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German Pages 418 [420] Year 2011
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger
Band 124
Martin Blawid
Von Kraftmenschen und Schwächlingen Literarische Männlichkeitsentwürfe bei Lessing, Goethe, Schiller und Mozart
De Gruyter
Redaktion des Bandes: Walter Erhart
ISBN 978-3-11-023781-8 e-ISBN 978-3-11-023782-5 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Blawid, Martin, 1979⫺ Von Kraftmenschen und Schwächlingen : literarische Männlichkeitsentwürfe bei Lessing, Goethe, Schiller und Mozart / by Martin Blawid. p. cm. ⫺ (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; 124) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-023781-8 (alk. paper) 1. German drama ⫺ History and criticism. 2. Italian drama ⫺ History and criticism. 3. Masculinity in literature. I. Title. PT619.B53 2011 8321.609353⫺dc22 2011005181
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1. 1.1
5
1.2 2. 2.1 2.2 2.3
3. 3.1 3.2 3.3 3.4
4. 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2
Männerforschung und ihre Positionen seit 1970 . . . . . . . . . . . . Herausbildung der Men’s Studies: Von der Emanzipation von feministischen Theorieansätzen bis zu aktuellen Perspektiven . . . . Aktuelle Ansätze und Perspektiven seit den 90er Jahren . . . . . . . Historischer Teil – ›Männlichkeit‹ im 18. Jahrhundert: Begriffsgeschichte und Geschlechterdebatte . . . . . . . . . . . . . Semantik und Begriffsgeschichte im deutschsprachigen Raum . . . . Semantik und Begriffsgeschichte im italienischsprachigen Raum . . ›Männlichkeit‹ im Spiegel der öffentlichen Diskussion im 18. Jahrhundert oder: Die Geschlechterdebatte aus ›männlicher‹ Sicht ›Männlichkeit‹ und Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . Methodologische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven für eine Männlichkeitsanalyse im Drama I: Erzähltextanalyse und Gender Studies (Nünning/Nünning) . . Perspektiven für eine Männlichkeitsanalyse im Drama II: Das Drama (Pfister) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Vertreter und Ansatzpunkte der germanistischen literaturwissenschaftlichen Männerforschung . . . . . . . . .
5 23
37 37 61 68
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81 81
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82
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90
. . . . 102
Analyse der Männlichkeitsentwürfe in ausgewählten deutschen Dramentexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Major von Tellheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Werner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Just . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Wolfgang Goethes Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Götz von Berlichingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 112 . . . 112 . . . . .
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112 112 114 145 156
. . . 162 . . . 162 . . . 165 V
4.3.3 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4
Adelbert von Weislingen . . . Franz . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Schillers Die Räuber Schwerpunkte der Analyse . . Karl Moor . . . . . . . . . . . Franz Moor . . . . . . . . . . Moritz Spiegelberg . . . . . .
5.
5.4.1 5.4.2 5.4.3
Analyse der Männlichkeitsentwürfe in ausgewählten italienischen Dramentexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Amadeus Mozarts/Lorenzo Da Pontes Le Nozze di Figaro Schwerpunkte der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Graf von Almaviva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figaro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cherubino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Amadeus Mozarts/Lorenzo Da Pontes Don Giovanni ossia il Dissoluto Punito . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Don Giovanni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leporello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Don Ottavio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Amadeus Mozarts/Lorenzo Da Pontes Così fan tutte o sia La scuola degli amanti . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Don Alfonso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ferrando und Guglielmo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
390
7. 7.1 7.2
Literaturverzeichnis Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
400 401
8.
Index nominum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
411
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.4
VI
. . . . . . .
. . . . . . .
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197 213 218 218 220 247 265
273 273 274 276 293 303 314 314 315 338 348 355 355 357 371
Vorwort
Wenn Tellheim sich als verwundeter und in Unehren gefallener Mann nahe der Selbstaufgabe bewegt, Karl Moor über das »schlappe Kastratenjahrhundert« deklamiert, Cherubino gerade als mädchenhafter Knabe zum Objekt des Begehrens reifer Frauen avanciert und Don Giovanni seine ungezügelte Verführungslust auf sein überschwängliches Gefühl allen Frauen gegenüber zurückführt, so zeigen diese Beispiele nur einen verhältnismäßig kleinen Ausschnitt des Spektrums an Problemfeldern, in denen männliche Figuren in deutschen und italienischen Dramentexten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts agieren. Die genannten Figuren und die darin bereits angedeutete Vielfalt an unterschiedlichen Zuschreibungen und Erscheinungsformen des Begriffs ›Männlichkeit‹ fordern eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit jener Erscheinung heraus, die in der vorliegenden Arbeit mit dem Begriff ›Männlichkeitsentwurf‹ bezeichnet wird. Darunter wird der Prozess der Herausbildung einer Gesamtheit von psychischen und physischen männlichen Geschlechtsmerkmalen verstanden, der zur Zuschreibung von geschlechtstypischen Assoziationen des ›Männlichen‹ beiträgt.1 Da die Untersuchungsgegenstände der vorliegenden Arbeit Dramentexte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts umfassen, erfährt der Begriff durch das Adjektiv ›literarisch‹ eine weitere Präzisierung. Doch warum diese ›literarischen Männlichkeitsentwürfe‹ gerade anhand deutscher und italienischer Dramentexte des 18. Jahrhunderts untersuchen? Folgende Begründungen liegen dieser Entscheidung zugrunde: Sowohl inhaltlich-themenbezogen als auch theoretisch ist die Aufgabenstellung für die italianistische Forschung zur Literatur des 18. Jahrhunderts, die sich einer gender- und insbesondere männlichkeitsorientierten Analyse noch immer sehr zögerlich zuwendet, ein Novum. Im Bereich der germanistischen Literaturwissenschaft ist das Interesse an ›Männerforschung‹ zwar dank einer zunehmenden Berücksichtigung soziologischer Theorieansätze in den vergangenen zehn Jahren angestiegen, was allerdings bis auf wenige Ausnahmen nicht zu einer Berücksichtigung der Dramentexte des 18. Jahrhunderts geführt 1
Die Geschichte des Begriffs ›Männlichkeitsentwurf‹ geht ursprünglich auf den von Hans Bosse und Vera King herausgegebenen Sammelband aus dem Jahre 2000 zurück, in dem er verwendet wurde, um »strukturlogisch die Vermittlungslinie […] zwischen der auf physischer Ebene angesiedelten Dynamik von Lebensentwürfen und Identitätsprojekten einerseits und der Erzeugungsmacht sozialer Strukturen andererseits, aus denen heraus Geschlechter konstruiert werden« zu bieten. Vgl. Hans Bosse, Vera King (Hg.): Männlichkeitsentwürfe. Wandlungen und Widerstände im Geschlechterverhältnis. Frankfurt am Main 2000, S. 10.
1
hat.2 Diese Tatsache mag angesichts der Forschungsergebnisse innerhalb der genderbezogenen Soziologie und Psychologie überraschen, die gerade der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Durchbruch in der Herausbildung der modernen Assoziationsformen und Musterhaftigkeiten zu den Geschlechterimaginationen attestieren.3 Die vorliegende Untersuchung setzt sich aus diesem Grund das Ziel, die in den Beispieltexten auftretenden Männlichkeitsentwürfe zu analysieren, wobei methodologisch wie folgt verfahren wird: Der Theoriekomplex umfasst die Kapitel 1–3, währenddessen die Textanalyse in den Kapiteln 4–5 durchgeführt wird. Die Dreiteilung des Theorieteils versucht, dem Anspruch der Arbeit zu entsprechen, sich sowohl an interessierte Leser4 aus den Bereichen der Germanistik, Romanistik als auch explizit an interessierte Leser aus den Bereichen der genderbezogenen Soziologie, Psychologie oder Geschichte zu wenden. Die interdisziplinäre Ausrichtung der Arbeit findet insbesondere durch Vergleiche im historischen (Kapitel 2) sowie im textanalytischen Teil (Kapitel 4 und 5) Berücksichtigung. Die Ergebnisse werden in der Zusammenfassung nochmals systematisiert und im Hinblick auf ausgewählte Vergleichspunkte, die sich in den Kapiteln zur Textanalyse als besonders auffällig erwiesen haben, übersichtlich vorgestellt. Den Ausgangspunkt bildet jedoch eine Dokumentation der Entwicklung der Männerforschung von ca. 1970 an (Kapitel 1), um die theoretischen Grundlagen der Arbeit forschungsgeschichtlich zu lokalisieren. Dabei sollen zwei Teilziele verfolgt werden: zum einen das Herausarbeiten von soziologischen bzw. psychologischen Ansätzen, die sich zu einer literaturwissenschaftlichen Analyse von ›Männlichkeit‹ eignen, sowie zum anderen das konkrete Hinterfragen der Ansätze im Hinblick auf das Textkorpus der Arbeit. Die kritische Auseinandersetzung mit den vorgestellten Theorieansätzen zielt darauf ab, mögliche Perspektiven und Grenzen der Konzepte herauszuarbeiten und gegebenenfalls zu problematisieren. In Kapitel 2 schließt sich eine intensive Beschäftigung mit der Historie der Diskussion um ›Männlichkeit‹ im 18. Jahrhundert an. Um die Begrifflichkeiten und die damit verbundenen zeitgenössischen Konzepte und Wissensbestände zu den untersuchten Themenbereichen ›Mann‹, ›männlich‹ bzw. ›Männlichkeit‹ im deutschen und italienischen Sprachraum des 18. Jahrhunderts zu klären, beginnt Kapitel 2 nach einigen methodologischen Vorüberlegungen mit einer historisch orientierten Untersuchung mit einer ausführlichen begriffsgeschichtlichen Analyse. Dieser schließt sich in einem
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Texte von Vertretern eines gesteigerten Forschungsinteresses für den Bereich ›Männlichkeit‹ in der Literatur innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft werden im dritten Kapitel vorgestellt. Der in diesem Zusammenhang üblicherweise zitierte Text ist: Karin Hausen: Polarisierung der Geschlechtscharaktere – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 363–393. Unter ›interessierte Leser‹ wird in diesem Zusammenhang die Gesamtheit der Leserschaft verstanden. Das generische Maskulinum ist nicht einer Nachlässigkeit einer Arbeit, die sich ›Männlichkeitsentwürfen‹ widmet, sondern ausschließlich Gründen der besseren Lesbarkeit im Fließtext geschuldet.
zweiten Teilabschnitt die Einbettung der Frage nach der ›Männlichkeit‹ in die Diskussion um die Geschlechterproblematik (›Querelle des femmes‹) des 18. Jahrhunderts an. Das Kapitel 3 widmet sich dem Komplex ›Literaturwissenschaft und Männerforschung‹ und geht dabei in zwei Teilschritten vor: Zunächst werden Konzepte, Problemstellungen, Perspektiven und Forschungsdesiderate im Hinblick auf die Themenbereiche ›literaturwissenschaftliche Männerforschung‹ und insbesondere ›Männerforschung in dramatischen Texten‹ vorgestellt und auf das Textkorpus der vorliegenden Arbeit hin erweitert. In einem zweiten Teilschritt erfolgt die Betrachtung einiger ausgewählter Beispiele, die sich unter literaturwissenschaftlichen Fragestellungen mit anderen Texten bzw. Zeiträumen auseinandersetzen. Erneut stehen dabei die möglichen Anwendungsimpulse auf die zu analysierenden Texte im Mittelpunkt des Interesses. Darüber hinaus erfolgt eine Rückkoppelung zu Ansätzen aus dem forschungsbezogenen und historischen Theorieteil der vorangegangenen Kapitel 1 und 2. In den sich anschließenden Kapiteln 4 und 5 geht die Arbeit in den praxisorientierten Teil der Analyse über. In Kapitel 4 werden folgende Texte auf die darin vorgestellten ›Männlichkeitsentwürfe‹ hin untersucht: Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück, Johann Wolfgang Goethes Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand sowie Friedrich Schillers Die Räuber. Im italianistischen Teil umfasst die Analyse in Kapitel 5 die Libretti Wolfgang Amadeus Mozarts/Lorenzo Da Pontes Le Nozze di Figaro, Don Giovanni ossia il Dissoluto Punito sowie Così fan tutte o sia La scuola degli amanti. Die Libretti werden als dramatische Texte verstanden. Jeder einzelne Text wird zunächst auf die wichtigsten Konstellationen mit männlicher Beteiligung hin vorgestellt, woran sich eine Untersuchung ausgewählter Hauptfiguren anschließt, deren ›Männlichkeitsentwurf‹ eine interessante Analyse in Aussicht stellt. Die vorliegende Arbeit wurde unter gleichem Titel im Herbst 2008 an der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertationsschrift eingereicht und für die Drucklegung überarbeitet. Mein herzlicher Dank gilt besonders meinem akademischen Lehrer und Mentor, Herrn Professor Ludwig Stockinger, dessen Lehrveranstaltungen im Bereich der »Neueren Germanistischen Literaturwissenschaft« ich vom Grundstudium an mit großem Interesse besucht und daraus eine Fülle von Anregungen und Impulsen gewonnen habe. Neben seiner Hilfsbereitschaft und Aufopferung für seine Doktoranden beeindruckt mich nach wie vor, wie es ihm gelingt, Kompetenz und Bescheidenheit miteinander zu verbinden. Ein herzlicher Dank gilt darüber hinaus Herrn Professor Walter Erhart und Frau Professor Uta Felten, die den Arbeitsprozess mit wertvollen und interessanten Hinweisen begleitet haben. Des Weiteren danke ich an dieser Stelle Anni Preusche zum einen für ihre unermüdliche Hilfe bei Korrekturen. Da die Arbeit weitestgehend während meiner Zeit als DAADLektor in Italien entstand, investierte sie zum anderen sehr viel Mühe und Sorgfalt in die Beschaffung von Sekundärliteratur von Deutschland aus – eine kaum zu überschätzende Hilfeleistung, für die ich ihr aufrichtig dankbar bin. Abschließend gilt ein persönliches Dankeschön meinen Eltern, die mir das Studium ermöglicht haben und mir mit Liebe und Rat bis heute allzeit zur Seite stehen. Maintal, im Dezember 2010
Martin Blawid 3
1.
Männerforschung und ihre Positionen seit 1970
1.1
Herausbildung der Men’s Studies: Von der Emanzipation von feministischen Theorieansätzen bis zu aktuellen Perspektiven Männer sind nicht mehr das, was sie mal waren. Aber was sind sie denn jetzt – und was waren sie eigentlich mal?1 Alle Eigenschaften eines Mannes, die der Frau nützen, nennt sie männlich, und alle, die ihr nicht nützen und auch sonst niemandem, nennt sie weibisch.2
Männlichkeitsforschung, Männerstudien, Männergeschichte, Men’s Studies, Männerforschung, Maskulinismus, Critique of Men: Diese Bezeichnungen umreißen alle – wenn auch in zum Teil unterschiedlicher Form und mit unterschiedlichen Zielsetzungen3 – das Interesse, innerhalb der Geschlechterforschung das Phänomen der ›Männlichkeit‹ und des ›Mann-Seins‹ kritisch zu erforschen. Die Frage: »Was ist männlich, und was ist ein Mann?«, steht folglich im Mittelpunkt des Interesses der Männerforschung. Walter Erhart und Britta Herrmann ziehen angesichts des aktuellen Standes der Forschungen zur ›Männlichkeit‹ eine bemerkenswerte Zwischenbilanz: Die Geschichte der Männlichkeit ist dadurch mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem keineswegs mehr so klar sein dürfte, was unter einem ›Mann‹ eigentlich zu verstehen sei. Vielleicht war es das auch nie, ranken sich doch fast alle Definitionsversuche und Zuschreibungen – zumindest seit den aufklärerischen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts – immer wieder um die Frau.4
Historisch betrachtet, müssen sich, wie das Zitat nahelegt, im Laufe der Zeit Zweifel an einem universal existierenden Bild der ›Männlichkeit‹ ergeben haben, was die aktuelle Forschung bis auf wenige Ausnahmen5 immer stärker zur Verwendung der 1
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5
Thomas Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Frankfurt am Main 1996, S. 7. Ester Vilar: Der dressierte Mann. Das polygame Geschlecht. Das Ende der Dressur. München 1988, S. 17. Vgl. Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster. Opladen, 1998, S. 91. Walter Erhart, Britta Herrmann: Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Stuttgart 1997, S. 15. So beispielsweise Christoph Kucklick: Das unmoralische Geschlecht. Zur Genese der negativen Andrologie. Frankfurt am Main 2008, S. 149f. (Im Folgenden zitiert als Sigle: Kucklick, Seitenzahl)
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Pluralform ›Männlichkeiten‹ oder ›Masculinities‹ zwingt. Diesen Entwicklungsprozess nachzuzeichnen, würde den Anspruch auf eine separate Arbeit erheben und den Rahmen der vorliegenden sprengen. Deshalb soll hier nur auf ausgewählte, entscheidende Etappen, die »Meilensteine« innerhalb der Geschichte zur Männerforschung, und auf solche Texte, die einen Anwendungsimpuls auf die literaturwissenschaftliche Analyse von ›Männlichkeit‹ bieten, eingegangen werden. Gerade aufgrund der engen thematischen Bindung zwischen Männerforschung und feministischer Forschung ist es an dieser Stelle nicht nur schwierig, sondern vor allem aus zeitlichen (und teilweise auch thematischen) Gründen nicht möglich, einen den Anspruch auf Gesamtheit erhebenden Forschungsabriss zu liefern. Deshalb kann an dieser Stelle nicht näher auf die Forschungen aus dem Bereich der Psychoanalyse eingegangen werden, obwohl wiederholt hervorgehoben worden ist, dass Freud mit Bezug auf seine Forschungen zur Bisexualität und damit zur Brüchigkeit homogener Geschlechterkonstruktionen eine Vorreiterrolle der modernen Männerforschung zukommt.6 Gleiches gilt für sozialpsychologische Forschungen zur »Theorie der Geschlechterrollen«, deren Ursprünge bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückdatiert werden. (Connell 1999, 41ff.) Ebenfalls verzichtet wird in diesem theoretischen Abschnitt auf eine ausführliche Besprechung eines zweifellos wichtigen – und angesichts seiner Entstehungszeit auch ausgesprochen mutigen – Textes, Ester Vilars Der dressierte Mann. Das polygame Geschlecht. Das Ende der Dressur aus dem Jahre 1971, der erstaunlicherweise auch in der Debatte zur historischen Männerforschung bislang kaum Beachtung findet. Der Text ist für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit insofern nicht in seiner Gesamtheit verwendbar, als Vilar insbesondere im ersten und dritten Abschnitt sehr zeitbezogen im Sinne der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts argumentiert und sich eine Anwendung auf das hier zu untersuchende Textkorpus auch in der Wahl ihrer Beispiele erschwert. Dagegen bieten ihre Ausführungen zur Polygamie interessante Ansätze,7 die sich besonders auf die Texte Mozart/Da Pontes applizieren lassen und in den Beispielen Le Nozze di Figaro und Don Giovanni ossia il Dissoluto Punito einer genaueren Prüfung unterzogen werden sollen. Der Ausschluss aus der folgenden Analyse betrifft zum Teil auch Texte, deren allgemeine Bedeutung für die Gender Studies nicht überschätzt werden kann: Simone de Beauvoirs zweifelsohne wichtiger Text Le Deuxième Sexe aus dem Jahre 1949 (dt. Titel Das andere Geschlecht, 1951) wird – um nur ein Beispiel zu nennen – aus den genannten Gründen im folgenden Überblick nicht besprochen; ebenso werden Leser, die auf eine ausgedehnte Besprechung von Judith Butlers Gender Trouble aus dem Jahre 1989 (dt. Titel Das Unbehagen der Geschlechter, 1992) warten, das Kapitel enttäuscht beiseite legen, da sie nur ausgewählte Textstellen finden werden, in
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6
Diese These findet sich in aller Ausführlichkeit und mit interessanten weiterführenden Kommentaren in: Raewyn (Robert W.) Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen 1999, S. 26ff. (Im Folgenden zitiert als Sigle: Connell 1999, Seitenzahl). Vgl. Vilar: Der dressierte Mann, S. 168ff.
denen sich die Theorie auch auf ›Männlichkeit‹ anwenden lässt. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass Butler – wie viele Vertreter der feministisch geprägten Gender Studies – und ihre Thesen in vielen Fällen das Hauptaugenmerk ihrer Beschreibungen und Analysen auf ›Weiblichkeit‹ legen. Die Situation ähnelt somit, was die Forschungen zur ›Männlichkeit‹ innerhalb der Geschlechterforschung betrifft, in erstaunlicher Weise den Zuständen im 18. Jahrhundert: ›Männlichkeit‹ wird auch in der aktuellen Diskussion noch nicht zwangsläufig mit den Gender Studies assoziiert und als eine ihrer zwingend erforderlichen Teildisziplinen anerkannt. Die vorliegende Arbeit musste auch im Bereich der soziologischen »Klassiker« zur Geschlechterforschung radikal auswählen bzw. kürzen. Der Grund dafür liegt erneut darin, dass Texte, die beispielsweise ethnomethodologische Ansätze verfolgen, in vielen Bereichen die Geschlechterkonstruktion im Allgemeinen, nicht aber mit einem speziell ›männlichen‹ Fokus, behandeln. Dennoch sind sie selbstverständlich auch für aktuelle Publikationen zum Thema der Geschlechter an sich wegbereitend gewesen.8 Ihr Beitrag innerhalb der Männerforschung ist jedoch aufgrund der mangelnden Berücksichtigung der Unterschiede zwischen dem ›doing-gender-Modell‹ bei Männern und Frauen umstritten.9 Die thematische Eingrenzung der vorliegenden Arbeit lässt des Weiteren keine ausgedehnte Betrachtung der Literatur zur männlichen Sozialisation zu. In diesem Zusammenhang sollen dennoch einige Impulse aus Lothar Böhnischs und Reinhard Winters Text Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf aus dem Jahr 1993 aufgrund ihrer Bedeutung für den deutschen Sprachraum exemplarisch behandelt werden. Seit den 70er und 80er Jahren erscheinen immer wieder Texte, die sich selbst innerhalb der Geschlechterforschung positionieren, ›Männlichkeit‹ aber nur indirekt durch die Verneinung dessen, was sie der ›Weiblichkeit‹ attestieren, thematisieren. Michael Meuser hebt die Bedeutung der feministischen Studien zur ›Männlichkeit‹ hervor: Männer, Männerwelten, Männlichkeitsmuster werden in zunehmendem Maße expliziter Gegenstand der Frauenforschung. Implizit enthält jede feministische Theorie Annahmen über das männliche Geschlecht, auch wenn weibliche Lebenszusammenhänge im Fokus stehen. Das bedingt die Relationalität der Kategorie Geschlecht.10
Die Anzahl der von weiblichen Autoren publizierten Texte im Zuge der feministischen Forschung ist im Vergleich zum 18. Jahrhundert selbstverständlich sprunghaft angestiegen. Für die (indirekte) Forschungsarbeit zum Thema ›Männlichkeit‹ bedeutet das allerdings nur einen geringen Wandel. Aus den genannten Gründen sollen die Texte, die sich als Beitrag zu den Gender Studies verstehen, nicht nur auf die Problematisierung allgemeiner Fragen der Geschlechterstudien, sondern insbesondere auf deren ›männlichen‹ Anwendungsbereich hin untersucht werden, ohne die Einbettung der Studien zur ›Männlichkeit‹ in den übergreifenden Zusammenhang der Gender Studies aus den Augen zu verlieren. 8
9 10
Dabei lässt sich Judith Butler als Beispiel anführen. Zu einer genauen soziologischen Besprechung der Ethnomethodologie vgl. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 62ff. Vgl. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 65f. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 78.
7
Anfänge in den 70er Jahren Die Tatsache, dass Forschung und – weniger wissenschaftlich ausgedrückt – Nachdenken über ›Männlichkeit‹ als Teil der ›Geschlechterdebatte‹ mit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ihren Ursprung hat, gilt inzwischen als unumstritten.11 Dennoch dauerte es bis zum Jahre 1974, dass sich die Männerforschung als solche schließlich mit dem Erscheinen des von Jack Sawyer und Joseph Pleck herausgegebenen Textes Men and Masculinity einen eigenen Platz innerhalb der Gender Studies erkämpfen und mit theoretischen Texten legitimieren konnte. Der Anspruch auf eine eigenständige Theoriebildung ist innerhalb der Männerforschung keinesfalls von Anfang an konsequent verfolgt worden. Das spiegelt auch die kritische Einschätzung Meusers wider: Bis auf wenige Ausnahmen mangelt es den Männerstudien bislang sowohl an theoretischer wie an empirischer Substanz. Zwar gibt es zahlreiche Arbeiten, die den Anspruch auf Theoriebildung erheben […], doch kommen die meisten über ad hoc-Erklärungen, die sich nur wenig vom populärwissenschaftlichen Diskurs abheben, nicht hinaus.12
Auf die Unterschiede zwischen dem angloamerikanischem und dem deutschen Forschungskontext in diesem Bereich weist Wolfgang Schmale ausdrücklich hin: Die men’s studies, ob mit oder ohne historische Fragestellung, sind bekanntermaßen keine Erfindung deutscher Wissenschaftsdisziplinen, sie müssen erst noch integriert, möglicherweise erst noch verstanden werden. Ihre Notwendigkeit, um nicht zu sagen Legitimität, gehört noch nicht zum allgemeinen Wissensgut. Diese Situation ähnelt jener der Frauen- und Frauengeschichtsforschung vor 20/25 Jahren.13
Männerforschung, so Schmale weiter – egal ob gegenwartsorientiert oder historisch betrieben – laufe auch aus diesem Grund des Öfteren Gefahr, eine Art der rekompensatorischen Forschung innerhalb der Gender Studies zu betreiben, um »Männer gegenüber feministischer Kritik zu rehabilitieren«.14 Robert W. Connell beschreibt den Einfluss der so genannten ›Männerbewegung‹ auf die Männerforschung wie folgt: Der Aufruhr unter den Frauen der westlichen Intelligenz hatte nach und nach auch Auswirkungen auf die Männer. Mitte der 70er Jahre gab es eine kleine, aber vielbeachtete »Männerbewegung« in den USA, und auch in anderen Ländern entstanden kleine Netzwerke von Männerselbsterfahrungsgruppen. Autoren wie Warren Farrell (»The Liberated Man«) und
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Als grundlegende Texte zur Ausdifferenzierung von Geschlechterforschung und Anthropologie bzw. Medizin lassen sich Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt am Main 1991 sowie T. Laqueur: Auf den Leib geschrieben: die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt am Main 1992 anführen. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 92. Wolfgang Schmale (Hg.): MannBilder. Ein Lese- und Quellenbuch zur historischen Männerforschung. Berlin 1998, S. 7. Zum Vorwurf der Rekompensation, der gegen einzelne Ansätze innerhalb der Männerforschung erhoben wird, ist Meusers Text besonders informativ: Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 90f.
Jack Nichols (»Men’s Liberation«) behaupteten, daß die männliche Geschlechtsrolle die Männer unterdrücke und deshalb verändert oder abgeschafft werden müsse. Ein kleiner Boom entwickelte sich und schuf ein neues Genre von Männerbüchern, führte aber auch zu Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften. (Connell 1999, 42)
Der Vorwurf, damit werde die bereits angesprochene »rekompensatorische Forschung« betrieben, bestand parallel dazu weiter. Diese Gefahr für die frühe Männerforschung war beim Erscheinen von Sawyer/Plecks Text 1974 bereits absehbar. Das Ergebnis lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Existenz einer essentialistisch existierenden ›Männlichkeit‹ wird in der Argumentation widerlegt, um zwischen einer eher traditionellen und einer modernen Geschlechterrollenidentität zu differenzieren, oder, wie es Inge Stephan formuliert: Der von Jack Sawyer [und Joseph Pleck, M.B.] herausgegebene Band Men and Masculinity (1974) trennte bereits im Titel programmatisch, was im Selbstverständnis der bisherigen Forschung eine Einheit gebildet hatte: Männlichkeit erscheint im Sinne der soziologischen Rollentheorie als ein Konstrukt, das mit dem realen Mann nicht identisch sein muss.15
Dabei bestehe eines der großen Verdienste des Textes für die aktuelle Männerforschung vor allem in der Tatsache, dass Pleck dem häufig vorschnell gezogenen Schluss widerspreche, ›männliche‹ Rolle sowie ›männliche Identität‹ würden zwingend miteinander korrespondieren. (Connell 1999, 90) Pleck sieht in dieser Diskrepanz die Ursache für die Herausbildung des ›Geschlechterrollendrucks‹, worauf in der Forschungstradition immer wieder gezielt hingewiesen wurde.16 Die Ergebnisse einer eher psychologisch geprägten – und wohl auch unter dem Eindruck der Rezeption von Sawyer/Plecks ein Jahr zuvor erschienenem Text entstandenen – Studie präsentieren John Money und Patricia Tucker 1975, wobei insbesondere die Themenbereiche Freundschaft und gesellschaftliche Erwartungen an ›Männlichkeit‹ sowie männlicher Rollendruck untersucht werden. Money und Tucker greifen mit ihren Thesen zum Wettbewerb unter Männern, einem dauerhaften ›kompetitiven Druck‹,17 dem sich sowohl Männer untereinander als auch Männer in der Auseinandersetzung mit Frauen aussetzen, bereits auf Überlegungen zur Theorie der ›hegemonialen Männlichkeit‹, wie sie ca. 15 Jahre später bei Connell dargestellt wird, voraus. Als einer der einflussreichsten deutschsprachigen Texte, die die Geschlechterrelationen insgesamt und damit auch die Verortung von ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ in einem historischen Umbruchprozess untersuchen, der im 18. Jahrhundert beginnt, gilt Hausens 1976 veröffentlichter Aufsatz zur Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Hausen versteht dabei unter dem Begriff ›Geschlechtscharakter‹ »die
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16 17
Inge Stephan: Im toten Winkel. Die Neuentdeckung des ›ernsten Geschlechts‹ durch men’s studies und Männlichkeitsforschung. In: Claudia Benthien, Inge Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln 2003, S. 18. Joseph H. Pleck: The Myth of Masculinity. Cambridge 1981. John Money, Patricia Tucker: Essere uomo essere donna. Uno studio sull’identità del genere. Milano 1980, S. 157.
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mit den physiologischen korrespondierend gedachten psychologischen Geschlechtsmerkmale«.18 Er werde »als eine Kombination von Biologie und Bestimmung aus der Natur abgeleitet und zugleich als Wesensmerkmal in das Innere der Menschen verlegt«.19 80er Jahre bis zu Robert Bly Männer wurden – so das Resümee der forschungsgeschichtlichen Situation innerhalb der Men’s Studies der 70er Jahre von Michael Meuser – in den Studien der 70er Jahre oft durch »drastische Defizitkonstruktionen« gekennzeichnet, die dazu dienten, »tradierte Selbstverständlichkeiten systematisch in Frage zu stellen«.20 Das betreffe, so Meuser weiter, sowohl Psyche als auch Körper der Männer. Dieser Zustand änderte sich zu Beginn der 80er Jahre zunächst. Die Männerforschung der 80er Jahre steht unter dem starken Einfluss der Medialisierung des Zeitalters. Popund Videokultur bringen neue Typen und Ikonen der Männlichkeitsdarstellungen hervor. Gleichzeitig gilt es zu dieser Zeit, die noch in der frühen Entwicklungsphase befindliche Männerforschung zu etablieren und systematisch zu erweitern. Das Spektrum an maskulinen Repräsentationsformen wird durch die Koexistenz ausgewählter, bereits präexistierender und – vor allem der zunehmenden Medialisierung geschuldet – neuer, ›moderner‹ Männlichkeitsentwürfe bestimmt. Für die 80er Jahre ergibt sich daher ein sehr divergentes Bild, in dem sich stark physisch repräsentierte, ›wilde‹ Männlichkeit mit verschiedenen Verneinungsformen der ›Männlichkeit‹, die jedoch für sich genommen bereits einen eigenen Anspruch auf eine erotische Wirkungsweise erheben, teilweise überschneiden. Tendenzen zur Androgynität und zum Trans-Gendering erleben eine Renaissance und koexistieren neben machohaften Imaginationen eher traditioneller Männlichkeitsentwürfe. Die Fraktalität eines hierarchisch absoluten Männlichkeitsbildes steigert dessen Attraktivität für die Forschung und mischt sich mit politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen, denen sich diese zweite Phase der Männerforschung gegenüber sieht. In diesem Zusammenhang kommt der Arbeit von Eve Kosofsky Segdwick Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire aus dem Jahr 1985 eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Kosofsky Sedgwick, in deren Arbeit sich feministische, dekonstruktivistische und psychoanalytische Forschungsansätze wiederfinden, versucht, anhand der englischen Literatur von 1750–1850 das Konzept des sogenannten ›male bonding‹, der Interaktion sowie zielgerichteten Kooperation von Männern in Gruppen, in den Überschneidungen und Unterschieden mit dem Konzept der Homosexualität unter Männern darzustellen und zugleich abzugrenzen. Mit ihrer auf literarische Texte bezogenen Analyse gehört sie zu den ersten Stimmen, die auf ein theoretisches Defizit (»the lack of enti18 19 20
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Hausen: Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 363. Hausen: Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 369. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 135.
rely usable paradigms«)21 der sich noch in den Anfängen befindlichen literaturwissenschaftlichen Männerforschung hinweisen. Ihren im Titel zitierten Begriff des ›homosocial desire‹ definiert sie wie folgt: »Homosocial« […] describes social bonds between persons of the same sex […]. In fact, it is applied to such activities as »male bonding«, which may, as in our society, be characterized by intense homophobia, fear and hatred of homosexuality. To draw the »homosocial« back into the orbit of »desire«, of the potentially erotic, then, is to hypotethize the potential unbrokenness of a continuum between homosocial and homosexual – a continuum whose visibility, for men, in our society, is radically disrupted. […] »Male homosocial desire« is the name this book will give to the entire continuum.22
Diese Herangehensweise führt sie zu jener Frage der Zusammenhänge zwischen patriarchalischen Gesellschaften und Macht sowie dem Patriarchat im Allgemeinen und Homophobie,23 einer Frage, die in den 90er Jahren von Connell aufgegriffen und erweitert wird. Sowohl im angloamerikanischen Kontext, wie beispielsweise im zuvor zitierten Text Kosofsky Sedgwicks, als auch in der deutschen Forschungstradition – in etwa bei Thomas Kühne oder bei Erhart/Herrmann – findet sich die These, die frühe Männerforschung und Männerbewegung auch als Reaktion auf den Feminismus und die Frauenbewegung zu deuten.24 Das Verhältnis von feministischen Forschungsansätzen zur Geschlechtergeschichte und der Herausbildung der Männerforschung ist allerdings auch durch Spannungen gekennzeichnet. So hebt Martin Dinges den Widerspruch zwischen dem »erklärten Anspruch der Geschlechtergeschichte, beide Geschlechter zu thematisieren, und dessen bisheriger Einlösung«25 hervor. Er stellt in diesem Zusammenhang ein dringendes Forschungsdesiderat der Männerforschung im deutschen Sprachraum fest und konstatiert darüber hinaus, dass die Forschung zur Männergeschichte zudem bislang fast ausschließlich von Frauen bedient worden sei.26 Der Geschlechtergeschichte als Teil der Geschlechterforschung attestiert Dinges aus männlicher Sicht ein dreifaches Defizit: das Fehlen einer eigenständigen Thematisierung von Männern und ›Männlichkeit‹, die weitestgehende Aussparung von Forschungen zur ›Männlichkeit‹ vor dem 19. Jahrhundert sowie die Dominanz weiblicher Autoren in der Männerforschung.27 Die vorliegende Arbeit versucht, durch die Untersuchung der Männlichkeitsentwürfe in der Literatur des 18. Jahrhunderts allen drei Forschungsdesideraten zu entsprechen. Als weiteren entscheidenden Wegbereiter der modernen Männerforschung führen Kühne und Dinges die Homosexuellenbewe-
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Eve Kosowsky Sedgwick: Between Men. English Literature an Male Homosocial Desire. New York 1985, S. 19. Kosowsky Sedgwick: Between Men, S. 1f. Vgl. Kosowsky Sedgwick: Between Men, S. 4. Erhart, Herrmann: Wann ist der Mann ein Mann?, S. 4 sowie Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte, S. 10. Martin Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 1998, S. 8. Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten, S. 8. Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten, S. 9.
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gung an.28 Die daraus resultierende und sich seit den 70er Jahren vor allem im anglo-amerikanischen, seit den 90er Jahren auch im europäischen Kontext etablierende Forschungsrichtung ist durch ein breites Spektrum an Bezeichnungen gekennzeichnet: ›Gay Studies‹, ›Queer Studies‹, ›Studien zur Homosexualität‹ bzw. ›Studien zur männlichen Gleichgeschlechtlichkeit‹ sind trotz ihrer Bezeichnungsvielfalt laut Dinges durch zwei wesentliche Charakteristika übergreifend gekennzeichnet: Sie zielen auf Dezentrierung und Dekonstruktion des Männerbildes ab. Dinges definiert ›Dezentrierung‹ dabei wie folgt: ›Dezentrierung‹ verweist auf den notwendigen Abschied von der Orientierung an einem dominanten Modell männlicher, ehelicher Lebensführung – etwa dem des Hausvaters – als Leitvorstellung für die Männergeschichte.29
Dinges liefert damit ein für die Men’s Studies im Übergang zwischen 80er und 90er Jahren wichtiges Stichwort; die ›Dezentrierung‹ wird auch in den sich anschließenden Jahren der Männerforschung ein konstantes Forschungsanliegen darstellen. Zuvor wird jedoch ein erneuter Versuch in Richtung eines essentialistischen Impulses in der Männerforschung unternommen, der verdeutlicht, wie divergent sich das Bild innerhalb der Disziplin gestaltet. Ein 1990 erschienener Bestseller mit dem Titel Iron John. A Book about Men (dt. Titel Eisenhans) von Robert Bly leitet die Suche nach ›authentischer Männlichkeit‹ ein. Bly gehört zu den Vertretern der sogenannten ›mythopoetischen Bewegung‹ zur Männlichkeitstheorie. Der Tenor des Textes kann in aller Kürze dadurch umschrieben werden, dass ›authentische Männlichkeit‹ nur unter der Voraussetzung erreicht werden könne, wenn sich Männer auf ihre ursprünglichen Bestimmungen – laut Bly Naturnähe, Körperkult, Freiheitsdrang und Beschützertum – besinnen würden. Bly zitiert damit eine Reihe maskuliner Stereotypen vergangener Zeiten und Gesellschaftsformen. Mit Niklas Luhmann argumentiert, bezieht er seine Anregungen und Vorstellungen davon, was ›authentische Männlichkeit‹ ausmachen solle, aus gesellschaftlichen Strukturen, die dem Muster der segmentären Differenzierung entsprechen würden. Auf der Suche nach ›authentischer Männlichkeit‹ würden – so Bly – Männer auf mythologische Vorlagen der eigenen kulturellen Vergangenheit rekurrieren. Connell kommentiert dieses Vorhaben wie folgt: Der »Eisenhans« ist in diesem Sinne ein Jungsches [C.G. Jung, M.B.] Werk, nur daß Robert Bly seine Archetypen bei den Gebrüdern Grimm findet und nicht bei Ovid. Bly ignoriert die kulturellen Wurzeln der Märchen, verrührt ihre Interpretation stattdessen mit Gedanken einer »Zeusenergie« und noch wilderen Entlehnungen aus der mündlichen Überlieferung. (Connell 1999, 31)30 28
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Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten, S. 13 sowie Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte, S. 10. Die beiden Texte sind aufgrund der Vielzahl an Publikationen in diesem Bereich exemplarisch genannt; selbstverständlich gilt die enge Verbindung zwischen Homosexuellenbewegung und Geschlechter- bzw. Männlichkeitsforschung in der aktuellen Forschungsdiskussion als unbestritten. Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten, S. 13. Bly und seine Suche nach ›authentischer Männlichkeit‹ wurden zu oft kommentiert, um hier sämtliche – teilweise sehr interessanten – Kommentare dazu anzuführen. Eine sehr anregende Besprechung, die stellvertretend für die vielen anderen genannt werden soll, findet sich in: Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 156ff.
Die Vergegenwärtigungen der eigenen kulturell überlieferten, mythologischen Exempel sollen nunmehr aus Sicht Plecks Leitbilder für ein gegenwärtiges Virilitätsideal des 20. Jahrhunderts werden: eine Vorstellung, die dem Text insgesamt eine breite Rezeptionsgeschichte einbrachte, die von Bewunderung bis Spott reichte. Erhart und Herrmann kommentieren: Mit Robert Bly hat sich eine ›mythopoetische‹ Bewegung gegründet, die ihr männliches Heil wieder in alten Initiationsriten und in neuen Vater-Sohn-Beziehungen sucht, in Männerbünden und auf Wochenendfreizeiten in ›wilder‹ Natur, in der die (Post)modernen Freizeithelden zu ihrer archaischen Männlichkeit wieder zurückfinden sollen.31
Auch Connell steht der Position Blys mit Skepsis gegenüber, wie sein diesbezüglicher Kommentar verdeutlicht: Alle bestimmenden Diskurse [der Männlichkeitsvorstellungen im 20. Jahrhundert, M.B.] geben sich mehr oder weniger wissenschaftlich oder benutzen wissenschaftliche »Ergebnisse«, wie grotesk das im Einzelnen auch sein mag. Sogar Robert Bly benutzt im »Eisenhans« eine wissenschaftliche Sprache für seine bedrückende These, daß ein Drittel unseres Gehirns ein »Kriegerhirn« ist und daß in unserer DNS Kriegerinstinkte stecken. (Connell 1999, 24)
Ethnomethodologie und Diskurstheorie: Judith Butler Die Theorie Judith Butlers, dass sowohl die Geschlechtsidentität (›gender‹) als auch das biologisch-anatomische Geschlecht (›sex‹) nur als kulturelles Konstrukt existierten und einer individuellen Interpretation (›performance‹) einen breiten Spielraum ermöglichten, führt seit den 90er Jahren zu einer radikalisierten Infragestellung der Existenz ›reiner Männlichkeit‹. Gleichzeitig attackiert Butler damit die Gegenüberstellung von ›biologischem‹ und ›sozialem‹ bzw. ›kulturellem‹ Geschlecht: Wenn also das ›Geschlecht‹ (sex) selbst eine kulturell generierte Geschlechter-Kategorie (gendered category) ist, wäre es sinnlos, die Geschlechtsidentität (gender) als kulturelle Interpretation des Geschlechts zu bestimmen. Die Geschlechtsidentität darf nicht nur als Zuschreibung von Bedeutung an ein vorgegebenes anatomisches Geschlecht gedacht werden. […] Vielmehr muss dieser Begriff auch jenen Produktionsapparat bezeichnen, durch den die Geschlechter (sexes) selbst gestiftet wurden. Demnach gehört die Geschlechtsidentität (gender) nicht zur Kultur wie das Geschlecht (sex) zur Natur.32
Die Unterscheidung zwischen den Termini, die Butler ›sex‹ und ›gender‹ nennt, geht ursprünglich auf Ann Oakleys Text Sex, Gender and Society aus dem Jahre 1972 zurück. Dass Butler auch mit der Betonung des performativen Geschlechtermodells (›doing gender‹) keineswegs forschungsgeschichtliches Neuland betritt, zeigen bereits ethnomethodologische Ansätze aus den 80er Jahren.33 Meuser kommentiert die »konstruktivistische Auflösung der vertrauten sex-gender-Unterscheidung«, die be31 32 33
Erhart, Herrmann: Wann ist der Mann ein Mann?, S. 4. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991, S. 24. Eine ausführliche Kritik der ethnomethodologischen Methode findet sich bei: Meuser: Perspektiven einer Soziologie der Männlichkeit. In: Doris Janshen (Hg.): Blickwechsel. Der neue Dialog zwischen Frauen- und Männerforschung. Frankfurt am Main 2000, S. 50ff.
