam, ihren Eltern offen Hohn sprechend, zurÝckhÈlt, also da nach allen psychologischen Gesetzen das FreiheitsgefÝhl eines reinen Willens die grÚßte StÈrke, ja eine der ganzen Welt trotzende StÈrke haben muß: wie sollte Emilia sich da vor der WÈrme ihres Blutes, der VerfÝhrbarkeit ihrer Sinne fÝrchten? Nein, der Dichter fÝrchtet. Er, welcher hinter ihr steht mit seiner Einsicht in die Natur menschlicher Motivation, er flÝstert ihr zu, daß kein abstrakter Wille imstande sein werde, diese jetzt jeden Nerv durchdringende heroische Seelenstimmung, wann sie erst einmal vor anderen EindrÝkken gewichen sei, so mit dieser ganzen zweifellosen, unerschÝtterlichen StÈrke wieder aufzurufen. Und so entsteht das unsere moralische Empfindung Verletzende dadurch, daß hinter der Maske des reinen und darum seiner Zukunft unbewußten, heroisch bewegten MÈdchens der Dichter hervorblickt, welcher auf Grund solcher Einsicht in den Verlauf der Motivation, dem auch unsere am meisten heroischen EntschlÝsse nicht entnommen sind, in ihre Zukunft hinausschaut: seine ernste Weisheit – vielleicht hat menschliche Weisheit keine ernstere, ja schmerzlichere Einsicht zu gewinnen als diese – rÈt ihr, lieber zum Dolch zu greifen als in den HÈnden des Prinzen zu bleiben, welches auch die festen EntschlÝsse dieses Augenblicks sind. Ein Vergleich drÈngt sich auf. Die gesetzlose Selbstherrschaft in ihrem

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Kampf mit der neu erfaßten WÝrde der Menschennatur ist das Thema der Emilia Galotti von Lessing und des Wilhelm Tell von Schiller. Die „Grenze der Tyrannenmacht“ ist fÝr Schiller das ewige Recht der Natur, das die Notwehr gestattet. Lessing findet nur Eine Zuflucht, die dem freien sittlichen Willen immer offen steht – den Tod. Doch stehen Lessing und Schiller nicht so weit auseinander, als hiernach erscheint. Denn das StÝck in tyrannos, der VorgÈnger von Kabale und Liebe, enthÈlt einen geheimen Kunstgriff. Der Dolch des Odoardo wird gegen das eigene Kind gezÝckt, nicht gegen den Tyrannen; aber das Publikum erhebt sich gleichsam, um dem Galotti die eigenen Arme zu leihen, die Gerechtigkeit herzustellen und die Unschuld zu befreien.

IV. DER KAMPF MIT DER THEOLOGIE.

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Ein neues LebensgefÝhl trug Lessing und rang in seinen Werken nach vollem Ausdruck. Seine vollste zugleich und seine friedlichste VerkÚrperung wird immer in der Dichtung sein. Aber das deutsche Publikum jener Zeit war so vollgepfropft mit theoretischen Lebensansichten, die auf wissenschaftliche Systeme und religiÚse Lehrmeinungen gegrÝndet waren, Moral, Theologie, philosophische AufklÈrung waren so in jede Pore unserer Nation gedrungen, daß dies neue LebensgefÝhl, wenn es nicht wie in Klopstock sich mit allen wissenschaftlichen Vorurteilen vertragen und so in dumpfe Enge absperren lassen wollte, sich auseinandersetzen mußte mit den wissenschaftlichen GrÝnden der herrschenden Weltansicht. Wie wahr dies ist, zeigt die Tatsache, daß das hÚchste dichterische Werk Lessings, der Nathan, aus der Reife der wissenschaftlichen Begriffe entsprang. Wer Minna von Barnhelm sah, der empfand mit EntzÝcken, mit vollstem Behagen die neue Zeit; wer Nathan las, der lernte sie begreifen, lernte ihr MitbÝrger sein. Von der BegrÝndung der kÝnstlerischen Form unserer klassischen Epoche durch Lessing wenden wir uns zu der BegrÝndung ihres Gehalts: von seiner ersten LebenshÈlfte zu der zweiten. 1. Die sittlichen Begriffe, die Lebensideale, die Weltansicht, welche er vorfand: alles stand unter dem Einfluß der T h e o l o g i e , der orthodoxen oder der aufgeklÈrten. Mußte er sich nun mit der vorhandenen wissenschaftlichen

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Reflexion auseinandersetzen, um sein Lebensideal im Andrang der abstrakten Begriffe zu schÝtzen und frei zu entwickeln, so konnte dies ganz grÝndlich nur geschehen, indem er sich mit der gesamten Theologie auseinandersetzte. Nur dadurch konnte er die Àberzeugungen des BÝrgerstandes, die Begriffe der Gelehrten grÝndlich reformieren, die Nationalbildung selber leiten. Er bebte nicht vor diesem Wagnis, vor der Grenzenlosigkeit dieses Studiums zurÝck. Lessings Jugendentwicklung unterscheidet sich von der Goethes und Schillers nicht am wenigsten durch ein starkes theologisches Interesse. Er wuchs in einer Zeit auf, in welcher die ganze deutsche Bildung theologisch war. Er selber ging von der Theologie aus und fand in ihr, wie sie zwischen Geschichte, Philologie und Philosophie gestellt ist, einen kombinatorischen Zug, der seinem Geiste zusagte. Daher einzelne gelehrte Arbeiten aus ihrem Gebiete ihn immer wieder beschÈftigten. Aber mehr noch: man mußte sich damals mit ihr auseinandersetzen Ýber die Fragen, welche fÝr die Richtung unseres Lebens entscheidend sind. Diese Auseinandersetzung vollzog Lessing sehr frÝh. Er selber hat sich einmal darÝber ausgesprochen, wie bald man fertig sei mit den Studien, welche die Frage unserer Bestimmung betreffen. Als Merkzeichen dieser Auseinandersetzung sind drei AufsÈtze von ihm vorhanden, deren Entstehung in seiner FrÝhzeit schon Guhrauer nachgewiesen hat: „Gedanken Ýber die Herrnhuter“, „das Christentum der Vernunft“, „Ýber die Entstehung der geoffenbarten Religion“. So erwÝnscht es wÈre, aus ihrer chronologischen Ordnung einen Entwickelungsgang der religiÚsen Anschauungen Lessings aufzufinden – wir mÝssen uns mit der Tatsache begnÝgen: Lessing forscht bald in den Mysterien des Christentums, um ihren Vernunftgehalt zu gewinnen; bald scheidet er die allgemeine Vernunftreligion von den verschiedenen ZusÈtzen, durch welche aus ihr positive Religionen entstehen; bald begnÝgt er sich, einfach auf den praktischen Gehalt des Christentums zu verweisen: hier von Leibniz lernend, dort von der franzÚsischen AufklÈrung, da von dem GemÝtschristentum angeregt – nirgend noch er selber. Erst in Breslau begann er Spinoza, Leibniz, die KirchenvÈter zu studieren, und eine neue Welt tat sich ihm auf. Die entscheidende Tatsache war, daß unter dem Einfluß der beiden großen Denker des siebzehnten Jahrhunderts eine eigene positive Weltansicht sich in ihm ausbildete, welche den Anschauungen der theologischen AufklÈrung vÚllig heterogen war. Hiervon war die nÈchste Folge, daß er in dem Streit zwischen Orthodoxie und AufklÈrung eine ganz neue Stellung einnahm, die seine Freunde mit Erstaunen erfÝllte. Er tat das nicht auf Grund religiÚser Impulse, sondern vermÚge seiner an Leibniz und Spinoza entwickelten philosophischen Einsichten. Lessing ist der erste deutsche Kopf, welcher dem Schema der Welt im Geist der theologischen AufklÈrung den RÝcken kehrte; er ist der erste, der auf Grund hiervon wie nach ihm

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Schleiermacher, Schelling, Hegel sich auf eine eigene, tiefere Weise mit dem Christentum auseinandersetzte. Vor dieser Zeit seines Spinoza- und Leibniz-Studiums finde ich keine Andeutung, daß er der AufklÈrung neue Begriffe entgegengesetzt hÈtte. Und als dieses Studium ihn nun lehrte, gewisse tiefsinnige Anschauungen des Christentums – wie er sich ausdrÝckte – „wiederzuholen“, nachdem er sie gleich seinen Freunden verworfen hatte: war dies keineswegs ein vorÝbergehendes LiebÈugeln mit der Orthodoxie, sondern ein bleibendes, tieferes VerstÈndnis der letzten Motive des christlichen Dogma. Weil er seit jenen beiden Denkern der erste war, welcher aus den tiefsten BeweggrÝnden der menschlichen Natur eine selbstÈndige positive Weltansicht ausbildete, darum verstand er auch, als der erste, die Motive des christlichen Dogma, wie es sich in einer ungeheuren ErschÝtterung des menschlichen GemÝtslebens ausgebildet hatte. Und weil Schleiermacher, Fichte, Schelling, Hegel Fortbildungen dieser positiven Weltansicht unternahmen, darum setzten sie auch dies neue VerhÈltnis zum christlichen Dogma fort. Dies ist die geschichtliche Stellung Lessings, welche allein sein VerhÈltnis zur AufklÈrung und Orthodoxie erklÈrt. Ein moderner freisinniger Theologe bezeichnet dasselbe nicht richtig, wenn er sagt, „daß er fÝr die Orthodoxie nur ein formelles Interesse hatte, sich an diesem großartigen GebÈude aus Einem Stil in seinem antiken Formsinn erfreute, daß er aber ihrem Inhalt vÚllig abgewandt war“. Ja wenn er meint, Lessing habe sich „nur an die Form der Orthodoxie accommodiert“, so weiß ich gar nicht mehr, was das Ýberhaupt sagen will. Das Umgekehrte wÈre etwa ebenso richtig oder unrichtig. Die positive Beziehung Lessings zur Orthodoxie geht davon aus, daß er vermÚge seiner eigenen Weltansicht die Motive von Lehren, wie die von den ewigen HÚllenstrafen oder von der Dreieinigkeit, zu begreifen imstande war. Das ist doch wohl ein VerhÈltnis zum Inhalt des positiven Christentums. Dagegen wÝßte ich wahrhaftig nicht, was dieser große analytische Kopf an der systematischen Gestalt der Orthodoxie gelernt hÈtte oder hÈtte lernen dÝrfen: gelegentlich da sein Bruder dies System als ein Flickwerk von StÝmpern bezeichnet, weist er ihn auf den immensen Scharfsinn hin, der hier tÈtig war; aber folgt hieraus, daß sein „antiker Formensinn“ zu diesem Inbegriff falscher Methodik ein VerhÈltnis hatte? GlÝcklicherweise nicht. Es wÈre dieses großen methodischen Kopfes nicht wÝrdig. Lessing also verstand vermÚge seiner eigenen Weltansicht die Motive christlicher Dogmen, welche die AufklÈrung rundweg verworfen und durch andere ersetzt hatte. Dieses aufgeklÈrte System des Christentums enthielt keine wichtigeren Àberzeugungen als die Lehre von Gott und der Unsterblichkeit. Und zwar setzte es an die Stelle des christlichen Mysteriums von dem

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Dreieinigen den Begriff eines jenseits der Welt befindlichen, dieselbe von außen leitenden vollkommensten Wesens, und, was den Unsterblichkeitsglauben angeht, an die Stelle der von der Orthodoxie einseitig aus dem Christentum der Èlteren Zeit hervorgehobenen Lehre von der Ewigkeit der Strafen die dem Christentum ebenfalls eigene von der Wiederbringung alles Willens zum Einklang mit dem ewigen Willen. In beiden Punkten stellte nun Lessing gegen die einstimmigen Urteile der aufgeklÈrten Theologen seine einsame Stimme. Seine ernste Àberzeugung, welche den Kern seiner gegen Eberhard gerichteten Abhandlung von den ewigen HÚllenstrafen ausmacht, spricht er brieflich so aus: „ich wÝrde mich von der Hauptsache gar nicht abbringen lassen, nÈmlich davon: die HÚlle, welche Herr Eberhard nicht ewig haben will, ist gar nicht und die, welche wirklich ist, ist ewig.“ Das ist genau die Lehre, welche Herbart in seiner Theorie von dem notwendigen zukÝnftigen Zustande der Seelen erneuert hat. Àber die Lehre vom gÚttlichen Wesen dÝrfen wir Lessings Àberzeugung in dem berÝhmten § 73 der Erziehung des Menschengeschlechts suchen, welchen spÈtere Denker fÝr das Tiefste erklÈrt haben, was Lessing geschrieben habe. In dem Aufsatz Ýber den Streit zwischen Leibniz und Wissowatius ist er sehr zurÝckhaltend; aber auch hier tritt klar hervor, daß die socinianische Lehre von Christus als einem Mittelwesen ihm als eine seichte Entstellung erscheint, welche in der Philosophie wie in der Theologie auf halbem Wege stehen bleibt – ein wahres Muster der neuesten theologischen AufklÈrung. Die neue Stellung, welche Lessing einnahm, war nun wie jeder eigene Standpunkt sehr vielseitig. Von seinen praktischen Absichten hing ab, welche Wendung er ihr geben wollte. Die genannten beiden Schriften, von denen die eine an Leibniz anknÝpft und von den ewigen Strafen handelt, die andere von Wissowatius ausgeht und die Dreieinigkeitslehre erÚrtert, operieren von einer ganz gedeckten, fÝr niemanden Ýbersehbaren Stellung aus g e g e n die AufklÈrung. Den Beweggrund seiner Polemik hat Lessing so klar ausgesprochen als man wÝnschen kann. Wir haben bemerkt, wie er sich zu einer selbstÈndigen Weltansicht erhoben hatte. Indem er die Weltansicht der theologischen AufklÈrung an seine eigene hielt, entdeckte er – und er zuerst – in der AufklÈrung einen willkÝrlichen, vor dem strengen Gedanken unhaltbaren Vertrag zwischen dem christlichen System und der Philosophie. Dieser Vertrag verletzte sowohl die Rechte des Denkens als die des Christentums. War die Orthodoxie ein offener Feind der Wissenschaft gewesen, so drÈngte sich hier ein heimlicher heran, welcher die Vernunft zu bestechen versuchte. Die Lage der Wissenschaft ward hierdurch, verglichen mit ihrer Stellung zur Orthodoxie, nur verschlechtert. „Mit der Orthodoxie war man, Gott sei Dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwischen

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ihr und der Philosophie eine Scheidewand gezogen, hinter welcher eine jede ihren Weg fortgehen konnte, ohne die andere zu hindern. Aber was tut man nun? Man reißt diese Scheidewand nieder und macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernÝnftigen Christen zu machen, zu hÚchst unvernÝnftigen Philosophen.“ – „Meines Nachbars Haus“ (die Orthodoxie) „droht ihm den Einsturz. Wenn es mein Nachbar abtragen will, so will ich ihm redlich helfen. Aber er will es nicht abtragen, er will es mit gÈnzlichem Ruin meines Hauses“ (der Wissenschaft) „stÝtzen und unterbauen. Das soll er bleiben lassen oder ich werde mich seines einstÝrzenden Hauses so annehmen als meines eigenen.“ Diese erste theologische TÈtigkeit Lessings auf Grund seiner neuen Stellung zum Christentum enthielt in sich eine große Wahrheit, welche er beibehielt, und ein absichtliches oder unabsichtliches Àbersehen von Tatsachen, das er sofort gut machte. Die große Wahrheit war die von der notwendigen Trennung der Theologie und Philosophie. Der Àberzeugungsgrund fÝr religiÚse Wahrheiten ist ein anderer als der fÝr philosophische Wahrheiten. Diese wichtige Einsicht wurde ihm an dem vernÝnftigen Christentum der AufklÈrung deutlich, von dem er in bitterem Scherz bemerkte, daß man leider eigentlich von ihm weder wisse, wo ihm die Vernunft, noch wo ihm das Christentum sitze. Die Ýbersehene Tatsache war, daß das orthodoxe System mit der Philosophie allen Hauptproblemen des menschlichen Daseins und des Weltzusammenhanges gegenÝber kollidiert, daß demgemÈß die Wissenschaft dies System niemals jenseits der Scheidewand frei operieren lassen kann. Entweder seine Begriffe sind die richtigen oder die der Wissenschaft. Religion, Christentum stellen sich dem tieferen Studium in solcher Gestalt dar, daß die Wissenschaft frei neben ihnen schaltet, daß beide sich ergÈnzen; sie sind LebensmÈchte, welche einander bedÝrfen, einander stÝtzen im Kampf gegen den Egoismus des innerlich unerzogenen Menschen, wie die Erziehung des Menschengeschlechts dies mit genialem Tiefblick begrÝndet; aber die Orthodoxie und die Wissenschaft widersprechen sich ewig, ja sie kÈmpfen einen Kampf um ihr Dasein: nur eine von diesen beiden historischen Gewalten kann leben. Denn sie lÚsen dieselben Fragen durch einander unmittelbar und Ýberall widersprechende Begriffe. Ich sagte: er Ýbersah diese Tatsache, absichtlich oder unabsichtlich. Genauer beleuchtet, scheint kaum ein Zweifel, daß das erstere der Fall war. Er wollte mit gedecktem RÝcken gegen die theologische AufklÈrung kÈmpfen. Es war eine erlaubte Klugheit, sich nicht zwei Feinde zugleich zu schaffen. Und dieser Klugheit kam seine leidenschaftliche Abneigung gegen die seichte AufklÈrung zu Hilfe, welche ihm diese der Orthodoxie gegenÝber eine Zeitlang als das grÚßere Àbel erscheinen ließ.

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2. Wie lange diese Zeit dauerte, wann sie endete, kÚnnen wir nicht sagen. Als Lessing die Fragmente des großen Werkes von Reimarus herausgab, gab er sich noch den Anschein, die Spitze seines Angriffs sei gegen die neumodischen Theologen gerichtet. Aber glaubte er ernstlich, daß dieser Anschein die Orthodoxie Ýber die Tatsache tÈuschen werde, daß ihre Existenz selber, wie durch keinen frÝheren Angriff, bedroht sei? Sicher nicht. Trotzdem dachte er, als er die Fragmente publizierte, an einen Kampf mit der Orthodoxie doch hÚchstens wie an eine Folge, die sich nicht vermeiden lassen wÝrde. Ihn bewegte etwas ganz anderes. Dieser scharfsinnigste Angriff, der seit Celsus gegen den ganzen Zusammenhang des Christentums gemacht worden war, beschÈftigte seinen eigenen Geist unablÈssig, seitdem er ihn kennen gelernt hatte. Von seiner VerÚffentlichung hoffte er eine mÈchtigere FÚrderung der großen Streitfrage des Christentums. So bestimmte ihn zu der VerÚffentlichung, ganz seinen feierlichsten Versicherungen entsprechend, das reine Motiv, der Wahrheit damit einen Dienst zu tun. Nicht darum war es ihm damals zu tun, die Orthodoxen Ýber ihre Grenzen auf den Kampfplatz zu locken. Um die große Frage selber handelte es sich fÝr ihn. Achteten aber die Verteidiger des Kirchenglaubens die Grenzen freier wissenschaftlicher Forschung nicht, so war er auch darauf durch jahrelange einsame Studien gerÝstet. Dies war wohl, soweit briefliche Mitteilungen sehen lassen, das wahre Motiv der H e r a u s g a b e d e r F r a g m e n t e . Erwogen, unter welchen persÚnlichen VerhÈltnissen er diesen Schritt tat, erscheint er als die schÚnste und mÈnnlichste Handlung in diesem großen Leben. Lessing wußte, daß sein ganzes folgendes Dasein unter den Wirkungen dieser Handlung stehen wÝrde, und er war darauf vorbereitet. Der Wille zur Herausgabe stand in ihm schon fest, bevor er noch jene beiden Abhandlungen gegen die AufklÈrung geschrieben hatte. Er brachte die Schrift gleich, als er nach WolfenbÝttel ging, von Hamburg mit. Trotz Nicolais und Mendelssohns Abraten war er entschlossen, sie ganz in Berlin drucken zu lassen; auch als die Berliner Zensur die Druckerlaubnis verweigerte, konnte das seinen festen Willen nicht erschÝttern; er benutzte die Zensurfreiheit seines Amtes, um wenigstens die einzelnen BruchstÝcke ans Tageslicht zu bringen. So erschien 1774 das erste sehr gemÈßigte Fragment, das unbeachtet blieb, dann 1777 jene Serie, in welcher ein Fragment die UnmÚglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegrÝndete Art glauben kÚnnten, behandelte, ein anderes die UnmÚglichkeit, daß die BÝcher des Alten Testaments geschrieben seien, eine Religion zu offenbaren, und ein drittes die UnglaubwÝrdigkeit der Auferstehungsgeschichte. Der Kampf um die wissenschaftliche Haltbarkeit aller Grundlagen der Theo-

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logie war damit erÚffnet: allen Parteien der bisherigen Theologie war der Fehdehandschuh hingeworfen. Also soweit wir sehen kÚnnen, gab die Àberzeugung, daß die große Frage des Christentums in freier Forschung ausgetragen werden mÝsse, Lessing den festen Entschluß ein, auf jede Gefahr den Angriff von Reimarus gegen das Christentum zu publizieren. Dieser Satz bedarf einer ErgÈnzung. Lessing war nicht ein Kopf unter der staunenden Masse, die wartete, welchem von beiden Ringern der Sieg zuteil werden wÝrde. Er war noch weniger, weit weniger, ein heimlicher AnhÈnger von Reimarus, der zu ScheinkÈmpfen herausforderte gegen einen Unverwundbaren. Die gewichtigsten GrÝnde sprechen dafÝr, daß er, als die Fragmente gedruckt wurden, bereits in tiefem Studium dieser Schrift, die von ihm jahrelang insgeheim erwogen worden war, eine zusammenhÈngende Anschauung Ýber Religion, Christentum, Kirche und RechtglÈubigkeit ausgebildet hatte, welche den Hintergrund seiner nunmehr folgenden Polemik bildete. Diese Tatsache ist von Wichtigkeit, weil sie beweist, daß die lange Polemik, in welche er mit Goeze verwickelt ward, ihm allerdings, wie er das Úfter ausspricht, lÈstig sein mußte: er hatte Ernsteres und GrÚßeres im Hinterhalt, und es war nicht seine Schuld, wenn es im Hinterhalt blieb. Wir sind ferner imstande nachzuweisen, daß diese seine zusammenhÈngende Ansicht allerdings zu der von Reimarus in scharfem Gegensatze stand. Die S c h r i f t v o n R e i m a r u s hat nichts zu tun mit den BegrÝndungen eines aufgeklÈrten Christentums, wie sie damals den Úffentlichen Geist beherrschten, Lessing aber als Halbwahrheiten so scharf abstießen. Sie ist gegen das Christentum und seine Geltung gerichtet, sans phrase. Offenbarung ist nicht glaubwÝrdig. Denn es ist undenkbar, daß die Gottheit auf dem Weg, welchen die Offenbarung nimmt, den Menschen Wahrheiten hÈtte mitteilen wollen, deren sie zu ihrer Seligkeit bedÝrfen. Dieser Weg ist der einer Mitteilung an einzelne Menschen. WÈre auch diese Mitteilung permanent, so hinge doch ihre Annahme an einer vorsichtigen PrÝfung der Zeugen, deren Resultat immer problematisch sein wird. Nun ist aber dieser Weg der einer Mitteilung, die auf gewisse Perioden eingeschrÈnkt ist. Im Lauf der Zeiten mÝßte daher selbst aus der grÚßten Sicherheit nur Wahrscheinlichkeit und weiter hinaus Sage werden. Und endlich findet sich, daß, inmitten des Anspruches aller mÚglichen Nationen auf glaubwÝrdige Offenbarungen, das Christentum als Eine derselben vorliegt, die von Einem Punkt aus sich nur spÈrlich und in langen Fristen ausgebreitet hat. Ein solcher Weg, gewÈhlt anstatt allgemeiner Mitteilung im Herzen aller Menschen, widerspricht der GÝte und der Weisheit Gottes. Die zweite These: weder das Alte noch das Neue Testament tragen den

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Charakter der Offenbarung an sich. Das Alte nicht: denn es enthielt nicht einmal die fÝr Tugend und Beseligung der Menschen notwendigsten Einsichten von einem zukÝnftigen Leben und der Vergeltung. Auch das Neue nicht: denn eine kritische PrÝfung der Evangelien ergibt das Resultat, daß Jesus von Nazareth sich in den Grenzen der jÝdischen Religion fÝr den Messias der Juden hielt, den Anbruch des messianischen Reiches unter seinem KÚnigtum erwartete, in solchem Sinne in Jerusalem feierlich einzog, gegen die offiziellen Machthaber Úffentlich auftrat und in diesem Kampf das Leben verlor; aus der anfÈnglichen Hoffnungslosigkeit der JÝnger erhob sich dann ihre Lehre von dem leidenden geistlichen ErlÚser. Die Tatsache der Auferstehung kann dieser Auffassung gegenÝber nicht geltend gemacht werden, weil noch Spuren vorhanden sind, daß es mit dieser sehr natÝrlich zugegangen. So viel hat Lessing aus der Schrift von Reimarus verÚffentlicht, das Ganze ist spÈter von Strauß im Auszug zugÈnglich gemacht worden. Nun die A n t i t h e s e L e s s i n g s , wie sie sich im einsamen Studium des Werkes bildete. Man verzeihe eine vorlÈufige kritische Bemerkung. Aber warum hat auch niemand hier die nÚtige kritische Grundlage gegeben? Was wissen wir von Lessings bisherigen theologischen Vorbereitungen? Diese Studien, sofern sie eine ernstliche BeschÈftigung mit den KirchenvÈtern unnachlÈßlich fordern, fallen erst in seine Breslauer Epoche. Der sehr zuverlÈssige Bericht Kloses sagt: „In den letzten Jahren seines Aufenthalts zu Breslau fing er an, mit theologischen Studien sich zu befassen. Er machte einen Entwurf zu einer großen Abhandlung von den Verfolgungen und MÈrtyrern der Christen und tat einem seiner Freunde den Vorschlag, die KirchenvÈter gemeinschaftlich zu lesen.“ Karl Lessing verlegt die Abhandlung Ýber die Elpistiker in dieselbe Zeit, er bemerkt bereits, daß sie nicht nach 1764 entworfen sein kann, weil Heumanns hier als eines Lebenden gedacht wird; zugleich spricht hierfÝr die Anekdote, auf welche Weise er den guten Leuschner auf der Breslauer Bibliothek in Verlegenheit brachte, gegen dessen Schrift er frÝher geschrieben. Ebenso dÝrfen wir aber dann nach dem obigen Zeugnis die Untersuchung „von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion“ in diese Breslauer Zeit setzen: denn in Kloses Datierung jener „großen Abhandlung“ muß sie einbezogen werden. Hiermit stimmt, daß Lessing seinen 1760 geschriebenen Sophokles zitiert, daß dieser ihm damals noch bei einer ganz heterogenen Materie ins GedÈchtnis kam, ebenso daß Justin sehr eingehend benutzt ist, von dessen besonderem Studium Klose ErwÈhnung tut. DemgemÈß sehen wir in dieser Breslauer Zeit ihn weitlÈufige Untersuchungen Ýber das Èlteste Christentum anlegen, auf dem Grunde eines eingehenden Studiums der KirchenvÈter. Und zwar hat die Abhandlung Ýber die Fortpflanzung der christlichen Religion die gleiche Tendenz mit jenen berÝhmten Kapiteln Gib-

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bons, welche mehr als ein Jahrzehnt spÈter publiziert worden sind und ganz England in Bewegung gesetzt haben; sie will die Ausbreitung der christlichen Kirche pragmatisch erklÈren und damit der Àberzeugung von einer ÝbernatÝrlichen Macht im Christentum eine ihrer HauptstÝtzen entziehen. Beide Abhandlungen beschÈftigen sich mit der disciplina arcani: einem Problem, das sehr nahe bei dem spÈteren der regula fidei liegt. Das ging alles voraus, bevor Lessing die Schrift von Reimarus in Hamburg erhielt. Dann regte diese ihn auf. Seit 1770 lebte er nun in der WolfenbÝttler Einsamkeit unter den SchÈtzen der ungeheuren Bibliothek und konnte also in Muße die alten Studien fortsetzen, um die neuen, nunmehr so viel tiefer greifenden Zweifel zu lÚsen. Eine Art von vorlÈufiger Revue seiner Resultate haben wir in den ungemein merkwÝrdigen „Theses aus der Kirchengeschichte“, mit denen keine bisherige Untersuchung Ýber Lessing etwas zu beginnen wußte. Die eine HÈlfte des Inhalts hat diese Schrift mit der „neuen Hypothese Ýber die Evangelisten“, die andere mit den berÝhmten Thesen in der „notwendigen Antwort“ gemeinsam. Mir scheint nun wahrscheinlich, daß die Theses schon vor Lessing auf dem Schreibtisch lagen, als er die beiden Schriften entwarf. An der „neuen Hypothese“ arbeitete er schon im Dezember 1777, die nÚtige Antwort ist vom folgenden Jahr; also genÝgt nachzuweisen, daß die Theses aus der Kirchengeschichte Èlter sind als die Hypothese. Und das kÚnnen wir. Ihre Theorie zeigt eine bemerkenswerte Eigenheit in der Annahme eines ganz kurzen Urevangeliums, das nichts als eine Auslegung prophetischer Stellen gewesen sei; diese Annahme erinnert sehr an gewisse Ansichten von Reimarus, zeigt also die Lessingsche Hypothese in ihrer Entstehung. Auch die kunstvolle Komposition der „Hypothese“, verglichen mit der einfachen historischen Zusammenstellung der Theses, selbst Differenzen wie die, daß in diesen das Èlteste Evangelium mindestens 16 Jahre nach Christi Tod angesetzt wird, in der neuen Hypothese aber, wohl auf Grund der historischen Notiz von der Abfassung des MatthÈus vor der Missionsreise, mindestens 30 Jahre danach, was dann an einer Stelle der spÈteren Schriften festgehalten wird – das alles spricht fÝr meine Annahme. DemgemÈß war die historische Grundansicht Lessings von der Entwickelung der ersten christlichen Jahrhunderte so gut als fertig, bevor noch Angriffe ihn nÚtigten, in ihr einen Schutz gegen das Luthertum zu suchen. Mit dem Anfang 1777 erschienen die Fragmente; gegen Ende des Jahres geht dann die „neue Hypothese“ ihrer Vollendung entgegen; die Angriffe von Schumann und Goeze erschienen erst 1778, und im Juli dieses Jahres verÚffentlichte Lessing schließlich den Inhalt der zweiten HÈlfte der Thesen in der „nÚtigen Antwort“, um sich gegen die lutherische Orthodoxie zu schÝtzen. Wir haben es also hier keineswegs mit einer sophistischen Streitwendung zu tun; es war Les-

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sing auch hier sehr ernst mit dem was er sagte. Eine tief Ýberlegte, aus unbefangenem historischem Studium entsprungene Theorie gab er hin wie einen Fechterstreich, ja behandelte sie in seinen eigenen Briefen so. Nun endlich also das Resultat: die Antithese Lessings gegen Reimarus, wie sie fertig war, bevor noch irgendein Gegner sich hatte vernehmen lassen, irgendein Angriff auf ihn eingewirkt hatte, irgendein Schrei der EntrÝstung ihn hÈtte einschÝchtern kÚnnen. Diese Antithese ist Verteidigung zugleich und Angriff. Verteidigung des Christentums und Angriff gegen die Gestaltung, welche dasselbe im bisherigen Protestantismus erhalten hat. Es ist durchaus keine rhetorische Wendung, wenn Lessing mehrmals, mit Leidenschaft, den Genius Luthers fÝr sich aufruft gegen die historische Gestalt des Luthertums. In der wahren Tiefe des protestantischen Geistes sucht er ein neues Fundament des Protestantismus, so scharf, so offen und gerade, daß die AufklÈrungstheologie seiner Zeit davor erschrak.

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3. FÝr den Christen – so sagt Lessing – hat sein Glaube eine unmittelbare Gewißheit, welche durch keine GrÝnde verstÈrkt, durch keine GrÝnde erschÝttert werden kann. „Was gehen den Christen der gelehrten Theologen Hypothesen und ErklÈrungen und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig f Ý h l e t . – Wenn der Paralytikus die wohltÈtigen SchlÈge des elektrischen Funkens e r f È h r t , was kÝmmert es ihn, ob Nollet oder ob Franklin oder ob keiner von beiden Recht hat?“ Verstehen wir Lessing recht? Es ist der im Pietismus durchgebildete Gedanke, daß die E v i d e n z d e s G l a u b e n s a u f d e r i n n e r e n E r f a h r u n g beruhe. Nur daß Lessing der Grenzen dieser Evidenz sich genau bewußt ist. Nie vermag die Erfahrung des einen die eines anderen zu widerlegen, sie treten frei nebeneinander. In dem Hintergedanken des Pietismus, das BeglÝckende in allen anderen, von den seinigen abweichenden Àberzeugungen werde und mÝsse sich als eine TÈuschung erweisen und sei es auch erst in der Todesstunde, Ýbersteigt dieser Àberzeugungsgrund sich selber, und im GemÝtsleben bildet sich so eine anmaßende WillkÝr und SubjektivitÈt, die anderen GemÝtszustÈnden gegenÝber beleidigend oder lÈcherlich wird. Wo aber die innere Erfahrung sich der Grenzen ihrer Evidenz bewußt ist, da ist sie in ihrem Rechte. In diesem Sinn hat Goethe, ganz Ýbereinstimmend mit Lessing, ihr ewiges Recht in den Bekenntnissen einer schÚnen Seele ausgesprochen. „Ich kann“ – so lÈßt er den Glauben sich Èußern – „von der RealitÈt meines Glaubens Ýberzeugt sein. Warum sollte er nicht einen gÚttlichen Ursprung, nicht einen wirk-

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lichen Gegenstand haben, da er sich im Praktischen so wirksam erweist? Werden wir durchs Praktische doch unseres eigenen Daseins selbst erst recht gewiß.“ Es ist wichtig zu erkennen, wie Lessing sich der Macht und der Grenzen dieser der inneren Erfahrung eigenen Evidenz ganz klar bewußt ist. Er findet, diese Evidenz sei dem Christentum Ýbrig, wenn jede andere Art von BegrÝndung versagen sollte: dann „bliebe dennoch die Religion in den Herzen derjenigen Christen unverrÝckt und unverkÝmmert, welche ein inneres GefÝhl von den wesentlichen Wahrheiten derselben erlangt haben“; denn ein jeder von diesen „fÝhle, daß ihn dieser christliche Lehrbegriff beruhigt“. Und er charakterisiert die Macht dieser rein subjektiven Evidenz, verglichen mit jeder BegrÝndung durch den Gedanken, wenn er sagt, ein solcher Christ „fÝhle, wo andere sich zu denken begnÝgen“. UnÝbertrefflich spricht er Begrenztheit wie Gewalt dieses Àberzeugungsgrundes in dem Worte aus, daß unter seinem schÝtzenden Schilde eben nur ein einzelner Mensch, die Religion im Herzen, Raum habe. Treten wir nun aus diesem Kreis der subjektiven Evidenz heraus: gibt es fÝr das Christentum eine andere? In den Kollektaneen zur Literatur sagt Lessing: „Wider die vielen Werke, welche in neuerer Zeit fÝr die christliche Religion herausgekommen, gilt es, daß sie nicht allein sehr schlecht beweisen, was sie beweisen sollen, sondern auch dem Geiste des Christentums ganz entgegengesetzt sind, als dessen Wahrheit mehr empfunden sein will, als anerkannt; mehr gefÝhlt als eingesehen. Dieses zu erhÈrten, mÝßte man zeigen, daß die fÝr die Religion geschriebenen Werke der KirchenvÈter nicht sowohl Behauptungen derselben als bloß Verteidigungen gegen die Heiden gewesen sind. Sie suchten die GrÝnde g e g e n sie zu entkrÈften, aber nicht unmittelbar GrÝnde f Ý r sie festzusetzen.“ Also noch einmal die Frage: welchen Gebrauch kann die BegrÝndung des Christentums von der wissenschaftlichen Evidenz, der Evidenz des Gedankens machen? FÝr die BegrÝndung – scheint die Antwort – keine; nur fÝr die Abwehr wissenschaftlicher Angriffe. Ganz in diesem Sinne sagt dann Lessing bei der Publikation der Fragmente, an Vernunftwahrheiten Offenbarungswahrheiten anfÝgen, sei nicht anders als die Chiromantie an die Mathematik anfÝgen; Chiromantie und Offenbarung „grÝnden sich beide auf Zeugnisse und ErfahrungssÈtze“: ihre Evidenz bleibt in alle Ewigkeit eine andere als die von Vernunftwahrheiten. Ja da nunmehr weiter alle schriftliche Àberlieferung innere Wahrheit nicht ersetzen kann, so bleibt auch nach dieser •ußerung Lessings die ganz subjektive Evidenz der inneren Erfahrung der Àberzeugungsgrund fÝr das Christentum. Aber wie? Wir retten das persÚnliche Christentum, doch lassen wir die Theologie, ja die Kirche, welche eines objektiven Àberzeugungsgrundes zu bedÝrfen scheinen, im Stich! Ich zweifle keinen Augenblick, daß Lessing Ýber die UnmÚglichkeit einer wissenschaftli-

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chen Evidenz fÝr die Wahrheit des Christentums schon damals vÚllig im reinen war. Wenn er der Vernunft offen hielt, eine Demonstration vorzulegen, daß eine Offenbarung sein kÚnne, sein mÝsse, welche es auch sei: so spielt dabei eine gutmÝtige Ironie um seine Lippen. Àber die Bedingungen einer Kirche in seinem Zeitalter ergab sich ihm wohl auch spÈter durchaus kein positives Resultat, wenigstens findet sich keine Spur davon in Schriften oder Briefen; und wenn Gervinus sagt: hÈtte Lessing lÈnger gelebt und hÈtte sein Zeitalter fÝr kirchliche Dinge Sinn gehabt, so wÝrde er vielleicht dem Protestantismus von populÈrer konstitutiver Seite eine neue Entwickelung gegeben haben – so finde ich keine Stelle, in welcher Lessing irgendein Interesse fÝr die Bedingungen einer KirchengrÝndung im Zusammenhang mit seiner Reform der Religionsanschauungen zeigte. Nichts lag Lessing ferner als das. Also er hielt sich auf der Linie der Verteidigung. Seine Verteidigung wollte nur das persÚnliche Christentum schÝtzen. Es lag ein Angriff vor, welcher die MÚglichkeit der Offenbarung Ýberhaupt, die MÚglichkeit, daß das Judentum oder das Christentum eine solche enthielten, verneinte. Diesem Angriff gegenÝber ersann er die Hypothese von der Erziehung des Menschengeschlechts; auch sie war in ihm fertig, als er die Fragmente publizierte. Gott selber hatte nur die Wahl zwischen den Wegen, die in der Ordnung der Welt Raum hatten: er wÈhlte den besten, nicht den unbedingt guten, einen Weg, auf welchem die Wahrheit allmÈhlich an alle kommt, freilich nur allmÈhlich, nur durch eine Reihe von Entwickelungsstufen, aber endlich doch an alle. Der Grundgedanke des Schlusses der Erziehung, welcher damals noch nicht publiziert war, daß jeder einzelne Mensch die Bahn zu durchlaufen habe, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, ist die LÚsung des Problems, welches Reimarus aufgab und das Lessing hinreißend aussprach: „Weh dem menschlichen Geschlecht, wenn in dieser ³konomie des Heiles auch nur eine einzige Seele verloren geht. An dem Verlust dieser einzigen mÝssen alle den bittersten Anteil nehmen, weil jede von allen diese einzige hÈtte sein kÚnnen. Und welche Seligkeit ist so Ýberschwenglich, die ein solcher Anteil nicht vergÈllen kÚnnte?“ – die Offenbarung gelangt auch auf dem historisch vorliegenden Weg an alle. Ebenso lÚsen sich die Zweifel gegen die Offenbarung im Alten Testament durch den Gedanken eines gÚttlichen Erziehungsplanes, in welchem die Idee der Unsterblichkeit eine spÈtere Stelle hatte. Es lÚsen sich die Zweifel gegen die Offenbarung des Christentums – wenn man das Neue Testament als eine historische Quelle nimmt, nicht als ein inspiriertes Ganzes von Offenbarungen. Denn dies ist nun die notwendige ErgÈnzung, wenn man Lessings Stellung ganz Ýbersehen will: die innere Wahrheit des Christentums ist in der Erfahrung des Christen begrÝndet; es ist mÚglich sie zu verteidigen, zu retten den

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Angriffen der Wissenschaft gegenÝber; aber unter einer Bedingung allein: man lasse das orthodoxe System des Protestantismus fahren! Man v e r z i c h t e auf die B e g r Ý n d u n g des protestantischen G l a u b e n s auf den K a n o n als auf ein inspiriertes Ganzes gÚttlicher Offenbarungen! Hier liegt der Radikalismus der Lessingschen Theologie, und an diesem Punkt wirkte Lessing unmittelbar auf die theologische Bewegung. Wie das mit schnellwirkenden Ideen der Fall zu sein pflegt, ist er gerade hier getragen von einer Genossenschaft Gleichstrebender, unter welchen Michaelis und Semler hervorragen. S e m l e r wird immer der Ruhm bleiben, der Reformator der protestantischen Theologie geworden zu sein, indem er die Lehre vom Kanon, das Fundament des altprotestantischen Lehrbegriffes, in den berÝhmten vier BÈnden vom freien Gebrauch des Kanons vernichtete. Wer sich eingehend mit ihm beschÈftigt hat, muß hingerissen werden durch diese geniale SpÝrkraft, welche so wichtige Resultate der neuesten Kritik ahnte. Welch ein Bild diese MÈnner! Michaelis, wie er als armer pietistischer Student im Halleschen Waisenhause von historischen und geographischen Studien ergriffen wird, wie er dann auf der Bodleianischen Bibliothek hebrÈische Vokale vergleicht nach dem Verzeichnis seines Vaters, ohne Ahnung von der lÈcherlichen Nichtigkeit dieser Arbeit, und wie er zugleich in London endlich seine geographischen Interessen vollauf sÈttigen darf – wie dann aus diesen mÈchtigen Impulsen das „mosaische Recht“ erwÈchst. Und Semler, auch er ein armer pietistischer Theologe, den Baumgarten in seine ungeheure BÝcherwÝhlerei hereinzieht, wie er bei dem Kanzler von Wolf mit Voltaire zu Tisch sitzt und erstaunt von der Unterscheidung von Theologie und Religion etwas vernimmt, ihm unvergeßlich; wie er in Baumgartens Bibliothek lebt, an dessen Nachrichten von einer Halleschen Bibliothek, an seiner Welthistorie sich bildet, wie nun die Ansichten jener englischen und franzÚsischen Forscher sich seiner Seele bemÈchtigen und er das Chaos der theologischen Meinungen nach seinen neuen Gesichtspunkten durchwÝhlt, Ýberall ganze Perspektiven neuer Entdeckungen erblickt, solange Baumgarten lebt ehrerbietig schweigt, dann endlich mit seinen Ansichten heraustritt, welche zuerst im deutschen Geist jenen historisch-kritischen Zug weckten, der sich dann auf allen Gebieten so mÈchtig erhob. Was war das Resultat Semlers? Die Lehre von dem Kanon als einer Einheit, als einem Ganzen mit jenem System ihrer Affektionen d. h. ihrer gÚttlichen Eigenschaften ist ein Niederschlag aus den langjÈhrigen Streitigkeiten des Protestantismus mit der katholischen Kirche. Die nÈhere Untersuchung zeigt vielmehr, daß diese Schriften des Kanon lauter einzelne Mittel waren, bei den beschrÈnkten christlichen Gemeinden einen damaligen Endzweck zu erreichen. Daraus ergibt sich, als Konsequenz fÝr die geschichtliche Theologie, die Auf-

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gabe einer literarhistorischen Untersuchung dieser Schriften, ihres Ursprunges, ihrer schriftstellerischen Absicht. Denn „diese AufsÈtze sind so ungleichen Inhalts als die FÈhigkeiten der ersten Schule ungleich waren“. Aus dem Lokalen und Temporellen mÝssen sie begriffen werden; die moralische Welt ist wie die physische in verschiedene Klimate eingeteilt. Und so antizipiert denn Semler einen guten Teil der neueren Anschauung von der Entstehung der kanonischen Schriften inmitten eines Parteikampfes, in welchem der ‚Judaismus, als das geistige ‚Klima, unter dem das Christentum entstand, mit dessen neuen Ideen im Streite lag. Und hieran schließt sich dann die andere Konsequenz, welche sich gegen die bisherige dogmatische Theologie richtete. Die Bibel enthÈlt ihm nicht mehr die Wahrheit schlechthin; um diese zu gewinnen, bedarf es einer Ausscheidung des Lokalen und Temporellen in ihr. Wenn Bunsen spÈter von einer Àbertragung der Bibel aus dem Semitischen in das Japhetitische gesprochen hat, so war das ganz in Semlers Anschauung. Die Bibel ist ganz durchdrungen von Judaismus. „Alle Meinungen, welche Christus Endzweck nicht betreffen und nicht eigentlich hindern, hat Christus so wenig widerlegt als er eine EnzyklopÈdie aller wahren Erkenntnis hat geben wollen.“ So war, als Lessing auftrat, bereits die Axt an die Wurzel gelegt von einer mÈchtigen Hand. Auch Strauß wÝrdigt dies tatsÈchliche VerhÈltnis nicht. Jene unsterblichen Axiome Lessings ruhen ganz auf dem Fundament der Untersuchungen Semlers; es ist sehr irrtÝmlich, lauter damals neue Wahrheiten in ihnen zu finden; diese Wahrheiten bilden vielmehr den Punkt, von welchem Lessing weiterging. Ich stelle die Axiome zusammen, welche nur Resultate von Semler sind: „die Bibel enthÈlt offenbar mehr als zur Religion gehÚrt. Es ist bloße Hypothese, daß die Bibel in diesem Mehreren gleich unfehlbar sei. Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion. Auch war die Religion, ehe eine Bibel war. Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb und eine sehr betrÈchtliche, ehe der ganze Kanon zustande kam.“ Die einfachen Folgerungen aus diesen SÈtzen, sowie die erkenntnis-theoretische Einsicht in die Natur von Geschichtswahrheiten gehÚren Lessing, und zwar diese in den Axiomen allein. Aber Lessing hatte, um die bisherige Theorie vom Kanon ganz zu vernichten und in die neuen Untersuchungen einzugreifen, welche eine historisch-kritische Theologie begrÝndeten, eine Anschauung von der Èltesten Àberlieferung des Christentums aus dem Studium der KirchenvÈter entwickelt, die von der hÚchsten OriginalitÈt und zugleich von der grÚßten Tragweite war. Die allerÈlteste Form der Tradition ist die der regula fidei; diese regula beherrschte auch dann noch den Glauben, als andere schriftliche Aufzeichnungen Ýber das Christentum hervortraten; von diesen war die Èlteste das Evangelium der Na-

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zarener, aus dem sich dann unsere drei ersten Evangelien entwickelt haben. So seine Thesen aus der Kirchengeschichte. 4. 5

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Wir Ýberblicken nunmehr die Antithese Lessings gegen Reimarus, gegen jeden grÝndlichen, radikalen Angriff auf das Christentum, der damals vorlag. Die Wahrheit des Christentums ruht fÝr den Christen, mit einer subjektiven, aber unbedingten Evidenz, in seiner inneren Erfahrung. Die Wissenschaft kann jeden Angriff gegen das Christentum in seiner Nichtigkeit aufzeigen. Aber freilich unter der Bedingung, daß diesem Angriff die ganze Breite des Kanons als eines Inbegriffs gÚttlicher Offenbarung entzogen werde. Erst nachdem das Christentum in einer regula fidei Ýberliefert worden war, entstanden die Evangelien, und zwar die drei ersten als freie, daher vielfach widersprechende Bearbeitungen des Nazarenerevangeliums. Faßt man demgemÈß den Kanon historisch-kritisch, so lÈßt sich sehr wohl ein Gang der Offenbarung als einer Erziehung des Menschengeschlechts verteidigen, in welchem Judentum und Christentum Stufen sind. Als Lessing die Fragmente edierte, war diese Antithese gegen sie ausgebildet, niedergeschrieben, mit strenger Gelehrsamkeit begrÝndet. Nun begreift man wohl, mit welcher Erwartung, ja mit welcher Ungeduld Lessing nach den KÈmpfern aussah, die zu ihm hinab auf den Plan steigen wÝrden. G o e z e kam, ein ziemlich angesehener Theolog. Mit dem Jahre 1778 trat er gegen Lessing auf. Dieser versuchte ihn vermittelst der Axiome in den Kreis seiner scharfen Untersuchungsreihen zu bannen. Umsonst! Er sollte eine Polemik durch MißverstÈndnisse, triviale Einwendungen, die nichts widerlegen, Konsequenzen, die nicht unvermeidlich sind, persÚnliche AusfÈlle, die nicht zur Sache gehÚren, kennen lernen – die unbesiegbar bleibt, weil man nirgend sie festzuhalten imstande ist. Wer verargt Lessing, wenn er mit einer leidenschaftlichen Ungeduld diesen ergebnislosen Kampf fÝhrte? Sein Genie allein war imstande, diesem Kampf, wie er nun nach der Natur des Gegners war, die hÚchste Wirkung zu geben. Er erwartete den Mann, welcher ihm Gelegenheit geben wÝrde, die Theorie des orthodoxen Systems durch seine neuen Entdekkungen zu bekÈmpfen; inzwischen wendete er sich gegen den Charakter, in welchem dies System schon seit Luthers SchÝlern verteidigt worden war; sein dramatisches Genie schuf in Goeze den ReprÈsentanten dieser Apologetik und Polemik, und vÚllig vertieft in diese SchÚpfung, begann er mit Goeze eine KomÚdie zu spielen, in der er den Charakter des alten Systems und den der neuen Forschung als Spieler und Gegenspieler einander gegenÝberstellte – die ihn hinriß und in den schmerzlichsten persÚnlichen VerhÈltnissen leidenschaftlich

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beschÈftigte. Der Gelehrte war wieder in dem dramatischen Dichter aufgegangen, er bezeichnete diese BlÈtter geradezu als theatralische Arbeit, und es war eine ganz natÝrliche Wendung, als er diesen Streit auf dem Theater selber in Nathan dem Weisen abzuschließen den Entschluß faßte. Goeze war in demselben Augenblick verstummt, in welchem Lessing ihn bei einer Reihe von SÈtzen festzuhalten unternahm, die seine Theorie von der Tradition historisch-kritisch begrÝndeten. Das geschah gegen Ausgang des Jahres 1778, welches im Kampf gegen Goeze verlief. Seit dem August dieses Jahres hatte nun Lessing an den Nathan zu denken begonnen, den 1. Dezember erhielt sein Bruder schon die erste Sendung fÝr den Druck, und im MÈrz 1779, als er eben mit der Ausarbeitung des fÝnften Aktes beschÈftigt war, erschien die Streitschrift S e m l e r s gegen ihn, kam ihm sofort in die Hand und versetzte ihn in eine ungeheure Aufregung. Im April 1779 ward dann auch die lange von ihm erwartete Streitschrift W a l c h s ausgegeben. Wie er sich ausdrÝckte: „endlich lassen sich doch die großen Wespen auch aus dem Loche sterlen“. So war der Nathan kaum vollendet, als Lessing sich, schon mit sehr schwankender Gesundheit, leidenschaftlich erregt, in den Kampf mit den gelehrtesten Theologen seiner Zeit warf, und zwar unter allen Anzeichen der Freude, daß nun endlich die Sache ernst werde. Die zweite fruchtbarere Epoche des theologischen Kampfes sollte beginnen, mit wÝrdigen Gegnern, um die Sache selber. Hier, am Schluß seines Lebens, ist es nur der Ton seiner Briefe, der uns AufklÈrung gibt, und – der Befund der Sektion. Vom Sommer 1779 bis zu dem 15. Februar 1781, an welchem er starb, ist von ihm nichts erschienen als ein Bogen Fortsetzung von Ernst und Falk, die Erziehung des Menschengeschlechts, die schon vor dieser Epoche entweder ganz oder fast ganz fertig war, ein paar bibliothekarische BeitrÈge. Dagegen war schon im Beginn 1778 die neue Hypothese ausgearbeitet worden, fÝr deren Abschluß es kaum noch einer großen Anstrengung bedurfte. Und Lessing, der sonst so kurzweg von seinen Arbeiten redete, war selber voll von ihr; „etwas GrÝndlicheres glaube ich in dieser Art noch nicht geschrieben zu haben, und ich darf hinzusetzen auch nichts Sinnreicheres“. Dann im Sommer 1779 hatte er die Ausarbeitung der Briefe Ýber die regula fidei als die Èlteste Gestalt der formulierten Tradition begonnen. Der wichtigste Brief an Walch fand sich in seinem Nachlaß ebenfalls so gut als fertig und ist an Scharfsinn wie an Gelehrsamkeit eine eminente Arbeit. Dies alles blieb liegen – gelehrte, epochemachende, mit der hÚchsten Anstrengung des Geistes entworfene Arbeiten. Es kann kein Zweifel sein, daß sich Lessing, kÚrperlich ganz zerrÝttet, geistig tief verstimmt, nicht imstande fÝhlte, sie zu vollenden, wie er gern wollte, und sie gegen die Angriffe aufrecht zu erhalten, die er erwarten mußte.

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Ich weiß nichts Tragischeres in der intellektuellen Geschichte als Lessing, in der Enge von WolfenbÝttel, ganz einsam und ohne Genossen in allem, was ihn bewegte, schon seit vielen Jahren, einen ungeheuren Kampf auf den Schultern und die Kraft dieser Schultern versagend – jedes Organ seines KÚrpers krank, die Èußeren VerhÈltnisse zerrÝttet, Ýberall gegen ihn das Mißtrauen der Leute, die mit Gott in Frieden leben, um nicht mit der Obrigkeit in Krieg zu geraten – es ist nicht die TragÚdie der Vanini und Galilei, aber eine echt bÝrgerliche, deutsche TragÚdie. 5.

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Wenden wir uns also zu den R e s t e n s e i n e r A r b e i t e n Ýber die Àberlieferung des Christentums in der Èltesten Zeit, nicht wie zu AbfÈllen seines Lebens, die liegen blieben, sondern als zu einem mÈchtigen Plan, zu dessen Vollendung ihm die Kraft versagte. Eine chronologische Notiz ist auch hier unvermeidlich. In die Zeit nach dem FrÝhjahr 1779, und in Einen Plan, den er nach Vollendung des Nathan faßte, gehÚren: „Bibliolatrie“, „von den Traditoren“, „gegen Leß“ und „Briefe an Walch“. Und zwar war wohl eine Schrift Ýber Bibliolatrie gegen Walch der erste Plan. Als dann der Stoff sich hÈufte – oder wer weiß aus welchen anderen Ursachen? – war er Ende des Jahres zu der Form von Briefen entschlossen. In diesen wollte er auch mit anderen Gegnern sich auseinandersetzen. Einen Aufsatz Ýber die Traditoren hat er ihnen vorausschicken wollen. Eine Auseinandersetzung mit Semler behielt er sich dagegen fÝr spÈter vor. Daß die Schrift von den Traditoren in diese Zeit nach Ausbruch des Streites fÈllt, lÈßt sich, einem etwaigen hartnÈckigen Skeptiker gegenÝber, aus der Beziehung der Anmerkung zu § 1 auf Walch 189. 190 beweisen. Das erste historisch-kritische Resultat Lessings ist: der c h r i s t l i c h e G l a u b e , in seinem wesentlichen Gehalt zusammengefaßt, war als regula fidei, G l a u b e n s r e g e l , f i x i e r t , b e v o r n o c h e i n B u c h d e s N e u e n T e s t a m e n t s e x i s t i e r t e ; ja diese Glaubensregel ist, als die „Anordnung, unter welcher die Gemeinden zusammengebracht wurden“ Èlter als die Kirche; als dann die Schriften des Neuen Testaments nach und nach erschienen, waren sie der LektÝre der Laien nur durch die Erlaubnis des Presbyters, der sie in Verwahrung hatte, zugÈnglich und wurden in ihrer Geltung nach ihrer Àbereinstimmung mit der Glaubensregel beurteilt; aber auch als die biblischen Schriften rezipiert waren, erwies man weder die christliche Religion aus ihnen, noch ließ man sie auch nur als authentischen Kommentar der regula fidei gelten. Dies war die Stellung der Bibel in der Tradition der Glaubenslehre fÝr die ganze Epoche der konstituierenden vier ersten Jahrhunderte. Die kanonischen

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Schriften waren nicht die Quelle, sondern nur die Èltesten Belege der Glaubenslehre. DemgemÈß ist die regula fidei der Fels, auf welchem die Kirche Christi erbaut worden, nicht die Schrift, nicht Petrus und Petri Nachfolger. Die Folgerung ist offenbar. Sowohl die katholische als die protestantische Kirche stÝtzen die Glaubenslehre auf eine falsche AutoritÈt. Semler umkreist in seinem „freien Gebrauch des Kanons“ diese Folgerung mit Scheindistinktionen; aber auch s e i n e Schrift hat kein anderes Resultat. Die biblischen Schriften sind ihm Gelegenheitsschriften, welche keineswegs alle fÝr alle Bildungskreise Quelle des Glaubens sein kÚnnen (so in der Vorrede des ersten Bandes); ihre KanonizitÈt war nichts als eine Festsetzung der Kleriker, wonach diese und keine anderen BÝcher zum Vorlesen und zum verbindlichen Unterricht gebraucht werden durften. Also mit Semler teilt Lessing den Satz, daß die neutestamentlichen Schriften in den ersten Jahrhunderten nicht in solcher AutoritÈt standen, daß die Glaubenslehre aus ihnen geschÚpft und begrÝndet werden mußte. Anderseits, und dies muß wohl beachtet werden, seine Theorie, daß diese Glaubenslehre von den Aposteln, ja vielleicht von Christus her in Form einer Glaubensregel Ýberliefert worden sei, fand er in jeder grÝndlichen katholischen Kirchengeschichte ausgefÝhrt, man vergleiche etwa die dreizehnte Dissertation des Natalis Alexander Ýber die Probleme des ersten Jahrhunderts. So war in den Thesen der nÚtigen Antwort von 1778 gar nichts Lessing Eigenes. Ja, man durfte ihm verdenken, daß er eine Theorie erneuert hatte, in ihrem alten unhaltbaren Umfang erneuert, welche Basnage und andere protestantische Forscher mit einleuchtenden GrÝnden widerlegt hatten. Dort hÈtte er schon die jetzt anerkannte Vermutung finden kÚnnen, daß diese Glaubensformel, wenigstens als fixierte, erst den KÈmpfen des zweiten Jahrhunderts angehÚrt. Noch mehr vielleicht durfte man ihm verdenken, daß er die Fragen, ob diese Glaubensregel fixiert gewesen sei bis auf das Wort, zu welcher Zeit, welchen Umfang sie damals gehabt, in einem ihm sonst ganz fremden Halbdunkel gelassen hatte. Man durfte ihm das verdenken. Obwohl zu seiner Zeit noch niemand die einfache Wahrheit in dieser Frage sah. Die Èlteste Kirche hielt nicht eine Glaubensregel zusammen, nicht ein Kanon, Ýberhaupt keine geschriebene Lehre, sondern ein lebensvoller religiÚser Gemeinbesitz, die apostolische Tradition, die AutoritÈt der Apostel, der ApostelschÝler, dann der Kleriker, welche an ihre Stelle traten. Die Bedeutung der Theorie Lessings liegt in ihrem negativen Teil, und sozusagen in der allgemeinen Richtung des positiven. Die Kirche der ersten Jahrhunderte ist nicht auf die Schrift – sie ist auf Tradition gegrÝndet. Daher lÈßt sich die Bedeutung dieser Theorie auch erst ganz Ýbersehen in der vortreff-

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lichen Kritik der Walchschen Sammlung der Stellen, durch welche die protestantische Dogmatik die AutoritÈt des Kanons in den ersten Jahrhunderten geschichtlich zu beweisen sich imstande glaubte. Wir wÝrden fÝrchten, die Geduld unserer Leser zu ermÝden, wenn wir auf Lessings geniale Behandlung einzelner Stellen eingingen. Er erscheint kritisch-philologisch Walch durchaus Ýberlegen und hat wenigstens den Gebrauch, welchen Walch von diesen Beweisstellen machte, gÈnzlich zurÝckgewiesen. Wir kommen zum zweiten historisch-kritischen Resultate Lessings, seiner H y p o t h e s e Ý b e r d i e E v a n g e l i e n . Der geniale Kritiker selber hat sie fÝr seine grÝndlichste, bedeutendste historisch-kritische Arbeit erklÈrt. Auch Strauß sagt: „zwei Bogen, welche die fruchtbaren Keime aller spÈteren Forschungen Ýber diesen Gegenstand enthalten.“ Lessing war der erste, der den wahren Ausgangspunkt fÝr alle kritische Evangelienforschung zu nutzen verstand: das merkwÝrdige VerhÈltnis der drei ersten Evangelien zueinander, welchem gemÈß sie denselben Stoff, oft mit denselben Worten, aber mitten in dem wÚrtlich Gleichlautenden dann wieder mit vielen bedeutenden und unbedeutenden Abweichungen in der ErzÈhlung des Faktischen und in einer wesentlich verschiedenen Ordnung erzÈhlen. Er zog einen Schluß, auf welchen alle kritischen Versuche in anderer Richtung immer wieder zurÝckgefÝhrt haben: alle drei Evangelien benutzen eine frÝhere Fassung des Stoffes. Und er stellte dann die in der Entwickelung der Forschungen Ýber das Urchristentum wirksame und noch heute von einigen Gelehrten vertretene Hypothese auf, daß diese frÝheste Fassung in einem nahen VerhÈltnis zu dem noch zur Zeit des Hieronymus vorhandenen Evangelium der HebrÈer stehe. In der weiteren Ausbildung dieser Hypothese ist einiges problematisch, anderes bedarf der ErgÈnzung. Lessings Annahmen Ýber die ParteiverhÈltnisse, unter denen sich die Evangelien bildeten, haben außerordentlich wirksam bis auf Baur und dessen Schule in die Forschung eingegriffen, aber dem gegenwÈrtigen Stande derselben entsprechen sie doch nicht mehr, und Lessing hatte noch keine Einsicht in das Walten der mÝndlichen Tradition, welche in der Evangelienbildung tÈtig war, und in die zeitgeschichtlichen VerhÈltnisse, welche die Àberlieferung der Worte Jesu umbildeten. Er dachte sich auch die Aufzeichnungen nicht mannigfaltig genug: die FÝlle des erregtesten Lebens in diesen christlichen Gemeinden war ihm noch nicht so anschaulich, daher er den Vorgang der Evangelienbildung zu einfach konstruierte. Aus diesem Mangel entsprangen dann entschiedene IrrtÝmer in der Ausbildung der Hypothese. Wenn er MatthÈus fÝr den ersten Àbersetzer seines Urevangeliums hielt: so machte er dabei aus der Nachricht des Papias ohne NÚtigung etwas vÚllig anderes als sie besagt. Wenn er in der Vorrede des Lukasevangeliums anstatt verschiedenartiger Aufzeichnungen, wie sie da erwÈhnt sind, sein Urevangelium

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als Quelle angegeben fand, ja den Titel desselben „ErzÈhlung der unter uns in ErfÝllung gegangenen Dinge“ mitgeteilt: so tat er hier der Sprache Gewalt an, ebenso ohne NÚtigung. Trotz alledem – wie genial, wie epochemachend der Griff im ganzen und großen war, wie wenig Lessing vorzuwerfen ist, daß er nicht schon sah, was so viel spÈter entdeckt worden ist: das veranschaulicht am besten der erste, welcher seine Hypothese fortbildete und in das Detail der gelehrten Theologie einfÝhrte, E i c h h o r n , der 1794 zuerst mit seiner Theorie vom Urevangelium hervortrat. Eichhorn hatte die Anschauung der Evangelienbildung von Lessing angenommen und unternahm nun, so viele Bearbeitungen des Urevangeliums zu konstruieren, daß Àbereinstimmungen und Abweichungen der Evangelien untereinander begreiflich werden: die Geschichte der Evangelienentstehung wurde damit zum Rechenexempel, diese Evangelienbildung selber zu einer eintÚnigen Fabrikation nach derselben Schablone. Man kann sagen, daß der eminente Scharfsinn Eichhorns durch diese AusfÝhrung die MÈngel der Lessingschen Voraussetzungen Ýber Evangelienbildung aufdeckte. So ward eine Theorie, die auf Lessings Hypothese gegrÝndet war, zum Knotenpunkt der gesamten synoptischen Kritik – durch ihren wahren methodischen Ausgangspunkt wie durch ihre Einseitigkeit. Und zugleich darf ausgesprochen werden, daß Lessing selber schon Ýber diese Einseitigkeit hinausgewiesen hatte. Er mit seinem genialen Takt wÝrde die MÈngel seiner Hypothese sofort eingesehen haben, hÈtte er Eichhorns AusfÝhrungen vor sich gehabt; ja er hat Andeutungen Ýber eine m Ý n d l i c h e T r a d i t i o n , welche dann Herder gegenÝber Eichhorns apostolischer Kanzlei geltend machte. Erst Gieseler hat 1818 diese mÝndliche Àberlieferung in die Anschauung der Evangelienbildung wirklich eingefÝhrt; aber hÈtte Lessing bei seiner Untersuchung der von „dem Evangelium“ handelnden Stellen, welche Walch fÝr die vorhandenen Evangelien irrtÝmlich in Anspruch nahm, nicht seine Glaubensregel zu sehr im Sinne gehabt, so wÝrde er die Bedeutung der mÝndlichen Tradition fÝr die Evangelienbildung hier schon begriffen haben. BegrÝndete Lessing solchergestalt die Kritik der drei ersten Evangelien, so durchblickte er zugleich die B e d e u t u n g d e s J o h a n n i s e v a n g e l i u m s fÝr die Entwickelung der christlichen Kirche. Die kritische Analyse desselben in bezug auf seine Entstehung begann freilich erst 1820 in Bretschneiders Probabilien. Die Einwirkung der Evangelien auf die Entwickelung der Kirche, ihr inneres VerhÈltnis, ihre verschiedene Absicht hat bereits Lessing in kÝhnen aber ganz wahren Grundlinien hingestellt. Noch in andere Untersuchungen war er, wie sein Nachlaß zeigte, vertieft. Schon die Ansicht Ýber die epochemachende Stellung der Arianer in der Geschichte des Kanon zeigt ihn mit dieser mÈchtigen Partei des christlichen Al-

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tertums beschÈftigt; andere BruchstÝcke treten hinzu – ebenso solche Ýber die Offenbarung Johannis. Alles Fragmente, begonnene Untersuchungen! Niemand kann erwarten, daß der Mann, welcher Ýber ihnen hinwegstarb, eine abgeschlossene wissenschaftliche Ansicht vom Christentum hatte. Lessing ist der erste Religionsforscher in großem Stil, der in Deutschland hervortrat. Denn er zuerst vereinigte hier die beiden Bedingungen dieses Studiums, historische und philosophische Forschung. Aber er begann nur. Er war wie ein Belagerer, den schon, wÈhrend er die ersten SchanzgrÈben nach allen Regeln der Kunst, mit allen Mitteln des Genies zieht, eine tÝckische Kugel trifft. 6.

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Ein anderes sind diese Forschungen, ein anderes die letzten persÚnlichen Anschauungen, in welchen der Forscher lebte, wÈhrend er arbeitete. Als Lessing die Fragmente 1777 verÚffentlichte, erÚffnete er den Kampf um die Geltung des Christentums selber. Er fÝr sich dachte sich nur als WÈrtel bei demselben. Er schied die Sicherheit des Christentums in der Tiefe des GemÝts wie eine Welt fÝr sich von den Aufgaben wissenschaftlicher Diskussion und Forschung ab. Er bestimmte, was gegenÝber dem Angriff fallen gelassen werden mÝßte, nÈmlich die alte Theorie des Kanon, damit dieser Kanon nicht das Christentum selber in seine Niederlagen verwickle. Er deutete einen Weg an, das Christentum zu retten. Die Gegner kamen, sie griffen ihn selber an, sie wollten schlechterdings von dem Christentum nichts wissen, welches nach ZerstÚrung der AutoritÈt des Kanon Ýbrig blieb. Er begann nunmehr, um hier eine strenge wissenschaftliche Grundlage zu schaffen, die Èlteste Tradition des Christentums historisch zu durchforschen, worÝber er dann starb. DemgemÈß ist seine Anschauung vom w a h r e n W e s e n d e s C h r i s t e n t u m s nicht zu voller Reife der historischen Einsicht gelangt. Nur wenn man dies nach den angegebenen GrÝnden begreift, kann man sich in seinen •ußerungen Ýber diesen Punkt zurechtfinden. In der Hypothese Ýber die Evangelisten sagt Lessing vom Johannes: „nur sein Evangelium gab der christlichen Religion ihre wahre Konsistenz, nur seinem Evangelio haben wir es zu danken, wenn die christliche Religion in dieser Konsistenz allen AnfÈllen ungeachtet noch fortdauert und vermutlich so lange fortdauern wird, als es Menschen gibt, die eines Mittlers zwischen ihnen und der Gottheit zu bedÝrfen glauben: das ist, e w i g “. Sonach wird hier der Glaube an die UnvergÈnglichkeit des Christentums, ganz wie spÈter durch Friedrich Schlegel, Schleiermacher und Novalis auf das BedÝrfnis eines Mittlers fÝr alle Zeiten gegrÝndet. Diese Anschauung ist dann offenbar in dem Fragment

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Ýber die Religion Christi (1780) und in den betreffenden Partien der Erziehung des Menschengeschlechts, die ebenfalls erst 1780 abgeschlossen wurde, ganz aufgegeben. Hier wird ausgegangen von dem Unterschied zwischen dem Christentum, insofern es Lehre Christi ist, und dem Christentum als einer Lehre von Christo, also dem Christentum, sofern Christus sein Urheber und sofern er sein Gegenstand ist. Und zwar ist nach dem Fragment die Lehre Christi mit den klarsten und deutlichsten Worten gegeben, seine Person aber ist ein Problem; dem entsprechend ist nach der „Erziehung“ diese Lehre Christi das Èlteste Christentum, und die Lehren, die mit Christi besonderer WÝrde zusammenhÈngen, sind ein Zusatz, dessen „Wahrheit weniger einleuchtend, dessen Nutzen weniger erheblich war“, und der dann angesichts des neuen Evangeliums verschwinden muß. Wir fassen Lessings Anschauung vom Christentum nunmehr zusammen. Das echte Christentum ist das Èlteste. Der Inhalt dieses Èltesten Christentums ist: „eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein anderes Leben zu empfehlen“. Dieser Zusatz macht das unterscheidende Wesen der Religion Christi aus, wenn man die Religionen miteinander vergleicht. Also die Frage, in welcher das „Testament Johannis“ endigt, ob wir ein Recht haben, eine Liebe christlich zu nennen, welche auf keine christliche Glaubenslehre gegrÝndet wÈre, ist durchaus nicht schlechtweg von Lessing bejaht worden. Diese Èlteste Religion Christi mußte nun wohl den Zeitgenossen desselben als eine bloße jÝdische Sekte erscheinen, und sie wÈre der Gefahr ausgesetzt gewesen, so in der Flut des jÝdischen Sektenwesens wieder zu versinken, wÈre nicht die Anschauung des Evangeliums Johannis hervorgetreten, welche die Person des Stifters zum Gegenstand der Religion machte und Christus als einem hÚheren Wesen ein Mittleramt zwischen Gott und dem Menschen gab. Hierdurch erst erhielt das Christentum innere Festigkeit und ward eine selbstÈndige unabhÈngige Religion neben dem Judentum. Es erhob sich ein Kreis von Dogmen, welche dann, im Gegensatz zur Religion Christi, die christliche Religion bildeten, die Lessing in der nÚtigen Antwort als den Inbegriff „der Glaubenslehren“ bestimmt, „welche in den Symbolis der ersten vier Jahrhunderte der christlichen Kirche enthalten sind“. Solche Glaubenslehren waren die Lehre von der Dreieinigkeit, der ErbsÝnde, der Genugtuung des Sohnes. Es ist nun ein tiefsinniger und Lessing ganz eigener Gedanke, wie er die historische Bedeutung dieser christlichen Religion, man verstehe wohl, nur diese, gegenÝber der AufklÈrung verteidigt. Die hÚchste Reinheit des Herzens, welche das Gute um seiner selbst willen tut, entspringt erst aus der hÚchsten AufklÈrung. DemgemÈß ist das menschliche Herz auf niederen Stufen der Vernunftentwickelung selbstsÝchtig. In dieser Zeit der Vernunftentwickelung bedarf der menschliche Geist, um nicht einem Úden Materialismus zu verfallen, solcher dogmatischen

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BlÚcke, durch deren Formung er zu HÚherem geschickt wird. Diese christliche Religion war also notwendig, historisch notwendig, um eine Zeit herbeizufÝhren, in welcher sie ÝberflÝssig wÈre. Kann ein Zweifel sein, wo der unfertige Punkt in Lessings Anschauung vom Wesen des Christentums lag? In der historischen Analyse dessen, was er als die Religion Christi bezeichnet, was ihm das echte, allein gÝltige Christentum ist. Es ist wunderbar, wie er hier vor der Frage stand, welche fÝr den inneren Gegensatz in der Auffassung des Christentums, in der Stellung zu ihm auch in unserem Jahrhundert so wichtig gewesen ist. Die Religion Christi verkÝndigt ein Himmelreich, eine jenseitige Seligkeit. Gut, auch Lessing ist von einer Fortdauer der Seele Ýberzeugt, so fest man von unbeweisbaren Wahrheiten Ýberzeugt sein kann. Er ist durchaus nicht der Ansicht von Strauß, welcher dieser Anschauung des Christentums gegenÝber bemerkt, daß nur eingeschrÈnkte religiÚse Vorstellung die Aufhebung der Unvollkommenheit, in welche das Dasein vieler einzelner Menschen unwiderruflich hinabgedrÝckt ist, von der Zukunft fÝr diese Individuen erwarten kÚnne. Aber das steht Lessing anderseits ganz fest: eine Sittlichkeit, welche dieses kÝnftige Leben zum Beweggrund hat, ist noch unvollkommen. Dieser große echt religiÚse Gedanke arbeitet von Spinoza und Pascal ab bis auf Schleiermacher in allen bedeutenden sittlichen Naturen. Und so wird unser VerhÈltnis zur Religion Christi ein anderes sein, je nachdem wir in Christi innerer Verfassung die Fortdauer als einen Beweggrund seines sittlichen Handelns annehmen zu mÝssen glauben oder als eine ihn Ýberall gleich seligen Engeln umspielende versÚhnende Hoffnung. Vor dieser Frage stand Lessing still. Seine Kritik der Quellen war lange nicht zu der Feinheit gediehen hier eine zweifellose Antwort zu gestatten. Ist es die unsere? Wer wagt, nicht etwa seinen Glauben hier allein auszusprechen, nein eine wissenschaftliche Àberzeugung streng zu begrÝnden? Diese LÝcke in seiner Ansicht wird also Ýberall in ihren Konsequenzen zu spÝren sein. Aber auch so, auch ohne daß die historische Untersuchung zu einem Abschluß gediehen war, drÈngte es ihn zu einer Auseinandersetzung zwischen dem religiÚsen Glauben und seinen eigenen letzten Àberzeugungen. Diese Àberzeugungen, wurzelnd in der Tiefe seines modernen LebensgefÝhls, wie sie strebten sich frei zu Gedanken zu gestalten, hatten ihn genÚtigt, eine Auseinandersetzung mit der Theologie zu unternehmen; sie hatten ihn gezwungen, sich von der AutoritÈt der theologischen Orthodoxie wie von der noch peinigenderen der theologischen AufklÈrung zu befreien; nun galt es endlich inmitten ihrer dem großen Resultat all dieser Forschungen und KÈmpfe seinen Platz zu geben. Nicht mehr den alten ScheidekÝnstler, der Theologie und Wissenschaft auseinanderhÈlt, haben wir von hier ab vor uns,

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sondern den religiÚsen Forscher, welcher diesen gewaltigen KrÈften ihre Stellung in dem Universum der moralischen Welt anweist. Wir stehen vor dem HÚhepunkt seiner Forschungen, vor Lessings Testament an uns.

V. DIE WELTANSCHAUUNG LESSINGS.

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1. Lessings LebensgefÝhl, der aus demselben gebildete Charakter stehen vor uns so oft wir in dies mÈnnliche, offene, wie durch seine bloße Klarheit heitere Gesicht blicken, so oft wir uns in den lebendigen, von der Leidenschaft des Denkens erregten Gang seines Stiles versenken, den Affekt der SelbstÈndigkeit mit ihm empfinden, der in seinen Helden lebt, ihre Worte so knapp, ihre Handlungen so auf der Hut gegen die Welt macht. Die Aufgabe wÈre, die verÈnderten Bedingungen des deutschen Lebens, welche zuerst die Erscheinung eines solchen Charakters mÚglich machten, in ihrem ganzen Umfang darzulegen. Aber das ist ein Gegenstand, Ýber den man nicht in der KÝrze reden kann, weil die fundamentalen Ideen fÝr eine solche Untersuchung erst vorgelegt werden mÝßten. Hierin ist also die Voraussetzung unserer ganzen Darstellung gelegen. Die natÝrliche Form fÝr die Aussprache des neuen LebensgefÝhls, das in Lessing hervortrat, war die Dichtung. DemgemÈß sahen wir Lessing zunÈchst um die BegrÝndung einer Dichtung in schÚpferischer Arbeit und wissenschaftlicher BegrÝndung bemÝht; wir sahen ihn den wahren Gegenstand aller Poesie im handelnden Menschen, das Ideal der Handlung in der freien erschÝtternden •ußerung der Leidenschaft entdecken. Die anschauliche Auffassung des Lebens in der Dichtung antiquierte damit die bisherigen begrifflichen Fassungen in der von der Theologie beeinflußten Moral. Und sollte dies Lebensideal freie Luft bekommen, in welcher es zu atmen vermÚchte, so mußte Lessing es wissenschaftlich rechtfertigen gegenÝber den theologischen Begriffen. Hier genÝgte nicht zwischen ihm und der orthodoxen Theologie eine Wand zu ziehen. Eins nur von beiden konnte leben; denn beider Dasein war die LÚsung desselben Problems vom menschlichen Leben durch ganz widersprechende Begriffe. Dieser Kampf hatte damit geendigt, daß der fundamentale Begriff der protestantischen Theologie, die BegrÝndung der Lehre auf einen inspirierten Schriftkanon, vernichtet, daß dagegen das Christentum, dessen historisch-kritische Anschauung sich nunmehr aus diesem Scholastizis-

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mus erhob, in seiner ewigen Bedeutung fÝr die moralische Welt gewÝrdigt ward – nein! doch aber gewÝrdigt zu werden begann. Und nun war freie Bahn fÝr die positive Gestaltung des neuen Lebensideals und der in ihm gegrÝndeten Weltanschauung. Hier muß sich unser Gesichtskreis Ýber das Ganze der moralischen Welt erweitern: denn dies ist Lessings Horizont, unter den ihm am Abschluß seines Lebens auch die Religionen, auch das Christentum fallen. Die GesprÈche Ernst und Falk, Nathan der Weise und die Erziehung des Menschengeschlechts behandeln ihren Gegenstand in seinem VerhÈltnis zu dem großen Zusammenhange der menschlichen Dinge – es war das in der allgemeinen Entwickelung vorbereitet. Nachdem sich die europÈische Bildung lange Zeit hindurch abgeschlossen fÝr sich entwickelt hatte, traten zuerst im achtzehnten Jahrhundert die Kulturnationen der anderen Weltteile in unseren Gesichtskreis, ganz oberflÈchlich und vereinzelt zunÈchst, wie ja selbst heute noch die unÝbersehbare Wirkung dieser Erweiterung unseres Gesichtskreises in ihrem Anfang steht. Man bemerkt, wie die Franzosen von dem Gedanken der totalen Verschiedenheit in der moralischen Welt des Orients und des Okzidents ergriffen wurden. Chinesische, persische Briefe, Romane, welche in Asien spielen, veranschaulichen das mit einer oft frivolen Paradoxie. Der Verfasser der persischen Briefe, Montesquieu, wandte sich vom Spiel zum Ernst: er entwickelte den naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen dem Boden, dem Klima eines Landes und seinen Sitten, seiner Bildung, seiner Staatsverfassung und Religion. Die befreiende Macht, welche dieser Erweiterung des Gesichtskreises beiwohnt, macht sich zunÈchst in den drei ersten FreimaurergesprÈchen Ernst und Falk (1778) geltend: sie sind geradezu auf die Montesquieuschen Ideen gegrÝndet. „Ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz verschiedene BedÝrfnisse und Befriedigungen, folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz verschiedene Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen.“ Und zugleich: „mehrere Staaten: mehrere Staatsverfassungen“. Man sieht, daß hier auch das Christentum nicht etwa als kÝnftige Universalreligion ausgenommen ist; es ist die europÈische Religion, wie Buddhismus und Muhammedanismus die asiatischen sind. Nicht anders ist im „Nathan“ der Zusammenstoß von Religionen gedacht, die sich unter ganz verschiedenen Zonen und Bedingungen ausgebildet haben. Wie erÚffnet es den Blick in den großen Zusammenhang der europÈischen Kulturgeschichte, daß eine Erfindung aus der Zeit der mittelalterlichen Erweiterung des europÈischen Gesichtskreises Ýber die muhammedanische und jÝdische Kultur wieder auflebte, als nun im achtzehnten Jahrhundert eine noch umfassendere Erweiterung desselben eintrat, und daß diese Erfindung, welche, als sie am Mittelmeer sich ausbildete,

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ihren befreienden Sinn klug verbarg, jetzt, im Geiste eines Deutschen zur Reife gelangt, ihn in alle Weltgegenden ausstreute. Lessing ging sonach von dieser vergleichenden Anschauung der verschiedenen Kulturkreise in der moralischen Welt aus. Er nahm von Montesquieu die große Entdeckung ihrer naturgesetzlichen Ausbildung auf. Aber indem er das tat, bewegte ihn sein eigenes Problem der inneren Bildung. Auf dieses zielen seine Ýber Montesquieu hinausgehenden Folgerungen. „Die bÝrgerliche Gesellschaft kann die Menschen nicht vereinigen ohne sie zu trennen; nicht trennen ohne KlÝfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hinzuziehen.“ „Ja sie setzt die Trennung auch in jedem dieser Teile gleichsam bis ins Unendliche fort“, indem sie die Úkonomischen, die sozialen, die politischen Verschiedenheiten der Gesellschaft hervorbringt. Jede bÝrgerliche Gesellschaft tut das; auch die vollkommenste kann nur vereinigen durch Trennungen. Und so entspringt den Gliedern der menschlichen Gesellschaft eine doppelte Aufgabe. Sie sind BÝrger, Glieder religiÚser Gemeinschaften, und daher ist ihre Aufgabe die Entwickelung der Verfassung, der soziale, politische, religiÚse Fortschritt ihres Staates, innerhalb der ihm eigenen Schranken. In diesem Sinne berief sich Lessing darauf, daß in den mittleren Zeiten die LandstÈnde zu allen wichtigen RegierungsgeschÈften gezogen wurden, und ihm schien, wir mÝßten „unaufhÚrlich gegen die ungerechten VerÈnderungen protestieren“, welche uns dieser Rechte beraubt haben. Aber dieselben Glieder der menschlichen Gesellschaft erheben sich dann Ýber diese Schranken, diese Scheidungen, diese Trennung von StÈnden, Nationen, Religionen, und treten als Menschen in eine umfassende Gemeinschaft. Der Gedanke der H u m a n i t È t , der einst das Herz der Besten unserer Nation hÚher schlagen machte, der dann, schon in Herders Alter, spÈter immer mehr, zu einer fadenscheinigen Phrase ward, tritt hier als das Ideal Lessings hervor, von ihm zuerst in dieser scharfen und doch mit der wirklichen Welt versÚhnten Fassung durchgedacht. Er ist das Geheimnis des Jahrhunderts. Die tief zerrissene franzÚsische Zivilisation brachte Rousseau hervor, welcher diesen Gedanken aller bestehenden Kultur, in schneidiger Verurteilung, entgegenwarf. Die deutsche Bildung, unvollkommen noch, aber durch ihre ganz anderen Bedingungen harmonisch und positiv geartet, hat ihn zu einer mit allen Kulturgestalten versÚhnten Weltmacht erhoben. Der ganze Gang unserer Geschichte gab dem deutschen Geiste die Richtung auf UniversalitÈt. Melanchthon erfaßte die menschliche Einheit, welche die Bildung der klassischen VÚlker und das Christentum verknÝpft. Leibniz unternahm, die Harmonie der Ideen und der Lebensverfassung herzustellen, in der die grÚßten MÈchte der menschlichen Kultur, Altertum, Christentum und moderne Wissenschaft ihre Stelle behaupten. Damit war ein harmonisches und positives Ideal der

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HumanitÈt vorbereitet, das in jeder geschichtlichen Erscheinung den menschlichen Kern erfaßte. In zwei Linien setzte sich nun Lessings letzte Lebensarbeit fort. Er gab seiner Anschauung vom Menschen und dem Leben einen letzten und hÚchsten dichterischen Ausdruck im Nathan, und er unternahm, sein Lebensideal in Begriffen zu verdeutlichen und ihm gemÈß den Zusammenhang der Welt zu denken. So hat er in beiden Ausdrucksweisen am Schlusse seines Lebens positiv seine Lebens- und Weltansicht ausgesprochen. 2.

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Ganz und voll hat uns Lessing sein Ideal nur in der kÝnstlerischen Form des Nathan zurÝckgelassen, in diesem unvergÈnglichen Gedicht, das wohl wie Iphigenien kein ernster Erforscher der menschlichen Natur lesen kann, ohne daß sein Auge feucht wird: so leibhaftig, so wahr erscheint da eine reine SeelengrÚße, welche uns von der menschlichen Natur Ýber alle unsere Erfahrung hinaus hÚher denken lehrt. In Goethe Ýberhaupt setzt sich diese Verbindung der Poesie, der neuen Lebensideale und der Wissenschaft fort, durch welche Lessing unserer Literatur ihren Charakter gab. Auch Goethes SchÚpfungen sprechen, und mit viel grÚßerer Freiheit, dem LebensgefÝhl der verschiedenen Epochen seines Daseins folgend, ein neues Lebensideal aus, das im strengen Studium der Wirklichkeit gegrÝndet ist: was keine Dichtung bis dahin getan hatte. Schon Minna von Barnhelm und Emilia Galotti konnten nur verstanden werden aus der moralischen Seelenverfassung der deutschen AufklÈrung; diese ist dann nicht nur die Grundlage, sondern der Gegenstand des Nathan. Schicksalvolle, gedankenschwere Jahre trennen die seelische Lage des Dichters der Minna und Emilia von der, in welcher der Nathan entstand. Lessing war in den Kampf des Jahrhunderts um die religiÚse AufklÈrung eingetreten. Sein Genie der Kritik und Polemik, das sich in seiner Jugend an geringfÝgige GegenstÈnde verzettelt hatte, gelangte zu weltgeschichtlicher Bedeutung; die Nation blickte auf ihn als auf den FÝhrer des freien Geistes. Aber dafÝr mußte er alles erdulden, was der Weltlauf denen auflegt, die Ýber die Ordnungen der Gegenwart und Ýber die Begriffe der WohlanstÈndigen hinaus fÝr eine wahrhaftigere Zukunft wirken. Im Sommer 1778 hatte die braunschweigische Geistlichkeit Maßregeln des Herzogs durchgesetzt, die dem Herausgeber der Reimarusfragmente deren weitere VerÚffentlichung unmÚglich und selbst die Fortsetzung seines theologischen Kampfes sehr schwierig machten. Um ihn her krochen Verleumdung und Verdacht. Seine Gesundheit wurde zerstÚrt, er litt unter mißlichen GeldverhÈltnissen. Kein Freund war in WolfenbÝttel oder

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Braunschweig, dem er sich hÈtte anvertrauen kÚnnen. In seinem eigenen Hause welch ein Trauerspiel! Ein Jahr hindurch hatte er das hÚchste GlÝck im Besitz einer Frau genossen, welche die schÚnsten Eigenschaften der AufklÈrungszeit in sich vereinte, feste Rechtschaffenheit, GÝte und Heiterkeit der Seele, und nun hatte er zuerst den Sohn, den sie ihm geboren, und dann bald danach sie selbst verloren. „Ich bin zu stolz, mich unglÝcklich zu denken – knirsche eins mit den ZÈhnen – und lasse den Kahn gehen, wie Wind und Wellen wollen. – Genug, daß ich ihn nicht selbst umstÝrzen will!“ So schreibt er am 9. August. Und in der Nacht vom 10. auf den 11. kam ihm der Gedanke, den frÝher niedergeschriebenen Entwurf eines Nathan jetzt auszufÝhren und so auf dem freien Boden der Poesie seinen Kampf mit der Orthodoxie auszutragen. In der letzten Unterredung Nathans mit dem Klosterbruder ist das furchtbare Erlebnis Nathans dargestellt, in welchem seine Resignation und seine Grundstimmung der allgemeinen Menschenliebe seine letzte und vollkommenste Gestalt erhielten: ist es nicht, als ob Lessing das im Bewußtsein seines eigenen Schicksals geschrieben hÈtte? Seine willensmÈchtige Natur faßte sich zusammen, seine UnabhÈngigkeit der Welt gegenÝber erhielt eine letzte trotzige StÈrke, sein GefÝhl der ZusammengehÚrigkeit mit denen, die an seiner Gesinnung und seinem Kampfe teilnahmen, eine letzte zarte Innigkeit. Und wie ihn nun sein Schicksal auf eine einsame HÚhe gefÝhrt hatte, auf der nur die großen Linien der Welt unter ihm noch sichtbar waren: unternahm er in seiner Dichtung das Ideal des Jahrhunderts auszusprechen. Die Menschen der Zukunft, ihr VerhÈltnis zum Schicksal, das neue Leben wurden sein Gegenstand, und vielleicht liegt auf dem StÝck noch etwas von dem Glanz der Erinnerung an das GlÝck der Gemeinschaft verwandter Naturen, das er mit der geliebten Frau genossen. Die Stimmungen, die in ihm auf- und niederwogten, verkÚrperten sich in den Gestalten des Drama, wie sie nun ihre letzte Ausbildung erhielten; er hatte gelitten und genossen, wie der kÚnigliche Saladin, in dem Machtbewußtsein geschichtlichen Wirkens; er sehnte sich doch wie sein Al Hafi nach der Freiheit der WÝste; die Weltverachtung und der Trotz des Tempelherrn waren ihm nur zu vertraut: wie Nathan hatte er sich selbst Ýberwinden mÝssen, um fortzuleben und fortzuwirken. So war in diesen Charakteren sein eigenstes Leben. Und in den Zusammenhang seines StÝckes legte er seinen ganzen Glauben an eine gÚttliche Ordnung, die vermittels der dem Menschen einwohnenden moralischen KrÈfte aus allen Dunkelheiten des Lebens hinausfÝhrt ins Helle und Lichte. Dieser Glaube erfÝllt seine Dichtung mit einer verklÈrten Heiterkeit. Alles, was hinter seiner theologischen Polemik unausgesprochen gelegen hatte, fand nun so im Nathan seinen Ausdruck, und dieser unendliche Gehalt mußte die bisherige Form des Drama sprengen.

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Die Dichter des Zeitalters der Phantasie haben selten religiÚse, philosophische oder kÝnstlerische Naturen dargestellt. Und dann wurden diese GrÝbler tragische Gestalten wie Marlowes Faust, Shakespeares Hamlet und der wundertÈtige Magus des Calderon, oder sie waren doch, wie Prospero, einsam und ohne VerhÈltnis zur Welt. Erst die anschwellende Flut der Wissenschaften im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert brachte nun Lehrgedichte, Romane und Dramen mit sich, welche die neuen Ideen verkÝndigten und ihre TrÈger in die Dichtung einfÝhrten. Besonders wirksam hat dies Voltaire getan. Dieser Hundertarmige stritt gegen die christlichen Kirchen zugleich mit den Waffen der Philosophie, der Historie und der Dichtung, in satirischen Versen, Romanen und Dramen. In zwei StÝcken, die einander nach den Titeln ergÈnzen, hat er seiner großen Tendenz das Drama dienstbar gemacht. Von der TragÚdie „Der Fanatismus oder Mahomet der Prophet“ sagt er selber in der Widmung an Friedrich den Großen: „Ich habe immer gedacht, daß die TragÚdie nicht ein einfaches SchaustÝck sein darf, welches das Herz rÝhrt, ohne es zu bessern. Was gehen das menschliche Geschlecht die Leidenschaften und die Schicksale eines Helden der alten Welt an, wenn sie nicht dienen, uns zu unterrichten?“ Er stellt den furchtbaren Willen zur Macht Ýber die GemÝter, den er in den Stiftern der Religionen findet, an Mohammed als an einem besonders klaren Fall dar: er macht Fanatismus und Aberglauben an den AnhÈngern des Propheten sichtbar: auf seine Gegenwart will er damit wirken; denn noch immer trennt der religiÚse Fanatismus die Glieder der Familie, die Freunde, verfolgt die Philosophen und vereitelt die Arbeit der Philosophie. Eben in dem Jahrhundert, in welchem Friedrich eine Philosophie der Menschlichkeit zur Geltung zu bringen strebt, ist die fanatische ReligiositÈt noch am Werke. Man bemerkt die •hnlichkeit des Standpunktes und der dichterischen Aufgabe, welche Voltaires Gedankendrama mit dem Lessings verknÝpft. Aber wie verschieden haben die beiden Vertreter der AufklÈrung dann ihre Aufgabe gelÚst! Der Mahomet Voltaires ist ein Tartuffe in weltgeschichtlicher Position oder ein Richard III. mit der ungern getragenen Maske moralisch-religiÚsen Glaubens; so geht er durch die TragÚdie, furcht- und schreckenerregend; in einer Handlung voll von Verrat und Blut wirft er mit Hilfe des glÈubigen Fanatismus seiner AnhÈnger den milddenkenden Gegner zu Boden: das war eine regelrechte TragÚdie in der Form des Corneille. NÈher an Lessings Nathan rÝckt ein anderes Drama Voltaires heran – „die Gebern oder die Toleranz“. Es hat zu seinem Gegenstande die Niederlage eines verfolgungssÝchtigen Priestertums und die VerkÝndigung des Prinzips der Toleranz durch die oberste weltliche Gewalt. Diese gibt einem lange verfolgten Kultus Freiheit der AusÝbung, schÝtzt seine AnhÈnger in ihren Rechten und GÝtern und empfÈngt dafÝr den schuldigen Gehorsam ihrer Untertanen. Voltaire hat dies StÝck, ganz wie Lessing

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das seine, als „dramatisches Gedicht“ bezeichnet. Aber es verlÈuft ebenfalls in einer strengen, zusammengefaßten, spannenden Handlung, die in dem Konflikt des Priestertums mit einem milderen Religionsglauben gegrÝndet ist. So sind diese Dramen Voltaires in ihrem Thema und ihrer Absicht dem Nathan nÈchstverwandt. Auch finden sich hier und in der „Alzire“ schon bereits die orientalische FÈrbung, die Idealgestalt Saladins, das Motiv der Geschwisterliebe. Aber Voltaires religiÚse VerstÈndnislosigkeit und Lessings pietÈtvolle innere Freiheit, dort die alte und hier eine neue dramatische Form trennen auch in diesen Gedankendramen die beiden grÚßten Vertreter der AufklÈrung im achtzehnten Jahrhundert. Dieselbe Richtung auf die Darstellung großer Ideen und von ihnen erfÝllter Menschen macht sich auch in Deutschland schon vor dem Nathan geltend. Goethes Faustentwurf, stÈrker aber noch sein Prometheus und sein Mahomet sprechen in historischen und sagenhaften Symbolen die ewigen Relationen aus, in denen sich der Mensch zur unsichtbaren Welt befindet. Die StÈrke ihres seelischen Gehaltes, ihre LoslÚsung von den Èlteren dramatischen Formen rÝckt diese dramatischen BruchstÝcke nÈher an den Nathan heran. Ungedruckt wie sie damals blieben, haben sie auf Lessing nicht gewirkt, aber sie erweisen StÈrke und Umfang der Richtung auf ein Ideendrama. Auch Lessing hatte einmal, wie Goethe, an der Faustsage sich versucht, er ließ den Gegenstand fallen, der eine andere Art poetischer Begabung forderte: im Nathan aber ist nun zuerst in der modernen Literatur ein Gedankendrama von grÚßtem Gehalt zur AusfÝhrung gelangt. Wirkung und Wert des Nathan liegen zunÈchst in der Mitteilung eines Ideengehaltes. Wie die Parabel von den drei Ringen, die Lessing in der Novelle des Boccaccio fand, der Ausgangspunkt des Planes war, so steht sie im Mittelpunkt des ausgefÝhrten StÝckes. Auch in der Umgestaltung, die Lessing mit ihr vornahm, deckt sich der symbolische Vorgang nicht mit dem, was Lessing in ihm sagen will. Ein echter Ring wird vom Vater selbst dem Sohn Ýbergeben, und ihm wohnt eine geheime gÚttliche Kraft bei; zwei andere Ringe sind nachgemacht und haben sonach diese Kraft nicht: man darf hierin wie in anderen Punkten den symbolischen Vorgang nicht pressen! Nur drei HauptsÈtze sind in ihm klar gegeben. Keine historische Untersuchung kann dartun, welche unter den drei Weltreligionen die wahre ist. Der einzige mÚgliche Beweis ist der des Geistes und der Kraft. Da indes alle drei Weltreligionen in ihrer Unduldsamkeit verharren, so kann dieser Beweis selbst heute noch nicht geliefert werden, und ob er je erbracht werden wird, muß die Zukunft zeigen. Diese Wahrheiten sind aber nur die Vorhalle, durch die man in das Heiligtum des Gedichtes schreitet. Der Eingang zu ihm Úffnet sich in dem Schluß der großen Parabelszene: Saladin und Nathan verstehen und befreunden sich auf dem Boden der Freiheit des Geistes. Das Heilige selbst wird erst sichtbar in Nathans

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GesprÈch mit dem Klosterbruder. Nur aus gÈnzlicher allumfassender Selbstverleugnung entspringt das neue VerhÈltnis der freien PersÚnlichkeit zum Unsichtbaren, und dieses macht erst die allgemeine Menschenliebe mÚglich. Das ist Spinozas Lehre. Von einer anderen Seite wird die Entstehung der neuen ReligiositÈt in den drei ersten FreimaurergesprÈchen Lessings erleuchtet, die dem Nathan unmittelbar vorausgegangen waren, und auch die Ideen dieses GesprÈchs durchziehen den Nathan. Jede positive Religion ist geographisch und kulturell bedingt, sonach beschrÈnkt; sie trennt ebenso, als sie verbindet: so kann sich die SolidaritÈt der Menschheit, die allgemeine Menschenliebe nur auf dem Boden der freien Menschlichkeit entwickeln. Diese Grundgedanken des Gedichtes sprechen dann alle Hauptpersonen desselben einmÝtig aus. Saladin, Nathan, der Tempelherr, Recha reprÈsentieren nicht irgendeine liberale Theologie innerhalb ihrer Religion, sie haben diese hinter sich gelassen, und Menschlichkeit ist die Grundlage und der wesentliche Gehalt ihrer ReligiositÈt. Ihr moralischer Religionsglaube ist gegrÝndet in ihrem Bewußtsein von der WÝrde des Menschen und dieses in dem Erlebnis unserer sittlichen Natur. Immer wieder sagen sie es, daß der Kern des Menschen von den auf ihn eindringenden besonderen Kulturbedingungen ganz unabhÈngig ist und diese nur seine UmhÝllung sind. „Ich weiß, wie gute Menschen denken; weiß, daß alle LÈnder gute Menschen tragen.“ – „Mit Unterschied doch hoffentlich?“ – „Jawohl; an Farb’, an Kleidung, an Gestalt verschieden.“ Ein Wort Nathans, als dessen energische fÝrstliche Verwirklichung Saladins Aufforderung erscheint: „Bleibst du bei mir? Als Christ, als Muselmann: Gleichviel! Im weißen Mantel oder Jamerlonk; im Tulban oder deinem Filze: wie du willst! Gleichviel! Ich habe nie verlangt, daß allen BÈumen e i n e Rinde wachse.“ Und auch dem Tempelherrn sind auf dem heiligen Boden, diesem Tummelplatz jeder frommen Raserei, die Schuppen von den Augen gefallen, und er fordert, daß jeder „sich genÝgen lasse, ein Mensch zu sein“. Wie Schiller von Rousseau sagt, daß er, „aus Christen Menschen warb“, so lÈßt Lessing Nathan ausrufen: „Ach! Wenn ich einen mehr in euch gefunden hÈtte, dem es g’nÝgt, ein Mensch zu heißen!“ Die Dichtung Lessings ist, sofern sie ihr nÈchstes Ziel in der Darstellung dieses ideellen Gehaltes hatte, ein dramatisches Lehrgedicht; als solches war sie von unermeßlicher Wirkung. Wie sie auf die Novelle des Boccaccio gebaut war, bildete ihren Mittelpunkt die Szene, in der Nathan dem Saladin die Parabel von den drei Ringen erzÈhlt. Die FÈden, die zu dieser Szene hinfÝhren, gehen vom ersten exponierenden Akte in breiter Motivierung bis in den dritten, in dem der bedeutsame Vorgang selber sich ausbreitet, und dessen Ergebnisse erstrecken sich dann durch das ganze weitere StÝck. Die dialogische Kunst Lessings hat die ErzÈhlung des Juden in eine lebendige, fortschreitende Hand-

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lung umgewandelt. So entstand hier das Vorbild der großen Szenen, die den Mittelpunkt eines Dramas bilden, wie sie fÝr den Bau des Don Carlos, des Wallenstein, der Maria Stuart und des Tell so charakteristisch sind. Aber der Nathan ist mehr als ein bloßes dramatisches Lehrgedicht. Ein lebendiges Kunstwerk entspringt in der Ganzheit der menschlichen Natur: das Neue, das es erblicken lÈßt, ist Erlebnis: indem wir nun das Erlebnis, das im Nathan zum Ausdruck kommt, in seinem ganzen Umfang zu erfassen suchen, mÝssen wir Ýber die bisherige Darstellung von Lessings VerhÈltnis zur deutschen AufklÈrung hinausgehen. Lessing, wie wir ihn nachzuverstehen versucht haben, mußte das Lebendige, Lebenschaffende, Menschliche und Menschenverbindende, das GlÝckbringende der deutschen AufklÈrung tiefer in sich durchleben als ein anderer Zeitgenosse. Das siebzehnte Jahrhundert vereinigte die großen Denker und Forscher durch die gemeinsame Arbeit an der BegrÝndung der modernen Naturerkenntnis. In ihr entsprang das neue Bewußtsein von der SolidaritÈt des menschlichen Geschlechts und seinem Fortschritt. Das Jahrhundert der AufklÈrung entwickelte dann die Folgerungen aus den neuen Ideen. Der menschliche Geist erkannte seine SouverÈnitÈt gegenÝber allen AutoritÈten der Vergangenheit; er erfaßte im eigenen Denken sein VerhÈltnis zum Unsichtbaren; aus ihm leitete er das VerhÈltnis der Menschen zueinander ab: sie arbeiten gemeinsam unter demselben inneren Gesetz an dem allumfassenden Fortschritt des menschlichen Geschlechts. Hierin war eine neue rationale Ordnung der Beziehungen gegeben, welche die Menschen verbinden. Dieses neue Ideal schuf, wohin es drang, eine Verbindung der freien Geister untereinander; es gab jetzt eine Stelle, an der die Èußeren Unterschiede der stÈndischen Gliederung aufgehoben waren; es entstand ein Charaktertypus, dessen Wesen in der Verwirklichung dieses Ideals lag. Nirgend hat diese AufklÈrung so einheitlich, so harmonisch, so stark alle Kreise der Gesellschaft durchdrungen, als in dem protestantischen Norddeutschland. In Berlin, in Hamburg, in anderen grÚßeren StÈdten fanden sich die Vertreter der AufklÈrung in neubegrÝndeten Gesellschaften, in den ZusammenkÝnften der Freimaurer, bei gelehrten VortrÈgen zusammen, und zuletzt wurde die hÚchste wissenschaftliche KÚrperschaft Deutschlands, die Akademie der Wissenschaften in Berlin, Sammelplatz und Organ dieser AufklÈrung. Das regierende Beamtentum verband sich hier Ýberall mit den Gelehrten. Nie ist das mÈnnliche GlÝck einer auf Àbereinstimmung der Gesinnung beruhenden Freundschaft, des gegenseitigen VerstÈndnisses und Vertrauens so empfunden worden als unter diesen Menschen, deren Charakter rational und Ýbereinstimmend bis zur EintÚnigkeit sich geformt hatte. Nie war irgendwo eine solche pÈdagogische Energie, aufgeklÈrte Charakterfestigkeit mitzuteilen. Dies ist die AtmosphÈre, in welcher der Na-

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than erwachsen ist. Und die neuen Menschen, die wie Freimaurer sich in diesen Erkennungszeichen zusammenfanden, ihr Sichsuchen und Finden, das zuverlÈssige GlÝck der Verbindungen, die so entstanden, gegrÝndet in demselben Bewußtsein einer reinen Menschlichkeit: das war der Gegenstand des Nathan. Hier kam die SchÚnheit, Heiterkeit, Zartheit der Lebensbeziehungen, wie sie unter solchen Charakteren sich bildeten, zum vollkommensten Ausdruck. FÝr dies sein hÚchstes Erlebnis fand Lessing ein GefÈß in den Geschichten und Sagen, die den Saladin umgeben. Jerusalem ist der Boden seines Dramas. Hier waren die drei Weltreligionen einander begegnet. So hatte sich hier tatsÈchlich die freie Erhebung bedeutender Naturen Ýber die Schranken ihres Bekenntnisses vollzogen. Historische Wirklichkeit, Sage und Tendenz wirkten nun zusammen, die großen FÝrsten, die in diesem Milieu sich bewegten, Saladin und den Stauffer Friedrich II. zu ReprÈsentanten der AufklÈrung zu machen. So ging Lessing auf den lebendigen, persÚnlichen und darum hÚchst dramatischen Ursprung der religiÚsen AufklÈrung zurÝck, indem er den Ideengehalt seiner Zeit und Umgebung mit erlaubter dichterischer KÝhnheit in das zwÚlfte Jahrhundert zurÝckÝbertrug. Und in dem Gegensatz zwischen diesen freien Geistern und dem fanatischen Kirchenglauben fand er nun auch MÚglichkeiten dramatischer Spannung. Da ist nun hÚchst merkwÝrdig, wie er sie benutzt hat. Er konnte leicht den Konflikt durch die geistliche Herrschsucht des Patriarchen, den tÚrichten Fanatismus der guten Daja und das UngestÝm des Tempelherrn zu der Èußersten SchÈrfe emporfÝhren und ihn dann durch Saladin zu Ýberraschender und glÝcklicher LÚsung bringen. Eine solche Wendung aus Èußerster Gefahr zu hÚchstem GlÝck hÈtte recht in der Natur des orientalischen MÈrchens gelegen. Auch enthielt der erste Entwurf Lessings vom FrÝhjahr 1776 eine stÈrkere Spannung der GegensÈtze und eine schÈrfere Konzentration der Handlung. Aber die AusfÝhrung vollzog sich dann in entgegengesetzter Richtung. Sie ließ hÚchst absichtsvoll nur wie einen ungefÈhrlichen Schatten Ýber die heitere Welt seiner Gestalten den Patriarchen und seine Intrigue dahingleiten. Nicht dieser Konflikt war sein Thema, sondern wie mitten im Machtkampf und in den fanatischen religiÚsen GegensÈtzen die freien Geister sich loslÚsen vom Glauben der VÈter, wie sie sich finden, in sich selbst die gleiche Menschlichkeit entdecken, und wie nun eine geistige SolidaritÈt zwischen ihnen sich bildet: der Èhnlich, welche Lessing in sich erlebte und um sich sah. Diese freien Menschen sehen lassen, das ist sonach das andere Moment, auf das Lessing die Wirkung seines Dramas grÝndet. Es will mehr als lehren. Das Publikum kommt in das Theater mit dem geheimnisvollen Triebe, sein Leben, die Menschen um sich, die Schicksale Ýber ihnen anzuschauen als ein Fremdes und doch das Seine. Lessing hat in den drei StÝcken seiner reifen Jahre eine ganze Anzahl von Charakteren geschaffen, die im GedÈchtnis unserer Nation

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fortleben. Unter ihnen erheben sich die des Nathan in eine Region, in welcher der Mensch in seinem VerhÈltnis zum Unsichtbaren und in den hÚchsten BezÝgen zu den Mitmenschen sich erfaßt. Der Realismus der Kunst der AufklÈrung gibt hier den hÚchsten Charaktertypen dieser Zeit klare Umrisse und faßlichen inneren Zusammenhang. Noch einmal lÈßt der Dichter im Nathan den alten Gegner vor dem Publikum auftreten. Wie in seiner theologischen Polemik Goeze zu einer dramatischen Figur herausgearbeitet war, bedurfte es nur noch Einen Schritt, und er erschien unter der durchsichtigen HÝlle des Patriarchen auf dem Theater selbst. Das ist Goeze, der so viel von Lessings Theaterlogik gewitzelt hatte und der nun als Patriarch des zwÚlften Jahrhunderts den Tempelherrn mit dessen „vorgetragenem Fall“ auf das Theater verweist. Goeze, der die Vernunft auf das Gebiet einschrÈnken wollte, in das sie nach geistlichem Ermessen gehÚrt, und der gegen sie mit lautem Geschrei und noch wirksamer auf stillen Schleichwegen alle Obrigkeiten in Bewegung setzte. Selbst Èußerlich erinnerte der Patriarch an den Hauptpastor. Ihm gegenÝber stehen die freien Geister. Eine Abstufung von Graden fÝhrt vom Klosterbruder, der nur frei ist durch die weltabgewandte Innerlichkeit seines Glaubens, bis zu dem souverÈnen Bewußtsein des Nathan, das in der Macht des wissenschaftlichen Gedankens gegrÝndet ist. Alle diese Gestalten aber sind geformt unter dem Gesichtspunkt des Grundgedankens, der das Drama beherrscht. Sie stellen den Fortgang des Geistes zu einer religiÚsen Freiheit dar, welche jede Einzelreligion unter sich zurÝcklÈßt. Nathan, Saladin, der Tempelherr, Recha, sind nirgend und in keinem Punkte ihres Denkens und Handelns ReprÈsentanten des Glaubens, in dem sie erzogen sind. Der Wert ihrer PersÚnlichkeit hat nichts zu tun mit dem Wert der historischen Religion, welcher sie Èußerlich angehÚren. Die Form ihres moralischen Charakters ist ebenso sehr als durch diese historische Religion bedingt durch Rasse, Klima und Lebensart. Und wenn diese Charaktere auf verschiedenen Stufen der Reife, der gedankenklaren AufklÈrung sich befinden, so haben doch die Charakterformen selber, zu denen sie angelegt sind, jede ihren eigenen Wert, und keine hat einen hÚheren Wert als eine andere: IndividualitÈt ist eben unvergleichbar. Der Wirklichkeitssinn, mit welchem Lessing diese Menschen hingestellt hat, zeigt in jedem von ihnen die StÈrken untrennbar verbunden mit den Schranken. Die kÚnigliche Natur des Saladin lebt sich aus in einem Machtwillen, den die StaatsrÈson leitet, der kÝhl die gefangenen Tempelherren zur Hinrichtung sendet und die herabgedrÝckte, unkriegerische jÝdische Rasse verachtet. Er zahlt seinen Tribut an orientalisches FÝrstenwesen, wenn er die Untertanen aussaugt, um Bettler zu bereichern. Aber in diesem fÝrstlichen Walten hat er auch lange gelernt, hinter allen HÝllen religiÚser Bekenntnisse denselben Menschen zu erkennen und zu wÝrdigen, und Nathan legt ihm nur in der Reflexi-

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on das zurecht, dessen sein einfacher, starker, heroischer Geist lÈngst sicher gewesen ist. – Der weise Nathan gibt dem StÝck nicht nur den Namen, sondern in ihm liegt auch die Kraft aufzuklÈren, zu erziehen, zusammenzufÝhren, durch welche das Ziel der dramatischen Handlung erreichbar wird. Das war schon durch die Stellung der Parabel von den drei Ringen im StÝcke gegeben. Es mag sich darin auch eine Tendenz Lessings Èußern, welche durch die damalige Lage der Juden bedingt war. Aber das ist doch die Hauptsache, daß Nathan, weil in ihm die religiÚse Anlage seines Volkes wirksam ist, doppelt wirksam unter Èußerem Druck und in der BeschrÈnkung auf bloßes Privatdasein, besonders dazu taugt, den Vorgang totaler Selbstverleugnung faßlich zu machen, der zur universalen Menschenliebe fÝhrt, und ebenso dann die unablÈssige Abstraktion, welche das Erlebte denkend zerlegt und sich so zur SouverÈnitÈt der Vernunft erhebt. Aber auch Nathan zahlt fÝr die Bewußtheit, die in sich und anderen nichts Dunkles lassen will, fÝr das alles betastende, ruhelose Denken mit der EintÚnigkeit eines Charakters, in welchem keine naiven KrÈfte im RÝckhalt sind; die Mutter alles Großen ist eben die Leidenschaft. Seine Weisheit ist zurÝckgezogen aus der Welt allgemeiner, bedeutender Wirkungen. Es ist die Weisheit Spinozas. – Der Tempelherr, diese herrliche JÝnglingsgestalt von stÈrkster dramatischer Wirkung ist ebenfalls jenseit jeder positiven Religion. Er hat das aber nicht erreicht in einem religiÚs-intellektuellen Vorgang wie Nathan, oder auch kraft eines großen Àberblicks Ýber die Welt wie Saladin; sondern wie sein trotziger, rÝcksichtsloser Wahrheitssinn hineingestellt war in diese Mischung der Bekenntnisse und der Rassen, lernte er jeden Anspruch der GlÈubigen, eine wahre Religion zu besitzen, verachten, gering denken von der Menge und doch Menschenwert voll anerkennen, wo er auf ihn traf. Aber – darin erscheint nun seine Grenze – seine Kraft, aus dem Ganzen in Liebe und Haß, in stolzer Sicherheit der Welt gegenÝber zu leben, hat noch nicht gelernt, der Vernunft sich zu unterwerfen: er erlebt vor unseren Augen die Umwandlung, die auch ihn durch Schmerz und Resignation hindurchfÝhrt und ihn reif macht. – Aus demselben Geschlecht der Stauffer und der vornehmsten mohammedanischen FÝrstenfamilie, zeigt seine Schwester Recha das nÈmliche UngestÝm, gibt sich ebenso stark den leidenschaftlichen Regungen ihres GemÝtslebens hin: ihr aber ward das GlÝck, ohne inneren Kampf durch die Erziehung des Weisen in die Freiheit des Geistes gefÝhrt zu werden. Und welche ist nun die Handlung, mittels deren diese freien Geister miteinander verbunden sind? Sie beruht auf dem dargelegten Moment, das dem Drama Lessings erst sein eigenstes GeprÈge gibt. Es erweitert die Seele durch große Wahrheiten; es erhebt durch die Anschauung freier Charaktere, welche ohne die BeweggrÝnde des positiven Religionsglaubens das Gute tun: seine letzte und hÚchste Wirkung liegt doch in der RÝhrung, welche die Verbindung die-

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ser menschlichen zu einer neuen Gemeinschaft hervorruft. Nicht Leidenschaft vereinigt sie. Wohl macht sie sich in den Beziehungen zwischen dem Tempelherrn und Recha zunÈchst geltend, sie schÝrzt den Knoten des StÝckes, aber sie wird aufgelÚst in das starke, ruhige GefÝhl geschwisterlicher ZusammengehÚrigkeit. Hier herrschen die universalen Stimmungen, die aus den hÚchsten Relationen zur unsichtbaren Welt entspringen, aus dem VerhÈltnis derer, die gemeinsam in dieser Region leben. Leise, feine FÈden gehen zwischen diesen Personen hin und her – ein Entdecken verwandter Naturen, ein Sichbefreunden, ein reinstes GlÝck, das von da ausgeht. Die Gemeinschaft, die so entsteht, ist eine innere, unabhÈngig von Nation, Bekenntnis, Stand und Wirken in der Welt. Wir alle sind durch die Ziele, die wir im Leben verfolgen, mit anderen zu einem GefÝge von Handlungen und Schicksalen verknÝpft, das unsere Èußere Welt ausmacht. In ihr siegen oder unterliegen wir, leiden oder triumphieren. Ihr gehÚren zunÈchst auch die Personen des StÝckes an: sie leben in StaatsgeschÈften, fÝhren Krieg, treiben Handel, vollziehen fromme Pflichten. Aber jenseit dieses Èußeren LebensgefÝges dulden und genießen sie ein von diesem Èußeren Schicksal UnabhÈngiges. Dieses macht sie in letzter Instanz, in einer rein innerlichen Welt, gebunden oder frei, glÝcklich oder elend. Mag nun der Mensch wie der Klosterbruder und Al Hafi die Welt verlassen, oder mag ihm wie dem Nathan ein eingeschrÈnktes Geschick in ihr beschieden sein, oder wie dem Saladin ein kÚnigliches Wirken – gemeinsam ist ihnen nach Lessing die Anlage sich zu vollendeter Menschlichkeit zu entwikkeln. Und das verbindet sie miteinander. So schildert das Gedicht, in Àbereinstimmung mit dem eigensten und hÚchsten Zug der deutschen AufklÈrung, wie aus der freien Menschlichkeit eine Gemeinschaft entsteht, ein Bewußtsein, zusammen fortzuschreiten einer besseren Gesellschaft entgegen, sicheres Vertrauen, Seelenruhe, eine große Lebensfreude, Heiterkeit. Hiermit spricht Lessings Dichtung einen der hÚchsten ZÝge des Lebens aus, einen Zug, der in dem Drama bis dahin nie ausgedrÝckt worden war. Das EinverstÈndnis mit den Gleichgesinnten begleitet unser Leben wie eine unsichtbare Harmonie: nicht Abwesenheit noch Tod vermag sie aufzuheben. TÚne von verschiedener HÚhe und Tiefe, StÈrke und Lindigkeit fÝgen sich zu ihr zusammen, immer klingt sie um uns. Wie die Vernunftreligion, in der fÝr Lessing diese Beziehungen gegrÝndet sind, im Denken beruht, so nÈhern sich auch die Personen einander durch das Denken – fragend, antwortend, dialektisch ihre VerstÈndigung suchend, aus der dann erst das gehaltene GefÝhl des EinverstÈndnisses und der Befreundung hervorbricht. Diese VorgÈnge sind zusammengefaßt zu einer Handlung, die in einem Èußeren Symbol die erreichte Gemeinschaft der freien Geister zum tiefsten Ausdruck bringt. Nicht durch den Affekt, welcher die Kluft der

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Geburt, des Blutes, ja des religiÚsen Glaubens selber Ýberspringt, wird im Verlauf der Handlung zwischen Judentum und Christentum das Band geknÝpft; vielmehr blutsverwandt sind die Nationen, sind die großen Religionen, welche sich in die Erde teilen. Fremd, ja feindlich einander gegenÝbertretend, entdekken sie, daß sie Eine Familie bilden. Das ist das große Geheimnis, welches der Schluß symbolisch ausdrÝckt. Auf Einem Stamm sind die religiÚsen Ideen gewachsen, entsprossen aus Einer Einheit des ersten Glaubens; sie bilden Eine Entwickelung der religiÚsen Vernunft. Von Lessings Gedankendrama gehen Linien der Wirkung zu Schillers Don Carlos, zu Kants Religionsschrift, zu Herders HumanitÈt, zu Goethes Plan der Geheimnisse, ja selbst zu Hegels ersten theologischen Schriften. Zu mÈchtigstem Ausdruck aber gelangte der Gehalt dieses Gedichtes in der neunten Sinfonie Beethovens. Auch sie fÝhrt hindurch durch die partikulare Leidenschaft und ihre Schmerzen zu der universalen Stimmung, in der sich ganz im Geiste der Lessingschen AufklÈrung die Harmonie der Welt, die GÝte des gÚttlichen Wesens, die allgemeine Menschenliebe und eine das ganze Leben durchdringende, verklÈrte Heiterkeit verbinden. So hat Beethoven den Gehalt dieser Dichtung, losgelÚst von allem Endlichen und VergÈnglichen, das ihr anhaftet, in die Ewigkeit erhoben. Das neue Ideendrama forderte auch eine eigene Form. Die straffe Handlung der Emilia Galotti, in der jeder Satz der Katastrophe zuzueilen scheint, mußte der freien VergegenwÈrtigung einer Welt von Ideen und Idealen Platz machen. So erhÈlt jede Szene einen selbstÈndigen Gehalt. Der Zuschauer kann sich der Auffassung desselben in gelassener Stimmung hingeben. Der Dialog geht lÈssig wechselnd, auf verschlungenen Wegen wie ein SpaziergÈnger vorwÈrts und wird doch jedesmal durch eine innere dramatische Bewegung dem Ziel, das der Zusammenhang fordert, entgegengefÝhrt. Und welchen Hintergrund fÝr diese Szenen bilden das weitrÈumige Kaufhaus Nathans, vor ihm der Platz mit den Palmen, die das Grabmal des ErlÚsers umgeben, die KreuzgÈnge des Klosters, durch die man den Patriarchen mit seinem geistlichen Pomp ziehen sieht, der Palast des Sultans mit seiner phantastischen Architektonik! Sie unterscheiden und charakterisieren gleichsam die Hauptpersonen, wie deren Tracht. Ihr fremdartiger Glanz beschÈftigt das Auge, die sÝdliche Heiterkeit der Szenerie macht die Seele leicht und frei. Zugleich faßt doch die Einheit derselben Stadt rÈumlich die Szenen zusammen. Die Einheit der Zeit ist streng gewahrt. E i n Tag umschließt die Handlung. In ihm vollzieht sich die ganze innere Wandlung in Recha, dem Tempelherrn, Saladin und die Befreundung der Hauptpersonen zueinander. Durch eine Art von perspektivischer Kunst blicken wir weiter rÝckwÈrts in die Geschichte der Personen und in die Vorbedingungen dessen, was der Tag umfaßt. So setzt sich in diesem

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deutschen Drama Racines Seelendarstellung fort, welche auf der BÝhne selbst den ganzen Zusammenhang inneren Geschehens sehen lÈßt; dabei gestattet der Wechsel des Ortes doch, ohne die Vertrauten und die Berichte der franzÚsischen TragÚdie diese VollstÈndigkeit des inneren Zusammenhanges zu erreichen. Auf diesem Wege ist Goethes Seelendrama weitergegangen. So große VorzÝge der Form des Nathan sind freilich mit einem offenkundigen Mangel verbunden. Die VerknÝpfung der inneren VorgÈnge zu einer dramatischen Einheit neuer Art ist nur sehr unvollkommen gelungen. Im heiligen Lande finden sich der Sohn des Sultans und eine vornehme Christin. Im Àberschwang der Leidenschaft verlÈßt der Prinz Vaterland und Religion. Sie vermÈhlen sich. Ihre Tochter wird Nathan anvertraut. Der in Deutschland geborene Sohn kehrt als Tempelherr ins heilige Land zurÝck, begegnet der Schwester, rettet sie, und das Irrsal, das die Leidenschaft des Vaters verschuldete, kommt nun Ýber den heißblÝtigen Sohn. In diesem Zustand von Verwirrung und Dunkelheit, da alle VerhÈltnisse dieser Vorgeschichte unbekannt sind, setzt das StÝck ein. In seinem analytischen Gang fÝhrt es durch den Verlauf der Leidenschaft im Tempelherrn zu dessen innerer LÈuterung und zu der AufklÈrung Ýber die Verwandtschaft desselben mit Recha und beider mit Saladin – aus Nacht zu Licht und Klarheit. Ein unendlicher Gehalt ist hier, wie im Faust, an einen endlichen Vorgang gebunden, die Symbolik der Verwandtschaft der freien Geister aller Nationen an eine Wirklichkeitsdarstellung. Eine solche Rechnung kann nie rein aufgehen. Der Zuschauer wird durch die starke Wirklichkeit der Liebe des Tempelherrn zu innerem Herzensanteil bewegt, und so muß ihn am Schluß die bloße Symbolik fÝr ein Erhabenes und Heiliges, die im GeschwisterverhÈltnis liegt, erkÈlten. Er bemerkt das RÈtsel, das Ýber der Beziehung der Personen schwebt; da er aber dessen Zusammenhang mit dem Liebesvorgang nicht ahnt, erregt es in ihm doch kein stÈrkeres Interesse. Und nun ist mit dieser Haupthandlung die Linie, die zur großen Ringszene fÝhrt, nur lose verbunden. Die Stellung, die Nathan tatsÈchlich im Mittelpunkte des StÝckes einnimmt, vertrÈgt sich schlecht mit der Gleichwertigkeit der freien Geister, die doch in der Grundidee liegt. Wo in der symbolischen Schlußszene der Grundgedanke zu hÚchstem Ausdruck gelangen soll, fÝhlt man sich enttÈuscht; knapp und beinah hastig eilt die Handlung zum Schluß: was man hier entbehrt, mag der Hinweis auf den mÈchtigen Ausklang des „Fidelio“ verdeutlichen, in welchem sich an das PersÚnliche die hÚchsten universalen GefÝhle knÝpfen. In diesen und vielen anderen Punkten ist so der Nathan ein Beleg dafÝr, daß die großen Gedankendichtungen die Vollkommenheit der dramatischen AusfÝhrung dem unendlichen Gehalt und der universalen Bedeutung opfern mÝssen. •hnliche Unangemessenheiten zwischen dem Ideengehalt und seinem Symbol durchziehen selbst Goethes Faust.

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Die Form des Gedankendramas empfÈngt im Nathan ihren besonderen Charakter aus dem Geist der AufklÈrungszeit und ihres Dichters. Es weht uns aus diesem Drama an, als befÈnden wir uns auf hohem Alpengipfel, so einsam fern sind wir vom LÈrm des Tages, so weit ist der Horizont, so kÝhl die Luft um uns. Der Realismus der AufklÈrungszeit, wie er in dem Roman, in den Bildern und Kupferstichen Chodowieckis auf die intime Schilderung des Privatlebens gerichtet war, hat sich hier eines großen Stoffes bemÈchtigt. Die hÚchsten Dinge erscheinen nicht im Pomp der Rede, und die erhabenen Menschen schleppen keine tragischen GewÈnder hinter sich her. Lessings Stil lÈßt die Bewegungen in ihren Seelen schlicht heraustreten. Eine ruhelose Dialektik, rasches Fragen und behendes Antworten, scharfsinniges und witziges Umwenden der Worte und der Gedanken, das Spiel mit Bildern gehen durch das ganze StÝck, und selbst die universale Gottes- und Menschenliebe des Spinoza und Leibniz redet in ihm die Sprache der Reflexion. Sein fremdartiger und erhabener Stoff fordert den Vers; aber wie schwebt nun dieser zwischen Poesie und Prosa! Diese Jamben wollen nicht deklamiert, sondern gesprochen werden. Der Schauspieler kann nicht die einzelne Verszeile als ein metrisches Ganze zum Ausdruck bringen. Die ZÈsur, die den Einzelvers gliedert, verliert hier ihre Bedeutung. In der zusammenhÈngenden Rede treten große rhythmische Perioden auf, deren Glieder nicht durch die Verse abgegrenzt sind, sondern rÝckwÈrts das Ende des vorhergehenden Verses mitziehen oder vorwÈrts in den Anfang des folgenden sich hineindrÈngen. Rhythmische Systeme von großem Umfang treten auf. Sie bringen die anstÝrmende Bewegung in der Sprache ganz zum Ausdruck. Sie fordern die geschwinde Sprechweise moderner Schauspieler. Im Dialog beginnen und enden die einzelnen Personen ihre Rede mitten im Vers. So geht der fÝnffÝßige Jambus, wo nicht der abklingende Ausgang zwei unbetonte Silben aneinanderfÝgt, in eine freie Folge von Jamben Ýber, und der Vers begleitet den Rhythmus nur wie eine leise Wellenbewegung. Wie nun auch im Fortgang unseres Dramas zu einer idealen Form vom Don Carlos bis zu Iphigenie und Wallenstein die Versmelodie zunahm: der Jambus blieb fortan unser dramatischer Vers. Lessing war nicht der erste in Deutschland, der zu ihm griff, aber sein StÝck entschied die Herrschaft desselben im Drama, und so war auch fÝr die Èußere dramatische Form der Nathan epochemachend. 3. Was im Nathan dichterisch ausgesprochen war, hat Lessing auch begrifflich darzustellen unternommen. Es bezeichnet die Grenze in Lessings geschichtlicher Stellung, daß auch hier der Gesichtspunkt einer Auseinandersetzung

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mit der Theologie die positive Darstellung beeinflußte und die Probleme und Resultate der anderen Wissenschaften ihm ferner standen. Niemand vielleicht in Deutschland, auch Goethe nicht, hatte diesen Geierblick, Welt und Menschen zu durchschauen, der Lessing eigen war. Aber sein geschichtliches Studium und seine Analyse der moralischen Begriffe blieben eingeschrÈnkt. Daher denn Kants Lebensideal, obwohl es viel einseitiger, viel weniger auf eine volle reife Menschennatur gegrÝndet war, doch in der Philosophie eingreifender gewirkt hat: er war der Begriffe mÈchtig. Erst unserer Generation kann es gelingen, die moralischen Untersuchungen Ýber Kant hinauszufÝhren: denn wir sind zugleich der Geschichte mÈchtig. Wenn die folgende Darstellung hier und da zu stammeln scheint, so ist es also darum, weil Lessing nicht Ýberall die Sprache fand, in welcher allein wissenschaftliche Wahrheiten ausgedrÝckt werden kÚnnen, die Sprache der Begriffe. Der Nathan ist erfÝllt vom Ideal der Menschlichkeit – wie entwickele ich nach Lessing den Kern dieses Wortes? Das Wesen des Menschen ist, nach einer Reihe von •ußerungen, die von dem Aufsatze Ýber die Herrnhuter bis zum „Nathan“ reichen – H a n d e l n . Die menschliche Bestimmung ist nicht Spekulation, nicht kÝnstlerische Anschauung, sondern Praxis. FÝr den Fortschritt des handelnden Menschen ist der große Hebel die i n t e l l e k t u e l l e E n t w i c k e l u n g . Lessing geht so weit, die bÝrgerliche Gesellschaft gegenÝber den Àbeln, welche aus ihr notwendig folgen, in erster Linie daraus zu rechtfertigen, daß in ihr allein die Vernunft angebaut werden, d. h. ein zusammenhÈngender intellektueller Fortschritt vor sich gehen kann. Er geht so weit, den zu seiner vÚlligen AufklÈrung gelangten Verstand als den hervorbringenden Grund der vollendeten Form moralischer Handlungen darzustellen. WÈhrend er also in dem intellektuellen Fortschritt den Hebel alles Fortschritts Ýberhaupt sieht, ordnet er ihn doch dem moralischen unter. Diese Unterscheidung, welche dem wissenschaftlichen Denken zugesteht, daß es allein eine gleichmÈßig wachsende Macht ist, die einen Fortschritt zu bewirken imstande ist, und doch zugleich dem Handeln seine volle WÝrde sichert, enthÈlt den Keim zu jeder tieferen Einsicht in die Geschichte. Wir fragen weiter: Auf welchem Wege bereitet nach Lessing die intellektuelle Entwickelung die hÚchste Form des Handelns vor? Nirgends wirkt der theologische Gesichtspunkt der Lessingschen Studien so nachteilig als gegenÝber dieser Frage nach den Grundelementen des intellektuellen Fortschritts, welche den moralischen Fortschritt bedingen. Eins aber tritt bedeutsam hervor: die große Rolle, welche nach Lessing der Skeptizismus in diesem Vorgang hat. Die positiven Religionen sprechen nicht nur religiÚse Ideen aus, sondern grÝnden sie auf Geschichte. Solche BegrÝndung ist aber schlechterdings keiner

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Evidenz fÈhig. Denn was heißt, eine historische Tatsache glauben? Sie sich gefallen lassen, gestatten, daß andere historische Wahrheiten darauf gebaut werden; nichts anderes, nicht mehr. Kann doch eine erlogene Geschichte unter gewissen UmstÈnden genau ebensogut als historisches Faktum mitlaufen wie eine wahre. Sicher sind unter den tausend historischen Fakten, an denen zu zweifeln uns weder Vernunft noch Geschichte Anlaß geben, ungeschehene Dinge. „O Geschichte, o Geschichte, was bist du!“, ruft Lessing aus. Aus dieser Natur unseres geschichtlichen Wissens folgt, daß es schlechterdings keinen historischen Beweis fÝr das Christentum oder eine andere Religion gibt. Eine wichtige methodische Einsicht, die bekanntlich schon bei Hume vorbereitet ist. DemgemÈß sieht alle Religion sich fÝr ihre Ýber die Vernunftwahrheit hinausgehenden Teile auf das innere Zeugnis der Erfahrung angewiesen. Nun ist dasselbe aber schlechterdings subjektiv: indem dieser Charakter der religiÚsen Erfahrung verkannt wird, entsteht sonach eine zweite Klasse falscher BegrÝndungen, die schwÈrmerische. „Den allgemeinen einzig wahren Weg nach Gott zu wissen wÈhnen“ – hier liegt die Àberschreitung einer berechtigten persÚnlichen Erfahrung, welche i h r e n Weg zu ihm gefunden zu haben die glÝckliche Gewißheit besitzt. So bereitet die wissenschaftliche Skepsis die moralische SelbstÈndigkeit des Menschen vor, welche der hÚchsten Form seines Handelns wesentlich ist. Und welche ist – das ist unsere letzte Frage – diese h Ú c h s t e F o r m der menschlichen H a n d l u n g e n ? Den Wert oder Unwert einer Handlung bestimmen ihre BeweggrÝnde. Der Beweggrund der vollkommen guten Handlung ist das Gute selber. „Nein, sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je Ýberzeugter sein Verstand einer immer besseren Zukunft sich fÝhlt, von dieser Zukunft gleichwohl BewegungsgrÝnde zu seinen Handlungen zu erborgen nicht nÚtig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkÝrliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stÈrken sollten, die inneren besseren Belohnungen desselben zu erkennen“ – sie wird gewiß kommen, „die Zeit eines neuen, ewigen Evangeliums“. Dieser Gedanke erst bricht vÚllig mit der theologischen AufklÈrung; er erst spricht den Kern des neuen LebensgefÝhls aus, welches in Deutschland mit Lessing heraustrat. GegenÝber einer jenseitigen Lebensansicht, welche den gegenwÈrtigen Augenblick zum Mittel fÝr einen kÝnftigen macht, welche unsere Empfindungen hinausreißt in eine ungewisse Zukunft, ist es der selbstÈndige Wert jedes Tages in unserem Dasein, der so nicht wiederkehrt, von dem Lessing erfÝllt ist. Man kann nicht schneidiger das Hangen und Bangen um eine jenseitige Welt verurteilen als Lessing tut – derselbe Lessing, welcher von dem Wert wie von der Fortdauer der Seele in irgendeiner Form vÚllig Ýberzeugt war. „So viel

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fÈngt man ziemlich an zu erkennen, daß dem Menschen mit der Wissenschaft des ZukÝnftigen wenig gedient sei; und die Vernunft hat glÝcklich genug gegen die tÚrichte Begierde der Menschen, ihr Schicksal in diesem Leben voraus zu wissen, geeifert. Wann wird es ihr gelingen, die Begierde, das NÈhere von unserem Schicksal in jenem Leben zu wissen, ebenso verdÈchtig, ebenso lÈcherlich zu machen? Àber die BekÝmmerungen um ein kÝnftiges Leben verlieren Toren das gegenwÈrtige. Warum kann man ein kÝnftiges Leben nicht ebenso ruhig abwarten als einen kÝnftigen Tag? Wenn es auch wahr wÈre, daß es eine Religion gebe, die uns von jenem Leben ganz ungezweifelt unterrichtete, so sollten wir lieber dieser Religion kein GehÚr geben.“ Also um des Guten willen das Gute tun, um der Forschung selber willen die Wahrheit suchen, inmitten der energischen BetÈtigung unserer KrÈfte nie auf ein abstraktes Ziel sehen, sondern auf das lebendige innere Wachstum des Menschen selber! Der von diesen Gesinnungen erfÝllt war, erscheint in der intellektuellen Geschichte Deutschlands als der erste ganz mÝndige Mensch. Goethe, Hegel, Schleiermacher haben diese Gesinnung weiter entwickelt. Es bleibt Lessing, daß er zuerst, indem er sein Leben der Unruhe, dem Kampf, der Geldnot, der totalen Einsamkeit preisgab, die MÝndigkeit des Geistes erkÈmpft hat. Sein Charakter wie sein Lebensideal tragen unverkennbar die Spuren dieses Kampfes. In seiner SelbstÈndigkeit ist etwas der Welt Trotzendes. Zuweilen rÝttelt er doch wie Rousseau an ihren gesellschaftlichen Bedingungen wie an eisernen Stangen. „Am Ganges, am Ganges nur gibt’s Menschen.“ „Der wahre Bettler ist doch einzig und allein der wahre KÚnig.“ „Ordnung muß also doch auch ohne Regierung bestehen kÚnnen? Ob es wohl mit den Menschen dahin kommen wird?“ „Wohl schwerlich.“ „Schade.“ „Jawohl.“ Diese trotzige MÈnnlichkeit ist der hÚchste Zauber in Lessings Stil, in den Helden seiner Dramen, in der Art wie er auf dem Boden der Erde stand und sich umsah. Ein volles Behagen an Lessing wird immer nur mÈnnlichen Naturen mÚglich sein. So scheiden sich die Zeiten! Welch einen Kontrast bildet dieses Lebensideal Lessings zu dem Glauben des Reformationszeitalters. Analysiert man die zentrale Àberzeugung jener großen Epoche von Luther, Zwingli und Melanchthon, die Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, so ist die Bedingung fÝr diese das alldurchdringende GefÝhl der Ohnmacht zu guten Handlungen, die gÈnzliche Jenseitigkeit des WeltschÚpfers und Weltrichters, dessen absolutes Recht, die aus seiner Heiligkeit stammenden AnsprÝche an seine Kreatur trotz der ihr mitgegebenen Ohnmacht durchzusetzen. Diese ganze Lebensverfassung, welche die Voraussetzung der protestantischen Rechtfertigungslehre bildet, ist vergangen, und damit hat die Rechtfertigung durch den Glauben keinen Sinn mehr fÝr uns. Und wenn nun weiter alle religiÚsen

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KÈmpfe jener Tage die Mittel und Wege betreffen, VersÚhnung mit Gott zu erlangen, so haben auch diese fÝr uns nur noch ein historisches Interesse. Schon im Zeitalter der Reformation entstanden auf Grund der vielseitigen europÈischen Kultur die Bewegungen, welche diese protestantischen Dogmen Ýberwunden haben. AllmÈhlich vollzogen die religiÚsen VorgÈnge, die vornehmlich in den Sekten verliefen, in folgerichtiger innerer Dialektik von innen die AuflÚsung der einzelnen Dogmen, und von außen wirkte dann die neue europÈische Kultur, die von der Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts ausging und die Voraussetzungen selber zerstÚrte, unter denen diese Dogmen sich gebildet hatten. So entstand die religiÚse AufklÈrung. Die englischen Freidenker, die franzÚsischen Zweifler und die deutschen AufklÈrer zeigen eine sehr verschiedene Physiognomie; aber in Einem stimmen sie Ýberein: der Gedanke der UnabhÈngigkeit des moralisch-religiÚsen Prozesses im Individuum gelangte nun zu vollstÈndigem Sieg. Die deutsche Form dieser neuen Seelenverfassung tritt uns am tiefsten entgegen in Lessing und in dem Kant der jugendlichen und ersten mÈnnlichen Zeit, soweit es gelingt, diesen wieder herzustellen. Beide stehen mit Friedrich dem Großen zusammen in den SÈtzen: der Mensch ist zum Handeln geboren; der Weg des Menschen fÝhrt aus der DÈmmerung in die DÈmmerung, und wÈhrend des Tages, der dazwischen liegt, ist unser Pfad nur erleuchtet durch das moralische Bewußtsein. In diesem Zusammenhang hat sich nun Lessing mit der protestantischen Theologie auseinandergesetzt und so seine auch fÝr uns heute gÝltigen Resultate gewonnen. Das Bleibende der Reformation ist die Befreiung von der Knechtschaft der Hierarchie und die BegrÝndung der religiÚsen Àberzeugung aus der inneren Erfahrung. VergÈnglich aber ist die neue Knechtschaft unter dem Buchstaben. Ihr gegenÝber ist die alte Sektenlehre vom inneren Licht durch Lessing und sein Zeitalter in die Wissenschaft eingefÝhrt worden. 4.

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So entwickelte sich aus dem LebensgefÝhl Lessings ein Ideal, welches den Charakter aller Motive des vollkommenen Handelns bestimmte. Es entwickelte sich aber in ihm zugleich eine Anschauung von der N a t u r der M o t i v a t i o n selber. Die SelbstÈndigkeit des mÝndigen Menschen bildete Lessings Lebensideal; die strengste Notwendigkeit im Zusammenhang der Handlungen bildete seine Anschauung von der Natur des Willens, welcher dieses Lebensideal verwirklichen soll. Das war kein Widerspruch. Nur die Zweideutigkeit des Wortes Freiheit kann hier einen solchen hervorbringen. Der D e t e r m i n i s m u s Lessings, d. h. seine Lehre, daß die VorgÈnge im

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Inneren des Menschen ebenso unabwendbar nach dem Satze vom Grunde verlaufen als der Lauf der Gestirne oder der Fall eines geschleuderten KÚrpers, und daß demgemÈß fÝr einen freien Willen, der auf Grund der nÈmlichen Motive so und auch anders entscheiden kÚnnte, hier nirgends ein Raum sei – der Determinismus Lessings stammt nicht aus einer allgemeinen Weltansicht, sondern aus dem freien, genialen Studium der moralischen Welt, in welchem bei Lessing der Denker und der Dichter sich begegneten. Dies erwiesen wir daraus, daß er schon in den Dramen und in seiner Theorie des Schauspiels ausgesprochen ist, in der letzteren mit ganz klaren und planen Worten. Die ganze Dramaturgie ist durchdrungen von dem Gedanken, daß das Gesetz der KausalitÈt auch im Inneren des Menschen ganz ausnahmslos und universell herrsche. „Das Genie kÚnnen nur Begebenheiten beschÈftigen, die ineinander gegrÝndet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurÝckzufÝhren, jene gegen diese abzuwÈgen, Ýberall das UngefÈhr auszuschließen, alles was geschieht so geschehen zu lassen, daß es nicht anders geschehen kÚnnen, das, das ist seine Sache.“ „Das Lehrreiche liegt nicht in den bloßen Faktis, sondern besteht in der Erkenntnis, daß diese Charaktere unter diesen UmstÈnden solche Fakta hervorzubringen pflegen und hervorbringen mÝssen.“ Unter dieser Voraussetzung allein kann der Zweck der TragÚdie erreicht werden, durch welchen sie philosophischer ist als die Geschichte selber: „auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen UmstÈnden tun werde.“ In dem genialen Kopf spiegelt sich die moralische Welt als ein unbedingt geschlossener Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, und diesen Zusammenhang macht die TragÚdie anschaulich. Ist es nÚtig, sich bei einem Manne von Lessings Wahrheitssinn gegen die Annahme zu verwahren, daß das dramatische Genie ein falsches Bild der moralischen Welt entwerfe? Er wÈre der erste gewesen, alsdann die Schließung aller Theater zu verlangen. In WolfenbÝttel hat dann Lessing auch seinen Determinismus zum theoretischen Abschluß gebracht. In Anmerkungen zu den philosophischen AufsÈtzen von Jerusalem bespricht er das in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug anzuschlagende Problem. Die Worte Lessings sind kurz und zum Teil rÈtselhaft. Es kommt darauf an, ihnen den mÚglichsten Ertrag abzugewinnen, indem man ihre Beziehung zu dem Aufsatz Jerusalems Ýber die Freiheit ins Auge faßt. Zu diesem Zweck mÝssen wir sie zunÈchst dem Leser ins GedÈchtnis zurÝckrufen. „Der Aufsatz – so urteilt Lessing – zeigt, wie wohl der Verfasser ein System“ (das deterministische) „gefaßt hatte, das wegen seiner gefÈhrlichen Folgen so verschrieen ist und gewiß weit allgemeiner sein wÝrde, wenn man sich so

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leicht gewÚhnen kÚnnte, diese Folgerungen selbst in dem Lichte zu betrachten, in welchem sie hier erscheinen. Tugend und Laster, so erklÈrt, Belohnung und Strafe h i e r a u f eingeschrÈnkt: was verlieren wir, wenn man uns die Freiheit abspricht? Etwas – wenn es etwas ist – was wir nicht brauchen, was wir weder zu unserer TÈtigkeit hier, noch zu unserer GlÝckseligkeit dort brauchen. Etwas, dessen Besitz weit unruhiger und besorgter machen mÝßte, als das GefÝhl seines Gegenteils nimmermehr machen kann. – Zwang und Notwendigkeit, nach welchen die Vorstellung des Besten wirkt, wieviel willkommener sind sie mir als kahle VermÚgenheit, unter den nÈmlichen UmstÈnden bald so bald anders handeln zu kÚnnen! Ich danke dem SchÚpfer, daß ich m u ß , das B e s t e muß. Was wÝrde geschehen wenn ich einer blinden Kraft Ýberlassen wÈre, die sich nach keinen Gesetzen richtet, und mich darum nicht minder dem Zufall unterwirft, weil dieser Zufall sein Spiel in mir selbst hat? – Also von der Seite der Moral ist dieses System geborgen. Ob aber die Spekulation nicht noch ganz andere Einwendungen dagegen machen kÚnne? Und solche Einwendungen, die sich nur durch ein zweites, gemeine Augen ebenso befremdendes System heben ließen? Das war es, was unser GesprÈch so oft verlÈngerte und mit wenigem hier nicht zu fassen steht.“ Jerusalems Aufsatz war eine Verteidigung des Determinismus. Lessing stellt nun als das Verdienst des Aufsatzes hin, die Folgerungen aus der Leugnung der Freiheit beseitigt zu haben, welche diese so verschrieen machen. Dies Verdienst betrifft nach ihm zwei Punkte: eine ErklÈrung von Tugend und Laster und eine EinschrÈnkung von Lohn und Strafe. Es bezieht sich also auf die beiden ersten unter den falschen Konsequenzen aus der Leugnung der Willensfreiheit, welche Jerusalem zurÝckzuweisen unternommen hatte. Mit solcher Leugnung, so sagt man, soll der Unterschied von Tugend und Laster aufhÚren; mit ihr soll alle Verbindung zwischen unserem gegenwÈrtigen Zustande und unserem Zustande nach dem Tode aufgehoben sein. Indem nun Jerusalem die Tugend als Beherrschung unserer Leidenschaften (d. h. der dunklen Vorstellungen) durch die Vernunft erklÈrt, so erkennt man, wiefern die Tugend, gleichviel wie es mit der Freiheit stehe, eine Vollkommenheit bleibt: sie ist die StÈrke der Vorstellungskraft. Indem dann Jerusalem Belohnungen und Strafen auf die verschiedenen Vollkommenheitsgrade der Seele in ihrer weiteren Entwickelung einschrÈnkt, wird die Verbindung dieser kÝnftigen ZustÈnde mit den gegenwÈrtigen sittlichen ZustÈnden erst vollkommen aufgeklÈrt. Die beiden Einwendungen, welche die Moral macht, hat demgemÈß Jerusalem zur Zufriedenheit Lessings abgewiesen. Lessing selbst fÝgt noch einen tiefen und bedeutenden Gedanken Ýber diese moralische Seite des Determinismus hinzu. Ein gesetzlicher Zusammenhang, welcher auf die Verwirklichung des Weltbesten gerichtet ist, ist Ýberall eine Vollkommenheit, auch in

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unserer Seele; denn wo er endigt, erscheine ich schlechterdings dem Zufall unterworfen, und es ist vÚllig gleichgÝltig, ob dieser Zufall in mir selber sein Spiel hat oder in der Èußeren Welt. Dem wohltÈtigen Zusammenhang eines unsere Laster mitumfassenden Planes werde ich entnommen und einem Zufall in mir preisgegeben. Jerusalem hat nun aber noch eine dritte Konsequenz behandelt, die aus dem Determinismus gezogen wird, und Ýber die Art, wie er diese behandelt, schweigt Lessing. Warum? „Es wÈre unpolitisch gewesen“ – lÈßt er Mendelssohn einen anderen Punkt betreffend sagen – „wenn ich auf alle BlÚßen meines Verfassers so deutlich gewiesen hÈtte.“ Die Art wie Jerusalem den Vorwurf behandelt, bietet freilich eine starke BlÚße. Die dritte Konsequenz war nÈmlich die, daß Gott selber auf solche Art zur Ursache alles moralischen BÚsen werde. Jerusalem gesteht das zu und fÈhrt fort: „es scheint mir fÝr den SchÚpfer nicht unanstÈndiger zu sein, Wesen zu erschaffen, die aus Mangel von deutlichen Begriffen die Leidenschaften nicht besiegen, als solche, die aus einer gleichen Ursache ein Newtonsches Problem nicht auflÚsen kÚnnen.“ Das war keine Antwort fÝr einen Lessing, welcher die ernste Erkenntnis gewonnen hatte, daß, gleichviel welche unsere Spekulation, unsere Kenntnisse seien, die BeweggrÝnde unserer Handlungen ausschließlich unseren Wert ausmachen. Aber hatte er eine andere? In der KÝrze gewiß nicht. Der Determinismus bedarf Ýberall einer Theodizee. Zu einer solchen also drÈngte Lessing sein Determinismus, wenn er die schrille Dissonanz von vÚlligem Unwert, von grenzenlosem inneren UnglÝck ohne alle Schuld irgendwie versÚhnen wollte. An diesem Punkte sonach trennte sich Lessing von Jerusalem. „Ein zweites, gemeine Augen ebenso befremdendes System“ gab es fÝr ihn, welches die Theodizee des Determinismus enthielt.

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5. Welche war seine T h e o d i z e e ? Wir kÚnnen hierauf definitiv erst antworten, indem wir nun in die allgemeine Untersuchung eintreten: welche war die Anschauung Lessings von der Stellung des Menschen, wie er ihn ansah, zu dem Zusammenhang, zu dem Plane der Welt? Alles Bisherige wÈre verlorene MÝhe, falls nicht dies ganz klar geworden wÈre: wie auch Lessing gelegentlich Ýber diesen oder jenen Punkt philosophieren mochte, mit Hilfe der metaphysischen Begriffe bald von Spinoza, bald von Leibniz, bald von Wolff – den bleibenden und ihm selber ganz gewissen Kern seiner Gedanken besaß er in seinem Studium der moralischen Welt und in den Folgerungen, welche sich aus diesem fÝr die Anschauung des Weltganzen ergaben. Er war weder Gelegenheitsdenker wie die einen, noch ein spekulati-

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ver Philosoph wie die anderen sagen. Wenn er hie und da metaphysische Begriffe entlieh, so geschah das, um den großen Zug seiner wahren Forschungen auch von anderen Seiten her zu begrÝnden. Man findet keine Spur, daß er die falschen Leibniz-Wolffschen Begriffe untersucht hÈtte; er bediente sich eben der Metaphysik seiner Zeit; aber hÈtte er ihren Zusammenbruch erlebt, so wÈre damit fÝr ihn nichts berÝhrt worden von dem Kern seiner Gedanken, der seine Bedeutung als eines schÚpferischen Denkers ausmacht. Dieser lag in seiner Anschauung und seinem analytischen Studium des Menschen. Dies ganz verstanden, sind wir gerÝstet, jene Nachricht von dem G e s p r È c h z w i s c h e n L e s s i n g u n d J a c o b i im Jahre 1780 kritisch zu wÝrdigen, welches Jacobi aufgezeichnet hat, als das philosophische Testament Lessings, und Ýber welches dann der denkwÝrdige Streit entstand. Jacobi hatte sich Lessing angekÝndigt, um in ihm „die Geister mehrerer Weisen zu beschwÚren, die er Ýber gewisse Dinge nicht zur Sprache bringen kÚnnte“. Es war also auf eine Diskussion abgesehen, in welcher jedenfalls Spinoza eine hervorragende Rolle spielen sollte. Ich lasse Jacobi erzÈhlen: „Meine Reise kam zustande und den 5. Juli nachmittags hielt ich Lessing zum erstenmal in meinen Armen.“ Er blieb zu WolfenbÝttel als Lessings Gast. Wie dieser am folgenden Morgen auf sein Zimmer trat, gab Jacobi ihm Goethes „Prometheus“ zu lesen. Lessing: „Ich habe kein •rgernis genommen; ich habe das schon lange aus der ersten Hand. Der Gesichtspunkt, aus welchem das Gedicht genommen ist, ist mein eigener Gesichtspunkt. Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr fÝr mich. OEn kai` pa˜n. Ich weiß nichts anderes. Dahin geht auch dies Gedicht und ich muß bekennen, es gefÈllt mir sehr.“ Da hatte ihn Jacobi offenbar, wo er wollte. Er machte einen Sprung, um bei seinem Spinoza anzulangen. „Da wÈren Sie ja“ – sagt er – „mit Spinoza ziemlich einverstanden?“ Lessing: „Wenn ich mich nach jemand nennen soll, ich weiß keinen anderen.“ Aber dann gleich – als Jacobi hervorbricht, ein wie schlechtes Heil in Spinoza sei – mit der großartigen NachlÈssigkeit, die sein VerhÈltnis zu metaphysischen Begriffen bezeichnet, so oft er sich metaphysischen SchwÈrmern gegenÝber sah: „ja, wenn Sie wollen – und doch! – wissen Sie etwas Besseres?“ Das heißt doch wohl: solange wir keine gute Metaphysik haben – und wer weiß, ob der menschliche Kopf fÝr eine solche gemacht ist? – dÝnkt mich die Spinozas die beste. Sie wurden unterbrochen. Am folgenden Tag nahmen sie in Jacobis Zimmer das GesprÈch wieder auf. Ich glaube nicht, daß Jacobis Bericht Ýber den Anfang desselben genau ist: „Ich bin gekommen“ – sagt Lessing – „Ýber mein OEn kai` pa˜n mit Ihnen zu reden. Sie erschraken gestern.“ Im Verlauf sagt er weiter: „Es gibt keine andere Philosophie als die Philosophie des Spinoza“, und als Jacobi bemerkt: „der Determinist, wenn er bÝndig sein will, muß zum

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Fatalisten werden: hernach gibt das Ýbrige sich von selbst“, fÈhrt Lessing fort: „ich merke, wir verstehen uns.“ Wie er selber aber sich zum Determinismus verhielt, spricht er aufs stÈrkste aus: „Ich merke Sie hÈtten gern Ihren Willen frei. Ich begehre keinen freien Willen.“ Und dann als Jacobi sich scharf gegen den Determinismus wendet: „Sie drÝcken sich beinahe so herzhaft aus wie der Reichstagsschluß zu Augsburg; aber ich bleibe ein ehrlicher Lutheraner und behalte den mehr viehischen als menschlichen Irrtum und GotteslÈsterung, daß kein freier Wille sei.“ Also die weitere Frage an das GesprÈch ist, wie Lessing sich dieses aus der Einsicht in die Unfreiheit des Menschen folgende „All-Eine“ dachte. Seine •ußerungen sind: „Spinoza war weit davon entfernt, unsere elende Art nach Absichten zu handeln fÝr die hÚchste Methode auszugeben und den Gedanken obenanzusetzen.“ „Es gehÚrt zu den menschlichen Vorurteilen, daß wir den Gedanken als das Erste und Vornehmste betrachten und aus ihm alles herleiten wollen; da doch alles, die Vorstellungen mit einbegriffen, von hÚheren Prinzipien abhÈngt. Ausdehnung, Bewegung, Gedanke sind offenbar in einer hÚheren Kraft gegrÝndet, die noch lange nicht damit erschÚpft ist.“ Dazu Jacobis Bericht: „Wenn sich Lessing eine persÚnliche Gottheit vorstellen wollte, so dachte er sie als die Seele des Alls und das Ganze nach der Analogie eines organischen KÚrpers. Man kÚnnte sich von der innerlichen ³konomie eines solchen Wesens mancherlei Vorstellungen machen.“ So spielte Lessing mit dem Gedanken, Leben und Tod der Individuen wie Expansion und Kontraktion vorzustellen. „Mit der Idee eines persÚnlichen, schlechterdings unendlichen Wesens, in dem unverÈnderlichen Genusse seiner allerhÚchsten Vollkommenheit, konnte sich Lessing nicht vertragen. Er verknÝpfte mit derselben eine solche Vorstellung von unendlicher Langeweile, daß ihm angst und weh dabei wurde. Eine mit PersÚnlichkeit verknÝpfte Fortdauer des Menschen nach dem Tode hielt er nicht fÝr unwahrscheinlich. Er sagte mir, er hÈtte im Bonnet, den er eben jetzo nachlÈse, Ideen angetroffen, die mit den seinigen Ýber diesen Gegenstand und Ýberhaupt mit seinem System sehr zusammentrÈfen.“ Dies der Inhalt des GesprÈches. Derselbe war so abweichend von den bisherigen Vorstellungen Ýber Lessings Philosophie, daß gerade seine nÈchsten Freunde, Mendelssohn voran, am schÈrfsten abgestoßen wurden. Konnte er echt sein? Niemand zweifelte; gerade Mendelssohn bezeugte, es sei als hÚre man die beiden reden. Aber vielleicht sprach hier Lessing gar nicht seine wahre Meinung aus? Mendelssohn berief sich auf Lessings Paradoxie; ihm erschienen dessen •ußerungen als „witzige EinfÈlle“, mit denen er Jacobi unterhalten und von denen „schwer zu sagen, ob sie SchÈkerei oder Philosophie sein sollen“. Wie also sollen wir uns zu diesem seltsamen Dokument verhalten? Keinesfalls dÝrfen wir uns die abstrakte Frage, ob Lessing wirklich ein Spinozist ge-

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wesen, wie Jacobi behauptete, vorlegen. Auf diese wird man unter allen UmstÈnden mit nein antworten mÝssen. Wir werden vielmehr die einzelnen, mit besonnener Kritik im Geiste eines GesprÈches verstandenen •ußerungen, die Jacobi Ýberliefert, mit Lessings sonstigen Ansichten vergleichen mÝssen. Ich gehe von einer Nachricht, welche noch nicht methodisch ausgebeutet worden ist, aus, da sie zunÈchst den ganzen Zusammenhang des GesprÈches, also die Hauptsache in Ýberraschender Weise bestÈtigt. In der Biographie Lessings von seinem Bruder findet sich der erwÈhnte treffliche Bericht von Klose Ýber den Breslauer Aufenthalt desselben. „Desgleichen“ – heißt es darin – „wurde Spinozas Philosophie der Gegenstand seiner Untersuchungen. Er las diejenigen, welche ihn hatten widerlegen wollen, worunter Bayle nach seinem Urteil derjenige war, der ihn am wenigsten verstanden hatte. D i p p e l war ihm der, welcher in des Spinoza wahren Sinn am tiefsten eingedrungen. Doch hat er hier nie das mindeste wie gegen Jacobi auch gegen seine Vertrautesten geÈußert.“ Und wie verstand Dippel den Spinoza, er der nach Lessings Urteil von allen Gegnern des Philosophen – und das hieß ja damals so viel als von allen so ziemlich, die Ýber Spinoza geschrieben hatten – ihn am besten verstand? Man sollte denken, diese Frage hÈtte sich, angesichts des leidenschaftlich verhandelten Problems vom Spinozismus Lessings, sofort aufgedrÈngt. Niemand hat sie gestellt. Dippel erklÈrt: Die Leugnung der menschlichen Freiheit ist der springende Punkt, aus dem, Konsequenz an Konsequenz geschlossen, der Spinozismus sich bilden muß. Diese Leugnung trat zuerst in dem prÈdestinatianischen Dogma der reformierten Kirche hervor, damals als eine Sekte derselben die Notwendigkeit noch Ýber den SÝndenfall hinausschob. „So weit hatte die Lehre von der fatalen Notwendigkeit die Stufen einer unvermeidlichen und fatalen Konfusion erreicht, da schÈrfere Vernunftgeister diese pedantischen Dispute der Priester in reifere Àberlegung zogen.“ Diese schlossen: da die zweite Ursache, der menschliche Wille, aller AktivitÈt sich selbst zu determinieren beraubt sei, so mÝsse man Gott in RÝcksicht seiner Gebote der Heuchelei beschuldigen, indem man ihn jenes BÚse eifrig verbieten lasse, dessen Urheber er sei, oder man mÝsse glauben, daß die Religion sowie alle Gesetze der Politik der Fund kluger Leute gewesen. So sei der Religionsbegriff von Hobbes und Spinoza entstanden. Und zugleich der Gottesbegriff. Denn auf diesen Gutes wie BÚses hervorbringenden Gott kÚnne „das Denkbild, daß er heilig und gut sei“, nicht mehr angewandt werden. Die letzte Konsequenz zog „der dritte Gaukler“ – Spinoza. „Dieser Dornbusch oder Spinoza sah alsobald, daß es gleichviel gesagt sein wÝrde, Kreaturen zu denken, welche unter der leitenden fatalen Direktion der ersten bewegenden Ursache stÈnden oder die erste bewegende Ursache selbst als das Wesen aller sogenannten Kreaturen anzugeben.“

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Demnach erkannte er in diesen Kreaturen nichts als „Weisen und Stellungen des gÚttlichen Wesens“. Also der Hauptgedanke des GesprÈches zwischen Jacobi und Lessing ist anderweitig begrÝndet. Es ist dargetan worden, daß Lessing Determinist war; als solcher stellt er sich in den ZusÈtzen zu den AufsÈtzen Jerusalems wie im GesprÈch mit Jacobi offen dar. Es ist dargetan worden, daß Lessing den Schluß Dippels aus der Notwendigkeit der menschlichen Handlungen darauf, daß dieselben in der ersten Ursache gegrÝndet seien, und hieraus auf eine verÈnderte Anschauung dieses ersten Grundes, welcher die Aktionen aller einzelnen Menschen in sich faßt, fÝr das wahre Fundament des Spinozismus hielt: das ist derselbe Gedankengang, in welchem Jacobi und Lessing bei jenem GesprÈch zusammentreffen. Ja wenn man bisher wohl geneigt war zu glauben, Jacobi habe Lessing diesen seinen Gedankengang untergeschoben, so kÚnnte man nunmehr eher dem Gedanken Raum geben, Lessing habe auf diesen Gedankengang Jacobis einen bestimmenden Einfluß ausgeÝbt, da derselbe vor diesem GesprÈch nirgend in Jacobis Schriften zu finden ist. Doch diese Frage wÝrde hier zu weit fÝhren, zumal dabei auch die Einwirkung von Hemsterhuys eingreift. FÝr uns fragt sich vielmehr weiter: welches ist die genauere Vorstellung Lessings von diesem alle Aktionen der einzelnen Menschen umfassenden und determinierenden Grunde der Dinge? Und hier bieten sich einige ineinandergreifende •ußerungen dar, welche die eben hingestellte Anschauung bestÈtigen und ihre nÈhere Bestimmung gestatten. Es ist ein kleiner Aufsatz Lessings vorhanden: „Ýber die Wirklichkeit der Dinge außer Gott“, welcher eine Widerlegung der dualistischen Weltansicht aus den Voraussetzungen von Leibniz versucht; er ist wohl aus der Breslauer Zeit; aber seine Àbereinstimmung mit § 73 der „Erziehung“ und mit dem Bericht Jacobis Ýber sein GesprÈch versichern uns, daß die hier geÈußerten Àberzeugungen auch die seines letzten Lebensjahres waren. HÚren wir ihn also. Nichts ist außer Gott. Es gibt kein Dasein, das von Gott unterschieden wÈre. „Alle Dinge sind in ihm wirklich.“ Und zwar lÈßt sich das VerhÈltnis des einzelnen Dinges zu diesem „All-Einen“ folgendermaßen vorstellen: „die Begriffe, die Gott von den wirklichen Dingen hat, sind diese wirklichen Dinge selbst“. „Sagen, daß das Ding auch außer seinem Urbild in Gott (der Vorstellung desselben in Gott) existiere, heißt dessen Urbild auf eine ebenso unnÚtige als ungereimte Weise verdoppeln.“ So entsteht ein ganz verÈnderter Begriff der Einheit Gottes: diese Einheit muß eine transzendentale sein, welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt. Lessing stellt das VerhÈltnis der Dinge zu Gott nach der Analogie des VerhÈltnisses unserer Vorstellungen zu unserem vorstellenden Ich vor. Es ist dieselbe Analogie, durch welche noch das System

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Lotzes das VerhÈltnis Gottes zu den wirklichen Dingen aufzuklÈren unternahm. Dieser Panentheismus Lessings ist ganz verschieden von der Lehre, welche Jacobi dem Spinoza zuschrieb. Lessing war nicht Spinozist im Verstande Jacobis, sondern, soweit er es Ýberhaupt war, in seinem eigenen und – in einem richtigeren und tieferen. Aus Jacobi selber sind wir das zu beweisen imstande. Er gibt die Notiz, daß „Lessing als das dunkelste im Spinoza erwÈhnte, was auch Leibniz so gefunden und ganz so verstanden hÈtte, Theodizee § 173“. Und was ist dieses? Ich Ýbersetze: „Spinoza scheint ausdrÝcklich eine blinde Notwendigkeit gelehrt zu haben, indem er dem Grund der Welt Verstand und Willen absprach. Es ist wahr, daß Spinozas Meinung Ýber diesen Punkt etwas Dunkles hat. Denn er spricht Gott das Denken zu, nachdem er ihm den Verstand abgesprochen hat.“ Spinoza scheint in der Tat einen von der TotalitÈt der denkenden Individuen unterschiedenen unendlichen Intellekt in Gott anzunehmen, so hat ihn denn auch Lessing aufgefaßt. Und daher mÚchte auch das MißverstÈndnis Spinozas, wie es in der obigen angeblichen •ußerung Lessings liegt: „Ausdehnung, Bewegung, Gedanke sind offenbar in einer hÚheren Kraft gegrÝndet“ vielmehr eine falsche Erinnerung Jacobis, mit dessen bekannten ersten Thesen Ýber Spinoza es Ýbereinstimmt, als ein echtes Wort Lessings sein. An diesem Punkt lÈßt sich Ýberhaupt der Bericht Jacobis nicht mehr mit den sonstigen •ußerungen Lessings in Zusammenhang bringen, und so lÈßt sich ein sicheres VerstÈndnis der Worte Lessings Ýber die Expansionen und Kontraktionen, die hÚhere Kraft usw. nicht gewinnen. Ja indem man bemerkt, daß Lessing Jacobi ruhig sich hinsichtlich des Ursprungs der prÈstabilierten Harmonie in Spinoza auf Mendelssohn berufen lÈßt, wÈhrend er selber doch diesem MißverstÈndnis gegenÝber den wahren Spinoza lÈngst hergestellt hatte, wenn man bemerkt, daß er den in dem oben benutzten Aufsatz versuchten Beweis des Panentheismus aus den Begriffen von Leibniz ebensowenig geltend macht: so entsteht der Verdacht, daß er hier sich nicht mehr von Jacobi ausholen ließ, sondern ihn ausholte, und daß Jacobi aus hingeworfenen Wendungen hier mit seiner lebhaften Darstellungsgabe ganz anderes gemacht hat, als er durfte. Wir gehen weiter. Indem wir uns diese allumfassende Gottheit vorstellen, in welcher die einzelnen Individuen wie Begriffe in einem Geiste enthalten sind, erhebt sich von neuem jene Frage, welche sich schon gegenÝber der Annahme eines unfreien Willens hervordrÈngte; wir bedÝrfen einer Theodizee; wie sollen wir das BÚse begreifen in einer Welt, die keinen Teil hat, der nicht in Gott ist? Das Problem, welches der Determinismus aufgibt, hat sich noch geschÈrft. Und wenn Lessing in den Bemerkungen zu Jerusalem von einem „zweiten, gemeine Au-

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gen befremdenden System“ sprach, welches dieses Problem lÚse: nun ist die Zeit zu erklÈren, welches System er damit gemeint haben kann. 6. Ich denke, in diesem Zusammenhang kann kein Zweifel darÝber bestehen. Der Spinozismus ist diese LÚsung nicht; er gerade gibt ja vielmehr dem Problem seine ganze SchÈrfe. Die LÚsung liegt in Lessings merkwÝrdiger Theorie der S e e l e n w a n d e r u n g , welche nunmehr als ein weiterer kritisch gesicherter Zug in seinem Weltbilde hinzutritt. Und zwar als ein Zug von der tiefgreifendsten Bedeutung. Lessing dachte sich die Gottheit wie ein unendliches vorstellendes Wesen, in welchem alle realen Dinge den unendlich vielen einzelnen Vorstellungen zu vergleichen wÈren. Es gab hier nichts außerhalb der gÚttlichen Notwendigkeit, nichts, dem eine WillkÝr beiwohnte. Aber das Lebensideal Lessings, der selbstÈndige Mensch, welcher in wachsender AufklÈrung zu steigender Vollkommenheit des Handelns voranschreitet, sucht in diesem allumfassenden gÚttlichen Wesen seinen Platz. Es ist vÚllig entgegengesetzt dem spinozistischen Lebensideal des in der adÈquaten Erkenntnis der Substanz alles unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit anschauenden und so von allen Affekten befreiten Menschen. Das Ideal Spinozas gehÚrt noch dem pantheistischen System des Orients an, als dessen große, auf den Gedanken gegrÝndete okzidentale Zusammenfassung. Lessing erÚffnet die lebensfreudige, vom Drang des Handelns bewegte Weltansicht, die in Hegel und Schleiermacher ihren ersten systematischen Abschluß erhielt. In der Einheit des Weltganzen bewahrt sie doch zugleich das volle Recht der IndividualitÈt. Und zwar vermittelst des Gedankens der Entwickelung, durch welchen Leibniz diese große deutsche Bewegung wissenschaftlich vorbereitet hat. An die Stelle des Dualismus zwischen Welt und Gott, gut und bÚse, diesseits und jenseits, Himmel und HÚlle stellt Lessing, er zuerst ganz offen und ganz konsequent, den Gedanken einer stetigen Entwickelung. Kein denkendes Individuum in diesem Weltganzen darf, ohne Schuld an seiner Determination wie es ist, verloren gehen. Eben dieselbe Bahn einer stetigen Entwickelung, welche das Menschengeschlecht durchlÈuft, ist auch die jedes einzelnen Individuums. Unser Auge, das seine von Geburt und Tod umgrenzte Erscheinung umfaßt, sieht so nur Einen Punkt seiner Bahn. Aber diese Bahn verlÈuft nicht in ein Jenseits; ihre Punkte liegen alle nebeneinander in diesem Weltall, ja vielleicht auf dieser Erde selber. „Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf e i n m a l so viel weg, daß es der MÝhe wiederzukommen etwa

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nicht lohnet? Darum nicht? – Oder weil ich es vergesse, daß ich schon dagewesen? Wohl mir, daß ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen ZustÈnde wÝrde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwÈrtigen zu machen erlauben. Und was ich auf itzt vergessen m u ß , habe ich denn das auf ewig vergessen? Oder weil so zu viel Zeit fÝr mich verloren gehen wÝrde? – Verloren? – Und was habe ich denn zu versÈumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“ Hiermit stehen wir an Lessings letztem Worte gegenÝber dem abstrakten Dualismus der theologischen AufklÈrung. Man mag auch hier gegenwÈrtig einflußreiche Systeme vergleichen, um zu erkennen, daß Lessing schlechterdings uns noch ein GegenwÈrtiger ist. Schopenhauer hat die Seelenwanderungslehre wieder aufgenommen. Und Lotze sagt: „Die Ahnung, daß wir nicht verloren sein werden fÝr die Zukunft, daß die, welche vor uns gewesen sind, zwar ausgeschieden sind aus dieser irdischen, aber nicht aus aller Wirklichkeit, und daß, in welcher geheimnisvollen Weise es auch sein mag, der Fortschritt der Geschichte doch auch fÝr sie geschieht: dieser Glaube erst gestattet uns von einer Menschheit so zu sprechen, wie wir es tun.“ Also auch hier der Grundgedanke Lessings, nur mit ausdrÝcklicher Ablehnung, das Mitfortleben des Individuums mit dem stetigen Fortschritt der Menschheit als Seelenwanderung auf unserer Erde zu denken. Wie begrÝndete Lessing diese Notwendigkeit, die unendliche, stetige Entwickelung der Individuen als ein Wiedererscheinen unter kÚrperlichen Bedingungen, in Geburt und Tod, zu denken? Warum kÚnnen diese Individuen nicht in ganz anderer Form an der Entwickelung der Menschheit teilnehmen? Auch hier ist eine wichtige Notiz vorhanden, die niemand benutzt hat. Lessing sagt, er habe im Bonnet Ideen angetroffen, die mit den seinigen Ýber eine mit PersÚnlichkeit verknÝpfte Fortdauer des Menschen und Ýberhaupt mit seinem System sehr zusammentrÈfen. Es ist sonderbar, wie man Bonnets Palingenesie kennen kann und Lessings Aufsatz „daß mehr als fÝnf Sinne fÝr den Menschen sein kÚnnen“ lesen, ohne erstlich die sehr ernstliche Meinung des letzteren Aufsatzes nunmehr klar zu verstehen, dann aber auf eine Vermutung zu geraten, die freilich unbeweisbar ist, die aber mir wenigstens erst diesen Aufsatz erklÈrt. Lessing hat Bonnet gelesen. Er hat eine Theorie der Sinne aufgestellt, welche mit der Bonnets genau Ýbereinstimmt. Es ist bisher immer als eine sonderbare Paradoxie erschienen, wie Lessing gerade auf diesen ihm so fern liegenden Gedanken geraten sei, der bei ihm vÚllig in der Luft schwebe. Die LÚsung ist einfach: mit seinen Ideen Ýber Seelenwanderung las er Bonnet, und er fand hier, mit dem ganzen Apparat der Naturforschung ausgerÝstet, einen Gedanken, welcher dieser Lehre einen wissenschaftlichen Halt zu geben versprach. So erlangte der Gedanke Einfluß auf die nÈhere Ausbildung seiner Hypothese. Und da Bonnet eben wie er selber ein SchÝler von Leibniz war, so

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verschmolzen sich die Gedanken beider leicht genug. So entstand jener paradoxe Aufsatz. Er gehÚrt also wohl Lessings letzter Zeit an. Nur Ein Gedanke – mÚge man dies doch klar fassen! – kann uns zwingen, Ýber die durch ethische Motive begrÝndete Anschauung einer unendlichen Bahn des voranschreitenden Individuums, welche mit der des Menschengeschlechts nicht außer BerÝhrung steht, fortzugehen zu der Idee eines Wiedererscheinens der Seele in immer neuen LebenslÈufen: der Gedanke, daß die Empfindungs- und Denkprozesse unweigerlich an physiologische Bedingungen geknÝpft sind. Wenn dies bewiesen wÈre, so kÚnnte zugleich kÝnftig von Fortdauer der Seele nur noch in dieser Form die Rede sein. Und das ist nun die Voraussetzung, von welcher Bonnet ausgeht. Physiolog von Metier, mitten in der Entwickelung des franzÚsischen Materialismus stehend, leugnete er nicht die Voraussetzung, daß die Funktionen des Denkens und Empfindens an die physiologischen VorgÈnge im Gehirn gebunden erscheinen, aber er entzog sich der materialistischen Konsequenz dieses Satzes, indem er auf eine alte Anschauung zurÝckging, welche ebenfalls in dem BedÝrfnis, das Fortleben der Seele anschaulich mit den Organisationen unserer Erde verknÝpft zu sehen, gegrÝndet war. Und in demselben Geiste sagt Lessing, daß die Seele, erst wenn sie mit Materie verbunden ist, wenn sie einen Sinn hat, fÈhig ist Vorstellungen zu haben. An diese Grundlage der modernen Seelenwanderungslehre schließt sich konsequent der folgende Gedanke Bonnets. Empfindung und Vorstellung ist an einen KÚrper gebunden und schlechthin nur durch diese Verbindung mÚglich. Ihre HÚhe dependiert zunÈchst von der Zahl der Sinne. Denn von ihnen ist die Zahl der empfindbaren QualitÈten, die Zahl und Dauer der Empfindungen abhÈngig. „Wir haben nur durch die Sinne Ideen. Das Maß unserer ErkenntnisfÈhigkeit ist demnach begrenzt durch unsere Sinne; unsere Sinne sind es durch ihre Struktur, und diese ist es wiederum durch die Stelle, welche wir im Weltganzen einnehmen.“ Und so enthÈlt jedes animalische Wesen eine MÚglichkeit der PerfektibilitÈt in der Zahl und der Natur seiner Sinne. Diese wachsend denken, das heißt die Vervollkommnung wachsend denken. „Der Keim eines neuen KÚrpers in uns kann die organischen Elemente ganz neuer Sinne enthalten. Diese neuen Sinne werden erscheinen in KÚrpern von einer uns bisher unbekannten Beschaffenheit. Wir kennen die in der Natur verbreiteten KrÈfte nur durch ihre Beziehung zu den einzelnen Sinnen, auf welche sie wirken. Wieviel KrÈfte mag es geben, deren Existenz wir nicht einmal ahnen, weil es keine Beziehung zwischen den Ideen gibt, die wir durch unsere fÝnf Sinne erlangen, und denen, welche wir durch andere Sinne erlangen kÚnnten.“ Nicht in diesem Zusammenhang, aber an anderer Stelle spricht Bonnet auch bereits die Phantasie Lessings von der elektrischen und magnetischen Materie aus.

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Das war der Gedanke, welchen Lessing in sein System aufnahm. „Jedes StÈubchen der Materie kann einer Seele zu einem Sinne dienen.“ „StÈubchen, die der Seele zu einerlei Sinn dienen, machen homogene Urstoffe.“ „Ein organischer KÚrper ist die Verbindung mehrerer Sinne.“ „Wenn man wissen kÚnnte, wie viele homogene Massen die materielle Welt enthielte, so kÚnnte man auch wissen, wie viele Sinne mÚglich wÈren.“ Und nun fÝhrt er aus, wie z. B. die elektrische, wie die magnetische Materie homogene Massen seien, denen gegenwÈrtig kein Sinn entsprÈche, wie also eine Erweiterung der Erscheinungswelt durch die herrlichsten PhÈnomene dem weiter entwickelten Individuum bevorstehe. TrÈumereien? Sicher! Sie haben nur eine sehr reale Grundlage an dem Gedanken, daß menschliches Empfinden und Vorstellen physiologisch bedingt sei, daß eine wachsende Erkenntnis fÝr diese menschliche Seele daher nur durch neue, erweiterte physiologische Bedingungen des Fortlebens mÚglich sein wÝrde. Dies also ist die Lehre Lessings von der Palingenesie als der einzigen Form, in welcher Menschenseelen ihre Bahn vollenden kÚnnen. Man gebe ihr diese ihre ernste BegrÝndung wie sie vor Lessings Geiste stand: dann spotte man, wenn man kann. Wenn auch nur in Einem ernsten Forscher, der sich von dem notwendigen Rapport unserer intellektuellen Prozesse mit physiologischen Prozessen Ýberzeugt hat, das GefÝhl geweckt wÝrde, daß die gÚttliche ³konomie der Welt auch so noch unzÈhlige, unbegreifliche Wege habe, das unglÝcklichste, kÚrperlich und geistig verwahrloseste Individuum seine unendliche Bahn zu innerem Frieden durchlaufen zu lassen: wer dÝrfte dann spotten? Wir kommen zum letzten Zug in Lessings Weltbilde: dem sich nunmehr ergebenden Zusammenhang dieser in Gott gegrÝndeten, von ihm umfaßten unendlichen FÝlle sich entwickelnder Wesenheiten. Lessing scheut sich nicht, wenigstens in der Èlteren Dramaturgie, hier von einem Plan zu reden, von dem wir nur wenige Glieder kennen, ja die Gottheit mit einem schÚpferischen Genie zu vergleichen. In diesem Sinne ist es dann gedacht, wenn er sich das Tier aus der Zusammenstellung seiner Sinne in einer bestimmten Art konstruiert vorstellt. Wenn er es wagt, dem Plan dieses „SchÚpfers ohne Namen“ in dem Fortschritt der religiÚsen Ideen nachzuspÝren. Wenn er im „Nathan“ die Form, in welcher die Gottheit in ihrem Plane das Schicksal des Individuums vorgesehen hat, so ausdrÝckt: „Sieh! Eine Stirn, so oder so gewÚlbt; Der RÝcken einer Nase, so vielmehr Als so gefÝhret; Augenbraunen, die

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Gotthold Ephraim Lessing.

Auf einem scharfen oder stumpfen Knochen So oder so sich schlÈngeln; eine Linie Ein Bug, ein Winkel, eine Falt’, ein Mal, Ein Nichts, auf eines wilden EuropÈers Gesicht: – und du entkommst dem Feu’r, in Asien! Das wÈr’ kein Wunder, wundersÝcht’ges Volk?“ Wir sind am Ende. Ich denke der Leser wird uns Dank wissen, daß er nicht mit der Streitfrage geplagt wird, wieweit Lessing Leibnizianer, wieweit Spinozist war. Es ließe sich darÝber sehr gelehrt reden. Es genÝgt zu wissen, daß Lessing Leibniz den Gedanken der Entwickelung, der Stetigkeit des Weltzusammenhanges, der VerknÝpfung vorstellender Monaden mit materiellen Monaden, eines Zusammenhangs kleinster Teile, in welchem das Gute verwirklicht wird, verdankt, von Spinoza dagegen die strenge Konsequenz des Monismus hat. Und auch mit der Frage, ob Lessing Pantheist war, bemÝhen wir den Leser nicht; mag es gelten, wenn man ihn lieber einen Panentheisten nennt. U n s e r Lessing ist ein Kopf, der vom Studium der moralischen Welt aus in strengem Zusammenhang ein neues Lebensideal entwickelte und den Zusammenhang der Welt dementsprechend formte. Dieser Lessing war auch Leibniz gegenÝber selbstÈndig.

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Noch sei eine Bemerkung gestattet. Die Untersuchung Ýber Lessing hat zugleich ein Ýber das Studium dieses Mannes hinausgehendes Ziel vor Augen gehabt. Ein Ziel, grÚßer als daß Einzelforschung mehr als einen Beitrag es zu erreichen geben kÚnnte. Es handelt sich um einen notwendigen Fortschritt in der Analyse der Entstehung unserer neueren deutschen Literatur Ýber die bisherigen Behandlungen hinaus. Denn man untersuche diese Behandlungen doch, ob sie, auch die besten, mehr als ein Chaos zusammenstoßender Einwirkungen geben, deren Produkt dann unsere neuere Literatur sein soll. Da war ein sogenanntes kritisches reformatorisches Genie, da war ein Genie lyrischer Empfindung, ein Kopf von anmutiger Sinnlichkeit, allerhand inferiore KÚpfe: man sieht das durcheinanderwirbeln: unsere Literatur entstand. Von dem so interessanten Gottsched-Bodmerschen Streit zu schweigen, welcher sonderbarerweise die grÚßten Folgen gehabt haben soll. Nicht so ist unsere Literatur entstanden, die schon heute von Lessings Geburt bis zu dem Tode Hegels und Schleiermachers als Ein Zusammenhang uns erscheint. Sie entsprang aus einem schÚpferischen Trieb, welcher ihren Charakter bestimmte. Dieser lag in dem Drang der Nation, ein neues Lebens-

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V. Die Weltanschauung Lessings.

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ideal zu gestalten, der in einer Reihe historischer Bedingungen gegrÝndet war. Dieser Drang war die stetig fortwirkende schÚpferische Macht in dem Chaos von KrÈften, welche entbunden wurden. Hieraus folgt nun, daß Lessing der wahre TrÈger des fortschreitenden Geistes unserer Literatur ward, so mÈchtige Wirkungen auch von Klopstock und Wieland ausgingen auf die Fortbildung unserer Sprache, die Steigerung des poetischen GefÝhls und der Phantasie, auf die dichterische Form, die Lyrik und den Roman. Es ergibt sich weiter, daß die großen dichterischen Konzeptionen von bleibender Art zunÈchst Darstellungen dieses neuen Lebensideals waren, daß sie als solche, inhaltlich, wie eine neue Philosophie wirkten. So die „Minna von Barnhelm“, „Emilia“, „Nathan“, dann „GÚtz“, die „RÈuber“, „Werther“, weiterhin „Faust“, „Wilhelm Meister“, „Iphigenie“. Es folgt dann, daß dies Lebensideal, wie es unter den Bedingungen einer Ýberreifen Begriffskultur auftrat, sich zugleich in einer wissenschaftlichen Literatur aufzuklÈren und zu verteidigen unternahm. Daher der eigene Charakter unserer Literatur, daß die Dichter zugleich als wissenschaftliche Forscher auftreten, daß ihre poetische Entwickelung zugleich durch die Entwickelung ihrer Forschungen bedingt ist. Die Schranken, in denen Lessings Wirken verlaufen ist, waren die seiner Zeit. Das Geschichtliche war dem Sohne der AufklÈrung nur wechselndes Gewand der Ýberall und immer gleichen Menschennatur. So sah er noch in allen Religionen nur Stufen, in denen sich die ideale Religion der Menschlichkeit realisiert, die einst alle echten wahrhaftigen Menschen unter sich vereinigen wird. Er sah noch nicht, daß jeder positive Glaube, als Symbol des religiÚsen Erlebnisses, seinen bodenstÈndigen Eigenwert hat. Sein Lebensideal war einfÚrmig und abstrakt-moralisch, seine Auffassung der Dichtung verstandesmÈßig und regelhaft. Die Aufgabe war und sie ist es noch heute, die Wahrheit, die in diesem Standpunkt der AufklÈrung liegt, zu versÚhnen mit der historischen Weltansicht, mit der Erkenntnis der RelativitÈt alles Daseins. Das Menschliche ist nirgend ganz, und es ist doch Ýberall. Es kann nie durch Begriffe erschÚpft werden, und doch gewahren alle Ideale der Menschheit, alle Lebensansichten irgendeine Seite dieses UnergrÝndlichen. Das sind die Momente, welche Lessings geschichtliche Stellung bestimmen. Lessing ist der unsterbliche FÝhrer des modernen deutschen Geistes. Der große KÚnig, Lessing und der jugendlich-mÈnnliche Kant stehen nebeneinander. Ein heiter-klares kÝhles Morgenlicht umgibt sie. Verstandesheller Wille hat in ihnen den gelehrten, theologischen, pietistischen Dunstkreis des deutschen geistigen Lebens zerstreut. Und wer weiß, ob wir nicht aus der GefÝhlsproblematik Rousseaus, Goethes und der Romantik, der alten wie der neuesten, zu einer mÈnnlicheren, hÈrteren und verstandeshelleren Art, Ýber Arbeit, Pflicht, Liebe, Ehe, Religion und Staat zu denken, bald fortschreiten werden, fort-

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Gotthold Ephraim Lessing.

schreiten mÝssen? Ob wir nicht manches von dem zurÝckholen mÝssen, was wir von den Idealen der AufklÈrung aufgegeben haben? Dann werden der KÚnig, der Philosoph und der Dichter-Schriftsteller der AufklÈrung von uns tiefer verstanden, wÈrmer geliebt und besser genÝtzt werden, als seit Herder, Goethe und Schiller geschehen ist.

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GOETHE UND DIE DICHTERISCHE PHANTASIE. Welcher Unsterblichen Soll der hÚchste Preis sein? Mit niemand streit’ ich, Aber ich geb’ ihn Der ewig beweglichen Immer neuen, Seltsamen Tochter Iovis, Seinem Schoßkinde, Der Phantasie. Goethe.

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Die Phantasie des Dichters, ihr VerhÈltnis zu dem Stoff der erlebten Wirklichkeit und der Àberlieferung, zu dem, was frÝhere Dichter geschaffen haben, die eigentÝmlichen Grundgestalten dieser schaffenden Phantasie und der dichterischen Werke, welche aus solcher Beziehung entspringen: das ist der Mittelpunkt aller Literaturgeschichte. An keinem neueren deutschen Dichter wird diese zentrale Stellung der Phantasie im dichterischen Schaffen so deutlich als an Goethe, und keiner fordert zu seinem VerstÈndnis so die Einsicht in das Wesen der Phantasie. Dies ist in der Stellung begrÝndet, die Goethe im Zusammenhang der europÈischen Literatur einnimmt. Ich habe am Eingang dieses Bandes die Bewegung der europÈischen Literatur geschildert, die von der Entstehung der modernen Wissenschaft bestimmt war. Beinahe anderthalb Jahrhunderte hatte dieselbe gedauert, als Goethe geboren wurde. Unter ihrem Einfluß ist er aufgewachsen, und die Summe ihrer Ergebnisse wirkte in ihm fort. Und nun umgab ihn die deutsche AufklÈrung; als er zu dichten begann, stand Lessing auf der HÚhe seines Wirkens. Auch ihre eigenste Richtung, die durch unsere ganze Geschichte bestimmt war, hat er in sich aufgenommen: die Vertiefung des Menschen in sich selbst und in das Ideal seines allgemeinen Wesens. Aber darin lag nun seine geschichtliche Mission, daß er, festwurzelnd in den großen Errungenschaften der AufklÈrung, ein neues Zeitalter der Dichtung herauffÝhren sollte. In Deutschland entstand diese neue Zeit; Goethe und die Romantik als ein Unzertrennliches halfen Ýberall bei der Befreiung der dichterischen Phantasie von der Herrschaft des abstrakten Verstandes und des von den KrÈften des Lebens isolierten guten Geschmacks. Wer kennt nicht die Vorbereitungen dazu in den verschiedenen LÈndern, die englische Genielehre, Rousseau, Hamann, Herder, Sturm und

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Goethe und die dichterische Phantasie.

Drang? Goethe wurde vorwÈrts getragen von dieser Bewegung. Aber die neue Dichtung selbst war sein Werk. Und der Kampf seiner dichterischen Phantasie mit der AufklÈrung, ja mit dem Geist der damaligen Wissenschaft selbst ist ein Schauspiel ohnegleichen in der Geschichte der Literatur. Es ist daher nach so mannigfachen und bedeutenden Versuchen, Goethe zu verstehen, vielleicht nicht unberechtigt, wenn ich, von allgemeinen SÈtzen ausgehend, in die Kraft und Eigenheit der dichterischen Phantasie Goethes zunÈchst einzudringen suche und erst von den so erworbenen Gesichtspunkten aus dann sein Lebenswerk betrachte. Wissenschaftliche Arbeit, philosophisches Sinnen, TÈtigkeit in der Verwaltung nahmen in diesem Lebenswerk einen breiten Raum ein. Sie fÝllten nicht nur die langen Pausen seines dichterischen Schaffens aus: sie waren ihm unentbehrlich fÝr die Auseinandersetzung mit dem Leben und der Welt, deren er zur ErfÝllung seiner dichterischen Mission bedurfte, und nur die wissenschaftliche Àberwindung der AufklÈrung konnte ihm fÝr seine poetische Welt freie Bahn schaffen. Seine allseitig schaffende Kraft hatte in seiner Phantasie ihren Mittelpunkt. Dies hat er selber Úfters ausgesprochen, am deutlichsten, als er durch den Aufenthalt in Italien und den Verkehr mit Schiller zu klarem Bewußtsein Ýber sich selbst gelangt war. „Ich habe mich“, so drÝckt er 1788 den Inbegriff seiner rÚmischen Erfahrungen Ýber sich selbst aus, „in dieser anderthalbjÈhrigen Einsamkeit selbst wiedergefunden; aber als was? – Als KÝnstler.“ Und in der Periode des gemeinsamen Schaffens mit Schiller entstand dann seine denkwÝrdige Selbstcharakteristik. „Immer tÈtiger, nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb“, so sagt er von sich, „macht den Mittelpunkt und die Base seiner Existenz. Hat man den gefaßt, so lÚsen sich alle Ýbrigen anscheinenden WidersprÝche. Da dieser Trieb rastlos ist, so muß er, um sich nicht stofflos selbst zu verzehren, sich nach außen wenden.“ Aus solchem Streben seiner Bildungskraft, nach außen zu wirken, leitet dies Selbstbekenntnis seine BeschÈftigungen mit der bildenden Kunst, dem tÈtigen Leben, den Wissenschaften ab. Sie erschienen ihm damals, da er glaubte endlich seines wahren Berufs ganz sicher zu sein, als „falsche Tendenzen“. Der objektive Zuschauer wird mit Schiller lieber sagen, sie waren das breite Fundament fÝr ein dichterisches Lebenswerk von ganz neuer Art, das mit der Gestaltung der PersÚnlichkeit unzertrennlich verbunden war. So ist der Platz Goethes nicht unter den großen Naturforschern, Philosophen oder StaatsmÈnnern, er ist neben •schylos, Dante und Shakespeare.

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Poesie ist Darstellung und Ausdruck des Lebens. Sie drÝckt das Erlebnis aus, und sie stellt die Èußere Wirklichkeit des Lebens dar. Ich versuche die ZÝge des Lebens in der Erinnerung meiner Leser wachzurufen. Im Leben ist mir mein Selbst in seinem Milieu gegeben, GefÝhl meines Daseins, ein Verhalten und eine Stellungnahme zu Menschen und Dingen um mich her; sie Ýben einen Druck auf mich oder sie fÝhren mir Kraft und Daseinsfreude zu, sie stellen Anforderungen an mich und sie nehmen einen Raum in meiner Existenz ein. So empfangen jedes Ding und jede Person aus meinen LebensbezÝgen eine eigene Kraft und FÈrbung. Die Endlichkeit des von Geburt und Tod umgrenzten, vom Druck der Wirklichkeit eingeschrÈnkten Daseins erweckt in mir die Sehnsucht nach einem Dauernden, Wechsellosen, dem Druck der Dinge Entnommenen, und mir werden die Sterne, zu denen ich aufblicke, zum Sinnbild einer solchen ewigen, unanrÝhrbaren Welt. In allem, was mich umgibt, erlebe ich nach, was ich selbst erfahren habe. Ich sehe in der AbenddÈmmerung hinab auf eine stille Stadt zu meinen FÝßen; die Lichter, die in den HÈusern nacheinander aufgehen, sind mir der Ausdruck eines geschÝtzten friedlichen Daseins. Dieser Gehalt an Leben in meinem eigenen Selbst, meinen ZustÈnden, den Menschen und Dingen um mich her bildet den Lebenswert derselben, im Unterschied von den Werten, die ihnen durch ihre Wirkungen zukommen. Und dies und nichts anderes ist es, was die Dichtung zunÈchst sehen lÈßt. Ihr Gegenstand ist nicht die Wirklichkeit, wie sie fÝr einen erkennenden Geist da ist, sondern die in den LebensbezÝgen auftretende Beschaffenheit meiner selbst und der Dinge. Hieraus erklÈrt sich, was uns ein lyrisches Gedicht oder eine ErzÈhlung sehen lÈßt – und was fÝr sie nicht existiert. Die Lebenswerte stehen aber in Beziehungen zueinander, die in dem Zusammenhang des Lebens selbst gegrÝndet sind, und diese geben Personen, Dingen, Situationen, Begebenheiten ihre Bedeutung. So wendet sich der Dichter dem Bedeutsamen zu. Und wenn nun die Erinnerung, die Lebenserfahrung und deren Gedankengehalt diesen Zusammenhang von Leben, Wert und Bedeutsamkeit in das Typische erheben, wenn das Geschehnis so zum TrÈger und Symbol eines Allgemeinen wird und Ziele und GÝter zu Idealen, dann kommt auch in diesem allgemeinen Gehalt der Dichtung nicht ein Erkennen der Wirklichkeit, sondern die lebendigste Erfahrung vom Zusammenhang unserer DaseinsbezÝge in dem Sinn des Lebens zum Ausdruck. Außer ihr gibt es keine Idee eines poetischen Werkes und keinen Èsthetischen Wert, den die Dichtung zu realisieren hÈtte. Dies ist das GrundverhÈltnis zwischen Leben und Dichtung, von dem jede historische Gestalt der Poesie abhÈngt.

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Goethe und die dichterische Phantasie.

Da ist es nun die erste und entscheidende Eigenschaft der Dichtung Goethes, daß sie aus einer außerordentlichen Energie des Erlebens erwÈchst. So tritt er in die AufklÈrungsdichtung als ein ganz fremdartiges Element, so daß auch Lessing ihn nicht zu wÝrdigen vermochte. Seine Stimmungen schaffen alles Wirkliche um, seine Leidenschaften steigern Bedeutung und Gestalt von Situationen und Dingen ins Ungemeine, und sein rastloser Gestaltungsdrang wandelt alles um sich in Form und Gebilde. Sein Leben und seine Dichtung sind hierin nicht unterschieden, seine Briefe zeigen diese Eigenschaften gerade so wie seine Gedichte, und dieser Unterschied muß jedem deutlich werden, der diese Briefe mit denen Schillers vergleicht. So trennt sich schon hier Goethes Poesie ganz von der AufklÈrungsdichtung. Im Leben sind die KrÈfte enthalten, welche nun in der Phantasie wirken.

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DICHTERISCHE PHANTASIE. 1. Die P h a n t a s i e tritt uns als ein Wunder, als ein von dem Alltagstreiben der Menschen gÈnzlich verschiedenes PhÈnomen gegenÝber, ist aber doch nur eine mÈchtigere Organisation gewisser Menschen, welche in der seltenen StÈrke bestimmter elementarer VorgÈnge gegrÝndet ist; von diesen aus baut sich dann das geistige Leben seinen allgemeinen Gesetzen gemÈß zu einer ganz von dem GewÚhnlichen abweichenden Gestalt auf. Schon wenn die Wahrnehmung aus gleichzeitigen Empfindungen Gestalten im Raum oder aus ihrer Abfolge Rhythmen, Melodien, Lautgebilde aufbaut, macht sich dabei die Eigenart des Dichters geltend; vor allem wirken in ihm auf die Wahrnehmungsbildung mit ursprÝnglicher Macht seine LebensbezÝge, Stimmungen, Leidenschaften. Die Erinnerungsbilder haben dann in verschiedenen Individuen unter sonst gleichen Bedingungen einen ganz verschiedenen Grad von Helle und StÈrke, von SinnfÈlligkeit und Bildlichkeit. Von den Vorstellungen als farb- und lautlosen Schatten bis zu den im Sehraum bei geschlossenen Augen projizierbaren Gestalten der Dinge und Menschen erstreckt sich eine Reihe ganz verschiedener Formen von Reproduktion. Mit der Begabung fÝr darstellende Poesie ist nun eine außerordentliche FÈhigkeit, reproduzierten oder frei gebildeten Vorstellungen Augenscheinlichkeit und hellste SinnfÈlligkeit zu erhalten oder zu verleihen, verknÝpft. Bedarf doch das in Gestalten Denken des Dichters Ýberall des SinnfÈlligen, der Bewegung von scharf umrissenen Bildern als seiner

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Grundlage. Zugleich verlangt es FÝlle der erworbenen EindrÝcke und VollstÈndigkeit der Erinnerungsbilder: daher sind auch Dichter meist gewaltige ErzÈhler. Welches ist nun das VerhÈltnis zwischen der angesammelten Erfahrung und der frei schaffenden Phantasie, zwischen der Reproduktion von Gestalten, Situationen und Schicksalen und ihrer SchÚpfung? Die Assoziation, welche gegebene Elemente in einer gegebenen Verbindung zur Vorstellung wieder zurÝckruft, und die Einbildungskraft, welche aus den gegebenen Elementen neue Verbindungen herstellt, scheinen voneinander durch die klarste Grenzlinie getrennt. Indem man die wirkliche Beziehung dieser beiden großen psychischen Tatsachen untersucht, gilt es, die deskriptive Methode ohne jede Einmischung erklÈrender Hypothesen anzuwenden. So allein kann dem Historiker der Poesie Zutrauen entstehen, sich der feineren Einsichten der Psychologie anstatt der grobkÚrnigen Vorstellungen des gemeinen Lebens fÝr seine Auffassung der Literatur zu bedienen. In dem von uns auffaßbaren seelischen Verlauf kehrt dieselbe Vorstellung so wenig in einem Bewußtsein zurÝck, als sie in einem zweiten Bewußtsein als ganz dieselbe wieder vorkommt. So wenig als der neue FrÝhling die alten BlÈtter auf den BÈumen mir wieder sichtbar macht, so wenig werden die Vorstellungen eines vergangenen Tages an dem heutigen wiedererweckt, etwa nur dunkler oder undeutlicher. – Wenn wir, in derselben Lage verharrend, das Auge, das einen Gegenstand in sich gefaßt hat, schließen, und so die Vorstellung, in welche die Wahrnehmung Ýbergegangen ist, ihre hÚchste StÈrke und SinnfÈlligkeit noch besitzt: so wird in diesem Erinnerungsnachbilde nur ein Teil derjenigen Elemente vorgestellt, welche in dem Wahrnehmungsvorgang enthalten waren; und schon hier, wo doch nur eine seelenlose, tote Erinnerung stattfindet, ist bei lebhafter Anstrengung, das ganze Bild zurÝckzurufen, eine versuchende Nachbildung unverkennbar. – Wenn aber zwischen die Wahrnehmung und die Vorstellung andere Bilder sich eingedrÈngt haben und wir nun die Wahrnehmung vollstÈndig zurÝckzurufen streben, so baut sich die erinnerte Vorstellung von einem bestimmten inneren Gesichtspunkte aus auf; sie nimmt dabei nur so viel Elemente aus dem Tatbestande, der von der Wahrnehmung zurÝckblieb, als Baumaterial auf, als die nunmehr gegenwÈrtigen Bedingungen mit sich bringen, und diese erteilen dem Bilde seine GefÝhlsbeleuchtung durch die Beziehung zu dem gegenwÈrtigen GemÝtszustand in •hnlichkeit oder Kontrast; wie denn in Zeiten schmerzlichster Unruhe das Bild eines ehemaligen ruhigen, doch freudlosen Zustandes wie eine selige Insel sonnigsten Friedens vor uns auftauchen kann. Ja, es baut sich nicht selten eine ganz falsche Vorstellung auf. – Und wenn wir nun endlich doch zumeist nicht EinzeleindrÝcke uns zurÝckzurufen streben, deren Erinnerung auf einen be-

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Goethe und die dichterische Phantasie.

stimmten Wahrnehmungsakt als ein Augenblicksbild sich bezieht, sondern Vorstellungen oder Vorstellungsverbindungen, deren jede den Gegenstand in allen seinen von uns wahrgenommenen Lagen reprÈsentiert: dann steht der Aufbau einer solchen Vorstellung noch viel weiter ab von toter Reproduktion und nÈhert sich noch viel mehr dem der kÝnstlerischen Nachbildung. – Kurz: wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf GedÈchtnis beruhte, so gibt es kein GedÈchtnis, das nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose. Und diese Erkenntnis lÈßt den Zusammenhang zwischen den elementarsten VorgÈngen des psychischen Lebens und den hÚchsten Leistungen unseres schÚpferischen VermÚgens sichtbar werden. Sie lÈßt in die UrsprÝnge jenes mannigfaltigen, an jedem Punkte ganz individuellen und nur einmal so vorhandenen, beweglichen geistigen Lebens blicken, dessen glÝcklichster Ausdruck die unsterblichen GeschÚpfe der kÝnstlerischen Phantasie sind. Die Reproduktion selber ist ein Bildungsprozeß. So lÈßt sich die Organisation des Dichters nach dieser Seite schon in der MÈchtigkeit der einfachen VorgÈnge von Wahrnehmung, GedÈchtnis, Reproduktion aufzeigen, mittels deren sich Bilder mannigfachster Art, Charaktere, Schicksale, Situationen in dem Bewußtsein bewegen. Im Erinnern selber entdecken wir dann eine Seite, durch welche es der Einbildungskraft verwandt ist: die Metamorphose durchwaltet das ganze Leben der Bilder in unserer Seele. Dies zeigt sich auch in den merkwÝrdigen PhÈnomenen der Gesichtserscheinungen. Wer hÈtte nicht, vor dem Einschlafen, geschlossenen Auges, sich an den einfachsten PhÈnomenen ergÚtzt, die hier sich darbieten? In dem ruhenden reizbaren Gesichtssinn erscheinen die inneren organischen Reize nunmehr als Strahlen, wallende Nebel, und aus ihnen formen und entfalten sich, ohne jede Mitwirkung einer Absicht, da wir im Gegenteil in reines ruhigstes Anschauen versenkt sind, leuchtende farbige Phantasiebilder, die in bestÈndiger Abwandlung begriffen sind. Die Umformung der Bilder und bildlichen ZusammenhÈnge, wie sie in dem Erinnern stattfindet, ist indes nur der einfachste und darum am meisten unterrichtende Fall der Bildungsprozesse, welche die Phantasie charakterisieren. Steigernd, mindernd, einordnend, verallgemeinernd, Typen bildend, gestaltend-umgestaltend, unbewußt bald und bald willkÝrlich – so bringen diese Prozesse neue anschauliche Gebilde ohne Zahl hervor. ZÝge der Bilder werden ausgeschaltet, andere gesteigert und aus Erinnerungen werden Anschauungen ergÈnzt. Und dieselbe Umbildung zu einem Neuen, welches das in Erleben und Gewahren Enthaltene oder aus ihm Erschließbare Ýberschreitet, vollzieht sich auch an den ZusammenhÈngen der Vorstellungsbilder. Ein Denken in Bildern entsteht. In ihm erreicht die Phantasie eine neue Freiheit.

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Wir versuchen, die Vergangenheit umzudenken. Wir bilden MÚglichkeiten der Zukunft vor. Ersinnen freie Geschehnisse und versenken uns in sie. FÝhlen uns in Lebloses ein und erhÚhen es zu unerhÚrten beseelten VorgÈngen. Und all dies steigert sich, wenn die hier waltende SelbsttÈtigkeit in bewußter Absicht zweckmÈßig wirksam wird. Die KrÈfte, welche diese Reihe von BildungsvorgÈngen hervorrufen, stammen aus den Tiefen des GemÝts, das vom Leben mannigfach zu Lust, Leid, Stimmung, Leidenschaft, Streben bewegt wird. In diesem allem liegt ein großer Zug, der von den untersten VorgÈngen des Seelenlebens aufwÈrts Naturen, die dazu organisiert sind, zum dichterischen Schaffen vorwÈrtszieht. Er wirkt mit hÚchster StÈrke im Kind, im Naturmenschen, in den Menschen des Affekts und der TrÈume, in den KÝnstlern. So ist er unterschieden von der regulierten Phantasie im politischen Kopf, dem Erfinder, dem Forscher, deren bestÈndige Selbstkontrolle die Bildungsprozesse am Maß der Wirklichkeit festhÈlt. 2.

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Wie entsteht nun aus diesem Zug der Phantasie, der dem poetischen Schaffen entgegenfÝhrt, die dichterische Phantasie selber, und welche sind ihre unterscheidenden Merkmale? Phantasie ist – so sahen wir – in den ganzen seelischen Zusammenhang verwoben. Jede im tÈglichen Leben stattfindende Mitteilung bildet unwillkÝrlich das Erlebte um; WÝnsche, BefÝrchtungen, TrÈume der Zukunft Ýberschreiten das Wirkliche; jedes Handeln ist bestimmt durch ein Bild von etwas, das noch nicht ist: die Lebensideale schreiten vor dem Menschen, ja der Menschheit her und fÝhren sie hÚheren Zielen entgegen: die großen Momente des Daseins, Geburt, Liebe, Tod werden verklÈrt durch BrÈuche, die die RealitÈten umkleiden und Ýber sie hinausweisen. Ich unterscheide nun zunÈchst hiervon das W i r k e n d e r P h a n t a s i e , in welchem sich eine v o n d e r W e l t u n s e r e s H a n d e l n s u n t e r s c h i e d e n e z w e i t e W e l t a u f b a u t . So Èußert sich die Einbildungskraft unwillkÝrlich in den Gebilden des Traumes, welcher der Èlteste aller Poeten ist. Sie erschafft dann im Leben selber willkÝrlich da eine solche zweite Welt, wo der Mensch sich von der Bindung durch die Wirklichkeit zu befreien strebt: im Spiel, vor allem aber, wo festliche Steigerung des Daseins in Maskenscherz, Verkleidung, festlichem Aufzug eine vom Leben des Tages gesonderte Welt hervorbringt. Die ritterliche Zeit und die hÚfische Kultur der Renaissance zeigen, wie die vom Leben ganz abgelÚste SchÚpfung einer poetischen Welt in diesem selber sich schon vorbereitet. Und ebenso baut sich eine von der erfah-

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renen Wirklichkeit unterschiedene Welt in den Gebilden der religiÚsen Phantasie auf. In dem Verkehr mit den unsichtbaren KrÈften entstehen hier die Anschauungen von gÚttlichen Wesen. Sie sind eingewoben in das Leben, sein Leiden und Wirken. So ist zunÈchst diese religiÚse Einbildungskraft in Mythos und GÚtterglaube gebunden an das BedÝrfnis des Lebens. Im Verlauf der Kultur sondert sie sich allmÈhlich von den religiÚsen Zweckbeziehungen, und sie erhebt nun jene zweite Welt zu einer unabhÈngigen Bedeutsamkeit, wie Homer, die griechischen Tragiker, Dante, Wolfram von Eschenbach das zeigen. Sonach lÚst erst die Poesie die Ýbersinnliche religiÚse Welt ganz von der Bindung los, die in unseren LebensbedÝrfnissen und Zweckbeziehungen enthalten ist. Jetzt erst erfassen wir die Natur der d i c h t e r i s c h e n P h a n t a s i e . Alles bisher Gesagte enthÈlt nur die allgemeinen Bedingungen derselben. Sie ist der Inbegriff der Seelenprozesse, in denen die dichterische Welt sich bildet. Die Grundlage dieser Seelenprozesse sind immer Erlebnisse und der durch sie geschaffene Untergrund des Auffassens. LebensbezÝge beherrschen die poetische Phantasie und kommen in ihr zum Ausdruck, wie sie schon die Bildung der Wahrnehmungen im Dichter beeinflussen. UnwillkÝrliche, unmerkliche VorgÈnge walten hier Ýberall. Sie arbeiten bestÈndig an Farbe und Form der Welt, in welcher der Dichter lebt. Hier ist der Punkt, an welchem sich uns der Zusammenhang von Erlebnis und Phantasie im Dichter aufzuschließen beginnt. Die dichterische Welt ist da, ehe dem Poeten aus irgendeinem Geschehnis die Konzeption eines Werkes aufgeht und ehe er die erste Zeile desselben niederschreibt. Der V o r g a n g , in dem vermittels dieser Seelenprozesse die p o e t i s c h e W e l t e n t s t e h t und ein einzelnes d i c h t e r i s c h e s W e r k s i c h b i l d e t , empfÈngt sein Gesetz aus einem Verhalten zur Lebenswirklichkeit, das vom VerhÈltnis der Erfahrungselemente zum Zusammenhang der Erkenntnis ganz verschieden ist. Der Dichter lebt in dem Reichtum der Erfahrungen der Menschenwelt, wie er sie in sich findet und außer sich gewahrt, und diese Tatsachen sind ihm weder Daten, welche er zur Befriedigung seines Systems von BedÝrfnissen benutzt, noch solche, von denen aus er Generalisationen erarbeitet; das Dichterauge ruht sinnend und in Ruhe auf ihnen: sie sind ihm b e d e u t s a m ; die GefÝhle des Dichters werden von ihnen angeregt, bald leise, bald mÈchtig, gleichviel wie fern dem eigenen Interesse diese Tatsachen liegen oder wie lange sie vergangen sind: sie sind ein Teil seines Selbst. An dem bunten Teppich der darstellenden Dichtung mit seinen Figuren weben alle KrÈfte des ganzen Menschen. Das GemÝt ist der Lebensgrund aller Poesie. Sie ist aber zugleich von dem Gedanken durchdrungen. Gibt es doch im entwickelten Menschen nur wenige Vorstellungen, die nicht allgemeine Elemente in sich faßten, und in der Menschenwelt ist vermÚge der Wirkung

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allgemeiner sozialer VerhÈltnisse und psychologischer Verhaltungsweisen kein Individuum, welches nicht zugleich unter den verschiedenen Gesichtspunkten reprÈsentativ wÈre, kein Schicksal, welches nicht einzelner Fall eines allgemeineren Typus von Lebenswendungen wÈre. Diese Bilder von Menschen und Schicksalen werden unter dem Einfluß der denkenden Betrachtung so gestaltet, daß sie, ob sie gleich nur einen einzelnen Tatbestand darstellen, doch von dem Allgemeinen ganz gesÈttigt und solchergestalt reprÈsentativ fÝr dasselbe sind. Hierzu bedarf es durchaus nicht der in das dichterische Werk eingestreuten allgemeinen Betrachtungen, deren Funktion vielmehr vorwiegend ist, den Auffassenden zeitweise von dem Bann des Affekts, der Spannung, der fortreißenden Mitempfindung zu befreien, indem sie zu beschaulicher Stimmung erheben. Endlich zeigt alle Poesie das GeprÈge des Willens, aus dem sie entsprang. Schon Schiller verfolgte Ýberall in der SchÚnheit den Widerschein des Sittlichen; Goethe Èußerte sich: „Der persÚnliche Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim Publikum hervor, nicht die KÝnste seines Talents.“ Die Form des Willens, welche in der Hervorbringung des Kunstwerks wirksam war, Èußert sich in der FÝhrung der Handlung. Das VerhÈltnis der Phantasie zu ihren Gestalten gleicht innerhalb gewisser Grenzen dem zu wirklichen Menschen. So lebte Dickens mit seinen Gestalten als mit seinesgleichen, litt mit ihnen, wenn sie der Katastrophe sich nÈherten, fÝrchtete sich vor dem Augenblick ihres Untergangs. Balzac sprach von den Personen seiner com¹die humaine als ob sie lebten; er analysierte, tadelte, lobte sie, als gehÚrten sie mit ihm zu derselben guten Gesellschaft; er konnte lange Debatten darÝber fÝhren, was sie in einer Lage, in der sie sich befanden, am besten tun wÝrden. Wie Goethe von den tragischen Affekten seiner Poesie im Vorgang der Dichtung bewegt wurde, kann man erschließen aus seiner •ußerung an Schiller, er wisse nicht, ob er eine wahre TragÚdie schreiben kÚnne, jedoch erschrecke er vor dem Unternehmen schon und sei beinahe Ýberzeugt, daß er sich durch den bloßen Versuch zerstÚren kÚnne. So weicht also der Dichter in einem weit hÚheren Grade von allen anderen Klassen von Menschen ab, als man anzunehmen geneigt ist, und wir werden uns, einer philisterhaften Auffassung gegenÝber, welche sich auf biedere Durchschnittsmenschen vom dichterischen Handwerk stÝtzt, daran gewÚhnen mÝssen, das innere Getriebe und die nach außen tretende Handlungsweise solcher dÈmonischen Naturen von ihrer Organisation aus aufzufassen, nicht aber von einem Durchschnittsmaß des normalen Menschen aus. Von diesem gewaltigen ganz unwillkÝrlichen Bautrieb aus will auch Goethes Leben und Schaffen verstanden werden.