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reits einige Jahre vor dem Erscheinen von Butlers Gender Trouble vorgenommen worden war, wie folgt: Wie die Ethnomethodologie allgemein den prozessuralen Charakter sozialer Wirklichkeit betont (›Vollzugswirklichkeit‹), so auch beim Geschlecht, indem sie von »doing gender« spricht (West/Zimmermann 1987): Ein Geschlecht hat man nur, indem man es tut. Geschlecht wird als praktisch-methodische Routine-Hervorbringung (»accomplishment«) begriffen, die auf fortdauernder Interaktionsarbeit der Handelnden beruht. In der Beherrschung der entsprechenden Praktiken erweist sich die (geschlechtsbezogene) Handlungskompetenz der Gesellschaftsmitglieder.34
Hanna Schissler legt sich 1993 bezüglich des damaligen Forschungsstandes (immerhin relativ kurz nach dem Erscheinen von Butlers Text) fest: Die deutsche Sprache kennt nur das Wort ›Geschlecht‹, wo das Englische zwischen ›Sex‹ und ›Gender‹ unterscheidet. Für die Geschlechtergeschichte ist die Unterscheidung zwischen physiologischem und sozialem Geschlecht jedoch maßgeblich und hat sich als solche auch allgemein durchgesetzt.35
Dabei kann angesichts der teilweise heftigen Kritik, die der Trennung in ›sex‹ und ›gender‹ vor allem unter dem Eindruck der Rezeption von Butlers Text entgegengestellt wird, ein berechtigter Zweifel an dieser Überzeugung angemeldet werden.36 Schissler gelingt trotz ihrer Befürwortung der begrifflichen Trennung nach dem Vorbild des Englischen insofern ein Kompromiss innerhalb der zuweilen verhärteten Fronten der ›sex/gender‹ Befürworter oder Gegner, als sie für einen beide Lesarten umfassenden Geschlechtsbegriff plädiert: Deshalb schlage ich vor, Geschlecht so zu fassen: Die Art und Weise, in der die physiologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen jeweils zu Zuschreibungen, Berechtigungen und Ausschließungen in sozialen Organisationen geführt haben, können mit der historischen Kategorie Geschlecht ebenso begriffen werden wie alle jene Mechanismen, einschließlich der kulturellen Deutungen und Legitimationen von Herrschaft und Unterwerfung, die die Geschlechterunterschiede in Ungleichheiten der Geschlechter umgewandelt haben.37
Dieser auf die deutsche Sprache bezogene Vorschlag umfasse sowohl ›sex‹ als auch ›gender‹. An dieser Stelle unterscheidet sich Schisslers Darstellung jedoch erheblich von Butler, die die völlige Auflösung der Unterscheidung zwischen ›sex‹ und ›gender‹ in Aussicht stellt38 und die Bestimmung dessen, was die kulturelle Interpretation des Geschlechts als ›sex‹ und ›gender‹ umfassenden Gesamtbegriff bezeichne, in ein, wie sie formuliert, »der Kultur vorgelagertes, vordiskursives«39 Feld verlegt.
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Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 64. Hanna Schissler (Hg.): Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel. Frankfurt am Main 1993, S. 13. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser These bieten sich neben Gisela Bocks – von Schissler selbst zitiertem – Text: Challenging Dichotomies: Persperctives on Women’s History (1989) auch die zuvor zitierten Textstellen Butlers an. Schissler (Hg.): Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, S. 14. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 24. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 24.
Die These der Konstruierbarkeit geschlechtsbezogener Eigenschaften nimmt dabei – wie bereits erwähnt – teilweise Argumente aus der Geschlechterdebatte der 80er Jahre auf und weitet die Forschungsinteressen besonders in den Randbereichen der ehemals klar definierten Abgrenzung von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ aus. Versuche, die Konstruierbarkeit des biologischen Geschlechts nachzuweisen, sind jedoch nicht auf die Untersuchungen Butlers beschränkbar. Schmale weist in diesem Zusammenhang auf die Forschungsergebnisse Elizabeth Badinters hin, die anhand anthropologischer Studien zur Altsteinzeit zu der Schlussfolgerung kommt, dass die Menschen dieser Zeit zwar Geschlechtsverkehr hatten, ihn aber noch nicht zwangsläufig mit Reproduktion in Verbindung brachten. Ihnen fehlte – mit Butler argumentiert – das Bewusstsein, das Wissen um das biologische Geschlecht, obwohl sie es (aber eben unbewusst) benutzten. Darüber, ob die an diversen Stellen zu allgemein formulierte und mit einer teilweise unüberschaubaren Begriffsvielfalt operierende ›sex‹- und ›gender‹-Darstellung bei Butler für die Anwendung auf die Literaturanalyse praktikabel ist, existiert innerhalb der Literaturwissenschaft kein Konsens. Vielversprechend für das Anliegen der vorliegenden Arbeit sind dagegen Butlers Ausführungen zur Travestie und zur Performanz verschiedener Rollen der ›Männlichkeit‹. Verkleidungsmechanismen, Täuschungen, die bewusste Imitation anderer maskuliner (oder weiblicher) Verhaltensmuster, die der eigenen Selbsterfahrung des Protagonisten widersprechen, derer er sich aber dennoch zielgerichtet bedient – diese Tendenzen bieten im Hinblick auf literarische und besonders dramatische Texte ein breites Anwendungs- und Interpretationsrepertoire. Butler unterscheidet drei Ebenen der »Performanz der Travestie«: Die Performanz der Travestie spielt mit der Unterscheidung zwischen der Anatomie des Darstellers (performer) und der dargestellten Geschlechtsidentität. Doch stehen wir hier vor drei kategorialen Dimensionen der signifikanten Leiblichkeit: dem anatomischen Geschlecht (sex), der geschlechtlich bestimmten Identität (gender identity) und der Performanz der Geschlechtsidentität (gender performance).40
Gerade im Prozess der Imitation anderer männlicher (oder in der Travestie weiblicher) Verhaltensmuster offenbare sich das gesamte Repertoire der ausdifferenziert vorliegenden geschlechtsspezifischen Rollenmuster, derer sich der ›performer‹ – der sich Maskierende – bediene. Daraus ergibt sich – die Thesen Butlers weiterführend – die Möglichkeit, die Geschlechteridentitäten in ihrer Imitierbarkeit selbst zu parodieren, ein Vorgang, der weitgreifende literarische Auswirkungen hat, wie noch zu zeigen sein wird. Allerdings wird die Aktualität der Diskussion zur Geschlechterdebatte auch unter anderem dadurch deutlich, dass Butlers Theorie der gleichzeitigen Abhängigkeit und Konstruierbarkeit von ›Geschlecht‹ bereits wenige Jahre später eine Forschungsrichtung entgegen tritt, die über biographisches Quellenmaterial versucht, empirische Forschung zur Männlichkeitsanalyse zu betreiben: die Psychohistorie. Hervorzuheben ist an dieser Stelle der viel diskutierte und durchaus umstrittene Text von Liam
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Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 202.
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Hudson und Bernadine Jacot,41 in dem durch die empirische Auswertung biographischen Quellenmaterials nachgewiesen werden soll, dass gerade die biologische Disposition zu einem entscheidenden Anteil für die Ausbildung von ›Männlichkeit‹ verantwortlich sei. Die Autoren stützen sich dabei auf das Ergebnis der medizinischen Gehirnforschung, um geschlechtsspezifische Unterschiede durch genetisch bedingte Gehirnstrukturen sowie chemo-physikalische Prozesse, die mit dem Denken und der Wahrnehmung in direktem Zusammenhang stehen, nachzuweisen. Wie sich an dieser Stelle berechtigterweise vermuten lässt, widerspricht die Theorie nicht nur Butlers Argumentation vehement, sondern gilt darüber hinaus – oder vielleicht gerade deshalb – als heftig umstritten. Jedoch weist Schmale darauf hin, dass Hudson/Jacots Ansatz trotz aller Skepsis durchaus zu beachten sei und ihm unter Umständen in der Situation der aktuellen Männerforschung eine Schlüsselrolle zukommen könne: Es gälte dann nicht der Satz »Mann ist nicht Mann, sondern Mann wird zum Mann gemacht«, sondern eben »Mann ist Mann«. Der Ansatz […] ist ernstzunehmen, weil […] die tendenzielle Ableitung des kulturellen männlichen Geschlechts aus dem biologischen männlichen Geschlecht nicht phallozentrisch erfolgt; es ist bei diesem Autorenpaar nicht der Phallus, der den Mann zum Mann macht, sondern es sind dies u. a. Ergebnisse der Hirn-/ Gehirnforschung.42
›Männerforschung‹ und ›Körperforschung‹ Eine gesteigerte Berücksichtigung der Einflüsse von Körperforschung und -darstellung in den Studien zur Männlichkeitsentwürfen zeichnet sich innerhalb der Gender Studies vor allem seit den 90er Jahren ab. Schmale hebt die Bedeutung des »körpergeschichtlichen Turns« der Geschlechtergeschichte hervor.43 Er unterscheidet darin die erste Phase (bis zum 17. Jahrhundert) und eine zweite Phase (vom 18. Jahrhundert an). In der ersten Phase fehle aufgrund der mangelnden Determinierung des Geschlechtsbegriffs auch eine »feste Grenze, die unverrückbar und unmissverständlich die Sprache über den Körper in normiert weiblich und normiert männlich gekennzeichnet hätte«.44 Der entscheidende Moment des Umbruchs zur zweiten Phase sei im 18. Jahrhundert zu finden, wobei Geschlechteridentitäten, Stereotypen und das Suchen nach standardisierten, geschlechtsspezifisch definierten Körperimaginationen »die Grenzziehung zwischen den Geschlechtern unterstütze«, wobei sie den »Charakter einer Geschlechtskonstruktion«45 annehme. Im Zeitraum des Absolutis-
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Liam Hudson, Bernadine Jacot: Wie Männer denken. Intellekt, Intimität und erotische Phantasie. Frankfurt am Main 1993. Schmale (Hg.): MannBilder, S. 15. Schmale (Hg.): MannBilder, S. 20ff. Die wohl umfassendste Darstellung des Umbruchs vom sogenannten Ein-Geschlechter-Modell zur Herausbildung der Bipolarität in der Geschlechts- und Körperlichkeitsbeschreibung im 18. Jahrhundert findet sich bei Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Schmale (Hg.): MannBilder, S. 27. Schmale (Hg.): MannBilder, S. 29.
mus bzw. im Vorfeld der Französischen Revolution, und damit folglich in den für die Textanalyse entscheidenden Zeiträumen, treten nach Schmale eine bewusst weibliche und eine bewusst männliche Körpermetapher zeitweise nebeneinander auf.46 Da sie sich – so Schmale weiter – »auf das Ganze politisch-sozialer Gemeinschaften« beziehen würden und »die politische Ausprägung der Gesellschaft das Körperverständnis reflektiere«, nennt er die Erscheinungen ›politische Körpermetaphern‹ der zuvor genannten zweiten Phase. Für den Zusammenhang zwischen ›männlicher Körperlichkeit‹ und ›politisch-sozialer Gemeinschaft‹ führt Schmale Beispiele der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft an: In Frankreich beispielsweise rückt der König, in Sachsen der Kurfürst (August der Starke) in den topischen Ort der Körpermetapher ein, die auf diese Weise nicht nur männlich sexualiert, sondern männlich sexualisiert wird (bei König/Kurfürst wird mitgedacht: Hof und Mätresse, Potenzbeweise durch die Vielzahl unehelicher Kinder).47
Die Verbindung zwischen einer gesellschaftlichen bzw. politischen Machtposition und deren Ausdruck durch Mittel der Körperlichkeit ließe sich auf die Textbeispiele für den Fall übertragen, dass gesellschaftlich-hierarchische Dominanzverhältnisse durch diese Mittel reflektiert werden. In der Mehrzahl der Texte, wie noch zu zeigen sein wird, nimmt der männliche Körper und das männliche Körperbewusstseineinen entscheidenden Einfluss auf die Konzeption der männlichen Dramenfiguren. Ähnlich wie Schmale argumentiert George L. Mosse: Still more important, physical appearance would now assume an importance it did not have earlier; not only comportment but looks mattered. […] this stereotype will determine to a large degree attitudes toward modern masculinity. A consistent and allembracing male stereotype had not yet emerged before the end of the eighteenth century, one that took in the whole personality and set a definite standard for masculine looks, appearance and behavior.48
Mosse schreibt den Forschungen zur Physiognomie sowie den Thesen Winckelmanns zur Ästhetik und dem Rekurs auf die klassisch-griechische Kultur und Kunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine zentrale Bedeutung im Prozess der Herausbildung eines modernen Virilitätsideals zu, das – wie er mehrfach betont – teilweise bis in die Gegenwart fortbestehe.49 Parallel dazu nimmt die Bedeutung der Anthropologie im 18. Jahrhundert deutlich zu, worauf in der Forschung wiederholt hingewiesen worden ist.50 Im Zusammenwirken der Kategorien ›Körperlichkeit‹ und ›Geschichte‹ lässt sich nach Stefan Leonhard Brandt die Historizität des Körpers be46 47 48
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Schmale (Hg.): MannBilder, S. 22f. Schmale (Hg.): MannBilder, S. 23. George L. Mosse: The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity. New York 1996, S. 19. Mosse: The Image of Man, S. 24f. So beispielsweise bei Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 107ff. sowie – insbesondere den Fokus auf die Anthropologie der ›Aufklärung‹ lenkend: Katrin Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung: Leipzig um 1740. Hochschulschrift. Leipzig 2005 sowie Alexander Koˇsenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008.
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greifen.51 Laut Brandt »ist er [der Körper, M. B.] Geschichte«, da er »wie kein anderer ›Text‹ das Zusammenwirken von Kultur und historischen Kontingenzen in einem Rahmen ›gelebter Geschichte‹« versinnbildliche.52 Anhand des Körpers und damit auch seiner Darstellung ließen sich historisch relevante Informationen über die »Codes, Werte und Ideale einer Kultur« ablesen.53 Zu dem Schluss, dass die »Kontrolle der Körperlichkeit geschlechtsspezifisch geschehe«, gelangt Lothar Böhnisch.54 Überzeugend gelingt ihm die Darstellung der beiden »Triebkräfte« der Körperlichkeit, Selbstschutz und Selbstbehauptung, die eine internalisierend, die andere externalisierend, auf der einen Seite der Anspruch zur Wahrung der eigenen Körperlichkeit, auf der anderen Seite der Ansporn, diese Körperlichkeit nach außen zu projizieren. Böhnisch nennt diesen Zustand der Körperlichkeit »widersprüchlich«55 und sieht darin eine »typische Spannung von Bedürftigkeit [nach Schutz, M. B.] und Gewalt [als egomanische Demonstration, M. B.], die den männlichen Habitus in kritischen und risikoreichen Sozialsituationen auszeichnet«.56 Dieser Ansatz eröffnet nicht nur für die in der vorliegenden Arbeit zu analysierenden Dramentexte, sondern auch für die stets kontrovers diskutierten Mechanismen des (gewalttätigen) männlichen Aktionspotenzials sehr interessante Impulse. Die Widersprüchlichkeit, die Böhnisch der ›männlichen‹ Körperlichkeit attestiert, ergibt sich aus der Spannung zwischen nach außen gerichteten Dominanzbestrebungen und nach innen gerichteten, gefühlsbetonten Eigenwahrnehmungen der Männer. Die internalisierte Seite der ›männlichen‹ Körperlichkeit erfordere demnach einen hohen Grad an persönlicher Reflexions- und Emotionsfähigkeit, die den nach außen gerichteten Kräften des Dominanzgebarens widerspricht. Über diesen Widerspruch hinaus werden sie zusätzlich vom männlichen Individuum tendenziell abgelehnt, da eine höhere emotional-affektive Kompetenz das Schema einer patriarchalisch – und damit auf Dominanz ausgerichteten – Form der ›Männlichkeit‹ verlassen und zwangsläufig in eine Assoziationskette von ›Weiblichkeit‹ (oder im weiteren Sinne ›Unmännlichkeit‹) geraten würde. Da es diesen Zustand aus den Erfordernissen des männlichen Hegemonieanspruchs heraus in jedem Fall zu vermeiden gilt,57 wirke Gewaltanwendung in dem Widerspruchsverhältnis zwischen externalisierter Dominanzhaltung und internalisierter Affekthaltung als Kontroll- und Regulationsmechanismus.58 Dabei ist interessant, dass – wie Böhnisch in einem weiteren Text hervorhebt – eine für sich Hegemonie beanspruchende Form von ›Männlichkeit‹ im 51
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Stefan Leonhard Brandt: Männerblicke. Zur Konstruktion von »Männlichkeit« in der Literatur und Kultur der amerikanischen Jahrhundertwende. Stuttgart 1997, S. 176. Brandt: Männerblicke, S. 176. Brandt: Männerblicke, S. 176. Lothar Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität – Zur Neuverortung des Mannseins in der segmentierten Arbeitsgesellschaft. In: Doris Janshen (Hg.): Blickwechsel. Der neue Dialog zwischen Frauen- und Männerforschung. Frankfurt am Main 2000, S. 111. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 111. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 112. Vgl. Michael Kaufman: The Construction of Masculinity and the Triad of Men’s Violence. In: Michael S. Kimmel; Michael A. Messner (Hg.): Men’s Lives. Boston 1994, S. 20f. Vgl. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 112.
eigentlichen Sinne aufgrund ihres Selbstbewusstseins ohne Gewaltanwendung bestehen könne. Daher folgert Böhnisch, dass »aufbrechende Formen männlicher Gewalt immer auch ein Zeichen von Ungleichgewichten und Krisen in der männlichen Dominanzkultur« seien.59 Um gegen mögliche Angriffe auf die Körperlichkeit reagieren zu können, müssten Männer, so Böhnisch weiter, ihren Körper wappnen: Die älteste Verkörperung in diesem Sinne stellt wohl der gepanzerte Soldatenkörper dar, der den Willen nach außen und die Abwehr nach innen seit Jahrhunderten symbolisiert.60
Der Soldatenkörper wird somit zum Sinnbild eines männlichen KörperlichkeitsDilemmas, wobei über die Problematik der Selbstwahrnehmung des Körpers durch seinen Träger auch die Frage nach der Fremdwahrnehmung des Körpers durch andere Figuren in den Fokus tritt. Mit Bezug auf die zu analysierenden Dramentexte lässt sich an dieser Stelle feststellen, dass soldatische Figuren und deren Körper in jedem einzelnen Textbeispiel thematisiert werden. Die Bandbreite der Körperlichkeitsthematik greift dabei zentrale Oppositionen wie »stark-schwächlich«, »versehrt-unversehrt«, »gewaltbereit-gewaltablehnend« auf. Männliche Figuren werden in den Texten in der mit ihrer Körperlichkeit verbundenen Tragik (Tellheim, Götz, Franz Moor) und teilweise gewollten, teilweise unbeabsichtigten Komik (Cherubino) abgebildet. Der Körper wird zum Träger der Selbstdefinition (Götz und seine ›Hand‹), Auslöser des Zweifels an der eigenen Identität (Tellheim, Cherubino), Objekt der Verkleidung (Ferrando, Guglielmo, Leporello) und Projektionsfläche des Hasses (Franz Moor). Aus diesem Grund erfährt die Korrelation zwischen ›Männlichkeit‹ und ›Körperlichkeit‹ in der Textanalyse eine gesonderte Beachtung. Das gesteigerte Forschungsinteresse am ›männlichen‹ Körper führt in den 90er Jahren auch zu einer stärkeren Berücksichtigung des Gebiets der Zusammenhänge zwischen physischer Struktur (Körper), gesellschaftlichem Dominanzverhalten (Macht) und deren konkreten Ausübungsmechanismen. Einer der in der Forschung am stärksten repräsentierten Ausübungsmechanismen eines auf Körperlichkeit gestützten ›männlichen‹ Dominanzverhaltens ist die Anwendung von Gewalt. Michael Kaufman versucht in seiner Studie im Jahre 1994, ›männliche‹ Gewalt als »Ausdruck der Zerbrechlichkeit der Männlichkeit in der Auseinandersetzung mit männlicher Macht«61 darzustellen. Kaufman untersucht sowohl ›männliche‹ Gewalt gegenüber Frauen (Vergewaltigung, patriarchalische Gewalt im Kontext der Familie etc.), gegenüber anderen Männern (Diskriminierung, Kampf, Krieg, Sport, Berufsleben etc.) als auch gegenüber sich selbst (Selbstzüchtigung, Suizid). Den Grund dafür sieht Kaufman in einer andauernden Verletzbarkeit der verschiedenen Männlichkeitsentwürfe, die vor allem aus der Diskrepanz zwischen den heterosexuellen Rollenzwängen und dem Bedürfnis nach der Artikulation emotionaler Neigungen resultierten. Die Repression der Emotionalität als Assoziationspunkt des Gegenentwurfes zur heterosexuellen ›Männlichkeit‹ könne nur gewaltsam erfolgen. Dabei
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Böhnisch: Männliche Sozialisation. Eine Einführung. Weinheim 2004, S. 34. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 112. Kaufman: The Construction of Masculinity and the Triad of Men’s Violence, S. 17f.
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existiert laut Kaufman insbesondere eine Spannung zwischen dem Bestreben nach Abgrenzung von homoerotischen Emotionen auf der einen und dem gleichzeitig angestrebten maskulinen Interaktionsprozess in Gruppen (›male bonding‹) auf der anderen Seite. Das männliche Individuum befinde sich daher in einem ständigen Dilemma zwischen dem Ablehnen und Anstreben homoerotischer Interaktionsweisen. Exemplarisch sei an dieser Stelle Kaufmans Begründung zur Gewalt unter Männern angeführt, die er dem beschriebenen Widerspruch zuschreibt: A key expression of homophobia ist the obsessive denial of homosexual attraction; this denial is expressed as violence against other men. Or to put it differently, men’s violence against other men is one of the chief means which patriarchal society simultaneously expresses and discharges the attraction of men to other men.62
Die Bedeutung männlicher Gewaltausübung besteht – ungeachtet der Tatsache, ob sich die Gewalt gegen Frauen, andere Männer oder sich selbst richtet – in der Mehrheit der zu analysierenden Dramentexte. Gewaltausübung wird in den Texten teilweise als legitimer Verstärkungsmechanismus einer Hegemonie für sich beanspruchenden ›Männlichkeit‹ gezeichnet, währenddessen Pazifismus (sei es aus eigener Überzeugung oder aus körperlicher Unfähigkeit zur Gewalt) diesem Entwurf ›hegemonialer Männlichkeit‹ entgegenzutreten scheint. Dabei wird die Frage, wie sich die Mechanismen männlicher Macht und Gewalt auf der einen sowie männlicher Individualität auf der anderen Seite zueinander in Beziehung setzen lassen, ebenso Beachtung finden wie die Differenzierung der verschiedenen Artikulationsformen der Gewaltausübung (verbal vs. non-verbal, einmalig vs. wiederholt). ›Männerforschung‹, ›männlicher‹ Habitus und Herrschaft: Pierre Bourdieu Dem Zusammenhang von ›Männlichkeit‹ und ›Herrschaft‹ widmet sich Pierre Bourdieu in seinem 1998 erschienenen Text La domination masculine (dt. Übersetzung: Die männliche Herrschaft). Obwohl Bourdieu damit auf ein zentrales Problemfeld der hierarchischen Rollenkonzepte, in denen sich ›Männlichkeit‹ definiert und in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Modellen ständig verändert, anspielt, ist der Text, wie Inge Stephan darstellt, »im gegenwärtigen Diskurs über Männlichkeit unterschätzt«.63 Die sogenannte »Habitus-Theorie« Bourdieus64 hebt das Primat der kulturellen Konstruktionsmuster über die scheinbar biologisch gegebenen Geschlechtseigenschaften hervor, wobei sie die Grundlage des Habitus in einer ähnlichen bzw. gleichen Soziallage der betreffenden Personen sieht: Die soziale Welt konstruiert den Körper als geschlechtliche Tatsache und als Depositorium von vergeschlechtlichten Interpretations- und Einteilungsprinzipien. Dieses inkorporierte soziale Programm einer verkörperten Wahrnehmung wird auf alle Dinge in der Welt und in erster Linie auf den Körper selbst in seiner biologischen Wirklichkeit angewandt.65
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20
Kaufman: The Construction of Masculinity and the Triad of Men’s Violence, S. 20. Stephan: Im toten Winkel, S. 20. Vgl. Stephan: Im toten Winkel, S. 20. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main 2005, S. 22.
Die enge Bindung des Habitus an die Gesamtheit der soziokulturellen Umstände, in denen Menschen leben, das ›Milieu‹, würde mit Bezug auf die Konstruktion eines ›männlichen‹ Habitus zu folgender These führen: Männer, die in der gleichen Soziallage leben und agieren (d. h. im gleichen ›Milieu‹), bilden den gleichen oder einen zumindest ähnlichen Habitus der ›Männlichkeit‹ aus, der neben der gleichen Wahrnehmung der Umwelt auch implizit eine gleiche bzw. ähnliche Reaktion darauf annimmt. Der bereits bei Butler auftretenden These zur Konstruierbarkeit des biologischen Geschlechts und der sich dabei anschließenden Infragestellung der Berechtigung einer Trennung zwischen ›sex‹ und ›gender‹ begegnet Bourdieu mit der These der »zirkelhaften Kausalbeziehung«: Das gesellschaftliche Deutungsprinzip konstruiert den anatomischen Unterschied. Und dieser gesellschaftlich konstruierte Unterschied wird dann zu der als etwas Natürliches erscheinenden Grundlage und Bürgschaft der gesellschaftlichen Sichtweise, die ihn geschaffen hat.66
Bourdieu grenzt sich damit von Butler zwar insofern ab, als er eine vorgeschlechtliche kulturelle Deutung im Gegensatz zu Butler nicht voraussetzt, sie allerdings auch nicht explizit ausschließt. Ob diese Erklärung innerhalb der soziologischen Geschlechterdebatte hilfreich ist, wird in der Forschung bezweifelt.67 Innerhalb der Männerforschung jedoch bietet der Text einige interessante Impulse. So legt sich Bourdieu beispielsweise auf die direkte Überschneidung der ›männlichen‹ Körperattribute und spezifisch ›männlicher‹ Sexualhandlungen fest, die die zuvor angesprochene Verbindung zwischen Körper- und Männerforschung jetzt nicht mehr rein ästhetisch, sondern biologisch-utilitaristisch deutet: Die Virilität bleibt […] Prinzip der Wahrung und Mehrung der Ehre, zumindest stillschweigend mit physischer Virilität verknüpft, und zwar insbesondere durch die vom wahren Mann erwarteten Beweise der Sexualkraft (Entjungferung der Braut, zahlreiche männliche Nachkommen usf.). Das macht verständlich, warum der Phallus, der metaphorisch zwar stets präsent ist, aber nur sehr selten mit Namen genannt werden kann, zum Träger all der kollektiven Phantasien der Zeugungskraft wird.68
In der Rezeption der Habitus-Theorie Bourdieus durch verschiedene Ansätze der Männerforschung Ende der 90er Jahre und zu Beginn des 21. Jahrhunderts soll mit Bezug auf die Interessen der vorliegenden Arbeit vor allem Michael Meusers Versuch, ›hegemoniale Männlichkeit‹ und ›männlichen Habitus‹ zueinander in Beziehung zu setzen, erwähnt werden. Meuser versteht diese Beziehung wie folgt: Hegemoniale Maskulinität ist der Kern des männlichen Habitus, ist das Erzeugungsprinzip eines vom männlichen Habitus generierten doing gender bzw. ›doing masculinity‹, Erzeugungsprinzip und nicht die Praxis selbst. […] Wer sich dem Habitus zu entziehen versucht, wird von den anderen an dessen Gültigkeit erinnert.69
66 67
68 69
Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 23. Vgl. die kritische Rezension Freverts über den Text in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 12. Mai 2005: http://www.nzz.ch/2005/05/12/fe/articleCPK38.html. (Zugriff: 01. 11. 2006). Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 24f. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 118f.
21
Ein zweiter Text, der in der Rezeption Bourdieus aus männlichkeitstheoretischer Sicht nach der Beschaffenheit des ›männlichen Habitus‹ fragt, ist Lothar Böhnischs Männliche Sozialisation. Eine Einführung. Böhnisch deckt innerhalb der männlichen Habitus-Struktur den Widerspruch zwischen einer Dominanz demonstrierenden Außen- und einer »brüchigen« Innenseite auf.70 Dabei protegiere die Außenseite die nach innen gewandten »schwachen, hilflosen Seiten des Mannes«.71 Der ›männliche Habitus‹ sei demnach durch die »Spannung zwischen Dominanz und Verfügbarkeit« sowie die »Abwehr von und Sehnsucht nach eigengerichteten Gefühlen«72 gekennzeichnet. Bourdieus Entscheidung, seine Studien anhand der Sozioanalyse eines nordafrikanischen Berberstammes vorzunehmen und die daraus resultierenden Ergebnisse aufgrund der kulturellen Vergleichbarkeit, die ein »Paradigma der mediterranen Tradition«73 eröffnen würde, auf Europa auszuweiten, setzt implizit eben genau diese kulturelle Vergleichbarkeit mit (westlich geprägten) Kulturen voraus. Bourdieu nennt es »die unzweifelhafte Partizipation der ganzen europäischen Kultur« daran, was er in seinen Forschungen als »phallonarzißtische und androzentrische Kosmologie«74 darstellt. Diese Sichtweise ist aus der Perspektive der aktuellen Männerforschung heraus wiederholt bezweifelt worden.75 Die damit umrissene, durchaus streitbare These, die jedoch an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden soll, würde in die Konsequenz münden, dass ›Männlichkeit‹ im Sinne von phallozentrischen Macht- und Dominanzbeziehungen nicht kulturimmanent, sondern territorial und kulturübergreifend existiere. Bourdieu unterstützt diese Annahme durch sein methodologisches Vorgehen: Mit den nordafrikanischen Stämmen beginnend, zieht die Analyse im weiteren Verlauf systematisch immer weiterreichende Kreise, die schließlich auch in die sogenannten »westlichen Kulturen« münden. ›Männlichkeit‹ als übernationales und kulturübergreifendes Phänomen? Die unausweichliche Frage, ob demnach auch nur ein kulturübergreifendes gesellschaftliches Deutungsprinzip von Geschlechtseigenschaften existiere, das Bourdieu ja im gleichen Text als Primat vor dem biologischen Geschlecht annimmt, lässt der Text unbeantwortet. Dennoch entbehrt die Vorstellung der kulturübergreifenden phallozentrischen ›Männlichkeit‹ nicht einer interessanten Perspektive im Hinblick auf die vergleichende Analyse der Repräsentationsform von ›Männlichkeit‹ in deutschen und italienischen Dramentexten, wobei aber in jedem Fall auch die entgegengesetzte Position der kulturabhängigen Muster von ›Männlichkeit‹ beachtet werden muss. Dafür spricht sich beispielsweise Schmale aus: Sie [Männlichkeiten und Weiblichkeiten, M.B.] können sich […] zur selben Zeit im selben kulturellen, sozialen und/oder Identitätsraum ähneln, häufig gibt es jedoch eine chronologi70 71 72 73 74 75
22
Vgl. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 37f. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 38. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 40. Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 24f. Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 24f. Wie beispielsweise im Jahr 2000 in folgender Publikation: Meuser: Perspektiven einer Soziologie der Männlichkeit, S. 48.
sche, (kultur-)räumliche und/oder soziale Divergenz. Die Erkenntnis jedoch, dass es in jeder, auch historischen, Gesellschaft immer gleichzeitig Männlichkeiten und Weiblichkeiten gibt, erfährt noch nicht die Beachtung, die sie verdient.76
Schmale formuliert hier, was sich in der Männerforschung ab Beginn der 90er Jahre tendenziell immer stärker durchsetzt: die These der multiplen männlichen Existenzformen. Dabei hebt die Forschung wiederholt hervor, dass trotz der Suche nach allgemein verbindlichen Normen zur Erstellung eines maskulinen Standards im Zuge der »Querelle des femmes« gerade deutlich wird, dass »der aufklärerische Rekurs auf die ›Natur‹ bereits am Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr ausreichte, um das Geschlechterverhältnis zu begründen und die angebliche Polarität der Geschlechter aufrecht zu erhalten«.77 Als herausragender und die Forschungssituation prägender Vertreter ist hierbei Robert W. Connell mit seinem Text Masculinities aus dem Jahr 1995 (dt. Titel: Der gemachte Mann) zu nennen, dessen Thesen im Laufe des folgenden Abschnitts gemeinsam mit weiteren aktuellen Theorieansätzen der aktuellen Männerforschung näher erläutert werden.
1.2
Aktuelle Tendenzen und Perspektiven seit den 90er Jahren
Die Forschungen zur ›Männergeschichte‹ ergeben sich nach Kühne aus drei hauptsächlichen Quellen: einer Erweiterung der Frauenforschung um deren männliche Entsprechung, aus der Homosexuellenbewegung sowie aus der Männerbewegung.78 Dabei zeige sich ›Männlichkeit‹ als eine »relationale Kategorie« in Abgrenzung und als logische Entsprechung der ›Weiblichkeit‹79 und zu anderen koexistierenden, rivalisierenden Formen der ›Männlichkeit‹.80 Kühne beschreibt damit einen forschungsrelevanten Teil der aktuellsten Theoriebildung zum Komplex ›Männlichkeit‹, der in den angloamerikanischen Men’s Studies kontrovers diskutiert wird. In der Tat stellt sich heraus, dass in den methodologischen Überlegungen zur Beschreibung von ›Männlichkeit‹ oder ›Männlichkeiten‹ – wie bereits im vorangegangenen Abschnitt dargestellt – sehr unterschiedliche Positionen mit teilweise sehr stark divergierenden Zielsetzungen aufeinandertreffen. Laut Meuser lassen sich innerhalb der Männerforschung zwei hauptsächliche Ansätze voneinander unterscheiden: das Konzept des ›Patriarchats‹ und das Konzept der ›hegemonialen Männlichkeit‹.81 Den Begriff des Patriarchats versteht Meuser dabei als »ein zentrales Prinzip der Vergesellschaftung der Geschlechter«,82 wobei der radikale Feminismus die weitestgehende Definition von ›Patriarchat‹ vertrete:
76 77 78 79 80 81 82
Schmale (Hg.): MannBilder, S. 12. Stephan: Im toten Winkel, S. 14. Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte, S. 10. Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte, S. 11. Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte, S. 19. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 93. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 78.
23
Dieser [der radikale Feminismus, M. B.] versteht Frauen und Männer als distinkte Klassen, die durch fundamental entgegengesetzte Interessen bestimmt sind. Männliche Macht und die männlich dominierte Kultur gelten als Quelle der Unterdrückung der Frau.83
Das Konzept des ›Patriarchats‹ sei in der aktuellen Männerforschung – so Meuser weiter – um den »Binnenaspekt männlicher Macht« weiterentwickelt worden.84 Die von Holter beschriebene »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« stellt einen Versuch dieser durch Meuser angesprochenen Erweiterung dar und wird im Anschluss gemeinsam mit einem anderen Ansatz, der das Konzept der ›hegemonialen Männlichkeit‹ verfolgt, vorgestellt. Anschließend soll versucht werden, die Ansätze aus dem soziologischen Hintergrund herauszulösen und auf eine mögliche Perspektivenbildung in der Literaturwissenschaft hin zu problematisieren. ›Direkte Geschlechtshierarchie‹ und ›Strukturell bedingte Ungleichheit‹ nach Øystein Gullvåg Holter Das von Michael S. Kimmel, Jeff Hearn und Robert W. Connell herausgegebene Handbook of Studies on Men & Masculinities aus dem Jahr 2004 stellt in dem von Øystein Gullvåg Holter verfassten Beitrag zwei soziologische Theorieansätze in der Analyse von ›Männlichkeit‹ gegenüber: die so genannte »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« und die »Theorie der strukturell bedingten Ungleichheit«.85 Bevor die Theorieansätze im Einzelnen vorgestellt werden, soll zunächst geklärt werden, in welche forschungsgeschichtliche Tradition sie sich einordnen: Die »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« geht – wie anhand der Argumentation bei Meuser deutlich wird – auf das »Konzept des Patriarchats« zurück, wie es in Jeff Hearns Text: The Gender of Oppression. Men, Masculinity and the Critique of Marxism aus dem Jahre 1987 dargestellt wird.86 Dabei weist Meuser darauf hin, dass die Interpretation des Patriarchatsansatzes aus Sicht der Männerforschung gegenüber der feministischen Forschung das Patriarchat als ein System begreift, »dessen oppressive Kraft sich auch gegen Männer richtet, d. h. gegen diejenigen, die die Akteure und Agenten der Unterdrückung sind«.87 Wie umstritten der Patriarchats-Begriff innerhalb der Gender Studies gehandhabt wird, zeigt die entsprechende Kritik Constance Engelfrieds, die betont, dass innerhalb der Gender Studies bislang noch keine Übereinstimmung dahin gehend erzielt werden konnte, den Begriff des Patriarchats auch für Hierarchien unter Männern (und damit im Sinne 83 84 85
86 87
24
Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 78f. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 93. Øystein Gullvåg Holter: Social Theories for researching men and masculinities. Direct gender hierarchy and structural inequality. In: Michael S. Kimmel, Jeff Hearn, Raewyn Connell (Hg.): Handbook of Studies on Men & Masculinity. London 2004, S. 15–34. Die oben verwendeten deutschen Bezeichnungen der Theorieansätze sind Übertragungen aus dem Englischen (im englischen Original: ›Direct Gender Hierarchy‹ bzw. ›Structural Inequality‹. Übertragung: Martin Blawid) und sollen im weiteren Verlauf des Textes das Verständnis erleichtern. Zu Holters Ansatz vgl. auch Kucklick, S. 21f. Vgl. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 93f. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 94.
Meusers) zu verwenden.88 Diese Verwendungsart nimmt der von Holter 2004 beschriebene Theorieansatz auf. Innerhalb der »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« liegt laut Holter das Forschungsinteresse besonders im Bereich der Interrelation zwischen Machtausübung und ›männlich‹ geprägtem Dominanzverhalten.89 Der bereits innerhalb der Bezeichnung auftretende hierarchische Aspekt sei dabei als geschlechtsinhärent, das bedeutet, als aus dem (in diesem Fall: männlichen) Geschlecht selbst entstehend, gekennzeichnet. Im Anschluss an die zuvor geschilderten theoretischen Positionen lässt die »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« folglich Berührungspunkte zur Kategorie des biologischen Geschlechts (›sex‹) erkennen, da sie versucht, spezifisch ›männliches‹ Verhalten als Konsequenz mit einer im Geschlecht selbst verankerten, relativ konstanten Triebkraft zu begründen, was dem Ansatz von Kritikern zuweilen als übertriebener Determinismus ausgelegt wurde. Dennoch greift die »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« im Vergleich zur Kategorie ›sex‹ weiter aus: Sie hebe darüber hinaus vor allem »die Konsequenzen der höheren sozialen Position der Männer hervor«, wobei sie »die Ergebnisse der geschlechtsbezogenen Diskriminierung und deren unmittelbare Auslöser, die häufig als ›Männer‹ oder ›männliche Dominanz‹ zusammengefasst werden«,90 untersuche. Diese Zielsetzung habe im europäischen Kontext zu einer weitgehenden Überblendung mit der »Theorie der strukturell bedingten Ungleichheit« geführt. Trotz der gegenseitigen Berührungs- und Überschneidungspunkte beider Theorieansätze hält Holter jedoch an ihrer Trennung fest. Die Perspektive der »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« finde ihre Anwendung vor allem in den Forschungsbereichen, die ›Männlichkeit‹ trotz der aktuellen Bestrebungen, sie als »relationale Kategorie« zu klassifizieren, als eine stabile, konstante Substanz beschreiben: Even if power and masculinity are now often seen as »relational constructions« in male dominance or direct gender hierarchy research, there is a tendency to make masculinity static and solid. This is often connected to a view in which power stems from the »inner« workings of masculinity (or male nature, in traditional terms). […] This tendency can be found in applied areas also: for example, in violence research […]. Arguably, the link between masculinity and pride or shame rests on this overall equation of masculinity and power.91
Der innerhalb des Zitats zuletzt beschriebene Anwendungsbereich der Theorie auf die Beziehungen von ›Männlichkeit‹ und Gewalt bzw. Macht sei vor allem im anglo-amerikanischen Forschungskontext stark ausgeprägt.92 Folglich stellt die »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« eine Synthese aus geschlechtsinhärenten 88
89
90 91 92
Constance Engelfried: Männlichkeiten. Die Öffnung des feministischen Blicks auf den Mann. Weinheim 1997, S. 81f. Holter weist darauf hin, dass in der Forschung für diesen Ansatz auch die Bezeichnung »male dominance« verwendet wird. Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 16. Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 17. Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 18. Exemplarisch für diese Forschungsrichtung sei dazu vor allem verwiesen auf: Michael P. Ghiglieri: The Dark Side of Man. Tracing the Origins of Male Violence. Cambridge/Mass., 1999.
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Verhaltens- und Aktionsdispositionen dar, die sich im Zusammenhang mit sozialen Rollenmustern zur Analyse von ›männlichem‹ Dominanzverhalten eignen. Die »Theorie der strukturell bedingten Ungleichheit«93 hebt Holter als besonders im europäischen Kontext dominantes Forschungsparadigma hervor. Das Interesse liege hierbei eher in der Analyse gesellschaftlich bedingter Ungleichbehandlung oder Diskrimination bzw. deren gesellschaftsbedingten Ursachen und gehe auf die feministische Soziologie der 70er Jahre zurück.94 Dabei bestehe der Unterschied zur »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« vor allem darin, dass ›Männlichkeit‹ primär in der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Umgebungsfaktoren beschrieben und analysiert werde, währenddessen der zuvor geschilderte Ansatz vor allem auf die kritische Betrachtung der Problemfelder innerhalb des Männlichkeitsparadigmas abziele. Die in der Bezeichnung des Theorieansatzes enthaltene ›Ungleichheit‹ ergebe sich in der »Theorie der strukturell bedingten Ungleichheit« folglich geschlechtsextern (oder in diesem Fall: männlichkeitsextern). Der Ansatz weist daher klare Berührungspunkte zur zuvor geschilderten Kategorie des soziohistorisch konstruierten Geschlechts (›gender‹) auf. Ein Beispiel dafür schildert Holter im Bereich der Analyse männlicher Diskriminierung gegenüber Frauen: Sie sei »eher Produkt der Gesellschaft und der ›männlichen‹ Rolle innerhalb der Gesellschaft als ein Produkt der ›Männlichkeit‹ an sich«.95 Die Annahme einer Verhaltensdisposition, die sich direkt aus dem Geschlecht herleite und durch das soziale Umfeld nur noch verstärkt werde, wird in der »Theorie der strukturell bedingten Ungleichheit« bestritten. Vielmehr sei es das soziale Umfeld, das die Strukturen schaffe, in denen sich ›Männlichkeit‹ definiere und sich vor allem durch Differenzbildung von anderen Formen von ›Männlichkeit‹ als auch von ›Weiblichkeit‹ abgrenze. Die beiden Ansätze zusammenzubringen, sei laut Holter in der gegenwärtigen Forschungslage ein Ziel, das auf Strategien der frühen feministischen Soziologieforschung rekurrieren könne: […] gender was [in early feminist research, M.B.] seen as a mixed pattern, containig social differentiation as well as social stratification. True, gender differentiation is strongly influenced by stratification, but it cannot simply be reduced to stratification or the power dimension. Rather, the gender system is a framework of meaning, containing relations within which the sex of the person is made socially relevant. This framework concerns power but also many other issues. […] Gender is a compromise formation; it is formed by power structures but also by other forces, such as the need for social recognition. In modern society, gender is a social psycological link between the individual and the collective.96
93
94 95 96
26
Holter weist darauf hin, dass in der angloamerikanischen Forschung für diesen Ansatz auch die Bezeichnung ›patriarchy‹ verwendet wird. In: Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 20. Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 19. Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 19. Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 19. Die Problematik der Übersetzung liegt in einer dem englischen Original äquivalenten Formulierung für den wichtigen Unterschied zwischen differentiation und stratification. Erstes meint dabei die Vielfalt der Erscheinungsformen sowie Machtbeziehungen innerhalb eines Geschlechts; das Zweite dagegen die Auseinandersetzung mit den Machtbeziehungen des sozialen (und damit außerhalb des Geschlechts befindlichen) Umfelds.