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DIE DICHTERISCHE PHANTASIE GOETHES. Goethes Phantasie ist das klassische Beispiel fÝr den dargelegten Zusammenhang, in welchem aus den elementaren Prozessen mit innerer Gewalt die dichterischen Gebilde emporsteigen. Im GesprÈch und in den Dichtungen des JÝnglings ist alles vom stÈrksten GefÝhl des Lebens durchdrungen, jeder Zustand wird mit einseitiger Energie ausgedrÝckt; Bilder treten auf, die wie in Symbolen denselben versinnlichen. Alles, was Goethe damals sprach oder schrieb, war erfÝllt von Keimen werdender Dichtungen, die sich ans Licht drÈngten. Aus dieser Kraft, ZustÈnde auszudrÝcken, entsteht nun seine unvergleichliche P h a n t a s i e b e g a b u n g in d e r S p h È r e d e s W o r t e s . Die Sprache ist das Material des Dichters. Sie ist aber mehr als das, denn die sinnliche SchÚnheit der Dichtung in Rhythmus, Reim und Sprachmelodie bildet ein eigenes Reich hÚchster Wirkungen, die ablÚsbar sind von dem, was die Worte bedeuten. Wer brÈchte sich den Sinn der Worte ganz zum Bewußtsein, wenn er etwa Goethes Gedicht „An den Mond“ vor sich hinspricht! Nur leise und geheimnisvoll klingen ihre Bedeutungen mit an. Darin beruht nun die Sprachphantasie des Dichters, daß er an diesen Wirkungen anhaltend mit starker Fixierung der Aufmerksamkeit bildet und formt, wie der Maler an denen seiner Linien und Farben. Goethe waltete kÚniglich in diesem Reich der Sprache. Es entsprang dies eben daraus, daß Erlebnis in ihm Ýberall und unmittelbar mit dem Drang zum Ausdruck verbunden war. Sein GesprÈch sprang in seiner Jugend nicht selten von der Prosa zum Zitieren seiner Verse Ýber. Auf seinen Wanderungen sang er damals wohl „seltsame Hymnen und Dithyramben“ vor sich hin, in denen der Rhythmus seiner inneren Bewegung in TÚnen sich Èußerte. So kam ihm von innen die Kunst der großen freien rhythmischen GefÝge mit ihrem natÝrlichen Verlauf und ihrer Lebendigkeit: nie ist ein solcher Wille zur Macht Ýber das Leben in solchen Rhythmen ausgesprochen worden! Er durchbrach in seiner Jugend die ganze Ýberlieferte Sprache. Auf der Grundlage Klopstocks schuf er einen neuen poetischen Stil. Er griff dabei zurÝck auf seinen heimischen Dialekt. Er verwertete die lebendige Energie der Verba. Er wirkte durch unerhÚrte Wortbildungen. In diesen verband er ZeitwÚrter neu mit Vorsilben, er nahm das Hauptwort mit einer Partikel und das Zeitwort mit seinem Objekt zusammen, oder er verstÈrkte dem Zeitwort durch den Wegfall der Partikel die sinnliche Energie. Er setzt HauptwÚrter zu neuen breiten Wortgebilden zusammen, er steigert den Ausdruck durch die Wiederholung bedeutsamer Worte, er durchlÈuft Frage, Antwort, Ausruf, um die innere Bewegung nachzubilden. Jeder innere Zustand drÝckt sich in einer eigenen Melodie der Sprache aus. AllmÈhlich mildert er dann in den ersten Wei-

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marer Jahren die Verwertung des heimischen Dialekts. Er mÈßigt den heftigen Ausdruck, er gibt der Darstellung der seelischen Bewegung VollstÈndigkeit, er erhebt durch neue Mittel wie die vermehrte Benutzung bedeutsamer EigenschaftswÚrter das GegenstÈndliche zu ruhiger Anschaulichkeit, und so entsteht auf dem Boden, auf dem einst Luther unsere Schriftsprache durch seine BibelÝbersetzung begrÝndete, im Zusammenwirken mit Schiller die klassische Ausbildung unserer Schriftsprache. Auf dieser Grundlage bildet sich nun sein großer Stil. In solchen Leistungen offenbart sich die einzige Sprachphantasie Goethes. So unumschrÈnkt ist ihre Macht, daß unsere ganze folgende Dichtung von ihr beherrscht ist, und daß seine dichterische Sprache noch heute im Leser jede Stimmung hervorzurufen vermag. Diese Sprachphantasie Goethes, die aus Drang und Gabe, Erlebnis auszudrÝcken, sich entwickelte, ist nun verbunden mit einer erstaunlichen Einbildungskraft in der SphÈre des ganzen sichtbaren Scheins der Dinge. Àber den bewegten SeelenzustÈnden breitet sich so die bildhafte SchÚnheit der gegenstÈndlichen Welt aus. Auf die Naturgrundlagen solcher Begabung, i n d e r G e s i c h t s s p h È r e zu gestalten, wirft folgende Stelle der BeitrÈge zur Morphologie ein Licht: „Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß, und mit niedergesenktem Haupte mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander, und aus ihrem Inneren entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grÝnen BlÈttern; es waren keine natÝrlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmÈßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmÚglich die hervorsprossende SchÚpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstÈrkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierat einer buntgemalten Scheibe dachte, welche dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie hin sich immerfort verÈnderte, vÚllig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope.“ Wenn vor dem Einschlafen unter gÝnstigen Bedingungen dem Beobachter, wie ich selbst erprobt habe, gelingt, in dem dunklen Sehraum die aufsteigenden farbigen Nebel zu Gestalten sich formen und abwandeln zu sehen, so erblicken wir bei Goethe hÚchste Leichtigkeit und SchÚnheit dieser SchÚpfungen einer unwillkÝrlich bildenden Einbildungskraft. Diese Gabe, in einer modifizierten Form, ÝbertrÈgt er in den Wahlverwandtschaften, welche ja ganz von den Darlegungen unserer physiologischen Bedingtheit auch in den hÚchsten Offenbarungen des GemÝtslebens durchdrungen sind, auf die von ihm so geliebte Gestalt der Ottilie; die Darstellung erinnert hier an das was Cardanus von sich erzÈhlt; zwischen Schlaf und Wachen blickt sie in einen mild erleuchteten Raum, in dem sie den im Krieg abwesenden Eduard gewahrt. Die Ge-

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walt, die die Gebilde der Phantasie Ýber den Dichter selber Ýben, ist in mehreren Stellen des Tasso mit tiefer Kenntnis ausgesprochen, so: „Ich halte diesen Drang vergebens auf, der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt“ usw.; dann wie er Leonore den kÝnftigen Weg des Verbannten nach Neapel schildert: „verkleidet geh ich hin, den armen Rock des Pilgers oder SchÈfers zieh ich an“ usw. – man teilt den Schauder Leonorens, die ihn unterbricht, wie um den unheimlichen Zauber zu lÚsen, mit welchem ihn dies Phantasiebild umfÈngt. Und in der Pandora hat Goethe die allseitigste und stÈrkste poetische Darstellung von dem allem gegeben. Goethe hat auch die Einsicht in die Natur des Dichters, welche ihm aus solchen Erfahrungen sich ergeben hatte, folgendermaßen generalisiert: „Man sieht deutlicher ein, was es heißen wolle, daß Dichter und alle eigentlichen KÝnstler geboren sein mÝssen. Es muß nÈmlich die innere produktive Kraft jene Nachbilder, die im Organe, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurÝckgebliebenen Idole, freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervortun, sie mÝssen sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen, zusammenziehen, um aus flÝchtigen Schemen wahrhaft gegenwÈrtige Bilder zu werden.“ „Ich bin“, erzÈhlte er dem Kanzler MÝller, „hinsichtlich meines sinnlichen AuffassungsvermÚgens so seltsam geartet, daß ich alle Umrisse und Formen aufs schÈrfste in der Erinnerung behalte, dabei aber durch Mißgestaltungen und MÈngel mich aufs lebhafteste affiziert finde.“ „Ohne jenes scharfe Auffassungs- und EindrucksvermÚgen kÚnnte ich ja auch nicht meine Gestalten so lebendig und scharf individualisiert hervorbringen. Diese Deutlichkeit und PrÈzision der Auffassung hat mich frÝher lange Jahre hindurch zu dem Wahn verfÝhrt, ich hÈtte Beruf und Talent zum Zeichnen und Malen.“ In demselben Sinn faßt Goethe in seinen SprÝchen das Ziel der Poesie: „Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das hÚchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwÈrtig fÝr jedermann gelten kÚnnen.“ Indem nun diese beiden Arten dichterischer Phantasie mit hÚchster StÈrke in Goethe zusammenwirken, entsteht eine UniversalitÈt der poetischen Begabung, die in der modernen Zeit ohnegleichen ist. Er hat Macht und Eigenart derselben in der Darstellung seiner letzten Frankfurter Jahre selbst geschildert. „Mein produktives Talent verließ mich seit einigen Jahren keinen Augenblick; was ich wachend am Tag gewahr wurde, bildete sich sogar Úfters nachts in regelmÈßige TrÈume, und wie ich die Augen auftat, erschien mir entweder ein wunderliches neues Ganze oder der Teil eines schon Vorhandenen.“ In der Einsamkeit wie mitten in der Gesellschaft war diese Naturgabe in ihm wirksam. Damals hat er im Prometheus das selbstherrliche Bewußtsein solcher schÚpferischen Kraft zum Ausdruck gebracht. Er mußte diese

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Gabe „ganz als Natur betrachten“. Sie trat „unwillkÝrlich, ja wider Willen“ hervor. Sie ruhte zuweilen lange Zeit, und er konnte selbst mit Willen nichts hervorbringen, dann wieder vermochte die Feder seinem „nachtwandlerischen Dichten“ kaum zu folgen. Auch grÚßere Werke sind damals, nachdem er sie lange mit sich herumgetragen und an ihnen gebildet hatte, wie in einer Inspiration entstanden; er schrieb den Werther in vier Wochen, „ziemlich unbewußt“ und wie von einem Traum geleitet, ohne daß er ein Schema des Ganzen oder die Behandlung irgendeines Teiles vorher zu Papier gebracht hÈtte; kaum fand er dann etwas daran zu Èndern: so ist sein vollkommenstes, einheitlichstes Kunstwerk vor Hermann und Dorothea entstanden. In dem allem treten uns die Eigenschaften der dichterischen Phantasie in Èußerster StÈrke entgegen: ein unwillkÝrlich gesetzmÈßiges, vom gewÚhnlichen Leben und dessen Zwecken losgelÚstes Schaffen aus der FÝlle der seelischen KrÈfte. Diese Eigenart seines jugendlichen Dichtens erhÈlt sich bis in spÈte Jahre, nur abgewandelt durch Gelassenheit, Bedachtsamkeit und abnehmende Phantasiekraft. Langen Vorbereitungen folgen Zeiten intensivsten Schaffens; der allmÈhlich zusammengetragene und gestellte Holzstoß – so berichtet er 1795 bei der Arbeit an Wilhelm Meister – „fÈngt endlich an zu brennen“. Er schafft um sich Einsamkeit, besonders gern auf dem Schloß in Jena, um die dichterische Stimmung und den inneren Zusammenhang des Schaffens festzuhalten. Alles Wollen fÚrdert dabei glÝckliches Gelingen nicht, und das Beste kommt ihm immer freiwillig. So entwickeln sich seine SchÚpfungen in langen ZeitrÈumen. „Mir drÝckten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Àberliefertes so tief in die Seele, daß ich sie vierzig bis fÝnfzig Jahre lebendig und wirksam im Inneren erhielt; mir schien der schÚnste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich dann zwar immer umgestalteten, doch, ohne sich zu verÈndern, einer reineren Form, einer entschiedeneren Darstellung entgegenreiften.“ In anderen Dichtern wie in Schiller ist die Entstehung jedes darstellenden Werkes gewaltige und bewußte Arbeit gewesen. Vielleicht teilt sich diese vorandrÈngende Macht des Willens auch der Handlung mit und gibt ihr die starke Bewegung, die wir in Schillers Dramen bewundern, wÈhrend auch Goethes hÚchste Darstellungen diese Eigenschaften nicht zeigen. Goethe war ferner wÈhrend der Arbeit nicht ganz unabhÈngig von dem Urteil der Freunde Ýber das Begonnene. Besonders von Schiller empfing er entscheidende Einwirkungen in bezug auf die Fortsetzung von Wilhelm Meister und von Faust. In anderen FÈllen bestimmten Urteile ihn, den Plan einer Dichtung fallen zu lassen. Auch er konnte wie andere große ErzÈhler durch die bloße VergegenwÈrtigung der Gebilde seiner Phantasie tief bewegt und erschÝttert werden. Als er sich das ganze Detail einer Situation des Wilhelm Meister ausmalte, „fing

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er zuletzt bitterlich zu weinen an“. Bei der Vorlesung eines eben geschriebenen Teiles von Hermann und Dorothea geschah ihm dasselbe; „so schmilzt man bei seinen eigenen Kohlen“, sagte er, indem er sich die Augen trocknete. Die vollkommenste Anschauung von Macht und Eigenart dieser Phantasie entsteht aber erst, wenn man verfolgt, wie sie auf jeden Teil des Organismus Goethe ihre Wirkungen erstreckte. Ihr Einfluß durchdrang sein Leben, seine Weltansicht, seine Ideale. Phantasie regierte in dem JÝngling inmitten der reichsten noch ungeregelten KrÈfte. Sie steigerte ihm in den Jahren brausender Jugendkraft Freuden und Schmerzen ins Unendliche; alles Wirkliche hÝllte sie fÝr ihn in die Schleier der SchÚnheit und verlieh ihm selber die Gabe zu bezaubern und mit sich fortzureißen – MÈnner wie Frauen; aber indem sie ihm bald das GegenwÈrtige idealisierte, bald dann wieder, was beengend in jedem LebensverhÈltnis liegt, ins UnertrÈgliche vergrÚßerte und durch neue Bilder ihn in grenzenlose Fernen zog, steigerte sie die Ruhelosigkeit, die Unbefriedigung der Jugend und des genialen Bewußtseins in ihm – bis zum Spiel mit dem Selbstmord, bis zu jeder UnbestÈndigkeit in Freundschaft, Liebe, Arbeit, Lebenszielen, bis zum DÈmonischen des Àbermenschentums, wie es im Urfaust sich ausspricht. Er ist damals Jacobi als ein Besessener erschienen, dem es fast in keinem Fall gestattet sei, willkÝrlich zu handeln. Phantasie gewÈhrte ihm immer wieder in der Dichtung zeitweilige Befreiung von der Unruhe seines Lebens, indem sie dies Leben in die Welt des Scheins erhob. Er erleichterte sich die Seele, indem er aussprach, was ihn bewegte. Er lÚste sich von seinen eigenen LebenszustÈnden los, indem er sie außer sich hinstellte – als ein ihm Fremdes, das nun im Reich der dichterischen Einbildungskraft seinen Platz hatte und hier, losgelÚst von der Bedingtheit in ihm selbst, sich in seinen Konsequenzen entfaltete. Und eben sie war ihm auch hilfreich, als er sich selbst Ýberwand und zum reifen Ideale seiner mÈnnlichen Jahre fortging. Denn dies Ideal beruhte auf der Erhebung des Lebens in seiner TotalitÈt zu der hÚchstmÚglichen in ihm enthaltenen Bedeutung: so war das Erfassen desselben und seine Verwirklichung, im Gegensatz zu der von abstrakten sittlichen Regeln, an die Phantasiebilder des Vergangenen, KÝnftigen, MÚglichen gebunden: denn das Leben in diesen Bildern liegt jeder Idealvorstellung des eigenen Selbst zugrunde. Endlich hat die dichterische Phantasie Goethe das Geheimnis der Natur und der Kunst aufgeschlossen. Wie sein interesseloses Anschauen der Natur dem kÝnstlerischen Schaffen verwandt war, so erÚffnete sich ihm auch dessen Gegenstand, die Natur, in dem Erlebnis der Kraft der Phantasie, die in ihm selber schÚpferisch wirksam war. Natur erschien ihm als gesetzlich, zweckmÈßig wirkende Kraft, die in Metamorphose, Steigerung, in der Architektonik typischer Formen, in der Harmonie des Ganzen sich Èußert. Und da-

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her mußte die Kunst ihm die hÚchste Manifestation solchen Wirkens der Natur sein.

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Aus dem VerhÈltnis von Leben, Phantasie und Gestaltung des Werks folgen alle allgemeinen Eigenschaften der Poesie. Jedes poetische Werk macht ein einzelnes Geschehnis gegenwÈrtig. Es gibt daher den bloßen Schein eines Wirklichen durch Worte und deren Verbindungen. So muß es alle Mittel der Sprache anwenden, um Eindruck und Illusion hervorzubringen, und in dieser kÝnstlerischen Behandlung der Sprache liegt ein erster und hÚchst bedeutender Èsthetischer Wert desselben. Es hat nicht die Absicht Ausdruck oder Darstellung des Lebens zu sein. Es isoliert seinen Gegenstand aus dem realen Lebenszusammenhang und gibt ihm TotalitÈt in sich selber. So versetzt es den Auffassenden in Freiheit, indem er sich in dieser Welt des Scheines außerhalb der Notwendigkeiten seiner tatsÈchlichen Existenz findet. Es erhÚht sein DaseinsgefÝhl. Dem durch seinen Lebensgang eingeschrÈnkten Menschen befriedigt es die Sehnsucht, LebensmÚglichkeiten, die er selber nicht realisieren kann, durchzuerleben. Es Úffnet ihm den Blick in eine hÚhere und stÈrkere Welt. Und es beschÈftigt im Nacherleben sein ganzes Wesen in einem ihm gemÈßen Ablauf der seelischen VorgÈnge, von der Freude an Klang, Rhythmus, sinnlicher Anschaulichkeit bis zum tiefsten VerstÈndnis des Geschehnisses nach dessen Beziehungen zur ganzen Breite des Lebens. Denn jedes echte poetische Werk hebt an dem Ausschnitt der Wirklichkeit, den es darstellt, eine Eigenschaft des Lebens heraus, die so vorher nicht gesehen worden ist. Indem es eine ursÈchliche Verkettung von VorgÈngen oder Handlungen sichtbar macht, lÈßt es zugleich die Werte nacherleben, die im Zusammenhang des Lebens einem Geschehnis und dessen einzelnen Teilen zukommen. Das Geschehnis wird so zu seiner Bedeutsamkeit erhoben. Es gibt keine große naturalistische Dichtung, die nicht solche bedeutsamen ZÝge des Lebens aussprÈche, wie trostlos, bizarr, einer blinden Natur angehÚrig sie auch sein mÚgen. Es ist dann der Kunstgriff der grÚßten Dichter, das Geschehnis so hinzustellen, daß der Zusammenhang des Lebens selbst und sein Sinn aus ihm herausleuchtet. So erschließt uns die Poesie das VerstÈndnis des Lebens. Mit den Augen des großen Dichters gewahren wir Wert und Zusammenhang der menschlichen Dinge. So sind in dem Untergrund dichterischen Schaffens persÚnliches Erleben,

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Verstehen fremder ZustÈnde, Erweiterung und Vertiefung der Erfahrung durch Ideen enthalten. Der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer die Lebenserfahrung, als persÚnliches Erlebnis oder als Verstehen anderer Menschen, gegenwÈrtiger wie vergangener, und der Geschehnisse, in denen sie zusammenwirkten. Jeder der unzÈhligen LebenszustÈnde, durch die der Dichter hindurchgeht, kann in psychologischem Sinne als Erlebnis bezeichnet werden: eine tiefer greifende Beziehung zu seiner Dichtung kommt nur denjenigen unter den Momenten seines Daseins zu, welche ihm e i n e n Z u g d e s L e b e n s aufschließen. Und was nun auch dem Dichter aus der Welt der Ideen zufließen mag – und der Einfluß der Ideen auf Dante, Shakespeare, Schiller war sehr groß: alle religiÚsen, metaphysischen, historischen Ideen sind doch schließlich PrÈparate aus vergangenen großen Erlebnissen, ReprÈsentationen derselben, und nur sofern sie die eigenen Erfahrungen dem Dichter verstÈndlich machen, dienen sie ihm, Neues am Leben zu gewahren. Der Idealismus der Freiheit, wie ihn Schiller von Kant aufnahm, klÈrte ihm doch nur das große innere Erlebnis auf, in welchem seine hohe Natur im Konflikt mit der Welt ihrer WÝrde und SouverÈnitÈt gewiß wurde. Welche Mannigfaltigkeit von Modifikationen dichterischer Erfahrung muß sich hieraus entwickeln! Indem die griechischen Tragiker die innere religiÚse Welt in dramatische Sichtbarkeit herausversetzten, entstand ein Ausdruck tiefsten Erlebens, der doch zugleich Darstellung einer mÈchtigen Èußeren TatsÈchlichkeit war, und eine Wirkung ohnegleichen muß hiervon ausgegangen sein. Wir erfahren etwas von diesen Wirkungen noch in den Oberammergauer Spielen und in unseren Oratorien. Shakespeare gibt sich einem von außen gegebenen Vorgang verstehend vÚllig hin; er legt sein eigenes Leben hinein, und so entstehen seine Menschen, die so mannigfaltig sind, wie die Natur sie darbietet, und so tief, wie Erleben reicht. Goethe bringt das persÚnliche Erlebnis, die bildende Arbeit an ihm selbst zum Ausdruck, und in diesem VerhÈltnis von Erlebnis und seinem Ausdruck tritt das der Beobachtung immer Verborgene am Seelenleben, sein ganzer Verlauf und seine ganze Tiefe heraus. Àberall ist hier das VerhÈltnis von persÚnlichem Erlebnis und Ausdruck mit dem von Èußerem Gegebensein und Verstehen in verschiedener Mischung miteinander verwebt. Denn im persÚnlichen Erlebnis ist ein seelischer Zustand gegeben, aber zugleich in Beziehung auf ihn die GegenstÈndlichkeit der umgebenden Welt. Im Verstehen und Nachbilden wird fremdes Seelenleben erfaßt, aber es ist doch nur da durch das hineingetragene eigene. Nur die StÈrke und die Verbindung dieser Momente ist in den verschiedenen Modifikationen der dichterischen Erfahrung immer wieder eine andere. Auf diesen Grundlagen entwickelt sich die seherische Gabe des Dichters, die uns Ýber uns selbst und die Welt, Ýber die letzten erreichbaren Tiefen der Menschennatur und Ýber

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die FÝlle der IndividualitÈten belehrt. Es entstehen die zahllosen Formen dieser seherischen Begabung. Indem auf dieser Grundlage ein Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhoben wird, entsteht ein dichterisches Gebilde. Wie wir nun an einem NaturkÚrper seine chemische Zusammensetzung, seine Schwere, seinen WÈrmezustand unterscheiden und fÝr sich studieren, so sondern wir in dem darstellenden dichterischen Werke, dem Epos, der Romanze oder Ballade, dem Drama oder dem Roman voneinander Stoff, poetische Stimmung, Motiv, Fabel, Charaktere und Darstellungsmittel. Der wichtigste unter diesen Begriffen ist der des Motivs: denn im Motiv ist das Erfahrnis des Dichters in seiner Bedeutsamkeit aufgefaßt: in ihm hÈngt dieses daher zusammen mit der Fabel, den Charakteren und der poetischen Form. Es schließt die bildende Kraft in sich, welche die Gestalt des Werkes bestimmt. Wie in organischem Wachstum entwickeln sich von der Lebenserfahrung aus diese einzelnen Momente, die an der Dichtung unterschieden werden kÚnnen: jedes derselben vollzieht eine Leistung im Zusammenhang des Werkes. So ist also jede Dichtung ein lebendiges GeschÚpf eigener Art. Das hÚchste VerstÈndnis eines Dichters wÈre erreicht, kÚnnte man den Inbegriff der Bedingungen in ihm und außer ihm aufzeigen, unter denen die sein Schaffen bestimmende Modifikation des Erlebens, Verstehens, Erfahrens entsteht, und den Zusammenhang umfassen, der von ihr aus Motiv, Fabel, Charaktere und Darstellungsmittel gestaltet. Indem ich nun das VerhÈltnis von Leben, Lebenserfahrung, Phantasie und dichterischen Werken in Goethe auszusprechen suche, ergreift mich wieder vor allem die wunderbare Einheit und Harmonie in diesem Dasein. Es gibt in ihm kaum RÈtsel und Dissonanzen. Dies Leben ist ein Wachstum nach einem inneren Gesetz, und wie einfach ist dies Gesetz, wie regelmÈßig und stetig wirkt es! Aus seiner Anschauung von der bildenden Kraft der Natur schafft Goethe ihr das Leben nach, das der Gegenstand der Dichtung ist, und nach der hier gefundenen inneren Gesetzlichkeit formt er seine dichterische Welt und gestaltet sich selbst – dies beides in einem untrennbaren Zusammenhang. Die Bedingung fÝr dies außerordentliche PhÈnomen lag in der Geschichte des deutschen Geistes; von Luther und Leibniz ab arbeitete sie an einer inneren Harmonie von Religion, Wissenschaft und Dichtung, die auf der Vertiefung des Geistes in sich selbst und seiner Gestaltung aus dieser Tiefe beruht. So ist die weltgeschichtliche Kraft entstanden, deren einheitliche Wirkungen sich vom 18. Jahrhundert ab von Deutschland aus Ýber Europa verbreitet haben. Diese Kraft erfÝllte alle SchÚpfungen der Zeit Goethes. In dem Herausholen eines Allgemein-Menschlichen aus den unbewußten Tiefen unseres Daseins war Goethe verbunden mit der Transzendentalphilosophie von Kant, Fichte und Hegel und mit der Instrumentalmusik Beethovens, und in dem

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Ideal der Gestaltung des Menschen aus dem inneren Gesetz seines Wesens war er eins mit denselben Philosophen und mit Schiller, Humboldt und Schleiermacher. Auf dem Boden dieser neuen Kultur entstand die dichterische Welt, die Goethe, Schiller und Jean Paul schufen, und die von Novalis und HÚlderlin ab fortgebildet wurde. Die ganze geistige Entwicklung Europas trat dann unter den Einfluß der neuen weltgeschichtlichen Kraft. Von dieser Stellung aus hat Goethe die hÚchste dichterische Aufgabe gelÚst, das Leben aus ihm selber zu verstehen und so in seiner Bedeutsamkeit und SchÚnheit darzustellen. Die Dichtergabe ist in ihm nur die hÚchste Manifestation einer schaffenden Gewalt, die in seinem Leben selber schon wirksam war. Leben, Bilden und Dichten werden in ihm zu einem neuen Zusammenhang, der im wissenschaftlichen Studium seine Grundlage hat. Aus diesem Zusammenhang entspringt die Wahrheit, die reine NatÝrlichkeit, das lautere Sehen, die unbefangene Auslegung unseres Daseins, welche zum Vorbild aller nachkommenden Denker, Dichter und Schriftsteller geworden sind. Ich greife zu einem vergleichenden Verfahren, um das Wesen dieser Poesie durch Verwandtschaft und Gegensatz sichtbar zu machen. Shakespeare und Goethe treten heute fÝr uns als die beiden hÚchsten KrÈfte der modernen Weltliteratur nebeneinander. Und eben sie reprÈsentieren, wie wir sahen, besonders bedeutsame Modifikationen der dichterischen Erfahrung und folgerecht der Menschendarstellung. Die beiden großen germanischen Seher, die am tiefsten dem Leben in sein unergrÝndliches Antlitz geblickt haben, ergÈnzen einander, verwandte Naturen stehen ihnen zur Seite.

SHAKESPEARE. Die Briefe von Dickens und die Lebensnachrichten von ihm gestatten uns einen Einblick in die Werkstatt dieses Dichters. Er erscheint als ein Genie, dessen ganzes Leben in tatsÈchlicher Erfahrung, in genauester unwillkÝrlicher Beobachtung dessen, was immer neue Erfahrungskreise ihm bieten, verlÈuft, der so viel BeschÈftigungen und Lebenslagen durcheilt, als Lehrjunge, Advokatenschreiber, Reporter im Parlament und im Lande, so viel Tatsachen seiner Beobachtung zu unterwerfen in der Lage ist, die GefÈngnisse und IrrenhÈuser der meisten LÈnder Europas wie ihre gute Gesellschaft so grÝndlich studiert, daß in Deutschland kein Leben eines Poeten damit vergleichbar ist; damit verbinden sich sein UngestÝm, die ungeheuren Fehlgriffe seines fieberhaft tÈtigen

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Naturells, seine GleichgÝltigkeit gegen jede hÚhere Ausbildung der eigenen PersÚnlichkeit, gegen jede hÚhere intellektuelle BeschÈftigung; und dies alles ist Außenseite fÝr ein Leben voll Seligkeit und Leid im Mitleben mit den Gestalten, welche aus diesem Erfahrungsmaterial geformt sind: er ist dem, was er außer sich gewahrt hat, ganz hingegeben. Indem wir das dichterische Schaffen des Zeitgenossen von Stuart Mill aus so genauen Mitteilungen studieren, fÈllt von dieser Erkenntnis aus auch ein Licht auf das uns anscheinend ganz unbegreifliche innere Leben und Bilden in dem Zeitgenossen des Lord Bacon. Shakespeare scheint in ein undurchdringliches Dunkel gehÝllt. Eifrigste Sammlung hat nur eine Anzahl Urkunden von kirchlichen Akten und RechtsgeschÈften und ein paar polemische Stellen zeitgenÚssischer Schriftsteller als wirklich authentisches Material gewonnen. Es scheint, daß seine Person nicht in hohem Grade die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich zog. Seine Dramen kÚnnen nur mit großer Vorsicht zu SchlÝssen auf seine Denkart, seine religiÚsen oder philosophischen Àberzeugungen und seinen Charakter benutzt werden. Seine Sonette sind selber ein Geheimnis, da wir weder wagen sie beim Wort zu nehmen wegen der ungeheuren Paradoxie der GefÝhlsweise in ihnen, noch zaghaft darauf verzichten kÚnnen, einen Kern hÚchst subjektiven persÚnlichsten Empfindens in ihnen anzunehmen. Wir gehen von einigen unzweifelhaften, in seinen Werken selbst gegebenen Tatsachen Ýber seine Organisation aus. Shakespeare zeigt einen Umfang von zutreffenden grÝndlichen und ganz positiven Wahrnehmungsbildern, mit welchen die Summe genauer Bilder bei keinem anderen Poeten auch nur verglichen werden kann. Man muß in ihm eine Energie der Wahrnehmung und des GedÈchtnisses annehmen, hinter der selbst das, was Goethe und Dickens von sich erzÈhlen, weit, weit zurÝcksteht. Schon die Zeichen fÝr die Dinge beherrscht er kÚniglich: M. MÝller hat berechnet, daß ihm etwa 15000 WÚrter zur VerfÝgung stehen, beinahe doppelt so viel als Milton. Seine Kenntnis von Pflanzen und Tieren ist durch sachkundige Forscher als erstaunlich genau und umfassend erwiesen worden. Er spricht von Falken und Falkenjagd, wie einer, der sein Leben als JÈger zugebracht hat, so daß erst die sachkundige Untersuchung eines Kenners einige dieser Stellen verstÈndlich gemacht hat. Er spricht von Hunden, als hÈtte er gleich Walter Scott jederzeit ein paar Lieblingstiere zu seinen FÝßen liegen gehabt. In einer Zeit, in welcher noch •rzte in bezug auf Wahnsinnige ganz von aberglÈubischen Vorstellungen erfÝllt sind, erscheint er als ein so tiefer Beobachter krankhafter SeelenzustÈnde, daß hervorragende IrrenÈrzte unserer Zeiten seine Personen studiert haben wie man Tatsachen der Natur selber studiert. Seine Kenntnis von RechtsfÈllen und RechtsgeschÈften ist derart, daß hervorragende englische Juristen sie nur

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durch die Annahme sich erklÈren konnten, daß er als Lehrling eines Advokaten Gelegenheit gehabt habe, sich fachmÈßig auszubilden. Und Umfang und Tiefe seiner Charakterschilderungen bezeichnen fÝr uns die Èußerste Grenze des dichterischen VermÚgens. Eine solche Wirkung setzt als Ursache nicht nur hÚchste Energie der Wahrnehmung und des GedÈchtnisses voraus: wir mÝssen uns das Genie, welches dies leistet, gÈnzlich den Tatsachen hingegeben denken, gewahr werdend, beobachtend, sein Selbst ganz vergessend und verwandelnd in das was es erfaßt. UnwillkÝrlich muß ich an Rankes Wort denken: ich mÚchte mein Selbst auslÚschen, und die Dinge sehen, wie sie gewesen sind. Nicht in sich selbst, sondern in dem was außer ihm auf ihn wirkte, lebte er. Er war ganz großes geistiges Auge. Er hatte kein BedÝrfnis, in sich einen Zusammenhang von energischen Àberzeugungen herzustellen oder ein Selbst von imponierender Macht zu gestalten: er wird als von sanfter Grazie gleich Raphael geschildert, und zugleich war ihm gegeben, jede menschliche Natur und Leidenschaft bis in ihre Èußersten Konsequenzen und geheimsten Schlupfwinkel zu verfolgen. Hiermit ist seine Darstellungsweise einstimmig, welche die Menschen hinstellt, wie sie der Beobachter im Leben von außen gewahrt, in vÚlliger Deutlichkeit der kÚrperlichen Umrisse, in Willensbewegung, ihre letzten BeweggrÝnde zuweilen undurchdringlich. Dieser Auffassung entsprechen die Nachrichten Ýber sein Leben. Der rasche, beinahe fiebernde Puls seiner Helden schlÈgt auch in ihm, wie in Marlowe und Ben Jonson. Mit achtzehn Jahren ist er verheiratet, das Jahr darauf mit der Sorge fÝr eine Familie belastet (geboren 1564, verheiratet 1582, seine Tochter Susanne 26. Mai 1583, Hamnet und Judith 1585), zwischen 1585 und 1587 erscheint er in London, sich eine Existenz zu grÝnden, in den ersten zwanziger Lebensjahren. 1592, im achtundzwanzigsten Jahr, hat er bereits Ruhm und Wohlstand erreicht, so daß Greene in einem Pamphlet dieser Zeit ihn als „an absolute Johannes Factotum and, in his own conceit, the only Shake-scene in a country“ bezeichnen kann. Er ist dann 1598 anerkannt, sein Name erscheint von da ab auf den TitelblÈttern seiner Dramen. Schon jetzt beginnt er allmÈhlich alles fÝr seine ZurÝckgezogenheit in Stratford vorzubereiten. 1602, im achtunddreißigsten Lebensjahre, ist er bereits wohlhabender Landgentleman in Stratford, obwohl noch in London tÈtig. In seinen vierziger Jahren finden wir ihn dann dort (der genauere Termin kann aus den bisher gefundenen Urkunden nicht erschlossen werden) in seinem stattlichen Hause, das von seinen GÈrten umgeben ist, ausruhend von der stÝrmenden Hast seines Lebens; seine Laufbahn war zu Ende. Am 23. April 1616 im dreiundfÝnfzigsten Jahre starb er in Stratford, unmittelbar nach den VermÈhlungsfesten seiner jÝngsten Tochter.

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In den beiden Punkten, von denen man zu sagen pflegt, daß sie Ýber das Leben entscheiden, in Ehe und Beruf, scheint raschem vordringendem Entschließen schwere LebensmÝhe und EnttÈuschung gefolgt zu sein; herbe Empfindung des Lebens und entschiedene klare Handhabung desselben erfÝllen seine mÈnnlichen Jahre, und, seltsam es zu sagen, der Zusammenhang der Handlungen seines Lebens liegt nicht allein in seiner Poesie, sondern ebenso in dem Willen, sich und seine Familie in die wohlhabende Landgentry zu erheben. Wie Dickens lernte er das Leben und die Menschen nicht als ein schwatzender und zuguckender Zuschauer kennen, sondern er spielte mit, in den ÝbermÝtigsten KomÚdien wie in TragÚdien, er hatte jene kraftfrohe Natur, die lieber etwas Falsches tut, als gar nichts. So hat auch der einzige in der Kenntnis des Lebens Shakespeare vergleichbare Dichter, Cervantes, sein Leben als SekretÈr eines pÈpstlichen Legaten, als Soldat in den verschiedensten FeldzÝgen, in Sklavenketten, als Schriftsteller unruhvoll durcheilt. Und gerade die bunten Erfahrungen einer bewegten mit Wirklichkeiten ringenden Jugend haben solchen Dichtern das Hauptmaterial ihres Erfahrungshorizontes geschenkt. Auch •schylos und Sophokles erwarben im tÈtigen Leben des BÝrgers und Soldaten ihr VerstÈndnis der Welt, und erst Euripides lebte in seiner Bibliothek als Literat. Wie sein Lebenslauf ihm die ungeheure Welterfahrung zufÝhrte, welche seine Dramen zeigen, lÈßt sich noch verfolgen. Wie oft kehrt in seinen Dichtungen die Landschaft um Stratford wieder, in der er aufwuchs, mit ihren sanften HÝgeln, ihrem gesÈttigten WiesengrÝn, und den BÝschen und ObstgÈrten, in denen die DÚrfer versteckt lagen, zwischen denen der Avon sich schlÈngelte; es ist der landschaftliche Hintergrund des Sommernachtstraums, des WintermÈrchens. Volkspoesie und Volksfeste, das lustige Altengland werfen noch ihren heiteren Glanz Ýber das Land. Die Einleitung der bezÈhmten Widerspenstigen und vieles in den lustigen Weibern rufen uns wohl Personen und Szenen aus diesen Jugendtagen zurÝck. Volkslieder und Sagen flogen ihm noch auf seinen Wanderungen zu. Damals prÈgten sich auch in seine allen EindrÝcken offene Seele die Bilder der Pflanzen- und Tierwelt, in welcher der Sohn des Landbesitzers, wohl auch der leidenschaftliche JÈger (wer denkt nicht an die Geschichte von seinem Jagen auf dem verbotenen Grunde des nahen Landedelmanns) sich heiter bewegte; auch war wohl hier Anlaß genug fÝr die unzÈhligen SpÈße auf Kosten der beschrÈnkten kleinen Bauern und BÝrger in seinen Dramen. Und in dies heitere Leben ragte hier schon die große und blutige Vergangenheit seines Landes herein; ging doch von Stratford die romantische Straße in acht Meilen nach dem Schlosse Warwick, wo auf dem Schloßhof zwischen den massiven TÝrmen oder unter den GrabdenkmÈlern die Schatten der Vergangenheit, die Gestalt des großen KÚnigsmachers darunter, am hellen

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Tage umgingen. Ein paar Meilen weiter lag dann Kenilworth, das damals Leicester gehÚrte, in dessen Diensten ein Verwandter Shakespeares stand, und die ErklÈrer haben sich gern vorgestellt, daß bei den großen Festen, welche dort der KÚnigin ihr GÝnstling gab, der elfjÈhrige Knabe zugegen gewesen sei. Aber wie dem auch sei, das Spiegelbild des Lebens in der Dichtung ist in Stratford selber wohl dem Knaben frÝh nahegetreten; in der lebensfrohen Stadt, in deren KÈmmereirechnungen Sekt, Claret und Muskat keine kleine Rolle spielen, haben von 1569 bis 1587, in den Knabenjahren und der Jugendzeit Shakespeares, nicht weniger als 24 Besuche von Schauspielertruppen stattgefunden. Goethe und Dickens erzÈhlen Ýbereinstimmend, wie von frÝher Kindheit ab die Gestalten aus Dichtungen sich in ihr wirkliches Leben verwebten; „es ist mir sonderbar“, erzÈhlt Dickens, „wie ich mich je in meinen kleinen Leiden damit trÚsten konnte, daß ich meine Lieblingscharaktere in dieselben versetzte. Ich bin eine ganze Woche lang Tom Jones (ein kindlicher Tom Jones, ein harmloses GeschÚpf) gewesen. Ich habe, wie ich wahrhaftig glaube, meine eigene Vorstellung von Roderich Random einen ganzen Monat lang in Einem Zuge durchgefÝhrt. Jede Scheune in der Nachbarschaft, jeder Stein in der Kirche und jeder Fußbreit des Kirchhofs stand in meinem Geiste in einer gewissen Beziehung zu den BÝchern und stellte einen in denselben berÝhmt gewordenen Ort dar.“ Besser als einer von uns vermÚchte, sprechen diese Erinnerungen aus, wie man sich denken mag, daß in Shakespeares Jugendleben sich die Gestalten aus der Sage und BÝhne drÈngten und auf der historischen Szene von Warwickshire sich die Personen der Vergangenheit vor ihm zu bewegen begannen. Es gibt starke GrÝnde anzunehmen, daß er schon in Stratford die Verwickelungen des Lebens frÝhzeitig kennen lernte, und die geschÈftlichen Schwierigkeiten seines Vaters ließen ihn frÝh in harte Wirklichkeit hineinsehen. Auch dies, wie es bei Dickens spÈter sich wiederholte. Noch ein JÝngling, hatte er die leidenschaftlichen Erfahrungen von Liebe und Ehe hinter sich. So kam London. Er, der in seinen JÝnglingsjahren nie rÝckwÈrts sah und lieber das Fraglichste tat als zusah (welch ein Gegensatz zu der besonnenen, seiner bewußten und im Grunde bei scheinbarer Hingabe sich selbst jederzeit ganz beherrschenden PersÚnlichkeit des jungen Goethe!), und der vielleicht mit manchem Manuskript in seinem ReisebÝndel nach London kam, grÝndete auf die Stellung des Theaterdichters und Schauspielers seinen Lebensplan; die Truppe des Globustheaters, in welche er eintrat, stand in nÈherer Beziehung zum Haushalt der KÚnigin und wurde unter Jakob durch Patent als the King’s Players in Dienst genommen. Seine Sonette sprechen ergreifend aus, welchen neuen Schatten dieser Schritt Ýber sein Leben warf. Was ihn hinzog, wird sichtbar, wenn man die Leidenschaft von Goethe, von Dickens fÝr das Thea-

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Shakespeare.

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terspielen gewahrt und an Molire und Sophokles denkt; Schauspieler und wahrer schaffender Dichter, zumal der Richtung von Shakespeare, beruhen mit ihrem Genie auf demselben VermÚgen der Phantasie, in verschiedene Gestalten sich zu wandeln, und was das Wort des Dichters will, wird erst in der Leistung des Schauspielers fertige RealitÈt. Und wie mußte nun sein Beruf auf Shakespeare wirken! Er gab ihm nicht nur BÝhnenkenntnis; er scheint in ihm wie in Molire die FÈhigkeit sich gÈnzlich in die verschiedensten Charaktere zu wandeln, zur vollendeten VirtuositÈt ausgebildet zu haben. Man gewahrt an dem Schauspieler, daß er immer ein anderer ist und abwechselnd in verschiedenen Rollen denkt und fÝhlt; was hiervon in Shakespeares Natur lag, eine Versammlung von Individuen zu sein und als eine solche Welt und Leben mannigfach zu betrachten, sich selber mannigfach zu fÝhlen, das mußte die Stellung des Schauspielers in ihm verstÈrken. Diese losgebundene, mit den hÚchsten Kreisen und anderseits mit den vagabondierenden Existenzen der Stadt verknÝpfte Lebenslage in dem damaligen London bot eine unvergleichliche Gelegenheit, die wechselnden Szenen des menschlichen Lebens und die mannigfachsten Charaktere in sich aufzunehmen, und die Stellung des Theaterdichters drÈngte ihm die Feder in die Hand, zu schreiben was er schaute. Goethe spricht einmal im GesprÈch mit Eckermann aus, wie er verglichen mit einem Walter Scott in bezug auf den Stoff des Lebens selber im Nachteil gewesen sei; er habe im Wilhelm Meister zu Landedelleuten und Schauspielern greifen mÝssen, eine lebendige Bewegung in den Roman zu bringen; Ýberhaupt je mehr er mit der Natur dichterischer Arbeit sich betrachtend beschÈftigte, desto schmerzlicher empfand er, unter wie schweren Bedingungen er gearbeitet habe. Shakespeare schrieb unter einer geschichtlichen Gunst ohnegleichen. Was er von Rom gelesen hatte in seinem Plutarch, was in TrÝmmern aus der englischen Vergangenheit ihn umgab und das Zeitalter der Elisabeth mit seinen gewalttÈtigen Charakteren, der dramatischen FÝhrung seiner Staatsaktionen und seinen blutigen Schlußszenen: das alles mußte vor dem Blick des auf das Essentielle gerichteten Genies als eine Ordnung aktiver heroischer Naturen und gewalttÈtiger Katastrophen sich darstellen. Und das alles war sozusagen auf der Straße sichtbar. Durch diese Straßen sah man die KÚnigin nach dem Tower reiten, auf ihrer Barke fuhr sie die Themse entlang, Shakespeare sah alle, die damals Geschichte machten, unmittelbar vor sich auf der BÝhne. Die frischen Farben des Lebens, wie es im Mittelalter sich entfaltet hatte, das PersÚnliche und SinnfÈllige in den verschiedenen Schicksalen, und darauf gerichtet das moderne, an den Humanisten, Naturforschern und Politikern geschulte Auge: das ist Shakespeares Stellung. Hiermit stimmt dann schließlich das Wenige zusammen, was wir von seiner

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Bildung wissen. Unter den Shakespeareforschern ist die Zeit gÈnzlich vorÝber, in der man ein naturwÝchsiges Genie in ihm zu erblicken glaubte; aber welcher Art seine Bildung war, mÚchte man sich vorstellen kÚnnen. Wenn Ben Jonson ihm wenig Latein und noch weniger Griechisch zuspricht, so will das im Sinne des in seiner klassischen Bildung schwelgenden Nebenbuhlers verstanden sein; es war genug fÝr ihn, den Atem des Altertums auch in seinen Sprachen und in der sprachlichen FÈrbung seiner Literatur zu empfinden, im Ýbrigen las er seinen Plutarch (den er vor allen Alten liebte) und seinen Ovid in Àbersetzungen; er stand darin nicht wesentlich anders als auch Schiller. Er hat Rabelais’ Gargantua ohne Zweifel gelesen, aber es scheint, daß es damals eine englische Àbersetzung dieses Romans gegeben hat; so las er auch Montaigne in der Àbertragung Florios, mit dem er in persÚnlicher Beziehung stand. Italienische Schriften hat er vielleicht im Original benutzt. Aber nichts ist gewisser, als daß Shakespeare kein wissenschaftliches Interesse im strengen Sinne hegte, und daß er kein BedÝrfnis besaß, vom Zusammenhang der Naturerscheinungen sich irgendeine folgerichtige Vorstellung zu bilden. Und ist man etwa berechtigt, jeden Dichter in bezug auf seine Àberzeugungen von der Gottheit, der Fortdauer des Menschen oder Ýber irgendeinen der anderen Kardinalpunkte der Metaphysik einem KreuzverhÚr zu unterwerfen? Das Wesen des Genies ist Penetration, Konzentration. Shakespeare gar, der mit den Augen aller Menschenarten in die Welt sah, ist viel zu frei in geistesmÈchtiger Versenkung in Denkarten und Charaktere aller Art gewesen: ich glaube, ihm wÈre wie ein GefÈngnis erschienen, sich in e i n e r Geisteshaltung einzuschließen. Wohl interessierten ihn selbst Feinheiten der Gedankendialektik, aber nur als intellektuelle FÈrbung von Charakteren, als intellektuelles Material fÝr das Spiel der Affekte, oder auch als MÚglichkeiten, denen man nachgehen mÚchte. Hier und da treten in Sonetten und Dramen metaphysische Doktrinen auf, doch wissen wir nicht, wiefern sie als dauernde Àberzeugungen angesehen werden dÝrfen. Die Philosophie, zu der er ein inneres VerhÈltnis zeigt, ist jene rÚmische Lebensweisheit, welche uns trÚstet und lehrt die StÚße des Geschicks zu ertragen – die Philosophie der Humanisten und des Montaigne. Zuweilen erhebt ihn Ýber die Tragik des Lebens das Bewußtsein, daß es Schein und Traum sei, und auch dieses war in der Literatur seiner Zeit vielfach ausgesprochen. An einem anderen Punkte darf ein bedeutsamer Zusammenhang des großen Dichters mit der Literatur seiner Zeit angenommen werden. Dahin leitet schon die in der Tat fÝr sein historisches VerstÈndnis entscheidende Entdekkung seiner intimen BeschÈftigung mit Montaigne. Dieser Punkt liegt in der Analyse der menschlichen Charaktere und Affekte. Glaubt man, daß solche PrÈparate der Hauptaffekte als sie in seinen großen Dramen vorliegen, ein blo-

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ßes Geschenk natÝrlicher GenialitÈt gewesen seien? Sein BedÝrfnis und seine Arbeit verstandesmÈßiger Zergliederung richtete sich auf diejenigen Tatsachen, in denen er lebte, in denen er mit der ausschließlichen Penetration des Genies seine geistige Existenz fÝhrte: die Natur der Menschen, die Verschiedenheit ihrer Charaktere und Denkarten, ihre Affekte und die aus ihnen fließenden Schicksale. Er stand ohne Zweifel unter dem Einfluß der neuen Literatur um ihn her, welche die Kunst, bis in die feinsten Verstrickungen der seelischen Struktur des Menschen zu sehen, lehren wollte. Die unbeschrÈnkte fÝrstliche Gewalt und das hÚfische Leben erzogen damals zur Menschenbeobachtung. Es war sehr nÚtig aufzupassen, um sich an den HÚfen zu behaupten. Alles war hier persÚnlich und hing davon ab, wie man andere durchschaute und sich selber seinem Interesse entsprechend darstellte. Diesem BedÝrfnis kamen nun zahllose Schriften entgegen. Physiognomie, Gestalt, GebÈrde, wurden in ihnen als Zeichen von Charaktereigenschaften und inneren ZustÈnden untersucht. Die menschlichen Leidenschaften wurden beschrieben und zergliedert. Durch unzÈhlige KanÈle gelangten diese Reflexionen Ýber das Leben an jeden heran, und Shakespeare verkehrte bestÈndig mit Menschen, die von dieser Literatur gesÈttigt und bestimmt waren. So versteht man sein VermÚgen, die Struktur der Individuen so durchsichtig zu machen, daß man glaubt, das Blut in ihnen rinnen zu sehen. Und dann ist sein anhaltendes Nachdenken auf die großen ZusammenhÈnge von Charakter, Leidenschaft, Schicksal im menschlichen Leben gerichtet. Hier bestimmen ihn die Gedanken des an der rÚmischen Literatur gebildeten Humanismus in ihrem Einklang mit dem Kern der protestantischen Ideen. Sie empfangen eine neue Tiefe aus seinen Erlebnissen. Shakespeares Dramen sind der Spiegel des Lebens selbst. Sie trÚsten uns nicht, aber sie belehren Ýber das menschliche Dasein wie kein anderes Erzeugnis der europÈischen Literatur. Wenn er an einem Stoff das Motiv einer Dichtung entwickelt, so hÈlt er in der Regel an dem Sonderbaren, scheinbar Widersprechenden in der Àberlieferung fest. So behÈlt dieser Stoff den Erdgeruch der Wirklichkeit. Er interpretiert ihn. Er gewinnt ihm Innerlichkeit ab. In seinen Personen bleibt oft etwas Unfaßliches. Der Zuschauer soll sie so erblicken, wie er im Leben selbst die Menschen sieht – hereinschauend in sie von außen nach innen. Nirgend ist bei ihm die Richtung auf ein Ideal kÝnftiger Menschen oder ZustÈnde zu gewahren. Er nimmt die gesellschaftliche Welt um sich her hin wie eine unabÈnderliche Naturordnung. Er lebt in vollkommener Harmonie mit der monarchisch-aristokratischen Welt des damaligen England. Aus ihr stammen die Lebensprobleme seiner Dramen. Seine Charaktere sind gesteigerte Abbilder dessen, was er da vorfand: und zwar gesteigert in der Richtung des WertgefÝhls, das in dieser Gesellschaft bestand. Ohne jede Spur von Kritik, ja

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mit Behagen blickt er auf den Gegensatz zwischen den GlÝcklichen und Herrschenden, die Ýber die KÚpfe der anderen Menschen dahinschreiten, und dem eingebildeten Landadel, den lÈcherlichen Gelehrten, den Abenteurern und GlÝcksrittern. Auf diesen Gegensatz ist die doppelte Handlung, ja die doppelte Welt seiner Dramen gegrÝndet. Wohl spricht Hamlet stark und bitter von der Anmaßung derer, die in der Sicherheit ihrer Stellung und ihres Amtes heruntersehen auf die GlÝcklosen, vom schleppenden Gang des Rechts wie von der Mißachtung der Armut. Und aus den Sonetten sieht man, wie schwer Shakespeare selbst an dem Druck dieser aristokratischen Gesellschaft trug – an der zweifelhaften Stellung des Schauspielers, ein GÝnstling dieser hÚfischen Welt zu sein und doch keine feste Stelle und Ehre in ihrer Ordnung zu haben. Aber er nimmt all dies hin als ein Schicksal, das aus dieser Ordnung der Gesellschaft fließt, an die doch zugleich all die Kraft und SchÚnheit des Lebens gebunden ist, die er in seinen Dramen dargestellt hat. Denn diese aristokratische Ordnung der Dinge bestimmt das LebensgefÝhl der Menschen Shakespeares. Seine tragischen Helden leben im GefÝhl ihrer Macht, und die vornehm-heiteren Gestalten seines Lustspiels spielen mit dem Leben im stolzen Bewußtsein, daß dessen Not nicht ihre Fußspitzen berÝhrt. Alle diese Personen haben das hÚchste, reizbarste GefÝhl ihrer selbst, auch respektieren sie diejenigen, welche dieselbe vornehme Existenz fÝhren. Und aus dieser aristokratischen Ordnung stammt auch der Èußere Glanz, der sie und ihre Umgebungen umkleidet und ohne den die Wirkung dieser Dramen nicht zu denken ist. Das mÈchtige, dÝstere Schloß des Macbeth erfÝllt von Waffen, die Straßen von Verona umgeben von den festen HÈusern des sich befehdenden Adels, das feierliche Schloß des DÈnenkÚnigs, in dessen RÈumen festlicher Jubel und Geruch des Todes seltsam gemischt sind, die klirrenden RÝstungen, der Pomp der KÚnige, die feierlichen GewÈnder der KirchenfÝrsten – das alles erhÚht seine Menschen und VorgÈnge. Es wÈre vergeblich die Geschichte der Verbrechen des DÈnenkÚnigs Claudius, Macbeths oder Richards III. sich in den RÈumen eines heutigen KÚnigsschlosses vorzustellen, und es wÈre trostlos, sie in die Winkel der großen StÈdte zu verlegen, wo sie heute sich abspielen, nachdem auch in die Taten und die Schicksale der KÚnige etwas AbgedÈmpftes, Zusammengesetztes, von hundert UmstÈnden Bedingtes eingetreten ist, das aus den Notwendigkeiten unseres Lebens fließt. Und in der Abstufung der aristokratischen Gesellschaft jener Tage waren fÝr ihn mannigfache kÝnstlerische Wirkungen von hÚchster Art enthalten; nur eine derselben hebe ich hier hervor. Die Musik der Oper ermÚglicht, indem die einzelnen Personen gleichzeitig in ihrer Eigenart sich musikalisch aussprechen, die Mannigfaltigkeit der Stimmungen und der Charaktere zur Einheit

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des Lebens zu verbinden und den Reichtum des Daseins in einem einzigen Momente zusammenzufassen. Dem dramatischen Dichter ist solche Wirkung versagt. Aber das Musikalische in seiner Dichtung entspringt nicht nur aus der inneren Musik, die von deren lyrischen Gestalten ausgeht, sondern auch aus der Gesamtwirkung des Ganzen, wie sie in der Erinnerung des Zuschauers zustande kommt. Wie das Drama vorwÈrts schreitet, machen nacheinander die Kontraste in dem LebensgefÝhl und der Eigenart der Personen sich geltend, in der Erinnerung des Zuschauers wird diese Mannigfaltigkeit in Dissonanzen und Harmonien zusammengenommen, es klingen so gleichsam Tonreihen ineinander, und daher entsteht das GefÝhl von dem Reichtum, von dem gemischten Charakter des Lebens. Indem nun Shakespeare Ýber so mannigfache Abstufungen in seiner Gesellschaft, so starke Kontraste in ihr verfÝgte, hat er gerade diese Wirkung mit besonderer StÈrke hervorbringen kÚnnen. Schließlich drÈngt sich eine Beziehung zwischen der allgemeinen Richtung des englischen Geistes und dem Charakter der Poesie Shakespeares auf, die freilich jeder nÈheren Bestimmung oder BegrÝndung unzugÈnglich ist. Der Empirismus und die ihm entsprechende induktive Neigung hat sich in England mit derselben Folgerichtigkeit entwickelt, welche diese Nation in der Ausbildung ihrer Verfassung gezeigt hat. Platon und Aristoteles Ýben dort seit den Zeiten Bacons keine Art von autoritativem Einfluß auf die nationalen Neigungen des Denkens, und mit einer unvergleichlichen, frischen Unbefangenheit leben der einfache Beobachter wie der methodische Forscher in der Wahrnehmung, in dem Studium der natÝrlichen und gesellschaftlichen Tatsachen, welche sie umgeben. Mochten unter den Philosophen und Theologen andere Richtungen herrschend sein und auch das Ideenleben weiterer Kreise bestimmen, wie denn gerade in Shakespeares Zeit der Platonismus den grÚßten Einfluß besaß: sie Ènderten nichts an der empirischen Neigung des englischen Geistes. Offenbar entspricht derselben die dichterische Art die Welt zu betrachten in einem Shakespeare und Ben Jonson, einem Smollett, Fielding und Richardson, einem Dickens, Thackeray und Walter Scott. Entgegengesetzte Richtungen in der Poesie, wie sie insbesondere unter deutschem Einfluß Byron, Shelley und Coleridge vertraten, waren niemals dem englischen Geiste gemÈß und haben daher nie einen leitenden und dauernden Einfluß auf ihn gewonnen. Fassen wir alle ZÝge des dichterischen Schaffens von Shakespeare zusammen, so erleuchten sie durch den Kontrast die poetische Grundrichtung Goethes. In der Einleitung ist die Stellung beider in der europÈischen Literatur dargelegt worden; der hier erÚrterte Unterschied tritt nun ergÈnzend hinzu. Shakespeare lebte vorherrschend in der Welterfahrung, alle KrÈfte seines Geistes dem, was um ihn in Welt und Leben geschieht, entgegenstreckend. Goe-

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thes eigenste Gabe ist, die ZustÈnde des eigenen GemÝts, die Welt der Ideen und Ideale in ihm auszusprechen. Jener ist mit allen Sinnen und KrÈften darauf gerichtet, Leben aller Art, Charaktere aller Klassen in sich zu hegen, zu genießen, zu gestalten. Dieser blickt immer wieder in sich selber, und was die Welt ihn lehrt, mÚchte er schließlich benutzen, sein Selbst zu erhÚhen und zu vertiefen. KÝnstlerische Gebilde außer sich hinzustellen ist dem einen das hÚchste geistige GeschÈft seines Lebens; dem anderen bleibt doch das Letzte, das eigene Leben, die eigene PersÚnlichkeit zum Kunstwerk zu formen.

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ROUSSEAU. In dem neueren Europa schuf zuerst Jean Jacques Rousseau in der neuen Heloise ein siegreich wirkendes Kunstwerk auf dem Weg einer Entfaltung von Gestalten aus dem Reichtum eigenen inneren Erlebens und Denkens, ohne eine hervorragende Begabung oder GewÚhnung zur Wahrnehmung oder Beobachtung anderer Menschen und ihrer ZustÈnde. Durch das unselige Leben dieses mÈchtigen Mannes geht die UnfÈhigkeit, irgendeinen Menschen in seinem wahren Wesen zu erfassen. In den komplizierten ZustÈnden des damaligen an problematischen Naturen und raffinierter Menschenkenntnis Ýberreichen Paris war das ein unsÈgliches UnglÝck. Wie sein leidenschaftliches GemÝt ihm die Menschen vorspiegelte, so waren sie fÝr ihn; er lebte ganz in sich selber. So ist es fÝr die Erforschung der Phantasie von außerordentlichem Interesse, die Bildungsgeschichte seines großen Romans zu verfolgen, und wir sind durch seine Konfessionen und seine Briefe dazu instand gesetzt. Er stand in seinem vierundvierzigsten Lebensjahr, als er die Einsiedelei im Park von La Chevrette am 9. April 1756 bezog; „erst mit diesem Tag“, meinte er, „habe ich angefangen zu leben“. Hier, bei totaler Ruhe der Seele, vom Zauber der Natur und Einsamkeit umgeben, sah er seine Phantasie mit unwiderstehlicher Gewalt in Gestalten wirken, seinen GrundsÈtzen wie seinem Willen entgegen, da Romanschriftstellerei ihn in Widerspruch mit sich selber und seinen eigensten Àberzeugungen brachte. Der fundamentale Vorgang war, daß er dasjenige, was ihm von GlÝck, von beseligenden, seinen GefÝhlen und seiner tiefen Leidenschaftlichkeit entsprechenden Situationen und Gestalten vorschwebte, aus den schwimmenden Nebeln der TrÈumerei zu greifbaren Gestalten verdichtete und formte. Dieser Vorgang ist in allen großen Dichtern mitwirkend, und auch Miranda und Hermione sind verkÚrperte TrÈume der Sehnsucht. Aber in Rousseau war derselbe leitend, er beherrscht seinen ganzen

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Roman in dessen frÝhester Form. Seit seiner Jugendzeit wirkte seine Phantasie auf diese Weise; er erzÈhlt im vierten Buch der Konfessionen, wie er in der freien Natur sich zu solchem trÈumerischen Dichten jederzeit angeregt fand; „dann gebiete ich freischaltend Ýber die ganze Natur; mein Herz, von Gegenstand zu Gegenstand eilend, versammelt herrliche Bilder um sich und berauscht sich in entzÝckenden GefÝhlen. Wenn ich sie nun zu meinem inneren ErgÚtzen in Gedanken ausfÝhre, welche Kraft des Pinsels, welche Farbenfrische, welche StÈrke des Ausdruckes verleihe ich ihnen! Von dem allem, sagt man, ist in meinen Werken anzutreffen, die doch gegen die Neige meiner Jahre geschrieben sind.“ Die Epoche des Lebens, in welcher er sich befand, gab solchen TrÈumen eine ungeheure Gewalt. „Ich sah mich auf der Neige der Jahre, eine Beute schmerzlicher Krankheit, und, wie ich meinte, nahe dem Ende des Laufes, ohne auch nur eine der Freuden, nach denen mein Herz dÝrstete, voll genossen, ohne die regen Empfindungen, welche in diesem Herzen ruhten, je ausgestrÚmt, ohne jene berauschende Wonne geschmeckt, ja nur gekostet zu haben, die meine Seele erfÝllte, aber, ohne Gegenstand, immer zurÝckgepreßt blieb und nur in meinen Seufzern sich Luft machen konnte.“ „Sterben ohne gelebt zu haben“ – eine Vorstellung von erschÝtterndem Wehe. In solcher GemÝtsverfassung belebte er mit seinen Phantasien die einsame, bezaubernde Natur um ihn her, majestÈtische BÈume, GrÈser und purpurnes Heidekraut, eine Szene, welche geschaffen schien fÝr die Verwirklichung all seiner TrÈume von GlÝck. „Ich erfÝllte sie mit Wesen nach meinem Herzen; ich schuf mir ein goldenes Zeitalter nach meinem Geschmack, indem ich mir die Erlebnisse frÝherer Tage, an welche sich sÝße Erinnerungen knÝpften, ins GedÈchtnis zurÝckrief und mit lebendigen Farben die Bilder des GlÝckes ausmalte, nach welchen ich mich noch sehnen konnte.“ Das war es; Bilder seiner Erlebnisse aus Jugendtagen geben seiner Phantasie den Stoff, ein GemÈlde zu entwerfen, welches all das GlÝck, nach dem er sich noch sehnen konnte, in sich faßte. Auch spricht er aus, wie das geschah. „Ich stellte mir Liebe und Freundschaft, die beiden Ideale meines Herzens, in den entzÝckendsten Bildern vor und schmÝckte sie mit allen Reizen des schÚnen Geschlechtes, welches ich stets verehrt hatte. Ich dachte mir lieber zwei Freundinnen als Freunde, weil, wenn sie sich seltener finden, sie dann auch um so liebenswÝrdiger sind. – Ich stattete diese GemÈlde mit Gestalten aus, die zwar nicht vollkommen, aber nach meinem Geschmack waren. Ich gab der einen einen Geliebten, welchem die andere eine zÈrtliche Freundin und selbst noch etwas mehr war. Ich duldete aber weder Eifersucht noch Zwistigkeiten, weil es mir schwer wird, mir irgendeine peinliche Empfindung vorzustellen. Bezaubert von meinen beiden lieblichen Vorbildern identifizierte ich mich mit ihrem Geliebten und Freunde so viel als mÚglich. Ich machte ihn aber jung und liebenswÝrdig

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und gab ihm Ýberdies alle Tugenden und Fehler, die ich mir selbst eigen wußte.“ Die Szene verlegte er an den Genfer See, der seit lange mit all seinen TrÈumen von GlÝck verwebt war; „wenn der heiße Wunsch nach dem glÝcklichen und sÝßen Leben, das mich flieht und fÝr das ich mich geboren fÝhle, meine Einbildungskraft entzÝndet, so nimmt er immer das Waadtland, den See, diese entzÝckenden Landschaften zum Schauplatz“. Seine Gestalten tranken, gleich den Schatten Homers, Leben aus „einigen Jugenderinnerungen“. Andere ZÝge empfingen sie aus den Romanen Richardsons, in denen alle zÈrtlichen Seelen damals wie in einer hÚheren edleren Wirklichkeit lebten. Und endlich wirkte ein historischer Stoff gestaltend auf diese Bilder – die Geschichte von AbÈlard und Heloise, welche einst eben in diesem Paris und seinen Umgebungen sich ereignet hatte. So begann er, ohne Folge und VerknÝpfung, zerstreute Briefe auf das Papier zu werfen; „als ich mich anschickte, sie zu verbinden, geriet ich oft in große Verlegenheit; es ist nicht sehr glaubhaft, aber wahr, daß die beiden ersten Teile fast gÈnzlich auf diese Art geschrieben sind, ohne daß ich einen wohlÝberlegten Plan gehabt hÈtte, ja, ohne daß ich noch voraus sah, ich wÝrde mich versucht fÝhlen, ein ordentliches Werk daraus zu machen“. Im Winter 1756/57, als ihn die Jahreszeit ins Zimmer bannte, begann er Folge und Ordnung in diese BlÈtter zu bringen, um eine Art von Roman aus ihnen zu machen. Da trat die GrÈfin d’Houdetot in sein Leben, als die ErfÝllung seiner TrÈume, als die Wirklichkeit des Schattens, den er Julie genannt hatte, und hiermit begann seit FrÝhjahr 1757 die zweite Epoche der Ausbildung seines Romans, die bis zu dessen Abschluß und Erscheinen dauerte. Diese hat fÝr uns nicht mehr dasselbe Interesse, zumal wir die Umgestaltung, welche sich mit dem Roman vollzog, doch im einzelnen nicht mehr erkennen kÚnnen. Die HauptverÈnderung war, daß nunmehr das VerhÈltnis zu einer verheirateten Frau nach dem, was er erlebte oder sich in seiner Weltunkenntnis zusammenphantasierte, an die Stelle der Lebensbeziehungen zu dem frÝher entworfenen MÈdchenideal trat. Auch scheint eine Zerlegung dessen, was er in sich vorfand und als einander heterogen fÝhlte, in mehrere Personen stattgefunden zu haben, wie sie spÈter bei Goethe so deutlich zu bemerken ist. In Deutschland treten uns schon im Heldenzeitalter der neueren VÚlker zwei Werke entgegen, die denselben Charakter der persÚnlichen Dichtung an sich tragen. Durch das Studium der romanischen ErzÈhlungspoesie, aus der unser ritterliches Epos schÚpfte, empfangen wir auch in das letztere tiefere Einsicht, und wenn auch fÝr die beiden genialsten unter unseren ritterlichen Epikern, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg, ein EinverstÈndnis Ýber ihr VerhÈltnis zu ihren Quellen noch nicht erreicht ist: so weit

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ist dieses doch aufgeklÈrt, daß das dichterische Verfahren dieser beiden mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit erschlossen werden kann. Gottfrieds SubjektivitÈt durchdringt sein ganzes Gedicht. In den herrlichen Worten, in denen er die Epiker des Rittertums (den grÚßten ausgenommen) und seine Lyriker feiert, preist er auf Goethesche Art die Dichtung, daß sie in jedem die Jugend erneuert und den Mut des Daseins, die Freude am Leben erweckt: das war sein Ideal von der Dichtung, im Gegensatz zu Wolframs wilde und dunkle MÈre. Er war in dem ritterlichen Wesen nicht heimisch: man mÚchte glauben, daß er seinen Stoff ergriff, weil er das GefÈß seines hellen Lebenssinnes, vielleicht selbst persÚnlicher ZustÈnde und Erlebnisse sein konnte. In zwei Stellen des Tristan finde ich die Hindeutung, wie der Dichter selber Lust und Leid der Liebe erfahren, im Anfang und in dem berÝhmten Gesang, welcher das Liebesleben in tiefster Natureinsamkeit schildert; eine andere entgegenstehende •ußerung erscheint in diesem Zusammenhang als ein neckisches Spiel des Dichters mit seinen Lesern. Ein sicheres GefÝhl reichen Lebensgenusses, entschiedene Neigung fÝr kluge, ja listige Handhabung des Lebens, Verachtung des Charakters der Frauen und entzÝckte Hingabe an ihren Liebreiz geben seinem Werke das GeprÈge der romanischen Novelle; „so lang ihm scheint des Lebens Tag, soll er mit den Lebend’gen leben“. Hiermit vereinigt Gottfried aber ungemeine psychologische Tiefe, Darstellung von HerzenszustÈnden aus reichster Erfahrung: gerade die Grundempfindung des Werkes, die schon in der Einleitung sich ankÝndigt und Ýberall bedeutungsvoll wiederkehrt, auch das Leid der Liebe sei Seligkeit, ist echt germanisch. Diese Verbindung gibt dem Gedicht etwas RÈtselhaftes und ganz Individuelles. Von dieser gemischten Grundempfindung des Lebens aus ist dann das Ganze in einer durchsichtigen Einfachheit der Handlung gestaltet. Wie Rousseaus Werk ruht es ganz auf dem Interesse an dem Liebespaar und seinen Schicksalen. Spielender Reiz, Freude an listigem Schwank, lÈßlichste Lebensphilosophie, leichtverhehlter Haß gegen die kirchliche Macht und ihre Einmischung in die Rechtsordnung, leichtverhehlter Spott Ýber die Ideale des Rittertums, welcher schon Cervantes und Ariost vorbereitet, beides um so wirksamer, mit je Ýberlegenerem Weltsinn es spielend sich geltend macht, besonderer Geschmack an der Rechtsseite aller VerhÈltnisse und an Wendungen einer Art von juristischer Dialektik: all diese ZÝge treten mit subjektiver SouverÈnitÈt des GefÝhls und der PersÚnlichkeit aus dem Epos hervor. Wolframs unvergleichlich hÚherstehendes dichterisches VermÚgen erscheint in seinen Dichtungen weit mannigfaltiger. Die stolze, mÈnnliche, machtvolle PersÚnlichkeit des gering begÝterten Ritters auf seiner stillen frÈnkischen Burg, der sich vor FÝrsten nicht beugt, und der von der Geliebten selbst nicht um seiner Lieder willen geliebt sein mÚchte, sondern um seiner mutigen

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kampffrohen Ritterlichkeit willen, gleich seinen Helden, erkennen wir deutlicher als die Gottfrieds. Schon die Einleitung des Parzival kÝndigt an, daß ein Ideal vor den Leser gestellt werden soll, es ist das Ideal schÚnsten ritterlichen Lebens, wie es dem vom GlÝck Àbersehenen in der einsamen Seele glÝhte. Und dies Ideal wird in einer Entwickelung dargestellt, welche in gewissem Grade als Spiegel der inneren KÈmpfe dessen betrachtet werden muß, der es erdichtete. Dieses Epos birgt in sich den Entwicklungsroman, und mit derselben Kunst wie im Wilhelm Meister sind zu KontrastverstÈrkung und ErgÈnzung Charaktere neben die Hauptfigur gestellt. Eine solche Einheit des Lebens, wie sie Wolfram von der Jugenddumpfheit durch Zweifel und ziellose Abenteuer zu der mÈnnlich besonnenen Hingabe an den hÚchsten Lebensberuf des fÝr Gott streitenden Ritters darstellt, ist einzig in der ganzen mittelalterlichen Literatur, soweit wir sie kennen, und sie ist ohne tiefe persÚnliche Erfahrung, gedankenschweres Erleben gar nicht zu denken. So arbeiten unsere beiden großen ritterlichen Epiker in den ihnen vorliegenden romanischen Stoff persÚnliches Erlebnis hinein und eine selbstÈndig gewonnene zusammenhÈngende Ansicht des Lebens. Wir wenden uns zu Goethe.

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GOETHE. 1. Die Natur hat Goethe mit der ganzen FÝlle ihrer Gaben ÝberschÝttet, mit SchÚnheit, starker Lebenskraft, schÚpferischer GenialitÈt. Seine Entwickelung fiel in eine Zeit, in der in Deutschland das wirtschaftliche Leben, die Rechtssicherheit im bÝrgerlichen Verkehr und die religiÚse Freiheit in stetigem Aufsteigen begriffen waren. Die aus der altprotestantischen Zeit Ýberlieferten festen Bindungen des Familienlebens und der gesellschaftlichen Gliederung begannen nun sich zu lÚsen; die IndividualitÈten gewannen Raum zu freierer Bewegung, und ihr GefÝhlsleben suchte eigene Bahnen. Diese Befreiung der PersÚnlichkeit wurde verstÈrkt durch die Einwirkungen der franzÚsischen und englischen Schriftsteller. So entstand unsere dichterische Literatur. Ihre Ideale waren die des persÚnlichen Daseins – Liebe, Freundschaft, Menschlichkeit, aufgefaßt in deutschem GemÝt, HeimatsgefÝhl, Naturfreude. Der FrÝhling dieser Dichtung umgab Goethe. Er selber hatte aus seiner frÈnkischen Stammesart, wie sie sich am Oberrhein und am Main in freien StÈdten und in den milden geistlichen

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Herrschaften entwickelt hat, die Gabe empfangen, die eigene IndividualitÈt freudig zu fÝhlen, die fremde gelten zu lassen und im Genuß des Tages und der Stunde zu leben. Die patrizische Stellung seiner Familie in der alten Reichsstadt gab ihm SelbstgefÝhl, Sicherheit und unbehinderte Bewegung. Eine regellose Erziehung, ohne die Bindung und Disziplinierung der Schule, gestattete die freie Entfaltung seiner geistigen KrÈfte, seiner Phantasie, aber auch seiner Neigung, sich seinen GemÝtszustÈnden ganz zu Ýberlassen. FÝr eine solche Natur war das erste BedÝrfnis, im Leben sich zu tummeln, durchzufÝhlen, was es enthÈlt, und es auszusprechen. Eine einzige Reizbarkeit des GefÝhls befÈhigte ihn zu unendlichem GlÝck, aber auch zu grenzenlosem Leiden. In der Jugend ÝberwÈltigte ihn seine Leidenschaftlichkeit zuweilen gÈnzlich. Man kennt die Szenen, wie er, halb noch Knabe, aufgeregt Ýber Gretchens Schicksal, wÈhrend seines Hausarrests sich auf die Erde warf, den Fußboden mit seinen TrÈnen netzte, sich weigerte, das Zimmer wieder zu verlassen, und sich ganz den Phantasien Ýber die Leiden des armen MÈdchens Ýberließ, bis er in eine heftige Krankheit verfiel. In Leipzig stÝrzte er aus seinem Krankenzimmer, um die Geliebte im Theater zu beobachten, wurde dort so vom Fieber gepackt, daß er „dachte, in dem Augenblick zu sterben“, und aus dem leidenschaftlichen Wesen dieser Zeit entstand eine Lungenerkrankung. Und doch schreibt er in paar Tage nach dieser Szene, auf der HÚhe seiner Liebesleidenschaft, an seinen Vertrauten: „Sage Dir was ich da fÝhle, was ich alles herumdencke – und wenn ich am Ende bin; so bitte ich Gott, sie mir nicht zu geben.“ Denn auch in der Èußersten Leidenschaft ist ihm stets bewußt, daß kein einzelnes LebensverhÈltnis ihm genÝgt; Erleben in seiner ganzen FÝlle und Freiheit – das ist, wonach er verlangt. Ein beinah weibliches MitgefÝhl mit Dasein jeder Art, Phantasie, die es nachbildend steigert, lassen ihn sich hineinfÝhlen in jedes LebensverhÈltnis. Er erfaßt in ihnen allen das ihnen einwohnende GlÝck, ihren Wert fÝr die ErhÚhung des Daseins ganz. Er dringt an jede Natur, die ihm verwandt ist, dicht heran, idealisiert sie, erhÚht sein eigenes DaseinsgefÝhl im Durcherfahren dieses VerhÈltnisses nach seiner ganzen Bedeutung und SchÚnheit, und doch kann keines ihn binden. Jede Liebe ist vom heimlichen Bewußtsein begleitet, daß sie nicht zur Fessel werden darf. In jeder Freundschaft regt sich dÈmonisch das GefÝhl seiner Àberlegenheit. Und wenn dann Trennung und Schuld hereinbrechen, lÈßt ihn seine Phantasie das fremde Leid schmerzlichst miterleben. Diese Kraft und Freude, LebensverhÈltnisse durchzuerfahren, ist so mÈchtig in ihm, daß fÝr ihn kein BedÝrfnis nach einer Freiheit des Geistes besteht, die jenseit derselben, Ýber ihnen wÈre. Das ist der Zug seines Wesens, nach dem er Natur ist, wirksam wie diese, bald zum Guten, bald zum Schlimmen; er will in nichts Ýber sie hinaus. Ganz Leidenschaft, aber auch ganz Verstand im Bewußtsein dessen, was er bedarf, die VerhÈltnisse

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lenkend und die Menschen bezwingend, bildet er in sich Kraft aller Arten aus, nur nicht die abstrakte moralische StÈrke, die sich den VerhÈltnissen und der Welt kÈmpfend entgegensetzt. Hier erklÈrt sich seine reine Bewunderung fÝr die sittliche GrÚße Schillers. Sie ist eben darum so rein, weil er selber solcher moralischen StÈrke nicht bedarf. Und ebenso wird hier die KÝnstlerbewunderung Schillers fÝr diesen Menschen begreiflich, der Natur ist und wie die Natur selber wirkt. In seiner Jugend hatten die, die ihm nahe traten, etwas Unberechenbares, DÈmonisches zu erfahren. Er wurde ihnen zum Schicksal, das in ihr Leben eingriff. Das erfuhren nicht nur die Frauen, sondern auch Kestner, als Goethe plÚtzlich den Werther verÚffentlichte, Wieland, als das „Schand- und FrevelstÝck“ GÚtter, Helden und Wieland bekannt wurde und das junge Geschlecht gegen ihn stimmte, dann Lavater und noch viel spÈter Herder, der in dem dÝstern Pfarrhof hinter der Kirche zu Weimar sich verzehrte in seinem Gegensatz zu dem Herrschenden. Und auch er selber litt tief am Leben und an sich selbst. Es gehÚrte zu seiner mÈchtigen dichterischen Organisation, daß sie starker GemÝtsbewegungen bedurfte; sie waren gleichsam ein normaler Posten in dem Budget seines physiologischen Haushalts: sie raubten ihm nicht den Schlaf. Aber dieselbe Organisation machte ihn seelisch außergewÚhnlich leidensfÈhig. Es war doch nicht bloßes Phantasiespiel, wenn der JÝngling sich mit Selbstmordgedanken trug. Eine furchtbare Ruhelosigkeit trieb ihn zuzeiten umher. „Von mir sagen die Leute, der Fluch Cains lÈge auf mir.“ So gehen zwei Grundstimmungen durch seine Jugendjahre und seine ersten Werke. Er haftet an keinem Ort und keinem VerhÈltnis. Immer wieder bricht der DÈmon in ihm hervor, der das Leben sucht, nicht diesen oder jenen Teil desselben. „In dem Augenblick glÝcklicher Vereinigung verkennen Seelen, die fÝreinander geschaffen sind, sich am meisten.“ Und so entsteht immer wieder die andere Grundstimmung, BedÝrfnis nach einer heimlichen Stelle, an der er Frieden fÈnde, Vergessenwollen der unendlichen Anforderungen in ihm in einem engen VerhÈltnis. Dann erscheint ihm jede begrenzte Existenz beneidenswert, ihn verlangt nach einem Ruhigen, Festen in seinem Dasein. Das ist der metaphysische Zug seines Geistes, der sich erst religiÚs, dann naturforschendphilosophisch Èußerte. Volles GenÝge ward dieser Sehnsucht erst in der Hingabe an das Ganze und Eine, welche die Unruhe des Willens stillt, wie sie dem individuellen Dasein anhaftet. Einer solchen Natur mußte jede Lebenslage zu eng erscheinen. Das Vaterhaus drÝckte auf ihn. Dann die hÚfliche geregelte Leipziger Gesellschaft. Wenn er danach von diesem Druck im Kreis der jungen Generation durch das verwegene Ideal einer neuen starken Menschheit sich zu befreien suchte und nun dem Dichter des Àbermenschen die Seelen der Jugend zufielen, so mach-

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te sich dem gegenÝber um so peinlicher die persÚnliche Enge seiner Existenz fÝhlbar. Das Stockende, EinschrÈnkende der zurÝckgebliebenen Reichsstadt, die unbefriedigte Position des unbeschÈftigten Advokaten im Hause des Vaters wurden ihm unertrÈglich. Erst in Weimar findet er eine SphÈre des Wirkens, wie sein Streben in das Weite sie bedarf, als Freund, Berater, Minister des Herzogs, in der Verwaltung des Landes und im Anteil an der Politik des FÝrstenbundes, die sich auf die VerhÈltnisse des Herzogtums zu den anderen deutschen Staaten bezog und schließlich doch mit den europÈischen VerhÈltnissen zusammenhing. Hier zuerst wurde ihm die vornehme, ungebundene Freiheit der Bewegung zuteil, die damals nur die hÚfische Welt im guten wie im schlechten Sinne besaß. Er gewann HeimatsgefÝhl an die Natur auf eigenem Grund und Boden. Und er erfuhr eine Liebe, die zum ersten Male seine Seele mit Ruhe erfÝllte. Seine Briefe sprechen nun eine lange Zeit hindurch GefÝhl reinen, vollen GlÝckes aus. Aber auch hier trat mit der Zeit eine EinschrÈnkung hervor. Wie wenig verwirklichte sich von den Hoffnungen auf großes Wirken! Seine poetischen Arbeiten blieben liegen. Der FÝhrer der jungen dichterischen Generation fand sich von Schiller verdrÈngt. Sein Ruhm gehÚrte halb schon der Vergangenheit an. So erweiterte er abermals den Bereich seines Wirkens, Geltens und Genießens. Die Arbeit in Italien, der Bund mit Schiller, eine neue große schÚpferische Periode geben seiner Existenz in Weimar erst die wahre Wirkung ins Weite. Er beherrscht nun von dieser kleinen Residenz aus die Literatur seiner Nation, und, unablÈssig tÈtig, darf er erleben, wie seine Wirkungen in die Weltliteratur eingreifen. Aber wie nun auch sein Leben sich ausbreitet, welche VerÈnderungen der Àbergang zu einem tÈtigen Dasein in ihm hervorruft, und was im weiteren Verlauf geschieht – Goethes VerhÈltnis zum Leben bleibt in seinem Kern dasselbe. In den ersten zehn Jahren seiner Weimarer AmtsfÝhrung steht sein Streben, mit dem Leben fertig zu werden, alles zu seiner Selbstbildung zu nutzen, immer im Mittelpunkt seiner Existenz. Zu keiner anderen Zeit seines Lebens ist sein GehÚr so fein fÝr die Regungen seines Inneren, sein Streben nach HÚherbildung seines Wesens so stark, wie seine Briefe an Frau von Stein es beweisen. Im Handeln entwickelt er seine Natur und lernt sie kennen. Er genießt den neuen Reichtum an Lebensbildern, den besonders seine Reisen an die HÚfe ihm bringen. Er beobachtet die inneren ZustÈnde, die aus den neuen VerhÈltnissen hervorgehen, und erst indem er, was er erlebt, mit der welt- und lebenskundigen Frau, die seine ganze Seele ausfÝllt, genießt und in seiner Bedeutung bedenkt, empfÈngt es den letzten und hÚchsten Wert fÝr ihn. Ebenso wird auch in Italien jeder Gegenstand von ihm erfaßt mit dem GefÝhl des Genusses in der Anschauung desselben, mit dem Bewußtsein der FÚrderung durch ihn. Seine Selbstbildung und der Ausdruck seines Wesens in der Dich-

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tung bleibt auch hier der Mittelpunkt seiner Existenz. Nichts ist in diesem Lande fÝr ihn da, als was ihnen dienen kann. In seiner Selbstschilderung hat er seine Existenz zusammengefaßt, wie sie nun vom Ende des Jahrhunderts ab dieselbe geblieben ist. Àbung und Genuß in der bildenden Kunst, TÈtigkeit in den GeschÈften, naturwissenschaftliche Studien behielten einen breiten Raum in seinem Leben. Aber er nahm sie in ihrem Zusammenhang mit seiner Richtung auf universale Bildung und gab sich der Dichtung, als seinem wahren Beruf, folgerichtig hin, auf alle Mittel ihres Handwerks bedacht. Sein Ringen mit sich selbst war zu Ende. Er lebte in dem Bewußtsein seiner PersÚnlichkeit, die ihres Wertes ganz sicher geworden war, in der Hingabe an breite Lebenserfahrungen, die er mit Behagen genoß, im Umgang mit den großen Menschen aller Zeiten, in der zeitlosen Beziehung seines ausgestalteten persÚnlichen Daseins zu den ewigen KrÈften.

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2. Aus solchem Verhalten entsprang schon frÝh sein bestÈndiges N a c h d e n k e n Ý b e r d a s L e b e n . Es war nicht die Neugier eines Zuschauers. Er mußte in seiner unendlichen EindrucksfÈhigkeit mit dem Leben fertig werden, es in ruhigerer Verfassung auszuhalten lernen – auszuhalten in der FÝlle des GlÝckes in demselben und in seiner Bedeutung, wie in seinen Schranken und in seinen Leiden. So bildete sich Ýber seiner Existenz eine Schicht von Nachdenken, immer tiefer und immer breiter. Man sieht in seinen Briefen, wie sie sich aus dem Leben emporhebt. Zumal die Briefe an Frau von Stein sind darin einzig, wie hier ein Mensch sich, andere Menschen, Welt und Schicksal empfindet. Jeder Teil der Welt, den er sieht, spricht ihm etwas Ýber die Kraft und den Sinn des Lebens aus. Jeder hervorragende Mensch wird ihm zum Ausdruck der Menschennatur in einer bestimmten VerkÚrperung. Jedes Erlebnis wird ihm zu einer Belehrung Ýber einen Zug des Lebens selbst. Er fÝhlt mit einer Reizbarkeit ohnegleichen das VerhÈltnis der Natur zu sich im Wechsel der Jahreszeiten, in Morgenhelle und AbenddÈmmerung. Er lauscht den Bewegungen in den heimlichen Tiefen seiner Seele und versteht aus ihnen Menschendasein und menschliche Entwickelung. Immer sind ihm gewisse Relationen allgemeinster Art gegenwÈrtig, die sich durch unser Dasein hindurchziehen: so das VerhÈltnis der rastlosen Bewegung in demselben zu der Stille und der Festigkeit; der Kraft und WillkÝr der IndividualitÈt zu dem Ganzen, durch das sie bestimmt ist; des UnverÈnderlichen in uns zu der Entwickelung, der OriginalitÈt der PersÚnlichkeit zu den Einwirkungen von außen. Und das VerhÈltnis endlich, welches am tiefsten und allgemeinsten das GefÝhl unseres Daseins bestimmt – das des Lebens zum Tode; denn die Begrenzung unserer Exi-

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stenz durch den Tod ist immer entscheidend fÝr unser VerstÈndnis und unsere SchÈtzung des Lebens. Es ist bezeichnend fÝr Goethe, daß dies VerhÈltnis, dessen Tragik in der Dichtung von Sophokles, Dante und Shakespeare alles Dasein Ýberschattet, von Goethe gleichsam an den Horizont seiner Lebensbetrachtung geschoben wird. – Dies ganze Nachdenken Ýber das Leben quillt bestÈndig aus dem Leben selber, daher erfaßt es zugleich den erlebten Zusammenhang und den Wert jedes Zustandes, jeder PersÚnlichkeit und jedes LebensverhÈltnisses – ihre Bedeutsamkeit. Es ist eine Auslegung des Daseins aus ihm selbst, unabhÈngig von aller Religion und Metaphysik. Diese Schicht von Nachdenken Ýber das Leben ist der mÝtterliche Boden, aus dem seine Dichtung erwÈchst. Und ein unerschÚpflicher Reiz seiner Werke, am stÈrksten wirksam in Wilhelm Meister, den Wahlverwandtschaften und in Dichtung und Wahrheit, liegt darin, wie solche Lebensweisheit und Lebenskunst sie ganz durchdringt. Die PersÚnlichkeit, die VerhÈltnisse um sie her, ihre Bildung stehen im Mittelpunkt der Lebensbetrachtung Goethes. Immer ist seine Auffassung der menschlichen Dinge von dem abhÈngig geblieben, was er in seiner eigenen Lebenserfahrung erreichen konnte. Indem er von hier aus die historische Vergangenheit durchmusterte, erschien ihm das Leben als dasselbe zu allen Zeiten. Àberall fand er dieselben Modifikationen der menschlichen Natur, dieselben seltsamen Wendungen in der Entwickelung der Charaktere, dieselben SeelenzustÈnde wieder, die er erlebt hatte. So hatte jede Gestalt und jedes Erlebnis der Vergangenheit fÝr ihn Bedeutung durch etwas, das in seine eigene Erfahrung fiel. Im „Ewigen Juden“ steigt Christus zum zweitenmal hernieder in die Welt; als er sie zuerst sah, erschien sie ihm „voll wunderbarer Wirrung“ und „voll Geist der Ordnung“, bebend in Begierde, von ihr sich zu befreien bestrebt, und dann, von ihr befreit, wieder neu von ihr umschlungen, und bei seiner Wiederkehr scheint sie ihm nun „noch um und um In jener Sauce dazuliegen, Wie sie an jener Stunde lag, Da sie bei hellem lichten Tag Der Geist der Finsternis, der Herr der alten Welt, Im Sonnenschein ihm glÈnzend dargestellt“. Prometheus, Mohammed, Faust ziehen ihn an, und der Seelengehalt dieser Gestalten ist ihm eine zeitlose Modifikation der Menschennatur. Das moralisch-politische Puppenspiel und die ihm verwandten Fragmente sind nicht Darstellungen einer Gegenwart, sondern des unverÈnderlichen menschlichen Treibens. Und wer kennt nicht die Antwort Fausts auf die •ußerung seines Famulus Ýber die Freude, „sich in den Geist der Zeiten zu versetzen“! „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ GÚtz und Egmont lassen uns tiefer in Goethes geschichtliches Denken hineinblicken. Beide stellen das De-

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tail historischer ZustÈnde dar. Sie machen mit der grÚßten Lebendigkeit vergangenes Leben sichtbar. Aber in die Helden verlegt Goethe sein eigenes Erlebnis, und die historischen VerhÈltnisse, die auf sie einwirken, sind in der Stimmung eines Beschauers dargestellt, der auch in vergangenen Zeiten mit Behagen Menschentreiben, wie es immer ist, wiedererkennt. Eben hierin liegt der unvergÈngliche Reiz des GÚtz, wie die Abenteuer, die der Alte mit der eisernen Hand einst aufgezeichnet hatte, bildhaft, genremÈßig am Zuschauer vorÝbergehen, hingestellt mit dem GefÝhl ÝberstrÚmender deutscher Kraft und Lebendigkeit, aus dem sie hervorgegangen waren, und daher unbedÝrftig einer objektiven Erkenntnis ihres Zusammenhanges in sich und mit den geschichtlichen KrÈften um sie her. Egmont ist in der Reife des historischen Denkens geschrieben, Szenen wie das GesprÈch zwischen Oranien und dem Helden, der Regentin und Machiavell sind wohl das historisch Tiefste von Goethe, es ist in ihnen ein Extrakt seiner Erfahrungen in Hof- und Staatsleben. Aber der Held selbst ist frei zu einem Menschlich-PersÚnlichen gebildet und wird dadurch unglaubhaft im geschichtlichen Zusammenhang, ja im Grunde ungeschichtlich. Um ihn her ist allzuwenig von der Macht der protestantischen und bÝrgerlich freien Ideen zu spÝren, die in der niederlÈndischen Revolution wirksam gewesen sind. Das große geschichtliche Leben strÚmt nicht durch dies StÝck. Indem Schiller in seinen Dramen Ýberall das welthistorische Moment an seinem Stoff erfaßte, war er es, der das neue historische Drama schuf. Und nun durchmustere man Goethes historische Arbeiten! Er ließ in diesen die pragmatische Methode hinter sich in der tiefen Einsicht, daß nur die TotalitÈt der seelischen KrÈfte den geschichtlichen Gegenstand erfassen kann. So tritt er diesem als KÝnstler gegenÝber. Aber Geschichte als Wissenschaft hat noch eine andere Seite; der historische Gegenstand kann nur verstanden werden aus dem Ganzen, in dem er enthalten ist; seine ursÈchlichen Beziehungen und seine Bedeutung fordern, daß dem Geschichtschreiber der universalhistorische Zusammenhang immer gegenwÈrtig sei: er muß sein Objekt in Distanz von sich versetzen als eine Welt fÝr sich, zu der er sich unbefangen zu verhalten strebt. Dann erst werden ihm die historischen Bewegungen sichtbar, die jeden Teil der Geschichte durchfluten. GegenÝber dieser LoslÚsung der geschichtlichen Welt von dem Betrachter hÈlt Goethe an dem natÝrlichen VerhÈltnis des Menschen zum historischen Gegenstande fest. Er legt direkt in ihn all seine Lebenserfahrung und macht ihn so zu einem gegenwÈrtigen. Er bewundert, er lÈßt sich belehren. Und wie die PersÚnlichkeit Mittelpunkt seiner Lebensauffassung ist, so sucht er sie vor allem in der Vergangenheit auf. Wenn irgendwo der Fortschritt des Geistes aufgewiesen werden kann, so ist es in der Naturerkenntnis, aber Goethes Geschichte der Farbenlehre sieht in ihrem

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Gang nur „Auf- und Absteigen, Vor- und RÝckwÈrtswandeln, in grader Linie oder in der Spirale“; er beobachtet genial das wechselnde VerhÈltnis des Menschen zu den Naturobjekten, die Macht des PersÚnlichen in der Bildung der Theorien, aber er hat kein Auge fÝr die Notwendigkeit, welche die Stufen des Fortschritts der Naturerkenntnis bestimmt. Ebenso ist in seinen zeitgeschichtlichen Darstellungen sein Interesse nicht dem großen Zusammenhang zugewendet, in welchem die anbrechende Ordnung der Dinge, die sich ihm ja nicht verbergen kann, sie bedingt: er geht auch hier den immer gleichen Formen der LebensverhÈltnisse, der GefÝhle nach, die er an den kriegerischen und den bÝrgerlichen ZustÈnden um ihn auffassen kann. Die franzÚsische Revolution ruft in ihm keine starke Freude Ýber die Befreiung der Menschheit hervor und die napoleonische Fremdherrschaft keinen tiefen und anhaltenden Schmerz Ýber den Zusammenbruch alles dessen, was an politischer StÈrke in Deutschland bestand. Dagegen mußte ein solcher Geist die hÚchste FÈhigkeit zu biographischen Darstellungen haben. „Dichtung und Wahrheit“ macht Epoche in der Geschichte der biographischen Besinnung des Menschen Ýber sich selbst und sein VerhÈltnis zur Welt. Nimmt man alles zusammen, so ist im Grunde das geschichtliche Sehen fÝr Goethe FortfÝhrung seines Nachdenkens Ýber das Leben in die Vergangenheit hinein, Auffassung der dauernden Formen der Menschheit und ihrer VerhÈltnisse, letztlich eine ganz universale Auslegung des Lebens selber. Die Erfassung der immer wiederkehrenden Formen des Einzeldaseins und seiner Entwickelung regierte so ganz in seiner Seele, daß Menschheit und ihr Fortschritt, der Staat als Eigenwert und seine Macht ihm als leere Abstraktionen und Gespenster erschienen. 3. Aus dieser Gedankenschicht treten nun Goethes Dichtungen hervor. Leben und dessen Auslegung ist ihre Grundlage, die PersÚnlichkeit ist ihr Mittelpunkt. Hierdurch ist das V e r h È l t n i s v o n E r l e b n i s u n d D i c h t u n g bestimmt, das fÝr das poetische Schaffen Goethes entscheidend ist. Die Menschenwelt ist fÝr den Dichter da, indem er in sich Menschendasein erlebt und, wie es von außen ihm entgegentritt, es zu verstehen sucht. Im Verstehen steigert sich der Seherblick des wahren Dichters ins Unendliche. Denn er ÝbertrÈgt verstehend all seine innere Erfahrung in die fremde Existenz, und zugleich fÝhrt ihn doch die unergrÝndliche fremdartige Tiefe eines anderen großen Daseins oder mÈchtigen Schicksals Ýber die Grenzen seines eigenen Wesens hinaus; er versteht und gestaltet, was er nie persÚnlich erleben kÚnnte. So erhalten die Gestalten von Coriolan, CÈsar, Antonius in Shakespeares Phantasie eine verstÈndliche zusammenhÈngende Wirklichkeit, die kein Ge-

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schichtschreiber erreicht. An solcher Gabe hatte auch Goethe seinen wohlgemessenen Anteil, wie sein GÚtz und sein Oranien bezeugen. Ihr verwandt war sein geniales VermÚgen, Welttreiben hinzustellen, von den kecken dramatischen Scherzen seiner Jugend ab bis zum zweiten Teil des Faust, oder einen Kreis des Daseins in typischen Figuren und VerhÈltnissen zu umschreiben, wie in Hermann und der natÝrlichen Tochter geschah. Doch ist auch hier, besonders in den ErzÈhlungen, fÝr die Art seines Schaffens charakteristisch, wie die Darstellung von einem GesamtgefÝhl des Lebens erfÝllt ist, das aus der Tiefe seiner Seele stammt: bald als krÈftiges Lebensbehagen, bald als Ýberlegene Ironie, oder auch, wie im Wilhelm Meister, den Lauf der Begebenheiten begleitend wie die Melodie des Lebens selber. Aber was ihm in solcher StÈrke allein eigen ist, kommt doch erst da vollkommen zur Geltung, wo ihm fÝr sein persÚnliches Erlebnis Sage, Geschichte oder Zeitereignis zum GefÈß, zum Symbol werden. Auch hier, in Werther, Prometheus, Faust, Tasso, Iphigenie, gibt ihm sein Stoff MÚglichkeiten der Steigerung des eigenen Erlebnisses, oder es erhÚht auch die Wirkung der Gestalten von Faust und Mephisto, wenn der Dichter das Welttreiben ihnen ironisch-behaglich gegenÝberstellt: aber das Tiefe und Neue, das er der Welt hier gesagt hat, quillt doch unmittelbar aus seinem Erleben und rinnt in allen Adern des Werther, Faust, Tasso und so vieler anderer Gestalten. Es handelt sich hier gar nicht um ein Beobachten der inneren VorgÈnge und Darstellen des Beobachteten. Was wir durch die Selbstbeobachtung erfahren, ist Ýberall in enge Grenzen eingeschlossen, und auf diesem Wege empfÈngt selbst die wissenschaftliche Besinnung Ýber das Seelenleben viel weniger als in der Regel angenommen wird. Denn indem wir unsere Aufmerksamkeit den eigenen ZustÈnden zuwenden, schwinden diese nur allzuoft. Das Verfahren des Dichters, der das persÚnliche Erlebnis ausspricht, ist ein ganz anderes. Es beruht auf dem Strukturzusammenhang zwischen dem Erleben und dem Ausdruck des Erlebten. Das Erlebte geht hier voll und ganz in den Ausdruck ein. Keine Reflexionen trennen seine Tiefen von ihrer Darstellung in Worten. Die ganze Modulation des Seelenlebens, die leisen ÀbergÈnge in ihm, die KontinuitÈt in seinem Ablauf werden so durch den Ausdruck dem VerstÈndnis zugÈnglich gemacht. Hierin liegt die seherische Bedeutung des Lyrischen – dies Wort in weiterem Sinne genommen. Auf demselben VerhÈltnis von Erleben und Ausdruck beruht, daß die Instrumentalmusik uns Tiefen der Seele erÚffnet, die in keine Beobachtung fallen. Es ist nun Goethes eigenste Gabe, sein persÚnliches Erlebnis in seinem vollen Gehalt zum Ausdruck zu bringen. Seine Sprachphantasie, wie sie geschildert worden ist, verlieh ihm hierzu alle Mittel. Indem sein unvergleichlich reiches bewegliches Seelenleben zum erschÚpfenden Ausdruck gelangte, im lyrischen Gedicht, im Drama und in der ErzÈhlung, entstand seine Seelendichtung, die uns alles

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menschliche Innere tiefer, reiner, wahrer auffassen gelehrt hat. Dies ist ein weiterer Zug in der eigentÝmlichen Bedeutung unseres grÚßten Dichters, wenn man ihn im Zusammenhang der europÈischen Literatur betrachtet, ihn mit deren ersten Dichtern vergleicht und seinen Wirkungen nachgeht. Er ist der grÚßte Lyriker aller Zeiten, sein Faust entsprang eben aus dieser Richtung, und alle seine bedeutenderen epischen oder dramatischen Dichtungen sind erfÝllt von Klang und Rhythmus des Seelenlebens. Wie umfassend ist nun aber das persÚnliche Erlebnis, das dieser universale Geist zum Ausdruck gebracht hat! Er lebte von Anfang an im starken Bewußtsein seiner selbst. Nie verlor er sich so ganz in die GegenstÈnde, daß er nicht sich selbst und sein VerhÈltnis zu ihnen zugleich fÝhlte. Jeder Zettel aus seiner Jugend ist ein Zustandsbild, das ihn selber in seiner gÈrenden Kraft in irgendeiner Situation zeigt. So sind auch seine Jugendgedichte der natÝrliche und unbefangene Ausdruck seines ExistenzgefÝhls in einem gegebenen Momente. Findet man ihn dann in der italienischen Reise oder in seinen naturwissenschaftlichen und historischen Arbeiten mit großen GegenstÈnden beschÈftigt, so stellt er diese in der Regel so dar, daß man sein VerhÈltnis zu ihnen miterlebt und die freudige Kraft nachfÝhlt, mit der er der GegenstÈndlichkeit der Dinge sich hingibt. Aus den geschichtlichen Bedingungen entsprang sein Streben, seine PersÚnlichkeit zur hÚchsten Ausbildung zu erheben. Durch die ganze damalige Literatur ging die Richtung auf Steigerung unseres Daseins. Die theologischen KÈmpfe, in denen Lessing sich zu seinem Lebensideal hatte emporarbeiten mÝssen, waren nun vorÝber. Das neue Geschlecht durchbrach die Schranken, in denen dieser große Mensch noch das Leben und die Welt hatte auffassen mÝssen. Die Jugendgenossen Goethes, Herder voran, lebten frei von der Last der Traditionen. Sie waren getragen von dem Willen nach Entfaltung aller ihrer KrÈfte in TÈtigkeit und in Genuß. Das Individuum wollte, was das Leben enthÈlt, selber erfahren, denken, durchkosten in Lust und Leid – ohne Schranken. Darin aber lag nun, was seine persÚnliche Dichtung von der seiner Genossen, eines Lenz oder Klinger, durchaus unterschied und Ýber sie emporhob: ihn machte das Streben nach ErfÝllung seines Daseins, nach Realisierung alles Menschlichen in seiner Person und in seinem Leben unersÈttlich, alles, was ihn von geistigen KrÈften, bedeutenden Menschen, großen Bewegungen umgab, anschauend, verstehend, erlebend in sich aufzunehmen. Mit der ihm eigenen Geschwindigkeit des Geistes erfaßte er in den BÝchern, was ihm gemÈß war: das andere ließ er auf sich beruhen. Er war neben Voltaire der universellste Mensch des 18. Jahrhunderts. Aber die UniversalitÈt Voltaires entstand in der Anwendung des Raisonnements auf alle GegenstÈnde und Aufgaben, die

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Goethes in dem nacherlebenden Verstehen alles Menschlichen. Wie alles Verstehen im Erleben gegrÝndet ist, so ging es dann auch in ihm wieder zurÝck in die Erweiterung des eigenen Daseins. Er sagt einmal, seinem sittlichen und literarischen Lebensbau liege zugrunde, daß er stets von jeder geistigen •ußerung zurÝckgegangen sei auf ein UrsprÝngliches, GÚttliches und UnverwÝstliches. Er verstand, indem er Fremdes zu seinem eigenen Leben in VerhÈltnis setzte, und das Verstandene wurde ein Moment seiner eigenen Entwickelung. So reich war sein Wesen, so stark sein BedÝrfnis, seinem Dasein unbegrenzte Weite, seinen Einsichten ObjektivitÈt zu geben, daß er auch die religiÚsen, die wissenschaftlichen, die philosophischen Bewegungen der Zeit in sein Erlebnis aufnahm – die befreiende Macht der AufklÈrung und die Bibelkritik, das religiÚse GefÝhl des Zinzendorfschen Kreises, Jung-Stillings und Lavaters, Winckelmanns Griechentum, die Erneuerung Spinozas, das neue VÚlkerverstÈndnis Herders, Kants Lehre von der SpontaneitÈt des menschlichen Geistes, seine Anweisung zur Selbstbesinnung, seine Sonderung des Erforschbaren vom Unerforschlichen, seine VerknÝpfung der organischen Natur mit dem Schaffen des KÝnstlers, die neuen Entdeckungen der Naturforschung wie Schillers Begriff von der Èsthetischen Erziehung des Menschen zum handelnden Leben. Er war wie ein Strom, der durch stets neue ZuflÝsse immer breiter und mÈchtiger dahinrollt. Selbstbildung und Welterkenntnis waren in diesem Geiste eins. Und so liegt nun schließlich darin die einzige GrÚße seiner persÚnlichen Dichtung, daß in ihr das PersÚnlichste mit allem, was von allgemeineren Bewegungen Bestandteil seines Wesens wurde, auf das innigste verbunden ist. Eben weil die grÚßten geistigen PhÈnomene ihm zum Erlebnis geworden waren, konnten sie mit seinem eigensten Schicksal verknÝpft werden und konnten bewegen, erschÝttern. So und nur so wurde das grÚßte Gedicht nach Shakespeare, der Faust, mÚglich. Nimmt man persÚnliches Erlebnis in diesem umfassenden Sinne, so unterliegt es keinem Zweifel, daß in ihm die Grundlage der Dichtungen Goethes gelegen hat. Goethes Selbstbiographie spricht dies klar aus. Man erblickt da den Dichter gegenÝber einer gesellschaftlichen Ordnung, in welcher nur die GemÝtsschicksale und die Privatleidenschaften Raum hatten; das Elend dieser gesellschaftlichen Ordnung wird mit Vorsicht angedeutet; man sieht zugleich in den jungen KÚpfen die Erkenntnis entstehen, daß nur bedeutender Stoff in naturwahrer Behandlung echte Dichtung ermÚgliche. „Aber diesen zu finden, war ich genÚtigt, alles in mir selbst zu suchen. Verlangte ich zu meinen Gedichten eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion, so mußte ich in meinen Busen greifen.“ „Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben Ýber nicht abweichen konnte, nÈmlich dasjenige, was mich erfreute oder quÈlte oder sonst beschÈftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwan-

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deln und darÝber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den Èußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl Niemand nÚtiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur BruchstÝcke einer großen Konfession.“ Diese Richtung ward dann, wie das neunte Buch berichtet, durch die damalige empirische Seelenlehre und die Dichtung Wielands verstÈrkt. Beide empfahlen „Einsicht in die verborgenen Winkel des menschlichen Herzens“ und „die Kenntnis der Leidenschaften, die wir in unserem Busen teils empfanden und teils ahnten, und die, wenn man sie sonst gescholten hatte, uns nunmehr als etwas Wichtiges und WÝrdiges vorkommen mußten“. Eine Stelle von der grÚßten Bedeutung! Sie zeigt, wie tief Goethe selber im RÝckblick auf sein Leben die Macht der geschichtlichen Lage empfunden hat, die ihn in die persÚnliche Dichtung trieb. Nicht ganz uneingeschrÈnkt freilich kann man sie gelten lassen. Wer kann sagen, wie sich mit der allgemeinen Lage persÚnliche Begabung, das Naturell der Rhein- und Maingegenden, die Abgeschlossenheit der Vaterstadt von den politischen MachtkÈmpfen der Zeit verband? Ergreift doch neben ihm Schiller das andere Moment, das in der Zeit lag – die MachtkÈmpfe der großen Staaten, und mit ihnen verwoben den ungestÝmen Willen zu einer freieren Gestaltung der Gesellschaft – die Welt des Handelns. Und welcher jubelnde Beifall kam doch Schiller entgegen! Goethes Weg war stiller, er ging in letzte Tiefen, in die sich damals auch unsere Musik und Philosophie eingegraben haben. Diese Grundrichtung der Dichtung Goethes durchlÈuft nun bemerkenswerte VerÈnderungen. Bis zum Abschluß der Lehrjahre Wilhelm Meisters 1796 entspringen alle seine Dichtungen aus dem persÚnlichen Erlebnis. WÈhrend er an ihnen arbeitet, spricht er sich darÝber aus, und noch deutlicher bezeugen es seine spÈteren RÝckblicke. Der dichterische Vorgang ist in den meisten und wichtigsten dieser SchÚpfungen derselbe. Ein GemÝtszustand wird mit der ganzen Èußeren Situation, mit allem, was ihn an Vorstellungen, ZustÈnden, Gestalten umgibt, mÈchtig erlebt, und indem nun dem innerlich bewegten Dichter ein Èußerer Vorgang entgegentritt, der geeignet ist, GefÈß fÝr diese Herzenserfahrungen zu werden, entsteht in dieser Verschmelzung der Keim einer Dichtung, der alle charakteristischen ZÝge, die Totalstimmung, die Linien des Ganzen schon in sich enthÈlt. Daher durfte er aussprechen, daß jede Dichtung fÝr ihn eine Konfession, eine Beichte gewesen sei, daß er solchergestalt sich von den ZustÈnden, die auf ihm lasteten, innerlich befreit habe. So ist in jeder SchÚpfung dieser Art Goethe selbst inmitten seiner eigenen Gestalten: Èhnlich wie er geheimnisvoll sich selber in dem Gedichte Ilmenau erblickt und sich anredet. Die Motive sind aus seiner eigenen Existenz geschÚpft. In

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seinen Briefen, in seinen Gedichten ist es ein GemÝtszustand, der mit der Situation, die ihn hervorbrachte, ausklingt; in den grÚßeren Werken Leben mannigfacher Art, das sich meist auf eine Person bezieht, die aus dem Herzblut des Dichters ihr Leben empfing. Dieses VerhÈltnis der Goetheschen Dichtung zum Leben Èndert sich allmÈhlich, zumal von der Zeit ab, in der er von Weimar aus mit Schiller die deutsche Literatur beherrscht. Sein Leben ist nun zur Ruhe gekommen. Die FÝlle und StÈrke des Erlebens nimmt ab, und die Summe der gegenstÈndlichen Erfahrungen ist außerordentlich gewachsen. Die Ideale der Zukunft werden abgelÚst von der Zusammenfassung des Ertrags der Vergangenheit. Die Naturforschung verstÈrkt die GegenstÈndlichkeit seines Auffassens. Wie tief auch jetzt noch seine einzelnen VerhÈltnisse wirken auf seine Dichtung, sie beruht nun doch auf der Summe des Erlebten, auf der Stimmung der Welt gegenÝber, die aus demselben erwachsen ist. Diese Lebensweisheit, welche das Verhalten eines reifen GemÝtes zum Leben ist, beseelt und vergeistigt die großen epischen Dichtungen der zweiten LebenshÈlfte Goethes. Die gesammelte dauernde Kraft derselben in seiner Seele ist das Subjekt seiner didaktischen Lyrik, und sie macht auch den zweiten Faust zum Abbild der Welt selber.

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4. Erleben, Lebenserfahrung, Lebensideal streben nun aber von Goethes FrÝhzeit ab, sich in einer W e l t a n s c h a u u n g zu festigen, und diese bedarf der wissenschaftlichen BegrÝndung. Dies ergab sich schon daraus, daß unsere Dichtung sich in einer wissenschaftlichen Epoche ausbildete. Lessing, Schiller, die Romantiker haben ihrer Weltansicht eine wissenschaftliche BegrÝndung gegeben. Aber welche StÈrke mußte dies BedÝrfnis in der mÈchtigsten Phantasienatur der modernen Zeit erhalten! Indem sie die Welt poetisch erblickte, geriet sie in Widerspruch mit der Wissenschaft um sie her; sie war genÚtigt, ihr Wesen zu verteidigen, und das konnte nur in einer wissenschaftlich begrÝndeten Weltanschauung auf allgemeingÝltige Weise geschehen. Eine neue Seite an den WeltverhÈltnissen, die Goethe bedingt haben, tritt uns hier entgegen. Unter den Literaturen Europas hat die unsere sich zuletzt entwickelt, inmitten einer gewaltigen geistigen Bewegung, die alle KulturlÈnder erfÝllte. Im 17. Jahrhundert hatte die moderne Wissenschaft sich konstituiert, und im 18. legte sie die Grundlagen fÝr die Befreiung des Menschen vom Druck der religiÚsen Àberlieferung, fÝr Erkenntnis des ursÈchlich gesetzlichen Zusammenhangs in der Natur und Herrschaft Ýber sie, fÝr die Erfassung der geistig geschichtlichen Welt in ihrem tieferen Zusammenhang und fÝr Theorien, die fÈ-

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hig wÈren, die Umgestaltung der Gesellschaft zu leiten. So machte die Wissenschaft den Menschen mÝndig. Die gebildeten Klassen waren erfÝllt vom Streben nach Steigerung der individuellen Kraft der PersÚnlichkeit und nach Befreiung derselben von den Schranken der alten aristokratisch monarchischen Ordnung. Unter der Einwirkung dieser Bewegung ist nun unsere große deutsche Dichtung entstanden. So mußte ihr Entwickelungsgang und ihr Charakter ganz verschieden von dem der vorangegangenen nationalen Dichtung der anderen modernen VÚlker sein, die das europÈische Zeitalter der Phantasie erfÝllte und in die AnfÈnge des wissenschaftlichen Zeitalters hineinreichte. Die Auffassung der Wirklichkeit war, als unsere Dichtung begann, verstandesmÈßig, und die Sprache war von einer durch die Wissenschaft geformten Prosa bestimmt. Langsam, schwer mußte unsere Literatur sich ihre dichterischen Darstellungsmittel schaffen. Sie eroberte in Lessing eine neue starke realistisch dramatische Kunst der geschlossenen Handlung, in Klopstock die dichterische Energie und die Ausdruckskraft, die Seele bis in ihre letzten Tiefen zu erschÝttern, und in Wieland Grazie, sanften epischen Fluß, und die Sprache fÝr die leisen Wechsel auf der OberflÈche des Lebens. In ihrem mÝhsamen VorwÈrtsschreiten hatte unsere Dichtung aber vor der Italiens, Englands und Frankreichs im 16. und 17. Jahrhundert Eines voraus: den großen Gehalt. Eine unermeßliche wissenschaftliche und philosophische Arbeit war ihr voraufgegangen, und sie selber war aufs innigste mit der Gedankenarbeit von Winckelmann, Lessing, MÚser, Herder und Kant verbunden. Diese MÈnner schufen eine neue Auffassung der geistigen Welt. Und in dem Zeitalter von Goethe erhielten nun diese Studien eine Grundlage in der Verbindung astronomischer, geologischer und biologischer Einsichten, die seit Buffon den Menschen in den Zusammenhang der Evolution des Universums stellte: von Kant ausgehend und doch zugleich im entschiedensten Gegensatz zu ihm arbeitete Herder bei uns in dieser Richtung. Goethe brachte dem allem eine unendliche AufnahmefÈhigkeit entgegen. Er nahm in sich auf, was irgend darin seinem Wesen gemÈß war. Er steigerte und vereinigte es. Und nun ist ihm das GlÝck zuteil geworden, in einem langen Leben die Entwickelung des deutschen Geistes zu seinen hÚchsten dichterischen, philosophischen und wissenschaftlichen Leistungen mitwirkend zu begleiten und ihre Momente in sich zusammenzufassen, wie dies vor ihm auf eingeschrÈnkteren Gebieten Sophokles, Michelangelo, Sebastian Bach hatten tun dÝrfen. Wie er diese Momente vereinigte, das war nun durch die ihm eigene Auffassungsweise bestimmt. Denn so unbegrenzt seine AufnahmefÈhigkeit war, ebenso einfach und Ýberall durchgreifend war sein geistiges Verfahren. Anschauung, Phantasie, dichterische Anlage waren im Mittelpunkt seiner see-

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lischen KrÈfte. Wirklichkeit gewahren, erleben, verstehen war Ýberall und immer die Grundlage seines Verfahrens. In demselben herrschte das anschauende Verhalten, das im VerhÈltnis des Ganzen zu den Teilen fortgeht. Es erscheint in der Wissenschaft als gegenstÈndliches Denken und in der Poesie als Steigerung der Wirklichkeit nach dem ihr innewohnenden Gesetz. Von je hatte er wenig Neigung, Gabe und Vertrauen fÝr das Trennen des Lebendigen und die Theorien, die dessen Teilinhalte entwickeln, fÝr die langatmigen BeweisfÝhrungen der Philosophen und ihr Denken Ýber das Denken. Immer lebte er in der Einheit der Dinge und in der Struktur ihrer Teile zum Ganzen. Die Natur war ihm ein Alllebendiges, bedeutete ihm Kraft zur Gestaltung, wie er sie in sich selber als schaffende Phantasie erlebte. Und das war so von Jugend an und entwickelte sich nur mit der Zeit zu methodischem Bewußtsein und wissenschaftlicher Form. Denn wie sein gegenstÈndliches Denken und kÝnstlerisches Verhalten innerlichst verwandt waren, erblickte er Ýberall und auf mannigfache Weise Gott, Natur, die Menschen in ihr und das Nachschaffen der gÚttlichen Welt als einen lebendigen Zusammenhang. Diese Anschauung war zuerst wie eingehÝllt in dumpfes, mystisches, pantheistisches GefÝhl, und sie klÈrte sich dann auf in seinen philosophischen und naturwissenschaftlichen Studien. Es war um sein zwanzigstes Lebensjahr, als er, krank von Leipzig zurÝckgekehrt, in den Kreis der Zinzendorfschen ReligiositÈt geriet, in Paracelsus, Helmont, die Ketzer der Arnoldschen Kirchengeschichte sich vertiefte und so auf ein gnostisches System der Evolution des Universums verfiel. Schon damals erfÝllte ihn die Anschauung eines quellenden, nach Entfaltung in der Mannigfaltigkeit drÈngenden Alllebens. Und als er dann allmÈhlich in Straßburg von der religiÚsen Form sich lÚste, in der er das Alllebendige erfaßt und hierin Frieden fÝr sein ruheloses GemÝt gefunden hatte, tritt in Prometheus, Mohammed, Werther und dem ersten Faust, unter verschiedenen Stimmungen, dieselbe Anschauung allwirkender lebendiger Kraft uns entgegen, die in seiner anschauenden Phantasie begrÝndet war und die von außen, auch durch Spinoza, nur Mittel der Verdeutlichung erhielt. Von Kind an hat dies Genie der Phantasie die Welt poetisch gesehen. Im Gestein, in dem niederstrÚmenden Wasser, in den Pflanzen fÝhlte er Leben, und alle Bewegung und Gestalt war ihm dessen Ausdruck. Bevor er seinen ersten Vers schrieb, umgab ihn schon eine poetische Welt. Sie wuchs heran, als der Knabe unendliche Papiermassen mit seinen Versen beschrieb. Welcher Zauber von Belebung der Natur, von eigenem Sehen derselben, von NachfÝhlen jeder Kraft, die in der Welt sich regt, ist in den Liedern seiner Leipziger Zeit! Wie er dann aus dem Bereich der AufklÈrungsdichtung heraustrat und das Eine Leben des All ihm aufging, schwanden auch das HirtenkostÝm und die GÚtter der galanten Dichtung, die bis dahin inmitten der poetisch gesehenen Natur ihr Wesen

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trieben, und klar, rein und voll trat nun der Zusammenhang der Natur heraus, immer neu in den wechselnden ZustÈnden des bewegtesten GemÝtes, und doch immer derselbe. Noch tiefer aber war die Weltanschauung Goethes durch seine dichterische Auffassung der Menschenwelt bestimmt. Diese Auffassung war natÝrlich und notwendig fÝr einen Geist, der von der unbefangenen Auslegung des Lebens aus diesem selber ausging, und vornehmlich hierin liegt ihre Wirkung fÝr alle Zeiten. Wer auf sein Leben beschaulich zurÝckblickt, sieht in dessen wichtigsten VorgÈngen FÚrderungen oder Hemmnisse der Entwickelung seiner Kraft, seiner Lebensfreude, des Wertes seiner Eigenart: eben hierin erfaßt er die Bedeutung, die den einzelnen Momenten seines Lebensverlaufs zukommt. Das ist die natÝrliche Ansicht des eigenen Lebensgangs. Sie liegt der dichterischen Lebensdarstellung zugrunde. Niemand hat sie reiner, ohne Einmischung metaphysischer oder religiÚser Voraussetzungen Ýber die Werte des Lebens durchgefÝhrt als Goethe. Jede PersÚnlichkeit erschien ihm als die Realisierung eines Eigenwertes durch den ursÈchlichen Zusammenhang. Shaftesbury und Herder bestÈrkten ihn in dieser Betrachtungsweise. Wie er nun ganz in ihr lebte, wirkte sie unbewußt und ungewollt auf sein Erlebnis der Natur. Sie machte sich in jeder seiner Erfahrungen von deren Zusammenhang geltend. Die Natur erschien ihm daher als die Realisierung einer ihr einwohnenden lebendigen Kraft und Bedeutsamkeit in einem ursÈchlichen Zusammenhang. Ein Sinnvolles wirkt in ihr und lebt sich in ihr aus. „Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?“ So fand er sich von Jugend an zum Pantheismus hingezogen; Werther, Prometheus, Faust verkÝnden „das innere glÝhende heilige Leben der Natur“; der Aufsatz Ýber die Natur (1782), wie er auch entstanden sein mag, spricht die Weltanschauung aus, in der Shaftesbury, Herder und Goethe verbunden waren. Die Natur ist beseelt von einer ihr einwohnenden gÚttlichen Kraft. Sie ist Eine und Ýberall gleichartig. Sie wirkt als die vollkommenste KÝnstlerin durch eine ihr eigene Technik. Und nun tritt die Formel des neuen Pantheismus hervor! „Sie hat sich auseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. Immer lÈßt sie neue Genießer erwachsen, unersÈttlich, sich mitzuteilen.“ Denselben Standpunkt nimmt die im Winter 1784–85 bei der LektÝre Spinozas niedergeschriebene Auseinandersetzung mit dem großen Denker ein. Sein, Kraft und Vollkommenheit sind dasselbe. Das ist die Philosophie der Bejahung der Welt, die im Gegensatz zur mittelalterlichen Weltverachtung Giordano Bruno begrÝndet und Spinoza in scharfen Begriffen formuliert hat. Aber Goethe bedurfte des abstrakten Schlußverfahrens dieser Denker nicht; er verhielt sich anschauend-denkend zur Natur; nur soweit das Denken von der Wahrnehmung getragen ist, erkannte er ihm GÝltigkeit zu. So mußte er

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dies Erforschbare und ein Unerforschliches voneinander sondern, und das geschah schon im Spinozaaufsatz. Die unendliche Kraft selbst ist nach Goethe dem FassungsvermÚgen des beschrÈnkten menschlichen Geistes unzugÈnglich; nur auf ihre anschaulichen Gebilde richtete er seine Untersuchungen. Seit den Studentenjahren hatte ihn seine durch das Auge wirkende und der Sichtbarkeit zugewandte Phantasie, „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“, zu den naturwissenschaftlichen Forschungen gefÝhrt. Hier Úffnete sich ihm der Blick in die Technik der Natur, deren Begriff seine Weltanschauung festgestellt hatte. Diese Technik wirkt in den Bildungsgesetzen der Stetigkeit, der Steigerung, der PolaritÈt. Sie bringt typische Naturformen hervor. Sie lÈßt dieselben sich entwickeln. Aus der bestÈndigen Gegenwart dieser Naturprinzipien in seinem Geiste entstanden seine berÝhmten biologischen Entdeckungen. SelbstverstÈndlich hat er eingesehen, daß aus der gÚttlichen Kraft, die der Welt innewohnt, in einer fortschreitenden Entwickelung die Naturformen hervortreten: sein eigentliches Interesse haftete doch an dem der Anschauung ZugÈnglichen, den typischen Formen, in denen die Natur ihren Gehalt auseinanderlegt, und den Gesetzen, nach denen die Typen sich realisieren. Auf dem Wege gegenstÈndlichen Denkens gelangte er so zur Einsicht in die Bedeutung des Weltganzen, da diese in den Strukturformen des Lebens sich manifestiert. So gibt es fÝr ihn kein Innen und Außen in der Natur, keine Trennung von Geschehen und Sinn des Geschehens, keine Sonderung von Natur und Geist. All Eines – „ein Meer, das flutend strÚmt gesteigerte Gestalten“. Diese Ansicht der Natur erleuchtete ihm in einem großen AperËu, das dann Schelling verfolgt hat, das Wesen der bildenden Kunst. In ihr bringt die Phantasie das Typische in den Formen der Natur zu reiner Darstellung, und so setzt sie das unbewußte Schaffen der Natur in der SphÈre des Bewußtseins fort. Und ebenso lÚste sich ihm hier das RÈtsel von der MÚglichkeit einer Erkenntnis, das damals in endlosen Debatten die Philosophen beschÈftigte. Das Wirken der Natur, die als ein Ganzes in Teilen sich auslebt, ist eins mit dem Verfahren des anschaulichen Denkens, das im VerhÈltnis des Ganzen zu den Teilen fortgeht. Soweit dies VerhÈltnis reicht, ist das Auffassen eins mit seinem Gegenstande. WÈhrend so das anschauliche Denken Goethes, das Ýberall vom GefÝhl der Einheit des Universums getragen war, in der organischen Naturwissenschaft sich hÚchst fruchtbar und erfindend erwies, mußte die mathematische Naturwissenschaft ihm ganz fremdartig und unzugÈnglich sein. In ihr lÚst der Verstand das Anschauliche der Erscheinungen auf, er konstruiert mathematische Beziehungen an einem in keine direkte Erfahrung fallenden GegenstÈndlichen. Es war Goethes geschichtliches Schicksal, die mechanische Naturwissenschaft zu hassen und zu bekÈmpfen, ohne daß er doch den unaufhaltsamen

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Fortgang derselben aufzuhalten vermocht hÈtte. Ist so der physikalische Teil seiner Farbenlehre unhaltbar, so ist doch von dem physiologischen die BegrÝndung der physiologischen Optik durch Johannes MÝller ausgegangen. Goethe selbst, dies Genie des Auges, genoß in seinen optischen Versuchen die PhÈnomene des Lichtes und der Farbe, er verkehrte mit diesem reinsten Elemente der Diesseitigkeit wie der GlÈubige mit gÚttlichen Wesen, und unerschÝtterlich behauptete er so das Recht der Anschauungskraft und die poetische SchÚnheit der Welt gegenÝber den farblosen Abstraktionen der Wissenschaft. Die geistige Welt und das Handeln des Menschen in ihr ist fÝr Goethe, als das Innere der menschlichen Organisation, untrennbar von der Natur. Hier kann ihn nun aber die sinnliche Anschauung nicht mehr leiten. Auch ist keiner der Versuche, in den Zusammenhang der geistigen Welt einzudringen, wie sie ihn umgaben, weder die pragmatische Psychologie, noch die Systematik Hegels, noch die neue Geschichtswissenschaft von ihm verwertet worden. Er ließ Menschen und Dinge auf sich wirken, und handelnd belehrte er sich Ýber sich selbst und die Welt. Nur in der Reinheit, Unbefangenheit und UniversalitÈt, mit der er das getan hat, war die ObjektivitÈt seiner Ansicht gegrÝndet. So geht ihm die Mannigfaltigkeit der individuell gearteten PersÚnlichkeiten auf. Durch sie hindurch erstrecken sich Naturformen menschlichen Daseins – die Geschlechter, die Lebensalter, die Typen der Eigenart, die Formen von Entwickelung und Verfall. Ebenso ist die Gesellschaft nach StÈnden, Berufsarten, politischen Leistungen gegliedert und verbreitet sich in vielfachen LebensverhÈltnissen. Àberall sieht er UnverÈnderliches, Notwendiges. Große BezÝge, auf denen der Zusammenhang der geistigen Welt beruht, treten hervor. Die Natur hat in uns einen Reichtum und eine Zusammenstimmung der KrÈfte angelegt; jede derselben bis hinab zu den Trieben hat ihren eigenen Wert; in jedem Individuum haben sie ein besonderes GefÝge. „Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen“. Auf dieser Grundlage vermag der Mensch in folgerichtigem rastlosen Tun seine PersÚnlichkeit zu gestalten. Sie ist der hÚchste Eigenwert der Welt „Volk und Knecht und Àberwinder, Sie gestehn zu jeder Zeit: HÚchstes GlÝck der Erdenkinder Sei nur die PersÚnlichkeit.“ Und alle gesellschaftliche Ordnung hat die Aufgabe, die PersÚnlichkeiten in freie, dem Wohl des Ganzen entsprechende TÈtigkeit zu versetzen. So findet der stÈndische Sozialismus der Wanderjahre in freien Genossenschaften das Mittel, der rastlosen Beweglichkeit des modernen Erwerbslebens einen befestigenden Zusammenhang zu geben. Von innen aber gelangt in diesem Spiel der KrÈfte der Mensch zur Sicherheit und Stille, mitten im Tun, in der Hingabe an den all-einen Zusammenhang, dem sein Wirken eingeordnet ist. – Fassen wir zusammen: in folgerichtigem

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frohmÝtigem Handeln, im Sinne der so geschauten Bedeutung des Lebens liegt die Aufgabe des Menschen. Aber selbst diese leichten Andeutungen eines Zusammenhangs sind zu abstrakt, zu hart und zu leer, als daß Goethes Lebensweisheit in ihnen sichtbar werden kÚnnte. Und jeder Versuch, die leichten schwebenden Geister dieser Lebensanschauung in Begriffe oder gar in System zu bringen, streift Schimmer und Licht von ihnen, er lÈßt nur traurige Schatten zurÝck. Lehre kann hier nicht getrennt werden vom Vorgang, aus dem sie hervorgeht, und Anweisung zum Leben nicht von dem, der sie ausspricht. Das Mannigfaltige der Bedeutung in den einzelnen LebensbezÝgen, wie es vor Goethes Seele stand, mannigfaltig und unendlich nÝanciert wie das Leben selbst – das ist sein Sehertum, seine Weisheit. Sie liegt jenseit der Moral und jenseit des Èsthetischen Verhaltens. Denn die Moral sondert aus dem Ganzen der Lebensaufgaben ein Ziel, eine Regel, deren Realisierung unseren Wert ausmachen soll. Und das Èsthetische Verhalten setzt bereits das VerstÈndnis der Bedeutsamkeit des Lebens voraus. Diese Weisheit ist eine Lebenskunst, aber sie ist mehr als das. Von ihr geht eine unbeschreibliche Kraft zu frohmÝtigem Handeln aus, Bejahung der Bedeutung des diesseitigen Daseins, VerstÈndnis des Lebens aus ihm selber. Diese Lehre gewinnt er an den GrabstÈtten von Mignon und Ottilie so gut als am hellen Lichte des Tages. Von dem Erforschbaren laufen die Linien ins Unerforschliche. Denn nichts ist starr und abgeschnitten in diesem Geiste. Der Mensch setzt seine Lebensaufgabe in Beziehung zu einer Anschauung der letzten Dinge, in der er der Verwirklichung derselben versichert sei. Hier ist der Ursprung der Religion und jeder Art von Glauben an die letzten Dinge. Eine klare Linie trennt von der Auslegung des Lebens und der Feststellung der Aufgabe des Menschen diesen Glauben, der alles Erfahrbare Ýberschreitet. Derselbe ist in seinem Ursprung und seiner Geltung subjektiv, relativ; er wechselt mit unseren Lebensaltern; ja er ist zur selben Zeit und in demselben Menschen verschieden nach der Region der Seele, in der er auftritt. Goethe fand, als KÝnstler sei er Pantheist, als Naturforscher Polytheist, und als sittlicher Mensch neige er dem Glauben an eine gÚttliche PersÚnlichkeit zu. Da wir nun aber „im Greisenalter Mystiker werden“, bewegt er sich zuletzt, nach seiner optimistischen Erwartung einer Àbereinstimmung zwischen unseren BedÝrfnissen und dem Weltbestande, behaglich, gelassen in Glaubensartikeln von einer Leitung des menschlichen Lebens von oben, seelischen Entelechien und einer Unsterblichkeit der rastlos Wirkenden. Goethe bedeutet fÝr uns heute dies VerstÈndnis des Lebens aus ihm selbst und dessen freudige Bejahung. Wie er im Leben dessen Sinn und Bedeutsamkeit nachgeht, so auch in der Welt. Im VerhÈltnis zu diesem harmonischen

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Ganzen nimmt er jedes Begebnis und jede Tatsache. Seine Poesie versÚhnt uns mit der Welt und verklÈrt sie. Ein unerschÝtterlicher beglÝckender Glaube an den wertvollen und bedeutsamen Zusammenhang der Welt tritt uns in seinen aufgezeichneten GesprÈchen mit patriarchalischem Behagen und Humor entgegen, an die Tischreden Luthers zuweilen gemahnend. Von diesem Mittelpunkte seiner Weltanschauung breitet er sich Ýberallhin aus. Je Èlter er wird, desto stÈrker wird sein BedÝrfnis, dem Ganzen, das lebendig vor ihm steht, immer mehr Tatsachen zu unterwerfen; dies ungeheure AnschauungsvermÚgen schien auf die Welt gekommen zu sein, jeden Tatbestand auf ihr seiner Betrachtung zu unterziehen, und sein Tod ist nur ein von der Natur befohlenes AufhÚren einer Operation, die so noch immer weiterzugehen angelegt war. Sein Blick ist Ýberall lauter, wahrhaft und rein. Wie unterscheidet er sich doch auch hierin von Voltaire, dem grÚßten Herrscher Ýber den europÈischen Geist vor ihm im 18. Jahrhundert! Diesem wundersamen Wesen, das heute sich Newtons bemÈchtigte, die Natur zu verstehen, morgen Bolingbroke ergriff, die Geschichte zu revolutionieren, das nach allen Seiten zu blicken scheint, jede Bewegung in seinem Umkreis zu gewahren und zu nÝtzen – ein Proteus, der immer ein anderer ist, nie er selber; denn was er ist, weiß er jederzeit klug zu verstecken durch etwas, was mehr ist als er selbst, was tiefer blickt, vornehmer und edler denkt; der Voltaire, der mit sich selbst redet, ist ein anderer als der zu seinem europÈischen Publikum spricht. Dagegen blickt uns aus allem, was Goethe je erfunden und gedacht hat, immer dasselbe reine und unergrÝndlich tiefe Dichterauge entgegen. Er ist in seinen geheimsten Gedanken derselbe, der in der Iphigenie redet. Sein erfahrendes Denken Ýber das Leben, seine Wissenschaft und seine Dichtung sind einmÝtig in dem, was sie lehren. Einfache VerhÈltnisse umgaben ihn noch, die eine allseitige Entfaltung der PersÚnlichkeit und eine natÝrliche heitere Auffassung des Daseins mÚglich machten. 5.

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Dieser Zusammenhang eines im Erfahren wirksamen Denkens ist die Grundlage der Dichtung Goethes; er bestimmte die Entstehung ihrer poetischen Motive, die Ausbildung ihrer Fabeln und Charaktere und ihre innere Form, und auf ihm beruht die Entwickelung seiner Poesie. Es mußte die bestÈndige Richtung seiner Phantasie sein, erlebte Wirklichkeit in das Poetische zu erheben. Sein GesprÈch war in den Jahren der Jugend von Bildern und Gleichnissen erfÝllt; er dramatisierte „was im Leben einigermaßen Bedeutendes vorging“: es war nur die Steigerung dieser bestÈndigen Verbildlichung seiner Erlebnisse, wenn er fÝr sie weltgeschichtliche Symbole

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ergriff oder sie in historische und zeitgeschichtliche VorgÈnge hineintrug. So entstanden in der Verbindung seiner persÚnlichen Schicksale mit den großen Bewegungen um ihn her die hÚchst wirksamen Motive von Prometheus, Faust, Werther, Wilhelm Meister, Iphigenie und Tasso. Hierdurch war nun die i n n e r e F o r m s e i n e r D i c h t u n g bedingt. Der harte, eckige Rohstoff des Geschehnisses wird in dem Bildungsprozeß der Phantasie gÈnzlich umgeschmolzen und gelÈutert. Dieser lÈßt nichts zurÝck als was fÝr den schlichten Ausdruck des Erlebnisses und seiner Bedeutung erforderlich ist. Er verzehrt alle bloße TatsÈchlichkeit in der Fabel, alle ZufÈlligkeit in der Zusammensetzung der Charaktere. Und vor uns steht nun die einfache VerkÚrperung eines bedeutsam Seelenhaften. Seine Dichtung hebt aus den Tiefen des Zeitbewußtseins eine neue Welt seelischer VorgÈnge ans Licht – von dem neuen titanischen Trotz bis zu der neuen innigen EinfÝhlung in die Natur. Goethe ist der erste moderne Dichter, der nicht die furchtbaren PhÈnomene der Leidenschaften, sondern den ganzen Menschen in seinem VerhÈltnis zu den ewigen KrÈften um ihn, in seinen heimlichen Leiden am Leben und an den Menschen darstellt; hierin sind alle Neueren seine SchÝler. Und nun gibt die mÈchtige Eigenart seiner Phantasie Menschen und Dingen eine Sichtbarkeit, die doch nichts von aufdringlicher RealitÈt hat – deutlichste Existenz in einer fernen idealen Welt. Sein einziges Sprachgenie, mit der naiven Kraft des Ausdrucks wurzelnd in seiner frÈnkischen Heimat, gebildet durch unendliche Àbung, durch die Literatur eines Èsthetischen Zeitalters und die wiedererstandene große Poesie der Vergangenheit, gewÈhrte ihm die Mittel fÝr die Darstellung aller NÝancen dieser Seelenbewegungen. Hierzu trat ein Vorteil eigenster Art; bestÈndige und mannigfache Àbung in der bildenden Kunst und der intimste Verkehr mit ihren Werken. Von frÝh ab strebte er „das •ußere der GegenstÈnde genau zu bemerken.“ „Das Auge war vor allem anderen das Organ, womit ich die Welt faßte.“ Er hatte zwischen Malern gelebt, und halb noch ein Kind „erblickte er ein Bild, wo er hinsah“. Die Èltere Malerei regte ihn dann an, die Szenen des Lebens malerisch zu sehen – malerisch im Sinne einer Umbildung der Èußeren Welt nach den Gesetzen der bildenden Kunst zu den ihr eigenen Wirkungen. Hierin war sein grÚßter moderner VorgÈnger Cervantes, der in Italien und in seiner Heimat unter der Einwirkung der großen Malerei gestanden haben muß. Von der Gartenszene des ersten Faust bis zu Hermann und Dorothea und zu Fausts VerklÈrung erhÚht diese angeborene und ausgebildete FÈhigkeit die ganze Èußere Welt zur SchÚnheit. Und wie ist zu ihr alles Seelische erhoben! Seine freudige Teilnahme an jedem Lebendigen, sein tiefes Verstehen und sein menschliches Geltenlassen bewirken, daß jedes Wesen in seinem inneren Wert und zugleich in seiner bestimmten Umgrenzung heraustritt. Eine letzte SchÚnheit breitet dann seine Kunst der Darstellung, der Glie-

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derung und des Stiles Ýber diese Èußere und innere Welt. Sie gibt jedem Werk eine ihm zugehÚrige Form, Úfters eine ganz neue wie in Faust, Wilhelm Meister und in Hermann und Dorothea. In ihr verbindet sich wie in seinem eigenen Wesen das Beruhen in der einzelnen ZustÈndlichkeit mit dem Fortschreiten des Ganzen. Die Natur dieser Phantasie vereinigt sich mit der Regel und dem Vorbild Lessings zu der AuflÚsung des Gegenstandes in Bewegung und der starren Charakteristik in eine innere Lebendigkeit, nach welcher neue Lagen die Menschen neu erscheinen lassen. Er lÈßt die Einheit des Seelenlebens nicht in festen Eigenschaften sehen, sondern in einem inneren Gesetz, das ihre Lebensmomente verbindet – gleichsam zu der Melodie ihres Daseins. Goethe ist der Dichter der SchÚnheit wie Raphael ihr Maler und Mozart ihr Musiker. Seine dichterische Entwickelung ist wie das Wachstum der Pflanzen. Er nimmt aus dem Boden, was ihm homogen ist, er assimiliert es nach dem Gesetz seines Wesens, und die Jahreszeiten des Lebens gehen Ýber ihn dahin. Die Poesien seiner ersten Jugend bewegten sich unbefangen in den Formen seiner Zeit; aber der Stoff fÝr sein SchÈferspiel, die „Mitschuldigen“, und fÝr die leichten spielenden Lieder seiner Leipziger Zeit lag schon ganz in seinen Lebenserfahrungen, und in jeder dieser Gattungen ließ er bereits seine deutschen VorgÈnger hinter sich. Von dieser ersten Periode hebt sich dann klar die zweite ab, die von Straßburg bis in die ersten Weimarer Jahre hineinreicht. Goethe gab nun dem unbestimmten Streben des neuen Geschlechtes nach GrÚße den hÚchsten Ausdruck. Er ließ Shakespeares und Corneilles KÚnige und Vasallen hinter sich, und sein Gegenstand wurde der geniale Mensch, der im 18. Jahrhundert seiner Bedeutung innegeworden war, Prometheus der schaffende KÝnstler, Mohammed der religiÚse Genius, Faust mit seinem grenzenlosen Streben nach Wissen, Macht und Genuß, Werther, in dem die Èußerste StÈrke des GefÝhlslebens sich einsam am Gegensatz zur Wirklichkeit verzehrt. Diese neue poetische Welt sprach sich in einem eigenen Stil aus, der die stÈrksten, bedeutsamsten Momente des Lebens heraushob und verband. Wer kÚnnte sagen, welche MÚglichkeiten der Entwickelung in dieser Ýberreichen Natur gelegen haben? Als er sich fÝr Weimar entschieden hatte, begann dort allmÈhlich eine neue Periode seiner Dichtung. Ihr Anfang war eine große Lebenserfahrung, die sich im Àbergang zu mÈnnlichem Wirken einstellte. TÈtigkeit, die alles umfassen mÚchte und Ýber die Schranken gegebener VerhÈltnisse hinausstrebt, ruft ruhelosen Wechsel der GemÝtszustÈnde, GefÝhl der UnzulÈnglichkeit hervor. Und so entsteht aus den TÈuschungen des Lebensdranges das tiefste menschliche Erlebnis, nach welchem nur stetiges, reines, folgerichtiges Wirken in bewußter SelbstbeschrÈnkung die innere dauernde Freiheit der Seele herbeifÝhren kann. Indem Goethe dies damals stÈrker, bewußter, voraussetzungsloser als irgendein Mensch seiner Zeit erfuhr, Úffnete sich ihm der Blick

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in Seelengeschichte mit deren leisem innerlichem Verlauf. Es war nicht die vom Christentum eingeschrÈnkte Seelengeschichte Lavaters noch die flache, vom franzÚsischen Zeitgeist bestimmte Wielands. Wie sie aus reiner Lebenserfahrung hervorging, hatte sie einen typischen Charakter. Sie sollte der Gegenstand seiner poetischen ErzÈhlung „die Geheimnisse“ sein. Hier gelangt die ReligiositÈt von Lessing und Herder zu ihrer letzten Vollendung in der Idee, daß jeder positive Glaube nur Symbol fÝr das innere Erlebnis ist, und dasselbe Erlebnis, das im Mittelpunkt des Lessingschen Nathan steht, vollzieht sich hier in Humanus, dem Heiligen, Weisen. Denn alle Kraft dringt vorwÈrts in die Weite, Zu leben und zu wirken hier und dort; Dagegen engt und hemmt von jeder Seite Der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort. In diesem innern Sturm und Èußern Streite Vernimmt der Geist ein schwerverstanden Wort: Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, Befreit der Mensch sich, der sich Ýberwindet. Auf denselben Erfahrungen beruht „Iphigenie“, die Darstellung der reinen Seele, welcher die Herrschaft Ýber sich selbst die Kraft verleiht zu erlÚsen. Entsagung Úffnet dann den Weg in das Wirken fÝr das Ganze. Ihr Werk ist Festigkeit, Reinheit, Schonung, Liebe, Stille. Sie gibt dem unbestimmten Streben Begrenzung. In das so entstehende stetige folgerichtige Handeln verlegt nun Goethe in seinen mÈnnlichen Jahren immer mehr den Wert des Lebens. Hierauf wirkte seine TÈtigkeit in der Verwaltung, die Philosophie Kants und Fichtes, vor allem aber Schiller und dessen großes Leben, in dem Dichtung zum Handeln wurde, da das politische Elend ihm anderes Wirken versagte. Dazu kam, daß die Bedrohung alles Bestehenden durch die Revolution auch den Dichter der Seele, der Liebe und der SchÚnheit auf die Welt des Handelns hinwies. So erkannte Goethe, wie Schiller, in allem Genuß, allem Wissen, aller Innerlichkeit nur die Vorbereitung zum Wirken fÝr das Ganze, und das war vorbildlich fÝr den Gang unserer Nation. Faust und Wilhelm Meister erhielten nun ihren Abschluß durch den Eintritt in die Welt der Tat. In Wilhelm Meister stellte Goethe eine Entwickelungsgeschichte in diesen typischen Stufen dar. Die Anlage des Faust forderte, daß entsagende BeschrÈnkung hier zurÝcktrat: in anderen typischen Stufen verlÈuft dies Dasein, dem selbst das Ende nicht das Bewußtsein seiner Schranken bringt; aber gewaltiger als irgendwo sonst ist hier das Handeln fÝrs Ganze als hÚchster Lebenswert hingestellt. Beide Werke stellen das Leben als eine Entwickelung dar, die in einer Stu-

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fenreihe ein Ideal realisiert. Sie heben nicht aus dem Leben eine besondere Seite und eine begrenzte Zeit heraus, sondern wollen den ganzen Menschen umfassen: eine unendliche nie rein auflÚsbare Aufgabe! Wie Goethe hier das PersÚnlichste mit den hÚchsten Beziehungen unseres Daseins verband, wie er das Welttreiben in derber Lebensfreude und zugleich in reifer ironischer Betrachtung den Tiefen der Seele entgegensetzte, erhob sich die europÈische Poesie in diesen Werken auf eine hÚhere Stufe, neue wunderbare poetische Eindrucksmittel wurden gewonnen, und es ging von ihnen die stÈrkste Wirkung auf die Nation, ja von dem Faust auf die Weltliteratur, aus. Noch einmal hat Goethe dann in seiner Selbstbiographie eine Entwickelung darzustellen unternommen, wie sie aus Anlagen, die er nur an ihren •ußerungen sichtbar machte, und aus den Wirkungen der Welt auf diese entsteht. Faust und Wilhelm Meister begleiteten ihn durch sein ganzes Leben und blieben doch unfertig wie das Leben selbst. Der KÝnstler in Goethe bedurfte begrenzter Stoffe, um in ihnen vollkommene SchÚnheit zu verwirklichen. Und so universal war Goethes Erleben, so beweglich sein GemÝt, daß er wie kein KÝnstler vor ihm Stimmungen seines Lebens, Seiten der seelischen Wirklichkeit, die einander ganz auszuschließen scheinen, in ihrer isolierten Bedeutsamkeit zu Welten fÝr sich gemacht hat – die derbe Liebeslust und SchÚnheitsfÝlle der rÚmischen Elegien, die Seelentiefen der Pandora und der Trilogie der Leidenschaft und die Beschaulichkeit des westÚstlichen Diwan. Es wÈre unmÚglich, weitere Perioden seiner dichterischen Entwickelung abzugrenzen. Wie sie voranschritt, griffen immer mehrere Reihen von VorgÈngen, welche sie bestimmten, ineinander; jede derselben setzte zu einer anderen Zeit ein. Das Studium der Bildungsgesetze der organischen Welt brachte Vereinfachung in seine dichterische Darstellung der Natur, und eigene poetische Formen derselben wie seine Lehrgedichte entstanden. Indem er dann solche Bildungsgesetze und dauernden Formen im menschlichen Leben aufsuchte, ordnete sich ihm hier das bunte Gewimmel der Erscheinungen unter Grundtypen des Menschen, seiner VerhÈltnisse und der Gesellschaft. Im Zusammenhang hiermit wuchs die Macht der typenbildenden griechischen Kunst Ýber seinen Geist. Dies waren die Voraussetzungen einer objektiven Dichtung, welche die Wahrheit des Lebens zur SchÚnheit verklÈrt. Goethe zuerst erhob die Dichtung mit Bewußtsein zum Organ eines objektiven WeltverstÈndnisses. So gereinigt war sein Geist durch seine anhaltende wissenschaftliche BeschÈftigung mit der Natur, so eins mit ihrem Wirken, daß er in Hermann und Dorothea in unwillkÝrlichem Schaffen das GesetzmÈßige hinzustellen vermocht hat, und zwar wie es hindurchschimmert durch die Gestalten und Schicksale, die so doch zugleich nur einmal, einzig, individuell da sind. Die objektive Poesie, die dem Homer nach der Ansicht der Zeit als ein Geschenk der Natur

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zugefallen war, realisierte Goethe auf der Grundlage wissenschaftlicher Auffassung der Wirklichkeit, welche ihn dazu gelÈutert hatte, unwillkÝrlich, ohne Reflektion die Dinge rein zu gewahren. Lionardo und DÝrer haben vor ihm in ihrem Gebiete dasselbe erstrebt – hierin Vorbilder jeder kÝnftigen hÚheren Darstellung menschlicher Gestalt. Und wie nun das ungeheure PhÈnomen der franzÚsischen Revolution dem deutschen Leben immer nÈher rÝckte, benutzte er dieselbe typische Form, um in einer großen Trilogie, von der nur der erste Teil, „Die natÝrliche Tochter“, vollendet wurde, die Gliederung der franzÚsischen Gesellschaft in reprÈsentativen Personen hinzustellen und die Momente in ihr zu zeigen, die deren Untergang herbeifÝhren mußten. Immer mehr Ýberwiegt in seinem Geiste die Betrachtung. Mit seltsamem Zauber bewegt uns in den Wahlverwandtschaften die Verbindung der beinahe theoretischen Behandlung des Problems der Ehe mit tiefstem Herzensanteil, dargestellt in symmetrischer Ordnung und in abgewogenen VerhÈltnissen typischer Charaktere, die geradezu musikalisch wirken. Immer mehr verliert er sich von der typischen Darstellung in die symbolische; denn der Moment mit seiner GefÝhlsenergie verschwindet dem Greise in dem Zusammenhang langer Erinnerungen: das Leben selbst will ausgesprochen werden, und das ist nur in symbolischer Darstellung mÚglich. In seiner Lyrik ist nun der Moment wie erfÝllt und gesÈttigt von den Vergangenheiten. Solcher auf ihn eindringenden FÝlle vermag nur der ÝberschwÈngliche Ausdruck genugzutun. Und immer stÈrker kommt Ýber ihn ruheselige Beschaulichkeit, fÝr die ihm nun im westÚstlichen Diwan die Weltliteratur, der er aufmerksam folgt, neue Formen darbietet. Sein Schaffen endigt mit einem letzten Ausdruck seiner Lebensweisheit in philosophischen Gedichten und SprÝchen, mit dem erhabenen Stil des Alters, der Dissonanzen und Harmonien des Lebens geheimnisvoll zusammennimmt und der die Dinge mÈchtiger, ernster, feierlicher gewahren lÈßt – so wie die Berge in der hereinbrechenden Nacht erscheinen, und mit einem ergreifenden letzten Ringen des Greises, Wilhelm Meister und Faust, die Unvollendbaren, fÝr die Nachwelt zu vollenden.

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6. Der mÝtterliche Boden der Dichtung Goethes ist seine Lyrik. Lyrik, die Dichtform der Innerlichkeit, ist neben der Musik das eigenste Gebiet des deutschen Volkes. Welche Mannigfaltigkeit syntaktischer Mittel, FÝhlen, Begehren und Wollen zum Ausdruck zu bringen, und welcher Reichtum von Worten fÝr die NÝancen des GemÝtslebens sind unserer Sprache eigen! Langsam haben sich diese Innerlichkeit und ihre sprachlichen Ausdrucksmittel entfaltet und sind in der Lyrik zur Geltung gekommen. In den deut-

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schen Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts herrschen die Bindungen durch die in der Gottheit gegrÝndeten Ordnungen. Die protestantische ReligiositÈt fÝhrt diese Bindungen zurÝck in die einheitliche Tiefe des Bewußtseins. Hieraus entsteht der gefaßte, zusammengehaltene Charakter der bedeutenden PersÚnlichkeiten dieser Zeit. Er erhÈlt dann eine neue Art von Festigung in der weltlichen wissenschaftlichen Kultur des 17. Jahrhunderts. So Èußert er sich in der Lyrik von Paul Gerhardt, Gryphius und Fleming. Der Wechsel des Lebens bringt die verschiedenen Seiten ihres Wesens zum Ausdruck, aber der Mensch, der sich so ausspricht, ist religiÚs, metaphysisch, moralisch dieselbe feste GrÚße. Langsam lÚst sich diese Gebundenheit, unsere Lyrik durchlÈuft die Stilformen der AufklÈrungszeit, Klopstocks, des lyrischen FrÝhlings der folgenden Jahre. In diesen VerÈnderungen entwickelte sich Goethe. Das Feste, Kompakte, UnlÚsliche, das als religiÚs-moralische Gebundenheit, als Verstand, als ReligiositÈt, die nach FrÚhlichkeit begehrt und doch fÝrchtet sich ihr zu Ýberlassen, endlich als unreife Verbindung des Àberlieferten mit einer neuen Freiheit sich geltend gemacht hatte, lÚst sich erst in Goethe ganz. In seiner Seele ist eine musikalische Energie, die auf jeden Eindruck der Welt mit einem eigenen Tongebilde antwortet. Und so rein gestimmt, so schnell, beweglich und reizbar ist dies Seelenleben, daß es das VerhÈltnis zur Welt in seinem ganzen Umfang und ganz objektiv auszusprechen scheint. Jedes seiner Gedichte hat eine eigene Seele, die sich in der Form einen luftigen Leib geschaffen hat, der nur einmal so erscheint und wieder verschwindet. Er gibt der Gesetzlichkeit der seelischen Bewegungen den einfachsten und umfassendsten Ausdruck. Die Lebensalter reden jedes vom Leben in einer eigenen Sprache, in ihrer besonderen Rhythmik der seelischen Bewegung. Die typischen LebensverhÈltnisse scheinen hier zuerst in ihrem ganzen Wert empfunden zu werden. Und obwohl jedes Gedicht nur so viel ZÝge der Natur mitteilt, als in einem bestimmten Seelenzustand erlebt werden, ist es doch, als ob nie vorher ein Mensch in so inniger Verwandtschaft mit der Natur gelebt habe. Diese Lyrik durchzieht Goethes ganze Poesie. Vor allem aber sind auch die Personen, die er darstellt, wie erlÚst von der Starrheit der Menschendarstellung in der bisherigen deutschen Dichtung. Sie leben in einer neuen Freiheit und inneren Beweglichkeit. Das Feste in ihnen liegt in einem dem Einzeldasein einwohnenden Gesetz seiner Entwickelung, in einer Regel des Ablaufs. Alles Substantiale ist aufgelÚst in die Melodie des Lebens. Nun handelt es sich darum, von hier aus in Goethes Kunst der Menschendarstellung einzudringen. Es wird immer die erste Aufgabe sein, das was ein Dichter an Stoff fÝr den Aufbau seiner Charaktere aus dem Leben entnimmt, festzustellen, und die Literaturgeschichte hat seit einiger Zeit dies Verfahren aufs feinste ausgebildet.

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Sie ist sich dabei freilich der Grenzen dieses Verfahrens nicht immer bewußt geblieben. Denn das Leben eines Menschen ist so wundersam verflochten mit den Schicksalen vieler anderer Menschen, die ihm einmal plÚtzlich mit anschaulicher Macht gegenÝbertreten, um sich dann meist wieder in dem GetÝmmel der Welt zu verlieren, oder die ihn flÝchtiger, vielleicht nur in der •ußerung eines gleichgÝltigen Menschen, in der Notiz einer von Tatsachen vollgepfropften Zeitung berÝhren, ist so verflochten mit all solchen gesehenen, in ErzÈhlung gehÚrten, gelesenen Erlebnissen, daß es unmÚglich scheint, da so die Luft voll von Keimen von Motiven und Charakteren und Fabeln ist, aus den uns gegebenen Daten das Leben eines Dichters in sicheren Zusammenhang mit den Gebilden seiner Phantasie zu bringen. Mephisto, Gretchen, das Motiv der Wahlverwandtschaften kÚnnen Goethe in flÝchtigen Lebensbegegnungen aufgeblitzt sein, welche fÝr den Aufbau seines eigenen Lebens so gut als nichts bedeuteten. Sie hatten eben diejenige Beschaffenheit, durch die seine Phantasie in leise bildende TÈtigkeit des Gestaltens geriet. Die andere Aufgabe ist, die Momente der Lebenserfahrung aufzuzeigen, welche den Vorgang der Gestaltung der Charaktere aus dem gegebenen Stoff des Lebens bestimmen. Goethe schÚpfte aus dem eigenen Inneren, seinen Schmerzen und KÈmpfen, die Motive seiner Werke. Der Kampf, welcher die bewegende Springfeder jedes darstellenden dichterischen Werkes so gut als des Lebens selber ist, entspringt bei ihm im eignen Innern des Menschen, und was seit der Lebenswendung in Weimar am meisten fÝr ihn bezeichnend ist: auch die LÚsung dieses Kampfes vollzieht sich beinahe in allen FÈllen in dem Innern des Menschen selber. Der tiefe Blick der Liebe in den Zusammenhang der Natur, in welchen der Mensch mit seinem Schicksal gestellt ist, macht nach Goethe jedem eine VersÚhnung mit dem Leben mÚglich, oder wo er selber sie blind nicht zu ergreifen vermag, da ist sie doch in dem GemÝt des Dichters. Das ist das TyrtÈische in seiner Poesie, dessen Goethe sich den „Lazarett-Poeten“ gegenÝber gern gerÝhmt hat. An diesem Punkte mag man auch die Grenzen von Goethes Dichtung verstehen, ohne welche die wunderbare Macht derselben nicht wÈre. Die einen preisen und beneiden Goethe als einen GÝnstling des GlÝckes, die anderen berufen sich auf sein bekanntes Wort, wie wenige Tage seines Lebens er rein glÝcklich gewesen sei. Die einen tadeln, daß er kein Herz fÝr wirkliches Leid in seinen Dichtungen zeige, den anderen erscheint er als ein MitfÝhlender jeden Schmerzes. Goethe dichtete die KÈmpfe, welche er erlebt, in einer Tiefe erlebt hatte, von der seine Briefe so gut als seine Dichtungen reden: aber wenn er einmal sagt, er wolle Iphigenie reden lassen als ob kein Strumpfwirker zu Apolda hungere, so liegt darin die Empfindung, daß er seine Poesie abschloß von den am meisten naturwÝchsigen Schmerzen, welche aus dem elementaren

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Kampf um Existenz, um Macht, dem Ringen der Willen in der Gesellschaft untereinander hervorgehen: die KÈmpfe, die im Inneren der Menschen entspringen, in diesem Inneren ausgekÈmpft werden und in ihm endigen, hat er gelebt und gedichtet. Er konnte nicht anders, er verteidigte sich einmal damit: er habe nie etwas gedichtet, das er nicht gelebt habe. Hiermit hÈngen nun die Eigenheiten seines dichterischen Verfahrens zusammen. Shakespeare konstruiert aus herrschenden Motiven und Affekten eine Person und deren Handlungen; Goethe setzt lebendige Einzelteile nebeneinander. Die Phantasie ist eben auch in den grÚßten Dichtern begrenzt. Die Gefahr des einen Verfahrens ist das KÝnstliche, einem PrÈparat oder einer Maschine Vergleichbare, die des anderen Verfahrens liegt in der InkohÈrenz. Die Gestalten des einen Dichters entbehren der Rundung des Lebens; sie scheinen oft nur aus Muskeln, Knochen und BÈndern aufgebaut; die des anderen sind von zarter Lebenswahrheit, aber zwischen ihren inneren ZustÈnden und den Handlungen, welche doch zur Fortbewegung der Dichtung notwendig sind, herrscht nicht stets ein plausibler Zusammenhang – wenn auch nicht die unertrÈgliche Diskrepanz zwischen den GefÝhlen und Handlungen Rousseau’scher Figuren. Werther, Prometheus, Mahomet, Faust sind auch nach ihrer Èußeren Form in dieser Weise zusammengesetzt, vorwiegend doch aus lyrischen Momenten in einem weitesten Sinn; sie entbehren der zusammenhÈngenden FÝhrung der Handlung, aber dafÝr zeigen sie inneres Leben in impressionistischer StÈrke. Faust ist der Gipfelpunkt dieser Kunstform. In Goethes flÝchtigsten Zetteln, in seinen lyrischen Gedichten erscheint sein wunderbares VermÚgen, ZustÈnde mit ihrem tatsÈchlichen Hintergrund auf das zarteste auszudrÝcken und in Bildern zu veranschaulichen. Im Faust stellt er nun was ihn bewegt in dem großen Tropus einer Handlung dar, welche in schÚner Verkleidung alles tiefste Erleben auszusprechen gestattet. Lauter und rein, wie die Natur selber, stellt er dies alles hin; nie ist jemand wahrer gewesen. In dieser Selbstdarstellung angeschaut, wurde Goethe das verkÚrperte Ideal seines Zeitalters, und Faust ist das umfassende Symbol, in welchem er sein ganzes Leben erblicken ließ. In Tasso und Iphigenie schuf er sich dann eine andere ganz neue Form des Seelendrama. Sie war in den Geschwistern und in Stella vorbereitet. Seele wirkt hier auf Seele, und was draußen geschieht ist nur Gewand und HÝlle. Ein innerlicher Vorgang wird in solcher Stetigkeit dargestellt, daß wir ihm fast von Stunde zu Stunde folgen kÚnnen. Er verlÈuft zwischen wenigen Personen in kurzer Zeit und ohne starken Wechsel des Ortes. Jeder theatralische Glanz, alle Èußere Dramatik sind verschmÈht, um das ganze Interesse auf das Innenleben zu konzentrieren. So fÝhren uns die Dichtungen Goethes immer zurÝck auf den großen Men-

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schen, der in ihnen zu uns redet. Jedes seiner Werke weist hin auf die PersÚnlichkeit, die in allen gegenwÈrtig ist. Er lehrt uns, Menschen und Dinge unbefangen, rein, unabhÈngig von ihrem VerhÈltnis zu unserer Person auf uns wirken zu lassen, das Leben in seiner FÝlle und Harmonie aus ihm selber zu verstehen, seinen Wert zu genießen und jedem Schicksal, jedem Verlust neues frohmÝtiges folgerichtiges Handeln entgegenzustellen. Seine Kraft zu Ýberwinden, zu vergessen, sich zu erneuern teilt sich nicht nur in Schriften uns mit, sondern sie wirkt aus allem was uns Kunde von diesem Leben gibt. Und kein Scheltwort, das von Briefen und biographischen BemÝhungen weg auf die Dichtungen hinweist, wird dies VerhÈltnis umzukehren und Leben, Natur und Entwickelung Goethes zu Mitteln, seine Werke zu verstehen, herabzudrÝcken imstande sein. Denn was der Mensch in der Arbeit seines Lebens schließlich gewollt hat, das ist es auch was, wann sein Tag vorÝbergegangen ist, uns zu ihm hinzieht und unseren Blick letztlich festhÈlt.

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Homer, Shakespeare, Cervantes scheinen in ihrer anschaulichen Erkenntnis die Welt aufzufassen wie sie an sich ist; die Natur selber blickt aus ihren Augen, sie, welche mit einem allumfassenden Sinne, ohne Vorliebe und ohne Ausschließung, in einem Meere von Farben und Gestalten wirksam ist. Weit von ihnen ab stehen andere, welche die Welt wie durch ein brechendes und absorbierendes Medium erblicken; alle Dinge nehmen die Farbe ihres GemÝts an. Gerade darum aber ist uns zu ihnen ein persÚnlicheres, vertraulicheres VerhÈltnis mÚglich. Denn jene großen objektiven Dichter haben wie die KÚnige keine Freunde. Novalis zeigt uns alle Dinge in einem ihm eigenen Lichte. Indem wir nur seinen Namen uns zurÝckrufen, so umfÈngt uns die Welt, wie sie ihm erschien, wie ein abendstilles Tal einen Wanderer, der mit den letzten Strahlen der Sonne vom Gebirge hinabsteigt: stille, warme Luft ringsum: in weißem, mattem Glanze steht an dem noch blÈulichen Himmel der Mond: traulich umschließen uns die Berge, aber sie engen uns nicht ein: kein Gedanke kommt uns, daß jenseits ihre Pfade nach unruhigen StÈdten und LÈndern laufen. Alles vereinigt sich zu diesem Eindruck, seine Denkart, sein Schicksal, die VerhÈltnisse, in denen er lebte. Er war so fern von dem LÈrm des Tages. Die Not des Lebens berÝhrte ihn nicht. Eben kaum gereift, erlebt er jene glÝcklichen Jenaer Tage, in denen die romantische Weltansicht in ihrer BlÝte stand, in denen Friedrich und Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck und Schelling den Traum einer neuen Poesie und Philosophie trÈumten. Er prÈgt dem, was damals geschah, etwas von seiner vornehmen, tiefen Seele auf; bevor er das dreißigste Jahr erreicht hat, stirbt er. Àber seinem Andenken liegt ein Schimmer von Poesie, der auch aus allen Worten seiner Freunde glÈnzt, so oft sie von ihm reden. DemgemÈß haftete an ihm von Anfang an ein ganz persÚnliches Interesse. Und dies ist nicht der letzte Grund fÝr die Tatsache, daß seine Schriften die weitaus verbreitetsten und gelesensten aus der romantischen Schule sind. Zu diesem Interesse trat das an der besonderen Gestalt, welche das Christentum in seinem Geiste annahm. Diesem Interesse entspricht es wenig, daß die BruchstÝcke seiner Werke, wie sie seine Schriften enthalten, in RÝcksicht auf

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ihre Absicht und den ihnen zugrunde liegenden Plan noch so gut als ununtersucht sind. Diese Untersuchung kÚnnte wohl den Literarhistoriker reizen. Was mich auf Novalis fÝhrt, ist die weitergreifende Hoffnung, an ihm einige der wichtigeren Motive der Weltansicht aufzuklÈren, welche in der auf Goethe, Kant und Fichte folgenden Generation hervortritt. In einem nÈher zu bestimmenden Sinne kann man den umlaufenden Namen der Romantik fÝr diese Weltansicht in Anspruch nehmen. Falls man nicht vorzieht, dem Mißbrauch, der seit mehr als einem halben Jahrhundert mit diesem Namen getrieben worden ist, einmal dadurch ein grÝndliches Ende zu machen, daß man sich seiner entledigt. Hierbei fragt sich nun vor allem, wie die Betrachtung eines einzelnen Mannes eine Einsicht in die allgemeinen Motive der intellektuellen Kultur seiner Generation erÚffnen kÚnne. Ganz unzÈhlig und grenzenlos sind die Bedingungen, welche auf die intellektuelle Kultur einer Generation einwirken. Es sei gestattet dieselben in zwei Faktoren zu zerlegen. ZunÈchst tritt gewissermaßen der Besitzstand der intellektuellen Kultur hervor, wie er sich zu der Zeit vorfindet, in welcher diese Generation sich ernsthaft zu bilden beginnt. Indem sich das heranwachsende Geschlecht des angesammelten geistigen Gehalts bemÈchtigt und von ihm aus fortzuschreiten sucht, befindet es sich dabei unter den EinflÝssen des zweiten der Faktoren, in welche wir die Bedingungen zerlegen: des umgebenden Lebens, tatsÈchlicher VerhÈltnisse, gesellschaftlicher, politischer, unendlich vielartiger ZustÈnde. Damit werden nun den MÚglichkeiten weiterer Fortschritte, die von jeder frÝheren Generation aus sich darbieten, bestimmte Grenzen gezogen. Hierbei ist aber die wahre Natur unseres Verfahrens mit den geschichtlichen Bedingungen hervorzuheben. Wir lassen nÈmlich den allergrÚßten Teil derselben ganz außer Rechnung und behandeln eine begrenzte Reihe, die wir aus ihnen aussondern, ohne weiteres als die TotalitÈt derselben. Wenn wir also den Anspruch machen, sie durch unsere Analyse darzustellen, so kann schon aus diesem Grunde dieser Anspruch nur auf eine sehr approximative Richtigkeit gehen. Wir erklÈren nur aus den hervorragendsten Bedingungen. Aber wir erklÈren nicht durch sie allein. Die Bedingungen enthalten nicht den vollen ErklÈrungsgrund intellektueller PhÈnomene. Vielmehr ist das VerhÈltnis dieses, daß sich nur unter ihnen, das heißt unter ihrer Voraussetzung, die Bildung einer Reihe von Individuen vollzieht, welche der geistigen Kultur einer Zeit ihren Charakter geben. Und hiermit scheinen wir nun ganz der WillkÝr der schaffenden Natur Ýbergeben zu sein, aus deren rÈtselhaftem Schoße die Individuen in einer bestimmten Auswahl und Reihenfolge sich erheben. Oder lÈge hier doch in den Bedingungen eine Bestimmung? Mit bescheidenster Vorsicht kÚnnen wir diese Bestimmung wenigstens in negativer

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Form hinstellen, als Grenze. Die Bedingungen schließen die VariabilitÈt dessen was sich bildet in bestimmte Grenzen ein. Welche Methode folgt nun hieraus fÝr das Studium der intellektuellen Kultur einer Epoche? Wir dÝrfen hier nur andeuten. Ein hÚchst fruchtbarer Begriff, Ýber den freilich eingehender zu reden wÈre, ist hier der der Generation. Der glÝcklichste Fall ist, wo eine solche Generation in so deutlicher Abgrenzung auftritt, daß es sich geradezu um ihr Studium handelt. In diesem Falle sind wir hier. A. W. Schlegel, Schleiermacher, Alexander von Humboldt, Hegel, Novalis, Friedrich Schlegel, HÚlderlin, Wackenroder, Tieck, Fries, Schelling: sie alle zeigen im ersten Jahrzehnt ihres Auftretens in ihrem intellektuellen Charakter aufs schÈrfste die Wirksamkeit der Bedingungen, unter welchen sie gemeinsam erwachsen waren. Eine hÚchst verderbliche Illusion findet sich nun bei denen, welche auf Grund eines so tiefgreifenden Einflusses der Bedingungen aus ihnen die geistige Kultur einer Generation ableiten zu kÚnnen hoffen. Ich leite ab, indem ich aus der Verbindung der Ursachen eine Folge berechne. Dieses Verfahren ist der geschichtlichen Forschung schlechterdings verschlossen. Sie geht umgekehrt von den PhÈnomenen aus. Sie ist demnach der hÚchsten wissenschaftlichen Vollendung, welche sich imstande zeigt aus den zusammenwirkenden Ursachen einen gewissen Umkreis von PhÈnomenen zu erklÈren, schlechterdings nicht fÈhig, auch nicht unter Voraussetzung der grÚßten Steigerung ihres wissenschaftlichen Charakters. Was uns hierÝber so leicht tÈuschen kann, ist die Form der historischen Darstellung. Diese schreitet Ýberall mit der Zeit vorwÈrts, ableitend, aus Ursachen Folgen entwickelnd, womÚglich aus der Gesamtheit eines ursÈchlichen Zustandes den Inbegriff des dadurch Bedingten. Ein solches Verfahren ist sehr geschickt, unsere Phantasie in die Stimmung zu versetzen, in welcher sie die historischen Ereignisse vor ihren Augen entstehen zu sehen glaubt. Die Wissenschaft muß erkennen, daß dies Verfahren auf einer Illusion beruht. Der Gang unserer historischen Forschung und strengen Erkenntnis ist dem viel Èhnlicher, welchen Hippel in einem kÝnftigen Roman zu applizieren versprach: er wollte einmal rÝckwÈrts, immer tiefer in die Vergangenheit hinein, vom Tode der Geburt, von den Folgen den Ursachen entgegen seinen Weg nehmen. DemgemÈß kÚnnen wir fÝr das Studium einer schwierigen Epoche intellektueller Kultur nur in der wechselnden Betrachtung der Individuen und ihrer Bedingungen einerseits, des Komplexes vorhandener Bedingungen und ihrer Folgen anderseits voranschreiten. Die glatte Darstellung ist nichts als eine TÈuschung, wenn auch eine angenehme. Unter solchem Gesichtspunkt erscheint vielleicht die biographische Skizze die wir hier entwerfen nicht unnÝtz fÝr das Studium der Generation, welcher Novalis angehÚrt und die in Liebe und Haß uns noch immer beschÈftigt.

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1. Friedrich von Hardenberg ist im Jahre 1772 geboren, in Einem Jahre mit Friedrich Schlegel; beide ein Jahr vor Wackenroder und Tieck, zwei Jahre nach HÚlderlin. Was ihn von diesen verwandten Naturen gleich von Anfang unterschied, war daß seine VerhÈltnisse ihn an die Welt knÝpften und ihn von jener rein literarischen Existenz zurÝckhielten, welche gerade damals und in diesen Kreisen sich in weiter Ausdehnung auszubreiten begann. Seine LebensverhÈltnisse sind wie ein Nachklang der Goetheschen, nur in einer einfacheren und stilleren SphÈre wiederkehrend. Dahin wirkte schon seine zarte kÚrperliche Organisation. Sie hielt ihn zunÈchst dergestalt zurÝck, daß sein Geist erst mit seinem neunten Jahre wie aus einem Schlummer zu erwachen schien. Sie ließ ihn dann, als er sich seiner selbst und seiner Umgebung bewußt zu werden begann, kampflos in dem Geiste einer heiteren Herrnhutischen FrÚmmigkeit, der im Hause herrschte, sich ruhig fÝhlen. So wuchs er in dem anmutigen Weißenfels auf, wo sein Vater im Oberbergkollegium saß. Ein Jahr brachte er dann bei einem Oheim, dem Landkomtur von Hardenberg zu, auf einem Gute im Braunschweigischen, weit Ýber sein Alter hinaus in Verkehr mit bedeutenden MÈnnern. Bilder eines festen, glÝcklichen, bedeutenden Lebens umgaben ihn Ýberall. Es war selbstverstÈndlich, nach den patriarchalischen Gewohnheiten dieser in ThÝringen sitzenden Beamtenaristokratie, daß er sich irgendeinem Fache der Verwaltung widmete, mit aller Muße fÝr seine persÚnliche Ausbildung, mit der ruhigen Aussicht auf eine seinen Talenten und seinen Familienverbindungen entsprechende Stellung, wie das den BeamtenverhÈltnissen jener Tage einen solchen Reiz gibt, in denen man noch nicht an der unvermeidlichen Leiter bureaukratischer Karriere nebeneinander emporkletterte. Mit so klarer, geschlossener Aussicht auf das zukÝnftige Leben trat er 1790, achtzehn Jahre alt, in die leidenschaftliche GÈrung von Jena, das ein paar Meilen von seinem stillen Weißenfels ablag. Er sah sich zum erstenmal ohne Hofmeister und FÝhrer. Ein paar Briefe an Schiller und Reinhold sind vorhanden, die von seiner damaligen heiteren und unbefangenen Existenz den lebhaftesten Begriff geben. Er erfaßte die Philosophie Kants, wie sie Reinhold lehrte, die Dichtung Schillers mit voller Begeisterung. Die geistigen VorzÝge dieser Kreise im Gegensatze gegen das provinzielle Beamtentum, in welchem er bis dahin gelebt, ergriffen seinen lebhaften Geist. „Was die Geburt mir versagte, hat das GlÝck mir gegeben“, schreibt er einmal spÈter. „Ich vermisse in meinem Geburtskreise, was ich in einer fremden Mitte beisammen sehe. Ich fÝhle, daß es nÈhere Verwandtschaften gibt als die das Blut knÝpft.“ Der Gedanke regte sich in ihm wie in so vielen JÝnglingen, inmitten dieser begeisterten Bewegung, sein ganzes Leben auf die Wissenschaften und die Poesie zu grÝnden. Er

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sprach mit Schiller darÝber. Soweit wir sehen kÚnnen, hat Schiller niemanden zu einer schriftstellerischen Existenz ermutigt, der ihn um Rat anging. Ein unbÈndiger Drang hatte ihn selber wie andere MÈnner von großem und leidenschaftlichem Naturell in StÝrme und auf unsichere Wellen getrieben. Aber mitten in seiner JugendgÈrung hatte er schon mit ungemeinem Weltverstande die BedÝrfnisse eines ruhigen, geordneten Daseins erwogen. Dieser Weltverstand erscheint jetzt, ganz im Gegensatz gegen die Gestalten seiner inneren Welt, in seinen Briefen als ruhige und beinahe scharfe KÈlte. Er bestimmte Novalis, seinem Wunsche zu entsagen. „Sie machten mich auf den mehr als alltÈglichen Zweck aufmerksam, den ein gesunder Kopf sich hier (in einem bestimmten zukÝnftigen Beruf) wÈhlen kÚnne und mÝsse, und gaben mir damit den letzten entscheidenden Stoß, der wenigstens meinen Willen sogleich fest bestimmte und meiner herumirrenden TÈtigkeit eine zu allen meinen VerhÈltnissen leicht bezogene und passende Richtung gab.“ Es scheint kaum ein ernsthafter Kampf gewesen zu sein, denn sein fÝgsamer, allen Kontrasten und KÈmpfen abgeneigter Geist erkannte sehr leicht, wie ein Ruf des Schicksals aus allen seinen VerhÈltnissen unverkennbar deutlich zu ihm spreche. Indes scheint er diese zwei Jenaer Jahre in jener begeisterten, beinahe trunkenen DÈmmerung der Seele durchlebt zu haben, welche uns spÈter wie ein Traum erscheint und in der doch allein die fruchtbaren Elemente eines idealen Lebensgehaltes sich bilden. Schiller, die Philosophen Reinhold und Schmid beherrschten ihn ganz. Dabei ist der Unterschied des Tones hÚchst bemerkenswert, in welchem etwa HÚlderlin und in welchem unser Hardenberg mit Schiller verkehrt. Gleich von vornherein geschieht es auf einem unbefangenen Fuße. Er tritt auf und spricht, wie einer der schon festen Boden unter den FÝßen fÝhlt. Wie glÝcklich ist doch zu preisen, wessen Leben auf dem begrenzten Schauplatz seiner Heimat verlÈuft! Àberall ergibt sich ihm von selbst der natÝrlichste Standpunkt den Menschen gegenÝber. Die Qual von VerhÈltnissen, die rein auf intellektuelle SchÈtzung gegrÝndet sind, die Qual all der Schwankungen des SelbstgefÝhls, welche sie aufrufen, ist ihm erspart. Und ohne viel Suchen und Entbehren umfangen ihn die natÝrlichsten VerhÈltnisse: er wÈchst ihnen mit einem vorausahnenden Behagen entgegen. In solcher ruhigen Erwartung begab sich nun Hardenberg 1791 nach Leipzig, mit dem Entschluß dort nach einer gÈnzlich verÈnderten Lebensordnung zu leben. Da und in Wittenberg beschÈftigten ihn folgerichtige juristische, mathematische und chemische Studien, wie er ihrer fÝr seine kÝnftige Stellung in der Verwaltung bedurfte. In Leipzig begegnete ihm auch zuerst Friedrich Schlegel und zwischen Hardenberg und dem durch seinen ungestÝmen Lebensdrang in Irrungen aller Art Verstrickten entstand die vertrauteste Jugendfreundschaft.

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In TennstÈdt, das ein paar Meilen westlich von Weißenfels, mitteninne zwischen ThÝringer Wald und Harz, in anmutiger Gegend liegt, trat er dann in die kursÈchsische Verwaltung ein. Nach dem Wunsche des Vaters ward er dort von dem Freunde desselben, dem Kreisamtmann Just, in die Verwaltung eingefÝhrt. Wir verdanken diesem Manne den Abriß einer Biographie Hardenbergs, in welchem sein eigener herzlicher und krÈftiger Charakter auf das einfachste und schÚnste heraustritt. Es ist bemerkenswert, wie er, man mÚchte sagen mit Verehrung, von Hardenbergs Talent fÝr die GeschÈfte spricht. Auch hier tritt die ruhige Nachhaltigkeit desselben hervor; er scheut nicht, eine Arbeit zwei-dreimal umzugestalten, ganze Seiten von gleichbedeutenden oder abweichenden WÚrtern aufzuzeichnen, um Abwechslung und PrÈzision des Ausdrucks auch fÝr seine GeschÈftsaufsÈtze in die Gewalt zu bekommen. Und mitten in GeschÈften begleiteten ihn dann wieder die alten wissenschaftlichen Lieblingsneigungen. So lebte er ruhig der Zukunft entgegen. Er fand spÈter, sein Verstand habe sich damals nach und nach immer unumschrÈnkter ausgedehnt und das Herz aus seinem Besitze verdrÈngt. Da geschah, daß eine zufÈllige Begegnung auf einer GeschÈftsreise mit dem alten Freunde das alles plÚtzlich umgestaltete und eine Empfindung in ihm wachrief, die danach – man kÚnnte beinahe sagen – der Inhalt seines ganzen Lebens wurde. Im FrÝhjahr 1795 sah er auf dem TennstÈdt benachbarten Gute GrÝningen Sophie von KÝhn. Sie hatte dreizehn Jahre beschlossen, er selber zÈhlte dreiundzwanzig: ihr erster Anblick entschied fÝr sein ganzes Leben. „Alle diejenigen“ – erzÈhlt Tieck – „welche diese wunderbare Geliebte unseres Freundes gekannt haben, kommen darin Ýberein, daß es keine Beschreibung ausdrÝcken kÚnne, in welcher Grazie und himmlischen Anmut sich dieses Ýberirdische Wesen bewegt und welche SchÚnheit sie umglÈnzt, welche RÝhrung und MajestÈt sie umkleidet habe.“ Es ist, als ob auch Tieck sie schilderte wie sie in der Poesie seines Freundes lebt – Mathilde, Cyane, ja die ihm beinahe in der Gestalt der HimmelskÚnigin vorschwebte. An diesem Punkte sind wir imstande, in das innerste Verfahren von Hardenbergs dichterischer Phantasie zu blicken. Wir besitzen eine Charakteristik Sophiens von Novalis selber, und zwar aus der Zeit ihrer Krankheit; also so wie ihr Bild Ýberhaupt zur Zeit ihres Lebens ihm vor der Seele stand. Diese Charakteristik zeigt die interessanteste, anmutigste Natur, die man sich denken kann – aber sie ist voll von pikanten, beinahe kapriziÚsen ZÝgen. Sie ist mit hÚchster Aufrichtigkeit, fÝr seine eigene intimste Betrachtung gemacht. Die abgerissenen Worte geben ein unÝbertrefflich anschauliches Bild. „Ihre FrÝhreife. Sie wÝnscht allen zu gefallen. Ihr Gehorsam und ihre Furcht vor dem Vater. Ihre Dezenz und doch ihre unschuldige Treuherzigkeit. Ihr Steifsinn und ihre Schmiegsamkeit gegen Leute, die sie einmal schÈtzt, oder die sie fÝrchtet. Artigkeit gegen Fremde. WohltÈtigkeit.

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Hang zum kindischen Spiel. AnhÈnglichkeit an Weiber. GeschÈftigkeit im Hause. Liebe zu ihren Geschwistern. Musikalisches GehÚr. Hang zu weiblichen Arbeiten. S i e w i l l n i c h t s s e i n . S i e i s t e t w a s . Sie macht nicht viel aus Poesie. Offenheit. Sie scheint noch nicht zu eigentlichem Reflektieren gekommen zu sein. Kam ich doch auch erst in einer gewissen Periode dazu. Ihr Betragen gegen mich. Ihr Schreck fÝr der Ehe. Ihr Tabaksrauchen. Ihre AnhÈnglichkeit an die Mutter, als Kind. Ihre Dreistigkeit gegen den Vater. Ihre Gespensterfurcht. Ihre Wirtschaftlichkeit. Talent nachzumachen. Sie ist mÈßig – wohltÈtig. Sie ist irritabel – sensibel. Ihr Hang gebildet zu sein. Ihr Abscheu fÝr dem Vexieren. Ihre Achtsamkeit auf fremde Urteile. Ihr Beobachtungsgeist. Kinderliebe. Ordnungsgeist. Herrschsucht. Ihre Sorgfalt und Passion fÝr das Schickliche. Sie will haben, daß ich Ýberall gefalle. Sie hats Ýbelgenommen, daß ich mich zu frÝh an die Eltern gewandt habe, und es mir zu bald und zu allgemein merken lassen. Sie will sich nicht durch meine Liebe genieren lassen. Meine Liebe drÝckt sie oft. Sie ist kalt durchgehends. Ungeheure Verstellungsgabe, Verbergungsgabe der Weiber Ýberhaupt. Sie glaubt an kein kÝnftiges Leben, aber an die Seelenwanderung. Schlegel interessiert sie. Sie kann zu große Aufmerksamkeit nicht leiden und nimmt doch VernachlÈssigung Ýbel. Sie fÝrchtet sich so fÝr Spinnen und MÈusen. Sie will mich immer vergnÝgt. Die Wunde soll ich nicht sehn. Sie lÈßt sich nicht duzen. Sie denkt mehr Ýber andre, als Ýber sich nach.“ Man kann den anmutigsten Kapricekopf nicht anschaulicher sehen. Aber nachdem sie ihm genommen war, wuchsen diese halb kindlichen, ungleichmÈßigen ZÝge in seiner Seele gewissermaßen aus. Der Tod vollzog hier, was in Dantes Phantasie schon die Entfernung vorbereitete. Sie wuchsen in seiner Seele aus zur vollen IdealitÈt einer reifen ausgeglichenen Natur. Vergleicht man nun aber die Charakteristik Mathildens mit dieser Schilderung: so sieht man wohl, wie seiner Phantasie eine energische konkrete Gestaltungskraft abging. Alles ist nur in eine grenzenlose Innigkeit aufgelÚst. Schleiermacher macht aus dieser Charakteristik Mathildens einen hÚchst scharfsinnigen Schluß, so scharfsinnig, daß man ihn ohne diese Mitteilung, die er noch nicht besaß, fÝr ganz evident halten wÝrde. „Ich glaube nicht, daß er seine Geliebte richtig gewÈhlt oder vielmehr gefunden hatte, ich Ýberzeuge mich fast, sie wÝrde ihm zu wenig gewesen sein, wenn sie ihm geblieben wÈre. Meinen Sie nicht auch, daß man dies aus seiner Mathilde schließen kann? Scheint sie Ihnen nicht im Vergleich mit der Art, wie alles andere ausgestattet ist, etwas zu dÝrftig fÝr den Geist? Und wÝrde er nicht eine andere haben schildern mÝssen, wenn ihm sein GemÝt mit dem Bilde einer reicheren Weiblichkeit wÈre erfÝllt gewesen? Damit trÚste ich mich wenigstens fÝr ihn.“ Sein Tadel trifft doch nur die fortbildende Phantasie Hardenbergs, nicht den Gegenstand derselben.

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Novalis.

Dieser FrÝhling und Sommer von 1795, welchen er noch in TennstÈdt verlebte, war wie die BlÝtezeit seines Lebens. Ein Blatt von seiner Hand aus dieser Zeit gibt ein anschauliches Bild, wie er es so zwischen TennstÈdt und GrÝningen hin und her trieb, welche zwei Stunden voneinander lagen. In der Morgenstunde war er hinÝbergeritten, durch Feld und GewÈsser, das GrÝninger Schloß vor Augen. Im Dorfe, dicht am Torweg, der in die ³konomie droben fÝhrt, hÈlt er und fragt nach jemandem, der einen Brief aufs Schloß trÝge. Es macht ihm ein heimliches VergnÝgen, daß die Leute in ihm einen Verehrer der Damen auf dem Schlosse erraten. „Ich schlich mich langsam zum Dorfe hinaus, jenseits des Wassers sah ich das gelbe Schloß sehnsuchtsvoll an – und trabte von dannen. Alle zehn Minuten hielt ich und sah mich um. Die Gegend ist mir so lebendig geworden, ich wollte sie im Kopfe zeichnen.“ In seinen einfachen Worten liegt etwas von dem Glanze, der auf den Weg fÈllt, welchen der BeglÝckte in MorgenfrÝhe und DÈmmerung und in hellen NÈchten in solchen Stimmungen hin und wieder geht. Wie der Herbst kam erhielt er das Jawort. Diese Metamorphose vom Verehrer zum erklÈrten BrÈutigam scheint Sophien nicht ganz behaglich gewesen zu sein. Ihn aber drÈngte es voran und so kamen nun seine WÝnsche ganz mit denen seines Vaters in Einklang. Er wollte zunÈchst in den GeschÈften der kurfÝrstlichen Salinen arbeiten. Ehe er TennstÈdt verließ, ließ er sich daher in dem benachbarten Langensalza von Wiegleb in der Halurgie unterrichten; es waren nur zehn bis zwÚlf Tage, in denen er den ganzen Unterricht gefaßt hatte, und ein so kompetenter Richter als Wiegleb nannte spÈter Hardenbergs Namen nie anders als mit Ehrerbietung. Im Februar 1796 trat er dann unter der Leitung seines Vaters sein Noviziat in den kurfÝrstlichen Salinen zu Weißenfels an. Das erwÝnschteste GlÝck schien ihm ruhig entgegenzuwachsen. Da kam die Nachricht, im Sommer 1796, daß Sophie in Jena sei und sich dort habe operieren lassen. Es war ihr Wille gewesen, daß er die Krankheit – sie litt an einem gefÈhrlichen LebergeschwÝr – und die Operation erst erfahren sollte, wenn sie vorÝber seien. Er eilte nach Jena. Auch seine Eltern und seine beiden BrÝder waren um die Leidende, an welcher alle unaussprechlich hingen. Eine zweite Operation ward nÚtig; sie trug alles mit unbeschreiblicher Geduld. Ungeheilt kehrte sie nach dem geliebten GrÝningen zurÝck. Hardenberg suchte vergebens Trost in eigenen medizinischen Studien; sein Wissen sagte ihm nun, wie es mit ihr stand. Aber ihm war als kÚnne er sie nicht verlieren: wenn er nur wolle, kÚnne der Mensch auch dem Tode trotzen. Sie starb am 19. MÈrz 1797. Niemand wagte dem in Weißenfels Abwesenden die Nachricht mitzuteilen; endlich Ýbernahm es sein Bruder. Er verbrachte seine Tage einsam, in sein Zimmer verschlossen. Dann reiste er nach TennstÈdt, ihrem Grabe nÈher zu sein. Zwei Jahre war sie sein stÝndlicher Gedanke gewe-

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sen. Sie allein hatte ihn an das Leben, an das Land, an seine BeschÈftigungen gefesselt. Es schien ihm, als habe er sich selbst fast nicht mehr. „Es ist Abend um mich geworden, wÈhrend ich noch in die MorgenrÚte hineinsah.“ Es wird immer wieder das hÚchste Interesse des mit dem Studium des menschlichen Geistes BeschÈftigten auf sich ziehen, wie aus den originalen Impulsen der menschlichen Natur unsere Denkart von den hÚchsten Dingen sich bildet. Gewaltige ErschÝtterungen des ganzen Bestandes von GlÝck und Hoffnung eines Menschen, dergleichen hier eine vorlag, nehmen eine große Stelle in dem Hervortreten und den Umwandlungen religiÚser Stimmungen ein. Nicht daß dann in solchen Lagen immer ganz neue Àberzeugungen entstÈnden. Indem das GemÝt in ihnen alle Bewegungen, die der Tag mit sich bringt, weit unter sich fÝhlt, indem es sich durch seinen Schmerz wie in eine absolute Einsamkeit versetzt fÝhlt, hinausstarrend in eine grenzenlose ³de, sieht es sich nunmehr ganz allein sich selbst gegenÝber und in den wesentlichen Bestimmtheiten seines Daseins; die ewigen BezÝge seiner Existenz treten aus diesem Dunkel. So geschah das einer Natur wie Augustinus, welche Leidenschaften und WeltverhÈltnisse so gewaltsam umsponnen hatten. Das Schicksal gab nun seiner Seele Freiheit, Einsamkeit und das BedÝrfnis, ihre Gestalt und ihre wesentlichen VerhÈltnisse gewahr zu werden. Aber in anderen FÈllen bestimmt ein solches erschÝtterndes Geschick auch den G e h a l t der religiÚsen Denkart. WÝßten wir nichts von einem Manne, als daß dies bei ihm geschah: so wÝrde dies allein schon eine genÝgende Probe davon sein, daß ihm das HÚchste, die ObjektivitÈt, versagt gewesen sei. Das Schicksal seines Lebens war fÝr Novalis nicht, wie fÝr groß und rein intellektuell angelegte Naturen, nur ein Motiv zu umfassender Kontemplation. Es nahm ihn gefangen. Es gab seiner Denkart ihre Farbe; es bestimmte den Inhalt seiner religiÚsen Welt. Nur teilweise hat er sich spÈter davon befreit. Sein Schicksal schnitt die Entscheidung darÝber ab, ob er vermocht hÈtte, zu reinerer ObjektivitÈt, von diesen ÝbermÈchtigen EindrÝcken sich befreiend, sich zu erheben. Auch hier liegen StÈrke und SchwÈche einer bedeutenden Natur an demselben Punkte. Er war in der Tat eine subjektive Natur, bestimmten GemÝtseindrÝcken hingegeben bis zur Vergessenheit der TotalitÈt der Erscheinungen, welche die Welt ausmachen. Das war es, was ihn wie HÚlderlin von vornherein von Naturen wie Goethe oder Schiller schied. Aber er lebte, litt, gestaltete seine Seele als ein freier Mensch, welcher sich dem allen auf die natÝrlichste Weise hingab, mit voller Wahrheit der Empfindung auch in den sonderbarsten GemÝtszustÈnden, er lebte nicht um doch einen Stoff fÝr seine Verse zu haben; er litt nicht um davon fÝr die rÝhrenden Teile seiner Werke Nutzen zu ziehen; er gestaltete nicht seine Seele um sie dann in BÝchern vorlegen zu kÚnnen. Daß ihm diese Gefahr immer fern blieb, unterscheidet ihn von den Jean

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Paul, A. W. Schlegel, selbst von Tieck. Und so kam es, daß die nun zu erzÈhlenden GemÝtszustÈnde und religiÚsen Stimmungen in ihm wahrhaft und ursprÝnglich hervortraten, von den anderen Romantikern aber wie eine zu variierende und zu arrangierende Melodie behandelt wurden. In der Zeit ihrer letzten Krankheit schrieb er, er lebe wie ein verzweifelter Spieler, dessen ganzes Wohl und Wehe davon abhÈnge, ob ein BlÝtenblatt in diese oder jene Welt falle. Dann ein paar Wochen nach dem Tode Sophiens an dieselbe Freundin: „Das BlÝtenblatt ist nun in die andere Welt hinÝber geweht, der verzweifelte Spieler wirft die Karten aus der Hand und lÈchelt, wie aus einem Traum erwacht, dem letzten Ruf des WÈchters entgegen und harrt des Morgenrots, das ihn zum frischen Leben in der wirklichen Welt ermuntert. Ich habe noch einiges zu vollenden – dann mag die Flamme der Liebe und Sehnsucht auflodern und dem geliebten Schatten die liebende Seele nachsenden. Sie umgibt mich unaufhÚrlich – alles was ich noch tue, tue ich in ihrem Namen. Sie war der Anfang – sie wird das Ende meines Lebens sein.“ – Und noch aufrichtiger, tiefer sich aufschließend schrieb er an Just, den alten Freund in TennstÈdt: „Wenn ich bisher in der Gegenwart und in der Hoffnung irdischen GlÝckes gelebt habe, so muß ich nunmehr ganz in der echten Zukunft und im Glauben an Gott und Unsterblichkeit leben. Es wird mir sehr schwer werden mich ganz von dieser Welt zu trennen, die ich so mit Liebe studierte, die Rezidive werden manchen bangen Augenblick herbeifÝhren; aber ich weiß, daß e i n e K r a f t i m M e n s c h e n i s t , d i e u n t e r s o r g s a m e r Pflege sich zu einer sonderbaren Energie entwickeln kann. Sie wÝrden Mitleid mit mir haben, wenn ich Ihnen von den WidersprÝchen der seitherigen Stunden erzÈhlen wollte.“ Am 14. April, kein Monat vorÝber seit dem Tode Sophiens, starb auch sein Bruder Erasmus. Von dieser Zeit ab haben wir TagebuchblÈtter von Hardenberg, die nach den Tagen seit Sophiens Tode zÈhlen. Sie sind dunkel. Das erklÈrende Wort liegt in seiner sicheren Erwartung, daß er binnen einem Jahre sterben werde, und zwar nach seinem eigenen Entschluß, natÝrlichen Todes; allein durch die Gewalt der Sehnsucht sich mit ihr zu vereinigen. Man kann nicht umhin hierbei an den Abschluß der Wahlverwandtschaften, an Ottiliens in freiwilligem Entschluß herbeigefÝhrtes Ende, an Eduards schmerzliche KÈmpfe zu denken, welcher ihr auch hierin nachzufolgen gedachte und endlich nachfolgte. Ich weiß nicht ob eine Mitteilung Ýber diese Absicht von Novalis die Erfindung Goethes veranlaßte oder ob hier ungesucht Dichtung und Wirklichkeit sich begegnen. Denn auch darin wiederholt die Dichtung den Zug des Lebens, daß Naturell und der Instinkt des Lebens sich gegen diese Absicht bestÈndig erhoben. Dieser Kampf zwischen einem im tiefsten Schmerze gefaßten Entschluß und der menschlichen Natur, welche vermÚge einer glÝcklichen Mitgabe Ýberall nach Ausglei-

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chung der ZustÈnde strebt, hat etwas Ergreifendes. „Den 18. April: FrÝh mancherlei Gedanken Ýber sie und mich. Der Zielgedanke stand ziemlich fest.“ „Den 19.: FrÝh mancherlei wegen des Entschlusses gewankt und geschwankt. Im ganzen der Tag heiter und ruhig.“ „Den 21.: An Sophie hab’ ich oft, aber nicht mit Innigkeit gedacht, an Erasmus kalt.“ „Den 24.: Sophie wirds immer besser gehen. Ich muß nur immer noch mehr in ihr leben. Nur in ihrem Angedenken ist mir wahrhaft wohl.“ Am 26. wirft er sich vor, er sei fast lustig gewesen. Ein paar Tage darauf, er habe zu lebhaft gestritten wÈhrend des Essens. Den nÈchsten Tag: er habe sehr lustig mit der KreisamtmÈnnin gesprochen, weshalb er abends seine Lieblingsbilder nur in der Ferne gesehen habe. Er schÈmt sich, jetzt zu sehr in der Stimmung des Alltagslebens zu sein. „O daß ich so wenig in der HÚhe bleiben kann.“ Hatte er dann wieder recht lebhaft ihr Bild vor sich gehabt, im Profil, neben sich auf dem Kanapee, im grÝnen Halstuch: dann fand er am folgenden Tage doch eine sonderbare Furcht in sich vor dem gefÈhrlich Krankwerden. „Ich muß mich noch immer nicht ganz an meinen Entschluß gewÚhnen kÚnnen. So fest er zu sein scheint, macht mich doch das zuweilen argwÚhnisch, daß er in so unerreichbarer Ferne vor mir liegt, mir so fremd vorkommt.“ So widerstrebte er, auf den Entschluß jener leidenschaftlichen Stunden sich stellend, der jetzt doch dem tÈglichen Leben gegenÝber ihm selber fremd erschien, den heilenden MÈchten des Lebens. Er flÝchtete sich nach GrÝningen, wo ihr Grab allen seinen Empfindungen unmittelbare Gewalt gab. Da hatte er denn aufblitzende Enthusiasmusmomente; er blies das Grab wie Staub vor sich hin; Jahrhunderte waren wie Augenblicke, ihre NÈhe war fÝhlbar, er glaubte sie solle nunmehr hervortreten. Wie aber nun selbst da diese GemÝtsbewegungen nachlassen, Ýberlegt er, daß er durch seinen Tod der Menschheit eine solche Treue bis in den Tod sichere; er mache ihr gleichsam eine solche Liebe mÚglich. Und nach TennstÈdt zurÝckgekehrt, fÝhlt er nun bereits, daß sein Entschluß den Kampf mit der Vernunft nicht bestehen kÚnne; dann, mit einer natÝrlichen Sophistik des Herzens, stellt er sich die Maxime fest: „Bei meinem Entschluß darf ich nur nicht zu vernÝnfteln anfangen: Jeder Vernunftgrund, jede Vorspiegelung des Herzens ist schon Zweifel, Schwanken und Untreue.“ Und dann erscheinen doch ErwÈgungen, die offenbar ohnmÈchtig gegen dieses VernÝnfteln ankÈmpfen. Die schÚnsten wissenschaftlichen und andere Aussichten dÝrften ihn nicht auf der Welt zurÝckhalten; sein Tod solle ja nicht Notmittel, sondern echte Aufopferung sein. – So unentbehrlich als es scheine seien einander die Menschen doch nicht; seine Mutter genieße ihn wenig, auch sein Vater. Immer wieder sagt er sich, daß sein Entschluß umwandelbar sei, daß er ihn nicht dem Verlauf neuer Àberlegungen aussetzen dÝrfe. So schließen diese BlÈtter mit dem Anfang des Juli 1797. Belehrender als unzÈhlige Legenden zeigen sie, welche

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KrÈfte unserer Seele einwohnen, sich von der Welt, ja dem Leben selber loszureißen, welche andere ihnen bestÈndig entgegenwirken. Wer kann sagen, wie der Streit derselben geendigt hÈtte, wenn er in einer einsamen Klosterzelle gekÈmpft worden wÈre! So aber trat die Welt zwischen seinen Entschluß und seinen wahrhaften vom Tag und seinen EindrÝcken bestimmten Zustand. Es ist der treffendste Ausdruck dieses psychologischen Zustandes, daß sein eigener Wille ihm ganz fremd, der Tag seiner Verwirklichung ganz außerhalb dieser rasch ablaufenden Tage zu liegen schien. Aus dem Entschluß zu sterben entwickelte sich ein Phantasieleben in der jenseitigen Welt. Mit Absicht, mit tÈglich sich wiederholender Anstrengung hatte er die IntensivitÈt der Phantasiebilder des Jenseits in sich genÈhrt, wie einst die Heiligen getan hatten. Wie die Absicht zu sterben zurÝcktrat, fand sich seine Empfindung in einer Verbindung mit der jenseitigen Welt, mit der abgeschiedenen Geliebten, welche an seinem Leben zehrte. Sein Èußeres Ansehen begann sich um diese Zeit zu Èndern. Als Friedrich Schlegel ihn im Sommer 1798 wiedersah, schrieb er: „er hat sich merklich geÈndert, sein Gesicht selbst ist lÈnger geworden und windet sich gleichsam von dem Lager des Irdischen empor, wie die Braut zu Korinth. Dabei hat er ganz die Augen eines Geistersehers, die farblos geradeaus leuchten.“ Einen Ausdruck dieser Leiden von einer unheimlichen Gewalt besitzen wir in den Hymnen an die Nacht. Tieck stellt dieselben, obwohl mit schwankenden AusdrÝkken, in welchen er in solchen FÈllen Meister ist, in den Herbst des Todesjahres von Sophie (1797); Just, der genauer zu sein pflegt, erst in das folgende Jahr. Welches auch der nÈher bestimmte Zeitpunkt ihrer Abfassung sei: sie konnten nur aus der Vertiefung in die Schmerzen dieser ersten Zeiten geschrieben sein, sie sind das wahrhafte Bild derselben. Sie haben etwas, das mehr Grauen erwecken kÚnnte als die schrecklichste Geschichte. Wie ein langsam hingezogener, rÈtselhafter Klageton, der mitten in der Nacht vernommen wird, so scheint aus dem gepreßten Herzen des Einsamen dieser Ausdruck der Todessehnsucht zu brechen. Ganz fremdartig an uns herantretend, wie sein dunkler Entschluß vorher an seine Umgebungen; von einer grenzenlosen Traurigkeit. Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Daseins reden Schriften aller Zeitalter. Hier liegt der Zug in dem Charakter der Welt, durch welchen dieselbe als schlechterdings rÈtselhaft erscheint. Daher die menschliche Phantasie unermÝdlich ist, diesem Leben imaginÈre ZustÈnde gegenÝberzustellen. Die Nacht der Bewußtlosigkeit, der Schoß des Weltalls, die affektlose Ruhe der Seligen: in all diesen Konzeptionen ergreift uns, daß die Leidenschaften, die Spannungen des Willens, das klare, scharfe Licht, welches uns die Grenze unserer WÝnsche zeigt, hier endigen. Eine solche Konzeption sind diese Hymnen an die Nacht. Jenseits des Landes, wo das Licht in ewiger Unruhe hauset, dehnt

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sich zeitlos und raumlos die Herrschaft dieser Nacht aus, deren dÈmmernder Schatten nur, nicht ihre Wirklichkeit die Nacht und der Schlaf sind, welche allen Menschen gemein. Die irdische Flut bricht sich an dem Fuße des HÝgels, und in dessen dunklem Schoße quillt diese kristallene Woge der unendlichen Nacht; gemeinem Sinne unvernehmlich; aber wer von ihr trank, ist ewig ihr eigen: da ist Vergessenheit aller Schmerzen, wundersame Einigung mit der Geliebten, unaussprechlich dÈmmernde Begeisterung. Ihm selber aber kam in der Zeit seiner unsÈglichen Schmerzen, aus blauen Fernen, von den HÚhen seiner alten Seligkeit ein DÈmmerungsschein, Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels kam Ýber ihn; er stand am HÝgel der Geliebten, der HÝgel ward zur Staubwolke und durch die Wolke sah er ihre verklÈrten ZÝge. „In ihren Augen ruhte die Ewigkeit; ich faßte ihre HÈnde.“ Krankhafte wissenschaftliche Phantasien beschÈftigten ihn um dieselbe Zeit. Die Entdeckung des Galvanismus bewegte in diesen Jahren die wissenschaftliche Welt Ýber ganz Europa hin. In dem Laboratorium des Bologneser Anatomen Galvani waren durch den sonderbarsten Zufall von der Welt abgehÈutete Froschschenkel mit einer Elektrisiermaschine in BerÝhrung gekommen: sofort hatten diese Glieder die lebhaftesten Zuckungen gezeigt, als ob sie Leben erhielten; Galvanis und Voltas Untersuchungen hatten seit dieser Begebenheit im Jahre 1790 die wissenschaftliche Welt leidenschaftlich bewegt. In Deutschland hatte sich Ritter mit tief eingreifenden Entdeckungen angeschlossen. Hardenberg war sicher damals schon mit ihm befreundet. Keine wissenschaftliche Tatsache hat je verwegenere SchlÝsse und trÝbere TrÈumereien hervorgerufen als diese und die benachbarte des magnetischen Schlafes. Friedrich Schlegel bezeichnet den Galvanismus des Geistes als eine von Hardenbergs Lieblingsideen, im Sommer 1798. „Wie nun seine Theorie der Zauberei, jener Galvanismus des Geistes und das Geheimnis der BerÝhrung sich in seinem Geiste berÝhren, galvanisieren und bezaubern, das ist mir selbst noch ziemlich geheim. Unterdessen ist der Galvanismus des inneren Menschen fÝr mich, wie Kant sagen wÝrde, ein artiger Gedanke und das Ýbrige hoffe ich durch die sokratische Tortur zu erfahren.“ In diesem Sinne erklÈrte Hardenberg das Denken fÝr eine Galvanisation. Eine BerÝhrung unseres Geistes mit einer geheimnisvollen Kraft finde da statt. Der geistige Verkehr, die Liebe, die Religion – alles ward ihm zu einer Art von Zauberei. 2. Nun machten sich aber doch bereits neue Elemente seines Lebens geltend, um ihn aus so pathologischen ZustÈnden zu einer allgemeinen religiÚs-wissenschaftlichen Ansicht zu erheben.

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Er hatte die erste Zeit nach dem Tode Sophiens ruhelos, bald bei den Seinen, bald auf kleinen Reisen zugebracht. Mit dem Ende des Jahre 1797 war er nach Freiberg gegangen, um sich auf dieser hohen Schule des kursÈchsischen Bergwesens, die damals von europÈischem Rufe zu werden begann, fÝr die Bergwerksverwaltung zu vervollkommnen. Ein neues gewaltiges Ferment trat hier in seine naturphilosophischen Studien. Der geniale Ritter hatte ihm in Jena das Problem des Galvanismus nahe gebracht. Hier trat ihm nun der große Mineraloge und Geologe Werner entgegen, vor dessen wunderbar geÝbten Sinnen das Reich der Steinwelt als ein geordnetes System sich auftat und die Tiefen der Erde ihre Geschichte zu erÚffnen begannen. Wir werden zeigen, wie die Lehrlinge von Sais aus diesen Anregungen erwuchsen. In dieser begeisterten Hingabe an Werner und die Geologie lag fÝr ihn eine Art Befreiung aus so Èngstigenden krankhaften ZustÈnden. Und noch im Jahre 1798 gewann Julie von Charpentier, die Tochter des Berghauptmanns in Freiberg, sein Herz und damit vollendete sich eine Umgestaltung der Empfindungsweise gegenÝber Sophien, welche fÝr sein Leben wie fÝr seine Poesie bedeutsam ist. Auch mitten in dem entwickeltsten Phantasieleben mußte sich das Bild Sophiens in seiner Seele verwandeln. Es verlor alle IndividualzÝge, welche sich auf die VerhÈltnisse der Erde bezogen. Was war nun ihre halb kindische SprÚdigkeit, ihr Wunsch, daß er gefalle, ihr ÝbermÝtiges Spiel mit dem Vater? Aus dem Innersten ihres Bildes erhob sich tiefste Innigkeit: diese verzehrte nun jeden Zug, welcher der Welt gehÚrt hatte: nur durch sie durfte er ja mit ihr in Gemeinschaft zu stehen hoffen. ReligiÚse Motive boten sich dar fÝr dies VerhÈltnis zu einer Abgeschiedenen. Sie trat gewissermaßen in die religiÚse Weltordnung ein und vertrat ihm jene Ýberirdische Weiblichkeit, welche in der gnadenreichen HimmelskÚnigin dargestellt ist. Glanz und Freude der Welt, GlÝck und Schicksal auf ihr, rÝhrten sie nicht an. Aus seinem individuellen Schicksal erhob sich seine Verehrung Marias wie ein subjektives mythologisches Gebilde. Und wie er so einem neuen Leben mit erwachenden Sinnen entgegenging, traten die Freunde zu ihm, in deren Gemeinschaft er seinen Ideenkreis vollenden, durch deren Anregung der Poet in ihm sich erheben sollte. Jene kurze BlÝte der Romantik, welche das Jahr 1799 bezeichnet, durchlebte er mit ihnen. Nichts ist falscher als zu glauben, daß man es in der Romantik mit einer einzelnen Richtung zu tun habe. Mit gewissen Modifikationen ist sie, wie wir schon hervorgehoben, nichts als die Generation, welche in den neunziger Jahren heraustrat und von 1790-1800 jene entscheidende Lebensepoche durchmachte, welche zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahre liegt. Die Elemente intellektueller Kultur, die damals aus der frÝheren Generation vorlagen, waren in erster Linie die Poesie von Goethe und Schiller, die phi-

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losophische Revolution, in der Kant, Jacobi, Schiller und Fichte hervorgetreten waren, die gewaltige Bewegung und GÈrung in den Naturwissenschaften. HÚchst merkwÝrdig aber waren die Bedingungen, unter welchen nun diese Generation sich dem Erbe der vorhergegangenen gegenÝber befand. Die erste und wichtigste ist rein negativer Natur: die Abwesenheit aller stÈrkeren Impulse, welche aus dem Leben selber gekommen wÈren. Der naturwissenschaftlichen Bewegung kam keine Industrie, kein BedÝrfnis der Entdeckungen, kein Handelsstand, der diesem in der Wissenschaft ihm verwandten Element mit Teilnahme gefolgt wÈre, entgegen. Ebenso standen der philosophischen Revolution Politik, Unterrichtswesen, Religion in vÚlliger Unbeweglichkeit gegenÝber, da sie doch allein in der Einwirkung auf die soziale, moralische und politische Welt gesund zu bleiben vermag. Die Dichter fanden keine große Stadt, von deren SchaubÝhne herab sie zu wirken vermocht hÈtten. DafÝr alles in kleine Kreise zerfallend: eine genÝgsame, mÈßig begÝterte, vom Durst nach Geld und Genuß, mit dem der Weltverkehr erfÝllt, noch nicht ergriffene BevÚlkerung: in einem Grade, wie auf gleicher Kulturstufe wohl nie eine zweite es war, von einer nach innen gewandten Bildung befriedigt. Wie man diese Lage empfand und mit Bewußtsein aufnahm, zeigen parallele Stellen aller hier in Betracht kommenden MÈnner. Ich zitiere hier nur Novalis: „Deutschland geht einen langsamen aber sicheren Gang vor den Ýbrigen europÈischen LÈndern voraus. WÈhrend diese durch Krieg, Spekulation und Parteigeist beschÈftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer hÚheren Epoche der Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Àbergewicht Ýber die anderen im Laufe der Zeit geben.“ VÚllig schloß sich diese Bildung von der großen Masse der BevÚlkerung und ihren BedÝrfnissen ab. Kann man billigerweise die MÈnner anklagen, welche unter diesen Bedingungen, mit ungemeinem Talent, unsere intellektuelle Kultur fortzubilden unternahmen? Ihre ruhelosen, zerstreuten AnsÈtze, ihre Paradoxie, die KÝnstlichkeit ihres Strebens: das alles, verglichen mit der grandiosen Ruhe, in welcher Goethe und Kant atmeten, ist ein erschÝtterndes Schauspiel. Am erschÝtterndsten darum, weil hier die Notwendigkeit geschichtlicher Bedingungen wie mit eisernen Armen edle bedeutende KrÈfte umfangen hÈlt. Innerhalb der Grenzen, in welche sie diese Bedingungen bannten, haben sie Ungemeines geleistet. Nur muß man sich ihre Stellung gegenÝber den Elementen der intellektuellen Kultur, die sie vorfanden, hÚchst verschieden denken. Die Ausgangspunkte eines A. W. Schlegel und eines Hardenberg, Friedrich Schlegels und Tiecks waren vÚllig heterogen. Ohne alle Frage stand Novalis geistig HÚlderlin viel nÈher als etwa seinem Freunde A. W. Schlegel. Tieck hat nie mit Friedrich

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Schlegel mehr als Èußere BerÝhrungspunkte gehabt. Wenn man nun solche vÚllige HeterogeneitÈt gewahrt: so wird die Frage hÚchst interessant, wie denn hier ein geschlossener Kreis entstehen konnte, ein Schutz- und TrutzbÝndnis, eine Schule. August Wilhelm Schlegel, ein paar Jahre Èlter als seine Freunde, bildete den Èußeren Vereinigungspunkt. Die Horen und die Jenaer Literaturzeitung zogen ihn aus einer hollÈndischen Hauslehrerstellung nach Jena. Das Èsthetische BedÝrfnis des Publikums hatte, besonders in den Horen, sehr gÝnstige buchhÈndlerische VerhÈltnisse fÝr diese Jahre geschaffen. So durfte er seine Existenz seiner unendlich gewandten Feder anvertrauen. Er war die eigentlich journalistische Natur des Kreises, sein Genie in Kritik und Nachdichtung, in allem Nachschaffen und Nachverstehen, in allem Empfinden, Beurteilen, Nachgestalten war unvergleichlich. – AllmÈhlich zog er seinen Bruder aus dessen philologischen Studien in diese allgemeine Schriftstellerstellung nach sich. Eine vÚllig andere Natur. Unter tiefen Ideen schwer ringend mit dem Ausdruck und eigentlich niemals, mitten unter Stilisten, ein guter Stilist. Ein Kopf von genialer ProduktivitÈt, der durch eine folgerichtige, aber grenzenlose Ausbreitung seiner Studien, vermÚge deren seine schwerfÈllige Feder mit den buchhÈndlerischen VerhÈltnissen in den unglÝcklichsten Konflikt kam, seine Èußere Existenz von vornherein zerrÝttete. Sein Ausgangspunkt lag in der Altertumswissenschaft, den Èsthetischen Ideen Schillers und der Philosophie Fichtes. – Die Verbindung Friedrich Schlegels mit Hardenberg war schon vom Jahre 1792 oder 1793, in dem sie sich in Leipzig zuerst begegneten. Daß sie sich weniger persÚnlich als in den Ideen nahestanden, zeigt eine •ußerung Friedrich Schlegels Schleiermacher gegenÝber. „Du wÝrdest Hardenberg sehr wohltun und ich fÝhle deine Wehmut sehr gut. Was mich betrifft, so habe ich’s schon sehr lange nur mit seinem Geist zu tun, in den sich vielleicht keiner so finden kann wie ich, und das scheint er auch zu wissen. Àbrigens sehe ich ganz hartherzig zu.“ Das AthenÈum ergab dann eine regelmÈßigere Beziehung. – Sonderbarerweise war auch fÝr Tieck, als dieser nun zu diesem Kreise hinzutrat, wieder Friedrich Schlegel, der ihm heterogenste, der erste AnknÝpfungspunkt. So sehr war ein bloßer Zufall hier in den ersten AnknÝpfungen tÈtig. Tiecks Briefe Ýber Shakespeare, die Friedrich Schlegel fÝr das Reichardtsche Journal Lyceum wÝnschte, boten die AnknÝpfung. Friedrich Schlegel bittet ihn zu sich. „Mein Interesse an Ihnen und an der Poesie ist zu ernst. So etwas zerstreut sich gleich, wenn mehrere da sind. Ich bin in solchen Angelegenheiten sehr fÝr die Zweisprach.“ Auch nach Wackenroder, dessen Herzensergießungen in diesem Jahre erschienen waren, erkundigte er sich. Man sieht in eine eben anhebende Bekanntschaft zweier MÈnner, welche kein stark ausgesprochener Zug der Natur einander entgegentrieb. – Eine Nachschrift fÝgt

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hinzu, daß sein Bruder August Wilhelm große Freude an Tiecks Wirken und den persÚnlichen Nachrichten Ýber ihn habe. Es ist dann ein Brief A. W. Schlegels vorhanden, der die Àbersendung der VolksmÈrchen beantwortet und mit der Rezension A. W. Schlegels im AthenÈum interessante Vergleichungspunkte bietet, die als erstes bedeutendes Wort Ýber Tiecks Poesien bekannt geworden ist. Viel entschiedener als in dem AthenÈum spricht er es in diesem Briefe aus, wie die Form der Prosa Tiecks aus dem Studium Goethes, seines Wilhelm Meister und des MÈrchens, in einem verwandten Geiste entsprungen sei. Das ungoethesche Experiment, in altem KostÝm und alter Sprache unsere moderne Empfindungsweise darzustellen, wie in der schÚnen Magelone geschieht, mißfÈllt ihm; dagegen stellt er den blonden Eckbert, der zu allererst von Tiecks Werken den Spuren der Goetheschen Prosa folgt, am hÚchsten. Die Vollendung der erzÈhlenden Prosa und des Liedes und eine poetische Richtung, in welcher die Phantasie frei, ohne moralische Nebengedanken herrscht, das ist, was ihn an Tieck anzieht. Wie er dagegen in dem, worin Tieck von Goethes Bahn ausweicht, ihm ganz fremd und ablehnend gegenÝbersteht, zeigt die Art, in der er Tiecks MÈrchenstoffe entschuldigt und kaum Èußerlich zu entschuldigen weiß. So lose waren die ersten FÈden geflochten. Nicht nur daß man manche Divergenz der Richtung scharf empfand; es bestand auch keine herzliche persÚnliche Beziehung. Was zusammenhielt, waren die Vorteile eines Schutz- und TrutzbÝndnisses gegen die abgelebten, aber unsterblichen Richtungen der Nicolai, Huber, SchÝtz. Hier bot das AthenÈum einen Vereinigungspunkt. Besonders August Wilhelm Schlegel, der den lebhaftesten Sinn fÝr AusfÈlle, BÝndnisse, Kooperationen, kurz fÝr literarische Strategik besaß, war unermÝdlich in neuen Erfindungen, mehr zum •rger der Gegner als zum Nutzen der Freunde. Er empfand an diesen Operationen ein ganz uneigennÝtziges VergnÝgen. Aus diesen leichteren Beziehungen erwuchs nun seit dem Sommer 1799 das innigste Zusammenleben. Es waren die letzten Monate von Fichtes Anwesenheit in Jena. Noch wirkte neben ihm Schelling im glÝcklichsten EinverstÈndnisse: er gedachte die Wissenschaftslehre durch die Naturphilosophie zu ergÈnzen. Zu der gÈrenden Bewegung des philosophischen Geistes kamen die BerÝhrungen mit den Dichtern von Weimar; mehrmals im Jahre suchte hier auf dem stillen Schlosse Goethe eine arbeitsame Einsamkeit, fern vom Hofleben. So war Jena wie die zweite Hauptstadt des deutschen Geistes; ganz besonders geeignet demnach fÝr das ÝbermÝtige Treiben der neuen Schule, die hier wie auf einem neutralen Boden, ohne sich mit der Weimarer Gesellschaft Goethes zu berÝhren, mit diesem ihrem Haupte, dem „Statthalter der Poesie auf Erden“ sich begegnete.