Für die Männerforschung lassen sich daraus zwei Forderungen ableiten. Zum einen plädiert Holter für die Einbindung des Männlichkeitsbegriffs in ein semantisches Netzwerk; zum anderen führt er in einer Synthese die biologisch und die soziologisch argumentierende Forschungstradition zusammen. Den darin umstrittenen Punkten, ob die Unterscheidung zwischen anatomischem und sozial konstruiertem Geschlecht sinnvoll sei oder nicht und welches von beiden das jeweils andere determiniere, wird in diesem Ansatz kein weiterer Spielraum ermöglicht, da beide Punkte sich gegenseitig bedingen und im Netzwerk der Bedeutungsbildungen zur ›Männlichkeit‹ interagieren. Daraus lassen sich terminologische Entscheidungen rekonstruieren: Holter schlägt für die in der Forschung häufig untersuchten Zusammenhänge von ›Männlichkeit‹ und ›Macht‹ den Begriff ›Patriarchat‹ vor, währenddessen er den Begriff des ›Geschlechts‹ an sich als Bedeutungssystem favorisiert. Beide Theorieansätze beinhalten für die literarische Analyse auf der einen und insbesondere die Analyse von Dramentexten auf der anderen Seite interessante Anknüpfungspunkte. So lässt sich beispielsweise innerhalb der Figurenkonstellation der männlichen Protagonisten eines Dramas, die sowohl deren Positionierung gegenüber den anderen männlichen als auch gegenüber den weiblichen Figuren umfasst, die Verbindung zwischen beiden von Holter vorgestellten Forschungsrichtungen ziehen, indem sich unter anderem folgende Fragen ergeben: Unter welchen Umständen greifen männliche Dramenfiguren trotz oder gerade wegen ihrer Position innerhalb strukturell bedingter Hierarchiemuster auf Strategien der direkten Geschlechtshierarchie zurück? Dient im Fall von Tellheim die Berufung auf seinen geschlechtsinhärent vorhanden Männlichkeitsimpetus als Kompensation einer für ihn ungünstigen strukturell bedingten Hierarchie, dient sie im Fall von Leporello als Nachahmung97 der durch seinen Herren öffentlich zur Schau gestellten direkten Geschlechtshierarchie, oder dient sie Figaro angesichts des Vertrauens in seine Überlegenheit gegenüber dem Grafen womöglich als Kombination beider Aspekte? Zu welchem Zeitpunkt im dramatischen Kontext der Entwicklung des Textes tendieren Männer dazu, beide Positionen zu vermischen, und welche Strategien schlagen sie dabei ein? Mitunter könnte sich dabei eine starke Diskrepanz zwischen Eigenund Fremdwahrnehmung der Figuren ergeben, die den unterschiedlichen Berufungsmechanismen, mit denen sie sich ihrer ›Männlichkeit‹ annähern, geschuldet ist. Inwiefern determinieren die strukturell bedingten Kennzeichen der Figuren deren direktes Geschlechtsbewusstsein? Ist es unter diesen Umständen noch möglich, Götz als das emblematische Virilitätsideal der Ritterzeit zu bezeichnen, obwohl die ihn umgebenden Strukturen sich ändern; er wohl aber im Ehrenkodex (der auch seinem direkten Geschlechtsbewusstsein geschuldet ist), in Strukturen einer ritterlich›männlichen‹ Vergangenheit verbleibt? Diese und insbesondere auch Fragen der männlichen Interaktion in verschiedenen Rahmenbedingungen (Militär, Bande, Vaterschaft, Bruderschaft, Ehe, Liebe, Sexualität sowie Freund- und Feindschaft) bieten ein vielschichtiges Anwendungspotenzial der von Holter vorgestellten Theorien. 97
Holter verwendet in diesem Zusammenhang die Begriffe ›compensation‹ und ›emulation‹. Vgl. Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 20f.
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›Hegemoniale Männlichkeit‹: Raewyn Connell Im Jahr 1995 erscheint Raewyn Connells Text Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit (Originaltitel: Masculinities). Connells Thesen, die im Folgenden vorgestellt werden sollen, beeinflussen die Männerforschung vom Zeitpunkt der späten 90er Jahre an. Sie bieten darüber hinaus einige für die vorliegende Arbeit wichtige Anknüpfungspunkte zur literarischen Analyse von ›Männlichkeit‹. Connells Argumentation richtet sich – wie bereits die Pluralform des englischen Titels Masculinities zeigt – gegen homogenisierende Beschreibungsversuche von ›Männlichkeit‹, die er in der Massenkultur der 90er Jahre repräsentiert sieht: Argumente für einen Wandel von Männlichkeit schlagen oft fehl. Nicht aufgrund von Gegenargumenten, die gegen einen Wandel sprechen, sondern weil man glaubt, daß Männer sich nicht ändern können. Und deshalb sei es zwecklos oder gar gefährlich, es überhaupt zu versuchen. In der Massenkultur herrscht die Ansicht vor, es gäbe hinter dem Auf und Ab des Alltags eine unveränderliche, wahre Männlichkeit. Man spricht von »richtigen Männern«, »natürlicher Männlichkeit« und von der »Tiefenstruktur von Männlichkeit«. (Connell 1999, 65)
Wollte man, so Connell weiter, eine »natürliche Männlichkeit« tatsächlich empirisch nachweisen, so müsste man wie folgt vorgehen: Die These von einer natürlichen Männlichkeit ließe sich nur bestätigen durch eine deutliche biologische Determinierung der Geschlechtsunterschiede bei komplexen sozialen Verhaltensformen (wie Begründung von Familien oder Armeen). Es gibt aber überhaupt keine überzeugenden Hinweise für eine Determinierung in diesem Sinne. (Connell 1999, 67)
Im Hinblick auf die in dem Zitat angesprochenen komplexen sozialen Verhaltensformen in den zu analysierenden Dramentexten (Familie, Bande, Heer, Gefolgschaft, Komplizenschaft etc.) lässt sich daraus schlussfolgern, dass ›natürliche Männlichkeit‹ durch biologische Determinierung auch für die Protagonisten der literarischen Texte nur spekulativ, nicht aber empirisch, begründet werden kann. Der Legitimationsversuch der Stabilität von ›Männlichkeit‹ sei in dieser Forschungsperspektive vor allem Argumenten der männlichen Körperforschung innerhalb des biologischen Determinismus geschuldet. (Connell 1999, 65) Connell lehnt ihn jedoch ebenso wie radikal konstruktivistische Ansätze des ›sozialen Determinismus‹ ab. (Connell 1999, 65)98 Er plädiert im Gegensatz dazu dafür, sich der biologisch-körperlichen Gegebenheiten und Bedeutungen bei dem Versuch, ›Männlichkeit‹ zu beschreiben, bewusst zu werden. (Connell 1999, 73) Der Körper wird von Connell als ›Ort der Männlichkeit‹ lokalisiert, er ist gleichsam das visuelle Objekt des Zurschaustellens gegenüber der ihn umgebenden Umwelt. Bereits an dieser Stelle bietet sich eine Parallele zu den begriffsgeschichtlichen Überlegungen im ersten Kapitel an, in denen das Sich-Zurschaustellen einen der unmittelbaren Assoziationspunkte in der Definition der verschiedenen Lesarten des Begriffs ›maschio‹ darstellt. Die Umwelt, ge98
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Zum Vergleich dazu auch die aphoristische Schlussfolgerung Connells zu Ansätzen, die beide Aspekte gleichzeitig erhalten und sie dennoch miteinander verbinden wollen: »Wenn der biologische Determinismus genauso falsch ist wie der soziale Determinismus, dann ist es unwahrscheinlich, daß eine Kombination aus beidem richtig sein könnte.«
kennzeichnet durch diverse soziale Strukturen, die laut Connell auf Körperlichkeit reagieren und gleichzeitig deren Entwicklung beeinflussen können, forme gemeinsam mit der biologisch-körperlichen Gegebenheit von ›Männlichkeit‹ ein sich gegenseitig bedingendes Aspektpaar: Ich würde daraus schließen, daß wir dem Körper nicht entrinnen können, wenn es um die Konstruktion von Männlichkeit geht; aber wenn etwas unentrinnbar ist, heißt das noch nicht, daß es unveränderbar sein muß. Der körperliche Prozeß wird Teil der sozialen Prozesse, und damit auch ein Teil der Geschichte (der persönlichen wie der kollektiven) und ein möglicher Gegenstand von Politik. (Connell 1999, 76)
Connell bezeichnet diese Interdependenz als »körperreflexive Praxen«, in denen »Körper als Teilnehmer am sozialen Geschehen […] den Verlauf sozialen Verhaltens mitbestimmen« (Connell 1999, 80) und innerhalb der Praxis sowohl »Objekte als auch Subjekte sind, wobei aus der Praxis wiederum die Strukturen entstehen, innerhalb derer die Körper definiert und angepasst werden«. (Connell 1999, 81) Die Implikationen, die diese Annahme mit Bezug auf die Repräsentation von ›Männlichkeit‹ hat, verdeutlicht folgende Äußerung: Körperreflexive Praxen sind keine Vorgänge im Inneren des Individuums. Sie umfassen soziale Beziehungen und Symbole, aber manchmal auch soziale Institutionen. Die verschiedenen Versionen von Männlichkeit werden prozeßhaft konstruiert als bedeutungsvolle Körper und verkörperte Bedeutungen. Durch körperreflexive Praxen wird nicht nur individuelles Leben geformt, sondern eine soziale Welt gestaltet. (Connell 1999, 84)
An dieser Stelle wird die Bedeutung dessen, was Connell »körperreflexive Praxen« nennt, für die Literaturanalyse der ›Männlichkeit‹ in Dramentexten deutlich: Ort der »körperreflexiven Praxis« wird das Theater bzw. die Bühne, wobei der Dramentext, und zwar sowohl Haupt- als auch Nebentext des Dramas, den Ausgangspunkt für die Bühnenperformanz darstellen. Männliche Protagonisten wirken sowohl durch ihren Körper als auch im Bewusstsein über ihren Körper. Die ›männlichen‹ Körper werden somit zu Symbolträgern im inneren und äußeren Kommunikationssystem des Dramas. Dieser Hinweis wird an späterer Stelle noch genauer ausgeführt und soll im Moment nur als Orientierungshilfe der Anwendbarkeit der zuvor beschriebenen Theorie dienen. Um die Männlichkeitstheorie Connells auch in ihrer sozialen Dimension zu beschreiben, sind jedoch über die körperlichen Aspekte hinaus weitere Gesichtspunkte notwendig. Connell spricht in diesem Zusammenhang von ›Männlichkeit‹ als einem »Geschlechterprojekt« (Connell 1999, 92), um die Prozesshaftigkeit im Spannungsverhältnis zwischen biologischer Grundlage und deren sozialer Bewertung zu verdeutlichen. Damit hebt er auch hervor, dass das »Geschlecht als Struktur der sozialen Praxis« sowohl an seinen Träger als auch an dessen soziokulturelle bzw. historische Umgebungssituation gebunden sei. (Connell 1999, 92) Er nennt diesen kontinuierlichen Entwicklungsprozess ›Konfiguration‹ oder ›konfigurierende Praxis‹. Die entsprechende Konfiguration der ›Männlichkeit‹ sei anhand eines mehrstufigen Modells zu beschreiben, in dem Beziehungsstrukturen zwischen Männern und deren Umwelt im Hinblick auf drei Parameter analysiert werden sollen: Machtbeziehungen, Produktionsbeziehungen und emotionale Bindungsstruktu29
ren. Innerhalb jedes Parameters stellt sich jeweils eine zentrale Frage, die die Analysemöglichkeiten der ›konfigurierenden Praxis‹ der ›Männlichkeit‹ betrifft. Während die Machtbeziehungen die Frage nach Rechtfertigungsstrategien für Hegemonie und Unterordnung, sowohl zwischen Männern als auch in der Interaktion mit Frauen, aufwerfen, steht bei den Produktionsbeziehungen laut Connell die Frage nach einer männlichkeitsspezifischen Aufgabenzuweisung und deren Konsequenzen im Mittelpunkt. Emotionale Bindungsstrukturen greifen maskulines Begehren und Beziehungen mit maskuliner Beteiligung auf. Darüber hinaus führt Connell weitere Parameter (Klasse, Rasse, Ethnizität) als »weitere soziale Strukturen« an, mit denen sich »das soziale Geschlecht99 überschneide«. (Connell 1999, 96)100 Innerhalb der Machtbeziehungen bildet sich in Connells Schema eine Form von ›Männlichkeit‹ heraus, »die in der gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt«. (Connell 1999, 97) Connell nennt diese Form ›hegemoniale Männlichkeit‹101 und definiert sie im Anschluss genauer: Zu jeder Zeit wird eine Form von Männlichkeit im Gegensatz zu anderen kulturell herausgehoben. Hegemoniale Männlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll). (Connell 1999, 98)
Hegemonie auf der einen Seite impliziert hierarchische Strukturen und freiwillige sowie unfreiwillige Unterordnungsmechanismen auf der anderen. Unterordnung gegenüber der ›hegemonialen Männlichkeit‹ und Komplizenschaft mit ›hegemonialer Männlichkeit‹ repräsentieren laut Connell »interne Relationen der Geschlechterordnung«. (Connell 1999, 101) Dass ›hegemoniale Männlichkeit‹ nicht nur auf die zwischengeschlechtliche Ebene beschränkbar ist, wie das Zitat vermuten lassen könnte, zeigt sich anhand der Beispiele, die Connell für die Unterordnungsmechanismen anführt. Willi Walter zufolge liegt darin der wesentliche Vorteil des Ansatzes: ›hegemoniale Männlichkeit‹ erlaube nicht nur die Untersuchung des »Herrschaftsverhältnisses zwischen Männern und Frauen, sondern auch jenes zwischen Männern bzw. zwischen verschiedenen Männlichkeiten«.102 Dabei gelingt Connell die Umsetzung der von Michael Meuser an eine Soziologie der ›Männlichkeit‹ gerichteten Forderung: »sowohl die Strukturen männlicher Hegemonie zu entschlüsseln als auch die
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Bei Connell wird dieser Begriff als »die Art und Weise, in der soziale Praxis geordnet ist, wobei es den alltäglichen Lebensvollzug in Relation zu den körperlichen Prozessen des Reproduktionsbereiches umfasst« verwendet. In: Connell 1999, S. 92. Zur Erweiterung der Forschung um die Themenkomplexe Klasse, Rasse und Ethnizität vgl. R. Connell: Die Wissenschaft von der Männlichkeit. In: H. Bosse, Hans; V. King (Hg.): Männlichkeitsentwürfe, S. 26ff sowie insbesondere zum Verhältnis von ›männlichem Habitus‹, ›hegemonialer Männlichkeit‹ und Ethnizität: Meuser: Perspektiven einer Soziologie der Männlichkeit, S. 63ff. Eine interessante Deutung von Connells Schema in der modernen (stärker industrialisierten) Welt bietet Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 32f. Connell übernimmt den Begriff der Hegemonie ausdrücklich von Antonio Gramsci. Zit. nach: Christina von Braun; Inge Stephan (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Stuttgart 2006, S. 95.
Möglichkeiten einer nichthegemonialen Männlichkeit zu erkunden«.103 Die wichtigste Entsprechung zum Verhältnis von Dominanz und Unterordnung stellt Connell anhand der Beispiele ›heterosexueller‹ sowie ›homosexueller‹ Männlichkeit dar. Die ›hegemoniale Männlichkeit‹ ziehe eine skalenhafte Abstufung der ›unterdrückten Männlichkeit‹ nach sich, wobei die ›homosexuelle Männlichkeit‹ so weit vom ›SollWert‹ der ›heterosexuellen Männlichkeit‹ entfernt sei, dass sie »aus Sicht der hegemonialen Männlichkeit leicht mit Weiblichkeit« (Connell 1999, 99) gleichgesetzt werde. Böhnisch kommentiert die enge Verknüpfung geschlechtsbezogener und sozialer Aspekte in Connells Schema wie folgt: Gleichzeitig verweisen hegemoniale Männlichkeiten immer auch auf Strukturen sozialer Ungleichheit, indem Geschlechterdifferenz in soziale Ungleichheit transformiert wird. Deshalb ist es für Connell notwendig, zwischen Differenz der Geschlechter auf der Subjektebene (und den ihr innewohnenden Gestaltungsmöglichkeiten) und dieser ungleichheitsgenerierenden Differenz auf gesellschaftlich-sozialstruktureller Ebene zu unterscheiden.104
Um von ›hegemonialer Männlichkeit‹ zu profitieren, müsse man – so Connell – deren Anforderungen allerdings nicht um jeden Preis erfüllen.105 Unter Berufung auf die ›patriarchale Dividende‹ – die Ausnutzung von sozialen Vorteilen, die sich trotz Nichterfüllung der hegemonialen Norm aus der reinen Zugehörigkeit zum gleichen Geschlecht ergibt – könnten auch Männer, deren körperliche oder charakterliche Männlichkeitsmerkmale der ›hegemonialen Männlichkeit‹ nicht entsprechen, von ihr profitieren. (Vgl. Connell 1999, 100) Die Berufung auf das Geschlecht nimmt dabei eine Ersatzfunktion für unerfüllte Ideale ein und dient zum einen dazu, den Abstand zur ›hegemonialen Männlichkeit‹ zu verkürzen und sich zum anderen von weiteren, auf der Männlichkeitsskala noch tiefer klassifizierten Vertretern sowie von Vertretern des weiblichen Geschlechts zu unterscheiden. Diesen Mechanismus bezeichnet Connell als ›Komplizenschaft‹. (Connell 1999, 100) Da die ›hegemoniale Männlichkeit‹ innerhalb des Männlichkeitsparadigmas die momentan geltende Norm zur Erfüllung der Aufnahmekriterien in die Vorstellung von ›Männlichkeit‹ im engeren Sinne definiert, ergibt sich dementsprechend ein Ausschlussmechanismus anderer Formen von ›Männlichkeit‹ aus dem durch die ›hegemoniale Männlichkeit‹ besetzten Zentrum des Paradigmas. Diesen Ausschluss nennt Connell ›Marginalisierung‹; das Ergebnis könnte im Gegensatz zur ›hegemonialen Männlichkeit‹ als ›marginalisierte Männlichkeit‹ bezeichnet werden. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig, die Relativität der ›marginalisierten Männlichkeit‹ zum Zentrum des Paradigmas hervorzuheben: »Marginalisierung entsteht immer relativ zur Ermächtigung hegemonialer Männlichkeit der dominanten Gruppe«. (Connell 1999, 102) Einzelnen Männern gelinge es daher, aus der Peripherie in das Zentrum des Männlichkeitsparadigmas vorzustoßen. Mit Bezug auf die literarischen Texte der vorliegenden Untersuchung lässt sich das in besonderem Maße auf die Dienerfiguren, deren sozialer Status sie im eigentlichen Sinne marginalisieren 103 104 105
Vgl. Meuser: Perspektiven einer Soziologie der Männlichkeit, S. 49. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 34. Vgl. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000). Wien 2003, S. 153.
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würde, anwenden. In verschiedenen Situationen gelingt es ihnen jedoch, in eine hegemoniale Position einzudringen bzw. diese zumindest zeitweise erfolgreich zu imitieren. Das setzt jedoch eine Reihe von Begleiterscheinungen voraus, die sowohl die Figuren an sich als auch deren Interaktionspartner innerhalb des Textes betreffen: So kann in Don Giovanni ossia il Dissoluto Punito beispielsweise Leporello nach dem Kleidertausch mit Don Giovanni temporär selbst in die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ vorstoßen, was allerdings voraussetzt, dass er zum einen mit dem für Don Giovanni typischen Habitus des Libertins vertraut ist und diesen imitieren kann, zum anderen aber von seinem Herren zuvor den konkreten Auftrag zur Maskierung erhalten hat. Leporello wird somit in die hegemoniale Position »hinein gezwungen«, und er erfüllt sie zunächst ausgesprochen überzeugend, was nicht unbeträchtlich zur Komik des Stücks beiträgt. Komplexer gestaltet sich die Situation, in der marginalisierte Figuren auf eigenen Entschluss hin in das Zentrum der ›hegemonialen Männlichkeit‹ vordringen. Spiegelberg versucht in Die Räuber IV/5 zum wiederholten Male, die Hierarchieverhältnisse innerhalb des Männerbundes »Räuberbande« in Frage zu stellen. Die ›hegemoniale Männlichkeit‹ Karl Moors als Hauptmann innerhalb dieses Männerbundes hat Auswirkungen auf die Planungen der Räuberbande: Emotional zerrissen, tragen auch seine Entscheidungen und Befehle Züge von Melancholie und Reue und lassen sich mit dem Postulat einer Führerfigur in einer militarisierten Gruppe der Gesetzlosen nicht verbinden. Auf seinen Hegemonieanspruch reagieren die anderen Männer sehr unterschiedlich: Komplizenschaft und Unterordnung finden sich innerhalb der heterogenen Räuberbande ebenso wieder wie Spiegelbergs Versuch des Vordringens in die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹, die jedoch im Widerspruch zum Hegemonieanspruch Karls steht und durch die Komplizenschaft Schweizers beendet wird. Der zeitlich begrenzte Vorstoß einzelner Vertreter von ›marginalisierter Männlichkeit‹ in eine hegemoniale Position ist jedoch im Vergleich zur ›hegemonialen Männlichkeit‹ nicht ohne Weiteres auf andere marginalisierte Vertreter übertragbar; oder, anders formuliert: Es besteht keine außerordentliche Möglichkeit oder gar ein Anspruch auf die ›patriarchale Dividende‹. Nach dem Vorstoß eines Mannes ins Zentrum des Männlichkeitsparadigmas profitieren davon nicht zwangsläufig andere ›marginalisierte Männlichkeiten‹. Erneut auf den literarischen Kontext bezogen, ließe sich daran zeigen, dass der Erfolg einzelner, in hegemoniale Positionen vorgedrungener Dienerfiguren nicht automatisch auf die Gesamtheit der Dienerfiguren ausstrahlt. Allerdings besteht laut Connell die Möglichkeit zur Herausbildung hierarchischer Strukturen innerhalb der ›marginalisierten Männlichkeiten‹: Die zuvor bereits zitierte Räuberbande ist ein solches Beispiel, indem sich unter den Marginalisierten (als Räuberbande an sich) umgehend neue Hegemonie- und Unterordnungskonzepte herausbilden, wobei gleichzeitig die Gesamt-Marginalisierung gegenüber den Mustern der zivilisierten Welt weiter besteht. Connell zeichnet in seiner Theorie ein krisenanfälliges Bild der ›hegemonialen Männlichkeit‹. Dies zeige sich insbesondere innerhalb der Machtbeziehungen, berührt aber darüber hinaus auch die Produktions- sowie die emotionalen Beziehungen, in denen Männer agieren. (Connell 1999, 106f.) Erneut soll zur Verdeutlichung der These ein literarisches Beispiel 32
aus dem Korpus der Dramentexte herangezogen werden: Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück. Major von Tellheims ›Männlichkeit‹ demonstriert in mehrfacher Hinsicht die Krisenanfälligkeit des ursprünglich als dominant geltenden Männlichkeitsentwurfes eines Offiziers. Connell äußert sich zur Auswirkungen von Krisen auf die Machtbeziehungen wie folgt: Die Krisenanfälligkeit der Machtbeziehungen gefährdet hegemoniale Männlichkeit unmittelbar. Am deutlichsten wird diese Tendenz im Leben von Männern, die mit Feministinnen in Kontexten leben und arbeiten, wo die Geschlechterordnung ihre Legitimität vollends verloren hat. (Connell 1999, 112)
Tellheim dient dafür als literarisches Exempel. Sein ehemaliger Beruf als Soldat klassifiziert ihn ursprünglich als Repräsentant ›hegemonialer Männlichkeit‹. Nun sind es aber eben diese Position des Soldaten und die damit verbundenen Begleitumstände (Verletzung im Krieg, Ende des Krieges, Verschuldung und somit Infragestellen der Legitimation des Offiziers), durch die seine ›konfigurierende Praxis‹ des Männlichkeitsparadigmas einen entscheidenden Wandel erfährt. Ihm steht mit Minna eine Partnerin gegenüber, die ihm im Hinblick auf verschiedene Grundlagen der Machtausübung überlegen ist: Sie ist vermögend, er nicht mehr. Sie ist körperlich robust, er dagegen nicht mehr. Sie scheint ihm darüber hinaus auch in strategischen Belangen überlegen, sodass er ihr die hegemoniale Position in den entscheidenden Bereichen der Ausübung patriarchalischer Macht – Verdienst, Körperkraft sowie Entscheidungsfindung – abtreten musste. Die Szene II/9 ist dafür symptomatisch und soll im Analyseteil näher besprochen werden. Tellheims krisenhafte ›hegemoniale Männlichkeit‹ betrifft allerdings auch die Produktionsbeziehungen. Connell sieht Krisen in diesem Bereich besonders dadurch motiviert, dass »das Verständnis von Männlichkeit in Gefahr gerate, wenn es für den Mann unmöglich wird, seine Familie zu ernähren«. (Connell 1999, 112) Tellheim hat Schulden; er ist von Minna abhängig und hat somit keine Hoffnung, die ihm zugedachte Rolle des Familienernährers auszufüllen. Die körperliche Behinderung blockiert schließlich auch seine emotionale Beziehungsstruktur. Die Interrelation zwischen physisch-biologischer, emotionaler und sozialer Ebene des Männlichkeitsentwurfes wird an dieser Stelle deutlich und eröffnet weitreichende Perspektiven literaturwissenschaftlicher Interpretationen von ›Männlichkeit‹, die sich auf soziologische Forschungsergebnisse stützen. Die zitierten Texte stellen nur eine Auswahl der literarischen Anknüpfungspunkte, die Connells Theorie bietet, dar. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, Connells soziologischen Ansatz vom Vorwurf einer enthistorisierten Anwendung auf verschiedene literarische Texte zu befreien, die zwar einen groben gemeinsamen Entstehungszeitraum teilen (die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts); auf der Handlungsebene jedoch durchaus sehr unterschiedliche historische Zeiträume thematisieren. Connell selber verankert die Grundlagen seines Konzeptes historisch in der »Entstehung der modernen Geschlechterordnung« (Connell 1999, 206), deren Beginn er im Zeitraum von 1450 bis 1650 ausmacht. Der Kampf um ›hegemoniale Männlichkeit‹ stütze sich demnach vor allem auf »kulturelle Veränderungen« in der nordatlantischen Welt, »die in den europäischen Städten ein neues Verständnis von Sexualität und Persönlichkeit ent33
stehen ließen.« (Connell 1999, 206) Als Begründung führt Connell eine zunehmende Tendenz zum Individualismus und »eines autonomen Selbst« an: Mit den Definitionen von »Männlichkeit« (als von Vernunft geprägte Charakterstruktur) und »westlicher Zivilisation« (die ihre Vernunft in die rückständigen Teile der Welt hinausträgt) wurde eine kulturelle Verbindung geschaffen zwischen der Legitimation des Patriarchats und der Legitimation des Imperialismus. (Connell 1999, 206f.)
Jenseits der politischen Interpretation Connells ist für das Interesse der vorliegenden Arbeit vor allem die zunehmende Verbindung vom Streben nach einem Ideal der Männlichkeit und Machtausübung bedeutsam. Die Grundlagen des Dranges, die Anforderungen an ›hegemoniale Männlichkeit‹ zu erfüllen, verankert Connell folglich bereits in der Frühen Neuzeit – eine Tatsache, die für einen Text wie Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand interessante Ansatzpunkte verspricht. Die Radikalisierung des Konzeptes nimmt Connell allerdings für das 18. Jahrhundert an, wobei er die geschichtliche Dimension ›hegemonialer Männlichkeit‹ im entsprechenden Zeitraum beschreibt wie folgt beschreibt: Im Zeitalter des Absolutismus erfolgte eine nie dagewesene Institutionalisierung männlicher Macht. Die in den religiösen und dynastischen Kriegen entstandenen Berufsarmeen spielten neben den imperialen Eroberungen eine Schlüsselrolle im modernen Staat. Mutproben in Form kriegerischer Heldentaten machten [bereits, M.B.] im Mittelalter einen Ritter aus […]. Zunehmend wurde dieser Heldenmut auch zu einem Beweis von Männlichkeit und Vaterlandsliebe. (Connell 1999, 209)
Analog zu den Überlegungen Karin Hausens oder Claudia Honeggers geht auch Connell davon aus, dass dem 18. Jahrhundert eine Schlüsselrolle in der Herausbildung der modernen Geschlechterordnung zukommt: Seit dem 18. Jahrhundert kann man in Europa und Nordamerika […] von einer Geschlechterordnung sprechen, in der Männlichkeit im heutigen Sinne – definiert als Gegensatz von Weiblichkeit und in Wirtschaft und Staat institutionalisiert – hergestellt und aufrechterhalten wird. Wir können für die damalige Zeit sogar einen hegemonialen Typus von Männlichkeit definieren und sein Verhältnis zu untergeordneten und marginalen Formen beschreiben. (Connell 1999, 209f.)
Den ›hegemoniale Männlichkeit‹ im 18. Jahrhundert verkörpernden Typus sieht Connell in der »nordatlantischen Welt« durch eine Gruppe von Männern verwirklicht, die sich aus sozialer Sicht zwischen dem niederen Adel und dem über Kapital verfügenden, Land besitzenden Bürgertum bewegt: der ›Gentry‹.106 Trotz des aus dem englischen Kontext stammenden Begriffs lassen sich auch für den deutsch- und italienischsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts in den literarischen Texten entsprechende Vertreter finden, die die Voraussetzungen für ›hegemoniale Männlichkeit‹ im Sinne der ›Gentry‹ erfüllen: Landbesitz und Kapital, Knüpfung und Herleitung des Besitzanspruches an ein System von Verwandtschaftsbeziehungen, Engagement 106
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Ob es eine der ›Gentry‹ exakt entsprechende Gruppe auch auf deutschem bzw. italienischem Sprachgebiet gegeben hat, gilt historisch als umstritten. Unbestreitbar ist jedoch der gesellschaftliche Einfluss von vermögenden Grundbesitzern in den entsprechenden geographischen Räumen.
in Staatswesen, Verwaltung und Militär, Neigung zur Gewalttätigkeit gegenüber Untergebenen und Frauen mit niederem sozialen Status, Libertinage und Autorität. (Connell 1999, 210) Zweifelsohne spiegelt sich nicht in jedem einzelnen Protagonisten der Dramentexte die Gesamtheit der von Connell angeführten Merkmale wider. Die Textanalyse wird jedoch zeigen, wie diverse Formen ›hegemonialer Männlichkeit‹ im ausgehenden 18. Jahrhundert in einigen Texten bereits in Frage gestellt und teilweise sogar parodiert werden können, während sie in anderen Texten noch Anspruch auf Gültigkeit erheben. Connells Konzept von ›hegemonialer Männlichkeit‹ ist, wie zuvor beschrieben, ein dynamisches Konzept. Aus diesem Grund bestehen auch die verschiedenen Erscheinungsformen ›hegemonialer Männlichkeit‹, die er für das 18. Jahrhundert annimmt, nur in einem jeweils begrenzten Zeitraum. Connell geht davon aus, dass sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits vor allem durch Frauen scharf kritisiert und öffentlich in Frage gestellt wurden. Erneut ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, dass die zu analysierenden Texte eine Schwellensituation im Umbruchprozess verschiedener Schemata zu ›hegemonialer Männlichkeit‹ darstellen. Eine interessante Kombinationsmöglichkeit der Ansätze zur ›hegemonialen Männlichkeit‹ (Connell) und zum ›geschlechtlichen Habitus‹ des Mannes (Bourdieu) bietet Michael Meuser107 an. Er verdeutlicht den Zusammenhang der beiden Aspekte anhand des Beispiels der »männlichen Ritterlichkeit«: Die Attitüde des Kavaliers impliziert Distinktion sowohl im Geschlechterverhältnis als auch im Klassenverhältnis. Mit dem Zuvorkommensritual wird ein Beziehungsmuster enaktiert, in dem allein dem Mann der Part des Zuvorkommenden zusteht. Indem auch die Frau das Ritual goutiert, bestätigt sie die rituellen Vorrechte des Mannes. […] Der bürgerliche Mann, der den Kavalier (nicht nur) spielt, steht für eine weitgehend ungebrochene Tradition männlicher Hegemonie, die in ein Geschlechterarrangement eingelassen ist, das sowohl in der Privatsphäre der Ehe als auch im beruflichen Bereich in hohem Maße der in der bürgerlichen Gesellschaft konstituierten Geschlechterordnung entspricht.108
Nach Böhnisch liegt der entscheidende Vorteil der Kombination von ›hegemonialer Männlichkeit‹ und ›männlichem Habitus‹, wie sie bei Meuser beschrieben wird, darin, dass dadurch beschrieben werde, wie »Männlichkeit als gesellschaftliches Konstrukt sich über den Prozess der Habitualisierung in die männliche Persönlichkeitsentwicklung und Lebensgestaltung vermittelt«.109 Meusers Überlegungen weiterführend, ergibt sich folgende Problemstellung, die sich in Minna von Barnhelm und teilweise auch in Le nozze di Figaro – in unterschiedlicher Form allerdings – zeigt: Was geschieht in einem Fall, in dem die Frau die Protektion des Mannes nicht annimmt? Sowohl Minna als auch Susanna akzeptieren männliche Zuwendung aus einer Reihe von Gründen nicht. Dabei ist das Ergebnis entscheidend: Habitus und Hegemonieanspruch des Majors von Tellheim sowie des Grafen von Almaviva werden abgelehnt und damit in Frage gestellt. Die von Meuser geschilderte Situation bezieht sich auf ein Zusammentreffen von Mann und Frau. Beim Aufeinandertreffen verschiedener Männer – wie beispielsweise in Schillers Räuberbande – ergeben sich 107 108 109
Vgl. Meuser: Perspektiven einer Soziologie der Männlichkeit, S. 57ff. Meuser: Perspektiven einer Soziologie der Männlichkeit, S. 61. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 36.
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Fragen nach der Bestimmung einer hegemonialen Position innerhalb der Gruppe zwangsläufig. Die allgemeine Gesetzlosigkeit des Räuberdaseins und die wilde Form des Zusammenlebens in den Wäldern bedient eine Nuance des männlichen Geschlechtshabitus, die Rangordnung, d. h. den Anspruch auf Hegemonie, mit Hilfe physischer Gewalt auszufechten. Auch dabei erweist sich Meusers These als durchaus anwendungsbereit auf literarische Texte. Anhand der historischen und inhaltlichthematischen Entwicklung im Zeitraum von ca. 1970 an sind in diesem Kapitel wichtige Etappen auf dem Weg zur Herausbildung der modernen Männerforschung nachgezeichnet worden. Dabei ›Männlichkeit‹ kann als eine relationale Kategorie beschrieben werden, die sich zum einen gegenüber ›Weiblichkeit‹, zum anderen aber auch gegenüber weiteren konkurrierenden Formen von ›Männlichkeit‹ abgrenzt. In dieser Relationalität kann ›Männlichkeit‹ analysiert werden. Dazu wird im folgenden Abschnitt die Brücke zum historischen Teil der Untersuchung geschlagen; die Frage richtet sich von der aktuellen zur historischen Perspektive auf die Männerforschung im 18. Jahrhundert.
36
2.
Historischer Teil – ›Männlichkeit‹ im 18. Jahrhundert: Begriffsgeschichte und Geschlechterdebatte
2.1
Semantik und Begriffsgeschichte im deutschsprachigen Raum
Vorüberlegung I: Systemtheorie und ›negative Andrologie‹ Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie der Übergang zum 19. Jahrhundert sind durch eine Vielzahl von historischen, kulturellen und – allgemeiner formuliert – gesellschaftlichen Transformationsprozessen gekennzeichnet. Diese Tatsache ist zweifelsfrei keine neue Erkenntnis, aber sie bildet den Ausgangspunkt für eine Überlegung zu dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Differenzierung, Semantik und Männerforschung. Dieser Zusammenhang wird im Anschluss näher untersucht. Einen systemtheoretischen Ansatz zur Analyse von ›Männlichkeit‹, der sich intensiv mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auseinandersetzt, hat Christoph Kucklick 2008 vorgelegt. Seine Grundthese fasst er wie folgt zusammen: Denn […] das Unbehagen an Männlichkeit ist keineswegs eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts, sondern seit Anbeginn in das Gewebe der Moderne geätzt. Nicht Frauenbewegung und Feminismus haben die grundsätzliche uns systematische Kritik an Männlichkeit in die Welt gebracht, sondern diese entsteht weit früher, am Beginn der Moderne, in den Jahrzehnten um 1800. […] Um 1750 noch sind kaum Spuren einer maskulinen Defektologie zu entdecken, um 1800 ist sie bereits weitgehend Konsens, die epistemische Revolution der »Sattelzeit« umfasst auch das Männliche und schreibt es grundlegend um. […] Der neue Diskurs charakterisiert Männer ihrer »Natur« nach als gewalttätig, egoistisch, asozial, unmoralisch, hypersexuell, triebhaft, gefühlskalt, kommunikationsunfähig und verantwortungslos. (Kucklick 11f.)
Interessant ist, dass sich Kucklick in seiner Studie nicht drauf beschränkt, ›Männlichkeit‹ um 1800 die zitierten Merkmale zu attestieren. Er argumentiert gemäß dem systemtheoretischen Ansatz Luhmanns, nach dem Semantiken »nicht beliebig« (Kucklick 27) variierten. Vielmehr wandle sich die Semantik des Männlichen im späten 18. Jahrhundert »in Abhängigkeit von den grundlegenden Strukturen einer Gesellschaft, genauer: in Abhängigkeit von der Differenzierungsform«. (Kucklick 27) Als Ergebnis gelingt es Kucklick, eine »negative Andrologie« (Kucklick 26) historisch und epistemologisch zu verorten, die seiner Argumentation zufolge spezifische Zuschreibungsformen des Männlichen bis in die Gegenwart präge. Die kontroverse Debatte, die anhand verschiedener Positionen des Gender bzw. Men’s Studies im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit nachvollzogen wurde, kann aus diesem Grunde bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Die wichtige Frage besteht allerdings darin, wie Kucklick die markante Veränderung, die die ›Männlichkeit‹ um 1800 erfasst, beschreibt. Zunächst in Abgrenzung zur Prämoderne und so37
mit zur stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft, die sich nur als »männliche« selbst repräsentieren konnte, wobei Geschlechterhierarchie und Gesellschaftshierarchie noch weitestgehend deckungsgleich waren: Die ständische Differenzierungsform setzt eine sichtbare Repräsentation der Ordnung voraus, eine konkurrenzfreie Position für die richtige Beschreibung der Welt und der Gesellschaft, nämlich die Spitze der Hierarchie. Dafür kam nur adlige Männlichkeit in Betracht. Sie galt als Perfektionsideal. […] Die Praxis des Mannseins konnte strenger Kritik ausgesetzt werden, die innere Stimmigkeit des Konzeptes einer Männlichkeit an der Spitze der Hierarchie kaum. […] Frauen mögen temporär die Spitze besetzt haben (man denke an die englischen Königinnen), aber dann nur, indem sie handelten wie Männer. Davon setzte sich die von der funktionalen Differenzierung durchwirkte Debatte des 18. Jahrhunderts nachdrücklich ab. (Kucklick 59f.)