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Bevor Tieck sich neben A. W. Schlegel und Schelling hier dauernd niederließ, kam er im Sommer von Giebichenstein herÝber, wo er bei Reichardt ein paar Wochen lebte. Er hatte im Jahre zuvor A. W. Schlegel in Berlin kennen gelernt; nun wollte er nur auf einem flÝchtigen Besuch bei ihm einen Blick in diese Welt tun. Friedrich Schlegel hatte ihm ein Jahr vorher gemeldet, wie ihm die VolksmÈrchen zwei neue Freunde gewonnen hÈtten, Novalis und Schelling. Jetzt traten ihm beide entgegen. FÝr Novalis und Tieck war das Zusammentreffen entscheidend. Hatte Friedrich Schlegel sich mit den Ideen von Novalis berÝhrt, so traf diese Begegnung mit Tieck die innerste Tiefe seines dichterischen GemÝts. Gleich am ersten Abend schlossen sie sich gegeneinander auf; beim Klange der GlÈser tranken sie BrÝderschaft. Mitternacht war herangekommen, die Freunde traten hinaus in die Sommernacht. Wieder ruhte der Vollmond, des Dichters alter Freund seit den Tagen der Kindheit, magisch Ýber den HÚhen um Jena. Sie erstiegen den benachbarten Hausberg und wanderten in die Sommernacht hinein. In solchen Stunden muß in ihnen beiden der Geist der romantischen Poesie, wie er ihnen von da ab gemeinsam vor der Seele stand, sich zu vollem Bewußtsein erhoben haben. Als man bei dem nahenden Morgen Abschied nahm, sagte Tieck: „jetzt werde ich den getreuen Eckart vollenden.“ Noch an demselben Tage teilte er ihn den Freunden mit. Ich glaube, daß einige Zeilen des Phantasus, welche viele Jahre danach geschrieben sind, dem Andenken an diesen Abend gewidmet sind. In der ruhigen Einsamkeit des Gartens, da ein glÈnzender Sternenhimmel Ýber der Landschaft steht, lustwandeln die Freunde und Ernst sagt: „Diese heilige ernste Ruhe weckt im Herzen alte entschlafene Schmerzen, die zu stillen Freuden werden, und so schaut mich jetzt groß und milde mit seinem menschlichen Blick der edle Novalis an, und erinnert mich jener Nacht, als ich nach einem frÚhlichen Feste in schÚner Gegend mit ihm durch Berge schweifte, und wir, keine so nahe Trennung ahnend, von der Natur und ihrer SchÚnheit und dem GÚttlichen der Freundschaft sprachen. Vielleicht da ich so innig seiner gedenke, umfÈngt mich sein Herz so liebend wie dieser glÝhende Sternenhimmel.“ Wie diese Freundschaft in Novalis Epoche machte, davon ist ein Brief an Tieck vom 6. August 1799 ein merkwÝrdiges Dokument. „Deine Bekanntschaft hebt ein neues Buch in meinem Leben an. Du scheinst mir jeden in der BlÝte zu berÝhren und verwandt zu sein. Du hast auf mich einen tiefen, reizenden Eindruck gemacht. Noch hat mich keiner so leise und doch so Ýberall angeregt wie Du. Jedes Wort von Dir versteh ich ganz. Nirgend stoß ich auch nur von weitem an. Nichts Menschliches ist Dir fremd. Du nimmst an allem teil und breitest Dich leicht wie ein Duft gleich Ýber alle GegenstÈnde und hÈngst am liebsten doch an Blumen.“ Das war mehr als die bisherigen Jenaer VerhÈltnisse der Romantiker. Hier begegneten sich, wie in der Freundschaft

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zwischen Friedrich Schlegel und Schleiermacher, zwei wahrhaft wahlverwandte Naturen. Hardenberg erwiderte den Besuch in Giebichenstein. Auf der RÝckreise verweilte dann Tieck ein paar Tage, auf Hardenbergs Einladung, in Weißenfels. Auch ihn ergriff der stille, praktisch fromme, innerlichst vornehme Geist in diesem Hause, der Ýber den Freund eine solche Macht gewonnen hatte. Der alte Hardenberg stand wie ein Patriarch in der Mitte seiner Familie. Tieck fand leicht in der Neigung fÝr die alte Zeit einen BerÝhrungspunkt. Es charakterisiert den alten Herrn sehr hÝbsch, wie ihn Tieck einst im Nebenzimmer auf eine nicht eben glimpfliche Weise schelten und zÝrnen hÚrte. „Was ist vorgefallen?“ fragte er besorgt einen eintretenden Bedienten. „Nichts“, erwiderte dieser trocken, „der Herr hÈlt Religionsstunde.“ Die Trennung Tiecks von dem Freunde dauerte nicht lange. Im Oktober siedelte er mit seiner Frau und der eben geborenen Tochter Dorothea nach Jena Ýber und blieb da bis Ende Juli 1800. Auch Friedrich Schlegel hatte sich um diese Zeit mit den Freunden vereinigt. Im Oktober folgte ihm dann Dorothea. Er brachte die Reden Ýber die Religion mit, die eben damals anonym erschienen waren und sicher an dem Kreise unbemerkt vorÝbergegangen wÈren, hÈtte nicht Friedrich Schlegel so begeistert auf sie aufmerksam gemacht. Sie fanden Hardenberg, beinahe zurÝckgezogen von den Ýbrigen, mit Tieck und dessen Frau verbunden. „Er ist“ – schreibt Dorothea – „so in Tieck, mit Tieck, fÝr Tieck, daß er fÝr nichts anderes Raum findet. Er sieht wie ein Geisterseher aus, und hat sein ganz eigenes Wesen fÝr sich allein, das kann man nicht leugnen.“ Aber die Reden Ýber die Religion ergriffen ihn gewaltig. Wie Tieck seine Poesie wieder erweckte, so brachten sie seine religiÚsen Ideen in GÈrung. Seine Begeisterung bewegte den ganzen Kreis in enthusiastischer Zustimmung und heftigem Gegensatz. Die scharfe Dorothea bemerkte, Tieck treibe die Religion wie Schiller das Schicksal: Hardenberg glaube, Tieck sei ganz und gar seiner Meinung, sie wolle aber wetten, sie verstÝnden sich selbst nicht und einander nicht. Wie noch vor den zusammenhÈngenden und geschlossenen Wirkungen einer bedeutenden Schrift erste EindrÝcke und Anregungen vorauszueilen pflegen: so traten aus dieser GÈrung zunÈchst ein Aufsatz von Novalis Ýber das Christentum und die Ideen Friedrich Schlegels hervor. Schelling setzte sich in einem merkwÝrdigen Gedichte, dem epikurischen Glaubensbekenntnisse von Heinz Widerporst, den Reden Ýber die Religion und der Begeisterung der Freunde, welche sie hervorgerufen hatten, sehr derb entgegen. Das AthenÈum sollte das nun alles friedlich nebeneinander sehen. August Wilhelm erhob Bedenken, wurde aber Ýberstimmt. Die Sache, welche fÝr die Èußere Stellung der Schule nicht ohne Bedeutung war, bewegte die Freunde lebhaft. August

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Wilhelm provozierte auf Goethe. „Dieser“ – schreibt er an Schleiermacher – „ist denn sehr in die Sache eingegangen und hat mit umstÈndlicher und grÝndlicher Entwickelung gegen die Aufnahme und fÝr mich entschieden. Ich wollte, daß Sie die schÚnen Reden, die er mir bei diesen und anderen Gelegenheiten gehalten, mit hÈtten anhÚren kÚnnen, es wÝrde Sie entzÝckt haben.“ Auch Schleiermacher war gegen den Druck gewesen. Hardenbergs Fragment trÈgt die Bezeichnung: die Christenheit oder Europa. Der Gesichtspunkt einer Einheit aller europÈischen Staaten, durch das Christentum getragen, spricht sich darin aus. Ich wÝßte nicht, daß er vordem mit solcher Klarheit gefaßt worden wÈre. Als einen Grundcharakter jener Epoche, in welcher das christliche Europa gegen den eindringenden Islam kÈmpfte, hat ihn Ranke durchgefÝhrt. Die ganze Geschichtschreibung der Romantik beruhte aber darauf, diesen vorÝbergehenden Zustand als den einzig mÚglichen hinzustellen, von dem Reformation, Rationalismus, Wissenschaften, weltliche Gesichtspunkte der Politik uns nur abgefÝhrt hÈtten. Die gewaltige mit jedem Tage anwachsende, auf realen Grundlagen sich aufbauende Einheit der Interessen, welche die Zivilisation schafft, tritt hier zurÝck hinter einem ertrÈumten Gottesfrieden unter dem Schutze religiÚser Àberzeugung, welche weder je bestand noch der durchschnittlichen menschlichen Natur nach auch nur einen Tag auf Bestand rechnen kÚnnte. Es ist das die unhistorische Anschauung, welche der heiligen Allianz ein christliches Gewand lieh. Sie tritt in diesem flÝchtigen Entwurf von Novalis zuerst in unserer protestantischen Literatur auf. Er sieht das Christentum in voller Macht und Herrlichkeit wirksam im Mittelalter. Es ist charakteristisch wie er es auffaßt. Ein großes Interesse verband, unter einem Oberhaupte, dies weite geistliche Reich; seine Verwaltung in den HÈnden eines mit voller UnabhÈngigkeit, hÚchster Bildung, großer Welterfahrung begabten Standes. Sie predigten nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschÚnen Frau der Christenheit; sie erzÈhlten von lÈngst verstorbenen himmlischen Menschen; in den geheimnisvollen Kirchen, mit Bildern geschmÝckt, mit sÝßen DÝften erfÝllt, von heiliger Musik belebt, wohnte eine erhabene Heiterkeit. Es ist die Religion einer pantheistischen VerklÈrung der Welt, die er hier, nur in Bildern und Geschichten poetisch ausgeprÈgt, wiedererkennt. Rom, der Ort, an welchem alle weisen und ehrwÝrdigen Menschen aus Europa sich sammelten, war einsichtig und in seinem Rechte, indem es freche Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinnes hinderte, unzeitige gefÈhrliche Entdeckungen ablehnte, wie diese, daß die Erde ein unbedeutender Wandelstern sei. Es wird nicht deutlich, wie und zu welcher Zeit nun ein so glÝcklicher Zustand sich Èndern konnte. Lange vor der Insurrektion, welche im Protestantis-

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mus ausbrach, soll er stillschweigend verloren gegangen sein. Schon die Abschaffung der Priesterehe soll nur eine kluge Maßregel gewesen sein, die zerrÝttete Verfassung der Kirche noch zusammenzuhalten. Da scheint denn freilich, als ob jener vollkommene Zustand außer aller Zeit gelegen hÈtte. Und aus welchen Ursachen entsprang die •nderung? Die Menschheit war fÝr dies Reich nicht reif, nicht gebildet genug. Und doch auf der anderen Seite, als die Bildung voranschritt, zeigte gerade sie wenigstens die temporelle SchÈdlichkeit der Kultur auf einer gewissen Stufe fÝr den Sinn des Unsichtbaren. So geschah, daß der Protestantismus frevelnd die Einheit der Kirche zerriß; ein falsches landesherrliches Kirchentum grÝndete; den rohen abstrakten Entwurf der Religion in den biblischen BÝchern kanonisierte; den einzelnen mÈchtigen Staaten Raum ließ, sich des vakanten Universalstuhls zu bemÈchtigen; endlich aber von der genialen Klugheit des Jesuitenordens zurÝckgedrÈngt wurde. Die Gelehrten und die Geistlichkeit stehen immer in einer geheimen Opposition; denn sie streiten um Eine Stelle. Das Ende schien gekommen, als Gott durch die AufklÈrung zum mÝßigen Zuschauer des großen Schauspiels einer in sich ablaufenden mechanischen Welt gemacht wurde. Aber nichts ist vergÈnglich, was einmal die Geschichte ergreift. Es geht aus seinen Verwandlungen erneut in immer reicheren Gestalten hervor. Wir stehen vor einer neuen Weltinspiration. Die Wissenschaft hat sie vorbereitet, indem sie die Heiligkeit der Natur, die Unendlichkeit der Kunst, die Notwendigkeit des Wissens, die Achtung des Weltlichen und die Allgegenwart des wahrhaft Geschichtlichen zur Anerkennung brachte. „Also kommt auch, ihr Philanthropen und EnzyklopÈdisten, in die friedenstiftende Loge und empfangt den Bruderkuß, streift das graue Netz ab und schaut mit junger Liebe die Wunderherrlichkeit der Natur, der Geschichte und der Menschheit an.“ „Das Christentum ist dreifache Gestalt. Eine ist das Zeugungselement der Religion, als Freude an aller Religion. Eine das Mittlertum Ýberhaupt, als Glaube an die AllfÈhigkeit alles Irdischen, Wein und Brot des ewigen Lebens zu sein. Eine der Glaube an Christus, seine Mutter und die Heiligen. WÈhlt, welche ihr wollt, wÈhlt alle drei; es ist gleichviel.“ Aus dem Schoße eines ehrwÝrdigen europÈischen Konziliums wird die Christenheit aufstehen. Weder Lob noch Tadel noch ErklÈrung ist hier mÚglich – nicht einmal Beantwortung der Frage, was hier Paradoxie und was innere Àberzeugung war, ohne daß wir Novalis’ Stellung in der philosophischen und poetischen Bewegung jener Tage Ýberblicken. Aber dahin fÝhrt uns nun ohnehin der Gang unserer ErzÈhlung. Die geistlichen Gedichte Hardenbergs, die Ideen und die Rede Ýber die Mythologie von Friedrich Schlegel, sogar katholisierende Anwandlungen seines kritisch klaren Bruders, die christliche Wendung in Tiecks Gedichten: all

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das entsprang in dieser GÈrung in kÝrzester Frist. Wie ein NÝchterner unter TrÈumenden erscheint in ihr der Mann, welcher dieser religiÚsen Begeisterung den ersten stÈrksten Impuls gegeben hatte, und in dessen tiefernster Seele diese wie andere Richtungen seiner Generation einen gesammelten, energischen, mÈnnlich zusammengefaßten Ausdruck fand. Schleiermacher setzte Hardenbergs Auffassung die kÝhle historische Wahrheit entgegen, daß das Papsttum das Verderben des Katholizismus sei. Novalis selber stand an der abschließenden Wendung seines Geistes. Was er in momentaner Bewegung, unter dem Einflusse, den neue Ýberraschende Wendungen des geistigen Lebens auch auf weniger der Paradoxie zuneigende Naturen zu erlangen pflegen, mit dem Àbermut einer radikalen Opposition gegen alle herrschenden Ansichten niedergeschrieben hatte, das trat nun in den Zusammenhang seiner Ideen zurÝck, welcher es begrenzte und in die Region poetischen Traumlebens erhob. In diesem Herbst 1799 begann er den Ofterdingen. Seine Weltansicht ist fÝr uns gewissermaßen in einem doppelten Ausdruck vorhanden; sie erscheint, ihrer Natur nach, unter zwei Gestalten: als ein Zusammenhang philosophischer Ideen und als eine dichterische Anschauung der Welt. Es ist fÝr den Geist seiner Zeit charakteristisch, daß, Schillers grÚßerer viel gewaltigerer Entwickelung entsprechend, erst nachdem jene philosophische Gestalt einen gewissen Abschluß erlangt hatte, die dichterische hervortrat. Denn offenbar ist das Philosophische, was wir von Novalis besitzen, im Sommer 1799 im wesentlichen abgeschlossen. „Unter Spekulanten war ich ganz Spekulant geworden“ schreibt er an Tieck etwas spÈter. Nun hat sich die Poesie erhoben. Und die kurzen anderthalb Jahre hindurch, welche ihm noch vergÚnnt waren, die lÈngste Zeit darunter in solchen ZustÈnden, daß er Lesen, Denken, Schreiben, alles sich versagen mußte, herrschte sie unumschrÈnkt. Von seinen poetischen PlÈnen allein waren die hoffnungsvollen Phantasien seiner letzten Wochen erfÝllt. Jene Fragmente demnach, welche sich in seinem Nachlasse vorfanden, gehÚren vornehmlich der nun dargestellten Lebensepoche an. Von ihnen ist zunÈchst zu reden; aber nicht, wie bisher geschah, mit verzweifelten AussprÝchen Ýber ihre Paradoxie auch nicht in kahlen AufzÈhlungen.

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3. Hardenberg wollte in einer EnzyklopÈdie dem Grundgedanken der Zeitphilosophie die Summe der erworbenen Anschauungen unterwerfen. Es war das der innerste Drang der philosophischen Zeitgenossen. Friedrich Schlegel trug sich jahrelang mit derselben Absicht. Schelling verwirklichte sie in seinen „Vorlesungen Ýber die Methode des akademischen Studiums“ durch einen er-

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sten Entwurf. Hegel erst vollendete in seiner Weise was ihnen allen vorschwebte. Die Aufzeichnungen Hardenbergs enthalten die Gedankenkeime eines solchen Ganzen. In ihnen liegt seine Bedeutung fÝr den wissenschaftlichen Geist seiner Zeit. Wir kÚnnen hier nicht darstellen, wie sie sich zu den gleichzeitigen •ußerungen Friedrich Schlegels, Schleiermachers, Schellings verhalten. Die Jahre von der Wirksamkeit Fichtes in Jena bis zur Gestaltung der Naturphilosophie und dann, einige Jahre spÈter, bis zur Philosophie der moralischen Welt sind eine Periode ungeheurer GÈrung, kÝhnster EntwÝrfe, um die positiven Wissenschaften der Natur und des Geistes den Prinzipien der Wissenschaftslehre zu unterwerfen. In solchen Epochen soll man nicht pedantisch PrioritÈtsfragen nachgehen und Ýberall sehen wollen, wie die Ideen aus einem Kopfe in den anderen Ýbergehen. Wir haben eine belehrende Analogie an der Gegenwart. Das natÝrliche Problem, welches aus der gegenwÈrtigen Lage unserer Wissenschaften entspringt, den geschichtlichen Wissenschaften eine strengere wissenschaftliche Grundlage zu geben, ruft an den verschiedensten Punkten, in ganz verschiedenen LÈndern, vÚllig unabhÈngig voneinander, verwandte LÚsungsversuche hervor. Von vielen, die heute noch nicht Ýber diese Frage das Wort ergreifen, sind doch auch solche Versuche vielfach erwogen worden. Wenn jemand mit einem LÚsungsversuche heraustritt: so wÈre sehr unbillig, seine Gedanken als Abwandelungen, Umgestaltungen der von anderen geÈußerten zu behandeln. Die Bedingungen, unter welchen nun damals diese MÈnner nebeneinander ihre Ideen ausbildeten, lagen in der Philosophie Fichtes, in dem Sieg einer dynamischen NaturerklÈrung durch Kant und einer Reihe naturwissenschaftlicher Fortschritte, welche dieses Àbergewicht auch empirisch zu begrÝnden schienen, und zugleich in der Èsthetischen Kultur, welche sich mit Fichtes Philosophie auseinanderzusetzen suchte. Diese Bedingungen, welche in der damaligen intellektuellen Kultur lagen, brachten zunÈchst naturphilosophische Versuche hervor. Man hat Novalis als einen VorlÈufer der Schellingschen Naturphilosophie dargestellt, ja ihn unter die Quellen gerechnet, aus welchen Schelling geschÚpft habe. Das letztere ist eine ganz unbewiesene Annahme. In dem, was Novalis selbst 1798 von Ideen verÚffentlicht hat, befindet sich gar nichts EigentÝmliches zur Naturphilosophie. Die in den Lehrlingen von Sais herrschende Naturbetrachtung ist poetisch ganz original; aber mußte Schelling den Gedanken, daß die entschleierte Natur der Geist sei, von Novalis erhalten? Vielmehr die Schrift von der Weltseele ist mit Novalis’ Entwurf der Lehrlinge gleichzeitig, Ýberhaupt mit seinen Freiberger Naturstudien. Beide sahen die Natur mit dem Auge des Fichteschen Systems: dieselben Bedingungen brachten in ihnen eine verwandte Form des Pantheismus hervor. Ich kann

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aber auch in dem, was dann spÈter, als seine Studien in Freiberg reifer wurden, entstand, wenig sehen, was dem festeren Bau einer Naturphilosophie hÈtte eingefÝgt werden kÚnnen. Die Hymnen auf die Mathematik sind schließlich unfruchtbar. Ja Novalis spielt mit dem mystischen Begriff einer echten Mathematik, die im Morgenlande zu Hause sei, in Europa aber zur bloßen Technik ausgeartet sei. In derselben Weise werden die Theorien des Galvanismus und der Brownschen Heilmethode durch eine grenzenlose Verallgemeinerung zum leeren, durch kein besonnenes Studium gestÝtzten Spiel mit den Anschauungen der Reize, der Erregungen, der Galvanisation. Wo dagegen in die Tiefe dringende Bemerkungen auftreten: da gehÚren sie einer dichterischen Anschauung der Natur an. Zuweilen scheinen sie geradezu Stoff seiner poetischen Arbeiten zu sein, daher sie denn auch, mitten unter wissenschaftlichen Notizen, viele MißverstÈndnisse erregt haben. Àberall aber durchdringt ein Geist dichterischer Gestaltung seine Theorien. So wenn er etwa sagt: mit der Welt entsteht die Begierde, ein Hang zum Zerfließen oder die Schwere. Diese naturphilosophischen Ideen sind daher vielmehr ein Glied in der Entwickelung dichterischer Naturanschauung. Diese Entwickelung gehÚrt zu den am meisten bezeichnenden ZÝgen unserer modernen Dichtung. Wie in ihr wissenschaftliches Naturstudium und dichterische Naturanschauung zusammengingen, wie in Goethe beides vereinigt war, wie die Poesien von Novalis und Steffens diesen Weg verfolgten und Tieck, obwohl positiven Studien gegenÝber ungeduldig, ihnen in diesen Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Naturstudium zu folgen suchte, wie auf der anderen Seite Alexander von Humboldt und Johannes MÝller, die großen Naturforscher, von der freien Naturanschauung dieser Epoche einen Anstoß zu dauernder Bewegung erhielten – : diese Wechselwirkung gab unserer Dichtung wie unserer Naturforschung in dieser Periode gleicherweise ihr GeprÈge. Dagegen finde ich die Gedanken Hardenbergs Ýber die Wissenschaften des Geistes von hervorragender OriginalitÈt. Seine Ideen verdienen hier neben denen von Friedrich Schlegel und Schleiermacher, inmitten der GÈrung um die Wende des Jahrhunderts, ihren Platz. Insbesondere dadurch, daß er vermÚge der weiten Umschau, welche ihm seine naturwissenschaftlichen Studien gaben, fÝr die Wissenschaften des Geistes einen fruchtbaren Einheitspunkt ergriff, ganz abweichend von denen der Systeme Schleiermachers und Hegels – und uns Heutigen weit nÈher gelegen. So paradox es erscheint: dem Gesichtspunkt, welchen er faßte, entspricht am meisten das System Schopenhauers, auf seinen ursprÝnglichen Wurf im Ganzen angesehen. Wir kennen eigentlich nur das, was sich selbst kennt. Von diesem tiefsinnigen Gedanken aus erscheint die Konsequenz natÝrlich: die Natur ist unbegreiflich per se. Sie ist es gar nicht aus einem zufÈlligen Grunde, sondern so-

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fern das Licht des Bewußtseins sie nur von außen trifft. Sie erscheint nun aber als ein Universaltropus des Geistes, d. h. als ein symbolisches Bild desselben. DemgemÈß ist sie durch diesen allein verstÈndlich. Und wie nun Hardenberg in betreff des innersten Geheimnisses unserer selbst in unaufhÚrlichen Vermutungen begriffen ist: so sieht er auch das diesem entsprechende Innerste der Natur wie in den wechselnden Beleuchtungen solcher auf- und absteigender letzter Konzeptionen. „Die Welt ist eine sinnlich wahrnehmbare, zur Maschine gewordene Einbildungskraft.“ Dann wieder erscheint ihm das Herz als der SchlÝssel der Welt. Oder er findet, daß wir immer zuletzt an den Willen stoßen, als hervorbringenden Grund. Dieser Wechsel, vermÚge dessen das ganz voneinander Abstehende wie Schatten ineinander verfließt, liegt in der Natur dieser Konzeptionen. Er erscheint schon in Jakob BÚhme, dessen Einfluß hier, wie in Schellings spÈterer Epoche und in Schopenhauer sichtbar ist. Ganz deutlich ist nur die negative Erkenntnis, daß die Welt, wie wir sie nicht anders als nach Analogie unseres Ich aufzufassen vermÚgen, nicht aus der Vernunft, als dem Grundcharakter desselben erklÈrt werden kÚnne, sondern aus einer gÈrenden Tiefe dieses Ich, welche, uns selber Geheimnis, in Wille, GemÝt oder Einbildungskraft mindestens ebenso primÈr hervorbreche. Das Problem der Welt lÚst sich uns demnach, soweit es Ýberhaupt auflÚsbar ist, durch die Anschauung unseres eigenen Inneren. Das wunderbarste PhÈnomen ist das eigene Dasein. Das grÚßte Geheimnis ist der Mensch sich selbst. Die Wissenschaft aber, welche es mit diesem hÚchsten PhÈnomen zu tun hat, ist die Realpsychologie. „Baader ist ein realer Psycholog und spricht die echte psychologische Sprache. Reale Psychologie ist vielleicht auch das fÝr mich bestimmte Feld.“ An anderen Stellen bezeichnet er dieses grundlegende Studium, auf welchem die Wissenschaften des Geistes in erster Linie beruhten, auch als Anthropologie. Vor allem ist ihm Anthropologie die Basis der Menschengeschichte. Er findet, daß der hÚchste Gehalt der Geschichte die AuflÚsung der unendlichen Aufgabe sei, das Geheimnis zu enthÝllen, welches der Mensch sich selber ist. Er antizipiert hier vÚllig Hegels Gedanken, daß der HÚhepunkt aller Geschichte die werdende Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes sei. Er findet auf der anderen Seite, daß die reale Psychologie oder Anthropologie den unendlichen Gehalt der menschlichen Natur nur an seiner Entwickelung in der Geschichte zu studieren vermag. Hiermit antizipiert er einen uns naheliegenden Standpunkt. In sehr bemerkenswerter Weise zeigt dieser Gedanke einer Realpsychologie die innere Verwandtschaft der Bestrebungen dieser Epoche, in ihrem Ursprung, mit denen der Gegenwart. Wir bedurften lange Zeit der schÈrfsten Empfindung des Gegensatzes dieser seit Fichte hervorgetretenen verschiedenartigen Arbeiten gegenÝber einer wahrhaft exakten Psychologie. An dem

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Punkte angelangt, die ErklÈrung aller seelischen PhÈnomene aus den Gesetzen, nach welchen sich in der Seele Vorstellungen zueinander verhalten, als unzureichend anzuerkennen, sind wir in der Lage, den innersten Gehalt von Bestrebungen gerechter zu wÝrdigen, von denen ganz gleichmÈßig, bei der grÚßten Verschiedenheit der Ideenkreise, geniale Naturen wie Schleiermacher, Hegel, Schopenhauer bewegt wurden. Was heißt Realpsychologie? Eine Psychologie, welche den I n h a l t unserer Seele selber zu ordnen, in seinen ZusammenhÈngen aufzufassen, soweit mÚglich zu erklÈren unternimmt. Indem ich die Gesetze erforsche, nach welchen Empfindungen sich in Vorstellungen ausbilden und Vorstellungen sich zueinander verhalten: so finde ich nichts als F o r m e n , innerhalb derer die Seele tÈtig ist. Liegt in diesen Formen der zureichende ErklÈrungsgrund fÝr die Verwandlung der Empfindungen, in welchen unsere Seele auf die Reize antwortet, in das zusammenhÈngende Ganze menschlicher Weltansicht? Angeborene Ideen, Kategorien und GrundsÈtze haben die beiden großen Èlteren deutschen Philosophen diesen Gesetzen als einen zweiten Faktor gegenÝbergestellt. Die Bedeutung des Problems wird aber erst in seinem ganzen Umfang gesehen, sobald man erkennt, daß die PhÈnomene des Willens und der GefÝhle auf die VerhÈltnisse der Vorstellungen nicht zurÝckfÝhrbar sind. Wenn Spinoza von der Selbsterhaltung ausgeht, wenn Kant in dem Sittengesetz eine eigene aus dem Vorstellungsleben nicht erklÈrbare Wurzel unserer moralisch-religiÚsen Weltansicht erkennt: so ergibt sich von hier aus eine noch viel weiterreichende ErklÈrung des Inhaltes unserer Seele. In dieser Richtung weiterschreitend, erblicken wir Schleiermacher, Hegel, Schopenhauer. Es sind AnfÈnge. Wir heute mÝssen unseren eigenen Weg uns bahnen, aber doch mit dem GefÝhl, daß andere vor uns mit diesen hÚchsten Problemen rangen, mit bestÈndigem RÝckblick auf ihre Arbeiten, so ganz unvollkommen auch die Methode derselben war. DemgemÈß ist von ungemeinem Interesse zu sehen, wie unter dem Gesichtspunkte einer solchen Realpsychologie Hardenberg mit dem wunderbaren Reichtum und der RÈtselhaftigkeit der PhÈnomene rang, welche der menschliche Geist, die Menschengeschichte darbietet. Sein Gesichtspunkt selber gab ohne weiteres ganz verschiedenen Disziplinen die denkbar grÚßte Einheit. Die Ethik, die Religionsphilosophie, die •sthetik, die Philosophie der Geschichte, sie alle betrachten von verschiedenen Seiten dasselbe grenzenlose Gewebe von Erscheinungen. Es war schon fÝr sich von großem Werte, unbeirrt von kÝnstlichen Trennungen und der sich an sie knÝpfenden Tradition die inneren ZusammenhÈnge selber zu Ýberblicken. Eine solche aus dem Zusammenhang des seelischen Gehaltes selber sich zwanglos, mit klarer GrÚße entwickelnde Einheit, ungehindert von willkÝrlichen Abgrenzungen der FÈcher, gibt dem Wer-

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ke Schopenhauers von 1818 ein so kÝnstlerisches GeprÈge, daß selbst die Einsicht in die WillkÝr, welche diesen Zusammenhang ersann, nicht vÚllig die Freude an dem freien und großen Geiste der Architektur des Ganzen zu vernichten vermag. Aber diese Einheit der seelischen PhÈnomene lag nur in Hardenbergs WÝnschen; wer kann sagen wieviel ihm hier in reiferen Jahren gelungen wÈre? In dem, was wir haben, ist noch lauter Schwanken. Am besten verdeutlicht diese WÝnsche und diese Unsicherheit folgende Aufzeichnung: „Sonderbar daß das Innere der Menschen nur so dÝrftig betrachtet und so geistlos behandelt worden ist. Die sogenannte Psychologie gehÚrt auch zu den Larven, welche die Stellen im Heiligtume eingenommen haben, wo echte GÚtterbilder stehen sollten. Wie wenig hat man noch die Physik fÝr das GemÝt und das GemÝt fÝr die Außenwelt benutzt. Verstand, Phantasie, Vernunft, dies sind die dÝrftigen Fachwerke des Universums in uns. Von ihren wunderbaren Vermischungen, Gestaltungen, ÀbergÈngen kein Wort. Keinem fiel es ein, noch neue ungenannte KrÈfte aufzusuchen und ihren geselligen VerhÈltnissen nachzuspÝren.“ Aber es scheint als ob auch diese noch schwankenden Anschauungen dahin neigten, wie bei Fichte, Schelling, Schopenhauer geschah, im Willen den elementaren Grund des menschlichen Daseins zu erblicken. „Im Grunde lebt jeder Mensch in seinem Willen.“ Demnach vermag der Mensch, was er will; ja von der unwandelbaren Richtung unseres freien Willens scheint sogar die Form unserer Fortexistenz abhÈngig zu sein. Hardenberg versucht nun die Natur des Willens durch den aus Browns physiologischem System aufgenommenen Begriff der Erregbarkeit, des VerhÈltnisses zu den Reizen zu beleuchten. Die Mannigfaltigkeit der Reize wÈchst mit der HÚhe der Organisationen; auf ihr beruht unsere Freiheit. Je einfacher der Mensch lebt und gereizt wird, desto mehr ist er gebunden, unfrei. DemgemÈß ist die Seele um so stÈrker, erregbarer, je komplizierter, mannigfaltiger sie ist. Widerstandskraft und Auswahl den Reizen gegenÝber ist das Resultat einer solchen Bildung des Willens. Dagegen bestimmt der zufÈllige Reiz den Ungebildeten; er sucht in dem ihn so berÝhrenden Gegenstande alles, denn er fÝhlt durch denselben sein unendliches Wesen in dunkler Ahnung. Daher denn auch dem Menschen ein leidenschaftlicher Zustand umso ahndungsvoller und behaglicher dÝnkt, je schwÈcher er selber ist. Von hier aus unterscheidet er Unlust als M a n g e l an Trieb, Kraft, Reiz, Stoff vom Schmerz als einem heftigen Untrieb oder G e g e n t r i e b . Die Natur des Schmerzes beschÈftigt ihn bestÈndig, entsprechend den starken subjektiven Impulsen seines Nachdenkens, welche ihn auch auf die Natur der Krankheit immer wieder zurÝckfÝhrten. „Es ist die MÚglichkeit eines unendlich reizenden Schmerzes da.“ Sehr nahe streifte er in diesem Suchen an den wichtigen

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Gedanken, daß Lust und Unlust doch nur eine sehr rohe und unangemessene Bezeichnung fÝr das EigentÝmliche in der Welt unserer GefÝhle sind. Von demselben Punkte aus experimentierte er, sozusagen, mit den VerhÈltnisbeziehungen zwischen Reiz, Erregung und Trieb. Sehr tief berÝhrt er hier die Bedeutung der Illusion fÝr die Geschichte unseres Willens; die Befriedigung ist ihm die AuflÚsung eines illusorischen Problems, „die Selbstverbrennung einer Illusion“. Er verfolgt den Gedanken von der Bedeutung dieser TÈuschungen ohne jeden Anklang an die pessimistische Folgerung, welche Schopenhauer spÈter aus ihm zog. Vielmehr enthÈlt ein kleiner anmutiger Dialog die entgegengesetzte romantische Konsequenz. Es gilt das Leben wie eine schÚne genialische TÈuschung, wie ein Drama anzusehen: dann, im vollen Bewußtsein der zeitlichen Illusion, welche das Leben ist, haben wir schon hier im Geiste absolute Lust und Ewigkeit. Aber mitten in aller Selbstbetrachtung bleibt der menschliche Geist sich selber ein RÈtsel. „Die Geschichte der Philosophie als der Wissenschaft im Großen, der Literatur als Substanz enthÈlt die Versuche der idealen AuflÚsung dieses idealen Problems – dieser gedachten Idee.“ DemgemÈß ist die wahrhafte Weltgeschichte nichts als die AuflÚsung der unendlichen Aufgabe, welche fÝr den Menschen in dem Geheimnis seines eigenen Wesens liegt. Hieraus folgt, daß erst in dem Augenblick die Erhebung der Geschichte zu wahrhaft wissenschaftlichem Begreifen mÚglich ward, in welchem der menschliche Geist sich selber durchdrang, in sich selber den typischen Keim einer unermeßlichen Welt fand und nunmehr in der Entfaltung desselben in dem Verlauf der Weltgeschichte ein eigenes durchaus erklÈrbares Ganze erkannte. Aus diesem Wesen der menschlichen Seele folgt die hÚchste Aufgabe unserer intellektuellen und moralischen Kultur. „Die hÚchste Aufgabe der Bildung ist sich seines transszendentalen Selbst zu bemÈchtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu sein.“ „Man muß notwendig erschrecken, wenn man einen Blick in die Tiefe des Geistes wirft. Der Tiefsinn und der Wille haben keine Grenzen. Es ist damit wie mit dem Himmel. ErmÝdet steht die Einbildungskraft still – hier stoßen wir nun auf die geistige Lebenskonstitutionslehre und das Moralgesetz erscheint hier als das einzige wahre große GraderhÚhungsgesetz des Universums, als das Grundgesetz der harmonischen Entwickelung.“ Welche Bedeutung kann nun im Zusammenhang solcher Ideen der Religion und dem Christentum zukommen? Hier muß sich entscheiden, welche Stellung jene subjektiven Motive einer Abwendung von der Welt und die Fortgestaltung derselben zu einem katholischen Ideal im Ganzen seines Denkens haben konnten. Hier muß sich entscheiden, ob Tieck recht hatte, wenn er alle katholischen Folgerungen aus Hardenbergs Wirken herb abweist und seine Stellung vÚllig von der Friedrich Schlegels absondert.

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Was Hardenberg vor dem Erscheinen der Reden Ýber die Religion verÚffentlicht hat: geht nur in einem Punkte untersuchend auf das Wesen der Religion ein. Nichts sei zur wahren Religion unentbehrlicher als ein Mittelglied, das uns mit der Gottheit verbinde. In der Wahl desselben mÝsse der Mensch schlechterdings frei sein. Hier erÚffne sich eine Entwickelung, die von Fetischen, Gestirnen, Tieren weiterschreite zu Helden, GÚtzen, GÚttern, endlich einem Gottmenschen. Er versteht nun unter Pantheismus die Idee, daß alles Organ der Gottheit, Mittler sein kÚnne, indem der Glaubende es dazu erhebe, unter Monotheismus dagegen den Glauben, daß es nur ein solches Organ in der Welt fÝr uns gebe. Von diesem Gedanken gehen verwandte Ideen in den Reden Ýber die Religion aus. Anderseits aber rief nun diese Schrift erst in Novalis ein zusammenhÈngendes Nachdenken Ýber Religion und Christentum hervor. Und zwar sucht dasselbe, abweichend von der Richtung der Reden, vermÚge einzelner psychologischer Intuitionen sich dem Ganzen dieser PhÈnomene zu nÈhern. Er bezeichnet das Herz gleichsam als das religiÚse Organ. „Indem das Herz, abgezogen von allen einzelnen wirklichen GegenstÈnden, sich selbst empfindet, sich selbst zu einem idealischen Gegenstande macht, entsteht Religion.“ Auch hier also ist die Gottheit der Schatten, welchen das Ich wirft. Von Fichte bis auf Feuerbach ist dieser Gedanke immer wieder ausgefÝhrt worden. „Noch ist keine Religion. Man muß eine Bildungsschule echter Religion erst stiften.“ Es gibt aber keine Religion, die nicht Christentum wÈre. Die GrundzÝge der Religion sind im Christentum sehr tief verwirklicht. Auch hier das merkwÝrdige, diese romantische Religion bezeichnende Schwanken. Von einer neuen Bibel, von ganz neuen Evangelien spricht Hardenberg; er scheint in Erwartung ganz neuer religiÚser Entwickelungen; und dann erblickt er doch wieder in den GrundzÝgen des Christentums die GrundzÝge aller ReligiositÈt Ýberhaupt. Gerade an diesem am meisten von Hardenberg erwogenen Punkte widersprechen sich am stÈrksten seine •ußerungen aus verschiedenen Zeiten, welche leider in den Fragmenten ganz willkÝrlich durcheinandergeschoben sind. Der Grundcharakter des Christentums ist NegativitÈt. „Absolute Abstraktion, Vernichtung des Jetzigen, Apotheose der Zukunft, dieser eigentlich besseren Welt: dies ist der Kern der Geheiße des Christentums.“ Das Christentum steht in Opposition mit Wissenschaft und Kunst und eigentlichem Genuß. Es ist der Keim alles Demokratismus, indem es auf den bloßen guten Willen im Menschen und seine eigentliche Natur, ohne alle Ausbildung, Wert legt. Ein zweiter Grundzug ist eine unendliche Wehmut. Sollen wir Gott lieben, so muß er hilfsbedÝrftig sein, wie er im Christentum erscheint. Wenn schon diese letzte Ansicht wieder auf die Reden Ýber die Religion hinweist: so ist das noch mehr in bezug auf die spezifischen Dogmen des Christentums der Fall. Auch ihm ist alles Wunder, oder, mit einer anderen Wen-

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dung, wahrhafte Àberzeugung, diese hÚchste Funktion unseres GemÝts und unserer PersonalitÈt, das einzige wahre gottverkÝndende Wunder; der Wunder hÚchstes, in verwandter Wendung, eine tugendhafte Handlung, als ein Aktus der freien Determination; jeder Tod ein VersÚhnungstod: kurz das Historische des Christentums allgegenwÈrtig. Er Ýberschreitet diese Linie noch in paradoxen Bemerkungen, nach welchen Christi Geschichte ebensosehr ein Gedicht sei, der Inhalt der Bibel auffallende •hnlichkeit mit einem MÈrchen habe: eine Bibel sei die hÚchste Aufgabe der Schriftstellerei. Dann aber ruft er sich – jenen eigenen phantastischen Hang pflegend, der mit seinem Geschick und seiner Krankheit, aber nicht mit seinen Ideen zusammenhing – selber zu: ich muß ordentlichen Aberglauben zu Jesus haben. Der Aberglaube ist Ýberhaupt notwendiger zur Religion als man gewÚhnlich glaubt. Nur durch jenen realistischen Trieb, demgemÈß er auch den Zusammenhang zwischen Religion und Wollust mehrmals hervorhebt, hÈngen solche Gedanken mit seinen Ýbrigen zusammen. Will man so sein innerstes VerhÈltnis zum Christentum erfassen: so tritt zunÈchst ein grenzenloses BedÝrfnis wahlverwandten Verstehens und Genießens der christlichen GemÝtsstimmung gegenÝber hervor. Da ist kein BemÝhen um kritische Wahrheit; keine Andeutung wÈre zu finden, daß er die Geltung des Christentums inmitten unserer modernen Kultur jemals mit objektivem Geiste erwogen hÈtte. Sein dem Christentum wahrhaft wahlverwandter Geist mÚchte von den wunderbaren KrÈften desselben so viel in sich aufnehmen, als ihm, wie er nun einmal ist, mÚglich ist. Hieraus entsprang fÝr das historische VerstÈndnis des Christentums ein ungemeiner Impuls. Man kann sagen, daß die Vertiefung des GemÝts in die christliche Epoche mit ihm und seinem Freunde Friedrich Schlegel begann. Und zwar geschieht diese Vertiefung sozusagen mit grÚßerer historischer Wahlverwandtschaft in ihm als in irgendeinem seiner Freunde. Denn dieselbe gab nur einem Elemente Gestalt, das schon in ihm lebte, ja das sich zum Herrn seines Lebens gemacht hatte. Er lebte in der jenseitigen Welt. Sie war in Wirklichkeit die Heimat seines Herzens. Das gab seinem Christentum gegenÝber dem seiner objektiv auffassenden Freunde und Genossen, insbesondere Schleiermachers, ein ganz verschiedenes, ganz eigenartiges GeprÈge. Wie er demnach das Christentum ergriff, war es ihm ein Mittel, alle Tiefe und FÝlle des Herzens, mit welcher er an der geheimnisvollen Welt hing, die ihm Heimat war, aus grenzenloser Weite der Phantasie zu bestimmtem Bild und abgegrenztem Glauben zusammenzuziehen. Wie die Kirche Mittel fand, die grenzenlos schweifende Andacht und Sehnsucht des Herzens an bestimmte GegenstÈnde und Formeln zu heften: ein solches Allerheiligstes, an welches sich seine Empfindungen knÝpfen dÝrften, war hier das Christentum. Das un-

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bestimmte Antlitz der jenseitigen Welt schien in ihm aus der DÈmmerung hervorzutreten. War er ein glÈubiger Christ? darauf soll man nun einmal schlechterdings mit einem frÚhlichen Ja oder einem runden Nein antworten kÚnnen! Man sollte vielmehr ein fÝr allemal davon ausgehen, daß wir Modernen uns zum Christentum vollkommen anders verhalten als in den sechzehnhundert Jahren vor der BegrÝndung des wissenschaftlichen Geistes geschah. Die Summe von Begebenheiten, welche Ýberliefert wurde, der innerliche Gehalt eines tausendjÈhrigen GemÝtslebens, das vom ersten Beginn ab darin lebendig sproßte und blÝhte, sind auch den TiefstreligiÚsen unter den Vertretern der modernen Wissenschaft, sie sind auch den Pascal, Leibniz, Schleiermacher, Fichte, Niebuhr, Savigny niemals eine Macht gewesen, welche ihr Dasein gefangen nahm: ich wage zu behaupten, daß nicht nur in dem historischen und ideellen Gehalt, welcher aufgenommen wurde, ein Unterschied war, sondern auch, was viel wichtiger scheint, in der F o r m d e r À b e r z e u g u n g . Auf einem ganz Europa umspannenden Schauplatz, in einer beispiellosen Sukzession der genialsten wissenschaftlichen KrÈfte, wie sie eine solche Basis allein mÚglich macht, hat der moderne wissenschaftliche Geist von der Entdeckung der Mechanik des Himmels ab bis auf diesen Tag, an welchem die KrÈfte der Gesellschaft und der Geschichte unser begeistertes Studium beschÈftigen, seine siegende Laufbahn begonnen. Wir wissen, daß die Zukunft sein ist. Wir wissen, daß er bestimmt ist die Welt umzugestalten. Die einsame Seele des Forschers ist seit jener Zeit erfÝllt von dem edelsten MachtgefÝhl des Menschen. Die Erscheinungen Gesetzen unterwerfen, vermÚge dieser Gesetze den Gang der Erscheinungen lenken, zu solchen Mitteln dem Menschen, auch dem letzten, das volle vorurteilslose SelbstgefÝhl seiner Bestimmung geben, das will dieser siegreiche Geist, der sich mit Kepler und Galilei seine Grundlage schuf. Von ihm erfÝllt sein, das heißt leben. Keine wahrhaft krÈftige, die Wissenschaft in ihrer GrÚße zu fassen befÈhigte Intelligenz hat anders als im VollgefÝhl dieser Bewegung gelebt. Bald in zÝrnender Leidenschaft, bald in heiterer Sammlung, in allen Formen, in allen Begrenzungen war sie der Lebensinhalt jedes wahrhaft fruchtbaren intellektuellen Kopfes seit zwei Jahrhunderten. DemgemÈß konnte auch das Christentum nur unter dem Gesichtspunkte dieses Interesses aufgefaßt werden. Die Beleuchtung der christlichen Tatsachen und Dogmen war also bedingt durch die Stelle in dem Gang und den Kreisen dieses wissenschaftlichen Geistes, von welcher aus dieselben gesehen wurden. Die Philosophen suchten den Widerschein der Ideen in den Dogmen und Tatsachen; also fiel fÝr sie die dogmatische Form und die historische FaktizitÈt in verschwimmende DÈmmerung. Die Historiker waren erfÝllt von den Wirkungen des Christentums, von seiner

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geschichtlichen Macht; die TatsÈchlichkeit der Ýberlieferten Historie desselben ward von den MÚser, Niebuhr, Savigny mit Sehnsucht und PietÈt behandelt, nie aber mit dem festen Glauben, dessen Maßstab sie von anderen Teilen der Geschichte her besaßen. Bei den Naturforschern steht das Christentum am Rande des Horizontes ihrer Forschung; wie diese sich erweiterte ist es immer mehr zurÝckgedrÈngt worden. Ein Maßstab methodisch gewonnener, strengbegrÝndeter Gewißheit ergibt sich aus dem wissenschaftlichen Studium; seitdem eine mathematische Naturwissenschaft, eine kritische geschichtliche Methode bestehen, kann nichts diesen Maßstab strengen Wissens mehr erschÝttern. Dagegen war bis zum Eintreten dieser Tatsache das VerhÈltnis der Àberzeugungsgrade geradezu das entgegengesetzte: alle menschliche Wissenschaft mußte der gÚttlichen Offenbarung gegenÝber vÚllig ungewiß und wie Schatten schwankend erscheinen. Aus diesem neuen VerhÈltnis ergeben sich die modernen Religionstheorien nicht nur der Philosophen, sondern ebenso der protestantischen Theologie, welche das Mittelalter, ja welche auch Luther nicht einmal verstanden hÈtte. Historie und Dogma treten in ihnen zurÝck hinter den ganz inneren Zusammenhang mit dem GemÝtsleben, und indem so das Christentum in seiner wahren Heimat, gleich einem zurÝckgedrÈngten Welteroberer, sich festigt und seine Grenzen aufrecht erhÈlt, treten jene kÝhlen Àberzeugungsgrade zurÝck hinter den ganz heterogenen Gesetzen, welche im GemÝt gelten, Gesetzen, welche in den Erscheinungen von Liebe, Sehnsucht, BedÝrfnis, Friede des Herzens Ýberall von der Beziehung der Ideen auf den in Lust und Leid, in Verlangen und Trieb bewegten Mittelpunkt unseres Daseins bestimmt werden. Dieses moderne VerhÈltnis zum Christentum muß begriffen sein, indem man unternimmt, einen aus der Zahl der intellektuell begabten MÈnner zu wÝrdigen, welche ein bestimmtes VerhÈltnis zum Christentum auszusprechen und zu fixieren bestrebt waren. Sonst entsteht jenes NÚrgeln, BeschnÝffeln, BemÈngeln innerster Àberzeugungen, welches das VerhÈltnis des Menschen zu den letzten Geheimnissen der Welt, dies VerhÈltnis, das uns so klein macht und so groß, in flacher kritischer Zusammenstellung kontrastierender •ußerungen vÚllig verkennt.

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4. Indem dies bei Novalis erwogen wird, werden nicht nur bereits erwÈhnte kontrastierende •ußerungen verstÈndlich, sondern auch der große Gegensatz zwischen seinen dargelegten wissenschaftlichen Gedanken Ýber Religion und Christentum und seinen „geistlichen Gedichten“. In jedem zugleich natÝrlichen und tiefen GemÝt regen sich zuzeiten BedÝrfnis, Sehnsucht, Hingabe,

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welche dann in anderen Tagen wieder wie ganz ferne stehen. Maria, Christus, die Auferstehung waren fÝr Novalis nicht Glaubensartikel: alles was Ýber die Natur moderner christlicher Àberzeugungen gesagt ist, gilt auch fÝr ihn. Eben darum wÝrde man freveln sie als poetische Gestalten fÝr ihn zu betrachten. Aber in tiefbewegten Stunden, da er in den nÈchtlichen Himmel einer jenseitigen Welt hinausblickte, formte sich das Chaos unendlicher Welten fÝr ihn zu diesen Sternbildern, zu denen der einsam Dahinschreitende als zu leitenden SchÝtzern sehnsÝchtig emporblickte. Diese Lieder werden leben ewig wie das Christentum. Was sie von denen der großen geistlichen Liederdichter des 16. und 17. Jahrhunderts unterscheidet, ist eine Simplifikation und Verinnerlichung des Stoffes, welche auf dem verÈnderten VerhÈltnis zu demselben beruht. Jene alten geistlichen Lieder, wie denn die ersten in dem Drang reformatorischen Glaubenseifers, als Bekenntnisse, hervortraten, standen der Predigt ganz nahe: Ermahnung, Geschichte, Bekenntnis begegneten sich in ihnen; in der FÝlle des Glaubensgehaltes berÝhren sie das Mannigfaltigste. Die „geistlichen Gedichte“ von Novalis sind Lieder im wahren Sinne des Wortes: empfangen aus einer das GemÝt tief bewegenden individualisierten Stimmung: ihr Inhalt ist eine ganz einfache, von der Phantasie in unbestimmter Weise getragene Anschauung, so verschwimmend, als ob diese Stimmung sie emporgetragen hÈtte und sie dann wieder mit ihr versinken und sich auflÚsen mÝßte, einer Vision zu vergleichen. Diese einfache, von der Stimmung emporgetragene Anschauung ist bald der sÝßeste Friede in der Anschauung Christi, des Freundes der Seelen: „endlich kommt zur Erde nieder aller Himmel sel’ges Kind.“ Bald das wehmÝtig heimliche GefÝhl, wie er auf einsamen Pfaden, fern von der Menge, ihm folgt: „von Liebe nur durchdrungen, hast du so viel getan, und doch bist du verklungen, und keiner denkt daran.“ Und dann wieder die rÝhrendste Empfindung des Mitleids mit ihm, wie sie in alten Bildern so wundersam ausgedrÝckt ist, in denen man Maria Ýber ihn gebeugt sieht, ihre TrÈnen rinnen, unwillkÝrlich steigen sie auch uns in die Augen, da wir in dies gramzerstÚrte Gesicht blicken. „Ewig seh’ ich ihn nur leiden, ewig bittend ihn verscheiden. O daß dieses Herz nicht bricht.“ Aber Ýber alles geht ein Zauber der einfachsten reinsten Empfindung, der Ýber die Lieder an Maria gebreitet ist: wie ihm, seit er sie sah, der Welt GetÝmmel gleich einem Traum verwehte und nun ewig ein unnennbar sÝßer Himmel im GemÝte steht; wie er sie anfleht, nur einmal ihm ein frohes Zeichen zu geben, oft in TrÈumen sei sie ihm erschienen, in Kinderzeiten: UnzÈhligmal standst du bei mir, Mit Kindeslust sah ich nach dir, Dein Kindlein gab mir seine HÈnde,

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Daß es dereinst mich wiederfÈnde! Du lÈcheltest voll ZÈrtlichkeit Und kÝßtest mich: o himmelsÝße Zeit! Fern steht nun diese sel’ge Welt – Indem wir von diesen Liedern reden, wenden wir uns von dem wissenschaftlichen Ausdruck seiner Weltansicht zu dem dichterischen. Sie begannen seine dichterische Epoche, damals als er Tieck kennen lernte. Und zwar entstanden sie, wie der Aufsatz Ýber die Christenheit, unter dem Eindruck der Reden Ýber die Religion. Im Herbst 1799 las er sie den Freunden vor und Friedrich Schlegel fand, daß sie das GÚttlichste seien, was er je gemacht, mit nichts habe die Poesie darin •hnlichkeit als mit den innigsten und tiefsten unter Goethes frÝheren kleinen Gedichten. „Die Ironie dazu ist“ – schrieb er an den Freund, dessen Reden diese Bewegung angefacht hatten – „daß Tieck, der kein solch Lied herausbringt, wenn er auch Millionen innerliche PurzelbÈume schlÈgt, nun auch solche Lieder machen soll; dann nehmen sie noch Predigten dazu und lassen’s drucken.“ Auch Tieck erwÈhnt des wunderlichen Unternehmens, indem er aber Ýber seinen eigenen Anteil stillschweigend hinweggeht: die Predigten hÈtten die wichtigsten Momente und Ansichten des Christentums enthalten sollen. Ich beziehe auf diesen Plan einige Bemerkungen in dem Nachlaß. Selbst die Lavaterschen Lieder enthielten noch zu viel Moral und Asketik; „die Lieder mÝssen weit lebendiger, inniger, allgemeiner und mystischer sein“. Auch die Predigten mÝßten schlechthin nicht dogmatisch, sondern unmittelbar, zur Erregung des heiligen Intuitionssinns, zur Belebung der HerzenstÈtigkeit sein. Predigten und Lieder kÚnnen Geschichten enthalten; diese wirken vorzÝglich religiÚs. In diesem Sinne nennt er die Predigten auch Legenden: diese seien der eigentliche Stoff derselben. Solche echte Legenden oder Predigten seien Nessir und Zuleima, die Bekenntnisse einer schÚnen Seele und das Heimweh. Man sieht wie der Plan gedacht war, fÝr welchen allerdings Tieck ein wunderlicher Genosse gewesen wÈre. Man sieht auch wie, die Verschiedenheit der Natur miterwogen, dieser Plan dem der Visionen verwandt war, welchen Schleiermacher nach den Reden faßte. Es war kein Zufall, sondern lag in der Natur der Sache, daß alle PlÈne dieser Art, dem innersten religiÚsen Leben einen ganz freien, man mÚchte sagen literarischen Ausdruck zu geben, wieder niedersanken. Die geistlichen Lieder von Novalis, die Predigten von Schleiermacher ruhten auf dem inneren Zusammenhang mit der christlichen Gemeinde. Die Form nun, in welcher Novalis seiner Weltansicht den adÈquaten dichterischen Ausdruck zu geben gedachte, war die des Romans. Seit dem Erschei-

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nen des Wilhelm Meister war dieser Gedanke, mit dem Studium des wunderbaren Buches, in ihm aufgewachsen; nach einigen BruchstÝcken eines frÝheren Planes, der Lehrlinge von Sais, ergriff er den Stoff des Ofterdingen, seines einzigen grÚßeren, obwohl unvollendeten Werkes. Von Wilhelm Meister aus kann daher allein seine dichterische Stellung begriffen werden. Hier tritt uns aber entgegen, daß die Einwirkung dieses großen Werkes auf die dichterische Produktion jener Jahre in keiner Darstellung in ihrer vollen Bedeutung erscheint. Werden wir Ýberhaupt jemals die Mittel finden, die Einwirkung wissenschaftlich darzustellen, welche die Phantasie einer Epoche durch ein Kunstwerk empfÈngt? Die Literaturgeschichte hat bisher dies Problem nicht einmal klar gesehen; seine LÚsung liegt in der Zukunft der Psychologie, welche freilich heute noch weit von der Einsicht in die Gesetze der Phantasie entfernt ist. Wir sehen nur gewissermaßen von außen, historisch, wie gewisse Gestalten und Entwickelungsformen in verschiedenen Modifikationen die Phantasie einer Epoche ganz erfÝllen, wie anderseits eine bestimmte Form, in welcher die Phantasie die GegenstÈnde konzipiert, sich fortpflanzt. Es wÈre schon ein ungemeiner Fortschritt, wenn wenigstens dieser historische Gesichtspunkt ins Auge gefaßt und durchgefÝhrt wÝrde. Wir haben es hier nur mit einer Seite der Einwirkungen des Wilhelm Meister zu tun, mit seinem Einfluß auf die Dichtung der Romantiker. Und hier erscheinen nun in bezug auf die Gestalten und Entwickelungsformen der Sternbald von Tieck und der Florentin von Dorothea Veit recht geeignet, dies VerhÈltnis zu veranschaulichen. Wilhelm Meister enthÈlt gewissermaßen den Grundriß des Sternbald: die Bildungsgeschichte eines vermÚge der Kunst aufstrebenden BÝrgersohns, die ihn durch verschiedene Abenteuer hindurch in die vornehme Gesellschaft fÝhrt: das Schema dieser VerhÈltnisse, die flÝchtige Erscheinung eines MÈdchens, welche sich in seine JugendtrÈume verwebt, dann durch mannigfache Schicksale hindurch das Wiederfinden und die Vereinigung der beiden; ja um die •hnlichkeit zu vollenden, diese Vereinigung durch die Schwester, eine GrÈfin, vermittelt, in deren SchÚnheit schon in Vorausahnung die Geliebte verehrt wird. Das schÚne, fÝr eine solche Bildungsgeschichte geradezu klassische Motiv, durch das flÝchtige frÝhe Erscheinen der Geliebten der Entwickelung und ihrer Darstellung im voraus Einheit und Zusammenhang, durch ihr Verschwinden dann wieder Freiheit fÝr die mannigfaltigsten VerhÈltnisse, endlich durch das Wiederfinden einen gewissermaßen providenziellen Abschluß zu geben, hat sich seit Wilhelm Meister so tief in die Phantasie der Romandichter geprÈgt, als ob die Natur selber darauf fÝhre, weil es so einfach ist. Auch die Gruppierung des Titan, dieses einzigen vollendeten Kunstromans von Jean Paul in großem Stil, der in so bewußter

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Nebenbuhlerschaft des Wilhelm Meister gearbeitet ist, folgt demselben Schema, mit einiger Modifikation der Erfindung. Im Florentin ist man wie zwischen den Schatten der Goetheschen Gestalten. Die Klostergeschichte Florentins ist aus der Geschichte des Harfners und des Marchese entstanden; Clementine ist die zweite schÚne Seele, ihr VerhÈltnis zu dem Hause, wie sie aus der Entfernung alles leitet, die Verwirklichung des hÚchsten Kunstsinns in ihrer Umgebung, das alles ist aus der Anschauungswelt der Familie, welcher der Oheim, Natalie und die schÚne Seele angehÚren, wie in eins gezogen. So klingt denn auch in dem Heinrich von Ofterdingen manches nach. Insbesondere ist die Gestalt der MorgenlÈnderin eine wenig verhÝllte Modifikation Mignons. Unvergleichlich wichtiger ist aber, wie das Verfahren der Phantasie, die Form, in welcher die Erscheinungen konzipiert und dargestellt werden, von Wilhelm Meister aus diese romantischen Kreise bestimmt. Und so hervorragend erschien gleich damals diese kÝnstlerische EigentÝmlichkeit des Romans, daß die wahrhaft befÈhigten Kritiker, wie Schiller, Friedrich Schlegel, gleich von vornherein diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund stellten. Und diesem war denn auch, noch bevor Friedrich Schlegels Kritik erschien, ein tiefdringendes Studium von Novalis gewidmet. Wie dies Studium seine Entwickelung seit 1796 begleitete, gab ihm freilich die wachsende Divergenz der Standpunkte eine andere Richtung. Aber fÝr seine eigene und die romantische Dichtung war jener erste Gesichtspunkt der wichtigste. Es sei sonderbar – hiervon geht er aus – daß in der Natur nur das Grelle, das Ungeordnete, Unsymmetrische, Unwirtschaftliche mißfalle und hingegen bei allen Kunstwerken Milde, schickliches Verlaufen, Harmonie und richtige gefÈllige GegensÈtze unwillkÝrlich gefordert werden. Die ErzÈhlung enthalte oft eine gewÚhnliche Begebenheit, aber sie unterhalte. Sie unterhalte die Einbildungskraft im Schweben oder im Wechsel, setze sie in einen kÝnstlichen febrilischen Zustand und entlasse sie, wenn sie vollkommen sei, mit erneutem WohlgefÝhl. Und zwar sei der Vorgang eine Auffassung des EigentÝmlichen, dergestalt daß es schÚpferisch in das Allgemeine erhoben werde – Auffassung des EigentÝmlich-Allgemeinen, des Notwendig-ZufÈlligen. Sehr schÚn sagt er in dieser Beziehung, alles Vollendete spreche nicht sich allein, es spreche seine ganze mitverwandte Welt aus, daher schwebe um das Vollendete jeder Art der Schleier der ewigen Jungfrau. Zeigt sich hier bereits, wie Novalis den dichterischen Charakter des Wilhelm Meister begriff und mit seiner Denkart verschmolz, so ist fÝr seine Entwickelung entscheidend, wie ihn eine Seite dieses Romans ergriff, welche auch Schiller bemerkt hatte. Ein Roman mÝsse ganz Poesie sein; diese aber sei eine harmonische Stimmung unseres GemÝts, in welcher sich alles verschÚnere, jedes Ding seine gehÚrige Ansicht, alles seine passende Begleitung und Umge-

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bung finde. DemgemÈß erscheine in einem poetischen Buche alles so natÝrlich, zugleich aber – und das ist der entscheidende Punkt – so wunderbar: man glaube es kÚnne nicht anders sein, als habe man nur bisher in der Welt geschlummert und gehe einem nun erst der rechte Sinn der Welt auf. Diese Empfindungsweise drÝckt unser VerhÈltnis gegenÝber dem Individuell-Allgemeinen, dem Notwendig-ZufÈlligen genau aus. Aber in dem romantischen Geiste gewann die kÝnstlerische Behandlung Ýber den Realismus das Àbergewicht. So erschien ihm das GefÝhl des Fremdartigen, weit von der wirklichen Welt Abstehenden als das GrundgefÝhl der Poesie. Es sei seltsam, daß in einer guten ErzÈhlung etwas Heimliches sei, etwas Unbegreifliches. Die Geschichte scheine noch unerÚffnete Augen in uns zu berÝhren und wir stÝnden, indem wir aus ihrem Gebiete zurÝckkÈmen, in einer ganz anderen Welt. Die Kunst auf eine angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend: das sei die romantische Poetik, nÈmlich die Poetik des Romans. So richtig dies einen Grundzug des in Wilhelm Meister beginnenden modernen deutschen Romans bezeichnet: so war doch die Àberspannung dieser Idealisierung, mit welcher dann eine ausschließende Vorliebe fÝr dies GefÝhl des Fremdartigen, Heterogenen verknÝpft sein mußte, ein offenbarer Irrweg der Romantik. Die normale dichterische Stimmung ward damit verkehrt. Indem Novalis, welcher in den hier gegebenen SÈtzen den Mittelpunkt seines dichterischen Ideals sah, diesen Weg verfolgte, mußte er bald gewahren, wie weit er sich von Wilhelm Meister entfernte. Sein Urteil Ýber denselben schÈrfte sich. Er gedachte gegen ihn zu schreiben. Einzelne BruchstÝcke sind aus seinem Nachlaß erhalten. Es scheint mÚglich die Kritik gewissermaßen wiederherzustellen. Die Philosophie und Moral des Wilhelm Meister sind romantisch. Das Gemeinste wird wie das Wichtigste mit romantischer Ironie angesehen und dargestellt, die Verweilung ist Ýberall dieselbe (auch Schiller bemerkte in verwandtem Sinne, der Ernst sei in diesem Roman ein Spiel und das Spiel der wahre und eigentliche Ernst). Die Akzente sind nicht logisch, sondern metrisch und melodisch, wodurch eben jene wunderbare romantische Ordnung entsteht, die keinen Bedacht auf Rang und Wert, Erstheit und Letztheit, GrÚße und Kleinheit nimmt. Eine merkwÝrdige Eigenheit Goethes bemerkt man dabei in seinen VerknÝpfungen kleiner unbedeutender VorfÈlle mit wichtigeren Begebenheiten. Er scheint keine andere Absicht dabei zu hegen, als die Einbildungskraft auf eine poetische Weise mit einem mysteriÚsen Spiel zu beschÈftigen. Wie nun aber Schiller dem Wilhelm Meister den einzigen Vorwurf machte, daß bei dem großen und tiefen Ernst, der in dem Einzelnen herrsche und durch den es so mÈchtig wirke, die Einbildungskraft zu frei mit dem Ganzen zu spielen scheine und sogar Ursache werde, daß dem Abb¹ und Serlo im

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letzten Buche noch einiges in den Mund gelegt ward, was dem Leser das Ganze in strengerem realistischen Zusammenhang erscheinen lassen soll: so war dagegen Novalis und seinen Freunden dieses romantische Element, welches in dem UnaufgeklÈrten, dem Zufall, der Bedeutung der die Einbildungskraft und das GemÝt reprÈsentierenden Gestalten waltet, noch zu sehr unterdrÝckt, ja an diesem Punkte entwickelte sich ein leidenschaftlicher Gegensatz. Nach Novalis hat insbesondere Bettina von Arnim diesen Gegensatz mit den beredtesten Worten ausgedrÝckt. Wilhelm Meisters Lehrjahre sind prosaisch und modern; das Romantische geht darin zugrunde, auch die Naturpoesie, das Wunderbare. Er ist eine poetisierte bÝrgerliche und hÈusliche Geschichte, in welcher das Wunderbare ausdrÝcklich als Poesie und SchwÈrmerei behandelt wird. Man erinnert sich, daß Schiller gerade die Einsicht bewunderte, wie „nur im Schoße des dummen Aberglaubens die monstrÚsen Schicksale ausgeheckt werden, welche Mignon und den Harfenspieler verfolgen“. Novalis erfaßt denselben Punkt, aber zieht die entgegengesetzte Konsequenz. Der Geist des Buches ist kÝnstlerischer Atheismus. Ja es ist geradezu ein Candide, gegen die Poesie gerichtet. Und nun sehr richtige Einwendungen im einzelnen: die Oberaufsicht, welche der Abb¹ fÝhrt, ist lÈstig und komisch; der Turm in Lotharios Schlosse ist ein großer Widerspruch mit ihm selbst. Es lÈßt sich fragen, wer am meisten verliert, ob der Adel, daß er zur Poesie gerechnet, oder die Poesie, daß sie vom Adel reprÈsentiert wird. Der Held verzÚgert nur das Eindringen des Evangeliums von der ³konomie, und die Úkonomische Natur ist endlich doch die wahre, die allein Ýbrigbleibende. Wilhelm Meister ist ganz ein Kunstprodukt, ein Werk des Verstandes. Als KÝnstler ist Goethe nicht zu Ýbertreffen. Was uns an Schriften fesselt, ist allemal die Melodie des Stiles; Wilhelm Meisters Lehrjahre sind ein mÈchtiger Beweis dieser Magie des Vortrags, dieser eindringenden Schmeichelei einer glatten, gefÈlligen, einfachen und doch mannigfaltigen Sprache. Wer diese Anmut des Sprechens besitzt, kann uns das Unbedeutendste erzÈhlen und wir werden uns angezogen und unterhalten finden. Wir stehen hier dicht vor dem Ofterdingen. Eine wunderbare Reproduktion des Goetheschen Stiles, Ýbertragen auf eine ganz von der Imagination geschaffene, wunderbare, fremdartige, ganz typische Welt. Novalis sagt es geradezu: Goethe wird und muß Ýbertroffen werden, aber nicht als KÝnstler, oder doch nur um sehr wenig, denn seine Richtigkeit und Strenge ist vielleicht schon meisterhafter als es scheint, sondern nur wie die Alten Ýbertroffen werden kÚnnen, an Gehalt und Kraft, an Mannigfaltigkeit und Tiefsinn. Diese Bemerkungen kehren fast wÚrtlich in einem Briefe an Tieck wieder. Er berichtet, er habe schon die ganze Rezension im Kopfe. In einer seiner pa-

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radoxen Antithesen, die Widerstrebendes fÝr den Moment verknÝpfen, setzt er der gehalten realistischen Goetheschen Ansicht der Welt seine poetische Stimmung entgegen, wie er sie in Jakob BÚhme ausgedrÝckt findet. „Welch heitere FrÚhlichkeit nicht dagegen im BÚhme und diese ist es doch allein, in der wir leben wie der Fisch im Wasser. Ich wollte noch viel Dir sagen, denn es ist mir alles so klar und ich sehe so deutlich die große Kunst, mit der die Poesie durch sich selbst im Wilhelm Meister vernichtet wird und wÈhrend sie im Hintergrund scheitert, die ³konomie sicher auf festem Grund und Boden mit ihren Freunden sich gÝtlich tut und achselzuckend nach dem Meere sieht.“ Diese poetische FrÚhlichkeit herrscht in der Tat im Ofterdingen, im Sternbald, im Florentin und bildet einen entschiedenen Kontrast gegen Goethes reife, ruhig heitere Weltbetrachtung. Deutlicher als die Ýblichen umfÈnglichen HerzensergÝsse Ýber den Geist der Romantik zeigt diese Reihenfolge der Wirkungen Wilhelm Meisters auf Novalis eine Seite der entstehenden romantischen Dichtung. Seine Worte sprechen ganz die Wirkung aus, welche diese im Meister herrschende Weise die moralische Welt aufzufassen und darzustellen auf seine dichterische Generation hatte. Will man diese Wirkung mit HÈnden greifen, so vergleiche man Tiecks frÝhere ErzÈhlungen und Romane mit dem Sternbald. Nichts liegt zwischen ihnen als der Wilhelm Meister. Aber dieser hatte die ganze Form geÈndert, unter welcher die moralische Welt aufgefaßt wurde. Goethes Roman gibt nichts weniger als ein objektives Bild derselben. Die Gewalt des Naturells, Leidenschaften, welche sich bis zum Verbrechen steigern, Neigungen und Gewohnheiten, welche die Menschen schlecht oder lÈcherlich machen, die harten Linien, welche individuelle Lage und Arbeit in ihre ZÝge graben, all das ist in den Hintergrund dieser Welt geschoben oder aus ihr ausgeschlossen. Der sprÚde Stoff des Lebens ist ausgeschieden. Was hiervon noch in den ersten, frÝher geschriebenen BÝchern lag, erhÈlt durch die letzten wenigstens eine neue idealisierende Beleuchtung. In diesen haben wir es nur mit der rein menschlichen Bildung, der Ausbildung der IndividualitÈt in deren verschiedenen Lebensaltern und Lagen zu tun. Die philosophische Betrachtung des wahren Menschen und seiner Bildung herrscht hier und gibt dem Ganzen seinen Gesichtspunkt. An diesem Punkte ist leicht zu sagen, was unter der sogenannten Èsthetischen Weltansicht Goethes und der Romantiker zu verstehen sei. Kann die moralische Welt Èsthetisch betrachtet werden? Man mÚge die Frage umkehren: kann eine Èsthetische Welt einen moralischen Gehalt in sich schließen? Sie kann es. Nichts ist falscher als die Ansicht, Wilhelm Meister sei eben darum nicht unmoralisch, weil ein Gedicht mit Moral nichts zu schaffen habe. Die Komposition enthÈlt ein moralisches Urteil. Aber in welchem Sinne? Da,

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wo die unbedingten sittlichen Gesetze unserer Existenz endigen, beginnen andere, welche in unserem besonderen VerhÈltnis zum Leben gegrÝndet sind, Gesetze der menschlichen Lagen. Von hÚchster Bedeutung sind hier die Gesetze der Lebensalter und der Geschlechter, weil diese die von der Natur gegebenen Lagen bezeichnen, gegen welche sich aufzulehnen frevelhaft oder lÈcherlich ist. Keine Ethik, in ihren ehernen Formen, vermag diese Gesetzgebung des fließenden Lebens adÈquat auszudrÝcken. Die Dichtung gibt ihr den Ausdruck. Die Epoche der Èsthetischen Ansicht der moralischen Welt machte gegenÝber verhÈrteten Doktrinen der Ethik dieses Recht freier konkreter Anschauung in der Tat geltend und begann damit eine Revolution unserer moralischen Denkweise, welche Schleiermacher, Herbart, Hegel philosophisch abzuschließen gedachten, welche aber noch in vollem Flusse ist. Hier liegt auch der Keim der Lucinde von Friedrich Schlegel. Unmittelbar an die angedeutete Richtung des Wilhelm Meister schließt sich diese leidenschaftliche Verirrung. Mit wahrhafter kritischer GenialitÈt zeigt Friedrich Schlegels Abhandlung Ýber Wilhelm Meister, wie die kunstreiche Komposition des Buches in einer positiven moralischen Ansicht abschließt, die sich in dem Oheim, in Lothario, in Natalie man mÚchte sagen kristallisiert. Wenn er Wert darauf legte, daß diese Abhandlung Ironie enthalte: so geschah das, weil er sich wohl bewußt war, die Straffheit einer Komposition, welche von dieser moralischen Ansicht aus gestaltet worden wÈre, Goethe an vielen Punkten nur untergelegt zu haben. Das hieß: fÝr ihn war die Aufgabe einer Èsthetischen Darstellung der moralischen Welt in Wilhelm Meister noch nicht voll verwirklicht. Hieran knÝpfte sich sein eigenes poetisches Experimentieren. So schloß sich an Wilhelm Meister der doktrinÈre oder der Tendenzroman an. Er schloß sich an die moralphilosophische Seite des Werkes, welche in der Tat in den beiden letzten BÝchern vorherrscht. In diesen fand daher auch Friedrich Schlegel folgerecht den HÚhepunkt des Romans, obwohl ja ganz offenbar, eben wegen dieser philosophischen Intention, die reine dichterische Kraft in ihnen abnimmt. Tieck und Novalis behandeln diesen Grundzug des Wilhelm Meister unbefangener. Sie nehmen diese dichterische Verallgemeinerung der IndividualitÈten, diese Darstellung der verschiedenen Standpunkte, unter denen uns die Welt erscheint, ebenfalls auf. Ja Novalis wenigstens fÝhrt das Typische in der Komposition viel weiter und dementsprechend nehmen die rein betrachtenden GesprÈche einen noch breiteren Raum ein. Aber beide erhalten sich die freie Ausbreitung nach allen Seiten, welche der dichterischen GemÝtsstimmung wesentlich ist. Dagegen bilden beide jenen Zug des Fremdartigen in der Erscheinung der Welt unter dem Einfluß von Motiven, welche in dieser Generation hinzutraten, wie in der dargestellten Theorie, so auch in ihren Werken aus.

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Die auf Goethe folgende Generation wuchs unter dem Einfluß einer abstrakten, ganz idealistischen Philosophie auf; sie nÈhrte sich an Dichtungen; sie hat nie zum Leben ein ganz unmittelbares dichterisches VerhÈltnis gewonnen. DemgemÈß erhielt die Kunstform, die Doktrin, die Idealisierung notwendig das Àbergewicht Ýber das Reale. Sie hatten wenig neue Anschauung der realen Welt mitzuteilen; sie hatten aber eine Steigerung der Kunstform ihnen eigen. Hierin unterscheiden sie sich ganz wesentlich von der folgenden dichterischen Generation, in welcher Kleist und Arnim hervortraten. Dieser gesteigerten Kunstform, diesem durchgebildeten Idealismus entsprachen das erwÈhnte merkwÝrdige GefÝhl und die Darstellungsmittel, um die Fremdartigkeit der Welt herauszuheben. Es war als ob sie durch ein gefÈrbtes Glas die Welt sÈhen. So geben sie denn der Welt die Farbe ihrer SubjektivitÈt, werden nicht mÝde, sie wunderbar zu finden, fremdartig, seltsam. Sie schweben zwischen der Wirklichkeit der Dinge und ihrer philosophischen, ihrer Kunststimmung. Das waren die Bedingungen, das war die Grundrichtung von Novalis, in welcher Heinrich von Ofterdingen sich gestaltete. In bewußtester Nebenbuhlerschaft mit Goethe, wie denn nach seiner Absicht schon Druck und ganze Èußere Erscheinung des Buches den Ofterdingen wie ein GegenstÝck zum Meister erscheinen lassen sollten. Neben Goethes Meister wirkte, wie er selber Tieck schrieb, dessen Sternbald am meisten auf seinen Ofterdingen. Dieser Roman ist sehr ÝberschÈtzt worden: neben den MÈrchen oder Genoveva darf er nicht stehen, ja Lovell ist von einer weit grÚßeren OriginalitÈt. Aber gerade weil Tieck hier so sehr in den Gestalten Wilhelm Meisters weiterdichtet, unter welche Szenen und Figuren des Ardinghello sich mischen, ist doppelt merkwÝrdig, wie er eine solche Wirkung Ýben konnte. Er steht zu den Èlteren ErzÈhlungen Tiecks im schroffen Gegensatz. In William Lovell lÈßt sich die Nachwirkung des Stiles, der Naturanschauung, der Stimmungen des Werther Ýberall bemerken. Das Schema der Handlung fÝr diese innere Welt muß dann Schillers Geisterseher herleihen. So ist auch hier seine Phantasie in den Banden fremder Dichtung. Aber die Misanthropie, ja die Menschenverachtung und der Weltschmerz, welche durch dies Buch wehen, sind die eigentÝmliche Stimmung seiner Jugendpoesie; Schauer, Bangen, Grauen die EindrÝcke, Ýber welche seine Phantasie eine unbeschrÈnkte Macht hat. Man muß dann die von Schauern durchwehten MÈrchen vergleichen, seine Abhandlung Ýber das Wunderbare in Shakespeares Poesie, welche er seiner Bearbeitung des Sturmes beigab und welche ihn ganz mit dem Studium des DÈmonischen und seiner Wirkungen beschÈftigt zeigt. Das war die Heimat seiner Phantasie. Und nun kam in Sternbald die Nachbildung von Goethes heiterer Welt und kÝnstlerischer Lebensanschauung. Sie entsprach ganz anders dem

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Geiste der Zeit. Auch hier die Phantasie herrschend, aber hier die heiterste, in welcher Sehnsucht, Liebe, FÝlle des LebensgefÝhls, die fÝr die romantische Dichtung so charakteristische Wanderlust durcheinander spielen. So lag hier fÝr den Ofterdingen nicht ein Vorbild, aber eine neue starke Anregung. Heinrich von Ofterdingen zeigt nun einen ungemeinen Fortschritt gegenÝber den Lehrlingen von Sais. Diese entstanden aus den Anregungen des Freiberger Aufenthaltes, wahrscheinlich dort selbst noch. Der Grundgedanke der Lehrlinge ist eine tiefsinnige Zusammenfassung der Naturansicht, wie sie von Fichte aus entwickelt werden konnte. Dieser Grundgedanke lÈßt sich aus den EntwÝrfen der Fortsetzung nicht erkennen, dagegen ist derselbe bereits, wie im Ofterdingen, nach seinen Grundlinien in einem eingeflochtenen MÈrchen antizipiert. Man kann nichts Anmutigeres lesen als das MÈrchen von RosenblÝtchen und Hyazinth, wie sie sich liebten, ohne es selber recht zu wissen, wie die Veilchen und Erdbeeren und die Tierchen des Gartens es sahen und ausplauderten, wie sie glÝcklich waren; wie aber der wunderliche Hyazinth seltsamen Dingen nachhing, wie einst aus fremden Landen ein Mann kam, seinen langen weißen Bart auseinandertat und bis tief in die Nacht erzÈhlte und wie nun alle Ruhe vorÝber war, und Hyazinth sich aufmachte, im Tempel der Isis das Antlitz der Natur zu schauen; nach langen Wanderungen kam er an; er stand vor der himmlischen Jungfrau; da hob er den Schleier und – RosenblÝtchen sank in seine Arme. Im lieblichsten parodischen Scherz ist hier das gesagt, auf welches alle einzelnen Andeutungen der ErzÈhlung selber zielen. Der Tempel zu Sais ist auch ihr Hintergrund, das verschleierte Bild von Sais; die Lehrlinge der Tempelschule sind die Helden. Das Geheimnis der Natur soll begriffen werden. In dem Lehrer ist Werners Gestalt idealisiert; seine wissenschaftliche Methode ist in eine naive Mystik Ýbertragen. Es ist bekannt, daß der intellektuelle Charakter dieses großen Mineralogen und Geologen in einer ungewÚhnlich scharfen und umfassenden Èußeren Unterscheidungskraft, in einer ungemeinen VerschÈrfung und Vermehrung der bisher aufgestellten Merkmale, in einem damit zusammenhÈngenden umfassenden klassifikatorischen Geiste beruhte. So prÈgte er dem, was vordem ein Aggregat zerstreuter Bemerkungen gewesen war, den Charakter der Wissenschaft auf. Mir scheint unzweifelhaft, daß diese Art von GenialitÈt Novalis bei seiner Schilderung vorschwebte: „oft hat er uns erzÈhlt, wie ihm als Kind der Trieb die Sinne zu Ýben, zu beschÈftigen und zu erfÝllen keine Ruhe ließ.“ „Er sammelte sich Steine, Blumen, KÈfer aller Art und legte sie auf mannigfaltige Weise sich in Reihen, stieg in HÚhlen, sah wie in BÈnken und in Schichten der Erde Bau vollfÝhrt war.“ In abstrakten ZÝgen wird das Bild jener Schule entworfen, welche damals, eine Zeit hindurch, Ýber ganz Europa ihre Terminologie und ihre JÝnger ausbreitete.

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Und nun erhebt sich unter diesen Lehrlingen, welche das verschleierte Geheimnis der Natur vor Augen haben, der Kampf der Naturansichten. Was ist die Natur? Ein wundersames GemÝt, das sich nur dem Dichter aufschließt – ein der Ordnung entgegenschreitendes Ganze, ein entsetzliches Tier – aufblÝhende Vernunft – so kreuzen sich die Reden Ýber den geheimnisvollen, verschleierten Grund der Dinge. Und unter den Streitenden in sich selber gekehrt der Held des Romans, der Lehrling, welcher bestimmt ist, nach dem Tode des Lehrers das große Wunder zu entschleiern. Es ist Novalis selber, wie er damals dachte, der Novalis, den wir auch aus den Fragmenten ganz so kennen lernten, Novalis wie er in Freiberg sann. „So wie dem Lehrer ist mir nie gewesen. Mich fÝhrt alles in mich selbst zurÝck. Mich freuen die wunderlichen Haufen und Figuren in den SÈlen, allein mir ist als wÈren sie nur Bilder, HÝllen, Zierden, versammelt um ein gÚttlich Wunderbild, und dieses liegt mir immer in Gedanken. Sie such’ ich nicht, in ihnen such’ ich oft. Es ist als sollten sie den Weg mir zeigen, wo in tiefem Schlaf die Jungfrau steht, nach der mein Geist sich sehnt. Und wenn kein Sterblicher nach jener Inschrift dort den Schleier hebt, so mÝssen wir Unsterbliche zu werden suchen; wer ihn nicht heben will, ist kein echter Lehrling zu Sais.“ Das ist der Punkt der LÚsung. Und diese LÚsung, auf welche der Roman zustrebte, wie sie das MÈrchen parodisch enthÈlt, ist ernsthaft in dem Distichon Hardenbergs ausgesprochen: Einem gelang es, – er hob den Schleier der GÚttin von Sais – Aber was sah er? – er sah – Wunder des Wunders, sich selbst.

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Und von dieser Einsicht aus klÈrt sich nun das in dem Entwurf der Fortsetzung angedeutete Detail auf. In TrÈumen sollte ihm die Isis erscheinen; er sollte nun den Sinn der Welt sehen, wie ihn die Religionen immer neu ausprÈgen, sollte durchschauen, wie in den griechischen GÚttern, wie in den Kosmogonien der Alten, wie in dem indischen Mythos Ýberall der Mensch als das gelÚste RÈtsel der Natur gefeiert wird. Es ist zu vermuten, daß Novalis in seiner spÈteren Epoche diesen Grundgedanken wie die lehrhafte Unform, in welcher seine AusfÝhrung begonnen war, umgestaltet hÈtte. Als er Jakob BÚhme las und am Ofterdingen arbeitete, schrieb er Tieck, ihm sei, da er nun den BÚhme erst kennen gelernt, um so lieber, daß die Lehrlinge bisher geruht hÈtten, die nun auf eine ganz andere Art erscheinen sollten. „Es soll ein echt sinnbildlicher Naturroman sein. Erst muß Heinrich fertig sein. Eins nach dem anderen: sonst wird nichts fertig. Drum sind auch die Predigten liegen geblieben und ich denke sie sollen nichts verlieren.“ Im FrÝhjahr 1799 war ihm in der Bibliothek des Generals von Funk die Sage von Ofterdingen in die Hand gefallen, dieser selber hatte eine Geschichte

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des Kaisers Friedrich II. geschrieben und die glÈnzendste Zeit des mittelalterlichen Geistes, die sich damit vor ihm auftat, mußte wohl einen Dichter sofort ergreifen, der im Gegensatz gegen die von Goethe aufgefaßte moderne, realistische Welt nach einem wahrhaft poetischen Anschauungskreis suchte. Er fand ihn in dieser gewaltigen Zeit. Das traf zusammen mit dem Wiederaufwachen der Poesie in seiner Seele, welches er Tiecks Anwesenheit verdankte. In der glÝcklichsten Stimmung ging er an die Arbeit. In tiefer Einsamkeit, auf der kursÈchsischen Saline in Artern, einem Ort in der gÝldnen Au in ThÝringen am Fuße des KyffhÈuser-Berges, wohin ihn seine GeschÈfte fÝhrten, begann er gegen den Winter 1799 den Ofterdingen. Am 5. April 1800 war der erste Band vollendet. Er war im vollen GefÝhl seiner Kraft. Der Ofterdingen erschien ihm als ein erster Versuch in jeder Hinsicht, die erste Frucht der wiedererwachten Poesie. Der Kopf wimmelte ihm von Ideen zu Romanen und Lustspielen. Mir scheint wahrscheinlich, mit den Jahren der Reife wÝrde der Àberschwang einer mystischen Phantasie sich gemÈßigt haben. Wer kann sagen, welche FrÝchte ein Geist getragen hÈtte, der eben erst in die Jahre der BlÝte trat? Aber an dieser BlÝte nagte bereits der Wurm der unheilbarsten, hoffnunglosesten Krankheit. Es ist nicht zu bestimmen, wann er den zweiten Teil begann. Sein Anfang ist vielleicht in der Melodie seines Stiles das Vollendetste was Novalis geschrieben hat, manches SpÈtere hat etwas von der farblosen Stille des Krankenzimmers, dann auch von der formlosen Gedehntheit eines ersten Entwurfs. Um billig zu sein mÝssen wir dies erwÈgen. Trotz dieses fragmentarischen Zustandes erscheint mir dieser Roman als das Bedeutendste, was diese erste Generation der Romantik hervorgebracht hat. Eine wahrhaft zauberische Melodie der Sprache umgibt mit unsÈglichem Reiz den Tiefsinn einer einsamen, vornehmen, dem GrÚßten ernsthaft zugewandten Seele. Nicht mit andÈchtigerer Wehmut – so schließt Tieck seine Mitteilung – wÝrde er ein StÝckchen von einem zertrÝmmerten Bilde des Raffael oder Correggio betrachten. UnwillkÝrlich drÈngt eine solche Empfindung, aus dem Àbriggebliebenen sich das Ganze wieder vorzustellen wie es einst vor Hardenbergs Seele stand. Und indem man das versucht, findet man mit Erstaunen einen viel klareren Zusammenhang als die Literarhistoriker bisher aufzeigten. Wenn Tieck nach seiner Art diesen Zusammenhang im Halbdunkel verschwimmen lÈßt: so hÈtte doch die Literaturgeschichte besser diesen ins Auge gefaßt, als immer wieder in Schilderungen einer Poesie zu schwelgen, in welcher Wasser und Himmel in einem blauen Meere unterschiedlos verschwimmen sollen. Es ist die Geschichte eines Dichters. Der erste Band umfaßt in großen, aber ganz einfachen ZÝgen alles GlÝck eines ruhig umschrÈnkten Daseins, das die

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Wellen des geschichtlichen Lebens noch nicht umspÝlen. Die rÝhrende Enge eines mittelalterlichen Hauses zu Eisenach; darin aufwachsend ein Sohn, in welchem sich verwirklichen soll, was einst in der feurigen Seele des Vaters arbeitete; das ganze geheimnisvolle GlÝck seines Lebens steht dem JÝngling im Traum vor der Seele, in jener vielbesungenen und vielangefochtenen wundersamen blauen Blume; wie Wilhelm Meister trÈgt er eine Ahnung der ganzen Welt in seinem Herzen. Diese Ahnung scheint sich zu verwirklichen; indem er zum erstenmal aus der Enge des Hauses heraustritt, auf der Reise zum Großvater nach Augsburg, scheinen ihm die wichtigsten EindrÝcke des Lebens entgegenzukommen: in dem morgenlÈndischen MÈdchen der geschichtliche Kampf seiner Zeit, in dem Bergmann die Geheimnisse der Natur, in jener HÚhle aber, wo ihm der Graf von Hohenzollern begegnet, das RÈtsel seines eigenen Daseins. Das Buch seines Lebens liegt da vor ihm in geheimnisvollen Bildern, das Gesetz des menschlichen Schicksals bewegt seine Seele, eine neue Epoche in seinem inneren Leben beginnt. Raschen Schrittes scheint er der Vollendung desselben entgegenzuschreiten, wie er nun in dem Dichter Klingsohr die Gestalt seines vollendeten Daseins, in Mathilden alles GlÝck der Gegenwart und Zukunft umfaßt. Er erscheint als eine jener glÝckseligen Naturen, denen, wie sie ruhig und sicher voranschreiten, alles GlÝck des Lebens in jugendlicher FÝlle entgegenkommt. Das schien einst Hardenbergs eigenes Los. Ich glaube, daß der zweite Band in der Tat so beginnen sollte, wie nun der Anfang vorliegt. Wir finden Heinrich wieder als Pilgrim, auf dem Wege nach Rom, wie er noch einmal auf Augsburg mit unaussprechlicher Traurigkeit zurÝckblickt, ein Bild, in welchem das ganze tiefe Leid des Dichters einen ÝberwÈltigenden Ausdruck gefunden hat. Der Zusammenhang scheint zweifellos, indem man den ahnenden Traum Heinrichs mit den schmerzlichen Empfindungen vergleicht, mit welchen er nun hinabblickt: „dort lag Augsburg mit seinen TÝrmen, fern am Gesichtskreis blinkte der Spiegel des furchtbaren geheimnisvollen Stromes“ – in seinen Wellen hat er Mathilden verloren, da er sie kaum besaß. Das Schicksal Heinrichs ist das des Dichters und es macht die grÚßte Wirkung, daß alles, was mit Mathildens Tode zusammenhÈngt, dunkel gehalten ist, als ob der Dichter in die Nacht dieser Stimmungen weder sich noch den Leser hinabreißen mÚchte im harmonischen Gange seiner romantischen Geschichte. Leise und allmÈhlich, mit tiefer Kunst, hat uns der Dichter in seine Welt gefÝhrt, eine Welt, in welcher gewissermaßen der metaphysische Zusammenhang des menschlichen Lebens zutage liegt. Denn dieser ist, richtig verstanden, der Sinn seiner Èsthetischen Form. Er unterbricht nicht gelegentlich mit TrÈumen, Wundern und Abenteuern seine Geschichte, sondern er lÈßt den

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metaphysischen Zusammenhang derselben immer deutlicher hervortreten. Daraus folgt aber, daß hier die VerknÝpfung nur aus der unbewußten Empfindung in die Klarheit Èußerer Erscheinung erhoben wird. Somit folgt, daß die KontinuitÈt in dem Leben des Helden nicht vernichtet, sondern vielmehr dergestalt verstÈrkt wird, daß nunmehr die Entwickelung des inneren Schicksals, welche in der Tiefe des GemÝts vor sich geht, aus dieser zu klarer Bewußtheit erhoben wird. Wenn also ein Dichter das Recht hat, unsere Seele, wie fest sie auch selber in ihrem eigenen Gehalt ruhen mag, eine Zeit hindurch zum Spiegel seiner eigenen Weltansicht zu machen, falls nur diese menschlich und tief ist: dann scheint mir auch diese Form, mitten unter unzÈhligen anderen, und da sie ohnehin zu viel poetische und philosophische Tiefe fordert als daß ihre Ausbreitung zu fÝrchten wÈre, in vollem Rechte zu sein. Wer als ein Dichter dÝrfte den metaphysischen Zusammenhang des Lebens zu deuten unternehmen? die wahre und strenge Philosophie verschmÈht, da sie ein strenges Maß der Erkenntnis in sich enthÈlt, in diesen dunklen Regionen mit ihm zu wetteifern. Sie vermÚchte ohnehin nicht, in solchem Halbdunkel wie es hier uns umgibt, diesen Zusammenhang bald hervortreten zu lassen als kÚnnte man ihn mit HÈnden greifen, dann wieder plÚtzlich vÚllig zu verbergen. Ein lÚsendes Wort lÈßt sich sagen. Dieser metaphysische Zusammenhang wird durch eine Hypothese gestÝtzt, an welcher auch Lessings nÝchterner Geist mit besonderer Vorliebe hing, die Schleiermacher in den Reden Ýber die Religion als bildlichen Ausdruck fÝr eine der hÚchsten religiÚsen Wahrheiten bezeichnet hat: sie besteht in dem Glauben an eine bestimmte, sich von neuem im Kreislauf der Zeit und ihres Gesetzes von Geburt und Tod entfaltende IndividualitÈt, an eine durch die Vergangenheit bestimmte Ordnung in den Beziehungen der Seelen zueinander, an immer neue Formen ihres Daseins: was mit uraltem doch unzutreffendem Ausdruck als Seelenwanderung bezeichnet wird. FrÝh war dieser Gedanke Novalis nahegetreten; einst hatte er von Sophien niedergeschrieben, daß sie an die Seelenwanderung glaube; in den GesprÈchen mit ihr hatte ihn dieser Gedanke beschÈftigt; es mag ihn mit geheimem Zauber gelockt haben, ihn zum Hintergrund dieses Denkmals seiner Schicksale zu machen. Mit dieser Einsicht kommen wir nun dem fragmentarischen Charakter dieses Werkes zu Hilfe, und damit kann denn ein wirklicher Einblick in den Plan gewonnen werden, der allen bisherigen Kritikern des Werkes fehlte. Die Episode des ersten Bandes, in welcher der Graf von Hohenzollern auftritt, enthÈlt gewissermaßen den Einschlag zu dem offenliegenden Faden der ErzÈhlung. In frÝher Jugend hatte eine heiße SchwÈrmerei den Grafen in die Einsamkeit des Einsiedlers gezogen. Da er aber bald empfand, daß man eine FÝlle von Erfahrungen dahin mitbringen mÝsse, daß ein junges Herz nicht allein sein kÚnne,

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ja daß der Mensch erst durch vielfachen Umgang mit seinem Geschlecht eine gewisse SelbstÈndigkeit erlange – die treffendste Kritik des MÚnchtums durch diesen ‚katholischen SchwÈrmer – : so warf er sich aus seiner jugendlichen Einsamkeit in die Gefahren und Wechsel des Krieges. Da er endlich, nach vielen Jahren, mit seiner Gattin und zwei Kindern, welche diese ihm bereits geboren hatte, zurÝckkehrte, einem Sohn und einer Tochter, starb der Sohn ihm hinweg; die Tochter, schon im TotengewÚlbe beigesetzt, ward von dem Arzte Sylvester gerettet und sie ist es, welche nun, als Cyane, dem Pilgrim erscheint, am Beginn des zweiten Bandes. Heinrich aber ist, im Kreislauf der Seelen, in seiner frÝheren Daseinsform, jener frÝhverstorbene Sohn des Grafen von Hohenzollern gewesen. Der fragmentarische Charakter des Werkes zwingt, diesen Faden so ganz nÝchtern abzuwickeln, damit der Leser ihn erblicke: ein Verfahren, mit welchem man jedem Dichter sonst unrecht tut, ja geradezu die innere Konstruktion seiner SchÚpfung zerstÚrt, die man bloßzulegen behauptet. Jetzt wird verstÈndlich, wie der arme Pilgrim, da ihm, inmitten der Felsen, seine schmerzlichen Erinnerungen sich erheben, da die Geliebte trÚstend erscheint und Cyane neben ihm steht und ihn zu Sylvester fÝhrt, nunmehr einen ganz neuen Blick in sein Schicksal tut. Und dieser dient ihm zur Vorbereitung fÝr die Zukunft, der er entgegengeht. Mitten in dieser Situation, da eben Sylvester seine Geschichte zu erzÈhlen begonnen hat, die so viele RÈtsel ihm lÚsen muß, endigt, was wir von Novalis’ eigener Hand besitzen. Zu dem Entwurf der Fortsetzung, wie ihn Tieck mitteilt, besaß dieser eine dreifache Quelle: Briefe, Aufzeichnungen, ErzÈhlungen, da er im Sommer 1800, als Novalis sich mit der Fortsetzung trug, diesen sah. An einem entscheidenden Punkt mÝssen wir die richtige Auffassung, auf Grund des Romans selbst, in Frage stellen; an vielen anderen zweifeln wir. Eine ergreifende Erfindung folgt: Cyane sendet Heinrich nach einem entlegenen Kloster, das von Abgeschiedenen bewohnt wird. „Lebst Du hier ganz allein?“ hatte sie Heinrich gefragt. „Ein alter Mann ist zu Hause (Sylvester), doch kenne ich noch viele, die gelebt haben.“ Er vernimmt ihren fernen Gesang. Er hat so unter Toten gelebt und selbst mit ihnen gesprochen. Es ist als ob zu Leben und zu Geschichte geworden wÈren jene schmerzhaftesten ZustÈnde des Dichters, in denen er mit der Verlorenen lebte und sprach, in der Welt der Abgeschiedenen zu Hause war, jene Tage, deren Nachklang die Hymnen an die Nacht sind. Wessen Phantasie so wie die seine an die Tore der metaphysischen Welt geklopft hat, vom BedÝrfnis des eigenen Herzens dahin gezogen: der hat auch das Recht die Toten reden zu lassen. Und wie in Novalis selbst einst aus dem tiefsten Ausgestalten seiner Schmerzen und des Todes das Leben sich wieder erhoben hatte: so wendet sich nun sein Heinrich, aus dem Kloster der Toten kommend, mit verÈndertem

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Sinne der Welt in ihren grÚßten ZusammenhÈngen zu. Wie der Pilgrim seine Reise fortsetzt, ergreift ihn in Norditalien der Geist des Krieges; ein neuer Faden knÝpft sich an, indem er, in dieser seiner kriegerischen Epoche, in Pisa Heinrich, den Sohn Friedrichs II., sieht und sein Freund wird. Von Italien wird er nach Griechenland verschlagen, wo die Kunst sich ihm Úffnet; von Griechenland zieht ihn die Sehnsucht nach dem Morgenlande, der Heimat der Religion und intuitiver Weisheit. Er erreicht endlich Rom, den Mittelpunkt der damaligen Welt und kehrt nunmehr, in reifer MÈnnlichkeit alle Erfahrungen seiner Zeit umfassend, nach Deutschland zurÝck, wo ihm nun am Hofe Friedrichs II. der tiefste Einblick in das gewaltige handelnde Leben des deutschen Geistes in dieser Epoche gegeben werden sollte. Die Wanderjahre sind vorÝber. Er wendet sich zurÝck in die Tiefe des eigenen GemÝts, welche allein die Welt erklÈrt, aber auch nur dem, den ihre Flut wirklich umspÝlt hat. Die Erfindung ist hier an dem Punkte angelangt, an welchem die Ofterdingensage sich anschließen kann. Wir wissen nicht, wie Klingsohr, Heinrich, Wolfram nebeneinandergestellt worden wÈren. Der Mittelpunkt des ganzen Werkes, das metaphysische Wesen des menschlichen Schicksals, das VerhÈltnis der unsichtbaren und sichtbaren Welt, sollte hier plÚtzlich, als Thema des Wettstreits, in poetischer VerklÈrung, selber hervortreten. Ich vermute, gegen Tiecks Darstellung, daß zwischen dem, was bis dahin geschah und der Welt, welche sich nunmehr auftut, in Novalis’ Geiste eine klare Grenze bestand. Das irdische Leben Heinrichs ist zu Ende. Das folgt aus dem ganzen Verfahren, mit welchem das Wunderbare bis dahin behandelt war, mit einer freilich nur subjektiven Evidenz. Wo aber Heinrich, dort im Gebirg, Mathildens Worte vernimmt, sagt sie es auch ausdrÝcklich, daß sie ihn erst nach seinem wirklichen Tode („bis du auch stirbst“) wiedersehen werde. Diese Wiedervereinigung ist daher von dem Vorhergehenden durch die Scheidewand des Todes getrennt; was nun erzÈhlt wird, sind trÈumerische Anschauungen, die Ýber das gegenwÈrtige Dasein Heinrichs in das verschwimmende Dunkel blicken. Ist dies richtig, dann ist der Verkehr mit einer Welt der Abgeschiedenen und des Wunders in diesem Roman auf jene Epoche beschrÈnkt, in welcher Mathildens Tod ihn zum Reich der Abgeschiedenen mit aller Kraft leidenschaftlicher Sehnsucht hinabreißt. Dieser Abschluß, der uns in das Land der Zukunft blicken lÈßt, knÝpft an das wundervolle MÈrchen des ersten Bandes an. Dasselbe schließt sich unmittelbar an den Charakter des von Goethe gedichteten. Wie weit steht es von den MÈrchen Tiecks! In diesem von Novalis spricht sich eine durchgefÝhrte Naturphilosophie aus; die Poesie eines trÈumenden Pantheismus redet aus den MÈrchen Tiecks. Aus den Schauern der Natur selber erheben sich Gestalten;

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wie einem ganz einsamen Wanderer im nÈchtlichen Walde Phantasie und Grauen einen Schatten, der Ýber seinen engen Pfad fÈllt, in ein Tier verwandeln, wie es sich nÈhert, in einen Menschen, in einen nÈchtlichen Spuk: so erscheinen aus dem rÈtselvollen von Schrecken erfÝllten Schoße der Natur Gestalten, die sich verwandeln, die aber in allen Wandlungen mit dem geheimnisvollen Blick uns ansehen, welcher die Seele dieses alle Schrecken und alle Lust der Welt in sich bergenden, dÈmonischen Pan enthÈlt. Naturpoesie ist der tiefste Zug dieser Epoche. Aber die Natur von Novalis ist ein WeltgemÝt, die von Tieck eine dÈmonische Phantasie. Unter ihrem Stern sind seine Menschen geboren, deren Seele ein Spiel elementarer Stimmungen ist: Andacht und Grauen, Wanderlust und innere Heimatlosigkeit, eine grenzenlose Wehmut, solche elementare Gewalten bilden den inneren Kern derselben. Fernab stehen die sittlichen, die geschichtlichen MÈchte, Wille und Weltverstand: diese Menschen wollen nicht, die Natur in ihnen bewegt sich. Daher lag in der Weltansicht von Novalis ein Gegensatz gegen Tieck, der sich immer klarer hÈtte entfalten mÝssen. Die Natur ist ihm eine Ordnung und Entwickelung der Welt, deren innerstes Geheimnis das unseres eigenen GemÝts ist. Dies Geheimnis lÚst allein die Poesie. So durfte er die Einheit von Poesie und Wissenschaft als den Grundgedanken seiner Weltansicht bezeichnen. Und hier liegt der Grund, aus welchem ihm sein Roman wie von einem MÈrchen umgeben ist. Dies MÈrchen ist Mythologie d. h. die VerkÚrperung einer die Natur erklÈrenden Weltansicht. Dies erklÈrt den Zusammenhang des Abschlusses des Ofterdingen mit dem MÈrchen. Eine von Tieck mitgeteilte Aufzeichnung zeigt, daß in dieser Fortsetzung die Gestalten des Romans in die des MÈrchens aufgelÚst werden sollten. Wie kann man denken, diese Dinge, die sich dergestalt an das MÈrchen anfÝgen, seien eine einfache Fortsetzung der Geschichte? Wie kann man anderseits dem MÈrchen einen ganz durchgedachten Sinn absprechen, da Figuren und Begebenheiten des Romans sich spÈter mit ihm verschlingen, um den letzten Sinn des Ganzen auszusprechen? Eine andere Sache ist, eine Auslegung zu geben. Indem man das methodisch tut, verwandelt man die Anmut des MÈrchens in eine frostige Allegorie. Gerade darum, weil die Abstrakta und ihre VerknÝpfung der Anschauung des Dichters nicht genÝgen, greift er zu dieser Form; wie also dÝrfte man hoffen, in ihnen den ganzen Sinn festzuhalten? Dagegen, wer mit der Naturphilosophie vertraut ist, deren magnetische und galvanische Theorien Ýberall zugrunde liegen, wird den ihm vorschwebenden Sinn leicht in allem Einzelnen fassen; kaum ein Wort in demselben bleibt dunkel. FÝr den Sinn des Romans ist der Grundgedanke entscheidend. Die Herrschaft des anmaßenden Verstandes muß Ýberwunden werden, die goldene Zeit zurÝckkehren, die Poesie bereitet die ErlÚsung der Welt vor: die ewig schaffen-

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Novalis.

de mÝtterliche Gewalt wird einst, im ganzen All lebendig gegenwÈrtig, Empfindung und Seele Ýber alles verbreiten: Weisheit und Liebe werden herrschen: GegrÝndet ist das Reich der Ewigkeit: In Lieb’ und Frieden endigt sich der Streit; VorÝber ging der lange Traum der Schmerzen; Sophie ist ewig Priesterin der Herzen. Eine Reihe neuer Dichtungen schwebte vor seiner Seele, als er an diesem Roman arbeitete. Er sah sich der Vereinigung mit Julie von Charpentier nahe, da ihm die Stelle eines Amtshauptmanns zuteil geworden war. Es fehlte ihm nichts zu seinem GlÝck als davon Besitz zu nehmen. Aber schon seit lÈngerer Zeit waren die Zeichen jenes grausamsten Leidens aufgetreten, das so lange und so sicher mit dem Tode droht, und als er im Anfang November erfuhr, daß ein jÝngerer Bruder von vierzehn Jahren durch Unvorsichtigkeit ertrunken sei, zog ihm der plÚtzliche Schreck einen heftigen Blutsturz zu, worauf seine •rzte gleich erklÈrten, daß sein Àbel unheilbar sei. Wozu die Stadien aufzÈhlen? Er starb am 28. MÈrz 1801, ruhig einschlafend: alle, die ihm die NÈchsten waren, um sich, auch Friedrich Schlegel unter ihnen. So ging er hinweg in der GÚtterdÈmmerung der Jugend, die schwÈrmerische Seele voll von PlÈnen des GlÝckes und der Dichtung, als ob er, gleich seinem Helden, nur einen grÚßeren Schauplatz fÝr eine im lebendigsten Wachstum begriffene Kraft betrÈte. Wer kann sagen, was ihm noch geglÝckt wÈre? Goethe hat gesagt, mit der Zeit hÈtte er ein Imperator werden kÚnnen, der die poetische Literatur beherrscht hÈtte. Es scheint daß er, wie Tieck, durch die Gewalt seiner persÚnlichen Erscheinung noch mehr fesselte als durch seine Schriften. Wir haben eine Schilderung derselben von Steffens. „Wenige Menschen hinterließen mir fÝr mein ganzes Leben einen so bedeutenden Eindruck. Sein •ußeres erinnerte dem ersten Eindruck nach an jene frommen Christen, die sich auf eine schlichte Weise darstellen. Sein Anzug selbst schien diesen ersten Eindruck zu unterstÝtzen, denn dieser war hÚchst einfach und ließ keine Vermutung seiner adligen Herkunft aufkommen. Er war lang, schlank, und eine hektische Konstitution sprach sich nur zu deutlich aus. Sein Gesicht schwebt mir vor als dunkel gefÈrbt und brÝnett. Seine feinen Lippen, zuweilen ironisch lÈchelnd, fÝr gewÚhnlich ernst, zeigten die grÚßte Milde und Freundlichkeit. Aber vor allem lag in seinen tiefen Augen Ètherische Glut. Er konnte, besonders in grÚßeren Gesellschaften oder in Gegenwart von Fremden, lange stillschweigend, in Nachdenken versunken, dasitzen. Nur wo ihm verwandte Geister entgegenkamen gab er sich ganz hin. Dann aber sprach er gern und ausfÝhrlich und erschien im hÚchsten Grade lehrhaft.“

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Die Generation, in der er lebte, brachte drei hervorragende Dichter hervor: ihn, Tieck und HÚlderlin. Diese drei stehen weit nÈher beieinander als etwa Novalis und Tieck bei Friedrich oder August Wilhelm Schlegel. Wenn sich HÚlderlin in das Griechentum versenkte, jene beiden in das Mittelalter, so bemerkte man doch, daß es das neuplatonische Griechentum war, welches er reproduzierte, das ja dem Mittelalter verwandt genug ist. Und so zeigt nichts so sehr die zufÈllige Abgrenzung der sogenannten romantischen Schule, als daß HÚlderlin ganz einsam stand, kein Widerhall jenen unsterblichen Gedichten antwortete, welche eine Erneuerung der griechischen Lyrik vollbrachten, die August Wilhelm Schlegel vorschwebte; wie begeistert hÈtte dieser ihn begrÝßen mÝssen, der eine ihm so heterogene Erscheinung als Tieck war auf den Schild erhob! Diese Generation ist dann durch wenig Jahre, aber durch eine vÚllige VerÈnderung der Bildungsbedingungen von Kleist und Arnim, den beiden grÚßten Dichtern der nachgoetheschen Zeit in Deutschland, gesondert. Unser Studium der Gesetze, welchen auch die scheinbar regellosen Gestaltungen der Phantasie unterworfen sind, hat, wie es scheint, in dieser Entwickelung einen der am tiefsten unterrichtenden Stoffe. Wie konnte auf die Dichtung Goethes und Schillers dieser jÈhe Absturz, diese ganz andersartige Entwickelung, diese schrankenlose Herrschaft der SubjektivitÈt, der Phantasie, der Hingabe an die Natur, ja fesselloser WillkÝr folgen? Sollten wir hierÝber mehr sagen, so mÝßten wir auch von einer Darstellung der Entwickelung, des Lebensinhaltes und der dichterischen Form von Tieck und HÚlderlin ausgehen kÚnnen. Dann wÝrde sich zeigen, welche Erfolge gewisse Bildungsbedingungen dieser Generation hatten, wie sich die Verschiedenheit der IndividualitÈten zu diesen Bedingungen, welche sie begrenzten und teilweise bestimmten, verhielt, – kurz eine wissenschaftliche Untersuchung wÈre mÚglich. Einer solchen Untersuchung sind die allgemeinen SchlagwÚrter, welche seit lÈnger als einem halben Jahrhundert auf die sogenannten Romantiker herniederregnen, nur hinderlich. Bis aber jemand sich dieser genauen wissenschaftlichen Untersuchung unterzieht, werden wir es wenigstens fÝr einen Gewinn halten, wenn einer oder der andere, auf Grund dieser Darstellung, einmal zu Novalis griffe, in der Voraussetzung, daß seine Fragmente vielleicht doch nicht so vÚllig willkÝrlich und zusammenhangslos, sein Ofterdingen nicht so grenzenlos verschwommen seien, als es den bisherigen Kritikern Hardenbergs erschienen ist.

FRIEDRICH H³LDERLIN.

Es ist ein alter Glaube, daß in unberÝhrten Seelen die GÚtter sich kundtun und die Zukunft der Dinge offenbaren. HÚlderlin lebte in solcher fromm behÝteten Reinheit und in lauterer SchÚnheit des Wesens. Wenn der JÝngling auf und nieder ging unter den Genossen des TÝbinger Stifts, war es als schritte Apollon durch den Saal. Einem Knaben, der ihn bei den MusikauffÝhrungen dort sah, wie er dastand mit seiner Violine in der Hand, hat sich sein Bild zeitlebens eingeprÈgt: die regelmÈßige Gesichtsbildung und die sanften ZÝge des Antlitzes, sein schÚner Wuchs, der sorgfÈltige, reinliche Anzug und der Ausdruck des HÚheren in der ganzen Erscheinung. Seine vornehme Natur war unendlich empfindlich gegen jede VulgaritÈt der Gesinnung. Tief unter ihm lagen das gewÚhnliche sinnliche GlÝck und jeder Èußere Ehrgeiz. FÝr sich selbst begehrte er nichts als ein einfaches Schicksal, um genÝgsam seiner Kunst leben zu kÚnnen. Nur rein wollte er seine Seele halten. Aus solcher Lauterkeit seines Wesens entsprang das Seherische in ihm. In dem großen Moment unserer Literatur, in welchem unsere Dichtung ihren HÚhepunkt erreichte, der Idealismus der PersÚnlichkeit und Freiheit die Jugend ergriff und die franzÚsische Revolution ihr Aussichten einer vollkommneren Gesellschaft erÚffnete, schritt er mit seinen Freunden diesem aufgehenden Morgenlichte einer neuen Welt entgegen. Sie erwarteten eine neue hÚhere Menschheit und wollten sie herbeifÝhren. Unter den Genossen stand HÚlderlin wie die VerkÚrperung einer reineren, harmonischeren Bildung der menschlichen PersÚnlichkeit. Er war darin Schiller verwandt, wie einem Helden ein sanfter schwÈrmerischer Bruder, dem dessen Vorbild eine unendliche Sehnsucht nach heroischem Leben erregt. Wie hÈtte aber diese Bewegung in der deutschen Jugend sich behaupten kÚnnen, als die Revolution immer mehr entartete, ihre Kriege den Zwiespalt zwischen Freiheitsliebe und VaterlandsgefÝhl erregten und die europÈische Reaktion hereinbrach! Die Gewalt erhielt nun das Wort. In den deutschen Staaten gab es fÝr das junge Geschlecht keinen Platz, an dem man hÈtte fÝr eine freiere Ordnung wirken kÚnnen. Selbstherrschaft, sozialer Druck des Adels und des Geldes, religiÚse BeschrÈnktheit erwiesen sich siegreich innerhalb dieser Gesellschaft. Man mußte resignieren. Keine Èußere Existenz war fÝr dieses stille, langsame lyrische Genie auffindbar. Die BedÝrftigkeiten des Lebens machten

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an dem Mittellosen sich geltend. Alles trieb ihn aus der Welt des Wirkens und Genießens nach innen, in die Tiefen der Dinge, in eine totale Einsamkeit. UnablÈssig und angestrengt lauschte er den Stimmen in seinem Innern und in der Natur, ob sie ihm das gÚttliche Geheimnis mitteilten, das in allen Dingen schlÈft. Und so kam zu ihm die prophetische Kunde von MÚglichkeiten einer hÚheren Gestaltung der Menschheit, von kommendem Heldentum unsrer Nation, von einer neuen SchÚnheit des Lebens, welche den Willen der gÚttlichen Natur mit uns verwirkliche, von einer Poesie, die den ewigen Rhythmus des Lebens selbst aussprÈche, der uns unausgesprochen umgibt. Zugleich aber entstand ihm sein eigenstes und tiefstes Erlebnis, wie aller GrÚße und SchÚnheit, die aus dem gÚttlichen Zusammenhang hervorgeht, immer zugleich in uns ein Leiden am Leben mitgegeben ist, jeder Offenbarung der gÚttlichen Einheit in Liebe und Befreundung der Menschen ihre schmerzliche Trennung, und der Freude Ýber die innere Kraft der lastende Druck der schweren Dinge. Immer tiefer grub sich seine hilflose Seele in die Erfahrungen von dem gemischten und zweideutigen Charakter des menschlichen Daseins. Der Adel seiner Natur rettete ihn in ein leises, stillgefaßtes Resigniertsein in sich selbst. Das Heldengedicht, das er leben und dichten wollte, ward zur TragÚdie des Opfers. In allem, was er nun dichtete, wollte er den Charakter des Lebens selber aussprechen, wie er ihm aus seinen Erlebnissen aufgegangen war. Immer war dieser ihm gegenwÈrtig. Jede Gegenwart war ihm von Erinnerung gesÈttigt. Und fÝr all das fand er eine Sprache von neuer Einfachheit. Eine neue Melodie entfaltete sich in diesem musikalischen Genie. Es war eine prophetische SchÚpfung. In ihr bereitete sich der rhythmische Stil eines Nietzsche vor, die Lyrik eines Verlaine, Baudelaire, Swinburne, und was unsre neueste Dichtung sucht. TrÈumend an stillen BÈchen, die leise plÈtschernd den Gesang seiner Seele begleiten, nachzeichnend die ruhigen sanften Linien der sÝddeutschen Berge und FlÝsse in seinen Rhythmen, hat er langsam diese neue Form gefunden. „Wie Jupiters Adler dem Gesang der Musen, lausch’ ich dem wunderbaren unendlichen Wohllaut in mir“ – „der Melodie des Herzens.“

HEIMAT UND ERSTE POETISCHE SPIELE.

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HÚlderlin ist aus dem StÈdtchen Lauffen am Neckar. Dort umgab ihn der heimliche stille Zauber schwÈbischer Landschaft. Am Ufer des anmutigen Flusses stand die alte Kirche zur heiligen Regiswindis, auf einer felsigen Insel im Fluß ragte der graue Turm der alten Burg, und an die rebenbewachsene

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Friedrich HÚlderlin.

Talwand des anderen Ufers angelehnt erhoben sich die Pfeiler eines alten zerfallenen Klosters: nahe bei diesem stand das Haus seines Vaters, des Klosterhofmeisters, und in diesem Haus ist Friedrich HÚlderlin am 20. MÈrz 1770 geboren. Die Eltern waren feste, geduldige, heitere Menschen. Nur wenige Jahre behielt er den Vater, und auch als die junge Witwe sich mit dem BÝrgermeister von NÝrtingen verband, ist dieser zweite liebevolle BeschÝtzer bald dem Kinde hinweggestorben. HÚlderlin war damals neun Jahre. Aber wie frÝh entwickelt und reizbar sein GemÝt war, zeigt eine spÈtere •ußerung, der Eindruck dieses Todes habe damals seine Seele zu einem Ernste gestimmt, der ihn seitdem nie ganz verlassen habe. Die Mutter blieb in NÝrtingen, und Friedrich hat dort bis zum fÝnfzehnten Jahre die lateinische Schule besucht. Hier umgaben ihn dieselben EindrÝcke schwÈbischer Landschaft, im Hintergrunde die Kette der Alb, zwischen sanften HÚhen der Neckar, von Pappeln eingefaßt. Dort an stillen Ufern oder im nahen Walde trÈumte der Knabe; wie oft mag er da die lyrischen Dichter gelesen haben, die in diesen achtziger Jahren die Jugend mit ihren schwÈrmerischen Stimmungen erfÝllten: auf einem Felsen im Walde hat er einmal dem Bruder Klopstocks Hermannsschlacht vorgetragen. An den EindrÝcken dieser Landschaften bildete sich sein NaturgefÝhl. Die grenzenlose See oder die weite Ebene mit ihrem unendlichen Horizont, die nach allen Seiten zu blicken und zu schreiten gestattet, befreien die Seele und teilen ihr ein souverÈnes LebensgefÝhl mit. Wo der Mensch sich von milden HÝgeln und sanften TÈlern umschlossen findet und doch nicht gehemmt, wo die feinen fernen Linien blauer Berge weiter locken und doch das Tal schÝtzt und birgt: da entsteht aus diesem LagegefÝhl ein mildes befreundetes VerhÈltnis zur Natur – Geborgensein, heimliches Sich-Anschmiegen an Tal, Fluß und HÝgel und doch Sich-Fortsehnen in die schimmernde Ferne. In solchem NaturgefÝhl leben die schwÈbischen Dichter – HÚlderlin, Uhland, MÚrike. Und es ist in ihnen verbunden mit der EinfÝhlung in die heiteren Linien der Berge, in die friedsamen wohnlichen TÈler und in all die Vergangenheit, die wir in die verfallenen KlÚster und SchlÚsser hineintrÈumen. „Da ich ein Knabe war, Da spielt’ ich sicher und gut Mit den Blumen des Hains“ „Lieben lernt’ ich Unter den Blumen.“ Mit vierzehn Jahren trat Friedrich in die niedere Klosterschule zu Denkendorf ein und zwei Jahre darauf in die hÚhere von Maulbronn. Denn die gewÚhnliche Bahn mÈßig bemittelter begabter KÚpfe in WÝrttemberg war fÝr den Mittellosen unvermeidlich, und die zÈrtliche fromme Mutter war glÝcklich in der Hoffnung, den Sohn einst als Pfarrherrn zu sehen. In der Klosterschule legte er den Grund fÝr seine solide Kenntnis der griechischen Sprache und Literatur. Gern gedenkt er spÈter daran, wie „zuerst vom Heroentode Die großen goldenen Worte mein Herz Mit ahnungsvollem Schauer vernahm“.

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Aber die kÝnstlerischen Ideale des Altertums, die seiner vornehmen Dichternatur so gemÈß waren, traten in immer schrofferen Widerspruch mit den herrschenden christlich-orthodoxen Gedanken und dem geistlichen Beruf. Dazu fand sich der durch die gÝtige Hand der zÈrtlichen Mutter verwÚhnte Knabe abgestoßen von der harten klÚsterlichen Zucht, wie sie in diesen auf den kÝnftigen geistlichen Beruf zugeschnittenen Anstalten damals noch herrschte. So entstand in seiner reizbaren und wehrlosen Seele jener innere Gegensatz seiner Ideale zur Wirklichkeit seines tatsÈchlichen Lebens und zu seiner Zukunft, der seiner Poesie die hÚchste Energie und seinem Leben einen tragischen Verlauf geben sollte. Und wie er mit seinen Idealen sich in sich zu verschließen lernte, einsam mit sich, der Natur und wenigen gleichgestimmten Seelen, erfuhr er schon frÝh das wehmÝtige GefÝhl der exzentrischen großen Begabungen, anders zu sein als die braven und tÝchtigen Menschen um ihn her, keinen Anteil zu haben an deren behaglichen VergnÝgungen und dennoch all diese AlltÈglichkeiten zu entbehren. Wie er so war, mußte er Homer und Ossian, Klopstock und Schubart lieben, Wieland zuweilen von Herzen hassen – und Schiller anbeten. Das Versemachen gehÚrte zum Schulbetrieb, und er war schon in Denkendorf mit Passion dabei. Es finden sich unter seinen Gedichten aus dieser Zeit kindliche Dankstrophen an seine Lehrer von offiziellem Charakter; geistliche Gedichte, die sich in nichts Ýber die TrivialitÈt solcher frommen Verse erheben, wie sie damals Landprediger anwandten, um den Schluß ihrer Predigten zu schmÝkken; ein sehr sentimentales und weitlÈufiges Gedicht, das den Segen Gottes auf die Mutter, Schwester, Bruder Karl, auf jeden einzeln herabfleht. Der rechte Schwung kam in sein Poetentreiben, als die erste Liebe in sein junges Herz einzog. Eine Gymnasiasten- und Studentenliebe mit heimlicher Verlobung, mit der Anbetung des geistig Ýberlegenen JÝnglings durch ein gutes, zÈrtliches MÈdchen, mit den heimlichen ZusammenkÝnften, dem Abschied und Wiedersehen im Rhythmus der Semester und schließlich der Trennung nach dreijÈhrigem Harren; seine Luise hegt die Ýberschwenglichen GefÝhle dieser trÈnenreichen Jahre, sie geht am liebsten auf dem Kirchhof spazieren, in ihrem StÝbchen denkt sie „an Gott und an ihn“, sie liest seine Lieblingsdichter und schreibt etwas unbehilflich in seinem Stil. Und er selbst? Werther und Ferdinand konnten nicht ehrlicher und reiner schwÈrmen – schließlich muß er der Geliebten doch gestehen, daß er an einem Ehrgeiz krankt, der vielleicht nie befriedigt wird, der aber seinen Weg von dem ihren trennt. Mit dieser Liebe kam ein persÚnlicher Ton in seine Verse: „auf meinen SpaziergÈngen reim ich allemal in meine Schreibtafel – und was meinst Du? – an Dich! an Dich! Und dann lÚsch ichs wieder aus“. Jetzt waren bestimmte GefÝhle da, die sich eigneten, in Metrum und Reim gebracht zu werden. Und so

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verstand er nun auch die persÚnliche Dichtung Klopstocks, und er folgte ihm – was nachmals fÝr ihn sehr bedeutend werden sollte – in der Anwendung antiker Versmaße. Doch fand er in der Prosa seiner Briefe zuerst den natÝrlichen und starken Ausdruck fÝr den regellosen Gang seiner GefÝhle. Diese Prosa stand ganz unter dem Einfluß von Werther, Fiesco, Kabale und Liebe. In dem Stil der Sturm- und Drangzeit von Goethe und Schiller vernimmt er das ungestÝme Schlagen seines eigenen Herzens. Er weint wie die Helden dieser Romane und Dramen wÈhrend er schreibt. Er fÝhlt sich wie Werther erhaben Ýber die Genossen um sich. Sein unbefriedigter Ehrgeiz zehrt an seinem Herzen. An dem Halse seines Freundes mÚchte er FreudentrÈnen weinen.

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JUGENDJAHRE. DIE HYMNEN AN DIE IDEALE DER MENSCHHEIT. Die Studentenjahre kamen. AchtzehnjÈhrig bezog er im Herbst 1788 die UniversitÈt TÝbingen. Aber diese Jahre brachten ihm nicht das ungebunden frÚhliche Leben, das sonst ihr eigenes GlÝck ausmacht. Ihm war zumute, als hÈtte er nur das GefÈngnis gewechselt. In das alte enge Augustinerkloster des Stiftes fand er sich nun mit den anderen jungen Theologen, welche auf Staatskosten erzogen wurden, zusammengedrÈngt; unter der Aufsicht der Famuli und der Repetenten, die damals noch die alte MÚnchskutte trugen. Was diese schÚnheitsdurstige Seele besonders krÈnkte – er selber mußte im schwarzen Mantel mit weißen ÀberschlÈgen einhergehen, und ob er sich gleich bemÝhte das geistliche Gewand mit Eleganz zu tragen, quÈlte ihn doch das GefÝhl, so gekennzeichnet und von manchem darum mißachtet zu sein. Die theologischen Studien, wie sie im Stift betrieben wurden, konnten ihn nicht befriedigen. Auch das glaubensfeste TÝbingen hatte der eindringenden AufklÈrung nicht widerstanden; hier, wie gleichzeitig in Halle, bildete sich ein Kompromiß der Orthodoxie mit der AufklÈrung. Der uralte Glaube unseres Geschlechtes an Wunder, gÚttliche Strafen, Weissagungen und Offenbarungen hatte nicht standhalten kÚnnen vor der Einsicht in die unverÈnderlichen Naturgesetze und in den Pragmatismus des Seelenlebens: da suchten die theologischen Vermittler doch einiges fÝr den Kirchengebrauch Unentbehrliche aus diesem Bestande vermittelst eines kÝnstlichen unwahren Zusammenhangs abstrakter Begriffe zu retten. Es entstand eine widrige Verbindung uralter Intuitionen mit moderner philosophischer Reflexion. Die Besseren unter den ZuhÚrern nahmen nur mit Widerwillen das trÝbe Gemenge zu sich, wie es hier in TÝbingen und ebenso in Halle von NÚsselt, Knapp, Storr, Tieftrunk ver-

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abreicht wurde. So sehnte sich denn HÚlderlin aus der „Zelle“ des Klosters heraus. Er hÈtte gern Jurisprudenz studiert, und nur die Bitten der Mutter hielten ihn zurÝck. Dazu zerrte auch die Kette der heimlichen Verlobung an ihm, von der er nun erst in TÝbingen sich mit Schmerzen frei machte. Aus alledem flÝchtete er wieder in die ideale Welt, in den heiligen Bezirk der griechischen Dichter, zu Ossian, Klopstock, Schiller. Und wie Versemachen eine verbreitete Zeitkrankheit war, fand er auch im Stift Genossen seiner Sehnsucht nach dem dichterischen Lorbeer. Sein starkes BedÝrfnis, mit hochgestimmten Freunden abgeschlossen von der Welt zu leben, fand in zwei jungen Dichtern, Neuffer und Magenau, vollauf Befriedigung. Ein dichterischer Bund entstand, mit einem Bundesbuch, in das die Genossen ihre Verse eintrugen; Schubart, der Patriarch der schwÈbischen Poeten, wurde in Stuttgart besucht und nahm den JÝngling natÝrlich mit vÈterlicher ZÈrtlichkeit auf. StÈudlin, eine jener begabten herzensguten Poetenseelen wie frÝher Gleim, und spÈter Schwab, trat zu den Genossen des Bundes in das herzlichste VerhÈltnis, und in seinem Musenalmanach fanden die jungen Dichter zuerst eine Unterkunft fÝr ihre Verse. Der poetische Stil HÚlderlins hat sich von diesen AnfÈngen ab, die vornehmlich von Klopstock und Schubart bedingt waren, stetig ausgebildet. Sprachliche Wendungen und Verbindungsweisen aus Klopstock, welche dem GefÝhl des jungen Dichters gemÈß waren, nahm er damals auf und hat sie bis zuletzt festgehalten. „Ich duld’ es nimmer, ewig und ewig so Die Knabenschritte, wie ein Gekerkerter, Die kurzen, vorgemeßnen Schritte Ewig zu wandeln, ich duld’ es nimmer!“ Und in einem anderen Gedichte: „Lebt wohl, ihr gÝldnen Stunden vergangner Zeit, Ihr lieben KindertrÈume von GrÚß’ und Ruhm, Lebt wohl, lebt wohl, ihr Spielgenossen!“ AllmÈhlich verschwinden Klopstocks Odenton und seine antiken Versmaße. Der Einfluß der Lyrik Schillers Ýberwiegt jeden anderen. HÚlderlin bemÈchtigt sich des Neuen in der Form dieser Lyrik: des inneren Rhythmus, der den Verlauf des seelischen Vorgangs durch die Anordnung und Verbindung der Perioden ausdrÝckt. Hier lag der Anfang seines rhythmischen Stiles. Dieselbe Schule Schillers macht sich auch in Matthissons lyrischer Kunst bemerklich, und auch dieser Dichter der sanften Schwermut wirkte damals durch den Wohllaut seiner Verse und den natÝrlichen geschmeidigen Fluß des GefÝhls auf HÚlderlin und seinen poetischen Genossen Neuffer. Vergleicht man etwa Neuffers „AbendschwÈrmerei“ mit HÚlderlins „Gott der Jugend“, so gewahrt man die Wirkung der neuen Form der Lyrik auf Dichter von so verschiedener poetischer Kraft; denn Neuffer war ein hÚchst mittelmÈßiges Talent. Diese neue Form gelangte bei HÚlderlin erst zu ihrer vollen Entfaltung, als die mÈchtigen Inhalte der Schillerschen Dichtung zum Mittelpunkt seiner

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Friedrich HÚlderlin.

Poesie wurden: so entstanden die Hymnen an die Ideale der Menschheit. Sie waren als ein Ganzes gedacht und sind so die hÚchste kÝnstlerische Leistung dieser frÝhen Jahre. Hier aber macht sich nun schon ein persÚnlicher Einfluß geltend, der mÈchtiger als irgendein anderer HÚlderlins Weltanschauung und den Gehalt seiner Dichtung bestimmt hat. Es ist seine Jugendfreundschaft mit den beiden schwÈbischen FÝhrern der philosophischen Bewegung Hegel und Schelling. Hegel war mit HÚlderlin zugleich im Herbst 1788 in das Stift eingetreten, doch erst im Herbst 1790 erwÈhnt HÚlderlin seiner. Sie bewohnten beide damals dieselbe Stube im Stift. Der erste Traum des jungen Dichters von Liebe und GlÝck war eben zu Ende gegangen. Der Drang nach freier Entwickelung seiner KrÈfte hatte gesiegt: in diesem wichtigen Moment seiner Entwickelung fÝhrte ein glÝckliches Geschick ihm Hegel entgegen. Auch Schelling trat im Herbst 1790 in das Stift ein und wurde durch Hegel mit dem Dichter bekannt; er war damals noch nicht sechzehn Jahre alt, aber seine frÝhreife GenialitÈt machte ihn zum Gegenstand staunender Bewunderung im Stift. Jedoch hat HÚlderlin zu ihm dem Stolzen, Siegesgewissen nie ein so trauliches VerhÈltnis gewinnen kÚnnen. Zwischen HÚlderlin und Hegel bestand von Anfang an ein treuherziger Verkehr, der auf den gemeinsamen ZÝgen schwÈbischen Wesens beruhte. Denn in beiden war das BedÝrfnis der Einordnung ihres Daseins in die Familie und die festen sittlichen VerhÈltnisse der schwÈbischen Heimat verknÝpft mit einem hochstrebenden Denken, das in seinem Bereich keine Grenzen anerkennt. Sie lasen damals mit anderen Freunden zusammen Platon, Kant und die Briefe Jacobis Ýber Spinoza, deren zweite Auflage 1789 erschienen war. Dieses Buch enthielt das Bekenntnis Lessings zu dem „Ein und All“; HÚlderlin hat diese altgriechische Formel fÝr die Gegenwart des GÚttlichen im Universum im Februar 1791 in das Stammbuch Hegels geschrieben. An dieser Stelle unserer ErzÈhlung muß der Blick Ýber die engen klÚsterlichen RÈume des Stiftes hinausgehen in das stark bewegte geistige Leben des damaligen Deutschland. Drei KrÈfte haben dies bestimmt: die Renaissance des griechischen Geistes, die philosophisch dichterische Bewegung, die das ganze Seelenleben unserer Nation damals umgestaltete, die franzÚsische Revolution, die nun von außen in dasselbe eingriff. Die Wirkung dieser starken Bewegung pflanzte sich fort in die stillen Stuben, in denen die Stiftsgenossen an ihren Pulten die Hefte ihrer philosophischen und theologischen Lehrer studierten. Zuerst war hier ein Werk zu tun, das anderwÈrts meist fÝr die jungen Leute schon abgetan war. Die ZÚglinge des Stiftes mußten von der inneren und Èußeren Macht der theologischen Doktrinen sich befreien. Die schlichte FrÚmmigkeit des Elternhauses und der guten Mutter hatte in HÚlderlin immer wie-

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der gesiegt Ýber philosophischen Zweifel und griechische Ideale. Noch in der Zeit seines ersten Verkehrs mit Hegel (1790 oder 1791) ist er bemÝht, das positive Christentum zu begrÝnden. Er geht dabei aus von Kants AuflÚsung aller Beweise fÝr die Ýbersinnliche Welt und von Jacobis Lehre, daß die sich selbst Ýberlassene Vernunft in Gottesleugnung enden muß. Die Sicherheit Ýber die Unsterblichkeit und das Dasein eines persÚnlichen Gottes, welche die Vernunft nicht gewÈhrt, findet er in der wohlbezeugten Tradition von Christus, seinen Aussagen Ýber sich selbst und deren BestÈtigung durch seine Wunder. Das waren die verbrauchten apologetischen KÝnste der damaligen TÝbinger Theologie. Ein tieferes Studium Kants entfernte HÚlderlin von diesem moderierten Glauben seiner Lehrer, wie es schon frÝher seine Stiftsgenossen Schelling und Hegel befreit hatte. Fortan hat er nur den inneren menschlichen Wert des Christentums festgehalten und nur eine Mitteilung des GÚttlichen durch Christus anerkannt, wie er sie auch anderen Religionsstiftern zuerkannte: daran Èndern Worte des MÝden nichts, Ýber den schon die Umnachtung hereinbrach. Die erste unter den KrÈften, welche damals unser geistiges Leben bewegten, war die Renaissance des Griechentums. Hatte HÚlderlin schon auf der Schule eine starke Neigung fÝr die griechischen Studien gehabt, so kam ihm jetzt eine bedeutsame Anregung von dem Repetenten Philipp Conz, der von Winckelmann und Heyne ausgegangen war und nun mit dem Studium der Alten die Begeisterung fÝr unsere neue Dichtung verband. Er war ein Jugendfreund Schillers: Philologe, Àbersetzer, Dichter und Philosoph – ein hinreißender Lehrer. Sein Wirken verband sich naturgemÈß mit der Macht, welche der Dichter der GÚtter Griechenlands Ýber HÚlderlin hatte. „Die Geschichte der schÚnen KÝnste Griechenlands“ war denn auch der Gegenstand der Arbeit, mit welcher der junge Student das Magister-Diplom erwarb. Der Grundgedanke dieses neuen Humanismus, daß Menschlichkeit und SchÚnheit vorbildlich in den Griechen verkÚrpert gewesen, wurde bestimmend fÝr die beiden Freunde im Stift, fÝr den Dichter HÚlderlin und den Philosophen Hegel. Wie einst fÝr Winckelmann war auch fÝr sie Platon der Interpret der griechischen Menschheit. Dieser grÚßte Genius der Griechen hat immer wieder neu solche Aufgabe erfÝllt. Indem sich nun Besonderheiten der Auffassung griechischen Wesens unter den JÝnglingen geltend machten, entstand eben hieraus fÝr sie die lebendigste gegenseitige Anregung. Hegels Ausgangspunkt lag in dem tiefsinnigen Begriff des Schicksals bei den griechischen Tragikern, der Schellings in den Mythen der Griechen und ihrer pantheistischen Naturanschauung. HÚlderlin erfaßte den tiefsten Punkt der griechischen Weltauffassung: das Bewußtsein der Verwandtschaft von Natur, Menschen, Heroen und GÚttern. Die Griechen reprÈsentieren ihm das Erlebnis unserer

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inneren Wesensgemeinschaft mit der Natur; eine Kunst, welche die in solcher Einheit des Lebens gegrÝndete SchÚnheit der Welt verherrlicht und die großen Leidenschaften in ihrer Heiligkeit achtet; den Kultus der Freundschaft, des Heldentums und der Sehnsucht nach großem, gefahrvollem, heroischem Dasein. In der Misere des damaligen deutschen Lebens hat ihn das Verlangen nach dieser untergegangenen Welt nie verlassen. Die andere geistige Kraft, welche die JÝnglinge erfaßte, kam aus der philosophischen Bewegung. Der Idealismus der Freiheit, wie ihn Kant, Schiller und Humboldt ausgebildet haben, nahm in den Schriftstellern, die in den siebziger Jahren geboren sind, die phantasiegemÈße Anschauung des Universums in sich auf, wie die Poesie sie entwickelt hatte. Und hier hat nun HÚlderlin als der Dichter auf seinen Freund Hegel gewirkt. Von Shaftesbury zu Schillers Jugendgedichten und seinen philosophischen Briefen geht ein Streben, das Universum als einen Zusammenhang zu begreifen, der von einer der Phantasie und dem GemÝte verstÈndlichen Kraft erfÝllt ist. HÚlderlin ringt nach dichterischen Symbolen, die das innere VerhÈltnis zwischen der Gottheit, der alllebendigen Natur und dem gÚttlichen Adel der Menschen aussprÈchen. Die letzte unter den geistigen KrÈften, die diese Generation bestimmt haben, war die franzÚsische Revolution. Mit dieser taten sich auch fÝr die Deutschen die Pforten einer neuen Zeit auf. Wie hÈtten nicht von den großen abstrakten Ideen dieser Bewegung die JÝnglinge im Stift fortgerissen werden sollen, die unter dem Druck des großen Tyrannen in Stuttgart und der kleinen in TÝbingen standen! Die Studenten grÝndeten einen politischen Klub, und auch Schelling, Hegel, HÚlderlin gehÚrten ihm an. In demselben Jahre 1793, in dem in Frankreich das Christentum abgeschafft und der Kultus der Vernunft eingefÝhrt wurde, stellten die jungen Studenten auf dem Marktplatz einen Freiheitsbaum auf, den sie in hellem Jubel umtanzten. Als der Herzog von den Revolutionsreden, den Freiheitsliedern und dem Absingen der Marseillaise unter seinen Theologen im Stift vernahm, erschien er plÚtzlich im Speisesaal der Anstalt und hielt eine Strafrede. Zwischen ihm und dem Idealismus der Besten im Stift gab es keine VerstÈndigung. HÚlderlin sang damals in seinen Hymnen an die Freiheit von dem Tag der Ernte, wenn der Bund der Helden den Sieg errungen hat, „wenn verÚdet die TyrannenstÝhle, Die Tyrannenknechte Moder sind“. Die SchÚpfungsstunde der Freiheit schien ihm gekommen und das griechische Heldentum wiedergekehrt in den franzÚsischen Revolutionshelden. Die Jugend erwartete, aus der franzÚsischen Revolution, aus der ihr so verwandten Philosophie Kants und der deutschen Dichtung werde nun eine Steigerung des menschlichen Daseins hervorgehen. Gerade in diesen Jahren mach-

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te sich das an verschiedenen Stellen geltend. Es war eine neue Stufe in der Entwickelung des Lebensideals, das zuerst in Lessing sich gebildet hatte. In Herder und dem jungen Goethe und in deren Genossen hatte es dann eine verÈnderte Form angenommen. In Iphigenie und Don Carlos erschien es in einer neuen tieferen Gestalt. Dies Ideal enthielt nun die bewußte philosophisch begrÝndete Richtung auf die Steigerung der Menschheit, die Freiheit des menschlichen Geistes und die GrÚße unserer Nation. In Jena sammelte sich um Reinhold und dann um Fichte ein Kreis von JÝnglingen, welche als das Ziel der neuen Philosophie eine ErhÚhung des deutschen Menschen und der deutschen Gesellschaft betrachteten. In Berlin feierte Friedrich Schlegel die neue Philosophie und die franzÚsische Revolution als die grÚßten Tendenzen des Zeitalters, und die Monologe Schleiermachers verkÝndeten ein gesteigertes Leben der PersÚnlichkeit. In TÝbingen finden wir Schelling, Hegel und unseren HÚlderlin von ebendiesen Ideen erfaßt. In dieser Bewegung sind die Hymnen HÚlderlins und der erste Entwurf seines Hyperion entstanden. Lyrik in ihrer schlichtesten und ergreifendsten Form spricht das GefÝhl des Daseins aus, wie ein Erlebnis es erweckt. Sie steigert sich, indem die Bewegung des GemÝtes in allgemeinere Betrachtung ausklingt. Stufen, ÀbergÈnge mannigfacher Art fÝhren vom persÚnlichen Gedicht zu jener großen lyrischen Form, welche darauf beruht, daß Inhalte, welche Ýber das persÚnliche Schicksal der Seele hinausreichen, von ihr Besitz genommen haben und nun die GemÝtsverfassung ganz bestimmen. Sie entsteht, wenn das GefÝhl des Dichters von großen ObjektivitÈten bewegt ist; von Taten starker PersÚnlichkeiten, der VÚlker oder der Menschheit, von Ideen, die sich auf die Angelegenheiten unseres Geschlechtes beziehen, endlich und zuhÚchst vom letzten Zusammenhang der Dinge. Das GefÝhl fÝr große GegenstÈnde ist Enthusiasmus, und die Form, in der er sich ausdrÝckt, ist die bewußte große Kunst, welche den Ablauf erhabener GefÝhle auszusprechen strebt. Klopstock und Schiller waren in Deutschland die ReprÈsentanten dieser Lyrik. An Schiller schließt nun HÚlderlin sich in der Epoche an, in der er von den neuen allgemeinen Ideen ergriffen ist. Die Hymnen HÚlderlins, die so entstanden, bilden einen Zyklus: er war gedacht als VerkÝndigung der idealen Werte der Menschheit, wie das neue Geschlecht sie fÝhlte. Jede dieser Hymnen trÈgt einen der großen Namen, die damals auch der franzÚsische Geist der Revolutionszeit zum Gegenstand seines Kultus machte. So widmet HÚlderlin der Menschheit einen Hymnus. „Ich hange nicht mehr“, schrieb er damals, „so warm an einzelnen Menschen; meine Liebe ist das Menschengeschlecht.“ Die Zeit ist nun endlich gekommen, in welcher die Menschheit mit vollem Bewußtsein ihrer selbst an ihrer Voll-

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endung arbeiten kann. Der „Gott in uns“ hat sich befreit. Wir fÝhlen „das GÚtterglÝck, sich eigener Kraft zu freuen“; „die Scheidewand von Flittern aufgebaut“, welche im alten stÈndischen Staat die Klassen trennte, bricht nun zusammen. Und der neue Mensch lebt mit den ihm Verwandten in innerer Verbindung. „Sein hÚchster Stolz und seine wÈrmste Liebe, Sein Tod, sein Himmel ist das Vaterland.“ Andere Hymnen feiern die SchÚnheit, die Freiheit, den Genius der Jugend und den der KÝhnheit, den der Liebe und der Freundschaft. „Steigt hinauf am RebenhÝgel, Blickt hinab ins weite Tal! Àberall der Liebe FlÝgel, Hold und herrlich Ýberall!“ Alle laufen sie zurÝck in die bedeutsamste: die Hymne auf die Wahrheit, oder wie es in der Verbesserung zum Druck heißt: an die GÚttin der Harmonie. Sie enthÈlt sein in Shaftesbury und Schiller gegrÝndetes Glaubensbekenntnis. Wie der jugendliche Schiller erblickt HÚlderlin in der Liebe die kosmische Kraft, deren Erscheinung im Universum, im GemÝt und in der Gesellschaft die Harmonie ist. Liebe ist der metaphysische oder mystische Zusammenhang, der die Wirklichkeit durchdringt, die Natur belebt und alles Menschliche verkettet. Bis in die einzelnen Worte ist die Hymne von Schillers philosophischen Briefen und seiner Gedankenlyrik bestimmt. Zugleich schÚpfte HÚlderlin nach seiner eigenen Mitteilung aus Leibniz. Die gÚttliche Liebeskraft „gießt die Schale des Lebens aus“; „Warm und leise wehen nun die LÝfte Liebend sinkt der holde Lenz ins Tal.“ Der „Sohn“ und „offenbare Spiegel“ dieser gÚttlichen Kraft ist der Mensch. Diese Weltauffassung HÚlderlins ist Panentheismus, eine von den Elementen der endlichen Wirklichkeit getrennte gÚttliche Kraft bringt in der Zeit das Universum hervor, und ebenso reicht der menschliche Geist in seiner unsterblichen Entwickelung hinaus Ýber sein endlich bestimmtes Erdendasein. In der Geschichte der Weltanschauung der drei TÝbinger Freunde ist dieser Hymnus ein wichtiges Datum. Der Plan und die Arbeit an ihm gehÚren nach einem Briefe des Dichters wahrscheinlich in das Jahr 1790, spÈtestens 1791, der Druck ist von 1792. Sonach fiel die Entstehung in die erste Zeit des Verkehrs mit Hegel. Aber nach dem, was von Hegel aus dieser TÝbinger Periode und der folgenden Schweizer Zeit erhalten ist, hat er damals an dem Sittengesetze Kants als oberster Regel der Moral festgehalten; er erkannte zunÈchst in den Studentenjahren die Liebe nur an als empirisches Prinzip der Sittlichkeit, dessen sich die Volksreligion bedient: sie bereitet das philosophische Bewußtsein des Sittengesetzes nur vor; und in den spÈteren Aufzeichnungen, die vor Frankfurt liegen, unterwirft er den Standpunkt, der in der Liebe das Prinzip der Sittlichkeit erblickt, einer scharfen Kritik. So unterscheidet sich schon die Wertung der Liebe als Beweggrundes fÝr das sittliche Leben bei Hegel durchaus von HÚlderlins Anschauung wie sie in der Hymne an die Harmonie und

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verwandten Gedichten sich ausspricht. Denn hier ist die Liebe Ýberall das Band, das die Menschen zu hÚherem Leben miteinander verknÝpft. Und wenn nun HÚlderlin dazu Ýbergeht, in der Liebe das die Welt zusammenhaltende Prinzip und in SchÚnheit und Harmonie dessen Manifestationen zu erblicken, so schließt das ganze GefÝge der damaligen Ideen Hegels die Annahme einer verwandten panentheistischen oder pantheistischen Anschauung bei demselben schlechterdings aus. Auch von Schelling existiert keine •ußerung aus der Zeit vor 1795, welche ein Einheitsprinzip im Universum aussprÈche. Der Enthusiasmus des Dichters spricht aus HÚlderlin. Derselbe Enthusiasmus, der dann in der Weltanschauung des Romans Hyperion seinen hÚchsten Ausdruck fand. HÚlderlin Ýberschreitet in den Hymnen den Idealismus Kants durch das Bewußtsein der Verwandtschaft des Menschen mit der gÚttlichen Kraft. In diesem lag doch sein GrundgefÝhl von Anfang an. Die griechischen Tragiker hatten ihn frÝh erfÝllt mit dem Bewußtsein von der NÈhe der Menschen an die GÚtter. Damit verbanden sich in ihm sein eigengeartetes NaturgefÝhl und die Intuitionen von der kosmischen Kraft der Liebe, von dem Charakter des Universums als welcher Harmonie ist. Vielleicht kam auch damals schon die Kenntnis Spinozas aus Jacobis Briefen Ýber ihn, die Einwirkung der philosophischen Briefe Schillers hinzu. Fragt man nun, wiefern seine dichterische Weissagung des kommenden Monismus auf Hegel und Schelling gewirkt habe: so muß man sich den Eindruck seiner ganzen PersÚnlichkeit vergegenwÈrtigen. Es geht eine Wirkung eigener Art von einem bedeutenden Menschen auf seine Freunde Ýber. HÚlderlins dichterischer Enthusiasmus fÝr SchÚnheit und Harmonie des Universums, die Hingabe seiner reinen Seele an den gÚttlichen Grund der Dinge, aus dem sie fließen, die ihm eigene Kraft, das Wirkliche zur SchÚnheit zu verklÈren und in jeder Erscheinung Gegenwart des GÚttlichen zu verehren und zu genießen, mußte den philosophischen Genossen immer gegenwÈrtig sein, wenn aus ihren Prinzipien Folgerungen sich ziehen ließen, die den Anschauungen HÚlderlins verwandt waren. Niemand kann sagen, wann und wie oft dies geschah. Daß es aber geschehen sei, kann keinem Zweifel unterliegen. Die Form von HÚlderlins Hymnen muß, wie sie durch Schiller bedingt war, von dessen Gedankendichtungen aus verstanden werden. Schiller fand einen eigenen lyrischen Ausdruck fÝr die große Emotion der Zeit, die auf die Verwirklichung der idealen Werte in einer neuen Menschheit gerichtet war. Der lyrische Stil, den er entdeckte, war gÈnzlich verschieden von dem, welchen Pindar, Klopstock und Goethe fÝr den Seelenvorgang gefunden haben, der von großen GegenstÈnden aus im GemÝt hervorgebracht wird. Schiller lÚste seine Aufgabe durch eine der Gedankenlyrik gemÈße Behandlung des gereimten Verses. Er verband wirkungsstarke Perioden zu einem einzigen breit aus-

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ladenden Ganzen. Dabei bediente er sich jedes Mittels der Sprache, die Gliederung des inneren Vorgangs durch einen Èußeren Zusammenhang sichtbar zu machen. Das starke aber dunkle GefÝhl, das ein großer Gegenstand hervorruft, wird an dessen Teilen entfaltet, bis alle seine Momente zum Bewußtsein erhoben sind und nun so im GemÝt zusammengehalten werden. Besonders wirkungsvoll ist das Anschwellen des GefÝhls, welches Teil auf Teil der ideellen Anschauung aneinanderfÝgt in lauter parallelen großen Perioden, bis dann in der Mitte des Gedichts die seelische Bewegung gemÈß der Gesetzlichkeit des GefÝhls wieder sinkt. So durchlÈuft das Gedicht „Die GÚtter Griechenlands“ zuerst alle Bestandteile dieser gÚttlichen Welt, mit jedem derselben steigert sich das GefÝhl ihrer SchÚnheit, immer wieder erfÝllt und bestÈtigt dies GefÝhl sich an neuen Teilen der Anschauung: bis dann plÚtzlich hieraus die unendliche Sehnsucht und ein grenzenloses GefÝhl des Verlustes hervorbricht und sich die Seele nun hineinwÝhlt in jede Tatsache, die diesen Verlust verdeutlicht. So entsteht ein neuer großzÝgiger Rhythmus, die Energie im Wachstum des GefÝhls ausdrÝckend, das aus der Vertiefung in die Teile des ideellen Gegenstandes hervorgeht, aus dem leidenschaftlichen Fortgezogenwerden von Teil zu Teil. Diese Rhythmik fordert Verse, die nicht durch festen inneren Abschluß eine Hemmung in der dahinrollenden Bewegung des GefÝhls enthalten. Wie wunderbar entsprechen dem nun in den GÚttern Griechenlands die fÝnftaktigen trochÈischen Zeilen, deren acht in zweimal gekreuzten Reimpaaren einen Vers bilden; sie schreiten breit dahin; kein abschließender Zusammenklang der beiden letzten Reihen hemmt die von Vers zu Vers fortschreitende Bewegung, welcher der stark einsetzende trochÈische Takt eine besondere mÈnnliche Energie erteilt. Oder in den „KÝnstlern“ die Èhnliche, wenn auch freiere Behandlung der jambischen Verse, denen der Anstieg zur Betonung eine sanftere FÈrbung verleiht. Volle, wirkungsstarke Worte werden in den Reim verlegt, die Wahl vornehmer AusdrÝcke entspricht dem Adel der Gedanken, die Bilder sind groß wie der Gegenstand sie fordert. Mit allen diesen Kunstmitteln schaltet nun HÚlderlin in seinen Hymnen kraft des ihm angeborenen Sinnes fÝr die Melodie der Sprache. GleichmÈßig folgen einander die SatzgefÝge, von denselben Beziehungsworten eingeleitet: so drÝcken sie eine langatmige Bewegung aufsteigend aus: langsam ebbt dann ebenso diese Flut in breiten Wellen gedehnter SÈtze ab. Starke ausklingende Endreime steigern die Melodie der Verse, und eigen unmittelbar trifft ein und das andere Wort. Es ist der melodische Nachklang der gewaltigen Jugenddichtungen Schillers. „Liebe bringt zu jungen Rosen Morgentau von hoher Luft, Lehrt die warmen LÝfte kosen In der Maienblume Duft; Um die Orione leitet Sie die treuen Erden her, Folgsam ihrem Winke gleitet Jeder Strom ins weite Meer.“ Niemand neben oder nach HÚlderlin ist so der Form Schillers gewach-

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sen gewesen. Aber aus seinem stillen Winkel wirkte nur schwer etwas in die große Welt unserer Literatur. Einige der Hymnen erschienen in dem SchwÈbischen Musenalmanach StÈudlins. Matthisson umarmte den jungen Dichter fÝr seinen Hymnus an die KÝhnheit. Und Schiller nahm diese Ode und das Gedicht Ýber das Schicksal, das an der Grenze dieser Periode steht, in seine neue Thalia auf. Der groß gedachte Zusammenhang der Hymnen konnte sich nicht geltend machen. Welche Wirkung hÈtte er damals auf die Jugend Ýben kÚnnen! Wie wÈre von hier aus dem Publikum das VerstÈndnis der weiteren dichterischen Entwickelung HÚlderlins erleichtert worden! Es war sein erstes Mißlingen. Das Erlebnis, das sich in HÚlderlins Hymnen aussprach, war das heroische Streben der Jugend jener Jahre, in sich selbst und um sich in der Gesellschaft eine hÚhere Menschheit zu verwirklichen. So mußten Gestalten in ihm sich bilden, die dieses Heldentum reprÈsentieren. Sie quellen mit unwiderstehlicher Gewalt aus seinem Inneren hervor. Hieraus entstand sein Hyperion. Schon in TÝbingen begann er an ihm zu arbeiten. Im Juni 1792 ist zuerst von dem Plan die Rede. „Ein freiheitliebender Held voll krÈftiger Prinzipien“: so charakterisierte ein Freund den damaligen Hyperion des Dichters. Als Schauplatz wÈhlte der junge Philhellene das moderne Griechenland. Die sehnsÝchtige Erinnerung an das, was einst auf diesem Boden geschehen, konnte er so verweben mit dem neuen griechischen Heldentum, das freilich von etwas zweifelhafter Art war. 1770 begann in Griechenland ein Befreiungskrieg, in welchem die Operationen der Russen mit dem Aufstand der Griechen zusammenwirkten. Diese VorgÈnge bildeten den Hintergrund des Romans. Auf ihm sollte Hyperion sich darstellen als der Held, der ein Leben in Freiheit und SchÚnheit herbeifÝhren will – die VerkÚrperung aller TrÈume der neuen Jugend. In der letzten TÝbinger Zeit (1793) schrieb HÚlderlin einmal dem Bruder: „Meine Liebe ist das Menschengeschlecht. Ich liebe die große schÚne Anlage auch in verdorbenen Menschen. Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte. Denn dies ist meine seligste Hoffnung, der Glaube, der mich stark erhÈlt und tÈtig, die Freiheit muß einmal kommen. Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet auf bessere Tage.“ „Ich mÚchte ins Allgemeine wirken.“ In diesem Sinne sagt Hyperion im Roman: „Sie werden kommen, deine Menschen, Natur.“ Wie HÚlderlin geartet gewesen ist, mußte trotz alles historischen Spektakels, der im Stoff lag, die innere Geschichte des Helden ihm zum Mittelpunkt des Romans werden. Aber er hatte noch so wenig erlebt. So wuchs der Roman allmÈhlich mit des Dichters Schicksalen. Die UniversitÈtsjahre gingen zu Ende. In den ersten Tagen des Dezember beendete HÚlderlin seine PrÝfung in Stuttgart, und er hÈtte nun den Wunsch der guten Mutter befriedigen kÚnnen, in den schwÈbischen Pfarrdienst ein-

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zutreten. MÚrike hat spÈter dem sich gefÝgt. Hegel, Schelling, HÚlderlin dachten nicht so zu tun, sie waren eingeschworen in den Dienst der Menschheit. Aber wo war in dem damaligen Deutschland ein Weg fÝr sie zu grÚßerem Wirken? Es gab zunÈchst keine andere Grundlage der Èußeren Existenz als das Hauslehrertum und keine Aussicht als das Katheder. Ein gÝnstiges Schicksal schien dabei HÚlderlin leiten zu wollen. Schiller hielt sich um diese Zeit in Schwaben auf, und er hatte den Auftrag, Frau von Kalb einen Hofmeister fÝr ihren Sohn zu suchen. Er sah den jungen Dichter eine halbe Stunde und der Eindruck war nicht ungÝnstig. Noch bevor HÚlderlin die PrÝfung abgelegt hatte, entschied sich so sein nÈchstes Schicksal. Dicht vor Weihnachten machte er sich auf nach ThÝringen, wo Charlotte von Kalb auf ihrem Gute Waltershausen nahe bei Meiningen wohnte. Deren Sohn hatte er zu unterrichten. So fÝhrte ihn sein Schicksal gerade in die SphÈre seines Landsmanns Schiller, der durch seine Ideen den stÈrksten Einfluß auf ihn geÝbt hatte. Und durch die neuen Lebensbeziehungen Úffnete sich ihm der Kreis der MÈnner, welche damals unsere Literatur beherrschten. Aber auch hier machte sich dann die eigene Mischung in diesem Leben geltend, das aus Èußerer Misere und hohem Streben so sonderbar zusammengewirrt war. Wie die Kalb war, kam sie dem Poeten mit dem ganzen Schatz ihrer mÝtterlichen GefÝhle entgegen, die sie immer fÝr begabte junge Leute zur VerfÝgung hatte. Sie war bemÝht den sprÚden Schwaben in Beziehung zu den literarischen VerhÈltnissen ringsumher zu setzen. Der Dichter vergalt ihr durch die gewissenhafteste ErfÝllung seiner Pflicht bei ihrem Knaben. Doch umsonst rieb er sich in diesem GeschÈfte auf. Frau von Kalb mußte das schließlich selbst einsehen. Noch einmal wurde in Jena und dann in Weimar ein Versuch gemacht. Dann gab sie ihm nach, daß er sich von dem Knaben trennte und in Jena niederließ. Sie schrieb selbst an die Mutter HÚlderlins, um diese Ýber den gewagten Schritt ihres Sohnes zu beruhigen. Sie versah ihn mit Geld. Eine verstÈndnisvolle WÝrdigung des Dichters ging von ihr aus und erleichterte ihm die Beziehungen in Jena, die er sich wÝnschte. Kant und die Griechen haben ihn in Waltershausen vorwiegend beschÈftigt. Die Abhandlung Schillers Ýber Anmut und WÝrde, die eben erschienen war, regte ihn zu Èsthetischen Studien an. Er glaubte, daß man sich noch einen Schritt weiter als Schiller Ýber die Grenzlinien Kants hinauswagen kÚnne. Man wird nicht zweifeln kÚnnen, daß er zur Wirklichkeit des SchÚnen im Universum fortgehen wollte. In diesem Sinne war wohl ein Aufsatz aus dieser Zeit Ýber die Èsthetischen Ideen abgefaßt. Am meisten aber beschÈftigte den Dichter in Waltershausen der in TÝbingen begonnene Roman Hyperion. SpÈtestens im Herbst 1794 ist das Fragment abgeschlossen worden, das Schiller in der Thalia verÚffentlichte.

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HÚlderlin stellte jetzt dem in TÝbingen geplanten Hyperion die Aufgabe eines entwickelungsgeschichtlichen Romans, wie solche seit Wielands Agathon in unserer Literatur Ýblich waren. Und er faßte Entwickelungsgeschichte unter dem Gesichtspunkt Schillers: ihr Ausgangspunkt die naive Vollkommenheit, die durch die bloße Organisation gegeben ist, und ihr Endpunkt das Ideal, zu dem wir selbst durch hÚchste Bildung uns erheben kÚnnen. Dazwischen verlÈuft die exzentrische Bahn seines Helden; aus dieser gibt er einen Ausschnitt. Nach den EnttÈuschungen der Wortphilosophie und kleiner Lebensverbindungen – HÚlderlin selbst hatte eben erst eine dÝrftige Liebschaft mit einer koketten TÝbinger Professorentochter abgeschÝttelt – betritt Hyperion den Boden seiner jonischen Heimat wieder. „Sein alter Freund, der FrÝhling“ Ýberrascht ihn und ruft Ahnungen eines kommenden GlÝckes in seiner Seele hervor. Mitten in diesem FrÝhling erscheint ihm Melite, ein Heiliges, das in der AllgenÝgsamkeit einer Himmlischen lebt. Das schÚne echt germanische Motiv, das den FrÝhling, die Ahnungen, die er erweckt und ihre ErfÝllung in der Geliebten miteinander verknÝpft, ist dann auch spÈter von ihm festgehalten worden. Zwischen den beiden Liebenden spielt sich nun die HÚlderlinTragÚdie ab. Die geheimen Leiden einer leidenschaftlichen JÝnglingsseele, die nie sich selbst genÝgt und der andere nie genÝgen. Die stille Heilige wird von ihm aufgestÚrt und im Innersten erschÝttert. Hier zuerst treten uns Selbstbekenntnisse des Dichters Ýber seine verhÈngnisvolle Anlage zum TrÝbsinn entgegen. „Ich habe manchmal gedacht“, sagt Melite, „woher es wohl kommen mÚchte, daß du so sonderbar bist. Es ist so ein schmerzlich RÈtsel, daß ein Geist, wie der deinige, von solchen Leiden gedrÝckt werden soll.“ „Sage deinem Herzen, daß man vergebens den Frieden außer sich suche.“ Dann wieder erscheinen Momente des großen GlÝckes, das nur den seltenen hohen Menschen mit ihrer grenzenlosen LeidensfÈhigkeit zugleich beschieden ist. In der Grotte des Homer halten im magischen DÈmmerlichte die Freunde, vor sich das Bild des blinden SÈngers, die Totenfeier von allem Großen was einst da war; auch dies Motiv hat der spÈtere Roman wiederholt. MißverstÈndnisse fÝhren zur Trennung. Hyperion rettet sich zur „geheimen Kraft der Natur, die Ýberall sich an uns Èußert, wo das Licht und die Erde, und der Himmel und das Meer uns umgibt“. So klingt hier ein drittes Motiv des spÈteren Romans an. Die Natur bringt das Herz, das Ýberall anstÚßt und leidet und nicht verstehen kann, zur Ruhe. Sie ist heilig, geheimnisvoll, unbegreiflich, scheint uns zuzurufen: warum liebst du nicht mich? In der DÈmmerung dieser Liebe ist uns wohl. Die SchÚnheit des Lebens, Heldentum, GÝte der Frauen, Poesie ist die Manifestation der gÚttlichen Kraft; im Unterschied von den Hymnen ist diese hier bereits pantheistisch gedacht. Sie ist das „was besteht, was fortlebt unter tausend

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verÈnderten Gestalten, was war und ist und sein wird“. Sie ist unergrÝndlich. Aus ihrer Anschauung entspringt die Liebe zu ihr, welche erst unserem Denken und Handeln die wahre und dauernde Grundlage gibt. Diese •ußerungen eines dichterischen Pantheismus sind niedergeschrieben vor Schellings Fortgang zum Monismus, vor Schleiermachers Reden Ýber die Religion, mit denen sie sich so nahe berÝhren, und lange vor der monistischen Wendung in Hegel. Das BruchstÝck gleicht einer OuvertÝre, welche die Motive des musikalischen Drama angibt, ehe dieses selber beginnt. Auch dem rhythmischen Stil seiner Prosa nÈhert sich HÚlderlin hier erst suchend, ahnend und tastend.

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REIFE DES LEBENS.

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Im Anfang des Jahres 1795 ließ sich HÚlderlin in Jena nieder, um nunmehr seinen schriftstellerischen Arbeiten zu leben; weiterhin hatte er in Aussicht genommen, Vorlesungen an der UniversitÈt zu halten. Hiermit beginnt die Zeit Èußerster Konzentration, in der es sich fÝr ihn darum handelte, sich in der literarischen Welt zu behaupten. Wenn er nun nach zerstreuten Jahren zu einer zusammenhÈngenden Wirkung auf die Welt sich genÚtigt fand, so trat ihm in Jena der Mann entgegen, der stÈrker als irgendein anderer damals in Deutschland zu einer solchen anregte. Schon als HÚlderlin im November des verflossenen Jahres sich mit seinem ZÚgling dort aufhielt, hÚrte er tÈglich Fichtes Vorlesungen und sprach ihn zuweilen. Er schloß sich sogleich, wie damals alle krÈftigsten begabtesten JÝnglinge in Jena, mit Begeisterung an ihn an. „Fichte ist jetzt die Seele von Jena. Und gottlob! daß ers ist. Einen Mann von solcher Tiefe und Energie des Geistes kenn’ ich sonst nicht.“ Hier fand er Bewußtsein Ýber die letzten Prinzipien des Wissens, die kÝhnsten Folgerungen aus ihnen, verbunden mit dem Mut, „trotz der Gewalt der Finsternis sie zu schreiben und vorzutragen“. Da er jetzt endlich in vÚlliger UnabhÈngigkeit arbeiten durfte, vertiefte er sich sehr ernsthaft in die Probleme, die ihm von Fichte aus entstanden. Wenn er den ganzen Tag still gearbeitet hatte, ging er abends in dessen Vorlesung. An dem Studium dieser Philosophie entwickelte sich in ihm ein eigener philosophischer Standpunkt. •hnlich wie Schleiermacher spÈter in den Reden Ýber die Religion fand er, daß die reine Theorie nicht Ýber das Faktum des Bewußtseins hinausfÝhren kÚnne. Wenn Fichte hinter die Tatsachen des Bewußtseins zurÝckgehen wollte zu einem absoluten Ich, so schien er hierdurch das Bewußtsein aufzuheben und damit jeden Inhalt dieses Ich. Schon damals hat er offenbar nur in der dichterischen Anschauung des Universums die

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Grundlage fÝr das objektive VerstÈndnis des Weltzusammenhanges gesehen. Die Verwandtschaft seines Standpunktes mit dem Schleiermachers setzt sich auch hierin fort. FÝr Schleiermacher war diese Anschauung in der Religion gegeben, fÝr HÚlderlin in der Dichtung. Die Ideen aus der Epoche der Hymnen Ýber die Liebe als Grundlage der Sittlichkeit gerieten ihm ins Wanken unter der Einwirkung des unerbittlichen Fichte. Aber wie mußte nun der Eindruck Fichtes und der enthusiastischen JÝnglinge zu seinen FÝßen die Erwartungen von einer kommenden hÚheren Menschheit und einem neuen Heldentum verstÈrken, in denen er mit den Stiftsgenossen Hegel und Schelling gelebt hatte und aus denen sein Plan des Hyperion entsprungen war! Baldigst gab er dem alten Freunde Hegel Kunde von dem „Titanen Fichte“, der fÝr die Menschheit kÈmpfe und dessen Wirkungskreis gewiß nicht innerhalb der WÈnde des Auditoriums bleiben werde. Und Hegel meldete an Schelling freudig, daß HÚlderlins Interesse fÝr die weltbÝrgerlichen Ideen immer zunehme. „Das Reich Gottes komme und unsere HÈnde seien nicht mÝßig im Schoße!“ Die Begeisterung der SchÝler um Fichte stand in Zusammenhang mit einer Bewegung in der jungen Generation, die sich an verschiedenen Punkten Deutschlands kundtat. Ja sie hatte, wie sie von der Revolution ausgegangen war, einen europÈischen Charakter. Eben in diesen Jahren hatte in Frankreich die ideologische Schule auf Grund der naturwissenschaftlichen Lehre von der Evolution den Gedanken einer Steigerung der Menschheit zu einer bis dahin unbekannten StÈrke und Freude verkÝndet; was die Wissenschaft vorbereitet hatte, sollte die Revolution verwirklichen. Und der geÈchtete Condorcet schrieb im Angesicht des Todes das Buch, dessen starker und freudiger Glaube an die Entwickelung der menschlichen Gesellschaft zu einer Verfassung, die jeder Kraft Raum zur Entfaltung gewÈhrt, auf die ganze kommende Generation bis zu den Sozialisten und Comte hin gewirkt hat. In England arbeiteten die Verehrer der franzÚsischen Revolution an einer rationalen Neuordnung der Verfassung und Gesetzgebung. Man kann sagen, daß damals zuerst die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts von der SolidaritÈt und dem Fortschritt der Menschheit, die an die aufgeklÈrte Selbstherrschaft noch gebunden gewesen waren, zu einer selbstÈndigen wirksamen Macht in den VÚlkern wurden. In diesen historischen ZusammenhÈngen hat Fichte seine Ideen Ýber das allgemeingÝltige schÚpferische VermÚgen entwickelt, in welchem das Gesetz einer kommenden hÚheren Ordnung der Gesellschaft und einer Steigerung der Individuen enthalten sei. Derselbe Zusammenhang verstÈrkte in seinen JÝngern den Willen zum Handeln. So wuchs auch in HÚlderlins Seele das Ideal einer hÚheren Menschheit immer deutlicher, bestimmter, grÚßer. „Wenn’s sein muß“, schrieb er damals, „so zerbrechen wir unsere unglÝcklichen Saiten-

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spiele und tun, was die KÝnstler trÈumten.“ Solche tief ernst gemeinten Worte lassen sich schwer psychologisch verbinden mit der zarten Dichternatur HÚlderlins. Es ist als ob er Ýber sein Wesen hinausgegangen wÈre. Hier ist dasselbe Geheimnis, das uns auch in Nietzsche entgegentritt. Wie es auch sich damit verhalte – durch sein ganzes Leben, bis hinein in die Verdunklung seines Geistes ist der Held der Mittelpunkt seiner Poesie und nimmt nur immer tiefsinnigere und zugleich gigantischere Formen an, bis zu der letzten Fassung seines Empedokles, durch die er ebenfalls mit Nietzsche in VerhÈltnis tritt. Solche Stimmungen und Ideen fÚrderten die Arbeit an dem Roman Hyperion, die eben vor ihm lag. Das Heroische in demselben erhielt festere ZÝge und grÚßere Ausbreitung. In Schiller und Fichte stellte sich ihm der Gegensatz dar, auf welchem dann die Verwickelung in der letzten Fassung des Romans beruht. Die Gestalt Alabandas empfing aus dem UngestÝm Fichtes, aus seiner Verachtung der bloßen Doktrin, aus seinem stolzen Bewußtsein von der WÝrde, Freiheit und UnverÈnderlichkeit der Person Blut und Leben. Wir haben aus dieser Jenaer Zeit Aufzeichnungen, die uns in die Ausbildung des Romans hineinblicken lassen. Er versucht einen neuen Anfang und eine neue Form. Der Dichter begegnet dem Hyperion, ein Bild der vollendeten PersÚnlichkeit und Denkart desselben wird entworfen, und nun erzÈhlt Hyperion seine Lebensgeschichte. Auch eine metrische Bearbeitung des Romans hat damals HÚlderlin vorÝbergehend versucht. Und der Plan eines Èsthetischen Werkes konnte ebenfalls nirgend besser ausgefÝhrt werden als in dieser AtmosphÈre von Weimar und Jena. Wollte dann HÚlderlin Vorlesungen aus diesem Gebiete halten, so fand er in den Jenaer Studenten das empfÈnglichste Publikum. HÚlderlin war erst vierundzwanzig Jahre alt, als er unter den schwierigsten Èußeren UmstÈnden die begonnenen poetischen und Èsthetischen Arbeiten zu raschem Abschluß bringen wollte. Seine philosophischen Ideen waren noch unreif. Wie hÈtte aus ihnen so schnell eine Bearbeitung der tiefsten Èsthetischen Probleme entstehen kÚnnen, mit der er vor die ³ffentlichkeit treten durfte! Der Roman konnte nur langsam vorwÈrts rÝcken. Dies Genie einer neuen lyrischen Form, das von jedem Eindruck aus in sich selbst zurÝckging, ließ sich durch keine Èußere Not etwas abringen. Und seine wunderbaren Gedichte waren keine Marktware. Er brÝtete die langen Tage einsam Ýber seiner Arbeit. Seine einzige Erholung war zuweilen eine Unterhaltung mit Fichte, vor allem aber der Verkehr mit Schiller, den er so oft besuchte als es schicklich schien, und dessen PersÚnlichkeit und GesprÈch ihn immer wieder belebte. Die Existenzmittel wurden bei spÈrlichster Lebensweise immer knapper. Er nahm nur Eine dÝrftige Mahlzeit am Tage. Und stÈrker noch als die Èußere Misere, in der er lebte, lastete sein inneres Schicksal auf ihm. Er konnte keine Arbeit isolieren. Jedes Erlebnis, jede Erkenntnis ging zurÝck in die schwere

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dunkle Tiefe seines Wesens und verlor sich darin. Nichts wollte aus ihr sich loslÚsen. Und allmÈhlich, langsam, furchtbar kam an ihn das Erlebnis dieser Zeit. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Jena hatte er geschrieben: „die NÈhe der wahrhaft großen Geister, und auch die NÈhe wahrhaft großer selbtÈtiger mutiger Herzen schlÈgt mich nieder und erhebt mich wechselweise, ich muß mir heraushelfen aus DÈmmerung und Schlummer, halbentwickelte, halberstorbene KrÈfte sanft und mit Gewalt weken und bilden, wenn ich nicht am Ende zu einer traurigen Resignation meine Zuflucht nehmen soll.“ Mit der Zeit nahm der Druck zu, der hiervon ausging. Es entstand das bittere GefÝhl, in immer weitere Ferne von ihnen abzurÝcken – Leid der Einsamkeit und des Unverstandenseins. Diese Großen hatten irgendwie in Dichtung, Philosophie, Lebensgestaltung dasselbe Ziel mit ihm. Und von einem nach dem anderen entfremdete seine Seele sich. Wer hÈtte in der NÈhe Goethes leben kÚnnen ohne zu wÝnschen, durch sein Urteil in seinem Wert bestÈtigt zu werden? WÈhrend seines Aufenthaltes als Hofmeister in Jena war HÚlderlin ihm zuerst begegnet. Es war als er dort Schiller aufsuchte. Er wurde von Schiller freundlich begrÝßt, und bemerkte kaum im Hintergrund einen Fremden, bei dem keine Miene, auch nachher lange kein Laut etwas besonders ahnden ließ. Den Namen verstand er nicht bei der Vorstellung. So begrÝßte er ihn kalt, fast ohne einen Blick auf ihn. Der Fremde blÈttert in der Thalia, die HÚlderlins Gedicht an das Schicksal und sein Hyperionsfragment enthielt, Èußert aber kein Wort. So dauert das sonderbare Zusammensein eine ganze Zeit hindurch. Dann in Weimar ist der junge Dichter abermals Goethe bei Frau von Kalb begegnet. Diesmal empfand HÚlderlin tief die Verbindung von Menschlichkeit und GrÚße in der Art wie er sich mit ihm unterhielt; er erschien „ruhig, viel MajestÈt im Blicke und auch Liebe, Èußerst einfach im GesprÈch“, das „von Funken seines noch lange nicht erloschenen Genius“ belebt war; „man glaubt oft einen recht herzguten Vater vor sich zu haben“. Als HÚlderlin dann in Jena sich dauernd niederließ, begegnete er ihm da Úfter bei Schiller. Aber HÚlderlin war noch so jung, persÚnlich so ungeschickt und bescheiden, und seine Lyrik, in ihrer Weise ein HÚchstes nach Goethe, fand eben die ersten eigenen TÚne. So konnte Goethe aus ein paar Gedichten HÚlderlins, die ihm Schiller wegen eines Abdrucks in den Horen zusandte, wirklich von der wunderbaren lyrischen Begabung des jungen Dichters keinen Begriff fassen; er urteilte Ýber sie wohlwollend, aber sehr kÝhl. Er fÝhlte darin eine Schiller verwandte Richtung, aber ohne dessen FÝlle, StÈrke und Tiefe, er lobte „eine gewisse Lieblichkeit, Innigkeit, MÈßigkeit“, einen heiteren Blick Ýber die Natur, nur ohne Kenntnis derselben: „sie drÝcken ein sanftes in GenÝgsamkeit sich auflÚsendes Streben aus.“ Von da ab entschwand, von einer flÝchtigen Begegnung in Frankfurt ab-

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gesehen, HÚlderlin aus den Augen Goethes. Herder hatte er schon bei seinem ersten Aufenthalt in Weimar besucht, und dieser schien sich fÝr ihn zu interessieren, doch war zwischen ihm und dem SchÝler Schillers und Fichtes nur eine flÝchtige BerÝhrung mÚglich. Von einem Verkehr mit Fichte hÚrt man bald nichts mehr. Schiller allein hielt an seinem lieben Schwaben fest und tat fÝr ihn, was er konnte. Von der Zeit ab, in der HÚlderlin die ersten Dramen Schillers gelesen, war in ihm diese große Liebe, die auf der Verwandtschaft des zarteren Geistes mit dem Starken gegrÝndet war. Schiller seinerseits vergalt ihm mit einem ruhigen treuen Interesse. Er druckte in der Thalia ein Fragment des Hyperion ab, er empfahl den ganzen Roman unter guten Bedingungen Cotta zum Verlag und forderte den jungen Dichter auf, fÝr die Horen zu arbeiten, da er sich viel davon fÝr HÚlderlins pekuniÈre Existenz versprach. Er fÝhlte die ganze Gefahr in HÚlderlins innerem Zustand. „Heftige SubjektivitÈt“, verbunden „mit einem gewissen philosophischen Geist und Tiefsinn“ trieben denselben immer mehr in sich zurÝck. Mit inniger Teilnahme empfand Schiller, wie schwer einer solchen Natur beizukommen sei. Und diese Teilnahme war um so stÈrker, weil er „viel von seiner eigenen sonstigen Gestalt“ in dem jungen Dichter wiederfand. Was aber in HÚlderlin selbst vorging, bringt erst ein Brief zutage, den er, bald nachdem er Jena verlassen hatte, geschrieben hat. Die leisen TÚne desselben wirken ergreifend. In mancher guten Stunde habe er nach den Grenzen seines VerstÈndnisses den ganzen Wert Schillers rein empfunden und sich gewÝnscht, ihm recht viel sein zu kÚnnen. Und nun sein GestÈndnis! Er sagt, wie sehr er die NÈhe Schillers entbehre, aber „ich hÈtt es schwerlich mit all’ meinen Motiven Ýber mich gewonnen, zu gehen wenn nicht eben diese NÈhe mich von der anderen Seite so oft beunruhigt hÈtte. Ich war immer in Versuchung, Sie zu sehen, und sah Sie immer nur, um zu fÝhlen, daß ich Ihnen nichts sein konnte. Ich sehe wohl, daß ich mit dem Schmerze, den ich so oft mit mir herumtrug, notwendigerweise meine stolzen Forderungen bÝßte; weil ich Ihnen so viel sein wollte, mußt’ ich mir sagen, daß ich Ihnen nichts wÈre. Aber ich bin mir dann doch zu gut bewußt, was ich damit wollte, um mich nur leise darÝber zu tadeln“. Und spÈter noch einmal auf einen gÝtigen Brief Schillers, der ihm den Wunsch ausgesprochen hatte, HÚlderlin mÚge ihm rÈumlich wieder nahe sein, dann wÝrde er sich ihm ganz verstÈndlich machen kÚnnen: „Ihre NÈhe ist mir nicht erlaubt.“ „So lang ich vor Ihnen war, war mir das Herz fast zu klein, und wenn ich weg war, konnt’ ich es nicht mehr zusammenhalten.“ So tiefes Leid erwuchs HÚlderlin aus dieser seiner großen Liebe, der grÚßten, die er außer zu Diotima in seinem Leben gehabt hat. Leise erhob sich aus all diesem in seiner Seele das leidvolle Bewußtsein der

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Einsamkeit, in welcher im Grunde jeder lebt mitten unter den Seinen und den Freunden, des Getrenntseins, das aus der Natur des Einzeldaseins selbst entspringt und das in den eigen wachsenden genialen Naturen am stÈrksten erfahren werden muß. Kaum drei Viertel Jahre vermochte HÚlderlin in Jena sich zu halten. Im FrÝhsommer 1795 kehrte er nach NÝrtingen zurÝck. Er kam wie aus einem Schiffbruch, leidend, mit wunder Seele, und gedemÝtigt daß er der guten Mutter wieder zur Last fiel. Bis zum Ende des Jahres blieb er in der Heimat und mußte dann wieder in die alte Dienstbarkeit sich zurÝckbegeben, diesmal in Frankfurt am Main. Es ist schwer festzustellen, was in dieser Zeit freier Arbeit, seitdem er sich in Jena selbstÈndig niedergelassen hatte, entstanden ist. Jedenfalls vollzog sich damals in seinen Gedichten die wichtige Àbertragung der Form, die er sich an der Hymne gebildet hatte, auf die persÚnliche Lyrik. In den letzten Tagen des Jahres 1795 kam HÚlderlin in Frankfurt an, wo er in der Familie des Bankiers Jacob Gontard vier Kinder zu unterrichten hatte. Er hatte in den ersten BruchstÝcken seines Romans sein griechisches Ideal einer in sich gefaßten, harmonisch gestimmten weiblichen Seele dargestellt. Es trat ihm nun als Wirklichkeit in der Frau des Hauses entgegen. Ein PortrÈtrelief von ihr zeigt ein Antlitz von vollendeter griechischer SchÚnheit. Aus ihm spricht jene eigene Verbindung von Weichheit mit vornehmer Fassung, die HÚlderlin so verstand. Sie stammte aus einer angesehenen Hamburger Familie. Ihre Erziehung hatte sie mit den Sprachen und der Literatur bekannt gemacht. Sie wußte den Umgang mit geistig hervorragenden Menschen zu genießen, wie denn in ihrem Hause neben den Frankfurter Geldleuten der Dichter Heinse und der Anatom und Arzt SÚmmering verkehrten. HÚlderlin wandte bald dem Èltesten ihrer Knaben mit dem feinen VerstÈndnis, welches das kindlich Reine in ihm fÝr Kinderseelen hatte, eine innige Neigung zu. So mußte auch die Mutter, welche die Erziehung der Kinder allein leitete, ihm nÈher treten. Die Beziehungen zu dieser Frau wurden das hÚchste GlÝck im Leben HÚlderlins, ein wesentlicher Inhalt all seiner spÈteren Dichtung und eines der VerhÈngnisse, die ihn niedergezogen. Ihre vornehme Seele verstand den schlichten, schwermÝtigen jungen Poeten. Sie verstand auch das Leid, das auf ihm lastete und bemÝhte sich, ihm ein freieres VerhÈltnis zum Leben zu geben. Der Dichter aber erkannte in ihr die Muse seiner Poesie selber. Mit wie sonderbaren GefÝhlen blickte er nun auf die Liebeleien seiner frÝheren Jahre zurÝck – zumal auf die letzte, besonders tÚrichte! „Ich hab’ in meiner schÚnsten Lebenszeit so manchen lieben Tag vertrauert, weil ich Leichtsinn und GeringschÈtzung dulden mußte, so lange ich nicht der Einzige war, der sich bewarb. Nachher fand ich GefÈlligkeit und gab GefÈlligkeit, aber mein erster tieferer

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Anteil war in dem unverdienten Leiden, das ich duldete, erloschen.“ Nun zuerst erfuhr er eine innere Verwandtschaft, die zeitlos wie das GÚttliche selber ist. Die Liebe, die so zwischen diesen beiden entstand, spricht unmittelbar zu uns aus einigen rÝhrenden BlÈttern, die eben zugÈnglich geworden sind. Es sind vier BruchstÝcke von Briefen, Konzepte, sie beginnen im FrÝhjahr 1799, also ein halbes Jahr nachdem er Frankfurt verlassen, und reichen in den November. Ob sie so wie sie vorliegen abgesandt worden sind, darÝber sind nur Vermutungen mÚglich. Doch werden eben in diesen BlÈttern andere Briefe von ihm an sie und auch ein Brief von ihr erwÈhnt. In dem ersten dieser BriefentwÝrfe tut sich die ganze innere und Èußere Beziehung der beiden wÈhrend der drei Jahre in Frankfurt vor uns auf. Er Ýbersendet ihr den zweiten Band seines Romans, „die Frucht unsrer seelenvollen Tage“, Èußert einige Unzufriedenheit mit dem Roman und fÈhrt dann fort: „HÈtte ich mich zu deinen FÝßen nach und nach zum KÝnstler bilden kÚnnen, in Ruhe und Freiheit, ja ich glaube, ich wÈr’ es schnell geworden, wonach in allem Leide mein Herz sich in TrÈnen und am hellen Tage und oft mit schweigender Verzweiflung sehnt. – Es ist wohl der TrÈnen alle wert die wir seit Jahren geweint, daß wir die Freude nicht haben sollten, die wir uns geben kÚnnen, aber es ist himmelschreiend, wenn wir denken mÝssen, daß wir beide mit unsern besten KrÈften vielleicht vergehen mÝssen, weil wir uns fehlen. Und sieh! das macht mich eben so stille manchmal, weil ich mich hÝten muß vor solchen Gedanken. Deine Krankheit, Dein Brief – es trat mir wieder, so sehr ich sonst verblinden mÚchte, so klar vor die Augen, daß Du immer, immer leidest, – und ich Knabe kann nur weinen darÝber! – Was ist besser, sage mir’s, daß wir’s verschweigen, was in unserm Herzen ist, oder daß wir uns es sagen! – Immer hab’ ich die Memme gespielt, um Dich zu schonen, – habe immer getan, als kÚnnt ich mich in alles schicken, als wÈr ich so recht zum Spielball der Menschen und der UmstÈnde gemacht und hÈtte kein festes Herz in mir, das treu und frei in seinem Rechte fÝr sein Bestes schlÝge, teuerstes Leben! habe oft meine liebste Liebe, selbst die Gedanken an dich mir manchmal versagt und verleugnet; nur um so sanft wie mÚglich, um Deinetwillen dies Schicksal durchzuleben, – Du auch, Du hast immer gerungen, Friedliche! um Ruhe zu haben, hast mit Heldenkraft geduldet, und verschwiegen, was nicht zu Èndern ist, hast Deines Herzens ewige Wahl in Dir verborgen und begraben, und darum dÈmmerts oft vor uns, und wir wissen nicht mehr, was wir sind und haben, kennen uns kaum noch selbst; dieser ewige Kampf und Widerspruch im Inneren, der muß Dich freilich langsam tÚten, und wenn kein Gott ihn da besÈnftigen kann, so hab’ ich keine Wahl, als zu verkÝmmern Ýber Dir und mir, oder nichts mehr zu achten als Dich und einen Weg mit Dir zu suchen, der den Kampf uns endet.“ So rein

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und beherrscht war diese Liebe gewesen. Und auch jetzt, da er das Elend der Trennung nicht mehr ertrÈglich findet, fÝgt er doch dann gleich hinzu: „Ich habe schon gedacht, als kÚnnten wir auch von Verleugnung leben, als machte vielleicht auch dies uns stark, daß wir entschieden der Hoffnung das Lebewohl sagten . . .“ Hier bricht mitten auf dem Bogen das Schreiben ab. Man sieht den Dichter, auf die HÈnde das mÝde Haupt gestÝtzt, Ýber das Wirrsal brÝtend, aus dem es kein Entrinnen gab. Er hat wohl den Brief nicht abgeschickt. SpÈter schrieb er auf die RÝckseite: „Reines Herzens zu sein Das ist das HÚchste, Was Weise ersannen, Weisere taten.“ Was hat diese Liebe ihm doch Unverlierbares gegeben! Diotima brachte ihm das GlÝck, das er bisher nicht gekannt hatte. Als ein Sonnenkind erschien sie ihm. Unter ihrer bestÈndigen Teilnahme trat nun endlich der Hyperion an die ³ffentlichkeit. Sie hat mit ihm den Gang des Romans oftmals erÚrtert. Unter ihrer Einwirkung vollendete sich die neue Form seiner Lyrik, und die schÚnsten seiner Gedichte aus dieser Zeit sind aus der Liebe zu ihr hervorgegangen. Àber die Diotima des Romans und Hyperions Liebe zu ihr schreibt HÚlderlin an sie: „Alles was von ihr und uns vom Leben unseres Lebens hie und da gesagt ist, nimm es wie einen Dank, der Úfters um so wahrer ist, je ungeschickter er sich ausdrÝckt.“ So mag man es in dem Roman lesen, wie sie ihn mit dem Leben versÚhnte, wie sie ihm zum Maßstab jedes Urteils Ýber die Werte des Lebens wurde – und wie sie durch ihn litt. „Heilig Wesen! GestÚrt hab’ ich die goldene GÚtterruhe Dir oft, Und der geheimeren, tiefern Schmerzen des Lebens Hast Du manche gelernt von mir.“ Das schÚnste Denkmal seiner Liebe ist die Elegie „Menons Klage um Diotima.“ „Aber wir, zufrieden gesellt, wie die liebenden SchwÈne, Wenn sie ruhen am See, oder, auf Wellen gewiegt, Niedersehn in die Wasser, wo silberne Wolken sich spiegeln, Und Ètherisches Blau unter den Schiffenden wallt, So auf Erden wandelten wir. Und drohte der Nord auch, Er, der Liebenden Feind, klagenbereitend, und fiel Von den •sten das Laub, und flog im Winde der Regen, Ruhig lÈchelten wir, fÝhlten den eigenen Gott Unter trautem GesprÈch, in Einem Seelengesange, Ganz in Frieden mit uns kindlich und freudig allein.“

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Beinahe drei Jahre wÈhrte dieses LebensverhÈltnis. Langsam bereitete sich wÈhrend dieser Zeit der Konflikt vor, in dem es endete. Schon nach den ersten Monaten in Frankfurt litt das SelbstgefÝhl des Dichters unter seiner Situation inmitten dieser Frankfurter Plutokratie. Dann im Juli 1797 erpreßt ihm diese Lage den Ausruf: „O! gib mir meine Jugend wieder, ich bin zerrissen von Liebe und Haß.“ Und einige Zeit danach spricht er zur Schwester mit furchtbarer Bitterkeit Ýber die Menschen, mit denen er leben mußte. „Hier siehst Du, wenig Èchte Menschen ausgenommen, lauter ungeheure Karikaturen. Bei den meisten wirkt ihr Reichtum wie bei den Bauern neuer Wein; denn gerad so tÈppisch, schwindlich grob und ÝbermÝtig sind sie. Aber das ist auch gewissermaßen gut; man lernt schweigen unter solchen Menschen, und das ist nicht wenig.“ „Die harten Urteile der Menschen“ – schreibt er ein anderes Mal – „werden mich so lange herumtreiben bis ich am Ende wenigstens aus Deutschland fort bin.“ Am tiefsten trafen die KrÈnkungen, die er in dem Hause selbst durch den Bankier Gontard erfahren mußte. In HÚlderlins Gegenwart warf er die •ußerung hin, „daß die Hofmeister auch Bediente wÈren, daß sie nichts besonders fÝr sich fordern kÚnnten, weil man sie fÝr das bezahlte, was sie tÈten“. Die glatte Maske des gemessenen, hÚflichen Geldmannes verbirgt eine innere BrutalitÈt, die Entsetzen erregt. Man begreift, was das stolze empfindliche und doch so wehrlose GemÝt HÚlderlins in der NÈhe dieses Mannes erduldet hat. So verließ er denn das Haus Gontard und Frankfurt im Herbst 1798. Es geschah zweifellos aus eigenem Entschluß; er berichtet der Mutter, wie er Gontard seine GrÝnde auseinandergesetzt habe und wie sie hÚflich voneinander schieden; wenn er hier wohl nicht die ganze Wahrheit aussprach, wie er denn zur Mutter stets schamhaft und rÝcksichtsvoll Ýber seine Erlebnisse sich Èußerte, so ist doch der Kern dieses Berichtes unwidersprechlich durch das Gedicht „Der Abschied“ erwiesen. Es war eine neue schwere Erfahrung, die ihn vom Leben und von den Menschen trennte. Mit einer furchtbaren Ausschließlichkeit blieb fortan sein Blick auf das Heilige gerichtet, das ihm in Diotima erschienen war. Kein mittleres LebensverhÈltnis hatte fÝr ihn noch einen Wert. Die gefÈhrliche Sonderung seines wirklichen Lebens vom idealischen Traum vollzog sich in ihm. Bitterer Haß gegen das Gemeine fraß an seiner Seele. „Wenn ich sterbe mit Schmach, wenn an den Frechen nicht Meine Seele sich rÈcht, wenn ich hinunter bin, Von des Genius Feinden Àberwunden, ins feige Grab.“ In sein Bild von der gÚttlichen Welt gruben sich nun noch tiefer die ZÝge von Leid, von Trennung zwischen dem, was lebt, von der brutalen Macht des Niedrigen und Gemeinen. Seine Liebe zur leidenlosen Natur empfing einen kranken Zug. Hier ist nun eines anderen LebensverhÈltnisses noch zu gedenken, das durch seine Frankfurter Jahre hindurchgeht und stark auf seine Entwickelung ein-

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wirkte. Goethe spricht von den dÈmonischen KrÈften, die in unserem Leben wirken. Eine seltsame FÝgung fÝhrte, eben da HÚlderlins Schicksal alle seine Ideen Ýber Leben und Welt in GÈrung und Bewegung brachte, ihm Hegel, den Jugendgenossen wieder zu. Die beiden Freunde hatten in Briefwechsel miteinander gestanden, und wie Hegel an dem alten Genossen hing, wie nahe er sich jetzt in seinem Gedankenkreis mit diesem berÝhrte, dafÝr besitzen wir ein Dokument ganz eigener Art in dem Gedicht Eleusis, das Hegel im Sommer 1796 an den Freund richtete. Es ist Abend, „um mich, in mir wohnt Ruhe. Dein Bild, Geliebter, tritt vor mich, Und der entfloh’nen Tage Lust. Doch bald weicht sie Des Wiedersehens sÝßern Hoffnungen. Schon malt sich mir der langersehnten, feurigen Umarmung Scene; dann der Fragen, des geheimen, Des wechselseitigen AusspÈhens Scene, Was hier an Haltung, Ausdruck, Sinnesart am Freund Sich seit der Zeit geÈndert; – Der Gewißheit Wonne, Des alten Bundes Treue, fester, reifer noch zu finden, Des Bundes, den kein Eid besiegelte: Der freien Wahrheit nur zu leben Frieden mit der Satzung, Die Meinung und Empfindung regelt, nie, nie einzugehn!“ Im Beginn des folgenden Jahres erfÝllte sich der Wunsch der beiden Freunde. LÈngst hatte HÚlderlin teilnehmend fÝr Hegel nach einer angemessenen Lage ausgeschaut. Als er dann in der Frankfurter Gesellschaft heimisch geworden war, hatte er ihm im Herbst des Jahres 1796 eine Hauslehrerstelle anbieten kÚnnen. „Wenn Du hierher kÚmmst, wohnt nicht weit von Dir ein Mensch, der unter ziemlich bunten Verwandlungen seiner Lage und seines Charakters dennoch mit Herz und GedÈchtnis und Geist Dir treu geblieben ist und dem nichts fehlt als Du.“ Hegel nahm den Vorschlag an. „Wie viel Anteil an meiner geschwinden Entschließung die Sehnsucht nach Dir habe – davon nichts“; „aus jeder Zeile Deines Briefes spricht Deine unwandelbare Freundschaft zu mir“. WÈhrend des ganzen Aufenthaltes in Frankfurt sind die Jugendfreunde vereinigt gewesen. Hegels in sich gefaßter Verstand tat gerade jetzt HÚlderlin wohl. Noch aus dieser Frankfurter Zeit stammt ein Brief, der zeigt, was ihm eben damals der Freund sein mußte, der ihn in die Region der Ideen zurÝckfÝhrte. „Man hat oft bei aller Kraft der Jugend kaum fÝr das Not-

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wendige Gedanken und Geduld genug Ýbrig, so stÚrend und schwÈchend ist manchmal das Leben, und keine Zeit ist schlimmer in jeder RÝcksicht, als der Àbergang vom JÝngling zum Mann. Die anderen Menschen und die eigene Natur machen einem, glaub’ ich, in keiner anderen Lebensperiode so viel zu schaffen, und diese Zeit ist eigentlich die Zeit des Schweißes und des Zornes und der Schlaflosigkeit und der Bangigkeit und der Gewitter, und die bitterste im Leben. Aber die Menschen gÈren, wie alles andere, was reifen soll, und die Philosophie hat nur dafÝr zu sorgen, daß die GÈrung so unschÈdlich und so leidlich und so kurz, wie mÚglich ist, vorbeigeht.“ Es war die Zeit in welcher, in theologischen Verkleidungen, Hegels neue Philosophie sich entwickelte. Er trennte sich nun endgÝltig von der Denkweise Kants, Fichtes und Schillers. Deren Grundgedanke war die schÚpferische Kraft der PersÚnlichkeit gewesen: sie bringt in unserem anschauenden und denkenden Verhalten die Welt hervor, die wir als von außen gegeben hinnehmen, und in der SphÈre unseres Willens erzeugt sie das Ideal, das die PersÚnlichkeit in der so gegebenen Welt verwirklichen soll. Nun wurde diese in das Unendliche strebende Kraft seit Schellings Schrift vom Ich zum Absoluten erhoben. Die Entzweiung, die in diesem All-Einen vor sich geht, samt dem schmerzlichen Bewußtsein von ihr, und die VersÚhnung, welche die GegensÈtze aufhebt und doch bewahrt – das war Hegels Formel, in der ein neues pantheistisches LebensgefÝhl zum Ausdruck gelangte. Inmitten der GegensÈtze, in denen das GÚttliche allein seine RealitÈt haben kann, besitzt und behauptet es seine Einheit. Der Tiefsinn des Christentums liegt in dem Bewußtsein dieses GÚttlichen, des Leides der Trennung in ihm und der Seligkeit der VersÚhnung. Das ist nun auch das GrundgefÝhl Hegels, das immerfort schlagende Herz in seiner Philosophie. Von Frankfurt begab sich HÚlderlin in das nahe, schÚn gelegene Homburg. Er hatte da eine bescheidene Wohnung gefunden am Eingang eines schÚnen Wiesentals. „Da geh’ ich dann hinaus, wenn ich von meiner Arbeit mÝde bin, steige auf den HÝgel und seze mich in die Sonne, und sehe Ýber Frankfurt in die weiten Fernen hinaus.“ Mit welchen Erinnerungen und Gedanken! Ihn hielt der Wille aufrecht, noch auszusprechen, was in ihm lebte. Àber den Hyperion hinweg hatte er sich dem Plan seines Empedokles zugewandt. Er hatte in Frankfurt so viel zurÝckgelegt, daß er ein Jahr davon leben zu kÚnnen hoffte. Und mit unermÝdlicher zarter GÝte nahm sich von dieser Zeit ab ein Freund seiner an, der bis in die Tage der geistigen Umnachtung hinein ihm mit seiner Geltung in der Welt wie mit seinen pekuniÈren Mitteln hilfreich war. Sinclair, ein philosophischer Schriftsteller und Dichter, dabei hochbefÈhigt zu GeschÈften, in Verbindung mit den bedeutendsten Schriftstellern, hatte alle wichtigen Angelegenheiten des Homburger Landgrafen in seinen HÈn-

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den. Er war HÚlderlin schon in Jena nÈher getreten. Er wußte nun auch den Anteil des dichterisch begabten Landgrafen fÝr HÚlderlin zu wecken. Zu dieser Zeit begann auch HÚlderlin in weiteren Kreisen bekannt zu werden. A. W. Schlegel hatte sich in der Allgemeinen Literaturzeitung Ýber einige seiner Gedichte hÚchst vorteilhaft ausgesprochen. Dennoch wiederholten sich nun die schmerzlichen Erfahrungen von Jena. Der Plan eines Journals erwies sich als unausfÝhrbar. Das Trauerspiel, das ihm doch als das eigentliche Werk seines Lebens erschien, gelangte nicht zum Abschluß. Die vollendeten Gedichte, die eben damals entstanden, blieben im Pult oder verzettelten sich an untergeordneten Stellen. Die knappen Geldmittel gingen zu Ende. So kehrte er zur Mutter zurÝck, ging dann von da nach Stuttgart, konnte auch dort seine Existenz nicht behaupten, versuchte dann noch einmal das Hauslehrerleben in Hauptwyl in der Schweiz und wurde nach wenigen Monaten hÚflich, aber im Grunde doch sehr rÝcksichtslos entlassen. Zu Hause dachte er daran, es noch einmal in Jena zu versuchen; er wollte dort Ýber die griechische Literatur Vorlesungen halten. Eine Sehnsucht nach Schiller scheint ihn ergriffen zu haben. Er wandte sich an ihn und erhielt keine Antwort; dies VersÈumnis erklÈrt sich leicht aus der damaligen Lage Schillers. Zudem waren HÚlderlins •ußerungen Ýber seine Poetik an Schiller so seltsam unbestimmt, daß sie Scheu erwecken mußten, eine Verantwortung fÝr das Schicksal des jungen Mannes zu Ýbernehmen. So begann um die Weihnachtszeit 1801 seine letzte Wanderung zum Dienst unter Fremden, aus der er in geistiger Umnachtung zurÝckgekehrt ist. So ist HÚlderlin fÝr sein Lebenswerk nur ein kurzes Jahrzehnt beschieden gewesen, von dem ersten Entwurf des Hyperion in TÝbingen bis zum Beginn der winterlichen Reise nach dem SÝden Frankreichs. Seine Laufbahn ging abwÈrts in das Dunkel des Wahnsinns, eben in den Lebensjahren, in denen die großen glÝcklichen Dichter sich zur HÚhe des Schaffens erheben. Dies muß man erwÈgen, wenn man seine poetische Kraft richtig abschÈtzen will. Sein Lebenswerk umfaßt den Roman Hyperion, die dramatischen Fragmente Empedokles und die Gedichte.

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Ihr wandelt droben im Licht Auf weichem Boden, selige Genien! GlÈnzende GÚtterlÝfte RÝhren euch leicht,

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Wie die Finger der KÝnstlerin Heilige Saiten. Schicksallos, wie der schlafende SÈugling atmen die Himmlischen; Keusch bewahrt In bescheidener Knospe, BlÝhet ewig Ihnen der Geist, Und die seligen Augen Blicken in stiller Ewiger Klarheit. Doch uns ist gegeben, Auf keiner StÈtte zu ruhen, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahrlang ins Ungewisse hinab. Das ist das Schicksalslied, das schon dem Knaben Hyperion entgegenklingt aus der dunklen Tiefe des Lebens. Was es, in den Mittelpunkt der Dichtung gestellt, ausspricht, war das letzte Erlebnis, das dem Werk seine Bedeutung und seine Macht gibt. Der Hyperion gehÚrt zu den Bildungsromanen, die unter dem Einfluß Rousseaus in Deutschland aus der Richtung unseres damaligen Geistes auf innere Kultur hervorgegangen sind. Unter ihnen haben nach Goethe und Jean Paul der Sternbald Tiecks, der Ofterdingen von Novalis und HÚlderlins Hyperion eine dauernde literarische Geltung behauptet. Von dem Wilhelm Meister und dem Hesperus ab stellen sie alle den JÝngling jener Tage dar; wie er in glÝcklicher DÈmmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten RealitÈten der Welt in Kampf gerÈt und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird. Die Aufgabe Goethes war die Geschichte eines sich zur TÈtigkeit bildenden Menschen, das Thema beider Romantiker war der Dichter; HÚl-

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derlins Held war die heroische Natur, welche ins Ganze zu wirken strebt und sich schließlich doch in ihr eigenes Denken und Dichten zurÝckgeworfen findet. So sprechen diese Bildungsromane den Individualismus einer Kultur aus, die auf die InteressensphÈre des Privatlebens eingeschrÈnkt ist. Das Machtwirken des Staates in Beamtentum und MilitÈrwesen stand in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten dem jungen Geschlecht der Schriftsteller als eine fremde Gewalt gegenÝber. Man entzÝckte und berauschte sich an den Entdeckungen der Dichter in der Welt des Individuums und seiner Selbstbildung. Wer heute die Flegeljahre oder den Titan Jean Pauls liest, in denen die ganze Summe des damaligen deutschen Bildungsromans zusammengefaßt ist, dem kommt aus diesen alten BlÈttern der Hauch einer vergangenen Welt entgegen, VerklÈrung des Daseins im Morgenlichte des Lebens, eine unendliche Verschwendung des GefÝhls an eine eingeschrÈnkte Existenz, eine dunkle, trÈumerische, noch verhÝllte Macht der Ideale in jungen deutschen Seelen, die damals so bereit waren, den Kampf mit dieser veralteten Welt in all ihren Lebensformen zu wagen, und so unfÈhig ihn zu bestehen. Immer hatte es im Zusammenhang mit der Biographie Romane gegeben, die ihren Helden von der Kinderstube und dem Schulweg ab begleiteten. Solcher Einblick in das Innere eines Lebensganges mußte dahin fÝhren, die bedeutsamen Momente desselben nach ihrer typischen Form herauszuheben. Das vollkommenste Beispiel einer solchen Darstellung ist der Tom Jones von Fielding. Aber von allen Èlteren biographischen Dichtungen unterscheidet sich doch der Bildungsroman dadurch, daß er bewußt und kunstvoll das allgemein Menschliche an einem Lebensverlaufe darstellt. Er steht Ýberall in Zusammenhang mit der neuen Psychologie der Entwickelung, wie Leibniz sie begrÝndete, mit dem Gedanken einer naturgemÈßen dem inneren Gang der Seele nachgehenden Erziehung, wie er von Rousseaus Emile ausging und ganz Deutschland fortriß, und mit dem Ideal der HumanitÈt, durch das Lessing und Herder ihr Zeitalter begeistert haben. Eine gesetzmÈßige Entwickelung wird im Leben des Individuums angeschaut, jede ihrer Stufen hat einen Eigenwert und ist zugleich Grundlage einer hÚheren Stufe. Die Dissonanzen und Konflikte des Lebens erscheinen als die notwendigen Durchgangspunkte des Individuums auf seiner Bahn zur Reife und zur Harmonie. Und „hÚchstes GlÝck der Erdenkinder“ ist die „PersÚnlichkeit“, als einheitliche und feste Form des menschlichen Daseins. Nie ist dieser Optimismus der persÚnlichen Entwickelung, der auch Lessings harten Lebensweg erleuchtet hat, heiterer und lebenssicherer ausgesprochen worden als in Goethes Wilhelm Meister: ein unvergÈnglicher Glanz von Lebensfreude liegt auf diesem Romane und denen der Romantiker. Hyperion erwuchs auf demselben Boden. Das erste Fragment hob aus-

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drÝcklich hervor, daß die Bahn, die der Mensch vom Zustand der Einfalt zu dem der vollendeten Bildung durchlÈuft, in jedem Individuum die wesentlich gleiche sei. Aber fÝr HÚlderlin ging aus seinen Erfahrungen ein neuer Zug des Lebens auf, der dem bisherigen Bildungsroman ganz heterogen war. Bald nach der VerÚffentlichung des Fragments genÝgte dasselbe ihm nicht mehr. Er fÝhlte, daß es im Reich des Romans noch unbekanntes Land zu entdecken gÈlte. Seine Erlebnisse taten ihm neue MÚglichkeiten auf, den Sinn des Lebens zu erfassen und auszusprechen. Hyperion ist nicht „ein Seitentrieb der romantischen Poesie“, wie Haym ihn auffaßte; wenn ihm die Heiterkeit des Ofterdingen abgeht, so ist das nicht als eine SchwÈche dieser Dichtung aufzufassen. Eben darin, daß der Dichter den finsteren Zug, der dem Antlitz des Lebens so tief eingegraben ist, zuerst in diesem Roman sichtbar machte, mit der Macht, die nur das Erlebnis gibt, liegt die eigene Bedeutung des Werkes. Deutung des Lebens aus diesem selber, Fortgang zum Bewußtsein der in ihm enthaltenen Werte nach ihrer Kraft und ihrer Begrenzung, wie dies auch Byron, Leopardi, Schopenhauer und Nietzsche, in wesentlichen ZÝgen verwandt mit HÚlderlin, versucht haben, – das entstand nun in diesem einsamen Menschen, der fernab vom lebhaften literarischen Treiben Tag fÝr Tag die Erscheinungen in sich und um sich betrachtet – so einsam als wÈre er von menschlichem Verkehr durch WÝsten oder Fluten getrennt, und am einsamsten, wo er einmal sucht sich den Seinen oder den Freunden mitzuteilen. Und in der Darstellung dieser Lebensdeutung erwuchs ihm eine neue Form des philosophischen Romans; sie hat dann in dem Zarathustra Nietzsches ihre hÚchste Wirkung gewonnen. Voltaire und Diderot sprechen lÈchelnd von der Zweideutigkeit des Lebens, das sie als SÚhne der Pariser Kultur mit freudigen Sinnen und souverÈnem Verstande behandeln. Swift legt mit grausamem Wirklichkeitssinn, ganz illusionslos, das BÝndel von Trieben und Leidenschaften auseinander, das er im Menschen findet, wie ein pathologischer Anatom einen mißgestalteten und entarteten KÚrper seziert. An solche VorgÈnger hat die moderne Vertiefung in die bitteren und schlimmen RealitÈten des Lebens, zumal in Schopenhauer, vielfach im einzelnen angeknÝpft: aber die eigene Energie, mit der seit Rousseau das Leiden des Daseins empfunden worden ist, hatte doch in neuen KulturzustÈnden ihre Bedingungen. Der Widerstreit zwischen Natur und Konvention steigerte sich damals im Verlauf der gesellschaftlichen Entwickelung. Eine grenzenlose Energie des Willens zum Ideal und zur Freude, ungeheure Forderungen an die Ordnungen der Gesellschaft, ja an die der Natur selber, Sehnsucht in unendliche Fernen und nach unerhÚrten GlÝckszustÈnden breiteten sich in der europÈischen Gesellschaft aus. Unendlichkeit ist ein Wort, das fÝr das GemÝt, fÝr seine ZustÈnde, seine GegenstÈnde als Ausdruck der

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„Alles geben die GÚtter die unendlichen Ihren Lieblingen ganz, Alle Freuden die unendlichen Alle Schmerzen die unendlichen ganz.“ Verwandtschaft der Seelen, die keine Konvention mehr hemmen soll, Streben nach Entfaltung aller KrÈfte, das sich nicht mehr niederhalten lassen will, das Bewußtsein der persÚnlichen WÝrde gerieten zunÈchst in Konflikt mit den sozialen Ordnungen und schließlich mit der Natur der Dinge selbst. Nicht minder stark wirkte in derselben Richtung der RÝckschlag gegen die franzÚsische Revolution, der von der Hinrichtung des KÚnigs ab eintrat. Das Streben, eine neue freiere Ordnung der Gesellschaft herbeizufÝhren, das die franzÚsische Revolution in allen KulturlÈndern hervorgerufen hatte und das in den Besten der damaligen Jugend lebendig war, fand sich plÚtzlich Ýberall durch die Reaktion gehemmt. Besonders drÝckend war es, daß diejenigen, welche an den Ideen der Revolution festhielten, darÝber in Konflikt mit ihrem nationalen Bewußtsein gerieten, da durch das Vordringen der franzÚsischen Macht und der revolutionÈren Armee die SelbstÈndigkeit der Nationen bedroht wurde. Diese VorgÈnge machten sich schon geltend zu der Zeit als HÚlderlin seinem Hyperion die letzte Fassung gab. Und seitdem riefen die MilitÈrherrschaft Napoleons, die RÝckwirkung der franzÚsischen ZustÈnde auf die einzelnen Staaten und die Verteidigung der Reaktion in der Literatur einen immer stÈrkeren Druck hervor, der jedes Wirken fÝr das Ganze niederhielt. Eine allgemeine Hoffnungslosigkeit verbreitete sich. Je grenzenloser das Streben war, in welchem die Jugend in Genuß und Wirken sich auszubreiten strebte, desto tiefer mußte solches Elend empfunden werden. Dies waren die historischen Bedingungen, unter denen von HÚlderlin bis auf Leopardi geniale Naturen auftraten, die mit einer beinahe pathologischen Reizbarkeit fÝr die Harmonien wie fÝr die Dissonanzen ausgestattet waren, welche die Welt in unserer Seele hervorruft. Lord Byron lebte an den Grenzen von UnbÈndigkeit und Wahnsinn; Leopardi war durch kÚrperliche Mißgestalt mit der Natur selbst in Widerstreit; Schopenhauer war erblich belastet; und indem in HÚlderlin die seelische Reizbarkeit mit der Ungunst seiner VerhÈltnisse zusammenstieß, ist er demselben Schicksal verfallen wie nach ihm Nietzsche. So hatte die Natur selber diese Schriftsteller und Dichter dazu bestimmt, tiefer die dunklen Schatten des Lebens zu fÝhlen und gewaltiger sie darzustellen, als das je vorher geschah. Nicht daß sie, wie ein vulgÈrer Optimismus an-

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nimmt, Àbel, die nicht da waren, oder Leiden, die sie nicht fÝhlten, ausgesprochen hÈtten: sie verteilten nur Licht und Schatten anders, als lebensfreudige Naturen tun, und jeder von ihnen hat sie in einer ihm eigenen Weise verteilt. In diesen umfassenden geschichtlichen Beziehungen steht HÚlderlins Hyperion. Eine Bildungsgeschichte, in deren Verlauf doch die Kraft des Helden vielmehr zerstÚrt zu werden scheint, die VerkÝndigung eines kÝnstlerischen Pantheismus, die doch mit der Flucht vor dem Leben und seinem Leiden endet, ein Roman, dessen Sprache dahinrollt wie ein lyrisches Gedicht. So Ýberschritt dieses Werk jede bisherige Form der pantheistischen Metaphysik und jede Regel unserer klassischen Dichter. So einsam wie sein Leben steht sein Werk da. Ein Versuch, vorwÈrts zu gehen zu neuen MÚglichkeiten, macht Ýberall das Große in HÚlderlin aus, das worin er die Moderne vorbereitet. Langsam, in immer neuen Umarbeitungen, ist der Roman entstanden. Nach den BruchstÝcken von Waltershausen und Jena taucht noch ein merkwÝrdiges aus Frankfurt auf, das die Einwirkung des William Lovell von Tieck auf die Ausbildung der Fabel zeigt. Ein Brief aus dem Sommer 1798, in dem der Dichter wichtige Worte seines Alabanda und Hyperion zitiert, die fast unverÈndert auch im Schlußteil des Romans sich finden, lÈßt vermuten, daß er um diese Zeit in der Ausarbeitung schon weit vorgeschritten war. Endlich ist der Hyperion 1797 und 1799 in zwei BÈnden erschienen. Die Szene ist das moderne Griechenland. Es mußte HÚlderlin anziehen, so die elegische Erinnerung an die vergangene griechische GrÚße mischen zu kÚnnen mit dem heroischen Willen, solche GrÚße zu erneuern. Die Begebenheit selbst lag kaum ein Vierteljahrhundert zurÝck. Der Dichter durfte hoffen, ihr Held werde stÈrkeres Interesse erregen als „die wort- und abenteuerreichen Ritter“, die in jenen Tagen noch das deutsche Lesepublikum ergÚtzt haben. Die VerschwÚrung, welche den griechischen Aufstand vorbereitete und der dÝstere von Feigheit und Gewalttat erfÝllte Verlauf dieser Revolution bildeten den rechten Hintergrund fÝr die TragÚdie der neuen Menschheitsideale, wie sie HÚlderlin und seine Freunde eben damals am Verlauf der franzÚsischen Revolution erlebten. In dem inneren Gegensatz der unter dem tÝrkischen Druck herabgekommenen Masse des griechischen Volkes zu dem heroischen Idealismus von Alabanda, Hyperion und Diotima spiegelt sich das ganze politische Leiden der Zeit. Und in der Katastrophe, welche diese edlen Naturen zerstÚrt, empfand HÚlderlin ahnungsvoll das Schicksal seines eigenen Strebens. An dem Stoff dieser kriegerisch-politischen Begebenheiten bringt HÚlderlin die innere Entwickelung Hyperions zur Darstellung. Indem er in die Jugendjahre seines Helden zurÝckblicken lÈßt, entsteht der Zusammenhang einer in-

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neren Geschichte; in ihr treten nacheinander HÚlderlins Erlebnisse ein; seine TrÈume von politischem Handeln formten sich hier zur Wirklichkeit. Hyperion ist HÚlderlin selbst. Die Personen, zu denen Hyperion in Beziehung tritt, empfangen ihr inneres Leben aus den Erinnerungen des Dichters. Wir folgen noch einmal dem Lauf seines Lebens, wie der Sinnende es im Spiegel der Dichtung erblickt. Hyperion sagt einmal, daß im Leben die Perioden der Ausbreitung in Lebensfreude und Wirken und solche des RÝckgangs in sich selbst einander ablÚsen. In diesem Rhythmus des Lebens fließt der Roman. Kinderjahre! Immer hat HÚlderlin mit Heimweh in sie zurÝckgeblickt, in ihren Frieden und ihre Freiheit: da „der Zwang des Gesetzes und des Schicksals ihn noch nicht betasteten“. Ein großer Lehrer leitet Hyperion an, fÝr die Verwirklichung einer hÚheren Menschheit zu leben; die Erinnerungen an Schiller und Fichte klingen hier an. „Groß und rein und unbezwinglich sei der Geist des Menschen in seinen Forderungen, er beuge nie sich der Naturgewalt!“ Freundschaft naht ihm in dem Helden Alabanda, und alle Erinnerungen an die vergangene griechische GrÚße scheinen in diesem Charakter Gegenwart geworden. Unter den Anregungen fÝr die Gestalt des Alabanda ist die literarisch bedeutsamste der Marquis Posa und die menschlich wichtigste der Philosoph Fichte. Wie Posa umstellt Alabanda den Freund, treibt ihn in das handelnde Leben hinein, und nach dem Mißlingen opfert sich der starke Held fÝr die weiche Seele, die sich ihm anvertraute. Und wie Fichte drÈngt Alabanda zur Wirkung in die Welt, sein Glaubensbekenntnis ist dem Fichtes verwandt. „Ich fÝhl’ in mir ein Leben, das kein Gott geschaffen, und kein Sterblicher gezeugt. Ich glaube, daß wir durch uns selber sind.“ Eine Figur aus dem William Lovell von Tieck, der Eduard Burton, hat dann auf die lebendigere, farbigere Darstellung des Alabanda Einfluß geÝbt. Aus der grenzenlosen Hingabe des Hyperion an Alabanda entspringen die schmerzlichsten MißverstÈndnisse und schließlich die Trennung; dies Motiv haben dann die Flegeljahre Jean Pauls aufgenommen. Eine frÝhe Fassung erzÈhlt diese ersten Schicksale des Hyperion noch schlichter in einem von GefÝhl gesÈttigten ErzÈhlungsstil, und in den sanften heiteren kindhaften Umrissen der Gestalten an die ersten Kapitel des Ofterdingen gemahnend. Zum erstenmal hat Hyperion das Trennende, das jeder Lebensverbindung beigemischt ist, erfahren. Eine „lange kranke Trauer“ umfÈngt ihn. Die heilende Kraft, die in dem Leben und der Jugend enthalten ist, macht sich doch geltend. „SchÚner ist nichts, als wenn es so nach langem Tode wieder im Menschen dÈmmert, und der Schmerz, wie ein Bruder, der fernher dÈmmernden Freude entgegengeht.“ Der FrÝhling naht. Wie vom Krankenbette erhebt sich Hyperion leise und langsam, seine Brust zittert von geheimen Hoffnungen, im Schlaf umfangen ihn schÚnere TrÈume. Da tritt ihm an einem FrÝhlingstage

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die Liebe entgegen und mit ihr geht ihm alle SchÚnheit des Lebens auf. Wie oft ist von den Dichtern jener Tage dargestellt worden, wie diese Erfahrung erst reif macht zu tÈtigem Wirken! Als HÚlderlin diese Kapitel seines ersten Bandes schrieb, erfÝllte das Erlebnis der Frankfurter Zeit seine Seele, und was er vor den Freunden schweigsam verschloß, durfte in dem Roman sich aussprechen. Diotima erhebt den Hyperion zum Bewußtsein seiner großen Bestimmung. Indem sie an ihn glaubt macht sie ihn stark. Ihr Wesen wird ihm zum festen Maßstab fÝr sein Denken und Handeln; ihre Gegenwart bewegt den Verschlossenen, sein ganzes Dasein in einem unendlichen Gesang zu offenbaren. Das Unendliche ist ihm in ihr erschienen mitten in der Endlichkeit, das GÚttliche in der Zeit: „Das SchÚnste ist auch das Heiligste.“ Àber die Szenen dieser Liebesgeschichte ist das Licht eines sÝdlichen Mittags ausgegossen. Momente, in denen das Leben selbst stille zu stehen scheint. Wird nun die Unruhe in dieser JÝnglingsseele gestillt sein? Das unendliche Streben kann nach HÚlderlin durch keinen endlichen Gegenstand und keine endliche Lage befriedigt werden. Die Sehnsucht nach einer hÚheren Menschheit findet in keinem Individuum GenÝge. Das ist das neue melancholische GefÝhl, das auf dem Boden einer anderen Denkweise Chateaubriand, die Stal, Constant, Byron aussprechen. „Weißt Du“ – sagt Diotima – „um was Du trauerst? Es ist nicht erst seit Jahren hingeschieden, man kann so genau nicht sagen, wann es wegging, aber es war, es ist, in Dir ist’s. Es ist eine bessere Zeit, die suchst Du, eine schÚnere Welt.“ Der tiefste Konflikt, der aus dem VerhÈltnis idealen Wirkens zur Welt allenthalben in Deutschland sich ergab, tritt nun an Hyperion heran. Der deutsche Idealismus jener Tage war in zwei Lager geteilt. Unsere aristokratische Bildung war in Widerstreit mit der elenden politischen Lage. Schiller wollte diesen Widerstreit lÚsen durch die Verbreitung der geistigen Kultur in der Nation und er sah hierin die Bedingung fÝr den Fortgang zur politischen Freiheit. Fichte und die JÝnglinge in Jena und TÝbingen drÈngten zur Umgestaltung der ZustÈnde. Auf diesem Gegensatz der Tendenzen beruht die Krisis des Romans. Hyperion, eine weiche, zarte und doch impulsive Natur, mit der Anlage zugleich zum Dichter und zum Helden, findet sich zwischen diesen MÚglichkeiten. Diotimas tiefer Blick sieht, daß er bestimmt ist, der Erzieher seines Volkes zu werden. „Aus der Wurzel der Menschheit sprosse die neue Welt!“ Weil er „das Gleichgewicht der schÚnen Menschheit verloren hatte“, weil er „der leidende, der gÈrende Mensch gewesen“, wird er fÝr die HerbeifÝhrung der hÚheren, stÈrkeren, in sich einigen Menschheit befÈhigt sein; denn „eine neue Gottheit, eine neue Zukunft“ muß kommen. Da gelangt der Ruf an ihn, an dem Befreiungswerk mitzuwirken; Diotima kann den Geliebten nicht zurÝckhalten, er wird fortgerissen in die PlÈne des griechischen Aufruhrs und

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verzehrt sich nun in dem Widerstreit zwischen dem idealen Ziel und den rohen undisziplinierten KrÈften, zwischen der Anforderung an den Helden, der skrupellos mit dem gegebenen Material wirken soll, und seiner vornehmen Innerlichkeit. So naht die Katastrophe. Hyperion muß die Sache der Griechen aufgeben. Ihm bleibt nur das aristokratische Bewußtsein, daß der Mensch, der machtvoll in das Leben wirkt, eben darin des hÚchsten GlÝckes genießt. In dem Helden des Fichteschen Idealismus entsteht die Erfahrung Nietzsches, daß KraftbetÈtigung als solche letzte und hÚchste Freude sei. Und mitten im Kampf der Starken und Herrlichen mit der gemeinen Welt macht nun ein letzter Zug im menschlichen Schicksal sich geltend. Auch er ist HÚlderlin am eigenen Leben aufgegangen. Wenn in der Wirklichkeit die großen GegensÈtze aufeinander stoßen, wenn die Zweiseitigkeit in jeder Lage, die einen Entschluß fordert, verschiedene MÚglichkeiten gewahren lÈßt und an jeder derselben eine bedenkliche Seite: dann tritt auch in die Verbindungen der edelsten Menschen MißverstÈndnis und Trennung. Hyperion, Diotima, Alabanda leiden nun alle aneinander. Sie schweigen gegeneinander und fallen so einzeln hilflos dem Schicksal anheim. In diese seelischen Notwendigkeiten greifen die ZufÈlle des Schicksals ein, die immer zur Hand sind wo LebensverhÈltnisse sich verwirren, und vollenden die Katastrophe. Sie bringt die innere ZerstÚrung Hyperions und den Tod der Geliebten und des Freundes. Der Gang der Handlung ist ein MeisterstÝck. Er drÈngt dem Leser die metaphysische Einsicht von der furchtbaren Zweiseitigkeit, die dem Leben selbst anhaftet, ins Bewußtsein. Wir haben die SchÚnheit des Lebens nur in unseren VerhÈltnissen zu den Menschen, und in jedem derselben ist doch insgeheim ein Trennendes, das nicht berÝhrt werden darf. Nur da wo unser sich ausbreitendes GefÝhl keinen Widerstand findet, in der Hingabe an die Natur wird der Mensch den Schmerz der Liebe los. Der Roman schließt mit diesem letzten, tiefsten Erlebnis HÚlderlins. Diese Hingabe hat jetzt hinter sich das vergebliche Streben, ein GlÝck unter den Menschen zu finden. Die Einheit mit der Natur hat hinter sich die Trennung von den Menschen. Und wie Hyperion so sich aufgibt, um eins mit der Natur zu sein, erlebt er mit einer gefÈhrlichen Energie die Gewalt ihrer großen KrÈfte. Sie leben in seiner Phantasie wie in dem Mythos der Griechen. Die deutschen entwickelungsgeschichtlichen Romane dieser Zeit fÝhrten ihren Helden meist nur bis dahin, wo er wirken und in die Welt eingreifen soll; auch der Wilhelm Meister endete zunÈchst so. Der Schluß des Hyperion erinnert an den des grÝnen Heinrich von Keller. Aber Keller hatte das BedÝrfnis den Abschluß klar zu gestalten; HÚlderlin ÝberlÈßt dem Leser, seine dunklen Worte zu deuten. Es liegt nahe, Hyperions einsame tatlose und hoffnungslose Versenkung in die Natur als das Ende seines Wollens und Wirkens zu

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denken, als die Verneinung des Weltlebens in einem Eremitendasein eigener Art. Doch scheinen mir einige Stellen fÝr eine andere Auffassung zu sprechen. Diotima sagt seherisch im Sterben voraus, wie Hyperion aus der ZerstÚrung seiner TrÈume hervorgehen werde – „die dichterischen Tage keimen Dir schon“. Und die Vorrede des Romans bezeichnet als dessen Gegenstand „die AuflÚsung der Dissonanzen in einen gewissen Charakter“. Dies kann man so auffassen, daß der Zwiespalt in Hyperion, der in den beiden Richtungen seines Wesens gegrÝndet ist, nun gelÚst und im wiedergewonnenen VerhÈltnis zur allheilenden Natur die Grundlage fÝr ein hÚheres Wirken gewonnen sei. „Besteht ja das Leben der Welt im Wechsel des Entfaltens und Verschließens, in Ausflug und in RÝckkehr zu sich selbst, warum nicht auch das Herz des Menschen?“ Auf diesen Rhythmus des Lebens weisen auch die letzten Worte des Romans; sie deuten hin auf eine Fortsetzung, die den Helden neuen ZustÈnden entgegenfÝhren mÝßte. Der Dichter hatte kein BedÝrfnis seinen Leser in eine solche Zukunft blicken zu lassen. Aus der Zeit des Wilhelm Meister, des Ofterdingen, des Sternbald leitet der Roman hinÝber zu Hegel, Schopenhauer und Nietzsche. Hyperion ist ein philosophischer Roman. Aber nicht in dem Verstande, in welchem die Romane von Wieland und seiner Schule das sein wollten. Sein Problem ist nicht der langweilige Widerstreit fertiger historischer Standpunkte, wie sie die Geschichte der Philosophie Ýberliefert hat. Keine Schablone irgendeiner Art, kein Ýberliefertes System, keine herkÚmmliche AbschÈtzung der Werte des Daseins steht zwischen ihm und dem Dasein selbst. An jeder seiner Personen vollbringt das Leben dasselbe Werk. Was zu jeder Zeit wo Leben stattgefunden hat, an jedem Ort wo es ablÈuft seinen Charakter ausmacht, will HÚlderlins Roman nicht abstrakt aussprechen, sondern an den Schicksalen seiner Menschen zum Bewußtsein bringen. In jedem Einzeldasein besteht eine Zweiseitigkeit. Es ist die Erscheinung einer in der Natur sich auswirkenden Kraft, und als solche hat es einen unendlichen Wert. Indem es aber als ein Einzelnes heraustritt, endlich, individuell, eingeschrÈnkt durch anderes Einzelne, getrennt von jedem, das fÝr sich lebt, ist seinem GlÝck und seiner SchÚne die Endlichkeit und das Leiden beigegeben. Das All-Eine, das sich in sich selbst unterscheidet, wird im Hyperion verkÝndet. Es ist das nicht eine metaphysische Doktrin, sondern die Erfahrung eines schÚnheitsfreudigen KÝnstlers. In dem Leuchten der Natur, in der gÝtig starken Innerlichkeit eines Menschen, im freudigen GefÝhl der Kraft, in jedem Momente hÚchsten GlÝckes offenbart sich eine Eigenschaft des Grundes der Dinge, die uns in Liebe und Andacht zu ihm hinzieht; am tiefsten doch in dem Aufgehen der Menschen ineinander – um so tiefer, je vollkommener es ist. HÚlderlins alte Lehre vom Liebeszusammenhang der Welt erscheint hier in pan-

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theistischer Fassung. Alle Verse großer Dichter, die Werke aller KÝnste sprechen von dieser den Dingen einwohnenden Tiefe. In jedem Individuum ist ein eigener Wert. Bis in die Worte stimmen mit den Monologen Schleiermachers die SÈtze HÚlderlins Ýberein. „Was ist Verlust, wenn der Mensch in seiner eigenen Welt sich findet? In uns ist alles. Was kÝmmert’s dann den Menschen, wenn ein Haar von seinem Haupt fÈllt? Was ringt er so nach Knechtschaft, da er ein Gott sein kÚnnte?“ Wenn spÈter Schelling in der Kunst das Organ fÝr die Auffassung des gÚttlichen Weltgrundes sah, so ist dies genau was HÚlderlin lehrte. Und auch der pantheistischen Mystik Hegels geht HÚlderlin voraus. Ebenso spricht HÚlderlin von der Endlichkeit und dem Leiden der Welt als ein Dichter, aus einer eigenen Energie solcher Erfahrungen. Indem das Ewige in den Zeitverlauf tritt, verfÈllt seine Erscheinung dem Schmerz der VergÈnglichkeit. Im Moment des hÚchsten GlÝckes, da Hyperion zuerst die Lippen der Diotima berÝhrt, weiß er schon dessen Ende. Der erste Entwurf des Empedokles, der mit der Arbeit am Hyperion gleichzeitig ist, spricht aus, wie alles, was an das Gesetz der Sukzession gebunden ist, unbefriedigt, unstet und unselig sein muß. Es ist bezeichnend, daß der Hyperion die Lehre vom All-Einen auf die Formel des Heraklit zurÝckfÝhrt, der inmitten des lebensfreudigen Pantheismus der ionischen Inseln und KÝsten dem tragischen GefÝhl von der VergÈnglichkeit, die im Zeitverlauf gegrÝndet ist, einen mÈchtigen Ausdruck gegeben hat. Indem nun weiter das Eine auseinandergeht in die Vielheit, wird der Streit der EinzelkrÈfte zur Form des Lebens. Und in diesem muß Masse und BrutalitÈt Ýber die vornehmen und idealen Naturen das Àbergewicht haben. Die Seltenen, Guten in der Welt dulden eben weil sie so sind. Die Barbaren um uns zerreißen unsre besten KrÈfte, ehe sie sich gebildet haben. Es ist gefÈhrlich, „seine ganze Seele, sei es in Liebe oder in Arbeit, der zerstÚrenden Wirklichkeit auszusetzen“. Je reiner eine Seele ist, desto zarter, verletzbarer ist sie auch. Hieraus entspringt HÚlderlin das aristokratische Bewußtsein, in welchem er Nietzsche verwandt ist. Nicht um auf seine Nation zu wirken, sehnt er sich, ein großes Kunstwerk hervorzubringen, sondern um seine nach Vollendung dÝrstende Seele zu sÈttigen. Es wÈre umsonst die Barbaren bessern zu wollen, sie sollen nur dem Werk der Großen aus dem Wege gehen. Und ferner: da jeder dieser Vielen ein Individuum ist, ist er, fÝr sich im tiefsten einsam, von anderen getrennt. „FÝr des Menschen wilde Brust ist keine Heimat mÚglich.“ Es treibt uns etwas, aus unseren VerhÈltnissen uns „in die kalte Fremde irgendeiner anderen Welt zu stÝrzen“ – „in die Nacht des Unbekannten“. Ja ein geheimer gefÈhrlicher Trieb ist in uns, „die Freuden der Verwandtschaft zu tÚten“. Endlich entspringt aus dem Gesetz der Individuation selbst der tiefe Widerspruch in unserem GemÝte zwischen dem Streben nach dem Unendlichen und dem GlÝck der BeschrÈnkung.