Die Frage nach der Hierarchie gestalte sich allerdings in der funktionalen Differenzierung entschieden komplizierter, da sie durch »Nichthierarchie« und durch »die Nebenordnung von Funktionssystemen, von denen keines gesellschaftsweite Führung beanspruchen kann«, (Kucklick 212) bestimmt sei. Die Berufung auf die Hierarchie der Geschlechter, die ehemals zwangsläufig mit der gesellschaftlichen Hierarchie einhergegangen war, gelinge im 18. Jahrhundert nicht mehr problemlos. Kucklick resümiert pointiert: »So ragt das hierarchisch organisierte Geschlecht wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten in die heterarchische Ordnung der Moderne.« (Kucklick 212) Mit dem sozialen Wandel geht jedoch auch ein semantischer einher: Ab dem 16. Jahrhundert attestiert Kucklick sowohl dem Menschenbild als auch der damit einhergehenden Semantik des Männlichen eine grundlegende Wandlung. Diese lasse sich anhand einer zunehmenden »Verselbstung« der Begriffe dokumentieren: »Selbstliebe, Selbsterhaltung, Selbsterkenntnis, Eigeninteresse, Selbsttäuschung markierten den Prozess des Reflexivwerdens des menschlichen Selbstverständnisses.« (Kucklick 65) Die dadurch beschriebene Tendenz zur Eigenfixiertheit erfasse insbesondere die ›Männlichkeit‹ und radikalisiere sich im Laufe des 18. Jahrhunderts auf der Grundlage eines zunehmenden Interesses, die sozialen Unterschiede zwischen den Geschlechtern mit biologischen Argumenten zu unterfüttern, wie im begriffsgeschichtlichen Abschnitt noch gezeigt werden wird. Das gesteigerte Forschungsinteresse an der ›Weiblichkeit‹ führt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu ersten wissenschaftlichen Publikationen, denen mit einigem Abstand schließlich Untersuchungen zur ›Männlichkeit‹ folgen. Dabei fällt zunächst auf, dass ein Großteil des Textumfangs auf eine zuweilen sehr detaillierte Analyse des ›Weiblichen‹ ausfällt, während der dem ›Männlichen‹ gewidmete Teil sich in vielen Fällen auf die Äußerung, »dass es beim Manne nicht so sei« beschränkt. Insofern ist es symptomatisch, dass der von Carl Friedrich Pockels großzügig in zwei Bänden angelegten Studie: Der Mann. Ein anthropologisches Charaktergemälde seines Geschlechts (1805–06) eine noch großzügigere, in fünf Bänden angelegte Schrift mit dem Titel: Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts, ein Sittengemälde des Menschen, des Zeitalters und des geselligen Lebens (1797–1802) vorausgeht. Allerdings befindet Pockels sich damit bereits in einem fortgeschrittenen Sta38
dium der Diskussion um Geschlechtereigenschaften und – angesichts des Erscheinungsdatums – jenseits der in der vorliegenden Arbeit zu analysierenden Texte. Abgesehen von der forschungsgeschichtlichen Situation ändere sich laut Kucklick jedoch die Struktur der ›Männlichkeit‹ um 1800 selbst. Den Grund sieht er in der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft: Der Mann erschien als Geschlecht, das bis ins Innerste von den Modernisierungs- und Differenzierungsprozessen der Gesellschaft geprägt war. Bis ins Innerste bedeutet: Nicht nur sein Denken und Handeln, sondern auch sein Gefühlshaushalt und seine Identität waren von den Umbruchsprozessen der »arbeitsteiligen« Gesellschaft bestimmt. Da diese Prozesse hochgradig ambivalent bewertet wurden, überrascht es nicht, dass keineswegs ein überwiegend positives und unproblematisches Männlichkeitsbild entstand. (Kucklick 137)
In Auseinandersetzung mit den Thesen Luhmanns zum Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Differenzierung und Individualität arbeitet Kucklick das Dilemma der ›Männlichkeit‹ um 1800 deutlich heraus: Er beschreibt die funktional differenzierte Gesellschaft als gleichermaßen »autonomievernichtend wie autonomiefordernd«: »Die Existenz als sozial fragmentiertes Individuum, genauer: als Dividuum, wirkt wie ein Katalysator für den Anspruch des Einzelnen an sich selbst, Individuum sein zu wollen.« (Kucklick 173) Die zuvor herausgearbeitete »Verselbstung« wird aus diesem Grund nicht als »ein Defekt individuellen Verhaltens oder Urteilens«, sondern als ein Ergebnis »sozialer Entwicklungen« transparent. (Kucklick 142) Davon zeige sich vor allem die ›Männlichkeit‹ affiziiert: 1. Der soziologische Blick hat sich bereits im späten 18. Jahrthundert etabliert. 2. Er wurde vor allem am Mann, an Männlichkeit exerziert, was zu einer hochgradig instabilen Subjektkonstitution des Mannes beitrug. […] Das erste »autonome« Subjekt, das dekonstruiert wurde, war der Mann. (Kucklick 145)
Das wechselseitige Problemverhältnis zwischen ›Männlichkeit‹ und dem Modernisierungsprozess der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts führt in Kucklicks Argumentation dazu, dass er für die Zeit um 1800 nur noch eine bereits »fragmentierte und dekomponierte« Form der Männlichkeit annimmt. (Kucklick 150) Das Bild einer »negativen Andrologie« resultiere aus den Konflikten, die sich im Zusammenhang mit dem Drang nach Individualität und der gleichzeitigen Erkenntnis der Unmöglichkeit einer individuellen Erfüllung in der modernen Gesellschaft ergeben. Laut Kucklick betreffen die damit verbundenen Probleme prinzipiell »alle Männer, aber einige mehr als andere.« (Kucklick 198) Er erläutert diese These wie folgt: Bestimmte Gruppen von Männern wurden um 1800 als besonders kritikwürdig erachtet, und zwar nicht, weil sie besonders unmännlich waren, sondern im Gegenteil: weil sie einige oder alle Charakteristika von Männlichkeit besonders stark zum Ausdruck brachten. Wer die Literatur sichtet, dem fällt die bunte Truppe rasch auf: Zu ihr gehören der Soldat, der Geistliche, der Hagestolz, der Onanist, der Philosoph und der Verführer. (Kucklick 198)
In diesem Zusammenhang fallen insbesondere zwei Aspekte auf: zunächst der dezidierte Verweis auf »die Literatur«, der sowohl fiktionale als auch nicht fiktionale Texte einschließt, sowie darüber hinaus die Benennung der einzelnen Gruppen von »problemhafter Männlichkeit«. Gerade im Hinblick auf die in der vorliegenden Arbeit zu analysierenden Primärtexte ergibt sich eine Korrelation zwischen den durch 39
Kucklick herausgearbeiteten Gruppen einer besonders ausgeprägten ›negativen Andrologie‹ und dem Schwerpunkt der Problematisierung männlicher Figuren auf der Ebene der literarischen Textbeispiele des späten 18. Jahrhunderts, was im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer gezeigt wird. Dabei geraten vor allem die Strategien, mittels derer die männlichen Figuren der Texte versuchen, sich aus diversen Krisensituationen herauszumanövrieren, in das Zentrum der Analyse. Das Bemühen, einer ›negativen‹ oder ›defizienten‹ Andrologie entgegenzuwirken, lässt sich aus diesem Grund nicht nur systemtheoretisch erklären; es wird in den literarischen Texten gleichsam ästhetisch veranschaulicht und in den Strategien der Fiktionalisierung instrumentalisiert: Die Negative Andrologie verlangt nach Korrekturen […] Korrekturen an den Männern selbst: Werden sie als egoistisch, gewalttätig, triebhaft wahrgenommen, folgt daraus, dass sie nicht so bleiben dürfen. Sie müssen andere Männer werden, bessere, verantwortungsvollere. Das führt zum Projekt der Regulation des Maskulinen, dem sich die Moderne wie keine Epoche zuvor verschrieben hat. […] Nur wenn die Männer um 1800 tatsächlich als (auch) defizient und korrekturbedürftig gedeutet wurden, lassen sich die Texte aus der Zeit neu lesen; im üblichen Deutungsschema von männlicher Überlegenheit […] stellen sich jene Fragen überhaupt nicht. (Kucklick 239)
Besonders im zweiten Teil des Zitats stellt Kucklick implizit die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit in Aussicht: literarische Texte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu zu lesen, in denen das Spannungsfeld zwischen Norm und Abweichung, Disziplin und Ausschweifung sowie Erfolg und Scheitern männlicher Figuren reflektiert wird. Vorüberlegung II: begriffsgeschichtliche Perspektiven im 18. Jahrhundert Die historische Beschreibung einer ›Männergeschichte‹ verlangt nach Thomas Kühne, drei Charakteristika besonders zu beachten: die Historizität, Komplexität und Fragilität der Männlichkeitsstrukturen.1 Mit Bezug auf die Historizität stellt er dar, dass Männlichkeitsstrukturen jeweils »historischer Natur« und somit »historisch zu verorten« und zu erklären seien.2 Für die vorliegende Arbeit, die sich zum Ziel setzt, ›Männlichkeitsentwürfe‹ in literarischen Texten des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu analysieren, knüpft sich daher die Forderung nach einer historischen Rekonstruktion der Wissensbestände, die im 18. Jahrhundert zum Thema ›Männlichkeit‹ als existent vorausgesetzt werden können, an zwei methodologische Vorüberlegungen: Zunächst soll auf der Basis historischer Nachschlagewerke und Sprachlexika dokumentiert werden, welche Wissensbasis zur ›Männlichkeit‹ in der Entstehungszeit der Dramentexte bereits abrufbar ist. Dieser begriffsgeschichtliche Teil der Analyse wird über den Zeitraum der zu untersuchenden Dramentexte hinaus auch versuchen, den entscheidenden Umbruch der Beschreibungsgrundlage der ›Männlichkeit‹ im Übergang zum 19. Jahrhundert aufzuzeigen, um die Schwellenstellung der lite1 2
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Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte, S. 22. Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte, S. 22.
rarischen Texte im Anschluss stärker verdeutlichen zu können. Zum anderen soll die theoretische Debatte um ›Männlichkeit‹ bis ca. 1790 (dem Erscheinungsjahr des letzten zu analysierenden Dramentextes, Mozart/Da Pontes Così fan tutte) anhand ausgewählter theoretischer Texte, die sich aus männlicher Perspektive in den Kontext der ›Querelle des femmes‹ einschreiben, nachvollzogen werden. Mit Reinhart Koselleck argumentiert, bringt die Zeit um 1770 dem deutschen Sprachraum eine »Fülle neuer Bedeutungen alter Worte und Neuprägungen, die mit dem Sprachhaushalt den gesamten politischen und sozialen Erfahrungsraum verändert und neue Erwartungshorizonte gesetzt hat«.3 Kosellecks begriffsgeschichtliche Argumentation wird 1976 in der genderspezifischen Soziologie durch Karin Hausens These, nach der sich die Geschlechtertypologisierungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidend herauszubilden beginnen, gestützt.4 Ludmilla J. Jordanova illustriert dieses Argument insbesondere durch den Zusammenhang von Geschlechtertypologisierungen, Körperbewusstsein und Erwerbsleben folgendermaßen: The emphasis on occupation and lifestyle as determinants of health, which led to a radical boundary being drawn between the sexes, had as its explicit theoretical basis a physiology which recognized few basic boundaries. It conflated moral and physical, mind and body; it created a language capable of containing biological, psychological and social considerations.5
Der Begriff des ›Männlichen‹ ist in seiner semantischen Neubewertung auf der einen Seite eng an den des ›Geschlechts‹, auf der anderen Seite an den des ›Weiblichen‹ gebunden. Tatsächlich wird das Wesen, die Beschaffenheit und die Bestimmung dessen, was einen ›Mann‹ kennzeichne, innerhalb der »Querelle des femmes« im Wesentlichen als Negation des zuvor bereits erforschten weiblichen Wesens bestimmt. Robert W. Connell argumentiert diesbezüglich wie folgt: Aber das Konzept weist auch eine innere Relationalität auf. Ohne den Kontrastbegriff ›Weiblichkeit‹ existiert ›Männlichkeit‹ nicht. Eine Kultur, die Frauen und Männer nicht als Träger und Trägerinnen polarisierter Charaktereigenschaften betrachtet, zumindest prinzipiell, hat kein Konzept von Männlichkeit im Sinne der modernen westlichen Kultur. Die Geschichtsforschung nimmt an, daß dies in der europäischen Kultur bis zum 18. Jahrhundert der Fall war. (Connell 1999, 88)
Die Diskussion über die Geschlechtereigenschaften geht mit dem Bewusstsein der Ausbildung einer Terminologie der Geschlechter einher. Eigenschaften können den Geschlechtern nur dann im Zuge der sich neu formierenden Wissenschaften vom Menschen zugesprochen werden, wenn sie auf ein zumindest grob umrissenes Begriffsinventar zurückgreifen. Aus diesem Grund muss der Beginn einer begriffs- und sozialgeschichtlichen Analyse der Bedeutungen von ›Geschlecht‹ und ›Mann‹ im 3
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Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1989, S. 112. Hausen: Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 369f. Ludmilla J. Jordanova: Natural facts: a historical perspective on science and sexuality. In: Carol P. MacCormack, Marilyn Strathern (Hg.): Nature, Culture and Gender. Cambridge 1987, S. 47.
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18. Jahrhundert weiter ausholen. Den Beginn bildet der deutsche Sprachraum: Der Semantik von »Mann und Weib« innerhalb einer geschichtlichen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und ästhetischen Zeit des Umbruchs gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in der Begriffe nicht mehr ausschließlich dazu dienen, »Vorgegebenheiten so oder so zu erfassen, sondern in die Zukunft auszugreifen«,6 schreibt Ute Frevert eine entscheidende Bedeutung zu, die bis ins 20. Jahrhundert andauere.7 Sie stellt fest, dass wissenschaftstheoretische und moralphilosophische Grundlagen der Verschärfung der Geschlechterrollendebatte im 19. Jahrhundert ebenso auf den zuvor umrissenen Umbruchsprozess der Gesellschaft zurückgreifen würden wie emanzipatorische, dekonstruktivistische Ansätze aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frevert analysiert – ausgehend von der Theorie Kosellecks – den semantischen Wandel der Begriffe ›Geschlecht‹, ›Frau‹ und ›Mann‹. Dabei erscheint es als hilfreich, Kosellecks Theorieansatz zur begriffs- und sozialgeschichtlichen Bestimmung vergangener Zeiten in historischen Umbruchsituationen einer kurzen Anwendung auf die hierbei thematisierten Begriffe – ›Geschlecht‹ und ›Mann‹ – zu unterziehen. In Kosellecks Definition ist Begriffsgeschichte gleichzeitig ein »integraler Teil der Sozialgeschichte«,8 wobei er unter ›Begriffen‹ die »Konzentrate vieler Bedeutungsgehalte«,9 die an Worte und die beiden notwendigen Anforderungen der Verallgemeinerbarkeit und Polyvalenz gebunden sind, versteht: Ein Begriff bündelt die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung und eine Summe von theoretischen und praktischen Sachbezügen in einem Zusammenhang, der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich erfahrbar wird.10
Koselleck betont wiederholt, dass Begriffe und soziokultureller Wandel in einem komplexen Wechselverhältnis stünden, wobei der Französischen Revolution die Funktion eines Katalysators zukomme, der den Kampf um wichtige Begriffe zunehmend verschärft habe.11 Koselleck schlägt eine Dreiteilung der Begriffe aus dem politisch-sozialen Bereich vor und unterscheidet dabei zwischen den durch »Dauer« gekennzeichneten, traditionellen Begriffen, den durch »Wandel« gekennzeichneten Begriffen mit polysemer Tendenz und den neugeprägten Begriffen.12 In der Analyse der Begriffe ›Geschlecht‹ und ›Mann‹ wird deutlich werden, dass sich für sie eine Überlagerung aus erster und zweiter Begriffsart nach Koselleck ergibt, indem Bedeutungsinhalte, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits existieren, teilweise aufrechterhalten und teilweise einem Wandel unterzogen werden. Dabei entstehen verschiedene Lesarten von ›Geschlecht‹ und ›Mann‹, die in einigen extremen Fällen nur noch diachron erschließbar sind. In diesem Fall, der – linguistisch gesehen – die Grenze zwischen Polysemie und Homonymie beschreibt, entspräche 6 7
8 9 10 11 12
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Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 113. Ute Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995, S. 9. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 114. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 120. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 120. Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 113. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 117.
einem Formativ eine Vielzahl von unterschiedlichen Lesarten; jedoch weist Koselleck darüber hinaus auch auf den entgegengesetzten Zustand hin. Dabei würden verschiedene Formative teilweise für identische Sachverhalte verwendet,13 wobei es sich – erneut aus der Perspektive der Linguistik betrachtet – um Synonymie handelt. Davon ausgehend, knüpft sich aus Kosellecks Sicht in beiden Fällen die Forderung an eine begriffsgeschichtliche Beschreibung, um nicht nur den Ausdruck an sich in seinen verschiedenen Bedeutungsinhalten, sondern auch wortgeschichtlich parallel verwendete Ausdrücke (im Fall von ›Geschlecht‹: ›Stand‹, ›Mensch‹, ›Art‹ usw.) sowie wissenschaftlich relevante Basisinformationen aus anderen Disziplinen (im Fall von ›Mann‹ z. B. aus der zeitgenössischen Anthropologie, Medizin, Physiognomie und Pathologie usw.) zu rekonstruieren.14 Für die Analyse politisch-sozialer Begriffe plädiert Koselleck für einen sich gegenseitig ergänzenden Wechsel von diachroner und synchroner Begriffsbeschreibung: Es gehört zum Vorzug der Begriffsgeschichte, im Wechsel synchronischer und diachronischer Analysen die Dauer vergangener Erfahrungen und die Tragfähigkeit vergangener Theorien aufschlüsseln zu helfen. Im Wechsel der Perspektive können Verwerfungen sichtbar werden, die zwischen alten Wortbedeutungen, die auf einen entschwindenden Sachverhalt zielen, und neuen Gehalten desselben Wortes auftauchen. Dann können Bedeutungsüberhänge beachtet werden, denen keine Wirklichkeit mehr entspricht, oder Wirklichkeiten scheinen durch einen Begriff hindurch, deren Bedeutung unbewußt bleibt. Gerade der diachronische Rückblick kann Schichten freilegen, die im spontanen Sprachgebrauch verdeckt sind.15
Der Wechsel in der Beschreibung erweise sich dabei als umso notwendiger, als Begriffe allgemein die Tendenz aufwiesen, ihr Bedeutungsspektrum auszudehnen, selbst wenn sie ursprünglich nicht dafür geprägt worden seien.16 Eine wichtige Frage lautet in diesem Zusammenhang, warum und wie das Phänomen des ›männlichen‹ (und im Übrigen auch das des ›weiblichen‹) Wesens trotz der bereits existierenden Worte erst im 18. Jahrhundert zu Begriffen im Sinne Kosellecks ausdifferenziert wird. Die begriffsgeschichtliche Analyse von ›Geschlecht‹ und ›Mann‹ ist für diese Arbeit insofern unerlässlich, als sie versucht, den im 18. Jahrhundert als bekannt geltenden Kenntnisstand im Hinblick auf die Definitionsansätze der Begriffe zu rekonstruieren. Die Dramentexte entstehen vor dem Hintergrund dieser zeitgenössischen Wissensbestände, die im Rekurs auf Michel Foucault auch ›Episteme‹ genannt werden.17 Sowohl bei ähnlicher als auch bei abweichender Verwendungsweise der die Geschlechterthematik betreffenden Begriffe kann weitestgehend davon ausgegangen werden, dass die in den Konversationslexika und Sprachthesauren auftretenden 13 14 15 16 17
Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 121. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 121. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 125. Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 121. ›Episteme‹ werden an dieser Stelle als »der strukturell unbewusste Erkenntnisraum einer bestimmten Epoche, ein Netz on Signifikationsbeziehungen zwischen den Wörtern und Dingen, das die Vorstellungen, Praktiken und Texte strukturiert« verstanden. Zit. nach: Vladimir Biti: Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe. Hamburg 2001, S. 192.
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Assoziationen und Argumentationsmuster einem gebildeten Publikum und den Autoren des 18. Jahrhunderts bekannt waren. Gleichzeitig ermöglicht eine begriffsgeschichtliche Analyse überhaupt erst die Rekonstruktion der in den literarischen Werken reflektierten Standpunkte mit Bezug auf die sich im 18. Jahrhundert entwickelnden ›modernen‹ Wissenschaften. In Kucklicks systemtheoretischer Argumentation, die im vorangegangenen Abschnitt näher vorgestellt wurde, wird die Ursache für die zunehmende Problematisierung der ›Männlichkeit‹ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die These gestützt, dass Männer als das Geschlecht aufgefasst würden, »das bis ins Innerste von den Modernisierungs- und Differenzierungsprozessen der Gesellschaft geprägt« (Kucklick 12) sei: Die Idee einer zentrierten, vernünftigen und selbstlosen Maskulinität, wie sie zumindest als Möglichkeit die abendländische Geschichte durchzogen hat, zersplittert angesichts der Verdichtung der Funktionssysteme. Diese werden zwar als effizient und leistungsfähig, aber vor allem als fragmentierend, vernunftlos und amoralisch erachtet. Männlichkeit gilt fortan einerseits als Sinnbild der positiven Seiten der modernen Gesellschaft, als frei, tatkräftig und selbstbestimmt […], und als Symbol und Träger aller bedrohlichen Facetten: Abstraktheit, Fragmentierung, Rationalität, Differenzierung. (Kucklick 12)
Die begrifflichen Grundlagen für diese Neubewertung des ›Männlichen‹ werden im Folgenden genauer untersucht. Das Korpus der betreffenden zu analysierenden Nachschlagewerke umfasst neben einigen Konversationslexika auch Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch von 1798. Adelungs Ansatz ist im Gegensatz zu den Autoren der Konversationslexika nicht an einer eher normativen Definition der Begriffe orientiert; er beschreibt die Sprachverwendung und verfolgt aus diesem Grund weitestgehend deskriptive Ziele. Das muss in der sich anschließenden Analyse ebenso beachtet werden wie die Tatsache, dass Kosellecks begriffsgeschichtlicher Ansatz ursprünglich ein onomasiologischer Ansatz ist, was bedeutet, dass Koselleck eine Systematisierung der Begriffe innerhalb eines Begriffsfeldes anstrebt und in einem historischen Ansatz versucht, Bezeichnungsnuancen vor allem geschichtlich bzw. soziologisch zu begründen. In diesem Zusammenhang jedoch beschreibt der von ihm gewählte begriffsgeschichtliche Ansatz zur Bezeichnungslehre (Onomasiologie) die Grenze zur Bedeutungslehre (Semasiologie). Die Analyse müsste daher nicht nur die Entwicklung einzelner Wörter und deren Lesarten, sondern auch sämtliche verwandte oder im argumentativen Zusammenhang auftretenden Begriffe umfassen. Das würde im Falle von ›Mann‹ im 18. Jahrhundert auch zu einer detaillierten Untersuchung der Wörter ›Frau‹, ›Weib‹, ›Mensch‹ etc. führen; eine Anforderung, die den Rahmen der Arbeit entscheidend sprengen würde. Die Analyse beschränkt sich aus diesem Grund auf die Begriffe ›Geschlecht‹, ›Mann‹ bzw. ›männlich‹ in den beiden Sprachräumen.
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›Geschlecht‹ Frevert nimmt die Begriffsanalyse von ›Geschlecht‹ anhand verschiedener Konversationslexika des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sowie des Sprachlehrwerks von Adelung vor. Dabei gelingt ihr der Nachweis eines semantischen Wandlungsprozesses der Hauptlesarten von ›Geschlecht‹ und ›Mann‹, der sich innerhalb eines Zeitraums von ca. 70 Jahren im deutschen Sprachraum vollzogen habe. Freverts Ergebnisse sollen der folgenden Untersuchung zugrunde gelegt und kritisch reflektiert werden. Im Bereich der Bestimmung des Begriffs ›Geschlecht‹ zeigt der früheste von Frevert untersuchte Eintrag, der Johann Jakob Zedlers Großem vollständigen Universallexikon von 1735 entstammt, eine ausschließlich genealogische Definition, die zwischen einem engen und weiteren Sinn des Begriffs unterscheidet: die Zugehörigkeit und Abstammung der Menschen von einem Ur-Geschlecht im weiteren Sinn erscheint innerhalb des relativ kurzen Eintrags neben dem engeren Sinn einer familiären Abstammungslehre: Geschlecht, Genus, Famille, Maison, die Abkunft, das Abstammen und Herkommen eines Menschen von dem andern. In einem weiten Sinn sind alle und jede Menschen ein Geschlechte, weil sie alle von einem abstammen. In einem engeren Sinn aber werden nur diejenigen verstanden, so anfänglich von einem Vater abstammen, und dessen Namen führen.18
Frevert argumentiert in diesem Zusammenhang, dass der in dem Eintrag dargestellte Geschlechtsbegriff in der Konstruktion von Gemeinsamkeiten, nicht aber von Differenzen bestehe.19 Die rein genealogische Deutungsweise, die sich auf die Herleitung eines gemeinsamen familiären Ursprungs bezieht, stützt dieses Argument. Die Trennung zwischen genealogischer und biologischer Lesart des Begriffs ›Geschlecht‹ weist Frevert zum ersten Mal 1746 bei Johann Theodor Jablonskis Allgemeinem Lexicon der Künste und Wissenschaften nach. Die den beiden zuvor genannten Lesarten entsprechenden Termini werden dabei als ›genus‹ und ›sexus‹ bezeichnet, wobei sich für Frevert kein Ungleichgewicht der Bedeutungen ergibt: Beide Bedeutungen stehen hier gleichwertig nebeneinander; von keiner wird besonderes Aufheben gemacht. Die biologische oder naturhistorische Variante genießt keinerlei Vorrang vor der genealogischen.20
Dem ist kritisch hinzuzufügen, dass die neu hinzugetretene Lesart des ›Geschlechts‹ als biologische Kategorie durchaus präzise – und damit auf die sich langsam formierenden Naturwissenschaften schließen lassend – noch zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen unterscheidet. Das wachsende Bedürfnis nach wissenschaftlicher Exaktheit bestimmt in dieser Lesart bereits den Duktus der Sprache, die zunehmend präzise in der Wortwahl, zunehmend auch in der Länge der Argumentation, wird. Eine wichtige Veränderung im Vergleich zu Zedler ist die Betonung der unterscheidenden Funktion des Geschlechts im biologischen Sinne. 1796 nimmt 18
19 20
Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon. Zweiter, vollständig photomechanischer Nachdruck. Graz 1994–95, Spalte 1222f. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 23. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 23f.
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Johann Christoph Adelung in seinem Eintrag ›das Geschlecht‹ folgende Einteilung vor: Eine erste Bedeutungsvariante nennt er: »Ähnlichkeit der verschiedenen Gattungen und Arten der Dinge«.21 Dass er damit um eine erklärende Verbindung von Genealogie und Biologie bemüht ist, wird im weiteren Verlauf des Eintrags deutlich: So ist der Ausdruck ›Körper‹ die Bezeichnung eines Geschlechts, worunter alle sichtbaren Dinge nach ihren Gattungen, Arten und einzelnen Dingen geordnet werden können. […] Art, Gattung und Geschlecht werden häufig miteinander verwechselt. […] Ehedem gebrauchte man […] Geschlecht häufig für Art, von der Ähnlichkeit einzelner Dinge […]. Und so heißt es auch nach Apost. Gesch. 17, 29: »So wir denn göttliches Geschlecht sind«, wegen der in der Schöpfung erhaltenen Ähnlichkeit mit Gott.22
Dabei wird die erste Lesart vor allem durch Ähnlichkeiten legitimiert, und diese Begründung besteht bei Adelung auch in einer neuen, biologisch-anatomischen zweiten Lesart: Die Ähnlichkeit der zur Fortpflanzung bestimmten Theile und alle einander hierin ähnlichen Individua, als ein Ganzes betrachtet. Das männliche Geschlecht. Das weibliche Geschlecht, welches bei den Menschen auch das schöne Geschlecht, das schwächere Geschlecht und das andere Geschlecht genannt wird. Einen Erben männlichen Geschlechts bekommen. […] Auch unter den Pflanzen hat man in den neuen Zeiten zweyerley Geschlechte entdecket, und in der Sprachkunst gibt es dreyerley Geschlechter der Nennwörter, indem einige männlichen, andere weiblichen und noch andere ungewissen Geschlechtes, oder geschlechtslos sind.23
Die Deutungsweise wird an dieser Stelle zweisträngig: Zum einen leitet sich ›Geschlecht‹ bei Adelung aus den gemeinsamen Charakteristika der sich jeweils ähnelnden Individuen her, zum anderen enthält der Eintrag bereits die zentrale Opposition des ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Geschlechts. Dabei fällt besonders die Häufung von Periphrasen des ›weiblichen Geschlechts‹ auf, die bereits entscheidende Epitheta der Geschlechterdebatte um 1790 beinhaltet: ›Schönheit‹, ›Schwäche‹, ›Andersheit‹. Nicht zufällig steht dieser Kombination aus Äußerlichkeiten und Charaktereigenschaften auf Seiten des ›männlichen Geschlechts‹ ein genealogisches Element gegenüber, das nicht auf Eigenschaften, sondern auf gesellschaftliche Bestimmung und Sinngebung abzielt: »Einen männlichen Erben bekommen«. Darüber hinaus wird die biologische Argumentation auch auf Pflanzen, nicht mehr auf Tiere, und – dem Charakter eines Sprachlehrwerkes verpflichtet – auf die Grammatik übertragen. Wie stark die Bedeutungsebene des genealogischen Geschlechtsbegriffs auch um 1800 noch ist, verdeutlicht die sich anschließende, sehr detailliert beschriebene dritte Lesart, die erneut die Herleitung einer gemeinsamen Blut- und Verwandtschaftslinie von einem ursprünglichen Stammvater aus beschreibt: 21
22
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Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Zit. nach: http://mdz.bib-bvb.de/digbib/lexika/adelung. (Zugriff: 05. 06. 2006). Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Zit. nach: http://mdz.bib-bvb.de/digbib/lexika/adelung. (Zugriff: 05. 06. 2006). Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Zit. nach: http://mdz.bib-bvb.de/digbib/lexika/adelung. (Zugriff: 05. 06. 2006).
Die Gleichheit des Herkommens, sowohl im Abstract, als auch die von einem gemeinschaftlichen Stammvater entsprossenen Personen selbst, als ein Ganzes betrachtet, in Concreto: eine Familie.24
In der Gegenüberstellung der Einträge muss 1796 hervorgehoben werden, dass die eher biologische Deutung die genealogische in der Reihenfolge der Nennung überholt hat. Deutlich hinzugetreten ist im Vergleich zu den beiden früheren Einträgen die anatomische Bedeutungsebene des Geschlechtsbegriffs. Ein letztes Textbeispiel, dass den starken Wandel innerhalb der Diskussion des Geschlechtsbegriffes und die Übergangszeit zwischen den verschiedenen Geschlechtsdefinitionen abschließend verdeutlichen soll, stammt aus dem Jahr 1824. Auffallend ist dabei zunächst die Unterscheidung eines ›weiteren‹ und ›engeren‹ Geschlechtsbegriffs. Der erste wird bei Frevert als »klassifikatorischer bzw. genealogischer Mischmasch« beschrieben, der dem Verfasser nur »wenige Sätze wert«25 sei. Der ›engere‹ Geschlechtsbegriff zielt anschließend auf die biologisch-anatomische Trennung männlicher und weiblicher organischer Körper ab: Da es nämlich allgemeines Naturgesetz ist, daß alle organischen Körper von ihresgleichen hervorgebracht werden, und wiederum ihresgleichen hervorbringen sollen, also jede Gattung der organischen Geschöpfe sich durch sich selbst erhalten und fortpflanzen soll, so sind zu dem Geschäft zur Erhaltung der Gattung auch besondere Organe bestimmt, welche abgesondert oder verschieden von denjenigen Organen oder Theilen des organischen Körpers sind, die zur Erhaltung der Individuen bestimmt sind, und welche den Geschlechtsunterschied begründen. […] Hieraus entsteht die die Entzweiung der Gattung in die beiden Geschlechter, in das zeugende, schaffende, und das empfangende, bildende, oder das männliche und weibliche.26
In dieser Trennung entspricht der anatomischen Ausbildung einzelner Organe jeweils eine spezifische Funktion, die Art zu erhalten; ein – wie es im Eintrag heißt: »allgemeines Naturgesetz« zu erfüllen. Die Funktionen bzw. Bestimmungen der einzelnen Geschlechter leiten sich aus ihrer Anatomie her. Das männliche Geschlecht sei »zeugend und schaffend«, das weibliche »empfangend und bildend«. Interessant ist dabei auch die ergänzende Fußnote: Man kann die Theilung in Geschlechter durch die ganze Natur bemerken, ein Geschlecht überall annehmen, wo der Geschlechtscharakter herrschend ist. Das Wesentliche dieses Charakters ist aber: Entgegensetzung zusammengehöriger und zu gemeinschaftlichem Productionszweck wirkender Kräfte.27
›Geschlecht‹ wird somit weitestgehend losgelöst von rein biologisch-anatomischen Merkmalausbildungen; mehr noch: Die Einträge legen eine hinreichende Bestimmung der Geschlechtszugehörigkeit allein aufgrund des Geschlechtscharakters nahe. Dabei leitet sich der neue Terminus ›Geschlechtscharakter‹ durch eine zielgerichtete Differenz her. Dichotomische Merkmale – wie im Textbeispiel das männ24
25 26 27
Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Zit. nach: http://mdz.bib-bvb.de/digbib/lexika/adelung. (Zugriff: 05. 06. 2006). Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 20. Brockhaus: Conversations-Lexicon. Leipzig 1824, S. 195. Brockhaus: Conversations-Lexicon, S. 195f.
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liche und weibliche Geschlecht – dienen dadurch einzig der Erfüllung eines Zwecks: der gemeinschaftlichen Reproduktion zum Erhalt der Art. Darüber hinaus verweist der Eintrag auf ein weiteres Determinativkompositum: ›Geschlechterverhältnisse‹, die sich bei den Menschen in »mannigfachen Motivationen gegeneinander« manifestieren würden: So ist im Allgemeinen das männliche im Verhältnisse zu dem weiblichen das stärkere, jenes sich unterwerfende, das aus sich hinaus auf das weibliche überwirkende, das belebende, begeistigende.28
Ansatzlos findet sich im Anschluss eine detaillierte Schilderung der Physis des Mannes: Daher erscheint der Mann schon im Physischen als der Stärkere, sein Knochenbau ist ansehnlicher und hat mehr Masse, sein Muskelsystem ist fester und kräftiger, die Brust weiter, die Lungen sind größer, das Herz und das Arteriensystem ist größer und robuster, die Umrisse seines Körpers sind schärfer, eckiger, das Ganze desselben ist größer und stärker.29
Den männlichen Eigenschaften wird daraufhin die körperliche Beschaffenheit der Frau entgegengesetzt. Die Schlussfolgerung, die aus dieser physischen Gegenüberstellung gezogen wird, ist die für den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert wichtige Assoziationskette: Mann – Kraft, Frau – Schönheit. Darüber hinaus besteht im Vergleich zu den vorangegangenen Einträgen ein weiterer wichtiger Unterschied darin, dass die zitierten Merkmale der Physis nun auf die Psyche beider Geschlechter angewendet werden, wobei hier das Augenmerk auf dem Mann liegen soll: Der Geist des Mannes ist mehr schaffend, aus sich heraus in das Weite hinwirkend, zu Anstrengungen, zur Verarbeitung abstracter Gegenstände, zu weitaussehenden Plänen geneigter. Unter den Leidenschaften und Affecten gehören die raschen, ausbrechenden dem Manne […]. Aus dem Manne stürmt die laute Begierde […]. Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten.30
Der Abfolge »physische Beschreibung – psychische Beschreibung« schließen sich damit die sozialen Aufgaben und Betätigungsfelder an. Dabei verweist das Lexikon auf die Erwerbspflicht des Mannes und die Beschränkung der Frau auf den häuslichen Bereich. Frevert stellt fest, dass der Geschlechtscharakter innerhalb des Lexikonartikels alle Bereiche menschlichen Lebens erfasse: Mit dem Geschlecht ist zugleich die Bestimmung des Lebewesens gegeben: zum »Mütterlich-Heimischen« oder zum »Zeugend-Fremden«. Diese Bestimmung wird es nicht mehr los; sie schreibt sich ihm ein und definiert seine Handlungsoptionen von der Geburt bis zum Tod.31
Im Vergleich zu den vorangegangenen Einträgen zum Begriff ›Geschlecht‹ fällt deutlich auf, wie sehr die biologisch-anatomische Lesart die weiteren dominiert und ihrerseits bereits wieder Grundlage für weiterführende, soziale Schlussfolgerungen 28 29 30 31
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Brockhaus: Conversations-Lexicon, S. 196f.us Brockhaus: Conversations-Lexicon, S. 197. Brockhaus: Conversations-Lexicon, S. 197. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 22.
geworden ist. Daher schließt sich an die Definition des Geschlechtsbegriffs in dem 1824 veröffentlichten Brockhaus-Lexikon umgehend eine ausführliche Herleitung von männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen, die ihrerseits einen Geschlechtscharakter formen, an. Zwischen den ersten drei Einträgen im 18. Jahrhundert und dem Brockhaus-Lexikon muss folglich eine Wandlung der Vorstellungen zum Geschlechtsbegriff stattgefunden haben, die sich in den Konversationslexika zu Beginn des 19. Jahrhunderts niederschlägt. Frevert resümiert ihre Analyse zur Semantik des Geschlechtsbegriffs innerhalb dieser Umbruchzeit mit der These, dass sich die Bedeutung von ›Geschlecht‹ ab 1735 zunehmend an »Naturhistorie bzw. Biologie auflade«. Dabei trete die ursprünglich Gemeinsamkeiten stiftende Lesart mit fortschreitender Zeit zunehmend in den Hintergrund und ermögliche dadurch »dichotomisierenden Betrachtungen und typologisierenden Rollenzuschreibungen der einzelnen Geschlechter einen sich stetig vergrößernden Spielraum«.32 Wenn allerdings das Konzept des ›Männlichen‹ erst 1824 in direktem Zusammenhang mit dem des ›Geschlechts‹ in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion auftritt, stellt sich automatisch die Frage, ob es denn in den vorangegangenen Jahrzehnten klassifiziert und beschrieben werden konnte. Obwohl diese interessante Frage auf ein weiteres Kapitel innerhalb der vorliegenden Arbeit vorausgreift, in dem der Beginn der wissenschaftlichen Geschlechterdebatte (»Querelle des femmes«) aus männlicher Sicht untersucht wird, lassen sich zwei Argumente bereits an dieser Stelle anführen, wobei das begriffsgeschichtliche, zweite Argument mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem forschungsgeschichtlichen, ersten hervorgeht: Die Auseinandersetzung mit anthropologischen und medizinisch-anatomischen Fragestellungen, in die sich die Geschlechterdebatte als ein wichtiges, neu eröffnetes Forschungsfeld einordnet, geht gegen Ende des 18. Jahrhunderts einher mit der Frage nach individueller Identitätsbildung.33 Gleichzeitig ist der Aufbruch in die Moderne – nach Claudia Honegger – durch ein »zweites konstitutives Deutungsschema«, das der Differenzbildung, gekennzeichnet.34 Auf Grundlage einer zunehmend verwissenschaftlichten Begründungsführung35 steige das Interesse, die eigene Position durch die Konstruktion von Gemeinsamkeiten und die Abgrenzung von einer fremden Position, auf die das Beschreibungsparadigma der »Andersheit« zunehmend angewendet wird, zu bestimmen. Semiotisch argumentiert, dient sowohl das Erkennen von Ähnlichkeiten mit weiteren Elementen eines Systems als auch die Bewusstmachung von Unterschieden zur Abgrenzung von anderen Elementen des Systems der individuellen Identitätsbildung. Dass diese Feststellung auch für das Anliegen der vorliegenden Arbeit von Bedeutung ist, wird in aktuellen Ansätzen der ›Männerforschung‹ 32 33
34 35
Vgl. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 24 sowie Kucklick 14. Diese Feststellung findet sich in verschiedenen Publikationen wieder, von denen an dieser Stelle folgende genannt werden soll: Hartmut Böhme: Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition. In: H. Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988 (http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/ archiv/volltexte/texte/natsub/leib.html Zugriff: 22. 05. 2007). Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 1. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 2.
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betont. Der australische Soziologe Robert W. Connell weist mehrfach auf die Vorteile des semiotischen Ansatzes im Hinblick auf die Analyse von ›Männlichkeit‹ hin: Die Vorstellung, daß ein Symbol nur innerhalb eines Systems zusammenhängender Symbole, verstanden werden kann, läßt sich gut auch auf andere Sphären übertragen. Außerhalb eines Systems von Geschlechterbeziehungen gibt es so etwas wie ›Männlichkeit‹ überhaupt nicht. (Connell 1999, 91)
Auf die Geschlechterdebatte um 1750–1800 angewendet, lässt sich dieses gesteigerte Interesse aufgrund der Dynamisierung der Forschungen zum Menschen anhand der zuvor zitierten Lexikonartikel durchaus nachweisen. Bei Honegger heißt es dazu: Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts tritt also der Mensch auf den Plan, kurz darauf aber folgt ihm das Weib und damit das vertrackte Problem mit dem Geschlecht.36
Dem ließe sich für die vorliegende Arbeit hinzufügen: »Dem Weib und dem Geschlecht folgt mit kurzem Abstand der Mann«. Das forschungsgeschichtliche Argument, das hier aus genannten Gründen natürlich nur in aller Kürze umrissen werden kann, wäre damit gegeben. Koselleck liefert das begriffsgeschichtliche Argument, indem er zunächst klarstellt, dass Wörter auch vor ihrer polaren Zuordnung und bevor sie im engeren Sinne begriffsbildend sind, bereits existieren.37 Die Wandlung der Bedeutungszuschreibungen zum Geschlechtsbegriff innerhalb des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat das deutlich bewiesen. Da eine zunehmend wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschlechterproblematik aber gerade nicht mehr nur auf Wörter, sondern auf Begriffe rekurriert, ist es wichtig, Kosellecks Begriffsdefinition an dieser Stelle nochmals zu rekapitulieren: Auch der Begriff haftet zwar am Wort, er ist aber zugleich mehr als ein Wort: Ein Wort wird zum Begriff, wenn die Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhanges, in dem und für den ein Wort gebraucht wird, insgesamt in das eine Wort eingeht.38
Da sich in der Situation im Übergangsprozess vom 18. zum 19. Jahrhundert die von Koselleck angesprochenen politisch-sozialen Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhänge, linguistisch gesehen, die signifiés, ändern; die Wörter jedoch im Formativ, dem signifiant, bereits präexistieren und weiterhin bestehen, folgt die neue Sinngebung und Verwendung der Begriffe der wissenschaftlichen Vorarbeit mit einigem zeitlichen Abstand. Da der Prozess der Verwissenschaftlichung aufgrund des Benennungsdranges jedoch an ständig neue Begriffs- und Bedeutungsbildungen alter Begriffe gebunden ist, zieht jedes Forschungsergebnis neue Lesarten und damit wiederum neue Forschungsgrundlagen nach sich, was bei Koselleck folgendermaßen Ausdruck findet: Ein Begriff ist nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge, er ist auch deren Faktor. Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt.39
36 37 38 39
50
Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 6. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 218. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 119. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 120.
Die Analyse der Semantik von ›Geschlecht‹ im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert hat genau diese Tendenz gezeigt. Wie bereits angekündigt, schließt sich dem begriffsgeschichtlichen Exkurs zum ›Geschlecht‹ im folgenden Abschnitt eine nähere Betrachtung des Begriffs ›Mann‹ im ausgehenden 18. Jahrhundert an. ›Mann‹ Erneut soll Zedler, dieses Mal in dem Erscheinungsband von 1739, als eine erste Orientierung zu den Vorstellungen zum Begriff ›Mann‹ dienen: Bei ihm finden sich unter dem entsprechenden Eintrag drei Teilbedeutungen: Zunächst wird ›Mann‹ als Bedienter in einem hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis angeführt, was innerhalb des Eintrags eine Fülle von Berufs- oder Tätigkeitsbezeichnungen nach sich zieht, denen alle die nach Frevert »dienende Funktion«40 gemein ist: Mann heißet überhaupt einen Bedienten, wie denn noch im Englischen ein Diener Man genennet wird. Im Deutschen treffen wir diese Bedeutung noch in etwas in denen zusammen gesetzten Wörtern an, als in Amt-Mann, Fuhr-Mann, Hauß-Mann, Thür-Mann, BootsMann u. ja auch selbst in dem Worte: Lehns-Mann.41
Die zweite Teilbedeutung greift ein biologisches Argument anhand des Beispiels der Tiere auf und definiert ›Mann‹ als »das von der Natur dem weiblichen entgegengesetzte Geschlecht«.42 Mit Bezug auf den Zedler-Eintrag zu ›Geschlecht‹ fällt an dieser Stelle besonders die biologische Argumentation und die auf einen Gegensatz abzielende Klassifikation (männlich ≠ weiblich) auf, die der Eintrag ›Geschlecht‹ in dieser Form nicht vermuten lässt. Daraus lässt sich für den zeitgenössischen Stand der Wissenschaften um 1739, insofern er bei Zedler repräsentiert ist, schließen, dass innerhalb des Begriffsfeldes ›Mann – männlich‹ bereits differenzierte geschlechtsspezifische Untersuchungen berücksichtigt werden. Im Gegensatz dazu wird anhand des Eintrags ›Geschlecht‹ von 1735 deutlich, dass die Beschreibungsperspektive dabei noch nicht automatisch mit biologischen Kriterien assoziiert bzw. konnotiert ist. Zusammenfassend lässt sich deshalb feststellen, dass die Kategorie ›biologisches Geschlecht‹ – nach Frevert – 1739 im Eintrag ›Mann‹ bei Zedler als differenzierende Kennzeichnung des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹ zwar verwendet werde, obwohl sie, für sich selber genommen, eine biologische Lesart im 1735 erschienenen Band noch nicht ermöglicht habe.43 Innerhalb der zweiten Bedeutungsvariante bezieht sich der Eintrag im Anschluss dezidiert auf den Menschen und gibt dabei für die unterschiedlichen Deutungsvarianten zwei Begründungen an: eine sogenannte ›natürliche‹ und eine ›moralische‹. Innerhalb der ›natürlichen Begründung‹ werde unter den Menschen das Geschlecht als ›Mann‹ bezeichnet, das von Gott mit dem »Vermögen zu zeugen«44 begabt worden sei. ›Männlichkeit‹ leite sich bei Zedler aus einer 40 41 42 43 44
Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 25. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 26. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982.
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natürlichen – und gottgewollten – Anatomie her, wobei die Formulierung »mit dem Vermögen zu zeugen« bereits die anatomische Aktivität während des Geschlechtsaktes impliziert und mit Bezug auf zeitlich folgende Darstellungen bereits antizipiert. Der Logik des Eintrags folgend, würde die Frau das dem Mann von der Natur entgegengesetzte und damit nicht mit dem Vermögen der Zeugung begabte Geschlecht darstellen. Dieser implizite Ausschluss der Frau aus den Zeugungsprozessen bei gleichzeitiger (alleiniger) Konzentration auf die Zeugungsfähigkeit des Mannes ist aufgrund des zuvor Zitierten rekonstruierbar. Damit wäre erwiesen, dass sich bereits in diesem frühen Eintrag eine Tendenz zeigt, durch anatomische Unterschiede Differenzen zwischen den Geschlechtern herauszuarbeiten, was erneut eine Veränderung zum Artikel ›Geschlecht‹ bei Zedler 1735 darstellt. Darin war der Anatomie noch kein Spielraum gegeben worden, wobei der Gesamteindruck des Eintrags von 1735 durch die genealogische Deutung von ›Geschlecht‹ auf der Konstruktion von Gemeinsamkeiten beruht hatte. Zum ersten Mal tritt in der ›natürlichen‹ Lesart von ›Mann‹ bei Zedler auch ein Ausdruck auf, der wenige Jahrzehnte darauf schon topisch werden sollte: »Dreyßig Jahr – ein Mann«.45 Männlichkeit sei demnach auch durch das Lebensalter vorgezeichnet: Erst in diesem Alter gilt ein männliches Individuum gemeinhin als befähigt, sich die Insignien von Männlichkeit zuzulegen: einen eigenen Hausstand, besser noch: eine Ehefrau und Kinder, denen gegenüber er das hausväterliche Regiment beanspruchen kann. Das wiederum setzt eine soziale Position voraus, ein Amt, […], die es ihm erlauben, sich und seine Angehörigen zu erhalten.46
Dementsprechend nennt die ›moralische‹ Bedeutung ›Mann‹ in sozialen Funktionen und Positionen, wie beispielsweise als »Mann in der Ehe« oder als »Person, die zu einer gewissen Profeßion und Stand geschickt ist«,47 woraufhin verschiedene Berufsbezeichnungen in Zusammensetzungen mit ›Mann‹ aufgeführt werden (z. B. »Kriegs-, Hof- oder Schulmann«). Abgesehen vom Hinweis auf das Alter und die sich damit ergebenden Möglichkeiten und Erfordernisse zur Gründung eines Hausstandes bzw. einer Familie geht die Beziehung zwischen ›natürlicher‹ und ›moralischer‹ Lesart aus dem Artikel noch nicht hervor, wie Frevert explizit hervorhebt: Die soziale Existenz baut (noch) nicht zwangsläufig auf den natürlichen Begabungen auf. Fast scheint es sogar umgekehrt zu sein. Das Interesse liegt weniger bei der »natürlichen« Qualifikation (des Zeugens), als vielmehr bei den sozialen bzw. »moralischen« Funktionen des Dienens, später dann des Ein-Haus-Führens oder des Erwerbs. Die Differenz zwischen den Geschlechtern ist weit mehr im Sozialen angesiedelt als im Körperlich»Natürlichen«.48
Frevert arbeitet anhand des Eintrags heraus, dass die Darstellung von ›Mann‹ und ›Frau‹ darin relativ »unaufgeregt, gelassen« sei, da er sich auf die Nennung der Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern beschränke, indem er auf »überspitzte 45 46 47 48
52
Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 29. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 26.