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Umfassen wir unser ganzes Wesen, so ist die FÝlle des Lebens eben an die Kraft des Leidens gebunden. „Je unergrÝndlicher ein Mensch leidet, um so unergrÝndlich mÈchtiger ist er.“ Es ist HÚlderlin ein „altes festes Schicksalswort, daß eine neue Seligkeit dem Herzen aufgeht, wenn es aushÈlt und die Mitternacht des Grams durchduldet“, und „wie Nachtigallgesang im Dunkeln tÚnt uns gÚttlich erst in tiefem Leid das Lebenslied der Welt“. Wie merkwÝrdig ist nun das VerhÈltnis dieses Romans zu der philosophischen Arbeit um ihn her! Schelling ging in der Schrift vom Ich als Prinzip der Philosophie, 1795, zu der ersten Fassung seines Pantheismus fort. So trat diese seine Wendung in die ³ffentlichkeit erst nach dem Fragment des Hyperion in der Thalia, das den Pantheismus HÚlderlins schon enthielt. Der Ausgangspunkt fÝr den Pantheismus des Philosophen lag in der allgemeingÝltigen Gesetzlichkeit des Ich, die Ýber das Individuum hinausgreift. Der Pantheismus HÚlderlins war sonach dem Schellings ganz heterogen. Seine Èußeren Bedingungen lagen in der allgemeinen literarischen und dichterischen Bewegung der Zeit. Shaftesbury, Hemsterhuis, Herder, Goethes Werther und sein Faustfragment von 1790, Schillers philosophische Briefe sind die Marksteine derselben. In ihr entwikkelte sich die pantheistische Weltanschauung. Und dieser Bewegung kam nun die dichterische Eigenart HÚlderlins entgegen. Jede Phase des Romans zeigt den Fortbestand der All-Einheitslehre in HÚlderlins Geist. Schon nach dem Thaliafragment entspringt aus den Schicksalen des GemÝtes das große Erlebnis der Befreiung der Seele durch ihre Hingabe an das All, und noch in der letzten Fassung des Romans hat sich hieran nichts geÈndert. Nun gaben ihm aber Kant und Fichte zeitweilig das Problem auf, diesen Standpunkt zu rechtfertigen. Aus der Jenaer Zeit, in der Fichte am stÈrksten auf ihn wirkte, liegt ein merkwÝrdiges Dokument der Arbeit an diesem Problem in dreifacher Fassung uns vor. Er erkennt Fichtes Grundgedanken an; was fÝr das Ich da ist, ist sein PhÈnomen; aber der Enthusiasmus Platons Úffnet ihm die hinter dem endlichen Ich liegende intelligible Welt. „Der reine Geist befaßt Sich mit dem Stoffe nicht, ist aber auch Sich keines Dings bewußt, FÝr ihn ist keine Welt, denn außer ihm Ist nichts.“ Wie nun in dem endlichen Ich eben vermÚge seiner EinschrÈnkung das Bewußtsein zuerst hervortritt, wÝrde dies Ich sich verzehren, wenn nicht seiner Liebessehnsucht die SchÚnheiten der Welt entgegenkÈmen. So behauptet der Dichter auch hier Fichte gegenÝber seine AllEinheitslehre. Wie mußte es nun auf ihn wirken, als er, nach der Heimat zurÝckgekehrt, Schelling begegnete, die Schriften desselben dann verfolgte! Eben damals bahnte dieser der Philosophie einen Weg, der vom Ich zum All-Einen hinÝberfÝhrte. Tiefer aber als die Àbereinstimmung mit Schelling reicht doch die Ver-

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wandtschaft der Ideen, die HÚlderlin mit Hegel verband. Und diese Verwandtschaft ist um so auffÈlliger, weil eine Èußere Einwirkung Hegels auf den dichterischen Freund erst fÝr den zweiten Band des Hyperion nachweisbar ist. Hegel hatte in der Schweiz an seine theologischen Studien Ideen angeknÝpft, welche eine hÚchst auffallende Verwandtschaft mit denen unseres Romans enthalten. Auch er ging aus von der Entgegensetzung und Entzweiung in allem Endlichen. Dem Leben als solchem ist der Schmerz beigegeben. Es muß das Ziel aller hÚheren Entwickelung sein, diese Trennungen aufzuheben. Die Gesinnung, die in den einzelnen Handlungen an den GegenstÈnden sich auswirkt, bleibt immer beschrÈnkt, bedingt durch den Punkt, an welchem sie die Trennung aufhebt. Eine hÚhere Form der Vereinigung des Getrennten ist die Liebe, aber auch in ihr wird die Trennung der Individuen voneinander und von der Welt nicht aufgehoben. Vergebens sucht die schÚne Seele in der Hingebung, in den TrÈnen des Mitleids, in rastlos wohltÈtigem Wirken Befriedigung; bei der lebendigsten Vereinigung der Menschen ist immer noch Trennung – „dies ist das Gesetz der Menschheit“. Erst das religiÚse Bewußtsein vom Zusammenhang alles Lebens in der Liebe hebt alle Trennungen auf. Die Àbereinstimmung zwischen dem Dichter und dem Philosophen stammt aus der Verwandtschaft ihres Verfahrens. Auch Hegel geht damals vom Leben aus; vermittelst der in dem Leben enthaltenen Kategorien bestimmt er das Absolute. Und so faßt er als Momente des Absoluten Einheit, Entgegensetzung, Reflexion auf sich selbst, Schmerz der Entgegensetzung, Steigerung des Bewußtseins in der Zusammenfassung. Aber diese und andere HÚlderlin verwandte Gedanken Hegels blieben unter dessen Papieren. Auch kann ihr Zusammensein in Frankfurt auf die dargelegten Ideen HÚlderlins nicht gewirkt haben; denn Hegel kam im Januar 1797 nach Frankfurt, der erste Band des Hyperion aber, der alle diese Ideen aussprach, erschien schon zur Ostermesse. Hegels Gedicht Eleusis enthielt dunkle pantheistische Andeutungen. „Ich gebe mich dem Unermeßlichen dahin. Ich bin in ihm, bin Alles, bin nur es. Dem wiederkehrenden Gedanken fremdet, Ihm graut vor dem Unendlichen und staunend faßt Er dieses Anschau’ns Tiefe nicht.“ Sichtbarkeit und Gestalt empfÈngt das GÚttliche nur im griechischen Mythos. Diese Andeutungen konnten den Dichter in seinem Denken bestÈrken – etwas Neues sagten sie ihm nicht. Aus dieser inneren Bewegung in HÚlderlin entsprang nun die BegrÝndung der All-Einheitslehre, wie sie in dem fertigen Roman vorliegt. HÚlderlin bestimmt das VerhÈltnis des Verstandes und der Vernunft zu der Anschauung des All-Einen, wie sie dem Dichter in den Momenten der Begeisterung an der SchÚnheit der Welt aufgeht. Verstand ist nur „Erkenntnis des Vorhandenen“ d. h. Reflexion Ýber das empirisch Gegebene. Die Vernunft ist ihm die geistige TÈtigkeit, die er in der Bildung des Systems von Fichte wirksam gesehen

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hatte: „Forderung eines nie zu endigenden Fortschritts in Vereinigung und Unterscheidung eines mÚglichen Stoffes.“ Beide, der Verstand und die Vernunft, sind fÝr sich unfÈhig, dies Unendliche zu erfassen. Aber wo die Begeisterung des KÝnstlers SchÚnheit erlebt, geht ihr das Wesen des GÚttlichen auf. Denn das Eine, das in der Mannigfaltigkeit seiner Unterschiede als ein Ganzes sich darstellt, ist das SchÚne und in diesem seinem Sachverhalt erschließt sich zugleich das Wesen des GÚttlichen. So wird die Philosophie erst mÚglich durch das Erlebnis des SchÚnen in der Kunst; sie setzt das in diesem Erlebnis Enthaltene auseinander, zerteilt und denkt das Zerteilte wieder zusammen; so dringt sie erkennend in die Tiefen des All-Einen. Es verhÈlt sich hiernach bei HÚlderlin und Èhnlich bei Schelling die Kunst zur Philosophie, wie sich zu dieser die Religion bei Schleiermacher verhÈlt. „Die Dichtung ist der Anfang und das Ende der Philosophie.“ SchÚpferische Kraft ist nur in der Begeisterung. Aus der Kunst geht auch die Religion hervor. So konnte die Philosophie nur in Griechenland entstehen. FÝr den •gypter ist das HÚchste „eine verschleierte Macht, ein schauerhaft RÈtsel“: „die stumme finstre Isis ist eine leere Unendlichkeit“: Der Norden treibt den Geist in sich zurÝck; zu frÝh „schickt sich hier der Geist zur RÝckkehr in sich selbst an“: da regieren Verstand und Vernunft, sonach die Reflexion. SÈtze die ganz so bei Hegel spÈter auftreten. Ebenso sind beide einig in der Hoffnung auf eine neue Kirche, welche eine innere Harmonie im Menschengeschlecht herbeifÝhren werde. Sie wird nach HÚlderlin eine Religion der SchÚnheit verkÝndigen, und das wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein. Die Kunstform des Werkes entspringt aus seiner Aufgabe, die Bedeutung des Lebens an dem Stoff der Begebenheiten zur Darstellung zu bringen. Hyperion, in dem die Entwickelungsgeschichte sich vollzog, der nach dem Ablauf seiner Erlebnisse zum VerstÈndnis ihrer Bedeutung sich erhoben hat, muß selbst erzÈhlen. Er erzÈhlt in Briefen an einen Freund, die doch den Charakter einsamer Bekenntnisse annehmen. Und nun besteht der Kunstgriff, in welchem HÚlderlin diese philosophische Aufgabe seiner Dichtung lÚst, darin, daß die Sukzession des Lebensverlaufs, wie sie die Abfolge von Briefen darstellt, in das zusammenfassende Bewußtsein einer RÝckschau verbunden ist. Der Kampf ist zu Ende, einsam blickt Hyperion zurÝck, getrennt von den Menschen, aber aufgenommen in die religiÚse Einheit der Natur. Noch erschÝttert von den letzten Begebenheiten, lebt er das Geschehene noch einmal wie ein GegenwÈrtiges durch. Und zugleich tritt das Alles nun fÝr ihn in Zusammenhang mit dem GefÝhl, das jetzt von ihm Besitz genommen hat – totaler Hingabe seines vergÈnglichen Daseins an die allumfassende ewige Natur. Sie ist Ýberall, sie war immer. Zuschauerin von allem, was gewesen. Das bildet den Grundton jedes dieser Briefe. Sie grÝnt und blÝht um den einsamen Eremiten

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wie damals als er Diotima im ersten FrÝhling sah. Und wie nun die Versenkung in ihre ewige Harmonie, in die jetzt aller Kampf des Lebens aufgegangen ist, hineinklingt in die Naturszenen, die seine schÚnsten und herbsten Schicksale begleiteten, entsteht eine ErzÈhlungsform, welche eine besondere Wirkung hervorbringt: eine eigene Mischung des GefÝhls, welche die Grundstimmung des Romans bildet: mitten in der Anschauung vom Wechsel des Lebens Bewußtsein der Unendlichkeit. Die ersten Worte galten der unendlichen Natur, und zu ihr kehren die letzten zurÝck. Erscheinung ist ein Schimmern des Lichtes Ýber den Wassern, ein flÝchtiges Abendrot auf den Bergen, ein Spiel des Windes in den Zweigen. „O du, mit deinen GÚttern, Natur! ich hab’ ihn ausgetrÈumt, von Menschendingen den Traum und sage, nur du lebst, und was die Friedenslosen erzwungen, erdacht, es schmilzt, wie Perlen von Wachs, hinweg von deinen Flammen!“ „O Seele! Seele! SchÚnheit der Welt! du unzerstÚrbare! Du entzÝckende! mit deiner ewigen Jugend! du bist; was ist denn der Tod und alles Wehe der Menschen? – Ach! viel der leeren Worte haben die Wunderlichen gemacht. Geschieht doch alles aus Lust, und endet doch alles mit Frieden. Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. VersÚhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.“ Die Rhythmen dieses Hymnus, in den der Roman ausklingt, gehen durch alle gehobenen Stellen des Hyperion hindurch. Es ist das eigenste Kunstmittel HÚlderlins. Der Rhythmus in der Sprache, in der Gliederung der TragÚdie ist fÝr ihn Symbol fÝr den letzten und hÚchsten Begriff seiner Philosophie – den Rhythmus des Lebens selbst. In ihm sah der Dichter den Ausdruck fÝr das Gesetz in der Bewegung des Lebens, wie Hegel in dem dialektischen Fortschritt der Begriffe dies Gesetz gefunden hat. Wenn HÚlderlin diese tiefgedachte Lehre von dem Rhythmus, der Alles bis zur Verszeile eines Dichters durchwaltet, auch erst spÈter verÚffentlicht hat: das GefÝhl fÝr diesen Zusammenhang war schon in ihm wirksam als er den Hyperion abschloß, und er mochte sich auch schon Begriffe hierÝber gebildet haben. Die Kunstform des Hyperion hat durch und durch einen symbolischen Charakter. Sie ist hierin der des Zarathustra von Nietzsche verwandt. Gerade in seinen entscheidenden Lebensjahren hat Nietzsche den Einfluß HÚlderlins erfahren. Als der siebzehnjÈhrige SchÝler in Schulpforta einen Lieblingsdichter schildern sollte, wÈhlte er HÚlderlin und er kam auch spÈter auf Hyperion zurÝck. Und als er im Zarathustra dichterisch seine Lebensansicht entwickelte, wirkte der philosophische Roman HÚlderlins von der Grundidee bis in die Form, ja bis in die einzelnen Worte. Der Stil beider Schriftsteller ist musikalisch. Sie schreiben beide fÝr Leser, die nicht „bloß mit den Augen“ lesen. Sie prÈgen neue Worte fÝr das, was sie aussprechen wollen, aus Scheu vor abgegriffenen Redewendungen. Und doch empfinden sie, daß

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was am tiefsten sie bewegt, immer unausgesprochen bleibt. Der Gegenstand beider ist die innere Welt und sie greifen nach den kÝhnsten Metaphern, um sie sichtbar zu machen. Sie leben in der großen Antithese zwischen der hÚheren Menschheit, die kommen soll mit ihrer SchÚnheit, mit ihren Helden und ihrer StÈrke, und der VulgaritÈt um sie her, der VerkrÝppelung der Gestalt der Seele in hundert Formen. So bewegt sich ihr Stil in Antithesen. Sie wirken durch den Àbergang aus dem Dithyrambus in Ironie. Ihre Dithyramben sind Gedichte in Prosa, und in ihrer Ironie treiben sie ein souverÈnes kÝnstlerisches Spiel mit ihren Feinden. Aber wie Nietzsche vermag auch HÚlderlin wohl einen Seelenzustand wie durch einen Blitz vorÝbergehend in sinnlicher Sichtbarkeit sehen zu lassen: einen Menschen vermag auch er nicht in ruhigem Tageslicht zu zeigen. Alle Gestalten seines Romans sind wie Schatten. Sie haben in dem einzelnen Moment inneres Leben. Kein Èußerer Umriß kommt der Phantasie zu Hilfe, die sie sich anschaulich machen mÚchte. In jenem hÚchsten Sinne, in welchem der Poet einen SchÚpfer von Gestalten und Handlungen bedeutet, erweist sich HÚlderlin im Hyperion nicht als Dichter.

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DIE TRAG³DIE EMPEDOKLES. HÚlderlins Empedokles setzt das Seelendrama von Sophokles, Racine und Goethe fort. Er geht darÝber hinaus, auf dem Weg zu einem unbekannten Ziele, zu neuen hÚchsten Wirkungen, die auch heute noch niemand erreicht hat. Wenn man an die BruchstÝcke dieser TragÚdie herantritt, muß man jede Erinnerung an die in Èußerer FÝlle sich ausbreitende Handlung Shakespeares fallen lassen, jede Erinnerung an Regeln und Kunstform Lessings und Schillers und an die Urteile, die nach solchen MaßstÈben HÚlderlins Drama undramatisch finden. HÚlderlin will nicht außergewÚhnliche Schicksale, exzentrische Leidenschaften, bunte Szenen des Lebens darstellen. Er geht Ýber die Region hinaus, in welcher der Mensch bestimmt wird durch das VerhÈltnis zur Èußeren Welt, zu dem, was wir von ihr begehren oder dem, was uns in ihr niederdrÝckt – zum Èußeren Schicksal. Er will darstellen was, wenn die partikularen Leidenschaften schweigen, in dem nachdenklichen Menschen aufgeht und bestÈndig wÈchst. Die Auseinandersetzung mit unserem bedingten Dasein, mit den Notwendigkeiten des Lebens, wie sie aus unserem VerhÈltnis zu den unsichtbaren KrÈften kommen. Diese Auseinandersetzung ist in jedem von uns dieselbe: ihre Voraussetzungen liegen in dem, was in jedem von uns dasselbe ist und was außer uns als allgemeinstes VerhÈltnis des Daseins zur Welt uns bestimmt. In ihr kommt zur Sprache, was in der stillen Kammer einfacher

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Menschen gerade so ausgekÈmpft werden muß als in den PalÈsten der KÚnige. Das, was immer da ist, wo der Mensch in dem, was auf ihn wirkt die allgemeinen und letzten Relationen des menschlichen Daseins zu den KrÈften der Welt und den Gewalten in der HÚhe erfÈhrt. Diese Auseinandersetzung vollzieht sich nicht in einer abgegrenzten Zeit des Lebens, sie wird von dem, was wir genießen, leiden, erfahren, stets neu hervorgerufen, sie fÝhrt uns allmÈhlich in immer neue Tiefen des Lebens hinab. Sie ist die Geschichte unserer Seele, die wichtiger ist als all unsere partikularen Leidenschaften und Erfolge. Wo sie in einem Menschen sich vollzieht, ist er souverÈn und einsam, und das GerÈusch der Welt dringt dann nur noch in fernen verschwimmenden TÚnen an ihn heran. Und wo diese Geschichte als das Wirklichste, StÈrkste, HÚchste in einem Menschen durchlebt wird, fÝhrt sie ihn irgendwie aus allen Bedingtheiten des Daseins in die Region der Freiheit, und sei es im Tode. Indem HÚlderlin den Gedanken eines solchen Drama faßte, suchte er wie Goethe in seiner Iphigenie eine moderne Verinnerlichung dessen, was einst die attische BÝhne gewesen war. Wie deren Ursprung in der griechischen ReligiositÈt lag, hatte sie den Menschen dargestellt in seinen hÚchsten Beziehungen zu den gÚttlichen KrÈften. Welch eine Aufgabe, die Herrlichkeit der antiken TragÚdie in dieser ihrer ganzen religiÚsen Tiefe zu erneuern! Und zwar in dem Verstande, daß die •ußerlichkeit der Begriffe von Schicksal und SÝhne einer religiÚsen Anschauung Platz machte, die dem modernen Bewußtsein genug tat. Die Verbindung der Idee des Heldentums mit einer pantheistischen ReligiositÈt war im Hyperion dargestellt. Sie war das Ergebnis von HÚlderlins Auseinandersetzung mit dem Leben, auf die sich nunmehr der Empedokles aufbaut. Wie die Anlage HÚlderlins mit den geschichtlichen KrÈften, unter denen seine Entwickelung stand, bei der Entstehung seiner Idee des Heldentums zusammenwirkte, ist geschichtlicher Kenntnis nicht zugÈnglich. Erst der Fortgang von dieser Idee zu seinem religiÚsen Pantheismus, die neue Verbindung, die er zwischen beiden herstellte, wurde uns in seiner Lebensgeschichte sichtbar. Und derselbe wurde erlÈutert durch den Hyperion. Indem der Dichter nun in der antiken TragÚdie, vor allem in den ³dipusdramen des Sophokles, eine verwandte Seelengeschichte wiederfand, und zwar fortgefÝhrt bis zur VerklÈrung des Helden im Tode und dem Segen, der von ihr ausgeht, sah er hier die MÚglichkeit einer großen religiÚsen TragÚdie, in der er seinem Erlebnis den hÚchsten Ausdruck geben, die ZÝge der Welt, die er neu gesehen hatte, zu vollkommener Darstellung bringen konnte. Er hatte einst eine TragÚdie Sokrates geplant, die mit Sokrates’ freiwilligem Tode endete; denn so stellen Platons GesprÈche das Ende des Sokrates dar. Nun traf er auf den Stoff des Empedokles, hier war ein grandioses Symbol fÝr alles, was er

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zu sagen hatte. Auf griechischem Boden ein gewaltiger Mensch, seinem Grundwesen nach ein Dichter, ein Metaphysiker, den aber die Lage seiner Polis in ein reformatorisches Wirken hineinwirft, der das Leben in Macht durchstÝrmt und der es schließlich in freiwilligem Tode durch den Sturz in den •tna endet. Die Idee dieser TragÚdie zog schon wÈhrend er am Hyperion arbeitete sein ganzes Interesse an sich. Der philosophische Roman verlief in den Bedingtheiten des modernen Lebens, der Lage des Helden und der ZustÈnde, in die er versetzt war; seine Wirkung verzettelte sich in einem unbestimmten Ausgang: Form und Stoff der neuen TragÚdie ermÚglichten den ergreifenden Fortgang von einem mÈchtigen Leben zu einem tragischen Ende. Wir besitzen im Hyperion selbst ein Zeugnis, daß HÚlderlin genau so das innere VerhÈltnis zwischen den beiden Werken sah. „Gestern war ich auf dem •tna droben. Da fiel der große Sicilianer mir ein, der einst des StundenzÈhlens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kÝhnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen.“ „Aber man muß sich hÚher achten, denn ich mich achte, um ungerufen der Natur ans Herz zu fliegen.“ Wie der Hyperion und der Empedokles so im Dichter zeitlich und innerlich verbunden sind, beherrscht beide Werke die Eine Grundstimmung, in welcher der Drang zu leben und zu wirken und Todessehnsucht sich verbinden. Einige Verse HÚlderlins, welche in die Zeit der Gestaltung der TragÚdie fallen, sprechen es aus, wie der Dichter diese Verbindung als den Grundzug im Wesen seines Helden auffaßte. Das Leben suchst du, suchst, und es quillt und glÈnzt Ein gÚttlich Feuer tief aus der Erde dir, Und du in schauderndem Verlangen Wirfst dich hinab in des •tna Flammen. So schmelzt’ im Weine Perlen der Àbermut Der KÚnigin; und mochte sie! HÈttest du Nur deinen Reichtum nicht, o Dichter, Hin in den gÈrenden Kelch geopfert!

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Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, Die dich hinwegnahm, kÝhner GetÚteter! Und folgen mÚcht’ ich in die Tiefe, Hielte die Liebe mich nicht, dem Helden. Die erste •ußerung HÚlderlins Ýber seine BeschÈftigung mit der EmpedoklestragÚdie ist aus dem SpÈtsommer 1797. Er hatte damals schon den „gan-

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zen detaillierten Plan“ zu diesem Trauerspiel gemacht. Es hat sich ein solcher Plan erhalten. Hier wird, wie in jeder spÈteren Ausarbeitung, ein Èußerer Konflikt verbunden mit einem Widerstreit in der Seele des Helden, um so den freiwilligen Tod des Empedokles zu begrÝnden. Der Genius ist mit der Welt entzweit nach seinem UnvermÚgen, „die menschliche DÝrftigkeit“ zu vertragen, und nach dem UnvermÚgen der Menschen, seine Àbermacht gelten zu lassen: es ist das Thema Schopenhauers und vor ihm schon der Romantiker. In ihm selbst besteht ein Widerstreit zwischen dem Ideal der TotalitÈt und Harmonie des Daseins und der Notwendigkeit sich in einzelne VerhÈltnisse handelnd zu verlieren. „Im großen Akkord mit allem Lebendigen“ mÚchte er leben, „mit allgegenwÈrtigem Herzen, innig wie ein Gott, und frei ausgebreitet“. Aber seine besonderen VerhÈltnisse, so schÚn sie sind, versetzen ihn eben „weil sie besondere VerhÈltnisse sind“, weil er durch das Eingehen in sie an das Gesetz der Sukzession gebunden ist, in eine „einseitige Existenz“ und so findet er sich unbefriedigt, unstet, unselig. Wie diese Leiden der Endlichkeit ihn immer mehr bedrÈngen, beschließt er durch freiwilligen Tod „sich mit der unendlichen Natur zu vereinigen“. Und nun verlieren die Èußeren Konflikte fÝr ihn ganz ihre Bedeutung, und er betrachtet den Tod als „eine innere Notwendigkeit“, die aus seinem innersten Wesen folgt. Wenn dieser Plan den Schwerpunkt des Drama in die innere Geschichte des Empedokles verlegt, so ist damit der beabsichtigte dramatische Aufbau des StÝckes nicht in Einklang; es sollte sich in einer bunten Reihe von Familienszenen, Volksszenen und GesprÈchen abspielen. Und nach allem Aufwand des Motivierens fehlt schließlich dem Entschluß des Empedokles doch die innere Notwendigkeit. So ließ HÚlderlin den Plan fallen. Bestimmte Nachrichten Ýber eine Ausarbeitung der TragÚdie haben wir erst seit seiner Àbersiedlung nach Homburg. An sie knÝpfte er alle Hoffnungen, die er nun noch fÝr das Leben hatte. „Sie soll mein letzter Versuch sein, auf eigenem Wege mir einen Wert zu geben.“ Fortdauernd „widmete er dann auch die meiste Zeit“ dem Werk. Er dachte damals das Ganze in den ersten StÝcken des von ihm geplanten Journals erscheinen zu lassen. In den Handschriften, die sich von der TragÚdie erhalten haben, liegt nun ein ausgearbeiteter Zusammenhang derselben vor, der vom Beginn der Handlung bis zum Abschied des Empedokles von seinem LieblingsschÝler Pausanias reicht; so fehlen nur die letzten Szenen seines freiwilligen Todes. Es darf angenommen werden, daß wir hier die Fassung der TragÚdie vor uns haben, im Hinblick auf die er im Juni 1799 schreibt, er sei mit seinem Trauerspiel bis auf den letzten Akt fertig. Auch kann keinem Zweifel unterliegen, daß einige Szenen einer anderen Bearbeitung, wo der Priester, zur HÚhe eines Machtmenschen gesteigert, zum wÝrdigen Gegenspieler des Empedokles wird und

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wo die freiere Behandlung des Verses sich Goethes Prometheus nÈhert, zwar spÈter geschrieben wurden, aber doch demselben Grundplan angehÚren. Ich wage nicht in bezug auf die historische Bestimmung und Zusammensetzung des Vorhandenen hierÝber hinauszugehen. Ich versuche das innere VerhÈltnis darzulegen, in welchem in der TragÚdie Stoff, Erlebnisse, Ideen und dichterische Gestaltung verbunden sind. Der Empedokles der Geschichte gehÚrt zu den reformatorischen Geistern, welche im Zusammenhang mit der Wissenschaft eine mystische Form des Glaubens und mit ihr verbunden eine religiÚs begrÝndete Lebensordnung verkÝndigt haben. So erscheint er als Philosoph, Dichter, Weihepriester, als Redner und Staatsmann wie als Arzt. Er lehrte eine Kraft der Liebe, welche das Weltall in festen Banden der Harmonie zusammenhÈlt, eine innere Verwandtschaft alles Lebendigen, Wanderung der Seelen: Ansichten, welche der ReligiositÈt HÚlderlins so verwandt waren, daß auch sie ihn an dem griechischen Seher und Dichter anziehen mußten. Einem vornehmen Geschlecht seiner Vaterstadt Agrigent in Sizilien angehÚrig, wirkte er mit am Sturz des kurzlebigen aristokratischen Regiments, wurde politischer FÝhrer der demokratischen Partei und verhalf ihr zum Sieg; den Thron soll er verschmÈht haben; die Gegner zwangen ihn schließlich doch die Heimat zu verlassen. In das Bild seiner mÈchtigen PersÚnlichkeit mischt sich nun aber ein eigener schwer zu deutender Zug, der uns in einem seiner SÝhnlieder verbÝrgt ist. „Ich aber wandle als unsterblicher Gott, nicht mehr als Sterblicher vor Euch; man ehrt mich als solchen allenthalben, wie es sich fÝr mich gebÝhrt, indem man mir Binden ums Haupt flicht und blÝhende KrÈnze. Sobald ich mit diesen, MÈnnern wie Frauen, die blÝhenden StÈdte betrete, betet man mich an, und Tausende folgen mir nach, um zu erkunden, wo der Pfad zum Heile fÝhre. Die einen wÝnschen Orakel, die anderen fragen wegen mannigfacher Krankheiten nach.“ Er rÝhmte sich mehr zu sein als „die sterblichen, vielfachem Verderben geweihten Menschen“. So erscheint er uns wie Paracelsus als ein Mann, in dem geistige Bedeutung, maßloses SelbstgefÝhl, mystische Vorstellungen von Macht Ýber die Natur und Charlatanerie seltsam verbunden waren. Die griechische Neigung zum Fabulieren hat ihn mit glÈubigen Legenden und mit spÚttischen Fabeln umgeben. Diogenes Laertius, der allen Klatsch Ýber ihn zusammengebracht hat, berichtet von seiner SelbstÝberhebung, seinem kÚniglichen Wesen, dem feierlichen Ernst seiner Mienen und Worte. Und unter den verschiedenen Nachrichten Ýber den Hingang des Magiers war auch die boshaft gemeinte Nachrede, er sei in den •tna gesprungen. Aus diesem Stoff erhob sich fÝr HÚlderlin die Gestalt eines Àbermenschen, der mit unbÈndiger Kraft Natur und Leben beherrschte und sich dienstbar gemacht hatte, der denkend, handelnd, genießend erfuhr, was das Leben sei, der

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alle Erfahrungen Hyperions in grÚßeren, weiteren VerhÈltnissen machte und stÈrker als jener das Leben, das ihm schal und ekel geworden, verließ. Alle Schmerzen des Genius nahm HÚlderlin in diesem Empedokles zusammen, in einer Sprache die in ihrer Einfachheit tiefer ans Herz greift als die des Hyperion; Laute wie sie fÝr solche Leiden vordem nur Goethe gefunden hatte. Eine grandiose Szenerie umgibt diese Gestalt: bewegte sizilianische Volksszenen, die sÝdlichen GÈrten mit ihrem Pflanzenwuchs, eine Gegend am •tna, dann die HÚhe dieses Wunderberges selbst. Verehrung, ja Anbetung ist die AtmosphÈre solcher Existenz: zwei ergreifende jugendliche Menschen verkÚrpern das. Ein MÈdchenideal, aus der Panthea der Àberlieferung gestaltet: durch das VerstÈndnis, das die Liebe gibt, begreift sie die GrÚße des Empedokles – eine Diotima, die aus Christi NÈhe gekommen scheint. Neben ihr Pausanias, der ein LieblingsschÝler des Empedokles gewesen ist. In ihm ist aller Zauber der JÝnglingsgestalten Platons – und in dem VerhÈltnis des Empedokles zu ihm die ganz einzige SchÚnheit der Lebensbeziehung, in welcher neidlos der Lehrer in seinem SchÝler die Verwirklichung dessen kommen sieht, was ihm selbst zu wirken nicht beschieden war. Aus der sanften getragenen Beziehung dieser Gestalten zueinander entspringt eine musikalische Wirkung, die mit der Melodie der Sprache zusammenklingt. Der Zusammenhang der TragÚdie entstand, indem der Ýberlieferte Stoff fÝr HÚlderlin zum Symbol wurde fÝr den Gehalt seines eigenen Lebens. Es entspricht dem historischen Sachverhalt, wenn HÚlderlin die ReligiositÈt und das reformatorische Wirken des Empedokles als Mittelpunkt faßt; er konnte seinen Glauben an die kommende ReligiositÈt der SchÚnheit und Freude und freien Ordnung des Lebens dahinein verlegen; er gab dem Wirken des Empedokles einen Hintergrund und eine tiefere BegrÝndung in den sozialen und politischen Wirren, welche den Niedergang des sizilianischen Stadtstaates ahnen lassen: so konnte er sein ganzes schmerzliches GefÝhl von dem politischen Elend um ihn her zum Ausdruck bringen. Und indem er in die seltsame Mischung von Eigenschaften, die den Charakter des Empedokles zum RÈtsel machte, sich vertieft, so geht ihm hier das Problem seiner TragÚdie auf. Goethe hat dieses Problem in dem BruchstÝck seines Mahomet berÝhrt, das viele Jahre danach erst ans Licht getreten ist. Voltaire hatte in seinem Drama das RÈtsel, das die PersÚnlichkeit des arabischen Propheten darbietet, doch nur mit der Flachheit der AufklÈrung behandelt; Goethe empfand, daß nur ein mÈchtiger und ganz wahrer religiÚser Vorgang den Ausgangspunkt fÝr diese Weltreligion gebildet haben mÝsse. Eben auf diesem Wege geht HÚlderlin an das historische RÈtsel heran, welches das reformatorische Wirken des Empedokles darbietet. Aus dem lebendigen VerhÈltnis zu den gÚttlichen Dingen ist die ReligiositÈt des Empedokles hervorgegangen; er kann historisch nur ver-

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standen werden, indem man den Àbergang begreiflich macht, der aus seinem ursprÝnglichen religiÚsen Verhalten zum Wunderglauben, zum Dogma, zu einer toten und Èußerlichen Stellung dem Lebendigsten gegenÝber gefÝhrt hat. HÚlderlin ist auch hier wieder der VorgÈnger Schleiermachers. Und lange und anhaltend hatte damals schon Hegel mit dem Problem des Fortgangs von der lebendigen ReligiositÈt zur positiven Religion, der VerÈußerlichung des Innern, der Bezeugung ewiger Wahrheiten durch Tradition und Wunder sich beschÈftigt. HÚlderlin verlegt in Empedokles die Auslegung der griechischen ReligiositÈt, wie sie aus seiner dichterischen Naturanschauung entsprungen und durch seinen Verkehr mit den griechischen GÚttern und Mythen genÈhrt worden war. Jenes absolute Ich, das fÝr Schelling zunÈchst ein abstrakter Begriff gewesen ist, war fÝr HÚlderlin zum großen trÚstenden Erlebnis geworden. In einer solchen Seelenverfassung gewann die griechische Mythologie ein neues Leben, wie sie das fÝr Schiller oder Goethe nie so gehabt hat. Das sind nicht mehr Personen, die in persÚnlichen VerhÈltnissen untereinanderstehen, getrennt von der Natur und dem menschlichen Leben, eine transzendente Welt: das Weben, sich Wandeln, Auf- und Niedersteigen, Befruchten und ZerstÚren zwischen dem lichten •ther und der Sonne, die an ihm hinzieht, der Mutter Erde, dem Ozean und den FlÝssen die er aufnimmt: das ist das Spiel der gÚttlichen KrÈfte selbst, der finsteren, die in der Erdtiefe herrschen, des ernsten traurigen Meergottes, des lichten Sonnengottes Apollon. Der Mythos ist hier zuerst wieder Wirklichkeit, erlebte Wirklichkeit geworden. Und durch all dies lebendige GefÝhl fÝr das Weben der Natur, „das Wandeln und Wirken ihrer GeniuskrÈfte“, geht nun das VerhÈltnis der Verwandtschaft mit ihr. Als die GÚtter den Empedokles verlassen haben, blickt er zurÝck auf die Jugendtage, in denen diese gÚttliche Welt ihm zuerst aufgegangen war. „O himmlisch Licht! es hatten michs Die Menschen nicht gelehrt – schon lange, da Mein sehnend Herz die Alllebendige Nicht finden konnt’, da wandt’ ich mich zu dir, Hing wie die Pflanze dir mich anvertrauend In frommer Lust dir lange blindlings nach. Denn schwer erkennt der Sterbliche die Reinen. Doch als der Geist mir blÝhte, wie du selber blÝhst, Da kannt’ ich dich, da rief ich es Du lebst! Und wie du heiter wandelst wie die Sterblichen Und himmlisch jugendlich den Schein Von dir auf jedes eigen Ýberstrahlst,

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Daß alle deines Geistes Farbe tragen, So grÝßt’ auch ich das Leben mit Gesang, Denn deine Seele war in mir und offen gab Mein Herz wie du der ernsten Erde sich, Der leidenden und oft in heilger Nacht Gelobt’ ichs ihr, bis in den Tod Die Schicksalsvolle furchtlos treu zu lieben Und ihrer RÈtsel keines zu verschmÈhn. Da rauscht es anders denn zuvor im Hain Und zÈrtlich tÚnten ihrer Berge Quellen Und feurig mild im Blumenodem weht’, O Erde! mich dein stillers Leben an. All deine Freuden, Erde! nicht wie du Sie lÈchelnd reichst dem SchwÈchern, herrlich wie sie reifen, Und warm und groß aus Lieb und MÝhe kommen, Sie alle gabst du mir und wenn ich oft Auf fernen BergeshÚhen saß und staunend Des Lebens heilig Irrsal Ýbersann, Zu tief von deinen Wandlungen bewegt Und eignen Schicksals ahndend – Dann atmete der •ther, so wie dir, Mir heilend um die liebeswunde Brust, Und zauberisch in deiner Tiefe lÚsten Sich meine RÈtsel auf.“ Aus dieser ReligiositÈt heraus, ja durch sie will Empedokles wirken. So entfaltet sich die Seelengeschichte. Das Motiv ihres Verlaufs ist der gefÈhrliche Weg des religiÚsen Genius, der mit seinem Erlebnis nach außen tritt. Denn damit unterstellt er sich den endlichen Bedingungen der religiÚsen Mitteilung, und die Gewalten der Zeit und des Volkscharakters, zu denen er herabsteigt, ziehen ihn nieder. Hegel schildert in seinem Gedicht an HÚlderlin, wie von den heiligen Weihen der Eleusinischen Mysterien jede Spur verschwand. „Dem Sohn der Weihe war der hohen Lehren FÝlle, des unaussprechlichen GefÝhles Tiefe viel zu heilig, als daß er trock’ne Zeichen ihrer wÝrdigte. Schon den Gedanken faßt die Seele nicht, die außer Zeit und Raum in Ahnung der Unendlichkeit versunken, sich vergißt und wieder zum Bewußtsein nun erwacht. Wer gar davon zu Andern sprechen wollte, fÝhlt der Worte Armut.“ So empfand auch HÚlderlin, und ihm erscheint als das tragische Schicksal des ReligiÚsen, daß doch zugleich in ihm aus der Liebe das Verlangen der Mitteilung entspringt. In

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dem, was der Priester Hermokrates scheltend von Empedokles sagt, ist ein wahrer Kern. „Dieser Allmitteilende“ „will Unauszusprechendes aussprechen“. Indem nun Empedokles der beweglichen sizilianischen Menge seiner Vaterstadt sich kundtun will, macht sich das zweite Moment geltend, das zur Entartung der lebendigen ReligiositÈt fÝhrt. Die AufklÈrung hat das in diesem Moment Enthaltene unter dem Begriff der Akkommodation zusammengefaßt. Wer sich mitteilt, paßt sich dem an, an den er sich wendet, und so wirken die Vorstellungen, die von ihm und seiner Lehre entstehen, auf ihn zurÝck. „Er trÚstet mit der rasenden Anbetung sich, verblindet, wird wie sie, die seelenlosen AberglÈubigen.“ Der, den die Menge als Gott verehrt, wird sich selbst zum Gotte. Und nun greift ein letztes Moment ein. Wohl wissen die Vertrauten des Empedokles, daß die grÚßte der wunderbaren Wirkungen, die er Ýbt, die Umwandlung der GemÝter der Menschen ist. Aber Wirkungen dunklerer und gefÈhrlicherer Art gehen von ihm aus, und hier liegt der Hauptgrund fÝr das Verderben seiner lebendigen ReligiositÈt. Empedokles steht in einem besonderen Bunde mit den KrÈften der Natur. Er benutzt sein inniges EinverstÈndnis mit der Natur, um sie zu beherrschen. Was die GÚtter ihm gewÈhrten, gebraucht er, um sich ihnen durch Wunder gleich zu machen. Der Dichter hat die Wunderberichte des Diogenes Laertius in ein geheimnisvolles Zwielicht gerÝckt. Von dem, den die GÚtter lieben gehen unfaßliche Wirkungen aus. Panthea erblickt etwas Zauberisches darin, wie der Vertraute der Natur sie durch seinen Heiltrank hergestellt hat. „Man sagt, die Pflanzen merkten auf ihn, wo er wandre, und die Wasser der Erde strebten herauf da, wo sein Stab den Boden berÝhre, und wenn er bei Gewittern in den Himmel blicke, teile die Wolke sich und hervor schimmere der heitere Tag.“ Und Empedokles widerspricht nicht dem Worte des Pausanias: „Und kennst du nicht die KrÈfte der Natur, Daß du vertraulich, wie kein Sterblicher, Sie, wie du willst, in stiller Herrschaft lenkst?“ Wer aber so Herrscher Ýber die Natur sein will, der wird sie entgÚttern und mechanisieren. Hier tut sich dem religiÚsen Tiefsinn HÚlderlins die Bedeutung eines Gegensatzes auf, welcher fÝr die Unterscheidung der Formen der ReligiositÈt wesentlich ist. Die ReligiositÈt der Ehrfurcht vor der gÚttlichen Natur, die er in Griechenland wirksam sah und die ihn selber erfÝllte, steht in schneidendem Gegensatz zu dem jÝdisch-christlichen Religionsglauben, der auf dem HerrschaftsverhÈltnis Gottes zu Natur und Menschen beruht und ein HerrschaftsgefÝhl des Menschen der Natur gegenÝber zur Folge hat. HÚlderlin haßte die EntgÚtterung der Natur in dem Christentum, in der christlichen AufklÈrung und in Fichte, dessen Philosophie hierin die AufklÈrung noch Ýberbot. Auf Fichte spielen zweifellos die Worte an:

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„Zur Magd ist mir Die herrnbedÝrftige Natur geworden, Und hat sie Ehre noch, so ists von mir. Was wÈre denn der Himmel und das Meer Und Inseln und Gestirn’ und was vor Augen Den Menschen alles liegt, was wÈr’ es auch, Dies tote Saitenspiel, gÈb’ ich ihm Ton Und Sprach’ und Seele nicht? was sind Die GÚtter und ihr Geist, wenn ich sie nicht VerkÝndige. Nun! Sage wer bin ich?“ Sicher hat auf diese und verwandte Ideen das GesprÈch mit Hegel fÚrdernd gewirkt. Schließlich sind es doch Gedanken, die aus dem eigensten religiÚsen Bewußtsein des Dichters stammten. Hegel hatte schon in der Schweiz eine Schrift entworfen, welche die von Lessing formulierte Aufgabe behandelt: wie entsteht aus der Religion Christi die positive Religion, die in Christus ihren Gegenstand hat? Aus der Arbeit an diesen Problemen ist dem großen Philosophen allmÈhlich seine historische Weltauffassung hervorgegangen. Er untersucht die Frage: wo lag in der Religion Jesu der Keim ihrer Umwandlung? Er sucht in die innere Verfassung der JÝnger zu blicken, nach welcher sie die lebendige Innerlichkeit der Religion Jesu nicht festzuhalten vermochten. Er geht dem nach, wie menschliche SchwÈche, welche die einheitliche Macht der Liebe nicht festzuhalten vermag, die Gottheit verÈußerlicht und das ihr Unerreichbare in einen jenseitigen Zustand verlegt, wie aus der Beschaffenheit der menschlichen Durchschnittsnatur der Èußere Glaube an Offenbarung und Wunder entspringt. In dem VerhÈltnis einer ursprÝnglichen ReligiositÈt zu der Welt, der sie sich mitteilen und auf die sie wirken will, liegt auch ihm die Notwendigkeit des positiven Glaubens. Empedokles ist so zum Àbermenschen geworden. Er hat sich vor dem in religiÚsen Anbetungstaumel geratenen Volke einen Gott genannt. Das GefÝhl seiner Àberkraft wurde unheilig. Das ist seine Schuld. Er kennt diese Schuld besser als der Priester. Dieser erblickt Ýberall nur VerhÈltnisse des Herrschens und Dienens, und so haßt und tadelt er den Empedokles, weil er das Herrschergeheimnis, das in der Gewalt Ýber die Natur liegt, an das Volk verraten hat; Empedokles aber durchschaut, wie eben in der Anmaßung solcher Herrschermacht seine Schuld liegt. Sie hat ihn den gÚttlichen KrÈften entfremdet, „Weh! einsam! einsam! einsam! Und nimmer find’ ich Euch, meine GÚtter,

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Und nimmer kehr’ ich Zu deinem Leben, Natur! Dein GeÈchteter! weh! Hab’ ich doch auch Dein nicht geachtet, dein Mich Ýberhoben.“ Er weiß auch wie das gekommen. „Des Himmels SÚhnen ist Wenn ÝberglÝcklich sie geworden sind, Ein eigener Fluch beschieden.“ Kein RÈcher der GÚtter erhebt sich gegen ihn, aber in seiner Trennung von der Natur und ihren gÚttlichen KrÈften und in dem Leiden daran erfÈhrt er die Tiefe seiner Schuld. Diese ganze Entwickelung des Empedokles liegt der TragÚdie voraus. In einer der ersten Szenen tritt Empedokles auf, in tiefstem Seelenleiden, als ein ganz verwandelter Mann. So erscheint ³dipus im Beginn der TragÚdie auf Kolonos und der rasende Ajax. Die Kunstform der TragÚdie HÚlderlins ist der des ³dipus von Sophokles nÈchstverwandt; hier aber macht sich nun von neuem eine EigentÝmlichkeit der Form HÚlderlins geltend, die in anderer Art an seinem Roman sich zeigte. Dem zweiten ³dipus geht die dramatische Darstellung der Schuld des Helden voraus. Im Empedokles ist in die TragÚdie selbst die ganze Entwickelung des Helden aufgenommen: seine fromme Jugendseligkeit, sein ungestÝmes Wirken, seine Schuld sind immer gegenwÈrtig: in den Reden der Mithandelnden treten sie dem Zuschauer entgegen: sie sind Bestandteile der Gesamtstimmung, welche die TragÚdie durchdringt. Solche Zusammenfassung der Zeiten in einer Seelenverfassung ist Ýberall das LebensgefÝhl in HÚlderlin, bis hinein in seine kurzen Gedichte. Die Handlung geht nach dem Muster des zweiten ³dipus in stetigem und kurzem Verlauf zum freiwilligen Tod des Helden. Doch entspricht dem neuen Gehalt der TragÚdie ein eigener Bau dieser Handlung. Ich gehe von den Begriffen aus, die HÚlderlin selbst in den Anmerkungen zu seinen SophoklesÝbersetzungen entwickelt hat; diese Anmerkungen stammen aus der Zeit seiner geistigen ZerrÝttung, enthalten aber mehrfach Ideen, die ohne Zweifel lange von ihm gehegt wurden und in seine gesunde Zeit zurÝckreichen. Sie knÝpfen an jenen Grundbegriff vom Rhythmus des Lebens an, der in der Dichtung zum Ausdruck gelangt. So stellt sich ihm der Verlauf der TragÚdie als ein Rhythmus dar, und was wir im Silbenmaße als CÈsur bezeichnen, erscheint in der Form der TragÚdie als die Stelle, an welcher auf dem HÚhepunkt der Handlung, der die Peripetie bildet, sich das, was an dem Zuschauer vorÝberging, in seinem Bewußtsein zusammenfaßt; so wird dieser HÚhepunkt zum Ruhepunkt und sondert von dem ersten Teil der TragÚdie den zweiten. Von den beiden Formen, die HÚlderlin am Rhythmus der TragÚdie unter-

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Die TragÚdie Empedokles.

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scheidet, ist die eine dadurch bestimmt, daß auf einen Anfang jeder folgende Teil sich zurÝckbezieht und so das im Anfang Gegebene sich immerfort vertieft. Dies ist die Form seines Empedokles. Derselbe zerfÈllt in einen Teil, in dem das Leiden der Schuld bestÈndig tiefer sich in die Seele des Helden eingrÈbt, und in den anderen, in dem der Todesentschluß nunmehr eine Steigerung seines Wesens bis zu erhabener VerklÈrung herbeifÝhrt. Der Aufbau des ersten Teiles empfÈngt eine von dem Zusammenhang der antiken TragÚdie unterschiedene Form durch die Schicksalsidee HÚlderlins, die schon im Hyperion uns entgegentrat und die nun seine TragÚdie gÈnzlich von der antiken unterscheidet. Durch sie sind die inneren und Èußeren VorgÈnge, die im ersten Teile zusammenwirken, miteinander verknÝpft. Wie das Schicksal, das in der Seele des Helden verlÈuft, ihn mit innerer Notwendigkeit vorwÈrtsschreiten lÈßt von der Schuld zur Unseligkeit und von dieser zur SÝhne, hat alles, was von außen wirkt nur darin seine Bedeutung, daß es diesen Vorgang verstÈrkt und beschleunigt. Ein Gesetz ist wirksam im Leben, nach welchem, wenn ein Mensch durch eigenes Tun innerlich zerrÝttet ist, nun Alles um ihn zugreift, sich seiner bemÈchtigt und ihn zerstÚrt. Das tragische Schicksal ist hier nicht eine Èußere Beziehung zwischen einer Schuld und einer von der gÚttlichen Ordnung verhÈngten Strafe, sondern es ist ein ursÈchlicher Zusammenhang, der aus der Wechselwirkung der menschlichen KrÈfte selber folgt. Indem Empedokles das alte VerhÈltnis zu den MÈchten der Natur und des Lebens verloren hat und darum die Sicherheit, mit der er Menschen und Dinge beherrschte, ihm geschwunden ist, hat er selbst den Moment herbeigefÝhrt, auf den seine Gegner warteten. HÚlderlin setzt der kÚniglichen Natur des Empedokles, in der die Energie des Ideals wirksam ist, in dem Priester Hermokrates einen Menschen gegenÝber, der mit hartem Wirklichkeitssinn das Getriebe des Lebens Ýberschaut, der Empedokles gewachsen ist, weil er fÈhig ist ihn zu verstehen und nÝchterner als er die Masse zu nehmen und zu lenken weiß. Nach Priesterart bedient er sich zu seinem Ziel zu gelangen des weltlichen Armes. In einer großen Szene, in welcher der Priester das Ansehen des ÀbermÈchtigen bei dem Volke zerstÚrt, hat HÚlderlin dem Worte gegeben, was er damals still in sich trug, seiner Abneigung gegen das Kirchenwesen seiner Zeit, dem Haß und der Verachtung gegen alle Niedrigkeit der Menschen, die er erfahren, die ihn einsam gemacht, ihn mit albernem Klatsch verfolgt und die bescheidenste Existenz ihm unmÚglich gemacht hatte. Es ist derselbe Affekt, der in einigen Gedichten dieser Periode und in den Anklagen seines Romans gegen die deutsche Nation sich ausspricht. Die letzte Tiefe des Leides ist erreicht, als dem Verbannten, der dem •tna sich zugewandt hat, versagt wird in einer BauernhÝtte zu ruhen. Jetzt tritt die

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Friedrich HÚlderlin.

Wendung ein. Er faßt den Todesentschluß, und SchwÈche und Leid machen von diesem Moment ab einer erhabenen Ruhe Platz. Der zweite Teil der TragÚdie beginnt. Es ist die Darstellung der VerklÈrung des Empedokles, seine Gestalt wÈchst vor unseren Augen bis zur Erhabenheit des Heiligen, der seinem Volk in freiwilligem Tode sich opfert. Wie ergreifend ist das persÚnliche Moment in diesem Vorgang! Empedokles ringt die Erinnerung an seine Schmach nieder; schamvoll, leise sagt er dem Liebling: „Wir sprechen vom Geschehenen nicht mehr.“ Das ist HÚlderlin selbst, der der Last seiner Erinnerungen erliegt. „Still! hinunter soll’s! Begraben soll es werden, tief, so tief, Wie noch kein Sterblicher begraben ist.“ Der alte SÝhnegedanke erscheint psychologisch vertieft durch das Bewußtsein, daß das verlorene GlÝck nur um den Preis des Todes wiederkehren kÚnne. „Umsonst wird nichts den Sterblichen gewÈhrt.“ Er kann auf dem Boden dieser Erde, wo alles davon spricht was ihm geschehen, nicht lÈnger weilen. Àber diese persÚnliche Bedeutung des freiwilligen Todes erhebt sich eine mystische: versÚhnt mit seinen reuevoll zu ihm zurÝckgekehrten Volksgenossen verkÝndet Empedokles ihnen das Evangelium der Natur, die neuen Ordnungen eines starken freien Volkes, und in hÚchstem Enthusiasmus der Tat und des Todes beharrt er darauf freiwillig zu enden: denn „der muß weg, durch den der Geist geredet“. Den •tna nennt er seine OpferstÈtte. Sein Tod ist das Wunder, dessen die Blinden bedurften. Dies Wunder vollzieht sich in der Tiefe des Herzens, das die Lebendigkeit der Natur so fÝhlt, daß es die RÝckkehr zu ihr nicht mehr fÝrchtet. „O die TodesfÝrchtigen lieben dich nicht, sie veralten, Verschieden von dir – o heilig All! Lebendiges! inniges.“ „Es offenbart die gÚttliche Natur Sich gÚttlich oft durch Menschen, so erkennt Das vielversuchende Geschlecht sie wieder, Doch hat der Sterbliche, dem sie das Herz Mit ihrer Wonne fÝllten, sie verkÝndet, O laßt sie dann zerbrechen das GefÈß, Damit es nicht zu anderm Brauche dien’ Und GÚttliches zum Menschenwerke werde.“ „Und wenn ihr morgen Mich nimmer findet, sprecht: veralten sollt’ Er nicht und Tage zÈhlen, dienen nicht Der Sorge, ungesehen ging Er weg und keines Menschenhand begrub ihn, Und keines Auge weiß von seiner Asche;

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Denn anders ziemt es nicht fÝr ihn, vor dem In todesfroher Stund’ am heil’gen Tage Das GÚttliche den Schleier abgeworfen, – Den Licht und Erde liebten, dem der Geist, Der Geist der Welt den eig’nen Geist erweckte, In dem sie sind, zu dem ich sterbend kehre.“ Ein großer politisch-religiÚser Glaube geht durch die Dichtungen HÚlderlins und die verschiedenen Zeiten seines kurzen Lebens. Am lautersten und tiefsten tritt er doch in den BruchstÝcken dieser TragÚdie hervor. Ihn unterscheidet von Goethe und selbst von Schiller das lebendige GefÝhl von einer herannahenden neuen Ordnung der Dinge. Er sah, daß diese auf einen großen Glauben gegrÝndet sein mÝsse, der die Natur, den Menschen und die Gesellschaft inniger verbÈnde. Wie er aus schlichten LebensverhÈltnissen voll Sorge und MÝhsal hervorgegangen war und immer wieder in sie zurÝckkehrte, selber ein mit der Not schwerkÈmpfender Mann, fÝhlte er besser als jene Großen und GlÝcklichen das Herannahen der Umgestaltung der ganzen Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts. Die Gesetze und BrÈuche der Vergangenheit sollen vergessen werden bis auf die Namen der alten GÚtter. „Vergeßt es kÝhn und hebt, wie Neugeborne, Die Augen auf zur gÚttlichen Natur!“ StÈrke, Freiheit, SchÚnheit des Lebens erwartet er. „SchÈmet euch, daß ihr noch einen KÚnig wollt.“ „Dies ist die Zeit der KÚnige nicht mehr.“ Wie vor HÚlderlins Phantasie sein Drama stand, genÝgte ihm nicht was er geschrieben hatte. Der Entwurf neuer Szenen von stÈrkerer Bewegung und Freiheit des Rhythmus deutet auf den Plan einer neuen Bearbeitung. Er selber wandelte sich, dichter senkten sich die Schatten Ýber seinen Geist, immer Tieferes gedenkt er in den freiwilligen Tod des Empedokles zu legen. Immer verwandter werden seine Ideen Ýber Schicksal, Opfer und Tod denen seines großen philosophischen Freundes. So entstand ein neuer Plan der TragÚdie. Nur drei zusammenhÈngende Szenen sind davon erhalten. Sie deuten auf ein religiÚses Drama. Die Gestalten schreiten und sprechen in feierlicher Erhabenheit, wie von den GewÈndern archaistischer griechischer Statuen umflossen. Hier vernimmt man nichts mehr von einer VersÝndigung des Empedokles an den gÚttlichen KrÈften. Er trÈgt an jener schuldlosen Schuld, welcher nach Hegel die erhabenen tragischen Gestalten der Geschichte unterliegen – Christus, Sokrates. Àbermaß der Liebe war es, was den Widerstand der Welt gegen ihn hervorgerufen hat und ihn zum freiwilligen Tode fÝhrt: das ist der Zusammenhang seines Schicksals. „Beim Totenrichter! wohl hab’ ichs verdient! Und heilsam wars; die Kranken heilt das Gift, Und eine SÝnde straft die anderer, Denn viel gesÝndiget hab’ ich von Jugend auf, Gedient, Wie Wasser nur und

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Feuer blinder dient. Darum begegneten auch menschlich mir Sie nicht, o darum schÈndeten sie mir Mein Angesicht, und hielten mich, wie dich, Allduldende Natur! du hast mich nun Du hast mich, und es dÈmmert zwischen dir Und mir die alte Liebe wieder auf.“ In dem Knaben war das Walten der gÚttlichen KrÈfte Gesang geworden, „dichtendes Gebet“; da ergriffen ihn die Wirren der Vaterstadt. Er erkannte in ihnen „den scheidenden Gott seines Volks“. Umsonst war sein Wirken, ihm blieb nur die SÝhne durch den Tod. Diesen Empedokles durchwaltet der tragische Zug, den Winckelmann und Goethe am griechischen Wesen nicht gewahrt haben: HÚlderlin verstand ihn. In dieser Welt bestÈndig entstehender und vergehender Stadtstaaten gibt es keinen Gedanken an ein Fortschreiten des menschlichen Geschlechts: alles ist Wechsel. Wie Empedokles anklingend an seine geschichtlich bezeugten Lehren seinem SchÝler sagt: „Geh fÝrchte nichts, es kehret alles wieder, Und was geschehen soll ist schon vollendet.“ Daher diese Sehnsucht nach der ewigen Natur. In ihr ist Vergessenheit dessen was die Menschen ihm getan, Einigkeit in dem was jetzt getrennt ist, eine Harmonie, wie Dichtung sie nicht erreicht. Auch diese lÈßt er nun hinter sich. „O Melodien Ýber mir, es war Ein Scherz, ihr FÝhlenden, mit euch, Und kindisch wagt’ ich sonst euch nachzuahmen. Ein leichtes Echo fÝhllos tÚnte Und unanstÈndig nach in mir, Nun hÚr’ ich ernster euch, ihr GÚtterstimmen!“ Und schließlich erleuchtet eine kÝhne Symbolik den SÝhnetod des Empedokles. Auf dem •tna, da er eben zum Ende sich bereitet, tritt Manes ihm gegenÝber – eine ReprÈsentation des Ègyptischen Geistes. So hat Platon das zeitlose Wissen dieses geheimnisvollen Volkes in Gegensatz gestellt zu dem jungen verwegenen Drang zu erkennen und zu handeln in den Griechen. Eine finstere, blutleere, tatlose Weisheit geht von dem •gypter aus. Er versteht den Christus der kommen wird, den zeitlosen VersÚhner alles Menschlichen, der um nicht alle Verehrung der Welt an sein Dasein zu knÝpfen „er selbst sein eigen GlÝck zerbricht, das ihm zu glÝcklich ist“. Den Griechen versteht er nicht, der seinem Stadtstaat sich opfert und freudig der alllebendigen Natur sich hingibt. Eine Skizze von ein paar Zeilen deutet auf den beabsichtigten weiteren Verlauf. Der „Allwissende“, Àberlegene muß von Empedokles lernen, wie eben in der tÚdlichen Energie, mit welcher dieser Grieche den Untergang seines Landes fÝhlt, die GewÈhr dafÝr liege, daß er auch das neue Leben desselben ahnend vorauszuschauen wisse. Und so wird er der Vollstrecker des Testamentes von Empedokles sein und Agrigent das Letzte, was der Scheidende zur Wiederherstellung seiner Stadt zu sagen hat, verkÝnden. Ohne Zweifel besteht ein Zusammenhang zwischen diesem Ideenkreis des Dichters und den religiÚsen Konzeptionen Hegels. Beide hatten lange Ýber die

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christliche ReligiositÈt und den Schicksalsbegriff der griechischen TragÚdie gesonnen. Sie hatten jene wie diesen hinter sich gelassen. Nicht in der Verkettung der Begriffe von Gesetz, Gerechtigkeit, Strafe und Opfer fanden sie das VerstÈndnis des Lebens, dem sie nachgingen. Und ebensowenig in den Relationen, in denen die tragische Schicksalsidee des Sophokles verlÈuft. Jenseit aller transzendenten Begriffe und aller beschrÈnkten moralischen Deutung des Lebens fanden sie dessen Sinn, die in ihm waltenden Beziehungen der KrÈfte, in denen die TragÚdie der großen Menschen gegrÝndet ist, durch vergleichende geschichtliche Betrachtung, welche den großen ObjektivitÈten unbefangen hingegeben ist. In derselben Zeit, in der Hegel dem nachging, hat HÚlderlin, nun schon von dem Freunde getrennt, den Empedokles geschrieben und seine neuen Hymnen, die von demselben Geist einer freien Vergleichung der Religionen erfÝllt sind. Und die •hnlichkeit der Ideen beider reicht tiefer in deren Inhalt hinein. „Je lebendiger“ – sagt Hegel – „die Beziehungen sind, aus denen, weil sie befleckt sind, eine edle Natur sich zurÝckziehen muß, da sie, ohne sich selbst zu verunreinigen, nicht darin bleiben kÚnnte, desto grÚßer ist ihr UnglÝck. Dies UnglÝck ist weder ungerecht noch gerecht. Es wird nur dadurch ihr Schicksal, daß sie mit eigenem Willen, mit Freiheit jene Beziehungen verschmÈht.“ „Das UnglÝck kann so groß werden, daß sie ihr Schicksal im Verzichttun auf das Leben so weit treibt, daß es sich ganz ins Leere zurÝckziehen muß. Indem sich aber so der Mensch das vollstÈndigste Schicksal selbst gegenÝbersetzt, so hat er sich zugleich Ýber alles Schicksal erhoben. Das Leben ist ihm untreu geworden, aber er nicht dem Leben.“ „Die hÚchste Freiheit ist das negative Attribut der SchÚnheit der Seele, d. h. die MÚglichkeit auf Alles Verzicht zu tun.“ Genauer als ich mir an dieser Stelle gestatten darf, kÚnnen diese Beziehungen zwischen Hegel und HÚlderlin durch die Hinzuziehung des Aufsatzes „Grund zum Empedokles“ aufgeklÈrt werden. So war schließlich HÚlderlin zur Idee einer TragÚdie gelangt, in welcher der KÝnstler die Natur der gÚttlichen Dinge verkÝndige. Immer war ihm die Kunst das Organ hÚchsten WeltverstÈndnisses gewesen. Innerhalb der unantastbaren Regeln, wie sie aus den Darstellungsmitteln der TragÚdie sich ergeben und von Lessing in einem ersten Entwurf formuliert wurden, ging er einer der hÚchsten MÚglichkeiten kÝnftiger Entwickelung nach. Was er wollte hat mit den reicheren GefÝhlsmitteln der Musik Richard Wagner im Parzival verwirklicht. Vergebens bot HÚlderlin eine Melodie der Sprache auf, die selbst zu Goethe neue Mittel hinzubringt, um in der TragÚdie diese Aufgabe zu lÚsen. Wenn einst auf einem nationalen Theater uns Wallenstein und Faust gespielt werden, wird vielleicht auch seine erhabenste KÝnstlersehnsucht erfÝllt und das religiÚse Drama der Griechen erneuert werden. Ihm hat die Ungunst seiner Zeit dies zu leisten verwehrt.

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„Nur e i n e n Sommer gÚnnt, ihr Gewaltigen! Und e i n e n Herbst zu reifem Gesange mir, Daß williger mein Herz, vom sÝßen Spiele gesÈttigt, dann mir sterbe! Die Seele, der im Leben ihr gÚttlich Recht Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht; Doch ist mir einst das Heil’ge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen: Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel Mich nicht hinabgeleitet; e i n m a l Lebt’ ich, wie GÚtter, und mehr bedarf’s nicht.“

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DIE GEDICHTE. HÚlderlins poetische Kraft fand in seinen Gedichten den vollendetsten Ausdruck. In der nachgoetheschen Lyrik nimmt er eine der ersten Stellen neben Novalis, Uhland, MÚrike ein: in diesem Bereich der Lyrik wird erst seine ganze Bedeutung sichtbar; sind doch in der Musik und der ihr verwandten Lyrik die SchÚpfungen unserer Nation denen jedes anderen Volkes Ýberlegen. Den lyrischen Dichtern ist gegeben, den stillen Ablauf innerer ZustÈnde, der sonst vom Getriebe der Èußeren Zwecke gestÚrt und von dem LÈrm des Tages ÝbertÚnt wird, in sich zu vernehmen, festzuhalten, zum Bewußtsein zu erheben. Indem sie so in uns selber einen Zusammenhang inneren Lebens wieder aufrufen, der auch in uns einmal da war, aber nicht so stark, nicht so eigen, in so ungestÚrtem Ablauf und so mit Bewußtsein aufgenommen, wird ihre Kunst zum Organ, uns im PersÚnlichsten besser zu verstehen und unsern Gesichtskreis Ýber die eigenen GemÝtserlebnisse hinaus zu erweitern. Die Genies des GemÝts offenbaren einem jeden von uns seine eigene innere Welt, und sie lassen in eine fremde, die uns doch auch verwandt ist, hineinblicken. In der FÝlle dieser dichterischen IndividualitÈten erfassen wir den Reichtum der menschlichen Innerlichkeit. Sonach verstehen wir einen lyrischen Dichter und erkennen seine Bedeutung, indem wir das Neue auffassen, das ihm von ZÝgen menschlicher Innerlichkeit und kÝnstlerischen Ausdrucksmitteln fÝr sie aufgegangen ist.

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So ist auch hier wieder in dem Erlebnis der SchlÝssel fÝr das VerstÈndnis der Dichtung zu finden. Und was uns aus HÚlderlins Leben und aus den beiden großen Werken, in denen er es darstellte, entgegenkam, schließt sich nun zusammen zur Auffassung seiner Lyrik, in der seine unvergÈnglichen kÝnstlerischen Leistungen liegen. In diesem Leben fanden wir die Erlebnisse, an die sich seine Gedichte anschließen, die Perioden seiner Lebensverfassung, welche auch die seiner dichterischen Form bestimmten, und diese Werke lassen uns seine Lebensverfassung und den Umkreis der in ihr enthaltenen Stimmungen in den Symbolen auffassen die er hierfÝr gefunden hat. So war denn die ganze bisherige Darstellung immer auch darauf gerichtet, den Gehalt der Gedichte HÚlderlins verstÈndlich zu machen, und der Zusammenhang zwischen diesem Gehalt und der inneren und Èußeren Form der Lyrik kann jetzt erst zur Einsicht kommen. Ich gehe von Goethe aus; denn nur so kann das Neue in den spÈteren Dichtern richtig eingeschÈtzt werden. Goethe steht der Welt gegenÝber in einer unvergleichlichen Kraft, sich zu fÝhlen und in jeder Lebensbeziehung zu behaupten. Wie er mit seiner ganzen Energie im Moment lebt, so gehen seine Gedichte vom Erlebnis aus; alles was ein Vorgang auf eine unendlich reizbare Natur wirken kann, die seinen ganzen GefÝhlsgehalt stark und lebendig erfÈhrt, durchlebt Goethe und stellt es im Gedicht hin: rein, entschieden und allgemeingÝltig. Indem er so den GefÝhlsgehalt jeder Lage erschÚpft, scheint sich in dem unermeßlichen Reichtum seiner Lyrik das ganze VerhÈltnis eines typischen Menschen zur Welt abzuspiegeln. Von diesen Gedichten geht eine nie versiegende Kraft aus, jedem GefÝhlswert der Welt so wie er, unbefangen sich hinzugeben, ohne sich an ihn zu verlieren. Denn auch in seinen schmerzlichsten Gedichten fÝhlen wir, er werde jedes Leides einmal Herr werden, eine neue Sonne werde scheinen, und mit derselben Kraft werde er neuen Begebenheiten entgegengehen. HÚlderlin lebte immer im Zusammenhang seiner ganzen Existenz. Stets wirkte auf sein GefÝhl des Moments was er erlitten hatte und was kommen konnte. Er hielt das alles in sich zusammen. Es ist als ob der Augenblick, in dem Goethe so mÈchtig lebte, keine wahre RealitÈt fÝr ihn hÈtte. Schon der Knabe sah wehmÝtig dem lustigen Treiben der Genossen zu, unfÈhig, sich ganz dem Moment hinzugeben. Und war es nun sein Temperament oder die Wirkung seines Schicksals: jederzeit ist ihm versagt geblieben, mit einfachem starkem GefÝhl in der Wirklichkeit sich auszuleben. Die Sehnsucht nach der großen griechischen Vergangenheit verdarb ihm das GefÝhl der Gegenwart. Seine Ideale von Vaterland, Heldentum und Freiheit schufen ihm nur Schmerzen und unbestimmte, immer mehr in unerreichbare Ferne sich verlierende Hoffnungen. Und seine Liebe selbst war beglÝckte Gegenwart nur

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durch seine reine und unsinnliche FÈhigkeit, an dem bloßen Bewußtsein geliebt zu werden sich genÝgen zu lassen. Wo ist ein anderes Dichterleben aus so zartem Stoff gewebt, wie aus Mondenstrahlen! Und wie sein Leben, so war seine Dichtung. In einer solchen Natur, die bestÈndig in dem ganzen Zusammenhang der Innerlichkeit lebt, wirkt das Vergangene wie Gegenwart. Das Dasein des Eremiten Hyperion ist ganz erfÝllt von den Geistern dessen was gewesen ist. Empedokles fÝhlt so stark den Druck des Vergangenen, daß er eine Befreiung davon nur im Tode hofft. Dasselbe zusammenhaltende und gemischte GefÝhl des Lebens ist in HÚlderlins Gedichten. Nichts Spielendes, Leichtes, Einschmeichelndes ist in ihnen. Der Zusammenhang seines persÚnlichen Daseins wird nun fÝr den philosophischen Dichter zu dem des Lebens selber. Seine Gedichte begleiten was auf der BÝhne des Lebens geschieht, wie der Chor der sophokleischen TragÚdie. Wenn in Schillers philosophischen Gedichten aus der Welt der Ideen eine Stimmung kommt, unabhÈngig vom einzelnen Erlebnis: so folgt solchem Vorbild HÚlderlin in seinen ersten großen Hymnen, um dann doch in den spÈteren zu einer echteren lyrischen Form fortzugehen: aus der Stimmung, welche eine ideelle Welt in ihm hervorruft, erhebt sich ein im Zusammenhang des GefÝhls gegrÝndeter Verlauf: wie die Vision eines Sehers treten in den schÚnsten dieser Gedichte die vom Gang des GefÝhls bestimmten Phantasiebilder auf. Aber die bedeutendsten SchÚpfungen seiner Lyrik sind doch die, in denen an einem Erlebnis ein allgemeiner Zug des Lebens ihm aufgeht. Er arbeitet unablÈssig daran, solche ZÝge bald in Umbildung desselben Gedichtes, bald in mehreren zu immer vollkommnerem Ausdruck zu bringen; auch hierin mag er mit BÚcklin verglichen werden. Abendstimmung die das GemÝt in sich selbst zurÝckfÝhrt und den Kampf des Tages in Frieden ausklingen lÈßt. Vor seiner HÝtte ruhig im Schatten sitzt Der PflÝger, dem GenÝgsamen raucht sein Herd. Gastfreundlich tÚnt dem Wanderer im Friedlichen Dorfe die Abendglocke. Wohl kehren jetzt die Schiffer zum Hafen auch, In fernen StÈdten frÚhlich verrauscht des Markts GeschÈft’ger LÈrm; in stiller Laube GlÈnzt das gesellige Mahl den Freunden. Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen Von Lohn und Arbeit; wechselnd in MÝh’ und Ruh’

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Am Abendhimmel blÝhet ein FrÝhling auf; UnzÈhlig blÝhen die Rosen, und ruhig scheint Die goldne Welt; o dorthin nehmt mich, Purpurne Wolken! und mÚge droben In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb und Leid! – Doch, wie verscheucht von tÚrichter Bitte, flieht Der Zauber; dunkel wirds und einsam Unter dem Himmel, wie immer, bin ich. – Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt Das Herz; doch endlich, Jugend, verglÝhst du ja, Du ruhelose, trÈumerische! Friedlich und heiter ist dann das Alter.

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Oder HÚlderlin nimmt einen Gegensatz in seine GemÝtsverfassung auf; die Sehnsucht nach der vergangenen griechischen Welt, nach dem Farbenglanz der sÝdlichen Natur und ihr gegenÝber das ruhige GlÝck eingeschrÈnkter Gegenwart, die stillen TÈler, durch die zwischen Wiesen und Wald Neckar und Rhein dahingehn. Dann wieder reines hingegebenes Auffassen der Ýberall wirkenden KrÈfte der Natur, in deren gewaltiger Wechselwirkung unser eigenes Dasein beschlossen ist. Wenn die Lyrik Goethes die Natur immer in ihren BezÝgen zu dem Dichter selbst darstellt, so tritt sie uns bei HÚlderlin als das alllebendige Ganze entgegen, dessen ewigen Gewalten von Gestirnen, KrÈften, GÚttern der Mensch untertan ist. Hier liegt verglichen mit den Gedichten Goethes vor seiner Altersperiode eines der wirksamsten Momente in HÚlderlins neuer Dichtung. Und alle diese BezÝge des Lebens sind in einer eigenen Stimmung miteinander verbunden. Eine ideale Natur, ausgestattet mit hÚchster EmpfÈnglichkeit fÝr alle Werte des Daseins, findet sich in jenem Widerstreit der Ideale mit der Welt, den Schiller so ergreifend ausgedrÝckt hat, sie wird zu einer eigenen metaphysischen Anschauung gefÝhrt, die aus der VergÈnglichkeit hervorgeht, als der Natur der Zeit selbst, aus der UnmÚglichkeit, SchÚnheit, Heldentum und Kraft dem Widerstreben der trÈgen Masse gegenÝber durchzusetzen, aus der Einsamkeit in der eine entwickeltere IndividualitÈt sich findet. In dieser Stellung zum Leben ist HÚlderlin der Genosse des jungen Hegel und Schopenhauer, und seine Lyrik bringt eine neue Empfindung der Welt gegenÝber zum Ausdruck. Und das ist nun auch was uns mit eigener Gewalt zu ihm hinzieht.

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Wenn wir den Gang seines Lebens in seinen Gedichten verfolgen, von der Zeit der Ideale, von der jugendlichen VerklÈrung des Daseins abwÈrts zu dieser Seelenverfassung, so ruft er ein unsÈgliches Mitleid hervor. Wie rÝhrt seine stille Fassung dem Leben gegenÝber, der leise und mÝde Ton, der wahrhaftiger wirkt als alle Invektiven Schopenhauers gegen das Leben, die lautere Einfachheit seiner Worte! In diesem gefaßten, schlichten, leisen Ton war er Sophokles verwandt und hat von ihm gelernt. Diese Gedichte greifen uns an die Seele. Jedem Gedicht – und ebenso jedem musikalischen Instrumentalwerk – liegt ein durchlebter seelischer Vorgang zugrunde, der auf die Innerlichkeit des Individuums im GefÝhl zurÝckbezogen ist. Mag ein solcher Ablauf innerer ZustÈnde nun hervorgerufen sein durch ein Einzelerlebnis das von außen bestimmt ist, oder durch Stimmungen, die von innen unabhÈngig von der Èußeren Welt aufsteigen, oder auch durch eine Ideenmasse, sei sie geschichtlich oder philosophisch: immer bildet dieser GefÝhlsverlauf den Ausgangspunkt fÝr das Gedicht und den Gehalt, der in ihm zum Ausdruck kommt. Das lyrische Genie liegt zunÈchst in der Eigenheit des lyrischen Dichters, kraft deren er diesen inneren Vorgang nach der ihm eigenen Gesetzlichkeit voll und rein durchlebt, ihm ganz hingegeben, unberÝhrt von dem was von außen diesen gesetzlichen Ablauf stÚren kÚnnte. Es bringt die in einem solchen Verlauf bestehende teleologische Gesetzlichkeit zum Ausdruck. HÚlderlin war solch echtes lyrisches Genie. Seine tatlose Innerlichkeit, seine Ferne vom Weltlauf, seine in sich gekehrte Tiefe des GemÝtes: alles wirkte dahin, ihm die leise dahinfließenden Rhythmen des Ablaufs unserer GefÝhle vernehmbar zu machen. Wie ein anfÈnglicher GefÝhlszustand sich in seinen Teilen entfaltet und schließlich in sich zurÝckkehrt, nun aber nicht mehr in seiner ersten Unbestimmtheit, sondern in der Erinnerung des Verlaufs zusammengenommen zu einer Harmonie, in welcher die einzelnen Teile zusammenklingen; wie unser GefÝhl anschwillt und dann in einer Wendung des seelischen Verlaufs langsam sinkt; wie ein Kampf kontrastierender GefÝhle in uns sich lÚst oder wie der hÚchsten Steigerung eines allzu Schmerzlichen die Beruhigung folgt. Diesem Vorgang, aus dem ein Gedicht entspringt, geht nun nicht der schaffende Vorgang selbst zur Seite; nur einzelne TÚne mÚgen in die Momente seines Ablaufs hineinklingen: das eigene VermÚgen des lyrischen Dichters besteht darin, jenen Vorgang festzuhalten, sich gegenstÈndlich zu machen und nun an einem Ausdruck fÝr ihn zu bilden. Es gibt Dichter in denen wie in Goethe der Fortgang vom Erlebnis zur dichterischen Darstellung oftmals rasch verlaufen mag: HÚlderlin bildete langsam an dieser Darstellung. Wie der Instrumentalmusiker lange Zeiten hindurch arbeitet am breiten musikalischen Ausdruck des ersten Erlebnisses, wobei ihm dann neue GefÝhlsvorgÈnge im-

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mer wieder zu Hilfe kommen, so scheint HÚlderlin lange gearbeitet zu haben, den Rhythmus des GefÝhlsverlaufs in seinen einfachen wesenhaften ZÝgen herauszuheben, seine Glieder fest aneinander zu binden und im inneren Fluß der Sprache ihm Ausdruck zu geben. Denn das ist in HÚlderlins lyrischem Schaffen der herrschende Zug: er erhebt den Vorgang zum bewußten Zusammenhang in allen seinen wesentlichen Gliedern, auch in denen die ihm unmerklich und flÝchtig durch die Seele gingen. Es ist ein besonderer Reiz des Volksliedes, daß die dunklen nur halb bemerkten Beziehungen, welche die stÈrkeren GefÝhlsvorgÈnge miteinander verbinden, die Stellen in dem Verlauf des GefÝhls, an denen es gleichsam unter der Erde weiterfließt, keinen Ausdruck im Worte finden. Goethe hat den glÝcklichsten Gebrauch hiervon gemacht. HÚlderlin stilisiert den inneren Vorgang, an den das Gedicht anknÝpft. Er erhebt ihn zum bewußten Zusammenhang. Er verlegt zunÈchst in seinen strophischen gereimten Gedichten, in denen die Verse trennend wirken, diesen Zusammenhang in die syntaktische Verbindung aller Teile, welche durch die Versabschnitte hindurch in Einem Flusse geht. Dann genÝgt ihm das nicht mehr. Im Hexameter und im elegischen Versmaß findet er ein Mittel, von der Strophe sich zu befreien, und bildet durch seine Art der Behandlung dieser Versmaße in ihnen den Fluß des GefÝhlsverlaufs nach. Aus der strophischen Lyrik der Griechen und RÚmer entnimmt er dann Versmaße, die ihm gestatten in dem sanften gesetzmÈßigen Spiel der Hebungen und Senkungen den Zusammenhang auszudrÝcken, der alle Teile seiner Gedichte verbindet. Und auch von da drÈngt es ihn schließlich dazu fort, in freien Rhythmen ohne jede Strophenabteilung den Vorgang unaufhaltsam ablaufen zu lassen. Nur in seinen letzten Hymnen lÚst sich die Festigkeit des Zusammenhangs. In solcher Stilisierung des Vorgangs liegt eine Gefahr, der HÚlderlin nicht immer entgangen ist. Wie auch in der Phantasie der seelische Vorgang, von dem eine Dichtung ausgeht, ausgebildet und durch verwandte VorgÈnge erweitert werden mag, schließlich darf das Gedicht doch nur so viel enthalten, als in einem wirklichen Vorgang gegeben sein kÚnnte. Die Stilisierung mag Unmerkliches herausheben, sie darf aber die angegebene Grenze nicht Ýberschreiten. Besonders wirkt jede in einem Gedicht enthaltene Naturanschauung unwahr, wenn ihr Inhalt dasjenige Ýberschreitet, was in Einem inneren Vorgang erfaßt werden kann. Die dichterische Naturanschauung gleicht dann einem GemÈlde, das mehr zeigt als im gÝnstigsten Moment vom gÝnstigsten Standpunkt aus gesehen werden kann. Goethe der frÝher durchgÈngig vom einzelnen Erlebnis ausging und ihm nahe blieb, und zwar nicht nur in seinen Liedern, sondern auch in den Dithyramben seiner Jugend, ist das vollkommenste Muster dieses echten Realismus der Lyrik. HÚlderlin dagegen verlor in

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Dithyramben wie „der Archipelagus“ den Maßstab fÝr das was in Einem inneren Vorgang, auch da wo dieser in der Welt der Ideen entspringt, von Stimmungen und Anschauungen verknÝpft sein kann. Wir vermÚgen dann nicht mehr das umfangreiche Ganze nachzuerleben. In feinem GefÝhl hat er in den schÚnen Elegien: Menons Klage, Herbstfeier, Heimkehr das umfassende Ganze durch Èußere Zeichen in einzelne Momente zerlegt. Das zarte FamiliengemÈlde „Emilie vor ihrem Brauttag“ ist leichter und rascher von ihm hingeworfen, und eben dadurch ist es der Natur nÈher als irgendein anderes seiner grÚßeren Gedichte. Hier schließt sich MÚrikes Dichtungsweise auf das engste an HÚlderlin an. Das Musikalische bildet einen weiteren Zug in der inneren Form der Gedichte HÚlderlins. Ich verstehe hierunter nicht nur seine Behandlung der Sprache oder des Verses, sondern die besondere Form des inneren Vorgangs und seiner Gliederung. Ich finde dieselbe Form in der romantischen Lyrik wieder – in Novalis und Tieck, die HÚlderlins Zeitgenossen sind, und spÈter in Eichendorff. Diese ganze Lyrik ist gleichzeitig mit der Ausbildung der deutschen Instrumentalmusik. Wenn in der letzteren die Abfolge der GefÝhle losgelÚst vom einzelnen Erlebnis und der in ihm enthaltenen GegenstÈndlichkeit hingestellt wird, so besteht in diesen Lyrikern eine verwandte Tendenz. Jetzt entstehen Lieder, in denen mehr als in der Regel bei Goethe die BezÝge auf das bestimmte anschauliche Erlebnis zurÝcktreten. Das GefÝhl verschwimmt in der Stimmung, die aus dem Inneren selbst hervortritt ohne Anfang, ohne Ende. Oder es ist wie bei HÚlderlin ein Zusammengefaßtes, das kaum noch eines Anlasses bedarf. Die Lyrik von Hagedorn und Gleim ist gleichzeitig mit dem deutschen Singspiel und stand in engem Zusammenhang mit den gesungenen Liedern jener Tage wie sie die Feste des BÝrgertums begleiteten. Diesem Lied und dem Singspiel ist die Lyrik jener Zeit verwandt in der abgezirkelten Form, dem abgeschnittenen Vers, der Wiedergabe typischer GefÝhlszustÈnde. Wie diese Dichtung unter den Abteilungen von Liebesliedern, Trinkliedern, religiÚsen GesÈngen in FÈcher gesondert ist, so sind die GefÝhle selbst, deren Ausdruck sie ist, sÈuberlich in Abteilungen eines geistigen Haushalts getrennt, so daß keines von den anderen gestÚrt wird; die Gedichte sind abgeteilt in regulÈre Verse, deren jeder ein Ganzes fÝr sich bildet. Diese Form liegt jenseits der heute noch lebendigen Lyrik. Klopstock machte ihr ein Ende. Dies Genie fÝr das Musikalische in der Lyrik machte das GefÝge eines Erlebnisses in der Form des Gedichtes sichtbar. Das fÝhrte ihn zuerst zu den Versmaßen der Alten und den freien Formen seiner religiÚsen Hymnen. Den großen GegenstÈnden, die er ergriff, entsprach der stÈrkste lyrische Ausdruck. Aber in welchem Gegensatz hierzu stand die Armut seines Denkens, seine religiÚse Feierlichkeit,

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seine dogmatische Gebundenheit, seine UnfÈhigkeit fortzuschreiten, sich zu entwickeln! Erst als nun große PersÚnlichkeiten zu der freiesten Bewegung ihres Inneren gelangten, erreichte unsere Lyrik ihren HÚhepunkt; eine SchÚnheit und ein Reichtum derselben trat hervor, der in der modernen Literatur ohnegleichen ist. Das HÚchste in dieser Lyrik, die Gedichte Goethes bis zu der Zeit, als der vollendete Stil HÚlderlins und neben ihm Tieck und Novalis auftraten, gehÚrt der Epoche des raschen Emporsteigens unserer weltlichen Musik bis zur Oper Mozarts an. Es ist dieselbe Befreiung des weltlichen GemÝtslebens, die sich so gleichzeitig Èußert, und unzÈhlige FÈden von Wirkungen gehen hinÝber und herÝber zwischen beiden Ausdrucksweisen. Wie aber in der hÚchsten SchÚpfung dieser Epoche, der Oper Mozarts, der musikalische Ausdruck in den einzelnen Situationen an das Wort, an die feste Bestimmtheit beider geknÝpft ist, besteht ein eigener innerer Formzusammenhang zwischen den hellen, bestimmten, klaren Formgebilden in Musik und in Lyrik. Dann aber bringt die Ausbildung der Instrumentalmusik in Haydns letzter grÚßter Zeit und in der Entwickelung Beethovens eine wortlose Darstellung des GefÝhlszusammenhangs, welche in Einem Flusse der Bewegung durch alle Teile des Kunstwerks einheitlich hindurchgeht. Und HÚlderlin, Tieck, Novalis beginnen jene neue Lyrik welche den Àberschwang des GefÝhls, die gegenstandslose Macht der Stimmung, die aus dem Inneren des GemÝtes selber aufsteigt, die unendliche Melodie einer Seelenbewegung ausdrÝckt, die wie aus unbestimmten Fernen kommt und in sie sich verliert. Alle Momente, die wir durchliefen, bestimmen nun die Èußere Form der Gedichte HÚlderlins. Schon Dubos und Lessing erkannten, wie in den Worten und ihren Verbindungen das Mittel gegeben ist, jeden mÚglichen Gegenstand zu bezeichnen, wie dann aber die kÝnstlerische Wirkung der Dichtung auf das GemÝt und die Phantasie einer eigenen Kunst bedarf, Worte zu wÈhlen und zu verbinden. Hamann und Herder fÝhren solche Gedanken weiter. So ist die erste Aufgabe, innerhalb der Zergliederung der Form eines Dichters, die Mittel zu erfassen, durch die er Worte wirksam zu machen weiß. HÚlderlins lyrische Kunst wirkt zunÈchst dadurch, daß sie durch eine eigene Sparsamkeit mit dem Wort jedem einzelnen Ausdruck einen stÈrkeren Eigenwert gibt. Wenn wir in der Regel beim Lesen forteilend das einzelne Wort nur als Zeichen fÝr die Bedeutung im Zusammenhang des ganzen WortgefÝges benÝtzen, so lÈßt uns hier die Sparsamkeit des Ausdrucks bei den Worten verweilen. Das GefÝhl tritt hinter seiner schlichten Bezeichnung gleichsam nackt heraus – auch hierin ist MÚrikes Lyrik der HÚlderlins verwandt und von ihr beeinflußt. Ich erwÈhne noch ein anderes Kunstmittel, das HÚlderlin zur grÚßten Wirksamkeit gebracht hat. Die Verhaltungsweisen der Seele, in deren Zusammenwirken die Innerlichkeit

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besteht, finden ihren Ausdruck in den syntaktischen Formen der Frage, des Ausrufs, der Bezeichnung der Akte des Willens, in denen der Redende sich oder einen anderen bestimmt. So gibt die Anwendung dieser syntaktischen Formen die innere Bewegung stÈrker und unmittelbarer in einem Gedicht wieder als durch direkte Aufnahme von Worten wie Trauer, Freude, Sehnsucht, Verlangen geschehen kann. HÚlderlin bedient sich dieser syntaktischen Formen in einem Umfang wie kaum ein anderer Dichter, sowohl in dem Empedokles als in den Gedichten. Und er fÝhrt sie zurÝck auf den Wert, den sie in der Innerlichkeit des lyrischen Vorgangs haben, indem er sie alles Rhetorischen entkleidet, indem er den in diesen Formen ausgedrÝckten seelischen Vorgang schlicht und einfach hinstellt, so einfach daß er sich der Sachlichkeit der Prosa nÈhert. Und nach dem Vorbild der Griechen benutzt er die in unserer Sprache vergÚnnte Freiheit der Wortstellung innerhalb der syntaktischen Gliederung, um durch die Folge der Worte den inneren Fortgang in der Anschauung und im GemÝtsvorgang auszudrÝcken. Der Vers HÚlderlins ist in der FÝlle und dem Fluß des Wohllautes von keinem anderen Dichter Ýbertroffen worden; in der natÝrlichen und starken rhythmischen Bewegung und in deren Mannigfaltigkeit steht er freilich weit hinter Goethe zurÝck: aus HÚlderlins metrischer Kunst entspringt eine gewisse EinfÚrmigkeit. Er hat das feinste GefÝhl fÝr unsere Sprache; ihrem Geist entsprechend weiß er den Wert der Worte, der durch ihren inhaltlichen Zusammenhang bestimmt ist, mit der Verwendung der Hebungen und Senkungen in Einklang zu bringen. Hierin unterscheidet er sich besonders von Klopstock zu seinem Vorteil. Er versteht zumeist in die Hebungen Verbal- und Nominalwurzeln zu bringen oder doch Silben, deren Betonung an dieser Stelle aus dem Sinn sich rechtfertigt. In den Senkungen stehen ganz Ýberwiegend PrÈpositionen, Vorsilben, Suffixe. So entsteht eine ungezwungene Àbereinstimmung zwischen der nach dem Sinn betonenden Rede und der Versform. Àberall regieren in seinen metrischen Formen die Prinzipien des Zusammenhangs, der Symmetrie und der musikalischen Wirkung. Und sie bestimmen nun auch den Fortgang der Entwickelung seiner Verskunst. Wir verließen die Geschichte seiner Lyrik da, wo die Form seiner Hymnen von ihm auf das persÚnliche Gedicht Ýbertragen wird. In den herrlichen GesÈngen „Der Gott der Jugend“ und „An die Natur“ werden die syntaktischen Mittel, den Zusammenhang im GefÝhlsvorgang zu Èußerem Ausdruck zu bringen, in vollendeter Weise verwertet; aber die so entstehende Wirkung erhÈlt noch eine Steigerung durch die symmetrische Anordnung, die Schiller in solcher Vollkommenheit nirgend angewandt hatte. Die ihn beherrschenden Prinzipien und damit zusammenwirkend seine BeschÈftigung mit der griechischen und rÚmischen Poesie fÝhren HÚlderlin

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dann zur Anwendung der antiken Versmaße. Er weiß dem Hexameter und dem elegischen Versmaß ganz eigene Wirkungen abzugewinnen. Die symmetrische Verteilung der TrochÈen und Daktylen bringt in seinen Hexametern eine Bewegung hervor, in der das GefÝhl wie in Wellen dahingetragen wird. Indem er die erste Hebung des Pentameters hÈufig abschwÈcht, erweckt er dann einen Eindruck des Anschwellens, der seiner Anwendung des elegischen Versmaßes einen eigenen Reiz gibt, wie dies Menons Klage besonders schÚn zeigt. Assonanzen dienen glÝcklich dem Wohlklang und der VerstÈrkung und Verbindung von gleichklingenden Hebungen. Ebenso wirken Alliterationen verbindend. So ziehen sich durch HÚlderlins metrische Ausdrucksweise besonders starke Wirkungen hindurch in der Richtung auf Melodie, auf ungehemmten Fluß der Verse und auf Beziehungen zwischen den Teilen des Gedichtes. Alles dient so, den Ablauf des seelischen Vorgangs, seinen Zusammenhang und seine Gliederung auch metrisch auszudrÝcken. Und wenn nun Hexameter und elegisches Versmaß solchen Zusammenhang besonders auszudrÝcken befÈhigt sind, so hat doch HÚlderlin durch die angegebenen Mittel auch einige Formen der griechischen und rÚmischen strophischen Dichtung derselben Wirkung anzupassen verstanden. Er ging hierbei auf den Horaz zurÝck; ob er die Reste der griechischen Lyrik mitbenutzt hat erscheint fraglich. In der Verwendung dieser Versformen unter den Bedingungen der deutschen Sprache und des modernen Seelenlebens ist er von keinem anderen Dichter erreicht worden. Er gebraucht vornehmlich die alkÈische Strophe, deren sich auch Horaz mit Vorliebe bediente; aber mit feinem rhythmischen GefÝhl setzte er an Stelle der spÈtgriechischen und lateinischen modifizierten die ursprÝnglich griechische Form. NÈchst der alkÈischen Strophe gebraucht er am hÈufigsten die sogenannte dritte asklepiadeische Strophe, die ihm ebenfalls bei Horaz sich darbot, und hier hat er die Anwendung des antiken Metrums auf unsere Sprache sich dadurch mÚglich gemacht, daß er an den Anfang jedes Verses an die Stelle des Spondeus beinahe nur solche FÝße setzt, die kaum anders denn als TrochÈen gemessen werden kÚnnen. Auch der sapphischen Strophe bedient er sich einmal in dem Lied „Unter den Alpen gesungen“. Hier findet sich eine eigentÝmliche Modifikation, die auf der Umformung Klopstocks beruht. Er verschiebt den Daktylus, der in den ersten drei Zeilen der Strophe regelmÈßig an dritter Stelle zu stehen hÈtte: in der ersten Zeile setzt er ihn an die erste Stelle, in der zweiten an die zweite und in der dritten an die vierte. Und abermals fÝhrt ihn der Grundzug seiner Lyrik, Zusammenhang, Abfluß, inneren Rhythmus des seelischen Vorgangs auszudrÝcken, zu einer neuen Form. Sie tritt auf wo er fÝr die starken fortschreitenden Bewegungen der Seele, wie sie durch große Stimmungen und Stoffe hervorgerufen werden, ei-

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nen metrischen Ausdruck sucht. Hier knÝpft er an die Dithyramben Goethes an. Jamben und AnapÈste, TrochÈen und Daktylen, also aufsteigende und sinkende Takte sind in bestÈndigem Wechsel und in ganz freier Weise so gemischt, daß sie der Bewegung der Seele sich anschmiegen. RegelmÈßige Strophenbildung besteht hier nicht mehr, nur eine Gliederung in fast immer ungleichen Abschnitten. Vielfach klingen die lyrischen Maße des Horaz hindurch, an die der Dichter gewÚhnt war. Eben als er zu diesem Dithyrambus und dessen freien Formen fortging, begann sein Geist den StÚßen des Schicksals zu erliegen, und so endet vorzeitig die Entwickelung seiner lyrischen Kunst.

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DAS ENDE.

Wo bist du, Licht? Das Herz ist wieder wach, doch herzlos Zieht die gewaltige Nacht mich immer . . . Nun sitz’ ich still allein, von einer Stunde zur anderen, und Gestalten Aus frischer Erd’ und Wolken der Liebe schafft, Weil Gift ist zwischen uns, mein Gedanke nun; Und ferne lausch’ ich hin, ob nicht ein Freundlicher Retter mir komme. Als HÚlderlin aufbrach zu neuer Dienstbarkeit in die Ferne, war seine Verfassung schon eine hÚchst bedenkliche. Er trug verschwiegen solche Last von Erinnerungen in sich – Schmerzen aller Art, Entbehrung, DemÝtigung bis zur Erniedrigung, daß er sich durch sein Schicksal wie ausgeschieden von den Menschen fÝhlte. Ihn umgab die totale Einsamkeit derer, die sich nicht mehr auszusprechen vermÚgen. Mit einer eigenen leidvollen Demut bittet er Úfters die Seinen und die Freunde ihm sein Schweigen zu verzeihen. Immer war er zu schamhaft gewesen, die treueste Mutter ganz sehen zu lassen, was er erleben mußte und wie er es fÝhlte. „Ins abhÈngige Leben muß ich hinein“: so schreibt er ihr jetzt dicht vor der Abreise ins sÝdliche Frankreich, und dann fÝgt er gleich sich und ihr als leeren und armen Trost hinzu, „und Kinder zu erziehen ist jetzt ein besonders glÝckliches GeschÈft, weil es so unschuldig

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ist“. Und dem Bruder: „o mein Karl, vergib mir, daß es rein sei zwischen uns.“ Es war wieder um die Weihnachtszeit, als er die Heimat verließ, um bei dem Hamburger Konsul in Bordeaux von neuem das Leben des Hauslehrers zu beginnen. „Nichts fÝrchten und sich viel gefallen lassen“ – so drÝckt er auf der Reise seine Stimmung aus. So wanderte er Ýber die „gefÝrchteten Ýberschneiten PÈsse der Auvergne“. Man ahnt die TrÈume und Schrecken des nervÚs Leidenden aus seinem Bericht. „In Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir in rauhem Bette – da hab’ ich auch ein Gebet gebetet, das bis jetzt das beste war in meinem Leben und das ich nie vergessen werde.“ Ende Januar 1802 kam er in Bordeaux an. Ein letzter merkwÝrdiger Brief von dort zeigt wie er sein GemÝt von jeder Aufregung fernhalten mußte. Seine Großmutter war gestorben. „Verkennen Sie mich nicht“, schreibt er darÝber der Mutter, „wenn ich Ýber den Verlust mehr die notwendige Fassung als das Leid ausdrÝcke, das die Liebe in unsrem Herzen fÝhlt. Ich muß mein so lange geprÝftes GemÝt bewahren und halten.“ In solcher Seelenverfassung mußte er erleben, daß es ihm auch hier wie vorher in der Schweiz nicht gelang, seine bescheidene Stelle zu behaupten. Es hieß, es seien Anforderungen an ihn gemacht worden, die er nicht zu erfÝllen vermochte oder die er zu erfÝllen zu stolz war. Ohne Zweifel erfuhr sein SelbstgefÝhl hier eine Verletzung, die er nicht mehr Ýberwinden konnte. Den Schwerlebigen, MÝden mußte das GefÝhl Ýberfallen, daß er nun ein verlorener Mann sei. Im Juni schon trat er die RÝckreise an, wohl wieder zu Fuß. Vielleicht daß ihn auf der Wanderung durch das glÝhende sÝdliche Frankreich ein Hitzschlag traf; „das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre EingeschrÈnktheit und Zufriedenheit hat mich bestÈndig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen“. So brach die geistige Krankheit Ýber ihn herein, in der er zurÝckgekehrt den Seinen sich zeigte. Àber vierzig Jahre sollte HÚlderlin von da ab in geistiger Umnachtung leben. Nachdem die ersten ZustÈnde krankhafter Erregung nachgelassen hatten, durfte man auf Besserung hoffen. Er war damals noch imstande sich geistig zu beschÈftigen. Er Ýbersetzte den ³dipus Tyrannos und die Antigone des Sophokles, und die Àbersetzung erschien 1804. Sein rhythmisches GefÝhl ist unvermindert, seine Sprache tÚnt und er gewinnt ihr erschÝtternde Laute des Schmerzes ab, aber die Herrschaft Ýber das Griechische hat er verloren, er verwechselt bekannte WÚrter mit Èhnlich klingenden, die Geduld versagt ihm und er ÝbertrÈgt dann willkÝrlich. In den Anmerkungen liegt die Poetik seiner besseren Zeiten als ein TrÝmmerhaufen vor uns. Es reizt in sie ganz einzudringen, doch ermÝdet und enttÈuscht steht man dann davon ab, in Sinnlosem ei-

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nem verborgenen Tiefsinn nachzugehen. Seine UnfÈhigkeit einen logischen Zusammenhang festzuhalten ist augenscheinlich. So zeigte er sich auch im persÚnlichen Verkehr. Zuweilen stellte er sich den Freunden wie in seinen besten Zeiten dar. Dann wieder brach der Faden des Denkens plÚtzlich ab. Solche ZustÈnde der geistigen ErschÚpfung wechselten mit denen der Exaltation: Ýberreiztes SelbstgefÝhl und jÈhe AusbrÝche grenzenloser Heftigkeit traten hervor; doch noch so, daß er sich besÈnftigen ließ. Konnte doch der treueste der Freunde, Sinclair, ihn bei dem Landgrafen von Hessen eine kleine Stelle als Bibliothekar antreten lassen, deren Besoldung freilich der Freund selbst bezahlte. Welche Ironie, daß der Gedanke damals ausgesprochen werden konnte, der UnglÝckliche nehme nur zeitweilig die Maske des Wahnsinns vor. Solche Hoffnungen wÈhrten nur wenige Jahre. Schon im Sommer 1806 erschien es fÝr ihn selbst wie fÝr andere bedenklich ihn in Homburg sich auf den Straßen bewegen zu lassen. Fixe Ideen sind weder damals noch spÈter bei ihm aufgetreten. Sein Leidensweg ging nun abwÈrts in die heilige Nacht des Geistes, die nicht durch Berichte neugieriger Reisender oder indiskreter Wohlmeinender entweiht werden soll, zumal doch kein solcher ZustÈnde Kundiger Ýber ihn berichtet hat. Er spielt und singt gern am Klavier, bis zuletzt den KlÈngen und Rhythmen offen, die zu vernehmen er in die Welt gekommen zu sein schien. Er sitzt in TÝbingen, wo er ein stilles Asyl gefunden, im Gartenhaus des Dichters Waiblinger und schaut hinab auf die Stadt, in die er einst mit so stolzen Hoffnungen gekommen war, auf den Nekkar, an dem seine dichterischen TrÈume begonnen hatten – das edle Antlitz nun leblos, die hohe ehrfurchtgebietende Gestalt leicht vorgebeugt: seine Gedanken wandern, wandern. Am Abend des 7. Juni 1843 ist er gestorben. Schon sehr leidend, hatte er noch lange, wie er es liebte, am offenen Fenster in die schÚne Mondnacht geblickt. Still und ohne Aufsehen davon zu machen, schlich er sich aus der Welt, als ihr mÝdester Èrmster Gast, und sie nahm wenig Notiz von seinem Verschwinden. Unser Interesse aber haftet an den gewaltigen Gedichten, die eben an den Grenzen der hÚchsten von ihm erreichten Freiheit der lyrischen Bewegung und des Wahnsinns in ihm entstanden – er nannte sie selber geheimnisvoll „NachtgesÈnge“. Wenn der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens, wie er an die Funktionen des Gehirns gebunden ist, zu versagen beginnt, dann erhÈlt die Gestaltung der einzelnen Bilder eine eigene UnabhÈngigkeit und Energie. Ideen mÚglicher Wirkungen treten aus dem Rahmen der festgefÝgten Bedingungen einheitlicher Kunstform heraus. Unreguliert gehen GefÝhl und Phantasie ihre exzentrische Bahn. Wer gedÈchte hierbei nicht an Robert Schumann oder an Nietzsche! „Ich denke“ – so schreibt HÚlderlin damals ei-

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nem Freunde und die Worte gemahnen ganz an verwandte stolze Worte Heinrichs von Kleist – „daß wir die Dichter bis auf unsre Zeit nicht kommentieren werden, sondern daß die Sangart Ýberhaupt wird einen anderen Charakter nehmen und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen vaterlÈndisch und natÝrlich, eigentlich originell zu singen“. Das ist nun das Schicksalsvolle dieser letzten Epoche HÚlderlins, daß seine ganze dichterische Entwickelung hindrÈngte zu der gÈnzlichen Befreiung des inneren GefÝhlsrhythmus von den gebundenen metrischen Formen, dieser letzte Schritt aber erst von ihm an der Grenze des Wahnsinns getan ward. Diese Gedichte sind ein Zwischenglied zwischen den Rhapsodien Goethes, wie Prometheus und Wanderers Sturmlied, und den Dithyramben einiger Modernen. Noch einmal sucht der ruhelos Fortschreitende die große Form des Hymnus, die er von Schiller Ýbernommen, fortzubilden. Noch einmal entsteht ein Zyklus, welcher die grÚßten menschlichen GegenstÈnde umfaßt. Aber es handelt sich nicht um große allgemeine Ideale, die im heiteren Lichte des Idealismus der Freiheit leuchtend vor uns stehen. In sich gekehrt brÝtet der Dichter Ýber dem Schicksal. Noch einmal hat er in dem Gedichte „Der Rhein“ das Schicksal des Helden dargestellt. Die GÚtter bedÝrfen der Heroen. „Denn weil die Seligsten nichts fÝhlen von selbst, muß wohl in der GÚtter Namen Teilnehmend fÝhlen ein andrer – den brauchen sie.“ Wie die DÈmmerung sich auf ihn senkte, begannen die Helden und GÚtter ungeheure Dimensionen und phantastische Formen anzunehmen. Das GÚttliche gelangt erst in Helden und Dichtern zum GefÝhl seiner selbst – aber er weiß, was der Preis ist, den die Helden zahlen. Er gedenkt derer, die das Leben heroisch getragen haben – Rousseau, Sokrates. Sein Blick umfaßt die SÚhne der Gottheit in allen LÈndern und Religionen. Zu Dionysos und Herakles tritt Christus als ihr Bruder. Er erscheint ihm wie dem Michelangelo als ein gotterzeugter Held. Die Natur erfaßt er jetzt mÈchtiger in ihren Eigenheiten, da seine Anschauung des SÝdens ihm die GegensÈtze ihrer Formen erschlossen hat. Und seine Sprache geht in ihrer bildlichen StÈrke bis zum Seltsamen und Exzentrischen. Es ist darin eine eigene Mischung von krankhaften ZÝgen mit dem GefÝhl des lyrischen Genies fÝr einen neuen Stil. Ein paar Zeilen haben sich erhalten, die wohl BruchstÝck eines grÚßeren Ganzen waren, eine flÝchtige Niederschrift mit manchen Inkorrektheiten; sie mÚgen doch diese Richtung HÚlderlins zu einer neuen lyrischen Sprache vergegenwÈrtigen.

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Mit gelben Blumen hÈnget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden SchwÈne, Und trunken von KÝssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilig nÝchterne Wasser. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein Und Schatten der Erde? Die Mauern stehen Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen.

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Anhang

Inhalt des Anhangs

Zu Edition und Benutzung des Bandes XXVI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Textgeschichte und Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DAS ERLEBNIS UND DIE DICHTUNG. Entstehung und Àberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur zweiten und vierten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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GANG DER NEUEREN EUROP•ISCHEN LITERATUR. Entstehung und Àberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handschriftenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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GOTTHOLD EPHRAIM LESSING. Anmerkungen Diltheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Àberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textbearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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GOETHE UND DIE DICHTERISCHE PHANTASIE. Anmerkungen Diltheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Àberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handschriftenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textbearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

370 372 372 373 374 415

NOVALIS. Anmerkungen Diltheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Àberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt des Anhangs

Handschriftenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textbearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427 441 443

FRIEDRICH H³LDERLIN. Anmerkungen Diltheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Àberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handschriftenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textbearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diltheys Aufsatzsammlung von 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zum Abschluß der gesammelten Schriften Wilhelm Diltheys . . . . . . . . . . . .

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Zu Edition und Benutzung des Bandes XXVI

Edition Textgrundlage fÝr den vorliegenden Band ist die von D. als letzte redigierte dritte Auflage seiner Publikation: Das Erlebnis und die Dichtung von 1910 mit Widmung, VorwÚrtern, Inhaltsverzeichnis, Anmerkungen. Abweichend von dieser Folge stehen jedoch D.s Anmerkungen nicht en bloc hinter den Texten, sondern leiten – zur einfacheren Handhabung fÝr den Leser – im Anhang jeweils die Angaben zu den vier AufsÈtzen ein, bilden also den ersten Bestandteil der Textgeschichte eines jeden. Von Fall zu Fall notwendige Korrekturen, ErgÈnzungen, Nachweise schließen sich in Fußnoten unmittelbar an. Ebenfalls abweichend von der Auflage von 1910 sind fÝr den Aufsatz Novalis die Kolumnentitel nicht textbezogen, sondern enthalten analog zu den drei andern AufsÈtzen lediglich die im Inhaltsverzeichnis, aber nicht im Text stehenden KapitelÝberschriften. Die Vertauschung der Kolumnentitel im letzten Kapitel des Goethe-Aufsatzes wird korrigiert; beibehalten dagegen die Bezeichnung Einleitung im Inhaltsverzeichnis, obwohl sie als Àberschrift in den AufsÈtzen (zu Goethe und Novalis) fehlt, außerdem die Unstimmigkeit zwischen der Àberschrift im Inhaltsverzeichnis und Ýber dem Kapitel zu HÚlderlins Hymnen. Die Gesamtkonzeption der BÈnde XXV und XXVI ermÚglicht, Erst- und Letztfassungen der Arbeiten Ýber Novalis, Lessing, Goethe vollstÈndig zu lesen und zu vergleichen. Zudem enthÈlt die Textgeschichte fÝr Bd. XXVI in Auswahl Zusammenstellungen verÈnderter Passagen aller Fassungen der AufsÈtze unter: Textbearbeitung. Das gilt auch fÝr den in EuD1 erstmals publizierten Aufsatz Ýber HÚlderlin, in den D. einiges aus seiner frÝhen Arbeit: HÚlderlin und die Ursachen seines Wahnsinnes (HW) Ýbernommen und in dem er weniges in der zweiten Auflage ergÈnzt hat. Es gilt weiter fÝr D.s Bearbeitung seiner Anmerkungen fÝr die drei Auflagen von EuD, besonders fÝr die zu Novalis. (Erstfassungen und die AufsÈtze der drei Auflagen werden abgekÝrzt mit E, D1–3.) – Ebenfalls zum Bereich Textgeschichte gehÚren unter der Rubrik Handschriftenbefund unpublizierte StÝcke aus dem Nachlaß; erste Reaktionen auf das Erscheinen des Sammelbandes oder einzelner AufsÈtze unter: Zur Rezeption (die ausgewÈhlten StÝcke werden mit den textinternen Verweiszahlen wiedergegeben). Der umfangreicheren Textgeschichte gegenÝber beschrÈnken sich die Anmerkungen fÝr die drei Èlteren AufsÈtze – Novalis, Lessing, Goethe – auf die durch D.s Bearbeitungen hinzugekommenen Einzelstellen und -kapitel, sind also ergÈnzungsbedÝrftig durch die ausfÝhrliche Kommentierung der Erstfassungen in Bd. XXV. So fallen Textgeschichte und Anmerkungen fÝr die vier AufsÈtze in Bd. XXVI sehr verschieden aus: konzentriert auf die Anmerkungen zum Text beim HÚlderlinaufsatz, auf unbekannte EntwÝrfe aus dem Nachlaß bei Novalis, auf D.s intensive Textbearbeitung bei den ersten beiden AufsÈtzen. Daten zur Entstehung werden aus Bd. XXV in den Bd. XXVI Ýbernommen, wie dort fÝr Nachweise die von D. belegbar oder hÚchstwahrscheinlich benutzten Ausgaben herangezogen. Die Verzeichnisse fÝr AbkÝrzungen und Siglen stimmen in beiden BÈnden Ýberein, die Personenregister beziehen sich jeweils auf den einzelnen Band. D. oder seine Mitarbeiter haben den Text der AufsÈtze samt Titeln und Zitaten den Schreib- und Interpunktionsgewohnheiten von 1905 angepaßt, die sich erheblich von denen in den Erstfassungen

302

Zu Edition und Benutzung des Bandes XXVI

der Èlteren AufsÈtze, kaum von denen um 1910 und wenig von den heutigen unterscheiden. Die seltenen Druckfehler werden stillschweigend, ungewÚhnliche Schreibversehen mit Nachweis korrigiert. Der Stand der letzten Auflage bleibt im Ýbrigen unverÈndert. Titel und Textstellen von Nach- und Hinweisen in Textgeschichte und Anmerkungen richten sich nach den Vorlagen.

AbkÝrzungen und Siglen H h hH E EH EN D1 . . .

eigenhÈndige Handschrift Diktat oder Abschrift Diktat mit eigenen handschriftlichen ZusÈtzen autorisierter Erstdruck Erstdruck mit handschriftlichen ErgÈnzungen Erstdruck aus dem Nachlaß alle andern Drucke

BBAW DLA HSA UB TÝ ULB Bo

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Deutsches Literaturarchiv Marbach/N. Hessisches Staatsarchiv Marburg UniversitÈtsbibliothek TÝbingen UniversitÈts- und Landesbibliothek Bonn

Abh., Abhlgn Abs. Abt., Abtlgn Anm. Bd., Bde Bl. ders. d. i. e ebd. eingf. erg. gesp. gestr. hrsg. Hs., Hss. korr. Ms., Mss. o. J. r R lR oR rR uR Slg.

Abhandlung, Abhandlungen Absatz Abteilung, Abteilungen Anmerkung Band, BÈnde Blatt derselbe das ist entstanden ebenda eingefÝgt ergÈnzt gesperrt gestrichen herausgegeben Handschrift, Handschriften korrigiert Manuskript, Manuskripte ohne Erscheinungsjahr recto, Blattvorderseite Rand linker Rand oberer Rand rechter Rand unterer Rand Sammlung

Zu Edition und Benutzung des Bandes XXVI

Sp. St. Tg. Tl., Tle u. Ú. v v V

303

Spalte StÝck Textgeschichte Teil, Teile und Úfter verÚffentlicht direkt auf die Blattzahl folgend: verso, BlattrÝckseite Vers

Mehrfach genannte Werke Wilhelm Diltheys Abhandlung (1895 ) •sthetik Alfieri Al in Anmerkungsverweisen Archive A

Archive R Aufbau Basler Antrittsvorlesung

Bausteine B Haym

B Scholz

B Yorck

DHe Dickens Di in Anmerkungsverweisen

[Àber vergleichende Psychologie] BeitrÈge zum Studium der IndividualitÈt (1895/96). Ges. Schr. V, 241–316. Die drei Epochen der modernen •sthetik und ihre heutige Aufgabe (1892). Ges. Schr. VI, 242–287. Vittorio Alfieri. WM 38 (1875), S. 324–335; 425–443. Ges. Schr XXV, 284–326. Archive der Literatur in ihrer Bedeutung fÝr das Studium der Geschichte der Philosophie (1889). Ges. Schr. IV, 555–575 (Archiv-Fassung). Archive fÝr Literatur (1889). Ges. Schr. XV, 1–16 (Rundschau-Fassung). Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910). Ges. Schr. VII, 77–188. Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800. Antrittsvorlesung in Basel Anfang Juli 1867 (Nachlaß). Ges. Schr. V, 12–27. Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine fÝr eine Poetik (1887). Ges. Schr. VI, 103–241. Briefe Wilhelm Diltheys an Rudolf Haym 1861–1873. Mitgeteilt von E. Weniger, Berlin 1936 (= Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse Nr. 9), S. 3–48. Briefe Wilhelm Diltheys an Bernhard und Luise Scholz 1859–1964. Mitgeteilt von S. von der Schulenburg, Berlin 1933 (= Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse IX), S. 416–471. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897, hrsg. von S. von der Schulenburg, Halle 1923. Die Jugendgeschichte Hegels (1905). Ges. Schr. IV, 1–282. Charles Dickens und das Genie des erzÈhlenden Dichters. WM 41 (1877), S. 482–499; 586–602. Ges. Schr. XXV, 364–412.

304

Zu Edition und Benutzung des Bandes XXVI

DM

E Goethe Goe in Anmerkungsverweisen Einleitung EuD1–3 EW Freytag Fr in Anmerkungsverweisen Gang Gesichtserscheinungen Goethe (1910) Goe (1910) in Anmerkungsverweisen Ges. Schr. I–XXIV

HÚlderlin (1910) HÚ in Anmerkungsverweisen HW Ideen JD

Jean Paul JP in Anmerkungsverweisen Leben Schl

Von deutscher Dichtung und Musik. Aus den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, hrsg. von G. Misch und H. Nohl, Leipzig 1933. (Nachlaß.) EnthÈlt u. a. Schiller 325–427; Jean Paul 428–463. Ueber die Einbildungskraft der Dichter. Mit RÝcksicht auf: Herman Grimm, Goethe, Vorlesungen. ZV X (1878), erstes Heft (1877), S. 42–104. Ges. Schr. XXV, 125–169. Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883). Ges. Schr. I. Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. HÚlderlin, Leipzig 1906 [recte 1905]. 21907. 31910. Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn (1886). Ges. Schr. VI, 90–102. Gustav Freytag: Technik des Drama. In: Berliner Allgemeine Zeitung am 26. und 29. MÈrz, 3. und 9. April 1863 (anonym). Ges. Schr. XXV, 413–444. Gang der neueren europÈischen Literatur. Einleitung aus EuD3 (1910). Ges. Schr. XXVI, 1–11. Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig. WM 20 (1866). Ges. Schr. XV, 93–101. Goethe und die dichterische Phantasie. Aus EuD3. Ges. Schr. XXVI, 113–172. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, XII Bde, Leipzig und Berlin 1914–1936. Fortgesetzt mit den Bden XIII.1 und 2 (1970); XIV.1 und 2 (1966), hrsg. von M. Redeker. Ab Bd. XV hrsg. von K. GrÝnder, seit 1977 hrsg. von K. GrÝnder und F. Rodi, GÚttingen 1970 ff. Benutzt werden: I (51959); II (41940); III (51976); IV (1921); V (71982); VI (61958); VII (71979); VIII und IX (21960); XI (21960); XII (1936); XIII (31979); XIV (1966); alle weiteren BÈnde in ihren Erstauflagen. Friedrich HÚlderlin. Aus EuD3 . Ges. Schr. XXVI, 224–296. HÚlderlin und die Ursachen seines Wahnsinnes. WM 22 (1867). Ges. Schr. XV, 102–116. Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894). Ges. Schr. V, 139–240. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und TagebÝchern 1852–1870. Zusammengestellt von C. Misch geb. Dilthey, Leipzig und Berlin 1933. Nachlaß. Fassung in Ges. Schr. XXV, 327–363. Leben Schleiermachers (1870). Ges. Schr. XIII und XIV.

Zu Edition und Benutzung des Bandes XXVI

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Lessing Ueber Gotth. Ephr. Lessing. PJ 19 (1867), S. 117–161; Le in Anmerkungsverweisen 271–294. Ges. Schr. XXV, 59–123. Lessing (1910) Gotthold Ephraim Lessing. Aus EuD3. Le (1910) in Anmerkungsverweisen Ges. Schr. XXVI, 12–112. Novalis Novalis. PJ 15 (1865), S. 596–650. No in Anmerkungsverweisen Ges. Schr. XXV, 199–250. Novalis (1910) Novalis. Aus EuD3. Ges. Schr. XXVI, 173–223. No (1910) in Anmerkungsverweisen Ph Die große Phantasiedichtung, hrsg. von H. Nohl, Stuttgart 1954. Sammelband, enthÈlt, bearbeitet, u. a.: Die Technik des Dramas 132–159. Vittorio Alfieri 187–228. Charles Dickens 254–317. Aus dem Nachlaß: Die große Phantasiedichtung 6–52. Shakespeare und seine Zeitgenossen 53–87. Phantasiekunst Nachlaß. Fassung in Ges. Schr. XXV, 253–283. Pha in Anmerkungsverweisen Schiller Nachlaß. Fassung in Ges. Schr. XXV, 170–198. Sch in Anmerkungsverweisen Shakespeare Nachlaß. Fassung in Ges. Schr. XXV, 7–58. Sh in Anmerkungsverweisen Studium Àber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875). Ges. Schr. V, 31–73. Thema probandi Thema probandi. Nachlaß. Fassung in Ges. Schr. XXV, 3–6. Thema in Anmerkungsverweisen

Mehrfach verwendete Ausgaben und Literatur Athenaeum Bodenstedt III BÚhm I-III

CLi

Constant

Copperfield

Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, 3 Bde (1798–1800). Shakespeare’s Zeitgenossen und ihre Werke. In Charakteristiken und Uebersetzungen von F. Bodenstedt III, Berlin 1860. Friedrich HÚlderlin. Gesammelte Werke, 3 Bde, Jena und Leipzig 1905. Bd. I und III hrsg. von W. BÚhm; Bd. II hrsg. von P. Ernst. Friedrich HÚlderlins Leben. In Briefen von und an HÚlderlin, bearbeitet und hrsg. von C. C. T. Litzmann, Berlin 1890. (DruckÝberwachung und Vorwort von B. Litzmann, dem Sohn.) B. Constant de Rebecque, Wallstein, Trag¹die en cinq actes et en vers, pr¹c¹d¹e de quelques r¹flexions sur le th¹atre allemand (1809), hrsg. von J.-R. Derr¹, Paris 1965. Lebensgeschichte und Erfahrungen David Copperfield’s des

306

Danzel

Danzel/Guhrauer

DC

Di Leben I-III

Dramaturgie Dubos DuW Eckermann I-III Elze E. Schmidt FÚrster I-IV Goe W

Grenzboten

Grimm, Goethe GrundzÝge Hegel W

HeN Holtei I-IV

Zu Edition und Benutzung des Bandes XXVI

JÝngern I und II. In: Boz’s (Dickens) sÈmmtliche Werke III, Leipzig o. J. und IV, Stuttgart 1855. Th. W. Danzel, Gotthold Ephraim Lessing, sein Leben und seine Werke. Nebst einigen NachtrÈgen zur Lachmann’schen Ausgabe. I, Leipzig 1850. Th. W. Danzel, Gotthold Ephraim Lessing, sein Leben und seine Werke II = G. E. Guhrauer, Gotthold Ephraim Lessing’s Leben und Werke in der Periode vollendeter Reife. 2 Abtlgn, Leipzig 1853/54. Ch. Dickens, The personal History, Adventures, Experience, and Observation of David Copperfield the Younger, 3 Bde, Leipzig 1849/50. J. Forster, The Life of Charles Dickens (1872–1874). Charles Dickens’ Leben. In’s Deutsche Ýbertragen von F. Althaus, 3 Bde, Berlin 1872–1875. G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie (1767–1769). Buchausgabe 1769. LLa VII. J.-B. Du Bos, R¹flexions critiques sur la Posie et sur la Peinture (1719). Paris 71770. Reprint Genve 1967. J. W. Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (v 1811–1833), hrsg. von G. von Loeper. Goe W 20–23. J. P. Eckermann, GesprÈche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 3 Tle, hrsg. von K. Eckermann, Leipzig 41876. K. Elze, William Shakespeare, Halle 1876. E. Schmidt, Richardson, Rousseau und Goethe, Jena/Leipzig 1875. E. FÚrster, DenkwÝrdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter, 4 Bde, MÝnchen 1863. Goethe’s Werke. Nach den vorzÝglichsten Quellen revidirte Ausgabe, 36 Tle, hrsg. von W. Frhn von Biedermann u. a. Berlin: Hempel [1868–1879]. Die Grenzboten. Zeitschrift fÝr Politik und Literatur (1841–1922). Von 1848–1857 hrsg. von G. Freytag und J. Schmidt. H. Grimm, Goethe, Vorlesungen gehalten an der Kgl. UniversitÈt zu Berlin, 2 Bde, Berlin 1877 [recte 1876]. W. Wundt, GrundzÝge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874. Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. VollstÈndige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten: Ph. Marheineke u. a. I-XIX, Berlin 1832–1845. 1887. Hegels theologische Jugendschriften, hrsg. von H. Nohl, TÝbingen 1907. Briefe an Ludwig Tieck, hrsg. von K. von Holtei, 4 Bde, Breslau 1864.

Zu Edition und Benutzung des Bandes XXVI

Jacobi Kant W Lessings Geist

Lessings Leben

Li I-II

LLa LM

Mendelssohn Schriften Nerrlich N HKA I-V

Nickleby

PJ

S1 I und II S1 III

S3 I und II

S4 I und II

307

[F. H. Jacobi,] Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785. Immanuel Kant’s SÈmmtliche Werke, 11 Bde, hrsg. von K. Rosenkranz und F. W. Schubert, Leipzig 1838–1842. Lessings Geist aus seinen Schriften, oder dessen Gedanken und Meinungen zusammengestellt und erlÈutert von Friedrich Schlegel. Neue unverÈnderte Ausgabe. 3 Bde, Leipzig 1810. Gotthold Ephraim Lessings Leben, nebst seinem noch Ýbrigen litterarischen Nachlasse, 2 Bde, hrsg. von K. G. Lessing, Berlin 1793/95. Bd. 3: G. E. Lessings Nachlaß zur Deutschen Sprache, alten Literatur, Gelehrten- und Kunst-Geschichte, hrsg. von G. G. FÝlleborn, Berlin 1795. HÚlderlins gesammelte Dichtungen. Neu durchgesehene und vermehrte Ausgabe in zwei BÈnden. Mit biographischer Einleitung hrsg. von B. Litzmann, Stuttgart [1897]. Gotthold Ephraim Lessings sÈmmtliche Schriften, 13 Bde, hrsg. von K. Lachmann, Berlin 1838–1840. Gotthold Ephraim Lessings sÈmtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann. Dritte auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch F. Muncker, 23 Bde, Leipzig 3 1886–1924. Moses Mendelssohn’s gesammelte Schriften I-VII, hrsg. von G. B. Mendelssohn, Leipzig 1843–1845. P. Nerrlich, Jean Paul. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1889. Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, 5 Bde, hrsg. von P. Kluckhohn und R. Samuel. I (31977); II (31981); III (21983);IV (21975); V (1988). Leben und Abenteuer des Nicolaus Nickleby. Herausgegeben von Boz, dem Verfasser der Pickwicker. Àbersetzt von K. H. Hermes und A. Diezmann, I-VII, Braunschweig 1838/39. Preußische JahrbÝcher 1–15 (1858–1865), hrsg. von R. Haym; fortgesetzt bis 240 (1935). Hrsg. u. a. von W. Wehrenpfennig und H. von Treitschke. Novalis Schriften, hrsg. von F. Schlegel und L. Tieck, 2 Bde, Berlin 1802. Novalis Schriften, hrsg. von L. Tieck und E. von BÝlow, dritter Bd., Berlin 1846. (Mit der Biographie Hardenbergs von C. A. Just aus Schlichtegrolls Nekrolog.) Novalis Schriften, hrsg. von L. Tieck und F. Schlegel, 2 Bde, Berlin 31815. (Tiecks Vorrede zu dieser Auflage enthÈlt eine knappe Biographie Hardenbergs.) Novalis Schriften, hrsg. von L. Tieck und F. Schlegel, 2 Bde, vermehrte Aufl., Berlin 41826. (Mit der ErstverÚffentlichung des Aufsatzes: Die Christenheit oder Europa.)

308 S5 I und II

SchaubÝhne I Schi W Schleiermacher I-IV

Schopenhauer Welt Schwab

Steinmetz

Suphan Technik Theol. Nachl. Unterhaltungen Vita Vorschule I-II WA

WM

Zinkernagel

ZV

Zu Edition und Benutzung des Bandes XXVI

Novalis Schriften, hrsg. von L. Tieck und F. Schlegel, 2 Bde, Berlin 51837. (EnthÈlt die Vorreden zu S1, S3, S5. In der letzten begrÝndet Tieck die UnterdrÝckung des Aufsatzes: Die Christenheit oder Europa.) Alt-Englische SchaubÝhne I, Ýbersetzt und hrsg. von E. von BÝlow, Berlin 1831. EnthÈlt: Ch. Marlow, Der Jude von Malta. Friedrichs von Schiller sÈmmtliche Werke, 18 Bde, Stuttgart und TÝbingen 1822–1826. Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. Bde I und II, [hrsg. von H. GrÈfin Schwerin und E. von Willich], Berlin 1858. Die Bde III und IV, vorbereitet von L. Jonas, hrsg. von W. Dilthey, Berlin 1861/63. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 2 Bde, Leipzig 31859. Friedrich HÚlderlin’s sÈmmtliche Werke, 2 Bde, hrsg. von Ch. Th. Schwab, Stuttgart und TÝbingen 1846. Der zweite Bd. enthÈlt: HÚlderlin’s Leben. Lessing – ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland, hrsg. von H. Steinmetz, Frankfurt/M., Bonn 1969. Herders SÈmmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, 33 Bde, Berlin 1877–1913. G. Freytag, Die Technik des Dramas, Leipzig 1863. Gotthold Ephraim Leßings theologischer Nachlaß, [hrsg. von K. G. Lessing], Berlin 1784. Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich v. MÝller, hrsg. von C. A. H. Burkhardt, Stuttgart 1870. Vita di Vittorio Alfieri scritta da esso, Firenze 1853. Shakspeare’s Vorschule, 2 Bde, hrsg. von L. Tieck, Leipzig 1823/29. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen Weimar. Vier Abtlgn (1887-1919). Benutzt werden Bde aus Abt. I (1887-1919) und Abt. IV, Briefe (1887-1912). Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte 1–44 (1856–1878), dann Westermanns illustrierte Monatshefte bis 1921, schließlich bis 1987 Westermanns Monatshefte. F. Zinkernagel, Die Entwicklungsgeschichte von HÚlderlins Hyperion. In: Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen VÚlker IC, hrsg. von A. Brandl u. a., Straßburg 1907. Zeitschrift fÝr VÚlkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1–20 (1860–90), hrsg. von M. Lazarus und H. Steinthal.

Textgeschichte und Anmerkungen

DAS ERLEBNIS UND DIE DICHTUNG Entstehung und Àberlieferung Àber die Entstehung der Sammlung ist bis jetzt außer in Verbindung mit der Bitte an H. Usener um ein Exemplar des Goethe-Aufsatzes in der Erstfassung – s. Goethe (1910) Tg., Entstehung – nichts bekannt. Zustande gekommen ist der Band nach D.s Aussage durch junge Freunde, die er im Vorwort zur ersten Auflage namentlich nennt. EuD1: Das Erlebnis und die Dichtung Lessing • Goethe • Novalis • HÚlderlin. Vier AufsÈtze von Wilhelm Dilthey, Leipzig 1906 [recte 1905]. EuD2: Das Erlebnis und die Dichtung Lessing • Goethe Novalis • HÚlderlin. Vier AufsÈtze von Wilhelm Dilthey. Zweite erweiterte Auflage, Leipzig 1907. EuD3: Das Erlebnis und die Dichtung Lessing • Goethe Novalis • HÚlderlin. Von Wilhelm Dilthey. Dritte erweiterte Auflage, Leipzig 1910. EuD4: Das Erlebnis und die Dichtung Lessing • Goethe Novalis • HÚlderlin. Von Wilhelm Dilthey. Vierte Auflage Mit einem Titelbild, Leipzig • Berlin 1913. Weitere unverÈnderte Auflagen bis zur heutigen, EuD16.

Vorwort zur zweiten und vierten Auflage D. hat fÝr jede der drei Auflagen von EuD ein Vorwort verfaßt. Das zur ersten unterscheidet sich vom Wiederabdruck in EuD3 kaum; das zur zweiten von 1907, fÝr die dritte Auflage zusammengefaßt mit dem letzten, steht hier fÝr sich mit G. Mischs Vorbemerkung zur vierten unverÈnderten Auflage.

Zur zweiten Auflage. In der zweiten Auflage ist die Darstellung des Lebenswerkes von Lessing durch mehrere ErgÈnzungen, deren wichtigste und umfangreichste Nathan den Weisen betrifft, vervollstÈndigt worden. Den zweiten Aufsatz habe ich zu einer Charakteristik Goethes unter dem Gesichtspunkt der Weltliteratur umgearbeitet und erweitert; ich habe versucht, ihn so zum Mittelpunkt dieses Buches zu machen. Àber die kleineren •nderungen, wie sie die Literatur der letzten Jahre und die eigene Fortarbeit nÚtig gemacht haben, geben die Anmerkungen Nachricht. Im September 1907. Wilhelm Dilthey.

310

Textgeschichte und Anmerkungen

Zur vierten Auflage. Die neue Auflage ist von der vorigen durch den Tod Diltheys getrennt. Am 1. Oktober 1911 ist er gestorben, in seinem 78. Lebensjahr. Dieses Buch, in dem der Geist seiner Jugend lebendig ist, bleibt nun unverÈndert. AufsÈtze von Èhnlichem Charakter und Gehalt, die teils im Nachlaß vorhanden, teils schon vormals gedruckt aber vergessen sind, werden, zu einem weiteren Bande vereinigt, alsbald herausgegeben werden. Das beigegebene PortrÈt, nach einer Photographie von 1907, zeigt ihn in seinem 74ten Lebensjahr. Oktober 1912.

G. M.

Zur Rezeption F. Deibels und R. Ungers Anzeigen der ersten und dritten Auflage von EuD, Ausschnitte aus Sammelbesprechungen, stehen an erster Stelle. Ihnen folgen die Rezensionen der ersten Auflage von F. J. Schmidt und H. Maync.

Franz Deibel, Literaturgeschichte. 1905. Die schaffende Phantasie des KÝnstlers steht im Mittelpunkt der vier AufsÈtze, die W. D i l t h e y (282) zu einem bedeutsamen Buch vereinigt hat. Zu verschiedenen Zeiten eines an geistigen ErtrÈgen Ýberreichen Lebens entstanden, aber von einem gemeinsamen fruchtbaren Gedanken getragen, erweitern sie sich zu einer grosszÝgigen psychologischen Analyse der neueren deutschen Literatur. Den Erlebnissen als den Quellen, die ein dichterisches Werk speisen, geht D. nach, aber Erlebnissen, die nicht in dem engen Sinne des Einzelgeschehnisses gefasst sind, sondern als alle Momente des Daseins, die in dem Dichter schÚpferisch werden, indem sie ihm neue ZÝge des unergrÝndlichen vielgestaltigen Lebens offenbaren. So fÈllt unter den Begriff des Erlebnisses jedes gewaltige Ringen eines Menschen mit den geistigen Werten seiner Zeit so gut wie eine schnell verklingende Stimmung, eine flÝchtige Begegnung, die fÝr den Aufbau des eigenen Seins nichts bedeutet, aber die Phantasie in die bildende TÈtigkeit des Gestaltens, des Schaffens zu setzen vermag. Seine EinfÝhrung in die subtilen VorgÈnge poetischer Produktion erÚffnet D. mit Lessing. Mehr noch beherrscht der tragende Gedanke des Buches die meisterhafte Abhandlung „Goethe und die dichterische Phantasie“, eine tiefgehende Analyse der VorgÈnge, unter denen Goethes Dichtungen entstanden sind. Von Goethe wendet sich D. dann zu zwei komplizierteren pathologischen Naturen der folgenden Generation, in denen Phantasie und GefÝhl exzentrischere Bahnen laufen: zu Novalis und HÚlderlin. Den Aufsatz Ýber Novalis, der vor vierzig Jahren erschien, kann er unverÈndert wieder abdrucken, so vÚllig ist das einst instinktiv von ihm erfasste geistige PortrÈt des Dichters von der jÝngsten Forschung allmÈhlich bestÈtigt worden. Neu ist der Essay Ýber HÚlderlin, der einzigartig das Wesen dieser menschlichen und dichterischen GrÚsse erfasst und schildert. Aus: Jahresberichte fÝr neuere deutsche Literaturgeschichte, hrsg. von J. Elias u. a., XVI (Jahr 1905), Berlin 1908, S. 691.

Rudolf Unger, Literaturgeschichte. A l l g e m e i n e s u n d G e s a m t d a r s t e l l u n g e n . Nicht nur im Sinne zufÈlliger rÈumlicher Anordnung stehen an erster Stelle dieses Kapitels W. D i l t h e y s (2209) meisterliche Essays, betitelt „Das Erlebnis und die Dichtung“. LÈngst haben sie sich einen hervorragenden, ja nach vieler Urteil den ersten Platz unter dem Heere neuerer literarhistorischer beziehungsweise literarÈsthetischer und

Das Erlebnis und die Dichtung

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-psychologischer Aufsatzsammlungen gesichert und vielseitig anregend, befruchtend und zu hÚheren Gesichtspunkten hinleitend in die Entwicklung unserer Wissenschaft eingegriffen. Auch an dieser Stelle ist ihre hohe Bedeutung seinerzeit eingehend gewÝrdigt worden (vgl. JBL. 1905, S. 438/9, 538, 543, 664 und 691; 1906/7, S. 542, 902). Die vorliegende dritte Auflage zeugt wiederum, leider nun, nach dem unerwarteten Ableben D.s, zum letzten Male, von dem rastlosen, stets erneuten und vertieften Ringen mit den Problemen, von jener GenialitÈt wissenschaftlicher Gewissensunruhe, des Nichtabschliessenwollens und -dÝrfens, die einen so wesentlichen und charakteristischen Zug dieses nicht minder grossartig als tragisch veranlagten Denkers bildet. Diesmal kommt freilich weniger Umarbeitung als ErgÈnzung und Zusatz in Frage. Insbesondere dient ein dem ganzen Buche vorangesetzter einleitender Àberblick Ýber den „Gang der neueren europÈischen Literatur“ ebenso der Andeutung des weltliterarischen und geistesgeschichtlichen Hintergrundes, von dem sich die einzelnen Dichterprofile abheben, wie des vereinheitlichenden Gesichtspunktes, von dem aus sie aufgenommen sind. Ohne diese Epitome nochmals epitomieren zu wollen, weise ich nur darauf hin, wie auch hier wieder die kÝnstlerische BefÈhigung D.s sich hervortut, im ganzen zu sehen, grosse Entwicklungen mit wenigen plastischen Strichen hinzustellen und zugleich dem allbekannten Bilde durch sonderartige Auffassung und eigentÝmliche Kombination neue ZÝge abzugewinnen. So hier in der kulturhistorischen Charakteristik der typischen Stufen, in denen die neuere Literaturentwicklung Westeuropas verlÈuft: von der stÈndisch und konventionell gebundenen Poesie des Mittelalters Ýber den grossen Stil der souverÈnen Phantasiekunst des Rinascimento zu der durch die neuen geistigen und sozialen MÈchte bedingten und getragenen Ideendichtung der AufklÈrung. In engem Zusammenhang mit diesen AusfÝhrungen bestimmen einige einleitende ZusÈtze zu dem bereits in der zweiten Auflage stark umgearbeiteten Goetheaufsatz prÈgnant das VerhÈltnis dieses SchÚpfers einer neuen Poesie zu den geistigen Voraussetzungen seines Zeitalters. Aus: Jahresberichte fÝr neuere deutsche Literaturgeschichte, hrsg. von J. Elias u. a., XXI (1910), Berlin-Steglitz 1912, S. 449 f.

Ferdinand Jakob Schmidt, Das Erlebnis und die Dichtung. Zu den hervorragenden Leistungen, die wir dem feinsinnigen Schaffen W i l h e l m D i l t h e y s verdanken, gehÚrt nicht zuletzt die, daß er als B e g r Ý n d e r e i n e r p h i l o s o p h i s c h e n P o e t i k hervorgetreten ist. Zwar sind es bis jetzt nur große Vorarbeiten, die noch des Zusammenfassens systematischer Ausgestaltung harren; aber was auf diese Weise vorliegt, ist schon fest gefÝgt genug, daß auch andere auf diesem Fundament rÝstig weiter zu bauen vermÚgen. Der Grundriß dieses Unternehmens ist uns aufgezeichnet in der umfangreichen Abhandlung „die Einbildungskraft des Dichters“, die sich in dem Dedikationsbande fÝr Zeller (Leipzig 1887) befindet. Dazu gesellt sich nun ein eben unter dem Titel „D a s E r l e b n i s u n d d i e D i c h t u n g “ erschienenes Buch (Leipzig, B. G. Teubner 1906), in dem drei Èltere AufsÈtze Ýber Lessing, Goethe und Novalis mit einem neu hinzugekommenen Ýber HÚlderlin vereinigt sind. Diese Charakteristiken gehÚren zu den auserlesenen MeisterstÝcken dieser Literaturgattung, und ich glaube, alles darÝber in das eine Wort zusammenfassen zu dÝrfen, daß sie nicht unwert sind, neben solche Essays wie Goethes „Winckelmann“ gestellt zu werden. Denn wie Goethe in dem individuellen PortrÈt des SchÚpfers der entwicklungsgeschichtlichen Kunstforschung zugleich die bleibenden ZÝge hÚherer Lebensgesetzlichkeit plastisch herausgearbeitet hat, die mit dieser PersÚnlichkeit in die Erscheinung getreten sind, so sind in den Chrakteristiken Diltheys in entsprechender Weise typische Grundbestimmungen des dichterischen Gestaltens sichtbar gemacht worden. Die so gewonnenen BeitrÈge zu einer poetischen Theorie sind der Inbegriff dessen, was Ýber „D a s E r l e b n i s u n d d i e D i c h t u n g “ zum Bewußtsein gebracht wird. Zu einer wissenschaftlichen Literaturgeschichte, die diesen Namen verdient, gehÚrt nach Dilthey

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Textgeschichte und Anmerkungen

die Aufdeckung des Zusammenwirkens dreier Momente, nÈmlich erstens die allgemeine Erforschung der charakteristischen Geistesbestimmtheit dichterischer Phantasie, zweitens die Befruchtung dieser Phantasie durch die eigenen Erlebnisse des Dichters und drittens der geschichtliche Einfluß der bereits vorliegenden Gestaltungen der Poesie. Man kÚnnte das erste dieser Momente das philosophische, das andere das individuell-psychische und das dritte, das historisch-vergleichende nennen. Die reichen Mitteilungen Goethes Ýber sein Leben und sein dichterisches Schaffen, insbesondere die Darlegung seines Entwicklungsganges in „Dichtung und Wahrheit“, bestÈtigen zur GenÝge, daß das wahre VerstÈndnis großer KunstschÚpfungen nur durch das Ineinanderwirken jener drei Instanzen ermÚglicht wird. Gerade seinem Essay Ýber „Goethe und die dichterische Phantasie“ stellt darum auch Dilthey die prÈludierenden Worte voran: „Die Phantasie des Dichters, ihr VerhÈltnis zu dem Stoff der erlebten Wirklichkeit und der Ueberlieferung, zu dem, was frÝhere Dichter geschaffen haben, die eigentÝmlichen Grundgestalten dieser schaffenden Phantasie und der dichterischen Werke, welche aus dieser Beziehung entspringen: das ist der M i t t e l p u n k t aller Literaturgeschichte. Und die Erforschung der dichterischen Phantasie ist die naturgemÈße G r u n d l e g u n g des wissenschaftlichen Studiums der poetischen Literatur und ihrer Geschichte. Denn jeder Zweig der Wissenschaften von den menschlich-gesellschaftlichen ZustÈnden erwÈchst nach seiner eigenen, durch keine Theorie vorher anzugebenden Regel aus der VerknÝpfung psychologischer und vergleichend-historischer Einsichten. Seine Ergebnisse werden um so brauchbarer sein, je reiner die psychologischen Einsichten die Aufeinanderfolge der wirklichen wenn auch verwickelten psychischen Tatsachen ausdrÝcken.“ Dilthey macht hier zunÈchst gegenÝber jedem rationalistischen Verfahren, aus abstrakten Begriffen auf formallogischem Wege Èsthetische Theorien abzuleiten, mit vollem Recht die entwicklungstheoretische Einsicht geltend, daß alle wissenschaftliche Wahrheit nur aus der k o n k r e t e n E n t w i c k l u n g der jeweilig in Frage kommenden Einheitsmomente begriffen werde. Wenn aber gesagt wird, daß alle wissenschaftliche Erkenntnis aus der VerknÝpfung psychologischer und vergleichendhistorischer Einsichten entspringt, so kÚnnte dies auf den ersten Blick so aussehen, als ob es die formale VerknÝpfung der sinnlichen TatsÈchlichkeit als solche wÈre, welche die Einsicht in die GesetzmÈßigkeit des betreffenden Prozesses erzeugte. Das ist aber nicht gemeint. Denn dieses Verfahren wÈre ebenfalls noch rationalistisch; nur wÈre es kein metaphysischer, sondern ein sensualistischer Rationalismus. So aber wird jede Methode genannt, welche ihre Erkenntnisse aus der formalen, verstandesmÈßigen VerknÝpfung irgendwie g e g e b e n e r Inhalte, seien es nun metaphysische Begriffe oder psychische Sinnesvorstellungen, dogmatisch oder empirisch ableitet. DemgegenÝber hat indessen die Philosophie unseres klassischen Idealismus siegreich fÝr alle tiefere Einsicht zum Bewußtsein gebracht, daß der Geist nicht ein anderweitig Gegebenes, sondern sich selber in der Erfahrung bestimmt, und daß daher alle psychologische Erkenntnis nach Form und Inhalt nur die Determination allgemeiner Geistesprozesse ist. Wie sollte denn auch in aller Welt das psychisch und historisch TatsÈchliche jemals verknÝpft werden kÚnnen, da es als solches das schlechthin Besondere, Determinierte, von allem anderen Unterschiedene zur Erscheinung bringt, und da dieses eben als Besonderes schlechterdings nichts Gemeinsames hat, wodurch es verknÝpfbar wÈre. Wenn daher alle VerknÝpfung gleichwohl stets auch eine solche von Besonderem ist, so ergibt sich daraus mit aller nur wÝnschenswerten Klarheit, daß alles Psychische, Sinnliche, Individuelle, Empirisch-Historische – als solches noch nicht konstituierendes Urelement des Lebensinhaltes ist, sondern daß es nur Differenzierungselement eines allgemeinen Inhaltes ist. Nur als Besonderungsbestimmung dieser allgemeinen Inhaltseinheit wird das Psychische verknÝpfbar. Es ist der große und verhÈngnisvolle Irrtum des neunzehnten Jahrhunderts, daß es die physiologisch interpretierten Besonderungserscheinungen der psychischen Erfahrung fÝr die konstituierenden Elemente des menschlichen Lebenszusammenhanges hat halten kÚnnen. Jede VerknÝpfung psychischer und historischer Gestaltungsbesonderung ist schon kein primÈrer Vorgang mehr, sondern ein sekundÈrer; er wÈre unmÚglich, wenn ihm nicht die allgemeine Differenzierungs- und VerknÝpfungsfunktion von Inhalt und Form, Anschauung und Idee, Sinnlichkeit und

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Geist, Erscheinung und Begriff bereits zugrunde lÈge. Auch alle Kunstgestaltung fÝhrt daher letzthin auf eine der VerknÝpfungsmÚglichkeiten von Anschauung und Idee zurÝck, und der Umkreis dieser MÚglichkeiten ist durch die psychische Erfahrung weder Ýberschreitbar noch eliminierbar. Jede Èsthetische Untersuchung, die aus der VerknÝpfung psychologischer und vergleichend-historischer Einsichten erwÈchst, wird deshalb instinktiv oder klar bewußt lediglich zur Feststellung der besonderen Art einer der allgemeinen GestaltungsmÚglichkeiten von Anschauung und Idee hingetrieben. Daß Dilthey nun den Ausdruck „VerknÝpfung“ weder in dem rationalistischen, noch in dem roh psychologistischen Sinne meint, geht, obwohl es nicht ausdrÝcklich hervorgehoben wird, aus dem ganzen Gange der Untersuchung hervor. In diesem Sinne wird auch der Satz genommen werden mÝssen: „nur durch allgemeine Vorstellungen von psychischen Tatsachen fassen wir jedes individuelle PhÈnomen der Geschichte auf, stellen wir es dar“. Eine solche Erkenntnisbewegung, wie sie Dilthey vertritt, eine Erkenntnisbewegung, die von psychischen Tatsachen, also vom Besonderen, zu allgemeinen Vorstellungen, d. h. Gedanken aufsteigt und zu dem Ergebnis gelangt, daß jedes individuelle PhÈnomen der Geschichte letztlich im konkreten Denken seinen Grund finde, heißt p h È n o m e n o l o g i s c h . Damit ist am deutlichsten der Unterschied von dem vulgÈren Psychologismus der Gegenwart gekennzeichnet. Denn wÈhrend dieser die Allgemeinvorstellungen, Gedanken, Ideen fÝr abgeleitete Produkte psychischer Inhalte hÈlt, ergibt sich aus der phÈnomenologischen Untersuchung vielmehr das Umgekehrte, daß jene Verbindungen Produkte der allgemeinen Einheitsfunktion des Geistes sind. Nur der Ausgangspunkt ist diesen beiden entgegengesetzten psychologischen Richtungen gemeinsam, und er liegt in dem Satz: „daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel“. Der Beginn jeder echten Philosophie ist phÈnomenologisch bestimmt. Er geht von den Erfahrungserscheinungen, der sogenannten psychischen TatsÈchlichkeit, aus und erkennt sogleich bei seinem ersten Schritt, daß diese psychischen Erfahrungsbestimmungen weder den Grund ihres Daseins noch ihrer Verbindung in sich selber tragen und daher die Erkenntnis von Anfang an Ýber den Standpunkt der gemeinen Erfahrung hinausweisen [sic]. Von welcher Gruppe von PhÈnomenen man aber auch ausgehen mag, immer zeigt sich, daß sie ihren Entwicklungsgrund in allgemeinen Geistesbestimmtheiten haben, und darum ist es die erste Aufgabe der Philosophie, die Methode aufzuzeigen, wie man von den besonderen Erfahrungserscheinungen zu ihren allgemeinen Gestaltungsfunktionen vordringt. Ob man dabei auf dem Wege einer deskriptiv vergleichenden oder entwicklungstheoretischen Dialektik vorzugehen habe, kommt auf den Gegenstand an; phÈnomenologisch ist beides. Dilthey macht die deskriptive Methode geltend. Er sieht sich dazu veranlaßt, weil er von vornherein bereits die Besonderung der Geisteswissenschaften in Geschichte, Theologie, Jurisprudenz, Aesthetik u. s. w. ins Auge faßt. Da nun jeder von diesen Wissenschaftszweigen sich durch eine besondere Gruppe psychischer PhÈnomene von den anderen unterscheidet, so ist hier allerdings der Weg der Deskription und der Vergleichung vorgezeichnet, um zu den spezifischen GestaltungsgrÝnden jeder einzelnen Gruppe zu gelangen. Dies ist der Weg der a n g e w a n d t e n P h i l o s o p h i e . Die r e i n e P h i l o s o p h i e dagegen erfaßt sogleich die gemeinsame Bestimmtheit aller psychischen PhÈnomene Ýberhaupt und findet sie in der Unterscheidung des Etwas und des Anderen, des Hier und Dort, des Jetzt und Nichtjetzt. Indem sie aber dann zu dem Entwicklungsgrunde aller nur mÚglichen psychischen PhÈnomene zurÝckgeht, kann sie freilich nicht mehr deskriptiv vergleichend, sondern muß entwicklungstheoretisch verfahren, weil dieser Wesensgrund aller PhÈnomenalitÈt Ýberhaupt nur durch die fortschreitende Aufdeckung der WidersprÝche aller bloß psychischen Besonderung gefunden werden kann. Dies ist das von Plato entdeckte, von Aristoteles fortgebildete und von Hegel zur Vollendung gebrachte Verfahren. Die PhÈnomenologie schafft nur die Vorbedingung fÝr die LÚsung der Aufgabe der Philosophie, aber sie gibt diese LÚsung noch nicht selbst! Indessen mit dieser weiteren Entwicklung haben wir uns hier nicht zu befassen, da nur die Stellung Diltheys gekennzeichnet werden sollte in seinem Bestreben, den einzelnen Geisteswissenschaften und so auch der Aesthetik und Poetik eine philosophische Metho-

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Textgeschichte und Anmerkungen

de an die Hand zu geben. Dieses Unternehmen bestimmt sich demnach durch seine beschreibend-vergleichende Dialektik als M e t h o d e d e r a n g e w a n d t e n P h È n o m e n o l o g i e . Um nun die Grundformen des dichterischen Schaffens aufzufinden, wird zunÈchst das VerhÈltnis zwischen der angesammelten Erfahrung und der freischaffenden Phantasie, zwischen der Reproduktion von Gestalten, Situationen und Schicksalen und ihrer SchÚpfung untersucht. Die empirische Psychologie unterscheidet hierbei Assoziation und Einbildungskraft in der Weise, daß sie erklÈrt, in den assoziativen Prozessen wÝrden gegebene Elemente in einer gegebenen Verbindung zur Vorstellung zurÝckgerufen, die Einbildungskraft dagegen stelle aus gegebenen Elementen neue Verbindungen her. Bei der deskriptiven Vergleichung dieser PhÈnomene zeigt sich nach Dilthey jedoch, daß diese Charakteristik der Assoziation nicht stichhaltig ist. Denn die genauere Beschreibung dieses PhÈnomens gibt zu erkennen, daß es eine bloße Wiedererneuerung einmal dagewesener Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen gar nicht gibt, sondern daß dabei immer schon ein schÚpferischer Bildungsprozeß mitwirkt. „In der von uns auffaßbaren Wirklichkeit kehrt dieselbe Vorstellung so wenig in einem Bewußtsein zurÝck als sie in einem zweiten Bewußtsein als ganz dieselbe wieder vorkommt. So wenig als der neue FrÝhling die alten BlÈtter auf den BÈumen mir wieder sichtbar macht, so wenig werden die Vorstellungen eines vergangenen Tages an dem heutigen wiedererweckt, etwa nur dunkler oder undeutlicher.“ ZurÝckgewiesen wird daher nicht nur die Hypothese, daß jener Vorgang auf einer Wiederbewußtmachung unbewußt gewordener Vorstellungen beruhe, sondern ebenso die verwegenste aller metaphysischen Annahmen von bloßen zurÝckbleibenden physiologischen Spuren, – „die Annahme, daß die Vorstellung, welche wir erinnern, als fixes Element dem Atom vergleichbar zurÝckkehre und, so zurÝckgekehrt, vermÚge ihres VerhÈltnisses zu anderen Vorstellungen in Bildungsprozesse eintrete.“ Aus der phÈnomenologischen Untersuchung geht vielmehr hervor, daß ebenso wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf GedÈchtnis beruhte, es auch kein GedÈchtnis gibt, daß nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. „Wiedererkenntnis ist zugleich Metamorphose. Und diese Erkenntnis lÈßt den Zusammenhang zwischen den elementarsten VorgÈngen unseres psychischen Lebens und den hÚchsten Leistungen des menschlichen schÚpferischen VermÚgens sichtbar werden. Sie lÈßt in die UrsprÝnge jenes mannigfaltigen, an jedem Punkte ganz individuellen und nur einmal so vorhandenen beweglichen geistigen Lebens blicken, dessen glÝcklichster Ausdruck die unsterblichen GeschÚpfe der kÝnstlerischen Phantasie sind. Die Reproduktion selber ist ein Bildungsprozeß.“ Bis dahin ist die Phantasie des Dichters von der des gewÚhnlichen Menschen noch nicht prinzipiell verschieden. Die kÝnstlerische Einbildungskraft in ihrer allgemeinmenschlichen Grundbestimmtheit stellt nur einen exemplarischen Fall von entwickelterer Vollkommenheit dar. Sie ist eines jener UrphÈnomene, auf deren Ermittlung, Beschreibung und Vergleichung Goethe die Aufmerksamkeit immer wieder hinlenkte, sei es nun, daß er naturwissenschaftlichen oder kÝnstlerischen, politischen oder sozialen Problemen nachging. Dieser Spur ist Dilthey gefolgt; und indem er nun selbst Goethe, Shakspere und Dickens, Novalis und HÚlderlin als solche UrphÈnomene nimmt, gelingt es ihm, gleichsam auf urkundliche Weise die Einsicht in die sich wechselseitig befruchtenden und nur in dieser Befruchtung wirklichen Momente der Assoziation und der Einbildungskraft zu vermitteln. Nicht nur zur Probe auf das Exempel einer phÈnomenologischen Theorie dient hier also die Untersuchung jener dichterischen IndividualitÈten, sondern diese Gestalten bilden selber den ausgezeichneten Fall, an dem ein allgemeinmenschliches LebensphÈnomen zur Klarheit gebracht wird. Und so wird denn erst auf diesem Wege die Erkenntnis gewonnen, daß es eine einseitige Wiedererinnerung und Erinnerungsvergesellschaftung frÝherer EindrÝcke gar nicht gibt, sondern daß dabei immer schon ein selbsttÈtiger Bildungsprozeß mitwirkt. An diesem Punkte tritt nun der Unterschied der physiologisch-erklÈrenden und der deskriptiv-entwickelnden Psychologie mit aller SchÈrfe auf. Die physiologische Psychologie ist darauf gerichtet, die psychischen VorgÈnge aus dem kausalen Zusammenhange mit den entsprechenden physiologischen

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Prozessen exakt zu erklÈren. Sie geht dabei immer schon von irgend einer nicht bewiesenen und nicht beweisbaren metaphysischen Hypothese aus, die letzthin alle auf einen direkten oder indirekten Parallelismus der psychischen und physiologischen VorgÈnge hinauskommen. Sagt der Materialismus, die Bewußtseinserscheinungen seien bloße AuslÚsungen mechanischer Prozesse, so behauptet dieser Psychologismus, sie seien Parallelerscheinungen der organischen VerÈnderungen des Leibes. Auf diese metaphysische Hypothese – denn alle Hypothesenbildung ist Metaphysik – stÝtzt sich aber die sogenannte Exaktheit dieser psychologistischen KausalerklÈrung, und doch ist dieser Dualismus, wie jeder andere Ýberhaupt, nichts als eine durch den Èußeren Schein verblendete Verkennung der lebendigen Wahrheit. Denn wÈhrend uns das Leben im ganzen wie in allen seinen Aeußerungen immer nur erkennen lÈßt, daß es eine untrennbare Einheit ist, und daß Leib und Seele diese selbe Einheit nur in verschiedener Beziehungsfunktion darstellen, wird entgegen diesen unmittelbarsten aller Tatsachenbefunde vom Psychologismus gleichwohl die Bewußtheit und die Leiblichkeit als ein paralleler Dualismus vorausgesetzt. Aber nicht heut und gestern erst, sondern schon vor Tausenden von Jahren ist richtig und den Tatsachen entsprechend erkannt worden, daß der Leib nichts anderes ist als die natÝrliche Besonderungsfunktion der psychischen Individualbestimmtheit in ihrer Beziehung zur TotalitÈt der Naturbestimmtheit, die Seele aber Einheitsfunktion dieser Individualbestimmtheiten in der Beziehung auf sich selbst und dadurch als Bewußtseinseinheit. Sage ich „Leib“, so fasse ich die VerÈnderungen der IndividualitÈtsbestimmtheit im VerhÈltnis zu den mannigfaltigen Bestimmungen der Naturbesonderung auf; sage ich „Seele“, so fasse ich die VerÈnderungen der IndividualitÈtsbestimmtheit im VerhÈltnis zur einheitlichen Beziehung auf sich selbst ins Auge. Jede VerÈnderung meines Ichs drÝckt sich also in einer doppelten Beziehungsfunktion aus: in der leiblichen Besonderungsfunktion und in der seelischen Einheitsfunktion. Der spezifische Charakter dieser Beziehungen ist danach ein verschiedener. Die allgemeinste Bestimmtheit der kÚrperlichen Besonderungsfunktion ist die Beziehung der IndividualitÈtsverÈnderungen auf die Mannigfaltigkeit der Naturbesonderung in der gesetzmÈßigen VerknÝpfung des N a c h - u n d N e b e n e i n a n d e r, die der Einheitsbeziehung ist die Zusammenfassung im I n e i n a n d e r . Jeder also, der psychische VorgÈnge durch physiologische Prozesse erklÈren will, reibt sich an dem vergeblichen Unternehmen auf, die Einheit des Ineinander durch die Èußere VerknÝpfung in der Ordnung [des] Nach- und Nebeneinander aufhellen zu wollen. Wer daher einem solchen Versuch bis zu dieser Konsequenz auch nur einmal nachdenkt, muß von der gÈnzlichen UnmÚglichkeit einer physiologisch-erklÈrenden Psychologie nachgerade Ýberzeugt werden. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß die physiologische Psychologie Ýberhaupt bedeutungslos ist; sie hat nur k e i n e p s y c h o l o g i s c h e Bedeutung. Denn die Einheitsbeziehung des Ineinander ist zwar unabhÈngig von der Èußeren VerknÝpfung des Nach- und Nebeneinander, nicht aber diese von der Einheitsbeziehung, weil ohne sie schlechterdings gar keine Erkenntnis mÚglich ist. Immer muß sich also diese Einheitsfunktion auch in den Èußeren Relationen darstellen, wie ja Kant zur GenÝge gezeigt hat, und daher kann die psychologische Einheitserkenntnis sehr wohl zur Ermittlung der physiologischen Relationseinheiten mitwirken. Die physiologische Psychologie hat daher ihre volle Berechtigung, sofern sie sich darauf beschrÈnkt, die psychologischen Einheitsprozesse fÝr die Physiologie nutzbar zu machen; will sie das Umgekehrte, so ist sie wissenschaftliche Utopie. Der Versuch, die Philosophie auf diesem naturwissenschaftlichen Boden neu zu konstituieren, ist daher vÚllig gescheitert. Wohl ist die Erfahrungskenntnis der Physiologie dadurch, daß sie die Psychologie zu ihrer Hilfswissenschaft gemacht hat, nicht unbetrÈchtlich erweitert worden; aber das schier unbegreifliche Wagnis, unter Verstopfung der Urquellen den Strom der philosophischen Forschung aus dem abgeleiteten GewÈsser dieser naturwissenschaftlichen Hilfsdisziplin speisen zu wollen, hat fast zu einer Austrocknung des Bettes jener ehedem so lebensfrisch dahinrauschenden Geistesflut gefÝhrt. 1

1

Ich freue mich, hierbei auch auf H. St. Chamberlain hinweisen zu kÚnnen, der in seinem neuen

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Von dieser Verwirrung macht sich die psychologische Methode der deskriptiven und komparativen Dialektik frei. Denn, indem sie solche PhÈnomene wie Wiedererinnerung, Assoziation, Einbildungskraft nicht als selbstÈndige Prozesse, sondern als integrierende Momente der seelischen Einheitsfunktion aufweist, wird dadurch die wahre Natur dieser VorgÈnge erst ans Licht gebracht, und zugleich wird durch dieses auf die einzelnen Geisteswissenschaften angewandte Verfahren auch der Boden fÝr die schÚpferische Entfaltung der reinen entwicklungstheoretischen (spekulativen) Philosophie wieder vorbereitet. Auf diese Weise ist es Dilthey gelungen, der Poetik neue, gesichertere Wege zu erÚffnen. Nachdem er demgemÈß klar gestellt hat, daß schon bei den natÝrlichen, alltÈglichsten Vorstellungsreproduktionen stets die Phantasie mitwirke, zeigt er sodann den Unterschied der das Sinnliche vergeistigenden Einbildungskraft des Dichters von dem in der SinnensphÈre verharrenden Gestaltungsprozeß der gemeinen, psychischen Einbildungskraft. Diesen Gegensatz sieht Dilthey aber darin, daß sich in dem Wirken der kÝnstlerischen Phantasie eine von der Welt unseres Handelns unterschiedene z w e i t e W e l t a u f b a u t . Es wird dabei bemerkt, daß sich die dichterische Einbildungskraft u n w i l l k Ý r l i c h so schon in den Gebilden des Traumes Èußere, welcher daher der Èlteste aller Poeten genannt wird. „Sie wirkt dann willkÝrlich, wo sich der Mensch von der Bindung durch die Wirklichkeit zu befreien strebt: im Spiel, vor allem aber, wo festliche Steigerung des Daseins im Maskenscherz, Verkleidung, festlichem Aufzug eine vom Leben des Tages gesonderte Welt hervorbringt. Das ritterliche Leben und die hÚfische Kultur der Renaissance zeigen, wie solche Entfaltung der Phantasie fÝr die vom Leben ganz abgelÚste SchÚpfung einer zweiten Welt in der Dichtung die inneren und die gesellschaftlichen Bedingungen schafft. In einer anderen Linie des Lebens bereitet sich die Poesie in dem Verkehr mit den unsichtbaren KrÈften vor. Die Anschauungen von gÚttlichen Wesen entstehen zunÈchst aus solchem religiÚsen Verkehr, der diese der physischen Einwirkung unerreichbaren KrÈfte zu beeinflussen strebt: sie bilden sich sonach im Zusammenhang von TÈtigkeiten, die auf VerÈnderungen in der unsichtbaren Ordnung gerichtet sind; daher sind diese Anschauungen eingewoben in das Leben, sein Leiden und Wirken. Ist so die Einbildungskraft in Mythos und GÚtterglaube zunÈchst gebunden an das BedÝrfnis des Lebens, so sondert sie sich doch allmÈhlich im Verlauf der Kultur von den religiÚsen Zweckbeziehungen und erhebt jene zweite Welt zu einer unabhÈngigen B e d e u t s a m k e i t wie Homer, die griechischen Tragiker, Dante, Wolfram von Eschenbach das zeigen. So lÚst alle darstellende Dichtung die Welt, die sie schafft, von der B i n d u n g los, die in den besonderen Lebensbedingungen des Schaffenden und Genießenden enthalten ist.“ Damit ist allerdings der unterscheidende Charakter der dichterischen Einbildungskraft kenntlich genug beschrieben; und von hier aus lÈßt sich das GrundphÈnomen noch in seiner allgemeinen Beziehung aufhellen. Zwei Hauptmomente, so hÚrten wir, sind hier fÝr die Gestaltungen der dichterischen Phantasie geltend gemacht: das B e f r e i u n g s m o m e n t und das B e d e u t s a m k e i t s m o m e n t . Jenes tritt schon im Traum, besonders aber im Spiel hervor, insofern sich darin dem Menschen eine neue Welt auftut, die von dem BedÝrfnis und dem Zwange des natÝrlichen Daseins frei ist. In klassischen AusfÝhrungen hat Schiller bereits diesen Spieltrieb fÝr die Urpotenz alles kÝnstlerischen Schaffens erkennbar gemacht. Beruhte aber das poetische Gestalten lediglich auf dem phantasievollen Spiel der Entbindung seiner Vorstellungsgebilde von den ehernen Gewalten des sinnlichen Lebens, dann wÈre

„Kant“ (S. 644) von den umfangreichen Arbeiten Wundts sagt: man werde ihnen erst gerecht, wenn man die mißverstÈndliche Benennung seines Hauptwerkes berichtige; „denn in Wirklichkeit handelt es sich nicht um die gedankliche MonstrositÈt einer physiologischen Psychologie, sondern um eine psychologische Physiologie, das heißt um eine wissenschaftlich-anatomische Physiologie, welche die PhÈnomene der sogenannten Seele als fortlaufenden Kommentar eingehend berÝcksichtigt.“

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die Kunst Ýberhaupt nur ein imaginÈres Produkt, gut genug, uns fÝr einige glÝckliche Stunden Ýber die Schwere des Daseins hinwegzutÈuschen. So aber ist es nicht. Denn, obwohl die Gebilde echter Kunst zwar auch nur ein Erzeugnis des Spieltriebes sind, wohnt ihnen doch zugleich eine B e d e u t u n g inne, vor der die bloße Sinnenwelt wie eine Scheinwelt zerfließt. Welches ist nun der Ursprung dieser Bedeutsamkeit? – Es kann zunÈchst daran erinnert werden, daß dieses Bedeutsamkeitsmoment den Gebilden der Kunst nicht ausschließlich zukommt, ja nicht einmal in der reinsten, vollendetsten Form. Es ist neben den großen KunstschÚpfungen auch der religiÚsen Glaubensgestaltung und der philosophischen Entwicklungserkenntnis des gÚttlichen Logos eingeboren, und die gemeinsame Wurzel dieser dreifachen Entfaltung zeigt sich in dem mythenbildenden Lebensgeist. Im Mythos liegen Religion, Kunst und Philosophie noch einheitlich beschlossen, und erst in dieser trinitarischen Entwicklung tritt die ganze Bedeutung der sie gemeinsam beseelenden Idee zutage. Sollen wir phÈnomenologisch ausdrÝcken, worum es sich hierbei handelt, so kann es folgendermaßen ausgedrÝckt werden. Wie dunkel auch immer, tritt schon beim Beginn der mythenerzeugenden Menschheitsepoche die Ahnung hervor, daß diese Welt der sinnlichen Natur nicht die ganze und darum nicht die wahre Welt sei, sondern daß sich in ihr eine nichtsinnliche TotalitÈtseinheit schaffend verlebendige, deren Produkt sie ist und mit der zusammen erst die wahrhafte Wirklichkeit erfaßt wird. Zu einem sich immer mehr vertiefenden und verklÈrenden VerstÈndnis dieses Urbefundes kommt es jedoch erst, wenn der Mensch sich selbst, sein Inneres, seine IndividualitÈt begreift. Dann aber tritt auch die Differenzierung der mythischen Naturgeistigkeit in der Weise ein, daß die in der wahren TotalitÈt des Lebens begriffenen Erlebnisse zunÈchst noch als eine zweite hÚhere Welt neben die natÝrliche, sinnliche Welt herausgestellt werden. Sofern nun diese neue Welt der sinnlich gegebenen noch dualistisch gegenÝbertritt, geschieht dies auf zwiefache Weise. Sie wird einerseits als gegenwÈrtiges Anschauungsgebilde herausgestaltet und so der Sinnenwelt als vergeistigte Anschauungswelt gegenÝbergestellt, oder sie wird andererseits als ein sich erst in der Zukunft vollendendes Vorstellungsgebilde triebkrÈftig gemacht und so als Glaubenswelt aufgetan. Jenes ist der Weg der Kunst, dieses derjenige der Religion. Beiden ist es also gemeinsam, daß sie die Wahrheit dieser Welt, d. h. die TotalitÈt ihrer geistig schÚpferischen Einheit und ihrer sinnlichen Naturbesonderung, noch neben und nach der sinnlich-natÝrlichen als eine zweite Welt darstellen, sei es nun in einem sie anschaulich vergegenwÈrtigenden Phantasiebilde oder sei es in der Erweckung zukunftsfroher Glaubensgestaltung. Der Rest von einseitiger Unvollkommenheit, der den kÝnstlerischen und religiÚsen Gebilden noch anhaftet, entstammt demnach dem noch nicht vÚllig vergeistigten Formtriebe, der dazu drÈngt, die Wahrheit der LebenstotalitÈt in einer zweiten, sie vorerst nur b e d e u t e n d e n Welt neben der sinnlich gegebenen zum Bewußtsein zu bringen. Ihre HÚhenlinie aber erreicht diese TotalitÈtsentwicklung erst, wenn die Verwirklichung ihrer schÚpferischen Idee nicht mehr diesseitig oder jenseitig n e b e n die natÝrliche Welt gestellt wird, sondern wenn sie sich i n ihr selbst zu verlebendigen beginnt. Das ist jedoch nur durch die denkende Gestaltung des geistigen Wollens mÚglich, weil nur das geistig schÚpferische – nicht das formale, noch das psychologische – Denken die Wahrheit in ihrer reinen Gestalt ohne kÝnstlerischen Schein und religiÚse HÝlle zu erkennen und zu verwirklichen vermag. Dieses schÚpferische Denken nun mit dem Gefolge seiner Èlteren Schwestern, der Kunst und der Religion, zur hÚchsten, bestimmenden Macht des Lebens zu erheben, ist die A u f g a b e d e r s p e k u l a t i v e n P h i l o s o p h i e . Aus diesem Zusammenhange wird vÚllig durchsichtig, wie es zu jener zweiten Welt in der Kunst kommt, und was an ihr das B e d e u t e n d e ist. Alle echte Kunst geht von dem besonderen Erlebnis aus. Aber nicht das Besondere, NatÝrliche, Individuelle ist es, was ein solches Erlebnis zum k Ý n s t l e r i s c h e n Erlebnis macht, sondern vielmehr jenes glÝckliche, blitzartige, wunderbare Zusammentreffen, daß durch das Besondere eines derartigen Erlebnisses plÚtzlich das Allgemeine, der allschÚpferische TotalitÈtsgeist verklÈrend hindurchleuchtet, der in dem gewÚhnlichen Leben gerade durch die sinnliche Besonderung verdunkelt und verdeckt gehalten wird. Das zu schauen, ist freilich nur den Sonntagskindern vergÚnnt und auch diesen nur in vornehmlich gÝnstigen Momenten. Es gehÚrt dazu

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eine Seele, der weder durch das Individuum selbst, noch durch den Takt der gesellschaftlichen Konvention die keusche, ungekÝnstelte, sich dem GÚttlichen hingebende EmpfÈnglichkeit fÝr den reinen Genuß der sie befruchtenden LebenstotalitÈt ertÚtet ist. Das sind dann die kÝnstlerischen UrphÈnomene, die sich von den gewÚhnlichen, psychischen, getrÝbten SinnesphÈnomenen aussondern und diesen wie eine neue Welt gegenÝbertreten. Sie sind zugleich typisch bedeutsam, weil in ihnen die TotalitÈt des Lebens ergriffen und im Kunstwerk veranschaulicht wird. Soll eine Formel auch dafÝr angegeben werden, so kÚnnte vielleicht gesagt werden: das kÝnstlerische Erlebnis ist die sich offenbarende Integration des Besonderen und Allgemeinen, des Sinnlichen und Geistigen, des Animalischen und des GÚttlichen in einem individuellen Vorgange. Ueber solche SeelenzustÈnde, auch wenn sie nicht zu poetischer Gestaltung emporwachsen, bemerkt Goethe: „es sind eminente FÈlle, die in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit als ReprÈsentanten von vielen anderen dastehen, eine gewisse TotalitÈt in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, Èhnliches und fremdes in meinem Geiste aufregen und so, von außen wie von innen, an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen“. Was also das kÝnstlerische Erlebnis und sein Erzeugnis bedeutsam macht, das ist der TotalitÈtscharakter der GemÝtsverfassung, vermÚge dessen der allgemeine, nichtsinnliche Lebensgeist in tiefgreifenden individuellen VorgÈngen durch die psychischen Erlebnisse verklÈrend hindurchscheint und in diesem Schein lebendig festgehalten wird. So fÝhrt demnach auch die phÈnomenologische Poetik zu der Grundeinsicht jeder echten, die Psychosophistik bekÈmpfenden Philosophie, daß die Wahrheit aller PhÈnomene allein aus der schÚpferischen Selbstentwicklung der GeistestotalitÈt zureichend begriffen werden kann. Wer nun zu diesem tiefsten Grunde philosophischer Erkenntnis nicht vorzudringen vermag, der mÝßte doch indirekt Ýberzeugt werden, daß ein so besonnener und eindringlicher Forscher wie Dilthey durch die Ergebnisse seiner deskriptiven Poetik wie von Natur auf diesen Weg gefÝhrt wird. So legt er uns dar: „Im vollkommenen dichterischen Werke ist miteinander verknÝpft, was den Sinnen in der Empfindung gefÈllt, was u n s e r e h Ú h e r e n G e f Ý h l e i n s S p i e l s e t z t u n d w a s d i e d e n k e n d e B e t r a c h t u n g b e s c h È f t i g t : nur dann wird kein Mangel empfunden und die im Leben nur vorÝbergehende und partikulare Befriedigung wird dauernd. – An dem bunten Teppich der darstellenden Dichtung mit seinen Figuren weben a l l e K r È f t e d e s g a n z e n M e n s c h e n . A l l e P o e s i e i s t v o n d e m G e d a n k e n d u r c h d r u n g e n ; gibt es doch in dem entwickelten Menschen nur wenige Vorstellungen, welche nicht a l l g e m e i n e E l e m e n t e in sich faßten; gibt es doch andererseits in der Menschenwelt vermÚge der Wirkung allgemeiner sozialer VerhÈltnisse und psychologischer Verhaltungsweisen kein Individuum, welches nicht zugleich unter den verschiedenen Gesichtspunkten r e p r È s e n t a t i v wÈre, kein Schicksal, welches nicht e i n z e l n e r F a l l e i n e s a l l g e m e i n e r e n T y p u s von Lebenswendungen. Diese Bilder von Menschen und Schicksalen werden unter dem Einfluß der denkenden Betrachtung so gestaltet, daß sie, ob sie gleich nur einen einzelnen Tatbestand hinstellen, doch von d e m A l l g e m e i n e n g a n z g e s È t t i g t u n d s o l c h e r g e s t a l t r e p r È s e n t a t i v fÝr dasselbe sind.“ Bemerken wir hier, wie die vorsichtige Deskription der poetischen PhÈnomene klar ans Licht bringt, daß es im letzten Grund doch das Allgemeine, der Gedanke, das ReprÈsentative ist, was dem dichterischen Erlebnis und seiner Gestaltung die wahre Bedeutsamkeit gibt, so mag ein kurzsichtiger Psychologismus sich mit HÈnden und FÝßen gegen die spekulative Erleuchtung strÈuben, daß der Geist es ist, der sich den KÚrper baut: die Weltgeschichte wird dann Ýber jene positivistische Verblendung bald wie Ýber eine ephemere Erscheinung zur Tagesordnung Ýbergehen. Und sie tut es heute schon! Zu solchen KÚpfen hat nicht nur Kant und Hegel, sondern auch Goethe vergeblich gesprochen, wenn er sagt: „Alles, was wir Erfinden, Entdecken im hÚheren Sinne nennen, ist die bedeutende AusÝbung, BetÈtigung eines o r i g i n e l l e n W a h r h e i t s g e f Ý h l e s , das, im Stillen lÈngst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis fÝhrt. Es ist eine a u s d e m I n n e r n n o c h a m A e u ß e r n s i c h e n t w i c k e l n d e O f f e n b a r u n g , die den Menschen seine GottÈhnlichkeit ahnen lÈßt. Es ist eine S y n t h e s e v o n W e l t u n d G e i s t , welche

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von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt. – Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere reprÈsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendige augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen. – Das A l l g e m e i n e u n d B e s o n d e r e f a l len zusammen, das Besondere ist das Allgemeine, nur unter verschiedenen Bed i n g u n g e n e r s c h e i n e n d .“ Die Darstellung des Kunstwerkes ist daher eine der bestimmten Offenbarungsweisen, wie das Allgemeine an seiner Besonderung zur Erscheinung gelangt. In der Untersuchung dieser poetischen Darstellungsform gelangt Dilthey nun zu neuen AufschlÝssen. Er geht davon aus, daß die poetische Darstellung den bloßen Schein eines Wirklichen durch Worte und deren Verbindungen gebe und daher alle Mittel der Sprache anwenden mÝsse, um die kÝnstlerische Illusion zu erzeugen. Hierbei muß an Lessing erinnert werden, der zwar nicht Ýberhaupt, aber doch fÝr uns zuerst in seinem Laokoon entscheidend darauf hingewiesen hat, daß die spezifische Darstellungsart einer jeden Kunst letzthin bestimmt werde durch die besondere Grundform ihrer Veranschauungsprojektion. Ganz allgemein werden danach die KÝnste unterschieden, ob sie ihre Gebilde w e s e n t l i c h in der rÈumlichen oder in der zeitlichen Anschauungsform, in der Ordnung des Neben- oder Nacheinander zum Ausdruck bringen. Da nun davon auch das Anschauungsmaterial abhÈngig ist, nÈmlich ob das Kunstwerk in Formen und Farben oder in kÚrperlichen Gestalten oder in der einheitlichen Zusammenfassung von VerÈnderungen der Stimmungen und des Handelns durch Wort und Ton zur Anschauung gelangt, so stammen aus diesen objektiven Bedingungen die erlernbaren Regeln der Èußeren Technik. KÝnstlerisch aber ist diese Technik noch nicht an sich, sondern sie wird es erst dadurch, daß gezeigt wird, wie die begrenzten Mittel und Verbindungen einer speziellen Anschauungsform fÈhig gemacht werden, nicht nur das Wesensganze eines Erlebnisses mit seinen Empfindungsinhalten, GefÝhlen und Willensbewegungen, sondern Ýberdies noch jene durch ein solches Erlebnis hindurchschimmernde GeistestotalitÈt illusorisch zu vergegenwÈrtigen. Auch Ýber diesen Punkt finden sich bereits bei Lessing beachtenswerte AnfÈnge der Untersuchung vor, wobei er sich an die klassische Poetik und Rhetorik anlehnt. FÝr die Poesie entsteht so die Frage, was macht den natÝrlichen, sinnlichen Gebrauch der Worte und deren Verbindungen geeignet, die Bedeutung eines dichterischen Erlebnisses lebendig zu veranschaulichen. Nach allem, was gesagt ist, kann nicht wohl zweifelhaft sein, daß es die T o t a l i t È t s b e s t i m m t h e i t eines solchen Erlebnisses ist, die in bezug auf ihren substanziellen GemÝtsinhalt, in bezug auf die einheitliche VerknÝpfung der Bestimmungsmomente und in bezug auf das damit verbundene LebensgefÝhl in der sprachlichen Form objektiv verlebendigt werden muß. Auch das braucht nicht erst gesagt zu werden, daß dies tatsÈchlich erreicht wird durch die metaphorische Ausdrucksweise, durch die strenge innere MotivationsverknÝpfung und durch die rhythmische Form. Aber w i e das geschieht, das aufzudecken ist das Problem der philosophischen Poetik. Es handelt sich also dabei um mehr als nur um rhetorische Charakteristik und Einteilung, denn diese gibt nur das Psychologische. Die philosophische Poetik hat vielmehr offenbar zu machen, inwiefern die T o t a l i t È t s b e d e u t u n g des kÝnstlerischen Erlebnisses durch die rhetorischen Mittel des Metaphorischen und der Rhythmik und durch die dichterische Motivierung zur lebendigen Gestaltung gelangt. Zur BegrÝndung einer solchen philosophischen Poetik hat nun Dilthey vornehmlich in der Darstellung der Lyrik HÚlderlins einen gediegenen Beitrag geliefert. Auch hier verfÈhrt er lediglich dialektisch-beschreibend; aber nur auf Grund solch einer eindringlichen phÈnomenologischen Vorarbeit wird es mÚglich sein, jenes TotalitÈtsproblem der philosophischen Poetik konkret zu entwickeln. Diese Darlegung nimmt ihren Ausgangspunkt von der Unterscheidung der Lyrik Goethes und HÚlderlins. Als wesentliches Argument dieser Verschiedenheit wird geltend gemacht, daß Goethe stets die ganze Energie seiner Existenz in dem g e g e n w È r t i g e n Erlebnis zusammenfaßt, wÈhrend in dem GemÝt HÚlderlins die tiefgehenden LebenseindrÝcke der V e r g a n g e n h e i t und die Hoffnungen und Sorgen der Z u k u n f t in der Beziehung zu einem gegenwÈrtigen Erlebnis immerdar ihre s e l b s t È n d i g e Bedeutung bewahren, so daß es hier zu keiner tatkrÈftigen Verschmelzung, sondern

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Textgeschichte und Anmerkungen

zu einer rÝck- und vorwÈrts fließenden LÚsung des gegenwÈrtigen GefÝhlsgehaltes kommt. Damit ist in der Tat der entscheidende Punkt getroffen. Es ist der Typus der glÝcklichen, gesunden, kraftvollen Menschen damit gekennzeichnet, die jedem Augenblick des Lebens seine ganze Bedeutung abzugewinnen wissen, und andererseits der Typus der schmerzerfÝllten, sich im Leid verzehrenden und die Tagesansicht nur in der Nachtansicht genießenden Individuen, welche die BÝrde der Vergangenheit und das Dunkel der Zukunft nicht zur FÝlle der unmittelbaren Gegenwart zusammenzuraffen verstehen. Goethe selbst ist nicht mÝde geworden, es immer wieder als eine der wichtigsten Einsichten seiner Lebensweisheit auszusprechen, daß das wahre GlÝck des Lebens nur durch die vollwertige Ausnutzung des Augenblicks erreicht wird. Jener beschriebene Gegensatz ist s o bedeutend, daß er nÚtig macht, ihm noch nÈher auf den Grund zu gehen. Die immanente Bestimmung des Lebens zweckt darauf ab, die Existenz der EinzelpersÚnlichkeit zur TotalitÈt zu erheben. Die Kunst, die Religion, die spekulative Philosophie verfolgt gar kein anderes Ziel, als diese Bestimmung auf die eine oder andere Weise zu offenbaren und fortschreitend zu entwickeln. Es sind aber, wie sich geschichtlich gezeigt hat, zwei ineinandergreifende Momente, durch welche diese Idee konstituiert wird; beide von relativer Bedeutung und nur in ihrer Vereinigung die Unendlichkeit des Lebens verwirklichend: einerseits die unendliche SubstanzialitÈt der Natur und der substanziellen Gemeinschaftsgebilde, andererseits die unendliche SubjektivitÈt, welche als Geist jene SubstanzialitÈt in sich begreift. Als Welt- und Lebensanschauung ist jenes Moment einseitig zum Ausdruck gekommen in der Gestaltung des Pantheismus, dieses aber in dem System der theistischen Religionen. Erst in unserer klassischen Philosophie und Dichtung ist konkret entwickelt worden, daß die ganze Lebenswahrheit weder in dem Pantheismus, noch in dem Theismus allein, sondern vielmehr in der persÚnlichen Vereinigung dieser unendlichen SubstanzialitÈt u n d der unendlichen SubjektivitÈt ergriffen wird. Der erste Mensch, in dem zuerst die Verwirklichung dieses TotalitÈtstypus zutage getreten ist, war Goethe. Unter den großen Menschen vor ihm hat es solche gegeben, die in ihrer endlichen, psychischen IndividualitÈt entweder nur die substanzielle oder nur die subjektive Unendlichkeit erfaßt und lebendig gestaltet haben; mit ihm aber beginnt die Reihe derer, in denen jene beiden Unendlichkeitsmomente in inniger, persÚnlicher Durchdringung zur Verlebendigung gelangen und zwar in der Weise, daß die SubjektivitÈt des Geistes Ýbergreifend die natÝrliche SubstanzialitÈt mit sich zu einer harmonischen Einheit zusammenschließt. Dadurch und nur dadurch sind solche Menschen imstande, jedem Augenblick ihres Lebens in der geschÈftigen Muße sowohl als in der RealitÈt der Arbeit eine unendliche Bedeutung zu geben. Zu diesen glÝcklichen Individuen gehÚrte HÚlderlin nicht. Zwar war auch er von diesem Hauche gÚttlicher Offenbarung machtvoll ergriffen worden, und nicht nur der Zug pantheistischer SubstanzialitÈt, sondern auch derjenige der unendlichen SubjektivitÈt hatte sich ihm verlebendigt, aber sie fielen ihm noch mit einander streitend auseinander, weil in ihm die subjektive Geistigkeit nicht auch jene Ýbergreifende, die natÝrliche Allheit harmonisch mit sich verbindende Macht erlangt hatte. In dieser neu anhebenden Epoche ist es ein charakteristisches Kennzeichen aller weltschmerzlichen, pessimistischen, mit dem Leben nicht zurecht findenden Genies, daß sie zwar auch von jenen beiden Unendlichkeitsmomenten lebendig ergriffen sind, sie aber in ihrer psychischen IndividualitÈt nicht zu vereinigen wissen, sondern das eine einseitig in dem anderen untergehen lassen. Bei solchen GemÝtern wird entweder die pantheistische SubstanzialitÈt einseitig das Uebergewicht behaupten und dann zerfließt die geistige SubjektivitÈt in einem grenzenlosen Strome oder es wird das Umgekehrte der Fall sein, und dann wird alle SubstanzialitÈt von der SubjektivitÈt eines maßlosen Uebermenschentums aufgesogen. So kann HÚlderlin als ReprÈsentant des im GefÝhle der Allheit sich auflÚsenden Ichgeistes gelten, wÈhrend Gestalten wie Schopenhauer, Stirner und Nietzsche im diametralen Gegensatz dazu die physische und soziale SubstanzialitÈt entweder in einem lebenverneinenden oder lebenbejahenden Solipsismus untergehen lassen. Dies wird fÝr HÚlderlin schlagend bezeugt nicht nur durch seinen lyrischen Roman „Hyperion“, sondern eindringlicher noch durch die lyrisch-dramatischen Fragmente des

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„Empedokles“. Denn der SchlÝssel zum VerstÈndnis dieses tieferschÝtternden Werkes ist das tragische Motiv der Flucht vor sich selber, der Flucht vor dem Erwachen des unendlichen Ichgeistes, dem das psychische, in das Naturganze eingebettete Ich rat- und tatlos gegenÝbersteht, zurÝck in den Mutterschoß der all-einen Natur. So sehen wir denn das Leben dieses Dichters von dem tragischen Widerspruch erfÝllt, daß die beiden Momente des unendlichen Pantheismus und des unendlichen Subjektivismus in ihm lebendig sind, sich aber in dem innersten Heiligtume des GemÝtes noch wie feindliche Gewalten bekÈmpfen und in diesem Kampfe das psychische Ich auflÚsen. Das Dichten HÚlderlins ist die Darstellung dieser AuflÚsung. Wir kÚnnen die Abwandlung dieses Grundmotivs fast in allen SchÚpfungen HÚlderlins verfolgen. Ueberall zeigt sich da, bald nur in zarter Andeutung, bald in unheimlicher Helle, wie in einem solchen Erlebnis jene sich entgegensetzenden Gewalten hervortauchen, gegen einander anstÝrmen und nur in dem Opfer des natÝrlichen Ichs ihren Frieden finden. Erst von hier aus glaube ich auch Dilthey recht verstehen zu kÚnnen, wenn er von der Lyrik HÚlderlins sagt: es zeige sich in diesen leise dahinfließenden Rhythmen, „wie ein anfÈnglicher GefÝhlszustand sich in seinen Teilen entfaltet und schließlich in sich zurÝckkehrt, nun aber nicht mehr in seiner ersten Unbestimmtheit, sondern in der Erinnerung des Verlaufs zusammengenommen zu einer Harmonie, in welcher die einzelnen Teile zusammenklingen; wie unser GefÝhl anschwillt und dann in einer Wendung des seelischen Verlaufs langsam sinkt; wie ein Kampf kontrastierender GefÝhle in uns sich lÚst oder wie der hÚchsten Steigerung eines allzu Schmerzlichen die Beruhigung folgt.“ In feiner Weise wird dann darauf hingewiesen, wie der Rhythmus des sich lÚsenden GefÝhlsverlaufs in dem inneren Fluß der Sprache zum Ausdruck kommt. Obwohl in den frÝheren Gedichten noch die gereimte Strophenform zur Anwendung kommt, hindern den Dichter doch die Vers- und Strophenabschnitte nicht, den GefÝhlsprozeß in ununterbrochenem Fluß in dem Ganzen eines Gedichtes auszubreiten. Dann aber findet er im Hexameter und Distichon ein Versmaß, das ihm zuerst die Mittel bietet, sich von der Strophe zu befreien, und in noch hÚherem Grade gewinnt er aus der strophischen Lyrik der Griechen und RÚmer solche Maße, die ihm gestatten, in dem sanften gesetzmÈßigen Spiel der Hebungen und Senkungen den Zusammenhang auszudrÝcken, der alle Teile seiner Gedichte verbindet. „Und auch von da drÈngt es ihn dann dazu fort, in freien Rhythmen ohne jede Strophenabteilung den Vorgang unaufhaltsam ablaufen zu lassen.“ Weiter wird dann gezeigt, wie sich das Musikalische in dieser Lyrik immer stÈrker bemerkbar macht, – das Musikalische in dem Sinne, daß das Spiel der GefÝhlsgewalten auch ohne bestimmte, objektive AnlÈsse hervorklingt und in einer trÈumerischen Stimmung ins Grenzenlose verschwimmt. Ferner, wie der Dichter den Wert der Worte mit der Verwendung der Hebungen und Senkungen in Einklang zu bringen weiß, wie Assonanz und Alliteration, die Form der Frage und des Ausrufs benutzt werden, um in der SphÈre der Sprache das dichterische Erlebnis einer sich in der GefÝhlsstimmung offenbarenden LebenstotalitÈt zu vergegenwÈrtigen, das alles hat Dilthey trefflich herausgehoben. Diese Darlegung kann als ein mustergÝltiger Typus gelten, wie der innere Zusammenhang zwischen dem Erlebnis und der dichterischen Gestaltung beschreibend und vergleichend sichtbar gemacht werden muß, wenn auf Grund der Einsicht in solche dichterischen UrphÈnomene eine philosophische Poetik ermÚglicht werden soll. Damit aber ist der Reichtum dieses Buches nicht im mindesten erschÚpft. Man muß dem Verfasser nun erst in die Erleuchtung der geheimnisvollen Wege dichterischen Schaffens folgen, auf denen er uns mit der urbildlichen Gestaltungsweise Shaksperes und Goethes, Novalis’ und HÚlderlins im einzelnen vertraut macht. Das vorweg zu nehmen, hieße nur, dem Leser den Genuß zu zerstÚren. Wer aber unter dieser kundigen FÝhrung den Spuren des dichterischen Genius nachwandelt, der wird am Schluß dieser Wanderung sehnsuchtsvoll zu dem nachdÈmmernden Lichte des SchÚnheitsgottes emporschauen und die eigene Stimmung wiederklingen hÚren in dem Zauber der unvergleichlichen Verse HÚlderlins:

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Wo bist Du? trunken dÈmmert die Seele mir Von aller Deiner Wonne; denn eben ist’s, Daß ich gelauscht, wie, goldner TÚne Voll, der entzÝckende SonnenjÝngling Sein Abendlied auf himmlischer Leier spielt’; Es tÚnen rings die WÈlder und HÝgel nach, Doch fern ist er zu frommen VÚlkern, Die ihn noch ehren, hinweggegangen. Aus: PJ CXXIII, 2 (1906), S. 201–219.

Harry Maync, Literaturphilologie – Literaturpsychologie – Literaturgeschichte Gerade ein Menschenalter ist es her, daß in der Zeitschrift fÝr VÚlkerpsychologie Diltheys schÚner Aufsatz Ýber Goethe und die dichterische Phantasie erschien. Nicht ohne unmittelbaren Èußeren Anlaß: dieser Aufsatz bedeutete eine nicht negativ kritisierende, sondern positiv berichtigende und tiefer eindringende Stellungnahme zu den lichtvollen, aber auch nicht schattenlosen „Vorlesungen Ýber Goethe“, die eben damals unter großem Beifall Herman Grimm verÚffentlicht hatte. Dilthey erhob hier, ohne Namen zu nennen, Einspruch gegen die zu weit getriebene Modellsucherei der modernen Literaturwissenschaft, die in Gefahr geriet, gar zu elementar alle Dichtung durch die dÝrre Formel von Modell und Abklatsch erklÈren zu wollen. „Die Genesis eines dichterischen Werkes“, fÝhrte Dilthey dem gegenÝber aus, „darf nicht in der Entstehung seiner Charaktere allein gesucht werden; die Wechselwirkung zwischen den Teilinhalten des werdenden Werkes, dem Motiv, den Charakteren und der Fabel muß verfolgt werden“. Wohl waren Grimms Vorlesungen ein großer Wurf, wohl ließ seine welthistorisch weit ausholende Betrachtung in ihrer GroßzÝgigkeit mit einem Schlage alles hinter sich, was bisher von Gelehrten Ýber Goethe geschrieben war, aber im einzelnen mied er doch nicht immer die Klippe, die Entstehung einer Goetheschen SchÚpfung durch Projektion eines erlebten E i n z e l motivs auf die dichterische Psyche fÝr genÝgend beschrieben zu halten. Wie diese Klippe der Literaturforschung, so oft sie sich inzwischen berichtigt und eines besseren belehrt gesehen hat, auch heute noch gefÈhrlich ist, zeigt die im ganzen so wohlgelungene Goethe-Biographie Bielschowskys, die, mehrfach weit Ýber das Ziel hinausschießend, etwa die kÝnstlich konstruierten Formeln Dorothea = Lili und Hermann = Goethe zu beweisen bemÝht ist. Daß die dichterische Phantasie so einfach denn doch nicht arbeite, will Dilthey deutlich machen. Weit tiefer und allgemeiner steht es nach seiner Auffassung um das VerhÈltnis zwischen der angesammelten Lebenserfahrung und der frei schaffenden Phantasie, zwischen der Reproduktion von Gestalten, Situationen und Schicksalen auf der einen und ihrer SchÚpfung auf der anderen Seite. „Die Assoziation“, so legt er dar, „welche gegebene Elemente in einer gegebenen Verbindung zur Vorstellung zurÝckruft, und die Einbildungskraft, welche aus den gegebenen Elementen neue Verbindungen herstellt, scheinen voneinander durch die klarste Grenzlinie getrennt. Indem man die wirkliche Beziehung dieser beiden großen psychischen Tatsachen untersucht, gilt es, die deskriptive Methode ohne jede Einmischung erklÈrender Hypothesen anzuwenden, um den sicheren Zusammenhang des TatsÈchlichen so klar als mÚglich aufzufassen. So allein kann dem Historiker der Poesie Zutrauen entstehen, sich der feineren Einsichten der Psychologie anstatt der grobkÚrnigen Vorstellungen des gemeinen Lebens fÝr seine Auffassung der Literatur zu bedienen. Denn nur durch allgemeine Vorstellungen von psychischen Tatsachen fassen wir jedes individuelle PhÈnomen der Geschichte auf, stellen wir es vor“. Das ist Diltheys Methode, die der Titel seines neuen Sammelbuchs 1 nicht allzu deutlich umschreibt. Und unter diesem Gesichtspunkte stehen die hier vereinigten, nicht zufÈllig und lose neben-

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einander gerÝckten vier Essays Ýber Lessing, Goethe, Novalis und HÚlderlin; sie behandeln einschneidende „Epochen des deutschen Geisteslebens“, und hoffentlich bleibt uns Dilthey das einen Èhnlichen Titel fÝhrende umfassendere historische Werk nicht schuldig, an das er schon viel fruchtbare Arbeit gewandt hat. Wenn er in „Erlebnis und Dichtung“ auf die Interpretation der „Minna von Barnhelm“ eingeht, so beginnt er nicht mit Èußerlichen Belegen, welche ZÝge von Lessing selbst, welche von Ewald v. Kleist und welche von literarischen Vorbildern stammen, sondern er entwickelt ein knappes Gesamtbild der AufklÈrung und ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung, um daraus den Schluß zu ziehen: „Das ist das große Erlebnis, das in der Dichtung der deutschen AufklÈrung seinen Ausdruck findet – den hÚchsten in dem Drama Lessings.“ Oder er sagt im Hinblick auf Schiller: „Was auch dem Dichter aus der Welt der Ideen oder der Geschichte zukommen mag: nur sofern es die eigenen Erlebnisse ihm verstÈndlich macht oder aus diesen ein tieferes VerstÈndnis empfÈngt, dient es ihm, Neues am Leben zu gewahren. Der Idealismus der Freiheit, wie ihn Schiller von Kant aufnahm, klÈrte ihm doch nur das große innere Erlebnis auf, in welchem seine hohe Natur im Konflikt mit der Welt ihrer WÝrde und SouverÈnitÈt gewiß wurde“ (S. 159). So bietet Dilthey der wahren Literaturg e s c h i c h t e , die allzusehr hinter einer untergeordneten bloßen Literaturphilologie hat zurÝckstehen mÝssen, hohe Muster. Nur weil diese geschichtliche Betrachtungsweise bisher nicht genug zu ihrem Rechte gekommen war, konnte z. B. die Dichtung von Novalis noch immer als verschwommen und unanalysierbar hingestellt werden, gerade wie seiner Zeit der zweite Teil des „Faust“. – Und wie der Literaturphilologie, so tritt – und immer in produktiver Kritik – Dilthey, der zÝnftige Philosoph, zugleich auch derjenigen Richtung entgegen, die in der Literaturwissenschaft im Grunde nur eine Unterabteilung der Philosophie sehen will. Weltanschauungsgeschichte, nicht Èsthetische Systematik fÝhrt zur HÚhe; historisch geschulter, psychologisch feinfÝhliger vergleichender Impressionismus, nicht spekulativer Schematismus. Kraft dieses ihm selbst in so hervorragendem Maße eigenen individualistischen Impressionismus, dieser eminent geschichtlichen Auffassung sub specie aeterni, sind Diltheys lÈngst bekannte und anerkannte AufsÈtze heute nicht veraltet und durch die inzwischen so stark angeschwollene gelehrte Literatur Ýberholt. Vierzig Jahre sind der „Lessing“ und der „Novalis“ nun alt, aber sie konnten in allem Wesentlichen getreu wiederabgedruckt werden. Denn das rein Èußerlich Biographische setzt Dilthey zur Hauptsache voraus, um vielmehr eine Biographie der kÝnstlerischen Psyche zu entwickeln, und nicht auf sauber ausgetuschte MiniaturportrÈts geht er aus, sondern darauf, mit seiner sicheren, umfassenden Kenntnis der Weltliteratur und der allgemeinen Geistesgeschichte den historischen Stand der Einzelerscheinung in großen Linien zu bezeichnen. Also großzÝgig wie Herman Grimm arbeitet auch Dilthey, aber zugleich sachlicher, objektiver, straffer, methodischer als jener und nicht so eigenwillig und paradox. Auch im Stil ist Dilthey gediegener und doch Ýberall ein Eigener. Nicht so glÈnzend und geistreich wie Grimm, aber von edler Einfachheit und reiner Menschlichkeit. Dilthey sucht nicht den Schmuck der Rede, und nur um so schÚner hebt sich hie und da ein glÈnzendes Bild, eine scharf geprÈgte Formel heraus. So wenn er von der an Èußeren Begebenheiten armen Haupthandlung der „Minna von Barnhelm“ sagt: „Sie gleicht einem kleinen StÝckchen Gold, das auf das zierlichste verarbeitet ist.“ Und ferner gilt fÝr Dilthey selbst, was er gleichfalls seinem Lessing nachrÝhmt: „Er besaß die Kunst und die Entsagung des Schriftstellers, nur die Momente, die fÝr die BegrÝndung seiner fruchtbaren, weittragenden SÈtze erforderlich waren, zusammenzupacken, alles andere aber unter den Tisch fallen zu lassen.“ Was zunÈchst den „L e s s i n g “ angeht, so darf niemand an den ebenso vorsichtigen wie einsichtigen Auseinandersetzungen Ýber Lessings Spinozismus, Determinismus und VerhÈltnis zur Seelenwanderungslehre vorÝbergehen, die es ablehnen, den Dichter zum systematischen Metaphysiker zu

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W. D i l t h e y, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, HÚlderlin. Leipzig, Teubner 1906 [1905]. VI, 405 S.

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machen, aber – im Gegensatze zu der neuerlichen Wiederholung Schrempfs in seinem wenig bedeutenden Buche „Lessing als Philosoph“ (Stuttgart 1906) – betonen, daß „Lessing nichts weniger als ein Gelegenheitsdenker war“. Der fÝnfte Abschnitt von Diltheys Essay „Die Weltanschauung Lessings“ ersetzt reichlich, was wir z. B. in Euckens wertvollem Buche „Die Lebensanschauungen der großen Denker“ nicht finden. Die große Freiheit und Unbefangenheit in der Auffassung, das Ablehnen aller Schablone und Konstruktion stellen die Lessing-Studien Diltheys entschieden Ýber diejenigen Kuno Fischers. Wie weit Dilthey entfernt ist von tiefsinniger TÝftelei und Haarspalterei, von aller Ýberfeinen Differenzierung psychologischer Probleme, zeigt besonders sein zweiter Essay: „G o e t h e u n d d i e d i c h t e r i s c h e P h a n t a s i e “. „Es ist etwas Einfaches in dem geistigen Leben Goethes Ýberhaupt, man fÝhlt gleich, daß man es hier nicht mit einer komplizierten Natur zu tun hat, eine einmÝtige TÈtigkeit des bildenden VermÚgens ist in seinen Dichtungen wie in seinen wissenschaftlichen Arbeiten wirksam. Und nur so ist die ungeheure Ausbreitung seiner geistigen Operationen menschlich faßbar.“ Diese bedeutende edle SimplizitÈt eignet Dilthey selbst. Kein Ausstreuen alter und selbstgebildeter termini, kein Orakeln Ýber die KÚpfe des profanum volgus hinweg, keine spekulierende Maulwurfsarbeit, sondern das Freilichtschaffen eines hellen, weittragenden, akkomodationsfÈhigen Auges. Selbst Philosophen gleich Schelling und Schopenhauer haben, wie der Philosoph Dilthey sehr richtig zugibt, mit ihrer einseitig philosophischen Interpretation Goethe nur hÚchst unvollkommen begriffen. Mit der Psychologie, die des zÝnftlerischen Systems nicht bedarf und die auch keine noch so methodische ‚exakte Experimentalpsychologie vermitteln kann, gewinnt Dilthey seine hÚchst aufschlußreichen Formulierungen. „Wenn uns heute S h a k e s p e a r e und G o e t h e als die beiden grÚßten KrÈfte der modernen Literatur nebeneinander treten, so kann vielleicht i h r e V e r g l e i c h u n g aus den Gesichtspunkten, die sich uns ergeben haben, ihr VerstÈndnis erleichtern und den Genuß ihrer Werke erhÚhen. Das wÈre das schÚnste Ergebnis dieser Arbeit“ (S. 161). Und meisterhaft wird dies Resultat erzielt, in bisher nie geschehener Weise; Dilthey mißt beide aneinander, ohne die Dinge im geringsten zu pressen und zu arrangieren, und weitere vergleichende Streifblicke auf Dickens, Rousseau, Hegel dienen trefflich, gewisse Unterschiede noch heller ins Licht zu rÝcken. An den „Goethe“ schließt Dilthey, eingangs den lehrreichen Begriff der Generation verwertend, den „N o v a l i s “: „Seine LebensverhÈltnisse sind wie ein Nachklang der Goetheschen, nur in einer einfacheren und stilleren SphÈre wiederkehrend.“ Besondere Beachtung verdient die WÝrdigung der „Fragmente“, nicht „wie bisher geschah, mit verzweifelten AussprÝchen Ýber ihre Paradoxie oder in kahlen AufzÈhlungen“, auch nicht, indem der Verfasser der unbewiesenen Annahme folgt, Novalis habe in ihnen aus Schellings naturphilosophischen Arbeiten geschÚpft, sondern indem er sie als eine Betrachtung der Natur mit dem Auge des Fichteschen Systems darstellt. Und ferner nicht voreingenommen und kritiklos: wohl findet Dilthey in Hardenbergs Gedanken Ýber die Wissenschaften des Geistes hervorragende OriginalitÈt, aber die Hymnen auf die Mathematik lehnt er als mystische Spielereien und als ganz unfruchtbar ab. Mit feinen Worten wird des Dichters VerhÈltnis zum Christentum bestimmt und schließlich der „Ofterdingen“ von innen heraus glÈnzend beleuchtet. Herausgehoben sei hier die prinzipielle Anmerkung bei Betrachtung der AbhÈngigkeit des Novalisschen Romans von seinem Vorbild, den Goetheschen „Lehrjahren“: „Werden wir Ýberhaupt jemals die Mittel finden, die Einwirkung wissenschaftlich darzustellen, welche die Phantasie einer Epoche durch ein Kunstwerk empfÈngt? Die Literaturgeschichte hat bisher dies Problem nicht einmal klar gesehen: seine LÚsung liegt in der Zukunft der Psychologie, welche freilich heute noch weit von der Einsicht in die Gesetze der Phantasie entfernt ist. Wir sehen nur gewissermaßen von außen, historisch, wie gewisse Gestalten und Entwicklungsformen in verschiedenen Modifikationen die Phantasie einer Epoche ganz erfÝllen, wie anderseits eine bestimmte Form, in welcher die Phantasie die GegenstÈnde konzipiert, sich fortpflanzt. Es wÈre schon ein ungemeiner Fortschritt, wenn wenigstens dieser historische

Das Erlebnis und die Dichtung

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Gesichtspunkt ins Auge gefaßt und durchgefÝhrt wÝrde.“ Verschwiegen sei allen VorzÝgen der Diltheyschen AusfÝhrungen gegenÝber aber auch nicht, daß gerade im „Novalis“ durch Benutzung der neueren Literatur das Bild noch getreuer hÈtte geschaffen werden kÚnnen. Wiewohl Heilborn hier sicher zu weit geht, so hat seine geistvolle Novalis-Biographie doch unwiderleglich dargetan, daß des Dichters unsterbliche Geliebte Sophie nicht eine so ideale Lichtgestalt gewesen ist, wie man uns bisher hat glauben machen wollen. Inzwischen sind wir ja auch durch Spenl¹s gelehrte franzÚsische Novalis-Biographie gefÚrdert worden, und in naher Aussicht steht schließlich Minors Novalis-Ausgabe, die an die Stelle der so unzulÈnglichen Heilborns zu treten berufen ist. Wie der „Goethe“ aus dem „Lessing“, so entwickelt sich aus dem „Novalis“ organisch als Krone des Diltheyschen Essaybuches der „H Ú l d e r l i n “, der auch sachlich, durch Verwertung der jÝngsten Literatur, die HÚhe unseres heutigen Wissens von HÚlderlin darstellt. Dieser Aufsatz ist bis auf Einzelheiten ganz neu geschaffen worden. Wie im „Novalis“, so gelangt Dilthey auch im „HÚlderlin“ Ýber des grundgediegenen, aber zu katonisch-unromantisch richtenden Haym AusfÝhrungen nicht unerheblich hinaus und lehnt mit Fug die Betrachtung HÚlderlins als eines „Seitentriebs“ der romantischen Schule ab. Unser Wissen von HÚlderlin ist ja auch sonst in letzter Zeit – trotz den Vorarbeiten von Litzmann, dem Vater und dem Sohne – neu gegrÝndet worden. Es darf besonders in diesem Zusammenhange nicht an der neuen HÚlderlin-Ausgabe des verdienten und geschmackvollen Diederichsschen Verlages vorÝbergegangen werden, deren neues wertvolles Material Dilthey zuletzt noch fÝr seinen Essay heranziehen konnte. Der Hauptherausgeber dieser sehr schÚn ausgestatteten dreibÈndigen Ausgabe 2 ist Wilhelm BÚhm, der sich in seiner Berliner Dissertation („Studien zu HÚlderlins Empedokles“, 1902) durch sorgsame Benutzung des nicht leicht zu sichtenden handschriftlichen Materials ausgewiesen hat. Von BÚhm rÝhrt in der neuen Ausgabe nicht nur Band III: „Dramen und Àbersetzungen“, sondern auch Band I her, den „Hyperion“ enthaltend und dazu eine 80 Seiten umfassende treffliche Auswahl aus HÚlderlins Briefen sowie eine 70 Seiten umfassende Gesamteinleitung, wÈhrend Bd. II mit den Gedichten von Paul Ernst besorgt worden ist. In der Einleitung und in den Briefen steckt das Wichtigste von dem Neugebotenen; vor allem erscheinen hier zum ersten Male HÚlderlins Briefe an Diotima im Zusammenhange seiner Werke; BÚhm besitzt selbst die Abschriften Schlesiers, in denen sie einzig erhalten sind. Ohne diese – wie er selbst sie nennt – „unschÈtzbaren BriefentwÝrfe“ wÈre Diltheys PortrÈtessay lÝckenhaft geblieben; auch fÝr chronologische Bestimmungen bekennt er sich der neuen Ausgabe verpflichtet. Und endlich konnte Dilthey seine Auffassung noch an BÚhms gehaltvoller Einleitung nachprÝfen, die nicht nur in feinsinniger knapper Darstellung das annalistische GerÝst frisch umkleidet, sondern die auf Grund tiefschÝrfender Forschung in bis dahin noch nicht erschlossene UrsprÝnge der HÚlderlinschen Ideenwelt und ihrer Ausstrahlungen hineinleuchtet. Diese Einleitung BÚhms ist eine schÚne Talentprobe: klar, prÈgnant und Ýbersichtlich, nirgends mit gelehrtem Detail beschwert, aber stets aus sorgsamer Eigenforschung erwachsen. Namentlich die philosophischen Grundbedingungen der HÚlderlinschen Dichtungen sind gut entwickelt: Schellings Pantheismus und Hegels •sthetik wird kundig herangezogen und die Linie bis zu Nietzsche verfolgt, dessen AnfÈnge ja unmittelbar an HÚlderlin anknÝpfen; Ýberhaupt zeigt die Art, wie BÚhm die FÈden nach rÝckwÈrts und vorwÈrts verfolgt, den SchÝler Erich Schmidts. Auch Rhythmisches und Sprachliches wird gut gestreift, nur durfte die Bildung „es denkt mir“ fÝr „ich denke“ (S. XLIII) nicht als spezifisch HÚlderlinisch aufgefaßt werden; sie begegnet z. B. recht hÈufig auch bei MÚrike, Hermann Kurz, Conrad Ferdinand Meyer. BÚhm erfreut des weiteren durch selbstÈndig-sicheres Urteil; sehr vernÝnftig be-

2 F r i e d r i c h H Ú l d e r l i n , Gesammelte Werke. Herausg. und eingeleitet von Dr. Wilhelm BÚhm. Mit GravÝre nach einer Radierung von Max Klinger und drei PortrÈts (Jena und Leipzig 1905).

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Textgeschichte und Anmerkungen

merkt er etwa zu HÚlderlins plÚtzlichem Scheiden aus dem Gontardschen Hause: „Ob wirklich ein Skandal durch den oft heftigen Hausherrn das notwendige Ende beschleunigt hat, ist so unwahrscheinlich wie gleichgÝltig“, und nirgends verfÈllt BÚhm dem nur zu hÈufigen obligaten unkritischen Begeisterungstaumel des Editors. BÝndig wird die unreife Philosophie des jungen Dichters festgestellt, und erst durch BÚhm haben wir einen klareren Einblick in den schwierigen „Empedokles“ erhalten und sehen seinen angekÝndigten weiteren Arbeiten Ýber dies Werk mit Erwartung entgegen. Diltheys 110 Seiten umfassender HÚlderlin-Essay konnte die FÈden noch weiter ausspinnen, noch tiefer ins Allgemeine tauchen, und so gibt er uns denn auch auf sorgsam ausgearbeitetem historischen Hintergrunde ein MeisterportrÈt des „Eremiten in Griechenland“. Besser kann man die verschiedenen Etappen in HÚlderlins Seelenleben nicht voneinander abgrenzen und charakterisieren. Auch hier schaut der vergleichende Blick des Historikers in weite RÈume; sowohl Sophokles und Platon wie Schopenhauer und Nietzsche, Richard Wagner und BÚcklin werden aufgeboten. Vor allem aber zeigt Dilthey, wie drei KrÈfte um die Wende des XVIII. und XIX. Jahrh. das deutsche Geistesleben auf das stÈrkste bewegten und bestimmten, drei KrÈfte, die auch in HÚlderlin die schlummernden Keime befruchteten: die Renaissance des griechischen Geistes, die das ganze Seelenleben unserer Nation damals umgestaltende philosophisch-dichterische Bewegung und die von außen eingreifende franzÚsische Revolution. Die Bedeutung Hegels fÝr HÚlderlin wird mit einer bisher nicht gebotenen Vertiefung entwickelt und namentlich ein Zusammenhang zwischen des Philosophen religiÚsen Konzeptionen mit demjenigen Ideenkreise des Dichters aufgezeigt, aus dem der SÝhnetod des Empedokles in seiner kÝhnen Symbolik hervorgegangen ist. Ferner weist Dilthey fein nach, wie unter der Einwirkung des unerbittlichen Fichte dem Dichter die Schillerschen Ideen von der Liebe als Grundlage der Sittlichkeit ins Wanken gerieten, wie ihm schließlich der zunÈchst rein abstrakte Begriff des Schellingschen absoluten Ich zum großen trÚstenden Erlebnis wurde. Aber nicht nur der geistige Gehalt der HÚlderlinschen SchÚpfungen, auch die BlÝte seiner kÝnstlerischen Form findet den feinsten Interpreten in Dilthey, der prachtvolle Worte prÈgt fÝr den in der Dichtung zum Ausdruck kommenden Rhythmus des Lebens. Er erkennt in HÚlderlin ein musikalisches Genie und den VorlÈufer jenes neuen rhythmischen Stils eines Nietzsche, Verlaine, Baudelaire, Swinburne. Gerade in den der lyrischen Poesie geltenden AusfÝhrungen finde ich das Wertvollste des ganzen Buches. Besonders die Darlegungen auf S. 301 f. und S. 380 ff. sind schlechthin grundlegend fÝr die geschichtliche und Èsthetische WÝrdigung lyrischer Gebilde Ýberhaupt. Eigentlich zum ersten Male wird hier Schiller, der noch nie so rein als Lyriker aufgefaßt worden ist, auf die ihm gebÝhrende HÚhe gestellt, und ausgezeichnet wird die Geschichte der deutschen Lyrik mit der Geschichte der deutschen Musik in Parallele gestellt und nachgewiesen, wie die romantische Lyrik sich gleichzeitig mit der Ausbildung der deutschen Instrumentalmusik entwickelt hat. Alles in allem haben wir es so in Diltheys „Erlebnis und Dichtung“ mit einem neuen vorbildlichen Haupt- und Grundbuch fÝr entwicklungsgeschichtliche Arbeit in der Literaturwissenschaft zu tun. Freilich ein Muster, eine Chrie fÝr Seminararbeiten und Dissertationen bildet es nicht; nur eine Èhnliche Begabung darf Dilthey zu folgen unternehmen, aber das kann jeder Einsichtige daraus lernen, daß wir von einer wirklichen Literaturg e s c h i c h t e hÚchsten Ranges, die sich der Literaturphilologie wie der Literaturpsychologie nur als Hilfsmittel bedient, im allgemeinen noch recht weit entfernt sind. Aus: Neue JahrbÝcher fÝr das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur X, hrsg. von J. Ilberg, Leipzig 1907, S. 356–362.