Polarisierungen verzichte«.49 In den genauen Ausführungen der verschiedenen sozialen Rollen sieht sie den Grund dafür, dass nicht das biologische Geschlecht, sondern der soziale Rahmen ein Referenzsystem zum Vergleich der Geschlechter konstituiere.50 Frevert nimmt damit die Ergebnisse der Untersuchung Honeggers auf, die den Ausgangspunkt einer Untersuchung zur Bedeutung der Definition des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹ in der Zeit vor sowie der frühen Phase während der Aufklärung – und somit die epistemologischen Voraussetzungen, auf denen Anthropologie, Philosophie und Medizin des 18. Jahrhunderts unter anderem aufbauen – wie folgt resümiert: Ich möchte […] behaupten, daß in diesen aus der Zeit vor der Aufklärung stammenden Texten, und sogar noch in einigen späteren, das biologische Geschlecht (sex), oder der Leib, als das Epiphänomen verstanden werden muß, während das soziale Geschlecht (gender), das wir als kulturelle Kategorie auffassen würden, primär oder »real« war. Das Genus – Mann oder Frau – war von erheblicher Bedeutung und gehörte zur Ordnung der Welt; der Sexus dagegen war […] eine Sache der Konvention. […] Ein Mann oder eine Frau zu sein, hieß, einen sozialen Rang, einen Platz in der Gesellschaft zu haben und eine kulturelle Rolle wahrzunehmen, nicht jedoch, die eine oder andere zweier organisch unvergleichlicher Ausprägungen des Sexus zu sein.51
Für das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit ist dabei vor allem die starke Betonung der sozialen bei gleichzeitiger Exklusion der biologischen Kennzeichen entscheidend. Die dritte Lesart von ›Mann‹ ist in der Ausgabe von 1739 mit einem eigenen Eintrag versehen und somit von den ersten beiden formal und inhaltlich klar getrennt: Mann […] bedeutet einen tapfferen, streitbaren, kühnen Held, der einen Muth hat wie ein Löwe, ausdauert im Kampf, einen Ausbund und fürnehmlichen Mann.52
Es schließt sich eine spaltenlange, biblische Zitatsammlung diverser Zusammensetzungen oder Verwendungsformen des Wortes an. Die Bibelzitate dienen im weiteren Verlauf des Eintrags dazu, die zuvor geschilderten charakterbezogenen Eigenschaften des Mannes zu illustrieren. Unter den sich anschließenden, zahlreichen Zusammensetzungen mit ›Mann‹ nimmt der Eintrag ›Ehemann‹ den größten Raum ein. Dabei beschreibt Zedler die Erwerbstätigkeit des Mannes in der Ehe als eine der wichtigsten zu erfüllenden Pflichten: Zudem sind auch nach unseren Sitten die Männer mehr als die Weiber im Stande etwas zu verdienen.53
Die Herleitung, warum diese Pflicht den Männern obliege, spart sich der Artikel; verweist jedoch auf eine bedingte Dominanz des Mannes innerhalb der Ehegemeinschaft:
49 50 51 52 53
Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 26. Vgl. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 26. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 20f. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 985.
53
Im Gegentheile gebühret dem Ehemanne allerdinges die Herrschaft […] Unterdessen ist doch der Mann schuldig dem klugen Rathe des Weibes zu folgen, wenn sie eine Sache besser als der Mann einsiehet.54
Die Rollenteilung »Mann – Gesellschaft, Frau – Haus«, auf die später innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zur Geschlechterdebatte im 18. Jahrhundert noch genauer eingegangen werden soll, wird hier in einer sehr gemäßigten Form utilitaristisch gedeutet: Das soziale Netz der Ehe setzt eine enge Kooperation beider Partner zum gemeinsamen Gelingen voraus, wobei zwar dem Mann vor allem aus dem Grund die Rolle des Entscheidungen Treffenden zugestanden werden sollte, um Streit und somit Störungen des sozialen Friedens der Ehe zu vermeiden.55 Eine Einschränkung erfährt diese vorläufige Hierarchie allerdings in den Zusammenhängen, in denen die Frau aufgrund ihres speziellen Sachverstandes zu Rate gezogen werden soll. Dieser Vorschlag zur Arbeits- und Kompetenzteilung in der Ehe überrascht aufgrund seiner nüchternen Logik und liest sich – mit Bezug auf die Entstehungszeit – wie ein Plädoyer für eine relativ gleichberechtigte Partnerschaft, sodass Frevert resümiert: Insgesamt wird hier ein verhältnismäßig schwach konstruiertes Bild (ehe-)männlicher Funktionen und Kennzeichen entworfen, ein Bild zudem, das nicht von einer harten Trennlinie gegenüber dem Weiblichen beherrscht wird, sondern von dem gemeinsamen Fluchtund Bezugspunkt »Ehe«. Oberstes Ziel ist es, dieser Lebensform zum Erfolg zu verhelfen, was 1739 vor allem durch eine größtmögliche Flexibilität männlich-weiblicher Beziehungen gewährleistet zu sein scheint.56
Die Ehe soll als Lebenssinn und -ziel gelingen, was die Verantwortungsbereitschaft beider Partner voraussetzt. Die individuelle Ausprägungsform der Männlichkeitsattribute bewegt sich daher in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vornehmlich noch in sozialen Schranken. Dennoch wäre die Annahme, ein Mann sei in seinem Entfaltungsdrang deshalb entscheidend eingeengt, für die Entstehungszeit des ZedlerEintrags aus dem Grund falsch, da sie verkennen würde, dass das Fehlen von dichotomisierenden Geschlechtervorstellungen und die starke Betonung der beidseitigen Verpflichtungen eine kompromissbereite – oder, wie Frevert es formuliert – flexible ›Männlichkeit‹ erfordert. Nach einem Eintrag ›Männlichkeit‹ oder ›männlich‹ sucht man bei Zedler vergeblich; allerdings findet sich ein Verweis darauf unter dem latinisierten ›Virilis‹ in dem 1746 erschienenen Band der Zedler-Reihe. Dort wird ›männlich‹ vor allem juristisch interpretiert: Virilis, virile, heißt bei denen Rechten überhaupt so viel, als männlich, oder was nur denen Manns-Personen zukommt.57
Das lateinische Lehngut, das als juristischer Terminus mit dem römischen Recht die deutsche Sprachlandschaft erreicht hatte, wird zunächst ins Deutsche übertra54 55
56 57
54
Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2000, S. 145ff. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 28. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon. Zit. nach: http://mdz10.bib-bvb.de/~zedler/ (Zugriff: 08. 11. 2006).
gen, um den ausschließlichen Anwendungsbereich auf Männerberufe, wie sie im Anschluss aufgeführt werden, rechtlich unzweifelhaft zu benennen. Nach den Beispielen zitiert der Eintrag auch zusammengesetzte Charaktereigenschaften wie ›männlicher Muth, oder die Standhaftigkeit‹ mit ihren jeweiligen lateinischen Entsprechungen, aber auch einzelne Adjektive wie ›tapfer‹ oder ›mannhaft‹. Die enge Bindung an die lateinischen Ursprungsausdrücke sowie die Lexikalisierung unter dem lateinischen Stichwort ›Virilis‹ verdeutlicht noch 1746 die Eingrenzung des Verwendungsbereiches von ›männlich‹ auf den Bereich der Jurisprudenz. Darüber hinaus muss bei der Analyse des Eintrags ›Virilis‹ beachtet werden, dass der entsprechende Band des Lexikons bereits 11 Jahre nach dem Band, in dem ›Geschlecht‹ und sieben Jahre nach dem Band, in dem ›Mann‹ durch Zedler erläutert worden war, erscheint. 1748 findet sich die Gegenüberstellung von biologischer und sozialer Lesart bei Jablonski wieder, wobei die biologische Lesart dieses Mal erneut als ›natürliche‹, die soziale nun als ›sittliche‹ bezeichnet wird.58 Im sozialen – oder, wie es bei Jablonski heißt – ›sittlichen‹ Sinne treten der ›Männlichkeit‹ Attribute wie Ansehen, Pflichterfüllung und Ehre hinzu. Erneut findet die soziale Rolle des Ehemanns sowie die Formel »dreißig Jahr – ein Mann« eine separate Erwähnung. Wie bereits bei Zedler im Jahre 1739, nimmt die soziale Definition von ›Männlichkeit‹ gegenüber der biologischen einen größeren Umfang ein und kann daher im Spiegel der vergleichbaren Entstehungszeit der beiden Lexika für die damalige Semantik von ›Männlichkeit‹ als vordergründig bezeichnet werden. Die Verankerung in der Gesellschaft, die Wahrnehmung im öffentlichen und privaten Leben und die Bindung an eine Frau zum Zweck der Familien- und Haushaltsgründung sind die dezidierten Anforderungen an die Virilität im frühen 18. Jahrhundert. Bei Adelung findet sich 1798 bereits eine wesentlich detailliertere Definition unter dem Eintrag ›der Mann‹. In einer ersten Hauptlesart, die sich nochmals unterteilt, führt Adelung ›Mann‹ in der Bedeutung von ›Mensch‹ mit dem Zusatz »ohne Unterschied des Geschlechtes«59 auf. Durch Zitate aus der mittelalterlichen Literatur (Otfried) und aus verschiedenen germanischen Sprachstufen gelangt er zu der Erkenntnis, dass diese Lesart im Deutschen aufgrund der häufigeren Verwendung von ›Mensch‹ veraltet sei. Interessant ist Adelungs sprachphilosophische Begründung für das Weiterbestehen der unpersönlichen Ausdrücke, die für beide Geschlechter verwendet werden können, wobei er z. B. ›jedermann‹ oder ›jemand‹ anführt: Indessen sind doch noch das unbestimmte Fürwort man, und die Zusammensetzungen, jedermann, niemand, jemand, und vielleicht auch männiglich, Beweise davon […], weil das männliche Geschlecht von je her als der vornehmste Teil des menschlichen angesehen worden.60
›Mann‹ konnte sich nach Adelungs Auslegung in den zitierten Ausdrücken folglich aufgrund eines größeren Prestiges als Wortbestandteil halten und auch auf das an58
59 60
Johann Theodor Jablonski: Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften. Königsberg 1748, S. 637f. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 52ff. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 53.
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dere Geschlecht übertragen werden. In der zweiten Unterteilung der ersten Lesart wird ›Mann‹ im Sinne von ›Person‹ verstanden. In der zweiten Hauptlesart bedeutet ›Mann‹ bei Adelung: Mit dem Nebenbegriffe der Stärke, der Herzhaftigkeit, Tapferkeit, des gesetzten Muthes und Betragens 1. eine Person männlichen Geschlechtes, in der weitesten Bedeutung ohne Unterschied des Alters […] 2. in engerer Bedeutung, eine Person männlichen Geschlechtes nach zurück gelegtem Jünglingsalter, da sie ihr völliges Wachsthum, ihre völlige und beste Stärke erlangt hat.61
Den allgemein gültigen Attributen, die sich beinahe wie ein Tugendkatalog zur Ausbildung einer ritterlichen Person lesen, da sie neben den aktiv-kämpferischen auch dezidiert die Eigenschaften der Mäßigung und der Umgangsformen hervorheben, erscheint in Adelungs Eintrag wiederum eine ›weitere‹ und eine ›engere‹ Bedeutung. Dabei wird der ersten, ›weiten‹ Bedeutung auch zusätzlich die Unterscheidung des sozialen Standes zugeschrieben, indem zwischen dem allgemeinen Begriff ›Mannsperson‹ und dem vornehmeren ›Herr‹ differenziert wird. Innerhalb der zweiten, ›engeren‹ Bedeutung wird zunächst eine klare Abgrenzung zum Knaben- und Jünglingsalter gezogen, wobei erneut die formelhafte Wendung »dreißig Jahr – ein Mann« Niederschlag findet. Der Eintrag verliert sich nun in einer Reihe von Beispielbildungen zur Verwendung des Wortes ›Mann‹ in dem Sinn der Lesart: Ein ehrlicher, rechtschaffender Mann. Ein kluger, erfahrender, gelehrter, geschickter Mann. Ein frommer, tapferer Mann. Ein alter, betagter Mann. Ein vornehmer, ansehnlicher Mann. Ein armer Mann.62
Danach schränkt der Eintrag nochmals eine engere Bedeutung ein, in der »der Nebenbegriff der Stärke, des Muthes, der Tapferkeit auf eine herrschende Art hervortritt«.63 Die übertragene Bedeutung von charakterlicher ›Größe‹ tritt hier zunächst in den Vordergrund und wird gänzlich losgekoppelt von standeshierarchischen bzw. sozialen Funktionen: Ein großer Mann – so heißt es bei Adelung, sei ein Mann von »großen Verdiensten«, »dürfe aber nicht eben ein großer Herr sein, so wie große Herren nur selten große Männer seien«. Ein Mann, und insbesondere einer, der das Attribut »groß« für sich beansprucht, müsse sich über Taten und Verdienste definieren, nicht mehr ausschließlich über die genealogische Herleitung eines »großen Namens« – das ist der Tenor dieser Lesart. Daran schließen sich moralische Implikationen an, indem Adelung einen ›Mann‹ mit einem ›ehrlichen‹ Mann gleichsetzt und einen ›ehrlosen Mann‹ ›Unmann‹ nennt. Diese Implikationen reichen folglich so weit, dass ›Mann‹ und ›Unmann‹ eine antonymische Skala bilden: je mehr den zuvor geschilderten Eigenschaften und Erfordernissen entsprochen wird, desto stärker nähert sich das Individuum dem oberen Soll-Wert ›Mann‹ an. In diesem Zusammenhang findet sich demnach eine begriffliche Bestimmung dessen, was Kucklick als »Spuren einer maskulinen Defektologie« (Kucklick 12) bezeichnet: Erfüllung und Nicht-Erfüllung des Anforderungskataloges an ›Männlichkeit‹ werden bei Adelung 61 62 63
56
Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 53f. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 54. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 55.
dezidiert unterschieden. Die Ehre scheint gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Tapferkeit weitestgehend im Tugendkatalog der ›Männlichkeit‹ den ersten Rang abgelaufen zu haben, da Adelung konstatiert, dass männliche Tapferkeit eine Bedeutungsassoziation zu ›Mann‹ sei, die »ehedem üblicher war, als sie es jetzt ist«.64 Die Verbindung der Bedeutungen von ›Tapferkeit‹ und ›Mann‹ führt Adelung auf die bereits angesprochenen ritterlichen Tugenden des Mittelalters zurück. Es gelingt ihm jedoch, auch für diese Verbindung eine moderne Entsprechung zu finden: die des Mannes in der Funktion eines Soldaten, womit die Bedeutung der Tapferkeit »fortgesetzt werde«. Ein Soldat sei demnach ein »streitbarer Mann«, wobei auffallend ist, dass sich seine ›Männlichkeit‹ erneut aus seiner körperlichen Kraft und Tapferkeit herleite, wohingegen der Eintrag eine Aussage über die zuvor über alle Maßen gepriesenen Werte der Tugend, Ehre und Moral für den ›Mann‹ als Soldaten schuldig bleibt. Die Erläuterungen zur Zusammensetzung ›Ehemann‹ bringen gegenüber den zuvor analysierten Lexika eher eine semantische Einbuße mit sich, da zur Pflichtund Verantwortungsteilung im häuslichen bzw. ehelichen Bereich ebenso keine Aussagen getroffen werden wie zur individuellen Voraussetzung oder zum Beitrag im Sinne eines gemeinsamen Ziels in der Ehe. Stattdessen empfiehlt Adelung stilistische Abstufungen je nach Gesprächssituation und -ziel. Dabei wird auf der anderen Seite deutlich, dass trotz der allgemeinen semantischen Einbuße von ›Mann‹ als ›Ehemann‹ neue Begriffe aus dem Bereich der Intimität auftreten, die in den amourösen Thesaurus am Ende des 18. Jahrhunderts bereits Eingang gefunden haben, wie beispielsweise: ›Liebster‹, ›Gatte‹ oder ›Gemahl‹. Dem neuen amourösen Vokabular entsprechen im Bereich der Intimität veränderte Liebesauffassungen – auch im ehelichen Bereich – des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie Barbara Stollberg-Rilinger hervorhebt: Die Liebe zwischen den Eheleuten erlangte im Laufe des 18. Jahrhunderts einen ganz neuen Stellenwert und wurde – nicht zuletzt nach literarischen Vorbildern – auf neue Weise kultiviert. War die eheliche Liebe traditionell als Mittel zum Zweck – nämlich der Fortpflanzung und Kinderaufzucht – angesehen worden, so wurde nun das Verhältnis tendenziell umgekehrt und die Ehe in den Dienst der Liebe gestellt. Galt traditionell die Liebe zwischen den Eheleuten als wünschenswerte Folge, die sich im Laufe der Ehe günstigstenfalls einstellen sollte, so wurde sie nun umgekehrt zur Voraussetzung einer glücklichen Ehe erhoben.65
Die Nähe zur Argumentation Niklas Luhmanns ist dabei auffallend.66 Im Sinne der Zielsetzung des vorliegenden Kapitels soll allerdings eine genauere Betrachtung des Umbruchsprozesses der amourösen Codes im 18. Jahrhundert und dessen Auswirkung auf die Konzeption literarischer Männlichkeitsentwürfe auf das dritte Kapitel der Arbeit verschoben werden. Adelung präsentiert in seinem Wörterbuch im Gegensatz zu den zuvor zitierten Einträgen zum ersten Mal auch eine Denotation der Begriffe ›Männlichkeit‹ und ›männlich‹ unter dem deutschen Eintrag und ohne Bezug zur juristischen Fachsprache: 64 65 66
Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 56. Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, S. 152ff. Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main 1994, S. 51ff., S. 102f., S. 147f.
57
Die Männlichkeit, […] die Eigenschaft, nach welcher ein Ding männlich ist; doch nur in den drey letzten Bedeutungen, gesetztes, ernsthaftes Wesen, Fertigkeit die Furcht gehörig zu mäßigen.67
Männlichkeit weist somit ›Dinge‹ als ›männlich‹ aus; schränkt diese Definition aber zugleich auf »die letzten drey Bedeutungen« des Adjektiv ›männlich‹ ein. Bei genauer Analyse dieser ergibt sich folgendes Ergebnis: Das Adjektiv ›männlich‹ hat bei Adelung vier verschiedene Lesarten, wobei die erste eine vor allem biologischund sprachtheoretische umfasst. Diese Lesart wird nun – laut des Eintrags zur ›Männlichkeit‹ – aus deren Definition ausgegrenzt. Stattdessen resultiere ›Männlichkeit‹ aus den Lesarten zwei bis vier, oder erstens der altersbezogenen Festlegung des Männlichkeitsstatus’ in Abgrenzung zum Kinder- und Jugendalter mit Beispielen aus der Physiognomie (›männlich aussehen‹) und aus der Physiologie (›eine männliche Stimme haben‹), zweitens aus den dem weiblichen Charakter entgegengesetzten Eigenschaften des ›gesetzten Betragens‹, des ›Ernstes‹ und der ›Entschlossenheit‹ mit Implikationen auf Kreativität und Kunstvermögen und schließlich drittens dem ›entschlossenen, unerschrockenen Muth‹. Die Analyse zeigt, dass biologische Aspekte allein zwar im 18. Jahrhundert als hinreichend empfunden werden, Körper aufgrund ihrer anatomischen Eigenschaften klassifizieren zu können. Vernachlässigt werden sie jedoch weitestgehend, wenn es um den Zuspruch von ›Männlichkeit‹ in einem soziokulturellen, habitualisierten Kontext geht. Der biologischen Aufladung des Geschlechtsbegriffs mit fortschreitender wissenschaftlichanthropologischer und medizinischer Entwicklung steht auf Seiten der Vorstellungen von ›Männlichkeit‹ im 18. Jahrhundert eine das soziale Geschlecht betonende Tendenz gegenüber, die in ihrer Semantik habitualisierte soziale Prozesse offensichtlich stärker an sich bindet als biologische Distinktionen. Die relativ starke Resistenz gegen biologische Argumente geht allerdings mit einer zunehmenden Betonung spezifisch ›männlicher‹ Charaktereigenschaften im sozialen Bereich einher, die die biologische Opposition (›männlich‹ – ›weiblich‹) durch eine soziale (›männlich‹ – ›weibisch‹) zunächst scheinbar zunehmend ersetzen, später, im 19. Jahrhundert, jedoch ergänzen und schließlich untereinander kombinieren. Dabei knüpft sich an die Verwendung des Adjektivs ›weibisch‹ eine zweifache Bestimmungsgrundlage, nämlich erstens der Nicht-Entsprechung gegenüber dem ›männlichen‹ Ideal und zweitens der Ähnlichkeit mit dem Verhalten einer Frau. George L. Mosse verdeutlicht das anhand des englischen Äquivalents zu ›weibisch‹, ›effeminate‹: […] the word effeminate came into general usage during the eighteenth century indicating an unmanly softness and delicacy.68
Die zweifache Abgrenzung gegenüber einserseits ›Weiblichkeit‹ sowie andererseits weiteren Formen der ›Männlichkeit‹, denen der Verdacht der ›Weiblichkeit‹ anhaftet, verweist auf die Tendenz zur Problematisierung, die der kritischen Auseinandersetzung mit Paradigmen der ›Männlichkeit‹ um 1800 geschuldet ist. Kucklick fasst diese veränderte Aufmerksamkeit wie folgt zusammen: 67 68
58
Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 64. Mosse: The Image of Man, S. 9.
Der Geschlechterdiskurs um 1800 hat mit verschiedenen Allgemeinheiten gearbeitet, auch mit solchen, in denen Männlichkeit zum allgemeinen Problem wurde. Es ist gerade die generelle Überordnung des Männlichen über das Weibliche, die in der Moderne zertrümmert wird. An ihre Stelle tritt ein komplexes, heterarchisches Geschlechtermodell, das als zentralen Baustein das negative Denken über Männlichkeit umfasst und strukturgenau auf die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne passt. (Kucklick 15)
Dennoch zeigt die Untersuchung der zeitgenössischen Nachschlagewerke nicht ausschließlich die Problematisierung des Anspruchs auf Erfüllung ›männlich‹ konnotierter Eigenschaften, sondern vielmehr weiterhin ein an Ideale angelehntes maskulines Bild, das um einen verbindlichen Anforderungskatalog an die ›Männlichkeit‹ bemüht ist. Ein Aspekt besteht dabei in der von Hausen hervorgehobenen Neuartigkeit der Bestimmung von Charaktereigenschaften: Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert treten an die Stelle der Standesdefinitionen Charakterdefinitionen. Damit aber wird ein partikulares durch ein universales Zuordnungsprinzip ersetzt: statt des Hausvaters und der Hausmutter wird jetzt das gesamte männliche und weibliche Geschlecht […] angesprochen.69
Ergebnis sei die Herausbildung eines neuartigen Geschlechtscharakters, wobei Hausen unter dem Begriff ›Geschlechtscharakter‹ ein »Aussagesystem« versteht, das den Anspruch auf Erklärungen »über die Natur bzw. das Wesen von Mann und Frau erfassen soll«.70 Diese Entwicklungstendenz zeichnet sich laut Frevert bereits wenige Jahre nach Beginn des 19. Jahrhunderts ab, wofür sie Johann Georg Krünitz’ Ökonomisch-technologische Encyklopädie von 1806 als Beispiel anführt: Immer stärker hebt man nun angeblich typische Merkmale des Mann-Seins hervor, die sich im 19. Jahrhundert zu einem komplex ausformulierten männlichen »Geschlechtscharakter« summieren.71
In der Analyse des bei Krünitz gedruckten Eintrags fällt deutlich die starke Betonung des Soldatisch-Ehrenhaften gegenüber den sozialen Verpflichtungen, wie beispielsweise dem Eintrag zu ›Ehemann‹, auf. Die Tendenz, einen für ›Männlichkeit‹ verbindlichen ritterlichen Verhaltenskodex in moderner Terminologie wiederaufleben zu lassen, die sich bereits in der genaueren Analyse bei Adelung gezeigt hatte, wird hier intensiviert und kann unter anderem auch als Reaktion auf die von Kucklick beschriebene Entwicklung gedeutet werden, nach der die defizitären Aspekte der ›Männlichkeit‹ um 1800 verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses der Auseinandersetzungen zum Thema ›Geschlecht‹ und ›Männlichkeit‹ gelangten. (Kucklick 20) Diese Entwicklungstendenz durchzieht auch die sich anschließenden Zusammensetzungen wie ›mannhaft‹ oder ›männlich‹. Besonders interessant ist dabei ein ansonsten seltener, poetologischer Hinweis, der sich unter den verschiedenen Lesarten von ›männlich‹ findet:
69 70 71
Hausen: Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 370. Hausen: Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 363. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 29f.
59
Der männliche Reim in der Dichtkunst, wenn die Reimsylbe einsylbig ist, zum Unterschiede von dem zweysylbigen oder weiblichen Reime; vermuthlich weil jener gesetzter und männlicher oder etwas härter und rauher klingt als dieser.72
Besser lässt sich die zuvor angesprochene Entwicklung wahrscheinlich nicht dokumentieren; selbst in eine der biologischen entfernte Lesart des Adjektivs ›männlich‹ wird nun versucht, die Anforderung zur »Mäßigung« und »Härte« bzw. »Rauhheit« einfließen zu lassen. Frevert resümiert wie folgt: Dem Begriff »Mann« assoziieren sich nicht mehr, wie im frühen 18. Jahrhundert, soziale Figurationen […], sondern eine als ursprünglich gedachte Substanz von Männlichkeit, die man im Geschlechtsakt lokalisiert. Von da aus erobert sie alle Fasern und Ausdrucksformen männlicher Existenz: die Anatomie ebenso wie die Physiologie, die Psyche ebenso wie das Nervensystem, das intellektuelle ebenso wie das soziale Leben.73
Diese Einschätzung der Enzyklopädie von 1806 kann folgendermaßen gedeutet werden: Krünitz deutet an, wie die Linien der Semantik von ›Geschlecht‹ und ›Mann‹ nach der Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert am Anfang des 19. Jahrhunderts zusammenlaufen: der Geschlechtscharakter greift schließlich die biologisch aufgeladene Argumentation auf und verbindet sie mit den Ansprüchen an eine möglichst vollständige ›Männlichkeit‹. Dabei wird das »Mann-Sein« zunehmend konstruierbar und auf bestimmte Bereiche, die sich aus der physischen Verschiedenheit gegenüber dem »Frau-Sein« ergeben, genormt. Die medizinisch herausgearbeitete körperliche Kraft als wesentliche Unterscheidungsgrundlage zwischen den beiden Geschlechtern wird dabei als Movens und Ausgangspunkt der zunehmend ›männlich‹ bestimmten Aktionsräume, wie Kampf, Soldaten- und Beschützertum im Konkreten und Ehrenkodex, Entschlossenheit und Standhaftigkeit im Abstrakten, gedeutet. Die sozialen Kontexte zum Erlernen und Erproben dieser Verhaltensmuster bleiben – wie Frevert formuliert – »ausgeblendet«74 und verleihen der Erscheinung, die als ›männlicher Geschlechtscharakter‹ bezeichnet wird, damit eine Eigendynamik, die sich von einer rein sozialen Herleitung entfernt und bei einer rein biologischen noch nicht angekommen ist. Dieser Schritt wird erst etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts unternommen und ist für die Analyse der Texte von 1767 bis 1790 nicht relevant. Die Abkehr von sozialen Aufgaben, die sich mit den Vorstellungen von ›Männlichkeit‹ verbinden, bringt aufgrund des stärkeren Dranges zur Polarisierung gegen ›NichtMännlichkeit‹ die Erfordernis nach universal gültigen Kriterien für Männlichkeitsentwürfe mit sich, die in sich erneut flexibel sind, sodass Hausen resümiert: Bestimmung und zugleich Fähigkeiten des Mannes verweisen auf die gesellschaftliche Produktion, die der Frau auf die private Reproduktion. Als immer wiederkehrende zentrale Merkmale werden beim Manne die Aktivität und Rationalität, bei der Frau die Passivität und Emotionalität hervorgehoben, wobei sich das Begriffspaar Aktivität – Passivität vom Geschlechtsakt, Rationalität und Emotionalität vom sozialen Betätigungsfeld herleitet.75 72
73 74 75
60
Johann Georg Krünitz: Ökonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-,Stadt-, Haus- und Landwirthschaft. Brünn 1806, S. 757. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 32. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 30. Hausen: Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 367. Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, S. 146f.
Die Pluralität der Männlichkeitsentwürfe gegen Ende des 18. Jahrhunderts erklärt sich nach Mosse aus dem Fehlen eines einheitlichen Männlichkeits-Stereotypen bis zum Ende des Jahrhunderts, als sich dieses langsam herauszubilden beginne.76 Die Dokumentationslinie, die anhand der Analyse der Lexikonartikel nachvollzogen wurde, lässt die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als Transit-Zeit auf dem Weg zur Herausbildung der Grundlagen von Männlichkeitsentwürfen erkennen.
2.2
Semantik und Begriffsgeschichte im italienischsprachigen Raum
Vorüberlegung: begriffsgeschichtliche Perspektiven im 18. Jahrhundert Zur etymologischen Orientierung einer Untersuchung der Begriffe ›genere‹ und ›maschio‹ bzw. ›mascolinità‹77 im italienischen Sprachraum des 18. Jahrhunderts ergibt Tullio de Mauros Grande dizionario della lingua italiana im Hinblick auf den italienischen Ausdruck für ›Männlichkeit‹ folgende interessante Vorüberlegung: Der in der italienischen Gegenwartssprache gebräuchlichere Begriff ›mascolinità‹ wird als lexikalisierter Eintrag zum ersten Mal im Jahr 1869, also weit nach der Entstehungszeit der zu analysierenden Dramentexte, nachgewiesen. Diese Aussage ist jedoch nur teilweise korrekt, da ›mascolinità‹ zwar in rein italienischen Nachschlagewerken (wie beispielsweise im Wörterbuch der Accademia della Crusca) nicht zuvor nachgewiesen werden kann, jedoch in Francesco Alberti di Villanuovas Wörterbuch bereits 1780, wenn auch mit einem knappen Eintrag, vorhanden ist. Dabei handelt es sich allerdings um ein Wörterbuch, das sich zwar an der Accademia della Crusca orientiert, sich jedoch selbst nicht als italienische Enzyklopädie, sondern als »Wörterbuch Italienisch – Französisch« versteht. Eine begriffsgeschichtliche Analyse muss sich deshalb auch an dem für das Italienische gesicherten Begriff ›virilità‹ orientieren. Problemlos gestaltet sich dagegen die Dokumentationslinie der Begriffe ›genere‹, ›maschio‹ bzw. ›maschile‹ sowie ›virile‹. Theoretisch bietet die italienische Sprache auch noch einen weiteren Begriff, mit dem sich ›Mann‹ wiedergeben lässt: ›uomo‹. Dieser Begriff ist zwar aufgrund seiner lexikalischen Mehrdeutigkeit,78 die bis zum aktuellen Zeitpunkt andauert, für eine Begriffsanalyse, die innerhalb des vorgegebenen Zeitraums nach Bedeutungsvariationen und der Erweiterung oder Einengung des semantischen Spektrums der untersuchten Begriffe sucht, durchaus problematisch. Dennoch ist er in der begriffsgeschichtlichen Analyse aufgrund der Häufung der Verwendung in literarischen Texten des 18. Jahrhunderts unverzichtbar. Eine weitere für die Analyse wichtige Vorüberlegung betrifft die lexikographische 76 77
78
Mosse: The Image of Man, S. 19. Der aktuelle italienische Begriff für ›Männlichkeit‹ lautet ›mascolinità‹. Allerdings hat sich auch ein weiterer Begriff bis in die heutige Zeit als Synonym dazu gehalten, das dem Lateinischen entlehnte und heute stilistisch als fachsprachlich bzw. wissenschaftlich konnotierte ›virilità‹. ›Uomo‹ bezeichnet sowohl ›Mensch‹ als auch ›Mann‹. Beide Lesarten bestehen sowohl zu Beginn als auch zum Ende des 18. Jahrhunderts nebeneinander.
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Situation im italienischen Sprachraum des 18. Jahrhunderts. Das enzyklopädische Wörterbuch der Accademia della Crusca erscheint in der vierten Auflage von 1729–1738 und dominiert die italienische Lexikographie wesentlich stärker als vergleichbare Nachschlagewerke der entsprechenden Zeit im deutschen Sprachraum. Trotz der Änderungen, die in den folgenden Jahrzehnten in diversen privat organisierten Nachdrucken vorgenommen werden (die bekanntesten davon zweifelsohne in Venedig und in Neapel), behält die Accademia della Crusca mit den Wörterbüchern die begriffliche Deutungshoheit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Daher soll in der folgenden Analyse nur ein exemplarischer Nachdruck des Crusca-Wörterbuchs, der dem Zeitraum der ausgewählten Dramentexte nahekommt, vorgestellt werden. Die hegemoniale Position der Accademia della Crusca erklärt, aus welchem Grund die begriffs-geschichtliche Analyse für den deutschen Sprachraum vielfältiger und vor allem auch umfassender ausfällt. Wie auch bereits im vorangegangenen begriffsgeschichtlichen Analyseteil ergibt sich auch dabei die Situation, dass das letzte zu besprechende Beispiel der Lexika, Francesco Alberti di Villanuovas Dizionario Universale Critico-Enciclopedico della lingua italiana, in den Jahren 1798–1805 und damit ca. 10 Jahre nach den zu analysierenden italienischen Dramentexten erschienen ist. Dennoch greift auch in diesem Fall die Entstehungsgeschichte des Lexikons weiter zurück und ist aus diesem Grund für die begriffsgeschichtliche Dokumentation in der Entstehungszeit der Dramentexte interessant und vor allem informativ. Ein wichtiger Hinweis zur Beschaffenheit der Lexikoneinträge soll dem Beginn der Untersuchung vorangestellt werden: Italienische Lexika arbeiten im Vergleich mit deutschen verstärkt mit literarischen Zitaten. Darin zeigt sich die ungebrochene Präsenz des literarischen Sprachbewusstseins innerhalb der Auseinandersetzungen der sogenannten »Questione della lingua«, die die linguistischen und politischen Auseinandersetzungen im Zuge der Herausbildung der italienischen Einheitssprache umfasst. Ein Lemma gliedert sich in den Nachschlagewerken sehr häufig in die Denotation des Begriffs und einen weiteren Abschnitt, in dem literarische Spuren der Lesart nachgewiesen werden. Auch im Hinblick auf die zu untersuchenden Begriffe der vorliegenden Arbeit findet sich diese Gliederung an verschiedenen Stellen wieder. Die Dokumentationslinie der einzelnen Begriffe wird die literarischen Quellenangaben allerdings vor allem aus Platzgründen nicht mit in die Analyse aufnehmen, da andernfalls der Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt würde. Analog zur Darstellung für den deutschen Sprachraum soll die Analyse des Begriffs ›genere‹ am Anfang der begriffsgeschichtlichen Betrachtung für den italienischen Sprachraum des 18. Jahrhunderts stehen. ›Genere‹ Das erste Auftreten des Begriffs ›genere‹ im Italienischen datiert Tullio de Mauro auf das Jahr 1294.79 Die begriffsgeschichtliche Entwicklung soll anhand dreier italienischer Nachschlagewerke des 18. Jahrhunderts nachvollzogen werden. Zunächst 79
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Tullio De Mauro (Hg.): Grande dizionario italiano dell’uso. Torino 2000. Bd. III, S. 178.
wird das bereits mehrfach genannte Vocabolario degli Accademici della Crusca aus dem Jahr 1763 herangezogen: Der Eintrag ›genere‹ lässt darin eine zunächst äußerst allgemeine Deutungsweise erkennen, die gegen Ende des ersten Abschnitts zunehmend präzisiert wird: GENERE, che i più antichi dissero anche GENERO. […] Il genere è una nozione, cioè un concetto, ovvero predicabile, o volere universale, e in somma una voce, la quale si predica, cioè si dice di più cose, le quali cose sono differenti tra se di spezie, e si predica nel che, cioè essenzialmente, ovvero nella natura, e sostanza della cosa.80
Zwei Deutungsweisen werden hier zunächst gegenübergestellt: ›genere‹ sei sowohl begrifflich determinierbar als auch von ›universalem Gehalt‹, also im begrifflichen Verständnis auf verschiedene Bereiche ausdehnbar. Danach wird der Eintrag präziser: Der Hinweis auf die distinktiven Grundlagen des ›genere‹-Begriffs folgt, indem klargestellt wird, dass ›genere‹ dann verwendet wird, wenn sich mehrere Dinge der Art nach voneinander unterscheiden. Die ›Art‹ ist dabei dem ›Geschlecht‹ untergeordnet und – was der Eintrag implizit voraussetzt – durch weitestgehende innere Ähnlichkeit gekennzeichnet. Daraus folgt, dass die Unterschiede, die zur Klassifizierung der Arten führen, auf dem übergeordneten Niveau des ›Geschlechts‹ noch nicht vorliegen. Der distinktive Anspruch an die Begriffsbestimmung von ›genere‹ knüpft sich an die natürliche Beschaffenheit der Dinge als Elemente eines begrifflichen Systems. Dessen keinere Einheiten (im Eintrag: ›spezie‹) werden durch Differenz zu anderen Einheiten innerhalb des Systems bestimmt und können über die Differenzbildung hinaus auch Gemeinsamkeiten untereinander aufweisen. Die darin enthaltene Lesart ist zweifelsohne durch das Bestreben gekennzeichnet, genealogische Argumente, die sich auf die ›sostanza della cosa‹ beziehen, als Zuschreibungsgrundlage für ›genere‹ zu verwenden. Dementsprechend verweist der Eintrag im Anschluss auf das ›menschliche Geschlecht‹: § I. Genere umano, diciamo a Tutta la generazione umana.81
Die genealogische Deutungsweise, die die Analyse des Zedler-Eintrags von 1735 bereits für den deutschen Sprachraum gezeigt hatte, dominiert auch an dieser Stelle das italienische Lemma und stützt sich auf die Hervorhebung der Gemeinsamkeiten innerhalb eines ›Geschlechts‹. Die Betonung der Genealogie setzt sich auch im zweiten Paragraphen fort: § II. Genere, si dice anche per lo stesso, che Sorta, Spezie.82
Zusammenfassend kann für das Vocabolario degli Accademici della Crusca aus dem Jahr 1763 festgestellt werden, dass die genealogische Deutung des Geschlechtsbegriffs unangefochten dominiert. Der biologischen Argumentation wird bis zu diesem Zeitpunkt kein Raum ermöglicht. Ein zweites Nachschlagewerk des italienischen Sprachraums im 18. Jahrhundert, das auf die Erklärung des Begriffs ›genere‹ 80
81 82
Francesco Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca. Venezia 1763. Bd. II, S. 427. Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. II, S. 427. Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. II, S. 427.
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überprüft werden soll, ist das von Francesco Alberti di Villanuova herausgegebene, einflussreiche Nuovo Dizionario Italiano-Francese in der zweiten Auflage aus dem Jahr 1780. Das Resümee fällt auffallend ähnlich aus: Die genealogische Deutung umfasst den gesamten Eintrag. Die Genealogie wird jedoch 1780 stärker aus hierarchischer Perspektive betrachtet: […] Ciò che contiene sotto di se le spezie, ciò che è comune a più spezie.83
›Genere‹ wird dabei erneut dem Begriff ›spezia‹ übergeordnet; gleichzeitig aber durch die Gemeinsamkeiten, die mehrere Arten aufweisen müssen, um zu einem ›Geschlecht‹ zu gehören, gekennzeichnet. Die Argumentation ist im Vergleich zu 1763 beibehalten worden, die Formulierung jedoch wirkt 1780 entschlossener. Dabei ist selbstverständlich zu beachten, dass der Verfasser seinem Wörterbuch bereits auf dem Titelblatt folgende Erklärung voranstellt: […] Composto su i dizionari dell’Accademia Francese, e della Crusca, ed arrichito di tutti i termini proprj delle scienze, e delle arti.84
Diese Ankündigung enthält zwei wichtige Informationen: Zum einen wird klar, dass sich das Wörterbuch als direkte Fortführung des Crusca-Werkes versteht; zum anderen spiegelt es deutlich den Stand der Wissenschaft auf italienischem Gebiet, insofern er durch das Wörterbuch dokumentiert werden kann, wider. Indem die biologische Deutung noch keinen Eingang in die ›wissenschaftlichen Fachbegriffe‹, von denen in der Ankündigung die Rede ist, gefunden hat, ist sie damit weder eindeutig unter dem Geschlechtsbegriff lexikalisiert, noch als epistemologische Basis im Jahre 1780, wenige Jahre also vor dem Erscheinen der Libretti mozartiani, voraussetzbar. Die neueren Forschungsimpulsen gegenüber weitestgehend resistente Position italienischsprachiger Nachschlagewerke des ausgehenden 18. Jahrhunderts nimmt auch das ebenfalls unter der Regie von Alberti di Villanuova in den Jahren zwischen 1798 und 1805 erschienene Nuovo Dizionario Italiano-Francese in der dritten Auflage ein. Darin sind keine neuen Erkenntnisse im Vergleich zu den Vorgängern zu verzeichnen. ›Maschio‹ sowie ›maschile‹ Im Vocabolario degli Accademici della Crusca aus dem Jahr 1763 finden sich unter dem Stichwort ›maschio‹ zwei Einträge, wobei sich der erste auf das Substantiv ›Mann‹ und der zweite auf das Adjektiv ›männlich‹ bezieht. Sowohl als Substantiv als auch als Adjektiv wird die Bedeutung von ›maschio‹ jeweils nach einer denotativen Grundaussage mit literarischen Quellen, in denen Dante, Petrarca sowie Boccaccio zitiert werden, illustriert. Der Substantiv-Eintrag zum Stichwort ›maschio‹ hebt die Bedeutung des Begriffs als zur Sicherung der Nachkommenschaft notwenige Entsprechung zur ›femmina‹ hervor, um im Anschluss daran zu einer interessanten Analogie überzugehen:
83 84
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Francesco Alberti di Villanuova: Nuovo Dizionario Italiano-Francese. Nizza 1780, S. 1. Alberti di Villanuova: Nuovo Dizionario Italiano-Francese, S. 1.
MASCHIO. Sust. Quegli, che concorre attivamente alla generazione colla femmina. […] § I. I fatti sono maschi, e le parole sono femmine; proverb. e vale, che Dove bisognano i fatti, le parole non bastano.85
Die Semantik von ›maschio‹ ist damit direkt und hauptsächlich an die Zeugungsaufgabe zur Erhaltung der Art gebunden. Das weist der Definition eine klare biologische Prägung zu. Erneut lassen sich zwischen den Darstellungsarten in Zedlers Lexikon von 1739 und dem Crusca-Wörterbuch einige wichtige Parallelen ziehen: Beiden Nachschlagewerken ist gemein, dass die Begriffserklärung von ›Mann‹ bzw. ›maschio‹ bereits deutliche biologische Argumente beinhaltet, währenddessen die Lesarten von ›Geschlecht‹ bzw. ›genere‹ sich ausschließlich auf den genealogischen Bereich beschränken. In der aus einem Sprichwort übernommenen Analogie wird darüber hinaus darauf verwiesen, welche Assoziation sich mit dem Konzept des ›Mannes‹ verbindet: Die ›Frau‹ in den Situationen zu ergänzen, in denen das ›FrauSein‹ »nicht ausreiche«. Der Adjektiv-Eintrag zum Stichwort ›maschio‹ beinhaltet drei Paragraphen, ›maschio‹ wird wie folgt definiert: MASCHIO, Add. Di sesso mascolino […]. § I. Per Nobile, Generoso, Che ha del virile. […] § II. Per Grande, Sfoggiato. […] § III. Maschio è anche aggiunto d’alcune erbe […] e ne costituisce diversità di sostanza.86
Das Crusca-Wörterbuch assoziiert charaktertypische Eigenschaften, wie Edelmut, Großzügigkeit, Größe, aber auch Prahlerei mit dem begrifflichen Konzept ›maschio‹. Biologisch durch den Rekurs auf das männliche Geschlecht determiniert, sei ein ›männliches Wesen‹ jemand, der über das Kennzeichen ›virile‹ verfüge, was die allgemeine Präexistenz bzw. Bekanntheit eines derartigen Kennzeichens voraussetzt. Wie stark die biologische Lesart von ›maschio‹ bereits ist, lässt sich daran nachvollziehen, dass sie die Unterscheidung ›männlich-weiblich‹ nicht nur auf die menschliche Spezies, sondern darüber hinaus auch auf die Pflanzenwelt anwendet, wie Paragraph III beweist. Die Analyse des Adjektivs ›maschile‹ verweist neben diversen literarischen Zitaten erneut auf den Eintrag ›maschio‹. Alberti di Villanuovas Nuovo Dizionario Italiano-Francese übernimmt im Jahr 1780 wortgetreu die Crusca-Definition und kann aus diesem Grund die Analyse nicht entscheidend beeinflussen. ›Virile‹ sowie ›virilità‹ Das Vocabolario degli Accademici della Crusca führt 1763 folgende Erläuterung zum Adjektiv ›virile‹ an: VIRILE. Add. D’uomo, o Che attiene ad uomo. § I. Per metaf. […] Di gran forza; Contrario d’Effeminato. […] § II. Età virile, vale Virilità nel signific. […] § III. Virile, si dice a quel Membro, che nell’uomo serve alla generazione, Cazzo.87
85 86 87
Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. III S. 129. Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. III S. 129. Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. IV, S. 193.
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Das Adjektiv ›virile‹ trägt dazu bei, jemanden als ›Mann‹ zu kennzeichnen. Wie bereits anhand der Analyse von ›maschio‹ nachgewiesen werden konnte, schließt diese Attribuierung von ›Männlichkeit‹ biologische und verhaltensbezogene Aspekte ein. Bei ›virile‹ steht die Eigenschaft der (physischen) Kraft im Vordergrund. Gleichzeitig konstituiert sie eine Unterscheidungsgrundlage vom Gegenentwurf des ›Mannes‹, dem ›Effeminatus‹, dem diese Kraft abgesprochen wird. ›Männlichkeit‹ – auch das ergibt sich aus dem Eintrag – besteht, wie auch im deutschen Sprachraum wiederholt betont wird, unter anderem auch im Hinblick auf das Lebensalter. Der Hinweis auf das männliche Zeugungsorgan verdeutlicht den biologischen Bezug, der sich an ›virile‹ knüpft. Der sich anschließende Eintrag ›virilità‹ nimmt die Argumente ›Kraft‹ sowie ›Lebensalter‹ auf und erläutert den letzten Punkt näher: VIRILITA’, […] Astratto di Virile; Vigore; Robustezza […] § Parlandesi dell’età d’uomo, s’intende Quella età, che è di mezzo tra la gioventù, e la vecchiezza.88
Wie bereits zuvor ergibt das 1780 erschienene Wörterbuch Alberti di Villanuovas aufgrund der wortgetreuen Übernahme keine Änderung in der semantischen Bewertung des Begriffs. ›Uomo‹ Der Begriff ›uomo‹ ist im italienischen Sprachraum durch seine lexikalische Mehrdeutigkeit (Polysemie) gekennzeichnet. Die beiden Lesarten, die sich im Italienischen bis in die Gegenwart gehalten haben, verstehen ›uomo‹ entweder in der Bedeutung ›Mensch‹ oder ›Mann‹. Die diesbezüglichen Einträge sind – wie sich bereits bei den vorangegangenen Begriffen angedeutet hat – in den italienischen Lexika des 18. Jahrhunderts fast deckungsgleich. Zitiert werden sollen an dieser Stelle das Crusca-Wörterbuch von 1763 sowie das Wörterbuch Alberti di Villanuovas von 1798–1805. Im Crusca-Wörterbuch steht die Definition von ›uomo‹ als »Animal ragionevole«,89 folglich in der Bedeutung von ›Mensch‹, an erster Stelle. Die menschliche Fähigkeit des bewussten Handelns und der Reflexion kennzeichnen diese Lesart. Mit Bezug auf das Geschlecht ist die Lesart neutral, was zu dem Ergebnis führt, dass auch die unmittelbaren Assoziationen mit dem Begriff ›uomo‹ keine geschlechtsspezifische Unterscheidung beinhalten. Auch die sich anschließende Lesart betont die kognitiven Fähigkeiten des Menschen im Allgemeinen: »Uomo molto avveduto, e pratico, e di gran conoscenza, e di memoria«.90 Erst unter Paragraph III erscheint die Lesart ›marito‹, womit zwei Aspekte verdeutlicht werden: Erstens erscheint somit an fortgeschrittener Stelle des Eintrags ›uomo‹ in einer dezidiert ›männlichen‹ Lesart, und zweitens bindet diese sich an eine soziale Funktion: die des Ehemanns. Die soziale Komponente von ›uomo‹ wird auch in den sich anschließenden Lesarten durch Statusbezeichnungen von Bediensteten, wie »Suddito, o Depen-
88 89 90
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Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. IV, S. 193. Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. IV, S. 224. Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. IV, S. 225.
dente«91 betont. Unter den zahlreichen folgenden Lesarten von ›uomo‹ sind insbesondere zwei soziale Bereiche durch ausführlichere Beschreibungen hervorgehoben. Der erste Bereich stellt ›uomo‹ als ›Höfling‹ bzw. ›höfischen Mann‹ dar: §. XII. Uomo di corte, dicevano gli antichi a Uomini piacevoli, e nottegevoli, che frequentavan le corti, che anche altrimenti si diceano Giocolari, Giuliari, o Buffoni.92
Im zweiten Bereich wird ›uomo‹ als ›Soldat‹ definiert: §. XIII. Uomo d’arme, vale Uomo, che attende al mestier dell’arme. […] § XIV. Uomo d’arme, vale anche Soldato a cavallo armato d’armadura grave. […] §. XV. Uomo di guerra, vale Soldato. […] §. XVII. Uomo di spada, vale Che cigne spada, Che sta sull’armi.93
Die Beschreibung, die im Gegensatz zu den vorangegangenen Lesarten vergleichsweise genau ausfällt, hebt die Bedeutung des militärischen Männlichkeitsentwurfs hervor. In diesem Zusammenhang kann – obwohl die Kennzeichnung als ›Soldat‹ nicht die unmittelbar erste Lesart von ›uomo‹ besetzt – aufgrund der Häufung der zitierten Zusammensetzungen im Eintrag ›uomo‹ auf eine hohe Verwendungsbreite dieser Lesart des Begriffes geschlossen werden. Paragraph 51 stellt ein phraseologisches Lexem vor: »Fare da uomo, vale Operar virilmente«.94 An dieser scheinbar unbedeutenden Stelle findet sich ein historischer Beweis für die Annahme eines habitualisierten, männlichkeitsspezifischen Handlungsmusters. »Es wie ein Mann tun – männlich agieren« – so die deutsche Entsprechung – setzt die Kenntnis dieses Habitus’ der ›Männlichkeit‹ für den Zeitraum des Erscheinens des Wörterbuchs (1763) voraus. Das zweite Beispiel in der Untersuchung des Begriffs ›uomo‹ ist das Wörterbuch Alberti di Villanuovas von 1798–1805. Darin nimmt die Lesart ›uomo‹ im Sinne von ›Mensch‹ die erste Position ein, woraufhin der Eintrag eine ganze Reihe möglicher Kombinationen mit verschiedenen Adjektiven und Zusammensetzungen mit anderen Substantiven anführt. Die Adjektive (›buono‹ […], ›bello‹, […], ›robusto‹ oder ›nobile‹ etc.),95 die in Verbindung mit ›uomo‹ aufgelistet werden, umfassen physische sowie psychische Aspekte. Im weiteren Verlauf folgen mit einigem Abstand soziale Lesarten des Begriffs, denen – dem Charakter eines italienischsprachigen Lexikons des 18. Jahrhunderts verpflichtet – literarische Quellen zugrunde gelegt werden: ›uomo‹ als Ehemann (›marito‹), aber beispielsweise auch ›uomo‹ in der Kombination ›uomo di corte‹ (›Höfling‹), ›uomo d’arme‹ (›bewaffneter Mann‹), ›uomo di guerra‹ (›Soldat‹). Der Eintrag verliert sich darauf hin in einer Vielzahl verschiedener phraseologischer Lexeme, von denen ein Auszug exemplarisch zitiert werden soll: §. Essere uomo, o Essere un uomo, vale Esser persona di stima, o di conto; Essere eccelleate; Aver molta abilità.96
91 92 93 94 95 96
Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. IV, S. 225. Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. IV, S. 225. Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca, Bd. IV, S. 225. Pitteri (Hg.): Vocabolario degli Accademici della Crusca. Venezia 1763. Bd. IV, S. 226. Alberti di Villanuova: Nuovo Dizionario Italiano-Francese, Bd. VI, S. 539. Alberti di Villanuova: Nuovo Dizionario Italiano-Francese, Bd. VI, S. 540.
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Die sozialen Implikationen und die geschlechtstypischen Erwartungen dominieren den Eintrag ›uomo‹. Darüber hinaus finden sich allerdings auch Hinweise auf die körperlichen Männlichkeitsattribute (›uomo robusto‹, ›uomo di ferro‹) bzw. deren Abwesenheit: ›uomo debole‹. Für den gesamten Eintrag bleibt festzuhalten, dass die Lesart ›uomo‹ im Sinne von ›Mann‹ deutlich gegenüber der Lesart ›uomo‹ im Sinne ›Mensch‹ dominiert. Die begriffsgeschichtliche Analyse hat damit sowohl für den deutschen als auch für den italienischen Sprachraum des 18. Jahrhunderts die historisch-epistemologische Grundlage für eine textbezogene Untersuchung der Männlichkeitsentwürfe in den Dramentexten gelegt. Im folgenden Abschnitt wird die Frage nach der Bestimmung von ›Männlichkeit‹ in den Kontext der Geschlechterdebatte des 18. Jahrhunderts gestellt.
2.3
›Männlichkeit‹ im Spiegel der öffentlichen Diskussion im 18. Jahrhundert oder: Die Geschlechterdebatte aus ›männlicher‹ Sicht
›Querelle des femmes‹ und ›Querelle des hommes‹ Am Anfang der Frage nach dem Mann steht im 18. Jahrhundert die Frage nach der Frau. Beinahe ironischerweise nimmt die Suche nach einer umfassenden Definition des Verhältnisses von körperlicher und charakterlicher Beschaffenheit der ›Männlichkeit‹ den forschungsgeschichtlichen Umweg über die Bestimmung des ›weiblichen Wesens‹. Diese wiederum blickt im ausgehenden 18. Jahrhundert bereits auf eine jahrzehntelange mitteleuropäische Diskussion zurück, die mit dem Begriff »Querelle des femmes« jene Auseinandersetzungen umfasst, die auf deutschem Sprachgebiet verstärkt ab ca. 1770 flammende Befürworter und entschiedene Kritiker auf den Plan ruft. Das Interesse an einem Beschreibungsversuch von ›Männlichkeit‹ fügt sich als Bindeglied in die im 18. Jahrhundert stark aufkommenden philosophisch-anthropologischen und medizinischen Debatten zum Thema der Geschlechterdiskurse ein: In der Auklärungsepoche wurde ein umfassendes Konzept von Männlichkeit entworfen. Es handelte sich um ein Konzept idealer Männlichkeit, das auf dem Prinzip der Geschlechtsidentität beruhte.97
Dieser These widerspricht Kucklick, der die Ansicht kritisiert, nach der »die Männer [im bürgerlichen Zeitalter, M.B.] ein überaus positives Bild von sich selbst entworfen [hätten, M.B.] – von Ressentiments gegen Männlichkeit keine Spur, von Abwertung des Maskulinen keine Rede.« (Vgl. Kucklick 13f.) Dagegen setzt Kucklick seine These, dass um 1800 – unter zunehmender Bewusstmachung der defizitären Aspekte der ›Männlichkeit‹ – »die Hierarchie des Männlichen […] in die Heterarchie der modernen Geschlechterverhältnisse überführt« werde. (Vgl. Kucklick 17f.) 97
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Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 152.
Beide vermeintlich konträren Auffassungen erweisen sich jedoch im Hinblick auf das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit als fruchtbar: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geraten mit dem Nachdenken über ›Männlichkeit‹ sowohl Erfüllung als auch Nicht-Erfüllung imaginierter Ideale, die ihren Ursprung in den zeitgenössischen Wissensbeständen zum Thema ›Geschlecht‹ und ›Männlichkeit‹ haben, in den Fokus des Interesses. Deutlich zeigt sich diese Koexistenz in der Literatur: Die Texte, die in dem Analyseteil der vorliegenden Arbeit untersucht werden, weisen sowohl Männlichkeitsentwürfe auf, die sich an der Erfüllung des von Schmale angesprochenen ›Ideals‹ orientieren, als auch solche, die entweder mit oder ohne Bewusstsein defizitärer Eigenschaften daran scheitern. Gerade die Koexistenz von Erfolg und Versagen, Streben und Scheitern sowie In- und Exklusion mit Bezug auf verschiedene Anforderungsbereiche, in denen sich die Männlichkeitsentwürfe beweisen müssen, bildet das Spannungsfeld der Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das dadurch für die Männerforschung umso interessanter wird. Wie Honegger herausarbeitet, bringt der Aufbruch in die Moderne verschiedene Identitätsentwürfe sowie die Frage nach Übereinstimmung und Differenz vor allem im Hinblick auf die Geschlechterdifferenzierung mit sich.98 Dabei wird die Abgrenzung von spezifisch weiblichen Verhaltens- und Charaktermustern sowie von geschlechtsspezifischen Zusammenhängen zwischen den erforschten physischen und psychischen Geschlechtsmerkmalen der Frau zum Ausgangspunkt für die Bestimmung eines männlichen Geschlechtscharakters, wie Meuser hervorhebt: Anthropologie, Philosophie, Psychologie und Medizin entwerfen nicht eigentlich eine Theorie der Geschlechterverhältnisse, sondern eine Theorie der Frau. In dem von diesen Wissenschaften bestimmten Diskurs findet weniger eine Naturalisierung des Geschlechterverhältnisses als eine Naturalisierung der Frau statt.99
Der Prozess der Herausbildung der Gesamtheit der psychischen und physischen männlichen Geschlechtsmerkmale, die zur Zuschreibung von geschlechtstypischen Assoziationen des ›Männlichen‹ beitragen, wird in der vorliegenden Arbeit ›Männlichkeitsentwurf‹ genannt,100 um mit dem Begriff eines ›Entwurfes‹ die Vorläufigkeit und Dynamik sowie das Veränderungspotenzial der Männlichkeitsvorstellungen seit dem vertieften Nachdenken über die Geschlechter adäquat zu benennen. Interessant ist an dieser Stelle, dass die Anzahl der voneinander abweichenden Geschlechterentwürfe von »männlich« und »weiblich« in jener soziokulturellen Umbruchsphase deutlich zunehmen, die die Systemtheorie als den Übergang von der stratifikatorischen zur funktional differenzierten Gesellschaft beschreibt.101 In der Herausbildung eines modernen Individuums, das seine Überlebensqualität in dem Maße steigern 98 99
100
101
Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 1f. Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 20. Vgl. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 173f. Damit wird die Nähe zu Connells dynamischem Beschreibungsansatz von ›Männlichkeit‹ deutlich. Vgl. Connell 1999, 91ff. Vgl. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt am Main 1993, Bd. 1, S. 31ff. Die Interrelation zwischen einer zunehmenden Problematisierung der ›Männlichkeit‹ und dem Modernisierungsprozess der Gesellschaft betont Kucklick.
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kann, in dem es den Anforderungen des funktional differenzierten, modernen Gesellschaftssystems entspricht, nimmt das Interesse an und das Wissen über Geschlechterentwürfe(n) einen wichtigen Stellenwert ein. Dabei setzt ein fundiertes Wissen auch eine genau bestimmte Erforschung der menschlichen Geschlechtereigenschaften voraus. Die ›modernen Wissenschaften‹ – wie beispielsweise Anthropologie und Medizin – liefern dafür im 18. Jahrhundert die theoretische Grundlage: Bei der kulturellen Neubestimmung der Geschlechter in der Moderne haben die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts allmählich sich formierenden so genannten Wissenschaften des Menschen, die Anthropologien, eine entscheidende Rolle gespielt. Umgekehrt wurde die Kategorie ›Geschlecht‹ zentral für die Ausdifferenzierung der modernen humanwissenschaftlichen Disziplinen und ist für das Verständnis ihrer inneren Logik und ihrer Wechselwirkungen unerlässlich.102
An dieser Stelle wird sehr schnell deutlich, wie sich die Linien zur Erforschung der männlichen bzw. der weiblichen Geschlechterentwürfe im 18. Jahrhundert voneinander entfernen. Die Bestimmung der ›Weiblichkeit‹ wird somit zum Objekt einer fast ausschließlich von Männern dominierten Forschungswelt. Aus diesem Grund gestaltet sich die Suche nach einem Beginn der Reflexion über Männlichkeitsentwürfe im Unterschied zu dem Beginn der Reflexion über Weiblichkeitsentwürfe vergleichsweise schwierig. Fest steht jedoch, dass der letzte Punkt dem Nachdenken über die Männlichkeitsentwürfe vorausgeht. Aufgrund der bereits beschriebenen Tendenz, die Schlussfolgerungen über ›Männlichkeit‹ aus einer Verneinung der Erkenntnisse zur Forschung an der ›Weiblichkeit‹ abzuleiten, sind die frühen Texte zur Geschlechtscharakteristik aus der Perspektive der Männerforschung im doppelten Sinn interessant: Zum einen beinhalten sie in vielen Fällen die explizit verweigerten, implizit jedoch rekonstruierbaren zeitgenössischen Imaginationen zu Männlichkeitsentwürfen, zum anderen geben sie Aufschluss über die Selbstdarstellung der vornehmlich männlichen Autoren in einer männlich dominierten Autor- und Leserschaft, die für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus noch vorausgesetzt werden kann. Die Untersuchung will anhand ausgewählter Texte eine Linie der wichtigsten Argumente und Positionen nachvollziehen, die den Problemkreis ›Männlichkeitsentwürfe‹ entscheidend beeinflusst haben und somit auch als epistemologischer Hintergrund der im gleichen Zeitraum entstandenen literarischen Texte bezeichnet werden können. Daraus ergibt sich zugleich ein wesentliches methodologisches Auswahlkriterium der im Folgenden besprochenen Texte. Da der letzte in der vorliegenden Arbeit auf Männlichkeitsentwürfe zu untersuchende Dramentext, Mozart/Da Pontes Così fan tutte, im Jahr 1790 erscheint, wird an dieser Stelle auf die Untersuchung von (historischen) Texten zur ›Männlichkeit‹, die nach 1790 entstanden sind, verzichtet (so z. B. die bereits mehrfach genannte Arbeit: Der Mann. Ein anthropologisches Charaktergemälde seines Geschlechts von Carl Friedrich Pockels, 1805–06).103 102 103
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Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 6. Wer sich für eine ausführliche, soziologisch-systemtheoretisch orientierte Untersuchung der Texte von Fichte, Humboldt, Knigge, Mauvillon, Pockels und Sprengel interessiert, findet bei Kucklick detaillierte Informationen.
Johann Joachim Winckelmann Der zeitlich betrachtet früheste, wenngleich eher kunstgeschichtlich intendierte Text, in dem Muster der Männlichkeitsdarstellung vor allem aus körperlich-visueller Sicht diskutiert werden, ist Johann Joachim Winckelmanns Schrift Gedanken über die Nachahmung der Werke in der griechischen Malerei und Bildhauerkunst von 1755. Das künstlerische Idealbild Winckelmanns, eine »Nachahmung der Alten«104 zu betreiben, wird innerhalb des Textes zunächst nur indirekt auf einen maskulinen Körperkult übertragen.105 So argumentiert Winckelmann – jeweils aus der Perspektive eines nach dem idealen Modell suchenden Kunstanalytikers – mit der Gegenüberstellung eines Spartaners und eines Sybariten, folglich mit zwei in der griechischen Mythologie durch jeweils unterschiedliche Männlichkeitsentwürfe gekennzeichneten Beispielen. Dabei hebt er die durch »Leibesübungen gebildete« und besonders maskulin-kampferprobte Körperform des Spartaners besonders hervor: Man nehme einen jungen Spartaner, den ein Held mit einer Heldin gezeuget, der in der Kindheit niemals in Windeln eingeschränkt gewesen, der von dem siebenden Jahre an auf der Erde geschlafen, und im Ringen und Schwimmen von Kindesbeinen an war geübet worden.106
Winckelmann spielt dabei auf die Tatsache an, dass die spartanischen Knaben ab dem Alter von sieben Jahren vom Elternhaus getrennt und in einer Militärschule erzogen wurden. Genetisch ›einwandfreies Material‹ (gezeugt von ›Held und Heldin‹), Freiheit, Bewegungsdrang sowie körperliche Abhärtung und Ertüchtigung sind die charakteristischen Merkmale des ›jungen Spartaners‹, den Winckelmann beschreibt. Die Verbindung zwischen ›Männlichkeit‹ und Körperkult ist ein innerhalb des Textes an verschiedenen Stellen wiederkehrendes Argumentationsmuster. Diesem werden sodann diverse Männlichkeitsentwürfe mit deren jeweiligen körperbezogenen Attributen zugeordnet. Schnelligkeit, Biegsamkeit der Nerven und Muskeln sowie Leichtigkeit im Bau des Körpers seien – so Winckelmann – Grundlage der Charakteristik der Helden in den Werken Homers.107 Die Grundlage der Herausbildung eines solchen idealtypischen Körpers bestehe dabei in der bereits zuvor erwähnten körperlichen Ertüchtigung: Die Körper erhielten durch diese Übungen den großen und männlichen Kontur, welchen die griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben, ohne Dunst und überflüssigen Ansatz. Die jungen Spartaner mußten sich alle zehen Tage vor den Ephoren nackend zeigen,
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107
Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Stuttgart 1995, S. 4. Die Bedeutung Winckelmanns innerhalb der Herausbildung eines »männlichen Schönheitsideals« hebt Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 182, ausdrücklich hervor. Kritisch reflektiert dagegen Kucklick 182, die Ableitungen maskuliner Ideale aus Kunst und Kunsthistorie. Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 5. Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 6.
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die denjenigen, welche anfingen fett zu werden, eine strengere Diät auflegten. Ja es war eins unter den Gesetzen des Phythagoras, sich vor allen überflüssigen Ansatz des Körpers zu hüten.108
Damit wird klar, wie stark – zumindest aus Winckelmanns Sicht – die antiken Männerkörper einer strengen gesellschaftsästhetischen Norm entsprechen mussten. Die durch die Auferlegung einer »strengeren Diät« sanktionierbare Überschreitung des Gewichts entspricht einer Entfernung vom Soll-Wert eines als ästhetisch empfundenen männlichen Körpers. Implizit wird dadurch klar, dass das Selbstbild der Spartaner – allzeit wehrhaft, militärisch-soldatisch und maskulin dominant zu sein – die Orientierung an körperlich-männlichen Eigenschaften als Grundlage der Aufrechterhaltung eines Militärstaates versinnbildlicht, in welchem dem Heer eine besondere Bedeutung zukommt. Interessant ist an dieser Stelle Winckelmanns apotheosenhafte Reminiszenz an diese Eigenschaft. Der weitere Verlauf der Argumentation wird zunehmend von kunst- und kulturraumspezifischen Thesen dominiert. Dennoch ist die Schrift vor allem im Zusammenhang mit der Herausbildung der Physiognomie als Wissenschaftsdisziplin im 18. Jahrhundert eine erste vorsichtige Standortbestimmung maskuliner Körperimagination und deren Repräsentierbarkeit in Werken der Kunst, worauf auch George L. Mosse explizit hinweist: The sculptures that Winckelmann analyzed as the paradigm were mostly those of young athletes who through the structure of their bodies and their comportment exemplified power and virility, and also harmony, proportion and self control. […] The male bodies that he described were always lithe, without any surplus fat, and no feature of the body or face disturbed their noble proportions. […] The ideal body projected both strength and restraint, the balance that Lavater had also praised.109
Die eigentliche Bedeutung von Winckelmanns Text im Prozess der Herausbildung eines modernen Männlichkeitsentwurfes, der seine Grundlagen aus der Körperrepräsentation bezieht, sieht Mosse vor allem in der berühmten Laokoon-Passage versinnbildlicht. Darin habe Winckelmann als erster die Beherrschbarkeit (extremer) Empfindungen als Teil eines »wahrhaft männlichen Heldentums« ausgewiesen.110 Mosse erspart sich darüber hinaus nicht den Kommentar zur Homosexualität Winckelmanns, die seine Wahrnehmung dessen, was er als ›männliches Schönheitsideal in der Kunst‹ schildert, laut Mosse zweifelsohne beeinflusst habe. Als Konsequenz daraus ergebe sich für den Beginn der modernen Männlichkeitsästhetik des Körpers ein homoerotisches Ideal.111 Da nun die von Winckelmann als vorbildhaft gelobte und zur Nachahmung empfohlene Laokoon-Gruppe zugleich das dem ›Männlichen‹ eigene Moment der Bewegung und Mäßigung beinhalte, schließt Mosse daraus, dass Winckelmanns maskuliner Schönheitsentwurf damit besonders den Anforderungen der sich im Aufbruch in die Moderne befindlichen europäischen Welt entspreche:
108
109 110 111
72
Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 6. Mosse: The Image of Man, S. 29. Mosse: The Image of Man, S. 32. Mosse: The Image of Man, S. 32.
Modern society needed order, but it needed a certain dynamic as well. Social hierarchies were being challenged by the new forces unleashed by the industrial revolution with its new opportunities for commerce and manufacture, its new speed of communications. Here order and movement had to be reconciled.112
Das dynamische Spiel der männlichen Muskeln, das jedoch durch die ›noble Größe‹ der Beherrschbarkeit der Affekte kontrolliert werden kann und soll, werde aus diesem Grund zur Grundlage eines neuen maskulinen Stereotypen, das Stärke und Erhabenheit kombiniere.113 Jean-Jacques Rousseau Eine nicht primär künstlerisch-ästhetisch intendierte Schrift in der Problematisierung der Geschlechterdebatte und somit auch innerhalb der Auseinandersetzung um ›Männlichkeit‹ ist Jean-Jacques Rousseaus Emile oder Über die Erziehung von 1762; und dabei im engeren Sinne das fünfte Buch, in dem die Geschlechterordnung thematisiert wird. Besonderes Interesse erregt dabei Rousseaus Argumentation zur Gleichheit und zu den Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Seine Beobachtungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Den gattungsbedingten Gemeinsamkeiten von Mann und Frau stehen vor allem physische Unterschiede gegenüber, die die Psyche schließlich entscheidend beeinflussen. Als Beispiel dient Rousseau dafür der Geschlechtsakt: Beide Geschlechter verfolgten ihn mit dem Ziel, die Art zu erhalten, würden aber gemäß ihren körperlichen Voraussetzungen mit unterschiedlichen Mitteln dazu beitragen. Daher leitet sich der emotional-psychische Anspruch an den Geschlechtsakt ab. Während laut Rousseau der Mann »stark und aktiv« sein müsse und zum Gelingen des Aktes »wollen können« müsse, würde es bei der Frau aufgrund ihrer Passivität ausreichen, wenn sie »nur schwach Widerstand zeigen« würde.114 Die Schlussfolgerung, dass das Physische das Moralische bildet, ist für das ausgehende 18. Jahrhundert ein entscheidender Grundgedanke. Honegger bezeichnet ihn gar als den »Kernsatz der neuen Anthropologie« um 1800.115 Die Konsequenzen für die Vorstellungen von ›Männlichkeit‹ reichen jedoch durchaus noch weiter. So wird die biologische Grunddisposition zum Ableitungsgegenstand für sexuell-ästhetische Implikationen: Rousseau stellt dar, dass eine der Aufgaben der Frau darin bestehe, dem Mann zu gefallen, währenddessen der Mann der Frau aufgrund seiner ›natürlichen Kraft‹ gefiele. Damit der Mann diese Anziehungskraft auf die Frau ausüben kann, ist körperliche Stärke notwendig. Mit ›Stärke‹ ist in dem ursprünglichen Zustand jedoch keine gezielt geformte körperliche Gestalt gemeint. Rousseau bezieht sich erneut auf ein natürliches Kräfteverhältnis zwischen den Geschlechtern, wobei die eigentlich entscheidende Aufgabe der Frau zukommt: Sie ist es, die den
112 113 114
115
Mosse: The Image of Man, S. 34. Mosse: The Image of Man, S. 35. Jean-Jacques Rousseau zit. in: Sabine Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien. Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart 2002, S. 165ff. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 42.
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Mann erst unter dem Einsatz ihrer Reize dazu bringen soll, seine natürlich geschlechtsbedingte Stärke gezielt einzusetzen. Das Bild, das vom ›Mann‹ in Rousseaus Darstellung gezeichnet ist, erscheint folglich durchaus ambivalent: Als Mängelwesen fehlt ihm das kulturelle Bewusstsein seiner natürlichen Überlegenheit der Stärke, und er ist – so Rousseau – auf das ihm mit Bezug auf die Stärke unterlegene, jedoch kulturell überlegene weibliche Geschlecht angewiesen. Als potenziell besonders ›gefährlich‹ sieht Rousseau die Manipulierbarkeit der männlichen Sinne durch die Frauen in den südlichen Ländern an, in denen »mehr Frauen als Männer geboren werden«.116 Aus diesem Grund stellt er die Forderung auf, dass sich das »natürlich stärkere« (Mann) dem schwächeren Geschlecht (Frau) unterwerfe, um »ihr [d. h. der Frau, M.B.] zu gefallen, um zu erreichen, dass sie ihn den Stärkeren« sein ließe.117 Worin aber besteht laut Rousseau das ›Mann-Sein‹? Im Gegensatz zur Frau sei der Mann »nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau«, so heißt es weiter, sei jedoch »ihr ganzes Leben lang Frau«, da sie »alles unablässig an ihr Geschlecht erinnere«.118 Implizit ist dabei rekonstruierbar, dass Rousseau dem Mann im Unterschied zur Frau ein klar umrissenes und vor allem dauerhaftes Geschlechtsbewusstsein abspricht. Um diese naturgeschuldete Differenz zum Positiven zu wenden, bestehe laut Rousseau nur eine Möglichkeit: die unterschiedlichen Ausgangspositionen durch unterschiedliche pädagogisch-erzieherische Methoden zu bedienen, wobei zu bedenken bleibt, dass das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich beide Geschlechter befinden, nicht ausgewogen dargestellt wird. So lässt Rousseau keinen Zweifel daran, dass zwar beide Geschlechter zum Überleben aufeinander angewiesen seien, bemüht sich jedoch umgehend, dem hinzuzufügen: »Wir könnten eher ohne sie bestehen als sie ohne uns«.119 Einen Grund dafür sieht Rousseau in der öffentlichen Wahrnehmung des Mannes, wobei er davon ausgeht, dass der »rechtschaffende Mann nur von sich selber abhänge« und »der öffentlichen Meinung trotzen« könne.120 Die Unabhängigkeit von äußerer Beurteilung resultiert bei Rousseau folglich aus der Gewissheit, sich im Zweifelsfalle darüber hinwegsetzen zu können. Als Konsequenz daraus stellt er fest, dass die Erziehung der Männer nicht an der öffentlichen Meinung ausgerichtet sein solle. Wenn ›männlicher‹ Individualitätsdrang einer Legitimation bedarf, so hat er sie damit erhalten. In den sich anschließenden Textpassagen wird Rousseau zunehmend konkret, was die geschlechterspezifischen Charakteristika der Knaben bzw. Männer gegenüber den Mädchen bzw. Frauen betrifft. Dabei sind aus ›männlicher‹ Sicht folgende Thesen besonders interessant: Die Intelligenz entwickle sich laut Rousseau ebenso wie das Gefühl für Anstand und Ehrbarkeit bei Knaben später als bei Mädchen. Die sprachlichen Fähigkeiten seien bei Frauen nicht nur früher, sondern auch mit einer »größeren Leichtigkeit« vorhanden
116 117 118 119 120
74
Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 168. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 169. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 171. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 176. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 177.
als bei Männern. Im Hinblick auf die zu analysierenden Dramentexte sind insbesondere die unterschiedlichen kommunikativen Bedürfnisse und Strategien, die Mann und Frau laut Rousseau in Konversationen verfolgen, hervorhebenswert. Männer würden demnach nur in solchen Situationen reden, wenn »nützliche Dinge« das Thema des Gesprächs bilden. Aus diesem Grund setzt Rousseau beim Mann Sachkenntnis des Themas als kommunikative Bedingung voraus: »Der Mann sagt, was er weiß, die Frau, was gefällt«.121 Mit Bezug auf den Umgang mit Menschen arbeitet Rousseau heraus, dass der Mann im Gegensatz zur Frau eher die Absicht verfolgen würde, dienen zu wollen. An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit dem im vorangegangenen Kapitel analysierten Lexikoneintrag bei Zedler an. Diese Dienstfertigkeit grenzt er von der Höflichkeit ab, die er den Frauen attestiert. Darüber hinaus zeigt sich Rousseau davon überzeugt, dass Männer »besser über das menschliche Herz philosophieren können«122 und »mehr Geist als Frauen« besäßen.123 Als eher ›männlich‹ werden bei Rousseau komplexe Denkleistungen konnotiert; währenddessen die Fähigkeit, »im menschlichen Herzen zu lesen«124 den Frauen zugesprochen wird. Diese Fähigkeit zieht ein weiteres wichtiges Abhängigkeitsverhältnis nach sich. So bezeichnet Rousseau die Frauen als »die natürlichen Richter über die Verdienste der Männer«.125 Demnach kann ein Mann seine Aufgabe, ein guter Staatsbürger zu sein, nur unter Mithilfe der Frauen in seiner Umgebung erfüllen, denen er zwar aufgrund der Ordnung der Natur weisungsberechtigt ist, sich jedoch deren Gunst durch sein Verhalten verdienen soll. Immanuel Kant Ein weiterer für die Entstehungszeit der zu analysierenden Dramentexte wichtiger Autor, der innerhalb der Geschlechterdebatte einen Beitrag zu Männlichkeitsentwürfen leistet, ist Immanuel Kant. In seiner Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen aus dem Jahre 1764 wendet er seine Unterscheidung zwischen dem Begriff des ›Schönen‹ und des ›Erhabenen‹ auf die beiden Geschlechter an. Innerhalb dieser Unterscheidung bezeichnet Kant das weibliche Geschlecht als das ›Schöne‹ und das männliche als das ›Erhabene‹, was er als »Kennzeichen seiner [des Mannes, M.B.] Art« identifiziert.126 Die Motivation dieser Trennung und unterschiedlichen Zuweisung der Gefühle zu den beiden Geschlechtern hat bei Kant, ähnlich wie bei Rousseau, biologisch-dispositionelle Ursachen, die eine unterschiedliche Erziehung der Geschlechter zwingend erfordere. Als Beispiel dafür dient Kant die Beschaffenheit des Verstandes: Er sei beim Mann »tiefer entwickelt« und bewirke »tieferes Nachsinnen und eine lange fortgesetzte Betrachtung«, die sich einer »schönen Natur [d. h. der Frau, M.B.] nicht schi121 122 123 124 125 126
Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 179. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 183f. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 184. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 184. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 185. Immanuel Kant zit. in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 199f.
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cken würde«.127 Jedoch unterscheiden sich die geistigen Anlagen und die daraus resultierenden Handlungen von Mann und Frau laut Kant nicht nur durch ihre naturgegebenen Voraussetzungen, sondern auch durch die individuellen Zielvorgaben, die sich daran knüpfen. Demnach sei das Bestreben, durch »überwundene Schwierigkeiten Bewunderung zu erregen«,128 als Ziel fest mit dem ›Erhabenen‹, das das männliche Geschlecht kennzeichne, verknüpft. Als besonders interessant gestaltet sich die Analyse dessen, was Kant als das dem Ideal des ›Erhabenen‹ (und somit dem ›Männlichen‹) entgegengesetzte Erscheinungsbild beschreibt: das ›Lächerliche‹: Dem Schönen ist nichts so sehr entgegengesetzt als der Ekel, so wie nichts tiefer unter das Erhabene sinkt als das Lächerliche. Daher kann einem Manne kein Schimpf empfindlicher sein, als dass er ein Narr, und einem Frauenzimmer, dass sie ekelhaft genannt werde.129
An dieser Stelle findet sich ein erster genauer Hinweis auf die Grenzen einer idealtypischen ›Männlichkeit‹, indem ihr Gegenentwurf verbalisiert wird. Sowie das Produkt des ›Erhabenen‹ im Hinblick auf die Geschlechterthematik das Idealtypisch-Männliche darstellt, zieht das Lächerliche die Konzeption eines unmännlichen Charakterbildes nach sich. Obwohl der Begriff ›Unmann‹ erst ab 1798 bei Adelung nachgewiesen werden kann, bietet Kants Ansatz bereits einige Jahrzehnte zuvor die Gelegenheit, den begrifflichen Inhalt paraphrasierend zusammenzufassen: Ein ›Unmann‹ sei demnach durch das Fehlen des ›erhabenen‹ Charakters, der einen Mann als solchen ausweist, gekennzeichnet. Im Rekurs auf Rousseaus These, nach welcher der Mann von der öffentlichen Meinung weitestgehend unabhängig und somit im engeren Sinne darüber ›erhaben‹ sei, ist der von Kant beschriebene Gegenentwurf dieser Unabhängigkeit beraubt und wird somit ein potenzielles Projektionsobjekt für Spott oder – wie es bei Kant heißt – ›Lächerlichkeit‹. Im gleichen Zusammenhang ist Kants kritische Bemerkung zu den möglichen Steuerungsmechanismen zu verstehen, die ein Mann ohne Erhabenheit bemühen müsse, um sich der neuen Situation, von der öffentlichen Meinung durchaus abhängig zu sein, zu stellen: Eitelkeit und Moden können wohl diesen natürlichen Trieben eine falsche Richtung geben und aus mancher Mannsperson einen süßen Herren […] machen, allein die Natur sucht doch jederzeit, zu ihrer Ordnung zurückzuführen.130
Die hier bereits angedeutete Unentrinnbarkeit der Geschlechter von ihren eigenen natürlichen Voraussetzungen verdeutlicht Kant anhand der folgenden Beobachtung: Männer versuchten – so Kant – in Situationen, in denen sie allein aufgrund ihrer Erhabenheit und der damit einhergehenden Handlungen nicht zu amourösen Erfolgen bei den Frauen gelangen, unter dem Bestreben, weibliche Attribute der Schönheit anzunehmen, zu gefallen:
127 128 129 130
76
Kant in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 200. Kant in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 200. Kant in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 201. Kant in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 207.
Wenn alles aufs Äußerste kommt, so wird der Mann, dreist auf seine Verdienste, sagen können: Wenn ihr mich gleich nicht liebt, so will ich euch zwingen, mich hochzuachten. […] In Ermangelung solcher Grundsätze sieht man Männer Weiblichkeiten annehmen, um zu gefallen; […] was man aber wider den Dank der Natur macht, das macht man jederzeit sehr schlecht.131
Ein Mann, so der unterschwellige Ton, den Kant an dieser Stelle anschlägt, definiert sich über seine Taten und Verdienste, nicht aber über Äußerlichkeiten. Jeder Versuch, eine defizitäre Taten- und Handlungsbilanz auf der einen Seite durch ein Übermaß an Narzissmus und Gefallsucht auf der anderen Seite auszugleichen, muss naturgemäß fehlschlagen, da die Akquise weiblicher Attribute der Schönheit dem nach Erhabenheit strebenden Mann entgegenwirkt. Sie bringt vielmehr noch die Gefahr mit sich, ihn in den als ›unmännlich‹ definierten Bereich der Lächerlichkeit zu manövrieren und somit seine öffentlich-extrinsische Wahrnehmung als Mann zu zerstören. Die davon ableitbare Konsequenz formuliert Kant in der entsprechenden Forderung, die dispositionelle männliche Tendenz nach dem ›Erhabenen‹ in einem dauerhaften Prozess immer stärker zu vervollkommnen: Es liegt am meisten daran, dass der Mann als Mann vollkommner werde und die Frau als ein Weib, d. i. dass die Triebfedern der Geschlechterneigung dem Winke der Natur gemäß wirken, den einen noch mehr zu veredlen und die Eigenschaften der anderen zu verschönern.132
Theodor Gottlieb von Hippel, Ernst Brandes und Joachim Heinrich Campe Wie sehr die Debatte um (männliche) Geschlechtereigenschaften und deren Konsequenzen für das gesellschaftliche Zusammenleben die öffentliche Diskussion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beeinflusst, verdeutlichen jedoch nicht nur philosophische, sondern insbesondere auch zeitgenössische populärwissenschaftliche Texte, die sich der Thematik in einer teilweise besonders privaten, teilweise Wissenschaftlichkeit vorgebenden Form nähern. Der erste dieser Texte ist Theodor Gottlieb von Hippels 1774 in der ersten Version erschienenes Buch Über die Ehe. Hippels Schrift durchlief in den sich anschließenden Jahren eine rege Editions- und Veränderungsarbeit; insbesondere auch eine immer frauenfreundlichere Argumentationslage, die Honegger folgendermaßen charakterisiert: […] vom »naturgegebenen« Herrschaftsanspruch der Männer und geistreichen Witzeleien hauptsächlich auf Kosten der Weiber hin zu einem egalitär-subjektivistischen Feminismus und zu einer Satire auf das männliche Despotentum.133
Die für die Belange der vorliegenden Arbeit entscheidende Ausgabe ist diejenige von 1774, aus der im Folgenden zitiert wird. Mit Bezug auf die zeitgenössischen Vorstellungen zur ›Männlichkeit‹ enthält besonders das fünfte Kapitel mit dem Untertitel »Über die Herrschaft in der Ehe« interessante Informationen. Hippel versucht darin, eine Verbindung zwischen den sozialen Rollen bzw. Funktionen F1 (›Mann‹) und F2 131 132 133
Kant in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 207. Kant in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 200. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 79. Vgl. Kucklick 53f.