Gang der neueren europÈischen Literatur.

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GANG DER NEUEREN EUROP•ISCHEN LITERATUR. Entstehung und Àberlieferung FÝr die Entstehung der Einleitung in EuD 3 kommt die Spanne zwischen 1907 und 1910, zwischen der zweiten und dritten Auflage in Frage. Dem Inhalt nach ist der Text Èlter, da er sich mit EntwÝrfen zur Phantasiekunst und zu Shakespeare berÝhrt, die AnsÈtze zu derartigen Àberblicken enthalten. Wenn mit dem Datum ohne Jahreszahl auf der vermutlichen Druckvorlage (vgl. unten unter Handschriftenbefund) Juli 1910 gemeint ist, wÈre das ein mÚglicher Zeitpunkt der Manuskriptabgabe oder -annahme. hH: hH: E: D1: E:

Archiv der BBAW zu Berlin, A 59 (60). Archiv der BBAW zu Berlin, C 105 (254). EuD3, S. 1–16. EuD4, S. 1–16. In weiteren unverÈnderten Auflagen bis zur heutigen, EuD16.

Textwiedergabe nach E. Handschriftenbefund Zwei kleine BruchstÝcke zur neueren Literatur finden sich in der Abteilung A des Dilthey-Nachlasses, sind also den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes zugeordnet. Sie liegen zwischen ErgÈnzungen zum Goethe-Aufsatz fÝr EuD3. Das erste ist vielleicht als Fortsetzung des den Band einleitenden Àberblicks gedacht oder auch zur Einordnung des Goethe-Aufsatzes (vgl. dessen fÝr EuD3 umgearbeitete Einleitung) in die europÈische Literaturentwicklung, es steht mit den Hinweisen auf UniversitÈt und Akademie in Berlin aber auch den Studien nahe. Das zweite ist ein noch nicht endgÝltig bearbeiteter Ausschnitt aus Gang der neueren europÈischen Literatur. Da D. eigenhÈndig in ZusÈtzen auf Musik (A 59, 230r und 231r) hinweist, ist sehr wahrscheinlich, daß es vor dem vollstÈndigen Ms. entstanden ist, in dem diese Hinweise stehen, so auch im Erstdruck. Das Ms. im Faszikel C 105, im Umschlag: Gang der neueren Literatur enthÈlt auf Bl. 120r von fremder Hand die Anweisung: In Fahnen abziehen 5 AbzÝge Sonnabend 23. VII. fort. Daraus ist wohl zu schließen, daß es Druckvorlage war, die noch mehrfach vom Erstdruck abweicht. Alle drei StÝcke werden hier wiedergegeben. Auf kleine durch Streichungen und ZusÈtze entstandene Unstimmigkeiten wird nicht, auf unsichere EinfÝgungen oder nicht lesbare Randanmerkungen nur in einzelnen FÈllen hingewiesen. A 59 (60), 223r-224v Ms. im Umschlag: Die neuere europÈische Poesie, Diktat mit wenigen Korrekturen D.s, paginiert Bg 1, bricht unvermittelt ab. Das geistige Leben unseres Volkes schritt jetzt vorwÈrts von Lessing zu Goethe und Schiller. Es kam, wie es Friedrich vorausgesagt hatte; diese letzte unter den europÈischen Litteraturen erhob sich Ýber alles, was seit Calderon dichterisch hervorgebracht worden war. Inmitten der Herrschaft von Wissenschaft und AufklÈrung entwickelte sich eine Dichtung von solcher GrÚsse, wie sie einst auf dem Gipfel des europÈischen Zeitalters der Einbildungskraft Shakespeare, Lope und Cervantes hervorgebracht hatten. Eine neue Stellung des Bewusstseins wurde in der Verbindung von Dichtung, Forschung und Philosophie hervorgebracht. Ein Jahrhundert hindurch sollte dieselbe dann die europÈische Litteratur bestimmen. Die historische Weltanschauung entstand, welche das Unhaltbare in der Richtung der Auf-

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Textgeschichte und Anmerkungen

klÈrung Ýberwand. Auf der Grundlage dieser neuen Weltanschauung bildete sich in unserem Vaterlande ein Zusammenhang der Geisteswissenschaften aus, welcher neben dem der Naturwissenschaften seinen Glanz behauptete. Den BegrÝndern der Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert folgten jetzt gegen Ende des 18ten und am Beginn des 19ten die BegrÝnder der Geisteswissenschaften. Und wie jene ihre positive Arbeit durch das philosophische Bewusstsein ihrer Methoden und leitenden Begriffe verstÈrkt hatten, so war nun auch die Ausbildung der Geisteswissenschaften auf der Grundlage des historischen Denkens von einer philosophischen Bewegung begleitet. Die Personen, welche von der genialen Anschauung der geschichtlichen Welt fortschritten zu einer strengen historischen Wissenschaft, sammelten sich in Berlin. Geschichtschreibung, Philosophie der geschichtlichen Welt, Umformung der Theologie und der Rechtswissenschaft auf historischer Grundlage traten hier nebeneinander hervor. Hier, in dem Mittelpunkt der preussischen Verwaltung konnte das neue historische Denken einen zunehmenden Einfluss auf das praktische Leben gewinnen. Eben aus dem neuen VerstÈndniss der geschichtlichen Welt entsprang denn auch eine verÈnderte Auffassung der Èusseren Organisation von Wissenschaft, Kunst, und Unterricht, und es waren dieselben Personen, welche dem neuen Geiste seine strenge wissenschaftliche Form gaben und die Umgestaltung von Akademie, UniversitÈt und Unterrichtswesen herbeifÝhrten. Die Verbindung der jungen UniversitÈt mit der Akademie und beider mit den grossen wissenschaftlichen Instituten, welche das Fridericianische Zeitalter geschaffen hatte, ermÚglichte die Zusammenfassung aller Anstalten zu einer einheitlichen Organisation: ihre lebendig wirkende Kraft empfing dieselbe aus dem Bewusstsein des grossen Zweckzusammenhangs, welcher alle Anstalten fÝr die geistige Bildung einer Nation verknÝpft. Nun wurde das Ziel der UniversitÈt und der Akademie in modernem Geiste bestimmt. Es war eine der denkwÝrdigsten und erfolgreichsten UmwÈlzungen auf dem Gebiete des geistigen Lebens, die jemals dagewesen sind. Die naturwissenA 59 (60), 229r-232v Diktat mit Streichungen, Korrekturen, schwer- und unlesbaren Stellen; ErgÈnzungen D.s. Das Ms. mit der Bogenpaginierung 2 und 3 fÈngt mitten im Satz an und bricht ebenso ab. sie ist beherrscht von dem Geist, der die politischen Ordnungen durchdringt und in den kirchlichen Idealen sich geltend macht, und selbst in der Opposition gegen diese Ideale bleibt sie eben durch den Gegensatz bedingt. Der menschliche Geist hat sich noch nicht in geschichtlicher und persÚnlicher Selbstbesinnung Ýber seine historische Lage erhoben. Er haftet am Gegebenen, dessen enger Horizont ihn geographisch und geschichtlich einschließt. Die Phantasie schafft typisch und conventionell. Von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zu der des 17. reicht die Epoche der großen Fantasiekunst Europas. Wie in ihr durch das Zusammenwirken der einzelnen KÝnste, die Vertiefung in weltliches Innenleben, die Entdeckung der Bedeutung und des SchÚnheitswerthes von Natur und Leben sich vollzog, ist oft dargestellt worden, nur daß die Stellung der Musik in diesem Vorgang nicht gewÝrdigt ist. In diesem Zusammenhang entstand die Dichtung von Petrarca, Ariosto, Lope, Cervantes, Shakespeare und Corneille, in welcher die souverÈne Fantasie eine eigene Welt aufbaute, nach ihr eigenen Gesetzen, und suchend nach einer neuen Bedeutung des Lebens, die unabhÈngig wÈre von der Tradition, dem Dogma, den Begriffen, deren Herrschaft sie doch noch umgab, und der auch sie selbst sich doch erst theilweise zu entziehen vermochte. Diese Poesie begann nach der ZerstÚrung des theologischen Begriffs-Systems, das Himmel und Erde mit seinem Gespinnst erdichteter Formen und Substanzen umspannte – in dessen Netz auch Dante noch gefangen war, und sie endigte, als von Gallilei und Kepler ab die moderne Naturwissenschaft und Philosophie eine neue Ordnung von Begriffen schuf, die nun von Neuem

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zwischen die dichterische Fantasie und die Wirklichkeit trat, aber mit Begriffen welche diese Wirklichkeit der Phantasie erst erschloß. – So war die Poesie in diesen drei Jahrhunderten noch nicht fest verankert in dem ursÈchlichen Zusammenhang der Wirklichkeit durch die GewÚhnungen wissenschaftlichen Denkens und sie sucht nicht mehr im Himmelreich die Bedeutung des Lebens: der Gegensatz des kirchlichen Ideals und der weltlichen Opposition beherschte nicht mehr die Lebensverfassung: aus den LebensbezÝgen selber, aus der Lebenserfahrung, die in ihnen entsteht, suchte [sie] einen Bedeutungszusammenhang von Leben und Welt aufzubauen, in dem man den Rhythmus und die Melodie des Lebens vernÈhme. In Cervantes und Shakespeare ist dies erreicht. Ein freier Horizont, der durch die Entdeckungen am Himmel und auf der Erde sich in das Unendliche dehnte, umgab die Dichter und verwandelte sich Ýberall in ein , ein Typus unabhÈngiger, von den historischen UmstÈnden nicht mehr gebundener Menschen, machte sich nun seither in Leben und Literatur geltend. Und so wurde eine neue Stellung des Bewußtseins zu dem umgebenden historischen Leben die Grundlage der Dichtung in diesen Jahrhunderten. Das Leben selbst, das von diesem neuen Standpunkt aus gesehen wurde, war in seinem Reichtum und seiner Kraft gewachsen. In den italienischen Republiken ward das zuerst gefÝhlt; aber erst in den großen Monarchien von Spanien, England und Frankreich gelangte diese Fantasie auf ihren HÚhepunkt. Gemeinsam ist ihnen ein die ganze Nation durchdringendes MachtgefÝhl, das alle LebensÈußerungen steigert; in der Hauptstadt bewegt sich um den Monarchen eine glÈnzende aristokratische Gesellschaft; in ihr ist die Kunst, zu leben und sich darzustellen, aufs Èußerste entwickelt, und was fÝr ein Spielraum ist nun in dem ungeheuren Reich des fÝnften Karl und des zweiten Philipp; und dann in der aufstrebenden franzÚsischen Monarchie fÝr die Entfaltung starker PersÚnlichkeiten, freien kraftvollen Lebens, ungestÝmer, starker Handlungen. Das alles wird nun zum Gegenstand der neuen Dichtung, und schon von hier aus drÈngt alles zum Drama, als der herrschenden Form derselben. Aber der Ruck in der Entwicklung der Poesie, der sich vollzog, war dadurch bedingt, wie die Phantasie auf solchen Grundlagen nach neuen Gesetzen der Formen diese Welt gestaltet hat. Sie sucht in Wetteifer mit dem Leben stÈrkste Wirkungen; ErhÚhung der Lebensfreude, Unterhaltung, ErgÚtzung war ihr Ziel, und auch das verstÈrkte die Richtung auf das Theater. Unter der Einwirkung der griechisch-rÚmischen Dichtung bildet sie einen neuen großen Stil. Und dieser Stil ist ins besondre bei den jugendstarken VÚlkern des Nordens, ungebunden vom verstandesmÈßigen wissenschaftlichen Denken, wie er ist, ganz erfÝllt von sinnlicher und bildlicher Kraft; und hieraus entsteht nun der eigentliche Charakter dieser Poesie. Poetisches Sehen ist hier noch untrennbar mit C 105 (254), 120r-159r Das Ms. ist paginiert von 1–22, großenteils diktiert, und zwar drei verschiedenen Schreibern, hauptsÈchlich E. Schramm. Es enthÈlt sowohl Korrekturen und ErgÈnzungen D.s als auch von ihm selber geschriebene kleine Abschnitte. Im ganzen Ms. spiegeln sich die unterschiedlichen Rechtschreibgewohnheiten aller beteiligten Schreiber. Gang der neueren Literatur . Ich mÚchte die geschichtliche Stelle bestimmen, an welcher im Verlauf der europÈischen Poesie die deutschen Dichter, die ich hier behandele, aufgetreten sind. Ich gehe dabei von dem Stufengang aus, der in der Literatur der neueren VÚlker bemerkbar ist. Die dichterische Arbeit jeder Zeit ist von der frÝherer Epochen bedingt; Èltere Vorbilder wirken; das verschiedene Genie der Nationen, die GegensÈtzlichkeit der Richtungen und die Mannigfaltigkeit der Talente machen sich geltend: in einem gewissen Sinne ist in jeder Zeit die ganze FÝlle der Poesie vorhanden: ich verstehe daher unter Stufen der Entwicklung nur VerÈnderungen in der Gesamtrichtung des dichterischen Geistes.

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Textgeschichte und Anmerkungen

Wir finden die Poesie zuerst bestimmt von dem Gemeingeist kleinerer politisch-militÈrischer Gemeinschaften. Sie drÝckte in der Lyrik den Geist dieser Gesellschaft aus. Aus Mythos, Heldenleben und historischer Sage derselben schÚpfte sie die Motive ihrer urwÝchsigen Epik. Und sie verkÚrperte deren Ideale in typischen Handlungen und Charakteren. Die Fantasie war gebunden durch eine seelische Gemeinsamkeit, aus der heraus der einzelne sprach, dachte, handelte und dichtete. Die Kultur nahm zu; zusammengesetztere Staatswesen entstanden; die christlichen Ideen und die antike Bildung wurden unter der Herrschaft der Kirche zusammengenommen: die poetischen Stoffe wanderten von Volk zu Volk, und aus dem Alterthum wirkten dessen Kunstformen herÝber. Der intensiven Ausbildung des christlichen Ideals der Entsagung gegenÝber entwickelte sich das weltliche Leben und machte seine SelbstÈndigkeit geltend. So entstand nun die definitive Zusammenfassung der ganzen bisherigen Entwicklung in der ritterlichen Lyrik und Epik und dem nationalen Epos. In der franzÚsischen ErzÈhlungskunst, dem Parzival Wolframs, dem Nibelungenlied und Dantes gÚttlicher KomÚdie wurde die mittelalterliche Welt sich selber gegenstÈndlich; derselbe allgemeine Geist, der sich in dieser Welt objektivirt hatte, faßte sie nun in der Form der Epik auf. Wie die Phantasie, welche die Stoffe der Epen geschaffen hatte, so war auch die, welche ihnen nun ihre letzte Gestalt gab, gebunden. Sie war von dem Geist beherscht, der die Gesellschaft erfÝllte, die feudalen politischen Ordnungen durchdrang und in den kirchlichen Ordnungen sich Èußerte, und selbst in der Opposition gegen die kirchlichen Ideale blieb sie eben durch diesen Gegensatz bedingt. Der Mensch hat sich noch nicht in persÚnlicher und geschichtlicher Selbstbesinnung Ýber seine historische Lage erhoben. Er haftet am Gegebenen, und dessen geographischer und historischer Horizont schließt ihn ein. Die Phantasie schafft typisch und conventionell. Und ihre gegenstÈndliche Hingabe an die Breite dieses Lebens findet immer noch ihre Form im Epos. Von der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts bis zu der des siebzehnten reicht die Epoche der großen Fantasiekunst. Wie in ihr durch das Zusammenwirken der einzelnen KÝnste die Vertiefung in weltliches Innenleben, die Entdeckung von Bedeutung und SchÚnheit in Natur und Leben sich vollzog, ist oft dargestellt worden; nur daß die Stellung der Musik in diesem Vorgang nicht gewÝrdigt worden ist. In diesem Zusammenhang entstand die Dichtung von Petrarca, Lope, Cervantes und Shakespeare. Sie begann nach der ZerstÚrung des theologischen Systems, das Himmel und Erde mit seinem Gespinst erdichteter Formen und Substanzen umspannt hatte – in dessen Netz auch Dante noch gefangen war, und sie endigte, als von Galilei und Kepler ab die moderne Naturwissenschaft und Philosophie mit ihrer neuen Ordnung von Begriffen zwischen Wirklichkeit und Poesie trat. So suchte sie nicht mehr im Himmelreich die Bedeutung des Lebens, und sie war noch nicht durch die GewÚhnungen des wissenschaftlichen Denkens fest verankert im ursÈchlichen Zusammenhang der Wirklichkeit. Sie suchte aus den LebensbezÝgen selber, aus der Lebenserfahrung, die in ihnen entsteht, einen Bedeutungszusammenhang aufzubauen, in dem man den Rhythmus und die Melodie des Lebens vernÈhme. Das Leben selbst, das von diesem neuen Standpunkt aus gesehen wurde, war in seinem Reichtum und in seiner Kraft gewachsen. In den italienischen Republiken wurde das zuerst gefÝhlt, aber erst in den großen Monarchien von Spanien, England und Frankreich war der freieste Spielraum fÝr die Entfaltung starker PersÚnlichkeiten, kraftvollen Denkens, ungestÝmer und starker Handlungen. Das nationale MachtgefÝhl steigerte alle LebensÈußerungen. In einer glÈnzenden aristokratisch-monarchischen Gesellschaft entwickelte sich die Kunst sich darzustellen, Herrschaft zu gewinnen, individuelles Dasein zu verstehen, und in den HauptstÈdten konzentrierte sich die Kultur, die Arbeit und der Wille zu unendlicher Lebensfreude. So drÈngte das Leben selbst zum Drama. Unter diesen UmstÈnden gestaltete nun die dichterische Fantasie ihre Welt nach einem neuen inneren Gesetz. In der Literatur machte sich ein Typus unabhÈngiger, von den historischen

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UmstÈnden nicht mehr gebundener Menschen geltend. Ein unendlicher Horizont umgab sie. Die Dichter mußten mit einem starken Leben wetteifern, um es durch noch stÈrkere Wirkungen zu Ýberbieten. Und die Renaissance der alten Literatur entwickelte ihre Formensprache. So entstand von Italien aus der neue große Stil, der die FÝlle des Lebens, die Mannigfaltigkeit der Welt und ihre neuverstandene SchÚnheit auszusprechen strebt – in einer Musik der Sprache, die auch auf die Prosa sich erstreckte, in einer selbstÈndigen Stimmung und malerischen Gestaltung der Scenen, die auch Roman und Novelle des Cervantes erfÝllt. In der Composition wird der Kausalzusammenhang der Geschehnisse, das feste RÝckgrat der spÈteren Dichtung verunklÈrt zu Gunsten der hÚheren Gesetze, die aus der Freiheit der Phantasie stammen. Der Mensch erhÈlt eine neue Stellung. Indem seine Beziehung zu einer festen transzendenten Ordnung und dem metaphysischen Reich der Ýbersinnlichen Substanzen zurÝcktritt und die zum complizierten Zusammenhang der Natur und der Gesellschaft sich noch spÈrlich entwickelt, erhÈlt das Individuum so ein directes VerhÈltnis zur gÚttlichen Kraft. Aus ihrer schaffenden Tiefe scheinen die persÚnlichen Energien unmittelbar hervorzutreten, und uneingeschrÈnkt von den bindenden VerhÈltnissen des Daseins durchlaufen sie ihren Weg, quer durch das Leben, nach dem Gesetz ihres Wesens. Alles Licht fÈllt auf die Lebenswerte ihrer Personen, den Sinn des StÝckes Welt, das sie umfaßt, es erleuchtet diese Lebenswerte durch Verwandtschaft und Contrast und den sinnvollen Lebensbezug, unter dem die Handlung erfaßt wird durch Parallel-Aktionen. Aus dem Gegensatz, der die Gesellschaft dieser Zeit in eine aristokratische und eine niedere theilt, erhebt sich in Drama und Roman die Nebeneinanderordnung einer Welt vornehmer Daseinsfreude und LebensstÈrke und einer unteren, massiven, die nur durch den Humor dichterisch gestaltet werden kann. Und aus den Tiefen des Lebens ragen in diese Welt Schatten der Abgeschiedenen, Magie und Zauber, Elfen und Spuk. Wo eine Existenz ist, fÝhlt das Zeitalter eine seelische Kraft in ihr. Und aus dem Zusammenhang der Dinge erklingt eine unsichtbare Harmonie und umgiebt alles. Der bunte Wechsel der Szenen und der Stimmungen wird von dieser romantischen Phantasie zu einer musikalischen Einheit von ganz neuer Art zusammengenommen. Zeit und Raum selbst, dieses starke GerÝst der Wirklichkeit, werden nach den Bedeutungsbeziehungen des Lebens behandelt. So wird in dieser Epoche die Lyrik zum Ausdruck weltlicher Innerlichkeit, das Epos wird zum romantischen Spiel, Roman und Novelle werden durch Cervantes den Gesetzen der neuen Form unterworfen: zum Mittelpunkt der Dichtung aber muß das Drama werden. Alle Mittel fÝr seine hÚchste Entwicklung sind nun da. Das hauptstÈdtische Theater, die unabhÈngigen Menschen, die großen Aktionen, vor allem aber ein Dringen in die Tiefen, in denen Charakter, Schuld und Schicksal verwoben sind: aus diesen stammt die Concentration und Vereinfachung der Geschehnisse im Drama. Der HÚhepunkt des neuen Drama ist das englische Theater von Marlowe und Shakespeare. Die Jugendkraft der nordischen VÚlker gab ihrer Phantasie die hÚchste StÈrke. Die Sprache war noch erfÝllt von sinnlicher und bildlicher Kraft; Sehen war noch mit dem Denken untrennbar verbunden. Die Prosa selbst drÝckte die Gedanken noch in Bildern aus, nicht absichtlich, sondern unwillkÝrlich. Stil und Ideen eines induktiven Philosophen wie Bacon sind von der Macht der Einbildungskraft getragen. Die medicinischen und philosophischen Auseinandersetzungen des Paracelsus lÚsen alles Sein auf in Kraft, fÝhlen Seele in jedem Ding, reden die Sprache der Sinne, und sind darin jedem heutigen Gedicht Ýberlegen. In Luthers Jugendschriften ist ein ZustandsgefÝhl, eine Energie der Einbildungskraft bis zur Hallucination, eine Gewalt des Ausdrucks bis zur BrutalitÈt, mit der verglichen die ganze religiÚse Poesie von Klopstock bis heute kraftlos erscheint. Und selbst den astronomischen Problemen nÈhert sich Keplers Jugendwerk durch Phantasievorstellungen. Auf solchem Boden erwÈchst die Phantasiekunst Shakespeares. Das ganze Universum erscheint hier lebendig Geheimnis voll erfÝllt von gÚttlichen oder dÈmo-

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Textgeschichte und Anmerkungen

nischen KrÈften. Ein geistiges Element schwebt wie ein feiner Nebel um alle GegenstÈnde und zeigt sie in einem eigenen Licht. Die Elfen, die im Mondlicht spielen, die mÈchtigen Schatten, die aus einer unsichtbaren Welt, angezogen von Mord und Blut, in die sichtbare hineintreten, sind dem Dichter Manifestationen der unsichtbaren Kraft. Die neueren VÚlker traten nun in das Stadium der Wissenschaft. Von den ersten Dezennien des 17. Jahrhunderts ab vollzog sich diese VerÈnderung; Shakespeare und Galilei sind in dem selben Jahr 1564 geboren, und Calderon und Deskartes sind Zeitgenossen. Die wissenschaftliche Erkenntnis hatte zuerst bei den Ústlichen VÚlkern angesetzt, dann in der Kulturwelt des Mittelmeers – jetzt endlich erreichte sie im Verlauf des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang von Bacon, Galilei, Kepler und Deskartes ihr Ziel: die Entdeckung der Ordnung der Natur nach Gesetzen. Die wissenschaftliche Einbildungskraft wurde durch die methodische Verbindung des mathematischen Denkens mit Beobachtung, Induktion und Experiment geregelt. Das physische Universum wurde durch die Beziehung der Bewegungsgesetze auf die wahre Struktur des Sonnensystems als ein mechanischer Zusammenhang erkannt, und diese ErklÈrungsweise wurde auf Licht und Schall, Blutumlauf und Sinnesempfindungen angewandt. Die Erkenntnis des ursÈchlichen Zusammenhangs der Natur ermÚglichte die zunehmende Herrschaft Ýber sie. Zur selben Zeit nahm die Wissenschaft auch von dem Gebiet der geistigen Welt Besitz. Das konstruktive Verfahren der mathematischen Naturwissenschaft wurde auf Recht und Staat Ýbertragen. In der SelbstÈndigkeit der Individuen, in ihrem Recht auf persÚnliches Wohl, Entwicklung ihrer KrÈfte, Freiheit des Gewissens und der Gedanken war das Prinzip einer unendlichen Entwicklung der Gesellschaft gegeben. Die Autonomie der Vernunft erfÝllte die Forscher und wurde von den Philosophen zum Prinzip erhoben. Eine neue Kraft trat nun in die Geschichte der Dichtung. Sie wirkte von da ab stÈtig, ohne Stillstand, unaufhaltsam, denn die vollstÈndige und adÈquate Àbertragung der Wahrheiten von einer Person, einer Generation zur anderen erwirkte eine bestÈndige Zunahme derselben. Irgendwo in diesem Reich wird zu jeder Zeit ein wichtiger Fortschritt vollzogen. Und wie die Erkenntnis der Wirklichkeit eine neue Grundlage und einen verÈnderten Maßstab fÝr den religiÚsen Glauben, die Metaphysik und die Dichtung schuf, vollzogen sich von jetzt ab entscheidende VerÈnderungen in dieser hÚchsten Region des Geistes. Indem die Vernunft die christliche Theologie sich zu unterwerfen strebt, trifft sie hier, wie in allen Weltreligionen auch einen unfaßbaren, verwunderlichen, dem Verstand paradoxen Kern, der aus dem gewaltsamen Verkehr mit dem Unsichtbaren stammt, sie wird ihn nur zerstÚren kÚnnen und so wird die ReligiositÈt nach freieren Formen suchen mÝssen. Die AnsprÝche der Metaphysik auf AllgemeingÝltigkeit werden vor dem strengen Maßstab des Wissens nicht standhalten. Und auch die poetische Phantasie wird lange Zeit unter die Herrschaft des Denkens geraten, sie wird oft in der Wissenschaft ihren Feind sehen, und erst wenn das Wissen an Leben und Geschichte heranrÝckt und die Dichtung an das Erfassen der ganzen Wirklichkeit, werden die Lebenserfahrungen des Dichters und das begriffliche Denken sich einander nÈhern. Von der Wissenschaft aus bildete sich die neue Prosa, das FranzÚsisch des Descartes, das Englisch Lockes, das Deutsch Christian Wolfs und seiner Schule. In ihr herrschten Begriff, Zergliederung, Schlußverfahren. Aber schon in den KÈmpfen des 17. Jahrhunderts zwischen Wissenschaft, Orthodoxie und religiÚser Erfahrung ging die Darstellung Ýber in die Debatte, und in dem Ringen dieser GegensÈtze hat sich damals schon einer der grÚßten Schriftsteller Frankreichs gebildet – Pascal. Hier machte sich aber bereits ein anderes mÈchtiges Element geltend, die Gesellschaft, wie sie auf der HÚhe der Selbstherrschaft sich formierte. Sie war das Publikum der Schriftsteller und Dichter. Aus ihr ging die Umformung der Sprache hervor, wie sie zuerst in Frankreich sich vollzog. Diese hÚfische Gesellschaft fand in der Konversation den sublimsten und gefahrlosesten ihrer GenÝsse, und sie sonderte sich von dem unterthÈnigen Volk und seiner

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Sprache durch ihre Delikatesse, ihren Geschmack und den Geist der Konversation, die Auswahl der Worte und die feinsten Unterscheidungen des Ausdrucks. Und nun unternahm die Akademie, die Richelieu im Sinn dieser herrschenden Gesellschaft 1635 grÝndete, die Regulierung der Sprache und der Literatur. UnbekÝmmert um das geschichtliche Leben der Sprache, Ýbte sie im Namen der Vernunft ihr oberstes richterliches Amt. Der Wortschatz wird vereinfacht. Die gelehrten Worte, die FachausdrÝcke, die konkreten Namen fÝr die Mannigfaltigkeit der Dinge machen den allgemeineren Bezeichnungen Platz. In den SÈtzen wird jeder Redeteil an seinem Platz festgelegt. Und der Stil des Ganzen wird derselben Ýbersichtlichen Ordnung und Symmetrie unterworfen, die in den franzÚsischen SchlÚssern und GÈrten jener Tage herrschte. Die Sprache wird so zum Werkzeug der Vernunft. Die Akademie, die antike Tradition und der philosophische Geist vereinigten sich nun, die Gattungen in Poesie und Prosa abzugrenzen und in jeder Dichtungsart der Phantasie in Regeln ihre Bahn vorzuzeichnen – vor allem dem Drama, dessen tiefsinnige in der Zeit der Fantasiekunst geschaffenen Gesetze von diesen raisonnierenden KÚpfen nicht mehr verstanden werden konnten. Und diese Normierung von Sprache und Literatur verbreitete sich von Frankreich Ýber die andern Kulturnationen. Was in der Philosophie die Methode war, wurde in der Literatur der Geschmack und seine Regel. Er stand im innigsten Zusammenhang mit den Lebensformen der Gesellschaft, und in der Einheit dieser literarischen GegenstÈnde mit der ganzen Civilisation des Jahrhunderts lag ihre Macht und ihre dauernde Bedeutung. Die neue Form der Sprache und Literatur wurde nun im achtzehnten Jahrhundert zum Werkzeug einer mÈchtigen Bewegung, welche der Gesellschaft neue Inhalte, Werte und Ziele gab. Diese Bewegung war getragen von dem Bewußtsein der stetig fortschreitenden Erkenntnis der Wirklichkeit. In dieser Erkenntniß waren die Kulturnationen zu einer Einheit verbunden, die in der gemeinsamen Vernunft des menschlichen Geschlechtes ihren Rechtsgrund suchen mußte. Autonomie der Vernunft, SolidaritÈt der Gesellschaft, ihr Fortschritt dem Weltbesten entgegen durch die Herrschaft Ýber die Natur, durch die Regelung von Staat und Recht und durch die Àberwindung jedes kirchlichen oder politischen Widerstandes – das sind die leitenden Ideen dieses Zeitalters der AufklÈrung. Der Forscher wandelt sich in den Schriftsteller, jener war in der dÝnnen Schicht der Wissenschaft mit den anderen Gliedern der Aristokratie des Wissens zu gemeinsamer Arbeit verbunden: dieser will auf die Gesellschaft wirken. Die Bewegung begann in England mit der Revolution von 1688, und ihre grÚßten Schriftsteller waren dort Shaftesbury und Addison. In England nahmen dann Voltaire und Montesquieu die Fortschritte des Staatslebens, der Philosophie und Literatur in sich auf und wurden durch die siegreiche Klarheit und Àberredungskraft ihrer Prosa die leitenden Schriftsteller Europas. Und Lessing, der große KÚnig und Kant, die wirksamsten Schriftsteller unserer deutschen AufklÈrung bildeten sich unter ihrem Einfluß. Die meisten unter den FÝhrern der Úffentlichen Meinung waren zugleich Forscher, Schriftsteller und Dichter. Und auch ihr Publikum war verÈndert wie ihre Ideen. Es war der neue Stand der Gebildeten, und in ihnen nahm die bÝrgerliche Klasse ihren Platz ein. So zeigt nun die Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts eine neue Struktur: Gesellschaft, Sprache und die dichterischen Gesetze des klassischen Geistes hatten im siebzehnten die TragÚdie von Corneille und Racine geschaffen. Corneille war noch ganz bestimmt von dem heroischen Ideal; Racine vertiefte bereits die TragÚdie des Corneille durch die Verfeinerung der GefÝhle in der hÚfischen Gesellschaft und das Erlebnis der religiÚsen Bewegung von Port-royal, die von der hierarchischen Tradition zurÝckging auf das religiÚse Erlebnis, und so schuf er das Seelendrama, das mit jedem Fortschritt in der kommenden dramatischen Literatur in Zusammenhang steht: aber der neue Typus der Dichtung vollendete sich doch erst im achtzehnten Jahrhundert. Der wissenschaftliche Geist drang von der dÝnnen obersten Schicht der Forscher hindurch in die Gesellschaft. Die Vernunft regulierte herrisch das ganze Seelenleben, sie unter-

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Textgeschichte und Anmerkungen

warf sich die Leidenschaft und die Fantasie und erÚffnete den Kampf gegen die religiÚse Tradition, die Selbstherrschaft und die Vorrechte der herrschenden Klassen. Diese Bewegung ergriff auch, die Poesie. Der von innen durch das moralische GefÝhl bestimmte Mensch wurde ihr Ideal. In der Seelenverfassung der Dichter regierte der Glaube an die teleologische Ordnung der Welt und die Aufgabe, seine hÚhere Anlage durch die Vervollkommnung seines Wesens zu verwirklichen. Ein neuer Grundzug von der hÚchsten Bedeutung trat damit in der Entwicklung der Poesie hervor. Neben den GefÝhlen und Leidenschaften, die aus den persÚnlichen Schicksalen der Menschen hervorgehen, machen sich jederzeit die universalen Stimmungen geltend, die aus dem VerhÈltnis des Menschen zum Leben und zur Welt stammen. Sie wurden jetzt vom philosophischen Geist des Jahrhunderts in die Helle des Bewußtseins erhoben, und die Herrschaft der Ideen gab ihnen eine außerordentliche Macht. Die alte Gattung des Lehrgedichts erhielt so eine neue Bedeutung und einen weiten Umfang in der ganzen europÈischen Literatur. Die Ideen von d e r besten Welt, der teleologischen Ordnung und SchÚnheit der Natur, der moralischen Anlage des Menschen, seinem einfachen GlÝck in einem natÝrlichen Leben waren der Gegenstand der Lehrgedichte von Pope und Haller, sie bildeten den Hintergrund der Naturbetrachtung von Thomson und Kleist. Der Widerspruch gegen sie rief die Lehrdichtung von Voltaire hervor, und sie durchdrangen die ganze Lyrik der Zeit. Aus ihnen empfingen die Stimmungen Haydns Nahrung, in dessen SchÚpfung und Jahreszeiten nun diese Seelenverfassung ihren letzten und unvergÈnglichen Ausdruck fand. Aus der ZurÝckverlegung dieser Ideale in einen ertrÈumten Naturzustand entstand der Charakter der idyllischen Dichtung des Jahrhunderts und aus dem GefÝhl ihres Gegensatzes gegen die bestehende Gesellschaft seine Satire: so erklÈrt sich, daß diese beiden Stimmungen die ganze lehrhafte Dichtung durchdringen. Derselbe Geist der AufklÈrung Èndert nun die Stellung und den Charakter der erzÈhlenden und dramatischen Dichtung. Das Auge der Poeten ist eingestellt auf eine Auffassung des Lebens, die durch die wissenschaftliche Schule hindurchgegangen ist. Sein Werk baut sich auf von dem festen Zusammenhang der ursÈchlichen Beziehungen aus. Es empfÈngt seine Glaubhaftigkeit nicht in erster Linie aus der inneren Einheit und Macht einer zweiten Welt in der Phantasie, sondern aus der Àbereinstimmung mit dem Zusammenhang der Dinge in Raum, Zeit und KausalitÈt. Die KrÈfte, die in jene zweite Welt der Phantasie aus der HÚhe und der Tiefe wirkten, sind verschwunden. Das Leben, mit dem sie die Natur erfÝllte, ist nun ein sentimentaler, unwirklicher Zusatz zu der vernÝnftigen Naturauffassung geworden, der kÝnstlich in bildlichen AusdrÝcken oder mit Hilfe der Mythologie hergestellt wird. Alles Licht konzentriert sich auf den Menschen. Die Zergliederung der menschlichen Welt war das HauptgeschÈft der neuen Philosophie und die Idee der menschlichen Vollkommenheit das Ziel der Moral. Und in der Gesellschaft selber erhielt die aufgeklÈrte ReligiositÈt noch die starken, aufrechten, in sich zusammengenommenen Charaktere, die eigenrichtig bis zu derber OriginalitÈt in den Romanen der EnglÈnder und den Dramen Lessings uns entgegentreten. Der Wirklichkeitssinn der AufklÈrung fÝhrt die Dichter immer mehr zu einer vollen ganzen Darstellung dieser Menschenwelt. Aber darin liegt nun der Grundzug, in dem ihr realistisches Verfahren Ýber jede Dichtung der frÝheren VÚlker hinausschreitet und die ganze nachfolgende Dichtung vorbereitet – ein Zug, der dieser Menschendarstellung einen idealen Hintergrund gab – , daß die bunte Mannigfaltigkeit der Menschenwelt, an der die Fantasiekunst sich ergÚtzt hatte, jetzt in ihrem Zusammenhang mit der gemeinsamen menschlichen Natur und ihrem Ideal der HumanitÈt gesehen wurde. Diese VerÈnderungen im Erlebnis der Dichter gaben den Werken der AufklÈrungszeit eine neue Struktur. Der Dichter geht von der Wirklichkeit, wie sie in der einseitigen Stellung des Denkens sich darstellt, zu ihrer poetischen Auffassung, und er stellt sein Werk in den Dienst der vom Denken bestimmten Ideale. Und wie nun diese Ideale sich dem kriegerischen und kirchli-

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chen Geist der Selbstherrschaft entgegensetzen, Èndert sich das bisherige VerhÈltnis des Dichters zu den GegenstÈnden und Gattungen der Poesie. Das heroische Epos trat zurÝck, und auch die Henriade Voltaire’s wirkte nur durch die Ideen des nationalen Staates und der religiÚsen Freiheit. Und wie hÈtte nun nicht auch die heroische TragÚdie von dieser VerÈnderung des Geistes getroffen werden sollen! Die Doktrin der Zeit erkannte noch in der TragÚdie die hÚchste Form der Dichtung; auch enthielt die Gesellschaft der AufklÈrung tragische Momente genug in dem Konflikt der herrschenden Klasse und des BÝrgertums, des hierarchischen Zwanges und der Gewissensfreiheit, des Despotismus und der politischen Rechte; die neue Form, welche die TragÚdie in Frankreich erhalten hatte, besaß hÚchst wirksame Mittel der Wirkung in der KontinuitÈt und Einheit der Handlung, in deren Dienst die Einheit von Zeit und Ort und die Gliederung in große Scenen standen, wie der Aufsatz Ýber Lessing zeigen wird. Aber die politische Welt war unpoetisch geworden, die Armeen dieser Zeit waren Maschinen, die von einer unsichtbaren Hand geleitet wurden, die Èußere Politik ging von den Kabinetten aus, die Verwaltung war das Geheimnis des Beamtentums, und die Dichter waren in ihrem Haß gegen die Kabinetskriege innerlichst den blutigen MachtkÈmpfen entfremdet. Der Widerspruch des Geistes der AufklÈrung und der heroischen TragÚdie scheint mir noch tiefer zu greifen. Diese Zeit ist erfÝllt von dem siegreichen GefÝhl des Fortschreitens in der persÚnlichen Entwicklung und der Vervollkommnung des Menschen; wo sie zu einem eigenen tragischen Zug sich erhebt, sind ihre Helden die Opfer der Politik und des religiÚsen Fanatismus, sie handeln aus einer moralischen Kraft, nicht aus einer fortreißenden Leidenschaft. Und so rufen der einst so viel bewunderte Cato von Addison, die RÚmertragÚdien Voltaire’s, ja selbst Lessings Emilia nur eine kÝhle Bewunderung hervor. Hier vernimmt man nicht die tiefen Laute, die aus dem Erlebnis der Tragik des Lebens selber stammen. Der Zusammenhang des Handelns, Leidens und Sterbens mit den letzten GrÝnden unseres Daseins wird nirgends sichtbar. Die eigenste SchÚpfung dieser Zeit war die neue Struktur des bÝrgerlichen Schauspiels. Es beruhte auf dem Erlebniß. Seine Motive lagen in den Problemen der Zeit. Aus den GegensÈtzen der bestehenden Gesellschaft erwuchs seine Handlung. So geht eine direkte Linie von ihm zum modernen Theater. Auch ihm mangelt freilich das VerhÈltnis der Konflikte der Zeit zu der zeitlosen Tragik des Menschendaseins. Alle KrÈfte, die der Dichtung der AufklÈrung zur VerfÝgung standen, kamen in ihren Lustspielen zur Geltung: die hÚchste Entwicklung des geselligen Daseins an den HÚfen, die Èußerste Verfeinerung des Geistes, die SubtilitÈt der GefÝhle, die Lust an der Konversation, die Neigung zur Intrigue, ein souverÈner Verstand in der Verwickelung und LÚsung der Handlung, vor allem aber das freudige GefÝhl des Lebens. In immer neuen Verbindungen manifestierten sich hier diese KrÈfte der AufklÈrung von Voltaire bis Marivaux, der Minna Lessings, dem Barbier von Sevilla und der Hochzeit des Figaro von Beaumarchais, diesen vollkommensten SchÚpfungen einer Gesellschaft, welche das zweideutige Leben in Heiterkeit sehen und genießen wollte. Aber die ernste Tiefe der AufklÈrung wie ihre Lebensfreudigkeit wirken zusammen im Roman, der nun das Erbe des Epos antrat und auch das Drama in seinem Einfluß ÝberflÝgelte kraft seines VermÚgens, eine allseitige und objektive Darstellung des Lebens zu geben. Cervantes und Rabelais wurden von keinem Roman dieser Zeit erreicht; aber alle Elemente zu einer neuen Struktur dieser Dichtungsart, welche Ýber beide hinausgehen sollte, bildeten sich. Die BegrÝndung des Romans auf die Sitten der Zeit, die Gliederung der Handlung nach den GegensÈtzen der Gesellschaft, die Spannung, welche die WechselfÈlle dieses Kampfes hervorrufen, die Tiefe der Psychologie, die Entdeckung einer Entwicklungsgeschichte im Lebensverlauf des Helden und die realistische aus Ernst und Humor gemischte Darstellung. Was hier an verschiedene Dichter verteilt war, nahm dann der Roman von Goethe, Balzac und Dickens zusammen. Auf dem Hintergrund dieser allgemeinen Literatur der neueren VÚlker mÚgen nun die folgenden Bilder aus der Geschichte unserer deutschen Dichtung hervortreten.

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Textgeschichte und Anmerkungen

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING. Anmerkungen Diltheys 0 Der Aufsatz Ýber Lessing erschien 1867 im zweiten und dritten Heft des neunzehnten Bandes der preußischen JahrbÝcher. Damals lagen von eindringenden Untersuchungen die Biographie von Danzel und Guhrauer1 und C. Heblers Lessing-Studien2 vor. An die letzteren knÝpfte mein Aufsatz an. Es war mein erster Versuch, in die Entwickelungsgeschichte einer bedeutenden PersÚnlichkeit einzudringen. Heute, da diese Arbeit nach mehr als vier Dezennien wieder erscheint, begegnet sie einer ganz verÈnderten Lage der Lessingforschung. Sollte ich dem Wunsche nach einem Abdruck genugtun, so konnte ich das VerhÈltnis des Aufsatzes zu jener frÝheren Lage nicht verwischen wollen. Es war nicht daran zu denken, die Untersuchungen sachlicher und chronologischer Art, durch welche er damals in den Gang der Lessingforschung eingegriffen hat, zu ersetzen durch solche, wie sie etwa heute angestellt werden kÚnnten. Ich hÈtte dann einen neuen Aufsatz schreiben mÝssen. Und ich brauchte das auch nicht. Denn die Fragen, die ich damals behandelte, sind auch heute noch fÝr Lessings VerstÈndnis die wichtigsten. An meinen Resultaten habe ich auch heute nichts zu Èndern; nur habe ich an dem einen und anderen Punkte jetzt einen vorsichtigeren Ausdruck gewÈhlt. Andere kleine Verbesserungen betreffen nur die Form des Aufsatzes. Um die Aufgabe, wie ich sie mir damals stellte, vollstÈndiger zu lÚsen und den Aufsatz dem Zusammenhang des Ganzen anzupassen, habe ich in der ersten Auflage zwei ausfÝhrliche ZusÈtze eingefÝgt. Das VerhÈltnis Lessings zu den ihm voraufgehenden und den gleichzeitigen Èsthetischen Arbeiten wird ausfÝhrlicher behandelt, und ein Kapitel Ýber seine Dichtungen, insbesondere Ýber Minna von Barnhelm und Emilia Galotti ist zugefÝgt worden. Einige kleinere ZusÈtze, die Lessing in umfassenden historischen ZusammenhÈngen zeigen, werden im folgenden ebenfalls angegeben werden. In der zweiten Ausgabe ist außer zwei kÝrzeren ZusÈtzen eine ausfÝhrliche Analyse des Nathan hinzugekommen. Und so mag neben dem farbenreichen GemÈlde, das Erich Schmidt in seiner ausgezeichneten Lessingbiographie uns geschenkt hat,3 diese Zeichnung eine bescheidene Stelle behaupten. Die allgemeineren Beziehungen, in welchen Lessing zum deutschen Geistesleben steht, werde ich an anderer Stelle behandeln, und dort werden auch einige Punkte von mehr systematischer Art wie die geistvolle Hypothese Spitzers Ýber das VerhÈltnis Giordano Brunos zu Lessing4 sowie die historischen ZusammenhÈnge der Seelenwanderungslehre Lessings besprochen werden.

Die Anmerkungen D.s zum Aufsatz Ýber Lessing unterscheiden sich fÝr die drei Auflagen von EuD lediglich in den Hinweisen auf ErgÈnzungen. 1 Vgl. die Titel unter AbkÝrzungen und Siglen. 2 C. Hebler, Lessing-Studien, Bern 1862. 3 E. Schmid, Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften I, Berlin 1884. II, Berlin 1892. Zweite verÈnderte Auflage, 2 Bde, Berlin 1899. Dritte durchgesehene Auflage, 2 Bde, Berlin 1909. 4 Von der Hypothese H. Spitzers konnte D. durch E. Schmidt, Lessing II (1892), S. 670 (ohne Nachweis) wissen, oder er kannte sie aus O. Nieten, Lessings religionsphilosophische Ansichten bis zum Jahre 1770 in ihrem historischen Zusammenhang und in ihren historischen Beziehungen, Diss. Bonn, Duisburg 1896, S. 33-36. Nietens Quelle ist E. Schmidt. Schließlich weist Spitzer selbst in der Besprechung der Diss. Nietens auf seine und Schmidts Beobachtung hin. Deutsche Litteraturzeitung XIX (1898), Sp. 1711f.

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Meine Darstellung der S e e l e n w a n d e r u n g s l e h r e gab damals K o n s t a n t i n R Ú ß l e r Anlaß, im Septemberheft des zwanzigsten Bandes der preußischen JahrbÝcher eine von der meinigen abweichende Auffassung geltend zu machen,5 und auch von anderer Seite wurde versucht, die WidersprÝche aufzuklÈren, welche in Lessings •ußerungen zu liegen scheinen. Zwei Hypothesen Lessings liegen vor. Jede von ihnen soll gewisse Schwierigkeiten auflÚsen, die Lessing bei der Bildung seiner Weltanschauung aufstießen. Die eine Gruppe dieser Schwierigkeiten scheint eine Wiederkehr des Menschen auf dieser Erde zu fordern. Soll die Vollkommenheit Gottes mit der Notwendigkeit der menschlichen Handlungen vereinigt werden, so muß diejenige Seele, die auf einer niederen Stufe der religiÚs-moralischen Entwickelung zurÝckgeblieben ist, an den spÈteren Stufen dieser Entwickelung teilnehmen kÚnnen. Diesen Forderungen genÝgt die Wiederkehr der Seele auf unserer Erde und in dem weiteren Ablauf unserer menschlichen Geschichte. Exoterisch ausgedrÝckt: soll die Offenbarung eine Erziehung des ganzen Menschengeschlechts sein, so fordert Gottes Gerechtigkeit, daß auch alle Mitglieder unseres Geschlechts, die auf einer frÝheren Stufe der Entwickelung zurÝckblieben, an dem Segen der spÈteren Stufen einen Anteil haben. „Das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit nÈher bringt, wird nur durch kleinere schnellere RÈder in Bewegung gesetzt, deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert.“6 Neben dieser Lehre von der Wiederkehr auf die Erde steht nun aber bei Lessing die Lehre von der Wiederkehr unter Bedingungen, die einen von unserem jetzigen KÚrper verschiedenen voraussetzen, wie sie im Aufsatz „Àber die fÝnf Sinne“7 enthalten ist. Und da nun Lessing dabei eine entsprechende Fortbildung des KÚrpers auf dieser Erde selbst unmÚglich angenommen haben kann: so bezieht sich diese Theorie auf die Wanderungen der Seele durch verschiedene WeltkÚrper hindurch. Lessing hat diese beiden Theorien zu verschiedenen Zeiten aufgestellt. ZunÈchst wissen wir nun gar nichts darÝber, ob er beide zugleich festgehalten und an eine Verbindung unter ihnen gedacht hat. Hielt er sich an die zweite Hypothese und nahm eine Wanderung der Seele durch verschiedene WeltkÚrper an, so konnte von ihr aus dasjenige Problem, zu dessen AuflÚsung die erste Hypothese aufgestellt worden war, unter Fortfall dieser ersten Hypothese in genugsamer Weise aufgelÚst werden. Denn die Wanderung der Seelen durch verschiedene WeltkÚrper lÈßt immerhin zu, eine Teilnahme an dem, was auf der Erde geschieht, zu denken. Aber es widerstrebt mir, solche MÚglichkeiten zu diskutieren. Denn man verkennt gÈnzlich die Stellung dieses kritischen Geistes zu metaphysischen Fragen, die einen Ausblick in unkontrollierbare MÚglichkeiten gewÈhren, wenn man ihm Phantasien Ýber eine zusammenhÈngende Geschichte der Seelen zutraut. Dies sind die GrÝnde, die mich bestimmen, Ýber das in meinem Aufsatz Enthaltene nicht hinauszugehen, den Gedankenspielen, welche Kombinationen der beiden Hypothesen versucht haben, nicht zu folgen. Ich habe daher auch meine Erwiderung auf RÚßlers EinwÈnde (im vierten Heft des zwanzigsten Bandes der preußischen JahrbÝcher) hier nicht abgedruckt. In bezug auf RÚßlers eigene Interpretation und ihre BegrÝndung durch seine Auslegung von § 92, 93 der „Erziehung“ verweise ich auf ihre Widerlegung in meiner Erwiderung S. 442.8

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Die Kritik K. RÚßlers ist nachzulesen in: Ges. Schr. XXV, Lessing Tg., Zur Rezeption. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts § 92. 7 Lessings Titel: Daß mehr als fÝnf Sinne fÝr den Menschen seyn kÚnnen. Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 119, 29–30. 8 Vgl. den Abdruck des ganzen Textes in: Ges. Schr. XXV, Lessing Tg., Zur Rezeption. – Auf S. 442 seiner Widerlegung in PJ bemerkt D. zum § 92 von Lessings Erziehung des Menschengeschlechts: Ich finde also, die Stelle sagt: der langsame Gang der Erziehung ist begreiflich aus der Endabsicht derselben, Alle mitzuumfassen in ihrem Plan; [...]. 6

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Textgeschichte und Anmerkungen

Nur eine historische Betrachtung, die sich ebenfalls gegen den Aufsatz von RÚßler richtet, sei hier aus der Erwiderung zu wiederholen gestattet. Welche BeweggrÝnde Lessing auch fÝr die Lehre von der Úfteren Wiederkehr der Seele auf diese Erde hatte, so sind sie doch auch auf seine begeistertsten Freunde ohne Wirkung geblieben. Ganz anders steht es mit der Lehre von den Wanderungen der Seelen durch verschiedene WeltkÚrper. Diese erwuchs im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert auf dem Grunde der astronomischen Entdeckungen, der sittlichen BedÝrfnisse, physiologischer Annahmen ganz naturgemÈß zu einer bemerkenswerten Macht. Das zeigt sich in den ernsthaften, stark wirkenden Anschauungen von Fontenelle und Leibniz,9 wie in dem ÝbermÝtigen Spott Voltaires, besonders in einer seiner geistvollsten Erfindungen, dem Mikromegas.10 Hier steht Lessing mitten in den Bewegungen des Jahrhunderts. Und wer mit dem GefÝhl eines unendlichen Strebens in sich aufblickt zum gestirnten Himmel, kann wohl der Neigung zu TrÈumen solcher Art sich nicht ganz entziehen.

Anmerkungen zu den einzelnen Stellen. 19) Plan dieser Schrift] Vgl. G. E. Lessings Leben nebst seinem noch Ýbrigen literarischen Nachlasse von K. G. Lessing. 1793–95. 3 Bde. Dort II S. 14–19. 20) ein Exempel] a. a. O. S. 16. diese Theorie] Vgl. L’s Brief an Mendelssohn vom 14. Sept. 1757. Kapitel „Ýber Lessing“] Vgl. M. Mendelssohns ges. Schriften 1843 ff. II S. 361 und III S. 1 ff. 21) Fragment Ýber Lessing] Vgl. Lyceum der schÚnen KÝnste Bd. I 2. Teil S. 76–128; in den Charakteristiken 1801. Bd. I S. 170–281. 26) Klopstock] in der Ode „an Gott“. 29) Sagen Sie mir ja nichts] Vgl. L’s Brief an Nicolai vom 25. Aug. 1769. 37) Fichte] J. G. Fichtes sÈmtliche Werke. 1845 ff., VIII S. 72 f. 47) Diderots Hausvater] Vgl. Hamburgische Dramaturgie 84. StÝck. das Theater ff.] Vgl. das Theater des Herrn Diderot. Vorrede des Àbersetzers zur ersten Ausgabe von 1760. 56) strenge Folge] Hamb. Dramaturgie 30. StÝck. 56 f.) die Absicht] Hamb. Dramaturgie 19. StÝck. 58) diese Furcht] Hamb. Dramaturgie 55. StÝck. 79) die Charaktere] Hamb. Dramaturgie 86. StÝck. 86) Gedanken Ýber die Herrnhuter] Zur Datierung ist zu vergleichen: Danzel und Guhrauer, G. E. Lessing, 2. Aufl. (1880); I S. 232 A. und Erich Schmidt, Lessing 2. Aufl. 1899 I S. 206. Christentum der Vernunft] Zur Datierung ist zu vergleichen: G. E. Lessings sÈmtliche Schriften, 3. Aufl. ed. Muncker 1891 ff., XIV S. 175 A. und Erich Schmidt a. a. O. II S. 462. Entstehung der geoffenbarten Religion] Nach Muncker a. a. O. S. 312 steht außer allem Zweifel, daß diese elf SÈtze nicht der letzten theologischen Epoche Lessings angehÚren. 88) ein moderner Theologe] C. Schwarz, Lessing als Theologe 1854, S. 41. 9 Wahrscheinlich bezieht sich D. auf die faßliche Verbreitung des kopernikanischen Weltbildes in Fontenelles Entretiens (vgl. die folgende Anm.) und die Vermutungen Ýber die Bewohner anderer Planeten; mit dem Hinweis auf Leibniz kÚnnte in diesem Zusammenhang dessen Ablehnung der Metempsychose gemeint sein: „Quant Ä la Metempsycose, je crois que l’ordre ne l’admet point; il veut que tout soit explicable distinctement, et que rien ne se fasse par saut.“ Brief an Remond vom 11. Februar 1715. Vgl. Monadologie § 72. 10 Microm¹gas (1752). Voltaires Histoire philosophique, so der Untertitel, spielt satirisch auf Fontenelles Entretiens sur la pluralit¹ des mondes (1686) an, karikiert zeitgenÚssische philosophische Konzepte (Descartes, Leibniz, Malebranche) zugunsten von Lockes Empirismus

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89) ich wÝrde] Vgl. L’s Brief an seinen Bruder vom 14. Juli 1773. 90) Mit der Orthodoxie] Aus L’s Brief an seinen Bruder vom 2. Februar 1774. Vgl. dazu den Brief vom 8. April 1773 an denselben. 91) Erziehung] § 79/80. 96) Bericht Kloses] a. a. O. I S. 246. Abhandlung Ýber die Elpistiker] K. Lessing a. a. O. I S. 230, III S. 119–147. Zur Datierung vgl. Muncker S. S. XIV S. 217 f. Von der Art und Weise usw.] Zur Datierung dieser Abhandlung vgl. Muncker S. S. XIV, S. 314 A. und E. Schmidt a. a. O. I S. 453. 97) Theses aus der Kirchengeschichte] Der im Text gegebenen Datierung schließt sich Muncker S. S. XVI S. 304 A. an. E. Schmidt setzt, ohne Mitteilung Ýber das was ihn dazu bestimmt, die Theses in das Jahr 1780 a. a. O. II S. 319. im Dezember 1777] Vgl. L’s Brief an seinen Bruder vom 19. Dezember 1777 und an ebendenselben vom 25. Februar 1778. 98) in seinen Briefen] Vgl. L’s Brief an seinen Bruder vom 23. Juli 1778 und an Ebert vom 25. Juli 1778. 99) Was gehen] S. S. XII S. 428. 100) Goethe] Weim. Ausgabe XXII S. 355/6. bliebe dennoch] S. S. XIII S. 99. fÝhle, daß] S. S. XIII S. 132. fÝhle, wo] S. S. XIII S. 150. Kollektaneen zur Literatur] S. S. XV S. 358. 101) Chiromantie und Offenbarung] S. S. XII S. 435. 102) Weh dem menschlichen Geschlecht] S. S. XII S. 437. 108) theatralische Arbeit] Vgl. den Brief an seinen Bruder vom 25. Februar 1778. Streitschrift Semlers] Vgl. den Brief an Elise Reimarus vom 14. Mai 1779. 109) etwas GrÝndlicheres] Vgl. den Brief an seinen Bruder vom 25. Februar 1778. 113) Strauß] Ges. Schriften ed. Zeller 1876 ff. III S. 102. 117) nur sein Evangelium] S. S. XVI S. 390. Religion Christi] Der im Text gegebenen Datierung schließt sich Muncker S. S. XVI S. 518 A. an. Inhalt dieses Èltesten Christentums] „Erziehung“ § 61. 123) Ein ganz verschiedenes] S. S. XIII S. 356 f. 148) O Geschichte] S. S. XIII S. 5 f., 31 f., 404. Nein, sie wird kommen] „Erziehung“ § 85/6. 153) Das Genie ff.] Hamb. Dramaturgie 30. und 33. StÝck. auf dem Theater] Hamb. Dramaturgie 19. StÝck. 157) GesprÈch zwischen Lessing und Jacobi] Vgl. Fr. H. Jacobis Werke 1812 ff. Bd. IV. S. 51 ff. 161) Dippel] Fatum fatuum oder die tÚrichte Notwendigkeit 1708. 163) Àber die Wirklichkeit außer Gott] Àber die Datierung vgl. Muncker S. S. XIV S. 292 A. und G. Spicker, Lessings Weltanschauung 1883 S. 165.11 167) Lotze] Vgl. Mikrok. 2. Aufl. 1869, I S. 414–417.12

11 G. Spicker, Lessing’s Weltanschauung, Leipzig 1883. Spicker verknÝpft die Entstehung des Fragments mit dem Austausch zwischen Lessing und Mendelssohn Ýber die Preisaufgabe der Berliner Akademie von 1763. Zu Titel und Briefen vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 116, 23–28. 12 Das Zitat 167) Lotze] = Lessing (1910) 107, 11–16 stammt, wie in der Erstfassung des Aufsatzes im Text richtig steht (vgl. Ges. Schr. XXV, Lessing 119, 12–18 und Anm.), aus der ersten Auflage von Lotzes Mikrokosmus III (1864), S. 51. Die Angabe Mikrok. 2. Aufl. 1869, I S. 414–417 ist der Stellenhinweis zu Lessing (1910) 104, 40 – 105, 2, allerdings mit der Seitenzahl der ersten Auflage; in der zweiten Auflage findet sich diese Stelle auf S. 428–431, ebenfalls richtig verzeichnet in der Erstfassung (vgl. Ges. Schr. XXV, Lessing 116, 40 – 117, 3 und Anm.).

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Textgeschichte und Anmerkungen

168) Lessing sagt] Vgl. Jacobis Werke a. a. O., S. 80. Lessings Aufsatz, „daß mehr als fÝnf] Muncker S. S. XVI S. 522 A. schließt sich der im Text gegebenen Datierung an und bringt neue GrÝnde fÝr sie, ebenso datiert E. Schmidt a. a. O. II S. 495 u. 637. W. Arnsberger will den Aufsatz in die erste HÈlfte der 70er Jahre setzen, bringt aber nicht ausreichende GrÝnde. Vgl. seine Schrift „Lessings Seelenwanderungsgedanke“, 1893, S. 12 f., 47.13

Verzeichnis der •nderungen und ZusÈtze . 22. „So zeigen“ – 23. „Stellung“ gegenÝber dem frÝheren Aufsatz gekÝrzt. 25. „Lessing stammte – 26. entfremdet“ Zusatz. 31. „Schon von der – 32. Wahrheit“ Zusatz. Zusatz Ýber Lessings ErzÈhlungen und Fabeln. 41–47. „Wie hatte Aristoteles – Harris Dialog“ neu und umgearbeitet. 50. „Tiefer noch – 52. Aristoteles“ ZusÈtze und umgearbeitet. 61. „Lessing ist – zu befreien“ S. 84 Zusatz. 125–146. Zusatz Ýber Nathan den Weisen. 150. „So scheiden sich die Zeiten – worden“ S. 152 Zusatz. 153. nach „verlangen“ ist ein Absatz fortgelassen und in die Darstellung der Emilia G. aufgenommen. 174. „Das sind die Momente“ – bis Schluß. Umarbeitung und Zusatz. In Diltheys Stellennachweisen zu korrigieren : 58) Statt 55. StÝck: 75. StÝck. 86) Statt ed. Muncker 1891 ff.: ed. Muncker 1886–1924. 96) Statt K. Lessing a. a. O. III, 119–147: K. Lessing a. a. O. II, 119–147. Statt: S. S. XIV S. 217 f.: S. S. XIV, 297. 100) Statt S. S. XIII S. 150: S. S. XIII, 123. 161) Statt 1708: 1709, dem Titelblatt nach, vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 115, 15–16. 167) Statt Mikrok. 2. Aufl. 1869, I S. 414–417: Mikrokosmus III (1864), S. 51. 168) Statt Arnsberger: Arnsperger.

Entstehung und Àberlieferung Wer wird uns L e s s i n g auslegen? Diese Frage D.s leitet Notizen zur Bedeutung Lessings ein, die bereits auf den kÝnftigen Aufsatz hinweisen. 24. Januar 1864, JD 187. ErfÝllt von den politischen Ereignissen 1866, berichtet D. seinem Vater Mitte Juni von den Schwierigkeiten, in dieser Situation Vorlesungen zu halten und fÈhrt fort: Daneben bin ich sehr fleißig in den letzten Wochen, habe einen großen Essay Ýber Lessing beinahe fertig und bin, so gut es geht, am Schleiermacher, damit, sobald der erste Sonnenstrahl von Friede da ist, er sich aus dem Manuskript entpuppen kann. JD 215. Seinem Freund und Schwager H. Usener kÝndigt er Mitte Dezember 1866 an: NÈchstens kann ich Dir das erste StÝck von 5 Druckbogen, preußisches JahrbÝcher-Format, Ýber Lessing schicken. JD 225.

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Der vollstÈndige Titel von Arnspergers Schrift: Lessings Seelenwanderungsgedanke kritisch beleuchtet, Diss. Heidelberg 1893. Auf den angegebenen Seiten wendet sich Arnsperger vorsichtig gegen D.s Datierung, vermutet die frÝhere Entstehung des Textes, weil Lessing Bonnet, auf den er sich der Jacobi-Notiz nach bezieht (vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 119, 33–34), schon viel frÝher gekannt hat (vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 114, 21).

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An E. Reimer schreibt D. undatiert (die Datierung auf 17. 12. 1866 von fremder Hand ist vermutlich das Eingangsdatum): Verehrtester Freund, der – sonst sehr gÝnstige – Verlauf der Angelegenheit von welcher ich Ihnen neulich sprach, macht mir sehr wÝnschenswerth, ja von Bedeutung, daß m e i n L e s s i n g Ý b e r h a u p t a u f d e n F e b r u a r v e r s c h o b e n w e r d e auch d e r e r s t e T h e i l . Ich schreibe heute noch in diesem Sinne an Wehrenpfennig und werde ihm proponiren, im Fall daß das Heft nicht ohnehin besetzt ist, Scherers Aufsatz Ýber Abraham, der 2 Bogen hat, einzurÝcken. Verlagsarchiv de Gruyter Berlin. W. Wehrenpfennig schließt seinen Brief vom 5. Januar 1867 an Reimer mit folgender Anweisung: „Februarheft bitte ich mit Dilthey und zwar zu 2/3 anzufangen, alles Ýbrige liegt bereit oder ist bald zu erwarten.“ Am 13. Januar 1867 vergewissert er sich noch einmal bei Reimer: „Dilthey wird zugestimmt haben daß sein Aufsatz grÚßerentheils ins Februarheft und der Rest in’s MÈrzheft kommt.“ Verlagsarchiv de Gruyter Berlin. D. antwortet am 10. MÈrz 1867 auf nicht erkennbare VorschlÈge W. Scherers: An Lessing konnte ich leider nichts mehr Èndern – die LÝcke Bonnet betreffend natÝrlich ausgenommen. Sobald der zweite Theil da ist, erhalten Sie das Ganze. JD 233. Weitere Planung: Undatierter Brief D.s aus Berlin an E. Reimer, von fremder Hand am oberen Rand 27/2 1890, vermutlich Eingangsvermerk: Zum Zweck des Wiederabdrucks meiner Èsthetischen AufsÈtze mÚchte ich gern die AufsÈtze Ýber Lessing preuß. JahrbÝcher 1867, Bd 19 Seite 117–161; 271–294; 439–444 in einem Exemplar erhalten, da ich selbst keinen Abzug mehr besitze [. . .]. Im Àbrigen erbitte ich mir von Ihnen die freundliche Erlaubniß diesen u. den Novalisaufsatz im Druck erneuern zu dÝrfen. Verlagsarchiv de Gruyter Berlin. Im Dezember 1890 im Brief D.s an den Grafen Yorck von Wartenburg: Ich arbeite eben an dem historischen StÝck des zweiten Bandes [. . .]. In Mußestunden an ZusÈtzen zu meinen AufsÈtzen Ýber Dichter und Poesie [. . .]. Ihr Herr Bruder wÝrde mir einen rechten Gefallen thun, wollte er meine Artikel Ýber Lessing (preuß. Jahrb. 1867), Novalis, Grimm Goetheanzeige in Zeitschrift fÝr VÚlkerpsychologie 1877 durchsehen und mir sagen wo er Verbesserungen und ZusÈtze wÝnschen wÝrde. B Yorck 116. Am 29. Februar 1892 an Yorck: LÈngere Zeit hat mich die Fertigstellung der literarhistorischen AufsÈtze beschÈftigt und ich bin doch so weit daß im FrÝhling deren Druck anfangen kann. B Yorck 139. Als „sehr bedeutend fÝr Aesthetik, Theologie, Philosophie“ bezeichnet E. Schmidt D.s Aufsatz und stellt in Aussicht: „soll in einer Sammlung 1892 neu erscheinen.“ E. Schmidt, Lessing II, Berlin 1892, S. 785. Im FrÝhjahr 1895 teilt D. den Titel seiner Sammlung mit: „Dichter als Seher der Menschheit“. B Yorck 181. Der Pfingstbrief 1895 enthÈlt eine Àbersicht: Ich habe jetzt vor zu Weihnachten folgende AufsÈtze 1) Shakespeare und seine Zeitgenossen, 2) Lessing, 3) Shakespeare und Goethe, 4) Goethe, 5) Schiller und 6) Novalis in 2 BÈndchen unter dem Titel Dichter als Seher der Menschheit [. . .] drucken zu lassen – nÈchste Weihnachten zwei weitere BÈndchen. B Yorck 183. Zur Neubearbeitung fÝr die realisierte Sammlung vgl. Vorwort D.s zu EuD1 und EuD2, außerdem seine Anmerkungen in EuD3. E: EH: H: D1: D2: D3: D3:

PJ XIX, 2 und 3 (1867), S. 117–161 und S. 271–294. Archiv der BBAW zu Berlin, D 5 (274). Archiv der BBAW zu Berlin, D 7 (274). EuD1, S. 1–136. EuD2, S. 1–158. EuD3, S. 17–174. In weiteren unverÈnderten Auflagen bis zur heutigen, EuD16.

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Textgeschichte und Anmerkungen

Textwiedergabe nach D3. Zur Rezeption Auf zwei Reaktionen zum Wiedererscheinen des Lessing-Aufsatzes in EuD1 sei hingewiesen, auf eine Notiz E. Schmidts (mit den verweisenden Zahlen) und den Brief A. Freys aus D.s Nachlaß. Schmidt irrt sich mit dem Erscheinungsjahr der Erstfassung und mit den ZusÈtzen fÝr EuD1, Minna von Barnhelm wird dort schon berÝcksichtigt.

Erich Schmidt, Lessing. 1904, 1905. Doch ganz andere Darsteller mÝssten verschwinden gegenÝber dem seit 1869 [sic] bewunderten und fruchtbaren, nun endlich wiederholten MeisterstÝck W. D i l t h e y s (3476), dem bedeutendsten Essay Ýber Lessings •sthetik, Theologie, Philosophie und seine PersÚnlichkeit im AufklÈrungszeitalter; hier genau revidiert (siehe auch die Anmerkungen hinten) und um einen Abschnitt Ýber den „Nathan“ in grossen ZÝgen bereichert. Da doch schon die erste Fassung in den Preussischen JahrbÝchern der „Emilia“ gerecht wurde, darf eine baldige neue Auflage die „Minna“ nicht Ýbergehen, denn der Zusammenhang der vier AufsÈtze Ýber Erlebnis und Dichtung fordert auch ihre WÝrdigung. Aus: Jahresberichte fÝr neuere deutsche Literaturgeschichte, hrsg. von J. Elias u. a., XVI (Jahr 1905), Berlin 1908, S. 538. ZÝrich V Gloriastraße 68 16. I. 06

Verehrter Herr College, ich erlaube mir, Ihnen unter Kreuzband meine kleine Arbeit Ýber Lessings Laokoon zuzusenden. Ich lege Wert darauf, Ihnen zu sagen, daß mir Ihr schÚner Aufsatz Ýber Lessing vÚllig unbekannt war. Sonst wÝrde ich angefÝhrt haben, was Sie S. 34/35 ihres Buches sagen, das mir eben in die Hand kommt. Hochachtungsvoll Adolf Frey Archiv der BBAW zu Berlin, C 94 (242), 430r, 430v.

Textbearbeitung D. unterteilt den Aufsatz Ýber Lessing, der in der ErstverÚffentlichung von 1867 aus zwei ungleich großen BlÚcken besteht, fÝr D1 und die folgenden VerÚffentlichungen in EuD in fÝnf Kapitel. Das letzte umfaßt den stellenweise korrigierten, ursprÝnglich zweiten Block; das dritte, zu den Dramen Lessings, ist neu in D1, das vierte, zur Theologie, bleibt in seinem Bestand fast unverÈndert, wÈhrend die beiden ersten KÝrzungen und Erweiterungen erfahren. D. ergÈnzt im biographischen, Èsthetischen und literarischen Bereich. Kleinere Umarbeitungen betreffen: WÚrter und Wendungen, die Wortstellung, Sperrungen, Gliederung in AbsÈtze und Unterkapitel, Umstellung einzelner Abschnitte; die Tilgung von Nachweisen, auch von Autorennamen. – Auffallende Abweichungen zwischen den vier Fassungen werden beschreibend oder durch Textwiedergabe dokumentiert. Entsprechende Stellen des Erstdrucks, aus Ges. Schr. XXV also, erscheinen hier noch einmal, daneben die aus D1 und, zur leichteren GegenÝberstellung, gegebenenfalls aus D2, selbst wenn sie sich nicht erheblich von D3, der in diesem Band vorliegenden Fassung des Aufsatzes, unterscheiden. Damit gewinnen die

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vermutlich von P. Menzer stammenden Angaben in den Anmerkungen D.s an Inhalt und VollstÈndigkeit. Die minimalen BearbeitungsansÈtze (EH und H) stammen vermutlich aus den 90er Jahren und werden im vorangehenden Band XXV berÝcksichtigt. 15, 25 – 16, 3 So zeigen bis Stellung?: Teilweise neu formuliert fÝr D1 zur ÀberbrÝckung eines lÈngeren weggelassenen Abschnitts Ýber Forschungsliteratur; gleichbleibend bis D3. 17, 21 – 18, 3 Lessing stammte bis entfremdet: ZusÈtzliche biographische Informationen fÝr D1; gleichbleibend bis D3. 21, 4 – 22, 19 Schon von der FÝrstenschule bis Lessing nach: ZunÈchst neuer Abschnitt fÝr D1 zu Lessings dramatischen Versuchen, Gedichten, ErzÈhlungen und zur Fabeldichtung. FÝr D2 erweitert um die Hinweise zu Sinngedichten und Epigrammen, wÈhrend die Fabeln an den Rand rÝcken; unverÈndert in D3. 24, 5–30 Ihr Zweck bis Voltaire: Der erlÈuternde Abschnitt Ýber Lessings Literaturbriefe mit dem Hinweis auf Shakespeare ist neu in D1, bleibt dann unverÈndert. 25, 23–25 Er gab als Dichter bis TragÚdie: Kleiner entscheidender Zusatz Ýber Lessings Funktion als Dichter fÝr D1; so in D2 und D3. 25, 31 – 27, 16 II. •STHETISCHE THEORIE bis Problem aufgefaßt?: E Ohne Àberschrift: Die praktische Bedeutung seiner Èsthetischen Theorien fÝr die Thatsache unserer classischen Literatur war ungeheuer. Sie waren eine Technik der Poesie, im wahren Verstande des Aristoteles, aber nicht, wie die aristotelische, entworfen um zu begreifen und zu genießen was vergangen war, sondern um die Zukunft zu leiten. Indessen steht weder dem Schreiber dieses der Sinn nach Èsthetischen Untersuchungen, noch erwartet er von seinen Lesern ein solches Interesse. Er beschrÈnkt sich demgemÈß auf eine kurze Darstellung des historischen Zusammenhangs, in welchem diese Untersuchungen stehen, da er leider weder auf eine der Literaturgeschichten noch auf Zimmermann’s Geschichte der Aesthetik verweisen kann, wegen der vielen IrrthÝmer und LÝcken in diesen BÝchern (vergl. z. B. Zimmermann 201, Hettner III. 2, 565). Das RÈthsel des SchÚnen und der Kunst ist durch drei ganz verschiedene Untersuchungsweisen in Deutschland der ErÚrterung unterworfen worden. Der aristotelische Gedanke einer Technik der KÝnste, d. h. einer Untersuchung der Mittel, vermÚge deren sie die hÚchsten Wirkungen hervorrufen, herrschte bis Kant. Durch Kant trat die Verfassung des producirenden Genies selber in den Vordergrund; der tiefe Gedanke von einer besonderen Art des Genies die Welt aufzufassen ward durch ihn, Schiller, Fichte, die Romantiker und folgenden Philosophen fortgebildet und in seine historischen Consequenzen verfolgt. Das Studium der physiologischen Bedingungen hat dann den gegenwÈrtigen Arbeiten ein ganz neues Fundament gegeben. Lessing’s Entdeckungen sind die bleibenden Wahrheiten der ersten Untersuchungsweise. Vor seinem Geiste stand, als er den Laocoon begann, das Ganze einer die Kunst umfassenden Theorie. Eine Wiederherstellung derselben aus dem Laocoon und der Dramaturgie, zusammengenommen mit anderen Quellen, wÈre leicht zu geben. Sie wÝrde schon einen vorlÈufigen Beweis liefern, wie Lessing nichts weniger als ein Gelegenheitsdenker war, ja wie ein großes Ge-

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heimniß seiner schriftstellerischen Wirkung darin liegt, daß seine scheinbar zufÈlligen und momentanen Aeußerungen einen festen Hintergrund besitzen. Die Poetik des Aristoteles ist das Fundament der Lessing’schen Aesthetik. Von dem HÚhepunkt dieser Aesthetik, der Theorie des Tragischen, ist diese Thatsache offen daliegend; sie ist aber eben so zweifellos in Betreff des allgemeinen Aufbaus dieser Wissenschaft wie er im Laocoon vorliegt. Wie hatte Aristoteles, dieser erste große Denker, welcher die Kunst der Untersuchung unterwarf, dieses Problem aufgefaßt? D1 II. •STHETISCHE THEORIE UND SCH³PFERISCHE KRITIK. Die praktische Bedeutung seiner Èsthetischen Theorien fÝr die Entwickelung unserer klassischen Literatur war ungeheuer. Sie bilden ein Ganzes. Vor seinem Geiste stand, als er den Laokoon begann, der Zusammenhang einer die Kunst umfassenden Lehre. Eine Wiederherstellung derselben aus dem Laokoon und der Dramaturgie, zusammengenommen mit anderen Quellen, wÈre wohl zu geben. Sie wÝrde schon einen vorlÈufigen Beweis liefern, wie Lessing nichts weniger als ein Gelegenheitsdenker war, ja wie ein großes Geheimnis seiner schriftstellerischen Wirkung darin liegt, daß seine scheinbar zufÈlligen und momentanen •ußerungen einen festen Hintergrund besitzen. Die Poetik des Aristoteles ist das Fundament der Lessingschen •sthetik. Dies gilt nicht nur vom HÚhepunkt dieser •sthetik, der Theorie des Tragischen, sondern ebenso von dem allgemeinen Aufbau derselben, wie er im Laokoon gegeben ist. 1. Wie hatte A r i s t o t e l e s , der erste große Denker, welcher die Kunst der Untersuchung unterwarf, dieses Problem aufgefaßt? D2 Der erste Abschnitt des zweiten Kapitels aus D1 (vgl. oben: Die praktische bis besitzen.) wird in D2 Ýbernommen, darauf folgt: Die Poetik des Aristoteles ist das Fundament der Lessing’schen •sthetik. Dies zeigte sich zunÈchst in den Abhandlungen Lessings Ýber die Fabel und Ýber das Epigramm. In beiden regiert die Richtung des Aristoteles auf die Bestimmung der poetischen Gattungen und die Feststellung der in ihnen gegrÝndeten Regeln. Diese Richtung wird verstÈrkt durch das reformatorische Streben Lessings, vermittelst klarer Grenzbestimmungen die reinen Formen der Gattungen wiederherzustellen. So hat er 1754 in der mit Mendelssohn gemeinsam verfaßten Schrift: „Pope ein Metaphysiker!“ die Grenzen von Poesie und Philosophie aufgezeigt. Die systematische Ordnung des metaphysischen Denkens in dieser und die freie Begeisterung des Schaffens in jener schließen einander aus. In der Abhandlung Ýber die Fabel (1759) unternahm er, den Begriff der Fabel zu bestimmen und von diesem Begriff aus die breite GeschwÈtzigkeit der Fabeldichtung seiner Zeit einzuschrÈnken. Noch wird hier sein Verfahren den MÚglichkeiten nicht gerecht, welche die Auffassung des uns verwandten und doch fremden Lebens der Tiere dem Dichter fÝr diese Gattung gewÈhrt. Er wÝrdigt nicht richtig den selbstÈndigen Èsthetischen Wert des Nachempfindens der Tierwelt, wie es aus dem Èltesten VerhÈltnis zwischen dem Menschen und den Tieren hervorgegangen ist. Er verkennt die selbstÈndige dichterische Form La Fontaines, der mit souverÈner Heiterkeit die ganze KomÚdie des Lebens in der Tierwelt erblicken lÈßt. Man hÚre seine Definition der Fabel! „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurÝckfÝhren, diesem besonderen Falle die Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine Fabel.“ Aus diesem Begriff der Fabel entsprang die Prosafabel Lessings. Sie war doch hÚchstens Èußerlich von Richardson angeregt. Dem kleinen Gehalt der Gattung soll hier ihre kurze Form entsprechen. Diese Fabeln bringen eine Situation und eine Lehre zu genauer Deckung. Auf wenigen Seiten entsteht ein Bild der typischen Cha-

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raktere und Daseinsbeziehungen der Tierwelt, und in diesem spiegeln sich die Leidenschaften und IrrtÝmer der Menschen. Sehr viel spÈter, als diese Abhandlungen Ýber die Fabel hat er dann (1771) seine „Anmerkungen Ýber das Epigramm“ verÚffentlicht. Sie zeigen sein Èsthetisches Verfahren im Stadium der Reife. Der Umfang seiner Induktionen ist bewunderungswÝrdig. Aber auch hier ist sein Ziel ein Begriff des Epigramms, nicht eine Aufgabe, die dann in der Literatur in mannigfachen LÚsungen realisiert wird. Und aus dem Begriff ergeben sich ihm auch hier Regeln. Die echten Sinngedichte zerfallen in zwei Teile, deren erster Aufmerksamkeit und Neugier erregt, und deren zweiter dann diese Neugierde befriedigt. So entsteht folgender Begriff des Sinngedichts: „Das Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem nach Art der eigentlichen Aufschrift unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgendeinen einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit Eins zu befriedigen.“ Aus diesem Begriff ergeben sich ihm dann die einzelnen Regeln fÝr diese Dichtungsart. Wie sich so diese Einzelarbeiten als von Aristoteles beeinflußt zeigen, so ist von diesem nun auch der ganze Aufbau der •sthetik Lessings bestimmt, wie er im Laokoon vorliegt, und schließlich seine Theorie des Tragischen – der HÚhepunkt seiner •sthetik. 1. Wie hatte A r i s t o t e l e s , der erste große Denker, welcher die Kunst der Untersuchung unterwarf, dieses Problem aufgefaßt? D3 mit geringen Abweichungen wie D2. 27, 16 – 28, 9 Er begrÝndete bis zu Lessing hinfÝhrt: E Er begrÝndete eine Technik der dichterischen Produktion, ganz wie er eine solche des wissenschaftlichen Beweises gegeben hatte. Eine solche grÝndet sich auf die Untersuchung der Mittel, vermÚge deren die einzelnen KÝnste wirken. Aus der Einsicht in die Natur dieser Mittel folgen die Gesetze, unter welchen in einer jeden einzelnen Kunst die hÚchsten Wirkungen erreicht werden kÚnnen. Noch in den TrÝmmern der Poetik erkennen wir mit wie vollkommener Deutlichkeit Aristoteles sich diese Aufgabe stellte. Aber wir sind nicht mehr im Stande zu bestimmen, in welchem Umfange er sie gelÚst hat. Hier traten nun neuere Arbeiten ein, englische besonders, und Lessing durfte an ihrer Hand weiter gehen. Ich begnÝge mich, zwei Schriften hervorzuheben, von denen ich glaube daß er ihr Studium unmittelbar an das des Aristoteles anschloß. D. verweist auf Harris und Mendelssohn. D1 Er begrÝndete eine Technik der dichterischen Produktion, ganz wie er eine solche des wissenschaftlichen Beweises gegeben hatte. Das kÝnstlerische Schaffen fÈllt fÝr ihn unter die gestaltende TÈtigkeit, und zwar sofern ihr Ziel die Hervorbringung von Werken ist, die dann außerhalb der hervorbringenden Person ein Dasein haben. Diese TÈtigkeit unterscheidet sich von dem theoretischen Verhalten, welches die Erkenntnis der unverÈnderlichen Eigenschaften des Wirklichen erstrebt, und sie sondert sich zugleich vom Handeln, dessen Wert in der inneren sittlichen Vollkommenheit gelegen ist. Als eine solche bildende TÈtigkeit ist nun das kÝnstlerische Schaffen auf sein Material angewiesen. In diesem ahmt es Wirklichkeit nach, indem es das Wesentliche, Typische derselben hinstellt. Welches sind nun die Grundunterschiede innerhalb dieser kÝnstlerischen Nachahmung? Der erste entsteht, wenn man von dem Mittel ausgeht, in welchem die Darstellung eines Gegenstandes stattfindet, ein anderer liegt in den GegenstÈnden, die dargestellt werden, und endlich ist ein dritter in der Art und Weise zu bemerken, wie die GegenstÈnde innerhalb eines bestimmten Mittels der Auffassung dargeboten werden. FÝr die Entwickelung der •sthetik war der erste unter den von Aristoteles herausgehobenen Unterschieden grundlegend. Es gibt ein kÝnstlerisches Schaffen in Farben und Formen, und ein anderes in Rhythmus, Wort und Melodie. Diesem Unterschied muß eine Verschiedenheit in der Technik dieser beiden Klassen von KÝnsten entsprechen. Denn jede bildende TÈtigkeit steht nach Aristo-

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teles unter Regeln, die aus der Natur der Sache hervorgehen, und das Endziel jeder Wissenschaft von einer gestaltenden TÈtigkeit liegt in der Feststellung dieser Regeln. So entsteht die Aufgabe aus dem Unterschied des Mittels, in dem diese beiden Klassen von KÝnsten wirksam sind, den ihrer Technik abzuleiten und in Regeln auszudrÝcken. Die Reste, die sich von der Kunstlehre des Aristoteles erhalten haben, versagen nun an dieser Stelle: gerade dadurch war den Nachfolgenden eine Aufgabe gestellt. Und eine LÚsung derselben wurde mÚglich, seitdem vom 16. Jahrhundert ab die Sinnesorgane und deren Leistungen von Naturforschern und Philosophen studiert worden sind. Die Betrachtung dieser LÚsungsversuche macht den Zusammenhang deutlich, der zu Lessing hinfÝhrt. D2 und D3 mit geringen Abweichungen wie D1. 28, 10 – 32, 26 Mit tiefem Kunstverstand bis Mendelssohn geworden: Die Notizen Ýber Dubos, Batteux, Shaftesbury, Hogarth, Burke, Home, Diderot sind neu in D1 und bleiben in dieser Gestalt unverÈndert, sie gehen den aus E vorhandenen Ýber Harris und Mendelssohn voraus. 32, 27 – 33, 24 H a r r i s ’ Dialog bis gemischten GefÝhlen: E Der Dialog von H a r r i s Ýber die Kunst, sowie der andere Ýber Musik, Malerei und Dichtung waren vielgelesen als Lessing seinen Laocoon entwarf, wie sie denn auch in dieser Zeit zweimal in’s Deutsche Ýbertragen worden sind. Es sind ganz aristotelische Begriffe deren Harris sich bedient, jenen Grundgedanken einer poetischen Technik in die einzelnen KÝnste hineinzufÝhren. Es ist als ob er den allgemeinen Theil der aristotelischen Kunstlehre herzustellen beabsichtige. Als Grundproblem ist ihm die Frage gegeben, welche denn die fundamentale Verschiedenheit der Mittel sei, durch welche die einzelnen KÝnste wirken. Nun ist der gesammten Kunst gemeinsam, daß sie ein Ganzes hinstellt, welches aus Theilen besteht. In dieser Ordnung der Theile zum Ganzen entdecken wir die fundamentalen Unterschiede. Wir unterscheiden eine Ordnung der Theile neben einander im Raume, und eine Ordnung nach einander in der Zeit. Im ersten Falle erscheint das Ganze als ein abgeschlossenes Werk, im zweiten als eine in der Zeit ablaufende Energie. ErÚrtern wir den ersten Fall. Die Ordnung der Dinge neben einander im Raume ist das Mittel der bildenden Kunst. Sie umfaßt Alles was die Gesichtswahrnehmung darbietet, die Bewegung ausgenommen, welche das abgeschlossene Werk nicht darzustellen vermag: Dies ist der Umkreis ihrer Mittel. Dagegen wird die Aufeinanderfolge in der Zeit von unserem GehÚr aufgefaßt; Musik und Dichtung theilen sich in diesen zweiten Umkreis von Mitteln, wie ihn der Sinn des GehÚrs darbietet. Inmitten dieser KÝnste erlangt nun aber die Dichtung eine eximirte Stellung, vermÚge der Natur der menschlichen Sprache, in welcher TÚne in Vertretung von Vorstellungen gebraucht werden. In den Umkreis jener Darstellungsmittel tritt in ihr der gesammte Umkreis der menschlichen Vorstellungen. Und so faßt dieser Umkreis die Kreise aller einzelnen KÝnste in sich. So weit ging Harris in der AusfÝhrung des aristotelischen Grundgedankens. Zu einer wirklichen Technik ging er nicht fort. Ja er hatte sich eine Technik der Poesie unmÚglich gemacht durch die vage Bestimmung ihres Umkreises, welche ganz mit der falschen Praxis einer malenden und musikalischen Poesie in Einklang war. An diesem schwachen Punkt von Harris setzte nun M e n d e l s s o h n in seinen Betrachtungen Ýber die Quellen der schÚnen KÝnste und Wissenschaften ein. Er untersuchte den Unterschied zwischen TÚnen, als natÝrlichen Zeichen wie sie Mittel der Musik sind, und ihrer willkÝhrlichen Geltung, wie sie die Grundlage der Sprache als des Mittels der Poesie bildet. Und zugleich fand Mendelssohn an den Ýbrigen Punkten bereits Gesetze einer wahren Technik der KÝnste. So leitete er bereits aus der Natur des Umkreises

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von Mitteln, wie sie die bildende Kunst besitzt, die eigenthÝmliche Aufgabe derselben ab, den Einen fÝr sie allein darstellbaren Moment mit hÚchstem kÝnstlerischen Bedacht zu wÈhlen. D1 H a r r i s ’ Dialog Ýber die Kunst, sowie der andere Ýber Musik, Malerei und Dichtung waren vielgelesen, als Lessing seinen Laokoon entwarf, wie sie denn auch in dieser Zeit zweimal ins Deutsche Ýbertragen worden sind. Nach Harris ist der gesamten Kunst gemeinsam, daß sie ein Ganzes hinstellt, welches aus Teilen besteht. In der Ordnung der Teile zum Ganzen liegen nun fundamentale Unterschiede. Wir unterscheiden eine Ordnung der Teile nebeneinander im Raume und eine Ordnung nacheinander in der Zeit. Im ersten Falle erscheint das Ganze als ein abgeschlossenes Werk, im zweiten als eine in der Zeit ablaufende Energie. Die Ordnung der Dinge nebeneinander im Raume ist das Mittel der bildenden Kunst; sie umfaßt alles, was die Gesichtswahrnehmung darbietet, die Bewegung ausgenommen, welche das abgeschlossene Werk nicht darzustellen vermag: dies ist der Umkreis ihrer Mittel. Da sie keine Sukzession darzustellen vermag, ist sie angewiesen auf die Auswahl des richtigen Momentes, welcher den ablaufenden Vorgang vertreten kann. In der anderen SphÈre der KÝnste, welche durch den GehÚrssinn wirken, hat die Dichtung eine eximierte Stellung, vermÚge der Natur der menschlichen Sprache, in welcher TÚne in Vertretung von Vorstellungen gebraucht werden. So wird in ihr der gesamte Bereich der menschlichen Vorstellungen darstellbar und sie faßt die Kreise aller einzelnen KÝnste in sich. So weit kam Harris in der AusfÝhrung des aristotelischen Grundgedankens. Zu einer wirklichen Technik der Poesie ging er nicht fort. Ja, er hatte sich eine solche unmÚglich gemacht durch die vage Bestimmung ihres Umkreises, welche ganz mit der falschen Praxis einer malenden und musikalischen Poesie in Einklang war. Tiefer noch als der Einfluß von Harris war der M e n d e l s s o h n s . Die beiden kamen, nachdem sie sich 1754 kennen gelernt, bald einander nahe. Sie verfaßten zusammen die bekannte ironische Beantwortung einer Preisfrage der Berliner Akademie; gemeinsam durchmusterten sie die psychologisch-analytischen Arbeiten der EnglÈnder und versuchten sich an der AuflÚsung des Problems, wie ein tragischer Gegenstand das GemÝt zu erheben vermÚge. Ihre Diskussionen waren beherrscht von der Analyse des GefÝhls, die Mendelssohn dem deutschen Publikum vorgelegt hatte. Besonders Mendelssohns Behandlung der gemischten GefÝhle wurde fÝr Lessing wichtig. An sie knÝpft sich ein großer Teil seiner Zergliederungen von Èsthetischen Wirkungen im Laokoon wie in der Dramaturgie an. Wo Lessing die Darstellung des LÈcherlichen, Ekelhaften und Schrecklichen in der Dichtung behandelt, erwÈhnt er ausdrÝcklich der Lehre des Freundes von den gemischten GefÝhlen. D2 und D3 mit geringen Abweichungen wie D1. 34, 7–33 Was kommt bis der Poesie: E Was kommt nun aber Lessing zu? WÈhrend Harris und Mendelssohn aus der bisher entwikkelten Conception ganz falsche SchlÝsse gezogen hatten, grÝndete er auf sie die großen Stylgesetze der bildenden Kunst und der Dichtung und gab denselben hierdurch erst Fruchtbarkeit. So ward er der zweite Gesetzgeber der KÝnste, insbesondere der Poesie, nach Aristoteles. D1 Was kommt nun aber Lessing zu? ZunÈchst die Fragestellung, welche auf die Sonderung der bildenden Kunst und der Dichtung gerichtet ist, dann aber der Ausgangspunkt, an welchem seine originalen Ideen einsetzen. Es ist wahr, daß die Rede durch ihre kÝnstlichen Zeichen ebensowohl das im Raum nebeneinander Bestehende darstellen kann als das, was sich in der Zeit folgt. Der wissenschaftliche Schriftsteller vermag das im Raum Gegebene, ein Naturobjekt oder eine Maschine durch Worte klar und deutlich zu beschreiben. Aber der Poet will nicht bloß verstÈndlich werden: ihm ist es um die volle Anschaulichkeit und den starken Eindruck dessen zu tun, was er darstellt. So entsteht nun erst das Problem: in welchem Umfang kann durch die Aufeinanderfolge der Worte diese Aufgabe gelÚst werden? Wie kann – und diese Frage ist vielleicht

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der tiefste Punkt, zu dem die allgemeine Theorie der Dichtung im Laokoon vordringt – die Folge der Worte eine Illusion hervorrufen, welche eben dies in bloßer Wortfolge liegende Mittel vergessen macht? Welche sind dann anderseits die besonderen Vorteile, die sich aus den Wortzeichen dem Dichter ergeben? Der Dichter kann nicht malen, denn die Aufeinanderfolge der Worte, welche nacheinander die Teile des Gegenstandes zur Anschauung bringen, ist nicht rasch genug, als daß der starke Eindruck des ersten Zuges in dem Bilde noch fortdauerte, wenn sein Leser oder HÚrer bei dem letzten angelangt ist: so bildet sich kein wirksames Ganze aus diesen ZÝgen. Anderseits entsteht dem Dichter ein eigener Vorteil aus solcher Darstellung in Worten, indem in ihr das HÈßliche und Ekelhafte, das im LÈcherlichen und im Schrecklichen enthalten ist, nach seiner sinnlichen Wirkung gemindert ist und so als ein untergeordnetes Glied in den Zusammenhang des poetischen Werkes aufgenommen werden kann. Ich zÈhle Lessings weitere Folgerungen nicht auf. Er wurde durch sie nach Aristoteles der zweite Gesetzgeber der KÝnste, insbesondere der Poesie. D2 und D3 stimmen mit D1 Ýberein. 38, 9–30 Lessing bis Dichters beruht: E Lessing entband diese Einsicht aus dem Studium des Aristoteles. Es liegt hier eines der merkwÝrdigsten Beispiele fÝr die Thatsache vor, welchen Vortheil in der ErklÈrung wahrhaft schwieriger IdeenzusammenhÈnge des Alterthums der Mitforschende vor dem Philologen voraus hat. „Die TragÚdie – sagt Aristoteles – ist die Nachahmung einer Handlung von wÝrdig bedeutendem Inhalt, durch handelnde Personen, nicht durch ErzÈhlung, welche vermittelst des Mitleids und der Furcht die Reinigung derartiger Leidenschaften hervorbringt.“ Also vermittelst des Mitleids und der Furcht wirkt die TragÚdie! Lessing wußte, was Niemand vor ihm vermuthet hatte: Mitleid und Furcht sind hier Ein Begriff; „diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.“ Und er fand zugleich die strenge BegrÝndung dieser genialen Interpretation durch eine Stelle im zweiten Buch der aristotelischen Rhetorik. „Alles das – sagt dort Aristoteles – ist uns fÝrchterlich, was, wenn es einem Anderen begegnet oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken wÝrde, und alles das finden wir mitleidswÝrdig, was wir fÝrchten wÝrden, wenn es uns selbst bevorstÈnde.“ – Die ganze Tiefe des tragischen Mitleids ward durch diese Auslegung des großen Dichters aufgedeckt. Mitempfindung, Mitfreude und Mitleid, ein Miterzittern unseres Inneren, wie eine zweite Saite mittÚnt, wo eine erste stark angeschlagen ist: dieses UrphÈnomen der menschlichen Seele – denn jede ZurÝckfÝhrung desselben auf andere psychologische Thatsachen halten wir fÝr vorlÈufig verfehlt – ist die elementare Thatsache auf welcher die Kunst des tragischen Dichters beruht. D1 Lessing gewann diese Einsicht aus dem Studium des Aristoteles. „Die TragÚdie – sagt Aristoteles – ist die Nachahmung einer Handlung von wÝrdig bedeutendem Inhalt, durch handelnde Personen, nicht durch ErzÈhlung, welche vermittelst des Mitleids und der Furcht die Reinigung derartiger Leidenschaften hervorbringt.“ Also vermittelst des Mitleids und der Furcht wirkt die TragÚdie. Lessing ging nun davon aus, daß Mitleid und Furcht hier in einer inneren psychologischen Beziehung aufeinander gedacht seien: Mitleid und Furcht sind hier Ein Begriff; „diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid“. Er berief sich hierfÝr auf eine Stelle im zweiten Buch der aristotelischen Rhetorik. „Alles das“ – sagt dort Aristoteles – „ist uns fÝrchterlich, was, wenn es einem anderen begegnet oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken wÝrde, und alles das finden wir mitleidswÝrdig, was wir fÝrchten wÝrden, wenn es uns selbst bevorstÈnde.“ Diese RÝckbeziehung der Furcht auf das Mitleid lÈßt sich weder philosophisch noch historisch halten. Das Wesentliche in der Lehre Lessings lag aber darin, daß er mit Aristoteles die Wirkung der TragÚdie in erster Linie auf das Mitleid zurÝckfÝhrte und dieses in seiner ganzen

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Tiefe faßte. Mitempfindung, Mitfreude und Mitleid, ein Miterzittern unseres Inneren, wie eine zweite Saite mittÚnt mit einer zuerst angeschlagenen: dieses UrphÈnomen der menschlichen Seele – denn jede ZurÝckfÝhrung desselben auf andere psychologische Tatsachen bleibt auch heute noch unsicher – ist die elementare Tatsache, auf welcher die Kunst des tragischen Dichters beruht. Dem Wortlaut nach in D2 und D3 Ýbernommen. 39, 34 – 55, 14 Noch bis Ausdruck: E Noch ist die TragÚdie nicht in Deutschland gedichtet in der sein Ideal erfÝllt wÈre. Hier erscheint nun der Zusammenhang seiner Dichtungen und seiner Èsthetischen Entdekkungen mit seinen nunmehr folgenden theologischen und philosophischen Forschungen. Ein neues LebensgefÝhl – wenn dieser Ausdruck gestattet ist – trug ihn und rang in seinen Werken nach vollem Ausdruck. D1 An die Stelle des zweiten Satzes von E, eingeschoben in den alten Text, rÝcken das neu geschriebene dritte Kapitel mit dem Erlebnisbegriff und die Àberschrift zum vierten, Der Kampf mit der Theologie; dieses vierte beginnt mit dem dritten, etwas verkÝrzten Satz aus E: Ein neues LebensgefÝhl trug Lessing und rang in seinen Werken nach vollem Ausdruck. D2 und D3 wie D1, von geringen VerÈnderungen abgesehen. 70, 14–16 Wie er bis sterlen.“: E Wie er sich ausdrÝckte: „endlich lassen sich doch die großen Wespen auch aus dem Loche schrecken.“ D1 wie E. D2 und D3 Wie er sich ausdrÝckte: „endlich lassen sich doch die großen Wespen auch aus dem Loche sterlen“. 72, 24–27 Dort bis Noch mehr [. . .]: E Dort hÈtte er schon die jetzt anerkannte Vermuthung finden kÚnnen, daß diese Glaubensformel erst den KÈmpfen des zweiten Jahrhunderts angehÚrte, wie denn die Spuren derselben in den pseudoignatianischen Briefen am meisten instruktiv sind. Noch mehr [. . .]. D1 Dort hÈtte er schon die jetzt anerkannte Vermutung finden kÚnnen, daß diese Glaubensformel, wenigstens als fixierte, erst den KÈmpfen des zweiten Jahrhunderts angehÚrte. Noch mehr [. . .]. In D2 und D3 steht das letzte Verb im PrÈsens. 72, 32–36 Die Èlteste bis Stelle traten: E Die Kirche der Èltesten Jahrhunderte hielt nicht eine Glaubensregel zusammen, nicht ein Kanon, Ýberhaupt keine geschriebene Lehre, sondern die apostolische Tradition, die AutoritÈt der Apostel, der ApostelschÝler, dann der Cleriker, welche an ihre Stelle traten – die Ordnung der Gemeinden also und keine Lehre. D1 im Wortlaut wie E. D2 und D3 Die Èlteste Kirche hielt nicht eine Glaubensregel zusammen, nicht ein Kanon, Ýberhaupt keine geschriebene Lehre, sondern ein lebensvoller religiÚser Gemeinbesitz, die apostolische Tradition, die AutoritÈt der Apostel, der ApostelschÝler, dann der Kleriker, welche an ihre Stelle traten. 73, 5–8 Er erscheint bis kommen [. . .]: E Er erscheint kritisch-philologisch Walch durchaus superior und hat wenigstens den Ge-

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brauch, welchen Walch von diesen Beweisstellen machte, gÈnzlich zurÝckgewiesen. Nur dies, weil man es zu einem Angriff auf Lessing benutzt hat: wenn LÝcke Lessing wie einen Dilettanten behandeln zu dÝrfen glaubt, und sich in diesem Verfahren darauf stÝtzt, daß derselbe sobald Walch’s Schrift erschienen selbst zu einer Begrenzung seiner Behauptung von der Geltung der Schrift in den ersten vier Jahrhunderten auf ihre Geltung bis zum nicÈnischen Concil genÚthigt worden sei: so Ýbersieht vielmehr e r , daß Lessing von vorn herein, bevor Walch’s Schrift erschien, seine Behauptung in diesen Grenzen gedacht hatte: denn er bemerkt schon 1778 (10, 247) ausdrÝcklich daß die Arianer diese Geltung des Kanons in die Kirche eingefÝhrt hÈtten. Wir kommen [. . .]. D1, D2 und D3 Er erscheint kritisch-philologisch Walch durchaus Ýberlegen und hat wenigstens den Gebrauch, welchen Walch von diesen Beweisstellen machte, gÈnzlich zurÝckgewiesen. Wir kommen [. . .]. 73, 20–24 Und er bis stehe: E Und er machte dann die tiefgreifende richtige Entdeckung daß diese frÝheste Fassung in einem nahen VerhÈltniß zu dem noch zur Zeit des Hieronymus vorhandenen hÈretischen Evangelium der Ebioniten stehe. D1 Und er stellte dann die in der Entwicklung der Forschungen Ýber das Urchristentum wirksame und noch heute von einigen Gelehrten vertretene Hypothese auf, daß diese frÝheste Fassung in einem nahen VerhÈltnis zu dem noch zur Zeit des Hieronymus vorhandenen Evangelium der HebrÈer stehe. In D2 und D3 die Form: Entwickelung, sonst Ýbereinstimmend mit D1. 73, 26–35 Lessings bis konstruierte: E Jede nÈhere Einsicht in die ParteiverhÈltnisse, unter denen sich die Evangelien bildeten, hat bestÈtigt daß die Èlteste Fassung des evangelischen Stoffs einer Anschauungsweise angehÚrte, welche die Kirche sehr bald darauf als Ebionitismus verdammte, daß also diese Fassung dem ebionitischen Evangelium nahestand von dem wir ja – man vergleiche nur Credner – Fragmente genug besitzen. Aber diese erste Fassung unterlag, bis zum ebionitischen Evangelium, wie es Hieronymus vor sich hatte, manchen Umgestaltungen, wir haben also auch in diesem nicht das einfache Urevangelium wie Lessing annahm. Dann bedarf Lessing’s Ansicht Ýber die Art wie dieses Urevangelium sich zu unseren Evangelien gestaltete der ErgÈnzung. Er hatte noch keine Einsicht in das Walten der mÝndlichen Tradition welche in der Evangelienbildung thÈtig war; noch keine Einsicht in die Einwirkung der ParteigegensÈtze auf dieselbe; endlich dachte er sich auch die Aufzeichnungen nicht mannichfaltig genug: die FÝlle des erregtesten Lebens in diesen christlichen Gemeinden war ihm noch nicht anschaulich genug, daher er den Vorgang der Evangelienbildung zu einfach construirte. D1 Jede nÈhere Einsicht in die ParteiverhÈltnisse, unter denen sich die Evangelien bildeten, hat bestÈtigt, daß die Èlteste Fassung des evangelischen Stoffes einer juden-christlichen Anschauungsweise angehÚrte, welche bald darauf zurÝckgedrÈngt wurde. Aber Lessing hatte noch keine Einsicht in das Walten der mÝndlichen Tradition, welche in der Evangelienbildung tÈtig war, und in die zeitgeschichtlichen VerhÈltnisse, welche die Àberlieferung der Worte Jesu umbildeten. Er dachte sich auch die Aufzeichnungen nicht mannigfaltig genug: die FÝlle des erregtesten Lebens in diesen christlichen Gemeinden war ihm noch nicht so anschaulich, daher er den Vorgang der Evangelienbildung zu einfach konstruierte. D2 Lessings Annahmen Ýber die ParteiverhÈltnisse, unter denen sich die Evangelien bildeten, haben außerordentlich wirksam bis auf Baur und dessen Schule in die Forschung eingegriffen, aber dem gegenwÈrtigen Stande derselben entsprechen sie doch nicht mehr, und Lessing hatte

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noch keine Einsicht in das Walten der mÝndlichen Tradition, welche in der Evangelienbildung tÈtig war, und in die zeitgeschichtlichen VerhÈltnisse, welche die Àberlieferung der Worte Jesu umbildeten. Er dachte sich auch die Aufzeichnungen nicht mannigfaltig genug: die FÝlle des erregtesten Lebens in diesen christlichen Gemeinden war ihm noch nicht so anschaulich, daher er den Vorgang der Evangelienbildung zu einfach konstruierte. D3 wie D2. 76, 12–13 verschwinden muß. bis zusammen: E verschwinden muß. Die Unterscheidung des Evangeliums und des neuen Testaments Johannis greift hier ferner ein, um Lessing’s Anschauung so weit sie gediehen war, zu erhellen. Wir fassen dieselbe nunmehr zusammen. D1, D2 und D3 verschwinden muß. Wir fassen Lessings Anschauung vom Christentum nunmehr zusammen. 78, 2 – 79, 12 Wir stehen bis Bildung [. . .]: E Vor dem HÚhepunkt seiner Forschungen stehen wir, vor seinem Testament an uns. Unser Gesichtskreis muß sich Ýber das Ganze der moralischen Welt erweitern, wollen wir hier ihm folgen. Denn dies ist der Horizont unter welchen, am Abschluß seines Lebens, fÝr Lessing auch die Religionen, auch das Christenthum fallen. Ernst und Falk Ýberschauen ihn, fÝr die Erziehung des Menschengeschlechts bildet er den Hintergrund – die Werke Lessing’s von 1779 und 1780. Ende des ersten Blocks, Beginn des zweiten von E: II. Wir stehen vor dem HÚhepunkt der Forschungen Lessing’s, vor seinem Testament an uns. Wir folgten seiner Entwickelung, wie, seitdem er in der Muße von Breslau zu einer zusammenhÈngenden schÚpferischen ThÈtigkeit sich wandte, zunÈchst die Form unserer Poesie von ihm reformirt ward, durch seine SchÚpfungen wie durch seine Èsthetischen Entdeckungen; wie er von da ab der grÚßeren Aufgabe sich zuwandte, die neue Empfindung des Lebens die in ihm war zu einem Lebensideal in der intuitiven Form der Dichtung, wie in wissenschaftlicher Reflexion auszugestalten und durch eine zusammenhÈngende Weltansicht zu begrÝnden; wie die Ueberreife der moralischen Reflexion in Deutschland ihn zwang diesem Lebensideal Raum zu schaffen gegenÝber den moralischen Begriffen der kirchlichen Orthodoxie, die mit der Enge des bÝrgerlichen Lebens verbÝndet war; wie er Ýber diesen Kampf hinwegstarb, vor der Zeit, bevor er das letzte Wort gesprochen. Dennoch muß der Versuch gewagt werden, das Resultat dieses großen Daseins zu ziehen. Unser Gesichtskreis muß sich Ýber die bisher behandelten GegensÈtze hinaus erweitern, wenn wir ihm hier folgen wollen. Das Universum der moralischen Welt – das ist der Horizont, unter welchen ihm, wenn er fÝr sich selber abschließt, auch die Religionen, auch das Christenthum fallen. Nachdem sich die europÈische Bildung [. . .]. D1 Wir stehen vor dem HÚhepunkt seiner Forschungen, vor Lessings Testament an uns. V. DIE WELTANSCHAUUNG LESSINGS. Unser Gesichtskreis muß sich Ýber das Ganze der moralischen Welt erweitern: denn dies ist Lessings Horizont, unter den ihm am Abschluß seines Lebens auch die Religionen, auch das Christentum fallen. Die GesprÈche Ernst und Falk, Nathan der Weise und die Erziehung des Menschengeschlechts behandeln ihren Gegenstand in seinem VerhÈltnis zu dem großen Zusammenhang der menschlichen Dinge – es war das in der allgemeinen Entwicklung vorbereitet. Nachdem sich die europÈische Bildung [. . .].

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D2 Die Erweiterung des einleitenden Passus von Kapitel V in D1 zum ersten Unterkapitel des V. Kapitels in D2 verdankt sich teilweise einer Umordnung einzelner Abschnitte vgl. z. B. unten Lessings LebensgefÝhl bis macht. (D2) und diesen Abschnitt unter 80, 32 – 81, 15 (D1). Wir stehen vor dem HÚhepunkt seiner Forschungen, vor Lessings Testament an uns. V. DIE WELTANSCHAUUNG LESSINGS. 1. Lessings LebensgefÝhl, der aus demselben gebildete Charakter stehen vor uns so oft wir in dies mÈnnliche, offene, wie durch seine bloße Klarheit heitere Gesicht blicken, so oft wir uns in den lebendigen, von der Leidenschaft des Denkens erregten Gang seines Stiles versenken, den Affekt der SelbstÈndigkeit mit ihm empfinden, der in seinen Helden lebt, ihre Worte so knapp, ihre Handlungen so auf der Hut gegen die Welt macht. Die Aufgabe wÈre, die verÈnderten Bedingungen des deutschen Lebens, welche zuerst die Erscheinung eines solchen Charakters mÚglich machten, in ihrem ganzen Umfang darzulegen. Aber das ist ein Gegenstand, Ýber den man nicht in der KÝrze reden kann, weil die fundamentalen Ideen fÝr eine solche Untersuchung erst vorgelegt werden mÝßten. Hierin ist also die Voraussetzung unserer ganzen Darstellung gelegen. Die natÝrliche Form fÝr die Aussprache des neuen LebensgefÝhls, das in Lessing hervortrat, war die Dichtung. DemgemÈß sahen wir Lessing zunÈchst um die BegrÝndung einer Dichtung in schÚpferischer Arbeit und wissenschaftlicher BegrÝndung bemÝht; wir sahen ihn den wahren Gegenstand aller Poesie im handelnden Menschen, das Ideal der Handlung in der freien erschÝtternden •ußerung der Leidenschaft entdecken. Die anschauliche Auffassung des Lebens in der Dichtung antiquierte damit die bisherigen begrifflichen Fassungen in der von der Theologie beeinflußten Moral. Und sollte dies Lebensideal freie Luft bekommen, in welcher es zu atmen vermÚchte, so mußte Lessing es wissenschaftlich rechtfertigen gegenÝber den theologischen Begriffen. Hier genÝgte nicht zwischen ihm und der orthodoxen Theologie eine Wand zu ziehen. Eins nur von beiden konnte leben; denn beider Dasein war die LÚsung desselben Problems vom menschlichen Leben durch ganz widersprechende Begriffe. Dieser Kampf hatte damit geendigt, daß der fundamentale Begriff der protestantischen Theologie, die BegrÝndung der Lehre auf einen inspirierten Schriftkanon, vernichtet, daß dagegen das Christentum, dessen historisch-kritische Anschauung sich nunmehr aus diesem Scholastizismus erhob, in seiner ewigen Bedeutung fÝr die moralische Welt gewÝrdigt ward – nein! doch aber gewÝrdigt zu werden begann. Und nun war freie Bahn fÝr die positive Gestaltung des neuen Lebensideals und der in ihm gegrÝndeten Weltanschauung. Hier muß sich unser Gesichtskreis Ýber das Ganze der moralischen Welt erweitern: denn dies ist Lessings Horizont, unter den ihm am Abschluß seines Lebens auch die Religionen, auch das Christentum fallen. Die GesprÈche Ernst und Falk, Nathan der Weise und die Erziehung des Menschengeschlechts behandeln ihren Gegenstand in seinem VerhÈltnis zu dem großen Zusammenhange der menschlichen Dinge – es war das in der allgemeinen Entwickelung vorbereitet. Nachdem sich die europÈische Bildung [. . .]. D3 wie D2. 79, 24–27 Die befreiende bis gegrÝndet: E In der Erfindung des Nathan bediente sich Lessing der befreienden Gewalt welche dieser Erweiterung des Gesichtskreises beiwohnt. Ja Ernst und Falk erscheint dann geradezu auf die Montesquieu’schen Ideen gegrÝndet. D1 In der Erfindung des „Nathan“ benutzte Lessing die befreiende Macht, welche dieser Erwei-

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terung des Gesichtskreises beiwohnt. Und die FreimaurergesprÈche Ernst und Falk sind geradezu auf die Montesquieuschen Ideen gegrÝndet. D2 und D3 Die befreiende Macht, welche dieser Erweiterung des Gesichtskreises beiwohnt, macht sich zunÈchst in den drei ersten FreimaurergesprÈchen Ernst und Falk (1778) geltend: sie sind geradezu auf die Montesquieuschen Ideen gegrÝndet. 80, 32 – 81, 15 Die deutsche Bildung bis denken lehrt: E Die deutsche Bildung, unvollkommen noch, aber durch ihre ganz anderen Bedingungen harmonisch und positiv geartet, hat diesen Gedanken zu einer mit allen Kulturgestalten versÚhnten Weltmacht erhoben. Es kann nicht Ýbergangen werden daß Lessing das Freimaurerwesen in Beziehung zu der Idee der HumanitÈt setzt. Ernst und Falk ist hierdurch fÝr den Freimaurerorden von großer Bedeutung geworden. Denn Herder und GÚthe gehen auf diese Beziehung ebenfalls lebhaft ein. Noch in der geheimen Gesellschaft des Wilhelm Meister klingt dieselbe nach. Das neue LebensgefÝhl welches in Lessing arbeitete, als er, zwanzig Jahre alt, Theologie, dann Medicin, jede eingeschrÈnkte ThÈtigkeit verließ um seiner freien Bildung zu leben, ist nun zu einem neuen Lebensideal, welches die Deutschen seiner Zeit ergriff, gereift. Von hier aus also muß die bisherige Darstellung seiner wissenschaftlichen Forschungen in ihrer Einheit verstanden werden. VermÚge dieser Forschungen hat er aus der inneren, nur anschaulich sich selber gegenwÈrtigen Verfassung des Charakters dieses Ideal zu klarem Begriff entwickelt und inmitten der gesammten ihm gegenÝberstehenden Wissenschaft, die hinter dem LebensgefÝhl der Zeit zurÝckgeblieben war, gerechtfertigt. Dieses ihm eigene LebensgefÝhl, dieser aus demselben gebildete Charakter stehen vor uns so oft wir in dies mÈnnliche offene, wie durch seine bloße Klarheit heitere Gesicht blicken, so oft wir uns in den lebendigen, von der Leidenschaft des Denkens erregten Gang seines Styls versenken, so oft wir den Affekt der SelbstÈndigkeit der in seinen Helden lebt, ihre Worte so knapp, ihre Handlungen so auf der Hut gegen die Welt macht, mit ihm empfinden. Und dies LebensgefÝhl selber in ihm? Stehen wir hier an der Grenze der geschichtlichen Einsicht? Der geschichtliche Forscher durchwÝhlt den Boden, welchen die Wurzeln einer mÈchtigen Eiche durchziehn, die Bedingungen ihrer Kraft in ihm zu entdecken. Er thut recht daran, es ist das kÝhnste zu dem sich die Analyse der einzelnen Erscheinungsgruppe erheben kann! Und so bleibt hier die Aufgabe, die verÈnderten Bedingungen des deutschen Lebens, welche zuerst die Erscheinung eines solchen Charakters mÚglich machten, in ihrem ganzen Umfang darzulegen. Aber das ist ein Gegenstand Ýber den man nicht in der KÝrze reden kann, weil die fundamentalen Ideen fÝr eine solche Untersuchung erst vorgelegt werden mÝßten. Hier also liegt die Voraussetzung unserer ganzen Darstellung. Man wird dann weiter einsehen daß die natÝrliche Form fÝr die Aussprache eines solchen neuen LebensgefÝhls die Dichtung ist. DemgemÈß sehen wir Lessing zunÈchst um die BegrÝndung einer Dichtung in schÚpferischer Arbeit und wissenschaftlicher BegrÝndung bemÝht; wir sehen ihn den wahren Gegenstand aller Poesie im handelnden Menschen, das Ideal der Handlung in der ganz freien erschÝtternden Aeußerung der Leidenschaft entdecken. Die anschauliche Auffassung des Lebens in der Dichtung antiquirte damit die bisherigen begrifflichen Fassungen in der von der Theologie beeinflußten Moral. Und sollte dies Lebensideal freie Luft bekommen, in welcher es zu athmen vermÚchte, so konnte er sich nicht damit begnÝgen sich dichterisch auszusprechen, ganz durchdrungen wie unsere Nation war von Schulbildung, von Begriffen, von systematischem Denken. Er mußte sich diesem allem gegenÝber in Begriffen wissenschaftlich rechtfertigen, von der Bevormundung der theologischen Begriffe befreien. Hier genÝgte nicht zwischen ihm und der Theologie eine Wand zu ziehen. Eins nur von beiden konnte leben:

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denn beider Dasein war die LÚsung desselben Problems vom menschlichen Leben durch ganz widersprechende Begriffe. Dieser Kampf endigte damit, daß der fundamentale Begriff der protestantischen Theologie, die BegrÝndung der Lehre auf einen inspirirten Schriftkanon, vernichtet, daß dagegen das Christenthum, dessen historisch-kritische Anschauung sich nunmehr aus diesem Scholasticismus erhob, in seiner ewigen Bedeutung fÝr die moralische Welt gewÝrdigt ward – nein! doch aber gewÝrdigt zu werden begann. Und nun gestaltete sich das letzte: dies Lebensideal suchte sich positiv zu verdeutlichen in Begriffen und ihm selber gemÈß den Zusammenhang der Welt zu denken. Es bezeichnet die Grenze in Lessing’s geschichtlicher Stellung, daß auch hier der Gesichtspunkt einer Auseinandersetzung mit der Theologie die positive Darstellung beeinflußt, daß die Probleme und Resultate der anderen Wissenschaften ihm ferner stehen. Niemand vielleicht in Deutschland, auch GÚthe nicht, hatte diesen Geierblick Welt und Menschen zu durchschauen der Lessing eigen war. Aber sein geschichtliches Studium und seine Analyse der moralischen Begriffe blieben eingeschrÈnkt. Daher denn Kant’s Lebensideal, obwohl es viel einseitiger, viel weniger auf eine volle reife Menschennatur gegrÝndet war, doch unvergleichlich eingreifender gewirkt hat: er war der Begriffe mÈchtig. Erst unserer Generation kann gelingen die moralischen Untersuchungen Ýber ihn hinauszufÝhren: denn wir sind zugleich der Geschichte mÈchtig. Wenn die folgende Darstellung also hier und da zu stammeln scheint, so ist es weil Lessing nicht Ýberall die Sprache fand, in welcher allein wissenschaftliche Wahrheiten ausgedrÝckt werden kÚnnen, die Sprache der Begriffe: es ist weil er sein Ideal ganz und voll nur in der anschaulichen Form des Nathan uns zurÝckgelassen hat, dieses unvergÈnglichen Gedichts, das wohl wie Iphigenien kein ernster Forscher der menschlichen Natur lesen kann ohne daß sein Auge feucht wird: so leibhaftig, so wahr erscheint in ihnen eine reine SeelengrÚße, welche uns von der menschlichen Natur Ýber alle unsere Erfahrung hinaus besser denken lehrt. D1 Schluß des einleitenden Teils von Kapitel V und Beginn seines ersten Unterkapitels: Die deutsche Bildung, unvollkommen noch, aber durch ihre ganz anderen Bedingungen harmonisch und positiv geartet, hat ihn zu einer mit allen Kulturgestalten versÚhnten Weltmacht erhoben. Der ganze Gang unserer Geschichte gab dem deutschen Geiste die Richtung auf UniversalitÈt. Melanchthon erfaßte die menschliche Einheit, welche die Bildung der klassischen VÚlker und das Christentum verknÝpft. Leibniz unternahm die Harmonie der Ideen und der Lebensverfassung herzustellen, in der die grÚßten MÈchte der menschlichen Kultur, Altertum, Christentum und moderne Wissenschaft ihre Stelle behaupten. Damit war ein harmonisches und positives Ideal der HumanitÈt vorbereitet, das in jeder geschichtlichen Erscheinung den menschlichen Kern erfaßte. Zu diesem Lebensideal war das neue LebensgefÝhl, von dem wir Lessing erfÝllt sahen, nun gereift. 1. Lessings LebensgefÝhl, der aus demselben gebildete Charakter stehen vor uns so oft wir in dies mÈnnliche, offene, wie durch seine bloße Klarheit heitere Gesicht blicken, so oft wir uns in den lebendigen, von der Leidenschaft des Denkens erregten Gang seines Stils versenken, den Affekt der SelbstÈndigkeit, der in seinen Helden lebt, ihre Worte so knapp, ihre Handlungen so auf der Hut gegen die Welt macht, mit ihm empfinden. Und dieses LebensgefÝhl – stehen wir hier an der Grenze der geschichtlichen Einsicht? Der geschichtliche Forscher durchwÝhlt gleichsam den Boden, welchen die Wurzeln einer mÈchtigen Eiche durchziehen, die Bedingungen ihrer Kraft in ihm zu entdecken. So bleibt auch fÝr Lessing die Aufgabe, die verÈnderten Bedingungen des deutschen Lebens, welche zuerst die Erscheinung eines solchen Charakters mÚglich machten, in ihrem ganzen Umfang darzulegen. Aber das ist ein Gegenstand, Ýber den man nicht in der KÝrze reden kann, weil die fundamen-

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talen Ideen fÝr eine solche Untersuchung erst vorgelegt werden mÝßten. Hier ist also die Voraussetzung unserer ganzen Darstellung. Die natÝrliche Form fÝr die Aussprache eines solchen neuen LebensgefÝhls war die Dichtung. DemgemÈß sahen wir Lessing zunÈchst um die BegrÝndung einer Dichtung in schÚpferischer Arbeit und wissenschaftlicher BegrÝndung bemÝht; wir sahen ihn den wahren Gegenstand aller Poesie im handelnden Menschen, das Ideal der Handlung in der freien erschÝtternden •ußerung der Leidenschaft entdecken. Die anschauliche Auffassung des Lebens in der Dichtung antiquierte damit die bisherigen begrifflichen Fassungen in der von der Theologie beeinflußten Moral. Und sollte dies Lebensideal freie Luft bekommen, in welcher es zu atmen vermÚchte, so mußte Lessing es wissenschaftlich rechtfertigen gegenÝber den theologischen Begriffen. Hier genÝgte nicht zwischen ihm und der Theologie eine Wand zu ziehen. Eins nur von beiden konnte leben; denn beider Dasein war die LÚsung desselben Problems vom menschlichen Leben durch ganz widersprechende Begriffe. Dieser Kampf hatte damit geendigt, daß der fundamentale Begriff der protestantischen Theologie, die BegrÝndung der Lehre auf einen inspirierten Schriftkanon, vernichtet, daß dagegen das Christentum, dessen historisch-kritische Anschauung sich nunmehr aus diesem Scholastizismus erhob, in seiner ewigen Bedeutung fÝr die moralische Welt gewÝrdigt ward – nein! doch aber gewÝrdigt zu werden begann. Und nun gestaltete sich das Letzte: Lessing suchte dies Lebensideal positiv zu verdeutlichen in Begriffen und ihm gemÈß den Zusammenhang der Welt zu denken. Es bezeichnet die Grenze in Lessings geschichtlicher Stellung, daß auch hier der Gesichtspunkt einer Auseinandersetzung mit der Theologie die positive Darstellung beeinflußte, daß die Probleme und Resultate der anderen Wissenschaften ihm ferner standen. Niemand vielleicht in Deutschland, auch Goethe nicht, hatte diesen Geierblick, Welt und Menschen zu durchschauen, der Lessing eigen war. Aber sein geschichtliches Studium und seine Analyse der moralischen Begriffe blieben eingeschrÈnkt. Daher denn Kants Lebensideal, obwohl es viel einseitiger, viel weniger auf eine volle reife Menschennatur gegrÝndet war, doch in der Philosophie eingreifender gewirkt hat: er war der Begriffe mÈchtig. Erst unserer Generation kann es gelingen die moralischen Untersuchungen Ýber Kant hinauszufÝhren: denn wir sind zugleich der Geschichte mÈchtig. Wenn die folgende Darstellung hier und da zu stammeln scheint, so ist es also darum, weil Lessing nicht Ýberall die Sprache fand, in welcher allein wissenschaftliche Wahrheiten ausgedrÝckt werden kÚnnen, die Sprache der Begriffe. Er hat sein Ideal ganz und voll nur in der anschaulichen Form des „N a t h a n “ uns zurÝckgelassen, dieses unvergÈnglichen Gedichts, das wohl wie Iphigenien kein ernster Forscher der menschlichen Natur lesen kann ohne daß sein Auge feucht wird: so leibhaftig, so wahr erscheint da eine reine SeelengrÚße, welche uns von der menschlichen Natur Ýber alle unsere Erfahrung hinaus besser denken lehrt. D2 Schluß des ersten Unterkapitels von Kapitel V und Beginn des zweiten. Bei den KÝrzungen der Bearbeitung von D1 fÝr D2 fallen einige Abschnitte ganz weg, einige rÝcken in andere ZusammenhÈnge; vgl. z. B. oben Lessings LebensgefÝhl bis macht in D1 und diesen Abschnitt unter 78, 2 – 79, 12 in D2. Die deutsche Bildung, unvollkommen noch, aber durch ihre ganz anderen Bedingungen harmonisch und positiv geartet, hat ihn zu einer mit allen Kulturgestalten versÚhnten Weltmacht erhoben. Der ganze Gang unserer Geschichte gab dem deutschen Geiste die Richtung auf UniversalitÈt. Melanchthon erfaßte die menschliche Einheit, welche die Bildung der klassischen VÚlker und das Christentum verknÝpft. Leibniz unternahm, die Harmonie der Ideen und der Lebensverfassung herzustellen, in der die grÚßten MÈchte der menschlichen Kultur, Altertum, Christentum und moderne Wissenschaft ihre Stelle behaupten. Damit war ein harmonisches und positives Ideal der HumanitÈt vorbereitet, das in jeder geschichtlichen Erscheinung den menschlichen Kern erfaßte.

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In zwei Linien setzte sich nun Lessings letzte Lebensarbeit fort. Er gab seiner Anschauung vom Menschen und dem Leben einen letzten und hÚchsten dichterischen Ausdruck im Nathan, und er unternahm, sein Lebensideal in Begriffen zu verdeutlichen und ihm gemÈß den Zusammenhang der Welt zu denken. So hat er in beiden Ausdrucksweisen am Schlusse seines Lebens positiv seine Lebens- und Weltansicht ausgesprochen. 2. Ganz und voll hat uns Lessing sein Ideal nur in der kÝnstlerischen Form des Nathan zurÝckgelassen, in diesem unvergÈnglichen Gedicht, das wohl wie Iphigenien kein ernster Erforscher der menschlichen Natur lesen kann, ohne daß sein Auge feucht wird: so leibhaftig, so wahr erscheint da eine reine SeelengrÚße, welche uns von der menschlichen Natur Ýber alle unsere Erfahrung hinaus hÚher denken lehrt. D3 wie D2. 81, 15 – 94, 16 In Goethe bis Kern dieses Wortes?: E In GÚthe Ýberhaupt setzt sich diese Verbindung von Poesie und Wissenschaft fort, durch welche Lessing unserer Literatur ihren Charakter gab. Auch seine SchÚpfungen sprechen, und mit viel grÚßerer Freiheit, dem LebensgefÝhl der verschiedenen Epochen seines Daseins folgend, ein neues Lebensideal in seiner Entwickelung aus, was keine Dichtung bis dahin gethan hatte. Auch er bedurfte daher die Verbindung mit der Wissenschaft. Die Handlung des Nathan ist ganz eingesponnen in eine Idee welche ihr einen zweiten, allegorischen Sinn giebt. Man hat oft gefragt warum dies Gedicht so paradox anstatt mit einer Heirath mit einer Erkennungsscene endigt welche die Hauptpersonen zu Gliedern Einer Familie vereinigt. FÝr den welcher die Handlung bei einer gewÚhnlichen AuffÝhrung an sich vorÝbergehen lÈßt sind die feinen Andeutungen der Thatsache, daß Recha den Tempelherrn nicht liebt, zweifellos verloren. Aber auch wo das VerstÈndniß einer bedeutenderen Schauspielerin nachhilft, fÝhlt er sich nothwendig enttÈuscht, ja vÚllig desorientirt, nur nicht am Schluß, sondern schon vorher. Dieser dramatische Fehler ward begangen um die allegorisch dargestellte Idee zu vollem Ausdruck zu bringen. Nicht durch den Affekt welcher die Kluft der Geburt, des Bluts, ja des religiÚsen Glaubens selber Ýberspringt, soll hier zwischen Judenthum und Christenthum das Band geknÝpft erscheinen; vielmehr blutsverwandt sind die Nationen, sind die großen Religionen, welche sich in die Erde theilen. Fremd, ja feindlich einander gegenÝbertretend, entdecken sie daß sie Eine Familie bilden. Das ist das große Geheimniß welches der Schluß symbolisch ausdrÝckt. Auf Einem Stamm sind die religiÚsen Ideen gewachsen, entsprossen aus einer Einheit des ersten Glaubens; sie bilden Eine Entwickelung der religiÚsen Vernunft. Diese ihm im Banne der einzelnen Kirchen unbewußte Thatsache erhebt der Mensch zum Bewußtsein indem er sein Wesen als den Kern in allen heterogensten Kulturentwickelungen erkennt. Immer wieder spricht Lessing diesen seinen idealistischen Grundgedanken aus, welchem gemÈß der Kern des Menschen von den auf ihn eindringenden besonderen Kulturbedingungen ganz unabhÈngig, diese nur seine UmhÝllung sind. „Ich weiß wie gute Menschen denken; weiß daß alle LÈnder gute Menschen tragen.“ – „Mit Unterschied doch hoffentlich?“ – „Ja wohl; an Farb’, an Kleidung, an Gestalt verschieden.“ Ein Wort Nathan’s als dessen energische AusfÝhrung jenes berÝhmte von Saladin erscheint: „Bleibst du bei mir? Als Christ, als Muselmann: Gleichviel! Im weißen Mantel oder Jamerlonk; im Turban oder deinem Fetze: wie du willst! Gleichviel! Ich habe nie verlangt, daß allen BÈumen Eine Rinde wachse.“ – Wie Schiller von Rousseau sagt daß er „aus Christen Menschen warb,“ so lÈßt Lessing Nathan ausrufen: „Ach! wenn ich einen mehr in euch gefunden hÈtte dem es genÝgt ein Mensch zu heißen.“ Ein Mensch – wie entwickle ich nach Lessing den Kern dieses Worts? D1 wie E, von kleinen orthographischen und stilistischen VerÈnderungen abgesehen.

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D2 AnfÈngliche Àbereinstimmung mit E und D1 dem Wortlaut nach von: In GÚthe bis getan hatte. Darauf folgt neu, das zweite Unterkapitel von Kapitel V hauptsÈchlich ausmachend: Biographisches im Blick auf den Nathan; seine Einordnung in den Zusammenhang der europÈischen Literaturentwicklung und der Vergleich mit Werken Voltaires; eine Interpretation als Gedankendrama, in die der in E zitierte Text (s. o.) eingeht. Abschluß zu Nathan und zugleich Beginn des dritten Unterkapitels von Kapitel V bilden, mit einem ein- und einem Ýberleitenden Satz versehen, die folgenden Abschnitte, die in E und D1 vorausgehen, also in D1 im ersten Unterkapitel von Kapitel V stehen (vgl. oben unter 80, 32 – 81, 15 in E oder D1: Es bezeichnet bis Sprache der Begriffe.). 3. Was im Nathan dichterisch ausgesprochen war, hat Lessing auch begrifflich darzustellen unternommen. Es bezeichnet die Grenze in Lessings geschichtlicher Stellung, daß auch hier der Gesichtspunkt einer Auseinandersetzung mit der Theologie die positive Darstellung beeinflußte und die Probleme und Resultate der anderen Wissenschaften ihm ferner standen. Niemand vielleicht in Deutschland, auch Goethe nicht, hatte diesen Geierblick, Welt und Menschen zu durchschauen, der Lessing eigen war. Aber sein geschichtliches Studium und seine Analyse der moralischen Begriffe blieben eingeschrÈnkt. Daher denn Kants Lebensideal, obwohl es viel einseitiger, viel weniger auf eine volle reife Menschennatur gegrÝndet war, doch in der Philosophie eingreifender gewirkt hat: er war der Begriffe mÈchtig. Erst unserer Generation kann es gelingen, die moralischen Untersuchungen Ýber Kant hinauszufÝhren: denn wir sind zugleich der Geschichte mÈchtig. Wenn die folgende Darstellung hier und da zu stammeln scheint, so ist es also darum, weil Lessing nicht Ýberall die Sprache fand, in welcher allein wissenschaftliche Wahrheiten ausgedrÝckt werden kÚnnen, die Sprache der Begriffe. Der Nathan ist erfÝllt vom Ideal der Menschlichkeit – wie entwickele ich nach Lessing den Kern dieses Wortes? D3 wie D2. 94, 28–32 Diese Unterscheidung bis Geschichte: E Diese Unterscheidung welche dem wissenschaftlichen Denken zugesteht daß es allein eine gleichmÈßig wachsende Macht ist, welche einen Fortschritt zu bewirken im Stande ist, andererseits aber dem Handeln seine volle WÝrde sichert, enthÈlt den Keim zu jeder tieferen Einsicht in die Philosophie der Geschichte. D1 Diese Unterscheidung, welche dem wissenschaftlichen Denken zugesteht, daß es allein eine gleichmÈßig wachsende Macht ist, welche einen Fortschritt zu bewirken imstande ist, und doch zugleich dem Handeln seine volle WÝrde sichert, enthÈlt den Keim zu jeder tieferen Einsicht in die Geschichte. D2 und D3 mit einer Korrektur: Statt: welche einen Fortschritt: die einen Fortschritt. 96, 28 – 97, 31 Ein volles Behagen bis bestimmte: E Ein volles Behagen an Lessing wird immer nur mÈnnlichen Naturen mÚglich sein. So entwickelte sich aus dem LebensgefÝhl Lessing’s ein Ideal welches den Charakter aller Motive des vollkommenen Handelns bestimmte. D1 Zwischen diese beiden SÈtze, die in E aufeinander folgen, fÝgt D. einen neuen Text ein und beginnt mit dem zweiten Satz in D1 das zweite, in D2 und D3 das vierte Unterkapitel von Kapitel V. Ein volles Behagen an Lessing wird immer nur mÈnnlichen Naturen mÚglich sein. So scheiden sich die Zeiten! Welch einen Kontrast bildet dieses Lebensideal Lessings zu dem Glauben des Reformationszeitalters. Analysiert man die zentrale Àberzeugung jener großen Epoche von Luther, Zwingli und Melanchthon, die Lehre von der Rechtfertigung allein durch

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den Glauben, so ist die Bedingung fÝr diese das alldurchdringende GefÝhl der Ohnmacht zu guten Handlungen, die gÈnzliche Jenseitigkeit des WeltschÚpfers und Weltrichters, dessen absolutes Recht, die aus seiner Heiligkeit stammenden AnsprÝche an seine Kreatur trotz der ihr mitgegebenen Ohnmacht durchzusetzen. Diese ganze Lebensverfassung, welche die Voraussetzung der protestantischen Rechtfertigungslehre bildet, ist vergangen, und damit hat die Rechtfertigung durch den Glauben keinen Sinn mehr fÝr uns. Folgerichtig mußte das Reformationszeitalter dann das BedÝrfnis haben, im Interesse der Seligkeit dem hÚchsten Richter genug zu tun. Alle religiÚsen KÈmpfe jener Tage betreffen die Mittel und Wege, VersÚhnung mit Gott zu erlangen. So haben auch sie fÝr uns nur noch ein historisches Interesse. In dieser Rechtfertigungslehre lag eine Transzendenz des LebensgefÝhls: der Mensch setzt sich nicht mit sich selbst, sondern mit einem jenseitigen Richter auseinander. Schon im Zeitalter der Reformation entstanden nun auf Grund der vielseitigen europÈischen Kultur die Bewegungen, welche diese protestantischen Dogmen Ýberwunden haben. AllmÈhlich vollzogen die religiÚsen VorgÈnge, die vornehmlich in den Sekten verliefen, in folgerichtiger innerer Dialektik von innen die AuflÚsung der einzelnen Dogmen, und von außen wirkte dann die neue europÈische Kultur, die von der Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts ausging und die Voraussetzungen selber zerstÚrte, unter denen diese Dogmen sich gebildet hatten. So entstand die religiÚse AufklÈrung. Die englischen Freidenker, die franzÚsischen Zweifler und die deutschen AufklÈrer zeigen eine sehr verschiedene Physiognomie; aber in Einem stimmen sie Ýberein: der Gedanke der UnabhÈngigkeit des moralisch-religiÚsen Prozesses im Individuum gelangte nun zu vollstÈndigem Sieg. Die deutsche Form dieser neuen Seelenverfassung tritt uns am tiefsten entgegen in Lessing und in dem Kant der jugendlichen und ersten mÈnnlichen Zeit, soweit es gelingt, diesen wieder herzustellen. Beide stehen mit Friedrich dem Großen zusammen in den SÈtzen: der Mensch ist zum Handeln geboren; der Weg des Menschen fÝhrt aus der DÈmmerung in die DÈmmerung, und wÈhrend des Tages, der dazwischen liegt, ist unser Pfad nur erleuchtet durch das moralische Bewußtsein. In diesem Zusammenhang hat sich nun Lessing mit der protestantischen Theologie auseinandergesetzt und so seine auch fÝr uns heute gÝltigen Resultate gewonnen. Das Bleibende der Reformation ist die Befreiung von der Knechtschaft der Hierarchie und die BegrÝndung der religiÚsen Àberzeugung aus der inneren Erfahrung. VergÈnglich aber ist die neue Knechtschaft unter dem Buchstaben. Ihr gegenÝber ist die alte Sektenlehre vom inneren Licht durch Lessing und sein Zeitalter in die Wissenschaft eingefÝhrt worden. 2. So entwickelte sich aus dem LebensgefÝhl Lessings ein Ideal, welches den Charakter aller Motive des vollkommenen Handelns bestimmte. D2 Abgesehen von der Verschiebung der Kapitel, wird eine Stelle der ErgÈnzung in D1 (vgl. oben Folgerichtig bis Richter auseinander.) in D2 verkÝrzt zu: Und wenn nun weiter alle religiÚsen KÈmpfe jener Tage die Mittel und Wege betreffen, VersÚhnung mit Gott zu erlangen, so haben auch diese fÝr uns nur noch ein historisches Interesse. D3 wie D2. 98, 29 Theater zu verlangen: E enthÈlt, auf dieses Stichwort folgend, Anmerkungen zu Emilia Galotti als Beleg fÝr Lessings Determinismus; sie sind weitgehend in das fÝr D1 neu konzipierte dritte Kapitel Ýbernommen worden. Vgl. Lessing (1910) 54, 6–39. 103, 20–21 Niemand bis erklÈrt: E Niemand hat sie gestellt. Die Antwort liegt in Dippel’s genialer Schrift fatum fatuum oder die thÚrichte Nothwendig-

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keit. Man kann sie nicht lesen ohne nebenbei zu bemerken, wie wenig dieser bedeutende philosophische Kopf bisher noch gewÝrdigt worden ist. Unter anderem findet man hier eine Anticipation der Schopenhauer’schen Theorie von der secundÈren Bedeutung des Intellekts gegenÝber dem Willen. Also Dippel erklÈrt: D1, D2und D3 Niemand hat sie gestellt. Dippel erklÈrt: 105, 3–4 Dieser Panentheismus bis zuschrieb: E Dieser Pantheismus Lessing’s – wenn die Bezeichnung zutreffend erscheint – ist ganz verschieden von demjenigen, welchen Jakobi dem Spinoza zuschrieb. D1, D2 und D3 Dieser Panentheismus Lessings ist ganz verschieden von der Lehre, welche Jacobi dem Spinoza zuschrieb. 111, 14 – 112, 5 Daher bis geschehen ist: E Daher der eigene Charakter unserer Literatur daß die Dichter zugleich als wissenschaftliche Forscher auftreten, daß ihre poetische Entwickelung zugleich durch die Entwickelung ihrer Forschungen bedingt ist. Was folgte nicht alles daraus! Aber hier ist nicht der Ort, mehr als Andeutungen dieses wahren Zusammenhangs in der Entstehung unserer Literatur zu geben. Genug daß man sieht aus welchem Gesichtspunkt hier Lessing als der eigentliche BegrÝnder unserer Literatur dargestellt ist. In ihm ward das neue LebensgefÝhl intuitiv und wissenschaftlich zum bewußten Lebensideal entwickelt, gegenÝber den theologischen Begriffen der Epoche durch einen Kampf auf Tod und Leben mÈchtig zur Herrschaft erhoben, zu einer neuen positiven Weltansicht gestaltet. Er ist der unsterbliche FÝhrer des modernen deutschen Geistes. D1 Daher der eigene Charakter unserer Literatur, daß die Dichter zugleich als wissenschaftliche Forscher auftreten, daß ihre poetische Entwicklung zugleich durch die Entwicklung ihrer Forschungen bedingt ist. Diese Momente bestimmen Lessings geschichtliche Stellung. Lessing ist der unsterbliche FÝhrer des modernen deutschen Geistes. Der große KÚnig, Lessing und der jugendlich-mÈnnliche Kant stehen nebeneinander. Ein heiter-klares kÝhles Morgenlicht umgibt sie. Verstandesheller Wille hat in ihnen den gelehrten, theologischen, pietistischen Dunstkreis des deutschen geistigen Lebens zerstreut. Und wer weiß, ob wir nicht aus der GefÝhlsproblematik Rousseaus, Goethes und der Romantik, der alten wie der neuesten, zu einer mÈnnlicheren, hÈrteren und verstandeshelleren Art, Ýber Arbeit, Pflicht, Liebe, Ehe, Religion und Staat zu denken, bald fortschreiten werden, fortschreiten mÝssen? Dann werden der KÚnig, der Philosoph und der Dichter-Schriftsteller der AufklÈrung von uns tiefer verstanden, wÈrmer geliebt und besser genÝtzt werden, als seit Herder, Goethe und Schiller geschehen ist. D2 Daher der eigene Charakter unserer Literatur, daß die Dichter zugleich als wissenschaftliche Forscher auftreten, daß ihre poetische Entwickelung zugleich durch die Entwickelung ihrer Forschungen bedingt ist. Die Schranken, in denen Lessings Wirken verlaufen ist, waren die seiner Zeit. Das Geschichtliche war dem Sohne der AufklÈrung nur wechselndes Gewand der Ýberall und immer gleichen Menschennatur. So sah er noch in allen Religionen nur Stufen, in denen sich die ideale Religion der Menschlichkeit realisiert, die einst alle echten wahrhaftigen Menschen unter sich vereinigen wird. Er sah noch nicht, daß jeder positive Glaube, als Symbol des religiÚsen Erlebnisses, seinen bodenstÈndigen Eigenwert hat. Sein Lebensideal war einfÚrmig und abstrakt-moralisch, seine Auffassung der Dichtung verstandesmÈßig und regelhaft. Die Aufgabe war und sie ist es noch heute, die Wahrheit, die in diesem Standpunkt der AufklÈrung liegt, zu versÚhnen

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mit der historischen Weltansicht, mit der Erkenntnis der RelativitÈt alles Daseins. Das Menschliche ist nirgend ganz, und es ist doch Ýberall. Es kann nie durch Begriffe erschÚpft werden, und doch gewahren alle Ideale der Menschheit, alle Lebensansichten irgendeine Seite dieses UnergrÝndlichen. Das sind die Momente, welche Lessings geschichtliche Stellung bestimmen. Lessing ist der unsterbliche FÝhrer des modernen deutschen Geistes. Der große KÚnig, Lessing und der jugendlich-mÈnnliche Kant stehen nebeneinander. Ein heiter-klares kÝhles Morgenlicht umgibt sie. Verstandesheller Wille hat in ihnen den gelehrten, theologischen, pietistischen Dunstkreis des deutschen geistigen Lebens zerstreut. Und wer weiß, ob wir nicht aus der GefÝhlsproblematik Rousseaus, Goethes und der Romantik, der alten wie der neuesten, zu einer mÈnnlicheren, hÈrteren und verstandeshelleren Art, Ýber Arbeit, Pflicht, Liebe, Ehe, Religion und Staat zu denken, bald fortschreiten werden, fortschreiten mÝssen? Ob wir nicht manches von dem zurÝckholen mÝssen, was wir von den Idealen der AufklÈrung aufgegeben haben? Dann werden der KÚnig, der Philosoph und der Dichter-Schriftsteller der AufklÈrung von uns tiefer verstanden, wÈrmer geliebt und besser genÝtzt werden, als seit Herder, Goethe und Schiller geschehen ist. D3 wie D2.

Anmerkungen Zitate aus Lessings Werken werden wie in D.s Anmerkungen nach der Lachmann-Munckerschen Ausgabe (LM) nachgewiesen, die D. offensichtlich benutzt hat (vgl. oben Textbearbeitung 70, 14–16 und unten Anm. 70, 14–16). 17, 22 sein Vater: G. Lessing gehÚrte zum Kamenzer Zweig der Familie. Strenger Lutheraner, Archidiakonus (zweiter Geistlicher), spÈter Pastor Primarius an der Hauptkirche St. Marien zu Kamenz; Verfasser religiÚser und theologischer Schriften. 17, 23 FÝrstenschule zu Meißen: Sankt Afra, protestantisches humanistisches Gymnasium mit Internat, eingerichtet 1543 von dem KurfÝrsten Moritz von Sachsen auf der Grundlage eingezogener KirchengÝter. 17, 27 Ernesti: J. A. Ernesti, Altphilologe und Rektor der Thomasschule zu Leipzig, dann dort Professor der Beredsamkeit, auch der Theologie. 17, 27 Christ: J. F. Christ, Professor der Geschichte; BeschÈftigung mit Kunst, besonders der Antike; gilt als BegrÝnder der ArchÈologie. 17, 29 in der philosophischen Gesellschaft von KÈstner: A. G. KÈstner, Mathematiker, hielt philosophische und juristische Vorlesungen. Lessing nahm regelmÈßig an seinem Kolloquium Ýber philosophische Streitfragen teil. 17, 30 Mylius: Ch. Mylius, Lessing entfernt verwandt, studierte Medizin in Leipzig, betÈtigte sich vor allem schriftstellerisch. Er verfaßte Lustspiele, schrieb zu Literaturgeschichte und Philosophie, Ýbersetzte. 21, 5 Entwurf des jungen Gelehrten: Erstdruck: Der junge Gelehrte. Ein Lustspiel in drey AufzÝgen. In: G. E. Leßings Schrifften 4, Berlin 1754. UraufgefÝhrt wurde Lessings Lustspiel bereits 1748 in Leipzig durch die Neubersche Truppe. LM I, 279–372.

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21, 8–13 Indem er bis verÚffentlichte: Erstdruck des Henzi-Fragments in Briefen in: G. E. Leßings Schrifften 2, Berlin 1753. LM V, 97–122. 21, 24–38 Dieselbe Form bis „Kleinigkeiten“ durch: Die erste Gedichtsammlung Lessings erschien 1751 bei Metzler in Stuttgart unter dem Titel: Kleinigkeiten. 21, 39 – 22, 2 „der Genuß“ bis wieder!“: Das Gedicht erschien zuerst in: G. E. Leßings Schrifften 1, Berlin 1753. D. zitiert, orthographisch leicht verÈndert, die letzten drei Verse des Achtzeilers. LM I, 88. 21, 39 Erlebnis: Diese Vokabel kommt in E nicht vor; in den Umarbeitungen in einem kleinen Exkurs: Lessing (1910) 42, 30 – 43, 3; im Zusammenhang mit •sthetik und Poetik: Lessing (1910) 30, 38 – 31, 1; 45, 20; mit Nathan: Lessing (1910) 82, 13; 85, 16–17; 86, 6; 87, 7 und Religion 111, 24. 24, 5–8 Ihr Zweck bis Hauptmitarbeiter: Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 67, 29–30. 24, 24–30 Er machte bis Voltaire: Zu Lessings Urteilen Ýber Shakespeare vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Fr 438, 12. 26, 17–36 In der Abhandlung bis Menschen: Fabeln und Abhandlungen erschienen unter dem Titel: Gotthold Ephraim Lessings Fabeln. Drey BÝcher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts, Berlin 1759. Lessings Definition der Fabel steht am Schluß der ersten Abhandlung: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurÝckfÝhren, diesem besondern Falle die Wirklichkeit ertheilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.“ LM VII, 446. 26, 31–32 Sie bis angeregt: Lessing hat Richardsons Fabeln Ýbersetzt und wird, so Danzel, dadurch zur Untersuchung der Fabel angeregt worden sein. Danzel 415 f. 26, 36 – 27, 9 Sehr bis Dichtungsart: Zerstreute Anmerkungen Ýber das Epigramm, und einige der vornehmsten Epigrammatisten. In: Gotthold Ephraim Lessings vermischte Schriften 1, Berlin 1771. Lessings Definition: „Ich sage nehmlich: das Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem, nach Art der eigentlichen Aufschrift, unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzeln Gegenstand erregt, und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen.“ LM XI, 217. 27, 18–24 Das kÝnstlerische bis gelegen ist: Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, 1 und VI, 5. 27, 26–35 Welches bis Melodie: Aristoteles Ýber Arten der Nachahmung in: Poetik 1. Vgl. Bausteine 109–112. 28, 6 – 30, 9 Und die LÚsung bis nicht anders: Vgl. D.s Hinweise zur Geschichte der •sthetik mit seiner ausfÝhrlichen Rezension (1886) der Arbeit H. von Steins, Die Entstehung der neueren •sthetik, Stuttgart 1886. Ges. Schr. XV, 298–304; auch •sthetik 252–266. 28, 10–11 Mit bis behandelt: J.-B. Dubos, R¹flexions critiques sur la Posie et sur la Peinture (1719). Kritische Betrachtungen Ýber die Poesie und Mahlerey, aus dem FranzÚsischen des Herrn Abtes Du Bos [von G. B. Funck] 1–3, Kopenhagen 1760/61. Da D.s Zitate weder mit denen Steins

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(vgl. die vorangehende Anm.) Ýbereinstimmen noch auf die alte und einzige Àbersetzung zurÝckgehen, ist zu vermuten, daß sie von ihm oder einem Mitarbeiter Ýbersetzt worden sind. Soweit auffindbar, werden sie nach der siebenten Auflage der R¹flexions von 1770 nachgewiesen. 28, 15–16 In der Natur bis Erregung: Vgl. „L’ame a ses besoins comme le corps; & l’un des plus grands besoins de l’homme, est celui d’avoir l’esprit occup¹.“ Dubos I. I, 6. 28, 16–20 Diesem BedÝrfnis bis hinstellen: Vgl. „Quoi qu’il en soit, ces phant×mes de passions que la Posie & la Peinture sËavent exciter, en nous ¹mouvant par les imitations qu’elles nous pr¹sentent, satisfont au besoin o nous sommes d’Þtre occup¹s.“ Dubos I. III, 27. 28, 24–30 Die TÚne bis verknÝpft: „Ainsi que le Peintre imite les traits & les couleurs de la nature, de mÞme le Musicien imite les tons, les accens, les soupirs, les inflexions de voix, enfin tous ces sons, Ä l’aide desquels la nature mÞme exprime ses sentimens & ses passions. Tous les sons [...] ont une force merveilleuse pour nous ¹mouvoir, parce qu’ils sont les signes des passions, institu¹s par la nature dont ils ont reËu leur ¹nergie; au lieu que les mots articul¹s ne sont que des signes arbitraires des passions.“ Dubos I. XLV, 466 f. 28, 34–37 Indem bis zu lassen: „Au contraire rien n’est plus facile au Peintre intelligent que de nous faire connoÒtre l’Åge, le temp¹rament, le sexe, la profession, & mÞme la patrie de ses personnages [. . .].“ Dubos I. XIII, 96. 29, 10–11 „Ein Dichter bis fehlt.“: „Un Pote peut nous dire beaucoup de choses qu’un Peintre ne sËauroit nous faire entendre.“ Dubos I. XIII, 84. 29, 11–12 Was bis vorfÝhren: „Il n’est pas d’expression pittoresque qui puisse articuler, pour ainsi dire, les paroles du vieil Horace, quand il r¹pond Ä celui qui lui demandoit ce que son fils pouvoit faire seul contre trois combattans: Qu’il mourÃt.“ Dubos I. XIII, 85. 29, 22–25 „Die Èußeren bis vermag.“: „Les qualit¹s ext¹rieures, comme la beaut¹, la jeunesse, la majest¹ & la douceur que le Peintre peut donner Ä ses personnages, ne sËauroient nous int¹resser Ä leur destin¹e autant que les vertus & les qualit¹s de l’ame que le Pote peut donner aux siens.“ Dubos I. XIII, 88. 29, 29–30 Dubos bis benutzt: Auf Dubos beruft sich Nicolai in seiner den Briefwechsel Ýber das Trauerspiel anregenden Schrift: Abhandlung vom Trauerspiele (1757), und zwar auf den Ausgangspunkt der R¹flexions (UnterhaltungsbedÝrfnis des Menschen), vgl. Anm. Le (1910) 28, 15–16. Lessing stimmt diesem Punkt nicht zu. Brief vom 2. April 1757 an Nicolai. 29, 30–34 Dies bis Dubos ein: Lessing hat den dritten Teil der R¹flexions von Dubos Ýbersetzt: Des Abts du Bos Ausschweifung von den theatralischen Vorstellungen der Alten. In: Theatralische Bibliothek 3 (1755). Titel und Vorbericht, in dem Lessing nicht mehr als den Inhalt der drei BÈnde angibt, LM VI, 247 f. 29, 38–39 Seine Lehre bis malende Poesie: L’Ecrivain le plus austere [. . .] sent bient×t que, pour nous convaincre, il nous faut ¹mouvoir; & qu’il faut, pour nous ¹mouvoir, mettre sous nos yeux par des peintures les objets dont il nous parle.“ Dubos I. XXXIII, 297. Vgl. auch: „Je comparerois volon-

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tiers le coloris avec cette partie de l’Art potique qui consiste Ä choisir & arranger les mots, de maniere qu’il en r¹sulte des vers qui soient harmonieux dans la prononciation.“ Dubos I. XXXIV, 311. 30, 2 Batteux: Ch. Batteux, Les Beaux Arts reduits a un mÞme Principe, Paris 1746. EinschrÈnkung der SchÚnen KÝnste auf einen einzigen Grundsatz, Ýbersetzt von J. A. Schlegel, Leipzig 31770. Batteux fÝhrt die schÚnen KÝnste auf das aristotelische Prinzip der Nachahmung zurÝck. 30, 7–9 Und wenn bis anders: D. Webb, An Inquiry into the Beauties of Painting, London 1760. 30, 16–18 Die Methode bis Ýbertragen: Notizen zu Locke vgl. Ges. Schr. XXIII, 105; zu seiner Methode ebd. 313–317. 30, 22–23 Shaftesbury bis wÈchst: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times (1711), enthÈlt mehrere AufsÈtze. D. weist vielleicht auf Shaftesburys Unterscheidung dreier „Degrees“ oder „Orders of Beauty“ und ihre Wirkung hin. Vgl. The moralists (1709) III, 2. 30, 23–25 Hutcheson bis bestimmen: F. Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue, London 1725. Vgl. die Untersuchung der Beschaffenheit von GegenstÈnden, die die Vorstellung von SchÚnheit und Harmonie wecken, nach den Gesichtspunkten der Uniformity und Variety: „The beauty of an equilateral triangle is less than that of the square, which is less than that of a pentagon, and this again is surpassed by the hexagon.“ Sect. II. III. 30, 25–28 Hogarth bis zu finden: W. Hogarth, The Analysis of Beauty, London 1753. Zergliederung der SchÚnheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen, aus dem Englischen Ýbersetzt von C. Mylius. Verbesserter und vermehrter Abdruck, Berlin und Potsdam 1754. Siebentes HauptstÝck. Von den Linien. „Und daß die Schlangenlinie, wegen ihrer zugleich auf verschiedene Seiten gerichteten wellenfÚrmigen und gewundenen Figur, das Auge auf eine angenehme Art durch den bestÈndigen Zusammenhang ihrer Mannichfaltigkeit durchfÝhret, wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf; und daß man sagen kan, daß sie, durch ihre so sehr verschiedentlichen Windungen (ob sie gleich nur eine einzelne Linie ist) mannichfaltige in sich haltende Dinge einschliesset.“ Vgl. •sthetik 252. 30, 28–30 Burke bis Wirkung: E. Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, London 1757. D.s Bemerkung bezieht sich auf Sect. XXIV, Concerning Smallness, in Teil IV von Burkes Werk. 30, 30–34 Und bis ausmachen: H. Home (Lord Kames/Kaimes), Elements of criticism 1–3, Edinburgh 1762. GrundsÈtze der Critik, in drey Theilen, Leipzig 1763–66. Der erste Teil von Homes Werk ist, wie D. hervorhebt, den Beziehungen zwischen bestimmten Èsthetischen EindrÝcken und bestimmten Eigenschaften der Èsthetischen Objekte gewidmet. „Die Annehmlichkeit in dem Gegenstande oder der Ursache ist in der That so genau mit der Ergetzung in der Bewegung, seiner Wirkung, verbunden, daß man einen ergetzenden Gegenstand nicht besser beschreiben kann, als durch die Gewalt, die er hat, eine ergetzende Bewegung hervorzubringen.“ I. 2, Theil VII. Vgl. •sthetik 257–262. 31, 22–24 Er bis sei: Lessing zu Diderot: „Da dieses vortreffliche StÝck, welches den Franzosen nur so so gefÈllt, – wenigstens hat es mit MÝh und Noth kaum ein oder zweymal auf dem Pariser Theater erscheinen dÝrfen, – sich, allem Ansehen nach, lange, sehr lange, und warum nicht immer? auf un-

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sern BÝhnen erhalten wird; da es auch hier nicht oft genug wird kÚnnen gespielt werden: [. . .].“ Dramaturgie 84. St. LM X, 140. 31, 24–27 Er bis kÚnne“: D. bezieht sich auf folgende Stelle aus Lessings Vorrede zum Theater Diderots: „Es wird also darauf ankommen, ob der Mann, dem nichts angelegener ist, als das Genie in seine alte Rechte wieder einzusetzen, aus welchen es die mißverstandene Kunst verdrenget; ob der Mann, der es zugestehet, daß das Theater weit stÈrkerer EindrÝcke fÈhig ist, als man von den berÝhmtesten MeisterstÝcken eines Corneille und Racine rÝhmen kann; ob dieser Mann bey uns mehr GehÚr findet, als er bey seinen Landsleuten gefunden hat.“ LM VIII, 287. 31, 27–28 Er bis enthielt: Lessings Àbersetzung: Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem FranzÚsischen. Erster Theil. Berlin 1760. (EnthÈlt: Der natÝrliche Sohn, oder die Proben der Tugend.) Zweyter Theil. Berlin 1760. (EnthÈlt: Der Hausvater. Von der dramatischen Dichtkunst.) 31, 29–31 Und wie bis er.“: Lessings Satz: „Ich mÚchte wohl sagen, daß sich, nach dem A r i s t o t e l e s , kein philosophischerer Geist mit dem Theater abgegeben hat, als Er.“ LM VIII, 286. 32, 5–8 Sein letztes Absehen bis bedarf: Vgl. Ges. Schr. XXV, Freytag 416, 19–25 und 417, 18–32. 32, 8–10 Wenn Schiller bis hingeben wÝrde: Vermutlich bezieht sich D. auf folgende Stelle aus dem Brief Schillers vom 27. Juni 1798 an W. von Humboldt: „Meine ganze ThÈtigkeit hat sich gerade jetzt der AusÝbung zugewendet, ich erfahre tÈglich, wie wenig der Poet durch a l l g e m e i n e r e i n e Begriffe bei der AusÝbung gefÚrdert wird, und wÈre in dieser Stimmung zuweilen unphilosophisch genug, alles was ich selbst und andere von der ElementarÈsthetik wissen, fÝr einen einzigen empirischen Vortheil, fÝr einen Kunstgriff des Handwerks hinzugeben.“ Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt, hrsg. von A. Leitzmann, Stuttgart 31900, S. 291. 32, 11 rationale •sthetik: D. sieht den HÚhepunkt dieser StrÚmung der •sthetik in Leibniz. •sthetik 248–254. 32, 16–19 Wenn die Analyse bis hatte: Vgl. z. B. A. Gerard, An Essay on Genius, London 1774. Versuch Ýber das Genie, Ýbersetzt von Ch. Garve, Leipzig 1776. Zu Kant Ýber das Genie vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Di 364, 15–17. Zu Schiller ebd. Anm. Di 364, 19–22. 32, 27–33, 10 H a r r i s ’ bis Einklang war: Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 71, 36–38. Die Schwerpunkte in der Darstellung von Harris und Mendelssohn verlagern sich in D1. Vgl. Lessing (1910) Tg., Textbearbeitung 32, 27 – 33, 24. Nach LM wird Harris von Lessing nicht genannt. 33, 11–17 Tiefer bis vermÚge: Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 60, 27. 33, 17–18 Ihre Diskussionen bis hatte: M. Mendelssohn, Ueber die Empfindungen (1755). Weiteres in der folgenden Anm. 33, 18–24 Besonders bis gemischten GefÝhlen: ErgÈnzend zur vorangehenden Anm.: M. Mendelssohn, Ueber die HauptgrundsÈtze der schÚnen KÝnste und Wissenschaften (1757): „[. . .] daß das BÚse und Unvollkommene in dem Gegenstande selbst eine vermischte Empfindung errege, die auch etwas Angenehmes mit sich fÝhrt; [. . .].“ Mendelssohn Schriften I, 285. Lessing zitiert in Laokoon

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Kap. XXIV, XXV ohne Namensnennung aus Mendelssohns Beitrag zu J. A. Schlegels Batteux-Àbersetzung, verÚffentlicht in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 82 (14. Februar 1760). 34, 14–32 Aber der Poet bis nicht auf: Vgl. Laokoon, bes. Kap. XVI und XVII. 38, 9–30 Lessing bis beruht: Zur verÈnderten Auffassung von Lessings Interpretation der TragÚdiendefinition des Aristoteles vgl. Lessing (1910) Tg., Textbearbeitung 38, 9–30 (oder Ges. Schr. XXV, Lessing 76, 33 – 77, 14; auch Freytag 424, 1 – 425, 5; 439, 23 – 442, 28). 40, 4 – 41, 3 Die europÈische Epoche bis Geschlechts: Vgl. die einleitenden Abschnitte des in D1 neuen dritten Kapitels mit den entsprechenden in der erst fÝr EuD3 verfaßten Einleitung, Gang 2–5. 41, 24–28 DafÝr hat bis Jahrhunderts: Vgl. z. B. Shaftesbury in Soliloquy (1710) III, 3: „The same Numbers, Harmony, and Proportion have place in Morals; and are discoverable in the Characters and Affections of Mankind; in which are lay'd the just Foundations of an Art and Science, superiour to every other of human Practice and Comprehension.“ Dazu Ges. Schr. II, 397–407. 42, 5–9 Von der ReligiositÈt bis sei: Zu Luther und der Reformation vgl. bes. Ges. Schr. II, 211–224; 512–518. 42, 40 FÝhrer seiner Nation: In Èhnlicher Formulierung: Lessing (1910) 81, 30; 111, 33. 43, 5–8 DÝrfen bis hat: Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 59, 31; Friedrich der Große und die deutsche AufklÈrung, basierend auf D.s Artikeln fÝr die Deutsche Rundschau (1900/1901) in: Ges. Schr. III, 81–205, enthÈlt Abschnitte Ýber Kant wie Ýber Lessing. 43, 8–11 Daher bis werden: Zur wechselseitigen Erhellung von Werk und Leben. vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. E Goe 169, 25–32. 44, 22–23 Ibsen: Seltene ErwÈhnung eines zeitgenÚssischen Schriftstellers; eine Reihe von Dramen Ibsens sind in Deutschland entstanden, viele wurden in den 90er Jahren des 19. Jh.s in Berlin gespielt. 45, 2 Lenz zu Hebbel, Ludwig: D. hat Arbeiten Ýber J. M. R. Lenz besprochen; vgl. Ges. Schr. XVI, 279–282; XVII, 379 f. Zu F. Hebbel vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Fr 415, 14–16. O. Ludwig, vielfach genannt, ist fÝr D. interessant durch die Beschreibung seines Schaffens; vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Di 365, 27–28. 45, 10 Kleonis: Der Dramenentwurf Kleonnis, vermutlich von 1758, ein GegenstÝck zum publizierten Philotas (1759), zuerst verÚffentlicht in: G. E. Leßings Theatralischer Nachlaß II, hrsg. von K. G. Lessing, Berlin 1786, S. 19–34. LM III, 360–371. 45, 17 Alfieri: Vgl. D.s Aufsatz: Vittorio Alfieri (1875). Ges. Schr. XXV, 284–326. 46, 3 Fr¹ron: E.-C. Fr¹ron, Einflußreicher Literaturkritiker, Herausgeber des Ann¹e Litt¹raire; Gegner Voltaires.

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Textgeschichte und Anmerkungen

46, 3 Marmontel: J.-F. de Marmontel, Verfasser der Contes moraux (1761), die, vielfach dramatisiert, zu bÝrgerlichen Trauerspielen wurden. 46, 35 des Molireschen Misanthropen: Le misanthope (v 1667). 46, 38 Kleist: Gemeint ist E. Ch. von Kleist, Lessing befreundet, Vorbild fÝr die Figur des Tellheim. Vgl. Lessing (1910) 17, 2 und Ges. Schr. XXV, Anm. Le 64, 29. 47, 2 Klage bis StÈdte“: Minna von Barnhelm II, 1. Franciska: „Wer kann in den verzweifelten großen StÈdten schlafen?“ LM II, 189. 47, 9–10 Minna bis Bescheid: Minnas Anspielung auf Othello in IV, 6 verweist auf Ch. M. Wielands ProsaÝbersetzungen einer großen Zahl von Dramen Shakespeares (1762–1766). 47, 15–16 „Ich bis GeschÚpf?“: Minna von Barnhelm II, 7. LM II, 201. D. verÈndert Orthographie und Interpunktion. 47, 19–20 „Ein bis lieben“: Minna von Barnhelm V, 13. Der vollstÈndige Satz: „Doch Sie sind ein ehrlicher Mann, Tellheim; und ein ehrlicher Mann mag stecken, in welchem Kleide er will, man muß ihn lieben.“ LM II, 262. 48, 15–18 „Hierher bis Staate?“: Minna von Barnhelm IV, 6. LM II, 240 f., orthographisch leicht verÈndert. 49, 16 den Figaro von Beaumarchais: P.-A.-C. de Beaumarchais, La folle journ¹e ou le mariage de Figaro (v 1785). 49, 30 Guichard: K. G. Guichard/Guischard, von Friedrich II. Úffentlich Quintus Icilius genannt, hatte fÝr die Nachfolge des Bibliothekars der KÚniglichen Bibliothek 1765 zuerst Lessing, dann Winckelmann, schließlich noch einmal Lessing vorgeschlagen. Der KÚnig lehnte Lessing wohl wegen der Episode mit Voltaire ab (vgl. die folgende Anm.). 49, 34–35 FÝr den KÚnig bis hatte: Lessing bekam noch vor der allgemeinen Verbreitung ein Exemplar von Voltaires neuem Werk: Le sicle de Louis XIV (1751) und geriet in den Verdacht, einen Nachdruck oder eine Àbersetzung ohne Voltaires Wissen zu planen. Davon erfuhr Friedrich II. 49, 38 tÚrichter BenediktinermÚnch: Die Biblothekarstelle bekam der Benediktiner A. J. Pernety/ Pernetty, der wegen seiner Vorliebe fÝr Swedenborg und alchemistische Untersuchungen in Konflikt mit Friedrich II. geriet. 50, 1–3 Seit 1770 bis Schloß“: Lessing wurde Anfang Mai 1770 in sein Amt eingefÝhrt und wohnte im herzoglichen Schloß. Am 17. Mai 1770 schreibt er an Nicolai: „Ich wohne in einem großen verlaßenen Schloße ganz allein: [. . .].“ LM XVII, 322. D. verbindet offensichtlich diese Mitteilung mit einer aus dem Brief E. KÚnigs vom 12. Juni 1770: „WÈre mein Glaube stark genug, daß ich Berge versetzen kÚnnte, so wollte ich Ihrem verwÝnschten Schlosse bald eine andere Stelle anweisen.“ LM XIX, 359. 50, 14–15 seit Andreas Gryphius: D. bezieht sich auf das Drama: Ermordete MajestÈt oder Caro-

Gotthold Ephraim Lessing.

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lus Stuardus KÚnig von Gross Britannien (e 1649/50, v 1657), das die Enthauptung Karls I. (1649) zum Gegenstand hat, Zeitgeschichte also. 50, 22 Ugolino von Gerstenberg: H. W. von Gerstenberg, Ugolino (1768). 50, 26–28 Unter bis Virginia: Nach lÈnger zurÝckliegender BeschÈftigung mit dem Virginiastoff und kleineren VerÚffentlichungen aus dem Umkreis erwog Lessing 1758, sich am Wettbewerb des von Nicolai ausgesetzten Preises fÝr ein Trauerspiel zu beteiligen und empfahl sich als Schriftsteller, der eine „bÝrgerliche Virginia“ darzustellen beabsichtige. Brief Lessings an F. Nicolai vom 21. Januar 1758. LM XVII, 133. 51, 37–39 Dies bis sind“: Lessing, den D. wohl vermeintlich zitiert, referiert eine Stelle aus den Anmerkungen Diderots zu Le fils naturel (1757): „Bisher, sagt er, ist in der KomÚdie der Charakter das Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas ZufÈlliges: nun aber muß der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das ZufÈllige werden.“ Dramaturgie 86. St. LM X, 148. Zu Lessings Àbersetzung vgl. Anm. Le (1910) 31, 27–28. 52, 9–10 Zustandsschilderungen Chodowieckis: D. Chodowiecki, Maler und Radierer der privaten bÝrgerlichen Welt. Illustrierte mit seinen Radierungen zahlreiche BÝcher, z. B. Goethes Werther. 54, 12 „Dieses bis haben.“: Emilia Galotti V, 7. LM II, 448. 55, 2–4 Die „Grenze bis gestattet: F. Schiller, Wilhelm Tell (1804) II, 2: „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.“ Schi W VIII, 220. 55, 6 das StÝck in tyrannos: Gemeint ist Schillers Drama: Die RÈuber (1781). Von der 1782 in zwei Drucken erschienenen Ausgabe bei Tobias LÚffler, die als Titelvignette einen LÚwen mit der Inschrift: in Tirannos enthÈlt, distanzierte sich Schiller. 60, 10 Celsus: Den Vergleich mit Celsus/Kelsos hat D. erst in D2 eingefÝgt. Kelsos, ein Philosoph des 2. Jh.s, ist Verfasser einer vermutlich um 178 entstandenen Schrift gegen das Christentum, auf die sich nur aus der Gegenschrift des Origines schließen lÈßt. Zu seiner Rolle vgl. Einleitung 335. 70, 14–16 Wie er bis sterlen“: Entsprechend LM XVIII (1907), 296 korrigiert D. in D2 das Verb „schrecken“ aus dem Brief Lessings an E. Reimarus vom 16. Dezember 1778 in „sterlen“. Nach Grimm (1957) hÈngt sterlen, stÚreln, stÚrlen, gebraucht in der Fischereisprache, mit stÚren, stochern zusammen. 73, 26–28 Lessings Annahmen bis Baur: Ein Aufsatz D.s Ýber Baur geht dem Lessing-Aufsatz (E) voraus; vgl. Ferdinand Christian Baur (1865). Ges. Schr. IV, 403–432. Baur wird u. a. berÝcksichtigt in der Arbeit: Aus Eduard Zellers Jugendjahren (1897). Ebd. 434–437. D. bezieht sich wahrscheinlich hier auf: F. Ch. Baur, Das Christenthum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, TÝbingen 1853. 80, 35–37 Melanchthon bis verknÝpft: Umfassende WÝrdigung der Leistung Melanchthons – der V e r e i n i g u n g d e s A l t e r t u m s m i t d e m C h r i s t e n t u m – in: Das natÝrliche System der

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Textgeschichte und Anmerkungen

Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert (1892/1893). Ges. Schr. II, 162–202; zitierte Wendung 165. 80, 37–40 Leibniz bis behaupten: Zu Leibniz und der UniversalitÈt seines Denkens vgl. Leibniz und sein Zeitalter (1900). Ges. Schr. III, 1–80; auch Ges. Schr. II, 465–471. 81, 33–36 Im Sommer bis schwierig machten: Die BestÈtigung der Konfiszierung eines ReimarusFragments (Von dem Zwecke Jesu und seiner JÝnger) und eines Anti-Goeze, die VerhÈngung der Zensur Ýber alle Schriften Lessings mit der Anweisung des Herzogs Karl von Braunschweig, nichts außerhalb des Herzogtums drucken zu lassen, stammen vom 3. August 1778. 82, 6–9 „Ich bis August: Statt „Ich bin (Z. 6): „Doch ich bin“. D. verÈndert die Interpunktion. Brief vom 9. August 1778 an E. Reimarus. LM XVIII, 284. 83, 4 Magus des Calderon: P. Calderon de la Barca, El m„gico prodigioso (e 1637, v 1663). 83, 4 Prospero: Gestalt aus Shakespeares Drama The Tempest (aufgefÝhrt 1611, v 1623). 83, 12–17 Von der TragÚdie bis unterrichten?“: Voltaire, d. i. F.-M. Arouet, Le Fanatisme ou Mahomet le Prophte, Bruxelles 1742. Brief – Fr¹d¹ric II, Roi de Prusse vom Dezember 1740: „J’ai toujours pens¹ que la trag¹die ne doit pas Þtre un simple spectacle qui touche le coeur sans le corriger. Qu’importent au genre humain les passions et les malheurs d’un h¹ros de l’antiquit¹, s’ils ne servent pas Ä nous instruire?“ Nach: Œvres compltes de Voltaire XXXV, Garnier Paris 1880, S. 557. Der Brief in der Correspondance III wird in dieser Edition nicht als Widmungsbrief betrachtet. 83, 23–25 Eben bis strebt: Zu Friedrich II., seinen Schriften und seinen Zielen vgl. Friedrich der Große wie Anm. Le (1910) 43, 5–8. 83, 34–35 NÈher bis Toleranz“: Voltaire, Les Gubres ou la Tol¹rance, Trag¹die, Genve 1769. Voltaire gebraucht die Wendung „pome dramatique“ im Vorwort, bezeichnet aber sein StÝck als Trag¹die. Gebern (von Gabr, UnglÈubiger) pejorativ fÝr die Parsen, Parsi, Perser, die AnhÈnger des Zarathustra, die den arabischen Islam nicht annahmen und im 10. Jh. nach Indien auswanderten. 84, 5–7 Auch bis Geschwisterliebe: Voltaire, Alzire, ou les Americains, Trag¹die, Paris 1736. Die TragÚdie spielt in Peru zwischen christlichen Gouverneuren und einheimischen, indianischen Herrschern. D. verwechselt Alzire mit Voltaires TragÚdie ZaÓre (1733), die die genannten Motive enthÈlt. 84, 12–15 Goethes bis befindet: Zu Faust vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Fr 422, 39–40; zu Prometheus ebd. 422, 39. Das erste Fragment Mahomet entstand wohl 1772/1773 und wurde 1846 aus Ch. von Steins Nachlaß verÚffentlicht. 84, 19–20 Auch Lessing bis forderte: Von der Arbeit an seinem D. Faust berichtet Lessing am 12. Dezember 1755 im Brief an G. A. von Breitenbauch; im 17. Literaturbrief (1759) druckt er eine Szene ab. Erhaltenes ist zusammengestellt in LM III, 380–390. 84, 24–26 Wie die Parabel bis StÝckes: G. Boccaccio, Decamerone I, 3. Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 102, 24–30.

Gotthold Ephraim Lessing.

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84, 33–34 Der einzige bis Kraft: Anspielung auf Lessings Schrift: Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft. Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 86, 38. Betrifft vor allem die Unterscheidung zwischen Geschichts- und Vernunftwahrheiten. 86, 33–34 Akademie bis AufklÈrung: Vgl. Leibniz und die GrÝndung der Berliner Akademie in: Leibniz und sein Zeitalter. Ges. Schr. III, 25–40. 87, 25–27 Auch bis Handlung: Belege fÝr frÝhere EntwÝrfe zum Nathan gibt es nicht, die erhaltenen stammen vermutlich von 1778/1779. LM III, 473–495. 88, 31 IndividualitÈt bis unvergleichbar: Klingt an D.s Motto fÝr Leben Schl an (Individuum est ineffabile.), das aus einem Brief Goethes wohl vom 20. September 1780 an Lavater stammt. 91, 9–11 Von Lessings bis Schriften: Die genannten Werke mit ihren Erscheinungs- oder Entstehungsdaten: Schiller, Don Carlos (v 1787). Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (v 1793). Herder, Briefe zu BefÚrderung der HumanitÈt (v 1793–1797). Goethe, Die Geheimnisse (e 1784/1785; v 1789). Aus den Handschriften der frÝhen theologischen Arbeiten Hegels zitiert D. mit Nachweisen und Datierung (auf 1795, 1800). Nachweise in: Die Jugendgeschichte Hegels. Abhandlungen der KÚniglich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1905 [ausgegeben April 1906], S. 207–211 (allerdings auf Nohls Veranlassung umgebunden, vgl. Ges. Schr. IV, 576 f. D.s Abhandlung ebd. 1–187). Dazu: H. Nohl, Hegels theologische Jugendschriften, TÝbingen 1907.

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Textgeschichte und Anmerkungen

GOETHE UND DIE DICHTERISCHE PHANTASIE. Anmerkungen Diltheys 0 Der Aufsatz ist zuerst 1877 im X. Bande der Zeitschrift fÝr VÚlkerpsychologie erschienen. Er knÝpfte damals an Herman Grimms Vorlesungen Ýber Goethe an. Die erste Ausgabe des Buches hat nun in Nr. 1 und 2,1 wie auch beim ersten Aufsatz,2 die AnknÝpfung an die fremde Schrift getilgt und die Darstellung zusammengezogen, ohne einen inhaltlichen Zusatz, so daß hier meine damalige Fassung der BegrÝndung der Geisteswissenschaften auf eine deskriptive Psychologie und die erste Darlegung meiner Ansicht vom VerhÈltnis zwischen Erinnerung und Phantasievorgang (meine kÝrzeren Angaben hierÝber liegen weiter zurÝck3) erhalten geblieben ist. In der Nr. 4 ist der in dem alten Aufsatz enthaltene Begriff der Erhebung des Geschehnisses zur Bedeutsamkeit auf der Grundlage der Erfahrung im dichterischen Vorgang schÈrfer herausgestellt und ausfÝhrlicher behandelt worden.4 Hier und in den Ýbrigen Teilen des Aufsatzes ist dann der Unterschied in der dichterischen Verfahrungsweise, den Shakespeare und Goethe reprÈsentieren, vorsichtiger gefaßt und durch einige ZusÈtze Ýber die beiden Dichter nÈher erlÈutert worden. Diejenigen, welche sich fÝr diese meine Èlteren systematischen Darlegungen interessieren, darf ich auf die erste Auflage verweisen. In der zweiten Auflage habe ich den Aufsatz ganz umgearbeitet, und seine erste einleitende Partie hat auch in dieser dritten erhebliche ZufÝgungen und KÝrzungen erfahren.

Die Anmerkungen D.s stimmen in D3 und D2, vom letzten Satz abgesehen, Ýberein; die von D1 weichen in einigen Formulierungen ab, sie enden mit D.s Satz zu Shakespeare und Goethe. 1 In der Bearbeitung fÝr EuD1 hat D. den Aufsatz in sechs Kapitel ohne Àberschriften unterteilt. Darauf beziehen sich die angegebenen arabischen Ziffern. Nr. 1 enthielt •ußerungen Goethes zur Entstehung seiner Werke, denen in Nr. 2 eine allgemeine Beschreibung des Phantasievorgangs nach D.s Konzeption folgte. Vgl. Tabelle. Weggefallen ist außer der VerknÝpfung mit den Vorlesungen H. Grimms Aktuelles (1877) zu: Werkausgaben, Forschungsliteratur, Goethes Nachlaß. 2 Gemeint ist der Aufsatz Ýber Lessing von 1867, die AnknÝpfung an die Lessing-Studien C. Heblers. 3 Da die Angaben im Aufsatz Ýber Dickens, die denen im Goetheaufsatz sehr nahe kommen, fast gleichzeitig sind, kann D. hier nur auf Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig (1866) anspielen. 4 Nr. 4 ist Gliederungspunkt des Aufsatzes in EuD1, ein kurzer Abschnitt zu Erlebnis, Erfahrung, Bedeutsamkeit.

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Goethe und die dichterische Phantasie.

Àbersicht Ýber VerÈnderungen in Diltheys Aufsatz Ýber Goethe Ueber die Einbildungskraft der Dichter E [Herman Grimm, Vorlesungen, Goethephilologie] [Phantasie und Literaturgeschichte]

[Goethe Ýber die Entstehung seiner Werke]

Goethe und die dichterische Phantasie D1

EH

[Phantasie und Literaturgeschichte]

[Phantasie und Literaturgeschichte]

Goethe’s Berichte Ýber den dichterischen Vorgang in ihm.

1. [Goethe Ýber die Entstehung seiner Werke]

D2

D3

[Motto aus: Meine GÚttin] Einleitung [Phantasie und Literaturgeschichte; Goethe als Dichter]

[Motto aus: Meine GÚttin] Einleitung [Phantasie und Literaturgeschichte; Goethe und die europÈische Literatur]

DICHTERISCHE PHANTASIE. 1. 2.

DAS LEBEN.

2. [Àber dichterische ErlÈuternde SÈtze Phantasie allgemein] Ýber die Phantasie der Dichter. 1. 2.

2. DICHTERISCHE [Àber dichterische PHANTASIE. Phantasie allgemein; 1. DIE DICHTEZeugnisse G.s Ýber 2. RISCHE PHANdas Wirken seiner TASIE GOETHES. Phantasie]

[Zeugnisse G.s Ýber das Wirken seiner Phantasie – Analyse dichterischer Werke; ihre Einteilung]

3.

3. ERLEBNIS UND [Durch die Phantasie geschaffene DICHTUNG. dichterische Welt]

[Shakespeare] [Gottfried von Straßburg,

6.

Wolfram von Eschenbach, Goethe]

[Keine weitere Untergliederung des letzten großen Abschnitts.]

4. 5.

4. [Eigenschaften dichterischer Werke – Erlebnis] 5. [Shakespeare]

SHAKESPEARE.

GOETHE. 1.–6. [Rousseau, Gottfried v. St., Wolfram v. E. vorausgehend]

6. [Rousseau, Gottfried v. St., Wolfram v. Eschenbach – Goethe]

DIE DICHTERISCHE PHANTASIE GOETHES. ERLEBNIS UND DICHTUNG

SHAKESPEARE.

ROUSSEAU. [Gottfried v. St., Wolfram v. Eschenbach] GOETHE. 1.–6.

Die Angaben in eckigen Klammern sind Hinweise auf den Inhalt.

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Textgeschichte und Anmerkungen

Entstehung und Àberlieferung Erste ErwÈhnung eines geplanten Aufsatzes Ýber Goethe in einem Brief an E. Reimer, undatiert, vermutlich nach dem Tod des Vaters, SpÈtsommer 1867: Ich werde im Winter Ýber Lessing Schiller und GÚthe lesen, sodaß Sie nach Vollendung des ersten Bandes einen (hoffentlich sehr glÈnzenden!) Essay Ýber GÚthe erhalten werden fÝr die JahrbÝcher. Verlags-Archiv de Gruyter Berlin. – D. an M. Lazarus am 2. Dezember 1876 aus Breslau: Gern lÚse ich mein Versprechen und schreibe fÝr die Zeitschrift eine Anzeige des Grimm’schen Buches. In: Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, hrsg. von I. Belke, TÝbingen 1986, II, 2. S. 789. Am 6. Februar 1877 bemerkt H. Grimm, benachrichtigt von der Geburt Clara D.s: „Àbrigens erwarte ich den ‚Goethe nun um so sicherer [. . .].“ Dilthey-Nachlaß, NiedersÈchsische Staats- und UniversitÈtsbibliothek GÚttingen. Autographenmappe Clara Misch, geb. Dilthey. Auf den bald erscheinenden Aufsatz bezieht sich H. Steinthal am 26. August 1877 in seinem Brief an H. Usener: „Dilthey, von dem das nÈchste Heft unserer Zeitschrift (das wohl noch im September erscheinen wird) einen lÈngeren Aufsatz Ýber die Phantasie des Dichters bringen wird, erwÈhnt darin, daß die Frage um die Interpretation seit Schleiermacher und BÚckh nicht vorgerÝckt sei.“ In: Moritz Lazarus und Heymann Steinthal (wie oben), S. 505. Mit seinem Brief vom 15. November 1877 aus Breslau schickt D. einen Separatabdruck an den Grafen Yorck von Wartenburg: Hier, verehrter Graf, prÈsentiert sich die „Einbildungskraft“ schÝchtern als jemand, von dem man bei flÝchtiger Begegnung eine zu gute Meinung gefaßt hat. In: K. GrÝnder, Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg, GÚttingen 1970, S. 258. Vgl. die Antwort Yorcks in Ges. Schr. XXV, E. Goethe Tg., Zur Rezeption. Zu weiterer Planung vgl. Lessing (1910) Tg., Entstehung. Hinweis auf die erneute BeschÈftigung mit dem alten Aufsatz ist ein undatiertes kleinformatiges Briefchen D.s an H. Usener. Die Mitteilung von der Berufung A. Riehls, seines Nachfolgers, und PlÈne fÝr die Sommerferien lassen auf Juli/ August 1905 schließen: Noch eine Bitte: hast Du etwa meinen Aufsatz Ýber Grimms Goethe aus Zeitschrift fÝr VÚlkerpsychologie, so wÈre mir sehr erwÝnscht, Du kÚnntest ihn gleich senden. Die AufsÈtze sollen gedruckt werden und ich mÚchte ihn vor der Abreise durchsehen. ULB Bonn, Korrespondenz-Nachlaß Hermann Usener.– FÝr die erste Durchsicht (EH) gebrauchte D. allerdings das Exemplar seines Bruders Karl. Zur weiteren Bearbeitung vgl. D.s Anmerkungen und das jeweilige Vorwort zu den drei Auflagen von EuD. E: EH: D1: D2: D3: D3:

ZV X (1878), Heft 1 [1877], S. 42–104. Archiv der BBAW zu Berlin, D 161 (288). EuD1, S. 137–200. EuD2, S. 159–248. EuD3, S. 175–267. In weiteren unverÈnderten Auflagen bis zur heutigen, EuD16.

Textwiedergabe nach D3. Handschriftenbefund Die vermutlich erste Bearbeitung des Goethe-Aufsatzes von D.s Hand in einem gebundenen Separatabzug, D 161 (288), ist von unterschiedlicher Art und Dichte. Eine Schicht von Bleistiftkorrekturen und -notizen im Text und auf den InnenumschlÈgen lÈßt sich kaum entziffern. Deutlichere, teils Ýber den Text geschriebene Tintenkorrekturen, unter UmstÈnden fÝr den Druck gedacht, werden zunehmend unÝbersichtlicher und weniger; die Gliederungsversuche uneindeutig. Diese Neufassung, in der einiges in der zweiten TexthÈlfte vielleicht spÈter notiert wurde, ist E nÈher als D1 und wird

Goethe und die dichterische Phantasie.

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punktuell herangezogen. Eine umfangreiche Sammlung von Notizen, Zitaten, Stellenangaben zu und aus Dichtung und Wahrheit im Faszikel C 48II (195), teils von D.s Hand, ist wahrscheinlich Vorarbeit fÝr das große Kapitel Goethe, das letzte in D2 und D3, oder kÚnnte in den Umkreis von Biographie und Selbstbiographie (Ges. Schr. VII) gehÚren. Sie wird hier nicht berÝcksichtigt. Das gilt auch fÝr diktierte oder von D. geschriebene ErgÈnzungen zu diesem Kapitel im Faszikel C 88 (235), der hauptsÈchlich Papiere zu Novalis enthÈlt. Kleinere ErgÈnzungen, Umformulierungen zu den ersten Kapiteln, zwei EntwÝrfe zu Das Leben stehen exemplarisch mit den Faszikelnummern an den entsprechenden Stellen unter Textbearbeitung.

Zur Rezeption Zwei der Anzeigen und Sammelbesprechungen von EuD1 und EuD2, die R. Petschs und Th. Poppes, konzentrieren sich auf den Aufsatz: Goethe und die dichterische Phantasie. Dem Erscheinungsort verpflichtet, berÝcksichtigt Petsch besonders D.s Shakespearedarstellung (hier nicht aufgenommen). Poppe zitiert als programmatisch fÝr den ganzen Band einen Abschnitt aus dem 4. Kapitel in D1; leicht verÈndert fÝr das Kapitel Erlebnis und Dichtung in D2; dann nochmals umgeformt fÝr D3 (vgl. unter Textbearbeitung).

Robert Petsch, W i l h e l m D i l t h e y . D a s E r l e b n i s u n d d i e D i c h t u n g . Die Literaturgeschichte, insbesondere diejenige der Renaissance, verdankt Wilhelm Dilthey nicht bloß die Befestigung ihrer unentbehrlichen Grundlagen durch seine tiefgrabenden, Èltestes und neueres kritisch verknÝpfenden Forschungen zur Geschichte der Weltanschauung und der Denkformen in ihrer genetischen Entwicklung – Aufgaben, die der Berliner Gelehrte im Anschluß an seine „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ namentlich durch seine BeitrÈge im „Archiv fÝr Geschichte der Philosophie“ (Band V ff.) gefÚrdert hat; vielmehr hat er die feine Gabe der EinfÝhlung, die er geistigen StrÚmungen der Vergangenheit gegenÝber glÈnzend zu betÈtigen weiß, auch mit reichstem Erfolge benutzt, um in den geheimnisvollen Schacht dichterischer Produktion hinabzuleuchten und einzelne Meister der Kunst beim Schaffen zu belauschen. Wo es gilt, die große dichterische IndividualitÈt selbst oder die von ihr verkÚrperten Gestalten im Kern zu erfassen, werden seine „BeitrÈge zum Studium der IndividualitÈt“ (Sitzungsberichte der Berliner Akademie, Phil. Hist. Kl. 1896) die reichste Anregung gewÈhren; sie sind fÝr unsere Leser besonders wichtig, da sie auch der Shakespearischen Kunst nachfragen. Leider sind diese nicht jedem leicht zugÈnglichen Arbeiten in dem vorliegenden Bande, der doch verwandte Probleme behandelt, nicht mit abgedruckt. Immerhin begrÝßen wir dankbar diese kleine Auswahl der wichtigsten literarhistorischen Arbeiten des Philosophen. Hier erscheint sein vielzitierter und bewunderter Aufsatz Ýber L e s s i n g (Preußische JahrbÝcher 1867), vermehrt um neue Kapitel Ýber die Èsthetischen Arbeiten und Ýber die dramatischen Werke des Dichters. Ebenfalls aus den Preußischen JahrbÝchern (1865) stammt die Arbeit Ýber N o v a l i s , deren Grundergebnisse Dilthey in den Anmerkungen gegen Rudolf Hayms, mehr das Disparate in den romantischen Schriften betonende AusfÝhrungen verteidigt; ganz neu und von der germanistischen Forschung alsbald mit dankbarer Freude begrÝßt, erscheint hier die Charakteristik H Ú l d e r l i n s , auf deren VorzÝge an dieser Stelle einzugehen wir uns leider versagen mÝssen. Dagegen haben wir ausdrÝcklich auf den bedeutsamen Aufsatz Ýber „G o e t h e u n d d i e d i c h t e r i s c h e P h a n t a s i e “ hinzuweisen, die verkÝrzte und doch vertiefte Neubearbeitung einer Rezension Ýber H. Grimms Goethevorlesungen (zuerst Zeitschr. f. VÚlkerpsychologie u. Sprachwissenschaft Bd. X). Hier werden die allgemeinen Ergebnisse von Diltheys Forschungen Ýber die Beziehungen zwischen der schÚpferischen Phantasie und dem inneren Leben des Genies Ýberhaupt, wie sie in der bekannten Abhandlung Ýber „die Einbildungskraft des Dichters“ (Bausteine fÝr eine Poetik. AufsÈtze, E. Zeller zum 50jÈhrigen DoktorjubilÈum gewid-

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Textgeschichte und Anmerkungen

met, 1877 [1887]) niedergelegt sind, zur ErklÈrung der Goethischen IndividualitÈt verwandt, diese aber zugleich zu andern poetischen Naturen vergleichend und scheidend in Beziehung gesetzt. Dabei kommt dann Dilthey wieder auf Shakespeare zu sprechen, in dem er bei aller Verwandtschaft mit Goethe doch eine im Grunde diametral entgegengesetzte Richtung der Phantasie feststellt; bei beiden ist der Drang nach Erfassung und innerer Verarbeitung der Außenwelt so stark und urkrÈftig, wie er es beim kÝnstlerischen Genie Ýberhaupt ist; aber bei dieser Beziehung zwischen dem Ich und NichtIch tendiert der englische Renaissancepoet auf das letztere, der deutsche Humanist und Individualist auf das erstere. „Die Phantasie schafft auf der Grundlage der Èußeren und der inneren Erfahrung; mannigfach verschlingen sich diese beiden Arten von Erfahrung und alles, was wir Verstehen nennen, beruht auf dieser Verflechtung; jedoch wird ein Dichter entweder vorherrschend in der Welterfahrung leben, alle KrÈfte seines Geistes dem was um ihn in Welt und Leben geschieht, entgegenstrekkend, oder, wie wir das an Goethes Beispiel sehen, von dem Leben im eigenen Inneren, von den ZustÈnden des eigenen GemÝts, von der Welt der Ideen und Ideale in ihm wird er bewegt und strebt sie auszusprechen. Jener ist mit allen Sinnen und KrÈften darauf gerichtet, Leben aller Art, Charaktere aller Klassen in sich zu hegen, zu genießen, zu gestalten, dieser blickt immer wieder in sich selber, und was die Welt ihn lehrt, mÚchte er schließlich benutzen, sein Selbst zu erhÚhen und zu vertiefen.“ (S. 177.) So leistet jener sein HÚchstes in der reinen Tragik, in der objektiven Darstellung der komplizierten, sich in sich selbst verzehrenden PersÚnlichkeit eines Hamlet, dieser in der subjektivisch gefÈrbten Verdichtung eigensten Strebens nach dem Ideal in der Gestalt des von einem Zustand zum andern sich entwickelnden Faust. [. . .] Aus: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 42, hrsg. von A. Brandl und W. Keller, Berlin-SchÚneberg 1906, S. 228 f.

Theodor Poppe, •sthetik und Poetik. Wie das Erlebnis von der dichterischen Phantasie und der schÚpferischen Gestaltungskraft umgeprÈgt wird, ist das Thema von W . D i l t h e y s (569) wertvollem Buch, das ein mannigfaltiges Echo gefunden hat. In welcher Weite der Begriff Erlebnis gefasst werden muss, wenn er fÝr die Forschung fruchtbar sein soll, drÝckt der folgende Fundamentalsatz D.s aus: „Der Gehalt einer Dichtung, welcher das einzelne Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhebt, hat seine Grundlage in der Lebenserfahrung des Poeten und dem Ideenkreise, der sich an sie angeschlossen hat. Der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer das Erlebnis und die Besinnung Ýber dasselbe in der Lebenserfahrung. Jeder der unzÈhligen LebenszustÈnde, durch die der Dichter hindurchgeht, kann in psychologischem Sinne als Erlebnis bezeichnet werden, hier soll dieser Ausdruck nur diejenigen unter den Momenten seines Daseins bezeichnen, welche ihm einen Zug des Lebens aufschliessen. Was auch dem Dichter aus der Welt der Ideen oder der Geschichte zukommen mag: nur sofern es die eignen Erlebnisse ihm verstÈndlich macht oder aus diesen ein tieferes VerstÈndnis empfÈngt, dient es ihm, Neues am Leben zu gewahren.“ – Aus: Jahresberichte fÝr neuere deutsche Literaturgeschichte, hrsg. von J. Elias u. a., XVII und XVIII (Jahr 1906/7), Berlin 1909, S. 542.

Textbearbeitung D. gliedert den Aufsatz, der in der Erstfassung nicht unterteilt war, nach den einleitenden SÈtzen zunÈchst durch Àberschriften und Ziffern (EH); dann in sechs nur bezifferte Kapitel (D1); darauf in fÝnf große Kapitel mit Àberschriften und, laut Inhaltsverzeichnis, Einleitung (D2); schließlich in sieben Kapitel mit Àberschriften und Einleitung (D3). – Ein unsichtbar bleibender Arbeitsschritt ist das Weglassen: D. streicht den Àberblick Ýber Forschungsliteratur zu Goethe und tilgt fast alle Spuren einer Beziehung zu H. Grimms Goethe-Vorlesungen, dem Schreibanlaß. Am wenigsten ver-

Goethe und die dichterische Phantasie.

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Èndert werden die Darstellungen von Shakespeare und Rousseau; am meisten die Kapitel Ýber dichterische Phantasie. Das Kapitel: Erlebnis und Dichtung entwickelt sich allmÈhlich; Das Leben kommt in D3 vÚllig neu hinzu. Die wenigen Seiten Ýber Goethes Leben und literarische Entwicklung in E wachsen zum umfangreichsten Bestandteil in D2 und D3 an; die Zusammenstellung der Aussagen Goethes Ýber das Entstehen einzelner Werke fÈllt als Kapitel weg. Vgl. die vorangehende Àbersicht Ýber die Fassungen. – Der genauere Vergleich ausgewÈhlter Passagen wird so angelegt wie fÝr den Lessing-Aufsatz (s. dort im Anhang unter Tg., Textbearbeitung). Wegen der Schwierigkeit, selbst an ausgewÈhlten Beispielen Verschiebungen einzelner SÈtze, Passagen, Kapitel; Streichungen und ErgÈnzungen von E bis D3 durchgehend zu dokumentieren, beschrÈnkt er sich auf die Einleitung und die Kapitel Das Leben; Dichterische Phantasie; Die dichterische Phantasie Goethes; Erlebnis und Dichtung. Zur besseren Àbersicht werden grÚßere TextzusammenhÈnge trotz einiger Wiederholungen in der Regel nicht gekÝrzt; der Vereinfachung dienen die Bezeichnungen E, D1–3 fÝr E Goethe, EuD1–3. 113, 1 GOETHE UND DIE DICHTERISCHE PHANTASIE: E Ueber die Einbildungskraft der Dichter. EH Auf der Titelseite des Separatabzugs (s. o. unter Handschriftenbefund und Entstehung) notiert D., vielleicht auch sein Bruder, den neuen Titel Ýber dem alten: Goethe und die dichterische Einbildungskraft. Innen, nach der Streichung der ersten Seiten, vor dem einleitenden Abschnitt fÝr D1 wiederholt D. diese Àberschrift und korrigiert Einbildungskraft in: Phantasie; dabei bleibt es in allen Auflagen. 113 Welcher bis G o e t h e : Das Motto, die Eingangsstrophe aus Goethes Gedicht: Meine GÚttin, erscheint zuerst in D2. 113, 2 – 114, 37 Die Phantasie bis Shakespeare: Die Einleitung gewinnt ihre endgÝltige Form in D3. Sie beginnt in E mitten in einem Abschnitt des sonst ungegliederten Textes, dem siebeneinhalb Seiten zur Goetheforschung und den Vorlesungen Grimms vorausgehen. E Die Phantasie des Dichters, ihr VerhÈltnis zu dem Stoff der erlebten Wirklichkeit und der Ueberlieferung, zu dem, was die Dichtung vorher erarbeitet hat, die eigentÝmlichen Grundgestalten dieser schaffenden Phantasie und der dichterischen Werke, welche aus dieser Beziehung entspringen: das ist Anfang und Ende aller Litteraturgeschichte. Die Erforschung der dichterischen Phantasie ist die naturgemÈße Grundlegung des wissenschaftlichen Studiums der poetischen Litteratur und ihrer Geschichte. Denn jeder Zweig der Wissenschaften von den menschlich-gesellschaftlichen ZustÈnden erwÈchst nach seiner eigenen, durch keine Theorie vorher angegebenen Regel aus der VerknÝpfung philosophischer und vergleichend-historischer Einsichten. Seine Ergebnisse werden um so brauchbarer sein, je reiner die philosophischen Einsichten die Aufeinanderfolge der wirklichen wenn auch verwickelten psychischen Tatsachen ausdrÝcken, anstatt ErklÈrungen durch eine Theorie der einfachen Elemente dieser complicirten Tatsachen zu versuchen: welche ErklÈrungen allesammt blosse Hypothesen sind, wichtig fÝr den allmÈhlichen Aufbau einer erklÈrenden Psychologie durch IrrtÝmer hindurch, aber unberechtigt, wo es sich um solide BegrÝndung der Wissenschaften des geschichtlichen Lebens handelt. EH Der Abschnitt wird als einleitend gekennzeichnet durch die auf ihn folgende KapitelÝberschrift, die unten angefÝgt wird. Die Phantasie des Dichters, ihr VerhÈltnis zu dem Stoff der erlebten Wirklichkeit und der

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Textgeschichte und Anmerkungen

Ueberlieferung, zu dem, was die Dichtung vorher erarbeitet hat, die eigentÝmlichen Grundgestalten dieser schaffenden Phantasie und der dichterischen Werke, welche aus dieser Beziehung entspringen: das ist der Mittelpunkt aller Litteraturgeschichte. Die Erforschung der dichterischen Phantasie ist die naturgemÈße Grundlegung des wissenschaftlichen Studiums der poetischen Litteratur und ihrer Geschichte. Denn jeder Zweig der Wissenschaften von den menschlich-gesellschaftlichen ZustÈnden erwÈchst nach seiner eigenen, durch keine Theorie vorher angegebenen Regel aus der VerknÝpfung psychologischer und vergleichend-historischer Einsichten. Seine Ergebnisse werden um so brauchbarer sein, je reiner die psychologischen Einsichten die Aufeinanderfolge der wirklichen wenn auch verwickelten psychischen Tatsachen ausdrÝkken, anstatt ErklÈrungen durch eine Theorie der einfachen Elemente dieser complicirten Tatsachen zu versuchen: welche ErklÈrungen allesammt blosse Hypothesen sind, wichtig fÝr den allmÈhlichen Aufbau einer erklÈrenden Psychologie durch IrrtÝmer hindurch, aber unberechtigt, wo es sich um solide BegrÝndung der Wissenschaften des geschichtlichen Lebens handelt. Darauf folgt: G o e t h e ’ s B e r i c h t e Ý b e r d e n d i c h t e r i s c h e n V o r g a n g i n i h m . D1 Die Phantasie des Dichters, ihr VerhÈltnis zu dem Stoff der erlebten Wirklichkeit und der Àberlieferung, zu dem, was frÝhere Dichter geschaffen haben, die eigentÝmlichen Grundgestalten dieser schaffenden Phantasie und der dichterischen Werke, welche aus dieser Beziehung entspringen: das ist der Mittelpunkt aller Literaturgeschichte. Und die Erforschung der dichterischen Phantasie ist die naturgemÈße Grundlegung des wissenschaftlichen Studiums der poetischen Literatur und ihrer Geschichte. Denn jeder Zweig der Wissenschaften von den menschlich-gesellschaftlichen ZustÈnden erwÈchst nach seiner eigenen, durch keine Theorie vorher anzugebenden Regel aus der VerknÝpfung psychologischer und vergleichend-historischer Einsichten. Seine Ergebnisse werden um so brauchbarer sein, je reiner die psychologischen Einsichten die Aufeinanderfolge der wirklichen wenn auch verwickelten psychischen Tatsachen ausdrÝkken. Es folgt der Abschnitt: 1. D2 Die Phantasie des Dichters, ihr VerhÈltnis zu dem Stoff der erlebten Wirklichkeit und der Àberlieferung, zu dem, was frÝhere Dichter geschaffen haben, die eigentÝmlichen Grundgestalten dieser schaffenden Phantasie und der dichterischen Werke, welche aus solcher Beziehung entspringen: das ist der Mittelpunkt aller Literaturgeschichte. So ist die Erforschung der dichterischen Phantasie die naturgemÈße Grundlegung des wissenschaftlichen Studiums der poetischen Literatur und ihrer Geschichte. Denn jeder Zweig der Wissenschaften von den menschlich-gesellschaftlichen ZustÈnden erwÈchst nach seiner eigenen durch keine Theorie vorher anzugebenden Regel aus der VerknÝpfung psychologischer und vergleichend-historischer Einsichten. Seine Ergebnisse werden um so brauchbarer sein, je reiner die psychologischen Einsichten das Zusammenbestehen und die Aufeinanderfolge der psychischen Tatsachen ausdrÝcken. Goethe gehÚrt dem europÈischen Zeitalter der Wissenschaft an; ihn umgab die deutsche AufklÈrung; als er zu dichten begann, stand Lessing auf der HÚhe seines Wirkens: wie hÈtte seine allseitige Begabung sich der Teilnahme und der Mitarbeit an der großen wissenschaftlichen Bewegung in Deutschland entziehen kÚnnen! Sie fÝllte nicht nur die langen Pausen seines dichterischen Schaffens aus: sie war ihm unentbehrlich fÝr die Auseinandersetzung mit dem Leben und der Welt, deren er zur ErfÝllung seiner dichterischen Mission bedurfte, und nur die wissenschaftliche Àberwindung der AufklÈrung konnte ihm fÝr seine poetische Welt freie Bahn schaffen. Aber sein Genie lag in seiner dichterischen Begabung. Dies hat er selber Úfters ausgesprochen, am deutlichsten, als er durch den Aufenthalt in Italien und den Verkehr mit Schiller zu klarem Bewußtsein Ýber sich selbst gelangt war. „Ich habe mich“, so drÝckt er 1788 den Inbegriff seiner rÚmischen Erfahrungen Ýber sich selbst aus, „in dieser anderthalbjÈhrigen Einsamkeit selbst wiedergefunden; aber als was? – Als KÝnstler.“ Und in der Periode des gemeinsamen Schaffens mit Schiller entstand dann seine denkwÝrdige Selbstcharakteristik. „Immer tÈtiger,

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nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb“, so beginnt sie, „macht den Mittelpunkt und die Base seiner Existenz. Hat man den gefaßt, so lÚsen sich alle Ýbrigen anscheinenden WidersprÝche. Da dieser Trieb rastlos ist, so muß er, um sich nicht stofflos selbst zu verzehren, sich nach außen wenden.“ Aus solchem Streben seiner Bildungskraft, nach außen zu wirken, leitet dies Selbstbekenntnis seine BeschÈftigungen mit der bildenden Kunst, dem tÈtigen Leben, den Wissenschaften ab. Sie erschienen ihm damals, da er glaubte endlich seines wahren Berufs ganz sicher zu sein, als „falsche Tendenzen“. So ist der Platz Goethes nicht unter den großen Naturforschern, Philosophen oder StaatsmÈnnern, er ist neben •schylos, Dante und Shakespeare. Ich will versuchen, in diesem Sinne den Dichter Goethe in den wesentlichen fundamentalen ZÝgen seines Schaffens darzustellen. Die Grundlage fÝr jedes VerstÈndnis eines Dichters ist aber die Einsicht in das Wirken der Phantasie. Sie ist in Goethes Wesen und Leben Ýberall wirksam. Mit ihr steht jede seiner intellektuellen FÈhigkeiten in Beziehung. Daher mÚchte ich mir durch einige allgemeine Betrachtungen Ýber sie den Weg bahnen zu einem VerstÈndnis unseres grÚßten Dichters. Der hier folgende Abschnitt heißt: DICHTERISCHE PHANTASIE. A 59 (60), 225r Von D.s Hand, Teilkorrektur des ersten Abschnitts der Einleitung fÝr D3: Diese centrale Stellung der Phantasie in der Dichtung wird uns an keinem Dichter so deutlich als an Goethe und keiner fordert zu seinem VerstÈndniß so die Versenkung in das Wesen der Phantasie. Dies ist durch die Stellung bedingt die Goethe im Zusammenhang der europÈischen Literatur [ein]nimmt. D3 Die Phantasie des Dichters, ihr VerhÈltnis zu dem Stoff der erlebten Wirklichkeit und der Àberlieferung, zu dem, was frÝhere Dichter geschaffen haben, die eigentÝmlichen Grundgestalten dieser schaffenden Phantasie und der dichterischen Werke, welche aus solcher Beziehung entspringen: das ist der Mittelpunkt aller Literaturgeschichte. An keinem neueren deutschen Dichter wird diese zentrale Stellung der Phantasie im dichterischen Schaffen so deutlich als an Goethe, und keiner fordert zu seinem VerstÈndnis so die Einsicht in das Wesen der Phantasie. Dies ist in der Stellung begrÝndet, die Goethe im Zusammenhang der europÈischen Literatur einnimmt. Ich habe am Eingang dieses Bandes die Bewegung der europÈischen Literatur geschildert, die von der Entstehung der modernen Wissenschaft bestimmt war. Beinahe anderthalb Jahrhunderte hatte dieselbe gedauert, als Goethe geboren wurde. Unter ihrem Einfluß ist er aufgewachsen, und die Summe ihrer Ergebnisse wirkte in ihm fort. Und nun umgab ihn die deutsche AufklÈrung; als er zu dichten begann, stand Lessing auf der HÚhe seines Wirkens. Auch ihre eigenste Richtung, die durch unsere ganze Geschichte bestimmt war, hat er in sich aufgenommen: die Vertiefung des Menschen in sich selbst und in das Ideal seines allgemeinen Wesens. Aber darin lag nun seine geschichtliche Mission, daß er, festwurzelnd in den großen Errungenschaften der AufklÈrung, ein neues Zeitalter der Dichtung herauffÝhren sollte. In Deutschland entstand diese neue Zeit; Goethe und die Romantik als ein Unzertrennliches halfen Ýberall bei der Befreiung der dichterischen Phantasie von der Herrschaft des abstrakten Verstandes und des von den KrÈften des Lebens isolierten guten Geschmacks. Wer kennt nicht die Vorbereitungen dazu in den verschiedenen LÈndern, die englische Genielehre, Rousseau, Hamann, Herder, Sturm und Drang? Goethe wurde vorwÈrts getragen von dieser Bewegung. Aber die neue Dichtung selbst war sein Werk. Und der Kampf seiner dichterischen Phantasie mit der AufklÈrung, ja mit dem Geist der damaligen Wissenschaft selbst ist ein Schauspiel ohnegleichen in der Geschichte der Literatur. Es ist daher nach so mannigfachen und bedeutenden Versuchen, Goethe zu verstehen, vielleicht nicht unberechtigt, wenn ich, von allgemeinen SÈtzen ausgehend, in die Kraft und Eigenheit der dichterischen Phantasie Goethes zunÈchst einzudringen suche und erst von den so erworbenen Gesichtspunkten aus dann sein Lebenswerk betrachte.