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(›Vater‹) herzustellen. Dabei zeigt er trotz des Bewusstseins, dass die Vaterrolle eine im Sinne der Ehe für das menschliche Überleben notwendige Funktion sei, eine Reihe von Gefahren auf, derer sich der Mann – so er denn in das Eheversprechen getreten ist – erwehren muss, um seine naturgegebene Funktion F1 zu bewahren. Der Konflikt, den Hippel zwischen beiden Funktionen sieht, entlädt sich am Eheversprechen, das dem natürlichen Freiheitsdrang des Mannes widerspreche: Du kannst alles eher loswerden als eine Frau. Zwar ist die Scheidung in vielen Ländern leicht, allein ein geschiedener Ehemann ist größerer Verachtung ausgesetzt, als man glauben sollte.134
Die soziale Konvention der Ehe berge folglich die Unmöglichkeit der Entfaltung des männlichen Freiheitsdranges in sich: Nichts ist für einen Mann unanständiger, als sein Wort zu brechen. Man verlangt von ihm, dass er eher bis ans Ende seines Lebens unglücklich sein als Befreiung von seinem Weibe suchen solle.135
Dieses dem Eheversprechen geschuldete Zugeständnis versetze den Mann potenziell in die Gefahr der Verweiblichung, was ihn in einer drastischen Schlussfolgerung zur Ablehnung jeder effeminierten ›Männlichkeit‹ führt: Ein weibischer Mann ist unendlich unerträglicher als ein männliches Weib. Es kann kein traurigerer Anblick für einen Vater sein, als hiervon schon in der ersten Jugend seines Knaben Proben zu bemerken. […] Ist der Vater über die Beschaffenheit seines Sohnes ungewiss, so tut er wohl, seinen Sohn im siebenten Jahr an einen Zaun zu bringen, wo er übersteigen oder durchkriechen kann. Steigt er über, so ist er ein Mann, kriecht er aber durch, so bedaure der Vater, dass das sein Sohn ist, und lasse ihn Garnweber werden.136
Der zweite Teil des Zitats macht jedoch deutlich, dass die Gefahr der Verweiblichung keineswegs nur ein der Ehe geschuldetes Phänomen ist. Ob das geschilderte Probeverfahren historisch tatsächlich ernstzunehmen oder von Hippel bereits als intendierte Realsatire auf die Geschlechterdebatte aufzufassen ist, gilt als umstritten.137 Die Opposition zwischen den Erscheinungen, die in Hippels Argumentation ›reine‹ [M.B.] und ›weibische‹ Männlichkeit138 darstellen, umfasst in dem Text jedoch nicht nur moralische, sondern auch emotional-affektive Komponenten: […] obgleich nichts unanständiger ist, als wenn eine Mannsperson seufzt. Tränen sind männlich, Seufzer weiblich. Man wird sich über die Seufzer des Mannes kaum des Lachens enthalten können, wenn man vernünftig ist. Und keine Weiberträne rührt. Sieh aber einen Mann weinen: gleich hast du Tränen in den Augen, als ob das ganze Geschlecht mitweinen sollte.139
Die Hilflosigkeit des Seufzens verbindet sich in Hippels Argumentation mit dem Hilfe suchenden, weiblichen Geschlecht, währenddessen es für das an den Parame134 135 136 137 138
139
78
Theodor Gottlieb von Hippel: Über die Ehe. Berlin 1774, S. 56f. Hippel: Über die Ehe, S. 57. Hippel: Über die Ehe, S. 57f. Vgl. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 76f. sowie Kucklick S. 53f. Hippel spricht nicht wörtlich von ›reiner‹ Männlichkeit. Das Adjektiv dient an dieser Stelle nur der Verdeutlichung der Opposition. Hippel: Über die Ehe, S. 68.
tern der Stärke, des Muts und der Entschlossenheit gemessene männliche Geschlecht eine Preisgabe der Ernsthaftigkeit – und somit eines der wesentlichen männlichen Kennzeichen – impliziere. Die für das ausgehende 18. Jahrhundert charakteristische Zuweisung der Sphäre der ›Öffentlichkeit‹ zum Leben des Mannes, der die ›Privatheit‹ im Leben der Frau gegenübersteht, vertritt auch der Verfasser der vieldiskutierten Schrift Über die Weiber, Ernst Brandes. Am Vorabend der Französischen Revolution entstanden, mischen sich in dem Text misogyne Klischees, die aus der Biologie abgeleitet werden, mit soziohistorisch abgeleiteten, deutlich ›antifranzösischen‹ Ressentiments. Während innerhalb des biologischen Argumentationsschemas erneut aus der körperlichen Differenz zwischen Mann und Frau auf die schöpferische, kreative und damit zwangsläufig herrschende Position des Mannes in der Gesellschaft geschlossen wird, dient die historische Argumentation als Projektionsfläche einer Ablehnung der ›gemischten‹ französischen Gesellschaft. Um dem drohenden Machtzuwachs der Frauen und dem damit scheinbar in direktem Zusammenhang zu stehenden »unaufhaltbare[n] und notwendige[n] Niedergang der höfischen Zivilisation«140 entgegenzuwirken, bemüht sich Brandes um die »Wiedererweckung wahrer Männlichkeit«:141 Dagegen richtet sich nun […] die bewußtere Formierung der neuen Kultur als »Männerkultur«. […] Hier bildet sich jener »Kitt der Brüderlichkeit« (Reinhart Koselleck), der sich dann mit der Konstituierung der bürgerlichen Öffentlichkeit als »Männerbund« voll entfalten wird. Es gibt also gegen Ende des 18. Jahrhunderts so etwas wie eine genuine politische »Männerbewegung« mit dem Ziel, den Einfluss der Frauen und Damen auf Staat und Gesellschaft einzudämmen.142
Ein zeitnah zu Brandes entstandenes, weiteres interessantes Beispiel in der noch sehr zaghaften frühwissenschaftlichen Reflexion zur ›Männlichkeit‹ stellt Joachim Heinrich Campes Väterlicher Rath für meine Tochter aus dem Jahr 1789 dar. Darin wendet sich der Verfasser in einer Doppelfunktion als Vater und als Erzieher; zuweilen auch als Vormund, an seine Tochter, um ihr den Einstieg ins Erwachsensein zu erleichtern und sie vor allem vor den Gefahren, die ihr von Seiten der Männer im amourösen Bereich drohen würden, zu warnen. Trotz der zuweilen aufs Äußerste getriebenen pädagogischen Didaxe, die gerade in der Bemühung, ernstgenommen zu werden, einer gewissen Komik nicht entbehrt, zitiert der Text jedoch auch wichtige zeitgenössische Vorstellungen mit Bezug auf die Beschaffenheit des ›männlichen‹ Charakters. Er enthält darüber hinaus einige populärwissenschaftliche Reflexionen über die unterschiedlichen sozialen Aufgaben der beiden Geschlechter und ist daher im Gegensatz zu den zuvor angeführten philosophischen Texten vor allem durch seine populärwirksame Argumentationsstruktur, in der er sich damit dem Thema ›Männlichkeit‹ nähert, aufschlussreich. Campe zeichnet dabei ein hegemoniales Bild des Mannes innerhalb der Partnerschaft. Die Begründung dafür liefert er durch eine für das 18. Jahrhundert geläufige Analogie der Gesellschaft als Körper: 140 141 142
Vgl. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 53. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 53. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter, S. 53.
79
Jede menschliche Gesellschaft, auch die kleinste, die aus Mann und Weib und Kindern besteht, ist ein Körper; und zu jedem Körper gehören Haupt und Glieder. Gott selbst hat gewollt, […] dass nicht das Weib, sondern der Mann das Haupt seyn solle.143
Die Herleitung des Machtanspruches des Mannes umfasst bei Campe wesentliche Teile der Physis und der Psyche: »stärkerer Muskelkraft, strafferen Nerven, unbiegsameren Fasern sowie einem gröberen Knochenbau auf Seiten der Anatomie« entspreche auf Seiten des Charakters »größerer Muth, kühnerer Unternehmungsgeist, umfassenderer Verstand, aber auch auszeichnende Fertigkeit und Kälte gegenüber der Frau«.144 ›Männlichkeit‹ wird in diesem Zusammenhang als Quelle des Schutzes der Frau gedeutet, ohne die sie »von jedem vorübergehenden Fuß zertreten werde.145 Das Erfordernis der Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann verdeutlicht der Text an einer anderen Stelle: Nimm es immer […] zur Regel an, dass der Mann […] ein mehr oder weniger, aber doch immer in einigem Grade stolzes, gebieterisches, herrschsüchtiges, oft auch aufbrausendes und in der Hitze der Leidenschaft bis zur Ungerechtigkeit hartes und fühlloses Geschöpf ist.146
Alle dabei aufgeführten Eigenschaften auf Seiten des Mannes bedienen den zuvor angesprochenen Hegemonieanspruch innerhalb der Partnerschaft. Daher kann als Ergebnis festgehalten werden, dass der schmale Grad zwischen einer erzwungenen, biologischen Abhängigkeit und der Suche nach Geborgenheit auf Seiten der Frauen die Grundlage des Männlichkeitsentwurfes darstellt, wie er bei Campe geschildert wird. Die Geschlechter- und ›Männlichkeits‹-Debatte verdeutlicht im Zusammenspiel mit der vorangegangenen begriffsgeschichtlichen Analyse, welche epistemologischen Grundlagen in der Entstehungszeit der zu analysierenden Dramentexte in unterschiedlichen Kontexten ausdifferenziert vorliegen.
143 144 145 146
80
Joachim Heinrich Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1789, S. 20. Vgl. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 21. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 21. Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 24.
3.
›Männlichkeit‹ und Literaturwissenschaft
3.1
Methodologische Vorüberlegungen
Ziel des folgenden Abschnitts ist es, die literaturtheoretische Grundlage für eine textzentrierte Analyse der dramatischen Texte bereitzustellen. Dabei werden zunächst zwei Teilziele verfolgt: Erstens werden zwei grundlegende Texte der Literaturanalyse – der von Vera und Ansgar Nünning herausgegebene Band Erzähltextanalyse und Gender Studies sowie Manfred Pfisters Das Drama – mit Bezug auf die Analyse von ›Männlichkeit‹ in der Literatur in die Untersuchung einbezogen, wobei darin bereits vorhandene Ansätze kritisch hinterfragt und themenbezogene Erweiterungen auf der Basis der beiden Texte vorgeschlagen werden sollen. Das zweite Teilziel besteht in einer Vorstellung einiger ausgewählter Texte, die sich mit dem Phänomen ›Männlichkeit in der Literatur‹ auseinandersetzen: Helmut Fuhrmanns Der androgyne Mensch. ›Bild‹ und ›Gestalt‹ der Frau und des Mannes im Werk Goethes, Walter Erharts Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, Toni Tholens Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur sowie Ildikó Vékonys Literarische Männlichkeitsentwürfe: Zur ästhetischen Inszenierung von Männlichkeit in der bundesdeutschen Prosaliteratur um 1980. Die drei letztgenannten Texte legen ihren Schwerpunkt vor allem auf eine männlich-genderorientierte literaturwissenschaftliche Untersuchung von Prosatexten. Daher ist für die vorliegende Arbeit die methodologische Vorgehensweise im Zusammenhang von Literatur und ›Männlichkeit‹ interessanter als die eigentliche Anwendung anhand der in den beiden Texten zitierten literarischen Beispiele. Mit Bezug auf die Auswahl der Textbeispiele aus dem deutsch- und italienischsprachigen Bereich wurde auf eine Untersuchung der angloamerikanischen Literatur in einem separaten Abschnitt in diesem Kapitel bewusst verzichtet.1 Angesichts der erheblich gestiegenen Anzahl an Publikationen innerhalb der vergangenen Jahre ist die Auswahl der Forschungstexte zum Thema »literarische Männlichkeit« selbstverständlich als beispielhaft zu verstehen. In diesem Zusammenhang besteht das Hauptinteresse darin, besonders interessante Ansatzpunkte herauszuarbeiten und sie im Sinne der Zielstellungen für die vorliegende Arbeit gegebenenfalls zu erweitern.
1
Beispiele dafür sind die durchaus interessanten sowie vor allem methodologisch überzeugenden Studien von Brandt: Männerblicke und Stefan Horlacher: Masculinities. Konzeptionen von Männlichkeit im Werk von Thomas Hardy und D. H. Lawrence. Tübingen 2006.
81
3.2
Perspektiven für eine Männlichkeitsanalyse im Drama I: Erzähltextanalyse und Gender Studies (Nünning/Nünning)
Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung ist es, ›Männlichkeit‹ in ihrer literarischen Umsetzung anhand von deutschen und italienischen Dramentexten des 18. Jahrhunderts zu analysieren. Der Titel des von Vera und Ansgar Nünning herausgegebenen Bandes2 scheint diesem Anliegen der vorliegenden Arbeit zunächst drastisch zu widersprechen, da das Hauptaugenmerk bei Nünning/Nünning auf der Analyse von Erzähltexten liegt. Der Einbezug des Textes rechtfertigt sich dennoch aufgrund der folgenden Gegebenheiten: Zunächst muss festgestellt werden, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt innerhalb der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung mit germanistischer bzw. romanistischer Profilierung noch kein Text existiert, der ›Männlichkeit‹ als dezidierte Erscheinung in Dramentexten ausführlich behandelt. Zwar wird immer wieder darauf hingewiesen, dass genderspezifische Aspekte in der literarischen Analyse im Allgemeinen zweifelsohne von Bedeutung seien, wobei jedoch sowohl zum Themenkomplex ›Männlichkeit in Texten allgemein‹ als auch insbesondere zu ›Männlichkeit im Drama‹ weiterführende Forschungen bislang fehlen. Darüber hinaus zeigen bereits die einleitenden Bemerkungen, die das Autorenpaar Nünning/Nünning seiner Analyse voranstellt, methodologische Parallelen zur genderspezifischen Analyse von Dramentexten: Auf der Ebene der Handlung werden nicht geschlechtslose Charaktere, sondern weibliche und männliche Figuren dargestellt. […] Auch die Raum- und Zeitdarstellung sowie viele der typischen Plot- und Gattungsmuster sind in hohem Maße geschlechtsspezifisch geprägt.3
Beide Charakteristika können ohne Weiteres auch auf dramatische Texte angewendet werden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Erzähltext- und Dramenanalyse mit Bezug auf die Darstellungsmöglichkeiten von ›Männlichkeit‹ liegt zweifelsohne in der Erzählinstanz, die in dramatischen Texten fehlt. Für die literaturwissenschaftliche Analyse von ›Männlichkeit‹ in dramatischen Texten sind insbesondere drei Aspekte von zentraler Bedeutung: Raumdarstellung, Zeitdarstellung und Figurencharakteristik. Jeden dieser drei Aspekte behandelt ein separates Kapitel im Band von Nünning/Nünning. Sie sollen im Folgenden kurz vorgestellt und daraufhin aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit hinterfragt werden. Raumdarstellung und ›Männlichkeit‹ Im Zentrum der von Natascha Würzbach verfassten Ausführungen zur Raumdarstellung im Band bei Nünning/Nünning steht die These, dass »Raum als kulturelles Phänomen zum einen vielfältigen Semantisierungen […] unterworfen ist, zum anderen 2
3
82
Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: Vera Nünning, Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart 2004. Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 1.
aber auch mimetisch auf die soziale Realität verweisen kann«.4 Das zeige sich vor allem in »Einstellungen, Verhaltensweisen sowie kommunikativen oder konkreten Handlungen […] der Figuren«.5 Würzbach arbeitet zwei Grundpfeiler heraus, auf die sich eine Untersuchung der Raumdarstellung stützen müsse: Strukturierung und Bedeutungsgehalte sowie die stilistische Modellierung der dargestellten Räume.6 Daraus leitet sie folgendes Ziel für ihre Argumentation ab: Im vorliegenden Kapitel sollen nun literarische Schauplätze systematisch erfasst und im Rahmen der Geschlechtermatrix untersucht werden […]. Für die Raumdarstellung in ihren konkreten Einzelheiten, wie sie sprachlich vermittelt, durch soziale Normen und subjektive Wahrnehmung geprägt und geschlechterspezifisch konnotiert wird, sollen Kriterien vorgestellt und exemplarische Analysen geliefert werden.7
Mit der These der kulturabhängigen semantischen Konstruktion von Räumen rekurriert Würzbach – ohne dies jedoch zu dokumentieren – auf die einflussreiche Argumentation Jurij M. Lotmans, der den Raum als »Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die […] räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl.)«8 definiert. Zur kulturabhängigen Konstruktion äußert sich Lotman wie folgt: Historische und national-sprachliche Raummodelle werden zum Organisationsprinzip für den Aufbau eines »Weltbildes« – eines ganzheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist. Vor dem Hintergrund solcher Strukturen gewinnen dann auch die speziellen von diesem oder jenem Text oder einer Gruppe von Texten geschaffenen räumlichen Modelle ihre Bedeutsamkeit.9
Eine der Schlussfolgerungen aus Lotmans Argumentation, dass sich ein »räumliche[s] Modell der Welt« zu einem »organisierenden Element« entwickle, »um das herum sich auch die nichträumlichen Charakteristika ordnen«10 würden, lässt sich durchaus auf die Genderproblematik beziehen. Sie legt den Schluss nahe, ›Männlichkeit‹ könne als nichträumliche Komponente räumlich determiniert, räumlich geordnet werden. Würzbach vollzieht diese Verbindung nach. Allerdings beschränken sich ihre Ausführungen zur geschlechterspezifischen Raumdarstellung im Wesentlichen auf stereotype Zuschreibungen von Räumen (Natur, Stadt, Heimat, Fremde) und den Versuch, eine Verbindung zwischen der individuellen Wahrnehmung der Räume durch die beiden Geschlechter und deren Identitätskonstruktion herzustellen. Weitere Abschnitte sind unter anderem solchen Räumen gewidmet, die sich »mimetisch-realistisch […] an einem wie immer gearteten sozialen Konsens«11 orientieren 4
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Natascha Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 49. Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 49. Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 49. Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 50. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1993, S. 312. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 313. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 316. Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 62.
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oder einer subjektiven Bedeutungszumessung unterliegen. Auffallend ist die immer wiederkehrende These der kulturell bedingten Konstruierbarkeit sowie der kulturell bedingten geschlechterspezifischen Wahrnehmung der verschiedenen Räume. Dabei lässt sich Würzbach an einigen Stellen zu Äußerungen, wie: »als eine typisch ›männliche‹ Haltung der Erzählinstanz wird Distanznahme […] diagnostiziert«12 verleiten, die die alte Debatte nach einer dem Geschlecht geschuldeten Erzählweise wieder aufwerfen und mit Stereotypen ohne Rückkoppelung an einen konkreten Text und die ihn jeweils umgebenden historischen und kulturellen Bedingungen spielen. Überzeugender als ihre Ausführungen zum Wie sind Würzbachs Ergebnisse zum Was der räumlichen (narrativen) Darstellung, die sich auch auf dramatische Texte übertragen lassen. Anhand der Auflistung einiger ausgewählter Aspekte der geschlechterstereotypen Symbolisierung von Räumen, in denen laut Würzbach die »Wirkmächtigkeit traditioneller Geschlechterkonzeptionen«13 gezeigt werden, lassen sich für die Analyse der in der vorliegenden Arbeit zu besprechenden Texte interessante Fragestellungen ableiten: Würzbach referiert in der Gegenüberstellung räumlicher Gegensatzpaare ›Natur-Stadt‹ sowie ›Heimat-Fremde‹ traditionelle Motive der Raumsymbolik. Die Zuschreibung der traditionellen Naturkonzeption als ›weiblich‹, in der Würzbach Vorstellungen ausmacht, die »wesentliche Aspekte eines Frauenbildes aus männlicher Sicht erkennen lassen«14 (Unkontrollierbarkeit, Verführbarkeit, Triebhaftigkeit etc.), lässt jedoch aus männlicher Sicht eine Reihe von ebenfalls längst tradierten literarischen Mustern außer Acht. Zu fragen wäre hierbei neben den zuvor genannten Charakteristika der Natur nach expliziten Gewalt-, Militär- und Kampfdarstellungen (wie beispielsweise in den Szenen ›Lager der Reichsexekution‹, ›Wald in einem Morast‹, ›Gebirg‹ und ›Wald oder Heide, auf der einen Seite eine Höhe, auf der anderen Wald‹ im dritten Akt bei Götz von Berlichingen), die sich zum Teil aus rein dramaturgischen Gründen, zum Teil aber auch mit einem expliziten Übergewicht an männlicher Kommunikation und Aktion in einem männlich dominierten Aktionsradius in der freien Natur befinden. Die interessantere und von dem Eindruck von Stereotypen weitestgehend freie Position Lotmans wird von Würzbach vollkommen ausgeblendet. Lotman definiert die Grenze als eines der wichtigsten Merkmale eines topographischen Raumes.15 Basierend auf der ursprünglichen Annahme der Trennung verschiedener Räume durch die Grenze nimmt Lotman im Anschluss eine Unterteilung der Texte (und damit implizit auch der Figuren) in solche, die eine Grenzüberschreitung aufweisen bzw. vollziehen, und andere, die die bestehenden Grenze bestätigen, vor. Diese Charakteristik definiert die Figur folglich in Abhängigkeit zu ihrem jeweiligen Bewegungsspiel im Raum; eine Kategorie, die Lotman mit dem Begriff ›Verwandlung‹ bezeichnet.16 Da sich die männlichen Figuren in statische und dynamische Figuren einteilen lassen, eröffnet
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Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 65. Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 51. Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 51. Vgl. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 327. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 319.
die Kategorie der räumlichen Deixis und die Relation, welche die entsprechende männliche Figur dazu einnimmt, einen interessanten Aspekt auf deren Dynamik. Grenzgänger sind in den zu analysierenden Texten in großer Anzahl vertreten, wobei an dieser Stelle nur ein Beispiel genannt werden soll: Don Giovannis Einladung an die Statue des Ordensritters entwickelt sich durch die Diskrepanz zwischen der Welt der Geister und der der Lebenden von einer metaphorischen räumlichen Transgression zu einer tatsächlich physischen, indem er die Hand des steinernen Gasts ergreift. Goethes Text besitzt im Hinblick auf die Raumdarstellung eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte, die insbesondere den männlichen Figuren ein breites Aktionsspektrum eröffnen. Die enge Bindung der Natur an ein dem ritterlichen Ideal verpflichteten Identitätskonzept, wie es sich in der Titelfigur wieder findet, versinnbildlicht Goethe anhand des Gesprächs, das Götz mit seinem Sohn im ersten Akt führt, wobei ›Männlichkeit‹ auf Seiten des Reichsritters der doppelten ›Unmännlichkeit‹ auf Seiten des Sohnes gegenübersteht (Carl ist sowohl durch sein Alter als auch durch sein offensichtlich ›apartes‹ Wesen ein ›unmännlicher‹ Gegenentwurf zu Götz auf familiärer Ebene). Ebenso wie in Die Räuber kommt der Gestaltung von räumlich geschlossenen und offenen Szenen in Götz von Berlichingen eine besondere Bedeutung zu. Insbesondere am Ende des dritten Aktes wird diese Gegenüberstellung während der Belagerung der Burg in Jaxthausen deutlich: Der (männlich-militärischen) Bedrohung von außen muss Götz in einer prekären Lage in geschlossenen Räumen begegnen, darunter auch in der Küche (im Gespräch mit Elisabeth). Das Haus stellt laut Würzbach für den Mann einen »temporären Ruheort, von dem aus er zu öffentlichen Orten der Bewährung und Bestätigung aufbricht«,17 dar. Dass jedoch auch die Stadt, neben dem Haus ein weiterer der Zivilisation verpflichteter Gegenpol zur Natur, verführerisch und dadurch die Integrität der ›Männlichkeit‹ gefährdend wirken kann, wird von Würzbach klar herausgearbeitet. In Götz von Berlichingen wird dies insbesondere in der Schilderung des Bischofssitzes in Bamberg deutlich, von wo aus beiderseits Adelheids ›Weiblichkeit‹ als auch die dem ritterlichen Männlichkeitsideal deutlich entgegen gestellten Verhaltensweisen des (männlichen) Hofstaates das Zerwürfnis zwischen Götz und Weislingen provozieren. In der Vorgeschichte zu Die Räuber flieht Karl zunächst aus dem väterlichen Hause in die Studentenstadt Leipzig (und damit folglich von patriarchalischer zu spätadoleszenter Zivilisation im Kontext der Stadt). Das Scheitern in der zweiten Form zieht das Entsagen der ersten nach sich und führt zur Zuwendung zur Natur in Form eines männlichen Rituals des Zusammenlebens in Form einer Räuberbande in den Wäldern. Würzbach arbeitet in diesem Zusammenhang eine doppelte Funktion der genderspezifischen Zuschreibung der Stadt als Raum heraus, die sich in Die Räuber wiederfindet: Das weiblich konnotierte Bild der Stadt als »willige Hure«,18 in der Karl ausgerechnet beim Glücksspiel und bei Zechprellerei (in beiden Fällen Arten der Verführung durch sinnlichen Lüste und Formen des Begehrens) seine gesell17 18
Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 53. Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 50.
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schaftliche Würde verliert, steht dem eigentlich männlich konnotierten Ziel der Zuwendung zur Stadt aus Studienzwecken und somit dem Teilhaben an der Öffentlichkeit (im 18. Jahrhundert ein Privileg der ›Männlichkeit‹) gegenüber. Die von Würzbach angeführte Gegenüberstellung der mit der Raumdarstellung verbundenen Begriffe ›Heimat‹ und ›Fremde‹ wird aus männlicher Sicht in Mozart/Da Pontes Così fan tutte geschickt instrumentalisiert: Ferrando und Guglielmo sollen in einem fingierten militärischen Initiationsritual als ›Soldaten‹ eine Reise unternehmen und werden von ihren Frauen pompös verabschiedet. Als orientalische Liebhaber verkleidet, kehren sie schließlich aus der Fremde zurück und bedienen sich dabei der im 18. Jahrhundert den Männern vorbehaltenen Privilegien der Reise in ein fremdes Land und eines in einer erotischen Maskerade gipfelnden, männlichen Identitäts- und Mentalitätswechsels. Diese Aspekte der Raumdarstellung sind – um eine der Eingangsthesen Würzbachs aufzugreifen – Beleg für die vielfältigen kulturellen Semantisierungsmöglichkeiten von Räumen und sollen gemeinsam mit den von Lotman vertretenen Auffassungen in der Textanalyse im folgenden Kapitel aufgegriffen und anhand der entsprechenden Textstellen vertieft werden. Zeitdarstellung und ›Männlichkeit‹ Eveline Kilian widmet sich in dem Kapitel »Zeitdarstellung« vor allem zwei hauptsächlichen Aspekten: der Verbindung von Geschlecht und Identitätsfindung anhand dessen, was sie als ›Lebensgeschichte‹ erfasst, sowie insbesondere der geschlechtsspezifischen Wahrnehmung von Zeit:19 Gender ist an das Moment der Erfahrung geknüpft, und das heißt in unserem Fall, dass wir unser Augenmerk auf die Interdependenz von Zeiterfahrung und Geschlecht richten müssen, auf die Art und Weise, wie diese im literarischen Text entworfen wird.20
Die Verortung des Individuums in Raum und Zeit wirke im Gestaltungsprozess der eigenen ›Lebensgeschichte‹ als sinngebende Strategie, die, wie Kilian im Rekurs auf Paul Ricœurs Terminus der ›narrativen Identität‹ herausarbeitet, die ›Lebensgeschichte‹ zu einem »wesentlichen Faktor der Subjektinformation«21 mache. Als deren Leitprinzipien bezeichnet Kilian die Konzepte von ›Kontinuität‹ und ›Kohärenz‹, wobei sich ›Kohärenz‹ auf die »synchrone Ebene der Identitätsgestaltung, Kontinuität auf die diachrone«22 beziehe. Diese Konzepte eignen sich besonders für eine narrative Analyse; sie können jedoch auch auf dramatische Texte bezogen werden. Der entscheidende Unterschied liegt erneut in der literarischen Vermittlung – in diesem Fall der ›Kontinuität‹, die in dramatischen Texten nicht auf eine Erzählinstanz zurückgreifen kann. Daher muss ›Kontinuität‹ sich mit Hilfe der Figurenrede im dramatischen Verlauf rekonstruieren lassen. Entscheidende Aspekte des drama19
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Vgl. Eveline Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 75ff. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 77. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78.
tischen Geschehens liegen in den einzelnen Texten mit Bezug auf das Zeitarrangement vor dem Beginn der eigentlichen Handlung. So geht die Verführung Donna Annas in Don Giovanni unmittelbar dem Beginn des Textes voraus. Die ›Kohärenz‹ gestaltet der Nebentext, in dem in die Raumstruktur eingeführt wird, und darüber hinaus Leporellos Äußerungen zu Beginn des Haupttextes. Gleichzeitig beinhaltet Leporellos Lamento eine Ankündigung einer doppelten ›männlichen Kontinuität‹ – für ihn die des Dienens und für seinen Herren die der Verführung, die im Hinblick auf das Libretto textkonstituierend wird. Die Identitätskonstruktion Don Giovannis – oder, um in den Worten Kilians zu bleiben – seine ›Lebensgeschichte‹, umfasst Elemente der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft und wird in Szene I/1 des Textes zunächst durch Nebentext, danach durch die indirekte Charakterisierung der Figurenrede Leporellos und schließlich durch die direkte Charakterisierung in der eigenen Figurenrede realisiert. Unter Berücksichtigung der dramatischen ›Kontinuität‹, die in der Figur des Don Giovanni angelegt ist, sowie der ›Kohärenz‹ des aktuellen Geschehens setzt sie sich in dem eben geschilderten Beispiel systematisch zusammen. Eine lohnende Überlegung ist an dieser Stelle, inwiefern beide von Kilian angesprochenen Aspekte des Zeitarrangements auf eine dezidiert ›männliche‹ Identitätsfindung Einfluss nehmen. Kilian begründet den Zusammenhang zwischen der sich in einem bestimmten Zeitraum vollziehenden Identitätsfindung und der Kategorie ›Geschlecht‹ aus konstruktivistischer Sicht: Lebensverläufe von Männern determinierten von der Geburt an durch konsequente Sozialisationsmechanismen eine (männliche) Subjektkonstruktion, was Kilian mit der an Butler erinnernden Formulierung »Macht der Geschlechterordnung« bezeichnet.23 Die Verbindung zum Faktor ›Zeit‹ werde dadurch erreicht, dass »Lebensgeschichte an die Zeitlichkeit gebunden«24 sei. Ein weiterer für die Analyse interessanter Punkt ist die Frage nach der individuell-männlichen Wahrnehmung von Zeit. Kilian versucht, dabei herzuleiten, dass ›männliche‹ Zeiterfahrung eher teleologisch bzw. dynamisch angelegt sei, wogegen ›weibliche‹ Zeiterfahrung eher dazu tendiere, statisch zu wirken.25 Es gelingt ihr allerdings nur, die ›weibliche‹ Zeiterfahrung überzeugend literaturwissenschaftlich herauszuarbeiten. Ein möglicher Anknüpfungspunkt zur Herleitung einer Zeiterfahrung, die das Handeln von männlichen Dramenfiguren entscheidend beeinflusst, könnte sich aus dem Zusammenspiel mit den von Kilian zuvor angeführten Kategorien der ›Kontinuität‹ und ›Kohärenz‹26 ergeben. Erneut soll Mozart/Da Pontes Libretto Don Giovanni dafür als Beispiel dienen: Es gehört gewissermaßen zu den 23 24 25
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Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 79. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 79. Kilian verwendet, indem sie sich auf Dorothy Richardsns Romanzyklus Pilgrimage bezieht, dafür die Termini ›becoming‹ und ›being‹ und bezeichnet diese Argumentationsart dabei als die »essentialistische Variante«. Vgl. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 86. ›Kontinuität‹ bezeichnet bei Kilian »die diachrone Ebene der Identitätsgestaltung«, ›Kohärenz‹ die »synchrone«. In: Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78.
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die Figur des Don Giovanni konstituierenden Merkmalen, die ›Kontinuität‹ im Sinne einer zeitlich stabilen, gleichmäßigen Entwicklungstendenz abzulehnen. Don Giovanni schafft sich – und es bleibt zu prüfen, in wie weit dies auf weitere männliche Figuren übertragbar ist – seine eigene Form der ›Kontinuität‹, die in Bindungslosigkeit gemäß einem traditionell-›männlich‹ konnotierten Tatendrang besteht, die einer auf Ruhe und Gleichmäßigkeit beruhenden ›Kontinuität‹ entgegentritt. Das hat Auswirkungen auf seine subjektive Zeitwahrnehmung, die ihn in fiebrigen Sprüngen von einem amourösen Abenteuer zum nächsten treibt. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass Don Giovanni sich im gesamten Text nicht ein einziges Mal der für die Identitätsfindung wichtigen Vergangenheitsbewältigung stellt.27 Erinnerungen werden im dramatischen Kontext der beiden männlichen Hauptfiguren nur von Leporello vorgetragen; Don Giovanni scheint die mnemonische Fähigkeit (und damit die Fähigkeit der Zeiterfahrung) aufgrund seiner rastlosen ›männlichen‹ Existenz – oder, wie Kilian argumentiert, durch sein Verweilen auf der synchronen Ebene der ›Kohärenz‹ – abhanden gekommen zu sein. Diese These muss selbstverständlich noch einer genauen textgebundenen Prüfung im Analyseteil standhalten. Figurencharakteristik und ›Männlichkeit‹ Marion Gymnich wendet sich in ihrem Kapitel dem Zusammenhang von Figurencharakteristik und Geschlecht zu. Realistisch-mimetische Figurenkonzeptionen lehnt sie dabei ebenso ab wie rein strukturalistische Ansätze, deren Ziel die ausschließliche Konzeption der Figur als Handlungsträger sei.28 Sie schlägt dagegen eine Mischform vor, in der Figuren »als textuelle Konstrukte aufgefasst werden, die gleichwohl in Analogie zu realen Personen konstruiert werden«.29 Ihr gelingt ein überzeugender Beweis der symbolischen Verweisfunktion kulturell abhängiger, tradierter Figurenmuster: Viele literarische Figuren – vor allem solche aus Werken, die zum Literaturkanon gezählt werden können, – sind im kulturellen Gedächtnis verankert, d. h. sie sind oft auch solchen Mitgliedern einer Kultur bekannt, welche die literarischen Texte, denen die Figuren entstammen, nie gelesen haben. […] Solche kulturell tradierten Figuren [können, M.B.] u. a. bestimmte Vorstellungen von gender und Sexualität evozieren.30
Der sich daraus ergebende Ansatz zur Figurencharakteristik sei laut Gymnich sowohl »rezeptionsorientiert als auch kognitiv« und lasse sich besonders gut mit den Einheiten ›sex‹ und ›gender‹ verbinden. Literarische Männlichkeitsentwürfe sind demnach entscheidend an die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Muster 27
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In diesem Zusammenhang würde sich durchaus ein Vergleich mit Goethes Faustfigur anbieten, deren Vergangenheitsbewältigung vor allem an zwei entscheidenden Stellen mit Hilfe externer Einflüsse unterbrochen wird: durch die Verjüngung in der Hexenküche sowie durch den Vergessensprozess zu Beginn des zweiten Teils. Marion Gymnich in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 126f. Gymnich in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 129. Gymnich in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 129.
gebunden, die in der jeweiligen Entstehungszeit der Texte als gültig bzw. existierend angenommen werden können. Über die die jeweilige Entstehungszeit der Texte begleitenden Männlichkeitsvorstellungen hinaus greifen Mechanismen der ›männlichen‹ Figurencharakteristik auf – wie Gymnich es im vorangegangenen Zitat formulierte – ›kulturell tradierte Figuren‹ und deren kulturelle Konnotationen zurück. Karl Moor und seine Gefährten fristen ihr Dasein als ›Räuber‹ – ein durch soziale Ausgrenzung klar markierter Typus der ›wilden Männlichkeit‹, der sich u. a. durch Gesetzlosigkeit, Opposition gegenüber gesellschaftlichen Autoritäten und Freiheitsdrang von anderen Erscheinungsformen abhebt. Götz ist ein Reichsritter und damit seinem sozialen Stand und den damit verbundenen Erwartungshaltungen verpflichtet. Der Komtur vereint die soziale Position des Aristokraten mit der sozialen Funktion des Vaters und muss daher Don Giovanni zwangsläufig zum Duell herausfordern, was in der dramatischen Progression zu seinem Tod und damit zur Akkumulation der Sünden bei Don Giovanni führt. Problematisch auf der einen und besonders interessant auf der anderen Seite gestaltet sich die Situation, wenn männliche Figuren den in sie gesetzten männlichkeitsspezifischen Erwartungen und Stereotypen bzw. scheinbar ausdifferenzierten Rollenmustern nicht entsprechen wollen oder können. Sie laufen damit bei Nichterfüllung hoher Erwartungsmuster Gefahr, entweder Lächerlichkeit oder Mitleid auf sich zu ziehen – wie im Beispiel des Major von Tellheim oder Don Ottavios – oder bei Übererfüllung niedriger Erwartungen, Anerkennung und Erstaunen zu erlangen – wie etwa im Beispiel der Dienerfiguren Figaro oder Leporello. Gymnich weist darüber hinaus auf Rollenzwänge hin, mit denen überindividuelle Probleme männlicher Figuren bezeichnet werden können, die trotz des (anatomischen) männlichen Geschlechts verschiedene soziale Erwartungen nicht erfüllen.31 Der entsprechende, auf Manfred Pfister zurückgehende Terminus lautet ›Korrespondenzbezug‹.32 Auf diesem Wege lässt sich die These aufstellen, dass die Figurenkonzeption, kulturell tradiert und gesellschaftlich bekannten Männlichkeitsentwürfen verpflichtet, sowohl in bestätigender als auch in revidierender Form als ein das Drama konstituierendes Element fungieren kann. Eine zusätzliche Bedeutung komme dabei laut Gymnich der Eigen- und Fremdcharakteristik in der Figurenrede zu, bei der »die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ›Geschlecht‹ und ›Sexualität‹«33 eine zentrale Rolle spiele. Der situative Kontext der Figurenrede sei im Hinblick auf Schlussfolgerungen zu Geschlechterproblematik teilweise ebenso entscheidend wie deren Inhalt. Der von Nünning/Nünning herausgegebene Band Erzähltextanalyse und Gender Studies beinhaltet, wie gezeigt werden konnte, einige Aspekte, die für eine Analyse der Konstruktion von ›Männlichkeit‹ in Dramentexten lohnende Impulse geben können. Es schließt sich jetzt eine kritische Betrachtung von Manfred Pfisters Das Drama mit Bezug auf das Forschungsvorhaben der vorliegenden Arbeit an. 31 32 33
Gymnich in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 137. Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 2001, S. 227ff. Gymnich in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 135.
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Perspektiven für eine Männlichkeitsanalyse im Drama II: Das Drama
Manfred Pfisters Standardwerk Das Drama. Theorie und Analyse ist mit Bezug auf die männlichkeitsorientierte Themenstellung der vorliegenden Arbeit aus folgendem Grund interessant: Es eröffnet figuralen Konzeptionen, die in der Analyse der Männlichkeitsentwürfe gewissermaßen die Funktion einer Projektionsfläche von genderspezifischen Theoremen erfüllen, vor dem Hintergrund der Einbettung in die Dramentheorie einen breiten Raum. In Anknüpfung an die zuvor bei Gymnich genannten Typen der Figurendarstellung ist bei Pfister festzustellen, dass sich seine Argumentation in die strukturalistische Tradition der Figur als Aktant bzw. Handlungsträger einschreibt, deren charakteristisches Merkmal die enge Verknüpfung der jeweiligen dramatischen Figur mit dem ihr entsprechenden, textinternen Kontext ist: Denn im Gegensatz zu einer realen Person […] ist eine dramatische Figur von ihrem Kontext überhaupt nicht ablösbar, da sie ja nur in diesem Kontext existiert, sie erst in der Summe ihrer Relationen zu diesem Kontext konstituiert wird.34
Auf die Geschlechter- bzw. Männlichkeitsthematik übertragen, bedeutet das die Einbettung des in einer dramatischen Figur angelegten Männlichkeitsentwurfes in die entsprechenden textinternen Kontextbezüge. ›Männlichkeit‹ wird damit auch im dramatischen Verlauf zu einer relativen Größe, die sich anhand der Begleitumstände, unter denen die Figur agiert bzw. interagiert, zusammensetzt. Im Bereich der sogenannten »Figurenkonzeption«, die Pfister als »das anthropologische Modell, das der dramatischen Figur zugrunde liegt und die Konventionen seiner Fiktionalisierung«35 versteht, bezieht er jedoch darüber hinaus auch einen »historisch und typologisch variablen Satz von Konventionen«36 ein. Das historisch rekonstruierbare Repertoire anthropologischer Vorstellungen wird dadurch neben der kontextuellen Einbettung in den Text zu einer zweiten wichtigen Größe in der Analyse männlicher Dramenfiguren. Statische Merkmale der Personalstruktur: ›Männlichkeit‹ in Korrespondenz- und Kontrastrelationen In den Abschnitten »Personal«, »Figurenkonstellation« sowie »Figurenkonfiguration« beschreibt Pfister zentrale Themenkomplexe, die im Hinblick auf die Analyse von ›Männlichkeit‹ in Dramentexten wichtige Kriterien vorgeben. Da aufgrund der Ergebnisse des ersten Kapitels der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen werden kann, dass ›Männlichkeit‹ nicht nur eine relative, sondern vor allem eine relationale Größe darstellt, erscheint es sinnvoll, in den Dramentexten nach den individuellen Beziehungen der männlichen Figuren untereinander und gegenüber den weiblichen Figuren zu fragen. Anhand der englischen Komödie der Restaurationszeit zeigt 34 35 36
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Pfister: Das Drama, S. 221. Pfister: Das Drama, S. 240. Pfister: Das Drama, S. 241.
Pfister diese sogenannten qualitativen Korrespondenz- und Kontrastrelationen der Figuren auf, wobei er darauf hinweist, dass sich mit Bezug auf die Entstehungszeit der Texte sowie auch zwischen einzelnen Textbeispielen der gleichen Entstehungszeit gewisse Unterschiede ergeben können.37 Da Pfisters Aussagen und Ergebnisse zu den Strukturmerkmalen des dramatischen Personals in überwiegendem Maße auf die zu analysierenden Textbeispiele aus dem 18. Jahrhundert übertragbar sind, rechtfertigt sich deren Übernahme für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit. Als erste Korrespondenz- und Kontrastrelation führt Pfister die binäre Geschlechteropposition männlich-weiblich an. Gymnich schlägt eine Skalierung dieser Begriffe vor, um die aktuellen Ergebnisse der Geschlechterdebatte zu berücksichtigen,38 was sich in Pfisters Schema durchaus realisieren lässt, ohne von der Grundaussage abweichen zu müssen. Innerhalb der Gruppe der männlichen Figuren seien laut Pfister »Unterschiede im geschlechtsspezifischen Werbungsverhalten«, aber auch Infragestellungen tradierter Schemata von ›Männlichkeit‹ zu verzeichnen, wie sie sich beispielsweise im »effeminierten Mann«39 zeigen würden. Den männlichen Dramenfiguren liegt daher die grundsätzliche Korrespondenzbeziehung der formal gleichen Geschlechtszugehörigkeit zugrunde, die sich bereits aus der Figurenübersicht ergibt. Welche geschlechtsspezifischen Korrespondenzbeziehungen darüber hinaus noch existieren, entscheiden entweder weitere Parameter (Alter, sozialer Status etc.) oder der Verlauf der dramatischen Entwicklung der Figur. ›Männlichkeit‹ wird in dem Moment als relative und relationale Kategorie deutlich, sobald verschiedene Vertreter des formal gleichen Geschlechts in Kontrastbeziehungen zueinander und zum zeitgenössischen Kontext der Männlichkeitsvorstellungen – oder, anders gesagt – zur Menge an historisch rekonstruierbaren Vorstellungen von ›Männlichkeit‹ treten. Dieser Aspekt verweist auf die im vorangegangenen Abschnitt bei Gymnich beschriebenen rezeptionsumfassenden und kognitiven Konzeptualisierungen von Figuren und bleibt bei Pfister bewusst ausgeblendet, da er die Rezipientenseite in seiner strukturalistischen Auffassung der Figurenstruktur nicht berücksichtigt. Die Konstruierbarkeit männlicher dramatischer Figuren, die sowohl auf intertextuelle Bezüge zu bereits vorliegenden männlichen Dramenfiguren aus früheren Texten als auch auf bestehende Assoziationen mit ›Männlichkeit‹, die sich im öffentlichen und privaten Bereich mit Bezugnahme auf gesichertes Wissen zum Thema ›Mann‹ (z. B. Lexikonwissen) ergeben, macht Gymnichs Perspektive allerdings für die Erforschung der literarischen Repräsentation von Männlichkeitsentwürfe zu einer klar abgegrenzten Zeit zwingend erforderlich. Das bisher Gesagte soll allerdings nicht in Frage stellen, dass ›Männlichkeit‹ darüber hinaus selbstverständlich auch in Kontrastbeziehung zu ›Weiblichkeit‹ treten kann. Auch in dieser Relation kann es zu Korrespondenzbeziehungen der außergeschlechtlichen Parameter kommen, wie noch zu zeigen sein wird. 37 38 39
Vgl. Pfister: Das Drama, S. 227. Gymnich in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 137. Pfister: Das Drama, S. 228.
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Anhand des zweiten personalstrukturierenden Merkmals, das Pfister anführt, – der Opposition »alt-jung«40 – wird erneut der Kontextbezug einer Bewertung von ›Männlichkeit‹ im 18. Jahrhundert deutlich. Die Opposition »alt-jung« zieht männlichkeitsintern die Gegenüberstellung von »alter« bzw. »junger« ›Männlichkeit‹ nach sich. ›Männlichkeit‹ ergibt sich demnach erst ab einem gewissen Lebensalter; innerhalb des Männlichkeitsparadigmas knüpft sich die Zuschreibung dezidiert männlicher Attribute an die Überschreitung des 30. Lebensjahres. Pfister verdeutlicht die Opposition »alt-jung« mit Bezug auf die Komödie der englischen Restaurationszeit: Während der Gruppe der Jungen […] normalerweise ein ungebrochenes Verhältnis zur sexuellen Libido gemeinsam ist, ist die Gruppe der Alten durch unterschiedliche Einstellungen zur Liebe weiter differenziert: da ist der Alte, der seine Impotenz durch beruflichen Ehrgeiz kompensiert, der gealterte Lüstling, dessen strenge moralische Forderungen an seine junge Frau rein präventiv und defensiv sind, da ist die Figur des verliebten Greises […] der griechischen Komödie.41
Was aber bedeutet das mit Bezug auf das vorliegende Textkorpus? Ein an dieser Stelle keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebender Blick auf die männlichen Figuren der Dramentexte lässt Parallelen und Unterschiede erkennen: So zeigt sich innerhalb der Texte Mozart/Da Pontes die von Pfister angesprochene Libido in den Figuren Figaro, z. T. auch Cherubino, Don Giovanni, Leporello bzw. Ferrando und Guglielmo, die allesamt einem eher ›jüngeren‹ Männlichkeitsentwurf zuzuordnen sind. Allerdings sind die amourösen Relationen auf der anderen Seite gerade bei Mozart/Da Ponte sehr kunstvoll gestaltet und alles andere als »ungebrochen«. Komplizierter und unter anderem der dramatischen Entwicklung einer Tragödie geschuldet erscheint die ›junge Männlichkeit‹ in den Figuren von Weislingens Diener Franz in Götz von Berlichingen und Franz bzw. Karl Moor in Die Räuber. Tellheim, Götz, der Graf von Almaviva und Don Ottavio beschreiben ein Bindeglied zwischen Jugend und Alter; eine Zwischengeneration, die von der Jugend herausgefordert wird und sich dennoch vom Alter (z. B. Bischof von Bamberg, Vater Moor, der Komtur und Don Alfonso) deutlich abgrenzen. Die männlichen Figuren der Zwischengeneration sind allesamt durch einen Realitäts- und Identitätsbruch gekennzeichnet, der ihrer nicht eindeutigen Zuordnung zu den Oppositionspolen »jung« oder »alt« geschuldet ist. Dieser Bruch zeigt sich auf textueller Ebene vor allem dadurch, dass die Figuren der Zwischengeneration die ehemalige Fähigkeit der systematischen Kontrolle der Alten ebenso aus den Händen gegeben haben wie die Fähigkeit der Jungen zur Rebellion. Das macht sie im Hinblick auf die Altersproblematik zum eigentlichen dramatischen Zentrum der Texte. Aus diesem Grund ist für die sich anschließende Textanalyse eine graduelle Abstufung der von Pfister vorgeschlagenen Opposition hilfreich. Als drittes Merkmal schlägt Pfister die Klassenzugehörigkeit der Figuren vor. Darauf ist bereits im Hinblick auf den Zusammenhang von ›hegemonialer Männlichkeit‹ und der ›Gentry‹ eingegangen worden. Auch Pfister nimmt die Gruppe der ›Gentry‹ in seine Opposition auf und differenziert zwischen Zugehörigkeit und 40 41
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Pfister: Das Drama, S. 228. Pfister: Das Drama, S. 228.