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Textgeschichte und Anmerkungen

Wissenschaftliche Arbeit, philosophisches Sinnen, TÈtigkeit in der Verwaltung nahmen in diesem Lebenswerk einen breiten Raum ein. Sie fÝllten nicht nur die langen Pausen seines dichterischen Schaffens aus: sie waren ihm unentbehrlich fÝr die Auseinandersetzung mit dem Leben und der Welt, deren er zur ErfÝllung seiner dichterischen Mission bedurfte, und nur die wissenschaftliche Àberwindung der AufklÈrung konnte ihm fÝr seine poetische Welt freie Bahn schaffen. Seine allseitig schaffende Kraft hatte in seiner Phantasie ihren Mittelpunkt. Dies hat er selber Úfters ausgesprochen, am deutlichsten, als er durch den Aufenthalt in Italien und den Verkehr mit Schiller zu klarem Bewußtsein Ýber sich selbst gelangt war. „Ich habe mich“, so drÝckt er 1788 den Inbegriff seiner rÚmischen Erfahrungen Ýber sich selbst aus, „in dieser anderthalbjÈhrigen Einsamkeit selbst wiedergefunden; aber als was? – Als KÝnstler.“ Und in der Periode des gemeinsamen Schaffens mit Schiller entstand dann seine denkwÝrdige Selbstcharakteristik. „Immer tÈtiger, nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb“, so sagt er von sich, „macht den Mittelpunkt und die Base seiner Existenz. Hat man den gefaßt, so lÚsen sich alle Ýbrigen anscheinenden WidersprÝche. Da dieser Trieb rastlos ist, so muß er, um sich nicht stofflos selbst zu verzehren, sich nach außen wenden.“ Aus solchem Streben seiner Bildungskraft, nach außen zu wirken, leitet dies Selbstbekenntnis seine BeschÈftigungen mit der bildenden Kunst, dem tÈtigen Leben, den Wissenschaften ab. Sie erschienen ihm damals, da er glaubte endlich seines wahren Berufs ganz sicher zu sein, als „falsche Tendenzen“. Der objektive Zuschauer wird mit Schiller lieber sagen, sie waren das breite Fundament fÝr ein dichterisches Lebenswerk von ganz neuer Art, das mit der Gestaltung der PersÚnlichkeit unzertrennlich verbunden war. So ist der Platz Goethes nicht unter den großen Naturforschern, Philosophen oder StaatsmÈnnern, er ist neben •schylos, Dante und Shakespeare. Der darauffolgende Abschnitt: DAS LEBEN. 115, 1 – 130, 24 DAS LEBEN. bis ihnen zur Seite: Den Text zwischen der Einleitung und Shakespeare hat D., was die großen BlÚcke betrifft, verkÝrzt und ergÈnzt, unterschiedlich unterteilt und plaziert: DAS LEBEN wird in D3 nach der Einleitung eingefÝgt; G o e t h e ' s B e r i c h t e Ý b e r d e n d i c h t e r i s c h e n V o r g a n g i n i h m (Àberschrift aus EH; Text in E, EH, D1), die diese Stelle inne hatten, fallen in D2 weg; E r l È u t e r n d e S È t z e Ý b e r d i e P h a n t a s i e d e r D i c h t e r (Àberschrift aus EH; Grundtext in allen Fassungen) heißen in D2 DICHTERISCHE PHANTASIE. – DIE DICHTERISCHE PHANTASIE GOETHES (teils beruhend auf Zeugnissen Goethes) und ERLEBNIS UND DICHTUNG werden fÝr D2 ausgearbeitet. 115, 1 – 116, 12 DAS LEBEN. bis wirken: FÝr dieses Kapitel, neu in D3, sind im Nachlaß EntwÝrfe oder etwas anders ausgerichtete Fassungen vorhanden. (Vgl. Èhnliche Kapitel: Aufbau 131 f. und Ges. Schr. VIII, 78 f.) A 59 (60), 130r-135v Diktat von E. Schramms Hand, HalbbÚgen 1–3, auf dem ersten: zu p 161. Die Seitenangabe bezieht sich auf D2, die EinfÝgungsstelle zwischen Einleitung und Dichterische Phantasie. Das Diktat enthÈlt kaum leserliche Bleistiftnotizen D.s, von anderer Hand einen unkoordinierten diktierten Zusatz (59, 134r): zu Blatt 3 zu pag 161, der hier in den Text unten eingerÝckt wird. Am Schluß des Ms. bezeichnet die Àberschrift des folgenden Kapitels, die bis auf den Artikel mit der endgÝltigen Ýbereinstimmt, noch einmal klar seinen Platz innerhalb des Aufsatzes. Das Leben. Poesie ist Ausdruck und Darstellung des Lebens. Dieses ist zunÈchst im Erleben da. In ihm wird das Individuum seines Daseins inne, [Bl. 130r am rR Umformulierung oder Zusatz D.s, nicht kontinuierlich lesbar] und Ýber dies momentane Bewußtsein seiner selbst hinaus dehnt sich in der Erinnerung Erlebnis aus zum Lebensverlauf. Indem wir dann unsere Erlebnisse hineintra-

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gen in die Mannigfaltigkeit der LebensÈußerungen, in denen die Menschheit sich in dauernden Erzeugnissen ausgesprochen hat, ist uns das Leben in seiner Objektivation nach seiner ganzen Mannigfaltigkeit gegeben, dieses ist [Bl. 130v am rR Bleistiftzusatz D.s, nicht kontinuierlich lesbar.] Um die Poesie zu verstehen, muß man auf die Grundeigenschaften des Lebens zurÝckgehen. Die Urzelle des großen Lebenszusammenhangs ist die Lebenseinheit in ihren BezÝgen zur Umwelt. Es bedarf einer anhaltenden Intuition, um aus Erleben und Verstehen diese ZÝge sich bewußt zu machen. Leben ist Verhalten, Stellungnahme zu allem um mich her. Jede Person, jeder Gegenstand ist in einem Lebensbezug, einem VerhÈltnis zu mir. In unzÈhligen Nuancen wechseln meine Verhaltungsweisen zu Menschen und Dingen. Die Gegenwart ist immer in Lebensbezug zu Vergangenheit und Zukunft. GegenstÈndliches Auffassen in seinen verschiedenen Stufen geht Ýber in das GefÝge meiner selbst und der Dinge, in BedÝrfnissen, Sehnsucht, in Erfahrung von Werten, in AbschÈtzen von Werten, in Suchen von hÚchsten MaßstÈben, und wieder wird das alles Grundlage zu dem neuen Verhalten zu der Intention, dem Streben, dem Wollen, der Setzung des Zwecks, der Wahl zwischen ZweckmÚglichkeiten, dem Erfassen eines Lebensplans, eines hÚchsten Guts, eines obersten Grundsatzes. Und all das ist in rastloser VerÈnderung begriffen, das Leben ist ein Strom, auf dem wir an wechselnden GelÈnden dahinfahren. Wo wir sind, ist Gegenwart, in jedem Moment wird sie im VorwÈrtsfahren zu etwas, das hinter uns liegt, und macht einem KÝnftigen Platz, das in unbestimmten Umrissen vor uns liegt. Und dieser Wechsel der Stellungnahme gibt jedem Gegenstand und jedem Menschen immer neue Bedeutung, verÈndert den Wert, ja er wird mir ein anderer, als er bloß im gegenstÈndlichen Auffassen erscheinen wÝrde. Ich blicke in der AbenddÈmmerung auf eine stille Stadt zu meinen FÝßen. Die Lichter, die nacheinander in den HÈusern aufgehen, bedeuten, heimliches vertrautes Wesen. Wie ich zu den Sternen aufblicke, wird mir ihr fernes stilles Licht zum Symbol einer schmerzlosen Welt. Und so verklÈrt sich mir die religiÚse Àberlieferung von der Gottheit zum Bild des Vaters Ýber den Sternen, wie Schiller und Beethoven ihn sehen lassen. Das ist die Welt des Dichters. Wie ganz verschieden ist sie doch von der Art, wie das wissenschaftliche Denken ursÈchlichen VerhÈltnissen und GleichfÚrmigkeiten derselben nachgeht. Der Dichter lÈßt kein Ding und keinen Menschen in seiner reinen Wirklichkeit sehen. Er zeigt ihn in seinen LebensbezÝgen, und wenn nun Leben fÝr sich schon ein Schaffen ist, das jedem Gegenstand oder Menschen eine eigene Bedeutsamkeit und Fantasieform gibt, so sieht man wohl, daß dies Verhalten des Lebens selbst schon zur Vorstufe der dichterischen Darstellung wird. Sie lÚst nie den Schimmer der Bedeutsamkeit vom Wirklichen ab. Jeden Gegenstand muß der Dichter so sichtbar machen, wie die Lage des Lebenden, dem er erscheint, ihn sehen lÈßt. Vor allem aber von jedem Menschen, der in einer bestimmten Lage zu Menschen, Sachen, Natur ist, zeigt er das, was eben in jener Lage sichtbar wird. A 59, 134r D a s L e b e n u n d d i e A u f g a b e d e r D i c h t u n g . Die Dichtung hat ihre innerste Aufgabe darin, die GrundverhÈltnisse des Lebens herauszuarbeiten, durch VerstÈrkung, Vereinfachung sehen zu lassen, und nun fÝr das VerstÈndnis das Geschehnis zum Symbol zu erheben. Alle Poesie ist symbolisch, aber im Bezug auf das Leben. Lebenserfahrung gibt ihm die Verbindungen zum Lebenszusammenhang seiner Dichtungen, und eben indem er das Wirkliche hinter sich lÈßt und den MÚglichkeiten des Lebens nachgeht aus dem tiefen BedÝrfnis, die Schranken zu Ýberwinden, in die jeder von uns sich durch seinen Lebensverlauf festgelegt hat: ein Leiden, ein BedÝrfnis, das nur die andere Seite der Verfestigung und Gestaltung unseres Daseins ist, ist ihm diese neue Welt doch nur eine andere befreiende MÚglichkeit des Lebens. Anschließende KapitelÝberschrift: Die dichterische Fantasie. A 59 (60), 233r-236r Diktat mit kaum leserlichen, meist dem Text nicht zugeordneten Bleistiftno-

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tizen D.s und einem nicht kontinuierlich entzifferbaren Schlußabschnitt von seiner Hand, der nicht wiedergegeben werden kann. Indiz fÝr die ZugehÚrigkeit zu diesem Aufsatz ist eine vorangehende Notiz zu Goethes TÈtigkeiten von D.s Hand und die Angabe: Dann nach p 160. Die Seitenzahl bezieht sich auf D2. Das Leben Poesie ist Ausdruck und Darstellung des Lebens. Dieses ist zunÈchst im Erleben da, in welchem das Individuum seiner ZustÈnde inne wird. Und wie die Gegenwart keine GrÚße hat und das Leben unablÈssig der Zukunft entgegen rÝckt, besitzen wir schon das Erlebnis nur in der Erinnerung, und die Erinnerung dehnt sich rÝckwÈrts aus zu den Bildern unseres Lebensverlaufs. Es besteht aber ein innerer Zusammenhang zwischen Leben, seinem Ausdruck und dem Verstehen desselben. Ich suche einen Ausdruck fÝr mein Erlebnis. Und wie nun um mich her Leben in unzÈhligen Formen gegenstÈndlich geworden ist, suche ich es zu verstehen und darzustellen. Alle Dichtung ist zu allererst Ausdruck und Darstellung des Lebens. Und das Leben? Ich mÚchte es hier unabhÈngig von allen psychologischen Definitionen beschreiben. Es ist ein Verhalten, eine Stellungnahme zu allem um mich her, ich bin zu den Personen und GegenstÈnden, die im Umfang meines Daseins liegen in einem LebensverhÈltnis, sie machen Anforderungen an mich, sie nehmen in meinem Dasein einen Raum ein, sie fÝhren mir Kraft und Freude des Daseins zu, jedem Ding teilt meine Stellung zu ihm eine eigene FÈrbung mit: der Schmerz Ýber die Endlichkeit des von Geburt und Tod begrenzten Lebens weckt in mir die Sehnsucht nach einem dauernden, unsichtbaren, leidensfreien; und wie ich nun zu den Sternen aufblicke, werden sie mir zu Symbolen einer solchen fernen unanrÝhrbaren Welt. Ich verlege mein eigenes Leben in die Dinge um mich her. Ich blicke in der AbenddÈmmerung auf eine stille Stadt zu meinen FÝßen; die Lichter, die in den HÈusern nacheinander aufgehn, sind mir Ausdruck eines friedlichen, heimlichen, vertrauten Lebens. So gewinnen in den LebensbezÝgen mein eigenes Selbst die Menschen und Dinge um mich eine Bedeutsamkeit, ein BedÝrfnis ist in ihnen erfÝllt, ein Trieb befriedigt, sie genÝgen einer Forderung – was es auch psychologisch angesehen sei, dieser ihr Lebensbezug gibt ihnen ihre Bedeutung. Dies und nichts anderes ist es, was die Poesie sehen lÈßt. Sie zeigt einen Menschen im Lebensbezug zu Dingen und Personen, und so erscheinen diese nicht als Wirklichkeiten fÝr einen erkennenden Geist, sondern als das, was sie im Leben selbst sind. Es wird auch nicht ein aesthetischer Wert, der irgend etwas anderes als eben dies wÈre, in ihnen aufgesucht, sondern ihr aesthetischer Wert besteht in dem Gehalt dieses Lebensbezugs, wie er im Leben enthalten ist. Die Lebenserfahrung selbst nur erhoben aus dem Individuellen in das Typische. Typisch aber ist das Erscheinen eines Allgemeinen in dem Einzelnen, Anschaulichen, Konkreten. Und nun entspringt aus dem inneren Bezug der bedeutsamen Lebensmomente, Teile des Lebens, zueinander, wie Erwiderung in dem Leben selber gegrÝndet ist, das Bewußtsein von dem Sinn des Lebens, seiner Teile, der einzelnen Geschehnisse. Das Geschehniß wird TrÈger und Symbol fÝr solches Bewußtsein. Es ist also Symbol nicht sofern es eine Idee, einen abstrakten Wert ausdrÝckt, sondern wiefern es den Zusammenhang im Geschehnis zum Ausdruck bringt, der aus den LebensbezÝgen sich aufbaut. Ein solcher Sinn des Lebens baut sich jedem auf in der Erinnerung. Ich blicke zurÝck u. s. w. Wenn nach dem Gesetz der Beziehung von Wirklichkeit, Bedeutung und Sinn das Kunstwerk das Leben selber an einem Geschehnis darstellt, so entsteht seine Form in der Abfolge der Zeit etc. Was ich aber hier beschreibe, empfÈngt seine nÈhere Bestimmung fÝr den einzelnen Dichter aus seiner historischen Bewußtseinslage. [Beginn des letzten Abschnitts, von D.s Hand .] Es ist die erste und Eigenschaft der Phantasie Goethes daß sie ganz von dem Leben bestimmt ist. Seine Stimmungen wandeln die Bilder . 116, 13 – 119, 15 DICHTERISCHE PHANTASIE. bis festhÈlt:

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E Dem ersten Unterkapitel in D3 entspricht im ungegliederten Text in E: Die Phantasie des Dichters in ihrer Stellung zur Welt der Erfahrungen bildet den notwendigen Ausgangspunkt fÝr jede Theorie, welche die mannichfaltige Welt der Dichtungen in der Aufeinanderfolge ihrer Erscheinungen wirklich erklÈren will. Die Poetik in diesem Sinne ist die wahre Einleitung in die Geschichte der schÚnen Litteratur, wie die Wissenschaftslehre in die Geschichte der geistigen Bewegungen. – Und zwar ist die Phantasie des Dichters, welche uns als ein Wunder, als ein von dem Alltagstreiben der Menschen gÈnzlich verschiedenes PhÈnomen gegenÝbertritt, nur eine mÈchtigere Organisation gewisser Menschen, welche in der ausnahmsweisen StÈrke bestimmter elementarer VorgÈnge gegrÝndet ist; von diesen aus baut sich dann das geistige Leben seinen allgemeinen Gesetzen gemÈß zu einer ganz von dem GewÚhnlichen abweichenden Gestalt aus und das innere Leben in großen Dichtern ist weit abweichender von dem in dem Durchschnittsmenschen, als wir uns ohne Untersuchung die Sache vorstellen. Die Vorstellungen, welche wir von den Bildern reproduciren, welche im Sehfeld vorÝbergegangen sind und durch andere EindrÝcke abgelÚst wurden, haben in verschiedenen Individuen unter sonst gleichen Bedingungen einen ganz verschiedenen Grad von Helle und StÈrke, von SinnfÈlligkeit oder Bildlichkeit, wie dies zuerst Fechner gezeigt hat. Von den Vorstellungen als farb- und lautlosen Schatten bis zu den im Sehraum bei geschlossenen Augen projicirbaren Gestalten der Dinge und Menschen erstreckt sich eine Reihe ganz verschiedener Formen von Reproduction. Und zwar vereinigen sich die schon von Johannes MÝller dargelegten PhÈnomene des Gesichtssinnes bei hervorragenden Menschen, die Ergebnisse biographischer Untersuchung in Bezug auf die Classe der großen Dichter, die inneren Ergebnisse der Untersuchung des Gesichtssinnes zu einer sehr deutlichen Vorstellung der Art, in welcher mit dem dichterischen VermÚgen eine außerordentliche FÈhigkeit, reproducirten oder frei gebildeten Vorstellungen Augenscheinlichkeit und hellste SinnfÈlligkeit zu erhalten oder zu verleihen, verknÝpft ist. Was so in einer Reihe von FÈllen festgestellt und mit einiger Wahrscheinlichkeit aus ihnen als eine allgemeine Tatsache fÝr alle dichterische Phantasie erschlossen werden kann, scheint andrerseits als notwendiger ErklÈrungsgrund der vollendeten dichterischen Leistung aus dieser gefolgert werden zu mÝssen; bedarf doch das in Gestalten denken des Dichters Ýberall des SinnfÈlligen, der Bewegung von scharf umrissenen Gestalten als seiner Grundlage. Psychologische ErwÈgung, welche von hier aufwÈrts, von den vollendeten Dichtungen rÝckwÈrts geht, vereinigt sich dann weiter mit biographischer Untersuchung der einzelnen FÈlle zur Feststellung der Weise und des Grades von GedÈchtnis fÝr Menschen und Schicksale in Dichtern. Alle Phantasie ist an die Elemente gebunden, welche in der Erfahrung gegeben sind, und vermag nicht irgend ein Vorstellungselement, einer Empfindung entsprechend, zu schaffen, welches nicht in einer Empfindung gegeben werden kÚnnte; schon Hume hat auf diesen interessanten Tatbestand die Aufmerksamkeit gelenkt. In der Poetenphantasie hÈuft sich ein Schatz von Bildern aus der Menschenwelt und Natur an und dieser Inbegriff bildet den Erfahrungshorizont des Dichters. Da, wo FÝlle der EindrÝcke dem Dichter zur VerfÝgung steht, durch außerordentliche Kraft des Erinnerns (wie denn Dichter meist gewaltige ErzÈhler sind), da wirkt er auch in schÚpferischem VermÚgen aus diesen FÈden an dem Gewebe von Situationen, Gestalten, Schicksalen, Affecten und Handlungen. Das VerhÈltnis zwischen der angesammelten Erfahrung und der frei schaffenden Phantasie, zwischen der Reproduction von Gestalten, Situationen und Schicksalen und ihrer SchÚpfung bildet das tiefste Problem in Bezug auf die Erforschung des dichterischen VermÚgens. Die Association, welche gegebene Elemente in einer gegebenen Verbindung zur Vorstellung zurÝckruft, und die Einbildungskraft, welche aus den gegebenen Elementen neue Verbindungen herstellt, scheinen von einander durch die klarste Grenzlinie getrennt. Indem man die wirkliche Beziehung dieser beiden großen psychischen Tatsachen untersucht, gilt es die descriptive Methode

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Textgeschichte und Anmerkungen

ohne jede Einmischung erklÈrender Hypothesen anzuwenden, um den sicheren Zusammenhang des TatsÈchlichen so klar als mÚglich aufzufassen, wodurch allein dem Historiker der Poesie Zutrauen entstehen kann, sich der feineren Einsichten der Philosophie anstatt der grobkÚrnigen Vorstellungen des gemeinen Lebens fÝr seine Auffassung der Litteratur zu bedienen: denn nur durch allgemeine Vorstellungen von psychischen Tatsachen fassen wir jedes individuelle PhÈnomen der Geschichte auf, stellen wir es dar. Das Zutrauen der Historiker und politischen Forscher wird erscheinen mit der Sonderung einer descriptiven Psychologie von der hypothetisch erklÈrenden. Jene ist Grundlage der Geisteswissenschaften, diese ist schrittweise Ausbildung mÚglicher Hypothesen Ýber den letzten Zusammenhang geistiger Tatsachen unter einander und mit denen der Natur. Solche Hypothesen sind in Bezug auf das hier vorliegende VerhÈltnis von Erinnerung und freier Phantasie die Annahme unbewusster Vorstellungen oder die von bloßen zurÝckbleibenden physiologischen Spuren, die Annahme, dass die Vorstellung, welche wir erinnern, als fixes Element dem Atom vergleichbar zurÝckkehre und, so zurÝckgekehrt, vermÚge ihres VerhÈltnisses zu anderen Vorstellungen in Bildungsprocesse eintrete. In der von uns auffassbaren Wirklichkeit kehrt dieselbe Vorstellung so wenig in einem Bewusstsein zurÝck als sie in einem zweiten Bewusstsein als ganz dieselbe wieder vorkommt. So wenig als der neue FrÝhling die alten BlÈtter auf den BÈumen mir wieder sichtbar macht, so wenig werden die Vorstellungen eines vergangenen Tages an dem heutigen wiedererweckt, etwa nur dunkler oder undeutlicher wiedererweckt. Wenn wir, in derselben Lage verharrend, das Auge, das einen Gegenstand in sich gefasst hatte, schließen, und dann, ohne Nachwirkung des Reizes selber auf der Netzhaut in Nachbildern, die Vorstellung, in welche die Warnehmung Ýbergegangen ist, ihre hÚchste StÈrke und SinnfÈlligkeit noch besitzt, dann wird in diesem Erinnerungsnachbilde, wie es Fechner bezeichnet und als fÝr die absichtliche Beobachtung wichtiges Zwischenglied zwischen Warnehmung und reproducirter Vorstellung erkannt hat, ein verhÈltnismÈßig nur kleiner Teil derjenigen Elemente vorgestellt, welche in dem Warnehmungsvorgang enthalten waren; und schon hier, wo doch nur eine seelenlose, tote Erinnerung stattfindet, ist bei lebhafter Anstrengung, das ganze Bild zurÝckzurufen, eine versuchende Nachbildung unverkennbar, deren Gelingen und Mislingen, deren Technik so zu sagen bei wiedergeÚffnetem Auge gut festgestellt werden kann. – Wenn aber zwischen die Warnehmung und die Vorstellung andere Bilder sich eingedrÈngt haben, wirkt das AssociationsverhÈltnis, vermÚge dessen auf den Schauplatz des Bewusstseins eine Vorstellung gerufen wird, auf die Richtung, in welcher die zu reproducirende Vorstellung sich aufbaut; es wirken die Formen der Beziehung, wie Aehnlichkeit oder Contrast; es wirkt der Inhalt der Vorstellung oder des Vorstellungsinbegriffs, von welchem aus reproducirt wird; es wirken die GefÝhle und Antriebe, unter deren Macht erinnert wird. So baut sich die erinnerte Vorstellung von einem bestimmten inneren Gesichtspunkte aus auf, wie die sinnliche Warnehmung von einem Èußeren im wÚrtlichen Verstande so zu bezeichnenden aus; sie nimmt fÝr diesen Vorgang nur so viel Elemente aus dem psychophysischen Tatbestande, der von der Warnehmung zurÝckblieb, als ihr Baumaterial zur Verwertung fÝr diesen Aufbau auf, als die nunmehr gegenwÈrtigen Bedingungen mit sich bringen, und diese erteilen dem Bilde seine GefÝhlsbeleuchtung durch die Beziehung zu dem gegenwÈrtigen GemÝtszustand in Aehnlichkeit oder Contrast; wie denn in Zeiten schmerzlichster Unruhe das Bild eines ehemaligen ruhigen und freudlosen Zustandes wie eine selige Insel sonnigsten Friedens vor uns auftauchen kann. Ja, es baut sich eine irrtÝmliche und ganz falsche Vorstellung auf, wenn angestrengte Aufmerksamkeit ein helleres Bild erstrebt, als der zurÝckgebliebene Tatbestand unter den vorhandenen psychologischen Bedingungen zu bilden gestattet, oder wo der Gesichtspunkt dahin wirkt, dass dieser Aufbau eine von der Warnehmung abweichende Gestalt empfÈngt. Bilder, welche Beziehungen nur wie ein augenblicklicher Sonnenblick sichtbar machen, dÝrfen bei der vorliegenden ErÚrterung außer Acht gelassen werden. – Und wenn wir nun endlich zumeist nicht EinzeleindrÝcke

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uns zurÝckzurufen streben, deren Erinnerung auf einen bestimmten Warnehmungsact als ein Augenblicksbild sich bezieht, sondern Vorstellungen oder Vorstellungsverbindungen, deren jede den Gegenstand in allen seinen von uns wargenommenen Lagen reprÈsentirt, d. h. alle Warnehmungen so in sich fasst, dass die einzelne vergessene aus ihr abgeleitet werden kann: der Aufbau einer solchen Vorstellung steht noch viel weiter ab von toter Reproduction und nÈhert sich noch viel mehr dem der kÝnstlerischen Nachbildung. Kurz wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf GedÈchtnis beruhte, so gibt es kein GedÈchtnis, das nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose und diese Erkenntnis lÈsst den Zusammenhang zwischen den elementarsten VorgÈngen unseres psychischen Lebens und den hÚchsten Leistungen des menschlichen schÚpferischen VermÚgens sichtbar werden. Sie lÈsst in die UrsprÝnge jenes mannichfaltigen, an jedem Punkte ganz individuellen und nur einmal so vorhandenen beweglichen geistigen Lebens blicken, dessen glÝcklichster Ausdruck die unsterblichen GeschÚpfe der kÝnstlerischen Phantasie sind. Soll diese Ordnung von Tatsachen der ErklÈrung unterworfen werden, dann ist ihr mindestens ebenso angemessen als jede andere Hypothese die einfache Annahme: aus dem Materiale des Zustandes, welcher von der Warnehmung zurÝckgeblieben ist und der sich directer Erforschung entzieht, der aber die Bedingung der Erinnerung bildet, baut sich die Vorstellung unter Mitwirkung der gegenwÈrtig im Bewusstsein vorhandenen Bedingungen auf; die Reproduction selber ist ein Bildungsprocess. So lÈsst sich die Organisation des Dichters nach dieser Seite schon in der MÈchtigkeit der einfachen VorgÈnge von Warnehmung, GedÈchtnis, Reproduction aufzeigen, welche Bilder mannichfachster Art, Charaktere, Schicksale, Situationen in dem Bewusstsein bewegen; in dem Erinnern selber entdecken wir eine Seite, durch welche es der Einbildungskraft verwant ist; und die Metamorphose durchwaltet das ganze Leben von Bildern in unserer Seele. Diese letztere Tatsache entfaltet sich weiter in den merkwÝrdigen PhÈnomenen der Gesichtserscheinungen. Wer hÈtte nicht, vor dem Einschlafen, geschlossenen Auges, sich an den einfachsten PhÈnomenen ergÚtzt, die hier sich darbieten? In dem ruhenden reizbaren Gesichtssinn erscheinen die inneren organischen Reize nunmehr als Strahlen, wallende Nebel, und aus ihnen formen und entfalten sich, ohne jede Mitwirkung einer Absicht, da wir im Gegenteil in reines ruhigstes Anschauen versenkt sind, leuchtende, farbige Phantasiebilder, die in bestÈndiger Abwandlung begriffen sind. EH Der vorangehende Text aus E steht, leicht gekÝrzt und verÈndert, unter: 2. ErlÈuternde SÈtze Ýber die Phantasie der Dichter. 1. Die Phantasie des Dichters in ihrer Stellung zur Welt der Erfahrungen bildet den notwendigen Ausgangspunkt fÝr jede Theorie, welche die mannichfaltige Welt der Dichtungen in der Aufeinanderfolge ihrer Erscheinungen verstÈndlich machen will. Sie ist, obwol sie uns als ein Wunder, als ein von dem Alltagstreiben der Menschen gÈnzlich verschiedenes PhÈnomen gegenÝbertritt, doch nur eine mÈchtigere Organisation gewisser Menschen, welche in der ausnahmsweisen StÈrke bestimmter elementarer VorgÈnge gegrÝndet ist; von diesen aus baut sich dann das geistige Leben seinen allgemeinen Gesetzen gemÈß zu einer ganz von dem GewÚhnlichen abweichenden Gestalt aus und das innere Leben in großen Dichtern ist weit abweichender von dem in dem Durchschnittsmenschen, als wir uns ohne Untersuchung die Sache vorstellen. Die Erinnerungsbilder haben in verschiedenen Individuen unter sonst gleichen Bedingungen einen ganz verschiedenen Grad von Helle und StÈrke, von SinnfÈlligkeit oder Bildlichkeit. Von den Vorstellungen als farb- und lautlosen Schatten bis zu den im Sehraum bei geschlossenen Augen projicirbaren Gestalten der Dinge und Menschen erstreckt sich eine Reihe ganz verschiedener Formen von Reproduction. Mit dem dichterischen VermÚgen ist nun zumeist eine außer-

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Textgeschichte und Anmerkungen

ordentliche FÈhigkeit, reproducirten oder frei gebildeten Vorstellungen Augenscheinlichkeit und hellste SinnfÈlligkeit zu erhalten oder zu verleihen, verknÝpft. Bedarf doch das in Gestalten Denken des Dichters des SinnfÈlligen, der Bewegung von scharf umrissenen Gestalten als seiner Grundlage. Der folgende Abschnitt ist vielfach und nicht mehr entzifferbar korrigiert, mit den Korrekturen gestrichen, darÝber steht der Verweis: Blatt zu p. 18, d. h. zu dieser nicht entwirrbaren Seite. Das Blatt ist bis jetzt nicht auffindbar. Die Fortsetzung, und zwar mit der Korrektur der ersten drei wiederum gestrichenen WÚrter: Welches ist nun das VerhÈltnis zwischen der angesammelten Erfahrung und der frei schaffenden Phantasie, zwischen der Reproduction von Gestalten, Situationen und Schicksalen und ihrer SchÚpfung? Die Association, welche gegebene Elemente in einer gegebenen Verbindung zur Vorstellung zurÝckruft, und die Einbildungskraft, welche aus den gegebenen Elementen neue Verbindungen herstellt, scheinen von einander durch die klarste Grenzlinie getrennt. Indem man die wirkliche Beziehung dieser beiden großen psychischen Tatsachen untersucht, gilt es, die descriptive Methode ohne jede Einmischung erklÈrender Hypothesen anzuwenden, um den sicheren Zusammenhang des TatsÈchlichen so klar als mÚglich aufzufassen. So allein kann dem Historiker der Poesie Zutrauen entstehen, sich der feineren Einsichten der Philosophie anstatt der grobkÚrnigen Vorstellungen des gemeinen Lebens fÝr seine Auffassung der Litteratur zu bedienen: denn nur durch allgemeine Vorstellungen von psychischen Tatsachen fassen wir jedes individuelle PhÈnomen der Geschichte auf, stellen wir es dar. Das Zutrauen der Historiker und positiven Forscher wird erscheinen mit der Sonderung einer descriptiven Psychologie von der hypothetisch erklÈrenden. Jene ist Grundlage der Geisteswissenschaften, diese ist schrittweise Ausbildung mÚglicher Hypothesen Ýber den letzten Zusammenhang geistiger Tatsachen unter einander und mit denen der Natur. Solche Hypothesen sind in Bezug auf das hier vorliegende VerhÈltnis von Erinnerung und freier Phantasie die Annahme unbewusster Vorstellungen oder die von bloßen zurÝckbleibenden physiologischen Spuren, die Annahme, dass die Vorstellung, welche wir erinnern, als fixes Element dem Atom vergleichbar zurÝckkehre und, so zurÝckgekehrt, vermÚge ihres VerhÈltnisses zu anderen Vorstellungen in Bildungsprocesse eintrete. In der von uns auffassbaren Wirklichkeit kehrt dieselbe Vorstellung so wenig in einem Bewusstsein zurÝck als sie in einem zweiten Bewusstsein als ganz dieselbe wieder vorkommt. So wenig als der neue FrÝhling die alten BlÈtter auf den BÈumen mir wieder sichtbar macht, so wenig werden die Vorstellungen eines vergangenen Tages an dem heutigen wiedererweckt, etwa nur dunkler oder undeutlicher wiedererweckt. Wenn wir, in derselben Lage verharrend, das Auge, das einen Gegenstand in sich gefasst hatte, schließen, und dann, ohne Nachwirkung des Reizes selber auf der Netzhaut in Nachbildern, die Vorstellung, in welche die Warnehmung Ýbergegangen ist, ihre hÚchste StÈrke und SinnfÈlligkeit noch besitzt, dann wird in diesem Erinnerungsnachbilde ein verhÈltnismÈßig nur kleiner Teil derjenigen Elemente vorgestellt, welche in dem Warnehmungsvorgang enthalten waren; und schon hier, wo doch nur eine seelenlose, tote Erinnerung stattfindet, ist bei lebhafter Anstrengung, das ganze Bild zurÝckzurufen, eine versuchende Nachbildung unverkennbar, deren Gelingen und Mislingen, deren Technik so zu sagen bei wiedergeÚffnetem Auge gut festgestellt werden kann. Wenn aber zwischen die Warnehmung und die Vorstellung andere Bilder sich eingedrÈngt haben, wirkt das AssociationsverhÈltnis, vermÚge dessen auf den Schauplatz des Bewusstseins eine Vorstellung gerufen wird, auf die Richtung, in welcher die zu reproducirende Vorstellung sich aufbaut; es wirken die Formen der Beziehung, wie Aehnlichkeit oder Contrast; es wirkt der Inhalt der Vorstellung oder des Vorstellungsinbegriffs, von welchem aus reproducirt wird; es wirken die GefÝhle und Antriebe, unter deren Macht erinnert wird. So baut sich die erinnerte Vor-

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stellung von einem bestimmten inneren Gesichtspunkte aus auf, wie die sinnliche Warnehmung von einem Èußeren im wÚrtlichen Verstande; sie nimmt fÝr diesen Vorgang nur so viel Elemente aus dem psychophysischen Tatbestande, der von der Warnehmung zurÝckblieb, als ihr Baumaterial zur Verwertung fÝr diesen Aufbau auf, als die nunmehr gegenwÈrtigen Bedingungen mit sich bringen, und diese erteilen dem Bilde seine GefÝhlsbeleuchtung durch die Beziehung zu dem gegenwÈrtigen GemÝtszustand in Aehnlichkeit oder Contrast; wie denn in Zeiten schmerzlichster Unruhe das Bild eines ehemaligen ruhigen und freudlosen Zustandes wie eine selige Insel sonnigsten Friedens vor uns auftauchen kann. Ja, es baut sich eine irrtÝmliche und ganz falsche Vorstellung auf, wenn angestrengte Aufmerksamkeit ein helleres Bild erstrebt, als der zurÝckgebliebene Tatbestand unter den vorhandenen psychologischen Bedingungen zu bilden gestattet, oder wo der Gesichtspunkt dahin wirkt, dass dieser Aufbau eine von der Warnehmung abweichende Gestalt empfÈngt. Bilder, welche Beziehungen nur wie ein augenblicklicher Sonnenblick sichtbar machen, dÝrfen bei der vorliegenden ErÚrterung außer Acht gelassen werden. Und wenn wir nun endlich zumeist nicht EinzeleindrÝcke uns zurÝckzurufen streben, deren Erinnerung auf einen bestimmten Warnehmungsact als ein Augenblicksbild sich bezieht, sondern Vorstellungen oder Vorstellungsverbindungen, deren jede den Gegenstand in allen seinen von uns wargenommenen Lagen reprÈsentirt, d. h. alle Warnehmungen so in sich fasst, dass die einzelne vergessene aus ihr abgeleitet werden kann: dann steht der Aufbau einer solchen Vorstellung noch viel weiter ab von toter Reproduction und nÈhert sich noch viel mehr dem der kÝnstlerischen Nachbildung. Kurz wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf GedÈchtnis beruhte, so gibt es kein GedÈchtnis, das nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose und diese Erkenntnis lÈsst den Zusammenhang zwischen den elementarsten VorgÈngen unseres psychischen Lebens und den hÚchsten Leistungen des menschlichen schÚpferischen VermÚgens sichtbar werden. Sie lÈsst in die UrsprÝnge jenes mannichfaltigen, an jedem Punkte ganz individuellen und nur einmal so vorhandenen beweglichen geistigen Lebens blicken, dessen glÝcklichster Ausdruck die unsterblichen GeschÚpfe der kÝnstlerischen Phantasie sind. Die Reproduction selber ist ein Bildungsprocess. So lÈsst sich die Organisation des Dichters nach dieser Seite schon in der MÈchtigkeit der einfachen VorgÈnge von Warnehmung, GedÈchtnis, Reproduction aufzeigen, mittelst deren sich Bilder mannichfachster Art, Charaktere, Schicksale, Situationen in dem Bewusstsein bewegen; in dem Erinnern selber entdecken wir eine Seite, durch welche es der Einbildungskraft verwandt ist; und die Metamorphose durchwaltet das ganze Leben von Bildern in unserer Seele. Diese letztere Tatsache entfaltet sich weiter in den merkwÝrdigen PhÈnomenen der Gesichtserscheinungen. Wer hÈtte nicht, vor dem Einschlafen, geschlossenen Auges, sich an den einfachsten PhÈnomenen ergÚtzt, die hier sich darbieten? In dem ruhenden reizbaren Gesichtssinn erscheinen die inneren organischen Reize nunmehr als Strahlen, wallende Nebel, und aus ihnen formen und entfalten sich, ohne jede Mitwirkung einer Absicht, da wir im Gegenteil in reines ruhigstes Anschauen versenkt sind, leuchtende, farbige Phantasiebilder, die in bestÈndiger Abwandlung begriffen sind. Darauf folgt in EH das zweite Unterkapitel, also 2., des zweiten Kapitels: E r l È u t e r n d e S È t z e Ý b e r d i e P h a n t a s i e d e r D i c h t e r . Es ist stark verÈndert und gekÝrzt um die Beziehung zu Kant. Vgl. unten unter 119, 17 – 121, 38. D1 Im Gegensatz zu EH hat das zweite Kapitel in D1 wie alle andern keine Àberschrift und keine bezifferte Untergliederung. Es enthÈlt neben den allgemeinen AusfÝhrungen Ýber die Phantasie Goethes Beobachtungen seiner PhantasietÈtigkeit (fÝr die in EH bereits ein drittes Kapitel vorgesehen ist und die in D2 Grundbestand sind fÝr: DIE DICHTERISCHE PHANTASIE GOETHES.). 2. Ich mÚchte versuchen, diesen Grundzug in Goethes poetischem Schaffen zu zergliedern und ihm in der Mannigfaltigkeit dichterischer Verfahrungsweisen seinen Ort zu bestimmen.

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Die P h a n t a s i e in ihrer Stellung zur Welt der Erfahrungen bildet den notwendigen Ausgangspunkt. Sie tritt uns als ein Wunder, als ein von dem Alltagstreiben der Menschen gÈnzlich verschiedenes PhÈnomen gegenÝber, ist aber doch nur eine mÈchtigere Organisation gewisser Menschen, welche in der seltenen StÈrke bestimmter elementarer VorgÈnge gegrÝndet ist; von diesen aus baut sich dann das geistige Leben seinen allgemeinen Gesetzen gemÈß zu einer ganz von dem GewÚhnlichen abweichenden Gestalt auf. Die Erinnerungsbilder haben in verschiedenen Individuen unter sonst gleichen Bedingungen einen ganz verschiedenen Grad von Helle und StÈrke, von SinnfÈlligkeit oder Bildlichkeit. Von den Vorstellungen als farb- und lautlosen Schatten bis zu den im Sehraum bei geschlossenen Augen projizierbaren Gestalten der Dinge und Menschen erstreckt sich eine Reihe ganz verschiedener Formen von Reproduction. Mit der Begabung fÝr darstellende Poesie ist nun eine außerordentliche FÈhigkeit, reproduzierten oder frei gebildeten Vorstellungen Augenscheinlichkeit und hellste SinnfÈlligkeit zu erhalten oder zu verleihen, verknÝpft. Bedarf doch das in Gestalten Denken des Dichters Ýberall des SinnfÈlligen, der Bewegung von scharf umrissenen Gestalten als seiner Grundlage. Zugleich verlangt es FÝlle der erworbenen EindrÝcke und VollstÈndigkeit der Erinnerungsbilder: daher sind auch Dichter meist gewaltige ErzÈhler. Wie diese Kraft doch begrenzt ist hat Goethe selbst wahrgenommen: „Die Phantasie kann nie eine Vortrefflichkeit so vollkommen denken, als sie im Individuum wirklich erscheint. Nur vager, nebliger, unbestimmter, grenzenloser denkt sie sich die Phantasie, aber niemals in der charakteristischen VollstÈndigkeit der Wirklichkeit.“ Welches ist nun das VerhÈltnis zwischen der angesammelten Erfahrung und der frei schaffenden Phantasie, zwischen der Reproduktion von Gestalten, Situationen und Schicksalen und ihrer SchÚpfung? Die Assoziation, welche gegebene Elemente in einer gegebenen Verbindung zur Vorstellung zurÝckruft, und die Einbildungskraft, welche aus den gegebenen Elementen neue Verbindungen herstellt, scheinen voneinander durch die klarste Grenzlinie getrennt. Indem man die wirkliche Beziehung dieser beiden großen psychischen Tatsachen untersucht, gilt es, die deskriptive Methode ohne jede Einmischung erklÈrender Hypothesen anzuwenden, um den sicheren Zusammenhang des TatsÈchlichen so klar als mÚglich aufzufassen. So allein kann dem Historiker der Poesie Zutrauen entstehen, sich der feineren Einsichten der Psychologie anstatt der grobkÚrnigen Vorstellungen des gemeinen Lebens fÝr seine Auffassung der Literatur zu bedienen: denn nur durch allgemeine Vorstellungen von psychischen Tatsachen fassen wir jedes individuelle PhÈnomen der Geschichte auf, stellen wir es dar. Das Zutrauen der Geschichtschreiber und positiven Forscher wird erscheinen mit der Sonderung einer deskriptiven Psychologie von der hypothetisch erklÈrenden. Jene ist Grundlage der Geisteswissenschaften, diese ist allmÈhliche Ausbildung mÚglicher Hypothesen Ýber den letzten Zusammenhang geistiger Tatsachen untereinander und mit denen der Natur. Solche Hypothesen sind in bezug auf das hier vorliegende VerhÈltnis von Erinnerung und freier Phantasie sowohl die Annahme unbewußter Vorstellungen als die von bloßen zurÝckbleibenden physiologischen Spuren – die Annahme, daß die Vorstellung, welche wir erinnern, als fixes Element dem Atom vergleichbar zurÝckkehre und, so zurÝckgekehrt, vermÚge ihres VerhÈltnisses zu anderen Vorstellungen in Bildungsprozesse eintrete. In der von uns auffaßbaren Wirklichkeit kehrt dieselbe Vorstellung so wenig in einem Bewußtsein zurÝck als sie in einem zweiten Bewußtsein als ganz dieselbe wieder vorkommt. So wenig als der neue FrÝhling die alten BlÈtter auf den BÈumen mir wieder sichtbar macht, so wenig werden die Vorstellungen eines vergangenen Tages an dem heutigen wiedererweckt, etwa nur dunkler oder undeutlicher. Wenn wir, in derselben Lage verharrend, das Auge das einen Gegenstand in sich gefaßt hat, schließen, und dann, ohne Nachwirkung des Reizes selber auf der Netzhaut in Nachbildern, die Vorstellung, in welche die Wahrnehmung Ýbergegangen ist, ihre hÚchste StÈrke und SinnfÈllig-

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keit noch besitzt: dann wird in diesem Erinnerungsnachbilde nur ein Teil derjenigen Elemente vorgestellt, welche in dem Wahrnehmungsvorgang enthalten waren; und schon hier, wo doch nur eine seelenlose, tote Erinnerung stattfindet, ist bei lebhafter Anstrengung, das ganze Bild zurÝckzurufen, eine versuchende Nachbildung unverkennbar. Wenn aber zwischen die Wahrnehmung und die Vorstellung andere Bilder sich eingedrÈngt haben, wirkt das AssoziationsverhÈltnis, vermÚge dessen auf den Schauplatz des Bewußtseins eine Vorstellung gerufen wird, auf die Richtung, in welcher die zu reproduzierende Vorstellung sich aufbaut; es wirken die Formen der Beziehung, wie •hnlichkeit oder Kontrast; es wirkt der Inhalt der Vorstellung oder des Vorstellungsinbegriffs, von welchem aus reproduziert wird; es wirken die GefÝhle und Antriebe, unter deren Macht erinnert wird. Wie die sinnliche Wahrnehmung von einem Èußeren, so baut sich die erinnerte Vorstellung von einem bestimmten inneren Gesichtspunkte aus auf; sie nimmt dabei nur so viel Elemente aus dem Tatbestande, der von der Wahrnehmung zurÝckblieb, als Baumaterial auf, als die nunmehr gegenwÈrtigen Bedingungen mit sich bringen, und diese erteilen dem Bilde seine GefÝhlsbeleuchtung durch die Beziehung zu dem gegenwÈrtigen GemÝtszustand in •hnlichkeit oder Kontrast; wie denn in Zeiten schmerzlichster Unruhe das Bild eines ehemaligen ruhigen und freudlosen Zustandes wie eine selige Insel sonnigsten Friedens vor uns auftauchen kann. Ja, es baut sich eine irrtÝmliche und ganz falsche Vorstellung auf, wenn angestrengte Aufmerksamkeit ein helleres Bild erstrebt, als der zurÝckgebliebene Tatbestand unter den vorhandenen psychologischen Bedingungen zu formen gestattet, oder wo der Gesichtspunkt dahin wirkt, daß dieser Aufbau eine von der Wahrnehmung abweichende Gestalt empfÈngt. Bilder, welche durch Beziehungen nur wie durch einen augenblicklichen Sonnenblick sichtbar werden, dÝrfen hier außer acht gelassen werden. Und wenn wir nun endlich zumeist nicht EinzeleindrÝcke uns zurÝckzurufen streben, deren Erinnerung auf einen bestimmten Wahrnehmungsakt als ein Augenblicksbild sich bezieht, sondern Vorstellungen oder Vorstellungsverbindungen, deren jede den Gegenstand in allen seinen von uns wahrgenommenen Lagen reprÈsentiert: dann steht der Aufbau einer solchen Vorstellung noch viel weiter ab von toter Reproduktion und nÈhert sich noch viel mehr dem der kÝnstlerischen Nachbildung. Kurz wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf GedÈchtnis beruhte, so gibt es kein GedÈchtnis, das nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose. Und diese Erkenntnis lÈßt den Zusammenhang zwischen den elementarsten VorgÈngen unseres psychischen Lebens und den hÚchsten Leistungen des menschlichen schÚpferischen VermÚgens sichtbar werden. Sie lÈßt in die UrsprÝnge jenes mannigfaltigen, an jedem Punkte ganz individuellen und nur einmal so vorhandenen beweglichen geistigen Lebens blicken, dessen glÝcklichster Ausdruck die unsterblichen GeschÚpfe der kÝnstlerischen Phantasie sind. Die Reproduktion selber ist ein Bildungsprozeß. So lÈsst sich die Organisation des Dichters nach dieser Seite schon in der MÈchtigkeit der einfachen VorgÈnge von Wahrnehmung, GedÈchtnis, Reproduktion aufzeigen, mittels deren sich Bilder mannigfachster Art, Charaktere, Schicksale, Situationen in dem Bewußtsein bewegen; in dem Erinnern selber entdecken wir eine Seite, durch welche es der Einbildungskraft verwandt ist; und die Metamorphose durchwaltet das ganze Leben von Bildern in unserer Seele. Dies zeigt sich auch in den merkwÝrdigen PhÈnomenen der Gesichtserscheinungen. Wer hÈtte nicht, vor dem Einschlafen, geschlossenen Auges, sich an den einfachsten PhÈnomenen ergÚtzt, die hier sich darbieten? In dem ruhenden reizbaren Gesichtssinn erscheinen die inneren organischen Reize nunmehr als Strahlen, wallende Nebel, und aus ihnen formen und entfalten sich, ohne jede Mitwirkung einer Absicht, da wir im Gegenteil in reines ruhigstes Anschauen versenkt sind, leuchtende, farbige Phantasiebilder, die in bestÈndiger Abwandlung begriffen sind. Von diesen allgemeinen Betrachtungen wenden wir uns zu dem was Goethe selber Ýber seine Phantasie bemerkt hat.

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D2 Das erste Unterkapitel des nun benannten, untergliederten, erweiterten Kapitels Ýber dichterische Phantasie allgemein folgt in D2 direkt auf die Einleitung, in deren Schlußsatz es angekÝndigt wird (vgl. D2 oben unter 113, 12 – 114, 37). DICHTERISCHE PHANTASIE. 1. Die P h a n t a s i e tritt uns als ein Wunder, als ein von dem Alltagstreiben der Menschen gÈnzlich verschiedenes PhÈnomen gegenÝber, ist aber doch nur eine mÈchtigere Organisation gewisser Menschen, welche in der seltenen StÈrke bestimmter elementarer VorgÈnge gegrÝndet ist; von diesen aus baut sich dann das geistige Leben seinen allgemeinen Gesetzen gemÈß zu einer ganz von dem GewÚhnlichen abweichenden Gestalt auf. Die Erinnerungsbilder haben in verschiedenen Individuen unter sonst gleichen Bedingungen einen ganz verschiedenen Grad von Helle und StÈrke, von SinnfÈlligkeit und Bildlichkeit. Von den Vorstellungen als farb- und lautlosen Schatten bis zu den im Sehraum bei geschlossenen Augen projizierbaren Gestalten der Dinge und Menschen erstreckt sich eine Reihe ganz verschiedener Formen von Reproduktion. Mit der Begabung fÝr darstellende Poesie ist nun eine außerordentliche FÈhigkeit, reproduzierten oder frei gebildeten Vorstellungen Augenscheinlichkeit und hellste SinnfÈlligkeit zu erhalten oder zu verleihen, verknÝpft. Bedarf doch das in Gestalten Denken des Dichters Ýberall des SinnfÈlligen, der Bewegung von scharf umrissenen Gestalten als seiner Grundlage. Zugleich verlangt es FÝlle der erworbenen EindrÝcke und VollstÈndigkeit der Erinnerungsbilder: daher sind auch Dichter meist gewaltige ErzÈhler. Welches ist nun das VerhÈltnis zwischen der angesammelten Erfahrung und der frei schaffenden Phantasie, zwischen der Reproduktion von Gestalten, Situationen und Schicksalen und ihrer SchÚpfung? Die Assoziation, welche gegebene Elemente in einer gegebenen Verbindung zur Vorstellung wieder zurÝckruft, und die Einbildungskraft, welche aus den gegebenen Elementen neue Verbindungen herstellt, scheinen voneinander durch die klarste Grenzlinie getrennt. Indem man die wirkliche Beziehung dieser beiden großen psychischen Tatsachen untersucht, gilt es, die deskriptive Methode ohne jede Einmischung erklÈrender Hypothesen anzuwenden. So allein kann dem Historiker der Poesie Zutrauen entstehen, sich der feineren Einsichten der Psychologie anstatt der grobkÚrnigen Vorstellungen des gemeinen Lebens fÝr seine Auffassung der Literatur zu bedienen. In dem von uns auffaßbaren seelischen Verlauf kehrt dieselbe Vorstellung so wenig in einem Bewußtsein zurÝck, als sie in einem zweiten Bewußtsein als ganz dieselbe wieder vorkommt. So wenig als der neue FrÝhling die alten BlÈtter auf den BÈumen mir wieder sichtbar macht, so wenig werden die Vorstellungen eines vergangenen Tages an dem heutigen wiedererweckt, etwa nur dunkler oder undeutlicher. – Wenn wir, in derselben Lage verharrend, das Auge, das einen Gegenstand in sich gefaßt hat, schließen, und dann, ohne Nachwirkung des Reizes selber auf der Netzhaut in Nachbildern, die Vorstellung, in welche die Wahrnehmung Ýbergegangen ist, ihre hÚchste StÈrke und SinnfÈlligkeit noch besitzt: so wird in diesem Erinnerungsnachbilde nur ein Teil derjenigen Elemente vorgestellt, welche in dem Wahrnehmungsvorgang enthalten waren; und schon hier, wo doch nur eine seelenlose, tote Erinnerung stattfindet, ist bei lebhafter Anstrengung, das ganze Bild zurÝckzurufen, eine versuchende Nachbildung unverkennbar. – Wenn aber zwischen die Wahrnehmung und die Vorstellung andere Bilder sich eingedrÈngt haben und wir nun die Wahrnehmung vollstÈndig zurÝckzurufen streben, so baut sich die erinnerte Vorstellung von einem bestimmten inneren Gesichtspunkte aus auf; sie nimmt dabei nur so viel Elemente aus dem Tatbestande, der von der Wahrnehmung zurÝckblieb, als Baumaterial auf, als die nunmehr gegenwÈrtigen Bedingungen mit sich bringen, und diese erteilen dem Bilde seine GefÝhlsbeleuchtung durch die Beziehung zu dem gegenwÈrtigen GemÝtszustand in •hnlichkeit oder Kontrast; wie denn in Zeiten schmerzlichster Unruhe das Bild eines ehemaligen ru-

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higen und freudlosen Zustandes wie eine selige Insel sonnigsten Friedens vor uns auftauchen kann. Ja, es baut sich nicht selten eine ganz falsche Vorstellung auf. – Und wenn wir nun endlich doch zumeist nicht EinzeleindrÝcke uns zurÝckzurufen streben, deren Erinnerung auf einen bestimmten Wahrnehmungsakt als ein Augenblicksbild sich bezieht, sondern Vorstellungen oder Vorstellungsverbindungen, deren jede den Gegenstand in allen seinen von uns wahrgenommenen Lagen reprÈsentiert: dann steht der Aufbau einer solchen Vorstellung noch viel weiter ab von toter Reproduktion und nÈhert sich noch viel mehr dem der kÝnstlerischen Nachbildung. – Kurz wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf GedÈchtnis beruhte, so gibt es kein GedÈchtnis, das nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose. Und diese Erkenntnis lÈßt den Zusammenhang zwischen den elementarsten VorgÈngen des psychischen Lebens und den hÚchsten Leistungen unseres schÚpferischen VermÚgens sichtbar werden. Sie lÈßt in die UrsprÝnge jenes mannigfaltigen, an jedem Punkte ganz individuellen und nur einmal so vorhandenen, beweglichen geistigen Lebens blicken, dessen glÝcklichster Ausdruck die unsterblichen GeschÚpfe der kÝnstlerischen Phantasie sind. Die Reproduktion selber ist ein Bildungsprozeß. So lÈßt sich die Organisation des Dichters nach dieser Seite schon in der MÈchtigkeit der einfachen VorgÈnge von Wahrnehmung, GedÈchtnis, Reproduktion aufzeigen, mittels deren sich Bilder mannigfachster Art, Charaktere, Schicksale, Situationen in dem Bewußtsein bewegen. Im Erinnern selber entdecken wir dann eine Seite, durch welche es der Einbildungskraft verwandt ist: die Metamorphose durchwaltet das ganze Leben der Bilder in unserer Seele. Dies zeigt sich auch in den merkwÝrdigen PhÈnomenen der Gesichtserscheinungen. Wer hÈtte nicht, vor dem Einschlafen, geschlossenen Auges, sich an den einfachsten PhÈnomenen ergÚtzt, die hier sich darbieten? In dem ruhenden reizbaren Gesichtssinn erscheinen die inneren organischen Reize nunmehr als Strahlen, wallende Nebel, und aus ihnen formen und entfalten sich, ohne jede Mitwirkung einer Absicht, da wir im Gegenteil in reines ruhigstes Anschauen versenkt sind, leuchtende farbige Phantasiebilder, die in bestÈndiger Abwandlung begriffen sind. Die Umformung der Bilder und bildlichen ZusammenhÈnge, wie sie in dem Erinnern stattfindet, ist indes nur der einfachste und darum am meisten unterrichtende Fall der Bildungsprozesse, welche die Phantasie charakterisieren. Steigernd, mindernd, einordnend, verallgemeinernd, Typen bildend, gestaltend-umgestaltend, unbewußt bald und bald willkÝrlich – so bringen diese Prozesse neue anschauliche Gebilde ohne Zahl hervor. ZÝge der Bilder werden ausgeschaltet, andere gesteigert und aus Erinnerungen werden Anschauungen ergÈnzt. Und dieselbe Umbildung zu einem Neuen, welches das in Erleben und Gewahren Enthaltene oder aus ihm Erschließbare Ýberschreitet, vollzieht sich auch an den ZusammenhÈngen der Vorstellungsbilder. Ein Denken in Bildern entsteht. In ihm erreicht die Phantasie eine neue Freiheit. Wir versuchen, die Vergangenheit umzudenken. Wir bilden MÚglichkeiten der Zukunft vor. Ersinnen freie Geschehnisse und versenken uns in sie. FÝhlen uns in Lebloses ein und erhÚhen es zu unerhÚrten beseelten VorgÈngen. Und all dies steigert sich, wenn die hier waltende SelbsttÈtigkeit in bewußter Absicht zweckmÈßig wirksam wird. Die KrÈfte, welche diese Reihe von BildungsvorgÈngen hervorrufen, stammen aus den Tiefen des GemÝts, das vom Leben mannigfach zu Lust, Leid, Stimmung, Leidenschaft, Streben bewegt wird. In diesem allem liegt ein großer Zug, der von den untersten VorgÈngen des Seelenlebens aufwÈrts Naturen, die dazu organisiert sind, zum dichterischen Schaffen vorwÈrtszieht. Er wirkt mit hÚchster StÈrke im Kind, im Naturmenschen, in den Menschen des Affekts und der TrÈume, in den KÝnstlern. So ist er unterschieden von der regulierten Phantasie im politischen Kopf, dem Erfinder, dem Forscher, deren bestÈndige Selbstkontrolle die Bildungsprozesse am Maß der Wirklichkeit festhÈlt.

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D3 Der Text weicht, abgesehen von seiner Position im Aufsatz und einigen WÚrtern, an zwei Stellen ab. Neu ist der Abschnitt zwischen dem ersten und zweiten von D2 (nach 116, 21): Schon wenn die Wahrnehmung aus gleichzeitigen Empfindungen Gestalten im Raum oder aus ihrer Abfolge Rhythmen, Melodien, Lautgebilde aufbaut, macht sich dabei die Eigenart des Dichters geltend; vor allem wirken in ihm auf die Wahrnehmungsbildung mit ursprÝnglicher Macht seine LebensbezÝge, Stimmungen, Leidenschaften. – Statt: und dann ohne Nachwirkung des Reizes selber auf der Netzhaut in Nachbildern, die Vorstellung, in welche die Wahrnehmung (D2) vereinfacht fÝr D3: und so die Vorstellung, in welche die Wahrnehmung (117, 22–23). Vgl. vorn im Textteil Goethe (1910) 116–119. 119, 17 – 121, 38 Wie entsteht bis verstanden werden: Das zweite Unterkapitel von DICHTERISCHE PHANTASIE in D3 hat sich erst allmÈhlich konsolidiert und seinen Platz bekommen, es lÈßt sich zwar von D1 bis D3 verfolgen, ist dagegen in E und EH schwerer erkennbar. Deshalb wird der Gesamtzusammenhang wiedergegeben, aus dem es sich entwickelt und aus dem die •ußerungen Goethes Ýber seine PhantasietÈtigkeit als Grundbestand eines eigenen Kapitels in D2 herausgelÚst werden (vgl. DIE DICHTERISCHE PHANTASIE GOETHES unten unter: 122, 1 – 127, 2). E Soweit reichen diese einfacheren VorgÈnge. In derjenigen Metamorphose und Gestaltung, welche in der dichterischen Phantasie wirksam ist und zur Idealisirung von Menschen, Natur und Begebenheiten fÝhrt, sind aber noch ganz andere psychische KrÈfte tÈtig und erzeigen sich in dem Dichter mit besonderer Gewalt. Diese KrÈfte wirken schon in den Phantasiebildungen des Traumes, welcher der Èlteste aller Poeten ist, in den Visionen, von denen Goethe, Tiek und andere Dichter berichten, in der Macht der dichterischen Gestalten, die sich beinahe der Èußeren Gegenwart nÈhert, wie sie in Bekenntnissen von Ludwig, Dickens u. a. hervortritt. In all diesen Gebilden ist ein affectives Element. Das Studium der complicirteren Gestaltungen, in denen dieses Element mitenthalten ist, hat natÝrlich grÚßere Schwierigkeit als die bisherige ErÚrterung. Die besondere Art von Metamorphose, welche in der dichterischen Phantasie wirkt und zur Idealisirung von Menschen, Schicksalen, ja selbst der dem Verstande toten Natur fÝhrt, ist dadurch bedingt, dass die Vorstellungen hier, gÈnzlich abweichend von der Richtung der Erkenntnis auf Uebereinstimmung mit dem System der Erfahrungen, nur inneren Anforderungen des GemÝts genugzutun ausgebildet werden, welche Anforderungen Èsthetisches Gefallen oder SchÚnheit zum Inhalt haben. Es kÚnnte seltsam scheinen, dass wir Gefallen, einen Lustzustand in uns, und SchÚnheit, eine Eigenschaft von GegenstÈnden, so aneinander rÝcken. Aber die beiden Sinne, auf deren mÈchtiger Entwickelung alle Kunst beruht, Gesichtssinn und GehÚr, objectiviren eben die ZustÈnde und lassen folgerecht auch die in ihnen entstehenden GefÝhlseindrÝcke als Beschaffenheiten und Tatsachen erscheinen; wodurch denn auch der von Kant in den Mittelpunkt seiner Aesthetik gestellte scheinbare Widerspruch sich erklÈrt, dass wir das SchÚne als Object eines allgemeinen Wohlgefallens vorstellen, wÈhrend wir doch die SubjectivitÈt des Geschmacks genau genug kennen zu lernen Gelegenheit haben: vermÚge eines optischen Scheines fassen wir das SchÚne als eine Eigenschaft von GegenstÈnden auf und kÚnnen nicht anders. Welches nun die Merkmale des Èsthetischen Gefallens oder der SchÚnheit im allgemeinsten Verstande seien, diese Frage schließt das letzte Ziel und folgerecht den Maßstab der Beurteilung fÝr alle Kunstwerke in sich, daher sie auch von Kant zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung gemacht wurde; jedoch verlÈsst man mit ihr das Gebiet des Erforschbaren und tritt in die Region ein, in welcher nur ganz allgemeine und weit umgrenzte Anforderungen allen Zeiten und jeder HÚhe individueller Cultur gemeinsam sind; es ist gÈnzlicher Misverstand, hier in einer Gesetzgebung einen Maßstab der Beurteilung entdecken zu wollen, umgekehrt vielmehr sind alle

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Merkmale des echten Èsthetischen Gefallens, durch welche wir inmitten des von den allgemeinsten Bestimmungen beschriebenen Kreises engere Kreise ziehn, die einen Kunstwerke aus-, die anderen einschließend, nur berechtigt als Folgerungen aus den EindrÝcken in Bezug auf eben diese Werke; jede Epoche gibt sich hier in der Macht des Eindrucks, welchen Dichtungen auf alle Classen der Menschen ausÝben, ihr eigenes Gesetz, wie denn fÝr uns die Èsthetische Gesetzgebung der grossen classischen Epoche nicht mehr gÝltig ist. Hier tritt zu Tage, wie der Ausgangspunkt Kants seinen Èsthetischen Forschungen die strenge GÝltigkeit erschwert; seine Aesthetik stellt neben objectiv allgemein gÝltigen Merkmalen des SchÚnen solche auf, welche ein Ausdruck des Empfindens der classischen Epoche waren und fÝr unser Èsthetisches Genießen zu enge Grenzen ziehen; sie ist in Folge ihres Ausgangspunktes von vornherein subjectiv. Auch hier tritt die Grenze in Kants Forschungen hervor; ihm war der historische Gesichtspunkt fremd, und doch vermag erst die vergleichende historische Uebersicht die Einsicht in die Verschiedenheit der Anforderungen an das Kunstwerk wie an das Gemeinsame im Verschiedenen zu gewÈhren. FÝr den vorliegenden Zusammenhang reicht es zu, Ýber das, was in der Organisation des Dichters als Bedingung der Èsthetischen Wirkung vorausgesetzt werden muss und in den biographischen Tatsachen sich vorfindet, das Einfache und unzweifelhaft ganz Allgemeine festzustellen. Der Zustand der hervorbringenden Phantasie und der Èsthetische Eindruck, so verschieden sie sind, stehen in einem gesetzlichen VerhÈltnis zu einander, wie auf dem Gebiet der Erkenntnis die VorgÈnge der Entdeckung und die Regeln der Evidenz, wie auf dem der Sittlichkeit die sittliche Kraft und das moralische Urteil, von welchen Paaren von Tatsachen irrtÝmlich immer bald der eine bald der andere Teil zum ausschließlichen Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse gemacht worden ist. Daher machen wir aus dem Èsthetischen Eindruck unwillkÝrlich SchlÝsse auf den Zustand, in welchem das Kunstwerk sich bildete, und die Wissenschaft kann dieses Schlussverfahren nur vermÚge der leider seit Schleiermacher und BÚckh so vernachlÈssigten Hermeneutik oder Theorie des Verstehens regeln und durch die directe biographische Untersuchung ergÈnzen. Wenn in dem Betrachten des Kunstwerks alle Energien der reichen menschlichen Natur befriedigt sind, ohne jedes Interesse an der Herstellung irgend eines Tatbestandes, so dass kein Weg von Mitteln zum Zweck zu durchlaufen ist, der die Aufmerksamkeit auf das Ziel hinrichtet, sondern Alles Zweck ist, befriedigte Anschauung, eine Versenkung, die uns dem Gegenstande ganz hingibt und unser Selbst mit seinen persÚnlichen BedÝrfnissen schweigen macht: dann muss doch folgerichtig in der productiven Phantasie eine solche GemÝtsverfassung ebenfalls gegenwÈrtig sein; in ihr entspringt die Conception des Kunstwerks, entspringen die hÚchsten Momente seines Wachstums, wÈhrend die Arbeit selber keineswegs ganz frei von der Anstrengung des Willens sein kann, der in der Herstellung eines Werkes seinen Zweck hat. Daher die Metamorphose und Gestaltung von Erfahrungselementen in dem Dichter nicht aus ihrem VerhÈltnis zu dem Zusammenhang der Erkenntnis ihr Gesetz schÚpft, sondern aus diesem im GemÝt empfangenen idealischen Bilde. Daher weiter in dem Dichter eine außerordentliche Macht der GefÝhle, ein reiches GemÝtsleben, wie es aus dem Hegen und Erinnern der GefÝhle entspringt, das Leitende fÝr die Gestaltung und Metamorphose von Bildern wird. Ein solcher Geist lebt in dem Reichtum der Erfahrungen der Menschenwelt, wie er sie in sich findet und außer sich gewahrt und diese Tatsachen sind ihm weder Daten, welche er zur Befriedigung seines Systems von BedÝrfnissen benutzt, noch solche, von denen aus er Generalisationen erarbeitet; das Dichterauge ruht sinnend und in Ruhe auf ihnen: sie sind ihm bedeutsam; die GefÝhle des Dichters werden von ihnen angeregt, bald leise, bald mÈchtig, gleichviel wie fern dem eignen Interesse diese Tatsachen liegen oder wie lange sie vergangen sind: sie sind ein Teil seines Selbst. Kant bezeichnet richtig den Zustand des kÝnstlerischen Genusses als interesselose d. h. von jeder Beziehung auf das BegehrungsvermÚgen freie Contemplation. Er ist gegrÝndet in einer Be-

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friedigung unserer nach ErfÝllung strebenden Energien auf dem Boden Eines unserer beiden hÚheren Sinne, als welche allein ein Objectives hinstellen. Daher im wahren Kunstwerk das was den Sinnen in der Empfindung gefÈllt (welches Kant als das angenehme aus dem Reiche der Kunst ausschließt), das was unsere hÚheren GefÝhle in’s Spiel setzt, das was die denkende Betrachtung beschÈftigt, verknÝpft ist, gerade hierauf beruht, dass kein Mangel empfunden wird und die im Leben nur vorÝbergehende und particulare Befriedigung dauernd wird. So hat also jedes Zeitalter in seinen GewÚhnungen einen ihm eigenen Maßstab des kÝnstlerischen Gefallens und die Geschichte des Geschmacks hat aus den VerÈnderungen der Cultur diesen Wechsel begreiflich zu machen. Diese Frage verwickelt sich freilich dadurch, dass fÝr den modernen Menschen das historische Interesse und die historische Betrachtung die etwaigen intellectuellen MÈngel Èlterer Kunstwerke ergÈnzen; sie genießen die Vorteile der sinnlichen Jugend der VÚlker, und ihren Mangel an intellectuellem Gehalt wiegt ihre historische Beziehung auf, als ein hinzutretendes intellectuelles Interesse. Diese Befriedigung unserer nach ErfÝllung strebenden Energien ist eine TÈtigkeit ohne Èußeren Zweck und sie gehÚrt daher, wie Schiller tiefsinnig sah, in das Reich des Spiels. Die Ideenfolge dessen, der einen Satz beweisen will, hat ihr Interesse an der erreichten Evidenz, die Arbeit dessen, der einen Vertrag herbeifÝhren will, gelangt erst in dem Augenblick zur Befriedigung, wenn endlich die Unterschriften gesichert sind. Das Spiel der Kunst erreicht was das Leben in den seltenen Momenten, in denen wir mit richtigem Takte seine SchÚnheit preisen, gewÈhrt: eine BeschÈftigung unserer rastlosen Energien, welche lauter Genuss ist. Die AnfÈnge dieses Spiels kÚnnen wir bis in das Leben der hÚheren Tiere zurÝck verfolgen. Denn die hÚchstorganisirten Tiere setzen schon in Nachahmung ihrer ernstlichen auf Zwecke gerichteten LebensÈußerungen ihre KrÈfte durch einen vorgestellten Verlauf in’s Spiel und hier schon wird derjenige Affect durch einen simulirten Vorgang in Bewegung gesetzt welcher im Tier am meisten heftig arbeitet. – KÝnstlerisch ist nur diejenige TÈtigkeit, welche ein in solcher GemÝtsverfassung Geschautes herausarbeitet und daher diese GemÝtsverfassung mitteilt. Die Kunst entwickelt im Menschengeschlecht die verschiedenen Formen dieser GemÝtszustÈnde und ihre hÚchste Aufgabe ist eine Schule dieser hÚheren Betrachtungsweise zu sein; denn der Natur und dem Leben gegenÝber entwickelt sich diese Stimmung schwerer als dem Kunstwerk gegenÝber, die großen Dichter aber lehren uns die Welt mit Seherauge gewahren. Die Grundform der dichterischen Einbildungskraft ist also Gestaltung des in der Erfahrung Enthaltenen unter der Einwirkung einer bestimmten Art affectiver Verfassung. Die Wirkung der affectiven ZustÈnde auf die Gestaltung von Warnehmungs- und Vorstellungsinhalten kann in einem weiten Bereich von Tatsachen studirt werden; Furcht, Schrecken und Angst lassen so gut die falschen und tÚrichten ErzÈhlungen entstehen, die sich in einer geschlagenen Armee verbreiten, als die Wahngebilde des Aberglaubens, die in schuldigen oder hoffnungslosen GemÝtern sich entwickeln; der Hass der Parteien ruft jene seltsamen Verleumdungszeiten hervor, deren eine Keller in ZÝrich erlebte und in dem „verlorenen Lachen“ darstellte; die TrÈume des Ehrgeizes und des Egoismus entstehen so gut unter solchen Bedingungen als die SchÚpfungen des Dichters. Das hier dargelegte kÚnnte durch Zeugnisse belegt werden, die ich seit manchem Jahre zum Zweck einer inductiven Untersuchung der Poesie gesammelt habe; in dem vorliegenden Zusammenhang haben nur die Aeußerungen Goethes ein hÚheres Interesse. Der sich an dieser Stelle in E mit den Selbstzeugnissen Goethes fortsetzende Text – Auf die Naturgrundlagen bis verknÝpfen muss. – steht unten unter 122, 1 – 127, 2. EH Ein Teil des in E fortlaufenden Textes macht das zweite Unterkapitel des zweiten Kapitels, E r lÈuternde SÈtze Ýber die Phantasie der Dichter, in EH aus: 2. In der Metamorphose und Gestaltung, welche in der dichterischen Phantasie wirksam ist

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und zur Idealisirung von Menschen, Natur und Begebenheiten fÝhrt, sind nun affektive KrÈfte mit besonderer StÈrke tÈtig. Sie wirken schon in den Phantasiebildungen des Traumes, welcher der Èlteste aller Poeten ist, in den Visionen, von denen Goethe, Tiek und andere Dichter berichten. Diese affektive Grundlage, die den dichterischen mit anderen starken und ausgebildeten Phantasievorstellungen, besonders dem Traum gemeinsam ist, erhÈlt einen eigenen Charakter in den Gebilden, die bestimmt sind einen Èsthetischen Eindruck zu machen. GÈnzlich abweichend von der Richtung der Erkenntnis auf Uebereinstimmung mit dem System der Erfahrungen werden diese in der Richtung ausgebildet, daß sie den Anforderungen des GemÝts genugtun, die Èsthetisches Gefallen zum Inhalt haben. Welches nun die Merkmale des Èsthetischen Gefallens im allgemeinsten Verstande seien, diese Frage schließt das letzte Ziel und folgerecht den Maßstab der Beurteilung fÝr alle Kunstwerke in sich; aber nur ganz allgemeine und weit umgrenzte Anforderungen sind allen Zeiten und jeder HÚhe individueller Cultur gemeinsam: jede Epoche gibt sich hier in der Macht des Eindrucks, welchen Dichtungen auf alle Classen der Menschen ausÝben, ihr eigenes Gesetz. Diesem GefÝhlsmoment in der Auffassung des SchÚnen, das sich als Gefallen, RÝhrung, Lachen und Weinen, Mitleid und Furcht Èußert, muß etwas in der Seelenverfassung des Dichters entsprechen. Der Zustand der hervorbringenden Phantasie und der Èsthetische Eindruck, so verschieden sie sind, stehen in einem gesetzlichen VerhÈltnis zu einander, wie auf dem Gebiet der Erkenntnis die VorgÈnge der Entdeckung und die Regeln der Evidenz, wie auf dem der Sittlichkeit die sittliche Kraft und das moralische Urteil, von welchen Paaren von Tatsachen irrtÝmlich bald der eine bald der andere Teil zum ausschließlichen Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse gemacht worden ist. Wir machen aus dem Èsthetischen Eindruck unwillkÝrlich SchlÝsse auf den Zustand, in welchem das Kunstwerk sich bildete, und die Wissenschaft kann dieses Schlussverfahren vermÚge der leider seit Schleiermacher und BÚckh so vernachlÈssigten Hermeneutik oder Theorie des Verstehens regeln und durch die directe biographische Untersuchung ergÈnzen. Wie in dem Betrachten des Kunstwerks alle Energien der reichen menschlichen Natur befriedigt sind, ohne jedes Interesse an der Herstellung irgend eines Tatbestandes, so dass kein Weg von Mitteln zum Zweck zu durchlaufen ist, der die Aufmerksamkeit auf das Ziel hinrichtet, sondern Alles Zweck ist, befriedigte Anschauung, eine Versenkung, die uns dem Gegenstande ganz hingibt und unser Selbst mit seinen persÚnlichen BedÝrfnissen schweigen macht: so entspringen aus solcher GemÝtsverfassung auch die Conception des Kunstwerks und die hÚchsten Momente seines Wachstums, wÈhrend die Arbeit selber keineswegs ganz frei von der Anstrengung des Willens sein kann, der in der Herstellung eines Werkes seinen Zweck hat. Daher die Metamorphose und Gestaltung von Erfahrungselementen in dem Dichter nicht aus ihrem VerhÈltnis zu dem Zusammenhang der Erkenntnis ihr Gesetz schÚpft, sondern aus diesem im GemÝt empfangenen idealischen Bilde. Daher weiter in dem Dichter eine außerordentliche Macht der GefÝhle, ein reiches GemÝtsleben, wie es aus dem Hegen und Erinnern der GefÝhle entspringt, das Leitende fÝr die Gestaltung und Metamorphose von Bildern wird. Ein solcher Geist lebt in dem Reichtum der Erfahrungen der Menschenwelt, wie er sie in sich findet und außer sich gewahrt und diese Tatsachen sind ihm weder Daten, welche er zur Befriedigung seines Systems von BedÝrfnissen benutzt, noch solche, von denen aus er Generalisationen erarbeitet; das Dichterauge ruht sinnend und in Ruhe auf ihnen: sie sind ihm bedeutsam; die GefÝhle des Dichters werden von ihnen angeregt, bald leise, bald mÈchtig, gleichviel wie fern dem eignen Interesse diese Tatsachen liegen oder wie lange sie vergangen sind: sie sind ein Teil seines Selbst. Der Zustand des kÝnstlerischen Genusses ist gegrÝndet in einer Befriedigung unserer nach ErfÝllung strebenden Energien auf dem Boden Eines unserer beiden hÚheren Sinne, als welche allein ein Objectives hinstellen. Daher im wahren Kunstwerk das was den Sinnen in der Empfindung gefÈllt (welches Kant als das angenehme aus dem Reiche der Kunst ausschließt), das

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was unsere hÚheren GefÝhle in’s Spiel setzt, das was die denkende Betrachtung beschÈftigt, verknÝpft ist: gerade hierauf beruht, dass kein Mangel empfunden wird und die im Leben nur vorÝbergehende und particulare Befriedigung dauernd wird. So hat also jedes Zeitalter in seinen GewÚhnungen einen ihm eigenen Maßstab des kÝnstlerischen Gefallens und die Geschichte des Geschmacks hat aus den VerÈnderungen der Cultur diesen Wechsel begreiflich zu machen. Diese Befriedigung unserer nach ErfÝllung strebenden Energien ist eine TÈtigkeit ohne Èußeren Zweck und sie gehÚrt daher, wie Schiller tiefsinnig sah, in das Reich des Spiels. Die Ideenfolge dessen, der einen Satz beweisen will, hat ihr Interesse an der erreichten Evidenz, die Arbeit dessen, der einen Vertrag herbeifÝhren will, gelangt erst in dem Augenblick zur Befriedigung, wenn endlich die Unterschriften gesichert sind. Das Spiel der Kunst erreicht was das Leben in den seltenen Momenten, in denen wir mit richtigem Takte seine SchÚnheit preisen, gewÈhrt: eine BeschÈftigung unserer rastlosen Energien, welche lauter Genuss ist. Die AnfÈnge dieses Spiels kÚnnen wir bis in das Leben der hÚheren Tiere zurÝck verfolgen. Denn die hÚchstorganisirten Tiere setzen schon in Nachahmung ihrer ernstlichen auf Zwecke gerichteten LebensÈußerungen ihre KrÈfte durch einen vorgestellten Verlauf in’s Spiel und hier schon wird derjenige Affect durch einen simulirten Vorgang in Bewegung gesetzt welcher im Tier am heftigsten arbeitet. Diejenige TÈtigkeit ist nur kÝnstlerisch, welche ein in solcher GemÝtsverfassung Geschautes herausarbeitet und daher diese GemÝtsverfassung mitteilt. Die Kunst entwickelt im Menschengeschlecht die verschiedenen Formen dieser GemÝtszustÈnde und ihre hÚchste Aufgabe ist eine Schule dieser hÚheren Betrachtungsweise zu sein; denn der Natur und dem Leben gegenÝber entwickelt sich diese Stimmung schwerer als dem Kunstwerk gegenÝber, die großen Dichter aber lehren uns die Welt mit Seherauge gewahren. Die Grundform der dichterischen Einbildungskraft ist also Gestaltung des in der Erfahrung Enthaltenen unter der Einwirkung einer bestimmten Art affectiver Verfassung. Die Wirkung der affectiven ZustÈnde auf die Gestaltung von Warnehmungs- und Vorstellungsinhalten kann in einem weiten Bereich von Tatsachen studirt werden; Furcht, Schrecken und Angst lassen so gut die falschen und tÚrichten ErzÈhlungen entstehen, die sich in einer geschlagenen Armee verbreiten, als die Wahngebilde des Aberglaubens, die in schuldigen oder hoffnungslosen GemÝtern sich entwickeln; der Hass der Parteien ruft jene seltsamen Verleumdungszeiten hervor, deren eine Keller in ZÝrich erlebte und in dem Verlorenen Lachen darstellte; die TrÈume des Ehrgeizes und des Egoismus entstehen so gut unter solchen Bedingungen als die SchÚpfungen des Dichters. D1Dem vorangehenden zweiten Unterkapitel des zweiten Kapitels in EH entspricht in D1 das dritte Kapitel mit Neuem und zugleich mit mehr Elementen aus E als in EH: 3. Phantasie ist in unserem Dasein Ýberall gegenwÈrtig. ZunÈchst ist sie in den Zusammenhang verwoben, in welchem der Mensch sich von außen bedingt findet, und in der Richtung auf Erhaltung und Steigerung seines Daseins wieder nach außen zurÝckwirkt. So bildet jede im tÈglichen Leben stattfindende Mitteilung unwillkÝrlich das Erlebte um. WÝnsche, BefÝrchtungen, TrÈume der Zukunft Ýberschreiten das Wirkliche. Jedes Handeln ist bestimmt durch ein Bild von etwas, das noch nicht ist. Die großen Momente des Daseins, Geburt, Liebe, Tod werden verklÈrt durch BrÈuche, die die RealitÈten umkleiden und Ýber sie hinausweisen. Ich unterscheide nun hiervon das W i r k e n d e r P h a n t a s i e , in welchem sich eine von der Welt unseres Handelns unterschiedene z w e i t e W e l t a u f b a u t . So Èußert sich die Einbildungskraft unwillkÝrlich in den Gebilden des Traumes, welcher der Èlteste aller Poeten ist. Sie wirkt dann willkÝrlich, wo sich der Mensch von der Bindung durch die Wirklichkeit zu befreien strebt: im Spiel, vor allem aber, wo festliche Steigerung des Daseins in Maskenscherz, Verklei-

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dung, festlichem Aufzug eine vom Leben des Tages gesonderte Welt hervorbringt. Das ritterliche Leben und die hÚfische Kultur der Renaissance zeigen, wie solche Entfaltung der Phantasie fÝr die vom Leben ganz abgelÚste SchÚpfung einer zweiten Welt in der Dichtung die inneren und die gesellschaftlichen Bedingungen schafft. In einer anderen Linie des Lebens bereitet sich die Poesie in dem Verkehr mit den unsichtbaren KrÈften vor. Die Anschauungen von gÚttlichen Wesen entstehen zunÈchst aus solchem religiÚsen Verkehr, der diese der physischen Einwirkung unerreichbaren KrÈfte zu beeinflussen strebt: sie bilden sich sonach im Zusammenhang von TÈtigkeiten, die auf VerÈnderungen in der unsichtbaren Ordnung gerichtet sind; daher sind diese Anschauungen eingewoben in das Leben, sein Leiden und Wirken. Ist so die Einbildungskraft in Mythos und GÚtterglaube zunÈchst gebunden an das BedÝrfnis des Lebens, so sondert sie sich doch allmÈhlich im Verlauf der Kultur von den religiÚsen Zweckbeziehungen und erhebt jene zweite Welt zu einer unabhÈngigen Bedeutsamkeit, wie Homer, die griechischen Tragiker, Dante, Wolfram von Eschenbach das zeigen. So lÚst alle darstellende Dichtung die Welt, die sie schafft, von der Bindung los, die in den besonderen Lebensbedingungen des Schaffenden und Genießenden enthalten ist. Und nun der Vorgang selber, in welchem dieses dichterische Schaffen sich vollzieht? Hier greift das andere Moment ein, das die Eigenart darstellender Dichtung bestimmt: aus dem Stoff der Erfahrungen des Lebens baut sie eine zweite Welt auf: eine Welt, die hÚchstes GlÝck ausstrahlt und tiefstes LebensverstÈndnis vermittelt. Was Ýber die Wirkung der Bewußtseinslage auf die Gestaltung der Erinnerungsbilder dargelegt wurde, will nunmehr als ein einzelner Fall aus dem Gebiet der Seelenprozesse verstanden werden, in denen die d i c h t e r i s c h e W e l t sich bildet. Erlebnisse und die durch sie geschaffenen Bedingungen des Auffassens sind immer deren Grundlage. UnwillkÝrliche, unmerkliche VorgÈnge walten hier wie in der Metamorphose der einzelnen Bilder Ýberall. Sie arbeiten bestÈndig an Farbe und Form der Welt, in welcher der Dichter lebt. Hier ist der Punkt, an welchem sich uns der Zusammenhang von Erlebnis und Phantasie im Dichter aufzuschließen beginnt. Die dichterische Welt ist da, ehe dem Poeten aus irgendeinem Geschehnis die Konzeption eines Werkes aufgeht und ehe er die erste Zeile desselben niederschreibt. Der V o r g a n g , in dem ein einzelnes d i c h t e r i s c h e s W e r k s i c h b i l d e t , empfÈngt nun sein Gesetz aus einem Verhalten zur Lebenswirklichkeit, das vom VerhÈltnis der Erfahrungselemente zum Zusammenhang der Erkenntnis ganz verschieden ist. Der Dichter lebt in dem Reichtum der Erfahrungen der Menschenwelt, wie er sie in sich findet und außer sich gewahrt, und diese Tatsachen sind ihm weder Daten, welche er zur Befriedigung seines Systems von BedÝrfnissen benutzt, noch solche, von denen aus er Generalisationen erarbeitet; das Dichterauge ruht sinnend und in Ruhe auf ihnen: sie sind ihm b e d e u t s a m ; die GefÝhle des Dichters werden von ihnen angeregt, bald leise, bald mÈchtig, gleichviel wie fern dem eigenen Interesse diese Tatsachen liegen oder wie lange sie vergangen sind: sie sind ein Teil seines Selbst. Im vollkommenen dichterischen Werke ist miteinander verknÝpft was den Sinnen in der Empfindung gefÈllt, was unsere hÚheren GefÝhle ins Spiel setzt und was die denkende Betrachtung beschÈftigt: nur dann wird kein Mangel empfunden und die im Leben nur vorÝbergehende und partikulare Befriedigung wird dauernd. Die Auffassung des Kunstwerks weiß von keinem Zweck, der außer ihr selbst gelegen wÈre. Die Ideenfolge dessen, der einen Satz beweisen will, hat ihr Interesse an der erreichten Evidenz, aus der Arbeit dessen, der einen Vertrag herbeifÝhrt, entsteht erst in dem Augenblick Befriedigung, wenn endlich die Unterschriften gesichert sind. Das Spiel der Kunst erreicht was das Leben in den seltenen Momenten, in denen wir mit richtigem Takte seine SchÚnheit preisen, gewÈhrt: eine BeschÈftigung unserer rastlosen Energien, welche lauter Genuß ist. Die AnfÈnge dieses Spieles kÚnnen wir bis in das Leben der hÚheren Tiere zurÝck verfolgen. Denn die hÚchstorganisierten Tiere setzen schon in Nachahmung ihrer ernst-

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lichen auf Zwecke gerichteten LebensÈußerungen ihre KrÈfte durch einen vorgestellten Verlauf ins Spiel. Aus der Versenkung in die Welt der Phantasie, die sich dem Gegenstand ganz hingibt und das Selbst mit seinen persÚnlichen BedÝrfnissen schweigen macht, entspringt die Konzeption des Kunstwerks und gleicherweise gehÚren die hÚchsten Momente seines Wachstums ihr an. Hierin haben alle diese Momente der Produktion eine •hnlichkeit mit denen vollbefriedigter Èsthetischer Auffassung. Die poetische Arbeit selbst ist dann auf die Hervorbringung eines Èußeren Werkes gerichtet: dies gibt nun dem bewußten und absichtlichen Schaffen des Dichters seinen Charakter. An dem bunten Teppich der darstellenden Dichtung mit seinen Figuren weben alle KrÈfte des ganzen Menschen. Alle Poesie ist von dem Gedanken durchdrungen; gibt es doch in dem entwickelten Menschen nur wenige Vorstellungen, welche nicht allgemeine Elemente in sich faßten; gibt es doch anderseits in der Menschenwelt vermÚge der Wirkung allgemeiner sozialer VerhÈltnisse und psychologischer Verhaltungsweisen kein Individuum, welches nicht zugleich unter den verschiedenen Gesichtspunkten reprÈsentativ wÈre, kein Schicksal, welches nicht einzelner Fall eines allgemeineren Typus von Lebenswendungen wÈre. Diese Bilder von Menschen und Schicksalen werden unter dem Einfluß der denkenden Betrachtung so gestaltet, daß sie, ob sie gleich nur einen einzelnen Tatbestand hinstellen, doch von dem Allgemeinen ganz gesÈttigt und solchergestalt reprÈsentativ fÝr dasselbe sind. Hierzu bedarf es durchaus nicht der in das dichterische Werk eingestreuten allgemeinen Betrachtungen, deren Funktion vielmehr vorwiegend ist, den Auffassenden zeitweise von dem Bann des Affekts, der Spannung, der fortreißenden Mitempfindung zu befreien, indem sie zu beschaulicher Stimmung erheben. Und zugleich zeigt alle Poesie das GeprÈge des Willens, aus dem sie entsprang. Schon Schiller verfolgte Ýberall in der SchÚnheit den Widerschein des Sittlichen; Goethe Èußerte sich: „darauf kommt alles an. Man muß etwas sein, um etwas zu machen“. „Der persÚnliche Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim Publikum hervor, nicht die KÝnste seines Talents.“ Wie kÚnnte es auch anders sein als daß die Form des Willens das durchwaltet, was aus ihm entsprang, mag sie aus den Gestalten blicken oder aus der FÝhrung der Handlung oder aus Stimmung und GefÝge. Das VerhÈltnis der Phantasie zu ihren Gestalten gleicht innerhalb gewisser Grenzen dem zu wirklichen Menschen, welche durch ihre stetige Beziehung zu dem System unserer Neigungen und Affekte ein Teil unseres Selbst geworden sind. So lebte Dickens mit seinen Gestalten als mit seinesgleichen, litt mit ihnen, wenn sie der Katastrophe sich nÈherten, fÝrchtete sich vor dem Augenblick ihres Untergangs. Balzac sprach von den Personen seiner com¹die humaine als ob sie lebten; er analysierte, tadelte, lobte sie, als gehÚrten sie mit ihm zu derselben guten Gesellschaft; er konnte lange Debatten darÝber fÝhren, was sie in einer Lage, in der sie sich befanden, am besten tun wÝrden. Wie Goethe von den tragischen Affekten seiner Poesie im Vorgang der Dichtung bewegt wurde, kann man erschließen aus seiner •ußerung an Schiller, er wisse nicht, ob er eine wahre TragÚdie schreiben kÚnne, jedoch vor dem Unternehmen schon erschrecke er und sei beinahe Ýberzeugt, daß er sich durch den bloßen Versuch zerstÚren kÚnne. So weicht also der Dichter in einem weit hÚheren Grade von allen anderen Klassen von Menschen ab als man anzunehmen geneigt ist, und wir werden uns, einer philisterhaften Auffassung gegenÝber, welche sich auf biedere Durchschnittsmenschen vom dichterischen Handwerk stÝtzt, daran gewÚhnen mÝssen, das innere Getriebe und die nach außen tretende Handlungsweise solcher dÈmonischen Naturen von ihrer Organisation aus aufzufassen, nicht aber von einem normalen Durchschnittsmaß aus. Von diesem gewaltigen ganz unwillkÝrlichen Bautrieb aus will auch Goethes Lebensweise verstanden werden. D2 Da das erste Kapitel aus D1 mit Berichten Goethes zur Entstehung seiner dichterischen Werke in D2 wegfÈllt, rÝcken die allgemeinen Darlegungen Ýber Phantasie an seine Stelle, unmittelbar hinter

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die nun auch im Inhaltsverzeichnis angegebene Einleitung. Sie erhalten die Àberschrift – DICHTERISCHE PHANTASIE – und setzen sich aus zwei Unterkapiteln zusammen, wie in EH vorgebildet. Dem vorangehenden Text des dritten Kapitels aus D1 entspricht hier das zweite Unterkapitel. 2. Wie entsteht nun aus diesem Zug der Phantasie, der dem poetischen Schaffen entgegenfÝhrt, die dichterische Phantasie selber, und welche sind ihre unterscheidenden Merkmale? Phantasie ist – so sahen wir – in den ganzen seelischen Zusammenhang verwoben. Jede im tÈglichen Leben stattfindende Mitteilung bildet unwillkÝrlich das Erlebte um; WÝnsche, BefÝrchtungen, TrÈume der Zukunft Ýberschreiten das Wirkliche; jedes Handeln ist bestimmt durch ein Bild von etwas, das noch nicht ist: die Lebensideale schreiten vor dem Menschen, ja der Menschheit her und fÝhren sie hÚheren Zielen entgegen: die großen Momente des Daseins, Geburt, Liebe, Tod werden verklÈrt durch BrÈuche, die die RealitÈten umkleiden und Ýber sie hinausweisen. Ich unterscheide nun zunÈchst hiervon das W i r k e n d e r P h a n t a s i e , in welchem sich eine v o n d e r W e l t u n s e r e s H a n d e l n s u n t e r s c h i e d e n e z w e i t e W e l t a u f b a u t . So Èußert sich die Einbildungskraft unwillkÝrlich in den Gebilden des Traumes, welcher der Èlteste aller Poeten ist. Sie erschafft dann im Leben selber willkÝrlich da eine solche zweite Welt, wo der Mensch sich von der Bindung durch die Wirklichkeit zu befreien strebt: im Spiel, vor allem aber, wo festliche Steigerung des Daseins in Maskenscherz, Verkleidung, festlichem Aufzug eine vom Leben des Tages gesonderte Welt hervorbringt. Die ritterliche Zeit und die hÚfische Kultur der Renaissance zeigen, wie die vom Leben ganz abgelÚste SchÚpfung einer poetischen Welt in diesem selber sich schon vorbereitet. Und ebenso baut sich eine von der erfahrenen Wirklichkeit unterschiedene Welt in den Gebilden der religiÚsen Phantasie auf. In dem Verkehr mit den unsichtbaren KrÈften entstehen hier die Anschauungen von gÚttlichen Wesen. Sie sind eingewoben in das Leben, sein Leiden und Wirken. So ist zunÈchst diese religiÚse Einbildungskraft in Mythos und GÚtterglaube gebunden an das BedÝrfnis des Lebens. Im Verlauf der Kultur sondert sie sich allmÈhlich von den religiÚsen Zweckbeziehungen, und sie erhebt nun jene zweite Welt zu einer unabhÈngigen Bedeutsamkeit, wie Homer, die griechischen Tragiker, Dante, Wolfram von Eschenbach das zeigen. Sonach lÚst erst die Poesie die Ýbersinnliche religiÚse Welt ganz von der Bindung los, die in unseren LebensbedÝrfnissen und Zweckbeziehungen enthalten ist. Jetzt erst erfassen wir die Natur der d i c h t e r i s c h e n P h a n t a s i e . Alles bisher Gesagte enthÈlt nur die allgemeinen Bedingungen derselben. Sie ist der Inbegriff der Seelenprozesse, in denen die dichterische Welt sich bildet. Die Grundlage dieser Seelenprozesse sind immer Erlebnisse und der durch sie geschaffene Untergrund des Auffassens. UnwillkÝrliche, unmerkliche VorgÈnge walten hier Ýberall. Sie arbeiten bestÈndig an Farbe und Form der Welt, in welcher der Dichter lebt. Hier ist der Punkt, an welchem sich uns der Zusammenhang von Erlebnis und Phantasie im Dichter aufzuschließen beginnt. Die dichterische Welt ist da, ehe dem Poeten aus irgendeinem Geschehnis die Konzeption eines Werkes aufgeht und ehe er die erste Zeile desselben niederschreibt. Der V o r g a n g , in dem vermittels dieser Seelenprozesse die p o e t i s c h e W e l t e n t s t e h t und ein einzelnes d i c h t e r i s c h e s W e r k s i c h b i l d e t , empfÈngt sein Gesetz aus einem Verhalten zur Lebenswirklichkeit, das vom VerhÈltnis der Erfahrungselemente zum Zusammenhang der Erkenntnis ganz verschieden ist. Der Dichter lebt in dem Reichtum der Erfahrungen der Menschenwelt, wie er sie in sich findet und außer sich gewahrt, und diese Tatsachen sind ihm weder Daten, welche er zur Befriedigung seines Systems von BedÝrfnissen benutzt, noch solche, von denen aus er Generalisationen erarbeitet; das Dichterauge ruht sinnend und in Ruhe auf ihnen: sie sind ihm b e d e u t s a m ; die GefÝhle des Dichters werden von

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ihnen angeregt, bald leise, bald mÈchtig, gleichviel wie fern dem eigenen Interesse diese Tatsachen liegen oder wie lange sie vergangen sind: sie sind ein Teil seines Selbst. An dem bunten Teppich der darstellenden Dichtung mit seinen Figuren weben alle KrÈfte des ganzen Menschen. Das GemÝt ist der Lebensgrund aller Poesie. Sie ist aber zugleich von dem Gedanken durchdrungen. Gibt es doch im entwickelten Menschen nur wenige Vorstellungen, die nicht allgemeine Elemente in sich faßten, und in der Menschenwelt ist vermÚge der Wirkung allgemeiner sozialer VerhÈltnisse und psychologischer Verhaltungsweisen kein Individuum, welches nicht zugleich unter den verschiedenen Gesichtspunkten reprÈsentativ wÈre, kein Schicksal, welches nicht einzelner Fall eines allgemeineren Typus von Lebenswendungen wÈre. Diese Bilder von Menschen und Schicksalen werden unter dem Einfluß der denkenden Betrachtung so gestaltet, daß sie, ob sie gleich nur einen einzelnen Tatbestand darstellen, doch von dem Allgemeinen ganz gesÈttigt und solchergestalt reprÈsentativ fÝr dasselbe sind. Hierzu bedarf es durchaus nicht der in das dichterische Werk eingestreuten allgemeinen Betrachtungen, deren Funktion vielmehr vorwiegend ist, den Auffassenden zeitweise von dem Bann des Affekts, der Spannung, der fortreißenden Mitempfindung zu befreien, indem sie zu beschaulicher Stimmung erheben. Endlich zeigt alle Poesie das GeprÈge des Willens, aus dem sie entsprang. Schon Schiller verfolgte Ýberall in der SchÚnheit den Widerschein des Sittlichen; Goethe Èußerte sich: „Der persÚnliche Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim Publikum hervor, nicht die KÝnste seines Talents.“ Die Form des Willens, welche in der Hervorbringung des Kunstwerks wirksam war, Èußert sich in der FÝhrung der Handlung. Das VerhÈltnis der Phantasie zu ihren Gestalten gleicht innerhalb gewisser Grenzen dem zu wirklichen Menschen. So lebte Dickens mit seinen Gestalten als mit seinesgleichen, litt mit ihnen, wenn sie der Katastrophe sich nÈherten, fÝrchtete sich vor dem Augenblick ihres Untergangs. Balzac sprach von den Personen seiner com¹die humaine als ob sie lebten; er analysierte, tadelte, lobte sie, als gehÚrten sie mit ihm zu derselben guten Gesellschaft; er konnte lange Debatten darÝber fÝhren, was sie in einer Lage, in der sie sich befanden, am besten tun wÝrden. Wie Goethe von den tragischen Affekten seiner Poesie im Vorgang der Dichtung bewegt wurde, kann man erschließen aus seiner •ußerung an Schiller, er wisse nicht, ob er eine wahre TragÚdie schreiben kÚnne, jedoch vor dem Unternehmen schon erschrecke er und sei beinahe Ýberzeugt, daß er sich durch den bloßen Versuch zerstÚren kÚnne. So weicht also der Dichter in einem weit hÚheren Grade von allen anderen Klassen von Menschen ab, als man anzunehmen geneigt ist, und wir werden uns, einer philisterhaften Auffassung gegenÝber, welche sich auf biedere Durchschnittsmenschen vom dichterischen Handwerk stÝtzt, daran gewÚhnen mÝssen, das innere Getriebe und die nach außen tretende Handlungsweise solcher dÈmonischen Naturen von ihrer Organisation aus aufzufassen, nicht aber von einem normalen Durchschnittsmaß aus. Von diesem gewaltigen ganz unwillkÝrlichen Bautrieb aus will auch Goethes Leben und Schaffen verstanden werden. D3 Mit drei •nderungen wie D2. Folgender Satz ist neu in D3: LebensbezÝge beherrschen die poetische Phantasie und kommen in ihr zum Ausdruck, wie sie schon die Bildung der Wahrnehmungen im Dichter beeinflussen. (120, 16–18). Ende des vorletzten Abschnitts oben statt: jedoch vor dem Unternehmen schon erschrecke er: jedoch erschrecke er vor dem Unternehmen schon. Im letzten Abschnitt statt: von einem normalen Durchschnittsmaß aus: von einem Durchschnittsmaß des normalen Menschen aus. Vgl. im Textteil vorn Goethe (1910) 119–121. 122, 1 – 127, 2 DIE DICHTERISCHE PHANTASIE GOETHES bis Natur sein: E Einige der Zeugnisse, von denen D. im folgenden ersten Abschnitt spricht, stehen in D2 bzw. D3 im zweiten Unterkapitel von DICHTERISCHE PHANTASIE, vgl. oben unter 119, 17 – 121, 38.

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Das hier dargelegte kÚnnte durch Zeugnisse belegt werden, die ich seit manchem Jahre zum Zweck einer inductiven Untersuchung der Poesie gesammelt habe; in dem vorliegenden Zusammenhang haben nur die Aeußerungen Goethes ein hÚheres Interesse. Auf die Naturgrundlagen seines dichterischen VermÚgens wirft folgende Stelle der BeitrÈge zur Morphologie ein Licht: „Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloss, und mit niedergesenktem Haupte mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander, und aus ihrem Inneren entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wol grÝnen BlÈttern; es waren keine natÝrlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmÈssig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmÚglich die hervorsprossende SchÚpfung zu fixiren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstÈrkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierrat einer buntgemalten Scheibe dachte, welche dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie hin sich immerfort verÈnderte, vÚllig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope“. Wenn vor dem Einschlafen unter gÝnstigen Bedingungen auch anderen gelingt, in dem dunklen Sehraum die aufsteigenden farbigen Nebel zu Gestalten sich formen und abwandeln zu sehen, so erblicken wir bei Goethe hÚchste Leichtigkeit und SchÚnheit dieser SchÚpfungen einer unwillkÝrlich bildenden Einbildungskraft. Diese Gabe, in einer modificirten Form, ÝbertrÈgt er in den Wahlverwantschaften, welche ja ganz von den Darlegungen unserer physiologischen Bedingtheit auch in den hÚchsten Offenbarungen unseres GemÝtslebens durchdrungen sind, auf die von ihm so geliebte Gestalt der Ottilie; die Darstellung erinnert an das was Cardanus von sich erzÈhlt; zwischen Schlaf und Wachen blickt sie in einen mild erleuchteten Raum, in dem sie den im Krieg abwesenden Eduard gewahrt. Die Gewalt, die die Gebilde der Phantasie Ýber den Dichter selber Ýben, ist in mehreren Stellen des Tasso mit tiefer Kenntnis ausgesprochen, so: „Ich halte diesen Drang vergebens auf, der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt“ u. s. w.; dann wie er Eleonoren den kÝnftigen Weg des Verbannten nach Neapel schildert: „verkleidet geh ich hin, den armen Rock des Pilgers oder SchÈfers zieh ich an u. s. w.“ – man teilt den Schauder Eleonorens, die ihn unterbricht, wie um den unheimlichen Zauber zu brechen, mit welchem ihn dies Phantasiebild umfÈngt. Ja Goethe hat schliesslich die Einsicht Ýber die Natur des Dichters, welche ihm aus solchen inneren Erfahrungen sich ergeben hatte, folgendermaßen generalisirt: „Man sieht deutlicher ein was es heißen wolle, dass Dichter und alle eigentlichen KÝnstler geboren sein mÝssen. Es muss nÈmlich die innere productive Kraft jene Nachbilder, die im Organe, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurÝckgebliebenen Idole, freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervortun, sie mÝssen sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen, zusammenziehen, um aus flÝchtigen Schemen wahrhaft gegenwÈrtige Bilder zu werden“. „Ich bin, erzÈhlte er dem Kanzler MÝller, hinsichtlich meines sinnlichen AuffassungsvermÚgens so seltsam geartet, dass ich alle Umrisse und Formen auf’s SchÈrfste in der Erinnerung behalte, dabei aber durch Misgestaltungen und MÈngel mich auf’s Lebhafteste afficirt finde“. „Ohne jenes scharfe Auffassungs- und EindrucksvermÚgen kÚnnte ich ja auch nicht meine Gestalten so lebendig und scharf individualisirt hervorbringen. Diese Deutlichkeit und PrÈcision der Auffassung hat mich frÝher lange Jahre hindurch zu dem Wahn verfÝhrt, ich hÈtte Beruf und Talent zum Zeichnen und Malen“. In demselben Sinn fasst Goethe in seinen SprÝchen das Ziel der Poesie: „Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das hÚchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, dass sie als gegenwÈrtig fÝr Jedermann gelten kÚnnen“. Der so in der Organisation des Dichters gegebene Vorgang in der Phantasie kann dann weiter nach seinem tatsÈchlichen Verlauf in den einzelnen FÈllen an vielen hinlÈnglich genau erhaltenen VorgÈngen studirt werden, deren literargeschichtliche Ueberlieferung ihrerseits erst wieder durch die Verbindung mit der Theorie der Phantasie ihre hÚhere Durchsichtigkeit und stÈr-

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Textgeschichte und Anmerkungen

keres Interesse empfÈngt. Hier gilt es sich das Auge offen und den Sinn frei fÝr alle Verschiedenheiten in der Combination dieser KrÈfte zu halten und den Dichter, in dem die Ideen herschen, offenen Herzens so gut zu genießen als den, in welchem mÈchtige pathologische ZustÈnde leitend sind oder den, welcher in mildem Lichte ruhiger ObjectivitÈt die Wirklichkeit hinstellt. Es gibt Dichter in denen Gestalten sich viele Jahre hindurch bewegen bevor sie heraustreten. Als einen solchen bezeichnet sich Goethe selber: „Mir drÝckten sich gewisse große Motive, Legenden, uralt geschichtlich Ueberliefertes so tief in die Seele, dass ich sie vierzig bis fÝnfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schÚnste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich dann zwar immer umgestalten, doch, ohne sich zu verÈndern, einer entschiedenen Darstellung entgegenrÝcken.“ In anderen wie in Schiller ist die Entstehung einer Dichtung ein in gewaltiger und bewusster Arbeit den ganzen Menschen bewegender Process gewesen. Vielleicht teilt sich diese vorandrÈngende Macht des Willens auch der Handlung mit und gibt ihr die Bewegung und den großen Zug, die wir an Schiller bewundern, wÈhrend Goethes Gestalten, auch die gewaltigsten, zu stehen scheinen. Wie aber dieser Vorgang verlaufe: in ihm weben an dem bunten Teppich mit seinen Figuren alle KrÈfte des ganzen Menschen. Alle Poesie ist von dem Gedanken durchdrungen; gibt es doch in dem entwickelten Menschen nur wenige Vorstellungen, welche nicht allgemeine Elemente in sich fassten; gibt es doch andrerseits in der Menschenwelt vermÚge der Wirkung allgemeiner socialer VerhÈltnisse und psychologischer Verhaltungsweisen kein Individuum, welches nicht zugleich unter verschiedenen Gesichtspunkten reprÈsentativ wÈre, kein Schicksal, welches nicht einzelner Fall einer allgemeineren Gewohnheit von Lebenswendungen wÈre. Diese Bilder von Menschen und Schicksalen werden unter dem Einfluss der denkenden Betrachtung so gestaltet, dass sie, ob sie gleich nur einen einzelnen Tatbestand hinstellen, doch von dem Allgemeinen ganz gesÈttigt und solchergestalt reprÈsentativ fÝr dasselbe sind. Hierzu bedarf es durchaus nicht der in das dichterische Werk eingestreuten allgemeinen Betrachtungen, deren Function vielmehr ist, den Auffassenden zeitweise von dem Bann des Affects, der Spannung, der fortreißenden Mitempfindung zu befreien, indem sie zu beschaulicher Stimmung erheben. Alle Poesie zeigt ferner das GeprÈge des Willens, aus dem sie entsprang. Schon Kant setzte sogar die Chiffernschrift der Natur, welche aus ihren schÚnen Formen besteht, mit der praktischen Vernunft in Beziehung, und Schiller verfolgte Ýberall in der SchÚnheit den Wiederschein des Sittlichen; Goethe Èußerte sich „darauf kommt Alles an. Man muss etwas sein, um etwas zu machen“. „Der persÚnliche Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim Publicum hervor, nicht die KÝnste seines Talents“. Wie kÚnnte es auch anders sein als dass die Form des Willens das durchwaltet, was aus ihm entsprang, mag es aus den Gestalten blicken oder aus der FÝhrung der Handlung oder aus Stimmung und GefÝge. So entsteht was Schiller als Begriff (d. h. letztes Ziel) aller Poesie bezeichnet: „der kein anderer ist als der Menschheit ihren mÚglichst vollstÈndigen Ausdruck zu geben“. Die Phantasie ist in ihrem VermÚgen auch in Bezug auf die Deutlichkeit der so entstehenden Gestalten sehr eingegrenzt. „Die Phantasie, sagte Goethe nach Eckermanns ErzÈhlung, kann nie eine Vortrefflichkeit so vollkommen denken als sie im Individuum wirklich erscheint. Nur vager, nebliger, unbestimmter, grenzenloser denkt sie sich die Phantasie, aber niemals in der charakteristischen VollstÈndigkeit der Wirklichkeit“. Dies folgte aus frÝheren ErÚrterungen. Ebenso ergibt sich aus der bisherigen Darlegung andererseits wie alle psychologischen KrÈfte bei dem Hegen und Bilden dichterischer Gestalten und Schicksale mit beteiligt sind. Das VerhÈltnis der Phantasie zu ihren Gestalten gleicht solchergestalt vielfach dem zu wirklichen Menschen, welche ein Teil unseres Selbst durch ihre stÈtige Beziehung zu dem System unserer Neigungen und Affekte geworden sind. So lebte Dickens mit seinen Gestalten als mit seinesgleichen, litt mit ihnen, wenn sie der Katastrophe sich nÈherten, fÝrchtete sich vor dem Augenblick ihres Untergangs. Balzac sprach von den Personen seiner com¹die humaine als ob sie lebten; er analysirte,

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tadelte, lobte sie, als gehÚrten sie mit ihm zu derselben guten Gesellschaft; er konnte lange Debatten darÝber fÝhren, was sie in einer Lage, in der sie sich befanden, am besten tun wÝrden. Wie Goethe von den tragischen Affecten seiner Poesie im Vorgang der Dichtung bewegt wurde, kann man erschließen aus einer Aeußerung an Schiller, er wisse nicht, ob er eine wahre TragÚdie schreiben kÚnne, jedoch vor dem Unternehmen schon erschrecke er und sei beinahe Ýberzeugt, dass er sich durch den bloßen Versuch zerstÚren kÚnne. Diese Bilder, welche mit jeder Regung unserer GefÝhle und Neigungen verkettet sind, treten zurÝck, wenn die Aufmerksamkeit abgelenkt wird: alsdann sind sie wieder da, wie ein Gegenstand der durch einen anderen Gegenstand verdeckt war, wie ein Seelenschmerz und die Tatsache, auf welche er sich bezieht, von selber wieder da sind, sobald die gewaltsame Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf einen ganz anderen Gegenstand nachlÈsst. Auch von diesen Gestalten der Phantasie gilt, was Goethe einmal von denen des Lebens sagte: „Ich statuire keine Erinnerung in Eurem Sinne, das ist nur eine unbeholfene Art sich auszudrÝcken. Was uns irgend Großes, SchÚnes, Bedeutendes begegnet, muss nicht wieder von außen her gleichsam erinnert, gleichsam er-jagt werden, es muss sich vielmehr gleich von Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues besseres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen“. So weicht also der Dichter in einem weit hÚheren Grade von allen anderen Classen von Menschen ab als man gewÚhnlich annimmt, und wir werden uns, einer philisterhaften Auffassung gegenÝber, welche sich auf biedere Durchschnittsmenschen vom dichterischen Handwerk stÝtzt, daran gewÚhnen mÝssen das innere Getriebe und die nach außen tretende Handlungsweise solcher dÈmonischer Naturen von ihrer Organisation aus aufzufassen, nicht aber von einem normalen Durchschnittsmaß aus. Von diesem gewaltigen ganz unwillkÝrlichen Bautrieb aus will auch Goethes Lebensweise verstanden werden, und ich fÝrchte, dass er sich bei Grimm den Vorstellungen der guten Gesellschaft von einem tadelfreien Manne allzusehr annÈhert. GrÝndliche und genaue Bilder der besonderen Art dichterischen Gestaltens in den einzelnen Poeten besitzt die Litteraturgeschichte noch nicht, da die grundlegende Erforschung der poetischen Phantasie, welche erst im Entstehen begriffen ist, sich mit den Untersuchungen Ýber die Stellung der Dichter zu ihren Stoffen, fÝr welche die Kenntnis der Fabeln und ihrer mannichfachen Metamorphosen noch viel zu wÝnschen Ýbrig lÈsst, verknÝpfen muss. EH 3. Suchen wir von diesen SÈtzen aus die Naturgrundlagen des dichterischen VermÚgens in Goethe zu verstehen: Es fÈllt Licht auf sie in einer Stelle der BeitrÈge zur Morphologie: „Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloss, und mit niedergesenktem Haupte mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander, und aus ihrem Inneren entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wol grÝnen BlÈttern; es waren keine natÝrlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmÈssig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmÚglich die hervorsprossende SchÚpfung zu fixiren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstÈrkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierrat einer buntgemalten Scheibe dachte, welche dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie hin sich immerfort verÈnderte, vÚllig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope“. Wenn vor dem Einschlafen unter gÝnstigen Bedingungen dem Beobachter, wie ich selbst erprobt habe, (zuerst: andren Beobachtern, auch mir selbst,) gelingt, in dem dunklen Sehraum die aufsteigenden farbigen Nebel zu Gestalten sich formen und abwandeln zu sehen, so erblicken wir bei Goethe hÚchste Leichtigkeit und SchÚnheit dieser SchÚpfungen einer unwillkÝrlich bildenden Einbildungskraft. Die Fortsetzung der Sammlung von •ußerungen Goethes zu seiner PhantasietÈtigkeit stimmt weitgehend mit E Ýberein (vgl. in E von: Diese Gabe bis schaffen“.). Gestrichen ist ein Abschnitt-

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Textgeschichte und Anmerkungen

anfang (vgl. in E von: Die Phantasie bis mit beteiligt sind.). Im Schlußabschnitt oben wird der Bezug auf H. Grimm getilgt. D1 Aus dem in E und EH vorhandenen Material nimmt D. fÝr die nicht weiter bezeichnete zweite HÈlfte des zweiten Kapitels von D1 einen Teil auf: Von diesen allgemeinen Betrachtungen wenden wir uns zu dem was Goethe selber Ýber seine Phantasie bemerkt hat. Auf die Naturgrundlagen seines dichterischen VermÚgens wirft folgende Stelle der BeitrÈge zur Morphologie ein Licht: „Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß, und mit niedergesenktem Haupte mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander, und aus ihrem Inneren entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grÝnen BlÈttern; es waren keine natÝrlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmÈßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmÚglich die hervorsprossende SchÚpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstÈrkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierat einer buntgemalten Scheibe dachte, welche dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie hin sich immerfort verÈnderte, vÚllig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope.“ Wenn vor dem Einschlafen unter gÝnstigen Bedingungen dem Beobachter, wie ich selbst erprobt habe, gelingt, in dem dunklen Sehraum die aufsteigenden farbigen Nebel zu Gestalten sich formen und abwandeln zu sehen, so erblicken wir bei Goethe hÚchste Leichtigkeit und SchÚnheit dieser SchÚpfungen einer unwillkÝrlich bildenden Einbildungskraft. Diese Gabe, in einer modifizierten Form, ÝbertrÈgt er in den Wahlverwandtschaften, welche ja ganz von den Darlegungen unserer physiologischen Bedingtheit auch in den hÚchsten Offenbarungen unseres GemÝtslebens durchdrungen sind, auf die von ihm so geliebte Gestalt der Ottilie; die Darstellung erinnert an das was Cardanus von sich erzÈhlt; zwischen Schlaf und Wachen blickt sie in einen mild erleuchteten Raum, in dem sie den im Krieg abwesenden Eduard gewahrt. Die Gewalt, die die Gebilde der Phantasie Ýber den Dichter selber Ýben, ist in mehreren Stellen des Tasso mit tiefer Kenntnis ausgesprochen, so: „Ich halte diesen Drang vergebens auf, der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt“ usw.; dann wie er Eleonoren den kÝnftigen Weg des Verbannten nach Neapel schildert: „verkleidet geh ich hin, den armen Rock des Pilgers oder SchÈfers zieh ich an“ usw. – man teilt den Schauder Eleonorens, die ihn unterbricht, wie um den unheimlichen Zauber zu brechen, mit welchem ihn dies Phantasiebild umfÈngt. Goethe hat auch die Einsicht Ýber die Natur des Dichters, welche ihm aus solchen Erfahrungen sich ergeben hatte, folgendermaßen generalisiert: „Man sieht deutlicher ein was es heißen wolle, daß Dichter und alle eigentlichen KÝnstler geboren sein mÝssen. Es muß nÈmlich die innere produktive Kraft jene Nachbilder, die im Organe, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurÝckgebliebenen Idole, freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervortun, sie mÝssen sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen, zusammenziehen, um aus flÝchtigen Schemen wahrhaft gegenwÈrtige Bilder zu werden.“ „Ich bin“, erzÈhlte er dem Kanzler MÝller, „hinsichtlich meines sinnlichen AuffassungsvermÚgens so seltsam geartet, daß ich alle Umrisse und Formen aufs schÈrfste in der Erinnerung behalte, dabei aber durch Mißgestaltungen und MÈngel mich aufs lebhafteste affiziert finde.“ „Ohne jenes scharfe Auffassungs- und EindrucksvermÚgen kÚnnte ich ja auch nicht meine Gestalten so lebendig und scharf individualisiert hervorbringen. Diese Deutlichkeit und PrÈzision der Auffassung hat mich frÝher lange Jahre hindurch zu dem Wahn verfÝhrt, ich hÈtte Beruf und Talent zum Zeichnen und Malen.“ In demselben Sinn faßt Goethe in seinen SprÝchen das Ziel der Poesie: „Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das hÚchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwÈrtig fÝr jedermann gelten kÚnnen.“

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Goethe spricht sich auch Ýber den zeitlichen Verlauf aus, in welchem sich seine SchÚpfungen entfalteten. „Mir drÝckten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Àberliefertes so tief in die Seele, daß ich sie vierzig bis fÝnfzig Jahre lebendig und wirksam im Inneren erhielt; mir schien der schÚnste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich dann zwar immer umgestalteten, doch, ohne sich zu verÈndern, einer reineren Form, einer entschiedeneren Darstellung entgegenreiften.“ In anderen Dichtern wie in Schiller ist die Entstehung jedes darstellenden Werkes ein in gewaltiger und bewußter Arbeit den ganzen Menschen bewegender Prozeß gewesen. Vielleicht teilt sich diese vorandrÈngende Macht des Willens auch der Handlung mit und gibt ihr die starke Bewegung und den großen Zug, die wir an Schiller bewundern, wÈhrend auch Goethes gewaltigste Darstellungen diese Eigenschaften nicht zeigen. D2 Der Grundbestand von Goethes Zeugnissen Ýber seine PhantasietÈtigkeit aus D1 wird durch Zitate und Àberlegungen D.s erheblich erweitert und alles in ein eigenes Kapitel gebracht: DIE DICHTERISCHE PHANTASIE GOETHES. Goethes Phantasie ist das klassische Beispiel fÝr den dargelegten Zusammenhang, in welchem aus den elementaren Prozessen mit innerer Gewalt die dichterischen Gebilde emporsteigen. Im GesprÈch und in den Dichtungen des JÝnglings ist alles vom stÈrksten GefÝhl des Lebens durchdrungen, jeder Zustand wird mit einseitiger Energie ausgedrÝckt; Bilder treten auf, die wie in Symbolen denselben versinnlichen. Alles, was Goethe damals sprach oder schrieb, war erfÝllt von Keimen werdender Dichtungen, die sich ans Licht drÈngten. Aus dieser Kraft, ZustÈnde auszudrÝcken, entsteht nun seine unvergleichliche P h a n t a s i e b e g a b u n g in d e r S p h È r e d e s W o r t e s . Die Sprache ist das Material des Dichters. Sie ist aber mehr als das, denn die sinnliche SchÚnheit der Dichtung in Rhythmus, Reim und Sprachmelodie bildet ein eigenes Reich hÚchster Wirkungen, die ablÚsbar sind von dem, was die Worte bedeuten. Wer brÈchte sich den Sinn der Worte ganz zum Bewußtsein, wenn er etwa Goethes Gedicht „An den Mond“ vor sich hinspricht! Nur leise und geheimnisvoll klingen ihre Bedeutungen mit an. Darin beruht nun die Sprachphantasie des Dichters, daß er an diesen Wirkungen anhaltend mit starker Fixierung der Aufmerksamkeit bildet und formt, wie der Maler an denen seiner Linien und Farben. Goethe waltete kÚniglich in diesem Reich der Sprache. Es entsprang dies eben daraus, daß Erlebnis in ihm Ýberall und unmittelbar mit dem Drang zum Ausdruck verbunden war. Sein GesprÈch sprang in seiner Jugend nicht selten von der Prosa zum Zitieren seiner Verse Ýber. Auf seinen Wanderungen sang er damals wohl „seltsame Hymnen und Dithyramben“ vor sich hin, in denen der Rhythmus seiner inneren Bewegung in TÚnen sich Èußerte. So kam ihm von innen die Kunst der großen freien rhythmischen GefÝge mit ihrem natÝrlichen Verlauf und ihrer Lebendigkeit: nie ist ein solcher Wille zur Macht Ýber das Leben in solchen Rhythmen ausgesprochen worden! Er durchbrach in seiner Jugend die ganze Ýberlieferte Sprache. Auf der Grundlage Klopstocks schuf er einen neuen poetischen Stil. Er griff dabei zurÝck auf seinen heimischen Dialekt. Er verwertete die lebendige Energie der Verba. Er wirkte durch unerhÚrte Wortbildungen. In diesen verband er ZeitwÚrter neu mit Vorsilben, er nahm das Hauptwort mit einer Partikel und das Zeitwort mit seinem Objekt zusammen, oder er verstÈrkte dem Zeitwort durch den Wegfall der Partikel die sinnliche Energie. Er setzt HauptwÚrter zu neuen breiten Wortgebilden zusammen, er steigert den Ausdruck durch die Wiederholung bedeutsamer Worte, er durchlÈuft Frage, Antwort, Ausruf, um die innere Bewegung nachzubilden. Jeder innere Zustand drÝckt sich in einer eigenen Melodie der Sprache aus. AllmÈhlich mildert er dann in den ersten Weimarer Jahren die Verwertung des heimischen Dialekts. Er mÈßigt den heftigen Ausdruck, er gibt der Darstellung der seelischen Bewegung VollstÈndigkeit, er erhebt durch neue Mittel wie die vermehrte Benutzung bedeutsamer EigenschaftswÚrter das GegenstÈndliche zu ruhiger Anschaulichkeit, und so entsteht auf dem Boden, auf dem einst Luther un-

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Textgeschichte und Anmerkungen

sere Schriftsprache durch seine BibelÝbersetzung begrÝndete, im Zusammenwirken mit Schiller die klassische Ausbildung unserer Schriftsprache. Auf dieser Grundlage bildet sich nun sein großer Stil. In solchen Leistungen offenbart sich die einzige Sprachphantasie Goethes. So unumschrÈnkt ist ihre Macht, daß unsere ganze folgende Dichtung von ihr beherrscht ist, und daß seine dichterische Sprache noch heute im Leser jede Stimmung hervorzurufen vermag. Diese Sprachphantasie Goethes, die aus Drang und Gabe, Erlebnis auszudrÝcken, sich entwickelte, ist nun verbunden mit einer erstaunlichen Einbildungskraft in der SphÈre des ganzen sichtbaren Scheins der Dinge. Àber den bewegten SeelenzustÈnden breitet sich so die bildhafte SchÚnheit der gegenstÈndlichen Welt aus. Auf die Naturgrundlagen solcher Begabung, in d e r G e s i c h t s s p h È r e zu gestalten, wirft folgende Stelle der BeitrÈge zur Morphologie ein Licht: „Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß, und mit niedergesenktem Haupte mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander, und aus ihrem Inneren entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grÝnen BlÈttern; es waren keine natÝrlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmÈßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmÚglich die hervorsprossende SchÚpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstÈrkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierat einer buntgemalten Scheibe dachte, welche dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie hin sich immerfort verÈnderte, vÚllig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope.“ Wenn vor dem Einschlafen unter gÝnstigen Bedingungen dem Beobachter, wie ich selbst erprobt habe, gelingt, in dem dunklen Sehraum die aufsteigenden farbigen Nebel zu Gestalten sich formen und abwandeln zu sehen, so erblikken wir bei Goethe hÚchste Leichtigkeit und SchÚnheit dieser SchÚpfungen einer unwillkÝrlich bildenden Einbildungskraft. Diese Gabe, in einer modifizierten Form, ÝbertrÈgt er in den Wahlverwandtschaften, welche ja ganz von den Darlegungen unserer physiologischen Bedingtheit auch in den hÚchsten Offenbarungen des GemÝtslebens durchdrungen sind, auf die von ihm so geliebte Gestalt der Ottilie; die Darstellung erinnert hier an das was Cardanus von sich erzÈhlt; zwischen Schlaf und Wachen blickt sie in einen mild erleuchteten Raum, in dem sie den im Krieg abwesenden Eduard gewahrt. Die Gewalt, die die Gebilde der Phantasie Ýber den Dichter selber Ýben, ist in mehreren Stellen des Tasso mit tiefer Kenntnis ausgesprochen, so: „Ich halte diesen Drang vergebens auf, der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt“ usw.; dann wie er Leonore den kÝnftigen Weg des Verbannten nach Neapel schildert: „verkleidet geh ich hin, den armen Rock des Pilgers oder SchÈfers zieh ich an“ usw. – man teilt den Schauder Leonorens, die ihn unterbricht, wie um den unheimlichen Zauber zu lÚsen, mit welchem ihn dies Phantasiebild umfÈngt. Und in der Pandora hat Goethe die allseitigste und stÈrkste poetische Darstellung von dem allem gegeben. Goethe hat auch die Einsicht in die Natur des Dichters, welche ihm aus solchen Erfahrungen sich ergeben hatte, folgendermaßen generalisiert: „Man sieht deutlicher ein was es heißen wolle, daß Dichter und alle eigentlichen KÝnstler geboren sein mÝssen. Es muß nÈmlich die innere produktive Kraft jene Nachbilder, die im Organe, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurÝckgebliebenen Idole, freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervortun, sie mÝssen sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen, zusammenziehen, um aus flÝchtigen Schemen wahrhaft gegenwÈrtige Bilder zu werden.“ „Ich bin“, erzÈhlte er dem Kanzler MÝller, „hinsichtlich meines sinnlichen AuffassungsvermÚgens so seltsam geartet, daß ich alle Umrisse und Formen aufs schÈrfste in der Erinnerung behalte, dabei aber durch Mißgestaltungen und MÈngel mich aufs lebhafteste affiziert finde.“ „Ohne jenes scharfe Auffassungs- und EindrucksvermÚgen kÚnnte ich ja auch nicht meine Gestalten so lebendig und scharf individualisiert hervorbringen. Diese Deutlichkeit und PrÈzision der Auffassung hat mich frÝher lange Jahre hindurch zu dem Wahn

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verfÝhrt, ich hÈtte Beruf und Talent zum Zeichnen und Malen.“ In demselben Sinn faßt Goethe in seinen SprÝchen das Ziel der Poesie: „Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das hÚchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwÈrtig fÝr jedermann gelten kÚnnen.“ Indem nun diese beiden Arten dichterischer Phantasie mit hÚchster StÈrke in Goethe zusammenwirken, entsteht eine UniversalitÈt der poetischen Begabung, die in der modernen Zeit ohnegleichen ist. Er hat Macht und Eigenart derselben in der Darstellung seiner letzten Frankfurter Jahre selbst geschildert. „Mein produktives Talent verließ mich seit einigen Jahren keinen Augenblick; was ich wachend am Tag gewahr wurde, bildete sich sogar Úfters nachts in regelmÈßige TrÈume, und wie ich die Augen auftat, erschien mir entweder ein wunderliches neues Ganze oder der Teil eines schon Vorhandenen.“ In der Einsamkeit wie mitten in der Gesellschaft war diese Naturgabe in ihm wirksam. Damals hat er im Prometheus das selbstherrliche Bewußtsein solcher schÚpferischen Kraft zum Ausdruck gebracht. Er mußte diese Gabe „ganz als Natur betrachten“. Sie trat „unwillkÝrlich, ja wider Willen“ hervor. Sie ruhte zuweilen lange Zeit, und er konnte selbst mit Willen nichts hervorbringen, dann wieder vermochte die Feder seinem „nachtwandlerischen Dichten“ kaum zu folgen. Auch grÚßere Werke sind damals, nachdem er sie lange mit sich herumgetragen und an ihnen gebildet hatte, wie in einer Inspiration entstanden; er schrieb den Werther in vier Wochen, „ziemlich unbewußt“ und wie von einem Traum geleitet, ohne daß er ein Schema des Ganzen oder die Behandlung irgendeines Teiles vorher zu Papier gebracht hÈtte; kaum fand er dann etwas daran zu Èndern: so ist sein vollkommenstes, einheitlichstes Kunstwerk vor Hermann und Dorothea entstanden. In dem allem treten uns die Eigenschaften der dichterischen Phantasie in Èußerster StÈrke entgegen: ein unwillkÝrlich gesetzmÈßiges, vom gewÚhnlichen Leben und dessen Zwecken losgelÚstes Schaffen aus der FÝlle der seelischen KrÈfte. Diese Eigenart seines jugendlichen Dichtens erhÈlt sich bis in spÈte Jahre, nur modifiziert durch Gelassenheit, Bedachtsamkeit und abnehmende Phantasiekraft. Langen Vorbereitungen folgen Zeiten intensivsten Schaffens; der allmÈhlich zusammengetragene und gestellte Holzstoß – so berichtet er 1795 bei der Arbeit an Wilhelm Meister – „fÈngt endlich an zu brennen“. Er schafft um sich Einsamkeit, besonders gern auf dem Schloß in Jena, um die dichterische Stimmung und den inneren Zusammenhang des Schaffens festzuhalten. Alles Wollen fÚrdert dabei glÝckliches Gelingen nicht, und das Beste kommt ihm immer freiwillig. So entwickeln sich seine SchÚpfungen in langen ZeitrÈumen. „Mir drÝckten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Àberliefertes so tief in die Seele, daß ich sie vierzig bis fÝnfzig Jahre lebendig und wirksam im Inneren erhielt; mir schien der schÚnste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich dann zwar immer umgestalteten, doch, ohne sich zu verÈndern, einer reineren Form, einer entschiedeneren Darstellung entgegenreiften.“ In anderen Dichtern wie in Schiller ist die Entstehung jedes darstellenden Werkes gewaltige und bewußte Arbeit gewesen. Vielleicht teilt sich diese vorandrÈngende Macht des Willens auch der Handlung mit und gibt ihr die starke Bewegung, die wir in Schillers Dramen bewundern, wÈhrend auch Goethes hÚchste Darstellungen diese Eigenschaften nicht zeigen. Goethe war ferner wÈhrend der Arbeit nicht ganz unabhÈngig von dem Urteil der Freunde Ýber das Begonnene. Besonders von Schiller empfing er entscheidende Einwirkungen in bezug auf die Fortsetzung von Wilhelm Meister und von Faust. In anderen FÈllen bestimmten Urteile ihn, den Plan einer Dichtung fallen zu lassen. Auch er konnte wie andere große ErzÈhler durch die bloße VergegenwÈrtigung der Gebilde seiner Phantasie tief bewegt und erschÝttert werden. Als er sich das ganze Detail einer Situation des Wilhelm Meister ausmalte, „fing er zuletzt bitterlich zu weinen an“. Bei der Vorlesung eines eben geschriebenen Teiles von Hermann und Dorothea geschah ihm dasselbe; „so schmilzt man bei seinen eigenen Kohlen“, sagte er, indem er sich die Augen trocknete.

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Die vollkommenste Anschauung von Macht und Eigenart dieser Phantasie entsteht aber erst, wenn man verfolgt, wie sie auf jeden Teil des Organismus Goethe ihre Wirkungen erstreckte. Ihr Einfluß durchdrang sein Leben, seine Weltansicht, seine Ideale. Phantasie regierte in dem JÝngling inmitten der reichsten noch ungeregelten KrÈfte. Sie steigerte ihm in den Jahren brausender Jugendkraft Freuden und Schmerzen ins Unendliche; alles Wirkliche hÝllte sie fÝr ihn in die Schleier der SchÚnheit und verlieh ihm selber die Gabe zu bezaubern und mit sich fortzureißen – MÈnner wie Frauen; aber indem sie ihm bald das GegenwÈrtige idealisierte, bald dann wieder, was beengend in jedem LebensverhÈltnis liegt, ins UnertrÈgliche vergrÚßerte und durch neue Bilder ihn in grenzenlose Fernen zog, steigerte sie die Ruhelosigkeit, die Unbefriedigung der Jugend und des genialen Bewußtseins in ihm – bis zum Spiel mit dem Selbstmord, bis zu jeder UnbestÈndigkeit in Freundschaft, Liebe, Arbeit, Lebenszielen, bis zum DÈmonischen des Àbermenschentums, wie es im Urfaust sich ausspricht. Er ist damals Jacobi als ein Besessener erschienen, dem es fast in keinem Fall gestattet sei, willkÝrlich zu handeln. Phantasie gewÈhrte ihm immer wieder in der Dichtung zeitweilige Befreiung von der Unruhe seines Lebens, indem sie dies Leben in die Welt des Scheins erhob. Er erleichterte sich die Seele, indem er aussprach, was ihn bewegte. Er lÚste sich von seinen eigenen LebenszustÈnden los, indem er sie außer sich hinstellte – als ein ihm Fremdes, das nun im Reich der dichterischen Einbildungskraft seinen Platz hatte und hier, losgelÚst von der Bedingtheit in ihm selbst, sich in seinen Konsequenzen entfaltete. Und eben sie war ihm auch hilfreich, als er sich selbst Ýberwand und zum reifen Ideale seiner mÈnnlichen Jahre fortging. Denn dies Ideal beruhte auf der Erhebung des Lebens in seiner TotalitÈt zu der hÚchstmÚglichen in ihm enthaltenen Bedeutung: so war das Erfassen desselben und seine Verwirklichung, im Gegensatz zu der von abstrakten sittlichen Regeln, an die Phantasiebilder des Vergangenen, KÝnftigen, MÚglichen gebunden: denn das Leben in diesen Bildern liegt jeder Idealvorstellung des eigenen Selbst zugrunde. Endlich hat die dichterische Phantasie Goethe das Geheimnis der Natur und der Kunst aufgeschlossen. Wie sein interesseloses Anschauen der Natur dem kÝnstlerischen Schaffen verwandt war, so erschloß sich ihm auch dessen Gegenstand, die Natur, in dem Erlebnis der Kraft der Phantasie, die in ihm selber schÚpferisch wirksam war. Natur erschien ihm als gesetzlich, zweckmÈßig wirkende Kraft, die in Metamorphose, Steigerung, in der Architektonik typischer Formen, in der Harmonie des Ganzen sich Èußert. Und daher mußte die Kunst ihm die hÚchste Manifestation solchen Wirkens der Natur sein. D3 Bis auf geringe Abweichungen wie D2. Vgl. vorn im Textteil Goethe (1910) 122–127. 127, 3 – 130, 24 ERLEBNIS bis ihnen zur Seite: E Der folgende Textausschnitt schließt an Zeugnisse Goethes Ýber seine PhantasietÈtigkeit an (vgl. E, oben unter 122, 1 – 127, 2) und fÝhrt zum Vergleich mit Shakespeare. Innere Erfahrung, Èußerer, Ýberlieferter Stoff aus Mythos oder Sage, Geschichte oder Dichtung: in so mannichfachem Stoff wirkt die bewegliche dichterische Phantasie. Generelle Untersuchung derselben, in der Weise dieser freilich flÝchtigen Darlegungen, tritt nun aber in Verbindung mit der Analyse der Verkettung dichterischer Gebilde in der Abfolge der Zeiten, wie die G e s c h i c h t e d e r s c h Ú n e n L i t t e r a t u r sie versucht. Das Material ist fÝr beide dasselbe, und kein Fehler der Methode greift tiefer als der Verzicht auf die Breite der historischen, unter ihnen der biographischen Tatsachen fÝr den Aufbau der generellen Wissenschaft menschlicher Natur und ihrer Leistungen, die nun einmal nur inmitten der Gesellschaft fÝr uns da sind und studirt werden kÚnnen. Es ist dasselbe VerhÈltnis, welches zwischen der generellen Wissenschaft und der Analyse der geschichtlichen Erscheinungen in Bezug auf alle anderen großen LebensÈußerungen der Gesellschaft stattfindet. Die historische Analyse bedarf ihrerseits der Zergliederung und der Classification der Tatsa-

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chen, welche ihr weites Reich bilden. Wir z e r l e g e n j e d e s d i c h t e r i s c h e W e r k a l s e i n e G e s a m m t t a t s a c h e i n T e i l t a t s a c h e n ; wie wir an einem NaturkÚrper seine chemische Zusammensetzung, seine Schwere, seinen WÈrmezustand zergliedernd, abstrahirend unterscheiden, so sondern wir in dem dichterischen Werk Motiv, Fabel, Charaktere, Gliederung, Sprache. Wie die Naturwissenschaft erst solchergestalt sich abstracte Tatsachen aus den ganz individuellen Einzelgestalten der Èußeren Welt schafft, deren GesetzmÈßigkeit alsdann erforscht werden kann, so bildet die abstracte Gesammttatsache des in dem geschichtlichen Verlauf der schÚnen Litteratur gelegenen Systems von Motiven oder von Charakteren eine einfachere, leichter in ihren Gesetzen zu studirende TatsÈchlichkeit. Didaktische Poesie ist selbstverstÈndlich hier nicht mit in Betracht gezogen, da sie vermÚge ihres Begriffes eine Uebereinstimmung der Vorstellungen mit GegenstÈnden anstreben muss, um lehren zu kÚnnen, somit ein Zwischenglied zwischen der Dichtung und Wissenschaft bildet. Der wichtigste unter diesen Begriffen ist der des Motivs, da die anderen ihn voraussetzen. Denn die Fabel ist ein aus dem Zusammenhang des Lebens ausgesondertes GefÝge von Handlungen und ZustÈnden, welches eine genugsame Einheit und einen befriedigenden Zusammenhang bildet, und in welchem ein Motiv anschaulich ausgedrÝckt ist. Unter Charakter aber verstehen wir nur einen Teil dieses FabelgefÝges, also dieser Verkettung von Handlungen und Begebenheiten, dessen vorgestellte Einheit ein Mensch ist, in einem oder verschiedenen oder allen Abschnitten dieser Verkettung dargestellt, und hierdurch in dem Aufnehmenden zur Einheit der Vorstellung gelangend. Daher hat der Begriff des Motivs Goethe wie Schiller vielfach beschÈftigt, und Goethe gibt wenigstens fÝr das engere Gebiet der tragischen Dichtung eine Begriffsbestimmung. „Des tragischen Dichters Aufgabe und Theorie ist nichts Anderes als ein psychisch-sittliches PhÈnomen, in einem fasslichen Experiment dargestellt, in der Vergangenheit nachzuweisen. Was man Motive nennt, sind also eigentlich PhÈnomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen werden, und die der Dichter nur als historische nachweist“. Besonders der richtige Satz dass die Zahl solcher Motive begrenzt sei – Gozzi hatte sie gezÈhlt und Schiller eine NachzÈhlung versucht – beschÈftigte Goethe. Eine besonders interessante Beziehung besteht zwischen Motiv und Fabel in TragÚdien. Wir besitzen kaum eine TragÚdie ersten Ranges, welche nachweisbar in freier Erfindung aus dem Motiv die Fabel entwickelt hÈtte. Es scheint, dass der Charakter der Wirklichkeit, sammt dem Irrationalen, in keinen Gedanken auflÚsbaren in ihr, nur demjenigen beiwohnt, was dem Dichter objectiv als Tatsache gegenÝbertritt, welche dann entweder fÝr ein den Geist des Poeten schon beschÈftigendes Motiv GefÈß und Symbol wird, mit allen VorzÝgen einer in das Motiv selber nie ganz auflÚsbaren RealitÈt ausgestattet, oder welche die Phantasie des Dichters reizt, als ein Problem enthaltend, dessen psychologische AuflÚsung alsdann die TragÚdie ist. Wirklichkeit niederen Ranges, wie sie Lustspiel, Schauspiel und Roman oft zu ihrem Gegenstande haben, kann aus dem Leben, das den Dichter umstrÚmt, geschÚpft werden; die Wirklichkeit des Epos und der TragÚdie ist entweder nicht in dem Erfahrungshorizont des Dichters oder ihre Hervorbringung und objective, vom Dichter unabhÈngige Aufstellung Ýberschreitet die Grenzen dichterischen VermÚgens. Daher in all diesen FÈllen der Vorgang in der Phantasie ein Spiel von Beziehungen zwischen einem gleich der Warnehmung selbst der Phantasie selbstÈndig und objectiv gegenÝberstehenden Stoff und dem ihr als Material vorliegenden Erfahrungskreise ist. Ein anderes ist Z e r l e g u n g d e s g a n z e n U m f a n g s d e r s c h Ú n e n L i t t e r a t u r i n z u s a m m e n g e h Ú r i g e G r u p p e n von dichterischen Werken. Wie die vergleichende Anatomie in einer Gliederung der tierischen Organismen sich Grundlagen der Untersuchung schafft, so entwirft auch Èsthetische Forschung in vergleichender Betrachtung zusammengehÚrige Gruppen dieser GeschÚpfe der Einbildungskraft, die gewissermaßen eine zweite Natur ist. Diese Einteilungen begannen bei dem SinnenfÈlligen der drei großen Gruppen von Inhalten der Phantasie,

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Textgeschichte und Anmerkungen

welche sich auch folgerecht nach der verschiedenen Stellung der dichterischen Gebilde zu dem Empfangenden sondern lassen; so entstand die Einteilung in lyrische, epische, dramatische Dichtung mit diesen Dichtungen selber; der spÈte Unterbegriff didaktischer Poesie bezeichnet eine verbindende Zwischengattung zwischen Wissenschaft und Dichtung, wie zwischen allen Gruppen geistiger Tatsachen solche stehen. Erst seit Schiller trat dann der Versuch auf, weiter rÝckwÈrts von dem dichterischen Werk, dem Vorgang seiner Bildung nachgehend, die affectiven Haltungen oder Stimmungen der Phantasie, deren allgemeine Natur wir ja entwickelt haben, einer Gliederung zu unterwerfen. Der Humor und das GefÝhl des Erhabenen, die tragische und die komische Stimmung, die elegische GemÝtsverfassung und die RÝhrung, phantastische Stimmung: das Alles war lange unterschieden; aber Schiller entwickelte aus der sittlichen Natur des Menschen zwei geistige Gesammthaltungen, welche Grundstimmungen der Phantasie sind, und er ordnete einige der Èsthetischen Affecte dieser Einteilung unter, welche in seinem Sinne keineswegs Epochen der Litteratur bezeichnete, sondern Grundverfassungen der Dichter in ganz verschiedenen Zeiten; denn er fand schon bei den Alten sentimentale Haltung der Phantasie und bei den Neueren naive. Nach ihm ist von den ersten Èsthetischen Forschern dieses wichtige System von Gruppen verschieden entwickelt worden. Tut man aber noch einen Schritt weiter zurÝck in den Vorgang der Entstehung von dichterischen Werken, wie wir ihn darlegten, so liegt schon ein Unterschied derselben in dem Erfahrungshorizont des Dichters, welcher doch den ganzen Stoff der Poesie gibt und durch welchen daher zuerst der Charakter der Dichtung bestimmt wird. Wir blicken in die Arbeit der Phantasie an der Erfahrung bei Bildung von Dichtwerken, und wenn wir nun zugleich die oben unterschiedenen Teil-Inhalte des dichterischen Werkes nebeneinander bei Betrachtung dieser elementaren VorgÈnge im Auge behalten, sondern sich deutlich zwei Gruppen von dichterischen Werken. Ich versuche diese fÝr das VerstÈndnis Goethes vielleicht fruchtbare Unterscheidung aus der Analyse einiger hervorragender Tatsachen abzuleiten. Diese Unterscheidung leitet zu Shakespeare Ýber. EH Der erste Abschnitt und der erste Satz des zweiten Abschnitts im fortlaufenden Text aus E werden in EH gestrichen, (von: Innere Erfahrung bis Reich bilden.), der Text wird korrigiert, nicht eindeutig beziffert mit 4 und 5. Ein zusÈtzliches Blatt, auf das D. verweist, ist nicht vorhanden, die Àberleitung zu Shakespeare gestrichen, wenngleich ihm ein Kapitel 6 zugedacht ist. 4. Das dichterische Werk wird dem Studium zugÈnglich gemacht, indem es a l s e i n e G e s a m m t t a t s a c h e i n T e i l t a t s a c h e n ; wie wir an einem NaturkÚrper seine chemische Zusammensetzung, seine Schwere, seinen WÈrmezustand zergliedernd, abstrahirend unterscheiden, so sondern wir in dem dichterischen Werk Motiv, Fabel, Charaktere, Gliederung, Sprache. Genau wie die Naturwissenschaft abstracte Tatsachen aus den ganz individuellen Einzelgestalten der Èußeren Welt aussondert, deren GesetzmÈßigkeit alsdann erforscht werden kann, so bildet die abstracte Gesammttatsache des in dem geschichtlichen Verlauf der schÚnen Litteratur gelegenen Systems von Motiven oder des Systems von Charakteren eine einfachere, leichter in ihren Gesetzen zu studirende TatsÈchlichkeit. Der wichtigste unter diesen Begriffen ist der des Motivs, da die anderen ihn voraussetzen. Denn die Fabel ist ein aus dem Zusammenhang des Lebens ausgesondertes GefÝge von Handlungen und ZustÈnden, welches eine genugsame Einheit und einen befriedigenden Zusammenhang bildet, und in welchem ein Motiv anschaulich ausgedrÝckt ist. Unter Charakter aber verstehen wir nur einen Teil dieses FabelgefÝges, also dieser Verkettung von Handlungen und Begebenheiten, dessen vorgestellte Einheit ein Mensch ist, in einem oder verschiedenen oder allen Abschnitten dieser Verkettung dargestellt, und hierdurch in dem Aufnehmenden zur Einheit der Vorstellung gelangend.

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Eine besonders interessante Beziehung besteht zwischen Motiv und Fabel in TragÚdien. Wir besitzen kaum eine TragÚdie ersten Ranges, welche nachweisbar in freier Erfindung aus dem Motiv die Fabel entwickelt hÈtte. Es scheint, dass der Charakter der Wirklichkeit, sammt dem Irrationalen, in keinen Gedanken auflÚsbaren in ihr, nur demjenigen beiwohnt, was dem Dichter objectiv als Tatsache gegenÝbertritt, welche dann entweder fÝr ein den Geist des Poeten schon beschÈftigendes Motiv GefÈß und Symbol wird, mit allen VorzÝgen einer in das Motiv selber nie ganz auflÚsbaren RealitÈt ausgestattet, oder welche die Phantasie des Dichters reizt, als ein Problem enthaltend, dessen psychologische AuflÚsung alsdann die TragÚdie ist. Wirklichkeit niederen Ranges, wie sie Lustspiel, Schauspiel und Roman oft zu ihrem Gegenstande haben, kann aus dem Leben, das den Dichter umstrÚmt, geschÚpft werden; die Wirklichkeit des Epos und der TragÚdie ist entweder nicht in dem Erfahrungshorizont des Dichters oder ihre Hervorbringung und objective, vom Dichter unabhÈngige Aufstellung Ýberschreitet die Grenzen dichterischen VermÚgens. Daher in all diesen FÈllen der Vorgang in der Phantasie ein Spiel von Beziehungen zwischen einem gleich der Warnehmung selbst der Phantasie selbstÈndig und objectiv gegenÝberstehenden Stoff und dem ihr als Material vorliegenden Erfahrungskreise ist. 5. Wie die vergleichende Anatomie in einer Gliederung der tierischen Organismen sich Grundlagen der Untersuchung schafft, so entwirft die Èsthetische Forschung zusammengehÚrige Gruppen der GeschÚpfe der Einbildungskraft, die gewissermaßen eine zweite Natur ist. Diese Einteilungen begannen bei dem SinnfÈlligen der Èußeren Form: so entstand die Einteilung in lyrische, epische, dramatische Dichtung; der spÈte Unterbegriff didaktischer Poesie bezeichnet eine verbindende Zwischengattung zwischen Wissenschaft und Dichtung, wie zwischen allen Gruppen geistiger Tatsachen solche stehen. Erst seit Schiller trat dann der Versuch auf, weiter rÝckwÈrts von dem dichterischen Werk, dem Vorgang seiner Bildung nachgehend, die affectiven Haltungen oder Stimmungen der Phantasie, einer Gliederung zu unterwerfen. Der Humor und das GefÝhl des Erhabenen, die tragische und die komische Stimmung, die elegische GemÝtsverfassung und die RÝhrung, phantastische Stimmung: das Alles war lange unterschieden; aber Schiller entwickelte aus der sittlichen Natur des Menschen zwei geistige Gesammthaltungen, und zwar bezeichnete die Eintheilung in seinem Sinne keineswegs Epochen der Litteratur, sondern Grundverfassungen der Dichter in ganz verschiedenen Zeiten; denn er fand schon bei den Alten sentimentale Haltung der Phantasie und bei den Neueren naive. Nach ihm ist von den ersten Èsthetischen Forschern dieses wichtige System von Gruppen verschieden entwickelt worden. Tut man aber noch einen Schritt weiter zurÝck in den Vorgang der Entstehung von dichterischen Werken, wie wir ihn darlegten, so liegt schon ein Unterschied derselben in dem Erfahrungshorizont des Dichters, welcher doch den ganzen Stoff der Poesie gibt und durch welchen daher zuerst der Charakter der Dichtung bestimmt wird. D1 Den vorangehenden Kapiteln 4 und 5 aus EH entspricht das vierte Kapitel in D1, mit andern Schwerpunkten, der Betonung der Begriffe Erlebnis und Bedeutsamkeit. 4. D i e G r u n d e i g e n s c h a f t e n d e r d a r s t e l l e n d e n d i c h t e r i s c h e n W e r k e kÚnnen jetzt nach ihrer Beziehung zum Erleben Ýberschaut werden. Jedes poetische Werk ist Darstellung eines einzelnen Geschehnisses. Es gibt als Darstellung den bloßen Schein eines Wirklichen durch Worte und deren Verbindungen; so muß es alle Mittel der Sprache anwenden, um die Illusion hervorzubringen. Es versetzt den Auffassenden in Freiheit, indem er sich in dieser Welt des Scheines außerhalb der Notwendigkeiten seiner tatsÈchlichen Existenz findet – entnommen allem Druck der RealitÈten, die sein Leben bedingen, wie allen Bindungen des Willens an seine Zwecke. Und es beschÈftigt im Nacherleben dieser Welt sein ganzes Wesen in einem ihm gemÈßen Ablauf der seelischen VorgÈnge: von der Freude

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am Klang, am Rhythmus, an der sinnlichen Anschaulichkeit bis zum tiefsten VerstÈndnis des Geschehnisses nach dessen Beziehungen zur ganzen Breite des Lebens. Denn jedes echte poetische Werk hebt an dem Ausschnitt der Wirklichkeit, den es darstellt, einen Zug des Lebens heraus, der so vorher nicht gesehen worden ist. Indem es eine ursÈchliche Verkettung von VorgÈngen oder Handlungen sichtbar macht, lÈßt es zugleich den Wert nacherleben, der im Zusammenhang des Lebens diesem Geschehnis zukommt. Das Geschehnis wird so zu seiner Bedeutsamkeit erhoben. Es ist der Kunstgriff des Dichters, es so hinzustellen, daß der Zusammenhang des Lebens selbst und sein Sinn aus ihm herausleuchtet. Der Dichter ruft in seinem Leser oder HÚrer das stÈrkste GefÝhl der im Geschehnis enthaltenen Lebensmomente und ihrer Werte hervor, er setzt diese in VerhÈltnis zu dem Ganzen des Lebens, und dies vermag er nur, indem er in die Tiefe der ursÈchlichen ZusammenhÈnge hineinblicken lÈßt. So wird die Poesie zum Organ des LebensverstÈndnisses. Mit den Augen des großen Dichters gewahren wir Wert und Zusammenhang der menschlichen Dinge. So ergibt sich die in unserem Zusammenhang entscheidende Einsicht: der Gehalt einer Dichtung, welcher das einzelne Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhebt, hat seine Grundlage in der Lebenserfahrung des Poeten und dem Ideenkreis, der sich an sie angeschlossen hat. Der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer das Erlebnis und die Besinnung Ýber dasselbe in der Lebenserfahrung. Jeder der unzÈhligen LebenszustÈnde, durch die der Dichter hindurchgeht, kann in psychologischem Sinne als Erlebnis bezeichnet werden: hier soll dieser Ausdruck nur diejenigen unter den Momenten seines Daseins bezeichnen, welche ihm einen Zug des Lebens aufschließen. So aufgefaßt wird das Erlebnis ein Bestandteil der Lebenserfahrung. Was auch dem Dichter aus der Welt der Ideen oder der Geschichte zukommen mag: nur sofern es die eigenen Erlebnisse ihm verstÈndlich macht oder aus diesen ein tieferes VerstÈndnis empfÈngt, dient es ihm, Neues am Leben zu gewahren. Der Idealismus der Freiheit, wie ihn Schiller von Kant aufnahm, klÈrte ihm doch nur das große innere Erlebnis auf, in welchem seine hohe Natur im Konflikt mit der Welt ihrer WÝrde und SouverÈnitÈt gewiß wurde. Ein innerer Zusammenhang geht im Schaffen jedes Dichters von seiner Lebenserfahrung und den an sie angeknÝpften Ideen bis in Sprache und Stil seiner Werke. Denn in Worten und ihrer Folge sind alle Mittel des Dichters beschlossen. Indem von dieser Grundlage aus ein Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhoben wird, entsteht ein dichterisches Gebilde. Wie wir nun an einem NaturkÚrper seine chemische Zusammensetzung, seine Schwere, seinen WÈrmezustand unterscheiden und fÝr sich studieren, so sondern wir in dem darstellenden dichterischen Werke, dem Epos, der Romanze oder Ballade, dem Drama oder dem Roman voneinander Stoff, poetische Stimmung, Motiv, Fabel, Charaktere und Darstellungsmittel. Der wichtigste unter diesen Begriffen ist der des Motivs: in dem Motiv hÈngt das eigene Erlebnis des Dichters zusammen mit der Fabel, den Charakteren und der poetischen Form. Wie in organischem Wachstum gestalten sich von der Lebenserfahrung aus diese einzelnen Momente, die an der Dichtung unterschieden werden kÚnnen: jedes derselben vollzieht eine Leistung im Zusammenhang des Werkes. So ist also jede Dichtung ein lebendiges GeschÚpf eigener Art. Das hÚchste VerstÈndnis der Literatur wÈre erreicht, kÚnnte man den Inbegriff der Bedingungen im Dichter und außer ihm aufzeigen, unter denen im einzelnen Falle der Zusammenhang entsteht, der, von der bestimmt umgrenzten und geordneten Lebenserfahrung des Poeten aus in dem Werk desselben Motiv, Fabel, Charaktere und Darstellungsmittel gestaltet. So wÝrde die ganze Eigenart eines Dichters verstanden. Sie kÚnnte so ferner nach ihrer StÈrke und ihren Grenzen durch Vergleichung mit der anderer Dichter aufgeklÈrt werden. Und die ganze poetische Literatur ließe sich schließlich unter den verschiedenen Gesichtspunkten, die in diesem Zusammenhang enthalten sind, nach Gruppen ordnen. Was Schiller mit seiner Unterscheidung der naiven und sentimentalischen Dichtung genial begonnen hat, kÚnnte methodisch fortgefÝhrt werden. Eine solche Aufgabe

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darf sich heute kaum jemand stellen. Hier soll nur versucht werden unter dem Gesichtspunkt des dargelegten umfassenden Zusammenhanges, in welchem dichterische Werke entstehen, die ZÝge im Schaffen Goethes, von denen wir ausgegangen sind, dem VerstÈndnis nÈher zu bringen. Und wenn uns heute S h a k e s p e a r e und G o e t h e als die beiden grÚßten KrÈfte der modernen Literatur nebeneinander treten, so kann vielleicht i h r e V e r g l e i c h u n g aus den Gesichtspunkten, die sich uns ergeben haben, ihr VerstÈndnis erleichtern und den Genuß ihrer Werke erhÚhen. Das wÈre das schÚnste Ergebnis dieser Arbeit. Es ist nach dem Dargelegten selbstverstÈndlich, daß von der Lebenserfahrung der beiden großen Dichter auszugehen ist. Unter den Unterschieden, die in dieser auftreten und das dichterische Schaffen beeinflussen, ist Einer besonders bedeutsam. Jedes Erlebnis ist der Ausdruck der Beziehung einer Person zu der sie umgebenden Welt in einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebensverlaufs. Sonach kann es, wenn es zur Besinnung erhoben wird, in zwiefacher Richtung eine Belehrung enthalten. Es kann dem Erlebenden ebensowohl etwas Neues sagen Ýber sich selbst als Ýber die Welt. Und der Dichter wird im Fortschreiten seiner Erfahrung immer ebensowohl neue Eigenschaften seines eigenen Wesens entdecken als neue ZÝge an dem was ihn umgibt. Blickt er in sich selbst, so wird er zugleich aufgeklÈrt Ýber die Natur des Menschen, die sich bis in ihre letzte erreichbare Tiefe in ihm offenbart, und Ýber das VerhÈltnis seiner Eigenart zu der anderer Personen. Blickt er in das Leben um ihn her, dann wird sich ihm immer so viel davon aufschließen, als ihm durch seine innere Erfahrung zugÈnglich ist. So werden stets die beiden Seiten der Lebenserfahrung ineinander greifen und sich ergÈnzen. Aber nach dem Unterschied seiner Anlagen und den Bedingungen unter denen er lebt, wird er bald mehr geneigt sein, aus sich selbst die Belehrung Ýber das Leben zu schÚpfen, bald wird sein Blick dem Spiel der KrÈfte außer ihm vorwiegend zugewandt sein. Wie sich nun dieser Unterschied unter den Bedingungen von Anlage und historischen UmstÈnden bei Shakespeare und Goethe geltend macht, wie sich jedem dieser beiden Großen verwandte Naturen zur Seite stellen, die in derselben Richtung gearbeitet haben, soll in folgendem dargestellt werden. D2 Erst in D2 erhÈlt das nochmals umgearbeitete Kapitel die mit dem Titel der Sammlung fast Ýbereinstimmende Àberschrift: ERLEBNIS UND DICHTUNG. Die einzelnen ZÝge der dichterischen Phantasie Goethes fÝhren zurÝck in einen geistigen Zusammenhang, der schließlich in seinem Erleben, Verstehen, Erfahren gegrÝndet ist. Hier erst dringen wir bis zu den Wurzeln vor, aus denen die Eigenart seines dichterischen Schaffens und der Charakter seiner Werke entspringen. Auch wo in Dichtern von minderem Gehalt, wie in einem Lenau oder Verlaine, die Sprachphantasie starke Wirkungen hervorbringt, erwÈchst sie doch aus einer bedeutenden Lebendigkeit, die in die letzten Tiefen der Existenz zurÝckgeht. Hier aber nÈhern wir uns der grÚßten DichterpersÚnlichkeit der modernen Zeit. In ihr wirkte die schaffende Kraft der Phantasie, die Neues innerhalb der SphÈre des Singularen, Konkreten, TatsÈchlichen hervorbringt, ganz universal, in der praktischen Arbeit des Beamten, des Staatsmannes, in wissenschaftlichem Schaffen, in der Bildung der Person. So ist hier die Dichtergabe nur die hÚchste Manifestation einer bildenden Kraft, die im Leben selbst schon wirksam ist. Leben, Bilden, Dichten stehen im innigsten Zusammenhang. Und diese PersÚnlichkeit trat nun in einer Epoche auf, die von der Herrschaft der ReligiositÈt durch die AufklÈrung befreit war. Alle großen Dichter vor Goethe haben Leben und Welt ausgelegt, geleitet von Ýberlieferten Ideen. Jetzt endlich war die Zeit reif fÝr die LÚsung der hÚchsten dichterischen Aufgabe, das Leben aus ihm selber zu verstehen und so in seiner Bedeutsamkeit und SchÚnheit darzustellen. Hier ist nun reinste NatÝrlichkeit, lauteres Sehen, tiefster Zusammenhang zwischen Leben und Dichtung. Goethe ist der Seher des Lebens, an dem die Kunst unbefangener Auslegung unseres Da-

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seins aus ihm selber allen nachkommenden Philosophen und Dichtern offenbar geworden ist. So fÝhrt alles darauf zurÝck, das VerhÈltnis der Dichtergabe Goethes zum Leben in seiner Eigenart zu erfassen. Die Momente mÝssen durchlaufen werden, in denen von den Erlebnissen aus seine Werke sich ausgebildet haben; damit erst Úffnet sich der Blick in seine Stellung innerhalb der Weltliteratur. Hier bedarf es wieder einiger allgemeiner Betrachtungen. Jedes poetische Werk ist Darstellung eines einzelnen Geschehnisses. Es gibt als Darstellung den bloßen Schein eines Wirklichen durch Worte und deren Verbindungen. So muß es alle Mittel der Sprache anwenden, um Eindruck und Illusion hervorzubringen, und in dieser kÝnstlerischen Behandlung der Sprache liegt ein erster und hÚchst bedeutender Èsthetischer Wert desselben. Das poetische Werk versetzt dann den Auffassenden in Freiheit, indem er sich in dieser Welt des Scheines außerhalb der Notwendigkeiten seiner tatsÈchlichen Existenz findet. Es erhÚht sein LebensgefÝhl. Und es beschÈftigt im Nacherleben dieser Welt sein ganzes Wesen in einem ihm gemÈßen Ablauf der seelischen VorgÈnge, von der Freude an Klang, Rhythmus, sinnlicher Anschaulichkeit bis zum tiefsten VerstÈndnis des Geschehnisses nach dessen Beziehungen zur ganzen Breite des Lebens. Denn jedes echte poetische Werk hebt an dem Ausschnitt der Wirklichkeit, den es darstellt, einen Zug des Lebens heraus, der so vorher nicht gesehen worden ist. Indem es eine ursÈchliche Verkettung von VorgÈngen oder Handlungen sichtbar macht, lÈßt es zugleich die Werte nacherleben, die im Zusammenhang des Lebens einem Geschehnis und dessen einzelnen Teilen zukommen. Das Geschehnis wird so zu seiner Bedeutsamkeit erhoben. Es gibt keine große naturalistische Dichtung, die nicht solche bedeutsamen ZÝge des Lebens aussprÈche, wie trostlos, bizarr, einer blinden Natur angehÚrig sie auch sein mÚgen. Es ist dann der Kunstgriff der grÚßten Dichter, das Geschehnis so hinzustellen, daß der Zusammenhang des Lebens selbst und sein Sinn aus ihm herausleuchtet. So erschließt uns die Poesie das VerstÈndnis des Lebens. Mit den Augen des großen Dichters gewahren wir Wert und Zusammenhang der menschlichen Dinge. So ergibt sich die in unserem Zusammenhang entscheidende Einsicht: der Gehalt einer Dichtung, welcher das einzelne Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhebt, hat seine Grundlage in der Lebenserfahrung des Poeten und dem Ideenkreis, der sich an sie angeschlossen hat. Der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer die Lebenserfahrung, als persÚnliches Erlebnis oder als Verstehen anderer Menschen, gegenwÈrtiger wie vergangener, und der Geschehnisse, in denen sie zusammenwirkten. Jeder der unzÈhligen LebenszustÈnde, durch die der Dichter hindurchgeht, kann in psychologischem Sinne als Erlebnis bezeichnet werden: hier soll dieser Ausdruck nur diejenigen unter den Momenten seines Daseins oder die Verbindungen des ZusammengehÚrigen unter ihnen bezeichnen, welche ihm e i n e n Z u g d e s L e b e n s aufschließen. Und was nun auch dem Dichter aus der Welt der Ideen zukommen mag – und der Einfluß der Ideen auf Dante, Shakespeare, Schiller war sehr groß: alle religiÚsen, metaphysischen, historischen Ideen sind doch schließlich PrÈparate aus vergangenen großen Erlebnissen, ReprÈsentationen derselben, und nur sofern sie die eigenen Erfahrungen dem Dichter verstÈndlich machen, dienen sie ihm, Neues am Leben zu gewahren. Der Idealismus der Freiheit, wie ihn Schiller von Kant aufnahm, klÈrte ihm doch nur das große innere Erlebnis auf, in welchem seine hohe Natur im Konflikt mit der Welt ihrer WÝrde und SouverÈnitÈt gewiß wurde. So sind in dem Untergrund dichterischen Schaffens persÚnliches Erleben, Verstehen fremder ZustÈnde, Erweiterung und Vertiefung der Erfahrung durch Ideen enthalten. Welche M a n n i g f a l t i g k e i t v o n M o d i f i k a t i o n e n d i c h t e r i s c h e r E r f a h r u n g muß sich hieraus entwickeln! Indem die griechischen Tragiker die innere religiÚse Welt in dramatische Sichtbarkeit herausversetzten, entstand ein Ausdruck tiefsten Erlebens, der doch zugleich Darstellung einer mÈchtigen Èußeren TatsÈchlichkeit war, und eine Wirkung ohnegleichen muß hiervon ausgegangen sein. Wir erfahren etwas von diesen Wirkungen noch in den Oberammergauer Spielen

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und in unseren Oratorien. Shakespeare gibt sich einem von außen gegebenen Vorgang verstehend vÚllig hin; er legt sein eigenes Leben hinein, und so entstehen seine Menschen, die so mannigfaltig sind, wie die Natur sie darbietet, und so tief, wie Erleben reicht. Goethe bringt das persÚnliche Erlebnis, die bildende Arbeit an ihm selbst zum Ausdruck, und in diesem VerhÈltnis von Erlebnis und seinem Ausdruck tritt das der Beobachtung immer Verborgene am Seelenleben, sein ganzer Verlauf und seine ganze Tiefe heraus. Àberall ist hier das VerhÈltnis von persÚnlichem Erlebnis und Ausdruck mit dem von Èußerem Gegebensein und Verstehen in verschiedener Mischung miteinander verwebt. Denn im persÚnlichen Erlebnis ist ein seelischer Zustand gegeben, aber zugleich in Beziehung auf ihn die GegenstÈndlichkeit der umgebenden Welt. Im Verstehen und Nachbilden wird fremdes Seelenleben erfaßt, aber es ist doch nur da durch das hineingetragene eigene. Nur die StÈrke und die Verbindung dieser Momente ist in den verschiedenen Modifikationen der dichterischen Erfahrung immer wieder eine andere. Auf diesen Grundlagen entwickelt sich die seherische Gabe des Dichters, die uns Ýber uns selbst und die Welt, Ýber die letzten erreichbaren Tiefen der Menschennatur und Ýber die FÝlle der IndividualitÈten belehrt. Es entstehen die zahllosen Formen dieser seherischen Begabung. Indem auf dieser Grundlage ein Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhoben wird, entsteht ein dichterisches Gebilde. Wie wir nun an einem NaturkÚrper seine chemische Zusammensetzung, seine Schwere, seinen WÈrmezustand unterscheiden und fÝr sich studieren, so sondern wir in dem darstellenden dichterischen Werke, dem Epos, der Romanze oder Ballade, dem Drama oder dem Roman voneinander Stoff, poetische Stimmung, Motiv, Fabel, Charaktere und Darstellungsmittel. Der wichtigste unter diesen Begriffen ist der des Motivs: denn im Motiv ist das Erfahrnis des Dichters in seiner Bedeutsamkeit aufgefaßt: in ihm hÈngt dieses daher zusammen mit der Fabel, den Charakteren und der poetischen Form. Es schließt die bildende Kraft in sich, welche die Gestalt des Werkes bestimmt. Wie in organischem Wachstum gestalten sich von der Lebenserfahrung aus diese einzelnen Momente, die an der Dichtung unterschieden werden kÚnnen: jedes derselben vollzieht eine Leistung im Zusammenhang des Werkes. So ist also jede Dichtung ein lebendiges GeschÚpf eigener Art. Das hÚchste VerstÈndnis eines Dichters wÈre erreicht, kÚnnte man den Inbegriff der Bedingungen in ihm und außer ihm aufzeigen, unter denen die sein Schaffen bestimmende Modifikation des Erlebens, Verstehens, Erfahrens entsteht, und den Zusammenhang umfassen, der von ihr aus Motiv, Fabel, Charaktere und Darstellungsmittel gestaltet – vermÚchte man dann seine Eigenart nach ihrer StÈrke und nach ihren Grenzen durch Vergleichung mit der anderer Dichter aufzuklÈren. Welch eine Aufgabe! Ich darf nicht daran denken, sie fÝr Goethe lÚsen zu wollen. Nur die Summe meiner BeschÈftigung mit ihm unter diesen Gesichtspunkten darf ich hier vorlegen. Goethes Stellung in der Weltliteratur beruht darauf, wie in jedem dieser Momente seines dichterischen Schaffens von der poetischen Erfahrung ab durch Motiv, Fabel, Charaktere bis in Form und Sprache seine Kraft und Eigenheit sich geltend macht; diese Momente sind alle in gewissen Grenzen selbstÈndig; aber die Grundlage seines Schaffens bildet doch die Modifikation der dichterischen Erfahrung in ihm. Das persÚnliche Erlebnis steht im Mittelpunkt derselben. Dies machte ihn in einem neuen Sinne zum Dichter des Seelenlebens. Verborgene FÈden verbinden hierin seine Poesie mit der Musik Beethovens und mit der philosophischen Selbstbesinnung von Kant bis Hegel; in ihnen ist dieselbe bis dahin unerhÚrte Konzentration des Geistes zur Erfassung und Darstellung seiner Innenwelt. Und von hier aus konnte nun Goethe die noch umfassendere Aufgabe lÚsen, das Leben aus ihm selber zu verstehen. VollstÈndig kann diese Modifikation der dichterischen Erfahrung in Goethe nach ihrer Kraft und zugleich ihrer historischen Begrenzung erst sichtbar werden vermittelst eines vergleichenden Verfahrens. Denn jede geschichtliche Gestalt der Religion, Philosophie oder Dichtung ist gebunden an das Gesetz der Begrenzung, der RelativitÈt des Einzeldaseins, jede hat ihre ErgÈn-

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zung in der anderen, und so erfassen wir ihr Wesen und ihre historische Stellung erst durch die Vergleichung. Shakespeare und Goethe treten heute fÝr uns als die beiden hÚchsten KrÈfte der modernen Weltliteratur nebeneinander. Und eben sie reprÈsentieren, wie wir sahen, besonders bedeutsame Modifikationen der dichterischen Erfahrung und folgerecht der Menschendarstellung. Die beiden großen germanischen Seher, die am tiefsten dem Leben in sein unergrÝndliches Antlitz geblickt haben, ergÈnzen einander, verwandte Naturen stehen ihnen zur Seite. A 59 (60), 243r, 243v Ansatz von D.s Hand fÝr eine Umgestaltung des Anfangs seines Kapitels ERLEBNIS UND DICHTUNG mit der Angabe: zu 177 (in D2) und der EinfÝgung: In ihr etc. (vgl. oben, erste HÈlfte des ersten Abschnitts in D2). Eine so außerordentliche Macht der Phantasie war erforderlich, sollte Goethe seine geschichtliche Mission erfÝllen, in dem des europÈischen Geistes, in dem die Wissenschaft regierte, durch diese hindurchgehend, die Dichtung zum Ausdruck des WeltverstÈndnißes der modernen Zeit zu machen. Seine Phantasie mußte durch Feuer- und Wasserproben hindurchgehen und heil herauskommen. Sie mußte jeden Theil der Wirklichkeit von LebensbezÝgen aus durchdringen. So erst verstehen wir diese grÚßte DichterpersÚnlichkeit der modernen Zeit. In ihr etc. A 59 (60), 227r-228v Diktierte, noch nicht endgÝltige Umformung der letzten Abschnitte des Kapitels ERLEBNIS UND DICHTUNG fÝr D3 ohne weitere Angaben. Vgl. oben in D2 von: Welch eine Aufgabe bis Shakespeare; in Goethe (1910) 129–130, von: Indem ich nun bis Shakespeare). Die ersten Zeilen von D.s Hand (A 59, 226) sind mit einigen VerÈnderungen abgeschrieben oder neu diktiert. Indem ich nun das VerhÈltnis von Leben, Lebenserfahrung, Phantasie und dichterischem Werk in Goethe zu erfassen suche, ergreift mich vor allem die wunderbare Einheit und Harmonie in diesem Dasein. Es gibt in ihnen keine Dissonanzen und kaum RÈtsel. Dies Leben ist ein Wachstum nach einem inneren Gesetz, und wie einfach ist dies Gesetz, wie regelmÈßig wirkt es. Aus der bildenden Kraft der Natur schafft er das Leben nach, das der Gegenstand der Dichtung ist, und aus dessem inneren Gesetz formt er seine dichterische Welt und gestaltet sich selbst, dies beides in einem untrennbaren Zusammenhang. Dies Phaenomen kann aber nur gewÝrdigt werden, wenn man es in seinem Zusammenhang mit der Geschichte des deutschen Geistes auffaßt, welche von Luther und Leibniz ab eine innere Harmonie von Religion, Wissenschaft und Dichtung geschaffen hat, die auf der Verbindung von Vertiefen des Geistes in sich selbst und Gestaltung aus dieser Tiefe beruht. So ist die weltgeschichtliche Kraft entstanden, die von Deutschland, von Lessing und Kant bis auf Hegel ausgegangen ist, in dem Heraufholen bis dahin noch nie ausgedrÝckter unbewußter Tiefen ist Goethe verbunden mit der Transcendentalphilosophie von Kant, Fichte und Hegel und in der Gestaltung des Menschen aus seinem inneren Gesetz mit eben diesen Philosophen und mit Schiller. Und in dem Schaffen einer dichterischen Welt auf dem Boden dieser neuen Kultur ist Goethe eins mit Schiller und mit Jean Paul. Goethes Dichtergabe war so nur die hÚchste Manifestation einer bildenden Kraft, die in seinem Leben selber schon wirksam war. Leben, Bilden und Dichten stehen so in ihm in einem neuen Zusammenhang. Ich greife zu einem vergleichenden Verfahren, um dies Wesen der Poesie Goethes zu erleuchten. Shakespeare etc. Zu weiteren VerÈnderungen des ganzen Kapitels vgl. den oben vollstÈndig wiedergegebenen Text aus D2 mit Erlebnis und Dichtung in D3, Goethe (1910) 127–130. Die in D3 folgenden Kapitel: SHAKESPEARE – ROUSSEAU – GOETHE nehmen in E wenig Raum ein. Goethe wird in Beziehung zu den Goethe-Vorlesungen H. Grimms gesehen. In D1 erhÈlt Shakespeare ein eigenes Kapitel, das fÝnfte. Rousseau, Gottfried und Wolfram, Goethe machen das sechste aus; die Darstellung Goethes ist ausfÝhrlicher, die Verbindung zu Grimm noch nicht ganz

Goethe und die dichterische Phantasie.

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gelÚst. Das Goethe-Kapitel in D2 beginnt immer noch mit Rousseau, Gottfried und Wolfram; die Darstellung Goethes nimmt wesentlich an Umfang zu und gliedert sich in sechs Unterkapitel. Aus diesem Zusammenhang wird das kleine Kapitel Ýber Rousseau, Gottfried und Wolfram in D3 abgetrennt.

Anmerkungen FÝr die Nachweise der in den Bearbeitungen neu hinzugekommenen Goethezitate wird wie in Ges. Schr. XXV die Hempelsche Ausgabe (Goe W) herangezogen; daneben in einigen FÈllen, besonders fÝr die Briefstellen, die in der Zwischenzeit erschienene Weimarer Ausgabe (WA). 113 Welcher bis Phantasie: Erste Strophe von Goethes Gedicht: Meine GÚttin (e 1780; v 1789). Im Wortlaut Ýbereinstimmend mit Goe W 1, 142 f. 113, 16–19 Auch ihre bis Wesens: Vgl. Goethe (1910) 129, 31–37; 154, 30 – 155, 5; Novalis (1910) 187, 3–26. 113, 26 die englische Genielehre: Vgl. •sthetik 254–262; auch Anm. Le (1910) 32, 16–19. 114, 20–22 „Ich bis KÝnstler.“: Brief Goethes vom 17. MÈrz 1788 aus Rom an Carl August. Satzbeginn statt Ich: „Ich darf wohl sagen: ich“. Briefwechsel des Großherzogs Carl August von SachsenWeimar-Eisenach mit Goethe I, hrsg. von [C.] Vogel, Weimar 1863, S. 115. Der Herausgeber war der Arzt beider Briefpartner. 114, 24–32 „Immer bis Tendenzen“: 1797 entstanden, im Goethe-Jahrbuch XVI (1895) zuerst von B. Suphan verÚffentlicht und als Selbstcharakteristik Goethes interpretiert; D. kÚnnte die Stelle auch in der Weimarer Ausgabe I, 42 II (1907), S. 506 gelesen haben. Orthographie und Interpunktion verÈndert; der letzte von D. abgebrochene Satz heißt: „Da dieser Trieb rastlos ist, so muß er, um sich nicht stofflos selbst zu verzehren, sich nach außen wenden und, da er nicht beschauend sondern nur practisch ist, nach außen ihrer Richtung entgegen wirken. Daher die vielen falschen Tendenzen zur bildenden Kunst, zu der er kein Organ, zum thÈtigen Leben, wozu er keine Biegsamkeit, zu den Wissenschafften, wozu er nicht genug Beharrlichkeit hat; da er sich aber gegen alle drey bildend verhÈlt, auf RealitÈt des Stoffs und Gehalts und auf Einheit und Schicklichkeit der Form Ýberall dringen muß, so sind selbst diese falschen Richtungen des Strebens nicht unfruchtbar nach außen und innen.“ Ebd. 114, 32–35 Der objektive bis verbunden war: Vermutlich Anspielung auf den Brief Schillers an Goethe vom 23. August 1794. 115, 1 DAS LEBEN: Vgl. die ebenso benannten Abschnitte oben unter Textbearbeitung und in: Aufbau 131 f.; Ges. Schr. VIII, 78 f. 117, 10–12 Indem bis anzuwenden: Zu deskriptive Methode: Ges. Schr. XXV, E Goethe 137, 17–30 und Anm. 118, 23–29 Wer hÈtte bis sind: •hnlich: Goethe (1910) 123, 30–34, vgl. Ges. Schr. XXV, E Goethe 139, 28–34 und Anm.

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Textgeschichte und Anmerkungen

118, 33–34 Steigernd bis willkÝrlich: Angelehnt an Goethes Morphologie; gestaltend-umgestaltend aus Parabase (Freudig war vor vielen Jahren): „So gestaltend, umgestaltend – / Zum Erstaunen bin ich da.“ Goe W 2, 227. 119, 9–15 In diesem bis festhÈlt: Unterscheidung zwischen dichterischem und wissenschaftlichem Genie in der englischen Genielehre. Vgl. A. Gerard – wie Anm. Le (1910) 32, 16–19. Dritter Theil. Von den verschiednen Gattungen des Genies. Erster Abschnitt. Das Genie ist zweyfach; ein wissenschaftliches und ein Kunstgenie. 119, 28 – 120, 11 Ich bis enthalten ist: Dazu Ges. Schr. V, 381–399, die Abschnitte Ýber Religion und Dichtung in: Das Wesen der Philosophie (1907). 119, 30 z w e i t e W e l t : Vgl. zweite Natur in Ges. Schr. XXV, E Goethe 149, 6, allerdings in einem etwas unklaren SatzgefÝge. Dazu Goethe: „Denn es legt sich nun aus einander, und die Kunst wird mir wie eine zweite Natur, die gleich der Minerva aus dem Haupte des Jupiters, so aus dem Haupte der grÚßten Menschen geboren worden.“ ItaliÈnische Reise. Zweiter RÚmischer Aufenthalt. Rom, den 11. August 1787. WA I, 32. S. 58. 121, 4 Typus: Das Wort, der zweite Begriff Goethes neben Metamorphose, kommt im Gegensatz dazu in E Goethe nicht vor; in Goethe (1910) dagegen hÈufig, z. B. 118, 33–35. Vgl. geschichtliche Typen der Technik in einer Dichtungsart, Bausteine 233–236 u. Ú.; P r i n z i p d e s T y p u s , Abhandlung (1895) 270. 122,16 „An den Mond“: FÝllest wieder Busch und Thal (e 1778; v 1789). Goe W 1, 64. 122, 24 „seltsame Hymnen und Dithyramben“: „Mehr als jemals war ich gegen offene Welt und freie Natur gerichtet. Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine unter dem Titel ‚Wanderers Sturmlied Ýbrig ist.“ DuW 12. Buch. Goe W 22, 71. 124, 8–9 In der Pandora bis gegeben: Pandora, Wien/Triest 1810. Festspiel. 124, 34–38 „Mein bis Vorhandenen.“: Statt „Mein produktives Talent (Z. 34): „Indem ich mich also nach BestÈtigung der SelbststÈndigkeit umsah, fand ich als die sicherste Base derselben mein produktives Talent. Es“. Statt am Tag (Z. 35): „am Tage“; außerdem verÈnderte Orthographie. DuW 15. Buch. Goe W 22, 181. 124, 40 – 125, 4 Er mußte bis folgen: „Ich war dazu gelangt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr, als ich darauf gewiesen war, die Èußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die AusÝbung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am Freudigsten und Reichlichsten trat sie unwillkÝrlich, ja wider Willen hervor. [. . .] In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die ZÝge hergab; denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte.“ DuW 16. Buch. Goe W 23, 9 f. 125, 6–9 er schrieb bis Èndern: „Unter solchen UmstÈnden, nach so langen und vielen geheimen Vorbereitungen schrieb ich den ‚Werther in vier Wochen, ohne daß ein Schema des Ganzen oder die Behandlung eines Theils irgend vorher wÈre zu Papier gebracht gewesen. [. . .] Da ich dieses Werklein

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ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler Èhnlich geschrieben hatte, so verwunderte ich mich selbst darÝber, als ich es nun durchging, um daran etwas zu Èndern und zu bessern.“ DuW 13. Buch. Goe W 22, 131 f. 125, 17–18 der allmÈhlich bis brennen“: Nicht ganz entsprechend: „An Wilhelm fahr ich langsam fort und rÚste das Holz. Endlich soll es hoff ich in Flammen schlagen.“ Brief vom 22. September 1785 an Ch. von Stein. WA IV, 7. S. 99. Vgl. an Schiller 28. Februar 1795, allerdings nicht auf Wilhelm Meister bezogen: „Wir kÚnnen nichts thun als den Holzstoß erbauen und recht trocknen: er fÈngt alsdann Feuer zur rechten Zeit und wir verwundern uns selbst darÝber.“ Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe I, hrsg. von H. Hauff, Stuttgart und Augsburg 21856, S. 53. 125, 39 – 126, 1 Als er bis weinen an“: Goethes SelbstgesprÈche auf dem Ritt nach Gotha: „Drauf unterhielt ich mich mit beyliegender Posse, kam so durch Erfurt, und zulezt fÝhrt ich meine Lieblings Situation im Wilhelm Meister wieder aus. Ich lies den ganzen Detail in mir entstehen und fing zulezt so bitterlich zu weinen an, dass ich eben zeitig genug nach Gotha kam.“ Brief vom [5. Juni] 1780 an Ch. von Stein. WA IV, 4. S. 231. 126, 1–4 Bei bis trocknete: Caroline von Wolzogen: „Mit RÝhrung erinnere ich mich, wie uns Goethe in tiefer Herzensbewegung, unter hervorquellenden TrÈnen, den Gesang, der das GesprÈch Hermanns mit der Mutter am Birnbaume enthÈlt, gleich nach der Entstehung vorlas. So schmilzt man bei seinen eigenen Kohlen, sagte er, indem er sich die Augen trocknete.“ Aus: Goethes GesprÈche. Neu herausgegeben von F. Frhr. von Biedermann I, Leipzig 1909, S. 250. 126, 18 des Àbermenschentums: Auch Goethe (1910) 146, 40. Vgl. Anm. HÚlderlin (1910) 270, 38. 126, 19–20 Er ist bis handeln: Brief F. H. Jacobis vom 27. August 1774 an Ch. M. Wieland: „GÚthe ist, nach Heinse’s Ausdruck, Genie vom Scheitel bis zur Fußsohle; ein B e s e s s e n e r , fÝge ich hinzu, dem fast in keinem Falle gestattet ist, willkÝhrlich zu handeln.“ Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel, [hrsg. von F. Roth] I, Leipzig 1825, S. 179. 145, 11–16 Man kennt bis verfiel: Beschreibung der Gretchengeschichte in DuW 5. Buch. Goe W 20, 196–200. 145, 16–19 In Leipzig bis Lungenerkrankung: Darstellung dieser Szene im Brief an E. W. Behrisch vom 10. November 1767. „Auf einmal faßte mich das Fieber mit seiner ganzen StÈrcke, und ich dachte in dem Augenblicke zu sterben;[. . .].“ WA IV, 1. S. 138 f. 145, 19–23 Und doch bis geben.“: Brief Goethes an Behrisch vom 7. November 1767, drei Tage vor der Szene im Theater (vgl. die vorangehende Anm.). Statt Sage Dir: „Sage dir“. WA IV, 1. S. 132. 146, 11–12 „Schand- und FrevelstÝck“: Goethe kritisiert in der Farce: GÚtter, Helden und Wieland (e 1773; v 1774) Wielands Singspiel: Alceste und die darauf bezogenen Briefe. Goe W 8, 253–274. Er selber nennt sein Produkt in einem undatierten Brief an J. Fahlmer „ein gewisses Schand- und FrevelstÝck“, zitiert ebd. 255. Nach WA IV, 2. S. 152 ist der Brief vom MÈrz 1774. 146, 22 „Von mir bis auf mir.“: Ohne Komma; im Brief an J. C. Kestner, undatiert, vom Juni

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1773. WA IV, 2. S. 92. Goethe fÈhrt fort: „Keinen Bruder hab ich erschlagen! Und ich dencke die Leute sind Narren.“ 146, 26–27 „In dem bis am meisten.“: Goethe im Brief an S. La Roche vom 12. Mai 1773: „Denn ich binn allein, allein, und werd es tÈglich mehr. Und doch wollt ichs tragen, dass Seelen die fÝr einander geschaffen sind, sich so selten finden, und meist getrennt werden. Aber dass sie in den Augenblicken der glÝcklichsten Vereinigung sich eben am meisten verkennen! das ist ein trauriges RÈtzel.“ Ebd. S. 88. 149, 24–31 Im „Ewigen Juden“ bis dargestellt“: Der ewige Jude (e 1774; v 1836). Fragment. Der wiederkehrende Christus: „O Welt voll wunderbarer Wirrung, / Voll Geist der Ordnung, trÈger Irrung, / Du Kettenring von Wonn’ und Wehe, / Du Mutter, die mich selbst zum Grab gebar, [. . .] Die Dumpfheit Deines Sinns, in der Du schwebtest, / Daraus Du Dich nach meinem Tage drangst, / Die schlangenknotige Begier, in der Du bebtest, / Von ihr Dich zu befreien strebtest, / Und dann befreit Dich wieder neu umschlangst: / Das rief mich her aus meinem Sternensaal, [. . .].“ Er sieht begierig rings sich um, / Sein Auge scheint ihn zu betrÝgen; / Ihm scheint die Welt noch um und um / In jener Sauce dazuliegen,“. Die vier folgenden Verse stimmen dem Wortlaut nach mit D.s Zitat Ýberein. Goe W 3, 185 f. 149, 35–39 Und wer bis bespiegeln.“: Faust, V 571–579. VerkÝrzt, Orthographie und Interpunktion leicht geÈndert. Goe W 12, 24. 151, 1–2 „Auf- und Absteigen bis Spirale“: Zur Farbenlehre (1810). Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, Zwischenzeit, AutoritÈt: „Die Naturwissenschaften haben sich bewundernswÝrdig erweitert, aber keinesweges in einem stetigen Gange, auch nicht einmal stufenweise, sondern durch Auf- und Absteigen, durch Vor- und RÝckwÈrtswandeln in grader Linie oder in der Spirale, wobei sich denn von selbst versteht, daß man in jeder Epoche Ýber seine VorgÈnger weit erhaben zu sein glaubte.“ Goe W 36, 100. 154, 3–6 Er sagt bis UnverwÝstliches: „Denn schon damals hatte sich bei mir eine Grundmeinung festgesetzt, [. . .]. Es war nÈmlich die: bei Allem, was uns Ýberliefert, besonders aber schriftlich Ýberliefert werde, komme es auf den Grund, auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an: hier liege das UrsprÝngliche, GÚttliche, Wirksame, Unantastbare, UnverwÝstliche, und keine Zeit, keine Èußere Einwirkung noch Bedingung kÚnne diesem innern Urwesen etwas anhaben, [. . .].“ DuW 12. Buch. Goe W 22, 60 f. 155, 7–8 Beide bis Herzens“: Die zitierte Stelle stammt aus einem das 9. Buch von DuW einleitenden Zitat, das wiederum einer Rezension Ch. G. Heynes, des GÚttinger Altphilologen und Bibliothekars, entnommen ist. Die Rezension betrifft ein Werk Ýber Ovid, war verÚffentlicht in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1765). Im Satzzusammenhang: „Besonders werden sich viele ZÝge eindrÝcken, welche dem jungen Leser eine Einsicht in den verborgenern Winkel des menschlichen Herzens und seiner Leidenschaften geben, eine Kenntniß, die mehr als alles Latein und Griechisch werth ist, und von welcher Ovid ein gar vortrefflicher Meister war.“ Goe W 21, 129. 157, 25 seit Buffon: G. L. Leclerc, comte de Buffon, Zoologe, vielseitiger Naturforscher; seine breit angelegte von mehreren Gelehrten bearbeitete Histoire naturelle, 36 Bde (1749–1804), beruht auf Beobachtung und Beschreibung, richtet sich gegen die Systematik Linn¹s.

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158, 19–22 Es war bis verfiel: Vgl. den letzten Teil des 8. Buchs von DuW. Goe W 21, 113–128. 159, 22–23 „Ist bis Herzen?“: Die letzten beiden Verse des Gedichts: Ultimatum (v 1827). Goe W 2, 238. 159, 24–25 Werther bis der Natur“: Leiden des jungen Werther’s (1774), Brief vom 18. August: „Wenn ich sonst [. . .], und das Geniste, das den dÝrren SandhÝgel hinunter wÈchst, mir das innere, glÝhende, heilige Leben der Natur erÚffnete: wie faßte ich das Alles in mein warmes Herz, [. . .].“ Goe W 14, 58 f. 159, 25–26 der Aufsatz bis mag: Die vermutlich nicht von Goethe stammende Schrift, Die Natur, ist versehen mit der Angabe: (Um das Jahr 1780) und steht im Tiefurter Journal von 1782. Goe W 34, 71–74. 159, 31–32 „Sie hat bis mitzuteilen.“: Mit einer orthographischen Abweichung („mitzutheilen“) aus: Die Natur. Goe W 34, 72. 159, 32–35 Denselben bis dasselbe: Vgl. D.s Abhandlung: Aus der Zeit der Spinozastudien Goethes (1894). Ges. Schr. II, 391–415. 160, 6–7 „zum Sehen bis bestellt“: Lied des TÝrmers Lynceus im zweiten Teil des Faust, V 11288–11289; orthographisch D.s Satz angepaßt. Goe W 13, 215. 160, 22 „ein Meer bis Gestalten“: Aus Goethes Gedicht: Im ernsten Beinhaus (e 1826; v 1829). „Wie mich geheimnißvoll die Form entzÝckte, / Die gottgedachte Spur, die sich erhalten! / Ein Blick, der mich an jenes Meer entrÝckte, / Das fluthend strÚmt gesteigerte Gestalten.“ Goe W 3, 191. 161, 2–3 BegrÝndung bis ausgegangen: J. MÝller, bedeutender Physiologe und Anatom der ersten HÈlfte des 19. Jh.s. Unter seinen Werken: Handbuch der Physiologie des Menschen, zwei Bde, Coblenz 1834–1840; Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere, Leipzig 1826. Kap. VIII: Fragmente zur Farbenlehre, insbesondere zur Goetheschen Farbenlehre. 161, 28–29 „Nach bis entfliehen“: Urworte. Orphisch (v 1820). DÈmon. „Wie an dem Tag, der Dich der Welt verliehen, / Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, / Bist alsobald und fort und fort gediehen / Nach dem Gesetz, wonach Du angetreten. / So mußt Du sein, Dir kannst Du nicht entfliehen,“. Goe W 2, 242. 161, 31–33 „Volk bis PersÚnlichkeit.“: West-Ústlicher Divan, Buch Suleika. Leicht abweichend in Orthographie und Interpunktion von Goe W 4, 139. 162, 30–32 Goethe bis PersÚnlichkeit zu: Brief vom 6. Januar 1813 an F. H. Jacobi: „Ich fÝr mich kann, bey den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und KÝnstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden als das andre. Bedarf ich eines Gottes fÝr meine PersÚnlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafÝr auch schon gesorgt.“ WA IV, 23. S. 226. 162, 32–33 „im Greisenalter Mystiker werden“: Berichtet von F. FÚrster als Antwort Goethes auf die Frage nach dem Abschluß des Faust: „Faust endet als Greis, und im Greisenalter werden wir My-

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stiker.“ Aus: Goethes GesprÈche. Neu herausgegeben von F. Frhr. von Biedermann III, Leipzig 1910, S. 516. Vgl. „Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philosophie. [. . .] Der Greis jedoch wird sich immer zum Mysticismus bekennen;“. Goe W 19, 131 f. 163, 36–37 er dramatisierte bis vorging“: „Doch mehr als alle Zerstreuungen des Tags hielt den Verfasser von Bearbeitung und Vollendung grÚßerer Werke die Lust ab, die Ýber jene Gesellschaft gekommen war, alles, was im Leben einigermaßen Bedeutendes vorging, zu d r a m a t i s i r e n .“ DuW 13. Buch. Goe W 22, 138. 164, 5 die i n n e r e F o r m : Auch Goethe (1910) 163, 32–33. Zu diesem Begriff vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 62, 28; dazu HÚlderlin (1910) 288, 11–24 und Anm. 164, 26–27 Von frÝh bis bemerken.“: Vgl. „Ich suchte mich innerlich von allem Fremden zu entbinden, das Aeußere liebevoll zu betrachten und alle Wesen, vom menschlichen an so tief hinab, als sie nur faßlich sein mÚchten, jedes in seiner Art auf mich wirken zu lassen.“ DuW 12. Buch. Goe W 22, 89. 164, 27–29 „Das Auge bis hinsah“: „Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt faßte. Ich hatte von Kindheit auf zwischen Malern gelebt und mich gewÚhnt, die GegenstÈnde wie sie in Bezug auf die Kunst anzusehen. Jetzt, da ich mir selbst und der Einsamkeit Ýberlassen war, trat diese Gabe, halb natÝrlich, halb erworben, hervor; wo ich hinsah, erblickte ich ein Bild, [. . .]. Ich gewann freilich dadurch eine große Aufmerksamkeit auf die GegenstÈnde, [. . .].“ DuW 6. Buch. Goe W 21, 11 f. 166, 4–9 Sie sollte bis Weisen: Zu dieser Zusammenstellung vgl. Lessing (1910) 91, 9–11 und Anm. 166, 10–17 Denn bis Ýberwindet: Die Verse 185–192 aus dem epischen Fragment: Die Geheimnisse (e 1784/85; v 1789). Nach fort (V 188) Doppelpunkt. Statt schwerverstanden (V 190): „schwer verstanden“. WA I, 16. S. 178.

Novalis.

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NOVALIS. Anmerkungen Diltheys 0 Dieser Aufsatz ist 1865 in den preußischen JahrbÝchern gedruckt. Damals waren nur die beiden BÈnde „Novalis’ Schriften“, herausgegeben von Tieck und Friedrich Schlegel, und die Nachlese von Tieck und BÝlow in einem dritten Bande von 1846 vorhanden. Seitdem hat sich unsere Kenntnis des Nachlasses von Hardenberg sehr erweitert, und heute besitzen wir in der schÚnen Ausgabe Minors (Novalis’ Schriften, 4 BÈnde, Jena, Diederichs 1907) einen kritisch zuverlÈssigen Text der Hinterlassenschaft des Dichters. Es handelt sich nun darum, wieweit eine chronologische Bestimmung der Fragmente sowie der Aufzeichnungen Ýber die Fortsetzung der Lehrlinge von Sais und des Heinrich von Ofterdingen erreichbar ist. Heilborn hatte in seiner Ausgabe von „Novalis’ Schriften“ (Berlin 1901) eine chronologische Ordnung der Fragmente versucht.1 Neue Wege, die wichtige Frage der Chronologie der Fragmente zu lÚsen, betrat dann Eduard Havenstein („Friedrich von Hardenbergs Èsthetische Anschauungen Berlin 1904), der bei seiner BeschÈftigung mit den Handschriften alle Hilfsmittel chronologischer Bestimmung miteinander verbunden hat. Wobei er indes von seiner Untersuchung alles das ausschloß, „was ausschließlich fachmÈnnisch Ýber Mathematik, Physik, Chemie usw. handelt“.2 Ferner stellt Minor kritische ErlÈuterungen seiner Ausgabe in Aussicht, und es ist Hoffnung vorhanden, daß dieser hervorragende Kenner der Handschriften auch die chronologischen Fragen behandeln wird.3 Dies muß erwartet werden, wenn man fÝr die AuflÚsung der Hauptprobleme eine feste Grundlage haben will. Denn die Ansichten von Novalis sind sehr wechselnd; was er aufzeichnete, ist vielfach abhÈngig von seiner LektÝre; will man die Entwickelung seiner Ideen, ihren Zusammenhang in irgendeiner bestimmten Zeit erfassen, so muß man das VerhÈltnis der einzelnen Schriften von Friedrich Schlegel, Schelling, Baader zu den Niederschriften Hardenbergs untersuchen, und hierfÝr sind komplizierte chronologische Nachforschungen erforderlich. Auch die Aufzeichnungen des Dichters Ýber die Fortsetzung der Lehrlinge und des Ofterdingen kÚnnen erst ausgenutzt werden, wenn sie zeitlich bestimmt und mit den als gleichzeitig festgestellten Fragmenten konfrontiert werden kÚnnen. So ist die Zeit fÝr eine sichere Verwertung des neuen Materials noch nicht da. Darum erscheint auch in dieser Ausgabe der Aufsatz Ýber Novalis unverÈndert, abgesehen von einzelnen kleinen Besserungen und Streichungen, sowie der Zusammenziehung und Verdeutlichung einer Stelle. Ich halte an meinen Ergebnissen fest. Auch ZusÈtze aus dem neuen Material scheinen mir nicht erforderlich. Denn die Absicht des Aufsatzes war

Diltheys VerÈnderungen seiner Anmerkungen fÝr D1 und D2 werden unten dokumentiert unter: Diltheys Bearbeitung seiner Anmerkungen. 1 E. Heilborn, Novalis Schriften. Kritische Neuausgabe auf Grund des handschriftlichen Nachlasses, I-II,1–2, Berlin 1901. Die Fragmente stehen in II,1–2. 2 E. Havenstein, Friedrich von Hardenbergs Èsthetische Anschauungen. Verbunden mit einer Chronologie seiner Fragmente. Palaestra LXXXIV. Untersuchungen und Texte aus der deutschen und englischen Philologie, hrsg. von A. Brandl u. a., Berlin 1909, S. 3. Im Zitat statt usw.: „etc.“. Teilabdruck (1–3) der Berliner Diss. von 1908 im Nachlaß D.s unter C 88 (235), 240. Das von D. angegebene Erscheinungsjahr ist unrichtig. 3 Vgl. Minor I (1907), Wiederabdruck Jena 1923, S. XLV: „Àber die Textbehandlung denke ich in der nÈchsten Zeit gelehrten Lesern an anderm Orte Rechenschaft und Auskunft zu geben, wo auch das, was im einzelnen noch der Rechtfertigung bedarf, zur Sprache kommen wird.“

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Textgeschichte und Anmerkungen

von vornherein nicht VollstÈndigkeit der Nachrichten, sondern gegenÝber den damals herrschenden Ansichten Ýber den Dichter eine Charakteristik und WÝrdigung desselben, und zwar besonders in bezug auf die Folgerichtigkeit und Bedeutung seiner dichterischen Konzeptionen. Ich fÝge hier nur einige Bemerkungen hinzu in bezug auf Einwendungen, die gegen diesen Aufsatz Ýber Novalis erhoben worden sind. Haym (Rez. der „Nachlese“ 1873, preuß. Jahrb. Jahrg. 1873)4 erkennt an, daß mein Aufsatz „zuerst eine wahrhaft literaturgeschichtliche Analyse des Geistes von Novalis“ gegeben habe, aber es kommt doch in seiner bedeutenden und vielbenutzten Schrift Ýber die romantische Schule (Berlin 1870) ein durchgreifender Unterschied in unserer Auffassung zum Ausdruck. WÈhrend ich die Ýbliche Ansicht von der Verworrenheit, Verschwommenheit, dem Dunkel und den WidersprÝchen in den romantischen Schriften als unhaltbar nachweisen und zeigen wollte, daß auch das, was uns in den Fragmenten und NachlaßstÝcken vorliegt, einen festen Zusammenhang habe, steht Haym jener Èlteren Ansicht viel nÈher. 1. Was die L e h r l i n g e v o n S a i s betrifft (Haym a. a. O. 348 ff.),5 so habe ich mich in den Worten der ersten Auflage Ýber ihr VerhÈltnis zu Fichtes Standpunkt (S. 268, Z. 6. 5. 4 von unten) zu weit vorgewagt,6 ich gebe sie preis. Aber daß eine positive AuflÚsung des Streites der Naturansichten in den bei mir angegebenen Worten von Novalis liegt, halte ich fest. Novalis lehrt, daß der Mensch „mit der Natur gerade in so unbegreiflich verschiedenen VerhÈltnissen steht, wie mit den Menschen“.7 So entstehen die verschiedenen Naturansichten. Aber von dem Verfahren ab, welches der Struktur der Naturobjekte nachgeht, bis zu den Ansichten, die Vernunft, Phantasie oder GemÝt in ihr wiederfinden, wird doch nach Novalis Natur Ýberall nur verstanden aus einem inneren Zusammenhang, im Nacherleben des in ihr wirkenden Lebens, im Wiederfinden des Selbst in ihr. Ich weise besonders auf die Stelle Minor IV, 24–26 hin. Hier tritt man aus dem Streit der Menschen Ýber die Natur heraus. Die Naturobjekte selber reden. Und sie durchwaltet nun nach Novalis ein ihnen einwohnendes GefÝhl, das die Harmonie des Naturganzen genießt, und so Úffnet sich auch nur dem GefÝhl des Menschen das Wesen der Natur. „Das Denken ist nur ein Traum des FÝhlens, ein erstorbenes FÝhlen, ein blaßgraues, schwaches Leben.“8 2. Eine andere Differenz besteht in bezug auf die F r a g m e n t e . Haym versucht sie in ein Ganzes zusammenzufassen. Ich habe nicht beabsichtigt eine solche Aufgabe zu

4

Vgl. Hayms Urteil in Ges. Schr. XXV, Novalis Tg., Zur Rezeption. R. Haym, Die Romantische Schule (1870), unverÈndert hrsg. von W[ilhelm] S[chrader], Berlin 2 1906, S. 348: „Auch nur so weit werden wir uns mit Deuten und Vermuten nicht vorwagen dÝrfen wie Dilthey, welcher den Punkt der LÚsung in den Worten findet: ‚und wenn kein Sterblicher, nach jener Inschrift dort, den Schleier hebt, so mÝssen wir Unsterbliche zu werden suchen. Die entschleierte Natur also sei offenbar ‚das Ich in seinem unsterblichen Charakter, das heißt als vernÝnftiger Wille, eine LÚsung, die auch in dem Distichon Hardenbergs ausgesprochen sei: Einem gelang es, – er hob den Schleier der GÚttin von Sais, Aber was sah er? – er sah – Wunder des Wunders! sich selbst.“ 6 D. gibt die Seitenzahl des fÝr D1 leicht verÈnderten Textes an, Haym hat sich auf E bezogen, auf folgende Stelle in D.s Aufsatz: Das ist der Punkt der LÚsung. Dem SchÝler Fichte’s erscheint das Ich als die entschleierte Natur, das Ich in seinem unsterblichen Charakter, das heißt als vernÝnftiger Wille. Vgl. Ges. Schr. XXV, Novalis 242. 7 D. zitiert aus dem zweiten Abschnitt der Lehrlinge zu Sais: „Man steht mit der Natur gerade in so unbegreiflich verschiedenen VerhÈltnissen wie mit den Menschen; und wie sie sich dem Kinde kindisch zeigt, und sich gefÈllig seinem kindlichen Herzen anschmiegt, so zeigt sie sich dem Gotte gÚttlich, und stimmt zu dessen hohem Geiste.“ Minor IV (1923), S. 11. 8 D.s Angabe bezieht sich auf das GesprÈch der NaturgegenstÈnde untereinander im zweiten Ab5

Novalis.

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lÚsen. Der klare Zusammenhang meiner AusfÝhrungen zeigt, daß ich nur gegenÝber damals einflußreichen Ansichten in den Fragmenten fruchtbare und klare wissenschaftliche Gedanken aufzeigen wollte. Wie kann mir nun Haym einwenden, daß ich, um „den spezifischen wissenschaftlichen Wert der Fragmente abzuschÈtzen“, „einigen ganz vereinzelten •ußerungen eine Tragweite“ gebe, „die ihnen in dem Gedankenplan ihres Urhebers nicht zukam“ (S. 353)?9 Und auch dabei muß ich bleiben, daß ich mit meiner AbschÈtzung des wissenschaftlichen Wertes der Fragmente damals das Richtige getroffen habe. Mein Urteil Ýber die Fragmente, die sich auf die Natur beziehen, wird bestÈtigt durch Olshausens einsichtige PrÝfung derselben („Friedr. v. Hardenbergs Beziehungen zur Naturwissenschaft seiner Zeit“, Leipziger Dissertation 1905 S. 75).10 In den metaphysischen und geisteswissenschaftlichen Fragmenten sah ich die Bedeutung des Nachlasses. Meine Absicht war, zu zeigen, welchen Wert die letzteren auch noch fÝr die heutigen Geisteswissenschaften haben. Wie ich nun damals mit der ersten Idee einer Psychologie beschÈftigt war, welche fÈhig wÈre, die Geisteswissenschaften zu begrÝnden, erschienen mir die Gedanken Hardenbergs Ýber eine solche bedeutsam. Und auch heute noch liegt fÝr mich der Hauptwert seiner Fragmente fÝr die Gegenwart in den Ideen Ýber den großen Zusammenhang, der zu den Geisteswissenschaften fÝhrt: ein Wert der unabhÈngig ist von dem transzendentalphilosophischen Standpunkt in der BegrÝndung der Geisteswissenschaften, den Novalis einnimmt. Olshausen will den Ausdruck „Realpsychologie“ im Sinne einer „Weltpsychologie“ („Wissenschaft des Makrokosmos“) deuten.11 Aber wie kÚnnte die •ußerung, „Baader sei ein realer Psycholog“, der „die echte psychologische Sprache spricht“, von der Konstruktion der Weltseele verstanden werden! Der einzige Grund, den Olshausen fÝr diese kÝnstliche Auslegung angibt, ist hinfÈllig. Er beruft sich darauf, daß nur eine solche kosmische Psychologie, aber nicht eine solche des Einzellebens in den damaligen Schriften Baaders sich finde. Ich verweise hier-

schnitt der Lehrlinge zu Sais, nach dem MÈrchen. Das Zitat beschließt ihr GesprÈch. Minor IV (1923), S. 26. 9 Vgl. Haym, Die Romantische Schule (wie oben Anm. 5): „Unverwehrt muß es natÝrlich einem jeden sein, in der Masse dieser Fragmente nach AnknÝpfungspunkten fÝr die Ideen zu suchen, die ihn etwa selber lebhaft beschÈftigen. Wenn jedoch Dilthey in dieser Weise zugleich den specifischen wissenschaftlichen Wert der Fragmente abschÈtzen zu kÚnnen meinte, so konnte es nicht ausbleiben, daß er einigen ganz vereinzelten •ußerungen eine Tragweite gab, die ihnen in dem Gedankenplan ihres Urhebers nicht zukam.“ 10 W. Olshausen, Friedrich v. Hardenberg’s (Novalis) Beziehungen zur Naturwissenschaft seiner Zeit, Diss. Leipzig 1904, Leipzig 1905. D. bezieht sich mit der angegebenen Seite auf Olshausens Ergebnis: „Wissenschaftliche Bedeutung haben darum weder seine naturwissenschaftlichen noch die naturphilosophischen Fragmente.“ 11 Olshausen stellt D.s Interpretation des Baader-Aphorismus dar (vgl. Ges. Schr. XXV, Novalis 223, 39 – 225, 5). Olshausen (wie oben Anm. 10), S. 18 f. Er fÈhrt fort: „Dagegen drÈngt sich mir die Àberzeugung auf, daß Hardenberg unter Realpsychologie etwas ganz anderes verstanden haben mÝsse, als Dilthey meint, denn in jenen Schriften Baaders findet sich psychologisches im eigentlichen Sinne Ýberhaupt nicht, wohl aber kommen Stellen darin vor die Hardenberg einige Berechtigung geben, in einem sehr erweiterten Sinn Baader einen Realpsychologen zu nennen. Baaders Realpsychologie ist dann aber eine Wissenschaft des Makrokosmos. [. . .] Diese poetisch-dynamische Wissenschaft von den geistigen KrÈften der Welt war es, wie mir scheint, die Hardenberg – durchaus im Sinne Baaders – Psychologie nannte. Dieser Begriff gehÚrt daher nicht in die Reihe der geisteswissenschaftlichen Probleme, er ist keineswegs gar ihr Grundbegriff, sondern sein Platz ist ihm in der Naturphilosophie oder lieber in der Mythologie der Natur anzuweisen.“ Ebd. S. 19 f.

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Textgeschichte und Anmerkungen

gegen auf Baaders kleine Schrift „BeitrÈge zur Elementarphysiologie“ 1797 (wieder abgedruckt in sÈmtl. W. I. Hauptabt. Bd. III, S. 203–246, doch hier mit spÈteren ZusÈtzen). Außer S. 59 sind hier der ganze Anhang S. 73–88 und der Zusatz S. 89. 90 zu beachten.12 Es finden sich nun bei Novalis in einer Partie der Fragmente solche, die augenscheinlich unter der Einwirkung von Baader und dieser Schrift stehen. Von diesem VerhÈltnis abgesehen, macht ferner Simon („Der magische Idealismus“ Heidelberg 1906, S. 16) mit Recht geltend, daß auch das bei Novalis der Stelle Ýber Realpsychologie Folgende fÝr meine Auffassung spricht.13 Ob es jetzt oder kÝnftig mÚglich sei, einen einheitlichen, durch alle Phasen von Novalis hindurchreichenden Zusammenhang seiner Ideen aufzustellen, wie dies Haym und neuerdings ausfÝhrlich und scharfsinnig Simon versucht haben, lasse ich dahingestellt. Die Behauptung, daß die spezifische Differenz innerhalb des transzendentalphilosophischen Standpunkts, die Novalis in allen seinen Phasen charakterisiert, im Begriff des magischen Idealismus zu suchen sei, scheint durchaus unhaltbar zu sein. Die Formel knÝpft an Baader an; der Hinweis auf die Harmonie zwischen „dem frÝhesten magischen System“ und „den Resultaten der allerneuesten Philosophie“ findet sich bei Baader S. 74 ff.14 (W. S. 239 f.). Unter den Stellen des Novalis (Minor II 192, III, 16. 97. 107. 333. 384) zeigt S. 97 mindestens eine Wandlung im Sprachgebrauch: „magischer Idealismus“.15 Vgl. auch Walzel, Euphorion XV, 610 ff. 792 ff.16

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D. beruft sich gegen Olshausen auf: F. von Baader, BeytrÈge zur Elementar-Phisiologie, Hamburg 1797. Er gibt den ganzen Beitrag in den sÈmtlichen Werken an, die einzelnen Stellen in der Erstausgabe. Einer der Belege fÝr die BeschÈftigung Baaders mit der Psychologie des Einzellebens: „Auch finden wir die NaturÚkonomie so bestellt, daß die Natur jedem einzelnen GeschÚpf gerade auf den Beitrag, den es selber (durch eigne Arbeit und Anstrengung) zur WegrÈumung dieser Hindernisse einer fernern und neuern Belebung leistet, (und lezter sohin gleichsam in die Hand arbeitet) ihm den Lohn dieser seiner Arbeit (Kraft und Gesundheits SelbstgefÝhl) bedungen hat.“ S. 59 f. 13 H. Simon, Der magische Idealismus. Studien zur Philosophie des Novalis, Heidelberg 1906. Simon geht in einer langen Anmerkung (S. 15 f.) auf D.s Interpretation des Begriffs Realpsychologie wie auf Olshausens Widerspruch ein. D. bezieht sich auf folgende Stelle: „Also trotz Baader kÚnnte es sich in der realen Psychologie bei N o v a l i s doch um ‚geisteswissenschaftliche Probleme handeln. FÝr meine Ansicht spricht ferner, daß Novalis auf der folgenden Seite (II. S. 94) von der Welt als dem ‚Resultat einer Wechselwirkung zwischen m i r und der Gottheit spricht.“ 14 F. von Baader, BeytrÈge (wie oben Anm. 12), S. 74 f. „Vergleicht man nun diese Resultate der allerneuesten eigentlich Èltesten Philosophie mit jenen BruchstÝken der allerjÝngsten (z. B. des frÝhsten Magischen Sistems) so bietet sich eine Ýberraschende Harmonie zwischen diesen dem ersten Anscheine nach entferntesten Denkweisen, dar.“ Baader vergleicht eine Stelle Ýber „das endliche Ich“ aus Schellings Schrift: Vom Ich als Princip der Philosophie (1795) mit den „Sagen der alten Magier“. D. zitiert nach der Ausgabe der Werke. 15 Die erste der Angaben D.s ist in D3 (vermutlich nach der LektÝre von Walzels Euphorionabhandlung, s. unten Zur Rezeption) eingefÝgt, allerdings falsch. Minor II (1923), 199 f., aus dem Fragment 73: „KÚnnt ihr einen Gedanken nicht zur selbstÈndigen, sich von euch absondernden und nun euch fremd, d. h. Èußerlich vorkommenden Seele machen, so verfahrt umgekehrt mit den Èußerlichen Dingen und verwandelt sie in Gedanken. Beide Operationen sind idealistisch. Wer sie beide vollkommen in seiner Gewalt hat, ist der magische Idealist.“ – Die weiteren Stellen hat D. exzerpieren lassen, und zwar die vollstÈndigen Fragmente, die hier nur im Ausschnitt wiedergegeben werden: Minor III, 16, aus dem Fragment 58: „Ligne neigt unmerklich zu den transzendenten Empirikern. Diese machen den Àbergang zu den Dogmatikern. Von da gehts zu den SchwÈrmern oder den transzendenten Dogmatikern, dann zu Kant, von da zu Fichte und endlich zum magischen Idealism.“ – III, 97, aus

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3. Den O f t e r d i n g e n bezeichnet Haym als ein „traumhaft verworrenes Gebilde (S. 387), das nur durch die Beziehungen zu den persÚnlichen Erlebnissen des Dichters einen natÝrlichen Halt bekomme. Er lehnt demgemÈß die von mir entwickelte Auffassung des metaphysischen Zusammenhangs im Ofterdingen ab. „Es hieße die Ansicht des Dichters rationalisieren, wenn man annehmen wollte, daß seine ErzÈhlung wesentlich auf dem Gedanken der Metempsychose ruhe. Seine Ansicht ist um vieles unhistorischer und mystischer“ (S. 386). Und zudem gewÈhre die Seelenwanderungshypothese fÝr die schließliche absolute VerklÈrung der Wirklichkeit, die Verwandlung des Romans in das MÈrchen, keine AufklÈrung. „Die Wahrheit ist: diese Hypothese spielt allerdings sowohl in der Weltanschauung wie in dem Roman Hardenbergs eine Rolle, aber doch nur eine Nebenrolle.“17 Hier liegt erstlich ein MißverstÈndnis vor. Daß der Ausdruck „Seelenwanderung“ „unzutreffend“ sei, habe ich selbst hervorgehoben. Daß doch Vorstellungen dieser Art „in die ErzÈhlung hineinspielen“, leugnet auch anderseits Haym nicht; denn in der I d e n t i t È t d e r P e r s o n e n i m R o m a n ist sie ausgesprochen (Schriften, herausgegeben v. Tieck 5I S. 119, 121, 223, 242).18 Aber dieser Gedanke darf nicht im Verstande einer wissenschaftlichen Theorie genommen werden. Sein Schwerpunkt liegt in der Annahme, daß eine in der Vergangenheit bestimmte Ordnung der Seelen zueinander die Bedingungen fÝr ihre

dem Fragment 440: „Wenn man etwas Bestimmtes tun und erreichen will, so muß man sich auch provisorische bestimmte Grenzen setzen. Wer aber dies nicht will, der ist vollkommen wie der, der nicht eher schwimmen will, bis er’s kann. Er ist ein magischer Idealist, wie es magische Realisten gibt.“ – III, 107, Schlußsatz des langen Fragments 480 Ýber Tod und Unsterblichkeit: „Mein magischer Idealismus.“– III, 333 Schlußnotiz des Fragments 930 zu Erfahrungen, Physik, Philosophie: „Magischer Idealism.“ – III, 384, aus dem Fragment 1165: „Die Phantasie ist eine solche außermechanische Kraft. (Magism oder Synthesism der Phantasie. Philosophie erscheint hier ganz als magischer Idealism.)“. 16 D. gibt jeweils die Anfangsseiten der zweiteiligen Schrift Walzels an, die unter dem ersten der besprochenen BÝcher lÈuft: S i m o n Heinrich, Der magische Idealismus (Oskar Walzel), Euphorion XV (1908), S. 609–634; 792–619. Walzel bezieht sich ausfÝhrlich auf D., dessen Polemik gegen Haym und den Begriff des magischen Idealismus (s. unten Zur Rezeption). 17 Haym, Die Romantische Schule (wie oben Anm. 5), S. 387: „Ganz Abdruck seiner selbst, Abdruck seines ganzen Selbst, seiner metaphysischen Àberzeugungen, seiner poetisch-kÝnstlerischen Ideale, seiner Èußeren wie seiner inneren Schicksale und Erfahrungen: das, und zwar das alles zusammen und in innigster Durchdringung ist der Hardenbergsche Roman, – ein traumhaft verworrenes Gebilde auch so, aber zu dessen Entwirrung und Deutung wir jetzt alle Mittel bis auf das letzte in der Hand haben.“ Die folgenden Zitate stehen beide auf S. 386. 18 D. zum Ausdruck Seelenwanderung: [. . .] was mit uraltem doch unzutreffendem Ausdruck als Seelenwanderung bezeichnet wird. Novalis (1910) 218. Haym: „Wegen der Geschichtsform, die durch die Einkleidung der Metaphysik in einen Roman bedingt ist, spielt wohl die Vorstellung, daß der Held schon frÝher einmal auf Erden gelebt habe, vorÝbergehend in die ErzÈhlung hinein, allein sie lÚst sich bei genauerer Betrachtung in bloßen Schein auf.“ Die Romantische Schule (wie oben Anm. 5), S. 386. D.s Belege fÝr die Vorstellung von der Seelenwanderung, die I d e n t i t È t d e r P e r s o n e n i m R o m a n : S5 I, 119 aus dem Bericht des Einsiedlers: „Es war hier nahe bei, wo unsere irdische Wallfahrt zu Ende ging.“ – S5 I, 121 Heinrich zu den Bildern in einem der BÝcher des Einsiedlers: „Sie dÝnkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah, entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren.“ – S5 I, 223 aus dem GesprÈch des Pilgers mit Cyane: „Woher kennst du mich? – O! von alten Zeiten; auch erzÈhlte mir meine ehemalige Mutter zeither immer von dir.“ – S5 I, 242 zu den Figuren des GÈrtners und Cyanes.

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Textgeschichte und Anmerkungen

Beziehungen in der Gegenwart enthÈlt, gleichviel wie jene jenseitige Ordnung und ihr Zusammenhang mit dem Geschehen im Diesseits zu denken sei. Das, was von dem Roman vorliegt, gibt nun allerdings keinen Aufschluß Ýber diesen Zusammenhang. In welcher Verbindung der Dichter auf der Grundlage einer solchen Anschauung von dem VerhÈltnis des jenseitigen und des irdischen Lebens die Wiederkehr der Seelen auf der Erde mit dem gedacht hat, was uns Tieck Ýber das Reich der Abgeschiedenen, die „Geisterkolonie“,19 berichtet, kann nur vermutet werden. Aber daraus folgt nicht, daß Novalis eine bestimmte Vorstellung davon nicht besessen habe. Wie bei den Lehrlingen so verfÈllt auch hier Haym in den Fehler, aus dem Mangel abschließender AufklÈrungen, der durch den fragmentarischen Charakter dieser Dichtungen hinreichend verstÈndlich ist, eine Unentschiedenheit oder Verworrenheit des Autors zu folgern. Er hat sich ferner hier wie in seinem ganzen Buche die Frage nicht vorgelegt, welchen Anteil da, wo ein Zusammenhang sich v e r b i r g t , hieran die Prinzipien der D a r s t e l l u n g s k u n s t bei den R o m a n t i k e r n haben. Ein Dichter, der vollstÈndig den Plan seines Werkes im Kopfe hatte – und so viel geht doch aus dem Bericht von Tieck hervor – sollte in dem Werk, welches die metaphysische Natur des Lebens, das VerhÈltnis des sichtbaren Lebensverlaufes zum unsichtbaren umfassen sollte, keine bestimmte Ansicht Ýber den Zusammenhang beider Welten zugrunde gelegt haben! Vom Schaffen eines bedeutenden Dichters aus gesehen, ist diese Anschauung gÈnzlich unmÚglich. Der ganze Plan und Zusammenhang des Ofterdingen kann erst in volles Licht treten, wenn die erforderlichen chronologischen Untersuchungen vorliegen.

Entstehung und Àberlieferung Zum Angebot, eine Biographie Schleiermachers zu schreiben, bemerkt D. Anfang 1861, mitten in der Arbeit an der Edition des Schleiermacher-Briefwechsels, im Brief an die Eltern : Ich muß freilich sagen, daß, wenn mir der noch vorhandene Nachlaß von Friedrich und A. W. Schlegel, der bei Windischmann, BÚcking u. a. sich befindet, wo mÚglich auch noch was von Novalis sich zusammenbringen lÈßt, geÚffnet wÝrde, ich weit lieber mit diesem und dem Schlm. zusammen eine Geschichte der romantischen Schule aus den ungedruckten Quellen schriebe. JD 137. Anfang Juli 1861 aus Altwasser in Schlesien im Brief an den Vater: Auch Novalis habe ich bei mir, Ýber den ich des leidigen Geldes halber Haym einen Aufsatz geben will. JD 159. R. Haym erhÈlt jedoch zunÈchst aus dem Umkreis des Novalis: Ein Brief A. W. Schlegel’s an Huber. PJ VIII, 3 (1861); Schleiermacher’s politische Gesinnung und Wirksamkeit. PJ X, 3 (1862); außerdem Friedrich Christoph Schlosser. PJ IX, 4 (1862). In der die PJ betreffenden Verlagskorrespondenz zwischen W. Wehrenpfennig, dem auf Haym folgenden Redakteur, und E. Reimer erscheint der Novalis erst zwischen April und Juni 1865. Erhalten sind die Briefe Wehrenpfennigs. Verlagsarchiv de Gruyter Berlin. Wehrenpfennig an Reimer in einem undatierten Brief, vermutlich dem ersten, der den Novalis-Aufsatz betrifft: „Von Dilthey erhalte ich eine Arbeit Ýber Novalis, sie sollte eigentlich in’s Maiheft, und damit er in der Vollendung der Arbeit nicht erschlafft, wollen wir ihm lieber noch nicht verrathen, daß er bis Juni warten muß.“ Am 18. April 1865: „Mit der Aufnahme der Diltheyschen Arbeit in das Maiheft muß ich mich einverstanden erklÈren obwohl dies uns wegen des Dante in Verlegenheit bringt. [. . .] Ich kann aber gegen den Druck der Diltheyschen Arbeit wenig sagen da ich ihn ihm eigentlich versprochen hatte, und nur zu fest darauf baute, daß er nicht fertig werden wÝrde.“ Postskriptum: „Ich bitte freund19 Aus Tiecks Bericht Ýber die Fortsetzung des Ofterdingen, Ýber Cyane und den Pilger: „Sie schickt ihn nach einem entlegenen Kloster, dessen MÚnche als eine Art von Geisterkolonie erscheinen, alles ist hier wie eine mystische, magische Loge.“ S5 I, 243.

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lichst, mir Dilthey’s Aufsatz nach vollzogener Correctur, die er sicher selbst besorgen will, zuzuschikken.“ Am 20. April 1865 jedoch: „[. . .] und so bleibt nichts Ýbrig, als Dilthey um Geduld bis zum 1 zu ersuchen. [. . .] In dem beiliegenden Billet, das ich Sie freundlichst bitte, Dilthey baldigst zuzustellen ersuche ich denselben bis zum 1 zu warten. Er hat nicht den geringsten haltbaren Grund dies zu verweigern und wird es auch sicher aus einfacher FreundschaftsrÝcksicht gegen mich nicht thun. Nur bitte ich nach Vollendung des Dante seinen Aufsatz, der dann an die Spitze des [Juni]heftes kommt, sofort setzen zu laßen, und ihm nach vollendetem Satz und v o r Pfingsten freundlichst das Honorar vorauszuzahlen.“ Im Brief vom 25. April 1865: „Als ersten Aufsatz des Juniheftes wÝrden wir Novalis von Dilthey nehmen. Er hat sich mit der VerzÚgerung des Druckes einverstanden erklÈrt.“ Am 8. Mai: „Was nun unser Juniheft betrifft, so wÝrden feststehen die AufsÈtze Ýber Novalis [. . .].“ Am 13. Mai hat sich die Folge auf Vorschlag von Reimer, wie dem Brief zu entnehmen ist, geÈndert: „Wir werden also im Juniheft 1, Camorra von Hinschius 2 , Novalis von Dilthey und 3, das Consularwesen von Lammers und zwar in K l e i n d r u c k haben.“ D. schreibt am 29. Mai an W. Scherer: Den Novalis denk ich Ihnen schicken zu kÚnnen; ich habe aber beim Corrigieren einen Schrecken Ýber den andern gehabt; in seiner Langenweile ist der apathische Zustand, in dem ich ihn, nach den Ýbertriebenen Winteranstrengungen schrieb, auf das adÈquateste ausgedrÝckt. . . . JD 199. Am 4. Juni Wehrenpfennig an Reimer: „Haben Sie wohl die Freundlichkeit, an Dilthey’s Honorar zu denken? Er scheint es zu wÝnschen. Bei der LÈnge seiner Arbeit werden 21r pro Bogen genÝgen.“ Verlagsarchiv de Gruyter Berlin. D. an H. Usener undatiert, aus Berlin, vor dem 20. August, dem geplanten Abreisedatum nach Biebrich: Novalis kriegst Du nur in Biebrich. ULB Bonn S 2102,3. Zu weiterer Planung vgl. Lessing (1910) Tg., Entstehung. Zum Wiederabdruck vgl. das Vorwort D.s zur ersten Auflage von EuD und die Bearbeitung seiner Anmerkungen zu Novalis. E: D1: D2: D3: D3:

PJ XV, 6 (1865), S. 596–650. EuD1, S. 201–282. EuD2, S. 249–329. EuD3, S. 268–348. In weiteren unverÈnderten Auflagen bis zur heutigen, EuD16.

Textwiedergabe nach D3. Handschriftenbefund Zu Novalis liegen im Faszikel C 88 (235) in mehreren UmschlÈgen etwa 350 Bl. sehr unterschiedlichen handschriftlichen Materials. Es reicht von Exzerpten, Notizen bis zu EntwÝrfen, wiederholt, Ýberschneidet sich, ist mehrfach vorhanden, betrifft auffallend oft die Anmerkungen; dazu rechnet ein ErgÈnzungsvorschlag O. Walzels in Faszikel C 94 (242) fÝr die Anmerkungen von D3. Die BlÈtter stammen Ýberwiegend von E. Schramms Hand, der seit 1906 fÝr D. schrieb, die Entstehung fÝr den grÚßten Teil der Manuskripte ist also grob zwischen 1906 und 1909/1910 anzunehmen. Auf einigen der UmschlÈge steht Abschrift, das deutet hier weniger auf einen kopierten als auf einen nach MÚglichkeit lesbar gemachten Text D.s hin (vgl. C 88, 41r und 42r). – Aus dem Gesamtbestand wird eine Auswahl wiedergegeben, um zu dokumentieren, wie sich D. dem alten Aufsatz, an dem wenig verÈndert ist, genÈhert hat. C 88 (235), 6r-9v; 2r, 5r, 5v; 4r, 4v. Offensichtlich zur VerÚffentlichung bestimmt, teils Diktat von fremder Hand mit Korrekturen D.s, teils von D.s Hand. WillkÝrliche Blattbezifferung wegen

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Textgeschichte und Anmerkungen

der Lage der HalbbÚgen; Seitenpaginierung von 1–9. Vielleicht ist das Ms. 1907, etwa gleichzeitig mit D.s Anmerkungen zu D2 entstanden (vgl. unten Diltheys Bearbeitung seiner Anmerkungen). Minors Ausgabe, von der D. ausgeht, muß, da er sie in seinen Anmerkungen schon erwÈhnt, jedenfalls kurz vor EuD2 erschienen sein. Àber Novalis und sein VerhÈltniss zur Gegenwart. von Wilhelm Dilthey Novalis Schriften herausgegeben von J. Minor, 4 Bde Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1907. Nichts beweist besser das starke Interesse der Gegenwart fÝr den grÚssten Dichter der Romantik, als die rasche Aufeinanderfolge der Ausgaben, welche die Hinterlassenschaft des FrÝhverstorbenen, wie sie im Familienbesitz in Oberwiederstedt vereinigt sind [sic] , vollstÈndig auszuschÚpfen bemÝht sind. Der Ausgabe von Heilborn ist nun nach kurzer Zeit die von J. Minor gefolgt. Der ausgezeichnete Litterarhistoriker hat sich mit ihr ein grosses Verdienst erworben. In erster Linie besteht es darin, dass in ihr der dichterische Nachlass von Novalis in kritischer Genauigkeit und in abschliessender VollstÈndigkeit vor uns liegt. Die ganze handschriftliche und gedruckte Àberlieferung ist verwertet worden. Dichtungen von solcher sprachlichen Vollendung wie die Hardenbergs verdienten es, dass ein Germanist ersten Ranges abschliessend den Text derselben feststellte. Und der bedeutendste Roman der romantischen Schule hatte Anspruch darauf, dass die Aufzeichnungen Ýber dessen Fortsetzung in vollkommner Genauigkeit nun urkundlich vorliegen. Es ist nicht unwichtig, dass hier auch das von Novalis Ausgestrichene mitgeteilt ist, denn jedes Wort, das dienen kann, in den Plan des Ofterdingen Licht zu bringen, ist wichtig. Der Herausgeber hat sich noch ein anderes Verdienst erworben. Novalis-Hardenberg war nicht nur Dichter, sondern zugleich ein tiefsinniger Denker. Er selber hat nur eine Sammlung von Aphorismen verÚffentlicht. Die Klassiker des Aphorismus waren die Franzosen von Montaigne bis Chamfort. Keiner unter ihnen reicht an Chamfort heran. Scharf geschliffen, witzig, cynisch, enthusiastisch dÝrfen diese Aphorismen als die Vorbilder zuerst des romantischen Aphorismus und dann der aphoristischen Kunstform von Nietzsche angesehen werden, der sie freilich weit Ýbertraf. In Deutschland haben zunÈchst Friedrich Schlegel, Schleiermacher und Novalis diese Form aufgenommen. Sie entsprach recht dem gÈrenden revolutionÈren Zustand der letzten Zeit des 18. Jahrhunderts, aus dem dann Hegel als Imperator sich erhoben hat. Eine Rhapsodie grÚsseren Umfangs war dann der berÝhmte Aufsatz von Novalis: die Christenheit oder Europa, welcher zuerst in bewusster Paradoxie eine Verteidigung des Mittelalters unternahm. Wie sie in die erste Sammlung der Schriften von Novalis durch Friedrich Schlegel aufgenommen wurde, haben diese wenigen BlÈtter nicht nur bei uns, sondern auch in Frankreich eine. [Sic.] All das aber war nur ein geringer Teil der ansehnlichen Masse von Aufzeichnungen, die sich unter den Papieren von Hardenberg befand. Sie sind meist unter der wechselnden Einwirkung der LectÝre Hardenbergs entstanden. So wurden sie in Studienhefte des Dichters eingetragen. Wie Kant und Schleiermacher, so scheint auch Novalis abwechselnd bald in dieses, bald in jenes Studienheft seine EinfÈlle niedergeschrieben zu haben – Keime von Gedanken, die der Ausbildung warteten. Nicht selten zeichnet er aber auch nur Gedanken aus seiner LektÝre auf. Nichts ZusammenhÈngendes und AusgefÝhrtes ist unter diesen Aufzeichnungen! Welche Aufgabe entspringt nun hieraus dem Herausgeber! Als mir vor langen Jahren nach dem Erscheinen eines Aufsatzes Ýber Novalis die Familie anbot, den Nachlass herauszugeben, lehnte ich das ab wegen der ausserordentlichen Schwierigkeit der Sache. Jetzt verdanken wir Heilborn und nun Minor den vollstÈndigen Text dieser Aufzeichnungen. Und es ist Hoffnung, dass Minor der grÚsste Kenner dieser Handschriften auch dasjenige mitteilen wird, was er von chronologischen Bestimmungen hat feststellen kÚnnen. Wenige wertvolle Zeitangaben von Hardenbergs Hand, das VerhÈltniss der Aufzeichnungen zu gleichzeitigen litterarischen Erscheinungen; dann aber

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was Handschrift, Tinte, Papier uns noch aussagen Ýber die Chronologie der Aufzeichnungen – das sind die dÝrftigen und unsicheren Hilfsmittel, die ihm, soweit ich sehe, zur LÚsung dieser Aufgabe zur VerfÝgung stehen. Es ist eine Èhnliche Aufgabe, wie sie bei der Herausgabe der Handschriften Kants vorliegt, und Èhnlich sind die Mittel ihrer LÚsung. Wenn wir Ýberhaupt noch hoffen dÝrfen, dass der Entwicklungsgang von Novalis, der Zusammenhang seiner Ideen zu bestimmten Zeiten festgestellt werden, so mÝssen wir das von der Gelehrsamkeit und dem Scharfsinn Minors erwarten. Und von der LÚsung dieser Aufgabe ist doch jede MÚglichkeit abhÈngig, in die Ideenwelt Hardenbergs wirklich einzudringen. Denn soweit ich sehe, ist der Mittelpunkt dieser Ideenwelt nicht zu jeder Zeit derselbe gewesen. Gerade darum wird es sich handeln, festzustellen, wie der bewegliche viel umfassende Geist von Novalis bald von diesem, bald von jenem Gedanken ganz erfasst wird, wird die Aufgabe seines Denkens bald so, bald anders bestimmt, wie nun aber doch gewisse GrundzÝge seines Wesens sich dabei Ýberall geltend machen. Und wenn nun doch Novalis in erster Linie ein echter genialer Dichter war, so wÈre besonders wichtig fÝr uns, wenn im Zusammenhang solcher Untersuchungen der Plan des Ofterdingen durch den Einblick in seine gleichzeitigen Ideen und die Zeitbestimmung seiner Aufzeichnungen Ýber diesen Plan aufgehellt werden kÚnnte. Untersuchungen von der grÚssten Bedeutung! Aber fÝr das ganze gebildete Publikum ist nun doch das Wichtigste, dass diese Ausgabe nun vor uns daliegt in einem definitiv gereinigten Text in kÝnstlerischer Anordnung und auch in der anmutigsten Èusseren Ausstattung – die erste, die des Dichters ganz wÝrdig ist. WÈhrend sie die Erinnerung an ihn wieder lebendig macht, mÚchte ich versuchen auszusprechen, was er seiner Zeit war und uns sein kann. Man kann keine Seite dieses Dichters lesen, ohne ihn wiederzuerkennen, und doch ist nicht leicht zu sagen, worin diese Einheit seines Lebenswerkes liegt. Versetzen wir uns in das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Vertiefung in die Innerlichkeit ist der Grundcharakter aller deutschen SchÚpfungen dieser Zeit. Beethoven, Goethe, Schiller, Kant und Fichte stimmen darin Ýberein. Und zwar wurde diese Innerlichkeit damals zuerst erfasst und gefÝhlt als schaffendes VermÚgen, das eigne Welten aus sich hervorbringt. Goethes Faust atmet das hÚchste Bewusstsein schÚpferischer Kraft. Alle grossen Stellen des Wallenstein sprechen das tragische GefÝhl einer grossen schÚpferischen Menschennatur aus, die sich dem DienstverhÈltniss unter einem Monarchen nicht fÝgen kann. Kant und Fichte analysieren den menschlichen Geist und entdecken in ihm eine SchÚpferkraft, welche aus sich die ganze Gestalt der Wirklichkeit bildet. Und in Beethoven beginnt eine Instrumentalmusik, welche in der SphÈre des wortlosen Tons die ganze moderne Innerlichkeit ausspricht, vom zartesten GefÝhl bis zum heroischen Willen. [Von hier an D.] Ein zweites Moment unserer großen Dichtung am Ende des 18 Jahrhunderts lag nun darin daß diese Innerlichkeit des Lebens, wie sie mit der großen Tendenz des europÈischen Geistes auf die Steigerung des persÚnlichen Daseins und den Fortschritt der Gesellschaft zusammentraf, ein neues Ideal des Lebens hervorbrachte. Es lag in der Gestaltung der PersÚnlichkeit zur Harmonie aller seelischen KrÈfte. Die Kunst erschien als die Macht, diese TotalitÈt des Menschen zu realisiren und zur Darstellung zu bringen. Und die kÝnftige Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnungen erhielt in Deutschland ihr Ziel darin, fÝr solche freie allseitige PersÚnlichkeiten den Spielraum des Wirkens zu schaffen. Dies war auch der Gesichtspunkt, unter welchem, als die franzÚsische Revolution ausbrach, die Neuordnung der Gesellschaft von Kant, Fichte, W. von Humboldt, Schiller und Goethe aufgefaßt wurde. Eben dies letzte Jahrzehnt des 18 Jahrhunderts in Deutschland zeigt noch einen anderen Charakterzug. Nach den langen und wenig fruchtbaren Debatten, Ýber die MÚglichkeit der Erkenntniß, nach den endlosen Analysen unserer intellektuellen FÈhigkeiten verbreitete sich das Streben, eine objektive Erkenntniß des Universums kurzer Hand zu realisiren. Die Lehre von der Evolution des Universums hatte sich auf Grund der astronomischen, geologischen und pa-

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Textgeschichte und Anmerkungen

lÈologischen Thatsachen seit Buffon entwickelt, und es war klar daß es keine MÚglichkeit gab sie in Zweifel zu stellen. Die franzÚsischen Denker und bei uns Herder hatten sie mit der Idee der Entwicklung des Menschengeschlechts verbunden. Der Weg zu einer Natur und Geist umfassenden Entwicklungslehre war geÚffnet. Schelling, Schleiermacher, Hegel begannen damals dieselbe in die Philosophie einzufÝhren. Friedrich Schlegel, Novalis unternahmen den inneren Zusammenhang der Geisteswissenschaften auf der Grundlage der großen Arbeiten von Montesquieu, Condorcet, Winkelmann, MÚser, Herder zu erfassen. Es war auch hierin eine Zeit unendlicher Erwartungen. Und die Poesie war durch Goethe zum Organ eines objektiven VerstÈndnißes von Leben und Welt aus ihnen selber gemacht worden. Die Schranken, die Sophokles, Corneille, Shakespeare der Dichtung gezogen hatten, schienen nun fallen zu mÝssen. Nicht mehr der einzelne Mensch, der Verlauf eines einzelnen Affektes sondern die Natur des Menschen selbst, nicht mehr ein einzelnes Schicksal sondern das Leben selber, ja der Zusammenhang der Dinge schienen nach dem Faust und Wilhelm Meister Gegenstand der Dichtung werden zu kÚnnen. Dies war die AtmosphÈre, in welcher die neue Generation heranwuchs, die auf Kant, Schiller, Goethe, Jean Paul folgte. Ein unendlicher Reichthum des deutschen Lebens schien grÈnzenlose MÚglichkeiten der Weiterentwicklung zu bieten. In dieser Generation drÈngte sich ein Kreis hochbegabter JÝnglinge zur FÝhrung des deutschen Geistes. ZufÈlle hatten sie zusammengefÝhrt. Die literarische Diplomatie Wilhelm Schlegels und der leidenschaftliche Wille seines jÝngeren Bruders Friedrich, eine leitende Rolle zu spielen, hielten sie zusammen, so lose auch ihr innerer Zusammenhang war. Die Literaturgeschichte hat sie unter dem Namen der Romantik zusammengefaßt. C 88 (235), 20r-30v Umschlag: A b s c h r i f t : N o v a l i s , ( M a n u s k r i p t ) . HalbbÚgen 1–6, von E. Schramms Hand; Teilentwurf, vielleicht fÝr eine Neufassung des Aufsatzes. Da auf die Ausgabe Heilborns (nicht Minors) verwiesen wird, Entstehung vor 1907. Vorform auf Doktordiplomen, eins von 1904, unter: Epilog. C 88, 127v-143r mit einem Abschnitt von D.s Hand. I. Aber der Dichter in ihm, der die Welt neu ansah und zur Darstellung brachte, kann erfaßt werden. Welch ein Abstand trennt ihn von Goethe! Dieser erscheint in zeitloser GrÚße. Die Natur selbst in ihrer objektiven Wesenheit scheint aus ihm zu sprechen. Die innere Welt (war sein Gegenstand, und das bestimmt seine Stelle in der Abfolge.), die Seele, das was jenseit der partikularen StÝrme der Leidenschaft liegt, Seelenleben, aufgefaßt als etwas, das mit allen KrÈften der Welt in dauernden Beziehungen steht – dies war sein Gegenstand. Und darin sind alle Romantiker seine SchÝler. Sie alle gehen hierin weiter. Keiner steht ihm so nahe als Novalis. Alle ZÝge in Goethes Eigenart wachsen sich aus, die Seelenhaftigkeit der Poesie, die Darstellung des Lebens selbst in einem einzelnen Fall, die im Faust vollzogene Fassung der VerhÈltnisse, in denen der Mensch mit dem unsichtbaren Zusammenhange der Dinge steht. – Vielleicht der stÈrkste Impuls, der in Goethe enthalten war und vorwÈrtstrieb zur Beziehung der Seele im Unsichtbaren, lag in Faust und in den Bekenntnissen. Keiner steht ihm so nahe als Novalis. Und doch ist ein neuer Klang in seiner Seele, in seinen Versen, in seiner Prosa. Ihn gilt es schließlich zu erfassen. Herzliche Phantasie – so bezeichnet Just sein Wesen, wie es sich ihm im Verkehr dargestellt hat. II. Alles, was wir von ihm haben, gehÚrt Lebensjahren an (geb. 2. Mai 1772, gest. 25. MÈrz 1801, also nicht ganz 29 Jahre alt geworden), welche nur im Ausnahmefall einseitiger spezifischer Begabung einen gewissen Abschluß philosophischen Denkens ermÚglichen. Novalis aber

Novalis.

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erscheint als eine Natur von vielseitiger Anlage; Dichtung, Philosophie, Religion, Naturforschung, Historie, amtliches Wirken zogen ihn an, nahmen ihn teilweise ganz in Anspruch. Die merkwÝrdige Zeit, die als Romantik bezeichnet zu werden pflegt, ist nun eben dadurch am stÈrksten charakterisiert, daß im inneren Zusammenhang dieser Momente die bedeutendsten jungen KÚpfe lebten. Wie ein Meer, in welchem die verschiedenen StrÚme von Philosophie, Dichtung, Naturforschern, Historie, ReligiositÈt sich vereinen, erschien der Geist der Zeit: das BedÝrfnis war da, nicht SchubfÈcher, sondern Lebenszusammenhang Ýberall zu erblicken: es hat diejenigen, die nicht von solchem Zusammenhang aus eine einzelne Aufgabe erfaßten, der gesunden Fortentwicklung beraubt. Novalis hat seinem Wesen nun darin eine Einheit gegeben etc. (Siehe Hauptmanuskript) Ein Mensch solcher Art konnte schwer in so verschiedenen TÈtigkeiten etwas Dilettantisches vermeiden. Es macht sich am stÈrksten in seinen philosophisch-wissenschaftlichen BeschÈftigungen geltend, und wenn in den Fragmenten des Jahres 1800 grÚßere MÈßigung hervortritt, mehr Zusammenhang, so machte doch schon damals seine KrÈnklichkeit und das entschiedene Àbergewicht der dichterischen Arbeit, die damit zusammenhÈngende Reflexion auf die poetische Technik ihm unmÚglich, die philosophisch-wissenschaftlichen Ideen wirklich zu fÚrdern. Doch hat er selber eine Eigenheit seiner Ideen bemerkt, die in derselben Richtung wirksam war. (Heilborn II, 1, 298: „Vielleicht habe ich meine glÝcklichen Ideen dem Umstande zu danken, daß ich einen Eindruck nicht vollkommen gegliedert und durchgÈngig bestimmt empfange, sondern durchdringend in Einem Punkte, unbestimmt und absolut fÈhig.“) So entstand das bestÈndige ZustrÚmen immer neuer, immer verÈnderter philosophisch-wissenschaftlicher Ideen und zugleich das UnvermÚgen sie auszubilden. Man sieht ihn mit der Zeit selbst von Fichte ausgehend, bei dem er einsetzte. Ich mÚchte daran festhalten, daß fÝr seine Menschlichkeit wie fÝr sein dichterisches Talent hier das festeste Band mit der Philosophie geknÝpft wurde, wie dies auch die Fragmente seines letzten Lebensjahres nunmehr erweisen. (Feststellen und ausfÝhren!) Dann ergreift ihn die Naturphilosophie Schellings und Baaders etc. (Baader?) Es war damals ein Moment, in dem die Naturwissenschaft als das stÈrkste Interesse des deutschen wissenschaftlichen Geistes erschien. Wie er nun diese beiden Momente in sich verknÝpfte, wÈre dann darzustellen. Und wie dann die Reden Ýber Religion hervortraten, wandte er sich den Problemen der Religion zu. Und nachdem er diese Bahn durchlaufen, wandte er sich der Dichtung zu: nun schien ihm Philosophie nur seinen Lehrjahren zu gehÚren: die Handschriften zeigen, wie die tieferen GegenstÈnde seines Interesses fortfahren ihn zu beschÈftigen, herrschend aber Reflexion Ýber Poesie und poetisches Schaffen nun auftreten. Demnach kann auch nicht versucht werden, den Zusammenhang, in welchem Novalis seine Stelle einnimmt, deutlich zu machen. Hier wÈre der Hauptpunkt, zu zeigen, wie Friedrich Schlegel als Konstruktionsmittel seines Denkens die Fichtesche Dialektik der im Geist nach seinen Funktionen und darum apriori und formal enthaltenen Forderungen festhÈlt und sich damit fÝr die neue Philosophie der Geschichte den Boden schafft, mehr noch aber fÝr eine von Schelling ganz verschiedene Konstruktion der Philosophie. Wie ihm hierin Novalis folgt – wie, worin und wieweit, was Friedrich Schlegel seinerseits von ihm empfÈngt, alle diese subtilen Fragen kÚnnen hier nicht berÝhrt werden. Wir isolieren diese Person, da doch in ihr alles vorgeht und innerlich zusammenhÈngt. Wir sehen diesen lebendigen KÚrper funktionieren, gleichviel woher er seine Nahrung empfÈngt, und wie er es macht, zu dem Quantum Luft zu gelangen, dessen er bedarf. C 88 (235), 33r-42r Umschlag: A b s c h r i f t : N o v a l i s . ( O f t e r d . ) . HalbbÚgen 1–4. Die folgenden unpaginierten Seiten mit ihren Fragezeichen belegen, daß der Text aus Diktat, Zusatz und

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Textgeschichte und Anmerkungen

Notizen D.s, die E. Schramm nicht alle hat entziffern kÚnnen, hergestellt ist. Wiedergegeben wird die Vorlage dazu: C 88 (235), 149-161, auf Doktordiplomen, zwei von 1904, paginiert von 1–5, beide Bogenseiten unregelmÈßig beziffert. D.s Notizen beziehen sich auf: K. Jol, Nietzsche und die Romantik, Jena und Leipzig 1905; Seitenangabe auf: R. Huch, BlÝtezeit der Romantik (1899), zweite, durchgesehene Auflage, Leipzig 1905; Selbstverweise auf EuD1. Ofterdingen. So entsteht ein neuer Begriff von Poesie, der dem LebensgefÝhl dieser Menschen entspricht. Er kam zum Ausdruck im „Ofterdingen“. 1) Die gleichzeitigen •ußerungen von 1800 (II, 1, 363): [am rR: Heilborn] Poesie „Darstellung des GemÝtes, der inneren Welt in ihrer Gesammtheit.“ – Ihr Medium, das Wort, ist „Offenbarung dieses inneren Kraftbereichs.“ Ihre Darstellung muß eigentÝmlich allgemein, verknÝpfend, schÚpferisch sein – mit dem Charakter der Notwendigkeit. Hierzu hat er einige SÈtze gefÝgt, die besser als alle abstrakten Begriffe zeigen, wie die Beziehungen sich aussprechen, in denen das GemÝt fÝr den Dichter zu den Dingen steht – wie er sein eigenes Leben hineingelegt hat in diese und wieder findet in ihnen, sodaß GemÝt und Welt ineinanderzurinnen scheinen. „Es sind nicht die bunten Farben, die lustigen TÚne und die warme Luft, die uns im FrÝhling so begeistern. Es ist der stille, weissagende Geist unendlicher Hoffnungen, ein VorgefÝhl vieler froher Tage, des gedeylichen Daseyns so mannigfaltiger Naturen, die Ahndung hÚherer, ewiger BlÝthen und FrÝchte, und die dunkle Sympathie mit der gesellig sich entfaltenden Welt.“ – „In unserm GemÝt ist alles auf die eigenste, gefÈlligste und lebendigste Weise verknÝpft. Die fremdesten Dinge kommen durch Einen Ort, Eine Zeit.“ – 2) Novalis hat in seinem Roman selbst seine Ansicht der Poesie ausgesprochen. (Huch: 218 ff.) Wie Friedrich Schlegel stellt er Goethe als den „vollendeten KÝnstler“ dar. Personifikation in Klingsohr. Novalis fÝhlt deutlich die Bedeutung des Verstandes fÝr die Poesie, wie er denn damals seinem Tagebuch das Bekenntnis von der Flachheit der Tieck’schen Dichtung anvertraut. (Vgl. Erlebnis: 257 ff.) (Hauptpunkt: Erlebnis: 258 unten.) Damit hÈngt [ein] anderer Grundzug (E r l e b n i s : 259) zusammen. Das Spielende. Die Akzente nicht logisch, sondern melodisch. Andere Ordnung. Weiterer Punkt: E r l e b n i s 258. Das eigentÝmlich Allgemeine, das notwendig ZufÈllige. Hierin ist nun enthalten, daß in dem einzelnen Geschehnis das Leben selbst zur Darstellung kommt. Damit stehen wir nun an dem entscheidenden Punkte. Wenn fÝr Novalis die Entdeckungen im Gebiete der Seele das Gebiet der Dichtung bilden, so ergibt sich daraus, daß nicht eine einzelne Partie des Lebens, sondern die Seele, ihre Beziehung zum Zusammenhang der Dinge den Gegenstand der Poesie ausmacht. Es ist nun Ýberhaupt nicht mehr das individuell Partikulare typisch und unter allgemeinem Gesichtspunkt aufgefaßt, wie bei Goethe: das Leben, erfaßt in seinen Beziehungen zum Zusammenhang der Dinge, steht vor uns da; denn die Geschichte des Dichters ist eben Geschichte davon, wie dies Zeitlose, unendlich Letzte in einem Individuum zur Entwicklung gelangt, wie diese Beziehungen ausgeschÚpft werden gleichsam von dem dichterischen Bewußtsein Ýber sie und so annÈhernd zur Erfassung kommt [sic]. [Notizen von D.s Hand]: Die F r Ú h l i c h k e i t ( F r e u d e ) ist fÝr Novalis (wie fÝr die Romantik Ýberhaupt) gleichsam das Merkmal eines Èchten natÝrlichen gesunden Lebens. Sie zeigt daß das Leben sich frei Èußern kann. Leben, Freude, Liebe, Schatten, Tod in dem der Schmerz in seinem letzten Sitz Ýberwunden ist – in diesem Cyklus e r s c h e i n t d i e S c h Ú n h e i t d e r W e l t . Diese Vollendung des Lebens ist von der Religion abhÈngig. Sie fordert die Besonnenheit, welche das Leben verstehend und n a c h denkend ausschÚpft – Philosophie.

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Musik im Ofterdingen Novalis Joel 36 Melodie des Stils. 38 Heinrich sieht in der Geliebten „den sichtbaren Geist des Gesangs“. „Himmlische Musik verkÝndigt ihm Mathildens Gestalt.“ Joel 38–44 Romantik und Musik – Letzter Gedanke dieser 46 Musik verdichte selbst bestÈndig und bewahre auf die Empfindungen des menschlichen Herzens etc. Steigerung des . Joel 138. Novalis: Hauptaufgabe GraderhÚhung der Menschheit. Dieser gesteigerte Mensch der KÝnstler. S o N o v a l i s : Joel 139: KÝnstler unter den Menschen, was Menschen unter Bildungen der Erde. Liebe im Ofterdingen ist der Lebensrapport, der dann Religion ist. Diesen Zusammenhang, der im Ofterdingen ein Schleier der Bildlichkeit ist will der Romantiker entschleiern – sie giebt Raum fÝr Allvereinigungsdrang – letzte Consequenz von Shaftesbury Hemsterhuis Schiller Harmonie. Und darum Liebe = Musik C 88 (235), 60r-61v, 84r-93r Umschlag: A b s c h r i f t : G o e t h e u n d N o v a l i s . Ms. von der Hand E. Schramms, HalbbÚgen 1–6. Belegstellen aus Heilborns Ausgabe, Entstehung also vor Minors (1907). Goethe und Novalis. I. 1. Die Allseitigkeit Goethes. 2. Die Realisierung des Ideals. Zwischen ihm und der Transzendentalphilosophie Fichtes ein innerer Zusammenhang. Fichtes Transzendentalphilosophie ging eben darin hinaus Ýber Kant, daß sie ein das ganze Innere in seinem Wirken umfassendes Ideal zur Geltung brachte. 3. Der Mittelpunkt der Dichtung ist so Seele, Seelenleben, Seelenverfassung, VerhÈltnis der Seele zum Zusammenhang der Dinge. Wie sie von diesem sich bedingt findet, das in diesem Zusammenhang Gelegene in sich zu realisieren strebt und zurÝckzuwirken sucht. In Novalis geht dies Ýber in eine subjektive Form, welche Goethes Anspruch auf objektive Giltigkeit dessen, was in seinem Denken und Dichten zum Ausdruck kommt, aufgibt. Die Seele strebt nun, eine subjektive Grundstimmung religiÚser Art festzuhalten; stÈrker, anspruchsvoller tritt das VerhÈltnis zum Unsichtbaren als das Moment, in dem sie lebt, heraus. II. Versuchen wir nun, an den Dichtungen selbst etc. a) Der Entschluß. Nicht um Selbstmord handelt es sich, selbst nicht um irgend ein Èußeres Mittel, das Ende herbeizufÝhren. Es ist die magische Macht des Willens, der Stimmung, des Zugs der Seele hinab in das unsichtbare Reich, das Verlangen der Vereinigung mit der Geliebten, was das Ende herbeifÝhren soll. Aus dieser Lebensverfassung, die Monate hindurch dauerte, sind die „Hymnen an die Nacht“ entstanden. Sie sind das poetisch StÈrkste, was Novalis geschaffen hat, weil sie direkt aus diesem Enthusiasmus hervorgingen. Aus der Seelenverfassung gehen Mythen von großer Macht hervor. Der e r s t e derselben: die Nacht als die schweigende Tiefe alles Lebens, welche die Welt des Lichtes trÈgt, und die RÝckkehr der Seele aus dem Licht in ihre Tiefe (Heilborn I: 311–314.) Der z w e i t e : das Menschengeschlecht, das in der Region des Lichtes lebt, wird nun im Zusammenhang seines Lebenslaufes dargestellt (315 ff.). Das eiserne Schicksal, die Riesen der Tiefe, das Licht als Aufenthalt der GÚtter und Menschen, Schillers „GÚtter Griechenlands“; aber

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Textgeschichte und Anmerkungen

der Tod als Schranke einer glÝcklichen Lebensverfassung, und dann (317 ff.) Christus als Befreier. Es ist ein synkretistischer Mythos, der gleichsam den spÈteren Schelling antizipiert. Alle GÚtter haben symbolische RealitÈt. Mythologie Friedrich Schlegels. Anfang des im „Ofterdingen“ FortgefÝhrten. Diesem großen Mythos ist eingeschachtelt ein kleinerer. Beginnt 319 unten: „Bald sammelten“ etc. Dies in Exzerpt geben. Aus Hellas kommt ein SÈnger nach PalÈstina. Jetzt wÚrtlich. Dann wieder im Exzerpt. Der Kern aber ist und das SchÚnste: 320. Von 323 ab zuerst der Hymnus auf die Liebe, die alle Grenzen aufhebt. Dann 3 2 4 : gleichsam das Lied des Auszuges aus dem Reiche des Lichtes hinunter in die heilige Nacht des Vaters. Diesen Hymnen entspricht auch schon im Titel „Hymne“ die Hymne 342 f., welche irdische und himmlische Liebe, Abendmahl und die Zeit, in der alles Ein Leib sein wird, Leben, das andere Leben in gÈnzlicher Aneignung genießt, darstellt. Die Mystik des Abendmahls aufzusuchen. Novalis das Èußerste. [Am lR:] N.B! Die geistlichen Lieder. Die geistlichen Lieder ruhen auf der Grundlage von Zinzendorf, Lavater etc. Es lag aber schon in der Herrnhutischen ReligiositÈt der Zug, der die Lieder in den Dienst der Festhaltung einer einheitlichen christlichen Grundstimmung stellte. Der Realismus der alten Kirchenlieder, der sich am Zyklus der alten Feste entwickelt hatte und SÝndenbewußtsein, Buße, Mysterium der Wiedergeburt, Seligkeit in sich verknÝpfte, liegt hinter Novalis. Die SÝnde liegt jenseit seines Horizontes. Der Gegensatz ist hier der zwischen den Unseligen, die von Christus getrennt sind, weil sie die geheime Erfahrung der Beseligung durch seine Liebe nicht ganz und tief durchlebt haben und etc. Jesus ist Freund und Bruder. Die UnglÈubigen sind Menschen, die sich verirrt haben in einem dunklen Walde, das Vaterhaus nunmehr suchen. Der tiefste Gedanke aber seiner Mystik: die Liebe zu Gott ist in Christus mÚglich geworden, weil er leidet: nur das LeidensfÈhige vermÚgen wir zu lieben. Hierdurch die Form der Lieder bedingt. Sie gehen echt lyrisch aus von einer Situation. Nicht von einem Gemeindezustand, sondern von etwas PersÚnlichem. Die Angst des Einsamen, der ohne Christus ist. Die Herabkunft Christi. Wie er einsam in seiner Kammer sitzt. Wie er der Stunde seiner hÚchsten Erfahrung gedenkt. Sie stehen zwischen der Kirchensprache und seiner eigensten lyrischen Form. Jeder Vers steht fÝr sich. Sie sind in lÈssigem Fortgang aneinandergekettet; Úfters kÚnnte die Reihe derselben immer weiter gehen. Sprache und Wortschatz der lutherischen ReligiositÈt, wie sie besonders in den Liedern besteht, ist geklÈrt, ihre realistischen HÈrten sind getilgt. Die einheitliche Stimmung mit ihrem leisen, gedÈmpften, frÚhlich gehaltenen, vornehmlich aber wehmÝtigen Ton ist durchgefÝhrt. An die Stelle der sittlich religiÚsen Lebensgewalten, von SÝnde etc., treten Einsamkeit in der Entfernung von Christus, Sehnsucht, TreuegefÝhl, GefÝhl des BehÝtetseins. Die Grazie von Novalis entspringt aus einer Seele, Seelenverfassung, die nur gemÈßigter Bewegungen fÈhig ist. Sie kann die Region ihrer Grundstimmung nicht Ýberschreiten. Darin liegt ihr Zauber und ihre eigene SubjektivitÈt. Wie Fiesole und ihm verwandte Maler immer nur dieselbe Stimmung in ihren Bildern zum Ausdruck bringen. Es ist derselbe Ton, der in den PrÈraffaeliten Englands hervortritt. Immer ist in dieser Grazie, ich mÚchte nicht sagen: etwas Geziertes, aber doch ein Bewußtsein der sanften SchÚnheit, in der diese subjektiven Naturen atmen, gleichsam schwimmen. Wie anders Goethe! Er ist Ýber jener MÚglichkeit der Grazie. Seine Anmut ist auch eine sanfte und gehaltene Bewegung, die aber die BÈndigung eines DÈmonischen in ihm hinter sich hat. C 88 (235), 63-82 N o v a l i s . (Abschrift des allerletzten Manuskr.) Auseinandergetrennte, ein-

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seitig beschriebene HalbbÚgen, von E. Schramms Hand; paginiert 1–20; der Bezifferung nach zwischen dem vorangehenden Ms. liegend. Novalis. I. Novalis tritt in die Literatur seiner Zeit als ein eigenes, fertiges Wesen, dem die literarische Bewegung um ihn in ein Innerstes niemals reicht. Denn dies Innerste, Dauernde, Konstante ist fÝr ihn eine Seelenverfassung, eine aus ihr fließende Stimmung. In bestÈndigem Fluß und Wechsel seiner Ideen und BeschÈftigungen ist sie das Ruhende und Feste, sie war ihm mitgegeben aus der Herrnhutischen ReligiositÈt der Seinen, der AtmosphÈre des Vaterhauses, Herzlichkeit, herzliche Phantasie, GemÝt. Wie die Herrnhuter Gott im tÈglichen Geschehnis erblicken, ihm ihre Angelegenheiten vertrauen, entspringt ihnen hieraus eine FrÚhlichkeit des Herzens, die Tag und Stunde genießt, da man der Zukunft sicher ist. Die GlÈubigen sind auf der Erde nicht heimisch und haben doch eine ruhige Gabe, glÝcklich zu sein. Hamann, Lavater, Matthias Klaudius zeigen dieselbe Art; aber in der Zinzendorfschen Tradition liegt eine Technik, die Stimmung festzuhalten, sicher zu machen in Ansprache, inniger Gemeinschaft, Freundschaft, Musik, welche der Seelenverfassung von Novalis doch noch ein eigenes GeprÈge gibt, das in noch feinerer, geistigerer, dogmenloserer Form im jungen Schleiermacher bemerkbar ist. Und auch darin ist er Schleiermacher verwandt, daß sich mit dieser Grundstimmung des Seelenlebens eine ungemeine Beweglichkeit des wissenschaftlichen Denkens verbindet: daher diese Grundstimmung von den Dogmen losgelÚst sich erhÈlt: ein Luftiges, hÚchst Lebendiges, Geistiges. [Zwischen C 88, 65 und C 88, 66 ohne EinfÝgungszeichen:] „Wohin gehen wir?“ sagt er einmal und antwortet: „Immer zu Hause“. Begreiflich, denn wenn diese Welt Gottes Reich ist, dann etc. II. [Am lR nochmals II., darunter:] Ist es die Zeit, sind es die Genossen, vollzieht sich darin eine Umsetzung des religiÚsen Zuges, der das Heil der Seele Ýber alles setzt? In Novalis etc. (Vgl. Manuskript 3–6). [Der eigentliche Text:] So ÝberlÈßt sich Novalis allen großen Bewegungen der Zeit. Er faßt jede, als wÈre es sein eingeborenes Recht, Tun und Schaffen aller Art in sich zu vereinigen. Auf den ersten Blick erscheinen seine Anlagen grenzenlos. Dichtung, Philosophie, Religion, Naturforschung, Historie, amtliches Wirken ziehen ihn an, nehmen ihn zeitweise ganz in Anspruch. Er lebte im inneren Zusammenhang dieser Momente. Dieser aber wurde von ihm nicht bloß als ein theoretischer gesucht. Novalis hat seinem Wesen nun darin eine Einheit gegeben, daß er in der Gestaltung seines Lebens, seiner PersÚnlichkeit, einer dauerhaften vollendeten Seelenverfassung die Bedeutung des Lebens sah, in allem Literarischen nur Mittel der Selbstbildung. Er schrieb einmal an Just: „Die Schriftstellerei ist eine Nebensache. Sie beurtheilen mich mehr billig nach der Hauptsache, – dem praktischen Leben. Wenn ich gut, nÝtzlich, thÈtig, liebevoll und treu bin: so lassen Sie mir einen unnÝtzen, unguten, harten Satz passieren.“ Und er fÝgte hinzu, daß er seine Schriftstellerei als Bildungsmittel behandele. Ebenso hat er einmal gesagt, daß fÝr ihn die Philosophie nur in die Lehrjahre seiner Bildung gehÚrt habe. „Philosophie allein wird keinen Menschen machen.“ Er verwaltet sein Amt, er dichtet, er philosophiert, indem er in allem die geniale Leichtigkeit und Fassungskraft seines Wesens geltend macht. Aber es ist immer, als wÈre dabei in seinem Wesen noch eine Kraft unbeschÈftigt, als wÈre das alles noch etwas nur fÝr ihn, sofern es zum Leben fÝhrt, zum Leben bildet, im VollgefÝhle seines Daseins erhÈlt. Wie die Frommen um des Heils ihrer Seele willen alles tun. Wie die jungen MÈnner aus der Schule Fichtes einem Ideal kommender Menschheit dienen. Wie Goethe in jedem Tun immer im Besitz der Freude daran ist. All das mag darin sein, aber zugleich etwas, das nur Novalis eigen ist, daß er in der Leichtigkeit, mit der er sich zwischen seinen TÈtigkeiten bewegt, in der geschwinden, halb spie-

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lenden Art, sie zu behandeln, und wenn auch die Sachen selbst dabei zu kurz kommen sollen, immer seines Daseins froh bleibt. Eine eigene SchÚnheit seiner Seele und seines Lebens liegt in dieser glÝcklichen, heiteren SouverÈnitÈt seines Wirkens. III. Die Transzendentalphilosophie bestÈtigt und beweist ihm, was in seiner Seelenverfassung enthalten ist, ja was bis in die Tiefe seines LebensgefÝhls hinabzureichen scheint. Die Seele ist ein in sich Lebendiges, Starkes, ja Unbezwingbares, und die Transzendentalphilosophie lehrt ihn, das, was das bestÈndige Werk der religiÚsen Erfahrung war, methodisch zu tun. Aus dem religiÚsen Erlebnis entsteht, wenn die Seele sich selbst gegenstÈndlich wird, wenn sie Ýber das, was in jenem Verkehr an ihr geschieht, reflektiert, die religiÚse Erfahrung. Sie ist immer in gebildeten Naturen im Begriff, Ýberzugehen in psychologische Beobachtung. Das sieht man an Lavater, Hamann und jetzt wieder an Novalis. Wie an so vielen Stellen der Geschichte der Ideen. Die Transzendentalphilosophie macht die Entdeckung von Bedingungen, welche jenseit der uns bewußten geistigen VorgÈnge diese erst mÚglich machen. Der lebendigere weniger pÝnktliche und abstrakte Geist von Novalis entdeckt etwas, das nicht aus Elementen besteht, nicht durch Inhalte bestimmbar ist, also garnicht erscheint und hier oder dort erlebt werden kann, sondern als ein Zusammenhang erst das konstituiert, was hier und da erlebt wird. Nennen wir es die Seele. Er macht Entdeckungen in ihr. Fichte hatte gelehrt, daß in den Bedingungen unseres geistigen Lebens ein endloser Fortgang von Forderung zu teilweiser ErfÝllung etc. enthalten sei – kurz die UnerschÚpflichkeit des Geistes. Diese UnerschÚpflichkeit der Seele, wie sie eine Welt ist, wie in jedem was wir gewahren oder wollen, ihr Schaffen steckt, wie die Grenzen unseres Willens nicht abgesehen werden kÚnnen, die SchÈtze unseres GemÝtes nicht nachgezÈhlt – dies ist eins der wichtigsten Erlebnisse der Romantik, entscheidend auch fÝr ihre ganze Dichtung, und Novalis ist es, dem es aufgeht. C 88 (235), 95r-[100r] Umschlag: A b s c h r i f t : N o v a l i s . ( A n f a n g . ) Von der Hand E. Schramms, HalbbÚgen 1–3, das letzte Blatt ist unbeziffert. Noch einmal vorhanden in C 88, 165r-170v. Anfang des Novalis. (N a c h d e n p e r s Ú n l i c h e n S È t z e n . ) Was gibt nun diesem Lebenswerk die Einheit, daß es mit der Geschlossenheit eines Bildes auf uns wirkt? Die wissenschaftlichen und philosophischen Ideen von Novalis sind in einem bestÈndigen Wechsel begriffen. Er hÈlt aber eine Seelenverfassung in sich fest. Zu ihr stehen auch alle seine Ideen in Beziehung. Er denkt nur, was mit ihr Ýbereinstimmt. Er kann das Christentum theoretisch mit Èußersten Zweifeln ansehen etc. Das Èndert nichts an der Grundstimmung seiner Seele. Dieser aber kommt nun die Stimmung der neuen Menschen um ihn her entgegen. Er befriedigt die Sehnsucht nach einer unendlichen Tiefe, nach grenzenlosen Perspektiven. So treten die begabtesten Schriftsteller der neuen Zeit als Freunde zu ihm. Je mehr wir die Zeit kennen lernen, desto deutlicher, wie Schleiermachers Reden etc. So Hegel etc. In Schleiermacher der grÚßte VerbÝndete. So wird sein Wesen freudig gehoben. Die Heiterkeit seiner Seele, die im Temperament, in der Art seiner Krankheit lag, die aber zugleich in seinem Glauben bedingt war, wurde verstÈrkt durch die AtmosphÈre von Bewunderung und Liebe, die ihn im romantischen Kreise umgab. Sein rastloses Schaffen bis in die letzten SchwÈchezustÈnde dauerte fort, da die Erwartung der Freunde auf ihn gerichtet blieb. Wenn der Plan des Romans immer transzendenter und nebelhafter wurde, so war das doch nur eine Èußerste VerstÈrkung seines GrundgefÝhls: zweifellos verlor dieser Plan sich dadurch in UnausfÝhrbarkeit: ich zweifle, ob er in gesunden Tagen ihn so durchgefÝhrt hÈtte. Aufgabe, aus den PrÈmissen des ersten Bandes SchlÝsse zu machen. Aber wie er war, gab er der Richtung seiner Seele gleichsam einen letzten unend-

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lichen Ausdruck. Unter den manchen PlÈnen, die er sich gesetzt hatte, befanden sich auch solche von polemischer Natur. Vor allem die Schrift gegen den Wilhelm Meister. Gegen Mathematiker. Ein glÝcklicher Instinkt oder ein gÝnstiges Schicksal bewahrte ihn vor solchen VerÚffentlichungen. Er blieb der Masse fremd. Der herrschenden Literatur und Wissenschaft stand er gegenÝber: aber der Friede seiner Arbeit und seines Lebens wurde durch keinen Streit gestÚrt. WÈhrend die Freunde um ihn alle, nur mit Wackenroders Ausnahme, mit der Welt im Streit lagen, blieb er davon unberÝhrt. Das ist der Zauber seiner etc. C 88 (235), 236r-238r. Umschlag: Neue Auflage des N o v a l i s . (C 88, 232); darin das Blatt aus Walzels Romantik-Besprechung, das der Besprechung von D.s Novalis vorausgeht in: Jahresberichte fÝr neuere deutsche Literaturgeschichte. Vgl. unten: Zur Rezeption. Diktat, von fremder Hand, zur Widerlegung Hayms, vielleicht auch Walzels, wohl nicht nur fÝr die Anmerkungen gedacht. Novalis Nicht magischer Idealismus ist das Zentrum, sondern: daß dieser religiÚsbestimmte Mensch, der Ýberall auf Erlebnis infolge der Form beruht, der losgelÚst ist von der Basis dieses transzendentalen Idealismus in Kant und weiter rÝckwÈrts mit Fichte sich erfÝllt: auch mit Schelling. Er nimmt Fichte nicht systematisch, er erfaßt aber den entscheidenden Punkt in ihm, die intellektuale Anschauung oder sagen wir lieber das Erlebnis; nach diesem wird von der RealitÈt des Ich ausgegangen. Dieses aber ist nicht Substanz sondern eine Energie, die sich in ihre teleologische TÈtigkeit steigert und zwar enthÈlt sie in sich grenzenlose MÚglichkeiten der Steigerung und Wirkung, denn sie ist Leben. Ihr gegenÝber ist die Natur, als welche ebenfalls Leben teleologischer Art ist, wandelnd. Diese Anschauung ist ihm nun das Instrument von Entdeckung. Er gebraucht sie ganz ernstlich, um in der Natur, im Àbersinnlichen, in der Seele, in der Geschichte neue Erlebnisse zu haben, in denen die Entdeckungen aufgehen. Nun muß man sich vergegenwÈrtigen, daß er am Anfang seiner Lebensarbeit war, als er starb. Er wurzelt aber im Christentum, er nimmt es ganz als Glaube an die transzendente Welt, die hineinwirkt in das Leben. Die Art des Hineinwirkens ist durch das vorige bestimmt. Im Herrenhutertum [sic ] ist die Bekehrung Wunder. Die RealitÈt des Wunders ist Novalis immer gegenwÈrtig, sie beruht auf d[er] Verschiebbarkeit des Weltlaufs, auf der Kraft des Ich, die Schattenwelt der Natur zu bezwingen. Und nun das persÚnliche Moment: Er ist lungenkrank, sein Bruder stirbt daran; der Tod wird ihm zum Gesichtspunkt fÝr das VerstÈndnis des Lebens. Er ist identisch mit der Transzendenz, mit der Ruhe, mit der Seeligkeit. Gegensatz der Geisterkolonien und der Seelenwanderungen. Seelenwanderungen als Mittel, den Tod als den entscheidenden Punkt fÝr das Leben zu nehmen. Sehnsucht als Grundstimmung des Christentums bei Schleiermacher wird auch fÝr ihn bestimmend (Reden. Abschnitt Ýber Christen.) Hierdurch ergiebt sich folgende Ordnung fÝr die Entwicklungsgeschichte 1) Herrenhutertum 2) Der technische Gesichtspunkt der Einwirkung auf die Natur durch ihr Studium. Beides verbindet sich. (Natur des Bergmanns: Werner) zu einem genialen Experimentieren, Probieren, Entdecken. 3) Nun Fichtes Idealismus etc. Aus den Handschriften zu Anmerkungen Diltheys Ein Teil des Materials, das die Anmerkungen betrifft, sind AuszÝge aus F. von Baaders und Novalis Schriften (Minor 1907), fÝr EuD2 bestimmt, zur Frage des magischen Idealismus. An den

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Textgeschichte und Anmerkungen

TextentwÝrfen fÈllt die starke Beteiligung D.s auf. Dem grÚßeren Entwurf fÝr D2 folgen hier einige kleinere StÝcke und der Vorschlag Walzels fÝr D3, alles im großen Umschlag: Papiere zur Bearbeitung von Novalis. C 88 (235), 281r-290v Eindeutig die ersten Partien der Anmerkungen zu D2, E. Schramm diktiert, von D. ergÈnzt und teilweise selbst geschrieben; paginiert 1–3, mit EinfÝgungen. Umschlagmitte (C 88, 280): Zu Novalis, p. 402. Dort beginnt in D1 die Auseinandersetzung mit Haym Ýber „Die Lehrlinge zu Sais“. Mit Bleistift am oR: Haym polemisiert gegen meine Auffassung der Lehrlinge zu SaÓs, deren Grundidee ich im Distichon Hardenbergs und der analogen von mir herausgehobenen Stelle finde. Dieser Aufsatz ist 1865 in den preußischen JahrbÝchern gedruckt. Damals waren nur die beiden BÈnde „Novalis Schriften“, herausgegeben von Tieck und Friedrich Schlegel, und die Nachlese von Tieck und BÝlow in einem dritten Bande von 1846 vorhanden. Seitdem hat sich unsere Kenntnis des Nachlasses von Hardenberg sehr erweitert, und heute besitzen wir in der schÚnen Ausgabe Minors (Novalis’ Schriften, 4 BÈnde, Jena Diederichs 1907) einen kritisch zuverlÈssigen Text der Hinterlassenschaft des Dichters. Es wird sich nun fragen, wieweit eine chronologische Bestimmung der Fragmente und der Aufzeichnungen Ýber die Fortsetzung der Lehrlinge von Sais und des Heinrich von Ofterdingen erreichbar ist. Minor stellt kritische ErlÈuterungen seiner Ausgabe in Aussicht, und es ist Hoffnung vorhanden, daß auch die Chronologie der Fragmente von ihm behandelt werden wird. Damit wÈre dann endlich die Grundlage geschaffen fÝr eine zuverlÈssige AuflÚsung der Hauptprobleme, die Novalis betreffen. Denn die Ansichten von Novalis sind sehr wechselnd; was er aufzeichnete, ist vielfach abhÈngig von seiner LektÝre; wollte man die Entwicklung seiner Ideen, ihren Zusammenhang in irgend einer bestimmten Zeit erfaßen, so mÝßte man das VerhÈltnis der einzelnen Schriften von Friedrich Schlegel, Schelling, Baader zu den Niederschriften Hardenbergs untersuchen, und hierfÝr wÈren feine chronologische Untersuchungen erforderlich. [Von hier an Ýberwiegend D.s Hand.] Auch die Aufzeichnungen des Dichters Ýber die Fortsetzung der Lehrlinge und des Ofterdingen kÚnnten erst sicher verwerthet werden, wenn sie zeitlich bestimmt und mit den gleichzeitigen Fragmenten confrontirt werden kÚnnen. So ist die Zeit fÝr eine sichere Verwerthung des neuen Materials noch nicht gekommen. Daher erscheint auch in dieser Ausgabe des Buches der Aufsatz Ýber Novalis unverÈndert, abgesehen von der Berichtigung einiger Schreibversehen und Druckfehler und von einigen Streichungen und der Zusammenziehung einer Stelle. Denn ich halte an meinen Ergebnissen fest. Und es erschien mir nicht erforderlich ZusÈtze aus dem neuen Material zu machen. Denn die Absicht des Aufsatzes war von vorn herein nicht VollstÈndigkeit der Nachrichten, sondern gegenÝber den damals herschenden Ansichten Ýber den Dichter eine bessere WÝrdigung desselben, und zwar besonders in bezug auf die Folgerichtigkeit und Bedeutung seiner dichterischen Conceptionen. Ich rechtfertige den Aufsatz noch gegenÝber Einwendung[en], die gegen ihn erhoben worden sind. In der Polemik von Haym, in seiner bedeutenden vielbenutzten Schrift Ýber die romantische Schule (Berlin 1870) kommt ein durchgreifender etc. – 1. Was die Lehrlinge von Sais betrifft (Haym a. a. O. 348 ff.) so habe ich mich in den Worten Ýber Fichte p 268 Z. 4. 5. 6 von unten zu weit vorgewagt und ich gebe sie preis. Aber daß eine positive AuflÚsung des Streits der Naturansichten in den p 268. 9 angegebenen Worten von Novalis liegt halte ich fest. Wohl lehrt Novalis, daß der Mensch „mit der Natur gerade in so unbegreiflich verschiedenen VerhÈltnissen steht, wie mit den Menschen“. So entstehen die verschiedenen Naturansichten. Aber von dem Verfahren ab, welches der Struktur der Naturobjekte nachgeht, bis zu den Ansichten, die Vernunft, Phantasie oder GemÝt in ihr wiederfinden, wird doch Natur Ýberall nur verstanden von dem seelischen Zusammenhang aus, im Nacherleben des in ihr wirkenden Lebens, im Wieder-

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finden des Selbst in ihr. Ich weise besonders auf die Stelle (Minor) IV, 24–26 hin. Hier tritt man aus dem Streit der Menschen Ýber die Natur hinaus, die Naturobjekte selber reden. Sie durchwaltet GefÝhl, das die Harmonie des Naturganzen genießt, und nur dem GefÝhl des Menschen Úffnet sich daher das Wesen der Natur. „Das Denken ist nur ein Traum des FÝhlens, ein erstorbenes FÝhlen, ein blaßgraues, schwaches Leben“. [Bis zum Schluß nur D.s Hand.] 2) Eine andre Differenz besteht etc. Ich gehe daher auch nicht auf die Frage ein ob der Begriff des magischen Idealismus [am oR: auch die interessante Schrift etc.] wirklich den Einheitspunkt der Ideen von Novalis bildet. Die Stellen in denen bei Novalis dieser Ausdruck vorkommt stehen Ýbrigens in Zusammenhang mit Baaders Begriff des Magischen. Ich gehe noch auf eine Einwendung von Olshausen ein, die den Begriff der Realpsychologie bei Novalis betrifft. Was meine eigenen AusfÝhrungen betrifft so halte ich auch jetzt daran fest daß die AusfÝhrungen des Dichters Ýber Seelenleben und Geschichte werthvoller sind als die naturphilosophischen Fragmente und die einsichtige PrÝfung derselben durch Olshausen hat ebenfalls zu dem Ergebniß gefÝhrt: „wissenschaftliche Bedeutung haben weder seine naturphilosophischen noch die naturwissenschaftlichen Fragmente“ (Olshausen a. a. O. p 75). So habe ich, erfreut darÝber fÝr Ideen Ýber eine Strukturpsychologie die mir damals aufgegangen waren in Novalis einen VorlÈufer zu finden, an den Fragmenten diesen Punkt herausgehoben. Wenn Olshausen a. a. O. p. 18. 19. diesen Ausdruck im Sinn einer „Weltpsychologie“, „Wissenschaft des Makrokosmos“ deutet so ist das zweifellos irrig; zwar findet sich in den damaligen Schriften Baaders nicht der Name Realpsychologie, wenn aber Novalis Baader als einen „realen Psychologen“ bezeichnet, der die „Èchte psychologische Sprache spricht“, so finden sich im dritten Band der Schriften von Baader (aus dieser Zeit) eine ganze Reihe von Stellen, welche realpsychologisch im Sinne der Psychologie des Menschen sind (vgl. auch Simon 15. 16). C 88 (235), 355r-356v Diktat zu: Realpsychologie; von E. Schramms Hand, Bleistiftnotiz. Abweichend vom sonstigen Verfahren wird hier der gestrichene erste Ansatz wiedergegeben: Wie ich nun damals mit den ersten Ideen einer beschreibenden oder Strukturpsychologie beschÈftigt war, freute es mich, in Novalis fruchtbare Ideen zu einer solchen zu finden. Korrigiert: Wie ich nun damals mit den ersten Ideen einer Psychologie beschÈftigt war, welche fÈhig wÈre, die Geisteswissenschaften zu begrÝnden, freute es mich, in Novalis fruchtbare Ideen zu einer solchen zu finden. Unmittelbare Fortsetzung fÝr beide Versionen: Und auch heute noch scheint mir der Hauptwert seiner Fragmente fÝr die Gegenwart in seinen Gedanken Ýber diesen großen Zusammenhang, der zu den Geisteswissenschaften fÝhrt, zu liegen: ein Wert, der unabhÈngig ist von dem transzendentalphilosophischen Standpunkt in der BegrÝndung der Geisteswissenschaften, der sein historischer Ausgangspunkt war. Ich muß mich hier noch gegen einen Einwand verteidigen, den Olshausen gegen meinen Begriff der Realpsychologie erhoben hat. Ob es jetzt oder kÝnftig mÚglich sei, einen einheitlichen, durch alle Phasen von Novalis durchreichenden Zusammenhang seiner Ideen aufzustellen, wie dies Haym und neuerdings Simon versucht, und ob die spezifische Differenz innerhalb des tranzendentalphilosophischen Standpunkts, die in allen Phasen von Novalis ihn charakterisiert, in dem Begriff des magischen Idealismus zu suchen sei (der Begriff ist durch Baader bedingt) lasse ich dahingestellt. C 88 (235), 358r-359r Diktat, Halbbogen von E. Schramms Hand, flÝchtig geschrieben; nach Erscheinen der Ausgabe Minors, wohl fÝr D2. Fragmente. 1.) Meine Absicht. 2.) Verteidigung der Realpsychologie.

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Textgeschichte und Anmerkungen

3.) Den Versuch, den inneren Zusammenhang der Fragmente festzustellen, wage ich auch jetzt nach der Ausgabe von Minor noch nicht, a) Wechsel der Ansicht in verschiedenen Zeiten. b) AbhÈngigkeit von jedesmaliger LektÝre und Anschluß an sie. c) Er schrieb zugleich in verschiedenen NotizbÝchern. Nur die chronologische Untersuchung ist imstande, das von Friedrich Schlegel Àbernommene und das Eigene zu sondern. Ohne die Benutzung der Manuskripte ist es nicht mÚglich, auch nur fÝr eine bestimmte Zeit einen Zusammenhang mit Sicherheit festzustellen. Es mÝssen erst die von Minor versprochenen chronologischen Untersuchungen abgewartet werden. C 88 (235), 366v, 365 r, 368v, 367r Diktat, von E. Schramms Hand auf zwei HalbbÚgen, Doktordiplome, eins von 1904; paginiert 1–2. Ansatz zu Anmerkungen oder zur TextergÈnzung, Bezug auf Heilborns Ausgabe. Das Ms. bricht mitten im Satz ab. Das Angebot der Familie Hardenberg an D. auch oben C 88, 8. Ich versuche nicht, mit Hilfe der neuen Ausgabe von Heilborn (3 BÈnde) die Aufgabe zu lÚsen, die damals, vor 40 Jahren, unlÚsbar war. Der vorstehende Aufsatz bestimmte damals die Familie, mir die Herausgabe des Nachlasses anzubieten, was ich ablehnen mußte. Die Ausgabe von Heilborn zeigt nun, wie umfangreich, und zugleich doch auch, wie zersplittert, fetzenhaft, momentan das von Novalis Niedergeschriebene ist. In dem, was nun abgedruckt ist, ist schlechterdings kein Ansatz, ein Problem methodisch durchzudenken. Die chronologische Bestimmung ist von Heilborn selbst nachdrÝcklich nur als „Versuch“ bezeichnet worden, „den die Anmerkungen schÝchtern rechtfertigen sollen.“ XI. So halte ich die Zeit noch nicht fÝr gekommen, der historischen Entfaltung der wissenschaftlichen Ideen von Novalis nachzugehen. Und bei der außerordentlichen Wandelbarkeit derselben ist eine systematische Darstellung, wenn Ýberhaupt, jedenfalls nur fÝr gewisse Zeiten mÚglich, in denen er unter dem Einfluß einer gewissen Ansicht der Dinge steht, Probleme in einer gewissen Richtung auflÚsen will: dies setzt aber eine definitive chronologische Ordnung voraus. Doch erscheint mÚglich, auf Grund dieser VerÚffentlichungen nunmehr den Versuch zu machen, tiefer in den Zusammenhang dieser merkwÝrdigen PersÚnlichkeit einzudringen, die Folge von Erlebnissen aufzufassen, die ich hier als dichterisches Erlebnis zusammennehme, und so die EigentÝmlichkeit seiner Poesie zu bestimmen, durch die der anspruchslose, einfache, unliterarische JÝngling so bestimmend in Dichtung und C 94 (242), 343 Bezifferung auf der BriefrÝckseite, einzelnes Blatt mit O. Walzels Formulierung einer ErgÈnzung im ersten Abschnitt der Anmerkungen D.s von D2 fÝr D3; um 1909/10: Vorschlag zu S. 449 unten: Heilborn hatte in seiner Ausgabe von „Novalis’ Schriften“ (Berlin 1901) mit unzureichenden Mitteln die Fragmente chronologisch zu ordnen versucht. Neue Wege, die Frage der Chronologie zu lÚsen, schlug Eduard Havenstein („Friedrich von Hardenbergs Èsthetische Anschauungen“, Berlin 1909) ein. Nach jahrelanger BeschÈftigung mit den Nachlaßpapieren, brachte er sie, zunÈchst nach Èußeren Kennzeichen (Handschrift, Beschaffenheit des Papiers und der Tinte), in neue Ordnung, schloß dabei allerdings alles aus, „was ausschließlich fachmÈnnisch Ýber Mathematik, Physik, Chemie etc. handelt“. Seine Neuordnung bedarf noch der NachprÝfung. Es ist Hoffnung vorhanden, daß Minor, der kritische ErlÈuterungen seiner Ausgabe verspricht, diese NachprÝfung vornimmt und Ýber die Chronologie endgiltig Licht verbreitet. So werden wir . . .

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Zur Rezeption O. Walzel hat sich vielfach zu D. geÈußert, er ist dem Novalis-Aufsatz durch kritische LektÝre und einen ErgÈnzungsvorschlag fÝr die Anmerkungen besonders verbunden. Wiedergegeben werden ein Ausschnitt aus der Sammelbesprechung der im Jahr 1905 erschienenen Literatur zur Romantik und Passagen aus dem von D. angegebenen Aufsatz in der Zeitschrift Euphorion von 1908, ebenfalls zur Edition von 1905. Walzel geht von der neuen Ausgabe Minors aus, daran knÝpft der Ausschnitt an. Im weiteren Verlauf seiner sehr detaillierten Darlegungen bespricht er auch die zweite Auflage von EuD und widerlegt D.s unverÈnderte Position. Oskar F. Walzel, Romantik Von hervorragender Bedeutung ist der Abdruck des alten Aufsatzes Ýber Novalis, den W. D i l t h e y (4850b) vor vierzig Jahren in den Preussischen JahrbÝchern verÚffentlicht hatte. Wie wenig D. durch die Novalisforschung dieser langen Zeit sich gefÚrdert fÝhlt, bezeugt seine ausdrÝckliche ErklÈrung, dass die seit 1865 verÚffentlichten Arbeiten ihn zu keinen ErgÈnzungen veranlasst hatten. D.s Essay suchte – auch im Gegensatz zu Hayms um fÝnf Jahre jÝngerer Arbeit – gegen die weitverbreitete Ansicht anzukÈmpfen, die Romantik sei verschwommen, verworren und widerspruchsvoll; er wollte in Novalis’ fragmentarischen Kundgebungen das einigende Band nachweisen. Nun hat ja Hayms „Romantische Schule“ dann, so gern sie sonst die Zusammenhanglosigkeit romantischer Aphorismen hervorhebt, doch Novalis ein Gedankenzentrum zugebilligt und Novalis’ System in dem „magischen Idealismus“ gefunden. D. kann auch jetzt dieser Annahme nicht beitreten; der „magische Idealismus“ lasse sich nur durch vereinzelte •usserungen belegen. Er sei also nicht d a s Zentrum von Novalis’ Denken; wichtiger erscheint fÝr D.s Auge, nicht als d a s , wohl aber als e i n Zentrum von Hardenbergs Spekulation, die „Realpsychologie“, ein Begriff, den Novalis an Baader anknÝpft. Dem Nachweis der Bedeutung des Begriffs fÝr Novalis’ Geisteswelt dient der alte Essay. So sympathisch die ganze Richtung von D.s Studie der Forschung von heute ist, so scheint diese doch geneigt zu sein, fÝr den „magischen Idealismus“ einzutreten und die „Realpsychologie“ fallen zu lassen. Aus: Jahresberichte fÝr neuere deutsche Literaturgeschichte, hrsg. von J. Elias u. a., XVI (Jahr 1905), Berlin 1908, S. 664. S i m o n Heinrich, Der magische Idealismus (Oskar Walzel) Dennoch scheint mir jetzt die Epoche gÝnstig, die jÝngsten, vor Minors Ausgabe verÚffentlichten Arbeiten Ýber Novalis zu betrachten; nicht nur weil gerade jetzt eine Reihe wertvoller Studien vorliegt, vielmehr da durch den Wiederabdruck von D i l t h e y s altem Aufsatze Ýber Novalis1 ebenso ein Fazit des bisher auf diesem Felde Geleisteten gezogen wie durch Minors Ausgabe eine neue Phase der Forschung eingeleitet wird. 1865 ist Diltheys Essay in den „Preußischen JahrbÝchern“ erschienen. Nach mehr als vierzig Jahren legt der Verfasser ihn fast unverÈndert wieder vor. „Die seitdem hervorgetretenen Publikationen Ýber Novalis konnten mich zu ErgÈnzungen nicht bestimmen, da die Absicht des Aufsatzes nicht VollstÈndigkeit der Nachrichten, sondern gegenÝber den damals herrschenden Ansichten Ýber den Dichter eine bessere WÝrdigung desselben, und zwar besonders in bezug auf die Folgerichtigkeit und Bedeutung seiner dichterischen und philosophischen Konzeptionen war“ (S. 401). Vielleicht wird manchem das Urteil, das Dilthey hier Ýber die Forschung von 1865 bis 1905 fÈllt, etwas hart erscheinen. Sollte da wirklich nur grÚßere „VollstÈndigkeit der Nachrichten“ von Novalis erzielt wor1 Das Erlebnis und die Dichtung, Lessing, Goethe, Novalis, HÚlderlin. Vier AufsÈtze von Wilhelm Dilthey. Leipzig 1906 [1905] B. G. Teubner. S. 201–282. – Zweite erweiterte Auflage. Ebenda 1907. S. 249–329.

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Textgeschichte und Anmerkungen

den sein? Und ist in dieser langen Zeit auch gar nichts fÝr das bessere VerstÈndnis der „Folgerichtigkeit und Bedeutung seiner dichterischen und philosophischen Konzeptionen“ geschehen? Dilthey kÚnnte, um sein scharfes Urteil zu begrÝnden, auf Spenl¹ verweisen, der in einem ausfÝhrlichen, Ýber 100 Seiten umfassenden Àberblick der Literatur Ýber Novalis – er ist betitelt „Novalis devant la critique“ – zu dem Schlusse kommt: „Personne peut-Þtre, depuis M. Dilthey, n'a interpr¹t¹ avec autant de profondeur et de sympathie clairvoyante la pens¹e du pote romantique. MÞme l'¹tude, trs nourrie, de M. Haym – qui a servi Ä presque tous commentateurs post¹rieurs – ne marque pas un progrs sensible“ (S. 97). Seit 1865 haben ja nicht bloß die Schubart, Bing, Busse, Huber, Heilborn, Ricarda Huch, Ederheimer, Fridell, Spenl¹ usw. Ýber Novalis geschrieben; auch H a y m s grundlegendes Werk fÈllt in diese Zeit. Und gerade gegen Haym richten sich Diltheys Worte. Recht aber gibt die neuere Anschauung von Novalis Wesen sofort in einer Beziehung dem Essaisten von 1865: Dilthey selbst weist auf den durchgreifenden Unterschied hin, der zwischen seiner und Hayms Auffassung der romantischen Schule waltet: „WÈhrend ich die Ýbliche Ansicht von der Verworrenheit, Verschwommenheit, dem Dunkel und den WidersprÝchen in den romantischen Schriften als unhaltbar nachzuweisen und zu zeigen unternommen habe, daß auch das, was uns in den Fragmenten und NachlaßstÝcken vorliegt, einen festen Zusammenhang habe, steht Haym jener Ansicht viel nÈher.“ Ich darf wohl sagen: Was in den jÝngsten zwanzig Jahren fÝr die ErgrÝndung der FrÝhromantik geschehen ist, nÈhert sich mehr und mehr dem Standpunkte Diltheys. Neuerdings ist er vollends zum Durchbruch gelangt. Die Wege haben sich wohl – und nicht bloß fÝr die WÝrdigung der FrÝhromantik – endgiltig geschieden: wir wollen nachfÝhlen, verstehen, begreifen und nicht durch schroffe Ablehnung von SÈtzen, deren VerstÈndnis nicht auf den ersten Versuch hin sich ergibt, uns selber den Einblick erschweren. Schroff gegenÝber stehen sich zwei Anschauungen; die eine erblickt in dem Werturteil eine wichtige, ja vielleicht die wichtigste Aufgabe des Forschers, die andere verpÚnt ein Werturteil, das ablehnt, ehe, sei's von Seiten des GefÝhls, sei's von Seiten des Verstandes, die tiefere BegrÝndung eines Gedankens oder einer kÝnstlerischen Form erfaßt ist, auch wenn Gedanke und kÝnstlerische Form beim ersten oder sogar beim zweiten und dritten Anblick abstrus erscheinen. [Walzel untersucht alle von D. in den Anmerkungen zu D2 genannten Stellen zum „magischen Idealismus“ und stellt fest:] Nun aber spricht Novalis noch an einer anderen Stelle von dem Begriffe. Dilthey hat sie nicht herangezogen, obwohl sie in Minors Register unter „Idealismus“ ebenso erscheint wie die oben gemusterten, freilich nicht unter dem Stichwort „magischer Idealism“. Bd. 2, 199 f. (N. 73) heißt es: „Wenn ihr die Gedanken nicht mittelbar (und zufÈllig) vernehmbar machen kÚnnt, so macht doch umgekehrt die Èußern Dinge unmittelbar (und unwillkÝrlich) vernehmbar, – welches ebensoviel ist, als wenn ihr die Gedanken nicht zu Èußern Dingen machen kÚnnt, so macht die Èußern Dinge zu Gedanken. KÚnnt ihr einen Gedanken nicht zur selbstÈndigen, sich von euch absondernden und nun euch fremd, d. h. Èußerlich vorkommenden Seele machen, so verfahrt umgekehrt mit den Èußerlichen Dingen und verwandelt sie in Gedanken.“ Novalis fÝgt hinzu: „Beide Operationen sind idealistisch. Wer sie beide vollkommen in seiner Gewalt hat, ist der magische Idealist. Sollte nicht die Vollkommenheit jeder von beiden Operationen von der andern abhÈngig sein?“ Wenn irgendwo, scheint Novalis diesmal die Grenze zwischen Kants und Fichtes transzendentalem Idealismus und seinem magischen Idealismus zu ziehen. Aus: Euphorion. Zeitschrift fÝr Literaturgeschichte, hrsg. von A. Sauer, XV (1908), S. 610 f., 615.

Novalis.

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Textbearbeitung D. hat den Aufsatz von 1865 fÝr D1 in Einleitung und vier Kapitel gegliedert, nach eigenen Aussagen im Ýbrigen kaum etwas verÈndert (vgl. oben seine Anmerkungen). Kleine Abweichungen betreffen Stilistisches, geringfÝgige KÝrzungen, das Weglassen von Nachweisen und Namen. Angaben und Zitate sind teilweise korrigiert worden. 173, 2–3 Homer bis ist: E Homer und Shakespeare, Cervantes und GÚthe scheinen in ihrer anschaulichen Erkenntniß die Welt aufzufassen wie sie an sich ist; D1, D2, D3 Homer, Shakespeare, Cervantes scheinen in ihrer anschaulichen Erkenntnis die Welt aufzufassen wie sie an sich ist; 208, 22–23 Es sei bis hingegen: E Es sei sonderbar – hiervon geht er aus – daß in der Natur nur das Grelle, das Ungeordnete, Unsymmetrische, Unwirthschaftliche nicht mißfalle und hingegen [. . .]. D1, D2, D3 Es sei sonderbar – hiervon geht er aus – daß in der Natur nur das Grelle, das Ungeordnete, Unsymmetrische, Unwirtschaftliche mißfalle und hingegen [. . .]. Text des Novalis in: Ges. Schr. XXV, Anm. No 235, 1–4. 214, 7–9 Der Grundgedanke bis konnte: E Der Grundgedanke der Lehrlinge ist eine tiefsinnige Zusammenfassung der Naturansicht Fichte’s. D1, D2, D3 Der Grundgedanke der Lehrlinge ist eine tiefsinnige Zusammenfassung der Naturansicht, wie sie von Fichte aus entwickelt werden konnte. 215, 18–20 Das ist bis ausgesprochen: E Das ist der Punkt der LÚsung. Dem SchÝler Fichte’s erscheint das Ich als die entschleierte Natur, das Ich in seinem unsterblichen Charakter, das heißt als vernÝnftiger Wille. Und diese LÚsung, auf welche der Roman zustrebte, wie sie das MÈhrchen parodisch enthÈlt, ist ernsthaft in dem Distichon Hardenberg’s ausgesprochen: D1 Das ist der Punkt der LÚsung. Dem SchÝler Fichtes erscheint das Ich als die entschleierte Natur, das Ich in seinem unsterblichen Charakter. Und diese LÚsung, auf welche der Roman zustrebte, wie sie das MÈrchen parodisch enthÈlt, ist ernsthaft in dem Distichon Hardenbergs ausgesprochen: D2 und D3 Das ist der Punkt der LÚsung. Und diese LÚsung, auf welche der Roman zustrebte, wie sie das MÈrchen parodisch enthÈlt, ist ernsthaft in dem Distichon Hardenbergs ausgesprochen: 218, 19–28 Ein lÚsendes Wort bis nahegetreten: E Ein lÚsendes Wort lÈßt sich sagen. Dieser metaphysische Zusammenhang wird durch eine Hypothese vorgestellt, an welcher auch Lessing’s nÝchterner Geist mit besondrer Vorliebe hing: die Hypothese vom Kreislauf der Seelen in der Zeit und ihrer Daseinsform von Geburt und Tod. Mit dieser Hypothese, die man etwas ungeschickt als die der Seelenwanderung bezeichnet, ist der Glaube an eine bestimmte, sich von innen entfaltende IndividualitÈt und an eine durch die Vergangenheit bestimmte Ordnung in den Beziehungen der Seelen zueinander, in jeder neuen Form ihres Daseins, verbunden. Er war Novalis frÝh nahgetreten; D1 Ein lÚsendes Wort lÈßt sich sagen. Dieser metaphysische Zusammenhang wird durch eine

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Textgeschichte und Anmerkungen

Hypothese vorgestellt, an welcher auch Lessings nÝchterner Geist mit besonderer Vorliebe hing, die Schleiermacher in den Reden Ýber die Religion als bildlichen Ausdruck fÝr eine der hÚchsten religiÚsen Wahrheiten bezeichnet hat: der Glaube an bestimmte, sich von neuem im Kreislauf der Zeit und ihres Gesetzes von Geburt und Tod entfaltende IndividualitÈt, an eine durch die Vergangenheit bestimmte Ordnung in den Beziehungen der Seelen zueinander, an immer neue Formen ihres Daseins: was mit uraltem doch unzutreffendem Ausdruck als Seelenwanderung bezeichnet wird. FrÝh war dieser Gedanke Novalis nahegetreten; D2 Ein lÚsendes Wort lÈßt sich sagen. Dieser metaphysische Zusammenhang wird durch eine Hypothese vorgestellt, an welcher auch Lessings nÝchterner Geist mit besonderer Vorliebe hing, die Schleiermacher in den Reden Ýber die Religion als bildlichen Ausdruck fÝr eine der hÚchsten religiÚsen Wahrheiten bezeichnet hat: sie besteht in dem Glauben an eine bestimmte, sich von neuem im Kreislauf der Zeit und ihres Gesetzes von Geburt und Tod entfaltende IndividualitÈt, an eine durch die Vergangenheit bestimmte Ordnung in den Beziehungen der Seelen zueinander, an immer neue Formen ihres Daseins: was mit uraltem doch unzutreffendem Ausdruck als Seelenwanderung bezeichnet wird. FrÝh war dieser Gedanke Novalis nahegetreten; D3 wie D2; statt: Hypothese vorgestellt in D3: Hypothese gestÝtzt. 221, 23 – 222, 3 Dies erklÈrt bis Ewigkeit: E Dies erklÈrt den Zusammenhang des Abschlusses des Ofterdingen mit dem MÈhrchen. Eine von Tieck mitgetheilte Aufzeichnung zeigt daß in dieser Fortsetzung die Gestalten des Romans in die des MÈhrchens aufgelÚst werden sollten; was Tieck dann im Einzelnen mittheilt, klingt geradezu wie eine Fortsetzung des MÈhrchens. Wie kann man denken, diese Dinge, die sich dergestalt an das MÈhrchen anfÝgen, seien eine einfache Fortsetzung der Geschichte? Wie kann man andrerseits dem MÈhrchen einen ganz durchgedachten Sinn absprechen, da Figuren und Begebenheiten des Romans sich spÈter mit ihm verschlingen, um den letzten Sinn des Ganzen auszusprechen? Eine andre Sache ist, eine Auslegung zu geben. Indem man das methodisch thut, verwandelt man die Anmuth des MÈhrchens in eine frostige Allegorie. Gerade darum, weil die Abstrakta und ihre VerknÝpfung der Anschauung des Dichters nicht genÝgen, greift er zu dieser Form; wie also dÝrfte man hoffen, in ihnen den ganzen Sinn festzuhalten? Dagegen wer mit der Naturphilosophie vertraut ist, deren magnetische und galvanische Theorien Ýberall zu Grunde liegen, wird den ihm vorschwebenden Sinn leicht in allem Einzelsten fassen; kaum ein Wort in demselben bleibt dunkel. FÝr den Sinn des Romans ist der Grundgedanke entscheidend. Die Weltepoche in der wir leben zeigt die Herrschaft einer anmaßenden Verstandeswissenschaft (des Schreibers) Ýber die Erde; aus ihr zu erlÚsen, ist die Aufgabe der Poesie (der Fabel); sie, welche sich mit der allumfassenden Weisheit nicht messen darf, welche ehedem den verehrten Mittelpunkt der Welt ausmachte (Sophie), ist der Welt allein gelassen, eine neue Epoche herbeizufÝhren. Das glÝckselige GeschÈft der MÈhrchenphantasie ist nun, diese Zukunft zu erkennen, in der das Todtenreich vernichtet sein wird, der Wechsel von Geburt und Tod (die alten Schwestern) dessen ewiger Grund unsre Affekte sind (die Taranteln) endigt, das Reich des Mondes aus dem ewig die Phantasie quillt (Ginnistan und ihr Vater) sich dem Tag vermÈhlt und den Tod selber zu seinem Spiele macht, die ewig schaffende mÝtterliche Gewalt (die Mutter) im ganzen All lebendig gegenwÈrtig, Empfindung und Seele Ýber alles verbreitet: GegrÝndet ist das Reich der Ewigkeit; D1 wie E, von Orthographie, Interpunktion, einzelnen Sprachformen abgesehen. D2 Dies erklÈrt den Zusammenhang des Abschlusses des Ofterdingen mit dem MÈrchen. Eine von Tieck mitgeteilte Aufzeichnung zeigt, daß in dieser Fortsetzung die Gestalten des Romans in die des MÈrchens aufgelÚst werden sollten. Wie kann man denken, diese Dinge, die sich dergestalt an das MÈrchen anfÝgen, seien eine einfache Fortsetzung der Geschichte? Wie kann man

Novalis.

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anderseits dem MÈrchen einen ganz durchgedachten Sinn absprechen, da Figuren und Begebenheiten des Romans sich spÈter mit ihm verschlingen, um den letzten Sinn des Ganzen auszusprechen? Eine andere Sache ist, eine Auslegung zu geben. Indem man das methodisch tut, verwandelt man die Anmut des MÈrchens in eine frostige Allegorie. Gerade darum, weil die Abstrakta und ihre VerknÝpfung der Anschauung des Dichters nicht genÝgen, greift er zu dieser Form; wie also dÝrfte man hoffen, in ihnen den ganzen Sinn festzuhalten? Dagegen wer mit der Naturphilosophie vertraut ist, deren magnetische und galvanische Theorien Ýberall zugrunde liegen, wird den ihm vorschwebenden Sinn leicht in allem Einzelnen fassen; kaum ein Wort in demselben bleibt dunkel. FÝr den Sinn des Romans ist der Grundgedanke entscheidend. Die Herrschaft des anmaßenden Verstandes muß Ýberwunden werden, die goldene Zeit zurÝckkehren, die Poesie bereitet die ErlÚsung der Welt vor: die ewig schaffende mÝtterliche Gewalt wird einst, im ganzen All lebendig gegenwÈrtig, Empfindung und Seele Ýber alles verbreiten: Weisheit und Liebe werden herrschen: GegrÝndet ist das Reich der Ewigkeit: D3 wie D2, von einem Zeichen abgesehen. Statt Dagegen wer in D2: Dagegen, wer in D3. Diltheys Bearbeitung seiner Anmerkungen Sichtbarer als den Text hat D. die Anmerkungen fÝr Novalis bearbeitet. Die Fassungen fÝr D1 und D2 folgen aufeinander, soweit sie von D3 abweichen; diese letzte der von D. publizierten Fassungen steht oben unter: Anmerkungen Diltheys. NOVALIS. D1 Dieser Aufsatz ist 1865 in den preußischen JahrbÝchern gedruckt. Er erscheint hier, abgesehen von der Berichtigung einiger Schreibversehen und Druckfehler und von einigen kleinen Streichungen, unverÈndert. Die seitdem hervorgetretenen Publikationen Ýber Novalis konnten mich zu ErgÈnzungen nicht bestimmen, da die Absicht des Aufsatzes nicht VollstÈndigkeit der Nachrichten, sondern gegenÝber den damals herrschenden Ansichten Ýber den Dichter eine bessere WÝrdigung desselben, und zwar besonders in bezug auf die Folgerichtigkeit und Bedeutung seiner dichterischen und philosophischen Konzeptionen war. Und gegenÝber den seitdem erschienenen Arbeiten Ýber ihn glaube ich meine Ergebnisse festhalten zu dÝrfen. Ich mÚchte das in bezug auf die EinwÈnde in der bedeutenden und viel benutzten Schrift von H a y m Ýber „Die romantische Schule“ (Berlin, 1870) nÈher begrÝnden. Im Grunde kommt in der Polemik von Haym gegen mich ein durchgreifender Unterschied in unserer Auffassung der romantischen Schule zum Ausdruck. WÈhrend ich die Ýbliche Ansicht von der Verworrenheit, Verschwommenheit, dem Dunkel und den WidersprÝchen in den romantischen Schriften als unhaltbar nachzuweisen und zu zeigen unternommen habe, daß auch das, was uns in den Fragmenten und NachlaßstÝcken vorliegt, einen festen Zusammenhang habe, steht Haym jener Ansicht viel nÈher. 1. Haym (a. a. O. S. 348 ff.) bestreitet, daß die AuflÚsung des Streites der Naturansichten, welche das Fragment „L e h r l i n g e z u S a i s “ gibt, in einer bestimmten Naturauffassung gesucht werden dÝrfe, wie sie mir in der von mir hervorgehobenen Stelle und dem Distichon ausgesprochen scheint. „Die Beziehung der Natur auf das GemÝt ist freilich unzweifelhaft das Thema der ganzen Dichtung. Das jedoch ist gerade das Charakteristische, daß die Art und Weise dieser Beziehung schlechterdings unentschieden bleibt.“ Es will mir nun aber nicht einleuchten, daß ein bedeutender Dichter und scharfsinniger Kopf den Plan einer Dichtung in sich ausgebildet habe, und daß doch dabei das, was den inneren Zusammenhang des Ganzen bestimmt, bei ihm schwankend gewesen wÈre. Wenn der L e h r l i n g nicht weiß, welcher der verschiedenen Ansichten Ýber die Natur er recht geben soll, so folgt daraus nicht, daß N o v a l i s eine bestimm-

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Textgeschichte und Anmerkungen

te Ansicht in seinem Werk nicht habe aussprechen wollen. Richtig ist allerdings, daß das vernÝnftige, raum- und zeitlose Ich im strengen Sinn der Wissenschaftslehre nicht den Mittelpunkt der Dichtung bildet, aber es lÚst sich doch die Diskussion der verschiedenen Naturansichten nicht in eine unbestimmte Beziehung auf das GefÝhl auf, sie verklingt doch nicht in den poetischen Entschluß, „die Natur durch die Stimmung zu verstehen“ (Haym S. 363). Die Worte des „munteren Gespielen“, welche dieser dem grÝbelnden und durch die Unterhaltung verwirrten Lehrling zuruft, daß das Beste Ýberall die Stimmung ist, fließen nur aus der Situation dieser anmutigen Szene. Auch bewegt sich die Unterhaltung durchaus in der Richtung der LÚsung, welche das MÈrchen gibt. Indem die verschiedenen Lehrmeinungen als Ausdruck der verschiedenen Seiten d e s s e l b e n S a c h v e r h a l t e s anzusehen sind, fÝhrt die Dichtung Ýber den Standpunkt Fichtes hinaus; aber sie fÝhrt doch gerade zu einer Naturansicht, welche von Fichte aus in Sicht kommen mußte. Meine Fassung hÈtte in bezug auf das VerhÈltnis zu Fichte etwas vorsichtiger sein kÚnnen, an meiner Ansicht selbst halte ich fest. 2. Eine Èhnliche Differenz besteht in bezug auf die F r a g m e n t e . Haym gibt eine Àbersicht Ýber die Gesamtheit der Aufzeichnungen und ich bestreite nicht, daß es Èußerst wertvoll sein kann, alle Wendungen und Schwankungen in ihnen zu verfolgen und darzustellen. Ich habe nicht beabsichtigt eine solche Aufgabe zu lÚsen. Der klare Zusammenhang meiner AusfÝhrungen zeigt, daß ich nur gegenÝber damals einflußreichen Ansichten in den Fragmenten fruchtbare und klare wissenschaftliche Gedanken aufzeigen wollte. Wie kann mir nun Haym einwenden, daß ich, um „den spezifischen wissenschaftlichen Wert der Fragmente abzuschÈtzen“, „einigen ganz vereinzelten •ußerungen eine Tragweite“ gebe, „die ihnen in dem Gedankenplan ihres Urhebers nicht zukam“ (S. 353)? Und ich muß auch dabei bleiben, daß der Zusammenhang, wie ich ihn darstelle, so richtig kombiniert und daß in ihm wissenschaftlich Wertvolles enthalten ist. Wenn aber Haym es weiter unternimmt, gegenÝber meinem von ihm als „subjektiv“ bezeichneten Verfahren „inmitten aller WidersprÝche und Schwankungen einen festen Àberzeugungskern aufzudecken“ (S. 354), so kann bezweifelt werden, ob in der Formel des „Magischen Idealismus“, in welcher er den Kern der Weltanschauung von Novalis ausgesprochen findet, das geleistet ist. Sie lÈßt sich nur durch einige vereinzelte •ußerungen belegen und die AusfÝhrung zeigt, wie lose die Beziehungen sind, in denen die Masse der in den Fragmenten enthaltenen Ideen zu diesem magischen Idealismus steht. Im unmittelbar folgenden dritten Abschnitt Ýber Heinrich von Ofterdingen wenige Abweichungen von D3 ; der letzte Satz ( Der ganze Plan bis vorliegen.) ist in D2 angefÝgt worden. D2 NOVALIS. Dieser Aufsatz ist 1865 in den preußischen JahrbÝchern gedruckt. Damals waren nur die beiden BÈnde „Novalis’ Schriften“, herausgegeben von Tieck und Friedrich Schlegel, und die Nachlese von Tieck und BÝlow in einem dritten Bande von 1846 vorhanden. Seitdem hat sich unsere Kenntnis des Nachlasses von Hardenberg sehr erweitert, und heute besitzen wir in der schÚnen Ausgabe Minors (Novalis’ Schriften, 4 BÈnde, Jena, Diederichs 1907) einen kritisch zuverlÈssigen Text der Hinterlassenschaft des Dichters. Es handelt sich nun darum, wieweit eine chronologische Bestimmung der Fragmente sowie der Aufzeichnungen Ýber die Fortsetzung der Lehrlinge von Sais und des Heinrich von Ofterdingen erreichbar ist. Minor stellt kritische ErlÈuterungen seiner Ausgabe in Aussicht, und es ist Hoffnung vorhanden, daß dieser beste Kenner der Handschriften auch Ýber die Chronologie der Fragmente Licht verbreiten wird. Dann werden wir eine Grundlage fÝr die zuverlÈssige AuflÚsung der Hauptprobleme haben, die diesen Dichter betreffen. Denn die Ansichten von Novalis sind sehr wechselnd; was er aufzeichnete, ist vielfach abhÈngig von seiner LektÝre; will man die Entwickelung seiner Ideen, ihren Zusammenhang in irgendeiner bestimmten Zeit erfassen, so muß man das VerhÈltnis der einzelnen Schriften von Friedrich Schlegel, Schelling, Baader zu den Niederschriften Hardenbergs unter-

Novalis.

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suchen, und hierfÝr sind komplizierte chronologische Nachforschungen erforderlich. Von: Auch die Aufzeichnungen bis Schrift stehen. Àbereinstimmung mit D3 vgl. oben unter Anmerkungen Diltheys. Der folgende letzte Teil des zweiten Abschnitts (Ýber die Fragmente) lautet in D2: Mit Recht macht Simon („Der magische Idealismus“ 1906, S. 16) geltend, daß auch das bei Novalis der Stelle Ýber Realpsychologie Folgende fÝr meine Auffassung spricht. Ob es jetzt oder kÝnftig mÚglich sei, einen einheitlichen, durch alle Phasen von Novalis hindurchreichenden Zusammenhang seiner Ideen aufzustellen, wie dies Haym und neuerdings ausfÝhrlich und scharfsinnig Simon versucht haben, und ob die spezifische Differenz innerhalb des transzendentalphilosophischen Standpunkts, die Novalis in allen seinen Phasen charakterisiert, im Begriff des magischen Idealismus zu suchen sei, lasse ich dahingestellt. Die Formel knÝpft an Baader an; der Hinweis auf die Harmonie zwischen „dem frÝhesten magischen System“ und „den Resultaten der allerneuesten Philosophie“ findet sich bei Baader S. 74 ff. (W. S. 239 f.). Unter den Stellen des Novalis (Minor III, 16. 97. 107. 333. 384) zeigt S. 97 mindestens eine Wandlung im Sprachgebrauch: „magischer Idealismus“. Der unmittelbar folgende dritte Abschnitt Ýber Heinrich von Ofterdingen stimmt mit D3 bis auf ein Komma nach dem zweiten Gedankenstrich Ýberein.

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Textgeschichte und Anmerkungen

FRIEDRICH H³LDERLIN. Anmerkungen Diltheys0 Der Aufsatz wurde fÝr die e r s t e A u f l a g e neu gearbeitet, nur daß einige Stellen eines frÝheren1 aus Westermanns Monatsheften vom Mai 1867, welcher die dichterische Bedeutung HÚlderlins den Lesern jener Tage nahe bringen wollte, aufgenommen worden sind. Die Darstellung von HÚlderlins Leben ist neben Schwab2 Carl Litzmann (Friedrich HÚlderlins Leben in Briefen von und an HÚlderlin, Berlin 1890) verpflichtet, dessen unermÝdlicher, liebevoller Eifer das von Schwab gesammelte Material erheblich bereichert und teilweise berichtigt hat. Ferner bot Berthold Litzmann eine Sammlung der EntwÝrfe und Fragmente in der vor 10 Jahren im Cottaschen Verlag erschienenen Ausgabe HÚlderlins.3 PersÚnlichen Dank bin ich dann aber Herrn Dr. Wilhelm BÚhm schuldig, dessen wertvolle Einleitung zu der von ihm und Herrn Paul Ernst hergestellten HÚlderlinausgabe (bei Eugen Diederichs, Jena 1905) ich durch die gÝtige Mitteilung des Herrn Erich Schmidt benutzen durfte, und dessen Ausgabe selbst, eben da ich meinen Aufsatz in der ersten Ausgabe abschloß, mir kurz vor ihrem Erscheinen noch mitgeteilt wurde.4 So wurden mir noch die unschÈtzbaren BriefentwÝrfe HÚlderlins an Frau Gontard zugÈnglich. Da ich keine Gelegenheit hatte, von den Handschriften HÚlderlins selbst Kenntnis zu nehmen, und die BegrÝndung der Datierungen in der neuen Ausgabe noch aussteht, habe ich fÝr meine Darstellung mich auf die Kombination des BruchstÝckes „Empedokles auf dem •tna“ mit den wenigen Zeilen bei Litzmann (II 218, e) und dem Aufsatz „Grund zum Empedokles“ (Schwab II, 253) und auf den Ansatz dieser drei StÝcke hinter den anderen Empedoklesfragmenten eingeschrÈnkt.5 Denn so viel geht ganz unzweifelhaft auch ohne die Benutzung der Handschriften aus dem Fortgang der philosophischen Ideen HÚlderlins und aus ihren Beziehungen zu denen Hegels hervor. MÚchte die schÚne Ausgabe dazu dienen, das Interesse weiterer Kreise fÝr HÚlderlins Dichtungen zu erwecken. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser AufsÈtze haben sich nun die Mittel fÝr das Studium der philosophischen Entwickelung HÚlderlins vermehrt. Franz Zinkernagels „Entwickelungsgeschichte [sic] von HÚlderlins Hyperion“ (1907) teilt neue Hyperionfragmente aus der Jenaer Zeit mit (S. 211–225), welche fÝr HÚlderlins philosophische Entwickelung wichtig sind, und gibt fÝr eine Geschichte dieser Entwickelung ausgezeichnete BeitrÈge: besonders hat er den

D.s Anmerkungen umfaßten in EuD1 den ersten Abschnitt mit kleinen Abweichungen; in der folgenden Auflage kam der grÚßte Teil des zweiten Abschnitts (bis S. 380 benutzt.) dazu, der Rest in EuD3. 1 D.s Aufsatz: HÚlderlin und die Ursachen seines Wahnsinnes. In: WM 22 (1867), S. 155–165, unter dem Pseudonym Wilhelm Hoffner. Ges. Schr. XV, 102–116. 2 Friedrich HÚlderlin`s sÈmmtliche Werke, zwei Bde, hrsg. von Ch. Th. Schwab, Stuttgart und TÝbingen 1846. Der zweite Band enthÈlt die biographische Darstellung: HÚlderlin`s Leben. 3 HÚlderlins gesammelte Dichtungen, zwei Bde. Mit biographischer Einleitung hrsg. von B. Litzmann, Stuttgart [1895]. 4 Friedrich HÚlderlin. Gesammelte Werke, drei Bde, Jena und Leipzig 1905. Bd. I und III hrsg. von W. BÚhm; Bd. II hrsg. von P. Ernst. 5 D.s Grundlage fÝr seine Darstellung des Empedokles: Empedokles auf dem Aetna, Li II, 218–233; das BruchstÝck 2. e bei Litzmann, Li II, 218; HÚlderlins Aufsatz: Grund zum Empedokles, Schwab II, 253–262; außerdem vermutlich das BruchstÝck: Die jÝngere TragÚdie, BÚhm III, 112–132, etwas abweichend von: Empedokles auf dem Aetna bei Litzmann.

Friedrich HÚlderlin.

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Einfluß Schellings auf die dem Thaliafragment folgende Ausbildung der im Roman enthaltenen philosophischen Ideen Ýberzeugend dargetan.6 Anderseits ist eine festere Grundlage fÝr die Untersuchung des VerhÈltnisses von Hegel zu HÚlderlin durch meine „Jugendgeschichte Hegels“ (Abhandlungen der KÚnigl. Preuß. Akademie der Wissenschaften vom Jahre 1905)7 und die Ausgabe der Jugendschriften Hegels von Herman Nohl (1907) gewonnen worden.8 Ich behalte mir vor, an einer anderen Stelle auf den philosophischen Entwickelungsgang HÚlderlins nÈher einzugehen, hier habe ich nur dem Text der ersten Auflage S. 342 einen Zusatz (3. Auflage S. 409 f.) zugefÝgt.9 Zinkernagel hat ferner Phasen der Ausbildung des Romans Hyperion auf einleuchtende Weise neu bestimmt (TÝbinger Jahre: kein Fragment; Thaliafragment, Waltershausen; Fragmentengruppe der Jenaer Zeit; eine neue Bearbeitung aus Frankfurt, fÝr die er den Einfluß des William Lovell nachweist) und charakterisiert, und auch das habe ich in einem Zusatz von einigen Zeilen S. 380 benutzt.10 – Eine vollstÈndige Ausgabe alles von HÚlderlin bisher im Druck VerÚffentlichten gibt Marie Joachimi-Dege (1908). Insbesondere wird man zu den theoretischen Schriften immer gern nachdenkend zurÝckkehren.11 Die Datierungen der Fragmente unterscheiden sich vielfach von BÚhm und Zinkernagel. – Zur Chronologie der Hymnen HÚlderlins gibt Emil Lehmann: HÚlderlins Hymnen an die Ideale der Menschheit (1909, Gymnasialprogramm) schÈtzbare BeitrÈge.12

Entstehung und Àberlieferung Zeitliche und inhaltliche NÈhe zu D.s Schrift: Die Jugendgeschichte Hegels lassen vermuten, daß beide Werke gleichzeitig oder teilweise nebeneinander, auf jeden Fall vor November 1905 entstanden sind. D. las Die Jugendgeschichte Hegels in der Preußischen Akademie der Wissenschaften am 23. November 1905 und unterzeichnete mit eben diesem Datum das Vorwort zu EuD1. Die Akademie-Abhandlung wurde sofort zum Druck gegeben, erschien aber erst im April 1906 (vgl. DHe 576). Deshalb weist D. auch erst in den Anmerkungen fÝr EuD2, also 1907, auf sie hin, aller-

6

F. Zinkernagel, Die Entwicklungsgeschichte von HÚlderlins Hyperion. In: Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen VÚlker IC, hrsg. von A. Brandl u. a., Straßburg 1907. 7 W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels. In: Abhandlungen der KÚniglich Preussischen Akademie der Wissenschaften 1905. Gelesen am 23. November 1905, ausgegeben am 24. April 1906. DHe 1–187. 8 Hegels theologische Jugendschriften, hrsg. von H. Nohl, TÝbingen 1907. Nohl geht von D.s Hegelabhandlung aus. 9 Zur Frage der Entwicklung des Pantheismus der drei Stiftler – HÚlderlin, Hegel, Schelling – und des gegenseitigen Einflusses vgl. unten unter Textbearbeitung 262, 10 – 263, 7. 10 D. gibt hier die Seitenzahl in EuD2 an, wo der Zusatz zuerst erscheint. Vgl. unten unter Textbearbeitung 256, 13–21; ein weiterer Hinweis auf Tiecks Lovell: HÚlderlin (1910) 257, 24–26. 11 HÚlderlins Werke in vier Teilen, hrsg. von M. Joachimi-Dege, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1908]. Der erste Teil enthÈlt ein chronologisches Verzeichnis der Gedichte (S. 299–301) und ein Verzeichnis der Erstdrucke (S. 301–304). Der vierte Teil besteht aus den Àbersetzungen der Trauerspiele des Sophokles und dem Kapitel: Theoretische Schriften (I. Der Homerische Achill. II. Grund zum Empedokles. III. Anmerkungen zum ³dipus. IV. Anmerkungen zur AntigonÈ). 12 E. Lehmann, HÚlderlins Hymnen an die Ideale der Menschheit, Siebenunddreißigster Jahresbericht des K. K. Staats-Obergymnasiums zu Landskron in BÚhmen, Landskron 1909, S. 7–62. Lehmann knÝpft ausdrÝcklich an D.s Urteil Ýber die Jugendhymnen HÚlderlins an.

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Textgeschichte und Anmerkungen

dings mit der Jahreszahl der Akademie-Lesung (s. o. Anmerkungen Diltheys). FÝr die ErwÈhnung in den Anmerkungen von EuD1 war es offensichtlich zu spÈt, da sich der Band hÚchstwahrscheinlich im Druck befand und das Erscheinen der Abhandlung unsicher war. E: D1: D2: D2:

EuD1, S. 283–392. EuD2, S. 330–440. EuD3, S. 349–459. In weiteren unverÈnderten Auflagen bis zur heutigen, EuD16.

Textwiedergabe nach D2. Handschriftenbefund Wenige kleine StÝcke liegen in C 88 (235) und C 94 (242) zwischen den Manuskripten zu Novalis und kleinen ergÈnzenden StÝcken zu Goethe bzw. in der NÈhe der die Anmerkungen betreffenden Mitteilungen M. Joachimi-Deges und O. Walzels. Sie werden im jeweiligen Zusammenhang unter dem Stichwort Textbearbeitung wiedergegeben.

Zur Rezeption Eine erste, wenn auch nicht sofort verÚffentlichte Reaktion auf den HÚlderlin-Aufsatz stammt von L. KrÈhe, der ihn im Vergleich mit einem Vortrag des HÚlderlin-Herausgebers W. BÚhm bespricht. – Ein spÈteres, privates Dokument der Wirkung von D.s Buch ist der zwischen Handschriften D.s aufbewahrte Brief der HÚlderlin-Herausgeberin M. Joachimi-Dege vom 12. Januar 1909. Ludwig KrÈhe, Lyrik des 18./19. Jahrhunderts. SchwÈbischer Klassizismus und Romantik: F. HÚlderlin. Der Kern der HÚlderlin-Literatur des Berichtsjahres wird durch zwei Arbeiten dargestellt, die den Charakter einer Etappe in der Forschung Ýber den Dichter tragen. Diese Markbausteine sind einmal von einem Altmeister psychologisch-literarischer Darstellung, das andere Mal von einem JÝnger geliefert worden: von W . D i l t h e y (2020) und W . B Ú h m (2024). D. wÝrdigt jeden Teil des HÚlderlinschen Werkes; die AusfÝhrung der B.schen Arbeit wird durch ihre Tendenz bestimmt, die geistige Entwicklung des Dichters, in ihren Manifestationen aufzuzeigen, als die das hier heranzuziehende Gebiet, die Lyrik, nur sporadisch auftritt. Da die Werke in der Bibliographie nur in unserem Abschnitt verzeichnet sind, sei hier ohne EinschrÈnkung auf dessen Gebiet kurz des Grundinhalts der Schriften gedacht. D.s Aufsatz, als neues Glied einer schon bekannten Trias in der Sammlung „Das Erlebnis und die Dichtung“ angeschlossen, ist in sieben Abschnitte zerlegt. „Heimat und erste poetische Spiele“ schildert der erste, diese bis zu dem Zeitpunkte verfolgend, da sie durch die junge Liebe den eigenen Ton empfangen. „Jugendjahre. Die Hymnen an die Ideale der Menschheit“ werden im zweiten gewÝrdigt. Klopstock, Schubart, vor allem Schiller sind die, an denen sich die Form schult; Schiller gleichzeitig der, der auch auf den Inhalt wirkt. Von seiner Denkweise (Philosophische Briefe, Gedankenlyrik) aus sind die Hymnen zu verstehen. Daneben wirkt die Freundschaft mit den Mitstiftlern Schelling und Hegel ein. HÚlderlins Pantheismus ist hingegen selbstÈndig erwachsen, da er sich v o r den monistischen Wendungen bei Schelling und Hegel bildet. Neue Faktoren bringen die Jahre 1795–1801, die der „Reife des Lebens“ (3. Abschnitt): unter dem mÈchtigen Eindruck und der Anregung Fichtes wird das Fundament jenes Pantheismus verÈndert. Das Prinzip der Liebe, das den Grundgehalt der Hymnen bildete, schwindet; in „der dichterischen Anschauung des Universums“ wird „die Grundlage fÝr das objektive VerstÈndnis des Weltzusammenhangs“ gesehen (S. 309). Und

Friedrich HÚlderlin.

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ein Ferment wurde Fichtes Philosophie in der Arbeit des „Hyperion“. Mit einer Ablehnung von R. Hayms Definition des Romans als eines Seitentriebes der romantischen Poesie wird von D. vielmehr (im Abschnitt „der Roman Hyperion“) seine Bedeutung in der Sichtbarmachung des mit dem Leben an sich gegebenen Leidens gefunden, und das Werk so als der Beginn einer Entwicklungslinie definiert, die ihren HÚhepunkt in Nietzsches „Zarathustra" findet. „In dem Helden des Fichteschen Idealismus entsteht die Erfahrung Nietzsches, dass KraftbetÈtigung als solche letzte und hÚchste Freude sei.“ Und wie ja gerade die Tiefe der Wirkung des „Hyperion“ dem entspringt, dass es hier keine zeitbedingten Erscheinungen gibt, dabei jede individuelle Erfahrung gerade sich in dem symbolischen GefÈsse der Handlung wiederfindet, so hat D. dem prÈgnanten Ausdruck geliehen, wenn er den Gegensatz zum sogenannten philosophischen Roman Wielands und seiner Schule darstellt: „Keine Schablone irgendeiner Art, kein Ýberliefertes System, keine herkÚmmliche AbschÈtzung der Werte des Daseins steht zwischen ihm (‚Hyperion) und dem Dasein selbst. An jeder seiner Personen vollbringt das Leben dasselbe Werk. Was zu jeder Zeit im Leben stattgefunden hat, an jedem Ort, wo es ablÈuft, seinen Charakter ausmacht, will HÚlderlins Roman nicht abstrakt aussprechen, sondern an den Schicksalen seiner Menschen zum Bewusstsein bringen“ (S. 339). „Verzettelt“ sich der Roman noch in der Art seines Ausgangs, so wird das Drama „Empedokles“ in gewaltiger innerer Steigerung geschlossen zum notwendigen Abschluss und zur HÚhe gefÝhrt. Die Analyse des Aufkeimens, der einzelnen AbsÈtze der Entwicklung des Inhalts und der Form, wie sie D. im Abschnitt „Die TragÚdie Empedokles“ gibt, konnte nur tiefstem Miterleben des Werkes entspringen. Durch die Klarheit der Linien Bewunderung weckend, ist sie ein Muster wahrhaft schÚpferischer Kritik, das man vorbildlich nennen mÚchte – wÈre das nicht ein Widerspruch in sich. Frei Ýber jedem Detail, wird tief die Form des Aufbaues aus den von HÚlderlin in den Anmerkungen zu den SophoklesÝbersetzungen entwickelten Begriffen erlÈutert; gezeigt, wie sich die grÚssten ZusammenhÈnge (Fichte, Christentum, Hegel) in Empedokles schneiden, und angedeutet, wohin die neue Idee der TragÚdie weist, deren Wollen „mit den reicheren GefÝhlsmitteln der Musik Richard Wagner im Parsifal verwirklichte“. Doch wie der Dichter hier vor der AusfÝhrung zusammenbrach, ward ihm auch vom Geschick verwehrt, in der Lyrik die letzte neue Form auszugestalten, auf dem Gebiete seiner „unvergÈnglichen, kÝnstlerischen Leistungen“ das Eigentlichste hinzuzufÝgen. Das Wesen dieser Dichtung, ihr Werden aus dem Erlebnis heraus erlÈutert D. (6. Abschnitt: „Die Gedichte“) zunÈchst durch den Vergleich und Kontrast mit und zu dem der Goethischen. Goethe erlebte den Moment, nur an ihn hingegeben; HÚlderlins Natur war diese FÈhigkeit des Einswerden nicht verliehen: er sah zugleich vor- und rÝckwÈrts, sah den einzelnen Moment immer verkettet in dem Ganzen seines leidenden Lebens. „Es ist, als ob der Augenblick, in dem Goethe so mÈchtig lebte, keine wahre RealitÈt fÝr ihn [HÚlderlin] hatte . . . Jederzeit ist ihm versagt geblieben, mit einfachem, starkem GefÝhl in der Wirklichkeit sich auszuleben. Die Sehnsucht nach der grossen griechischen Vergangenheit verdarb ihm das GefÝhl der Gegenwart“ (S. 373). Goethes IndividualitÈt setzte sich selbstkrÈftig mit den Dingen auseinander, indem er ihnen abfragte, was sie zu wirken hatten; HÚlderlin empfand sich gleichsam als Mitding. Wie D. dann weiter den innersten Nerv von HÚlderlins lyrischem Schaffen – das Erheben des „Vorgangs zum bewussten Zusammenhang in allen seinen wesentlichen Gliedern, auch in denen die ihm unmerklich und flÝchtig durch die Seele gingen“ (S. 378) – blosslegt, wie er auch hier, wie in den vorhergehenden Abschnitten, wieder die Idee des Musikalischen, das D. in „der besonderen Form des inneren Vorgangs und seiner Gliederung“ begreift, entwickelt: zeigt einen Meister psychologischer EinfÝhlung, wie er nur selten dem Schaffenden zur Seite geht. Mit einem Hinweis auf das GefÝhl des Genies fÝr einen neuen lyrischen Stil in den Dichtungen aus der Krankheitszeit schliesst D. den letzten Abschnitt „Das Ende“. Aus: Jahresberichte fÝr neuere deutsche Literaturgeschichte, hrsg. von J. Elias u. a., XVI (Jahr 1905), Berlin 1908, S. 438 f.

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Textgeschichte und Anmerkungen

Marie Joachimi-Dege, Dr. phil. Frankfurt a. O., Bahnhofstr. 16.

den 12. I. 09.

Hochverehrter Herr Geheimrat Gestatten Sie mir, daß ich mit dem Ausdruck herzlicher Ergebenheit und Dankbarkeit Ihnen die [von] mir besorgte HÚlderlin-Ausgabe Ýbersende. Sie ist eine bescheidene Frucht von dem, was Sie gepflanzt haben, und es kÚnnte mir nichts Lieberes begegnen, als wenn Sie, hochverehrter Herr Geheimrat Spuren von Ihrem Geiste darin entdecken kÚnnten; denn indem ich Ihre HÚlderlin-Auffassung mir zu eigen machte und Ihre Darstellung vor Augen hatte, ist mir die Arbeit eine Quelle großer Freude geworden. Da mein Mann vielleicht wÈhrend der nÈchsten Monate in Berlin mustern muß, so habe ich die Hoffnung, wÈhrend unserer Anwesenheit dort, einmal in eine von Ihren Sprechstunden kommen zu dÝrfen, um Ihnen den tiefen Dank auszusprechen, den ich fÝr so viel Bleibendes, Grundlegendes, was mir durch ihre Worte und Werke geworden ist, Ihnen schulde. Vielleicht darf ich Ihnen dann auch ein paar Worte Ýber mein persÚnliches Leben sagen, da Sie vor 4 Jahren so freundlichen Anteil daran nahmen. Ich bin, hochverehrter Herr Geheimrat, in herzlichster Ergebenheit Ihre Marie Dege, geb. Joachimi. Archiv der BBAW zu Berlin, C 94 (242), 129r, 129v.

Textbearbeitung D. erwÈhnt selbst, Passagen aus einem frÝhen Aufsatz Ýber HÚlderlin (HW) in den neuen Ýbernommen zu haben. Wenn es sich auch bei diesem Aufsatz, genau genommen, nicht um eine Textbearbeitung handelt, werden einige der zahlreichen BerÝhrungspunkte zwischen beiden AufsÈtzen exemplarisch belegt, darunter zwei auffallend voneinander abweichende Urteile. Die ZusÈtze fÝr die zweite Auflage erscheinen zusammen mit den wenigen handschriftlichen Vorformen oder ErgÈnzungen, nicht dagegen rein orthographische VerÈnderungen oder solche der Wortformen (wie z. B. andre statt andere; Entwicklung statt Entwickelung). 224, 4–6 Wenn bis Saal: HW Wenn er vor Tische in ihrem gemeinschaftlichen Eßsaal auf und abging, sei es gewesen, als schritte Apollo durch den Saal. E Wenn der JÝngling auf und nieder ging unter den Genossen des TÝbinger Stifts, war es als schritte Apollon durch den Saal. D1und D2 wie E. 226, 30–32 „Da ich bis Blumen.“: HW „Da ich ein Knabe war, . . . Da spielt’ ich sicher und gut Mit den Blumen des Hains, Und die LÝftchen des Himmels Spielten mit mir. Und wie Du das Herz Der Pflanzen erfreust, Wenn sie entgegen Dir

Friedrich HÚlderlin.

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Die zarten Arme strecken, So hast Du mein Herz erfreut Vater Helios! und, wie Endymion, War ich Dein Liebling, Heilige Luna!“ E „Da ich ein Knabe war, Da spielt’ ich sicher und gut Mit den Blumen des Hains“ „Lieben lernt ich Unter den Blumen.“ D1und D2 wie E. Die nochmalige VerkÝrzung des Gedichts auf zwei Zitate steht von E an in einem anderen Kontext. 233, 12–13 und die Monologe bis PersÚnlichkeit: Von mehrfachen Parallelen zu Schleiermacher kÚnnten einige in D.s Notizen vorgebildet oder verstÈrkend wieder aufgenommen worden sein: Auf RÝck- und Vorderseite des ersten Blattes aus dem Sonderdruck einer Kant-Besprechung von F. J. Schmidt, PJ (1903), stehen drei EinfÈlle, die, soweit lesbar, hier folgen. Heft und Blatt sind Ýbereinstimmend mit 94, 103 beziffert. C 94 (242), 103r; 103v Die Verbindung des Pantheismus mit der selbstthÈtigen Energie der Person und der Richtung auf die HÚherbildung der Menschheit ist in der stoischen Schule in manchen ZÝgen angelegt: in Shaftesbury tritt sie mit originaler Energie heraus. In dem GefÝhl der Verwandschaft des Menschen mit der Gottheit liegt der Stolz der PersÚnlichkeit gegrÝndet. So sind Reden und Monologe Schleiermachers, Demuth und stolzes GefÝhl in HÚlderlin miteinander innerlich verknÝpft. [Der vorletzte Satz ist nicht kontinuierlich lesbar.] Es ist die Bewegung Erstgeborener die Ýber die Erde mit ihren Angelegenheiten schreiten. [Durch einen Strich getrennt folgt:] HÚlderlin auf seiner HÚhe SubjektivitÈt welche sich die Stille der Seele erkÈmpft indem die Beziehungen zu dem AllgÚttlichen Geduld, Stille unter dem Schicksal hervorrufen. Verwandtschaft mit dem GÚttlichen, tiefer Gegensatz seiner Seligkeit und menschlichen Geschicks, die Geduld der Erde und die der Sterne – aus Allem schÚpft sein GemÝth die Eine Nahrung deren es bedarf. Mithin das Eigene in ihm wie die SubjektivitÈt melancholische Tiefe. [Drei nicht lesbare WÚrter. Durch einen Strich getrennt die dritte Notiz:] Der melodische Stil, die Idealisirung im Wortgebrauch etc.: Alles ist der Ausdruck der Reinheit der Seele in diesem Menschen, der in einer Region unberÝhrbarer Lauterkeit lebt. Was bei Modernen ist bei ihm etc. 235, 17–19 Vielleicht bis hinzu: E Vielleicht kam auch damals schon die Kenntnis Spinozas aus Jacobis Briefen hinzu. D1und D2 Vielleicht kam auch damals schon die Kenntnis Spinozas aus Jacobis Briefen Ýber ihn, die Einwirkung der philosophischen Briefe Schillers hinzu. 236, 37 „Liebe: E Vor „Liebe: „Steigt hinauf am RebenhÝgel, Blickt hinab ins weite Tal! Àberall der Liebe FlÝgel, Hold und herrlich Ýberall! Diese Verse fallen weg in: D1 und D2. 238, 38–40 SpÈtestens bis verÚffentlichte: E Im Sommer 1794 ist das Fragment abgeschlossen worden, das Schiller in der Thalia verÚffentlichte. D1 und D2 SpÈtestens im Herbst 1794 ist das Fragment abgeschlossen worden, das Schiller in der Thalia verÚffentlichte.

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242, 15–23 Blut und Leben. bis Jena: E Blut und Leben. Und auch der Plan eines Èsthetischen Werkes konnte nirgend besser ausgefÝhrt werden als in dieser AtmosphÈre von Weimar und Jena. C 88 (235), 346r, 346v Anfang eines Diktats von der Hand E. Schramms mit Zusatz D.s, offensichtlich oben in E nach Leben einzufÝgen. Wir haben aus dieser Jenaer Zeit Aufzeichnungen, die uns in Ausbildung des Romans hineinblicken lassen. Er versucht einen neuen Anfang und eine neue Form. Der ErzÈhler begegnet dem Hyperion ein Bild der vollendeten PersÚnlichkeit und Denkart desselben wird entworfen, indem erzÈhlt Hyperion seine Lebensgeschichte. Auch eine metrische Bearbeitung des Romans hat damals HÚlderlin vorÝbergehend versucht. D1 und D2 Blut und Leben. Wir haben aus dieser Jenaer Zeit Aufzeichnungen, die uns in die Ausbildung des Romans hineinblicken lassen. Er versucht einen neuen Anfang und eine neue Form. Der Dichter begegnet dem Hyperion, ein Bild der vollendeten PersÚnlichkeit und Denkart desselben wird entworfen, und nun erzÈhlt Hyperion seine Lebensgeschichte. Auch eine metrische Bearbeitung des Romans hat damals HÚlderlin vorÝbergehend versucht. Und der Plan eines Èsthetischen Werkes konnte ebenfalls nirgend besser ausgefÝhrt werden als in dieser AtmosphÈre von Weimar und Jena. 243, 17–29 Es war bis zu haben“: HW „ [. . .] Auch bei S c h i l l e r war ich einige Male, das erstemal eben nicht mit GlÝck. Ich trat hinein, wurde freundlich begrÝßt und bemerkte kaum im Hintergrund einen Fremden, bei dem keine Miene, auch nachher kein Laut etwas Besonderes ahnen ließ. Schiller nannte mich ihm, nannte ihn auch mir, aber ich verstand den Namen nicht. Kalt, fast ohne einen Blick auf ihn, begrÝßte ich ihn und war einzig im Innern und •ußeren mit Schiller beschÈftigt; der Fremde sprach lange kein Wort“. . . so ging es denn weiter. Es war G o e t h e . HÚlderlin war natÝrlich untrÚstlich Ýber einen solchen in der Tat selbst bei einem Schwaben unverzeihlichen Fehlgriff. Als er ihn spÈter in Weimar besuchte, trat er freilich mit Herzklopfen Ýber die Schwelle, war aber Ýberrascht, „man glaube oft einen recht herzguten Vater vor sich zu haben“. E, D1 und D2 darin Ýbereinstimmend, daß der Bericht HÚlderlins zu dem D.s wird. 245, 14 In den letzten Tagen des Jahres 1795 [. . .]: E Im Beginn des Jahres 1796 [. . .]. D1 und D2 In den letzten Tagen des Jahres 1795 [. . .]. 251, 1 Er war HÚlderlin schon in Jena nÈhergetreten: E Er war HÚlderlin schon nÈher getreten, als dieser noch in Frankfurt war. D1 wie D2. 256, 13–21 die Moderne vorbereitet. bis erschienen: E die Moderne vorbereitet. Der Roman Hyperion erschien in zwei BÈnden 1797 und 1799. C 88 (235), 347r Diktat von der Hand E. Schramms, einzufÝgen oben in E nach vorbereitet: Langsam, in immer neuen Umarbeitungen ist der Roman entstanden. Nach den BruchstÝcken von Waltershausen und Jena taucht noch ein merkwÝrdiges aus Frankfurt auf, das die Einwirkung des William Lovell von Tieck auf die Ausbildung der Fabel zeigt. D1 und D2 die Moderne vorbereitet. Langsam, in immer neuen Umarbeitungen, ist der Roman entstanden. Nach den BruchstÝkken von Waltershausen und Jena taucht noch ein merkwÝrdiges aus Frankfurt auf, das die Ein-

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wirkung des William Lovell von Tieck auf die Ausbildung der Fabel zeigt. Ein Brief aus dem Sommer 1798, in dem der Dichter wichtige Worte seines Alabanda und Hyperion zitiert, die fast unverÈndert auch im Schlußteil des Romans sich finden, lÈßt vermuten, daß er um diese Zeit in der Ausarbeitung schon weit vorgeschritten war. Endlich ist der Hyperion 1797 und 1799 in zwei BÈnden erschienen. 257, 24–27 Ich glaube bis an Alabanda [. . .]: E Ich glaube, daß wir durch uns selber sind.“ Aus der grenzenlosen Hingabe des Hyperion an Alabanda [. . .]. D1 und D2 Ich glaube, daß wir durch uns selber sind.“ Eine Figur aus dem William Lovell von Tieck, der Eduard Burton, hat dann auf die lebendigere, farbigere Darstellung des Alabanda Einfluß genommen. Aus der grenzenlosen Hingabe des Hyperion an Alabanda [. . .]. 262, 10 – 263, 7 So trat bis allem Endlichen: E So trat diese seine Wendung in die ³ffentlichkeit erst nach dem Fragment HÚlderlins, das seinen Pantheismus schon enthielt. Der Ausgangspunkt fÝr diesen Pantheismus des Philosophen lag in der allgemeingÝltigen Gesetzlichkeit des Ich, die Ýber das Individuum hinausgreift, und war sonach den Ideen HÚlderlins ganz heterogen. Und die weiteren Schriften Schellings bis zum FrÝhjahr 1797, wo der erste Band des Hyperion erschien, enthalten nichts, das auf die Ausbildung des Pantheismus in unserm Dichter hÈtte wirken kÚnnen. Hegel hatte in der Schweiz an seine theologischen Studien Ideen angeknÝpft, welche eine hÚchst auffallende Verwandtschaft mit denen unsres Romans enthalten. Auch er ging aus von der Entgegensetzung und Entzweiung in allem Endlichen. C 88 (235), 350r, 350v, 351r Diktat von der Hand E. Schramms mit Korrekturen D.s, vermutlich ein Ansatz zur ErgÈnzung und •nderung des vorangehenden Abschnitts in E: Die weitere Ausbildung des Romans Hyperion. WÈhrend derselben scheint HÚlderlin aufmerksam die Arbeiten Schellings verfolgt zu haben. Sie bahnten eben in diesen Jahren der Philosophie einen Weg, der von Fichtes Ichlehre hinÝberfÝhrte zur Lehre vom All-Einen. So beruhigten sie das Gewissen HÚlderlins. Tiefer reicht doch die Verwandtschaft der Ideen Hegels mit denen von HÚlderlin. Sie reicht in die eigensten Ideen dieser beiden. Und zwar darum ist sie so merkwÝrdig, weil jede Art Èußerer Einwirkung von Einem auf den Anderen ausgeschlossen scheint. D1 und D2 So trat diese seine Wendung in die ³ffentlichkeit erst nach dem Fragment des Hyperion in der Thalia, das den Pantheismus HÚlderlins schon enthielt. Der Ausgangspunkt fÝr den Pantheismus des Philosophen lag in der allgemeingÝltigen Gesetzlichkeit des Ich, die Ýber das Individuum hinausgreift. Der Pantheismus HÚlderlins war sonach dem Schellings ganz heterogen. Seine Èußeren Bedingungen lagen in der allgemeinen literarischen und dichterischen Bewegung der Zeit. Shaftesbury, Hemsterhuis, Herder, Goethes Werther und sein Faustfragment von 1790, Schillers philosophische Briefe sind die Marksteine derselben. In ihr entwickelte sich die pantheistische Weltanschauung. Und dieser Bewegung kam nun die dichterische Eigenart HÚlderlins entgegen. Jede Phase des Romans zeigt den Fortbestand der All-Einheitslehre in HÚlderlins Geist. Schon nach dem Thaliafragment entspringt aus den Schicksalen des GemÝtes das große Erlebnis der Befreiung der Seele durch ihre Hingabe an das All, und noch in der letzten Fassung des Romans hat sich hieran nichts geÈndert. Nun gaben ihm aber Kant und Fichte zeitweilig das Problem auf, diesen Standpunkt zu rechtfertigen. Aus der Jenaer Zeit, in der Fichte am stÈrksten auf ihn wirkte, liegt ein merkwÝrdiges Dokument der Arbeit an diesem Problem in dreifacher Fassung uns vor. Er erkennt Fichtes Grundgedanken an; was fÝr das Ich da ist, ist sein PhÈnomen; aber der Enthusiasmus Platons Úffnet ihm die hinter dem endlichen

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Ich liegende intelligible Welt. „Der reine Geist befaßt Sich mit dem Stoffe nicht, ist aber auch Sich keines Dings bewußt, FÝr ihn ist keine Welt, denn außer ihm Ist nichts.“ Wie nun in dem endlichen Ich eben vermÚge seiner EinschrÈnkung das Bewußtsein zuerst hervortritt, wÝrde dies Ich sich verzehren, wenn nicht seiner Liebessehnsucht die SchÚnheiten der Welt entgegenkÈmen. So behauptet der Dichter auch hier Fichte gegenÝber seine All-Einheitslehre. Wie mußte es nun auf ihn wirken, als er, nach der Heimat zurÝckgekehrt, Schelling begegnete, die Schriften desselben dann verfolgte! Eben damals bahnte dieser der Philosophie einen Weg, der vom Ich zum All-Einen hinÝberfÝhrte. Tiefer aber als die Àbereinstimmung mit Schelling reicht doch die Verwandtschaft der Ideen, die HÚlderlin mit Hegel verband. Und diese Verwandtschaft ist um so auffÈlliger, weil eine Èußere Einwirkung Hegels auf den dichterischen Freund erst fÝr den zweiten Band des Hyperion nachweisbar ist. Hegel hatte in der Schweiz an seine theologischen Studien Ideen angeknÝpft, welche eine hÚchst auffallende Verwandtschaft mit denen unseres Romans enthalten. Auch er ging aus von der Entgegensetzung und Entzweiung in allem Endlichen. 263, 11–13 Eine hÚhere bis aufgehoben: E Eine hÚhere Form der Vereinigung des Getrennten ist die Liebe, aber auch in ihr bleiben die Individuen untereinander und von der Welt getrennt. D1 und D2 Eine hÚhere Form der Vereinigung des Getrennten ist die Liebe, aber auch in ihr wird die Trennung der Individuen voneinander und von der Welt nicht aufgehoben. 263, 34–36 Aus dieser bis HÚlderlin bestimmt [. . .]: E HÚlderlin hat dann in den ersten Band des Hyperion GrundzÝge seiner Philosophie eingewoben, deren Verwandtschaft mit Schellings und Hegels spÈteren VerÚffentlichungen noch viel erstaunlicher ist als alles Bisherige. Er bestimmt [. . .]. D1 und D2 Aus dieser inneren Bewegung in HÚlderlin entsprang nun die BegrÝndung der AllEinheitslehre, wie sie in dem fertigen Roman vorliegt. HÚlderlin bestimmt [. . .]. 269, 26–27 Bestimmte bis Homburg: E Wir wissen dann, daß er in der letzten schweren Frankfurter Zeit am Empedokles arbeitete. In Homburg setzte er gleich nach seiner Àbersiedelung die Arbeit fort. D1 und D2 Bestimmte Nachrichten Ýber eine Ausarbeitung der TragÚdie haben wir erst seit seiner Àbersiedlung nach Homburg. 269, 30–31 Er bis lassen: E Und im Juni 1799 war, bis auf den letzten Akt, das Trauerspiel fertig; er dachte damals das Ganze in den ersten StÝcken des von ihm geplanten Journals erscheinen zu lassen. D1 und D2 Er dachte damals das Ganze in den ersten StÝcken des von ihm geplanten Journals erscheinen zu lassen. 287, 40 – 288, 4 HÚlderlin bis nachzuerleben: HW So sagt er in dem Gedicht „Archipelagus“, dem großen Klagegesang auf die untergegangene Welt der Griechen, der in dem vollsten und melodischsten Klang sich ergießt, welchen je Germanier in deutscher Zunge hatten: Aber nÈher zu euch, wo eure Haine noch wachsen, Wo sein einsames Haupt in Wolken der heilige Berg hÝllt, Zum Parnassos will ich, und wenn im Dunkel der Eiche Schimmernd, mir Irrenden dort Kastalias Quelle begegnet,

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Will ich, mit TrÈnen gemischt, aus blÝtumdufteter Schale Dort, auf keimendes GrÝn, das Wasser gießen, damit doch, O ihr Schlafenden all! ein Totenopfer euch werde. Dort im schweigenden Tal, an Tempes hÈngenden Felsen, Will ich wohnen mit euch, dort oft, ihr herrlichen Namen! Her euch rufen bei Nacht, und wenn ihr zÝrnend erscheinet, Weil der Pflug die GrÈber entweiht, mit der Stimme des Herzens Will ich, mit frommem Gesang euch sÝhnen, heilige Schatten! Bis, zu leben mit euch, sich ganz die Seele gewÚhnet. Oder er fragt: Wo aber wohnt ihr, liebe Verwandten, Daß wir das BÝndnis wiederbegehn und der teuern Ahnen gedenken? Dort an den Ufern, unter den BÈumen Jonias, in Ebenen des Kaysters, Wo Kraniche, des •thers froh, Umschlossen sind von fernhindÈmmernden Bergen, Dort wart auch ihr, ihr SchÚnsten! oder pfleget Der Inseln, die mit Wein bekrÈnzt, voll tÚnten von Gesang; . . . Und wie ergreifend dann weiter: O Land des Homer! Am purpurnen Kirschbaum oder wenn Von dir gesandt im Weinberg mir Die jungen Pfirsiche grÝnen, Und die Schwalbe fernher kommt und vieles erzÈhlend An meinen WÈnden ihr Haus baut, in Den Tagen des Mais, auch unter den Sternen Gedenk ich, o Jonia, dein! E HÚlderlin dagegen verlor in Dithyramben wie „der Archipelagus“ den Maßstab fÝr das was in Einem inneren Vorgang, auch da wo dieser in der Welt der Ideen entspringt, von Stimmungen und Anschauungen verknÝpft sein kann. Wir vermÚgen dann nicht mehr das umfangreiche Ganze nachzuerleben. D1 und D2 wie E. 293, 22–29 Im Juni bis sich zeigte: HW So also trat er die Reise an, in fliegender Hast, zu Fuße. In den heißesten Sommertagen hat er zu Fuß Frankreich von einer Grenze zur anderen durcheilt, auch Paris sah er flÝchtig. In seinem Bericht grenzt das ZÝgellose der Anschauung und des Ausdrucks an Wahnsinn. „Ich habe die traurige, einsame Erde gesehen, die HÝtten des sÝdlichen Frankreichs und einzelne SchÚnheiten, MÈnner und Frauen, die in der Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen sind.“ Dann: „in den Gegenden, die an die Vend¹e grenzen, hat mich das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein MÈnnliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und Gliedern und das im TodesgefÝhl sich wie in einer VirtuositÈt fÝhlt und seinen Durst zu wissen erfÝllt“. Auch in der Exaltation dieses Briefes ist doch nichts geradezu Sinnloses. Ja, ein tiefer Blick in die Stellung der Dichter nach Goethe blickt durch, wenn er – ganz an verwandte •ußerungen Kleists erinnernd – schreibt: „Ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden“ (wie er sich Èhnlich frÝher zu Schiller und den Alten verhal-

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ten), „sondern daß die Sangart Ýberhaupt wird einen andern Charakter nehmen, und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen vaterlÈndisch und natÝrlich, eigentlich originell zu singen.“ DemgemÈß treten auch einige der in Bordeaux und auf der Reise konzipierten Bilder ganz klar und mit einer ans Herz dringenden einfachen Gewalt in der Anschauung spÈter hervor, in Gedichten, deren schroffe, subjektive Wendungen uns nicht immer verstÈndlich sind. So beginnt das Gedicht „Andenken“: Der Nordost wehet, Der liebste unter den Winden Mir, weil er feurigen Geist Und gute Fahrt verheißet den Schiffern. Geh’ aber nun und grÝße Die schÚne Garonne, Und die GÈrten von Bordeaux Dort, wo am scharfen Ufer Hingehet der Steg und in den Strom Tief fÈllt der Bach, darÝber aber Hinschauet ein edel Paar Von Eichen und Silberpappeln; Noch denket das mir wohl und wie Die breiten Gipfel neiget Der Ulmwald, Ýber die MÝhl’, Im Hofe aber wÈchset ein Feigenbaum. An Feiertagen gehn Die braunen Frauen daselbst Auf seidnen Boden, Zur MÈrzenzeit, Wenn gleich ist Nacht und Tag, Und Ýber langsamen Stegen, Von goldenen TrÈumen schwer, Einwiegende LÝfte ziehen. Es sind ZÝge und Stellen in diesen Gedichten, nach der RÝckkehr von Bordeaux verfaßt, welche Ýber alles gehen, was er vordem gedichtet. E Im Juni schon trat er die RÝckreise an, wohl wieder zu Fuß. Vielleicht daß ihn auf der Wanderung durch das glÝhende sÝdliche Frankreich ein Hitzschlag traf; „das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre EingeschrÈnktheit und Zufriedenheit hat mich bestÈndig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen“. So brach die geistige Krankheit Ýber ihn herein, in der er zurÝckgekehrt den Seinen sich zeigte. D1 und D2 wie E. 293, 32 – 294, 2 Er war bis augenscheinlich: HW In dieser Zeit, in welcher ihn auch eine Vorlesung aus dem Homer, wo die Tobsucht ausbrach, wunderbar besÈnftigte, begann er auch eine Àbersetzung des Sophokles. Vor mir liegen die beiden ersten Hefte derselben, welche zum Druck gelangten, „³dipus“ und „Antigone“, beide 1804 erschienen; sie sind nicht in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen und heute schon zu einer großen Seltenheit geworden. Man bemerkt, wie ihm hier zuweilen die Geduld

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versagt und er ein ihm entfallenes griechisches Wort beliebig ÝbertrÈgt, dann wieder, wie er bekannte WÚrter mit Èhnlich klingenden verwechselt, wie seine Gedanken zuweilen mehrere Zeilen vorausspringen und Worte heraufholen. Dazwischen ist manches bewundernswÝrdig Ýbersetzt. Noch mehr Aufmerksamkeit mÝssen die zugefÝgten „Anmerkungen“ auf sich ziehen, in welchen er die sehr richtige, damals Úfter beobachtete Tatsache zum Ausgangspunkte nimmt, daß die antike Poesie eine feststehende, durchgebildete Technik besaß, nach welcher sie arbeitete, daß demgemÈß dort leicht eine umfassende, geordnete, kÝnstlerische ProduktivitÈt entstand, wÈhrend bei uns es der Poesie ganz an der Schule und am HandwerksmÈßigen fehlt, daß namentlich ihre Verfahrungsart berechnet und gelehrt und, wenn sie gelernt ist, in der AusÝbung immer zuverlÈssig wiederholt werden kann. Diese Technik nennt er den „gesetzlichen KalkÝl“. Und er unternimmt nun, denselben nÈher zu entwickeln. Er ist ein „Rhythmus der Vorstellungen“: zwei Grundformen dieses Rhythmus’ stellt er auf: wenn die ersten Vorstellungen mehr durch die folgenden hingerissen sind im Bau des Ganzen, wenn also die Vorstellung vorandrÈngt, so entsteht die erste; wenn dagegen die folgenden mehr beherrscht sind von den anfÈnglichen, dann entwickelt sich die zweite Form. So geistvoll dieser Ansatz ist, so schwer ist es, die Behandlung des Problems selbst, wie sie ihm vorschwebte, zu verstehen. Er bezeichnet die ganze Aufgabe auch als „poetische Logik“. E Er war damals noch imstande sich geistig zu beschÈftigen. Er Ýbersetzte den ³dipus Tyrannos und die Antigone des Sophokles, und die Àbersetzung erschien 1804. Sein rhythmisches GefÝhl ist unvermindert, seine Sprache tÚnt und er gewinnt ihr erschÝtternde Laute des Schmerzes ab, aber die Herrschaft Ýber das Griechische hat er verloren, er verwechselt bekannte WÚrter mit Èhnlich klingenden, die Geduld versagt ihm und er ÝbertrÈgt dann willkÝrlich. In den Anmerkungen liegt die Poetik seiner besseren Zeiten als ein TrÝmmerhaufen vor uns. Es reizt in sie ganz einzudringen, doch ermÝdet und enttÈuscht steht man dann davon ab, in Sinnlosem einem verborgenen Tiefsinn nachzugehen. Seine UnfÈhigkeit einen logischen Zusammenhang festzuhalten ist augenscheinlich. D1 und D2 wie E. 294, 34–40 Wenn der erworbene bis Nietzsche!: HW Ohne daß eine fixe Idee hervortrat, lÚste sich sein Vorstellungs- und GefÝhlskreis nach der ungeheuren Spannung derselben der Welt gegenÝber auf. Eine totale Abspannung trat ein. DemgemÈß gehÚrte sein Irrsinn jener Form einer aus ungeheurer ErschÚpfung hervorgehenden Zerstreutheit des Geistes an, welche sich auch bei Robert Schumann ausbildete. Diese Form des Irrsinns ist total unheilbar. Seine Vorstellungen brachen ab, ließen ihn im Stich, sprangen vom GesprÈch ab, indem sozusagen ein Punkt der ErmÝdung eintrat, an welchem dann der Zusammenhang nicht mehr standhielt. E Wenn der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens, wie er an die Funktionen des Gehirns gebunden ist, zu versagen beginnt, dann erhÈlt die Gestaltung der einzelnen Bilder eine eigene UnabhÈngigkeit und Energie. Ideen mÚglicher Wirkungen treten aus dem Rahmen der festgefÝgten Bedingungen einheitlicher Kunstform heraus. Unreguliert gehen GefÝhl und Phantasie ihre exzentrische Bahn. Wer gedÈchte hierbei nicht an Robert Schumann oder an Nietzsche! D1 und D2 wie E. Diltheys Bearbeitung seiner Anmerkungen Zur VervollstÈndigung der Anmerkungen zum Aufsatz Ýber HÚlderlin fÝr EuD2 existieren EntwÝrfe, teils Diktate von E. Schramms Hand, teils von D. selbst (C 88, 337r-339r), handschriftlich bezeichnet mit 1. und 2. Auffallend viele Streichungen und NeuansÈtze. FÝr Nr. 2. ist ein weiteres BruchstÝck vorhanden (C 88, 352r), ebenfalls von Schramm und D.

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C 88 (235), 337r-339r Von E. Schramms Hand mit ErgÈnzungen D.s: Zusatz zu Seite 405, nach dem jetzigen Schluß. Zuerst ein leichter Strich. Dann: 1. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser AufsÈtze haben sich die Mittel fÝr das Studium der philosophischen Entwicklung HÚlderlins vermehrt. Franz Zinkernagels „Entwicklungsgeschichte von HÚlderlins Hyperion“ (1907) theilt neue Hyperionfragmente aus der Jenaer Zeit mit (S. 211–225), welche fÝr HÚlderlins philosophische Entwicklung wichtig sind, und er giebt ausgezeichnete BeitrÈge zu einer solchen: besonders hat er den Einfluß Schellings auf die dem Thaliafragment folgende Ausbildung der im Roman enthaltenen philosophischen Ideen auf fÝr mich Ýberzeugende Art dargetan. Andererseits ist eine festere Grundlage fÝr die Untersuchung des VerhÈltnisses von Hegel zu HÚlderlin durch meine „Jugendgeschichte Hegels“ (Abhandlungen der KÚnigl. Preuß. Akademie der Wissenschaften vom Jahre 1905) und die Ausgabe der Jugendschriften von Herman Nohl (1907) gewonnen worden. 2. Ich behalte mir vor an einer anderen Stelle auf den philosophischen Entwicklungsgang HÚlderlins nÈher einzugehen, hier habe ich dem Text der ersten Auflage nur S. 342 einen Zusatz zugefÝgt. Zinkernagel hat ferner Phasen der Ausbildung des Romans Hyperion auf einleuchtende Weise neu bestimmt (TÝbinger Jahre: kein Fragment, Thaliafragment, Waltershausen, Fragmentengruppe der Jenaer Zeit, eine neue Bearbeitung aus Frankfurt, fÝr die er den Enfluß des William Lovell nachweist) und charakterisirt, und auch das habe ich in einem Zusatz von einigen Zeilen p. 329 benutzt. C 88 (235), 352r 2. So habe ich dem Text der ersten Auflage nur auf Seite 342 einen Zusatz eingefÝgt. Àbrigens verdanken wir Zinkernagel jetzt auch die Einsicht in die Einwirkung des Lovell von Tieck auf den Hyperion HÚlderlins. FÝr EuD3 hat D. UnterstÝtzung bei O. Walzel und dessen SchÝlerin, M. Joachimi-Dege, gesucht. Beide hatten offensichtlich die Aufgabe, neue Literatur zu sichten und mitzuteilen, ob TextÈnderungen nÚtig seien. WÈhrend M. Joachimi-Dege konkrete VorschlÈge macht, nennt Walzel Seitenzahlen, Ýberwiegend aus dem Novalis-Aufsatz, und stellt „Bemerkungen“ zu HÚlderlin in Aussicht. Aus M. Joachimi-Deges Zuarbeit (C 94, 116–124, einseitig beschrieben, Exzerpte, beurteilende Zusammenfassungen, Brief an D. vom 19. August 1910) wird ihr Vorschlag fÝr die BerÝcksichtigung des Aufsatzes von E. Lehmann wiedergegeben. C 94 (242), 116r Als ErgÈnzung zu S. 455. 1909 ‚HÚlderlin’s Hymnen an die Ideale der Menschheit von Dr. Lehmann. Sonderabdruck aus dem XXXVII. Jahresbericht des k. k. Staatsgymnasiums zu Landscron. Lehmann bietet eine kritisch untersuchende und synthetisch darstellende Forscherarbeit, die sich mit den Hymnen und den ihnen nahe stehenden Jugendgedichten beschÈftigt. Er bringt verschiedene Berichtigungen und Anregungen fÝr notwendige Berichtigungen betreffs der Datierung der Hymnen und Gedichte. Er verwendet seine Resultate mit denen der Èlteren Forschung fÝr die ausfÝhrliche Entwicklungsgeschichte des jungen HÚlderlin in TÝbingen. Im Einzelnen wird nachgewiesen, was in „Erlebnis und Dichtung“ schon gesagt ist. Von Walzel sind die letzten Seiten eines Briefs vorhanden, der vielleicht auch den Anmerkungsvorschlag fÝr den Novalisaufsatz in EuD3 enthielt und ebenso auf 1909/10 zu datieren wÈre. C 94 (242), 128r, 128v, 130r Dagegen gestatte ich mir hier wie in dem Aufsatz Ýber Novalis ein paar formale VorschlÈge, um derentwillen ich auch besonders um Verzeihung bitte. Ich selbst lasse gern meine Arbeiten von anderen durchsehen und bin da besonders Frau Dr. Dege-Joachimi verpflichtet, die sehr gut heraushÚrt, wo der unvorbereitete Leser stocken kann. In dem Sinne wage ich es, an verschiedenen Stellen (S. 254. 262. 268. 291. 293. 335. 413) VerÈnderungen stilistischer Art

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nahezulegen, die das rasche VerstÈndnis erleichtern. Das ist ja sehr pedantisch und schulmeisterlich von mir; aber ich weiß auch, wie gern die große Mehrzahl der aufmerksamen Leser an solchen Stellen hÈngen bleibt. Die unaufmerksamen lesen drÝber weg. Aber das soll doch auch nicht sein. Um den Druck nicht noch lÈnger aufzuhalten, lasse ich das Druckmanuskript gleichzeitig an Ihre werte Adresse zurÝckgehen, behalte mir aber vor, zu HÚlderlin noch einige Bemerkungen zu machen. Ich lese den Aufsatz Anfang nÈchster Woche noch einmal durch. Er ist ja so reich und so schÚn, daß, wenn man ihn nach lÈngerer Zeit wiederliest, man zu sehr gefesselt ist, um kritische Randbemerkungen zu machen. Im Sinn des Eingangs dieses Briefes muß ich mein VerstÈndnis noch herunterschrauben, um EinwÈnde machen zu kÚnnen. Vielleicht aber komme ich auch dann nicht so weit. Genehmigen Sie freundlichst, hochverehrter Herr Geheimrat, alle diese offenen Bekenntnisse und nehmen Sie sie auch, wie sie gemeint sind, als einen ehrlichen Versuch der Aufgabe nachzukommen, die Sie mir gestellt haben. In ausgezeichneter Verehrung ergebenst Oskar Walzel

Anmerkungen Dem Nachweis der Zitate liegen die von D. in seinen Anmerkungen genannten Quellen zugrunde; die Ausgabe B. Litzmanns wird allerdings, auch fÝr Datierungen, in der erweiterten Form von 1897 herangezogen. Da D. die Arbeiten des frÝhen Hegel vermutlich aus den Handschriften, bzw. nach seiner Hegelabhandlung zitiert, werden nach MÚglichkeit die entsprechenden Stellen der Abhandlung, dann die Zitate nach der von D. angeregten Ausgabe Nohls angegeben. 224, 4–6 Wenn bis Saal: „Seine Studiengenossen sagten spÈter von ihm, wenn er in ihrem gemeinschaftlichen Eßsaal vor Tische auf- und abgegangen, sei es gewesen, als schritte Apollo durch den Saal.“ CLi 70; auch Schwab II, 274; Li I, 12. Vgl. HW 103. 224, 6–10 Einem Knaben bis Erscheinung: Dazu die Erinnerung von Ph. J. von Rehfues, die C. Litzmann mit Quellenangabe wiedergibt: „Der in TÝbingen geborene, um 9 Jahre jÝngere Rehfues, nachmaliger Curator der UniversitÈt Bonn, erzÈhlt aus seinen Erinnerungen an die MusikauffÝhrungen im Stift, an denen er als ‚Singknabe Theil nahm: ‚MerkwÝrdiger Weise ist mir von diesen MusikauffÝhrungen Niemand im GedÈchtniß geblieben, als der unglÝckliche HÚlderlin. Er spielte die erste Violine, und ich hatte als erster Sopran neben ihm meine Stelle. Seine regelmÈßige Gesichtsbildung, der sanfte Ausdruck seines Gesichts, sein schÚner Wuchs, sein sorgfÈltiger reinlicher Anzug und jener unverkennbare Ausdruck des HÚheren in seinem ganzen Wesen sind mir immer gegenwÈrtig geblieben. In meinem GedÈchtniß steht er, mit der Violine in der Hand und dem Ausdruck der nickenden Hinwendung zu mir, wenn ich mit meiner Stimme einhalten sollte.“ CLi 70. 224, 15 das Seherische: Auffallend die Ableitung dieser Gabe HÚlderlins aus der Lauterkeit seines Wesens. Vgl. HÚlderlin (1910) 284, 19; entsprechende Stellen in Goethe (1910) 128, 38 – 129, 2; auch 162, 9–12; in Ges. Schr. XXV, Thema probandi. 224, 24 – 225, 2 Wie hÈtte bis Einsamkeit: Gleichbleibend an D.s ErklÈrungsmuster der Eigenart der deutschen Dichtung die durch politisch-soziale VerhÈltnisse erzwungene Wendung der Dichter nach innen. Vgl. Lessing (1910) 42, 2–29; Goethe (1910) 154, 30 – 155, 14; Novalis (1910) 186, 34 – 187, 35.

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225, 4–5 das in allen Dingen schlÈft: „SchlÈft ein Lied in allen Dingen“, der erste Vers von Eichendorffs Vierzeiler: WÝnschelrute (e 1838). 225, 8–9 Rhythmus des Lebens selbst: Weiterer, variierender Gebrauch dieser Wendung 257, 8; 260, 12; 265, 23; 276, 32; auch 291, 38; 295, 9. Vgl. Rhythmus des Seelenlebens. Goethe (1910) 153, 7; auch Melodie des Lebens selber. Ebd. 152, 11. Dazu unten Anm. 276, 27 – 277, 6. 225, 10–21 tiefstes Erlebnis bis gegenwÈrtig: Zum mÚglichen Inhalt von Erlebnissen vgl. HÚlderlin (1910) 237,11–14; 243, 3; 252, 21–24; 256, 39 – 257, 6; 267, 32–37; 272, 9–13. Lessing (1910) 42, 30 – 43, 3; Goethe (1910) 148, 15 – 149, 9 u. Ú. 225, 24 Nietzsche: Der erste der mehrfachen vergleichenden Hinweise D.s auf Nietzsche innerhalb dieses Aufsatzes. Gemeinsam sei Nietzsche und HÚlderlin: ihr aristokratisches Bewußtsein (261, 28) und ihr Lebensende (294, 40); Rhythmik und MusikalitÈt ihres Stils; die Kunstform des Hyperion fÝhre zu der des Zarathustra (265, 19 – 266, 12). 225, 25 Baudelaire: Korr. aus: Beaudelaire. 225, 25 Verlaine bis Swinburne: Erste oder umstrittene Sammlungen dieser Lyriker: Ch. Baudelaire, Les Fleurs du Mal (1857). P. Verlaine. Pomes saturniens (1866). A. Ch. Swinburne, Poems and Ballads (1866). 225, 29–30 „Wie bis Herzens.“: D. kombiniert zwei Stellen aus: Hyperion I, 2. Zweiter Brief. Li II, 104. Statt Gesang (Z. 29): „Gesange“. Die zitierte Wendung am Schluß geht vermutlich zurÝck auf: „Trauert nicht, wenn eures Herzens Melodie verstummt!“ Ebd. 107. 225, 32 – 226, 4 HÚlderlin bis geboren: VerkÝrzt aus CLi 3. 225, 34 Regiswindis: Ortsheilige, Tochter des Markgrafen Ernst von Lauffen a. N., von ihrer Amme erwÝrgt. Anfang 9. Jh. 226, 7–10 Aber bis verlassen habe: Die spÈtere •ußerung steht im Brief HÚlderlins an seine Mutter vom 18. Juni 1799 aus Homburg, zitiert CLi 6, und heißt nach CLi 497: „Sie werdens kaum mir glauben, aber ich erinnere mich noch zu gut. Da mir mein zweiter Vater starb, dessen Liebe mir so unvergeßlich ist, da ich mich mit einem unbegreiflichen Schmerz als Waise fÝhlte, und Ihre tÈgliche Trauer und ThrÈnen sah, da stimmte sich meine Seele zum erstenmal zu diesem Ernste, der mich nie ganz verlies und freilich mit den Jahren nur wachsen konnte.“ 226, 16–17 auf einem Felsen bis vorgetragen: Berichtet in CLi 8. F. G. Klopstock, Hermanns Schlacht (1769). 226, 30–32 „Da bis Blumen.“: AusfÝhrlicher zitiert in HW 103. HÚlderlins Gedicht gehÚrt allgemein zur Darstellung seiner Kindheit und Jugend. Vgl. Schwab II, 267; CLi 8; Li I, 9; JoachimiDege (wie Fußnote 11 zu D.s Anm.) I, S. XII. 226, 39–40 Gern bis vernahm“: Die Verse vom Heroentode gehÚren mit kleinen Abweichungen

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zu den Lesarten der ersten Fassung von HÚlderlins Ode: Der Tod fÝrs Vaterland, handschriftlich Ýberliefert unter dem Titel: Die Schlacht. D.s Quelle konnte nicht ermittelt werden. 227, 19–23 Es finden bis schmÝcken: Vgl. HW 104; einige Gedichttitel werden genannt in CLi 13 f.: Die Nacht; An M. B.; Dankgedicht an die Lehrer; Das menschliche Leben, enthalten in Li I, 33–37. 227, 23–24 ein sehr sentimentales bis herabfleht: Die Meinige (1786). Li I, 37–42. 227, 30–31 seine Luise bis spazieren: Aus dem Brief Louise Nasts an HÚlderlin wahrscheinlich MÈrz/April 1789 aus Maulbronn: „[. . .] nirgents ist mir wÚhler als wann ich Abends auf den Kirchhof ganz allein spazieren gehe, [. . .].“ CLi 118. 227, 31–32 in ihrem bis ihn“: Im Brief HÚlderlins an Louise Nast aus der letzten Zeit in Maulbronn, April 1788 : „O Liebe! an Gott und an mich denkst Du in Deinem StÝbchen?“ CLi 49. 227, 34–36 schließlich bis trennt: Brief HÚlderlins an Louise Nast aus TÝbingen, spÈtestens Anfang 1790: „Der unÝberwindliche TrÝbsinn in mir – aber lache mich nicht aus – ist wol nicht g a n z , doch m e i s t – unbefriedigter Ehrgeiz.“ CLi 120. 227, 37–39 Mit bis wieder aus“: Aus dem Brief HÚlderlins an Louise Nast, wohl April 1788 noch aus Maulbronn. Großschreibung am Satzanfang; „reim’“ und „lÚsch’“. CLi 49. 228, 4–10 Diese Prosa bis weinen: Vgl. alle Briefe an I. Nast, darunter den vom Herbst 1787 aus Maulbronn: „Nur umarmen mÚcht’ ich Dich jezt – an Deinem Halse FreudentrÈnen weinen – [. . .].“ CLi 40. 228, 16–19 In das alte bis trugen: Vgl. damit D.s Darstellung der Ýberwiegend fÚrderlichen Wirkung des Stifts auf Hegel. DHe 8. 228, 19–21 MÚnchskutte bis einhergehen: Beschreibung der Kleidung im Stift CLi 68. 228, 34 – 229, 1 Die Besseren bis wurde: Die vier Theologen in dieser Reihenfolge auch in DHe 10. Genaueres zu dem TÝbinger Theologen Storr ebd. 10 f. G. Ch. Storr, Professor fÝr Theologie in TÝbingen vertritt die Èltere TÝbinger Schule. J. A. NÚsselt, G. Ch. Knapp und J. H. Tieftrunk lehrten in Halle. NÚsselt und Knapp waren SchÝler Semlers; Tieftrunk AnhÈnger Kants. 229, 1 „Zelle“: Im Brief HÚlderlins an Neuffer vom Herbst 1792 aus TÝbingen: „Da siz ich fast jede Nacht auf unsrer alten Zelle, und denk’ an den mancherlei Verlust des Tages, und bin froh, daß er vorÝber ist!“ CLi 86 und 154. 229, 8–11 Sein bis Befriedigung: L. Neuffer aus Stuttgart und R. Magenau aus MarkgrÚningen, beide Stiftler, beide junge Dichter, schlossen Ende 1788 mit HÚlderlin einen Freundschaftsbund. CLi 74 f. 229, 11 Bundesbuch: „‚Das Bundesbuch, in welches sie bei den ZusammenkÝnften – an den sogenannten Aldermannstagen – ihre Gedichte eintrugen, ist heute noch vorhanden.“ CLi 74 f. Litz-

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mann nennt auch die Gedichte HÚlderlins, die das Bundesbuch enthÈlt: Lied der Freundschaft; Lied der Liebe; An die Stille. 229, 12–14 Schubart bis auf: WÈhrend des Osterbesuchs 1789 bei Neuffer in Stuttgart fand die Begegnung HÚlderlins mit Ch. F. D. Schubart und vielleicht mit G. F. StÈudlin statt. CLi 75. 229, 14–17 StÈudlin bis Verse: G. StÈudlin, Kanzleiadvokat, selber Dichter und von 1782 bis 1787 Herausgeber des SchwÈbischen Musenalmanachs. Einige der TÝbinger Hymnen HÚlderlins nahm er in den Musenalmanach fÝrs Jahr 1792 (v 1791) auf und in die Poetische Blumenlese fÝrs Jahr 1793 (v 1792). 229, 22–24 „Ich bis nimmer!“: Erste Strophe aus dem Gedicht: Der Lorbeer (1789), so der Titel in Li I, 89. Statt Ewig (Z. 23): „TÈglich“. 229, 24–26 „Lebt bis Spielgenossen!“: Aus der letzten Strophe von: Einst und Jetzt (1789). Li I, 87. 229, 32 Matthissons: F. Matthisson, beliebter Dichter seiner Gegenwart, eine Zeitlang Bibliothekar in Stuttgart; seine Lyrik wurde von Schiller gelobt. Bekanntschaft mit HÚlderlin. CLi 88. 229, 35–36 Neuffers „AbendschwÈrmerei“: Vermutlich ist das Gedicht: Abendphantasie gemeint. In: Ludwig Neuffer’s Poetische Schriften I. Lyrische Gedichte, Leipzig 1827, S. 19 f. 229, 36 „Gott der Jugend“: HÚlderlin berichtet am 10. Oktober 1794 Neuffer von der Umarbeitung des Gedichts mit dem spÈteren Titel: Der Gott der Jugend. 1795 schickte er es an Schiller, der es im Musenalmanach fÝr 1796 verÚffentlichte. Li I, 142. 230, 1 Hymnen an die Ideale der Menschheit: Die Bezeichnung stammt offensichtlich von D., vgl. Lehmann (wie Fußnote 12 zu den Anm. D.s) 7; gemeint sind die TÝbinger Hymnen. 230, 8–13 Hegel bis entgegen: Zur Begegnung HÚlderlins mit Hegel vgl. DHe 11 f. und CLi 78–84. ErwÈhnung Hegels im Brief an die Schwester, vermutlich vom November 1790 aus TÝbingen: „Heute haben wir grossen Markttag. Ich werde, statt mich von dem GetÝmmel hinÝber und herÝberschieben zu laßen, einen Spaziergang mit Hegel, der auf m. Stube ist, auf die Wurmlinger Kapelle machen, wo die berÝmte schÚne Aussicht ist.“ CLi 127. 230, 13–14 Auch Schelling bis Stift: Im Oktober 1790 trat der fÝnfzehnjÈhrige Schelling ins TÝbinger Stift ein. CLi 84 f. 230, 24–25 Sie lasen bis war: Àber die gemeinsame LektÝre mit Hegel vgl. CLi 80 f. Briefe Jacobis: [F. H. Jacobi], Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785. Die zweite erweiterte und damit wichtige Auflage erschien 1789, wie angegeben. 230, 26–28 Dieses Buch bis geschrieben: Zum umstrittenen Spinozismus Lessings vgl. Lessing (1910) 101–106. Litzmann verzeichnet das Datum, Februar 1791, und als weiteren (eigentlichen) Eintrag HÚlderlins in Hegels Stammbuch Goethes Satz aus Iphigenie II, 1 so: „Lust und Liebe sind Fittige zu großen Thaten.“ CLi 82. Die altgriechische Formel ist wahrscheinlich ein Zusatz von Hegels Hand.

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231, 10–12 Ein tieferes Studium bis hatte: HÚlderlin studierte Kant seit der TÝbinger Zeit und erwÈhnt ihn immer wieder, die Religionsschrift vermutlich indirekt im Brief an die Schwester vom 16. Januar 1794 aus Waltershausen. CLi 209. BÚhm hÈlt den Einfluß dieser Schrift fÝr entscheidend. BÚhm I, XI. – Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (v 1793). 231, 17 – 233, 14 Die erste bis Ideen erfaßt: Zu den bestimmenden drei geistigen KrÈften (232, 19) – Kenntnis der Griechen; Philosophie Kants; FranzÚsische Revolution – vgl. DHe 12–14. 231, 20–24 Philipp Conz bis Lehrer: K. Ph. Conz, Jugendfreund Schillers, wurde 1789 Repetent am TÝbinger Stift. 231, 25 Dichter der GÚtter Griechenlands: Schiller, Die GÚtter Griechenlandes. Erste Fassung, erschienen im MÈrz 1788 in Wielands Zeitschrift: Der Teutsche Merkur. Àber die Form vgl. HÚlderlin (1910) 235, 32 – 236, 25. 231, 25–27 „Die Geschichte bis erwarb: Eins der beiden Magisterspecimina im September 1790: Geschichte der schÚnen KÝnste unter den Griechen bis zu Ende des Perikleischen Zeitalters. CLi 84. 232, 5 In der Misere: Vgl. oben Anm. 224, 24 – 225, 2. 232, 23 Druck des großen Tyrannen: Carl Eugen, Herzog zu WÝrttemberg und Teck. 232, 25–28 In bis umtanzten: Mitgeteilt in Schwab II, 279 f. Ob auf dem Marktplatz oder einer Wiese bei TÝbingen – die Anekdote vom Tanz um den Freiheitsbaum wird zuerst 1839 von A. Schwegler aufgebracht und widersprÝchlich Ýberliefert. 232, 28–31 Als bis Strafrede: Carl Eugen besuchte das Stift, dessen Ephorus ihm Bericht Ýber die Gesinnung der Stipendiaten erstatten mußte, mehrfach; lobte, tadelte Úffentlich, ermahnte besonders im November 1789. BefÝrchtet wurden: IrreligiositÈt, Demokratismus, Anarchie. 232, 32–35 HÚlderlin bis Moder sind“: Zitat aus: Hymne an die Freiheit (1790), letzte Strophe: „Wenn der Ernte großer Tag beginnt, / Wenn verÚdet die TyrannenstÝhle, / Die Tyrannenknechte Moder sind,“. Li I, 105. 233, 7–8 In Jena bis JÝnglingen: K. L. Reinhold, Vermittler der Philosophie Kants, mit der er sich auseinandersetzte: Briefe Ýber die Kantische Philosophie 1–8 in: Der Teutsche Merkur, August 1786; Januar bis September 1787. Reinhold ging 1787 nach Jena, wo er bis 1793 lehrte. Fichte erhielt 1794 Reinholds Lehrstuhl, noch vor Beginn seiner Vorlesungen erschien als „Einladungsschrift“: Àber den Begriff der Wissenschaftslehre (wie unten Anm. 241, 34–37). Fichte lehrte bis 1799, bis zum Atheismusstreit, in Jena. 233, 10–12 In Berlin bis Zeitalters: Das F. Schlegel zugeschriebene Athenaeum-Fragment: „Die FranzÚsische Revoluzion, Fichte’s Wissenschaftslehre, und Goethe's Meister sind die grÚßten Tendenzen des Zeitalters.“ Athenaeum I, 2 (1798), S. 56. 233, 12–13 die Monologe bis PersÚnlichkeit: F. D. E. Schleiermacher, Monologen (1800), vgl. Leben Schl XIII,1. 462–479.

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233, 17–30 Lyrik bis Lyrik: Vgl. diese Notizen D.s zur Lyrik mit seinen weiteren in diesem Aufsatz. HÚlderlin (1910) 282, 18–33. 233, 37 So widmet bis Hymnus: Hymne an die Menschheit (1791). Li I, 111. 233, 37–39 „Ich hange bis Menschengeschlecht.“: Brief an den Bruder aus der letzten TÝbinger Studienzeit, Sommer 1793: „Ich hange nicht mehr s o w a r m an e i n z e l n e n Menschen. Meine Liebe ist das Menschengeschlecht, freilich nicht das verdorbene, knechtische, trÈge, wie wir es nur zu oft finden auch in der eingeschrÈnktesten Erfahrung.“ CLi 169. 234, 1–6 Der „Gott bis Vaterland.“: Alle Zitate stammen aus HÚlderlins Hymne an die Menschheit (wie oben Anm. 233, 37). „Zum Herrscher ist der Gott in uns geweiht.“ Li I, 113. „Das GÚtterglÝck, sich eigner Kraft zu freun;“. Ebd. „Schon hÚhnen wir des Stolzes UngebÈrde, / Die Scheidewand, von Flittern aufgebaut,“. Li I, 112. Das letzte der Zitate ebd. 113. 234, 6–9 Andere Hymnen bis Ýberall!“: D. bezieht sich auf: Hymne an die SchÚnheit (1791). Li I, 114. Hymne an die Freiheit (1792) Li I, 123. Hymne an den Genius der Jugend (1792). Li I, 120. Dem Genius der KÝhnheit. Eine Hymne (1793). Li I, 136. Hymne an die Liebe (1792). Li I, 129. Hymne an die Freundschaft (1791). Li I, 117. Er zitiert mit angepaßter Orthographie aus der zweiten Strophe der Hymne an die Liebe. Li I, 130. 234, 9–12 Alle bis Glaubensbekenntnis: Hymne an die GÚttin der Harmonie (1790). Vgl. unten Anm. 234, 27–30. 234, 17–18 von Schillers philosophischen Briefen: Schiller, Philosophische Briefe, verÚffentlicht in: Thalia, 3. und 7. Heft, 1786 und 1789. 234, 19–22 Die gÚttliche bis Mensch: D. kombiniert Stellen der fÝnften, sechsten, achten Strophe aus der Hymne an die GÚttin der Harmonie. „Ausgegossen ist des Lebens Schale,“. Li I, 106. „Warm bis Tal.“ Ebd. „Meine Welt ist deiner Seele Spiegel, / Meine Welt, o Sohn! ist Harmonie; / Freue dich! zum offenbaren Siegel / Meiner Liebe schuf ich dich und sie.“ Li I, 107. 234, 22–26 Diese Weltauffassung bis Erdendasein: Zu HÚlderlins Panentheismus vgl. Lessing (1910) 104, 30 – 105, 6. 234, 27–30 In der Geschichte bis 1792: HÚlderlin erwÈhnt die Hymne im Brief an Neuffer vom 8. November 1790 aus TÝbingen unter ihrem ersten Titel: „Leibniz und mein Hymnus auf die Warheit haussen seit einigen Tagen ganz in m. Capitolium. Jener hat Einfluß auf diesen.“ CLi 130 f. Unter ihrem spÈteren Titel wurde die Hymne in StÈudlins Musenalmanach fÝrs Jahr 1792 gedruckt, der im September 1791 erschien. 234, 31–38 Aber nach bis Kritik: Vgl. die entsprechenden Passagen Ýber Hegel und die Volksreligion. DHe 14–22; 87 f. Außerdem die Fragmente: Volksreligion und Christentum. HeN 1–71. 235, 32 – 236, 29 Die Form bis fordert: D.s AusfÝhrungen Ýber den lyrischen Stil Schillers finden eine Art Fortsetzung in denen Ýber HÚlderlins Verse. HÚlderlin (1910) 290, 16 – 292, 10. 236, 9–10 „Die GÚtter Griechenlands“: Vgl. oben Anm. 231, 25.

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236, 25 in den „KÝnstlern“: Schiller, Die KÝnstler (e 1788/89). Erstdruck in Wielands Teutschem Merkur, MÈrz 1789. 236, 37–40 „Liebe bis Meer.“: Aus: Hymne an die Liebe, dritte Strophe. Li I, 130, vgl. HÚlderlin (1910) 234, 6–9 und Anm. 237, 2–3 Einige bis StÈudlins: Vgl. oben Anm. 229, 14–17. 237, 3–6 Matthisson bis Thalia auf: Matthissons Umarmung CLi 88. HÚlderlins Gedicht: Das Schicksal (1793) und seine Hymne: Dem Genius der KÝhnheit (1793) kamen in Schillers Zeitschrift Thalia heraus. Neue Thalia, 4. Tl., 5. und 6. St. 1793, erschienen 1794 und 1795. 237, 16–18 Im Juni bis Dichters: Ein erster unbestimmter Hinweis auf HÚlderlins Vorhaben findet sich im Brief Magenaus vom 3. Juni 1792 aus MarkgrÚningen an HÚlderlin: „Du willst Romanist werden. Thalia leite Dich sicher zwischen den AbgrÝnden hin, die dem unerfarnen Waller da drohen, laß auch mich ein WÚrtlein reden, voran, daß ich Deinen Entschluß billige.“ CLi 148. Die zweite •ußerung vom November 1792 im Brief Magenaus an Neuffer, zitiert bei Litzmann: „‚Holz [HÚlderlin] schreibt wirklich (gegenwÈrtig) an einem 2ten Donamar, an Hyperion, der mir Vieles zu versprechen scheint. Er ist ein freiheitsliebender Held, und Èchter Grieche, voll krÈftiger Principien, die ich vor mein Leben gern hÚre.“ CLi 95. Vergleich mit: F. Bouterwek, Graf Donamar, 3 Tle, GÚttingen 1791–93. 237, 22–24 1770 begann bis zusammenwirkten: Zu Beginn des zweiten Bandes (Hyperion II, 1. Zweiter Brief. Li II, 144) erfÈhrt der Leser erst, in welcher Zeit der Roman spielt: 1770. Der wÈhrend des russisch-tÝrkischen Kriegs (1769–1774) von Rußland unterstÝtzte Aufstand der Griechen, denen die Freiheit versprochen wurde, blieb erfolglos. 237, 27–32 „Meine bis wirken.“: Quelle und Anfang vgl. oben Anm. 233, 37–39. D. setzt das dort begonnene Zitat verkÝrzend und die Orthographie verÈndernd fort. Der letzte zitierte Satz vollstÈndig: „Ich mÚchte ins Allgemeine wirken, das Allgemeine lÈßt uns das Einzelne nicht gerade hintansetzen, aber doch leben wir nicht so mit ganzer Seele fÝr das Einzelne, wenn das Allgemeine einmal ein Gegenstand unserer WÝnsche und Bestrebungen geworden ist.“ CLi 169 f. 237, 33–34 „Sie bis Natur.“: Hyperion I, 2. Neunzehnter Brief. „Sie werden kommen, deine Menschen, Natur!“ Li II, 143. 237, 39 PrÝfung: Angaben CLi 99. Protokoll und Zeugnis des Konsistorialexamens vom 6. Dezember 1793. 238, 1 MÚrike: MÚrike trat zwar nach dem Examen 1826 das Vikariat an, entzog sich aber dem Beruf so gut er konnte durch Wechsel der Stellen, Krankheit, vorzeitige Pensionierung. 238, 8–9 Er sah bis ungÝnstig: Vgl. Brief Schillers an Ch. von Kalb vom 1. Oktober 1793, zitiert in CLi 98. Eine kurze Begegnung zwischen Schiller und HÚlderlin hatte Ende September 1793 in Ludwigsburg stattgefunden. 238, 26–28 Sie schrieb bis beruhigen: Brief von Ch. von Kalb an HÚlderlins Mutter vom 17. Januar 1795, ausfÝhrlich wiedergegeben in CLi 189 f.

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238, 31 Kant bis Griechen: HÚlderlin am 10. Juli 1794 aus Waltershausen an Hegel: „Kant und die Griechen sind beinahe meine einzige LectÝre.“ CLi 232, vgl. auch den Brief an Neuffer, Anfang Dezember 1795 aus NÝrtingen. CLi 283. 238, 32–37 Die Abhandlung bis abgefaßt: Schiller, Ueber Anmuth und WÝrde (1793). Àber die Wirkung dieser Schrift und HÚlderlins Aufsatz berichtet Litzmann. CLi 184. Von seinem Plan spricht HÚlderlin im Brief vom 10. Oktober 1794 aus Waltershausen an Neuffer: „Vieleicht kann ich Dir einen Aufsaz Ýber die È s t h e t i s c h e n I d e e n schiken; [. . .] Im Grunde soll er eine Analyse des SchÚnen und Erhabnen enthalten, nach welcher die Kantische vereinfacht, und von der andern Seite vielseitiger wird, wie es schon Schiller zum Theil in s. Schrift Ýber Anmuth und WÝrde gethan hat, der aber doch auch einen Schritt weniger Ýber die Kantische GrÈnzlinie gewagt hat, als er nach meiner Meinung hÈtte wagen sollen.“ CLi 241 238, 38–40 SpÈtestens bis verÚffentlichte: HÚlderlin, Fragment von Hyperion, verÚffentlicht in Schillers Thalia, 4. Tl., 5. St. 1793, erschienen November 1794. 239, 2 Wielands Agathon: Ch. M. Wieland, Geschichte des Agathon, 2 Bde (1766/67); die zweite Fassung: 4 Bde, Leipzig 1773; die dritte endgÝltige erschien 1794. 239, 7 die exzentrische Bahn: Vgl. HÚlderlin (1910) 253, 40 – 254, 3 und Anm. Von Hyperion auf HÚlderlin Ýbertragen: HÚlderlin (1910) 294, 39. 239, 9–10 HÚlderlin bis abgeschÝttelt: Anspielung auf die Beziehung HÚlderlins zu Elise Lebret, Tochter des TÝbinger UniversitÈtskanzlers. 239, 11–13 „Sein bis hervor: „Mein alter Freund, der FrÝhling, hatte mich Ýberrascht in meiner Finsternis. [. . .] Jetzt war er da, in aller Glorie der Jugend. Mir war, als sollt’ ich doch auch wieder frÚhlich werden.“ Thaliafragment. Li II, 23. 239, 13–14 Mitten bis lebt: „ „Ach! mir – in diesem schmerzlichen GefÝhl meiner Einsamkeit, mit diesem freudeleeren blutenden Herzen – erschien mir S i e ; hold und heilig, wie eine Priesterin der Liebe stand sie da vor mir; [. . .].“ Ebd. 239, 22–24 „Ich bis soll.“: Thaliafragment. Li II, 31. Statt sagt Melite (Z. 22): „fuhr sie fort“. 239, 24–25 „Sage bis suche.“: „Sage deinem Herzen, daß man vergebens den Frieden außer sich suche, wenn man ihn nicht sich selbst gibt.“ Ebd. 239, 27–30 In der Grotte bis wiederholt: Thaliafragment. Li II, 34. Die Totenfeier fehlt in der endgÝltigen Fassung. 239, 31–33 „geheimen Kraft bis umgibt“: Ein ausfÝhrlicherer Ausschnitt aus HÚlderlins SatzgefÝge: „[. . .] die geheime Kraft der Natur, die Ýberall sich an uns Èußert, wo das Licht und die Erde, und der Himmel und das Meer uns umgibt, all das hatte mich gestÈrkt, daß jetzt etwas mehr sich in mir regte, als nur mein dÝrftiges Herz; [. . .].“ Thaliafragment. Li II, 37. 239, 34–37 Die Natur bis mich?: Vgl. „A u s d e m I n n e r n d e s H a i n s s c h i e n e s m i c h z u

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mahnen, aus den Tiefen der Erde und des Meers mir zuzurufen, warum liebst d u n i c h t m i c h ? “ Thaliafragment. Li II, 39. 239, 40 – 240, 1 „was bis sein wird“: Aus folgendem Zusammenhang: „Wir sangen heilige GesÈnge von dem, was besteht, was fortlebt unter tausend verÈnderten Gestalten, was war und ist und sein wird, von der Unzertrennlichkeit der Geister, und wie sie eines seien von Anbeginn und immerdar, so sehr auch Nacht und Wolke sie scheide, und aller Augen gingen Ýber vom GefÝhle dieser Verwandtschaft und Unsterblichkeit.“ Thaliafragment. Li II, 36. 240, 1 Sie ist unergrÝndlich: „Ich weiß nicht, wie mir geschieht, wenn ich sie ansehe, diese unergrÝndliche Natur; aber es sind heilige, selige ThrÈnen, die ich weine vor der verschleierten Geliebten.“ Thaliafragment. Li II, 40. 240, 3–6 Diese bis Hegel: D. betont die PrioritÈt HÚlderlins mehrfach. Vgl. HÚlderlin (1910) 234, 27 – 235, 8; 261, 7–9. – Schleiermachers Reden: F. D. E. Schleiermacher, Àber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren VerÈchtern, Berlin 1799 (anonym). Vgl. Inhalt und Bedeutung der Reden Ýber die Religion. Leben Schl XIII,1. 394–441. 240, 22–24 „Fichte bis nicht.“: Im Brief HÚlderlins vom November 1794 aus Jena an Neuffer. CLi 243. Statt jetzt (Z. 22): „jezt“. 240, 26 „trotz bis vorzutragen“: Im Zusammenhang: „In den entlegensten Gebieten des menschlichen Wissens die Prinzipien dieses Wissens, und mit ihnen die des Rechts aufzusuchen und zu bestimmen, und mit gleicher Kraft des Geistes die entlegensten kÝnsten Folgerungen aus diesen Prinzipien zu denken und troz der Gewalt der Finsternis sie zu schreiben und vorzutragen, mit einem Feuer und einer Bestimmtheit, deren Vereinigung mir Armen one diß Beispiel vieleicht ein unauflÚsliches Problem geschienen hÈtte, – diß lieber Neufer! ist doch gewis viel, und ist gewis nicht zu viel gesagt von diesem Manne.“ Ebd. 240, 31–33 •hnlich wie Schleiermacher bis kÚnne: Schleiermacher, Àber die Religion (wie oben Anm. 240, 3–6). D. bezieht sich offensichtlich auf die zweite der Reden: Àber das Wesen der Religion. Gegen Metaphysik und Moral wird es als „Anschauung und GefÝhl“ bestimmt. 240, 33–35 Wenn Fichte bis dieses Ich: HÚlderlin im Brief vom 26. Januar 1795 aus Jena an Hegel Ýber Fichte: „[. . .] er mÚchte Ýber das Factum des Bewußtseins in der T h e o r i e hinaus, das zeigen sehr viele seiner Aeußerungen und das ist eben so gewiß und noch auffallender transscendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker Ýber das Daseyn der Welt hinaus wollten – sein absolutes Ich (= Spinoza’s Substanz) enthÈlt alle RealitÈt; [. . .] als absolutes Ich habe ich kein Bewußtseyn, und insofern ich kein Bewußtseyn habe, insofern bin ich (fÝr mich) nichts, also das absolute Ich ist (fÝr mich) Nichts.“ CLi 256 f. 241, 11–13 Baldigst bis bleiben werde: Vgl. CLi 193 und die folgende Anm.: „‚Er hÚrt Fichten, schreibt Hegel an Schelling, ‚und spricht mit Begeisterung von ihm als einem Titanen, der fÝr die Menschheit kÈmpfe und dessen Wirkungskreis nicht innerhalb der WÈnde des Auditoriums bleiben werde.“ 241, 14–16 Und Hegel bis Schoße!“: Im Brief vom Januar 1795 aus Bern, in dem Hegel Schelling von HÚlderlins Fichte-Begeisterung berichtet (vgl. oben Anm. 241, 11–13), fÈhrt er fort: „Daraus,

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Textgeschichte und Anmerkungen

daß er Dir nicht schreibt, darfst Du nicht auf KÈlte in der Freundschaft schliessen, denn diese hat bei ihm gewis nicht abgenommen, und sein Interesse fÝr weltbÝrgerliche Ideen nimmt, wie mirs scheint, immer zu. Das Reich Gottes komme und unsere HÈnde seyen nicht mÝßig im Schoose!“ Aus: Briefe von und an Hegel I, hrsg. von K. Hegel, Leipzig 1887, S. 13. 241, 21–22 Lehre von der Evolution: Der Naturforscher J. B. P. A. de Monet de Lamarck, Professor am Jardin des Plantes in Paris, begrÝndete die Abstammungslehre, er bestritt die UnverÈnderlichkeit der Arten. Seine Philosophie zoologique (1809), deutsch 1876, wurde 1877 von D. angezeigt. Ges. Schr. XVII, 130 f. 241, 24–28 Und der geÈchtete Condorcet bis hat: M.-J.-A.-N. Caritat, marquis de Condorcet, Philosoph, Mathematiker, Politiker, war 1792 PrÈsident der Nationalversammlung, legte 1793 einen Verfassungsentwurf vor, wurde als zugehÚrig zu den Girondisten verfolgt und schrieb in seinem Versteck: L’Esquisse d’un tableau historique des progrs de l’Esprit humain (e 1794). 241, 28 Comte: Zu Comte vgl. Einleitung 105–108 u. Ú. 241, 34–37 In diesen bis sei: D. bezieht sich auf: J. G. Fichte, Àber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, Weimar 1794. Vgl. den Abschnitt: VerhÈltnis zur philosophischen Bewegung in D.s Hegelabhandlung. DHe 17 f., auch 47 f. 241, 39 – 242, 1 „Wenn’s bis trÈumten.“: Im Brief HÚlderlins an Neuffer vom November 1794 aus Jena: „Wenn’s sein mus, so zerbrechen wir unsre unglÝklichen Saitenspiele und t h u n , was die KÝnstler t r È u m t e n !“ CLi 243. 242, 4–8 Wie es auch bis tritt: Nietzsche nennt HÚlderlins Empedokles lobend in seinem Schulaufsatz (vgl. unten Anm. 265, 32–35); er plante Anfang der 70er Jahre ein Drama Empedokles, das nicht zustande kam. 242, 17–21 Er versucht bis versucht: Zu den verschiedenen Fassungen des Hyperion vgl. die Arbeit Zinkernagels, die D. in seinen Anmerkungen erwÈhnt. Die metrische Fassung von 1794/95 folgt nach Zinkernagel dem Thaliafragment. 242, 21–23 Und der Plan bis Jena: Vgl. oben Anm. 238, 32–37. 243, 4 – 9 „die NÈhe bis soll.“: Aus dem Brief HÚlderlins an Neuffer vom November 1794 aus Jena (vgl. oben Anm. 241, 39 – 242, 1). D. bricht das sehr lange SatzgefÝge ab und gleicht die Orthographie an, auch einzelne Wortformen: Statt wechselweise (Z. 6): „wechselsweise“. Statt halberstorbene (Z. 7–8): „halberstorbne“. CLi 242 f. 243, 15–23 WÈhrend bis hindurch: Die erste Begegnung mit Goethe stellt HÚlderlin im schon zitierten Brief an Neuffer dar (vgl. die vorangehende Anm.). D. Ýbernimmt den Brieftext weitgehend; Schlußzeichen nach ließ (Z. 19) gestr., da nicht eindeutig ergÈnzbar. CLi 243 f. 243, 23–29 Dann in bis zu haben“: „Ruhig, viel MajestÈt im Blike, und auch Liebe, Èusserst einfach im GesprÈche, das aber doch hie und da mit einem bittern Hiebe auf die Thorheit um ihn, und eben so bittern Zuge im Gesichte – und dann wieder von einem Funken seines noch lange nicht erloschnen Genies gewÝrzt wird – so fand ich ihn. Man sagte sonst, er sei stolz; wenn man aber dar-

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unter das NiederdrÝkende und ZurÝkstossende im Benehmen gegen unser Einen verstand, so log man. Man glaubt oft einen recht herzguten Vater vor sich zu haben.“ Brief vom 19. Januar 1795 aus Jena an Neuffer. CLi 252 f. 243, 32–40 So konnte bis aus.“: HÚlderlin hatte im Juni 1797 die Gedichte: Der Wanderer und An den Aether an Schiller geschickt, der sie Goethe zur Beurteilung gab. D. bezieht sich auf die vom 27. Juni bis 1. Juli 1797 zwischen Goethe und Schiller gewechselten Briefe. 243, 36–38 Er bis MÈßigkeit“: „‚Ich will Ihnen nur auch gestehen, erwiederte Goethe darauf, ‚daß mir etwas von Ihrer Art und Weise aus den Gedichten entgegensprach, eine Èhnliche Richtung ist wohl nicht zu verkennen; allein sie haben weder die FÝlle , noch die StÈrke, noch die Tiefe Ihrer Arbeiten. Indessen recommandirt diese Gedichte, wie ich schon gesagt habe, eine gewisse Lieblichkeit, Innigkeit und MÈßigkeit, [. . .].“ Goethe im Brief an Schiller vom 1. Juli 1797. CLi 305. 243, 38–40 einen heiteren Blick bis aus.“: „Beide Gedichte drÝcken ein sanftes, in GenÝgsamkeit sich auflÚsendes Streben aus. Der Dichter hat einen heitern Blick Ýber die Natur, mit der er doch nur durch Ueberlieferung bekannt zu sein scheint.“ Goethe an Schiller am 28. Juni 1797. CLi 304. 244, 6–7 Schiller bis konnte: Schwab berichtet: „in des Dichters Hause war HÚlderlin immer willkommen und jener nannte ihn ‚seinen liebsten Schwaben,“. Schwab II, 285 f. 244, 10–11 Er bis Hyperion ab: Vgl. HÚlderlin (1910) 238, 38–40 und Anm. 244, 11–12 er empfahl bis Verlag: Àber die Vermittlung des Verlags vgl. CLi 196; Brief Schillers an Cotta vom 9. MÈrz 1797. 244, 14–19 „Heftige bis wiederfand: „Aufrichtig, ich fand in diesen Gedichten viel von meiner eigenen sonstigen Gestalt, und es ist nicht das erstemal, daß mich der Verfasser an mich mahnte. Er hat eine heftige SubjectivitÈt, und verbindet damit einen gewissen philosophischen Geist und Tiefsinn.“ Schiller an Goethe am 30. Juni 1797. CLi 304. 244, 24–33 Er sagt bis tadeln“: Brief HÚlderlins an Schiller vom 23. Juli 1795 aus NÝrtingen. Orthographie, Interpunktion, einige Sprachformen angeglichen. Der Anfang des Zitats: „Ich hÈtt’ es auch schwerlich“. Statt anderen (Z. 27): „andern“. Statt beunruhigt (Z. 27): „beunruhiget“. CLi 276. 244, 36–38 „Ihre NÈhe bis zusammenhalten.“: „Aber glauben Sie, daß ich denn doch mir sagen muß, daß Ihre NÈhe mir nicht erlaubt ist. Wirklich, Sie beleben mich zu sehr, wenn ich um Sie bin. Ich weiß es noch ganz gut, wie Ihre Gegenwart mich immer entzÝndete, daß ich den ganzen Tag zu keinem Gedanken kommen konnte. So lang ich vor Ihnen war, war mir das Herz fast zu klein, und wenn ich weg war, konnt’ ich es gar nicht mehr zusammenhalten.“ Brief HÚlderlins an Schiller im August 1797 aus Frankfurt. CLi 419. 245, 6–7 wie aus einem Schiffbruch: Die Schiffbruchmetapher bezieht HÚlderlin selber auf sich im Brief an seinen Bruder vom 12. Februar 1798 aus Frankfurt: „Lieber Karl! ich spreche wie einer, der Schiffbruch gelitten hat.“ CLi 430.

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Textgeschichte und Anmerkungen

245, 15 Jacob Gontard: J. F. Gontard, Kaufmann und Bankier, zu seiner Zeit einer der reichsten MÈnner Frankfurts, verheiratet mit Susanne Borkenstein. 245, 21–23 Sie stammte bis gemacht: Susanne Borkenstein heiratete 17jÈhrig J. F. Gontard. Zu ihrer Person und ihrer Erziehung vgl. CLi 289–291. 245, 24–25 in ihrem Hause bis verkehrten: J. J. W. Heinse, Dichter und Àbersetzer, Vorleser und Bibliothekar beim KurfÝrsten von Mainz. – S. Th. SÚmmering, Anatom und Physiologe, mit Heinse befreundet, ab 1792 praktischer Arzt in Frankfurt /M. 245, 37–246, 1 „Ich hab’ bis erloschen.“: Im Brief HÚlderlins vom 12. Februar 1798 aus Frankfurt an seinen Bruder. Der letzte Satz des Zitats vollstÈndig: „Nachher fand ich GefÈlligkeit und gab GefÈlligkeit, aber es war nicht schwer zu merken, daß mein erster tieferer Antheil in dem unverdienten Leiden, das ich duldete, erloschen war.“ CLi 432. 246, 4–8 Die Liebe bis November: Die BruchstÝcke sind verÚffentlicht in BÚhm I, 52–58. 246, 12–13 Er Ýbersendet bis Tage“: Der Anfang des ersten der von BÚhm abgedruckten Briefe HÚlderlins an Susette Gontard um Ostern 1799 aus Homburg: „Hier u n s e r n Hyperion, Liebe! Ein wenig Freude wird diese Frucht unserer seelenvollen Tage Dir doch geben.“ BÚhm I, 52. 246, 14–40 „HÈtte ich bis endet.“: Aus dem in der vorangehenden Anm. genannten Brief. Kleine Abweichungen in Orthographie und Interpunktion. Statt darÝber (Z. 25): „drÝber“; statt im Inneren (Z. 37): „im Innern“. BÚhm I, 52–54. 247, 2–5 „Ich habe bis sagten. . .“: BÚhm I, 54. Nach sagten Komma, der Brief bricht an dieser Stelle ab. 247, 9–12 „Reines bis taten.“: Ebd. 247, 20–22 „Alles bis ausdrÝckt.“: Ebd. 52. Satzbeginn statt „ Alles was: „Liebste! alles, was“; leicht abweichende Interpunktion. 247, 24–26 „Heilig bis mir.“: Erste Strophe des Gedichts: Abbitte (1798). Zweiter und dritter Vers: „GÚtterruhe dir oft, und der geheimeren, / Tiefern Schmerzen des Lebens“. Li I, 164. 247, 28–37 „Aber bis allein.“: D. zitiert die ersten zehn Verse der vierten Strophe von: Menons Klage [sic] um Diotima (1800), zweite Fassung, nach Li I, 210 mit kleinen orthographischen Abweichungen. 248, 5–6 „O! bis Haß.“: Im Brief HÚlderlins vom 10. Juli 1797 aus Frankfurt an Neuffer. CLi 412. Statt gib: „gieb“. 248, 7–12 „Hier bis wenig.“: Aus dem Brief HÚlderlins vom April 1798 aus Frankfurt an seine Schwester. Statt Hier: „Hier z. B.“. Statt tÈppisch (Z. 10): „lÈppisch“. Statt gewissermaßen (Z. 10–11): „gewissermassen“. Reichtum und ÝbermÝtig mit th; schweigen gesperrt. CLi 438. 248, 12–14 „Die harten bis fort bin.“: „Ach! Lieber! es sind so wenige, die noch Glauben an mich

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haben; und die harten Urtheile der Menschen werden wohl so lange mich herumtreiben, bis ich am Ende, wenigstens aus Deutschland, fort bin.“ Brief HÚlderlins an Neuffer vom Juni 1798 aus Frankfurt. CLi 439. 248, 15–18 In HÚlderlins bis tÈten“: HÚlderlin im Brief an seine Mutter vom 10. Oktober 1798 aus Homburg: „Aber der unhÚfliche Stolz, die geflissentliche tÈgliche HerabwÝrdigung aller Wissenschaft und aller Bildung, die • u s s e r u n g e n , daß die Hofmeister auch Bedienten wÈren, daß sie nichts besonders fÝr sich fordern kÚnnten, weil man sie fÝr das b e z a h l t e , was sie thÈten u. s. w. und manches andre, was man mir, weils eben Ton in Frankfurt ist, so hinwarf – das krÈnkte mich, [. . .].“ CLi 449. 248, 27 „Der Abschied“: „Trennen wollten wir uns?“ (1798). Li I, 168, nicht in der endgÝltigen Fassung. 248, 33–35 „Wenn bis Grab.“: D. zitiert die erste Strophe des Gedichts: Abschied (1798), deren SatzgefÝge sich in der zweiten fortsetzt: „Dann vergiß mich,“. Li I, 171. 249, 5–24 Die beiden bis einzugehn!“: Vgl. D.s. Darstellung aus der Perspektive Hegels. DHe 37–39. – Hegel, Eleusis. An HÚlderlin. Hegels Gedicht stammt vom August 1796, verÚffentlicht in: K. Rosenkranz, Aus Hegels Leben. 1. Hegel und HÚlderlin. In: Literarhistorisches Taschenbuch I (1843), hrsg. von R. E. Prutz, S. 99–102. D.s Wiedergabe beginnt mit dem ersten Halbvers, schließt den zehnten und weitere Verse an mit kleinen Abweichungen von der Vorlage. Statt geheimen (Z. 16): „geheimern“. Statt am Freund (Z. 18): „dem Freund“. Kleinschreibung nach dem Gedankenstrich; Komma nach leben (Z. 22). Ebd. S. 99 f. D. zitiert nochmals aus Hegels Gedicht: HÚlderlin (1910) 263, 28–31; 273, 32–37. 249, 29–32 „Wenn bis Du.“: Die Stelle aus HÚlderlins Brief vom 24. Oktober 1796 aus Frankfurt an Hegel heißt: „Endlich, Lieber, laß mich auch das Dir ans Herz legen – ein Mensch, der unter ziemlich bunten Verwandlungen seiner Lage und seines Charakters dennoch mit Herz und GedÈchtniß und Geist Dir treu geblieben ist und grÝndlicher und wÈrmer als je Dein Freund seyn wird und jede Angelegenheit des Lebens willig und freudig mit Dir theilen, und dem zu seiner schÚnen Lage nichts fehlt, als Du, dieser Mensch wohnt gar nicht weit von Dir, wenn Du hierher kÚmmst.“ CLi 389. 249, 32–35 „Wie bis zu mir“: Beide Zitate sind dem Brief Hegels vom Herbst 1796 an HÚlderlin entnommen. Das zweite ist Teil des ersten Briefabschnitts: „So wird mir doch einmal die Freude, wieder etwas von Dir zu vernehmen; aus jeder Zeile Deines Briefes spricht Deine unwandelbare Freundschaft zu mir, ich kann Dir nicht sagen, wie viel Freude es mir gemacht hat, und noch mehr die Hoffnung, Dich bald selbst zu sehen und zu umarmen.“ CLi 390. Das erste Zitat gehÚrt in den letzten Briefabschnitt: „Wie viel Antheil an meiner geschwinden Entschließung die Sehnsucht nach Dir habe, wie mir das Bild unseres Wiedersehens, der frohen Zukunft, mit Dir zu seyn, diese Zwischenzeit vor Augen schweben wird – davon nichts.“ CLi 391. 249, 39 – 250, 9 „Man bis vorbeigeht.“: Brief HÚlderlins vom 4. Juli 1798 aus Frankfurt an seinen Bruder. Der Text ist orthographisch und in einigen Sprachformen verÈndert, ein halber Satz fehlt. Statt anderen (250, 3 und 4): „andern“. Statt Zornes (Z. 5): „Zorns“. Statt Leben. (Z. 7): „Leben, so wie die Zeit, die auf den Mai folgt, die unruhigste im Jahr ist.“ CLi 444.

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Textgeschichte und Anmerkungen

250, 16–18 Nun bis erhoben: F. W. J. Schelling, Vom Ich als Princip der Philosophie oder Ýber das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795). D. kommt darauf zurÝck: HÚlderlin (1910) 262, 9–12; 36–39; 272, 12–13. 250, 18–26 Die Entzweiung bis Philosophie: Vgl. Das Kapitel: Der mystische Pantheismus in DHe 138–157. 250, 28–31 Er bis hinaus.“: Beschreibung der Lage der Wohnung und Zitat: CLi 321. Im Brief HÚlderlins an seine Schwester aus Homburg, wohl im MÈrz 1799: „Das StÈdtchen liegt am Gebirg, und WÈlder und geschmakvolle Anlagen liegen rings herum; ich wohne gegen das Feld hinaus, habe GÈrten vor dem Fenster und einen HÝgel mit EichbÈumen und kaum ein paar Schritte in ein schÚnes Wiesthal. Da geh’[ich] dann hinaus, wenn ich von meiner Arbeit mÝde bin, steige auf den HÝgel und seze mich in die Sonne und sehe Ýber Frankfurt in die weiten Fernen hinaus, und diese unschuldigen Augenblike geben mir dann wieder Muth und Kraft zu leben und zu schaffen.“ CLi 480 f. 250, 35 – 251, 3 Und mit bis werden: I. Freiherr von Sinclair, Diplomat und Schriftsteller, Jurastudium in TÝbingen, von daher mit HÚlderlin bekannt, erst in Jena mit ihm befreundet. Im Dienst des Homburgischen Hofes, von 1798 an HÚlderlins nÈchster zuverlÈssiger Freund. Holt HÚlderlin 1804 nach Homburg, erwirkt dessen Ernennung zum Hofbibliothekar, kommt fÝr ein Gehalt auf. Territoriale Neuordnungen 1806 verÈndern seine Position, er kann HÚlderlin nicht lÈnger in Homburg halten. 251, 3–5 A. W. Schlegel bis ausgesprochen: Das von Neuffer herausgegebene Taschenbuch fÝr Frauenzimmer von Bildung auf das Jahr 1799 wurde im MÈrz 1799 in der Allgemeinen LiteraturZeitung von A. W. Schlegel rezensiert. Schlegel hob HÚlderlins Gedichte besonders hervor. HÚlderlin schrieb sich die Rezension ab und zitiert daraus im Brief an die Mutter vom 25. MÈrz 1799 aus Homburg. 251, 6–7 Der Plan bis unausfÝhrbar: HÚlderlins Plan vom FrÝhsommer 1799, ein Journal, Iduna, herauszugeben, scheiterte an mangelnder Beteiligung namhafter Autoren. Als VerÚffentlichungsort fÝr Empedokles vgl. HÚlderlin (1910) 269, 30–31. 251, 7–8 Das Trauerspiel bis Abschluß: Von 1799 stammen die ersten EntwÝrfe zu dem Trauerspiel: Der Tod des Empedokles. Vgl. HÚlderlin (1910) 269, 26–31 und Anm. zu 269, 28–29. 251, 14–21 Zu Hause bis Ýbernehmen: D. nimmt offensichtlich die beiden letzten Briefe HÚlderlins an Schiller zusammen, den vom September 1799 aus Homburg mit •ußerungen zur Poetik und den vom 2. Juni 1801 aus NÝrtingen mit der ErwÈgung, in Jena Vorlesungen Ýber griechische Literatur zu halten. Beide Briefe blieben unbeantwortet. CLi 522–524 und 588–591. 251, 24 ersten Entwurf des Hyperion in TÝbingen: D. akzeptiert die Aufeinanderfolge der Fragmente des Hyperion in der Darstellung Zinkernagels (vgl. oben unter Anmerkungen Diltheys), denkt also hier an einen ersten nicht erhaltenen Entwurf. 251, 32 – 252, 20 Ihr wandelt bis hinab: Hyperions Schicksalslied. Li I, 172. D. zitiert ohne Àberschrift, also aus dem Roman. Li II, 189. Statt ruhen (252, 13): „ruhn“. 252, 25 – 256, 13 Der Hyperion bis die Moderne vorbereitet: Zu D.s Begriff des Bildungsromans

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vgl. Leben Schl XIII,1. 299 f.; Abhandlung (1895) 296 und B Yorck 191; zur Differenzierung mit Blick auf Nietzsches Zarathustra vgl. HÚlderlin (1910) 265, 25–31. 252, 30 Hesperus: Jean Paul, Hesperus (1795). 253, 9–10 Wer bis liest: Jean Paul, Flegeljahre (1804/05); Titan (1800–1803). 253, 22 Beispiel bis Tom Jones: H. Fielding, The History of Tom Jones, a Foundling (1749). 253, 25–27 Er bis begrÝndete: Vgl. Lessing (1910) 106, 23–26. 253, 27–28 mit dem Gedanken bis Emile: J.-J. Rousseau, Emile ou de l’Education (1762). 253, 34–36 Und bis Daseins: Zum Divan-Gedicht Goethe (1910) 161, 31–33. 253, 40 – 254, 3 Hyperion bis gleiche sei: „Die excentrische Bahn, die der Mensch, im allgemeinen und einzelnen, von einem Punkte (der mehr oder weniger reinen Einfalt) zum andern (der mehr oder weniger vollendeten Bildung) durchlÈuft, scheint sich, n a c h i h r e n w e s e n t l i c h e n R i c h t u n g e n , immer gleich zu sein.“ Thaliafragment. Li II, 20. Auf diese Stelle spielt D. schon HÚlderlin (1910) 239, 7 an und nimmt die Wendung in anderem Kontext noch einmal auf. HÚlderlin (1910) 294, 39. 254, 9–11 Hyperion bis aufzufassen: R. Haym, Die Romantische Schule, Berlin 21906, S. 289. D.s Zitat ist Àberschrift fÝr das erste Kapitel des dritten Buchs, ein ausfÝhrliches HÚlderlin-Kapitel, bezieht sich auf HÚlderlins Position im Vergleich zu Novalis, nicht nur auf den Roman. 254, 16–17 Byron bis Nietzsche: Vgl. D.s ErlÈuterung dieser Zusammen- und GegenÝberstellung: HÚlderlin (1910) 255, 28 – 256, 4; auch die Schriftstellerreihe 258, 17–19; sein frÝhes Interesse, ein pathologisches Interesse, an Schopenhauer und den Schriftstellern des Weltschmerzes. Arthur Schopenhauer (1864). Ges. Schr. XV, 55; schließlich ein spÈtes Urteil in Ges. Schr. VIII, 194. 254, 22–24 Und in bis gewonnen: F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 4 Bde (1883–1891). D. betont den Einfluß des Hyperion auf Nietzsches Zarathustra, vgl. HÚlderlin (1910) 265, 29–38. Nietzsche hat die Prosa des Hyperion in seinem Schulaufsatz (wie unten Anm. 265, 32–35) als „Musik“ bezeichnet. 254, 25 – 256, 4 Voltaire bis verteilt: D.s Einordnung von HÚlderlins Roman in die europÈische literarische und historische Entwicklung schließt, wenn auch zuerst formuliert, an die Einleitung zu EuD3 von 1910 an. 254, 27–30 Swift bis seziert: Vermutlich bezieht sich D. auf Swifts Satire gegen das durch die EnglÈnder verursachte Elend der Iren: A modest proposal for preventing the children of poor people from being a burden to their parents or country, and for making them beneficial to the publick (1729). 254, 32–33 seit Rousseau: Zu Rousseau vgl. Goethe (1910) 140–142. 255, 3–6 „Alles bis ganz.“: Im Brief Goethes vom 17. Juli 1777 an Auguste GrÈfin zu Stolberg. Goe W 3, 85, der Schreibung nach wohl aus anderer Quelle.

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255, 12 Hinrichtung des KÚnigs: Ludwig der XVI. wurde am 21. Januar 1793 enthauptet. 256, 15–17 ein merkwÝrdiges bis zeigt: Wie D. in seinen Anmerkungen zu diesem Aufsatz erwÈhnt, die BruchstÝcke, die Zinkernagel als die Lovell-Fassung bezeichnet. Vgl. Zinkernagel, V. Kapitel und den dazugehÚrigen Text im Anhang. 256, 17–20 Ein Brief bis war: Gemeint ist HÚlderlins Brief an seinen Bruder vom 4. Juli 1798 aus Frankfurt: „Mein Alabanda sagt im zweiten Bande: ‚Was lebt, ist unvertilgbar, b l e i b t i n s e i n e r t i e f s t e n K n e c h t s f o r m f r e i , bleibt Eins, und wenn Du es zerreißest bis auf den Grund, und wenn Du bis ins Mark es zerschlÈgst, doch bleibt es eigentlich unverwundet, und sein Wesen entfliegt Dir siegend unter den HÈnden sc. Dies lÈßt sich mehr oder weniger auf jeden Menschen anwenden, und auf die Aechten am meisten. Und mein Hyperion sagt: ‚Es bleibt uns Ýberall noch eine Freude. Der Èchte Schmerz begeistert. Wer auf sein Elend tritt, steht hÚher. Und das ist herrlich, daß wir erst im Leiden recht der Seele Freiheit fÝhlen.“ CLi 444 f. 256, 26–27 „die wort- und abenteuerreichen Ritter“: Im Brief HÚlderlins an Neuffer aus TÝbingen zwischen 21. und 23. Juli 1793: „Laß Deine edlen Freundinnen urteilen, aus dem Fragmente, das ich unsrem StÈudlin heute schike, ob mein Hyperion nicht vieleicht einmal ein PlÈzchen ausfÝllen dÝrfte, unter den Helden, die uns doch ein wenig besser unterhalten, als die wort- und abenteuerreichen Ritter.“ CLi 162. 257, 6–8 Hyperion bis ablÚsen: Vgl. HÚlderlin (1910) 260, 10–12 und Anm. 257, 10–11 da bis betasteten“: „Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht; im Kind ist Freiheit allein.“ Hyperion I, 1. Dritter Brief. Li II, 70. 257, 13–15 „Groß bis Naturgewalt!“: Hyperions Jugend. Erstes Kapitel. Ein Satz des Lehres Adamas. Li II, 14. 257, 23–24 „Ich fÝhl’ bis selber sind.“: Hyperion II, 2. FÝnfter Brief. D. verkÝrzt den zweiten Satz Alabandas, statt sind.“: „sind, und nur aus freier Lust so innig mit dem All verbunden.“ Li II, 187. 257, 24–26 Eine Figur bis geÝbt: Vgl. Zinkernagel 113–143, das V. Kapitel, Die Lovell-Fassung. L. Tieck, Die Geschichte des Herrn William Lovell (e 1795/96). 257, 34 „lange kranke Trauer“: Hyperion I, 1. Achter Brief: „Kannst du es hÚren, wirst du es begreifen, wenn ich dir von meiner langen kranken Trauer sage?“ Li II, 97. 257, 36–38 „SchÚner bis entgegengeht.“: Hyperion I, 1. Zehnter Brief. Statt „SchÚner (Z. 36): „Aber schÚner“. Statt im Menschen (Z. 36–37): „in ihm“. Li II, 100. 258, 11 „Das SchÚnste ist auch das Heiligste.“: Hyperion I, 2. Sechster Brief: „Tausendmal hab’ ich es ihr und mir gesagt: das SchÚnste ist auch das Heiligste.“ Li II, 111. 258, 17–19 Das ist bis aussprechen: Die drei Autoren, F. R. Vicomte de Chateaubriand, A. L. G. Baronne de Stal-Holstein, H. B. de Constant, stehen am Àbergang zur franzÚsischen Romantik. Vgl. mit D.s Reihe der HÚlderlin verwandten Autoren. HÚlderlin (1910) 254, 14–17.

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258, 19–22 „Weißt bis schÚnere Welt.“: Hyperion I, 2. Sechzehnter Brief: „‚Weißt du denn, fuhr sie mit erhÚhter Stimme fort, ‚weißt du denn, woran du darbest, was dir einzig fehlt, was du, wie Alpheus seine Arethusa, suchst, um was du trauertest in all deiner Trauer? Es ist nicht erst seit Jahren hingeschieden, man kann so genau nicht sagen, wann es da war, wann es wegging, aber es war, es ist, in dir ist's! Es ist eine bessere Zeit, die suchst du, eine schÚnere Welt.“ Li II, 121. 258, 34–38 „Aus der Wurzel bis kommen: Hyperion I, 2. Neunzehnter Brief: „Aus der Wurzel der Menschheit sprosse die neue Welt! Eine neue Gottheit waltet Ýber ihnen, eine neue Zukunft klÈre vor ihnen sich auf.“ Li II, 142. „WÈre dein GemÝt und deine ThÈtigkeit so frÝhe reif geworden, so wÈre dein Geist nicht, was er ist; du wÈrst der denkende Mensch nicht, wÈrst du nicht der leidende, der gÈrende Mensch gewesen. Glaube mir, du hÈttest nie das Gleichgewicht der schÚnen Menschheit so rein erkannt, hÈttest du es nicht so sehr verloren gehabt.“ Li II, 141. 259, 37 des grÝnen Heinrich von Keller: G. Keller, Der grÝne Heinrich, 4 Bde in zwei Fassungen (1854/55 und 1879/80). 260, 4 „die dichterischen Tage: Hyperion II, 2. Sechster Brief. „Dir ist dein Lorbeer nicht gereift und deine Myrten verblÝhten, denn Priester sollst du sein der gÚttlichen Natur, und die dichterischen Tage keimen dir schon.“ Li II, 194. 260, 5–6 „die AuflÚsung der Dissonanzen: Hyperion, Vorrede. „Die AuflÚsung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter ist weder fÝr das bloße Nachdenken, noch fÝr die leere Lust.“ Li II, 66. 260, 10–12 „Besteht bis Menschen?“: Hyperion I, 1. Siebenter Brief. Li II, 95. Statt Besteht (Z. 10): „Bestehet“. 260, 12–14 Auf diesen bis mÝßte: Vgl. „‚Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glÝhendes Leben ist alles.“ Hyperion II, 2. Achter Brief. Li II, 204. 260, 33–34 Das All-Eine bis verkÝndet: Hyperion I, 2. Neunzehnter Brief. „Das große Wort, das ešn diaferon ešautw (das eine in sich selber Unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der SchÚnheit, und ehe das gefunden war, gab’s keine Philosophie.“ Li II, 135. Vgl. Heraklit, Fragment 51 in: Diels, Vorsokratiker (wie unten Anm. 270, 7–37), S. 162. 261, 3–4 Bis bis Ýberein: Monologen Schleiermachers (wie oben Anm. 233, 12–13), vgl. besonders den ersten: Die Reflexion. 261, 4–7 „Was ist bis kÚnnte?“: Hyperion I, 1. Vierter Brief. Der erste Satz des Zitats: „Was ist Verlust, wenn so der Mensch in seiner eignen Welt sich findet?“ Statt Haupt (Z. 6): „Haupte“. Am Schluß des Zitats Ausrufungszeichen. Li II, 75. 261, 7–9 Wenn spÈter Schelling bis lehrte: Vgl. Schelling, Philosophie der Kunst (vorgetragen in Jena 1802/03 und WÝrzburg 1804/05), Allgemeiner Theil. 261, 9 Und auch bis voraus: Zu Hegel vgl. in D.s Abhandlung: Die Grundlagen fÝr Hegels mystischen Pantheismus, bes. DHe 50–60. 261, 14–17 Der erste Entwurf bis muß: D. bezieht sich auf die Angaben zum ersten Akt des Ent-

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wurfs (1797): „Empedokles, durch sein GemÝt und seine Philosophie schon lÈngst sehr zu Kulturhaß gestimmt, zu Verachtung alles bestimmten GeschÈfts, alles nach verschiedenen GegenstÈnden gerichteten Interesses, ein Todfeind aller einseitigen Existenz und deswegen auch in wirklich schÚnen VerhÈltnissen unbefriedigt, unstet, leidend, bloß weil sie besondere VerhÈltnisse sind und, nur im großen Accord mit allem Lebendigen empfunden, ganz ihn erfÝllen, bloß weil er nicht mit allgegenwÈrtigem Herzen innig, wie ein Gott, und frei ausgebreitet, wie ein Gott, in ihnen leben und lieben kann, bloß weil er, sobald sein Herz und sein Gedanke das Vorhandene umfaßt, ans Gesetz der Succession gebunden ist, – [. . .].“ Li II, 212. 261, 17–21 Es ist bis gegeben hat: Zum Aspekt der VergÈnglichkeit vgl. Heraklit, Fragment 91: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen [. . .].“ In: Diels, Vorsokratiker (wie unten Anm. 270, 7–37), S. 171. Dazu Einleitung 154. 261, 24 Die Seltenen bis sind: Im Brief HÚlderlins an seine Mutter vom 18. Juni 1799 aus Homburg: „Es war weniger mein eigenes Laid, was mich den Trost oft nicht in jeder [zu ergÈnzen: Stunde] finden lies, als die Trauer, die mich manchmal Ýberfallen mußte in meiner gÈnzlichen Einsamkeit, wenn ich unsere jezige Welt mir dachte, und an die Seltnen, Guten in ihr, wie sie leiden, eben darum, weil sie besser und treflicher sind.“ CLi 496. 261, 24–25 Die Barbaren bis haben: Im Brief an den Bruder vom 4. Juni 1799 aus Homburg: „Die Barbaren um uns her zerreißen unsere besten KrÈfte, ehe sie zur Bildung kommen kÚnnen, und nur die feste tiefe Einsicht dieses Schicksals kann uns retten, daß wir wenigstens nicht in UnwÝrdigkeit vergehen.“ CLi 492. 261, 25–27 Es ist bis auszusetzen“: Im Brief vom 12. Februar 1798 aus Frankfurt an den Bruder: „Lieber Karl! es ist oft wÝnschenswerth, blos mit der OberflÈche unseres Wesens beschÈftigt zu seyn, als immer seine ganze Seele, sey es in Liebe oder in Arbeit, der zerstÚrenden Wirklichkeit auszusetzen.“ CLi 430. 261, 31–32 Es wÈre bis Wege gehen: Vgl. Hyperion I, 1. Siebenter Brief. Alabanda: „Ihr wollt ja nie, ihr Knechte und Barbaren! Euch will man auch nicht bessern, denn es ist umsonst! man will nur dafÝr sorgen, daß ihr dem Siegeslauf der Menschheit aus dem Wege geht.“ Li II, 86 f. 261, 34–38 „FÝr des Menschen bis tÚten“: Hyperion I, 1. Vierter Brief. Der ganze Abschnitt: „Aber sage nur niemand, daß uns das Schicksal trenne! Wir sind’s, wir! wir haben unsre Lust daran, uns in die Nacht des Unbekannten, in die kalte Fremde irgend einer andern Welt zu stÝrzen, und, wÈr’ es mÚglich, wir verließen der Sonne Gebiet und stÝrmten Ýber des Irrsterns Grenzen hinaus. Ach! fÝr des Menschen wilde Brust ist keine Heimat mÚglich; und wie der Sonne Strahl die Pflanzen der Erde, die er entfaltete, wieder versengt, so tÚtet der Mensch die sÝßen Blumen, die an seiner Brust gediehen, die Freuden der Verwandtschaft und der Liebe.“ Li II, 75. 262, 2–3 „Je unergrÝndlicher bis ist er.“: Hyperion II, 2. Vierter Brief. „Zu wem so laut das Schicksal spricht, der darf auch lauter sprechen mit dem Schicksal, sagt’ ich mir; je unergrÝndlicher er leidet, um so unergrÝndlich mÈchtiger ist er.“ Li II, 176. 262, 3–6 Es ist bis Welt“: Hyperion II, 2. Achter Brief. „Bellarmin! ich hatt’ es nie so ganz erfahren jenes alte, feste Schicksalswort, daß eine neue Seligkeit dem Herzen aufgeht, wenn es aushÈlt und die

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Mitternacht des Grams durchduldet, und daß, wie Nachtigallgesang im Dunkeln, gÚttlich erst in tiefem Leid das Lebenslied der Welt uns tÚnt.“ Li II, 201. 262, 9–10 Schelling bis fort: Zu Schellings Schrift (wie oben Anm. 250, 16–18) und der ersten Fassung seines Pantheismus vgl. DHe 36 f. 262, 15–19 Seine bis Weltanschauung: Diese Reihe der Schriftsteller und Werke als zum modernen Pantheismus gehÚrend auch in DHe 52. Auf den Einfluß Shaftesbury hat D. bereits verwiesen: HÚlderlin (1910) 232, 12–15 und 234, 9–12. Vgl. Lessing (1910) 41, 24–31. Zu F. Hemsterhuis, dem niederlÈndischen Philosophen, der FÝrstin Gallitzin und ihrem Kreis verbunden, vgl. D.s Anzeige: Die FÝrstin Galitzin (1875). Ges. Schr. XV, 180. 262, 26–32 Aus der Jenaer bis nichts.“: Vgl. auch oben unter Anmerkungen Diltheys. D. zitiert aus Fragment B der von Zinkernagel verÚffentlichten Fragmente der metrischen Bearbeitung des Hyperion, schreibt statt ss durchweg ß. Zinkernagel 220. 263, 4–17 Hegel bis Trennungen auf: D. bezieht sich in diesem Abschnitt auf einen Entwurf Hegels, nach Nohl: Das Grundkonzept zum Geist des Christentums. Auf den Passus Ýber „schÚne Seelen“ folgt: „In MatthÈus, Markus und Lukas Christus mehr im Gegensatz gegen die Juden – mehr Moral. Im Johannes mehr er selbst, mehr religiÚsen Inhalts, seine Beziehung auf Gott und seine Gemeine, seine Einheit mit dem Vater, und wie seine AnhÈnger mit ihm unter sich eins sein sollen – Er der Mittelpunkt und das Oberhaupt; wie bei der lebendigsten Vereinigung mehrerer Menschen immer noch eine Trennung stattfindet, so auch in dieser Vereinigung – dies ist das Gesetz der Menschheit – im Ideal das vÚllig vereinigt, was noch getrennt ist, die Griechen in NationalgÚttern, die Christen in Christus.“ HeN 389. Vgl. DHe 80. 263, 23–27 Aber diese bis Ostermesse: Zur Verwandtschaft der Gedanken HÚlderlins und Hegels vgl. DHe 140 f. 263, 28–31 „Ich bis Tiefe nicht.“: Hegel, Eleusis (wie oben Anm. 249, 5–24), S. 100. Vgl. Leben Schl XIII,1. 178. 263, 38 – 264, 2 Verstand bis Stoffes.“: „Aus bloßem Verstande kÚmmt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr, denn nur die beschrÈnkte Erkenntnis des Vorhandnen. Aus bloßer Vernunft kÚmmt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr, denn blinde Forderung eines nie zu endigenden Fortschritts in Vereinigung und Unterscheidung eines mÚglichen Stoffs.“ Hyperion I, 2. Neunzehnter Brief. Li II, 136. 264, 3–7 Aber wo bis GÚttlichen: Zusammenhang mit: „Leuchtet aber das gÚttliche ešn diaferon ešautw, das Ideal der SchÚnheit der strebenden Vernunft, so fordert sie nicht blind, und weiß warum, wozu sie fordert.“ Ebd. 136 f. 264, 12–13 „Die Dichtung bis Philosophie.“: Vgl. „‚Was hat die Philosophie, erwidert’ er, ‚was hat die kalte Erhabenheit dieser Wissenschaft mit Dichtung zu thun? ‚Die Dichtung, sagt’ ich, meiner Sache gewiß, ‚ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft.“ Ebd.134. 264, 15–19 FÝr den •gypter bis Reflexion: Vgl. „Der Aegyptier ist hingegeben, eh er ein Ganzes ist, und darum weiß er nichts vom Ganzen, nichts von SchÚnheit, und das HÚchste, was er nennt, ist

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eine verschleierte Macht, ein schauerhaft RÈtsel; die stumme finstre Isis ist sein Erstes und Letztes, eine leere Unendlichkeit, und da heraus ist nie VernÝnftiges gekommen. [. . .] Der Norden treibt hingegen seine ZÚglinge zu frÝh in sich hinein, und wenn der Geist des feurigen Aegyptiers zu reiselustig in die Welt hinauseilt, schickt im Norden sich der Geist zur RÝckkehr in sich selbst an, ehe er nur reisefertig ist.“ Ebd. 135 f. 264, 20–22 Ebenso bis werde: Hyperion, I, 1. Siebenter Brief. „Dann, wann die Lieblingin der Zeit, die jÝngste, schÚnste Tochter der Zeit die neue Kirche, hervorgehn wird aus diesen befleckten veralteten Formen, wann das erwachte GefÝhl des GÚttlichen dem Menschen seine Gottheit und seiner Brust die schÚne Jugend wieder bringen wird, wann – ich kann sie nicht verkÝnden, denn ich ahne sie kaum, aber sie kÚmmt gewiß, gewiß.“ Li II, 90. Hegel gebraucht die Wendung von „der unsichtbaren Kirche“ zur Abgrenzung einer „philosophischen Sekte“ von einer „positiven christlichen Sekte“ in: Die PositivitÈt der chrislichen Religion (1795/96). HeN 177. Vgl. den Schlußsatz des Briefes von Hegel an Schelling vom Januar 1795 aus Bern: „Vernunft und Freiheit bleiben unsere Losung und unser Vereinigungspunct die unsichtbare Kirche.“ Briefe (wie oben Anm. 241, 14–16), S. 13. 264, 22–23 Sie wird bis Weltgeschichte sein: Vgl. Hyperion I, 2. Neunzehnter Brief. „Der SchÚnheit zweite Tochter ist Religion. Religion ist Liebe der SchÚnheit.“ Li II, 133. 265, 10–13 „O du, bis Flammen!“: Hyperion II, 2. Achter Brief. Statt „O du, mit (Z. 10): „‚O du, so dacht ich, ,mit“. Li II, 203. 265, 13–18 „O Seele! bis sich wieder.“: Hyperion, II, 2. Achter Brief. Statt Du entzÝckende (Z. 14): „du entzÝckende“. Statt Geschieht (Z. 16): „Geschiehet“. Li II, 204. 265, 19–29 Die Rhythmen bis gebildet haben: Stellen fÝr D.s Gebrauch der Wendung: Rhythmus des Lebens selbst (Z. 23) oben Anm. 225, 8–9. D. bezieht sich deutlich auf HÚlderlins Anmerkungen zu den Dramen des Sophokles, auf die er im Verlauf des Aufsatzes zurÝckkommt. Vgl. HÚlderlin (1910) 276, 27 – 277, 6. 265, 32–35 Gerade bis zurÝck: Nietzsche schrieb am 19. September 1861 den Aufsatz: Brief an meinen Freund, in dem ich ihm meinen Lieblingsdichter zum Lesen empfehle. Aus dem Hyperion wurde an Wagners Geburtstag, am 22. Mai 1873, den Nietzsche feierte, die Scheltrede auf die Deutschen gelesen. Nietzsche verteidigt HÚlderlin gegen Vischer in der ersten der UnzeitgemÈssen Betrachtungen (1873). Seine Begeisterung schlug spÈter in Kritik um. 265, 38–39 „bloß bis Augen“: Nicht ermittelt, vielleicht Redeweise. 267, 37–39 Er hatte bis endete: ErwÈhnung im Brief HÚlderlins an Neuffer vom 10. Oktober 1794 aus Waltershausen: „Ich freue mich Ýbrigens doch auf den Tag, wo ich mit dem Ganzen [d. h. mit Hyperion] im Reinen sein werde, weil ich dann unverzÝglich einen andern Plan, der mir beinahe noch mer am Herzen liegt, den Tod des Sokrates, nach den Idealen der griechischen Dramen zu bearbeiten versuchen werde.“ CLi 241. Vgl. Platon, Apologie. 268, 13–16 „Gestern bis Flammen.“: Hyperion II, 2. Sechster Brief. Statt •tna (Z. 13): „Aetna“. Statt Flammen. (Z. 16): „Flammen, denn der kalte Dichter hÈtte mÝssen am Feuer sich wÈrmen, sagt’ ein SpÚtter ihm nach.“ Li II, 196.

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268, 16–17 „Aber bis fliegen.“: Hyperion II, 2. Sechster Brief. Unmittelbar an den Text der vorangehenden Anm. anschließend: „O wie gerne hÈtt’ ich solchen Spott auf mich geladen! aber man muß sich hÚher achten, denn ich mich achte, um so ungerufen der Natur ans Herz zu fliegen, oder wie du es sonst noch heißen magst, denn wirklich! wie ich jetzt bin, hab’ ich keinen Namen fÝr die Dinge und es ist mir alles ungewiß.“ Li II, 197. 268, 23–34 Das Leben bis Helden: Das zitierte Gedicht hat den Titel: Empedokles. (1799). Kleine Abweichung in der Schreibung („Aetna“; „Uebermut“) von Li I, 201 f. 268, 35 – 269, 1 Die erste bis gemacht: Brief HÚlderlins an seinen Bruder vom Sommer 1797 aus Frankfurt: „Ich habe den ganzen detaillirten Plan zu einem Trauerspiele gemacht, dessen Stoff mich hinreißt.“ CLi 415. 269, 1–7 Es hat bis lassen: Der Plan ist wiedergegeben in Li II, 212–214. Die zitierte Wendung in der Zusammenfassung des zweiten Akts: „Empedokles wird von seinen SchÝlern auf dem Aetna besucht, zuerst von seinem Liebling, der ihn wirklich bewegt und fast aus seiner Herzenseinsamkeit zurÝckzieht, dann auch von den Ýbrigen, die ihn von neuem mit EntrÝstung gegen menschliche DÝrftigkeit erfÝllen, so daß er sie alle feierlich verabschiedet und am Ende auch noch seinem Liebling ratet, ihn zu verlassen.“ Li II, 213. 269, 8–15 In ihm bis unselig: Zu D.s Text und Zitaten vgl. Plan des Empedokles, Zusammenfassung des ersten Akts. Li II, 212, aufgenommen oben in Anm. 261, 14–17. 269, 15–17 Wie bis vereinigen“: Plan des Empedokles, aus der Zusammenfassung des vierten Akts: „Nun reift sein Entschluß, der schon lÈngst in ihm dÈmmerte, durch freiwilligen Tod sich mit der unendlichen Natur zu vereinigen.“ Li II, 214. 269, 17–19 Und nun bis folgt: Plan des Empedokles, Anfang der Zusammenfassung des fÝnften Akts: „Empedokles bereitet sich zu seinem Tode vor. Die zufÈlligen Veranlassungen zu seinem Entschlusse fallen nun ganz fÝr ihn weg, und er betrachtet ihn als eine Notwendigkeit, die aus seinem innersten Wesen folge.“ Ebd. 269, 28–29 „Sie bis geben.“: Brief HÚlderlins an seine Mutter vom 28. November 1798 aus Rastatt: „Meine jetzige Arbeit soll mein letzter Versuch sein, liebste Mutter, auf eignem Wege, wie Sie es nennen, mir einen Werth zu geben; mißlingt mir der, so will ich ruhig und bescheiden, in dem anspruchlosesten Amte, das ich finden kann, den Menschen nÝtzlich zu werden suchen, [. . .].“ CLi 459. 269, 29–30 Fortdauernd bis Zeit“: Vgl. aus dem Brief HÚlderlins vom September 1799 aus Homburg an Schiller: „Ich glaubte jenen Ton, den ich mir vorzÝglich zu eigen zu machen wÝnschte, am vollstÈndigsten und natÝrlichsten in der tragischen Form exequiren zu kÚnnen und habe mich an ein Trauerspiel, den Tod des Empedokles, gemacht und eben diesem Versuche habe ich die meiste Zeit meines hiesigen Aufenthalts gewiedmet.“ CLi 523. 269, 30–38 Er bis fertig: Im Brief HÚlderlins vom 4. Juni 1799 aus Homburg an Neuffer: „Ich habe im Sinne, eine poetische Monatschrift herauszugeben. Da die Hauptmaterialien fÝr den ersten Jahrgang, so viel ich von eigner Hand dazu geben werde, grÚstentheils schon fertig liegen und ich, bei meiner jezigen Lebensart ganz dem Unternehmen leben kann, so hoff’ ich es durchzusezen. [. . .] Die

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ersten StÝke werden von mir enthalten ein Trauerspiel, den Tod des Empedokles, mit dem ich bis auf den lezten Act fertig bin, und Gedichte, lyrische und elegische.“ CLi 488. 270, 7–37 Der Empedokles bis •tna gesprungen: Griechischer Arzt und Naturphilosoph auf Sizilien; die Legende von seinem Tod bei Diogenes Laertius. Àberliefert sind von Empedokles: Fragmente Ýber die Natur; Lehre von der Reinigung in: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von H. Diels I, sechste Auflage hrsg. von W. Kranz, Berlin-Grunewald 1951. Die erste Auflage von 1903 war D. zum 70. Geburtstag gewidmet. D.s Zitate aus den ersten beiden Abschnitten der Lehre von der Reinigung (112 und 113) weichen von dieser Vorlage ab, sind vielleicht eigene Formulierungen. Ebd. 354 f. 270, 29 Paracelsus: Ph. A. Th. Paracelsus, d. i. Th. B. von Hohenheim, Arzt und Naturforscher; kam durch ganz Europa, erregte durch seine Kuren Aufsehen; zahlreiche medizinische, theologische und philosophische Schriften. Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Sh 18, 15–16. 270, 33 Diogenes Laertius: Diogenes Laertios ist, im dritten Jh. nach Chr., der Verfasser einer Geschichte der griechischen Philosophie, einer Mischung aus Biographie und Lehrmeinungen. 270, 38 eines Àbermenschen: So noch einmal: HÚlderlin (1910) 275, 28. Àbermensch kÚnnte verstanden sein als Heros, Genie, vgl. Grimm (1956); lehnt sich vermutlich hier an Nietzsches mehrfach herangezogenen Zarathustra an, der den „Àbermenschen“ lehrt: Also sprach Zarathustra. Vorrede, 3. Dazu D.s Kritik an Nietzsche in : Die drei Grundformen der Systeme in der ersten HÈlfte des 19. Jahrhunderts (1898). Ges. Schr. IV, 528 f. Der Terminus bezogen auf Faust: Goethe (1910) 126, 18 und 146, 40. 271, 28–29 so konnte bis Ausdruck bringen: Zum politischen Elend vgl. HÚlderlin (1910) 232, 5–6; 224, 24 – 225, 2. 271, 32 Mahomet: Vgl. Lessing (1910) 84, 12–15 und Anm. 271, 33 Voltaire: Zu Voltaires Drama vgl. Lessing (1910) 83, 12–17 und Anm. 272, 4 HÚlderlin bis Schleiermachers: Vgl. oben Anm. 240, 31–33. 272, 4–8 Und lange bis beschÈftigt: Vgl. DHe 18–36 und Hegels frÝhe Schriften: Das Leben Jesu (1795); Die PositivitÈt der christlichen Religion (1795/96); Volksreligion und Christentum (frÝhe 90er Jahre). HeN 1–239. 272, 24–25 „das Wandeln bis GeniuskrÈfte“: Empedokles I, 1. V 652. Im Zusammenhang: „Ich Armer! mÚcht’ es einmal noch / Mir in die Seele rufen, / Das Wirken deiner GeniuskrÈfte, / Der herrlichen, deren Genoß ich war, o Natur!“ Li II, 254 272, 28 – 273, 24 „O himmlisch Licht! bis RÈtsel auf.“: Nach BÚhm gehÚrt der lange Redepart des Empedokles in: Der Èlteren TragÚdie erste Fassung. Litzmann enthÈlt ihn nicht in dieser Form. Bis auf die VernachlÈssigung zweier nicht ganz gefÝllter Verse und den Schlußpunkt statt eines Gedankenstrichs am Ende des Zitats Ýbereinstimmend mit BÚhm III, 17 f. 273, 32–37 „Dem Sohn bis Armut.“: Aus Hegels Gedicht Eleusis (wie oben Anm. 249, 5–24),

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S. 101. „Dem Sohn der Weihe war der hohen Lehren FÝlle, / Des unaussprechlichen GefÝhles Tiefe viel zu heilig, / Als daß er trockne Zeichen ihrer wÝrdigte. / Schon der Gedanke faßt die Seele nicht, / Die außer Zeit und Raum in Ahnung der Unendlichkeit / Versunken, sich vergißt und wieder zum Bewußtsein nun / Erwacht. Wer gar davon zu Andern sprechen wollte, / SprÈch’ er mit Engelzungen, fÝhlt der Worte Armuth.“ 274, 2–3 „Dieser bis aussprechen“: Empedokles I, 1. V 410–411: „Wie ist er nun ein EigenmÈchtiger / Geworden, dieser Allmitteilende?“ V 383–387: „Hinweg mit ihm, der seine Seele bloß / Und ihre GÚtter gibt, verwegen / Aussprechen will Unauszusprechendes / Und sein gefÈhrlich Gut, als wÈr’ es Wasser, / VerschÝttet und vergeudet;“. Li II, 247. 274, 9–11 „Er bis AberglÈubigen.“: Empedokles I, 1. V 295–297: „Er trÚstet mit der rasenden / Anbetung sich, verblindet, wird wie sie, / Die seelenlosen Aberglaubigen;“. Li II, 244. 274, 24–27 „Man bis Tag.“: Empedokles I. Panthea im GesprÈch mit Rhea, hier als Priesterinnen der Vesta bezeichnet. Statt schimmere (Z. 27): „schimmre“. Li II, 234. 274, 28–30 „Und bis lenkst?“: Empedokles I, 1. V 714–716. Li II, 256. 275, 1–10 „Zur Magd bis bin ich?“: Empedokles I, 1. V 723–732. Abweichend die Großschreibung am Anfang und folgende Verse: „Und hat sie Ehre noch, so ist’s von mir.“ (V 725). „Und Inseln und Gestirn und was vor Augen / Den Menschen alles liegt, was wÈr’ es noch,“ (V 727–728). „VerkÝndige? Ha! wer bin ich?“(V 732). Li II, 256 f. 275, 13–27 Hegel bis Glaubens: Bezug auf Lessings Religion Christi DHe 15; zur Entstehung der positiven Religion DHe 22–27, geht zurÝck auf: Die PositivitÈt der christlichen Religion (wie oben Anm. 272, 4–8). 275, 36 – 276, 5 „Weh! bis Ýberhoben.“: Empedokles I, 1. V 547–554. Statt Ýberhoben. (Z. 5): „Ýberhoben, hast du nicht / Umfangend mit den warmen Fittichen, / Du ZÈrtliche, mich vom Schlafe gerettet?“ Li II, 251 f. 276, 6–7 „Des Himmels bis beschieden.“: Empedokles I, 1. V 671–673. „des Himmels SÚhnen ist, / Wenn ÝberglÝcklich sie geworden sind, / Ein eigner Fluch beschieden.“ Li II, 255. 276, 13–14 So erscheint bis Ajax: Die Dramen des Sophokles: Ajax und ³dipus auf Kolonos. D. spricht auch vom zweiten ³dipus. HÚlderlin (1910) 276, 17. 276, 27 – 277, 6 Ich gehe bis herbeifÝhrt: D. war seit seiner ersten Arbeit Ýber HÚlderlin mit HÚlderlins Àbersetzungen der TragÚdien des Sophokles und den Anmerkungen dazu vertraut. Vgl. HW 114 f. Seine Beschreibung des Empedokles mit den Begriffen HÚlderlins aus dessen Anmerkungen steht in einigem Widerspruch zum Urteil Ýber eben diese Anmerkungen, HÚlderlin (1910) 293, 38 – 294, 2; gleichwohl dokumentiert sie D.s Bestreben, der EigentÝmlichkeit der Form (276, 16) dieses Dramas gerecht zu werden. Vgl. HÚlderlins Anmerkungen zum ³dipus, BÚhm III, 278–287. – HÚlderlin spricht vom „Rhythmus der Vorstellungen“. BÚhm III, 279, 280, 288. D. gebraucht hier als von HÚlderlin stammend die wohl ihm eigene Wendung vom Rhythmus des Lebens und wiederholt sie mehrfach , vgl. oben Anm. 225, 8–9.

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277, 36–38 Es ist bis ausspricht: „So kam ich unter die Deutschen.“ Hyperion II, 2. Siebenter Brief. Li II, 198–201. 278, 8 „Wir bis mehr.“: Empedokles II, 3. V 1466. Li II, 283. 278, 9–10 „Still! bis begraben ist.“: Abgesehen von der Kleinschreibung am Anfang so in: BÚhm III, 55. Dagegen: Empedokles II, 3. V 1520–1522. „ – still! hinunter soll’s! / Begraben will ich es, so tief, wie noch / Kein Grab fÝr Sterbliches gegraben ist.“ Li II, 284. 278, 12–13 „Umsonst bis gewÈhrt.“: Empedokles II, 3. V 1546. Li II, 285. 278, 19–20 „der muß bis geredet“: Empedokles II,3. V 2024–2025. Es muß / Beizeiten weg, durch wen der Geist geredet.“ Li II, 299. 278, 23–24 „O die bis inniges.“: Empedokles II, 3. VerkÝrzt, im Satzzusammenhang: „O die TodesfÝrchtigen lieben dich nicht, / TÈuschend fesselt ihnen die Sorge / Das Aug’, an deinem Herzen / SchlÈgt nicht mehr ihr Herz, sie veralten, / Gerissen von dir – o heilig All! / Lebendiges! inniges!“ V 2419–2424. Li II, 311. 278, 25–32 „Es bis werde.“: Empedokles II, 3. V 2026–2033. Li II, 299. 278, 33 – 279, 6 „Und bis sterbend kehre.“: Empedokles II, 3. V 2040–2051. Kleinschreibung zu Beginn. Nach Sorge: „Krankheit,“ (V 2043). Statt Menschenhand: „Menschen Hand“ (V 2044). Nach abgeworfen, (V 2048) kein Gedankenstrich. Statt eig’nen Geist: „eignen Geist“ (V 2050). Li II, 299 f. 279, 18–19 „Vergeßt bis Natur!“: Empedokles II, 3. V 1824–1825. Li II, 294. 279, 20–21 „SchÈmet bis nicht mehr.“: Empedokles II, 3. D. vertauscht die Reihenfolge. Auf die Bitte der Agrigentiner, er solle ihr KÚnig sein, antwortet Empedokles zunÈchst: „Dies ist die Zeit der KÚnige nicht mehr.“ V 1731. Li II, 291. SpÈter: „SchÈmet euch, / Daß ihr noch einen KÚnig wollt; ihr seid / Zu alt; zu eurer VÈter Zeiten wÈr’s / Ein anderes gewesen. Euch ist nicht / Zu helfen, wenn ihr selber euch nicht helft.“ V 1742–1746. Ebd. 279, 28–33 So bis KrÈften: D. bezieht sich vermutlich auf das BruchstÝck: Empedokles auf dem Aetna, wie Litzmann es nennt; Èhnlich Schwab: Auf dem Aetna; BÚhm bezeichnet diese Szenen als: Die jÝngere TragÚdie. Allerdings ist auch da von der VersÝndigung des Empedokles die Rede. 279, 33–35 Er trÈgt bis Sokrates: Vgl. DHe 20, 25, 34. 279, 37 – 280, 4 „Beim Totenrichter! bis wieder auf.“: Diese Stelle muß D. BÚhm III, 113 entnommen haben. Von den Apostrophierungen abgesehen, liest Litzmann von Gift bis Sie nicht: „Und eine SÝnde straft die anderen, / Denn viel hab’ ich von Jugend auf gesÝndiget, / Geliebt die Menschen ohne Maß, gedient / Wie Wasser nur und Feuer blinder dient. / Darum begegneten auch menschlich sie / Mir nicht,“. Empedokles auf dem Aetna V 34–37 und 41. Li II, 219; vgl. Schwab I, 199. 280, 5–6 In dem Knaben bis Vaterstadt: Empedokles auf dem Aetna. „Da ward in mir Gesang,

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und helle ward / Mein dÈmmernd Herz im dichtenden Gebet, – / Wenn ich die Fremdlinge, die gegenwÈrt’gen, / Die GÚtter der Natur, mit Namen nannt’, / Und mir der Geist im Wort, im Bilde sich, / Im seligen, des Lebens RÈtsel lÚste. / So wuchs ich still herauf und anderes / War schon bereitet. Denn gewaltsamer / Wie Wasser, schlug die wilde Menschenwelle / Mir an die Brust, und aus dem Irrsal kam / Des armen Volkes Stimme mir zum Ohre. “ V 393–403. Li II, 230 f. 280, 6–7 Er bis Volks“: Empedokles auf dem Aetna. „Da faßte mich die Deutung schaudernd an, / Es war der scheidende Gott meines Volks!“ V 412–413. Li II, 231. 280, 13–14 „Geh bis vollendet.“: Empedokles auf dem Aetna. „Geh! fÝrchte nichts! es kehret alles wieder / Und was geschehen soll, ist schon vollendet.“ V 306–307. Li II, 227. 280, 18–21 „O Melodien bis GÚtterstimmen!“: Empedokles auf dem Aetna. V 177–182. Li II, 224. 280, 29–30 „er bis ist“: Empedokles auf dem Aetna. V 370–374. „ So lenkt er aus, der Abgott seiner Zeit, / Zerbricht, er selbst, damit durch reine Hand / Dem Reinen das Notwendige geschehe, / Sein eigen GlÝck, das ihm zu glÝcklich ist, / Und gibt, was er besaß, dem Element.“ Li II, 230. 280, 32–38 Eine Skizze bis verkÝnden: Bei Litzmann unter 2 e: „Manes, der Allerfahrne, der Seher, erstaunt Ýber den Reden des Empedokles in seinem Geiste, sagt, er sei von den Berufenen, der tÚte und belebe, in dem und durch den eine Welt sich in sich auflÚse und erneue. Auch der Mensch, der seines Landes Untergang so tÚdlich fÝhlte, kÚnnte so sein neues Leben ahnen. Des Tags darauf, am Saturnusfest will er ihnen verkÝnden, was der letzte Wille des Empedokles war.“ Li II, 218. 281, 14–25 „Je lebendiger bis tun.“: D. zitiert aus Hegels Schrift: Der Geist des Christentums und sein Schicksal. Nach Nohl ist die Arbeit auf 1798/99 oder 1799 zu datieren. Er verkÝrzt das erste, aus einem erklÈrenden Zusatz genommene Zitat: „(Je lebendiger die Beziehungen sind, aus denen, weil sie befleckt sind, eine edle Natur sich zurÝckziehen muß, da sie, ohne sich selbst zu verunreinigen, nicht darin bleiben kÚnnte, – desto grÚßer ist ihr UnglÝck; dies UnglÝck aber ist weder ungerecht noch gerecht, es wird nur dadurch ihr Schicksal, daß sie mit eignem Willen, mit Freiheit jene Beziehungen verschmÈht; alle Schmerzen, die ihr daraus entstehen, sind alsdann gerecht; und sind itzt ihr unglÝckliches Schicksal, das sie selbst mit Bewußtsein gemacht hat, und ihre Ehre ist es, gerecht zu leiden, denn sie ist Ýber diese Rechte so sehr erhaben, daß sie sie zu Feinden haben wollte. Und weil dies Schicksal in ihr selbst liegt, so kann sie ‚es ertragen, ihm gegenÝberstehen, denn ihre Schmerzen sind nicht eine reine PassivitÈt, die Uebermacht eines Fremden, sondern ihr eigenes Produkt.)“ HeN 285. Die folgenden Zitate: „Das UnglÝck kann so groß werden, daß ihn [den Menschen] sein Schicksal, diese SelbsttÚtung in Verzichttun auf Leben soweit treibt, daß er sich ganz ins Leere zurÝckziehen muß. Indem sich aber so der Mensch das vollstÈndigste Schicksal selbst gegenÝbersetzt, so hat er sich zugleich Ýber alles Schicksal erhoben; das Leben ist ihm untreu geworden, aber er nicht dem Leben; er hat es geflohen, aber nicht verletzt, [. . .]. Die hÚchste Freiheit ist das negative Attribut der SchÚnheit der Seele, d. h. die MÚglichkeit auf alles Verzicht zu tun, um sich zu erhalten.“ HeN 286. Vgl. DHe 91 f. 281, 27 „Grund zum Empedokles“: HÚlderlins Reflexionen Ýber das Trauerspiel stammen vermutlich vom Herbst 1799. Schwab II, 253–262.

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281, 33–35 Was er wollte bis verwirklicht: R. Wagner, Parsifal. Ein BÝhnenweihfestspiel, Mainz 1877. UrauffÝhrung Bayreuth 1882. 282, 1–12 „Nur bis bedarf’s nicht.“: An die Parzen (1798). Im letzten Vers der ersten Strophe: „gesÈttiget“. Li I, 172. 283, 16–28 Goethe bis entgegengehen: Im Bild Goethes, das der GegenÝberstellung zu HÚlderlin dient, klingt D.s frÝhe Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Dichtern an. Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. No 199, 2–10. 283, 31 Er hielt das alles in sich zusammen: Vgl. D. Ýber Hegel als BegrÝnder der Geschichte der Innerlichkeit des menschlichen Geistes. Hierzu brachte er Eigenschaften seltenster Art mit, vor allem jenes Zusammenhalten es Erlebten im GemÝt, worin er seinem Freunde HÚlderlin so Èhnlich war, [. . .]. DHe 157. 284, 19–21 wie die Vision bis auf: Vgl. HÚlderlin (1910) 224, 15 und Anm. 284, 25 BÚcklin: D. sieht vermutlich einen Vergleichspunkt in der Phantasieentfaltung , den weiteren in hÈufigen Bearbeitungen, von denen die vier Fassungen der Toteninsel A. BÚcklins wahrscheinlich am bekanntesten waren. 284, 28 – 285, 14 Vor seiner HÝtte bis Alter: Abendphantasie (1799). Kleine Abweichungen in den mittleren Versen der fÝnften Strophe von Li I, 198 f.: „Doch, wie verscheucht von thÚrichter Bitte, flieht / Der Zauber; dunkel wird’s, und einsam“. 285, 18–19 Neckar und Rhein: Eher sind hier Neckar und Main gemeint. Beide Gedichte hÈngen entstehungsgeschichtlich zusammen. Der Main (1799; Der Neckar (1799);). Li I, 199 f. Zur Rheinhymne vgl. HÚlderlin (1910) 295, 18–26 und Anm. 285, 29–30 Widerstreit bis hat: Von Schillers Gedichten kommt wohl dem Widerstreit am nÈchsten: Das Ideal und das Leben, in erster Fassung 1795 in den Horen verÚffentlicht. 286, 8 – 287, 26 Jedem Gedicht bis Zusammenhangs: Ansatz zu Erlebnis als Grundlage der Poesie in: Bausteine 204 f. 288, 1 „der Archipelagus“: Der Archipelagus (1800–1801) Li I, 218–226. Vgl. die ganz andere Wertung in HW 110. Dort spricht D. von dem großen Klagegesang auf die untergegangene Welt der Griechen, der in dem vollsten und melodischsten Klang sich ergießt, welchen je Germanier in deutscher Zunge hatten [. . .]. 288, 3–4 Wir bis nachzuerleben: Vgl. nachzuverstehen, Lessing (1910) 86, 10 dazu den Abschnitt: Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben. Ges. Schr. VII, 213–216. 288, 5 Elegien: Von D. zusammengestellt nach Litzmann: Menons Klage um Diotima (1800); Die Herbstfeier (1800); weiter ist gemeint: Heimkunft. An die Verwandten. (1801). Li I, 209; 215; 247. 288, 7 „Emilie vor ihrem Brauttag“: Entstanden im Sommer 1799. Li I, 174–191.

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288, 11–24 Das Musikalische bis bedarf: D. spricht in seinem Aufsatz eingangs von HÚlderlin als diesem musikalischen Genie (225, 23); bezeichnet seinen Stil als musikalisch (265, 38); verweist charakterisierend auf Musik bei der Beschreibung des Thaliafragments (240, 7–8); des Empedokles (271, 17–19); vor allem der Lyrik und Lyriktradition 282, 15–18; 286, 8 – 287, 4; 289, 14; 290, 28–30. Vgl. dazu D.s Fragment: Das musikalische Verstehen. Ges. Schr. VII, 220–224. – Zum Begriff der inneren Form vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 62, 28. 288, 35–39 Klopstock bis Ausdruck: D.s Manuskript Ýber Klopstock war fÝr die Studien zur Geschichte des deutschen Geistes gedacht. DM 301–324. D. spricht dort (S. 302) ebenfalls von dem großen lyrischen, musikalischen Genie. Vgl. bes. den Abschnitt 4. 289, 5–22 Das HÚchste bis verliert: Zu den hier angedeuteten Parallelen vgl. Die große deutsche Musik des 18. Jahrhunderts. DM 191–298; bes. die Abschnitte Ýber Haydn, Mozart, Beethoven. 289, 25–28 Schon Dubos bis verbinden: Vgl. Anm. Le (1910) 29, 38–39. 290, 33–34 In den bis Natur": Zu „Der Gott der Jugend“ vgl. oben Anm. 229, 36. „An die Natur“(1795). Li I, 145. 291, 7 Menons Klage: Vgl. oben Anm. 247, 28–37. 291, 18–36 Er bis vierte: Nach den gereimten Strophen der TÝbinger Hymnen und Versuchen mit verschiedenen Formen bevorzugt HÚlderlin antike Maße, auch die Odenstrophen der Carmina des Horaz. 291, 31 „Unter den Alpen gesungen“: Entstanden in Hauptwyl 1801. Li I, 236 f. 291, 37 – 292, 10 Und abermals bis Kunst: Mit den freien Rhythmen, den Dithyramben, orientiert sich HÚlderlin wohl mehr an Sophokles und Pindar als an Goethe. 292, 12–20 Wo bist du bis komme: Aus Chiron, dem ersten der NachtgesÈnge HÚlderlins, verÚffentlicht in: Taschenbuch fÝr das Jahr 1805. Der Liebe und Freundschaft gewidmet, bei F. Wilmans, Frankfurt/M. D. kombiniert Verse der ersten, dritten und fÝnften Strophe und fÝgt die sechste an. Kleinschreibung am Anfang; der letzte der zitierten Verse: „Freundlicher Retter vielleicht mir komme.“ Schwab II, 337; vgl. CLi 627. 292, 29 – 293, 1 „Ins bis unschuldig ist“: Brief HÚlderlins aus Stuttgart an die Seinigen, wahrscheinlich vom November 1801. Briefanrede: „Meine Theuern!“; Unterschrift: „Ihr Friz.“ „Ins abhÈngige Leben muß ich hinein, es sey, auf welche Art es wolle, und Kinder zu erziehen, ist jetzt ein besonders glÝckliches GeschÈft, weil es so unschuldig ist.“ CLi 592. 293, 1 „o mein Karl: Abschiedsbrief HÚlderlins an seinen Bruder vom 4. Dezember 1801 aus NÝrtingen: „O mein Karl! Vergib mir, daß es rein sey zwischen uns.“ Ebd. 293, 5–11 „Nichts fÝrchten bis werde.“: Brief HÚlderlins an die Mutter vom 28. Januar 1802 aus Bordeaux. „Diese letzten Tage bin ich schon in Einem schÚnen FrÝhlinge gewandert, aber kurz zuvor, auf den gefÝrchteten Ýberschneiten HÚhen der Auvergne, in Sturm und Wildniß, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette – da hab’ ich auch ein Gebet gebetet, das

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bis jetzt das Beste war in meinem Leben und das ich nie vergessen werde.“ Im letzten Abschnitt des Briefes folgt der von D. zuerst zitierte Satz. CLi 608 f. 293, 13–16 „Verkennen bis halten.“: Beginn des Briefes an die Mutter am Karfreitag 1802 aus Bordeaux: „Verkennen Sie mich nicht, wenn ich Ýber den Verlust unserer nun seligen Großmutter mehr die nothwendige Fassung, als das Leid ausdrÝcke, das die Liebe in unseren Herzen fÝhlt. Ich finde, daß man ohne festen Sinn nicht wohl auskommt, ich will der Rathgeber nicht seyn fÝr die Meinigen, aber ich meines Orts muß mein so lange nun geprÝftes GemÝth bewahren und halten, und die zÈrtlichen guten Worte, die, wie Sie wissen, mir zu leicht vom Munde gehen, ich muß sie sparen fÝr jetzt, ich darf nicht Sie und mich noch mehr dadurch bewegen.“ CLi 609. 293, 25–28 „das gewaltige bis geschlagen“: Brief HÚlderlins vom 2. Dezember 1802 aus NÝrtingen an BÚhlendorf. Großschreibung am Satzanfang; Komma nach Zufriedenheit. CLi 637. 293, 33–34 Er Ýbersetzte bis 1804: Die Àbersetzungen erschienen mit HÚlderlins Anmerkungen unter dem Titel: Die Trauerspiele des Sophokles. In HW 114 beschreibt D. die beiden Hefte, die Antigone und ³dipus Tyrannos enthielten. 293, 38 – 294, 2 In den bis augenscheinlich: Ganz anders D.s Urteil in seinem frÝhen Aufsatz. Im Anschluß an die ErwÈhnung von HÚlderlins Àbersetzungen des Sophokles heißt es: Noch mehr Aufmerksamkeit mÝssen die zugefÝgten „Anmerkungen“ auf sich ziehen, in welchen er die sehr richtige, damals Úfter beobachtete Tatsache zum Ausgangspunkte nimmt, daß die antike Poesie eine feststehende, durchgebildete Technik besaß, nach welcher sie arbeitete, [. . .]. Vor allem versucht D. auf HÚlderlins Begriffe einzugehen. HW 114 f. Vgl. oben Anm. 276, 27 – 277, 6. 294, 8–10 Konnte bis bezahlte: Vgl. dazu den Bericht Litzmanns. CLi 629–633. Nach seinen Erkundungen hatte Sinclair schon zwei Jahre zuvor HÚlderlin ein kleines Gehalt zukommen lassen. 294, 10–12 Welche Ironie bis Wahnsinns vor: Die Vorstellung einer von HÚlderlin angenommenen Maske geht auf den Brief Sinclairs vom 6. August 1804 aus Homburg an HÚlderlins Mutter zurÝck. Mit andern glaubt er, „daß das was GemÝths Verwirrung bei ihm scheint, nichts weniger, als das, sondern eine aus wohl Ýberdachten GrÝnden angenommene •usserungs Art ist“. CLi 629 f. 294, 20–21 Er sitzt bis Waiblinger: W. Waiblinger, der in TÝbingen von 1822–1826 studierte, besuchte HÚlderlin und fÝhrte zwischen Juli 1822 und Dezember 1824 Tagebuch Ýber diese Besuche, Grundlage fÝr einen Aufsatz Ýber HÚlderlin. Im FrÝhjahr 1823 hatte er auf dem ³sterberg das Presselsche Gartenhaus gemietet. Dorthin lud er HÚlderlin manchmal ein. 294, 31–34 Unser bis „NachtgesÈnge“: Vgl. oben Anm. 292, 12–20. D. bezieht, trotz der genauen Beschreibung C. Litzmanns (CLi 626–628), den Titel offensichtlich auf weitere spÈte Gedichte HÚlderlins. 294, 34–40 Wenn der erworbene bis Nietzsche!: Vgl. oben unter Textbearbeitung; außerdem: Die hÚchste und schwierigste Leistung des Seelenlebens besteht darin, den erworbenen Zusammenhang desselben auf die gerade im Blickpunkt des Bewußtseins befindlichen Wahrnehmungen, Vorstellungen und ZustÈnde wirken zu lassen. Sie versagt im Traum und Wahnsinn; [. . .]. EW 94.

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294, 39 exzentrische Bahn: Vgl. HÚlderlin (1910) 253, 40 – 254, 3 und Anm. 294, 40 – 295, 6 „Ich bis zu singen“: HÚlderlin an BÚhlendorf (wie oben Anm. 293, 25–28). Vorletzter Abschnitt des Briefs: „Mein Lieber! ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht commentiren werden, sondern daß die Sangart Ýberhaupt wird einen andern Charakter nehmen, und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterlÈndisch und natÝrlich, eigentlich originell zu singen.“ CLi 638. 295, 1–2 Worte Heinrichs von Kleist: Vermutlich kannte D. die nach mÝndlichem Bericht Pfuels von Wilbrandt aufgezeichneten Zeugnisse aus der Zeit der Arbeit Kleists an Robert Guiskard (1802–1804): „Er hat es seinem Freunde Pfuel oft gesagt, daß es nur das eine Ziel fÝr ihn gebe, der grÚßte Dichter seiner Nation zu werden; und auch G Ú t h e sollte ihn daran nicht hindern. Keiner hat GÚthe leidenschaftlicher bewundert, aber auch Keiner ihn so wie Kleist beneidet und sein GlÝck und seinen Vorrang gehaßt. Dem Freunde gestand er in wild erregten Stunden, wie er es meinte: ‚I c h w e r d e i h m d e n K r a n z v o n d e r S t i r n e r e i ß e n , war der Refrain seiner Selbstbekenntnisse wie seiner TrÈume.“ A. Wilbrandt, Heinrich von Kleist, NÚrdlingen 1863, S. 174. 295, 18–26 „Der Rhein“ bis Sokrates: Der Rhein. An Isaak Sinclair. (1802). „Denn weil / Die Seligsten nichts fÝhlen von selbst, / Muß wohl, wenn solches zu sagen / Erlaubt ist, in der GÚtter Namen / Teilnehmend fÝhlen ein andrer – / Den brauchen sie;“. Li I, 265 f. Zu Rousseau und Sokrates ebd. Li I, 266 und 268. 295, 26–27 Sein Blick bis Bruder: Vgl. HÚlderlins Gedicht: Der Einzige (1802): „Denn zu sehr, / O Christus, hÈng’ ich an dir, / Wiewohl Herakles’ Bruder. / Und kÝhn bekenn’ ich, du / Bist Bruder auch des Eriers [Eviers],“. Li I, 270. 295, 28 Er bis Held: Der Christus des jÝngsten Gerichts von Michelangelo auf der Altarwand der Sixtinischen Kapelle. D. kannte sicher das Original wie die Beschreibung H. Grimms – nach Grimm ein „Heros“. H. Grimm, Leben Michelangelo’s II, Berlin 51879, S. 224. Vgl. die ErwÈhnung im Brief Yorcks an D. aus Rom vom 4. MÈrz 1891. B Yorck 120. 296, 1–14 Mit bis Fahnen: HÈlfte des Lebens. Statt Ins (Z. 7): „In’s“. Nach Sonnenschein (Z. 10) Komma. Schwab (1846), unter: Gedichte aus der Zeit des Irrsinns, die fÝnfte von sieben, im vollstÈndigen Zyklus der NachtgesÈnge die siebente von neun Oden (vgl. oben Anm. 292, 12–20). Schwab – und das Ýbernimmt D. – liest: „Mit gelben Blumen hÈnget“. Schwab II, 341. B. Litzmann (1895 und spÈter) lehnt die VerÚffentlichung dieser Gedichte Ýberhaupt ab. P. Ernst wÈhlt im zweiten Bd. der BÚhmschen Ausgabe (1905) fÝr Gedichte ab 1804 die Rubrik Schwabs und liest wie Schwab; so noch M. Joachimi-Dege (1908). C. Litzmann (1890) hÈlt zwar die Gedichte fÝr BruchstÝcke – D. teilt diese Ansicht – beruft sich aber fÝr seine Lesung: „Mit gelben Birnen hÈnget“ auf den von HÚlderlin autorisierten Erstdruck. CLi 628.

DILTHEYS AUFSATZSAMMLUNG VON 1910

Die literarhistorischen AufsÈtze und ihr Umfeld Als „sehr bedeutend fÝr Aesthetik, Theologie, Philosophie“ bezeichnet Erich Schmidt 1892 in seiner Lessing-Monographie D.s Aufsatz Ýber Lessing und stellt in Aussicht: „soll in einer Sammlung 1892 neu erscheinen.“1 Das entsprach D.s nicht verwirklichtem Wunsch.2 In der zweiten Auflage von Schmidts Buch, 1899, fehlt der Hinweis auf eine bevorstehende VerÚffentlichung. In der dritten dagegen, 1909, blickt Schmidt schon auf den Lessing-Aufsatz in der zweiten Auflage von D.s „Sammlung“ zurÝck und schreibt nun: „hÚchst bedeutend fÝr •sthetik, Theologie, Philosophie, revidiert und in der 1. Aufl. um die ‚Minna, in der 2. um den ‚Nathan bereichert: ‚Das Erlebnis und die Dichtung, Leipzig 1905.“3 Schmidt hatte bereits 1905 das Wiedererscheinen dieses Aufsatzes von seinem im selben Jahr aus dem Berliner UniversitÈtsleben scheidenden Kollegen aufs freundlichste begrÝßt.4 Entsprechende Beachtung fanden von anderer Seite die alten AufsÈtze Ýber Goethe und Novalis und der neue Ýber HÚlderlin.5 Ob D.s Publikation der wenigen literarhistorischen AufsÈtze, gemessen am Vorhandenen, die spÈte Realisierung eines Plans zu Beginn oder Mitte der 90er Jahre, vielleicht sogar der 60er des 19. Jahrhunderts ist6 oder sich allein der Initiative seiner jungen Freunde verdankt,7 kann und muß nicht entschieden werden. Daß es um mehr als die EinlÚsung eines alten Vorhabens nach dem gewohnten Muster der Zusammenstellung kleiner Schriften geht, zeigen die erweiterten Auflagen von 1907 und 1910. In dieser Zeitspanne von 1905 bis 1910 trug D. in der Berliner Akademie der Wissenschaften die Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften vor, die zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften fÝhren sollten. Die erste, Der psychische Strukturzusammenhang, kam gedruckt 1905 heraus, die letzte, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1910. 8 Das begonnene und abgebrochene Projekt der Studien zur Ge-

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E. Schmidt, Lessing II, Berlin 1892, S. 785. Vgl. Ges. Schr. XXV, Vorbericht. 3 E. Schmidt, Lessing I, Berlin 21899, S. 692. Ders., Lessing I, Berlin 31909, S. 708. Schmidt gibt D.s Aufsatz konstant mit falschem Erscheinungsjahr an. 4 Vgl. Lessing (1910) Tg., Zur Rezeption. 5 Vgl. jeweils unter Tg., Zur Rezeption. 6 Vgl. Brief D.s an den Grafen P. Yorck von Wartenburg vom 29. Februar 1892. B Yorck 139 f., dort auch die Bezeichnung dieses Aufsatztyps. Brief D.s an Yorck vom [FrÝhjahr 1895]. B Yorck 181 f. Brief D.s an W. Scherer vom 10. MÈrz 1867. JD 233. 7 Vgl. Vorwort zu EuD1. 8 Vgl. Ges. Schr. VII. Anzeigen der Abhandlungen: 1905 von F. Deibel in: Jahresberichte fÝr neuere deutsche Literaturgeschichte, hrsg. von J. Elias u. a., XVI (Jahr 1905), Berlin 1908, S. 677 f. 1910 von W. BÚhm ebd. XXI (1910), Berlin-Steglitz 1912, S. 317 f. Nach B. Groethuysens Mittei2

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schichte des deutschen Geistes mit den Rundschau-AufsÈtzen war prÈsent.9 Die Manuskripte zu Klopstock, Jean Paul, auch Die große deutsche Musik des 18. Jahrhunderts entstanden dafÝr; Schiller wurde nochmals vorgenommen. 1905 im August verfaßte D. ein bildungspolitisches Gutachten,10 im November las er Die Jugendgeschichte Hegels, die als Akademie-Abhandlung 1906 erschien. 1907 erÚffnete Das Wesen der Philosophie, eine umfangreiche Abhandlung, den Band: Systematische Philosophie in der Reihe: Die Kultur der Gegenwart.11 Vermutlich bewirkte die BeschÈftigung mit den literarhistorischen AufsÈtzen um 1907/1908, die schon einmal, zwischen 1892 und 1894, angefangene Umarbeitung des poetologischen Beitrags fÝr die Zeller-Festschrift wieder aufzunehmen.12 Den von Max Frischeisen-KÚhler herausgegebenen großen Sammelband: Weltanschauung (1911) leitet D.s Abhandlung Die Typen der Weltanschauung ein.13 Von unmittelbaren AbhÈngigkeiten zwischen diesen Schriften und den AufsÈtzen kann kaum die Rede sein, aber von vielen BerÝhrungspunkten, wie sie sich in den StichwÚrtern Erlebnis und Nacherleben; Bedeutsamkeit und Ausdruck; Leben und Verstehen; Biographie, Psychologie, Weltanschauung, Musik andeuten. Vom Hintergrund der zahlreichen Arbeiten D.s im letzten Lebensjahrzehnt hebt sich Das Erlebnis und die Dichtung als einzige vÚllig abgeschlossene, leicht zugÈngliche BuchverÚffentlichung ab. Weder war ein zweiter Band geplant noch bedarf es der Erinnerung, erste EntwÝrfe vor sich zu haben. Diese AufsÈtze sind bearbeitet, mehrfach sogar.14 Einen Platz innerhalb der Gesammelten Schriften haben sie allerdings ebensowenig erhalten wie das zweite der wirksamen BÝcher D.s – abgesehen von der Einleitung in die Geisteswissenschaften – , die Schleiermacher-Biographie. Zwar gab es ErwÈgungen, Literarhistorisches einzubeziehen, das belegt eine AnkÝndigung des 1936 noch ausstehenden Bandes X, der den Titel: Die große Phantasiekunst15 haben sollte, aber die Ethik-Vorlesung wurde der Phantasiekunst vorgezogen. Erst mit der Fortsetzung der Ausgabe Ýber den Band XII hinaus stellte sich ein Gleichgewicht zwischen den Schriften des jÝngeren und Èlteren D. her. Die BÈnde Leben Schleiermachers (XIII und XIV) stehen am Beginn der Fortsetzungsreihe; Dichter als Seher der Menschheit (XXV) und, im Grundbestand spiegelbildlich dazu, Das Erlebnis und die Dichtung (XXVI) beschließen sie. Der vorliegende Band enthÈlt D.s erfolgreiche Publikation in der dritten Auflage von 1910. Sie

lung plante D. zwischen 1904 und 1906, eine zweite Auflage der Einleitung herauszugeben, wie der Entwurf eines Vorworts belegt. Einleitung 410 f. 9 Vgl. Ges. Schr. III. 10 W. Dilthey, Denkschrift Ýber die GrÝnde, welche fÝr die Trennung von Kultus und Unterricht in zwei Ministerien sprechen, hrsg. von U. Herrmann, in: neue Sammlung, GÚttinger Zeitschrift fÝr Erziehung und Gesellschaft, hrsg. von H. Becker u. a., 10 (1970), S. 104–123. 11 Ges. Schr. V, 339–416. 12 Vgl. Bausteine 307–320. 13 Die Typen der Weltanschauung. In: Weltanschauung, hrsg. von M. Frischeisen-KÚhler, Berlin 1911, S. 1–51. Ges. Schr. VIII, 73–118. Frischeisen-KÚhlers Einleitung stammt vom Herbst 1910; D.s Vorwort zu EuD3 vom September 1910. Die BÈnde sind in etwa zeitgleich fertiggestellt worden. 14 Daß D. außerdem daran lag, Fehler zu korrigieren, bestÈtigt im Widmungsexemplar von EuD1 fÝr den Bruder Karl das unbezeichnete Fragment eines Briefes, wahrscheinlich an ihn gerichtet: Besten Dank wegen Ben Jonson; ich erinnere mich des Namens nur einmal p 170 und habe corrigirt. Du schreibst von einigen anderen Versehen: bitte doch ja wenn Du Zeit hast, sie festzuhalten und mir zu schreiben, da der Druck baldigst beginnt. Gemeint sein muß der Druck der zweiten Auflage von EuD. Archiv der BBAW zu Berlin, NL Dilthey, D 156 (283). 15 Vgl. die Àbersicht Ýber die Ges. Schr. in Band XII (1936): „X. Bd. Die große Phantasiekunst. (Dieser Band steht noch aus.)“

Die literarhistorischen AufsÈtze und ihr Umfeld

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setzt sich gleichbleibend aus vier AufsÈtzen zusammen, aus der HÈlfte des von D. fÝr den Plan um 1895 Vorgesehenen, dazu kommen Friedrich HÚlderlin 1905 und 1910 erstmals ein einleitender Àberblick. Der neue Aufsatz wie die alten gehen aus bestimmten ArbeitszusammenhÈngen hervor oder sind in sie eingebettet. Unmittelbaren Anstoß zu Friedrich HÚlderlin gab mit Sicherheit Die Jugendgeschichte Hegels, aus der HÚlderlin nicht wegzudenken war, wohl auch nicht die RÝckerinnerung an den ersten eigenen Versuch Ýber ihn. Die BeschÈftigung mit HÚlderlin war damals verbunden mit der D. außerordentlich anziehenden Frage nach der dichterischen Einbildungskraft und ihrer Grenze zum Wahnsinn.16 Den Ansatz einer systematischen Darstellung des Phantasieproblems enthÈlt Charles Dickens und das Genie des erzÈhlenden Dichters (1877), in WM kurz vor der Rezension von Herman Grimms Goethe-Vorlesungen erschienen und teilweise in sie Ýbergehend. Einen Essay Ýber Goethe hatte D. im Zusammenhang mit einer offensichtlich nur geplanten Vorlesung Ýber Lessing, Schiller und Goethe schreiben wollen ,17 rund zehn Jahre vor der Anfrage von Moritz Lazarus – der wiederum seit Bestehen der Zeitschrift fÝr VÚlkerpsychologie einen Beitrag D.s erwartete.18 Aus der erbetenen Rezension, die sich weitgehend von ihrem Gegenstand entfernte, wurde der Aufsatz Ueber die Einbildungskraft der Dichter, vierfach bearbeitet und umbenannt in Goethe und die dichterische Phantasie. Mindestens ebenso starke, den Schwerpunkt von der Theologie auf die zeitgenÚssische •sthetik und die Werke Lessings lenkende Eingriffe erfuhr der Aufsatz Ueber Gotth. Ephr. Lessing. Grundlage fÝr die zunÈchst im Mittelpunkt stehenden theologischen Fragen waren Vorhaben und intensive Studien D.s in den frÝhen Berliner Jahren zur Kirchengeschichte der ersten Jahrhunderte, auch Teile der Schleiermacher-Preisschrift. Ausschnitte des Aufsatzes mit einigen Ergebnissen gingen in die Basler Antrittsvorlesung (1867) ein und in die laufende Arbeit an der Schleiermacher-Biographie (erste Lieferung 1867). Novalis gehÚrt zu dieser Biographie, ist angeregt durch D.s Edition zweier BÈnde des Schleiermacher-Briefwechsels, aus dessen Einleitung das weitrÈumig konzipierte, nicht vollendete Werk Leben Schleiermachers entstanden ist. Statt des Novalis hÈtte D. lieber eine Geschichte der romantischen Schule aus den ungedruckten Quellen19 geschrieben, aber es wurde die Schleiermachers in lebhafter Konkurrenz zu Rudolf Hayms Romantischer Schule.20 Verflochten in unterschiedliche ZusammenhÈnge, bleiben die literarhistorischen AufsÈtze D. Ýber die Jahrzehnte gegenwÈrtig als Verweis- und Bezugspunkte,21 als Material einer sie vereinigenden kÝnftigen Publikation, die in den 90er Jahren zuerst Ýber Dickens zur modernen

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Der frÝhe HÚlderlin-Aufsatz von 1867 (HW) wirbt fÝr HÚlderlins Dichtung und stellt den Ýblichen ErklÈrungen seines Wahnsinns aus persÚnlicher Veranlagung die aus geschichtlich-sozialen UmstÈnden gegenÝber. 17 Vgl. Brief D.s an E. Reimer, zitiert in Goethe (1910) Tg., Entstehung. 18 Vgl. Brief von M. Lazarus an P. Heyse vom 22. Dezember 1877 anlÈßlich von D.s Rezension der Goethe-Vorlesungen H. Grimms: „Sonst hat er vordem nicht so voll ins Leben gegriffen, keine wahrhaft psychologische Schau gehabt; ich glaube auch, dass dies der Grund ist, weshalb er mich 10–12 Jahre auf einen Beitrag zur Zeitschrift immer wieder nur vertrÚstet hat.“ AusfÝhrlicher zitiert in Ges. Schr. XXV, E Goethe Tg., Zur Rezeption. Aus: Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, hrsg. von I. Belke, II, 2. TÝbingen 1986, S. 677. 19 Vgl. Novalis (1910) Tg., Entstehung. 20 Vgl. Brief D.s aus Kiel, undatiert, wohl vom Oktober 1869 an (G.?) Reimer: So hoffe ich, daß der Band doch noch Haym's paralleler Gesch[ichte] der Romantik zuvorkommen wird, was sicher fÝr den Vertrieb sehr wichtig ist. Verlagsarchiv de Gruyter Berlin. Dazu F. Rodi, UnverstÈndnis und WiederverstÈndnis im Umgang mit der FrÝhromantik. In: Erkenntnis des Erkannten, Frankfurt 1990, S. 31–55. 21 Vgl. z. B. Studium 37; Einleitung 59, 102; Bausteine 211; B Yorck 116 u. Ú.

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Poesie fÝhren , dann um AufsÈtze zu Shakespeare, Shakespeare und Goethe, Schiller erweitert werden sollte.22 Die NÈhe der frÝhen Arbeiten bewirkte vielleicht, fÝr die erste Auflage von EuD mit SelbstverstÈndlichkeit Neues neben Altes zu stellen, den HÚlderlin-Aufsatz als ErgÈnzung der frÝhen AufsÈtze zu verstehen. Zur Zeit ihres ersten Erscheinens mußten die Arbeiten Ýber Novalis und HÚlderlin geradezu progressiv wirken, mit der unbeirrten Verteidigung nicht oder wenig anerkannter Literatur wie des Ofterdingen Hardenbergs oder der Lyrik HÚlderlins, mit der Zuwendung zur Romantik. D.s erklÈrtes Ziel war, beiden Dichtern Leser zu verschaffen und den ihnen gebÝhrenden Platz in der literarischen Tradition. 1905 dagegen paßten die Publikationen Ýber Novalis und HÚlderlin in die literarische Landschaft der „Wiedergeburt“ der Romantik,23 der Auseinandersetzung mit beiden Dichtern und der BemÝhungen um die Edition ihrer Werke. Das BruchstÝck von einem Epilog zu Novalis bestÈtigt rÝckschauend diesen Sachverhalt: Als ich vor 40 Jahren diesen Aufsatz schrieb war diese WerthschÈtzung des romantischen Dichters eine Ketzerei. Ich erinnere mich eines Besuchs bei Gervinus der meine WerthschÈtzung der romantischen Schule mißbilligte. [. . .] Wie hat sich das nun verwandelt!24 Mit dem Aufsatz Ýber Lessing verband D. 1867 wie 1910 das Studium dieses Mannes; darÝber hinaus die Vorstellung von einem notwendigen Fortschritt in der Analyse der Entstehung unserer neueren deutschen Literatur Ýber die bisherigen Behandlungen hinaus.25 Die Arbeit Ýber Goethe, konzentriert auf dichterische Phantasie, den Vorgang des dichterischen Schaffens, das Erlebnis, rÝckt ebenfalls die Person des Dichters ins Zentrum. Verehrung großer Dichter und PersÚnlichkeiten26 in Abkehr von positivistischem Faktensammeln, von der Konstruktion kausaler AbhÈngigkeiten, auch von dem VerstÈndnis der Literaturwissenschaft als Philologie, das BedÝrfnis, um mit Oskar Walzel zu reden, „nachfÝhlen, verstehen, begreifen“27 zu wollen, die Vorliebe fÝr Lebens- und Weltanschauungen kam allen vier AufsÈtzen entgegen.28 Der „Geist seiner Jugend“ sei in diesem Band „lebendig“, schreibt Georg Misch, der fÝr die gesamte Publikation Verantwortliche, im Vorwort zur vierten, zwei Jahre nach D.s Tod herausgekommenen, unverÈnderten Auflage. Zugegeben, auch in den stark bearbeiteten AufsÈtzen bleibt eine gewisse Grundsubstanz erhalten. UneingeschrÈnkt gilt Mischs Satz jedoch nur fÝr die Erstfassungen

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Vgl. B Yorck 139 f., 183. R. Huch, BlÝthezeit der Romantik (1899), BlÝtezeit der Romantik, Leipzig 31905, S. III, Vorwort zur ersten Auflage. 24 Archiv der BBAW zu Berlin, NL Dilthey, C 88 (235), 323r. Einen Besuch bei Gervinus und ein wunderliches GesprÈch mit ihm erwÈhnt D. im Brief vom MÈrz 1868 an H. Usener. JD 256 f. 25 Vgl. Lessing (1910) 110. 26 Vgl. Th. Carlyles Londoner Vorlesungen: On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History (1841), Vorbild fÝr R. W. Emersons Reihe Representative Men (1850). Verwandte VerÚffentlichungen: Geisteshelden. (FÝhrende Geister.) Eine Sammlung von Biographieen. Hrsg. von A. Bettelheim; erschien in drei Serien zwischen 1894 und 1898 in Berlin; von philosophischer Seite: z. B. das Buch R. Euckens (wie unten Anm. 28); von wissenschaftsgeschichtlicher Seite: W. Ostwald, Große MÈnner, Leipzig 1909. 27 O. Walzel (wie unten Anm. 220), S. 611; vgl. auch Novalis (1910) Tg., Zur Rezeption. 28 Vgl. z. B. R. Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker, Leipzig 1890. Euckens Buch erschien 1911 in neunter Auflage; M. Joachimi, Die Weltanschauung der deutschen Romantik, Jena und Leipzig 1905; H. Nohl, Die Weltanschauungen der Malerei, Jena 1908 (Habil.-Schrift, D. gewidmet); Weltanschauung (wie oben Anm. 13). 23

Bilder gegen AufsÈtze

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der drei alten AufsÈtze im vorangehenden Band XXV und von vornherein nicht fÝr die neue Arbeit Ýber HÚlderlin, trotz einiger AnklÈnge an die erste. Allenfalls auf Novalis, den die Bearbeitungswellen, die Ýber Lessing und Goethe hinweggegangen sind, nur in den Anmerkungen erreicht zu haben scheinen, trÈfe er zu. D. selber bemerkt im Vorwort zur ersten Auflage, der Titel gebe den inneren Zusammenhang der AufsÈtze nur sehr unzureichend wieder und verweist auf den Goethe-Aufsatz, der diesem Mangel abhelfen soll. Der Leser der dritten Auflage wird unwillkÝrlich an das kleine Kapitel Erlebnis und Dichtung in diesem Aufsatz denken, das existierte aber 1905 noch nicht. Das Wort Erlebnis, im HÚlderlin-Aufsatz hÈufig, kam in den alten AufsÈtzen Ýberhaupt nur bei Goethe und in verschwindend geringer Zahl vor.29 Obwohl es, dank der ErgÈnzungen zu Lessing und Goethe fÝr die erste Auflage, die AufsÈtze als orientierender Begriff einigermaßen verband, sich auch die Beziehung zwischen Erlebnis und Dichtung zeigte, erschien der Titel D. nicht treffend – er verÈndert jedoch weiterhin die AufsÈtze. Das gilt sogar fÝr Novalis, wenngleich dieser Vorgang in den Handschriften versteckt geblieben ist. Die Bearbeitungen sind darauf ausgerichtet, soviel lÈßt sich in groben ZÝgen sagen, die Texte einander und dem Titel anzugleichen – oder die allmÈhliche Durchdringung von frÝhen und spÈteren Sicht- und Darstellungsweisen zu erreichen. Dieser Spur, dem Ineinander von Festhalten und VerÈndern, versuchen die folgenden Beobachtungen durch das Dickicht der inhaltlich wie stilistisch – auch in Orthographie und Interpunktion – verschiedenen Fassungen in einigen Richtungen nachzugehen.

Bilder gegen AufsÈtze Ein alle alten AufsÈtze betreffender Schritt der Bearbeitung fÝr die erste Auflage ist das Weglassen. Es geschieht großzÝgig bei Goethe,30 gemildert bei Lessing, kaum bei Novalis. Genommen wird den alten Publikationen Unterschiedliches: AnknÝpfung oder Schreibanlaß, ein inhaltlicher Bezug (C. Hebler fÝr Lessing; H. Grimm, Kant fÝr Goethe); Quellen und Nachweise (bei Novalis und Lessing); Forschungsliteratur (in Lessing und besonders in Goethe); KlÈrung von Datierungen (Novalis und Lessing) – das Ýberwiegend Philologische. 31 FÝr HÚlderlin war dergleichen außer in den Anmerkungen nicht in Betracht gekommen. Damit verbirgt D. eine Seite seines Arbeitens und Schreibens.32 Bewirkt wird jedoch, daß sich der Charakter der AufsÈtze Èndert, die Thematik stÈrker zu einer nur ihm eigenen wird, wie es die AnfangssÈtze der Goethe-Rezension verdeutlichen. In der Erstfassung unauffÈllig mitten im Text, fÝhren sie direkt zu dem D. an Goethe interessierenden Gegenstand, zu Phantasie und ihrer Funktion fÝr die Literaturgeschichte.33 Der Gestus des ErzÈhlens, die bewußt angestrebte ErzÈhlung fÚrdert ein ‚anverwandelndes Schreiben, die Darstellung von Tatsachen und 29

Von sieben Belegen beziehen sich drei auf Rousseau (Àbersetzung der Vorlage?), je einer auf Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach, ein einziger auf Goethe (vgl. unten den Abschnitt: Erlebnis und Dichter); schließlich ist von gelesenen Erlebnissen im Zusammenhang mit den Goethe-Vorlesungen H. Grimms die Rede. 30 Besonders gut zu sehen an den Streichungen in einem Sonderdruck von E Goethe (EH). Archiv der BBAW zu Berlin, NL Dilthey, D 161 (288). 31 Nur im Theologieteil des Lessing-Aufsatzes bleiben Einzelheiten zur Datierung. Die ‚Entlastung der Texte ist zum Teil allerdings Verlagerung. Der Anspruch, auf dem Stand wissenschaftlicher Forschung zu sein, zustimmend (HÚlderlin), ablehnend (Lessing), widerstrebend nur sich einlassend (Novalis), zeigt sich in D.s Anmerkungen – außer bei denen zu Goethe. 32 Verloren geht, D. als großen Leser und kompetenten Kritiker neuer Editionen und Literatur, als engagierten Verfechter der GrÝndung von Archiven fÝr Literatur wahrzunehmen. Vgl. Ges. Schr. XXV, E Goethe 125–130; dazu Archive A und R. 33 Daß schon dieser Aufsatz in der Erstfassung keine Zitatnachweise hatte, die AufsÈtze der 60er

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Ereignissen als kÈmen sie nicht aus bestimmten Quellen, die D. Ýbrigens exzessiv nutzt. 34 Grund fÝr die RÝcknahme handwerklich-wissenschaftlicher Korrektheit, argumentierenden Schreibens zu Gunsten eines erzÈhlenden, enthusiastisch wertenden kÚnnte sein, die Zeitgebundenheit der AufsÈtze zu Ýberspielen, sie als unabhÈngig von der literarischen Diskussion hinzustellen, dem widersprechen in gewissem Grad die Literaturangaben in D.s Anmerkungen. Ausschlaggebender war vermutlich, den Schreibduktus, soweit als mÚglich, zu vereinheitlichen, eine stÈrkere Konzentration auf die eigenen GedankengÈnge zu erzielen. ErgÈnzungen, Verschiebungen, Korrekturen, besonders fÝr die zweite Auflage von EuD, fÚrdern diese Umgestaltung. Unebenheiten bleiben nach wie vor. Die Schwerpunkte Biographie und Werk fÝhren zu kleineren und grÚßeren Wiederholungen (vgl. etwa HÚlderlins Roman Hyperion innerhalb seines Lebensganges und im gesonderten Kapitel). D.s Vorliebe fÝr historische Exkurse zieht Unterbrechungen des Ganges der ErzÈhlung nach sich. Seine Themen – die Bedingungen, die zur Entstehung von Dichtung fÝhren, der psychische Vorgang im dichterischen Schaffensprozeß, Lebens-, Weltanschauung, Dichtungen als ihr Ausdruck – sie alle bringen eine gewisse Diskrepanz zwischen erzÈhlender und begrifflich erklÈrender oder historischer und systematischer Darstellung mit sich. Sie ist im HÚlderlin-Aufsatz vielleicht deshalb am wenigsten spÝrbar, weil D. die Begriffe Erlebnis, Bedeutung, Ausdruck, Verstehen, Leben voraussetzungslos, d. h. ohne Definition oder Kommentar gebraucht. Seine Tendenz, auf ‚KunstwÚrter zu verzichten, erschwert stellenweise, zwischen ihrer spezifischen und landlÈufigen Bedeutung zu unterscheiden. Harry Maync rÝhmt an den AufsÈtzen den D. „eigenen individualistischen Impressionismus“; ihm ginge es um „eine Biographie der kÝnstlerischen Psyche“. Franz Deibel spricht von „einer grosszÝgigen psychologischen Analyse der neueren deutschen Literatur“ und hebt das „geistige PortrÈt“ des Novalis hervor, Robert Petsch die „Charakteristik“ HÚlderlins. In anderem Zusammenhang, aber durchaus Ýbertragbar, bemerkt Wilhelm BÚhm mit leiser Ironie, daß D. seine GegenstÈnde „umschreibend in weite und wallend faltige GewÈnder hÝllt.“35 D. nannte die drei ersten Arbeiten wÈhrend langer Jahre Abhandlungen, AufsÈtze, auch einmal Artikel und Essay.36 1910 heißen alle definitiv, in kaum unbewußter oder unbeabsichtigter Anspielung auf Bekanntes, Bilder aus der Geschichte unserer deutschen Dichtung.37

Literatur und geschichtliche Situation Als Historiker fragt D. nach den Bedingungen der Entstehung der deutschen Literatur um 1800 und nach einer epochalen Begrenzung. Die spezifisch deutsche Entwicklung erklÈrt er, durchaus in

Jahre enthielten sie, wenn auch nicht vollstÈndig, im Text, wÈre noch mit einem gewissen bÝrgerlichen SelbstverstÈndnis erklÈrbar, das trifft 1905 fÝr HÚlderlin nicht zu. 34 Vgl. das Stichwort ErzÈhlung in HÚlderlin (1910) 230; als ein Beispiel fÝr viele D.s Beschreibung der Erscheinung HÚlderlins nach Litzmann, HÚlderlin (1910) 224, der seinerseits Herkunft und Quelle genau angibt. CLi 70. 35 Zu H. Maync und F. Deibel vgl. EuD, Tg., Zur Rezeption. Zu R. Petsch vgl. Goethe (1910) Tg., Zur Rezeption; W. BÚhm (wie oben Anm. 8), S. 317. 36 Vgl. Studium 37; Bausteine 108, 211; B Yorck 116, 183. Artikel ebenfalls B Yorck 116; zum geplanten Essay vgl. Goethe (1910) Tg., Entstehung. 37 Gang 11. Zum Gebrauch dieses Terminus vgl. D.s Anzeige (1880) eines neuen Abdrucks von G. Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Ges. Schr. XVII, 398–400. EuropÈisch orientiert: J. Schmidt, Bilder aus dem Geistigen Leben unserer Zeit, Leipzig 1871. Als Bilder bezeichnet D. seine Arbeiten um 1895 im von ihm nicht verÚffentlichten Einleitungsentwurf. Ges. Schr. XXV, Thema probandi, 5.

Literatur und geschichtliche Situation

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Anklang an Hippolyte Taine,38 aus den politischen und gesellschaftlichen VerhÈltnissen Deutschlands, aus der Kleinstaaterei. Misere39 charakterisiert sie, die Abwesenheit aller stÈrkeren Impulse, welche aus dem Leben selber gekommen wÈren.40 Handlungs- und WirkungsmÚglichkeiten nach außen nimmt D. innerhalb eines starken nationalen Staates als selbstverstÈndlich gegeben an. VerklÈrte Gegenbilder zum benachteiligten Deutschland zeichnet er vor allem von England, Spanien und Frankreich – nicht ohne Sympathie fÝr die Gewaltsamkeit zentraler absolutistischer MachtverhÈltnisse, fÝr blutige Kriege, heroische Taten, große Leidenschaften, fÝr die aus solchen Konstellationen hervorgehende Phantasiekunst.41 Taten- und leidenschaftsarm, bleibt den Deutschen in ihrer EingeschrÈnktheit fÝr lange Zeit aus Mangel an nationalen Zielen, einem Mittelpunkt nur der Weg in die Innerlichkeit, die Gestaltung der eigenen Person. Ein Zustand, der fÝr alle vier Dichter dieses Bandes gilt, die ihn im Ýbrigen selber wahrgenommen und dies auch ausgesprochen haben, am schÈrfsten wohl Goethe.42 1865 findet sich D.s ErklÈrungsmuster in Novalis, bleibt dort wie in den alten AufsÈtzen und andernorts erhalten,43 um schließlich in Friedrich HÚlderlin unter Misere 1905 noch einmal aufgenommen zu werden. Zugleich erfÈhrt Entfaltung der Innerlichkeit, der PersÚnlichkeit, von D. in den frÝhen AufsÈtzen eher mit Unbehagen und als Ersatz gesehen, im Zusammenhang mit HÚlderlins Lyrik und der BerÝcksichtigung der parallel verlaufenden Musikentwicklung eine deutliche Aufwertung.44 Als D. 1910 fÝr die dritte Auflage von EuD eine gattungs- und phantasiegeschichtlich ausgerichtete kleine Vorgeschichte entwirft, um den vier Protagonisten ihren Platz im europÈischen Kontext zuzuweisen, erscheint die deutsche Entwicklung in ihrer Andersartigkeit – keineswegs als unterlegen. Dem entsprechen: die bei HÚlderlin besonders auffallenden Verweise auf ZÝge, die ihn mit franzÚsischen, englischen, italienischen Schriftstellern verbinden ;45 das in die erste Bearbeitung eingefÝgte Kapitel •sthetische Theorie mit Dubos bei Lessing ; schließlich in der dritten Auflage die Sicht Goethes unter dem Aspekt der Weltliteratur, in der er, und zugleich Deutschland, in eine fÝhrende Position aufrÝckt.46 Im Gegensatz zur Literaturgeschichte vor und seit Gottfried Gervinus mit ihrem Nacheinander einzelner Dichter oder Dichterschulen, mit oft an die politische Geschichte angelehnten Epochen, lÈßt D. in weitem Bogen die neuere deutsche Literatur, mit ihr zusammen die Philosophie bei Lessing beginnen und sieht sie bis zu Goethes, Hegels und Schleiermachers Tod als Einen Zusammenhang, als ein Ganzes.47 Dieses Ganze wird als Bewegung, mouvement, aufgefaßt48 und erzeugt eine Literatur, die zwar nicht auf einem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens beruht, die einzelner, ja Vereinzelter ist und der BegrÝndung bedarf, aber sich von AutoritÈten in Èsthetischer wie theologischer

38 H. Taines Untersuchungen zur Literatur, in denen er von den drei entscheidenden Faktoren, la race, le milieu, le moment, ausgeht, erscheinen ab 1860. D. benutzt in den viel spÈteren Umarbeitungen des Dickens-Aufsatzes Taines Histoire de la Litt¹rature anglaise (1863/64). 39 WÚrtlich so in HÚlderlin (1910) 232; bei Goethe: Elend, Goethe (1910) 154. 40 Novalis (1910) 187. 41 Vgl. Leben Schl XIII,1. S. XXXVIII f.; EW 97; Gang 4; selbst im Nathan den Vorrang der Leidenschaften gegen das alles betastende, ruhelose Denken. Lessing (1910) 89. 42 Goethe, Literarischer Sansculottismus (1795). 43 Novalis (1910) 187; Lessing (1910) 12; Goethe (1910) 154 f.; Basler Antrittsvorlesung 14 f. 44 HÚlderlin (1910) 282 und 288 f. 45 HÚlderlin (1910) 225; 255, 258. 46 Goethe (1910) 129 f. 47 Lessing (1910) 110; Basler Antrittsvorlesung 13. 48 Vgl. den Titel der Basler Antrittsvorlesung; HÚlderlin (1910) 230, 262; auch Lessing (1910) 106 und Ges. Schr. XXV, Anm. Le 118, 28.

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Hinsicht befreit hat und autonom wird. Als Folge der AufklÈrung ist sie nach D.s These an Wissenschaft gebunden, ein weiterer sie kennzeichnender Zug. Es folgt dann, daß dies Lebensideal, wie es unter den Bedingungen einer Ýberreifen Begriffskultur auftrat, sich zugleich in einer wissenschaftlichen Literatur aufzuklÈren und zu verteidigen unternahm. Daher der eigene Charakter unserer Literatur, daß die Dichter zugleich als wissenschaftliche Forscher auftreten, daß ihre poetische Entwickelung zugleich durch die Entwickelung ihrer Forschungen bedingt ist.49 Daher begrenzt D. Literatur nicht auf die sogenannte schÚne oder poetische, sie umfaßt von vornherein alles Philosophische und Schriften biographischer, Èsthetischer oder literaturtheoretischer Natur. Im Umgang mit ihr unterscheidet D. frÝh und ohne konkreten Zusammenhang (TagebÝcher von 1861) das philologische vom historischen Verfahren, das auf Geschichte der Ideen ausgerichtet sei.50 Zu den noch wenig interpretierten Werken des Novalis bemerkt er: Diese Untersuchung kÚnnte wohl den Literarhistoriker reizen. Was mich auf Novalis fÝhrt, ist die weitergreifende Hoffnung, an ihm einige der wichtigeren Motive der Weltansicht aufzuklÈren, welche in der auf Goethe, Kant und Fichte folgenden Generation hervortritt.51 Das gilt nicht nur fÝr Novalis. Lebens- und Weltanschauung der Dichter (wenn auch nicht in allen FÈllen, wie fÝr Novalis und Lessing, durch ein eigenes Kapitel ausgewiesen) bleibt eines der durchgÈngigen Themen D.s. Geschichte der Literatur tendiert von den AnfÈngen bis zu den letzten Bearbeitungen der AufsÈtze zu Geschichte der Lebens- und Weltanschauungen.

Generation und Biographie FÝr den weiten Zeitraum, den D. als ein Ganzes auffaßt, enthÈlt der Aufsatz Ýber Novalis eine GliederungsmÚglichkeit im Begriff Generation.52 Zur Abgrenzung hatte D. ihn in den Laienbriefen, nachdrÝcklicher in der Arbeit Ýber Friedrich Christoph Schlosser (1862) gebraucht, wo er vom historischen Scheidepunkte der Generationen spricht und damit die ersten dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts meint.53 Der Begriff Generation fÝr die um 1770 Geborenen erscheint ihm geeignet, den Namen der um 1865 diskreditierten Epoche Romantik zu ersetzen. Teils in wÚrtlicher Àbereinstimmung stellt er zehn Jahre spÈter, in der Abhandlung von 1875, noch einmal sein VerstÈndnis des Begriffs – des natÝrlichen inneren Zeitmaßes geistiger Bewegungen – ausfÝhrlich dar und verweist auf das inzwischen vorliegende praktische Beispiel einer Anwendung, auf sein Buch Leben Schleiermachers.54 Um die Vielzahl von Bedingungen, der eine Generation unterworfen ist, zu bÝndeln und ihre Beschreibung methodisch zu erleichtern, trennt D. zwischen vorgefundenem Besitzstand der intellektuellen Kultur und Einwirkungen des umgebenden Lebens, tatsÈchlicher

49

Lessing (1910) 111; vgl. Novalis (1910) 196, 206; Goethe (1910) 130, 156. JD 150 f. 51 Novalis (1910) 174. 52 Novalis (1910) 175. Nach W. Krauss angeregt von L. Ranke. Vgl. W. Krauss, Grundprobleme der Literaturwissenschaft, rde 290 (1968), erweiterte Neuausgabe, Reinbek 1976, S. 128 (ohne ErwÈhnung D.s). 53 Laienbriefe Ýber einige weltliche Schriften. Ges. Schr. XI, 65; Friedrich Christoph Schlosser. Ebd. 106. 54 Studium 36–42; Zitat ebd. 42 Anm.; Hinweis auf die Schleiermacher-Biographie ebd. 36. Vgl. HÚlderlin (1910) 232. 50

Generation und Biographie

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VerhÈltnisse, gesellschaftlicher, politischer, unendlich vielartiger ZustÈnde.55 Fraglos steht fÝr ihn fest, daß nicht anders als unvollstÈndig beschrieben werden kann, mit der Aussicht auf eine sehr approximative Richtigkeit.56 Geschichtlicher Forschung, so weiter in Novalis, ist ein ableitendes Verfahren nach dem Prinzip der KausalitÈt, wie in den Naturwissenschaften Ýblich, grundsÈtzlich verwehrt, es vereinfacht und verfÈlscht, eher wÈre umgekehrt vorzugehen, von den Wirkungen aus nach Ursachen zu fragen. Zudem scheint nur in der Beobachtung der Wechselwirkung der beiden Komponenten, Einfluß des ‚Erbes und der Gegebenheiten der jeweiligen Gegenwart, auf den Lebensverlauf eines Individuums eine annÈhernde Erfassung charakteristischer ZÝge einer Generation mÚglich, das heißt Ýber Biographie. 1850 stellte Theodor Wilhelm Danzel im Vorwort zu seinem Lessing-Buch fest: „Wenn jetzt die Zeit der Monographieen im Gebiete der neuern deutschen Litteraturgeschichte gekommen ist – [. . .] – so wird eine litterarische Lebensbeschreibung L e s s i n g ` s keine der ÝberflÝssigsten und auch keine der unwÝrdigsten Unternehmungen sein.“57 Mit Èhnlich bescheidener ZurÝckhaltung entwirft D. im Novalis-Aufsatz eine biographische Skizze, obwohl er sich wenige Jahre zuvor im Fall Schlossers Haym gegenÝber schon klar und bestimmt Ýber sein Vorgehen geÈußert hatte. Die Form ist: Biographie, fÝr die ich allerhand HÝbsches gefunden, jedesmal mit wissenschaftlichen Partien verbunden und dann – was das Beste werden soll – zusammenfassende Darstellung seiner historisch-politischen Ideen aus seinem Grundcharakter.58 Diese briefliche Mitteilung enthÈlt den Grundriß fÝr die Ýberwiegende Zahl von D.s auf dem Fundament der Biographie ruhenden und ihr weitgehend folgenden Darstellungen, seien es die von Historikern, Philosophen oder Dichtern. Lessing und Goethe bilden in den Erstfassungen der AufsÈtze gewisse Ausnahmen mit ihren alles beherrschenden inhaltlichen Schwerpunkten, Theologie und dichterische Phantasie. Erst in den Bearbeitungen werden beide AufsÈtze biographisch nachgebessert. Auf die Abweichung vom Schema im Goethe-Aufsatz hat vielleicht auch Dichtung und Wahrheit Einfluß gehabt, bewundertes Vorbild fÝr D., da in der wechselnden ErzÈhlung von Èußeren und inneren Erfahrungen der sie darstellenden Person Licht auf beide Seiten fÈllt. Der sich selbst zum Gegenstand werdende Autor erfaßt die allgemeinen ZÝge im zufÈllig Individuellen. In einem fÝr EuD gestrichenen Abschnitt aus der Erstfassung des Aufsatzes betont D. die Schwierigkeit, angesichts von Dichtung und Wahrheit Biographisches Ýber Goethe zu schreiben – und hat es 1877 vermieden. Das grÚßte Hindernis fÝr einen Biographen GÚthe`s – [. . .] – liegt in dem, was auf den ersten Blick als außerordentliche FÚrderung erscheinen kÚnnte – in der Existenz von Wahrheit und Dichtung: der kunstvollsten und gedankentiefsten Biographie die je geschrieben worden, einem der grÚßten geschichtlichen Werke Ýber den Gang der innern europÈischen Bildung. In diesem Werk herscht eine ObjectivitÈt, welche nur aus der schÚnsten Uebung ganz unpersÚnlicher Betrachtung der menschlichen Dinge erklÈrlich ist. Es ist unter den Selbstbiographien ein einziges sittliches PhÈnomen.59

55 56 57

Novalis (1910) 174. Ebd. Th. W. Danzel, Gotthold Ephraim Lessing, sein Leben und seine Werke I, Leipzig 1850, Vor-

wort. 58

Brief D.s vom 10. Januar 1862. B Haym 10. Ges. Schr. XXV, E Goethe 128. Dieser Abschnitt enthÈlt schon das Stichwort fÝr die vierte und letzte Bearbeitung des Goethe-Aufsatzes und fÝr den Titel der Einleitung zu EuD: Gang der innern europÈischen Bildung. Vgl. Goethe (1910) 113 f. 59

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Die Voraussetzung fÝr das Gelingen dieses Geschichts- und Kunstwerks sieht D. in der Distanz des Verfassers zu sich, zum PersÚnlichen, und er reflektiert die fÝr den Autor von Biographien anderer genauso wÝnschenswerte Distanz am Beispiel Friedrich Christoph Dahlmanns: Aber man beschrÈnke sich doch endlich in bezug auf private Mitteilungen, MÈnner betreffend, deren Leistungen mit dem Charakter ihrer Frauen und dem GlÝck ihrer Ehen schlechterdings gar nichts zu schaffen haben.60 In einigem Widerspruch dazu beurteilt D. in eben diesem Aufsatz fÝr Goethe und Beethoven die Dinge anders. Das diskrete Aussparen des PersÚnlichen habe seine Grenze dort, und D. glaubt, sie haarscharf bestimmen zu kÚnnen, wo GemÝtsbewegungen, Erlebnisse fÝr ein Werk relevant werden. Wenn er z. B. die Hymnen an die Nacht als Ausdruck der schmerzlichen Erfahrungen von Novalis auffaßt; die Beziehung zwischen Hyperion und Melite im Thalia-Fragment als die HÚlderlinTragÚdie bezeichnet,61 scheint die Grenzziehung ein prekÈres Unterfangen. Dazuzurechnen sind D.s •ußerungen im Vorwort zur Erstausgabe der Schleiermacher-Biographie. D. ÝbertrÈgt die in Novalis eingefÝhrten Bedingungen, unter denen eine Generation steht, konsequent auf die Biographie und ergÈnzt sie um den Punkt der individuellen Verarbeitung aller erfahrenen EinflÝsse: Denn in dem VerhÈltnis des einzelnen zu der Gesamtheit, in welcher er sich entwickelt und auf die er zurÝckwirkt, liegt der Schwerpunkt der Biographie wie des Lebens selber; zumal aber die Biographie eines Denkers oder KÝnstlers hat die große geschichtliche Frage zu lÚsen, wie ganz zerstreute Elemente der Kultur, welche durch allgemeine ZustÈnde, gesellschaftliche und sittliche Voraussetzungen, Einwirkungen von VorgÈngern und Zeitgenossen gegeben sind, in der Werkstatt des einzelnen Geistes verarbeitet und zu einem originalen Ganzen gebildet werden, das wiederum schÚpferisch in das Leben der Gemeinschaft eingreift.62 Aus der Perspektive des einzelnen ließe sich fÝr Einwirkungen Erfahrungen sagen, fÝr Erfahrungen Erlebnisse – der Begriff selber erscheint an dieser Stelle nicht. Der von D. vorausgesetzte Verarbeitungsprozeß mÝßte jeden Biographen von vornherein vor einer Eins-zu-eins-Verrechnung von Leben und Werk bewahren. An prominenter Stelle, in der Einleitung in die Geisteswissenschaften, steigert D. den Anspruch an diese Darstellungsform und stellt die Biographie in den Bezugsrahmen von Psychologie und allgemeiner Geschichte: Die Biographie stellt so die fundamentale geschichtliche Tatsache rein, ganz, in ihrer Wirklichkeit dar. Und nur der Historiker, der sozusagen von diesen Lebenseinheiten aus die Geschichte aufbaut, [. . .] der durch den Begriff von Generationen LebenslÈufe aneinanderkettet, wird die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen, im Gegensatz zu den toten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden. / Ist die Biographie ein wichtiges Hilfsmittel fÝr die weitere Entwicklung einer wahren Realpsychologie, so hat sie andererseits in dem dermaligen Zustande dieser Wissenschaft ihre Grundlage. Man kann das wahre Verfahren des Biographen als Anwendung der Wissenschaft der Anthropologie und Psychologie auf das Problem, eine

60

Friedrich Christoph Dahlmann. Ges. Schr. XI, 167. Novalis (1910) 184; HÚlderlin (1910) 239. Zu D.s GrundÝberzeugung von der wechselseitigen Erhellung von Leben und Werk vgl. Lessing (1910) 43; HÚlderlin (1910) 283; zum Vorrang des großen Menschen vor dem Werk vgl. Goethe (1910) 171 f. 62 Leben Schl XIII,1. S. XXXIII. 61

Erlebnis und Dichter

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Lebenseinheit, ihre Entwicklung und ihr Schicksal lebendig und verstÈndlich zu machen, bezeichnen.63 Biographie als Medium, die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen zu erfassen, ist gleichsam ein TeilstÝck, das mit anderen zusammen eine Generation ausmacht. Sie steht in doppelter Beziehung zu Realpsychologie: in ihr gegrÝndet und als Methode, sie zu fÚrdern. Die Begriffe Generation und Realpsychologie fÝhrt D. im literarischen Zusammenhang, in Novalis, (der wahrscheinlich schon von daher nicht verÈndert werden konnte) frÝh ein; Realpsychologie verteidigt er bis zur dritten Auflage von EuD in den Anmerkungen zu Novalis. Biographie dagegen ist zuerst eine Schreibform und bleibt es bis zum HÚlderlin-Aufsatz, die angewendet, wenig reflektiert wird. Von der Schleiermacher-Biographie an gibt es verstreute •ußerungen64 bis hin zu den großen Fragmenten in den EntwÝrfen zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Biographie ist die Urzelle der Geschichte und mehr: Hier ist der ursprÝnglichste Zusammenhang zwischen dem Leben selbst und der Geschichte.65 Entsprechend hatte D. in seiner Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften formuliert: Das bedeutende Individuum ist nicht nur der GrundkÚrper der Geschichte, sondern in gewissem Verstande die grÚßte RealitÈt derselben. Ja wÈhrend alle Natur nur Erscheinung und Gewand eines Unerfaßbaren ist, erfahren wir hier allein Wirklichkeit in vollem Sinn, von innen gesehen: nicht gesehen sondern erlebt.66

Erlebnis und Dichter Erlebnis ist ein junges Wort. Das Grimmsche WÚrterbuch (1862) verzeichnet zwar Erleben mehrfach, Erlebnis dagegen mit nur zwei Belegen.67 In der Voranzeige der ersten BÈnde von Schleiermachers Briefen heißt es von den in Deutschland noch nicht verbreiteten Memoiren der „großen MÈnner“– wÈren sie denn hierzulande geschrieben: „Ihre Memoiren daher wÝrden Memoiren des Herzens, sie wÝrden mehr eine Darlegung ihrer individuellen Entwickelung, ihrer inneren KÈmpfe und Erlebnisse, mehr Bekenntniß als ErzÈhlung gewesen sein.“68 Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts gebraucht Hermann Hettner das Wort in einem gegen Hegels •sthetik gerichteten kunsttheoretischen Aufsatz: „Die kernhaft naiven Volkslieder und Weisen zeigen es, wie der Mensch in der Kunst nur 63

Einleitung 34; vgl. Die Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft entspricht der Stellung der Anthropologie innerhalb der theoretischen Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortschritt der Anthropologie und die wachsende Erkenntnis ihrer grundlegenden Stellung auch die Einsicht vermitteln, daß die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in seinem geschichtlichen Milieu, ein HÚchstes von Geschichtschreibung ist, gleichwertig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geschichtlichen Darstellung, die aus breiterem Stoff gestaltet. Ebd. 33. 64 Zu Biographie vgl. die Angaben in Ges. Schr. XXV, Anm. No 201, 38. 65 Ges. Schr. VII, 191–251; die zitierten Stellen 246 und 247. Vgl. zu diesem Abschnitt: M. Jaeger, Autobiographie und Geschichte. Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl LÚwith, Gottfried Benn, Alfred DÚblin, Stuttgart, Weimar 1995, bes. S. 19–70. 66 Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften (1887). Ges. Schr. V, 10 f. 67 Das Goethe-WÚrterbuch (1998) enthÈlt das Wort zweimal, im Plural, aus GesprÈchen; fÝr „erleben“ werden ca. 440 Belege angegeben. Dazu K. Sauerland, Diltheys Erlebnisbegriff, Berlin, New York 1972. 68 „Aus Schleiermacher`s Leben.“ In: PJ I (1858), S. 558, anonym.

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austÚnt, was sein Herz bewegt, und wie die bildende Kunst nichts ist als der Drang des Menschen nach Ebenbildern seiner GÚtter und nach Denkmalen seiner Erlebnisse.“69 Hettner beruft sich ferner auf Phantasie als „spezifische Grundlage aller Kunst“ und spricht von einer „Physiologie der Phantasie“.70 Jahre vor D.s AnfÈngen weist er auf den Bereich hin, der D. mit sich verÈndernden Schwerpunkten anhaltend beschÈftigen wird. Der Weg vom gelegentlichen Vorkommen des Wortes Erlebnis in D.s Texten bis zum Begriff mit allen seinen Facetten ist ein verschlungener und zieht sich bis zur letzten Bearbeitung von EuD, begleitet vom allmÈhlichen ‚Einsickern der Begriffe Verstehen, Ausdruck, Bedeutung/Bedeutsamkeit. Die Relationen: Erlebnis – Ausdruck – Verstehen; Erlebnis und Bedeutsamkeit zeigen sich nach und nach. ZunÈchst aber wirken die wenigen Erlebnis-Stellen in der Erstfassung des GoetheAufsatzes noch zufÈllig,71 obwohl es um den dichterischen Schaffensprozeß geht und obwohl „Erlebnis“ in den Goethe-Vorlesungen H. Grimms, D.s Ausgangspunkt, zu dessen Lieblingsvokabeln gehÚrt. Bewußter verwendet D. das Wort einzig, zusammen mit dem Epitheton ‚eigen, als Kriterium, Goethe vermÚge des Einflusses seiner geschichtlichen Lage zu den subjektiven Dichtern zu zÈhlen, welche von dem eigenen Inneren, den eigenen Erlebnissen ausgehen, nicht von der Versenkung in Menschen und Schicksale außer ihnen.72 PhantasievorgÈnge stehen im Vordergrund, und das sie betreffende Vokabular ist ein anderes. In den 70er Jahren gehÚren dazu: GesichtseindrÝcke, Vorstellungen, Bilder mancherlei Art, Nachbilder, Erinnerungsbilder, Erinnerungsnachbilder, Reproduktion, GedÈchtnis, Assoziation, Metamorphose. D.s begeisterte Zuwendung zur Physiologie unter dem Einfluß der Werke von Johannes MÝller, Gustav Theodor Fechner und Hermann Helmholtz hatte sich in seiner Schrift Phantastische Gesichtserscheinungen (1866) bekundet, die mit einer programmatischen ErklÈrung beginnt: Die •sthetik kennt wohl keinen grÚßeren, sicher keinen das menschliche Interesse mehr herausfordernden Gegenstand als das tiefe und scheinbar unergrÝndliche Geheimnis der dichterischen Produktion. D. erhoffte sich, die dichterische Phantasie auf dem Weg Ýber die physiologische Organisation der großen Dichter ergrÝnden zu kÚnnen.73 Der Aufsatz Ýber Dickens, etwa ein Jahrzehnt spÈter, und der fast gleichzeitige Ueber die Einbildungskraft der Dichter enthalten den Versuch, die psychophysischen Anlagen des Dichters systematisch darzustellen, zu einer Grundlegung von Literatur und Literaturgeschichte zu kommen:

69

H. Hettner, Gegen die spekulative •sthetik (1845). In: Ders., Schriften zur Literatur, Berlin 1959, S. 27. 70 Ebd. S. 35 und 37. •hnliches in populÈrer Abwandlung bei Freytag in den Grenzboten: „Es ist aber noch eine andere Betrachtung poetischer Productionen mÚglich, welche in die Arbeitsstube des Dichters tritt und seine besondere Methode zu schaffen darlegt. Wird uns mÚglich, von diesem Gesichtspunkt in die geheimen Tiefen einer Dichterseele einzudringen, so erhÈlt nicht nur was sie geschaffen einen hÚhern Reiz, obenan steht dann auch eine achtungsvolle WÝrdigung des Wirkens der schÚpferischen Kraft Ýberhaupt.“ G. Freytag, Aus dem Arbeitszimmer des Dichters Otto Ludwig. In: Die Grenzboten XXV, I (1866), No 2, S. 44. 71 Vgl. oben Anm. 29. Selbst ein knappes Jahrzehnt nach der Erstfassung des Goethe-Aufsatzes, im Vortrag: Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn (1886), fehlt Erlebnis. 72 Ges. Schr XXV, E Goethe 163. 73 Gesichtserscheinungen 93.

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Die Erforschung der dichterischen Phantasie ist die naturgemÈße Grundlegung des wissenschaftlichen Studiums der poetischen Litteratur und ihrer Geschichte.74 Die physiologisch ausgerichteten Partien stehen im Dickens-Aufsatz merkwÝrdig isoliert zwischen denen zu Biographie und Werk; sie tragen kaum zum VerstÈndnis bei. Sachbezogener wirken sie im Goethe-Aufsatz in der Nachbarschaft von Goethes •ußerungen zur Entstehung seiner Werke und zum von ihm selbst beobachteten Wirken der Phantasie. Sie bleiben, leicht verÈndert, in den verschiedenen Fassungen des Goethe-Aufsatzes durchweg erhalten, eingestuft als einfache VorgÈnge und zusÈtzlich relativiert durch den Erlebnisbegriff. Die MÚglichkeiten der Physiologie werden erst 1887, im großen Beitrag D.s fÝr die Zeller-Festschrift, mit Distanz betrachtet,75 Erlebnis gewinnt als Begriff Kontur, und zwar als Voraussetzung oder Fundament der Dichtung: Das Objekt der Dichtung sind nach Aristoteles die handelnden Menschen. Ist auch diese Formel zu eng, so darf doch gesagt werden: nur sofern ein psychisches Element oder eine Verbindung von solchen mit einem Erlebnis und seiner Darstellung in VerhÈltnis steht, kann es ein Bestandteil der Dichtung sein. Die Unterlage aller wahren Poesie ist sonach Erlebnis, lebendige Erfahrung, seelische Bestandteile aller Art, die mit ihr in Beziehung stehen.76 D. gebraucht den Begriff im erkenntnistheoretischen Zusammenhang in von ihm nicht verÚffentlichten Arbeiten der 80er Jahre zum zweiten Band der Einleitung77 und nimmt 1894 seine Àberlegungen in den Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie auf, um u. a. die Frage des VerhÈltnisses von Erkenntnistheorie zu Psychologie zu beantworten. 78 In unterschiedlicher Dichte gelangt der Begriff unter dichtungstheoretischer Perspektive in die AufsÈtze Ýber HÚlderlin, Goethe, Lessing. Zahl und Formulierung der Belege in EuD1 lassen den vorsichtigen Schluß zu, daß fÝr die Sammlung von 1905 an erster Stelle der HÚlderlin-Aufsatz entstand, dann die KÝrzungen und Erweiterungen in Goethe vorgenommen wurden, die Ausarbeitung des neuen dritten Kapitels zu Lessings Dramen sich aller Wahrscheinlichkeit nach anschloß. Die nÈchste Runde betraf Lessing und Goethe, die letzte Goethe allein. Erlebnis ist im HÚlderlin-Aufsatz ein hÈufig verwendetes, semantisch nicht festgelegtes Wort, die Grenzen zu Ereignis, Erfahrung, Einsicht sind fließend. Es kann ungewÚhnlich viel umfassen, kann sich, um einige Punkte zu nennen, auf die Person HÚlderlins beziehen wie auf seine literarischen Figuren, auf das Zusammenspiel von Dichter und Dichtung, auf Dichtung allgemein, als Bestandteil einer literarischen Gattung oder sie konstituierend.79 Offensichtlich erschien D. der Gebrauch in die-

74

Ges. Schr. XXV, E Goethe 130. Vgl. Bausteine 124. 76 Bausteine 128 u. Ú. 77 Vgl. Auch hat das Erlebnis selber, welches dieses unmittelbare Wissen einer RealitÈt ist, einen Charakter von AllgemeingÝltigkeit, insofern es dieses in jedem Akte des Bewußtseins vorhandene Erlebnis als unauflÚsliche Einheit in sich faßt, welche sich in der Unterscheidung und Ineinssetzung der Begriffe RealitÈt, FÝr-mich-dasein und Bewußtsein darstellt. Ges. Schr. XIX, 85 u. Ú. Dazu und zu weiteren dichtungstheoretischen Fragen: F. Rodi, Das strukturierte Ganze, Weilerswist 2003, vor allem das Kapitel: Lebendigkeit und Ausdruck. 78 Vgl. Erkenntnistheorie ist Psychologie in Bewegung, und zwar sich nach einem bestimmten Ziele bewegend. In der Selbstbesinnung, welche den ganzen unverstÝmmelten Befund seelischen Lebens umfaßt, hat sie ihre Grundlage: AllgemeingÝltigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit werden von diesem Befund aus erst nach ihrem Sinn bestimmt. Ideen 151 f. 79 Die Beispiele dazu: 75

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sem Aufsatz zu diffus, nicht hinreichend – er verwies den Leser der ersten Auflage nicht an HÚlderlin, um die Aussagekraft des Buchtitels zu stÝtzen, sondern an Goethe. Das mochte vielleicht daran liegen, daß er die Schwerpunkte der alten AufsÈtze zu verschieben, Phantasie und Erlebnis einander anzunÈhern suchte. So erhielt der Goethe-Aufsatz zwei weitgehend neu geschriebene kleine Kapitel ( 3. und 4., ohne Àberschriften), mit denen D. eine gewisse Beziehung zum geÈnderten Aufsatztitel (zur Erinnerung: Ueber die Einbildungskraft der Dichter wird zu: Goethe und die dichterische Phantasie) und zum Buchtitel herstellt. Das dritte, teilweise neu, zu Phantasie und Erlebnis als wichtigsten Punkten, erklÈrt Dichtung, das Produkt dichterischer Phantasie, vermutlich in Anlehnung an Goethe, als zweite Welt.80 Ihre Grundlage sind Erlebnisse – eine neue Wendung in der ErklÈrung der Funktionsweise der Phantasie. Weiterhin ist neu, Phantasie und Erlebnis zusammenzufÝhren, insofern als Erlebnisse ebenso Wandlungen unterworfen sind wie Erinnerungsbilder der Metamorphose. Der einmal hergestellte Zusammenhang bleibt, nur an unterschiedlichen Stellen plaziert, in allen Fassungen unverÈndert.81 Mit dem Gestus allgemeiner Verbindlichkeit bezieht sich das vierte Kapitel auf Erlebnis und Bedeutsamkeit, hebt den letzten, im vorangehenden Kapitel schon angedeuteten Faktor stark hervor und setzt die in den Bausteinen angelegte Linie fort : Der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer das Erlebnis und die Besinnung Ýber dasselbe in der Lebenserfahrung. [. . .] Indem von dieser Grundlage aus ein Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhoben wird, entsteht ein dichterisches Gebilde.82 Dem Erlebnis des Dichters korrespondiert das Nacherleben der Dichtung, das den Aufnehmenden von allem Druck der RealitÈten befreit und Wert und Zusammenhang der menschlichen Dinge erfahrbar macht.83 In seiner zweiten HÈlfte leitet dieses Kapitel Ýber zu Shakespeare, dessen Schaffensweise D. der Goethes gegenÝberstellt, damit zwei MÚglichkeiten der Erlebnisweise und -verarbeitung beschreibend. Die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Dichter fÈllt weg, auch die starke AbhÈngigkeit des Erlebens von den politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten. Korrigierend heißt es Ýber das Erlebnis: Es kann dem Erlebenden ebensowohl etwas Neues sagen Ýber sich selbst als Ýber die Welt.84 Bis zu EuD3 schreibt D. diesen Àbergang um, hebt zum einen das vergleichende Verfahren hervor, zum andern den Rang beider Dichter in der Weltliteratur, ver-

– Zugleich aber entstand ihm sein eigenstes und tiefstes Erlebnis, wie aller GrÚße und SchÚnheit [. . .] immer zugleich in uns ein Leiden am Leben mitgegeben ist [. . .]. HÚlderlin (1910) 225. – Hyperion [. . .], der nach dem Ablauf seiner Erlebnisse zum VerstÈndnis ihrer Bedeutung sich erhoben hat, muß selbst erzÈhlen. HÚlderlin (1910) 264. – Indem er [HÚlderlin] in die Jugendjahre seines Helden zurÝckblicken lÈßt, entsteht der Zusammenhang einer inneren Geschichte; in ihr treten nacheinander HÚlderlins Erlebnisse ein; seine TrÈume von politischem Handeln formten sich hier zur Wirklichkeit. Oder: Der Roman schließt mit diesem letzten, tiefsten Erlebnis HÚlderlins. HÚlderlin (1910) 256 f., 259. – Ich versuche das innere VerhÈltnis darzulegen, in welchem in der TragÚdie Stoff, Erlebnisse, Ideen und dichterische Gestaltung verbunden sind. HÚlderlin (1910) 270. – Lyrik in ihrer schlichtesten und ergreifendsten Form spricht das GefÝhl des Daseins aus, wie ein Erlebnis es erweckt. HÚlderlin (1910) 233. 80 Vgl. „Kunst eine andere Natur [. . .].“ SprÝche in Prosa. 81 EuD1 154; EuD2 167; Goethe (1910) 120. 82 EuD1 159; vgl. Goethe (1910) Tg., Textbearbeitung 127, 3 – 130, 24. 83 EuD1 158 f., vgl. Goethe (1910) 127. 84 EuD1 161. Vgl. Goethe (1910) 128.

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wandelt ihre GegensÈtzlichkeit in ErgÈnzung und apostrophiert sie schließlich als die großen germanischen Seher.85 Einen kompakten kleinen Passus zu Erlebnis erhÈlt in EuD1 erstaunlicherweise der Aufsatz Ýber Lessing. Dem hochgeschÈtzten Lessing spricht D. einerseits dichterische Phantasie in den dramatischen Dialogen ab, andererseits bezeichnet er ihn, nicht in der Erstfassung, aber in den drei folgenden, mit Nachdruck als Dichter.86 Umfassender als im Phantasiezusammenhang des Goethe-Aufsatzes wird Erlebnis als Begriff erklÈrt und festgelegt. Erlebnisse sind die Quellen, aus denen jeder Teil eines dichterischen Werkes gespeist wird, in eminentem Sinne aber wird das Erlebnis dadurch schÚpferisch in dem Dichter, daß es ihm einen neuen Zug des Lebens offenbart. Das Geschehnis, das der Dichter darstellt, wird erst bedeutsam, indem dieser Zug darin sichtbar gemacht wird. Das dichterische Werk erhebt sich zu seiner hÚchsten Wirkung, wenn in ihm ein solcher Zug des Lebens den Lesern und HÚrern aufgeht. Und wenn etwas, das halb, dunkel, teilweise in der Gesellschaft der Zeit empfunden wird oder nur abstrakt zum Ausdruck gekommen ist, durch den Dichter ausgesprochen wird: so wird er zum FÝhrer seiner Nation, und sein Einfluß auf die Zeit wird unermeßlich.87 Die hier versammelten Elemente durchziehen partiell die Abhandlungen der 90er Jahre, die literarhistorischen AufsÈtze wie die spÈten Abhandlungen (vor allem: Das Wesen der Philosophie) und die EntwÝrfe zum Aufbau der geschichtlichen Welt. Die ErfÝllung aller Bedingungen macht den Dichter zum FÝhrer oder Seher. – D. reicht im Lessing-Aufsatz seine ErklÈrung der Anwendung des Begriffs gewissermaßen nach. Er hatte ihn auf die politischen und sozialen VerhÈltnisse der AufklÈrung bezogen und zusammenfassend die gesellschaftlichen Gegebenheiten, deren Misere wenigstens erlaubte, einen gewissen Heroismus zu entwickeln, als das große Erlebnis bezeichnet , das in den Dramen Lessings seinen Ausdruck findet.88 Eine weitere Zunahme des Wortgebrauchs bringt dann EuD2. In einem von Lessings Gedichten, von denen bislang Ýberhaupt nicht die Rede war, vermutet D. ein Erlebnis, erwÈgt sogar die NÈhe zum jungen Goethe.89 Vor allem aber fÝhrt er den Begriff in die Besprechung von Lessings Nathan ein. Das Drama „bereichert“, wie von E. Schmidt betont, den Aufsatz,90 genauer das Weltanschauungskapitel, und wird betrÈchtlich aufgewertet, mit ihm die gesamte AufklÈrung. Es entsteht mit Berlin und Friedrich II. ein Bild von AufklÈrung, das dem des Dramenkapitels vÚllig entgegengesetzt ist, jedoch genauso zu Lessings Erlebnis wird. Aber der Nathan ist mehr als ein bloßes dramatisches Lehrgedicht. Ein lebendiges Kunstwerk entspringt in der Ganzheit der menschlichen Natur: das Neue, das es erblicken lÈßt, ist Erlebnis: indem wir nun das Erlebnis, das im Nathan zum Ausdruck kommt, in seinem ganzen Umfang zu erfassen suchen, mÝssen wir Ýber die bisherige Darstellung von Lessings VerhÈltnis zur deutschen AufklÈrung hinausgehen. / Lessing, wie wir ihn nachzuverstehen versucht haben, mußte das Lebendige, Lebenschaffende, Menschliche und Menschenverbindende, das GlÝckbringende der deutschen AufklÈrung tiefer in sich durchleben als ein anderer Zeitgenosse.91

85 86 87 88 89 90 91

EuD2 183; Goethe (1910) 130. EuD1 48 f.; EuD2 51; Lessing (1910) 44. – EuD1 21; EuD2 22; Lessing (1910) 25. EuD1 46 f.; EuD2 49; Lessing (1910) 42 f. Vgl. Ges. Schr. XXIV, 32 f. EuD1 46; Lessing (1910) 42. EuD2 16; Lessing (1910) 21 f. Zu E. Schmidt vgl. Anm. 3 und den entsprechenden Text. EuD2 117; Lessing (1910) 86.

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Mit der ungewÚhnlichen Ausdehnung des Begriffs schwindet jeder Bezug auf einzelne individuelle Erfahrungen, die wiederum in anderen Bereichen durchaus vorhanden sind: Nathans UnglÝck, das furchtbare Erlebnis, das ihn trifft, vergleicht D. behutsam, dennoch problematisch genug, mit Lessings persÚnlichem.92 Die Vorstellung von der Ganzheit der menschlichen Natur, aus der ein Kunstwerk hervorgeht, und der hermeneutische Ansatz im Vorgang des Nachverstehens93 stellen zwei weitere Elemente im Umkreis des Erlebnisbegriffs innerhalb der AufsÈtze dar. Vorgebildet ist die Doppelseitigkeit des Verstehensprozesses, rezeptiv und produktiv zugleich zu sein, im schon genannten Begriff des Nacherlebens und in der eigenwilligen Wendung: nachgeschehen lassen im Blick auf dramatische Charaktere: wir verstehen nur was wir in uns nachgeschehen lassen.94 Der Goethe-Aufsatz erhÈlt fÝr die zweite Auflage die Kapitel: Erlebnis und Dichtung und Goethe, beide nicht durchweg neu, aber sichtlich selbstÈndig. Das erste verknÝpft den Aufsatz unÝbersehbar mit dem Buchtitel, erhÈlt ebenfalls eine Art allgemeiner ErklÈrung des Begriffs Erlebnis, die sich von der vorangehenden im Lessing-Aufsatz um Nuancen unterscheidet: Der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer die Lebenserfahrung, als persÚnliches Erlebnis oder als Verstehen anderer Menschen, gegenwÈrtiger wie vergangener, und der Geschehnisse, in denen sie zusammenwirkten. Jeder der unzÈhligen LebenszustÈnde, durch die der Dichter hindurchgeht, kann in psychologischem Sinne als Erlebnis bezeichnet werden: hier soll dieser Ausdruck nur diejenigen unter den Momenten seines Daseins oder die Verbindungen des ZusammengehÚrigen unter ihnen bezeichnen, welche ihm e i n e n Z u g d e s L e b e n s aufschließen. [. . .] alle religiÚsen, metaphysischen, historischen Ideen sind doch schließlich PrÈparate aus vergangenen großen Erlebnissen, ReprÈsentationen derselben, und nur sofern sie die eigenen Erfahrungen dem Dichter verstÈndlich machen, dienen sie ihm, Neues am Leben zu gewahren. [. . .]. Àberall ist hier das VerhÈltnis von persÚnlichem Erlebnis und Ausdruck mit dem von Èußerem Gegebensein und Verstehen in verschiedener Mischung miteinander verwebt.95 Der Erlebnisinhalt wird nochmals erweitert. Die gesamte Lebenserfahrung, einschließlich der Geschichte, also Erlebbares wie Erlebtes,96 ist potentiell Erlebnis. PrÈparate, erstarrte Erlebnisse sozusagen, eigene und anderer, dienen im Akt des Verstehens dem SelbstverstÈndnis. In diesem Sinn ist wohl der von D. mehrfach gebrauchte und viel zitierte Satz aufzufassen: Was der Mensch sei, sagt nur die Geschichte.97 – Das sechsteilige Goethe-Kapitel , ein •quivalent zur Darstellung Shake-

EuD2 111; Lessing (1910) 82. Das Stichwort Hermeneutik kommt an zwei gestrichenen Stellen der Erstfassung des GoetheAufsatzes vor. Die erste (Ges. Schr. XXV, E Goethe, 127) ist schon in EH gestrichen; die zweite (Ges. Schr. XXV, 141), verbunden mit F. D. E. Schleiermacher, A. BÚckh und dem Bedauern, daß es seither keinen Fortschritt gegeben habe fÝr EuD1; vgl. Goethe (1910) Tg., Textbearbeitung 119, 17 – 121, 38. 94 In allen Fassungen wie Lessing (1910) 38. Im Umkreis: Nachverstehen als QualitÈt A. W. Schlegels in Novalis (1910) 188; vgl. Abhandlung (1895) 277 f.; dazu: Im Verstehen und Nachbilden wird fremdes Seelenleben erfaßt, aber es ist doch nur da durch das hineingetragene eigene. EuD2 181. Goethe (1910) 128, dazu 115. 95 EuD2 179–181; mit einigen Abweichungen in Goethe (1910) 128. 96 In: Das Wesen der Philosophie. Ges. Schr. V, 392. Vgl. Ideen 199 f. 97 Ges. Schr. IV, 529. Vgl. Alle letzten Fragen nach dem Wert der Geschichte haben schließlich ihre LÚsung darin, daß der Mensch in ihr sich selbst erkennt. Ges. Schr. VII, 250. 92 93

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speares, kreist um den Erlebnisbegriff. Zugleich erfÈhrt Verstehen, bezogen auf Goethe, den Prototyp des Verstehenden, eine Intensivierung: Im Verstehen steigert sich der Seherblick [. . .].98 Die WÚrter Erlebnis, Verstehen, Ausdruck sind zusammen mit Bedeutung/Bedeutsamkeit zu D. eigenen Termini geworden. Damit hat sich D. selber eingeholt, in doppelter Hinsicht. Àber den Erlebnisbegriff und seine Trabanten schließt er einmal die AufsÈtze an seine seit ihrem ersten Erscheinen sich herausbildenden Àberlegungen zu Psychologie und Dichtungstheorie an; zum andern gibt er dem Hinweis auf den Goethe-Aufsatz im Vorwort zur ersten Auflage eine allmÈhlich anwachsende inhaltliche Grundlage und Ýber die schrittweise Bearbeitung den AufsÈtzen Ýber HÚlderlin, Lessing, Goethe eine weitgehend gemeinsame Begrifflichkeit. Ein Blick in die Handschriften zeigt, daß auch der Aufsatz Ýber Novalis in diesen Prozeß einbezogen werden und nicht so unverÈndert bleiben sollte, wie er sich in den VerÚffentlichungen von EuD prÈsentiert. Vielleicht fÈllt in die Phase der Bearbeitung der AufsÈtze fÝr die erste und zweite Auflage der Versuch, den in die andern drei AufsÈtze integrierten und komplettierten Erlebnisbegriff auch in den Novalis-Aufsatz einzubringen. Aus einem Teil der vorhandenen BruchstÝcke kÚnnte man sogar schließen, daß der Aufsatz neu konzipiert werden sollte. Den herangezogenen Ausgaben nach (Heilborn, 1901 und Minor, 1907) hat D. vermutlich zu verschiedenen Zeitpunkten daran gearbeitet, um 1905 und nach 1907.99 Zwei Stellen seien hier angefÝhrt, die die Herkunft des Begriffs aus dem Bereich praktizierter ReligiositÈt und seine WeitrÈumigkeit dokumentieren; nebenbei D.s unvermindertes Interesse an der Person des Novalis, an Biographie als unerlÈßlicher Voraussetzung fÝr das VerstÈndnis des Werks, VerstÈndnis Ýberhaupt erst ermÚglichend. Aus dem religiÚsen Erlebnis entsteht, wenn die Seele sich selbst gegenstÈndlich wird, wenn sie Ýber das, was in jenem Verkehr an ihr geschieht, reflektiert, die religiÚse Erfahrung. Sie ist immer in gebildeten Naturen im Begriff, Ýberzugehen in psychologische Beobachtung.100 Doch erscheint mÚglich, auf Grund dieser VerÚffentlichungen nunmehr den Versuch zu machen, tiefer in den Zusammenhang dieser merkwÝrdigen PersÚnlichkeit einzudringen, die Folge von Erlebnissen aufzufassen, die ich hier als dichterisches Erlebnis zusammennehme, und so die EigentÝmlichkeit seiner Poesie zu bestimmen, durch die der anspruchslose, einfache, unliterarische JÝngling so bestimmend in Dichtung und [bricht ab.] 101 Abschriften in doppelter Ausfertigung kÚnnten darauf hinweisen, daß D. den Versuch nicht sofort aufgegeben hat. Seine Energie konzentrierte sich in dem Fall aber offensichtlich auf die Verteidigung des umstrittenen, durch Waldemar Olshausen, Heinrich Simon, Walzel wieder in die Diskussion geratenen Begriffs Realpsychologie und die damit verbundene LektÝre der Schriften Franz von Baaders. Diese Auseinandersetzung spielt sich in den Anmerkungen zu Novalis ab. Exzerpte, EntwÝrfe geben preis, wie sehr der Widerspruch D. bewegte, wie viel ihm dieser Begriff wert war. Dazu spÈter. Ein letztes Glied in der Kette der VerÈnderungen, die der Gebrauch des Erlebnisbegriffs nach sich zieht, ist das neue Kapitel Das Leben im Goethe-Aufsatz der dritten Auflage von EuD.102 Daß D.

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Goethe (1910) 151; vgl. 153 f. Das wÈre denkbar, obwohl die Handschriften Ýberwiegend von E. Schramms Hand stammen, der erst ab 1906 fÝr D. schrieb; es handelt sich aber zum Teil um Abschriften. 100 Archiv der BBAW zu Berlin, NL Dilthey, C 88 (235), 77–78. Vgl. Novalis (1910) Tg., Handschriftenbefund, Novalis III. 101 Archiv der BBAW zu Berlin, NL Dilthey, C 88 (235), 368v, 367r. Vgl. Novalis (1910) Tg., Aus den Handschriften zu Anmerkungen Diltheys. 102 Vgl. zwei EntwÝrfe unter Goethe (1910) Tg., Textbearbeitung; dazu die gleichnamigen Abschnitte in: Aufbau 131 f.; Die Typen der Weltanschauung. Ges. Schr. VIII, 78 f. 99

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die gedruckte einer handschriftlich vorhandenen ausfÝhrlicheren, wenn auch unabgeschlossenen und teilweise unentzifferbaren Fassung vorgezogen hat, erklÈrt sich wohl nur aus der schrittweisen Bearbeitung des Aufsatzes. Die in der Handschrift konzentrierten Begriffe waren schon an verschiedenen Stellen integriert. Neu an der gedruckten Fassung klingt der erste Satz: Poesie ist Darstellung und Ausdruck des Lebens.103 Der Erlebnisbegriff wird damit nicht verdrÈngt, er folgt unmittelbar darauf in fast gewohnter Weise, rÝckt aber hier in den Zusammenhang von Leben, Wirklichkeit, Dichtung. D. grenzt, Èhnlich wie im Kapitel Erlebnis und Dichtung, einerseits die Wirklichkeit der Dichtung ab von der realen Lebenswirklichkeit; andererseits schreibt er der Dichtung zu, in der ihr eigenen Wirklichkeit den Gehalt an Leben auszudrÝcken. Damit wird offenbar noch einmal bestimmt, auch etwas ausfÝhrlicher dargelegt, was aus anderer Perspektive vielfach Bedeutsamkeit des dichterischen Erlebnisses heißt. Keine Dichtung ohne Erlebnis – erst recht kein Erlebnis ohne Dichter, der mit dem Erlebnisbegriff zwangslÈufig lÈngst ins Bild gerÝckt ist als der Phantasiebegabte und Erlebende, als derjenige, der Erlebnisse verarbeitet, einen neuen Zug des Lebens wahrnimmt, in seiner Bedeutsamkeit, ihn ausspricht, sich selbst und andere verstehen lehrt. Die besondere Rolle des Dichters deutet sich 1865 im Novalis-Aufsatz an: Wer als ein Dichter dÝrfte den metaphysischen Zusammenhang des Lebens zu deuten unternehmen?104 Der Dichter ist darin dem Philosophen Ýberlegen. Die ungeheure ÀberhÚhung der DichterpersÚnlichkeit wird am besten sichtbar in der so befremdenden wie mißverstÈndlichen Bezeichnung Seher. Der Titel der 1895 geplanten Aufsatzsammlung (Ges. Schr. XXV) hatte dem Dichter diesen Nimbus an exponierter Stelle verliehen. Daß sich D. der Antiquiertheit der Formulierung bewußt war, zeigt der Pfingstbrief desselben Jahres an den Grafen Paul Yorck von Wartenburg: Unter Seher verstehe ich den Dichter sofern er auf eine uns unfaßbare, nicht am GÈngelband der Logik fortgehende Weise den Menschen, die Individuation, den Zusammenhang, den wir Leben nennen, und der aus UmstÈnden, Relationen der Menschen, individueller Tiefe, Schicksal gewebt ist, darstellt.105 D. nimmt keineswegs die rÚmisch-antike Vates-Tradition vom gÚttlich inspirierten Seher auf, sondern distanziert sich vom WortverstÈndnis im antiken Sinn – um so grÚßer wird der Anspruch an den Dichter in der modernen transzendenzlosen Welt. Er verkÚrpert, so im Vorwort zum geplanten Band, eine Instanz, an die sich die Menschen wenden auf der Suche nach Antworten auf die Frage, was das Leben sei. Ich mÚchte zeigen daß der Dichter Ýber die wahre Natur des Lebens in der neuern Zeit in selbstÈndiger Kraft etwas zu sagen hat, als: Seher.106 Der ‚sÈkularisierte Vates, der Seher in D.s VerstÈndnis, gewinnt seine ZeitgemÈßheit aus dem unerklÈrlichen VermÚgen, Ýber das Leben Auskunft geben zu kÚnnen, mit außergewÚhnlichen Einsichten begabt zu sein. Im Titel Das Erlebnis und die Dichtung scheint dieser Aspekt unterdrÝckt, aber genau gesehen, hat nur eine Verlagerung von der Person auf die ihr zugesprochene, sie auszeichnende FÈhigkeit stattgefunden, auf den Wahrnehmungsakt, das Erlebnis, und seine Darstellung. Das Seherische, dem Wortlaut nach nur bei Goethe und HÚlderlin zu finden, nimmt in den AufsÈtzen ver-

103

Goethe (1910) 115. Vgl. Die Kunst versucht auszusprechen, was das Leben sei. Abhandlung (1895) 280. 104 Novalis (1910) 218. 105 B Yorck 183. 106 Ges. Schr. XXV, 3.

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schiedene FÈrbungen an. In der Erstfassung des Lessing-Aufsatzes erscheint Lessing schon als unmittelbar dem Leben gegenÝber – ein frÝher Beleg fÝr die in Variationen wiederholte formelhafte Wendung – und als der unsterbliche FÝhrer. Bei dieser Bezeichnung mit ihren nationalpolitischen Konnotationen belÈßt es D., erweitert nur das sie tragende Wortfeld. 107 Goethe wird an einer Stelle ebenfalls FÝhrer genannt, auch Dichter des Àbermenschen.108 Die Erstfassung des Goethe-Aufsatzes enthÈlt jedoch lediglich eine allgemeine Aussage Ýber den Dichter als Seher, die großen Dichter aber lehren uns die Welt mit Seherauge gewahren.109 In der zweiten Auflage von EuD erst, im Kapitel Erlebnis und Dichtung, tritt das Seherische wieder und mit fast religiÚsem Àberschwang auf: Goethe ist der Seher des Lebens, an dem die Kunst unbefangener Auslegung unseres Daseins aus ihm selber allen nachkommenden Philosophen und Dichtern offenbar geworden ist.110 Dieser Satz fÈllt zwar in der dritten Auflage weg, aber es bleiben Wendungen wie die seherische Gabe oder zur ErfÝllung seiner dichterischen Mission oder das bereits halb zitierte Diktum: Im Verstehen steigert sich der Seherblick des wahren Dichters ins Unendliche.111 In ganz anderer Weise ÝberhÚht D. die Dichterexistenz HÚlderlins. Die Topoi Reinheit, Lauterkeit, Einsamkeit als Ursprung und Grund des Seherischen bewirken hier eine sich ins •therische verflÝchtigende Zeichnung des Dichters.112 Goethe und HÚlderlin eint bei aller Verschiedenheit die Gabe, das Leben aus ihm selber zu verstehen; der unbefangenen Auslegung des Lebens aus diesem selber;113 der Deutung des Lebens aus diesem selber,114 die den Dichtern, jenen Virtuosen auf dem Feld des Erlebens vorbehalten ist.115

Dichtung und Erlebnis Daß es in D.s AufsÈtzen vorrangig um Erlebnis, Dichter, Dichtung, weniger um Dichtungen geht, hat sich bereits gezeigt. Dichtung, so ergibt sich folgerichtig aus D.s Konzeption des Dichters, ist gekennzeichnet durch TotalitÈt in sich selber. Sie ist nicht Wiedergabe von Wirklichkeit, wie D. in Widerspruch zu jeder Art von Abbildungstheorie betont, sondern stellt ihre eigene, eine zweite Welt

107

Ges. Schr. XXV, Lessing 60; 123. Lessing (1910) 13; 111. Dazu: FÝhrer des freien Geistes, Lessing (1910) 81; geistige Herrschaft, Lessing (1910) 24; die Nationalbildung selber leiten, Lessing (1910) 56. D. spricht Lessing HandlungsspielrÈume zu, Ýber die er kaum je verfÝgt hat. 108 Goethe (1910) 147. Zum auffallenden Wortgebrauch vgl. die Anm. zu HÚlderlin (1910) 270, 38. 109 Ges. Schr. XXV, E Goethe 143. Vorgebildet in der Tagebuchnotiz von 1864 Ýber Lessing: Er fÝhrt uns auf einen Turm zu freier Umsicht. Er zeigt nicht, was er sah, er macht sehen. JD 187. 110 EuD2 178. Vgl. Goethe (1910) Tg., Textbearbeitung, Erlebnis und Dichtung unter 127, 3 – 130, 24. 111 Goethe (1910) 151; vgl. 114; 128. 112 Vgl. HÚlderlin (1910) 224, 235, 245 f., 285 f., 292; bes. Wo ist ein anderes Dichterleben aus so zartem Stoff gewebt, wie aus Mondenstrahlen! Ebd. 284. 113 Goethe (1910) 130, 159; vgl. Es ist eine Auslegung des Daseins aus ihm selbst, unabhÈngig von aller Religion und Metaphysik. Ebd. 149; 162. 114 HÚlderlin (1910) 254. 115 Der psychische Strukturzusammenhang. Ges. Schr. VII, 19.

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dar. In dieser Eigenschaft hat sie, wie schon angedeutet, eine sowohl befreiende, das SelbstgefÝhl steigernde als auch kompensatorische Wirkung. Sie vermag, den Menschen aus den ihn okkupierenden engen LebensverhÈltnissen zu lÚsen, ihn zugleich mit unerreichbaren, ihm verschlossenen wie ungeahnten GefÝhls- und LebensmÚglichkeiten bekannt zu machen. Sie verlangt und fÚrdert das Verstehen, das SelbstverstÈndnis wie das VerstÈndnis anderer, der Welt, des Lebens. So erschließt uns die Poesie das VerstÈndnis des Lebens.116 Die Partien Ýber Dichtung finden sich hauptsÈchlich in der zweiten Auflage des Goethe-Aufsatzes im Kapitel Erlebnis und Dichtung, das nicht ganz mit der endgÝltigen Fassung Ýbereinstimmt.117 Neben der Umarbeitung, sie vielleicht veranlassend, jedenfalls mit ihr in Einklang, stehen die entsprechenden Abschnitte der gleichzeitigen Abhandlung Das Wesen der Philosophie. Prononciert faßt D. dort seine Ansichten von Dichtung und Dichter zusammen: Die Dichtung ist Organ des LebensverstÈndnisses, der Poet ein Seher, der den Sinn des Lebens erschaut.118 D.s ZugÈnge zu Dichtung im Sinne literarischer Werke setzen sich aus Untersuchungsaspekten methodischer und poetologischer Art zusammen; darunter das vergleichende Verfahren und seine Rolle fÝr die Geisteswissenschaften; Motiv und innere Form in ihrer Beziehung zum Erlebnisbegriff. Im schon herangezogenen Pfingstbrief von 1895 schreibt D., wÈhrend er Ýber Shakespeare arbeitet, an den Grafen Yorck von Wartenburg: Ich suche der vergleichenden Methode so viel als mÚglich abzugewinnen. Und er fÈhrt fort: Was und wie ein großer Dichter die rÈthselhafte Individuation auf diesem Erdball, die Beziehungen von UmstÈnden, menschlichen VerhÈltnissen zu Charakter und Schicksal erblickt und bis in den Vers hinein darstellt: das kann nur durch Verbindung wahrer Psychologie mit vergleichender Literaturgeschichte und mit vergleichendem Studium der Kulturen gesehen werden.119 Ein umfassendes Programm, das, vom VerstÈndnis wahrer Psychologie ganz abgesehen , im begrenzten Rahmen der AufsÈtze nicht oder doch nur ansatzweise eingelÚst werden kann, ausgenommen das vergleichende Verfahren. In allen Fassungen des Goethe-Aufsatzes weist D. unverÈndert darauf hin und wendet es in allen AufsÈtzen in verschiedenen Spielarten an, von den DichterportrÈts Ýber vergleichende Hinweise bis zu kommentarlosem Inbeziehung- oder Gleichsetzen.120 Gegenstand des Verfahrens sind selten und eher flÝchtig Texte, z. B. der Vergleich von Lessings Nathan mit den Dra-

116

Goethe (1910) 127; dazu: Goethe zuerst erhob die Dichtung mit Bewußtsein zum Organ eines objektiven WeltverstÈndnisses. Ebd. 167. So auch in den Hss. zu Novalis: Und die Poesie war durch Goethe zum Organ eines objektiven VerstÈndnißes von Leben und Welt aus ihnen selber gemacht worden. Novalis (1910) Tg., Handschriftenbefund, C 88 (235), 4r. Àber Novalis und sein VerhÈltniss zur Gegenwart. Vgl. auch: Abhandlung (1895) 275 f., dort der Bezug auf Schiller. 117 Vgl. die Fassung von 1910 mit der aus EuD2 in Goethe (1910) Tg., Textbearbeitung. 118 Ges. Schr. V, 394; vgl. Abhandlung (1895) 274. 119 B Yorck 182 f. Den Vergleich als HÝlfsmittel fordert D. in der Besprechung: Japanesische Novellen in WM 40 (1876), S. 577, abgedruckt in Ges. Schr. XVII, 346. 120 Vgl. den Hinweis von Minna von Barnhelm auf den Figaro von Beaumarchais. Lessing (1910) 49; von HÚlderlin auf A. BÚcklin. HÚlderlin (1910) 284. Àber die Figur des Hyperion: In dem Helden des Fichteschen Idealismus entsteht die Erfahrung Nietzsches, daß KraftbetÈtigung als solche letzte und hÚchste Freude sei. HÚlderlin (1910) 259.

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men Voltaires121 oder der Gedichte Schillers (Die GÚtter Griechenlandes und Die KÝnstler) mit den Hymnen des jungen HÚlderlin.122 FÝr die spÈtere Lyrik HÚlderlins ist Goethe Bezugs- oder Vergleichsfigur. Ich gehe von Goethe aus; denn nur so kann das Neue in den spÈteren Dichtern richtig eingeschÈtzt werden.123 WÈhrend Goethe, so skizziert D., mit seiner ganzen Energie im Moment lebt, lebt HÚlderlin, unfÈhig, die Gegenwart wahrzunehmen, im Gedanken an die verlorene griechische Vergangenheit und in unerfÝllbaren Hoffnungen auf die Zukunft.124 Verglichen werden die Dichter, bestimmte DichtermentalitÈten. Dichtungen erscheinen gerade noch als deren Spiegelung. Breit angelegt, mit Shakespeare, Rousseau, Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach, machen derartige Dichtervergleiche große Teile aller Fassungen des Goethe-Aufsatzes aus, in den spÈteren nicht mehr wie in der Erstfassung, um subjektive von objektiven Dichtern zu unterscheiden, sondern um Dichtung in ihrem Wesen zu erfassen: Ich greife zu einem vergleichenden Verfahren, um das Wesen dieser Poesie durch Verwandtschaft und Gegensatz sichtbar zu machen.125 Es geht in diesem Vergleichen um Dichtung allgemein, um die sich aus Lebenssituationen, EinflÝssen, Veranlagungen ergebenden charakteristischen Schreibweisen.126 Im Kapitel Erlebnis und Dichtung fÝr die zweite Auflage von EuD, und in ganzem Umfang nur dort, begrÝndet D. sein Verfahren. Er betrachtet zunÈchst ein dichterisches Gebilde in Analogie zu einem NaturkÚrper und vergleicht physikalische Eigenschaften mit poetologischen Merkmalen wie Motiv, Fabel, Charaktere und Darstellungsmittel. Jede Dichtung als ein lebendiges GeschÚpf eigener Art ist in ihrer EigentÝmlichkeit nur im Vergleich erkennbar: VollstÈndig kann diese Modifikation der dichterischen Erfahrung in Goethe nach ihrer Kraft und zugleich ihrer historischen Begrenzung erst sichtbar werden vermittelst eines vergleichenden Verfahrens. Denn jede geschichtliche Gestalt der Religion, Philosophie oder Dichtung ist gebunden an das Gesetz der Begrenzung, der RelativitÈt des Einzeldaseins, jede hat ihre ErgÈnzung in der anderen, und so erfassen wir ihr Wesen und ihre historische Stellung erst durch die Vergleichung. Die BegrÝndung des vergleichenden Verfahrens mit dem Gesetz der Begrenzung, der RelativitÈt des Einzeldaseins und dessen ErgÈnzungsbedÝrftigkeit fÈllt in EuD3 weg.127 Vielleicht stÚrte diese

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Lessing (1910) 83 f. und die dazugehÚrigen Anmerkungen. HÚlderlin (1910) 235–237. 123 HÚlderlin (1910) 283. Ein Èhnlicher Vergleich im BruchstÝck: Goethe und Novalis. Novalis (1910) Tg., Handschriftenbefund. 124 HÚlderlin (1910) 283 f. 125 Goethe (1910) 130. 126 Zu dieser Einseitigkeit vgl. O. Walzel: „Dagegen blieb Dilthey auf dem Wege vom geistigen Gehalt zu dessen kÝnstlerischem Ausdruck noch in einiger Entfernung stehen von dem Nachweis der vielgestaltigen und gegensatzreichen Mittel dieses Ausdrucks. Wichtiger war ihm, die KÝnstlerpersÚnlichkeit zu umschreiben als den Reichtum und die besondre Art ihrer Ausdrucksformen auszuschÚpfen. Noch erwirkt Dilthey den Eindruck, als sehe er zu wenig Greifbares am Kunstwerk.“ In: Ders., Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Wildpark-Potsdam 1929, S. 14. In der Tradition von D. sah sich Walzel mit seiner Schrift: Leben, Erleben und Dichten, Leipzig 1912. 127 EuD2 183; vgl. Goethe (1910) Tg.,Textbearbeitung, Erlebnis und Dichtung. Dagegen bleibt die entsprechende, ebenfalls in EuD2 eingefÝhrte Stelle im Lessing-Aufsatz erhalten: Die Aufgabe war und sie ist es noch heute, die Wahrheit, die in diesem Standpunkt der AufklÈrung liegt, zu ver122

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Argumentation den Ausbau der Position Goethes innerhalb der europÈischen literarischen Geschichte, den D. in der letzten Fassung des Aufsatzes vornimmt, vielleicht widersprach sie auch seiner sonstigen EinschÈtzung Goethes. Die Annahme der RelativitÈt des Einzeldaseins schrÈnkt jede geschichtliche Gestalt in ihrer GÝltigkeit und Einmaligkeit ein, sie fÝhrt letztlich in ein Bewertungsdilemma. Ihrer Herkunft nach ordnet D. die vergleichende Methode der morphologischen Sicht- und Verfahrensweise zu128 und bezeichnet sie generell als die einzig mÚgliche fÝr die Geisteswissenschaften: Indem nun die historische Schule die Ableitung der allgemeinen Wahrheiten in den Geisteswissenschaften durch abstraktes konstruktives Denken verwarf, wurde fÝr sie die vergleichende Methode das einzige Verfahren, zu Wahrheiten von grÚßerer Allgemeinheit aufzusteigen.129 Zu den Erscheinungen, die sich am NaturkÚrper Dichtung sondern lassen, gehÚren Motiv und innere Form, beide verbindet D. mit dem Erlebnisbegriff. Ausgehend von der besonderen Erlebnisweise Goethes,130 rÈumt er dem Motiv die erste Stelle in einer Reihe poetologischer Begriffe ein.131 Eine Rangordnung, die schon in der Erstfassung des Aufsatzes besteht ohne den RÝckhalt im Begriff des Erlebnisses.132 Erlebnis und Motiv werden in der ersten Bearbeitung fÝr EuD miteinander verbunden: Der wichtigste unter diesen Begriffen ist der des Motivs: in dem Motiv hÈngt das eigene Erlebnis des Dichters zusammen mit der Fabel, den Charakteren und der poetischen Form.133 Differenzierter und fester verknÝpft D. die Begriffe in der folgenden Fassung (1907), wobei das leicht manierierte Wort Erfahrnis mit Erfahrung , Erlebnis, Geschehnis gleichzusetzen ist. Danach enthÈlt das Motiv eine Art gefiltertes, auf seine Bedeutsamkeit hin ÝberprÝftes Erlebnis: Der wichtigste unter diesen Begriffen ist der des Motivs: denn im Motiv ist das Erfahrnis des Dichters in seiner Bedeutsamkeit aufgefaßt: in ihm hÈngt dieses daher zusammen mit der Fabel,

sÚhnen mit der historischen Weltansicht, mit der Erkenntnis der RelativitÈt alles Daseins. Das Menschliche ist nirgend ganz, und es ist doch Ýberall. Es kann nie durch Begriffe erschÚpft werden, und doch gewahren alle Ideale der Menschheit, alle Lebensansichten irgendeine Seite dieses UnergrÝndlichen. Lessing (1910) 111. Vgl. Lessing (1910) Tg., Textbearbeitung 111, 14 – 112, 5. 128 Vgl. die nicht abgeschlossene Darstellung von Herkunft und Geschichte dieses Verfahrens in Abhandlung (1895) 303–316. 129 Aufbau 99. 130 Goethe (1910) 153–155. 131 Vermutlich nicht unbeeinflußt von der als Zeugnis zitierten Mitteilung aus Goethes Beitrag (1823) zu J. Ch. F. A. Heinroths Anthropologie: „Mir drÝckten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Àberliefertes so tief in die Seele, daß ich sie vierzig bis fÝnfzig Jahre lebendig und wirksam im Inneren erhielt; mir schien der schÚnste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich dann zwar immer umgestalteten, doch, ohne sich zu verÈndern, einer reineren Form, einer entschiedeneren Darstellung entgegenreiften.“ Goethe (1910) 125. 132 Vgl. Ges. Schr. XXV, E Goethe 147 f. 133 EuD1 160; vgl. Goethe (1910) 129 und Tg., Textbearbeitung unter 127, 3 – 130, 24.

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den Charakteren und der poetischen Form. Es schließt die bildende Kraft in sich, welche die Gestalt des Werkes bestimmt.134 Wenn auch das Wort noch fehlt, deutet sich doch im letzten der zitierten SÈtze an, was D. als i n n e r e F o r m der Dichtung bezeichnet. Der alte, in der Rezension Ýber Gustav Freytag gebrauchte, von Friedrich Schlegels Lessing-Untersuchung her gelÈufige Begriff rÝckt in einen neuen Zusammenhang.135 [. . .] d i e i n n e r e d i c h t e r i s c h e F o r m , so zunÈchst in den Bausteinen, ist in jedem einzelnen Falle ein Singulares.136 In der ersten Bearbeitung des Lessing-Aufsatzes, im neuen Dramenkapitel, gebraucht D. die wohl in diesem Sinne zu verstehende Wendung: innere Struktur des Drama137 und spricht etwa gleichzeitig von der Èußeren und inneren Form der Lyrik HÚlderlins. Erst mit dem Kapitel Goethe in der zweiten Auflage von EuD, wird der Begriff unter die poetologischen Termini aufgenommen: So entstanden in der Verbindung seiner persÚnlichen Schicksale mit den großen Bewegungen um ihn her die hÚchst wirksamen Motive von Prometheus, Faust, Werther, Wilhelm Meister, Iphigenie und Tasso. Hierdurch war nun die i n n e r e F o r m s e i n e r D i c h t u n g bedingt.138 Wieder liegt nahe, einen Blick in die gleichzeitige Abhandlung Das Wesen der Philosophie zu werfen, in der sich diese ZusammenhÈnge bestÈtigen mit der Reihe: Erlebnis – Bedeutung – innere Form: Jedes lyrische, epische oder dramatische Gedicht erhebt ein einzelnes Erfahrnis in die Besinnung Ýber seine Bedeutsamkeit. Hierdurch unterscheidet es sich von der unterhaltenden Fabrikware. Es hat alle Mittel dazu, diese Bedeutsamkeit sehen zu lassen, ohne sie auszusprechen. Und die Anforderung, daß die Bedeutung des Geschehnisses in der inneren Form der Dichtung zum Ausdruck gelange, muß schlechterdings in jeder Dichtung erfÝllt sein.139 Den frÝh verfÝgbaren Begriff ,140 mit dessen Hilfe D. Ýberzeugend Hamlet und Lear in seiner Freytag-Rezension erklÈrt hat,141 sieht er einerseits als Singulares, andererseits als Maßstab, Beurteilungskriterium fÝr Gelingen oder Mißlingen von Dichtungen.142

134 EuD2 181 f. Dazu Bausteine 216; Wesen der Philosophie, Ges. Schr. V, 394: Denn Motiv ist eben ein LebensverhÈltnis, dichterisch in seiner Bedeutsamkeit aufgefaßt. 135 Vgl. Ges. Schr. XXV, Anm. Le 62, 28. 136 Bausteine 201. 137 Lessing (1910) 43. 138 Goethe (1910) 164. 139 Ges. Schr. V, 394. 140 Vgl. in den TagebÝchern von 1859: Innere Form, Bewegung des Denkens zu erfassen, dieser Gedanke muß kommen, hat man erst die Notwendigkeit, die Einheit eines Werks, eines Autors zu fassen erkannt. JD 90 (in den Bemerkungen zu Schleiermachers Hermeneutik). 141 Vgl. Ges. Schr. XXV, Freytag 426 f. 142 Praktisch angewendet hat D. den Begriff nicht allzu hÈufig; innerhalb der AufsÈtze auf die Lyrik HÚlderlins; in weiteren Formulierungen zu den Dramen Lessings kÚnnte man ihn vermuten, er fehlt ganz im Novalis-Aufsatz, fÝr Goethe bleibt es bei der oben zitierten Feststellung und einem weiteren Beleg in diesem Zusammenhang. Goethe (1910) 163.

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Dichtungen und Weltanschauung Dichtungen, in allen Bearbeitungen des Goethe-Aufsatzes vielfach genannt, aber kaum berÝcksichtigt, fÝr Lessing weitgehend nachtrÈglich in den alten Aufsatz einbezogen, haben von Beginn an einen gewissen Raum in den AufsÈtzen Ýber die noch nicht ganz Akzeptierten, RettungsbedÝrftigen, Novalis und HÚlderlin, 1865 wie 1905. An den großen Formen der Literatur, Drama, Lyrik, Roman, beobachtet D. ihre VariabilitÈt im Zusammenhang mit Erlebnis, Lebens- und Weltanschauungen.143 Das neue Ideendrama Lessings Dramen, Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, Nathan der Weise, lÈßt D. aus Lessings Erfahrungen hervorgehen: aus der Kenntnis des preußischen Staates, des Braunschweigischen Hofes, dem Erlebnis der AufklÈrung.144 Minna und Emilia, das Lustspiel und das bÝrgerliche Trauerspiel, erfÝllen als geglÝckte Exempel die nach der Èsthetischen Theorie Lessings an die jeweilige Dramenform zu stellenden Forderungen. So schÈtzenswert diese beiden Dramen in D.s Augen sind, grÚßere Zuwendung erfÈhrt Nathan der Weise. Daß dieses letzte Drama Lessings nicht im Dramenkapitel, sondern gegen literatur- oder gattungsgeschichtliche Erwartungen zusammen mit Lessings Erziehung des Menschengeschlechts im Kapitel Die Weltanschauung Lessings zu finden ist, entspricht D.s Wahrnehmung und seiner These vom BegrÝndungszwang, unter dem deutsche Schriftsteller stehen: Er gab seiner Anschauung vom Menschen und dem Leben einen letzten und hÚchsten dichterischen Ausdruck im Nathan, und er unternahm, sein Lebensideal in Begriffen zu verdeutlichen und ihm gemÈß den Zusammenhang der Welt zu denken. So hat er in beiden Ausdrucksweisen am Schlusse seines Lebens positiv seine Lebens- und Weltansicht ausgesprochen.145 Die gewichtigere von beiden Ausdrucksweisen ist die Dichtung. Nathan beruht nun, abgesehen vom Erlebnis der AufklÈrung, auf der von Montesquieu ausgehenden vergleichenden Anschauung der verschiedenen Kulturkreise,146 auf der LÚsung von der angestammten Religion, auf dem Glauben an die WÝrde des Menschen, der auf dem Erlebnis unserer sittlichen Natur beruht.147 D.s Auffassung von Lessing als dem Befreier vom kirchlichen Dogma eines inspirierten Kanons und Bewahrer des auf innere Gewißheit gegrÝndeten christlichen Glaubens bleibt in allen Fassungen des Aufsatzes erhalten. D. weist auf diese GlaubensÝberzeugung bei Goethe hin; Novalis teilt sie mit Lessing.148 Lessings VerstÈndnis von Geschichtswahrheiten wertet D. als erkenntnis-theoretische Einsicht, die im Nathan dichterisch gestaltet wird.149 Immer wieder betont er Befreiung und UnabhÈngigkeit der Lessingschen Figuren von der Religion, in die sie hineingeboren worden sind, ihre FÈhigkeit, unter allen HÝllen den Menschen zu erkennen:

143

D.s Weltanschauungslehre hat R. Unger auf Dichtungen Ýbertragen. Vgl. ders., Weltanschauung und Dichtung. Zur Gestaltung des Problems bei Wilhelm Dilthey. Ein Basler akademischer AulaVortrag 1916, ZÝrich 1917. In: Ders., Gesammelte Studien I, WB Darmstadt 1966, S. 49–87, bes. 71–82. 144 Lessing (1910) 46, 50, 86 f. 145 Lessing (1910) 81. 146 Lessing (1910) 80. 147 Lessing (1910) 85. 148 Lessing (1910) 64 f.; Novalis (1910) 203 f. 149 Lessing (1910) 68.

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Sie stellen den Fortgang des Geistes zu einer religiÚsen Freiheit dar, welche jede Einzelreligion unter sich zurÝcklÈßt.150 Letztes und hÚchstes Ergebnis der im Handlungsverlauf dargestellten Entwicklung wÈre eine Gemeinschaft, die D. emphatisch als eine harmonische, universale beschreibt: Die Gemeinschaft, die so entsteht, ist eine innere, unabhÈngig von Nation, Bekenntnis, Stand und Wirken in der Welt.151 Das Drama, das diese Sicht des Menschen und der mÚglichen menschlichen Gesellschaft vermittelt, nennt D. Ideendrama oder Gedankendrama. GegenÝber der Emilia wie gegenÝber vergleichbaren Dramen Voltaires verlangt das Neue eine neue dramatische Form: Das neue Ideendrama forderte auch eine eigene Form. Die straffe Handlung der Emilia Galotti, in der jeder Satz der Katastrophe zuzueilen scheint, mußte der freien VergegenwÈrtigung einer Welt von Ideen und Idealen Platz machen.152 D. verteidigt das auf dem Erlebnis und der daraus resultierenden Weltanschauung beruhende Ideendrama und sieht die neue Form bis in die eigentÝmliche Ausbildung von Lessings Jamben realisiert.153 Kritik richtet sich gegen die mangelnde VerknÝpfung der inneren VorgÈnge zu einer dramatischen Einheit neuer Art [. . .].154 Ohne Einwand und noch energischer ergreift D. Partei fÝr die auf Èhnlichen Voraussetzungen beruhende unkonventionelle Form von HÚlderlins Drama. HÚlderlins Empedokles setzt das Seelendrama von Sophokles, Racine und Goethe fort. Er geht darÝber hinaus, auf dem Weg zu einem unbekannten Ziele, zu neuen hÚchsten Wirkungen, die auch heute noch niemand erreicht hat. Wenn man an die BruchstÝcke dieser TragÚdie herantritt, muß man jede Erinnerung an die in Èußerer FÝlle sich ausbreitende Handlung Shakespeares fallen lassen, jede Erinnerung an Regeln und Kunstform Lessings und Schillers und an die Urteile, die nach solchen MaßstÈben HÚlderlins Drama undramatisch finden.155 Die Verankerung der Dramen im Erlebnis und in einer Lebens- und Weltanschauung verlangt die LÚsung von normativen Bindungen. Das Erlebnis prÈgt die dramatische Form, die damit eine jeweils neue, geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingte wird. Individualisierung der dramatischen Form hatte D. in den Bausteinen im Blick auf Shakespeares Dramen und Freytags einst so begrÝßte Dramentechnik verlangt. Man kann also nur aus dem geschichtlich erarbeiteten Gehalte des Dramas die ihm zugehÚrige Form verstÈndlich machen. Sie ist nicht allgemeingÝltig, sondern relativ und geschichtlich.156 In EuD, kÚnnte man sagen, erlÈutert D. seine Position an den beiden praktischen Beispielen. Trotz der hier wie in der Methodenfrage formulierten Einsicht in die RelativitÈt der geschichtlichen

150

Lessing (1910) 88. Lessing (1910) 90. Vgl. HÚlderlin (1910) 264 und Anm. 264, 20–22 ( neue Kirche). 152 Lessing (1910) 91; vgl. 84. 153 Lessing (1910) 93. 154 Lessing (1910) 92. 155 HÚlderlin (1910) 266. 156 Bausteine 204. Vgl. Und einer jeden dieser Lebensverfassungen entspricht eine innere Form der Dichtung. In: Die Typen der Weltanschauung. Ges. Schr. VIII, 93. 151

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Gebilde muß D. unausgesprochen bestimmte Erwartungen mit dem abgeschlossenen wie dem unvollendeten Drama verbunden haben. Bei aller Anerkennung der neuen dramatischen Formen akzeptiert er weder Nathan noch Empedokles als ganz geglÝckt, sondern verweist auf Fidelio im ersten, Wagners Parzifal im zweiten Fall als bessere LÚsung oder Vollendung des bei Lessing und HÚlderlin Angelegten. Vermißt er beim dÝrren Schluß des Nathan nur etwas wie den mÈchtigen Ausklang des „Fidelio“, so bleibt es fÝr HÚlderlins Drama nicht bei der GegenÝberstellung: Was er wollte hat mit den reicheren GefÝhlsmitteln der Musik Richard Wagner im Parzival verwirklicht.157 Musik, in D.s Schriften vielfach gegenwÈrtig, mit dem ihr eigenen Vokabular (Melodie, Klang, Rhythmus usw.), in vergleichendem oder metaphorischem Gebrauch, erlangt in diesem schwer nachvollziehbaren Urteil eine die Sprache Ýbertreffende Ausdruckskraft. Eine neue Melodie [. . .] sind doch in der Musik und der ihr verwandten Lyrik die SchÚpfungen unserer Nation denen jedes anderen Volkes Ýberlegen. Und: Lyrik, die Dichtform der Innerlichkeit, ist neben der Musik das eigenste Gebiet des deutschen Volkes.158 Diese nicht ohne Nationalstolz vorgetragenen Feststellungen leiten das Lyrikkapitel des HÚlderlinund das spÈtere rudimentÈre des Goethe-Aufsatzes ein (1907, in EuD2). D.s Neigung fÝr Musik ist bekannt, die fÝr Lyrik weniger. FÝr den jungen D. zÈhlte allein das Drama, Handlung und die vom Drama erhoffte Handlungsmotivation. Er schien den Spott Ýber Poesie und Musik als Lieblingsneigungen der Deutschen bis zu einem gewissen Grad zu teilen.159 SpÈter stehen die Dramen Alfieris, das historische Drama Schillers und immer wieder die Dramen Shakespeares im Zentrum. Die Zuwendung zu Lyrik hÈngt vermutlich mit dem sich herausbildenden Erlebnisbegriff zusammen, geht aus dem eigenen Ansatz hervor, der engen Beziehung zwischen Erlebnis, Innerlichkeit, Stimmung, Musik und Lyrik. Außerdem ist sie wohl auch Zeichen eines lÈngst erstarkten nationalen Selbstbewußtseins, das nach Zeiten ihrer GeringschÈtzung eine verÈnderte Einstellung zu Dichtung Ýberhaupt und so zu Lyrik erlaubt.160 Dennoch ist der Dichtform der Innerlichkeit, genau genommen, nur ein einziges Kapitel gewidmet, zur Lyrik HÚlderlins. Rein pragmatisch lÈßt die Gattung zu, dem Leser einige vollstÈndige Texte zu bieten, und das nutzt D. verschiedentlich. Er zitiert sogar aus HÚlderlins NachtgesÈngen, die 1905 selbst fÝr wohlmeinende Editoren noch Produkte des Irrsinns sind. Mit dem siebenten beschließt er den Aufsatz und zugleich sein Buch.161 Das Neue, Weg-

157

Lessing (1910) 91, 92; HÚlderlin (1910) 281. Zu Wagner vgl. •sthetik 244. Zur Oper: Die Musik der Oper ermÚglicht, indem die einzelnen Personen gleichzeitig in ihrer Eigenart sich musikalisch aussprechen, die Mannigfaltigkeit der Stimmungen und der Charaktere zur Einheit des Lebens zu verbinden und den Reichtum des Daseins in einem einzigen Momente zusammenzufassen. Goethe (1910) 138 f. 158 HÚlderlin (1910) 282 und Goethe (1910) 168, auch 129. 159 Ges. Schr. XXV, Freytag 414. 160 Vgl. den ersten Absatz von Archive fÝr Literatur zur Situation nach 1871: So sehen wir jetzt auch unsere Literatur mit anderen Augen an. Unser Volk ist zum GefÝhl seines eigentÝmlichen Wertes gelangt. Archive R 1. 161 Zum falschen ersten Vers vgl. die letzte Anm. zu HÚlderlin (1910).

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weisende dieser Lyrik betont D. mehrfach, sieht es bedingt durch HÚlderlins Erfahrung der Natur als das alllebendige Ganze, mehr noch durch das gemischte GefÝhl des Lebens, das er HÚlderlin zuspricht.162 So stark er das Ergreifende dieser Gedichte, ihren Rang spÝrt und anerkennt, so erstaunlich fern bleibt er ihnen. Denn das Kapitel: Die Gedichte betrifft mehr HÚlderlin und die Lyrik als die Gedichte HÚlderlins. Wie immer zu begrÝnden, es ist ein Ýberwiegend theoritisierendes Kapitel mit Parallelen zwischen Lyrik und Musik, Lyrikern und Musikern, einem Exkurs Ýber die Geschichte von Lyrik und gleichzeitiger Musik, einer weiteren Differenzierung des Schaffensprozesses, damit des Erlebnisbegriffs, der Wirkung dieser Gattung und ihrer Rezeption. Der besondere Anspruch an die lyrischen Dichter, diese Genies des GemÝts und heimisch im Bereich der Innerlichkeit, ist nicht neu, aber auf Innerlichkeit neu zugeschnitten. Vermitteln sie dem Leser einen Zuwachs an SelbstverstÈndnis und innerer Erfahrung, so wird ihre Kunst zum Organ, uns im PersÚnlichsten besser zu verstehen und unsern Gesichtskreis Ýber die eigenen GemÝtserlebnisse hinaus zu erweitern.163 Erste Beachtung im Rahmen der literarhistorischen AufsÈtze hatte 1865 die Lyrik des Novalis erfahren, die Hymnen an die Nacht, mehr noch seine Geistlichen Lieder als Inbegriff einer modernen ReligiositÈt, eines Schleiermacher nahen GefÝhls- oder GemÝtschristentums. D. sagt den Liedern Bestand voraus, obwohl oder eben weil sie sich von der Tradition des protestantischen Kirchenlieds entfernen, gibt Ýber Zitate einen Eindruck von den Inhalten und charakterisiert den ihn interessierenden, die Eigenart dieser Lieder ausmachenden Entstehungsvorgang: Diese „geistlichen Gedichte“ von Novalis sind Lieder im wahren Sinne des Worts: empfangen aus einer das GemÝth tief bewegenden individualisirten Stimmung: ihr Inhalt ist eine ganz einfache, von der Phantasie in unbestimmter Weise getragene Anschauung, so verschwimmend, als ob diese Stimmung sie emporgetragen hÈtte und sie dann wieder mit ihr versinken und sich auflÚsen mÝßte, einer Vision zu vergleichen.164 Àber HÚlderlin, dessen tatlose Innerlichkeit ihn fÝr Lyrik prÈdestiniere,165 vierzig Jahre spÈter: [. . .] aus der Stimmung, welche eine ideelle Welt in ihm hervorruft, erhebt sich ein im Zusammenhang des GefÝhls gegrÝndeter Verlauf: wie die Vision eines Sehers treten in den schÚnsten dieser Gedichte die vom Gang des GefÝhls bestimmten Phantasiebilder auf.166 Gemeinsam ist den beschriebenen VorgÈngen ihr Ursprung, die Stimmung. Mit ihrer Hilfe bezeichnet D. die zweite von drei Richtungen, in denen er die Lyrik HÚlderlins sich entfalten sieht, bezogen auf den grundlegenden Begriff Erlebnis.167 Die erste fÝhrt zu den an Schiller angelehnten TÝbinger Hymnen, den Hymnen an die Ideale der Menschheit, so D.s Bezeichnung. Sie entstehen aus einer Stimmung, die die Welt der Ideen bewirkt, unabhÈngig vom einzelnen Erlebnis. In der oben genannten zweiten Richtung bildet sich aus der Stimmung ein GefÝhlsverlauf, werden visionsÈhnliche Bilder hervorgerufen. In beiden FÈllen schrÈnkt D. den Erlebnisbegriff in seiner GegenstÈnd-

162

Vgl. HÚlderlin (1910) 285 (Natur), dazu unten den Abschnitt Ýber Hyperion; HÚlderlin (1910); 284 ( GefÝhl des Lebens), dazu den Schlußteil dieses Abschnitts. 163 HÚlderlin (1910) 282. 164 Ges. Schr. XXV, Novalis 231; Novalis (1910) 205. 165 HÚlderlin (1910) 286. 166 HÚlderlin (1910) 284. 167 So ist auch hier wieder in dem Erlebnis der SchlÝssel fÝr das VerstÈndnis der Dichtung zu finden. HÚlderlin (1910) 283.

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lichkeit168 ein (ideelle Welt; kein einzelnes Erlebnis) zugunsten der Stimmung. Zur UnterstÝtzung seiner Beobachtungen verweist er fÝr die zweite Richtung auf die gleichzeitig sich ausbildende Instrumentalmusik, auf den spÈten Haydn und auf Beethoven, auf die wortlose Darstellung des GefÝhlszusammenhangs und sieht HÚlderlin an der Schwelle einer neuen Lyrik , welche den Àberschwang des GefÝhls, die gegenstandslose Macht der Stimmung, die aus dem Inneren des GemÝtes selber aufsteigt, die unendliche Melodie einer Seelenbewegung ausdrÝckt, die wie aus unbestimmten Fernen kommt und in sie sich verliert.169 UnÝberhÚrbar klingt wieder die frÝhe Beschreibung der Geistlichen Lieder des Novalis an, und D. spricht in der Tat von der NÈhe HÚlderlins zu Novalis, Tieck, den Zeitgenossen, und zu dem spÈteren Eichendorff. Die dritte Richtung lyrischer Produktion wertet er jedoch am hÚchsten und zitiert wohl als Beleg, wenngleich ohne nÈhere ErlÈuterung, wie allen seinen AusfÝhrungen konkrete TextbezÝge fehlen, HÚlderlins Ode Abendphantasie. Aber die bedeutendsten SchÚpfungen seiner Lyrik sind doch die, in denen an einem Erlebnis ein allgemeiner Zug des Lebens ihm aufgeht.170 Nur vermuten lÈßt sich, daß die GegenstÈndlichkeit des Erlebnisses vordergrÝndig die Abendstimmung ist, darÝber hinaus die an anderer Stelle beschriebene Einsamkeitserfahrung HÚlderlins („Wohin denn ich?“). An die Gruppierung der Lyrik HÚlderlins, die vom Grad des Anteils an Erlebnis, von der Relation zwischen Erlebnis und Stimmung geprÈgt ist, schließen sich diffizile allgemeine Àberlegungen zum inneren GefÝhlsverlauf an. Er stellt Ausgangspunkt und Vorbedingung fÝr die Entstehung eines Gedichts wie eines musikalischen Werkes dar. Jedem Gedicht – und ebenso jedem musikalischen Instrumentalwerk – liegt ein durchlebter seelischer Vorgang zugrunde, der auf die Innerlichkeit des Individuums im GefÝhl zurÝckbezogen ist.171 Was auch den Anstoß geben mag, ein Einzelerlebnis, Stimmungen, eine Ideenmasse, der GefÝhlsverlauf, so D., ist ein gegliederter. Er bildet sich in seinen Teilen aus, faßt sie zusammen, klingt in Harmonie oder Beruhigung aus, weist eine teleologische Gesetzlichkeit auf.172 Soweit die Ausgangsbedingungen, die Frage der Realisierung eines derart in Bewegung gebrachten Vorgangs fÝhrt D. auf den Vergleich HÚlderlins mit Goethe. GegenÝber der Erlebens- und Arbeitsweise Goethes, der meist unmittelbar schreibt, da dem Moment hingegeben, setzt HÚlderlin die ihm eigene Erfahrung nicht unmittelbar um. Wie der Instrumentalmusiker bedarf er langer Zeitspannen, um den Rhythmus des GefÝhlsverlaufs in seinen einfachen wesenhaften ZÝgen herauszuheben [. . .].173 D. nimmt diesen Rhythmus offenbar als das Musikalische [. . . ] der inneren Form der Gedichte

168

HÚlderlin (1910) 288. HÚlderlin (1910) 289. 170 HÚlderlin (1910) 284. Vgl. ebd. 233. 171 HÚlderlin (1910) 286. Vgl. dazu Ýber Heines frÝhe Lyrik: Lyrische Dichtungen gleichen darin musikalischen Leistungen, daß sie unabhÈngig sind von Erfahrungen und demgemÈß vor aller reiferen Lebensauffassung schon in vollendeter SchÚnheit hervortreten kÚnnen. (1876). Ges. Schr. XV, 211. 172 HÚlderlin (1910) 286. 173 HÚlderlin (1910) 287. D.s Neigung, vergleichend Musik heranzuziehen, ist frÝh ausgebildet. Vgl. die TagebÝcher von 1859. JD 89; auch D.s Vorstellung vom lyrischen Schaffensprozeß Goethes : 169

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HÚlderlins wahr. Darunter versteht er die besondere Form des inneren Vorgangs und seiner Gliederung,174 nicht also Gestaltungsmittel der Èußeren Form, Wortschatz, Syntax, Versmaß, Strophenformen, deren Einklang mit dem inneren Rhythmus des seelischen Vorgangs er ausfÝhrlich und zumeist textfern beobachtet.175 Der Gefahr einer mit diesem Arbeitsgang verbundenen Stilisierung, wie D. sagt, ist HÚlderlin nicht immer entgangen, nicht z. B. im Hymnus Der Archipelagus. D.s Feststellung ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: zum einen, weil er den großen Klagegesang auf die untergegangene Welt der Griechen in seinem frÝhen HÚlderlin-Aufsatz auf eindrucksvolle Weise prÈsentiert hat und nun sein damaliges Urteil zurÝcknimmt;176 zum andern, weil seine spÈte Ablehnung mit der Forderung nach einer nacherlebbaren Einheit des Vorgangs deutlich von seinem Erlebnisbegriff gesteuert ist. Entscheidendes Kriterium fÝr Gestalt und Geltung eines Gedichts wird seine Nacherlebbarkeit. D. fordert einen Zusammenhang, der in Einem inneren Vorgang dargestellt und dem Aufnehmenden als solcher faßbar wird, schließt große lyrische Formen aus. Bleibt, drei auffallende und teils schon berÝhrte Aussagen innerhalb des kleinen Lyrik-Kapitels zusammenzustellen, mit denen D. einen Grundzug HÚlderlins und dessen Auswirkung auf seine Lyrik beschreibt. HÚlderlin lebte immer im Zusammenhang seiner ganzen Existenz. Stets wirkte auf sein GefÝhl des Moments was er erlitten hatte und was kommen konnte. Er hielt das alles in sich zusammen. Es ist als ob der Augenblick, in dem Goethe so mÈchtig lebte, keine wahre RealitÈt fÝr ihn hÈtte. An Hyperion und Empedokles erinnernd, die unter dem Druck des Vergangenen leben und ihm erliegen, setzt D. fort: Dasselbe zusammenhaltende und gemischte GefÝhl des Lebens ist in HÚlderlins Gedichten. Dazu gehÚrt aller Wahrscheinlichkeit nach ein auffallender Satz im Kontext der Rede von der Stimmung, die aus dem Inneren selbst hervortritt, das Erlebnis zurÝckdrÈngt und in seiner GegenstÈndlichkeit begrenzt: Oder es ist wie bei HÚlderlin ein Zusammengefaßtes, das kaum noch eines Anlasses bedarf.177 Goethe als Gegenbild und die Spiegelbilder Hyperion und Empedokles lassen vermuten, daß D. mit seinen sybellinischen SÈtzen auf die zu Beginn seines Aufsatzes genannten, HÚlderlin charakterisierenden Erfahrungen von dem gemischten und zweideutigen Charakter des menschlichen Daseins zurÝckkommt. Die GefÝhlsdisposition HÚlderlins, ein Zusammengefaßtes, wÈre darin zu finden, zeitliche Trennungen in sich aufzuheben, das Leiden an Verlust oder UnerfÝllbarkeit der in die Vergangenheit oder in die Zukunft projizierten Utopie und an der Leere der Gegenwart ununterschieden gegenwÈrtig zu haben. 178 Unter dieser Voraussetzung wÈre D.s Wendung vom Zusammenhang seiner ganzen Existenz als Ganzheit des Entgegengesetzten zu verstehen. Der Person HÚl-

In seiner Seele ist eine musikalische Energie, die auf jeden Eindruck der Welt mit einem eigenen Tongebilde antwortet. Goethe (1910) 169. 174 HÚlderlin (1910) 288. 175 HÚlderlin (1910) 291; 290–292. 176 Vgl. HW 110 und HÚlderlin (1910) 287 f. D. bemerkt allerdings, daß die Gliederung der Elegien dieser Gefahr entgegenwirke. 177 HÚlderlin (1910) 283 f.; 288. 178 Vgl. HÚlderlin (1910) 225; 259. Dazu: Solche Zusammenfassung der Zeiten in einer Seelenverfassung ist Ýberall das LebensgefÝhl in HÚlderlin, bis hinein in seine kurzen Gedichte. Ebd. 276.

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derlins, dem Leidenden, Resignierten, gehÚrt D.s MitgefÝhl, seine Bewunderung einer Lyrik, die diese neue Empfindung der Welt gegenÝber zum Ausdruck bringt: Eine neue Melodie entfaltete sich in diesem musikalischen Genie. Es war eine prophetische SchÚpfung. In ihr bereitete sich der rhythmische Stil eines Nietzsche vor, die Lyrik eines Verlaine, Baudelaire, Swinburne, und was unsre neueste Dichtung sucht.179 Bildungsromane Im „R o m a n , der modernen b Ý r g e r l i c h e n EpopÚe“, ist per se „die TotalitÈt einer Welt- und Lebensanschauung“180 enthalten. UnabhÈngig von Hegels Einordnung und unabhÈngig von Literatur erscheint Weltanschauung als Stichwort in den TagebÝchern D.s von 1859 ;181 ist dann als Welt- und Lebensansicht bestimmend in der Schleiermacher-Biographie und bleibt Gegenstand bis zur Abhandlung Die Typen der Weltanschauung von 1911. Von den literarhistorischen AufsÈtzen ist der Ýber Novalis explizit auf das Ziel hin konzipiert, die Weltansicht zu erfassen; die Darstellung Lessings gipfelt in der seiner Weltanschauung. Reflexionen zu Lebens- und Weltansicht, Weltanschauung bringen auch die AufsÈtze Ýber Goethe und HÚlderlin.182 Welches Gewicht dieser Frage zukommt, zeigt sich in der Basler Antrittsrede an der ungewohnten Rangordnung, die D. frÝh herstellt und beibehÈlt: Und nun sind die Systeme von Schelling, Hegel und Schleiermacher nur logisch und metaphysisch begrÝndete DurchfÝhrungen dieser von Lessing, Schiller und Goethe ausgebildeten Lebens- und Weltansicht.183 Diese Rangordnung wiederholt sich, wie an Lessing gezeigt, innerhalb der Werke des einzelnen, der Lebens- und Weltanschauung in zwei verschiedenen Darstellungsformen zum Ausdruck bringt. D. signalisiert im Novalis-Aufsatz dem Leser ausdrÝcklich den Àbergang 184 und bemerkt, das Dichterische eingrenzend: Die Form nun, in welcher Novalis seiner Weltansicht den adÈquaten dichterischen Ausdruck zu geben gedachte, war die des Romans.185

179

HÚlderlin (1910) 285 f. und 225. Aesthetik. Hegel W X, 3. S. 395 und 396. 181 Vgl. JD 84. 182 Den Ansatz zu einer Unterscheidung zwischen Lebensanschauung und Weltanschauung scheint D. in Typen der Weltanschauung zu machen : Der Ausgang der Dichtung vom Leben fÝhrt sie direkt dazu, im Geschehnis eine Lebensanschauung auszusprechen. [. . .] Und einer jeden dieser Lebensverfassungen entspricht eine innere Form der Dichtung. Von da ist nur ein Schritt zu den großen Typen der Weltanschauung, und der Zusammenhang der Literatur mit den philosophischen Bewegungen fÝhrt einen Balzac, Goethe, Schiller zu dieser hÚchsten Vollendung des LebensverstÈndnisses. Ges. Schr. VIII, 93. 183 Basler Antrittsvorlesung 13. Vgl. das Kapitel Die deutsche Literatur als Ausbildung einer neuen Weltansicht. Leben Schl XIII,1. 183–207; auch HÚlderlin (1910) 264. 184 Indem wir von diesen Liedern reden, wenden wir uns von dem wissenschaftlichen Ausdruck seiner Weltansicht zu dem dichterischen. Novalis (1910) 206; vgl. ebd. 194. 185 Novalis (1910) 206. 180

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Heinrich von Ofterdingen und Hyperion reprÈsentieren die moderne Gattung des Romans. Goethes Wilhelm Meister, an dem Novalis, in Anerkennung und Ablehnung, seinen Heinrich von Ofterdingen orientiert hat, ist gegenwÈrtig. D.s Beobachtungen zu den beiden Romanen sind ein frÝhes und ein spÈtes Exempel fÝr seine Konzentration auf das Thema Weltanschauung. Wesentliche ZÝge – Seelenwanderung und Pantheismus – hat er an Lessings Schriften gezeigt, und er weist auf diese ihm wichtige Verbindung in beiden AufsÈtzen hin. In beiden FÈllen sucht er die Romane zu rechtfertigen: den in sich schlÝssigen Verlauf des Ofterdingen (trotz unausgefÝhrter Fortsetzung) und eine neue Form des philosophischen Romans in Hyperion.186 Beide ordnet er dem Bildungsroman zu – ein Terminus, der zwar nicht von ihm stammt, aber durch ihn verbreitet wurde187 – und hÈlt fest an der bekannten Sicht: So sprechen diese Bildungsromane den Individualismus einer Kultur aus, die auf die InteressensphÈre des Privatlebens eingeschrÈnkt ist.188 Heinrich von Ofterdingen An Heinrich von Ofterdingen, einem Fortschritt gegenÝber dem anderen Romanfragment des Novalis, den Lehrlingen zu SaÓs, rÝhmt D. die Melodie seines Stiles und die wahrhaft zauberische Melodie der Sprache189. Wenngleich er der Romantisierungstendenz des Novalis mit einiger Skepsis begegnet, erkennt er an, daß sie zur Ausbildung eines eigenen dichterischen Ideals, zu einer neuen Poetik des Romans fÝhrt. Sie beruht, stark verkÝrzt, darauf, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend.190 Heinrich von Ofterdingen ist die Geschichte eines Dichters, die D. zunÈchst biographisch deutet, literarische und lebensgeschichtliche Ereignisse parallelisierend. Mit dem Fortsetzungsfragment stellt sich ihm der Zusammenhang des Romans als ein metaphysischer dar, den er mit Hilfe der Hypothese von der Seelenwanderung stÝtzt und behauptet, an Personen und Handlungsverlauf belegt. Lessings NÈhe zu dieser Vorstellung191 bestÈrkt D. in seiner Annahme – Ýbrigens ein Vorgriff auf den erst zwei Jahre spÈter erscheinenden Lessing-Aufsatz. Die Hypothese besteht in dem Glauben an eine bestimmte, sich von neuem im Kreislauf der Zeit und ihres Gesetzes von Geburt und Tod entfaltende IndividualitÈt, an eine durch die Vergangenheit bestimmte Ordnung in den Beziehungen der Seelen zueinander, an immer neue Formen ihres Daseins: was mit uraltem doch unzutreffendem Ausdruck als Seelenwanderung bezeichnet wird.192 Bei der Bearbeitung der AufsÈtze fÝr die erste Auflage von EuD verteidigt D. in den Anmerkungen zu Novalis diese Hypothese gegenÝber Haym, der die Interpretation des Ofterdingen in eben dem Punkt angegriffen hatte; ebenso geht er akribisch auf seine einstige Kontroverse darÝber mit Konstan186

Stellennachweise unten Anm. 201. Vgl. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft I, hrsg. von K. Weimar, Berlin, New York 1997, S. 230–233. Dort der Hinweis auf Leben Schl XIII,1. 299: Ich mÚchte die Romane, welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen (denn Rousseaus verwandte Kunstform wirkte auf sie nicht fort), Bildungsromane nennen. Dazu: Abhandlung (1895) 296 mit dem Einwand Yorcks. B Yorck 191; schließlich die sehr viel spÈteren AusfÝhrungen in HÚlderlin (1910) 252–254. 188 HÚlderlin (1910) 253. 189 Novalis (1910) 216; frÝhe Beispiele fÝr D.s Musikvergleiche. 190 Novalis (1910) 209. D. referiert in diesem Zusammenhang Aphorismen des Novalis zu Wilhelm Meister und zum Poesiekonzept. 191 Novalis (1910) 218. 192 Novalis (1910) ebd.; vgl. Novalis (1910) Tg., Textbearbeitung unter 218, 19–28. 187

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tin RÚßler ein.193 Zwar mÚchte er die Hypothese nicht im Sinn einer wissenschaftlichen Theorie verstanden wissen, doch nach wie vor erklÈrt sich ihm Ýber sie Fortgang und Einheit des Romans, der metaphysische Zusammenhang des menschlichen Lebens. Leise und allmÈhlich, mit tiefer Kunst, hat uns der Dichter in seine Welt gefÝhrt, eine Welt, in welcher gewissermaßen der metaphysische Zusammenhang des menschlichen Lebens zutage liegt. Denn dieser ist, richtig verstanden, der Sinn seiner Èsthetischen Form.194 In der Form des Romans ist die IdentitÈt der Personen gewahrt, mit der Progression und ZusammengehÚrigkeit seiner Teile darÝber hinaus auch die Entwicklung und Vervollkommnung des Menschen angedeutet. Das die ausgefÝhrten Partien beschließende MÈrchen – D. bezeichnet es als Mythologie – enthÈlt das Bild einer neuen Epoche. Sie ist von der Verstandesherrschaft durch die Poesie befreit, geleitet von Weisheit und Liebe und vom Tod erlÚst. Die direkten aufschlÝsselnden Verweise auf die Figuren des MÈrchens streicht D. fÝr die zweite Auflage von EuD. Er bleibt bei der komprimierten GegenÝberstellung von Tiecks Pantheismus und der ganz anders gearteten Weltansicht von Novalis, die er der Utopie des MÈrchens entnimmt. Alle menschlichen Ausdrucks- und Handlungsweisen sind im Einklang mit der Natur wie untereinander und bilden ein Ganzes, ohne Trennungen. Die Natur ist ihm eine Ordnung und Entwickelung der Welt, deren innerstes Geheimnis das unseres eigenen GemÝts ist. Dies Geheimnis lÚst allein die Poesie. So durfte er die Einheit von Poesie und Wissenschaft als den Grundgedanken seiner Weltansicht bezeichnen.195 Hyperion oder der Eremit in Griechenland HÚlderlins Hyperion geht aus genau den historischen Bedingungen hervor wie der Ofterdingen des Novalis, dennoch sind es andere, modifiziert durch HÚlderlins Erfahrungen oder sein Erlebnis: Eben darin, daß der Dichter den finsteren Zug, der dem Antlitz des Lebens so tief eingegraben ist, zuerst in diesem Roman sichtbar machte, mit der Macht, die nur das Erlebnis gibt, liegt die eigene Bedeutung des Werkes.196 Die eigene Art des Erlebens bringt HÚlderlin an die Seite der gefÈhrdeten Dichter und Philosophen – Byron, Leopardi, Schopenhauer, Nietzsche – , lÈßt ihn zum Wegbereiter der Moderne werden. Ein Versuch, vorwÈrts zu gehen zu neuen MÚglichkeiten, macht Ýberall das Große in HÚlderlin aus, das worin er die Moderne vorbereitet.197 D. verfolgt die verschiedenen Etappen der Entstehung des Hyperion im Lebens- und Arbeitszusammenhang, in Èhnlicher Weise geht er der Entwicklung innerhalb des Romans nach, immer wieder den Autor mit der Romanfigur, HÚlderlin mit Hyperion identifizierend.198 Wenn er Hyperion als Bildungsroman bezeichnet, so belegt er doch zugleich, daß es sich eigentlich um einen Anti-Bildungsroman handelt, da er nicht mit dem Àbergang des Helden in ein sinnvolles tÈtiges Leben endet, sondern mit Verlust und Gebrochenheit.

193

Vgl. die Darstellung der Lehre von der Seelenwanderung in Lessing (1910) 106–109; dazu Tg., Anmerkungen Diltheys zu Lessing und Novalis (1910) D. gibt die entsprechenden Stellen bei Haym selbst an. 194 Novalis (1910) 217. 195 Novalis (1910) 221 vgl. Novalis (1910) 197. 196 HÚlderlin (1910) 254. 197 HÚlderlin (1910) 256. 198 HÚlderlin (1910) 257: Hyperion ist HÚlderlin selbst.

Dichtungen und Weltanschauung

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Aber fÝr HÚlderlin ging aus seinen Erfahrungen ein neuer Zug des Lebens auf, der dem bisherigen Bildungsroman ganz heterogen war. [. . .] Seine Erlebnisse taten ihm neue MÚglichkeiten auf, den Sinn des Lebens zu erfassen und auszusprechen.199 Den offensichtlichen Widerspruch mildert D. mit dem Hinweis auf Diotimas Prophezeiung ( „die dichterischen Tage keimen Dir schon“) und auf HÚlderlins Vorrede zu seinem Roman („die AuflÚsung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter“). Vor allem aber begegnet er ihm mit Hilfe der Formel vom Rhythmus des Lebens, die er hÚchstwahrscheinlich HÚlderlins Ansicht vom Wechsel der Lebensphasen und der Wendung vom „Rhythmus der Vorstellungen“ nachgebildet hat.200 Sie verbÝrgt in D.s Interpretation einen mÚglichen neuen Anfang fÝr Hyperion. Der Roman ist also trotz allem Bildungsroman, und er ist, differenzierter, ein philosophischer Roman.201 So bezeichnet ihn D. mehrfach und beschreibt in diesem Sinn zunÈchst Anlage und Form, die den Helden zur Selbstreflexion zwingen. Eine Folge von Briefen aus der Erinnerung vergegenwÈrtigt dem Schreibenden seine Erlebnisse, seine eigene Geschichte in ihrer Bedeutung. Er selber ist sich Gegenstand der Betrachtung. Und nun besteht der Kunstgriff, in welchem HÚlderlin diese philosophische Aufgabe seiner Dichtung lÚst, darin, daß die Sukzession des Lebensverlaufs, wie sie die Abfolge von Briefen darstellt, in das zusammenfassende Bewußtsein einer RÝckschau verbunden ist.202 Die RÝckschau beginnt mit dem Blick auf die Natur und mÝndet im Einssein mit ihr. Der Rhythmus in der Sprache, besonders im Schlußhymnus an die Natur, durchzieht nach D.s Beobachtungen den Roman, bestimmt seinen Verlauf und ist Symbol fÝr den letzten und hÚchsten Begriff seiner Philosophie – den Rhythmus des Lebens selbst.203 D.s Formel stellt eine Abbreviatur fÝr die im Roman dargelegte pantheistische Erfahrung der Natur dar. Die Herausbildung des Pantheismus, der All-Einheitslehre HÚlderlins, verfolgt D. mit großer Aufmerksamkeit: in der Beziehung zu Hegel und Schelling wÈhrend der TÝbinger Stiftszeit, zu Schiller, zu Fichte in der Jenaer, wieder enger zu Hegel in der Frankfurter Zeit. FÝr die Stiftler ist die LektÝre von Jacobis Spinoza-Briefen belegt;204 D. stellt die Verbindung zu dem von ihm beschriebenen Pantheismus Lessings her – Èhnlich wie er im Novalis-Aufsatz in der Frage der Seelenwanderung auf Lessing verwiesen hat. Er erwÈhnt den vermeintlichen Eintrag des ‚ Ein und All in Hegels Stammbuch.205 Emanzipation von christlich-orthodoxer Religion (nicht von ReligiositÈt) ist Gegenstand aller AufsÈtze. In HÚlderlins Hymne An die GÚttin der Harmonie sieht D. erstmals eine Weltauffassung HÚlderlins – , er bezeichnet sie als Panentheismus. Das Thaliafragment, das er einer OuvertÝre vergleicht, enthÈlt die •ußerungen eines dichterischen Pantheismus.206 Von da spannt D. den Bogen bis zum Schluß des Romans, zu dem Hymnus auf die alles umschließende, ewig

199

HÚlderlin (1910) 254. HÚlderlin (1910) 260, 265, 276. Vgl. HW 115 ( „Rhythmus der Vorstellungen“). 201 HÚlderlin (1910) 254, 260, 265, 268. 202 HÚlderlin (1910) 264. 203 HÚlderlin (1910) 265. Vgl. In diesem Rhythmus des Lebens fließt der Roman. Ebd. 257. 204 [F. H. Jacobi,] Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785. 205 HÚlderlin (1910) 230; vgl. Lessing (1910) 101–106. 206 HÚlderlin (1910) 240; vgl. VerkÝndigung eines kÝnstlerischen Pantheismus. Ebd. 256. 200

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Diltheys Aufsatzsammlung von 1910

bestehende Natur, von der Hyperion sich aufgenommen fÝhlt. PersÚnliche und dargestellte Erfahrung fallen wiederum zusammen: Schon nach dem Thaliafragment entspringt aus den Schicksalen des GemÝtes das große Erlebnis der Befreiung der Seele durch ihre Hingabe an das All, und noch in der letzten Fassung des Romans hat sich hieran nichts geÈndert.207 In der Auseinandersetzung mit Fichtes absolutem Ich, so D.s vorsichtige Vermutung, in Jena, kÚnnte sich HÚlderlins Auffassung von Dichtung herausgebildet haben, wie sie im Athener GesprÈch des Romans entwickelt wird. Danach ist Poesie die Grundlage fÝr das objektive VerstÈndnis des Weltzusammenhanges.208 Wenn der Roman die der Poesie zugedachte Funktion erfÝllen soll, kann er nicht von fertigen Doktrinen ausgehen, sondern nur von den Menschen selber und ihrem Geschick: Was zu jeder Zeit wo Leben stattgefunden hat, an jedem Ort wo es ablÈuft seinen Charakter ausmacht, will HÚlderlins Roman nicht abstrakt aussprechen, sondern an den Schicksalen seiner Menschen zum Bewußtsein bringen.209 Das von HÚlderlins literarischen Figuren erfahrene Leiden an Trennung und Verlust, im Roman leicht faßbar an einer Kette von Abschieden (Hyperions von Adamas, von Alabanda, von Diotima), lÚst sich in der Erfahrung des Einbezogenseins in den großen Lebenszusammenhang der Natur: „ Besteht ja das Leben der Welt im Wechsel des Entfaltens und Verschließens, in Ausflug und in RÝckkehr zu sich selbst, warum nicht auch das Herz des Menschen?“ Auf diesen Rhythmus des Lebens weisen auch die letzten Worte des Romans; [. . .].210 Den Rhythmus des Lebens zur Anschauung zu bringen ist in D.s Sicht Ziel des Romans. Seine eigene Konzeption liegt in der HÚlderlin (ebenso Goethe, selbst Lessing) wiederholt zugeschriebenen Intention, den Charakter des Lebens selber aussprechen zu wollen , den Sinn des Lebens zu erfassen und auszusprechen; Deutung des Lebens aus diesem selber zu sein .211 Die Kategorie des Erlebnisses als Ursprung und Ausgangspunkt der Dichtung wird eingeordnet in die umfassendere Vorstellung des Lebens selber.212 Von hier aus erklÈrt sich, warum D. noch 1910 den Abschnitt Das

207

HÚlderlin (1910) 262. HÚlderlin (1910) 240 f. 209 HÚlderlin (1910) 260. 210 HÚlderlin (1910) ebd. 211 HÚlderlin (1910) 225, 254. 212 D. reflektiert und begrÝndet unabhÈngig von HÚlderlin die Blickrichtung auf das Leben, das sei nur angedeutet, als Folge des Historismus, des sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelnden Geschichtsbewußtseins, das dem jungen D. ein GefÝhl großer Àberlegenheit gegeben hatte, immer noch befreiend wirkt, aber auch seine destruktive Seite zeigt: So zerstÚrt die Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins grÝndlicher noch als der Àberblick Ýber den Streit der Systeme den Glauben an die AllgemeingÝltigkeit irgendeiner der Philosophien, welche den Weltzusammenhang in zwingender Weise durch einen Zusammenhang von Begriffen auszusprechen unternommen haben. Die Philosophie muß nicht in der Welt, sondern in dem Menschen den inneren Zusammenhang ihrer Erkenntnisse suchen. Das von den Menschen gelebte Leben – das zu verstehen ist der Wille des heutigen Menschen. Ges. Schr. VIII, 77 f. Vgl. im Lessing-Aufsatz das ÀberlegenheitsgefÝhl des jungen D.: [. . .] denn wir sind zugleich der Geschichte mÈchtig. Lessing (1910) 94. 208

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Leben in den Goethe-Aufsatz eingefÝgt hat. In der etwa gleichzeitigen Abhandlung Die Typen der Weltanschauung erscheinen die einzelnen Faktoren gebÝndelt: Die letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben. Dem lapidaren Satz folgt in den weiteren AusfÝhrungen: Der Ausgang der Dichtung vom Leben fÝhrt sie direkt dazu, im Geschehnis eine Lebensanschauung auszusprechen. Diese Lebensanschauung entsteht dem Dichter aus der Natur des Lebens selbst, aufgefaßt von seiner eigenen Lebensverfassung aus. Sie entwickelt sich in der Geschichte der Dichtung, in der diese sich schrittweise ihrem Ziel nÈhert, das Leben aus ihm selber zu verstehen, indem sie die großen EindrÝcke desselben in vÚlliger Freiheit auf sich wirken lÈßt.213

Realpsychologie und Strukturpsychologie Dem Leser von Kommentaren jedweder Art kÚnnte im Anhang dieses Buches dreierlei auffallen: daß sich D.s Anmerkungen zu Novalis verÈndern, obwohl dem im Text nicht das geringste entspricht; daß D. in EntwÝrfen fÝr diese Anmerkungen Strukturpsychologie statt Realpsychologie schreibt und diktiert. Schließlich kÚnnte der imaginierte Leser bemerken, daß D. in den Èußerst kargen ErlÈuterungen zum Goethe-Aufsatz auf seine damalige Fassung der BegrÝndung der Geisteswissenschaften auf eine deskriptive Psychologie in diesem Aufsatz verweist. Abschließend einige Details von diesen NebenschauplÈtzen. An D.s Anmerkungen zum Novalis-Aufsatz befremden zunÈchst seine Entgegnungen auf EinwÈnde Hayms nach vierzig Jahren, Ýbers Grab hinaus und obwohl Haym sich 1873 deutlich um AbschwÈchung seiner Kritik bemÝht hat.214 Hayms Romantische Schule, deren Erscheinen vor seiner Schleiermacher-Biographie D. 1870 befÝrchtet hatte, kam allerdings, wenn auch erst 1906, in unverÈnderter Auflage wieder heraus und konnte unter UmstÈnden der literarischen ³ffentlichkeit die Kritik an D. wieder ins GedÈchtnis rufen.215 Vorerst tat das D. selbst. Seine Anmerkungen zu Novalis fÝr die erste Auflage von EuD sind nichts als Rechtfertigung Haym gegenÝber. Sie betreffen die Naturauffassung in den Lehrlingen zu SaÓs, die Fragmente, Heinrich von Ofterdingen. Aufschlußreich im Hinblick auf die spÈteren Fassungen der Anmerkungen sind D.s •ußerungen zu den Fragmenten, in denen er fruchtbare und klare wissenschaftliche Gedanken aufzeigen wollte,216 wÈhrend er den Begriff des „Magischen Idealismus“, unter dem Haym die Weltanschauung des Novalis zusammenfaßt, in Zweifel zieht. In der zweiten Fassung (1907) nehmen die AusfÝhrungen Ýber die Fragmente sichtlich zu, weiteren Anlaß zur Rechtfertigung gaben die Schriften von Olshausen und Simon. Beide gehen auf D.s Novalis-Aufsatz ein, auf den von D. selber in den Anmerkungen noch gar nicht ins Spiel gebrachten Begriff der Realpsychologie, und veranlassen D. nun, sich dazu zu Èußern.217 Einzig an dieser Stelle fÝhlt sich D. durch neuere Literatur herausgefordert, die er, was

213

Ges. Schr. VIII, 78 und 93. Rudolf Haym (1821–1901). Vgl. Novalis (1910) Tg., Anmerkungen Diltheys. Das von D. zitierte positive Urteil Hayms stammt von 1873, D.s Dank vom Juli 1873. B Haym 34. 215 R. Haym, Die Romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, hrsg. von W[ilhelm] S[chrader], Berlin 21906. 216 EuD1 403. Vgl. Novalis (1910) Tg., Diltheys Bearbeitung seiner Anmerkungen, D1. 217 Auf einem als Umschlag genutzten Doktordiplom von 1904, von D.s Hand, in der Mitte: Novalis, oben als Literaturangabe: Kircher, Philos der Romantik; unter Novalis: Gegen m. „Realpsych“ Olshaus Diss. p 18 ff. Archiv der BBAW zu Berlin, NL Dilthey, C 88 (235), 242. 214

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Novalis angeht, im Ýbrigen ignoriert, und er begrÝndet, warum ihm an dem Begriff Realpsychologie so sehr lag und unverÈndert liegt: Wie ich nun damals mit der ersten Idee einer Psychologie beschÈftigt war, welche fÈhig wÈre, die Geisteswissenschaften zu begrÝnden, erschienen mir die Gedanken Hardenbergs Ýber eine solche bedeutsam. Und auch heute noch liegt fÝr mich der Hauptwert seiner Fragmente fÝr die Gegenwart in den Ideen Ýber den großen Zusammenhang, der zu den Geisteswissenschaften fÝhrt: [. . .].218 1865 hatte D., fasziniert von den Aphorismen des Novalis zu Baader, sich die Vorstellung einer bestimmten Richtung der Psychologie zu eigen gemacht, teils den Text von Novalis Ýbernehmend, teils ihn weiterdenkend und -schreibend: Das Problem der Welt lÚst sich uns demnach, soweit es Ýberhaupt auflÚsbar ist, durch die Anschauung unsres eignen Inneren. Das wunderbarste, das ewige PhÈnomen ist das eigne Dasein. Das grÚßeste Geheimniß ist der Mensch sich selbst. Die Wissenschaft aber, welche es mit diesem hÚchsten PhÈnomen zu thun hat, ist die R e a l p s y c h o l o g i e . Vom Gegenstand der ihm wÝnschenswert erscheinenden Psychologie geht D. Ýber zur ErlÈuterung des Begriffs: Was heißt Realpsychologie? Eine Psychologie, welche den I n h a l t unserer Seele selber zu ordnen, in seinen ZusammenhÈngen aufzufassen, soweit mÚglich zu erklÈren unternimmt.219 Diese Partien des Aufsatzes stimmen in allen Auflagen von EuD, von kleinen sprachlichen VerÈnderungen abgesehen, Ýberein und enthalten den Ansatz fÝr eine mÚgliche, die Geisteswissenschaften begrÝndende Psychologie, der in der spÈten ErklÈrung zu Olshausens Kritik als richtig beurteilt wird. Anschaulich zeigt sich das Festhalten am einstigen Fund an D.s Baader-LektÝre, mit deren Hilfe er Olshausens Ansicht als irrig zurÝckweisen mÚchte und bei der, wie Walzel bekrÈftigt, nebenbei herausspringt, daß Hayms Begriff „magischer Idealismus“ ebenfalls auf Baader zurÝckgeht.220 Mit der enragierten Verteidigung des alten Begriffs221 verschiebt sich der von D. angedeutete Beginn des BemÝhens um eine Grundlegung der Geisteswissenschaften nach vorn, Ýber die Erstfassung des Goethe-Aufsatzes hinaus bis hin zu Novalis. In der heftigen Reaktion D.s steckt vielleicht ein Mo-

EuD2 451. Vgl. Novalis (1910) Tg., Aus den Handschriften zu Anmerkungen Diltheys. Ges. Schr. XXV, Novalis 223. Vgl. Novalis (1910) 197. 220 Vgl. EuD2 452. Novalis (1910) Tg., Diltheys Bearbeitung seiner Anmerkungen, dazu: O. Walzel, Simon Heinrich in: Euphorion. Zeitschrift fÝr Literaturgeschichte, hrsg. von A. Sauer, XV (1908), S. 614. 221 Zur VergegenwÈrtigung: Novalis beruft sich in den Aphorismen auf F. von Baader und gebraucht fÝr ihn die Bezeichnung: „realer Psycholog“; weder bei Baader noch bei Novalis kommt der Begriff Realpsychologie vor. Er ist also hÚchstwahrscheinlich eine an beide angelehnte Wortbildung D.s, die er denn auch fÝr sich reklamiert. Im zweiten Kapitel der Ideen, im Februar und Juni 1894 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen, verweist D. mit Angabe der Seitenzahl (die Angabe ist vom Hrsg. fÝr Ges. Schr. V, 156 leicht verÈndert) auf seinen Novalis-Aufsatz: Daher stellte ich zu einer Zeit, in welcher diese Grenzen der erklÈrenden Psychologie noch schroffer als heute hervortraten, ihr den Begriff einer Realpsychologie gegenÝber (1865, Novalis, Pr. Jahrb. S. 622), deren Beschreibungen die ganze TotalitÈt des Seelenlebens, die in ihr bestehenden ZusammenhÈnge, und zwar neben ihren Formen auch ihre Inhaltlichkeit zur Auffassung brÈchte. Sitzungsberichte der KÚniglich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin LIII (1894, 2), S. 1326. 218 219

Realpsychologie und Strukturpsychologie

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ment der Reminiszenz, Erinnerung an den Ebbinghaus-Eklat in der Mitte der 90er Jahre und den ihn ungemein hemmenden Widerspruch zu seinen in der Berliner Akademie vorgetragenen Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Die Verwechslung von Real- und Strukturpsychologie in den Handschriften ergab sich mÚglicherweise nur aus der Anspannung, Ýberzeugend den damaligen und gegenwÈrtigen Standpunkt Olshausen gegenÝber zu vertreten. Der folgende Satz stammt von D.s Hand: So habe ich, erfreut darÝber fÝr Ideen Ýber eine Strukturpsychologie [sic] die mir damals aufgegangen waren in Novalis einen VorlÈufer zu finden, an den Fragmenten diesen Punkt herausgehoben.222 Dieses und das diktierte BruchstÝck reklamieren noch einmal Novalis als VorlÈufer. Die Gleichsetzung des zu behauptenden alten mit einem neuen Begriff, wie immer man sie interpretiert, weist auf eine andere Terminologie hin, auf einen andern Stand der Reflexion. Der Struktur des Seelenlebens hatte D. 1894 ein Kapitel der Ideen gewidmet. In diesem Aufsatz hatten sich die Begriffe: Realpsychologie, deskriptive Psychologie, Struktur nebeneinander befunden. Indem so die Lebenseinheit sich von dem Milieu, in welchem sie lebt, bedingt und wiederum rÝckwirkend auf dasselbe findet, entsteht hieraus eine Gliederung ihrer inneren ZustÈnde. Ich bezeichne dieselbe als die Struktur des Seelenlebens.223 Der psychische Strukturzusammenhang beschÈftigt D. dann in der ersten der Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften von 1905, in der die Èlteren Àberlegungen weiter verfolgt werden. Die Begriffe Struktur und Strukturzusammenhang schleust D. 1907 in den Goethe-Aufsatz ein, hauptsÈchlich, um das Schreiben aus Selbstbeobachtung vom dichterischen Erleben und Schreiben am Beispiel Goethes zu unterscheiden: Das Verfahren des Dichters, der das persÚnliche Erlebnis ausspricht, ist ein ganz anderes. Es beruht auf dem Strukturzusammenhang zwischen dem Erleben und dem Ausdruck des Erlebten. Das Erlebte geht hier voll und ganz in den Ausdruck ein. Keine Reflexionen trennen seine Tiefen von ihrer Darstellung in Worten. [. . .] Hierin liegt die seherische Bedeutung des Lyrischen – dies Wort in weiterem Sinne genommen.224 Zum dritten Punkt, den Anmerkungen fÝr den Goethe-Aufsatz in der ersten Auflage von EuD, Ýber dessen Entstehung D. berichtet:

222 Archiv der BBAW zu Berlin, NL Dilthey, C 88 (235), 290r, 290v. Vgl. Wie ich nun damals mit den ersten Ideen einer beschreibenden oder Strukturpsychologie beschÈftigt war, freute es mich, in Novalis fruchtbare Ideen zu einer solchen zu finden. Diktat, von E. Schramms Hand. Ebd. C 88 (235), 355r. Korrigiert: Wie ich nun damals mit den ersten Ideen einer Psychologie beschÈftigt war, welche fÈhig wÈre, die Geisteswissenschaften zu begrÝnden, freute es mich, in Novalis fruchtbare Ideen zu einer solchen zu finden. Ebd. Aus den Handschriften zu Anmerkungen Diltheys. 223 Ideen 200; vgl. Ges. Schr. XXIV, 159 f. 224 EuD2 217 f.; Goethe (1910) 152. Das Wort Struktur, auch Strukturformen, kommt wie ausprobierend in wenigen anderen ZusammenhÈngen dieses Aufsatzes vor: ebd. 137; 158, 160. In der Bearbeitung des Lessing-Aufsatzes im Kapitel: Das neue Drama Lessings als Dramenstruktur; außerdem im alten wie bearbeiteten Lessing in der Àbersetzung eines Zitats aus Bonnet (structure).

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Er knÝpfte damals an Herman Grimms Vorlesungen Ýber Goethe an. In Nr. 1 und 2 ist nun, wie auch beim ersten Aufsatz, diese AnknÝpfung getilgt und die Darstellung zusammengezogen worden, ohne einen inhaltlichen Zusatz, so daß hier meine damalige Fassung der Grundlegung der Geisteswissenschaften auf eine deskriptive Psychologie und die erste Darlegung meiner Ansicht vom VerhÈltnis zwischen Erinnerung und Phantasievorgang (meine kÝrzeren Angaben hierÝber liegen viel weiter zurÝck) erhalten geblieben ist.225 Noch einmal die ErwÈhnung eines Ansatzes, eines spÈteren, von 1877, der in der Bearbeitung fÝr EuD1 unverÈndert bewahrt sein soll. Das VerhÈltnis zwischen Erinnerung und Phantasievorgang hatte D. zwar kurz vor dem Erscheinen seiner Rezension Ýber Grimms Goethe-Vorlesungen im Aufsatz Ýber Dickens ausgefÝhrt,226 aber das Entscheidende an dieser Information ist der Begriff deskriptive Psychologie (im Dickens-Aufsatz induktive Psychologie), hier noch in Verbindung zu psychophysiologischen VorgÈngen. Im Laufe der Bearbeitungen des Goethe-Aufsatzes heißt es, leicht abgeschwÈcht: deskriptive Methode in einer dadurch gekennzeichneten Psychologie.227 Art und Beschaffenheit einer den Geisteswissenschaften zutrÈglichen Psychologie beschrieb D. zunÈchst in der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883): Die Aufgaben einer solchen grundlegenden Wissenschaft kann die Psychologie nur lÚsen, indem sie sich in den Grenzen einer deskriptiven Wissenschaft hÈlt, welche Tatsachen und GleichfÚrmigkeiten an Tatsachen feststellt, dagegen die erklÈrende Psychologie, welche den ganzen Zusammenhang des geistigen Lebens durch gewisse Annahmen ableitbar machen will, von sich reinlich unterscheidet.228 Einer deskriptiven oder beschreibenden Psychologie, die sich gegen die hypothetisch ableitende oder erklÈrende richtet, war dann die große Abhandlung Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie gewidmet. Sie fÝhrte 1895 zur Kontroverse mit Hermann Ebbinghaus,229 mit großer Wahrscheinlichkeit zum Abbruch der damaligen Arbeit an den literarhistorischen AufsÈtzen, vor allem am Folgeband der Einleitung und zur Zuflucht bei Schleiermacher.230 So ist D.s Hinweis RÝckbezug auf Entferntes, auf die erste Forderung einer deskriptiven Psychologie in den 70er Jahren, zugleich auch auf einen um 1895 beiseite geschobenen und wieder aufzunehmenden Problemkomplex. In diesem Kontext steht die Verwechslung von Realpsychologie und Strukturpsychologie. Drei Begriffe aus verschiedenen Zeiten, an entlegenen Orten fÝr die eine Wissenschaft, deren Konstituierung D.s lebenslange Anstrengungen galten und der sich alle seine Untersuchungen zuordnen sollten. Eindringlicher als einzelne ZÝge der AufsÈtze zeugen Verteidigung, Verwechslung und RÝckbezug von NÈhe und Distanz zur eigenen Geschichte, von sich wandelnder KontinuitÈt. Gabriele Malsch

EuD1 400 f., vgl. Goethe (1910) Tg., Anmerkungen Diltheys. Der Text ist im Wortlaut nicht ganz identisch mit dem der dritten Auflage. 226 Vgl. Ges. Schr. XXV, Dickens 409 f.; eine der wichtigsten Aufgaben der inductiven Psychologie ebd. 408. 227 Goethe (1910) 117. 228 Einleitung 32. 229 Dazu: F. Rodi (wie oben Anm. 77), S. 173–183. 230 Vgl. den Brief des Grafen Yorck von Wartenburg vom 4. Mai 1896 an D. B Yorck 212. 225

PERSONENREGISTER Das Register enthÈlt die in den AufsÈtzen Diltheys namentlich genannten Personen und einige weitere, soweit erschließbar. Addison, Joseph (1672–1719) 7, 10 Alexander, Natalis/Noel (1639–1724) 72 Alfieri, Vittorio (1749–1803) 45 Ariost/Ariosto, Lodovico (1474–1533) 3, 4, 143 Aristoteles (384–322) 26, 27, 28, 31, 33, 34, 36, 37, 38, 139 Arnim, Achim von (1781–1831) 213, 223 Arnim, Bettina von, geb. Brentano (1785– 1859) 210 Arnold, Gottfried (1666–1714) 158 •schylos (525/24–556/55) 114, 133 Augustinus, Aurelius (354–430) 181 Baader, Franz Xaver Benedikt (1765–1841) 197 Bach, Johann Sebastian (1685–1750) 157 Bacon, Francis, Lord Verulam (1561–1626) 4, 5, 131, 139 Balzac, Honor¹ de (1799–1850) 11, 121 Basnage, Jacques (1653–1723) 72 Batteux, Charles (1713–1780) 30 Baudelaire, Charles (1821–1867) 225 Baumgarten, Siegmund Jacob (1706–1757) 67 Baur, Ferdinand Christian (1792–1860) 73 Bayle, Pierre (1647–1706) 103 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de (1732–1799) 10, 43, 49 Beethoven, Ludwig van (1770–1827) 91, 92 (Fidelio), 129, 289 Boccaccio, Giovanni (1313–1375) 84, 85 Bodmer, Johann Jakob (1698–1783) 16, 24, 110 BÚcklin, Arnold (1827–1901) 284 BÚhlendorf, Casimir Ulrich (1775–1825) 295 (ein Freund)

BÚhme, Jakob (1575–1624) 197, 211, 215 Bolingbroke, Henry Saint-John (1678–1751) 163 Bonnet, Charles (1720–1793) 102, 107, 108 Bretschneider, Karl Gottlieb (1776–1848) 74 Breunlin, Maria Eleonora Heinrike, geb. HÚlderlin (1772–1850) 227 (Schwester), 248 Brown, John (1735–1788) 196, 199 Bruno, Giordano (1548–1600) 159 Buffon, Georges Louis Leclerc Comte de (1707– 1788) 157 Bunsen, Karl Josias von (1791–1860) 68 Burke, Edmund (1729–1797) 30, 32 Byron, George Gordon Nol (1788–1824) 139, 254, 255, 258 CÈsar, Caius Iulius (100–44 v. Chr.) 29, 151 Calderon de la Barca, Pedro (1600–1681) 5, 83 Camoens /Camo˜es, LuÑs Vaz de (1524–1580) 3, 4 Cardanus, Hieronymus (1501–1576) 123 Celsus/Kelsos (2. Jh. n. Chr.) 60 Cervantes, Saavedra, Miguel de (1547–1616) 2, 3, 4, 10, 133, 143, 164, 173 Charpentier, Johann Friedrich Wilhelm von (1738–1805), Vater von Julie von Ch., 186 (Berghauptmann) Charpentier, Julie von (1776–1811) 186, 222 Chateaubriand, FranËois Ren¹ Vicomte de (1768–1848) 258 Chodowiecki, Daniel (1726–1801) 52, 93 Christ, Johann Friedrich (1700–1756) 17 Coleridge, Samuel Taylor (1772–1834) 139 Comte, Isidore Marie Auguste FranËois-Xavier (1798–1857) 241

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Personenregister

Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat Marquis de (1743–1794) 241 Constant, Henri Benjamin de Constant-Rebecque (1767–1830) 258 Conz, Karl Philipp (1762–1827) 231 Corneille, Pierre (1606–1684) 7, 12, 24, 29, 31, 83, 165 Correggio, Antonio Allegri, genannt il Correggio (1489?–1534) 216 Dante, Alighieri (1265–1321) 1, 2, 3, 114, 120, 128, 149, 179 Descartes, Ren¹ (1596–1650) 5, 6 Dickens, Charles (1811–1870) 11, 121, 130 f., 133, 134, 139 Diderot, Denis (1713–1784) 31, 41, 45, 46, 254 Diogenes Laertius (3. Jh. n. Chr.) 270, 274 Dippel, Johann Konrad, genannt Christianus Democritus (1673–1734) 103, 104 Dorothea s. Veit Dubos, Jean Baptiste (1670–1742) 28, 29, 30, 289 DÝrer, Albrecht (1471–1528) 168 Dusch, Johann Jakob (1725–1787) 19 Eberhard, Johann August (1739–1809) 58 Eckermann, Johann Peter (1792–1854) 135 Eichendorff, Joseph von (1788–1857) 288 Eichhorn, Johann Gottfried (1752–1827) 74 Elisabeth I. von England (1533–1603) 134 (KÚnigin), 135 Empedokles (um 490–430 v. Chr.) 267 f., 270 Engel, Johann Jakob (1741–1802) 19 Ernesti, Johann August (1707–1781) 17 Euripides (480–406 v. Chr.) 133 Feuerbach, Ludwig (1804–1872) 201 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 25, 57, 129, 166, 174, 187, 188, 189, 195, 197, 199, 201, 203, 214, 233, 240 f., 242, 244, 250, 257, 258, 259, 262, 263, 274 Fielding, Henry (1707–1754) 139, 253 Fleming, Paul (1609–1640) 169 Florio, Giovanni (um 1553–1625) 136 Franklin, Benjamin (1706–1790) 64 Fr¹ron, Elie (1718–1776) 46

Friedrich II., deutscher KÚnig und Kaiser (1194–1250) 87, 216, 220 Friedrich II. von Preußen (1712–1786) 7 (KÚnig), 19, 21, 43, 46 (friderizianisch), 47, 48, 49, 83, 97, 111, 112 Friedrich V., Landgraf von Hessen-Homburg (1748–1820) 250 f., 294 Fries, Jakob (1773–1843) 175 Funk, Ferdinand Karl Wilhelm (1761–1828) 215 Galilei, Galileo (1564–1642) 2, 5, 71, 203 Galvani, Luigi (1737–1798) 185 Gellert, Christian FÝrchtegott (1715–1769) 12, 22 Gerhardt, Paul (1607–1676) 169 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von (1737– 1823) 50, 52 Gervinus, Georg Gottfried (1805–1871) 35, 66 Gibbon, Edward (1737–1794) 62/63 Gieseler, Johann Karl Ludwig (1792–1854) 74 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig (1719–1803) 18, 229, 288 Gok, Carl/Karl Christoph Friedrich (1776– 1849) 227, 237, 293 (Bruder) Gok, Johann Christoph (1745–1779), Stiefvater HÚlderlins 226 (BÝrgermeister von NÝrtingen) Gok, Johanna Christiana, verw. HÚlderlin, geb. Heyn (1748–1828) 226 (Mutter), 227, 229, 230, 237, 238, 245, 248, 251, 292, 293 Goethe, Johann Wolfgang (1749–1832) 11, 12, 13, 14 (Xenien), 15, 21, 22, 34, 36, 39, 49, 51, 52, 53, 56, 64, 81, 84, 91, 92, 93, 94, 96, 101, 111, 112, 174, 176, 181, 182, 186, 187, 189, 192, 196, 206, 207–212, 213, 216, 220, 222, 223, 227, 228, 233, 235, 243 f., 249, 252 f., 260, 262, 266, 267, 270, 271, 272, 279, 280, 281, 283, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 292, 295 – GÚtz 53, 111, 149, 150, 152 – Werther 111, 125, 146, 152, 158, 159, 164, 165, 171, 213, 227, 228, 262 – Clavigo 22, 51, 53 – Tasso 12, 49, 124, 152, 164, 171 – Iphigenie 12, 81, 93, 111, 152, 163, 164, 166, 170, 171, 233, 267 – Wilhelm Meister 12, 111, 125, 135, 144,

Personenregister 149, 152, 155, 164, 165, 166, 167, 168, 189, 207- 213, 217, 260 – Faust 49, 84, 92, 111, 125, 126, 149, 152, 153, 154, 156, 158, 159, 164, 165, 166, 167, 168, 171, 262, 281 – Hermann und Dorothea 125, 126, 152, 164, 165, 167 Goeze, Johann Melchior (1717–1786) 61, 63, 69, 70, 88 Gontard, Jacob Friedrich (1764–1843) 245, 248 Gontard, Susette, geb. Borkenstein (1769–1802) 245–248 Gottfried von Straßburg (2. HÈlfte 12. Jh.) 142 f., 144 Gottsched, Johann Christoph (1700–1766) 16, 18, 110 Greene, Robert (1558–1592) 132 Gryphius, Andreas (1616–1664) 50, 169 Guhrauer, Gottschalk Eduard (1809–1854) 56 Guichard, Karl Gottlieb (1724–1775) 49 Hagedorn, Christian Ludwig von (1712–1780) 17, 288 Haller, Abrecht von (1708–1777) 8, 16, 23 Hamann, Johann Georg (1730–1788) 113, 289 Hardenberg Erasmus von (1774–1797), Bruder von Novalis 182, 183 Hardenberg, Auguste Bernhardine (1749– 1818), Mutter von Novalis 183 Hardenberg, Friedrich von, Novalis (1772– 1801) 75, 130, 252, 260 (Ofterdingen), 282, 288, 289 Hardenberg, Gottlob Friedrich Wilhelm von, Onkel von Novalis (1728–1800) 176 (Landkomtur) Hardenberg, Heinrich Ulrich Erasmus Freiherr von (1738–1814), Vater von Novalis 176, 178, 180, 183, 191 Harris, James (1709–1780) 32, 33 Haydn, Joseph (1732–1809) 8, 289 Haym, Rudolf (1821–1901) 254 Hebbel, Christian Friedrich (1813–1863) 45 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) 57, 91, 96, 106, 110, 129, 161, 175, 195, 196, 197, 198, 212, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 238, 240, 241, 249 f., 260, 261,

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263, 264, 265, 272, 273, 275, 279, 280 f., 285 Heinse, Wilhelm Johann Jakob (1746–1803) 213 (Ardinghello), 245 Helmont, Johann Baptista von (1577–1644) 158 Hemsterhuys/Hemsterhuis, Franz (1721–1790) 104, 262 Henzi, Samuel (1701–1749) 21 Heraklit (um 500 v. Chr.) 261 Herbart, Johann Friedrich (1776–1841) 58, 212 Herder, Johann Gottfried (1744–1803) 19, 74, 80, 91, 112, 113, 146, 153, 154, 157, 159, 166, 233, 244, 253, 262, 289 Herzog s. Karl August, Karl Eugen, Karl Wilhelm Ferdinand Heumann, Christoph August (1681–1763) 62 Heyne, Christian Gottlob (1729–1812) 231 Hieronymus (um 340/50–420) 73 Hippel, Theodor Gottlieb von (1741–1796) 175 Hobbes, Thomas (1588–1679) 103 Hogarth, William (1697–1764) 30, 32 HÚlderlin, Heinrich Friedrich (1736–1772) 226 (Vater) HÚlderlin, Johann Christian Friedrich (1770– 1843) 130, 175, 176, 177, 181, 187, 223 HÚlderlin, Mutter und Bruder Karl s. Gok HÚlderlin, Schwester s. Breunlin Home, (Lord Kames), Henry (1696–1782) 30, 32 Homer (9./8. Jh. v. Chr.) 31, 35, 120, 142, 167, 173, 227, 239 Horaz, Quintus Horatius Flaccus (65–8 v. Chr.) 20, 291f. Houdetot, Elisabeth Comtesse d' (1730–1813) 142 Huber, Ludwig Ferdinand (1764–1804) 189 Humboldt, Alexander Freiherr von (1769– 1859) 175, 196 Humboldt, Wilhelm Freiherr von (1767–1835) 130, 232 Hume, David (1711–1776) 95 Hutcheson, Francis (1694–1746) 30, 32 Jacobi, Friedrich Heinrich (1743–1819) 15, 101–105, 126, 187, 230, 231, 235

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Personenregister

Jakob I., KÚnig von Schottland und England (1566–1625) 134 Jean Paul, Johann Paul Friedrich Richter (1763–1825) 130, 181/182, 207 f., 252, 253, 257 Jerusalem, Karl Wilhelm (1747–1772) 98– 100, 104, 105 Jesus von Nazareth, Christus 58, 62, 63, 68, 72, 76 f., 193, 202, 205, 271, 275, 279, 280, 295 Johannes, der Evangelist 75, 76 Jonson, Ben (1573–1637) 132, 136, 139 Joseph II., deutscher KÚnig und Kaiser (1741– 1790) 20 Jung-Stilling, Johann Heinrich (1740–1817) 154 Just, Coelestin August (1750–1822) 178, 182, 184 Justin Martyr (2. Jh. n. Chr., MÈrtyrertod 165) 62 Kalb, Charlotte von, geb. Marschalk von Ostheim (1761–1843) 238, 243 Kant, Immanuel (1724–1804) 7, 25, 32, 43, 91, 94, 97, 111, 112 (Philosoph), 128, 129, 154, 157, 166, 174, 176, 185, 187, 195, 198, 230, 231, 232, 234, 235, 238, 250, 262 Karl August, Großherzog von Sachsen-WeimarEisenach (1757–1828) 147 Karl Eugen, Herzog von WÝrttemberg (1728–1793) 232 Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig (1735–1806) 81 KÈstner, Abraham Gotthelf (1719–1800) 17 Keller, Gottfried (1819–1890) 259 Kepler, Johannes (1571–1630) 2, 5, 203 Kestner, Johann Christian (1741–1800) 146 Kleist, Ewald Christian von (1715–1759) 8, 17, 46, 48, 52 Kleist, Heinrich von (1777–1811) 17, 213, 223, 294 Klinger, Friedrich Maximilian (1752–1831) 153 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724–1803) 5, 12, 16, 18, 23, 24, 47, 55, 111, 122, 157, 169, 226, 227, 228, 229, 233, 235, 288, 290, 291 Klose, Samuel Benjamin (1734–1798) 62, 103

Knapp, Georg Christian (1753–1825) 228 KÚnigsmacher s. Richard Neville Konsul s. Meyer Kramer/Cramer, Johann Andreas (1723–1788) 12 KÝhn, Sophie von (1782–1797) 178 f., 180, 182, 183, 184, 186, 218 La Fontaine, Jean de (1621–1695) 26 Landgraf von Hessen s. Friedrich V. Lange, Samuel Gotthold (1711–1781) 20 Lavater, Johann Caspar (1741–1801) 146, 154, 166, 206 (Lieder) Lebret, Marie Elisabeth, Elise (1774–1839) 239 (Liebschaft), 245 (Liebelei?) Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716) 13, 40, 44, 56, 57,58, 80, 93, 100, 101, 104, 105, 106, 107, 110, 129, 203, 234, 253 Leicester, Robert Dudley Earl of (um 1533– 1588) 134 Lenz, Jakob Michael Reinhold (1751–1792) 45, 153 Leopardi, Giacomo Graf (1798–1837) 254, 255 Lessing, Eva Catharina, verw. KÚnig, geb. Hahn (1736–1778) 82 Lessing, Gotthold Ephraim (1724–1781) 7, 9, 10, 113, 116, 153, 156, 157, 165, 166, 218, 230, 233, 253, 266, 275, 281, 289 Lessing, Johann Gottfried (1693–1770) 17 (Vater) Lessing, Karl Gotthelf (1740–1812) 13 (Bruder), 14, 57, 62, 70, 103 Leuschner, Johann Christian (1719–1792) 62 Lionardo/Leonardo da Vinci (1452–1519) 168 Locke, John (1632–1704) 6, 30, 40 Lope de Vega, F¹lix (1562–1635) 2 Lotze, Rudolf Hermann (1817–1881) 105, 107 Ludwig XIV. (1638–1715) 50 Ludwig XVI. (1754–1793) 255 (Hinrichtung) Ludwig, Otto (1813–1865) 45 Luise, s. Nast Luther, Martin (1483–1546) 5, 12, 42, 64, 69, 96, 123, 129, 163, 204 Macaulay, Thomas Babington Lord (1800– 1859) 23 Magenau, Rudolf (1767–1846) 229

Personenregister Maria, Mutter Jesu 186, 193, 205 Marivaux, Pierre de Chamblain de (1688– 1763) 10 Marlowe, Christopher (1564–1593) 4, 83, 132 Marmontel, Jean-FranËois (1723–1799) 46 MatthÈus, Evangelist 63, 73 Matthisson, Friedrich (1761–1831) 229, 237 Melanchthon, Philipp (1497–1560) 80, 96 Mendelssohn, Moses (1729–1786) 13, 14, 15, 20, 24, 26, 29, 32, 33, 60, 100, 102, 105 Meyer, Daniel Christoph (1751–1818) 293 (Konsul) Michaelis, Johann David (1717–1791) 67 Michelangelo Buonarroti (1475–1564) 157, 295 Mill, John Stuart (1806–1873) 131 Milton, John (1608–1674) 131 Mohammed (um 570–632) 83, 149, 165 Molire, Jean-Baptiste Poquelin (1622–1673) 17, 31, 46, 135 Montaigne, Michel Eyquem Seigneur de (1533– 1592) 136 Montesquieu, Charles de Secondat de (1689– 1755) 7, 79, 80 MÚrike, Eduard (1804–1875) 226, 238, 282, 288, 289 Moritz, Karl Philipp (1756–1793) 19 MÚser, Justus (1720–1794) 157, 204 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791) 165, 289 MÝller, Friedrich Theodor Adam Heinrich von (1779–1849) 124 (Kanzler) MÝller, Johannes (1801–1858) 161, 196 MÝller, Max (1823–1900) 131 Mylius, Christlob (1722–1754) 17 Napoleon I. Buonaparte (1769–1821) 151 (Fremdherrschaft), 255 Nast, Louise Philippine (1768–1839) 227f. Neuffer, Christian Ludwig (1769–1839) 229 Newton, Sir Isaac (1643–1727) 35, 100, 160 (Naturwissenschaft), 163 Nicolai, Friedrich (1733–1811) 14, 20, 23, 24, 25, 60, 189 Niebuhr, Berthold Georg (1776–1831) 203, 204 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1844–1900) 225, 242, 254, 255, 259, 260, 261, 265 f., 294

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Nollet, Jean Antoine (1700–1770) 64 NÚsselt, Johann August (1734–1807) 228 Novalis s. Hardenberg Ossian, d. i. Macpherson, James (1736–1796) 227, 229 Ovid, Publius Ovidius Naso (43 v. – um 18 n. Chr.) 136 Papias (2. Jh. n. Chr.) 73 Paracelsus, Theophrast von Hohenheim (1493– 1541) 4, 158, 270 Pascal, Blaise (1623–1662) 6, 77, 203 Petrarca, Francesco (1307–1374) 2, 3 Petrus, Apostel 72 Pindar (um 520–445 v. Chr.) 235 Platon (427–347 v. Chr.) 15 (Forschung), 139, 230, 231, 262, 267, 271, 280 Plautus, Titus Maccius (um 250–184 v. Chr.) 17 Plutarch, (um 46–125 n. Chr.) 135, 136 Pope, Alexander (1688–1744) 8 Professorentochter s. Lebret Rabelais, FranËois (um 1494–1553) 10, 136 Racine, Jean (1639–1699) 7, 24, 31, 92, 266 Ramler, Karl Wilhelm (1725–1798) 18, 22 Ranke, Leopold (1795–1886) 132, 192 Raphael/Raffaello Santi (1483–1520) 132, 165, 216 Regiswindis (Anfang 9. Jh. ?) 225 Reichardt, Johann Friedrich (1752–1814) 188, 190 Reimarus, Hermann Samuel (1694–1768) 60–64, 66, 69, 81 (Fragmente) Reinhold, Karl Leonhard (1758–1823) 176, 177, 233 Richard Neville Earl of Warwick und Salisbury, The Kingmaker (1428–1471) 133 Richardson, Samuel (1689–1761) 26, 139, 142 Richelieu, Armand-Jean Du Plessis de (1585– 1642) 6 Richter, Johann Paul Friedrich s. Jean Paul Ritter, Johann Wilhelm (1776–1810) 185, 186 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) 80, 85, 96, 111, 113, 140–142, 143, 171, 252, 253, 254, 295

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Personenregister

Savigny, Friedrich Karl von (1779–1861) 203, 204 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775– 1854) 57, 160, 173, 175, 189, 190, 191, 194 f., 197, 199, 230, 231, 232, 233, 235, 238, 240, 241, 250, 261, 262, 264, 272 Schiller, Johann Christoph Friedrich (1759– 1805) 13, 14 (Xenien), 22, 32, 34, 36, 39, 43, 51, 52, 53, 55, 56, 85, 86, 91, 93, 111 (RÈuber), 112, 114, 116, 121, 123, 125, 128, 130, 136, 146, 147, 150, 154, 155, 156, 166, 176, 177, 181, 186 f., 188, 191, 194, 208–210, 213, 223, 224, 227, 228, 229, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 242, 243, 244, 250, 251, 257, 258, 262, 266, 272, 279, 281, 284, 285, 290, 295 – Kabale und Liebe 51, 53, 55, 228 – Don Carlos 86, 91, 93, 233 – Wallenstein 86, 93, 281 – Wilhelm Tell 55, 86 – Die GÚtter Griechenlandes 231, 236 Schlegel, August Wilhelm (1767–1845) 15 (Bruder), 173, 175, 182, 187–193, 223, 251 Schlegel, Friedrich (1772–1829) 15, 75, 173, 175, 176, 177, 179, 184, 185, 187–191, 193, 194, 195, 196, 200, 202, 206, 208, 212, 222, 223, 233 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768– 1834) 57, 75, 77, 96, 106, 110, 130, 175, 179, 188, 191, 192, 194, 195, 196, 198, 201, 202, 203, 206, 212, 218, 233, 240, 241, 261, 264, 272 – Reden Ýber die Religion 191, 201, 206, 218, 240 Schmid, Carl Christian Erhard (1761–1812) 177 Schopenhauer, Arthur (1788–1860) 107, 196, 197, 198, 199, 200, 254, 255, 260, 269, 285 f. Schubart, Christian Friedrich Daniel (1739– 1791) 227, 229 Schumann, Johann Daniel (1714–1787) 63 Schumann, Robert (1810–1856) 294 SchÝtz, Christian Gottfried (1747–1832) 189 Schwab, Gustav (1792–1850) 229 Scott, Sir Walter (1771–1832) 131, 135, 139

Semler, Johann Salomo (1725–1791) 67, 68, 70, 71, 72 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of (1671–1713) 7, 30, 41, 159, 232, 234, 262 Shakespeare, William (1564–1616) 2, 4, 5, 24, 31, 39, 40, 41, 43, 47, 48 (Othello), 83, 114, 128, 130–140, 149, 151, 154, 165, 171, 173, 188, 213, 266 Shelley, Percy Bysshe (1792–1822) 139 Sinclair, Isaak Freiherr von (1775–1815) 250 f., 294 Smollett, Tobias George (1721–1771) 139 Socinus, Faustus (1539–1604) 58 (socinianische Lehre) SÚmmering, Samuel Thomas (1775–1830) 245 Sokrates (470–399 v. Chr.) 267, 279, 295 Sonnenfels, Joseph von (1733–1817) 20 Sophokles (um 496–406 v. Chr.) 31, 133, 135, 149, 157, 266, 267, 276, 281, 284, 286, 293 Spinoza, Baruch (1632–1677) 56, 57, 77, 85, 89, 93, 100, 101–105, 106, 110, 154, 158, 159, 160, 198, 230, 235 Stae¨l , Germaine Anne Louise Baronne de Stae¨lHolstein (1766–1817) 258 StÈudlin, Gotthold Friedrich (1758–1796) 229, 237 Steffens, Henrik (1773–1845) 196, 222 Stein, Charlotte von, geb. von Schardt (1742– 1827) 147 (Frau), 148 Storr, Gottlob Christian (1746–1805) 228 Strauß, David Friedrich (1808–1874) 62, 68, 73, 77 Sulzer, Johann Georg (1720–1779) 23 Swinburne, Algernon Charles (1837–1909) 225 Tasso, Torquato (1544–1595) 3, 4 Tauentzien, Bogislaw Friedrich von (1710– 1791) 45 Terenz, Publius Terentius Afer (um 195–159 v. Chr.) 17 Thackeray, William Makepeace (1811–1863) 139 Thomson, James (1700–1748) 8 Tieck, Amalie (1769–1837) 191 (Frau) Tieck, Dorothea (1799–1841) 191 (Tochter)

Personenregister

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Vanini, Lucilio (1585–1619) 71 Veit, Dorothea Friederike, geb. Mendelssohn, spÈter Schlegel (1763–1839) 191, 207 f. Vergil/Virgil, Publius Vergilius Maro (70–18 v. Chr.) 4, 35 Verlaine, Paul (1844–1896) 225 Volta, Alessandro (1745–1827) 185 Voltaire, FranËois-Marie Arouet (1694–1778) 7, 8, 9, 10, 19, 21, 24, 49, 67, 83 f., 153, 163, 254, 271

Waiblinger, Wilhelm (1804–1830) 294 Walch, Christian Wilhelm Franz (1726–1784) 70, 71, 73, 74 Webb, Daniel (um 1719–1798) 30 Weiße, Christian Felix (1726–1804) 19, 22 Werner, Abraham Gottlob (1749–1817) 186, 214 Wiegleb, Johann Christian (1732–1800) 180 Wieland, Christoph Martin (1733–1813) 24, 47, 111, 146, 155, 157, 166, 227, 239, 260 Winckelmann, Johann Joachim (1717–1768) 154, 157, 231, 280 Wissowatius, Andreas/Wiszowaty, Andras (1608–1678) 58 Wolf/Wolff Christian Freiherr von (1679– 1754) 6, 67 (Kanzler), 100, 101 Wolfram von Eschenbach (um 1170-nach 1220) 1, 120, 142–144, 220

Wackenroder, Wilhelm Heinrich (1773–1798) 175, 176, 188 Wagner, Richard (1813–1883) 281

Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von (1700– 1760) 154, 158 Zwingli, Ulrich (1484–1531) 96

Tieck, Ludwig Johann (1773–1853) 173, 175, 176, 178, 182, 184, 187–191, 193, 194, 196, 200, 206, 207, 210, 211, 212, 213, 215, 216, 219, 220 f., 222, 223, 252, 256, 257, 260, 288, 289 Tieftrunk, Johann Heinrich (1759–1837) 228 Uhland, Ludwig (1787–1862) 226, 282

ZUM ABSCHLUSS DER GESAMMELTEN SCHRIFTEN WILHELM DILTHEYS

Mit dem hier vorgelegten Band XXVI dieser Ausgabe von Diltheys Gesammelten Schriften ist die Fortsetzungsreihe der noch von den SchÝlern des Philosophen nach seinem Tod (1911) begonnenen Edition abgeschlossen. Im Unterschied zu den BÈnden der Èlteren Reihe (Bde. 1–12), die sich im wesentlichen auf bereits gedruckte Texte stÝtzen konnte und nur ZusÈtze aus den Handschriften anfÝgte, bestand die Hauptarbeit, die seit 1970 vor allem in der Dilthey-Forschungsstelle in Bochum zu leisten war, in der Auswahl, Entzifferung und der editorischen Bearbeitung erheblicher Teile des handschriftlichen Nachlasses. Eine vollstÈndige Edition der vorhandenen Texte verbot sich nicht nur angesichts der MaterialfÝlle, sondern vor allem im Blick auf das Skizzenhafte, Fragmentarische und Redundante in den unzÈhligen EntwÝrfen und immer neuen AnlÈufen und AnfÈngen, wie sie Diltheys Arbeit charakterisieren. Dies gilt vor allem fÝr denjenigen Teil des handschriftlichen Nachlasses, der dem riesigen Altersprojekt der Studien zur Geschichte des deutschen Geistes zugehÚrt. FÝr die unmittelbaren SchÝler Diltheys, wie Georg Misch und Herman Nohl, die mit erstaunlichen Vollmachten zur Mitarbeit an den Texten des Meisters ausgestattet waren, bedeutete die Fragmentenmasse der Studien eine Herausforderung, die sie durch einen großzÝgigen Umgang mit den Manuskripten beantworteten. Zeugnis dafÝr gibt der außerhalb der Gesammelten Schriften herausgegebene Nachlassband Von deutscher Dichtung und Musik. Gabriele Malsch hat als Herausgeberin von Band XXV mit großer editorischer Vorsicht und Sorgfalt einige dieser Manuskripte fÝr die Rekonstruktion von Diltheys literaturgeschichtlichen PlÈnen herangezogen. Eine weitergehende Herausgabe der Studien -Fragmente wÝrde angesichts des Unfertigen und VorlÈufigen vieler TextstÝcke den Rahmen dieser Ausgabe gesprengt haben. Durch eine annÈhernd historisch-kritische Edition werden die Texte der beiden letzten BÈnde genauer erschlossen. Diese Arbeiten wÈren nicht mÚglich gewesen ohne die stetige und großzÝgige FÚrderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Auch die Ruhr-UniversitÈt Bochum hat substantiell zur UnterstÝtzung der Edition beigetragen. Die Zusammenarbeit mit den Archiven, allen voran mit dem Literatur-.Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und ihrer VorgÈngerin in der DDR, fand jahrzehntelang in einem Klima von Hilfsbereitschaft und freundschaftlichem Gedankenaustausch statt, der auch durch die politische Situation nie beeintrÈchtigt werden konnte. DafÝr sind wir dankbar. Auch der ursprÝnglichen Initiative zur FortfÝhrung der Gesammelten Schriften durch Dr. A. Fratzscher von Verlag Vandenhoeck & Ruprecht sei dankbar gedacht. Mit dem Erscheinen dieses Bandes verbindet sich ein JubilÈum: Vor 100 Jahren, im Herbst 1905, erschien Das Erlebnis und die Dichtung , Diltheys eigentliches Erfolgsbuch. Die Geschichte seiner Wirkung ist mit der Editionsgeschichte mannigfach verknÝpft und erreicht mit der Aufnahme in die Gesammelten Schriften eine neue Stufe. Im Oktober 2005

Karlfried GrÝnder · Frithjof Rodi