Nichtzugehörigkeit zur ›Gentry‹, wobei die Nichtzugehörigkeit sich erneut in Dienerfiguren und »Vertreter bürgerlicher Berufe« aufspalte.42 Aus Sicht der männlichen Dramenfiguren sind mit der Klassenzugehörigkeit besondere geschlechtsspezifische Konfliktpotenziale vorherbestimmt: So kann beispielsweise Tellheims Schicksal als ausgemusterter Offizier als symptomatisch für die enge Verknüpfung von Klassenzugehörigkeit und Klassenbewusstsein sowie Männlichkeitsrepräsentation gewertet werden: Um gemäß einem traditionell Männern vorbehaltenen Beruf Karriere zu machen und damit nicht nur finanzielle Unabhängigkeit, sondern auch gesellschaftliche Reputation zu erlangen, diente Tellheim als Major im preußischen Heer. Die dem Beruf geschuldete körperliche Verletzung und seine sich daraus herleitende Entlassung aus dem Militär machen ihn nun zu dem, was Dirk Kemper ein ›Exklusionsindividuum‹43 nennt. Tellheims gesellschaftlich anerkennenswerte ›Männlichkeit‹ war an das Selbstverständnis seines sozialen Standes, oder systemtheoretisch argumentiert, an seine Funktion im System des Militärs, gebunden. Der Verlust des Standes zieht, wie an Tellheims Beispiel deutlich wird, Konsequenzen im privaten, im amourösen, ja auch im sexuellen Bereich nach sich. Ein weiteres Beispiel für die enge Verbindung von ›Männlichkeit‹ und Standeszugehörigkeit ist der Graf von Almaviva in Le nozze di Figaro. Seine sexuelle Libido versucht er, mit Hilfe von standesrechtlichen Adelsprivilegien, symbolhaft verankert im ›Recht der ersten Nacht‹ (›Ius primae noctis‹),44 durchzusetzen. Die Brüchigkeit dieser standesbezogenen Praktiken verdeutlichen Mozart/Da Ponte dadurch, dass sie sowohl das Objekt der geplanten Verführung, Susanna, und ihren Verlobten, Figaro, als auch die Frau des Grafen die Absicht antizipieren und daraufhin ein standesübergreifendes Komplott gegen den Grafen schmieden lassen. Weitere Oppositionen, die der Figurencharakteristik laut Pfister dienen, sind »Differenzmerkmale von mehr historischer Relevanz«: die Gegenüberstellung von Figuren des ländlichen und städtischen Bereichs sowie die Opposition von ›glaubhaft und gekünstelt wirkenden Figuren‹,45 sowie von Figuren ›mit und ohne ausgesprochene kognitive Fähigkeiten‹.46 42 43
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Vgl. Pfister: Das Drama, S. 229. Vgl. Dirk Kempers Argumentation – an dieser Stelle anhand des Romans Die Leiden des jungen Werthers verdeutlicht. In: Dirk Kemper: »Ineffabile« Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne. München 2004, S. 75ff. Die umstrittene Frage, ob dieses »Recht der ersten Nacht« tatsächlich praktiziert worden ist und wenn ja, ob durchweg von Personen adliger Herkunft, ist für die Belange der Argumentation nicht entscheidend. Wichtiger ist, dass es als literarisches Motiv mit männlichen Adelsprivilegien assoziiert wird. Zum »Recht der ersten Nacht« sei folgende weiterführende Lektüre empfohlen: Alain Boureau: Das Recht der Ersten Nacht. Die Geschichte einer Fiktion. Düsseldorf 1996 sowie Jörg Wettlaufer: Das Herrenrecht der ersten Nacht. Hochzeit, Herrschaft und Heiratszins im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Zit. nach: http://books.google.de/books?vid=ISBN3593363089&id=0lBJ0nUmYCYC& printsec=frontcover#PPA11,M1 (Zugriff: 21. 06. 2007). Pfister verwendet die der englischen Terminologie entnommenen Begriffe ›nature‹ und ›affectation‹, die aber der Verständlichkeit halber im Folgenden durch ihre deutschen Entsprechungen wiedergegeben werden sollen. In: Pfister: Das Drama, S. 229. Auch dafür bleibt Pfister in der englischen Terminologie: ›wit‹ bzw. ›non-wit‹. Pfister: Das Drama, S. 230.
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Im Bereich der amourösen Codes und Sexualität differenziert Pfister analog zu seiner zuvor getroffenen Unterscheidung von glaubwürdigen (›nature‹) und gekünstelt (›affectation‹) wirkenden Figuren zwischen Libertins (›libertines‹, die »alle christlichen oder platonischen Liebesideologien ablehnen und ihre Sexualität einfach als einen Appetit betrachten, der wie jeder andere auch genußvoll befriedigt werden muß«)47 und Hypokriten (›hypocrites‹, die »diesen Appetit heuchlerisch hinter Tugendmasken verbergen oder aber ihn prahlerisch ins Unermeßliche aufblähen«).48 Diese Unterscheidung kann die amourösen Erscheinungsformen, die sich in den männlichen Dramenfiguren ca. ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl in den ausgewählten deutschen als auch in den italienischen Texten zeigen, jedoch nur teilweise beschreiben. Sie lässt zwei Aspekte außer Acht, die im Zuge des von Niklas Luhmann beschriebenen Modernisierungsprozesses der Gesellschaft im 18. Jahrhundert insbesondere im Hinblick auf die Geschlechterbeziehungen entscheidend sind. Der erste davon ist nach Luhmann die Imitierbarkeit der Liebe an sich als erlernbarer Code: In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.49
Der zweite Aspekt umfasst den semantischen Bruch zwischen zwei Liebeskodifikationen, zwischen der dem Libertin zugeordneten Liebe als Spiel der Verführung und des Vergnügens und der Liebe als (prä)romantischer Passion. Die von Luhmann vorgeschlagene Unterscheidung lässt sich anhand der Dramentexte, die allesamt eine Schwellensituation im Übergang zwischen Libertinage und (prä)romantischer Liebe als Passion einnehmen, sehr aussichtsreich auf die männlichen Dramenfiguren anwenden. Selbstverständlich berühren die angesprochenen ›Bruchlinien‹ über die amourös-gefühlsbetonten Beziehungen (Liebe, Sexualität, Verführung, Flirt) hinaus auch die interpersonalen Bereiche der Intimität (Liebe in der Ehe, Liebe in der Familie und Verwandtschaft).50 In den italienischen Texten wird aus männlicher Sicht ein sehr diffuses Repertoire amouröser Typologisierungen präsentiert. Hervorzuheben sind dabei vor allem die Texte Mozart/Da Pontes, die durch einen besonders ludistischen Umgang mit den Beziehungen der Strukturelemente ›Geschlecht‹, ›sozialer Stand‹ und ›Liebescode‹ gekennzeichnet sind. Dabei ist insbesondere Le nozze di Figaro zu erwähnen, wobei der Graf von Almaviva als Repräsentant der Libertinage noch in der Tradition der ›amour séduction‹ agiert, wogegen sich die Gräfin von Almaviva – ihm in der standesbezogenen Hierarchie gleichgeordnet – sich ebenso wie der Bursche Figaro bereits nach einer Liebeserfüllung im Sinne der ›amour passion‹ sehnt. Dienerfiguren kommt bei Mozart/Da Ponte häufig die Schlüsselfunktion der amourösen Imitatio, 47 48 49 50
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Pfister: Das Drama, S. 230. Pfister: Das Drama, S. 230. Luhmann: Liebe als Passion, S. 23. Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, S. 152ff.
des gezielten Simulierens der Affekte, wie etwa durch Leporellos Liebesschwüre an Donna Elvira in II/3, zu. Das Liebes- bzw. Sexualverhalten der männlichen Figuren wird in den deutschen Dramentexten durch dunklere, stark psychologisierte Konfliktsituationen bestimmt. Diese können, was anhand des Beispiels von Minna von Barnhelm gezeigt werden kann, nicht nur auf gattungsspezifische Unterschiede zwischen komödiantischer und tragischer Stoffentwicklung zurückgeführt werden. Die ›Männlichkeit‹, die in den deutschen Texten repräsentiert wird, scheint nach einer ersten Lektüre weniger am ludistischen Element der Liebescodes interessiert zu sein: Selbstzweifel, Unglücksempfinden und düstere Vorahnung bestimmen die Beziehungen von Tellheim, Weislingen oder Karl Moor, was in allen drei Fällen zu einer – mitunter radikalen – Infragestellung der eigenen amourösen Kompatibilität führt; eine Erscheinung im dramatischen Ablauf, die Mozart/Da Pontes männliche Figuren – man stelle sich nur einen reuevollen Don Giovanni vor – vollkommen fremd sind. Liebe dient in den deutschen Texten als Projektionsfläche krisenhafter ›hegemonialer Männlichkeit‹. Das genau zu analysieren, wird Inhalt der Textanalyse sein. Dynamische Merkmale der Personalstruktur: ›Männlichkeit‹ und Figurenkonstellationen Neben den Korrespondenz- und Kontrastrelationen, die Pfister als »statische Merkmale« bezeichnet, attestiert er auch der Menge an Einstellungen, die Figuren anderen Figuren gegenüber zeigen, eine entscheidende Funktion innerhalb der Personalstruktur. Wenn Figuren interagierten, wenn sie folglich dynamisch würden, so führe das zur Herausbildung »dynamischer Interaktionsstrukturen«, die Pfister »Figurenkonstellationen« nennt.51 Zwei der theoretischen Analysemöglichkeiten der Figurenkonstellation, die Pfister vorschlägt, bieten sich für die Zielsetzung, ›Männlichkeit‹ in Dramentexten einer Prüfung zu unterziehen, an: der Ansatz zur Ermittlung der »elektiven Entropie« der Figur und der Ansatz zur Ermittlung der Handlungsfunktion der Figur. Begonnen wird mit dem erstgenannten Ansatz: Man ermittelt dabei für jede Figur die auf sie entfallenden positiven, neutralen oder negativen Bezugnahmen durch die anderen Figuren, wobei jeweils nur die eindeutig zu ermittelnden positiven, negativen oder neutralen Beziehungen gewertet werden. Aus den Werten für alle Figuren läßt sich dann für jede Phase des linearen Textablaufs der Grad der »elektiven Entropie« errechnen, der zahlenmäßig den Grad der Ungeordnetheit, der »Durchmischung« eines Systems ausdrückt. […] je niedriger der Grad der elektiven Entropie ist, desto stärker ist die Gruppenstruktur durch eine ungleichmäßige Verteilung der positiven und negativen Beziehungen strukturiert, desto konfliktträchtiger ist diese Struktur.52
Eine der männlichen Hauptfiguren aus Le nozze di Figaro, der Graf von Almaviva, soll an dieser Stelle als männliches Beispiel dienen, um diese etwas abstrakte Aussage zur sogenannten »elektiven Entropie« zu konkretisieren. Sein Männlichkeits51 52
Pfister: Das Drama, S. 232. Pfister: Das Drama, S. 233.
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entwurf ist durch einen ausgesprochen niedrigen elektiven Entropiewert gekennzeichnet, der sich folgendermaßen ergibt: Der Graf von Almaviva interagiert innerhalb des Dramas mit allen anderen wichtigen Hauptfiguren (Susanna, die Gräfin, Figaro und Cherubino), wobei Susanna seinen Annäherungsversuchen entsagend entgegentritt, die Gräfin der amourösen Eskapaden ihres Mannes längst überdrüssig ist, Figaro gegenüber dem Grafen Wut und Cherubino Angst bzw. Trotz empfindet. So unterschiedlich die jeweiligen Figuren und ihre Argumente mit Bezug auf den Graf von Almaviva auch sein mögen, ihnen ist eines gemeinsam: die kritisch-negative Einstellung gegenüber der Liebesauffassung des Aristokraten. Daher ist die Summe der elektiven Entropie des Grafen (der unterschiedlichen Meinungen über ihn) niedrig, da die negativen Auffassungen über ihn von mehreren anderen Figuren geteilt werden. Die niedrige elektive Entropie des Grafen führt zum Komplott der anderen Hauptfiguren gegen ihn.53 Diese Erscheinung (mehrere Figuren sind sich mit Bezug auf eine weitere Figur einig) deutet nach Pfisters Argumenten darauf hin, dass die dramatische Struktur in Le Nozze di Figaro konfliktträchtig ist. Gleichsam beinhaltet die Zuweisung eines niedrigen elektiven Entropiewertes nicht nur Konsequenzen für den dramatischen Verlauf des Textes insgesamt, sondern impliziert auch darüber hinaus ein Konfliktpotenzial, mit dem der Männlichkeitsentwurf der entsprechenden Figur konfrontiert wird. Eine interessante Untersuchungsgrundlage verspricht der Zusammenhang zwischen dem Grad der elektiven Entropie und der ›hegemonialen Männlichkeit‹. Für den Fall, dass ›hegemoniale Männlichkeit‹ deutlich ausgeprägt ist und stark nach außen hin demonstriert (externalisiert) wird, kann von einem hohen Konfliktpotenzial innerhalb der Figurenkonstellation ausgegangen werden, da die Dominanz einer Form der ›Männlichkeit‹ die Unterdrückung anderer, koexistierender Formen einschließt. Je stärker folglich die Dominanz bzw. der Abstand zwischen der Figur, der die ›hegemoniale Männlichkeit‹ zugeschrieben werden kann, und den übrigen männlichen Figuren ist, desto höher ist das Konfliktpotenzial, das sich daraus ergibt. An dieser Stelle lässt sich somit schlussfolgern, dass der Ausprägungsgrad ›hegemonialer Männlichkeit‹ in einem antiproportionalen Verhältnis zum Wert der elektiven Entropie steht. Dass dieses Verhältnis jedoch nicht zwingend umkehrbar sein muss, verdeutlicht folgendes Beispiel: Eine stark dominante männliche Figur, die sich im Zentrum der ›hegemonialen Männlichkeit‹ befindet, wird deshalb eine niedrige elektive Entropie aufweisen, da sie von den anderen Figuren aufgrund der gefühlten Dominanz überwiegend abgelehnt wird. Eine negative Entropie muss aber nicht – wie in diesem Fall – aus Furcht resultieren, sondern kann sich auch aus Mitleid oder Bewunderung ableiten. In diesem Fall einen Rückschluss auf eine ›hegemoniale Männlichkeit‹ der Figur zu ziehen, wäre nicht schlüssig, was sich am Beispiel der Figur Cherubino aus Le nozze di Figaro zeigt. Cherubinos elektiver Entropiewert ist negativ, da von allen anderen Figuren überwiegend mitleidig belächelt oder doch zumindest nicht als Subjekt, sondern als manövrierbares Objekt behandelt wird. Sein Männ53
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Darauf weist Pfister als mögliche Konsequenz einer niedrigen elektiven Entropie hin. Vgl. Pfister: Das Drama, S. 233.
lichkeitsentwurf ist dennoch weit davon entfernt, in den Kern des Hegemoniekonzeptes vorzudringen. Die in der konkreten textbezogenen Analyse zu klärende Frage wird sein, ob und wenn ja, unter welchen Umständen niedrige elektive Entropiewerte, die männlichen Figuren zugeschrieben werden können, zur Infragestellung und gegebenenfalls sogar zur Revision des maskulinen Selbstverständnisses der Figuren führen können. Allerdings sind dem Modell auch Grenzen gesetzt: Für den Fall, dass die elektiven Entropiewerte einer in diesem Fall männlichen Hauptfigur entsprechend höher liegen (d. h.: die anderen Figuren sind sich nicht einig über die Bewertung der Figur); wenn also – anders formuliert – die Einstellungen gegenüber der Figur sehr heterogen sind, muss das nicht zwangsläufig dazu führen, dass die dramatische Struktur und darin der Männlichkeitsentwurf der Figur weniger »konfliktträchtig« ist. Dass Götz von Berlichingen durchaus als sehr konfliktträchtiges Drama bezeichnet werden kann, obwohl (oder gerade weil) die Titelfigur eine streitbare, polarisierende Figur ist, die sehr viele verschiedene Meinungen auf sich zieht, steht außer Zweifel. Die Ermittlung des elektiven Entropiewerts kann für eine Analyse des Männlichkeitsentwurfes in diesem Beispiel nur sehr bedingt aufschlussreich sein, wenn sie nicht durch einen weiteren Ansatz ergänzt wird. Pfister schlägt daher ein weiteres Beschreibungsmodell im Hinblick auf die dramatische Personalstruktur vor: die ursprünglich auf Propp zurückgehende Trias von Held, Helfer und Widersacher.54 Im Gegensatz zum elektiven Entropiewert erlaubt der Ansatz zur Ermittlung der Handlungsfunktion durch die Unterscheidung zwischen Held, Helfer und Widersacher die Einordnung in die dramatische Funktion und Entwicklung aus der Perspektive einer Figur. Die Konstellation in der zuvor angesprochenen Tragödie Götz von Berlichingen ließe sich dadurch adäquater beschreiben als im Modell der elektiven Entropie: Nicht zufällig nimmt die Gruppenbildung männlicher Figuren dabei eine entscheidende Funktion ein. Götz steht als Haupt- und Titelfigur nicht nur im Zentrum der Personalstruktur, sondern auch der innerhalb des Textes präsentierten Männlichkeitsentwürfe. Die anderen Figuren lassen sich aus seiner Sicht in Helfer und Widersacher einteilen, was textintern zu einer maskulinen Lagerbzw. Bündnisbildung führt. Eventuell ließe sich noch eine weitere Kategorie des ehemaligen Verbündeten und inzwischen Abtrünnigen eröffnen, die zwar mit Weislingen nur einfach besetzt wäre, aber im Kontext des Textes eine Schlüsselfunktion einnimmt. Aus genderanalytischer Sicht ist der Männlichkeitsentwurf Götzens damit dem Spannungsfeld zwischen unterstützenden und konkurrierenden bzw. herausfordernden Figuren im Allgemeinen und Männlichkeitsmustern im Spezifischen angesiedelt. Die Positionen »Helfer« und »Widersacher« sind geschlechterübergreifend besetzt: Dementsprechend lassen sich für die von Pfister vorgeschlagene Kategorie »Helfer« Männer und Frauen aus Jaxthausen (z. B. Georg, Franz; aber auch Maria und Elisabeth) anführen, während das »Lager der
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Pfister: Das Drama, S. 234.
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Explikationen«55 (Bischof von Bamberg, Adelheid, evtl. letztlich auch Weislingen) die Seite der »Widersacher« darstellen würde. Ebenso wie Götz als Titelfigur ordnen sich auch die weiteren männlichen Dramenfiguren in das Schema ein. Dieser Ansatz, der die Figuren nach ihrer Handlungsfunktion im Text beschreibt, schließt die methodologische Lücke, die sich aus der eingeschränkten Anwendbarkeit des Ansatzes zur Bestimmung der elektiven Entropie ergibt. In der vorliegenden Arbeit werden folglich beide Ansätze einander ergänzend verwendet. Figurenkonzeption, Figurencharakterisierung und ›Männlichkeit‹ Durch die bislang zitierten Ansätze wurden Analysekriterien vorgestellt, die Dramenfiguren vor allem in Relationen zu anderen Figuren untersuchen. Da ›Männlichkeit‹ sich vor allem in der sozialen Auseinandersetzung ergibt, liefern die angesprochenen Ansätze eine bedeutende theoretische Perspektive zur Analyse literarischer Repräsentationsformen von ›Männlichkeit‹. Die Frage nach der im Einzelfall realisierten und durch eine Dramenfigur repräsentierten ›Männlichkeit‹ ist davon bislang noch ausgeschlossen gewesen. Dennoch zeigen alle ausgewählten Textbeispiele, dass ›Männlichkeit‹ trotz aller ihrer sozialen Begleitumstände kein gruppenkonformes Gebilde darstellt. Wird die einzelne Figur auch durch den Kontakt zu anderen Figuren und in gruppeninternen Auseinandersetzungen in der geschlechtsbezogenen Sozialisation beeinflusst und geprägt, so werden doch bei der Aufführung auf der Bühne Individuen und damit auch individuelle Formen der ›Männlichkeit‹ wahrgenommen. Die beiden Bereiche, die Pfister in der Gestaltung der einzelnen Figur unterscheidet, nennt er ›Figurenkonzeption‹ und ›Figurencharakterisierung‹: Wir verstehen unter Figurenkonzeption das anthropologische Modell, das der dramatischen Figur zugrunde liegt, und die Konventionen seiner Fiktionalisierung und unter Figurencharakterisierung die formalen Techniken der Informationsvergabe, mit denen die dramatische Figur präsentiert wird.56
Im Bereich der Figurenkonzeption weist Pfister auf deren »historische« Dimension hin; sie sei »ein historisch und typologisch variabler Satz von Konventionen«.57 Er unterscheidet in Anlehnung an Beckermann zunächst drei »Dimensionen, die für eine Typologie von Figurenkonzeptionen relevant sind: Weite, Länge und Tiefe«.58 Auf die Analysemöglichkeiten zur ›Männlichkeit‹ übertragen, ließe sich analog dazu deren Entwicklungspotenzial, Entwicklungsgeschichte und deren Bewusstsein – oder einem Begriff der Sozialpsychologie folgend – deren Selbstkon-
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Der Ausdruck zur Benennung der Widersacher Götzens geht auf Mathias Luserke-Jaqui zurück. In: Mathias Luserke-Jaqui: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Stuttgart 2006, S. 114. Pfister: Das Drama, S. 240. Pfister: Das Drama, S. 241. Pfister: Das Drama, S. 241. ›Weite‹ bezeichnet laut Pfister »die Entwicklungsmöglichkeiten der Figur, ›Länge‹ die bereits von ihr zurückgelegte Entwicklung und ›Tiefe‹ die Beziehung zwischen ihrem äußeren Verhalten und ihrem inneren Leben«
zept59 untersuchen. Mit Bezug auf das Entwicklungspotenzial der ›Männlichkeit‹ einer bestimmten Figur bietet sich die bei Pfister vorgeschlagene Gegenüberstellung von statisch und dynamisch konzipierten Figuren an. Im Hinblick auf die statisch konzipierten Figuren bleibt zu untersuchen, inwiefern sich deren Statik tatsächlich auch auf genderspezifische Fragestellungen applizieren lässt. Einige Dramenfiguren, als Beispiel seien hier die beiden Offiziere Ferrando und Guglielmo in Così fan tutte genannt, scheinen dies zum Teil zu suggerieren. Nun ist jedoch der gesamte Text mit einer auf die Geschlechterdebatte bezogenen Feststellung etikettiert, die sich nicht nur in dem vermeintlich misogynen Titelelement, sondern auch im Zusatz »o sia la scuola degli amanti« in ihrer gesamten Ironie offenbart.60 Im Zusatztitel, der bewusst mit Mehrdeutigkeit spielt, ist für die Bewertung der ›Männlichkeit‹ als statisch oder dynamisch entscheidend, in welcher Beziehung die Elemente »scuola« und »amanti« stehen. Handelt es sich um die Schule, die den Liebhabern gehört, so deutet dies auf einen eher statischen Männlichkeitsentwurf hin, da in diesem Fall anzunehmen ist, dass die Frauen die Prüfungen »dieser Schule« durchlaufen müssen. Ist es allerdings die Schule, die die Liebhaber selber durchlaufen (müssen), wäre dies ein Argument in Richtung eines dynamischen Männlichkeitsentwurfes. Daraufhin müssen auch die ludistischen Elemente Don Alfonsos, der Spott Despinas sowie die mehrdeutigen Rollen der vermeintlichen Opfer des »Liebesexperiments«, Fiordiligi und Dorabella, genau analysiert werden. Ob Statik in der Konzeption von ›Männlichkeit‹ in Anlehnung an eine von Henri Berson in Le rire. Essai sur la signification du comique (1900) formulierte These, die auch von Pfister aufgegriffen wird,61 das komische Potenzial der Figur (und damit des Männlichkeitsentwurfes, der die Figur kennzeichnet) hervorruft, muss sich ebenfalls in der Textanalyse erweisen. Dramenfiguren, die diese Kennzeichen aufweisen, nenne ich statische männliche Figuren. Innerhalb der dynamisch konzipierten Figuren trifft Pfister darüber hinaus noch eine zusätzliche Unterscheidung in kontinuierliche und diskontinuierlich-sprunghafte dynamische Entwicklung.62 Dabei sind Ausgangssituation und Entwicklung des in der Figur angelegten Männlichkeitsentwurfes zu prüfen. Die ausgewählten Texte lassen sich diesbezüglich in zwei verschiedene Kategorien einteilen: Erstens: Texte, die Figuren thematisieren, die krisenhafte Modelle ehemals hegemonialer Männlichkeitsentwürfe im Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Geltungs59
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Der Begriff ›Selbstkonzept‹ wird hier in Anlehnung an Philip George Zimbardo und seine Experimente zum Zusammenhang zwischen sozialer Identität und sozialer Rolle verstanden. In: Philip G. Zimbardo u. a. (Hg.): Psychologie. München 2005, S. 632ff. Misogyn daher, da die italienische Sprache theoretisch zwischen einer männlichen und weiblichen Pluralform (tutti bzw. tutte) unterscheiden kann. Die korrekte Übersetzung des Titels würde dann lauten: »So machen es alle Frauen«. Eindeutig mit Bezug auf das Geschlecht ist der Zusatz: »Oder die Schule der Liebhaber«. Pfister: Das Drama, S. 242. Eine der zentralen Textstellen bei Bergson mit Bezug auf Statik, Mechanik, Wiederholung etc. findet sich in: Henri Bergson: Le rire. Essai sur la signification du comique. S. 22. Zit. nach: http://classiques.uqac.ca/classiques/bergson_henri/le_rire/Bergson_le_rire.pdf (Zugriff: 24. 01. 2007). Vgl. Pfister: Das Drama, S. 242.
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anspruch der ›Männlichkeit‹ zeigen. ›Männlichkeit‹ dient dabei unter anderem als Projektionsfläche brüchiger gesellschaftlicher Strukturen; insbesondere im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess des 18. Jahrhunderts. Das in der Figur angelegte Männlichkeitsparadigma steht in kausaler Beziehung zur Konzeption und Handlungsmotivation der Figur; ›Männlichkeit‹ (oder Fehlen von ›Männlichkeit‹) ist Grundlage der Dynamik der Figur. Beispiele für diese Kategorie sind Götz und Georg aus Götz von Berlichingen sowie die Titelfigur in Don Giovanni. Dramenfiguren, die diese Kennzeichen aufweisen, nenne ich eigendynamische männliche Figuren. Zweitens: Texte, die Figuren thematisieren, deren Männlichkeitsentwurf sich innerhalb des Textes in verschiedenen Kontexten beweisen und bewähren muss, wobei weniger die in der Figur angelegte ›Männlichkeit‹ an sich als vielmehr die jeweilige Situation, in der sich die Figur befindet, einen dynamischen Impuls auf deren Männlichkeitsentwurf ausübt. Dabei erfordern sowohl die sich aus dem dramatischen Geschehen zufällig ergebenden (figurenunabhängigen) Kontextbezüge als auch im Kontext gezielt inszenierte (figurenabhängige) Mechanismen eine Reaktion der ›Männlichkeit‹ der Figuren auf die veränderte Situation. ›Männlichkeit‹ dient dabei nicht als dynamische Triebfeder innerhalb der fortschreitenden Entwicklung der Figur, sondern eher als eine einzukalkulierende, allerdings variable, Größe, die zu einem größeren Maße der Fremdbestimmung ausgesetzt ist. Ein Beispiel dafür bieten – unter Vorbehalt der Prüfung aus zuvor geschilderten Gründen – Ferrando und Guglielmo in Così fan tutte, Cherubino in Le nozze di Figaro sowie Karl Moor in Die Räuber. Dramenfiguren, die Kennzeichen dieser Art aufweisen, nenne ich fremddynamische männliche Figuren. Beide Typen sind selbstverständlich nicht als absolute Größen zu verstehen. Die Figurenkonzeption ist zu komplex, so dass sich beispielsweise anhand des Grafen von Almaviva in Le nozze di Figaro oder anhand des Majors von Tellheim aus Minna von Barnhelm bzw. Franz Moors in Die Räuber eine Überblendung zwischen beiden Kategorien zeigen wird. Dennoch ist die Unterscheidung zwischen eigen- und fremddynamischen männlichen Figuren eine weiterführende Technik zur genderspezifischen Dramenanalyse, die einerseits die Frage nach der Herkunft der männlichkeitsinternen Dynamik stellt, wie sie sich in der betreffenden Figur äußert, und andererseits die Perspektive auf eine Gesamtentwicklung der Figur im entsprechenden Text gewährleistet. Eine weitere wichtige Unterscheidungs- und Klassifikationsmöglichkeit der verschiedenen durch die Figuren repräsentierten Männlichkeitsentwürfe leitet sich von Pfisters Unterscheidung in ein- und mehrdimensionale Figuren ab. Eindimensionale Figuren definiert Pfister in Anlehnung an Forster folgendermaßen: Eindimensionale Figuren sind dadurch gekennzeichnet, daß sie durch einen kleinen Satz von Merkmalen definiert werden. In der extremsten Form reduziert sich dieser Satz auf eine einzige Idiosynkrasie, die, isoliert und übertrieben, die Figur zur Karikatur werden läßt. […] [Es wird deutlich, M.B.] daß ihre Eindimensionalität […] nicht nur darauf beruht, daß der Satz von Merkmalen, die sie definieren, sehr klein ist, sondern daß dieser Merkmalsatz darüber hinaus in sich stimmig und homogen ist.63
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Pfister: Das Drama, S. 243.
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Figuren, die diese Kriterien erfüllen, nenne ich im Folgenden eindimensional männliche Figuren. Sie sind – das sei vorweggenommen – in den zu analysierenden Dramentexten zahlenmäßig eher unterrepräsentiert, was mit dem heterogenen Konzept von ›Männlichkeit‹ in Anlehnung an Connell begründet werden kann. Dramenfiguren, die durch Züge eindimensionaler Männlichkeit gekennzeichnet sind, finden sich beispielsweise in Minna von Barnhelm (Riccaut) und Götz von Berlichingen (Olearius). Interessante Beispiele, die mit Eindimensionalität »kokettieren«, sind Don Giovanni und Don Alfonso. Die Mehrzahl der männlichen Dramenfiguren der ausgewählten Texte ist jedoch durch ihre Mehrdimensionalität gekennzeichnet, die nach Pfister folgendermaßen definiert wird: Im Gegensatz dazu wird eine mehrdimensional konzipierte Figur durch einen komplexeren Satz von Merkmalen definiert, die auf den verschiedensten Ebenen liegen und zum Beispiel ihren biographischen Hintergrund, ihre psychische Disposition, ihr zwischenmenschliches Verhalten unterschiedlichen Figuren gegenüber, ihre Reaktion auf unterschiedlichste Situationen und ihre ideologische Orientierung betreffen können.64
Figuren, die diese Kriterien erfüllen, nenne ich im Folgenden mehrdimensional männliche Figuren. Götz, Tellheim, die Brüder Moor, Leporello und Figaro sind eindeutig mehrdimensional männliche Dramenfiguren, deren Männlichkeitsentwürfe sich im Spannungsverhältnis der eigenen maskulinen Heterogenität und der Reaktion auf die diversen Kontextbezüge manifestieren. An dieser Stelle wird die enge Verbindung von Statik bzw. Dynamik und Ein- bzw. Mehrdimensionalität der Männlichkeitsentwürfe deutlich. Allerdings weist Pfister auch in diesem Zusammenhang auf die Abstufungsmöglichkeiten zwischen Ein- und Mehrdimensionalität der Figuren hin, die er »Zwischenformen« (Personifikation, Typ und Individuum) nennt: Die drei Begriffe sind in dieser Reihe geordnet nach dem Prinzip zunehmender Individualisierung der dramatischen Figur, nach einer wachsenden Menge charakterisierender Details.65
Ohne auf alle drei Zwischenformen eingehen zu müssen, die Pfister sehr detailliert veranschaulicht, kann geschlussfolgert werden, dass die zunehmende Anzahl »charakterisierender Details« unter anderem auch die Geschlechter- und damit auch die Männlichkeitsproblematik umfasst. Auf dem Weg von eindimensional zu mehrdimensional männlichen Figuren nimmt daher nicht zwangsläufig deren ›Grad an Männlichkeit‹ an sich, sondern vielmehr die Verdichtung an Merkmalen zum Themenkomplex ›Männlichkeit‹ zu. Die in der einzelnen Figur angelegte Form der ›Männlichkeit‹ wird dadurch transparenter, besser analysierbarer, aber auch potenziell angreifbarer und – allgemeiner formuliert – konfliktfähiger. Transpsychologische Figuren und ›Männlichkeit‹ Unter transpsychologischen Figuren versteht Pfister Figuren, »deren Selbstverständnis über das Maß des psychologisch Plausiblen hinausgeht«,66 wobei »deren völlig 64 65 66
Pfister: Das Drama, S. 244. Pfister: Das Drama, S. 244. Pfister: Das Drama, S. 248.
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rationaler und bewußter Eigenkommentar sie nicht mehr implizit als völlig rational […] charakterisieren kann«.67 Pfister unterstellt einer solchen Figur den Verweis auf eine »episch vermittelnde Kommentarinstanz«.68 Interessant fällt die Wahl der Beispiele, die Pfister für diese Kategorie anführt, aus: […] sie [die transpsychologische Figurenkonzeption, M.B.] liegt häufig satirischen Figuren zugrunde, die dann gleichzeitig als Subjekt und Objekt der Satire fungieren, und sie läßt sich partiell auch noch an Figuren der Dramen Friedrich Schillers nachweisen, die ihr tragisches Dilemma mit einer Bewußtheit zu artikulieren vermögen, die dieses transzendiert.69
Karl Moors Dilemma in Die Räuber V/2 ist Ausdruck dieser Bewusstheit. Auch Weislingen zeigt Ansätze der Einsicht in seine eigene Tragik (I/Szene Jaxthausen). Besonders pointiert tritt die transpsychologische Ebene der Figur Cherubino in Le nozze di Figaro hervor. Damit lässt sich eine These Albert Giers aufgreifen, nach der transpsychologische Figurenkonzeptionen, denen er eine »Durchbrechung der Figurenperspektive« attestiert, »im Libretto häufiger vorkomme(n) als im Sprechdrama.«70 Dabei wird ›Männlichkeit‹ an sich aus zwei Gründen zum Gegenstand des Selbstzweifels: Cherubino symbolisiert beispielsweise – daher auch der androgynengelhafte Name – eine typische ›Hosenrolle‹ des Musikdramas. Sein biologisches Geschlecht und seine Positionierung zu Beginn des Textes (als Page) weisen ihn als Mann aus. Seine Stimmphysiologie ist die eines Soprans und damit weiblich. Ohne der Textanalyse vorgreifen zu wollen, kann bereits gesagt werden, dass auch mit Bezug auf Cherubinos geschlechtlichen Habitus, seine Performanz, berechtigte Zweifel an der Zuordnungsmöglichkeit der Figur in das Zwei-Geschlechter-Modell bestehen. Das verarbeiten Mozart/Da Ponte sowohl in der Sukzession der Handlung (Cherubino soll zunächst von der Gräfin von Almaviva und Susanna, im späteren Verlauf von Barbarina als Frau verkleidet werden) als auch in der transpsychologischen Anlage der Figur an sich. Die Arie »Non so più quel che son, cosa faccio« (I/5) ist eine Art Selbstbekenntnis Cherubinos, mit dem er seine amouröse (männliche) Inkompatibilität durch einen Rekurs auf petrarkistische Topoi offenlegt. Die Kommunikation nimmt dabei – wie bei Pfister angedeutet – die Form einer Kommentarinstanz ein.
3.4
Ausgewählte Vertreter und Ansatzpunkte der germanistischen literaturwissenschaftlichen Männerforschung
Nach den gender- und literaturtheoretischen Überlegungen der vorangegangenen Kapitelabschnitte werden in diesem Teil einige Textbeispiele und Ansätze vorgestellt, die sich bereits mit dem Phänomen ›Männlichkeit‹ in der Literatur auseinan67 68 69 70
Pfister: Das Drama, S. 248. Pfister: Das Drama, S. 248. Pfister: Das Drama, S. 248. Alfred Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Darmstadt 1998, S. 12.
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dergesetzt haben. Die Textbeispiele sollen in diesem Zusammenhang insbesondere auf mögliche Impulse für die vorliegende Arbeit hin untersucht werden. Der erste Text, der sich dem Problemkreis ›Männlichkeit‹ in der Literatur widmet und in diesem Kapitel kurz vorgestellt werden soll, ist Helmut Fuhrmanns Der androgyne Mensch. ›Bild‹ und ›Gestalt‹ der Frau und des Mannes im Werk Goethes.71 Im Bereich der Zielsetzung ergeben sich Parallelen und Unterschiede zwischen Fuhrmanns Text und der vorliegenden Arbeit. Parallelen bestehen erstens in der literaturwissenschaftlichen Untersuchung geschlechtsbezogener Darstellungsmodi nicht ausschließlich, aber vornehmlich in Texten des 18. Jahrhunderts, zweitens in der Wahl Goethes als Autor dieser Zeitspanne, womit auch Ausführungen zu der Tragödie Götz von Berlichingen verbunden sind. Eine dritte Parallele findet sich in der Verortung der Geschlechter- und damit auch der Männlichkeitsthematik innerhalb des Modernisierungsprozesses der Gesellschaft um 1800 mit deren Auswirkungen auf die Problematisierung der Geschlechtsidentität bzw. deren literarischer Darstellung: Wir stehen am Ende eines historischen Prozesses, der – nicht ohne Vorläufer, die bis in die Antike zurückreichen – in der Epoche der Aufklärung und der Französischen Revolution begonnen hat. Es ist der Prozeß weiblicher, aber auch männlicher Emanzipation von Rollenzwängen, die verhindern, daß Individuen beiderlei Geschlechts sich zu ganzen Menschen entwickeln können. Das vorliegende Buch lädt ein zur Besichtigung der verborgenen und verworrenen Wurzeln dieses Prozesses.72
Durch die Betonung der Prozesshaftigkeit in der Geschlechterthematik vom 18. Jahrhundert an schlägt Fuhrmann eine Brücke zur Diskussion der Gender Studies im 20. Jahrhundert. Bestimmte Figuren Goethes dienen ihm daher als »Ansatzpunkt eines gegenwärtigen [genderbezogenen, M.B.] Interesses«.73 Unterschiede bestehen im Hinblick auf die Zielsetzung des Textes vor allem in folgenden Punkten: Fuhrmann konzentriert sich zum einen – gemäß seinem Titel – auf die Geschlechterdarstellung eines Autors. Diese autorenbezogene Eingrenzung geht einher mit einer Öffnung des Textkorpus’ für lyrische, epische und dramatische Texte Goethes. Gleichzeitig blendet sie die Verortung der Geschlechterfrage in der Zeit Goethes in einem breiter gefassten Kontext anderer Autoren weitestgehend aus. Zum anderen zielt Fuhrmanns Untersuchung auf die gesamte Geschlechterfrage, auf die Darstellung von beiderseits ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹, ab. Beide Themenbereiche werden in jeweils separaten Kapiteln behandelt. Ein weiterer Unterschied ist der Entstehungszeit von Fuhrmanns Text geschuldet: Im gleichen Jahr wie Connells Text Masculinities erschienen (1995), besteht Fuhrmanns Ziel im Gegensatz zur vorliegenden Arbeit nicht in der problematisierenden Analyse der eventuellen Krisenanfälligkeit ›hegemonialer‹ Männlichkeitsentwürfe. Er kann auf dieses Begriffsinventar zeitbedingt noch nicht zurückgreifen. Das kann eine Erklärung dafür sein, 71
72 73
Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: Helmut Fuhrmann: Der androgyne Mensch. ›Bild‹ und ›Gestalt‹ der Frau und des Mannes im Werk Goethes. Würzburg 1995. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 16. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 16.
103
weshalb er methodologisch den Entschluss fasst, sich der Geschlechterproblematik sowohl durch die Analyse von Sachtexten Goethes als auch von dessen fiktiven Werken zu nähern, wie er in seiner Einleitung verdeutlicht: Goethes Frauen- und Männerbild ergibt sich aus seiner Sachprosa, d. h. seiner Briefe, Gespräche und theoretischer Schriften. Dabei geht es um die Frage, wie der historische Autor […] Goethe über Möglichkeiten, […] Wesen und Rolle der beiden Geschlechter urteilt. Die Frauen- und Männergestalten Goethes indes leben und handeln, abgelöst von der Person des Dichters, im fiktionalen Raum seines epischen und dramatischen Werkes.74
Im dritten Kapitel wendet sich Fuhrmann den ›Männerbildern‹ in Goethes Werken zu. Zwei Gestalten der griechischen Mythologie, die Goethe in seiner Lyrik thematisiert, dienen Fuhrmann dabei als typologische Vorlagen75 für zwei verschiedene Männlichkeitsentwürfe: Prometheus und Ganymed: Es stellt sich mithin die Frage: Sollte es im Gesamtumfang der maskulinen Gestaltenwelt Goethes etwas geben wie einen entschieden ›männlichen‹ Typus und einen quasi ›weiblichen‹ Antitypus, die in »Prometheus« und »Ganymed« präfiguriert wären?76
Fuhrmanns Typologie der Männlichkeitsentwürfe scheint mit ihrer Differenzierung in den ›Prometheus-Typ‹ und den ›Ganymed-Typ‹ zunächst ein analoger Entwurf zur Gegenüberstellung von ›hegemonialer‹ und ›marginalisierter Männlichkeit‹ bei Connell zu sein. Allerdings sind die Typen bei Fuhrmann – indem er ihnen die Bezeichnung literarischer Figuren zuweist – auf den Radius dieser Figuren festgelegt. Anders formuliert, kann eine literarische Figur nur dann dem ›PrometheusTyp‹ entsprechen, wenn sie nicht über Eigenschaften verfügt, die diesen Männlichkeitsentwurf überschreiten. Der von Fuhrmann vorgeschlagenen Typologie fehlen im Vergleich zur Terminologie Connells zwei Aspekte: zum einen der Ansatz der Heterogenität und zum anderen das dynamische Element der Wandlungsfähigkeit diverser Männlichkeitsentwürfe. Fuhrmann versucht in seinem der literarischen ›Männlichkeit‹ gewidmeten Kapitel 3, die zuvor genannten Typen in verschiedenen »Erscheinungsformen«77 und werkimmanenten Konstellationen wiederzuentdecken. Dabei streift er ausgewählte epische und dramatische Werke Goethes – Die Leiden des jungen Werthers, Torquato Tasso, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Die Wahlverwandtschaften, aber auch Götz von Berlichingen, Clavigo, Faust, Iphigenie auf Tauris und schließlich Egmont. Sein Interesse besteht nicht nur im Herausarbeiten der beiden zuvor genannten Männlichkeitstypen, sondern darüber hinaus in der Analyse der männlichen Figuren in bestimmten Konstellationen. Der Konstellation der »Frau zwischen zwei Männern«78 kommt dabei sein besonderes Interesse zu. Fuhrmann versucht in einer Zwischenbilanz, die entsprechenden Ergebnisse darzustellen: 74 75
76 77 78
Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 15. Die Bezeichnung »typologisch« der beiden Figuren geht auf Fuhrmann zurück. Vgl. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 95. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 97. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 99. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 102ff.
104
Der eine, der Prometheus-Typus, […] zeigt eine Grundtendenz zur Abgrenzung und Selbstbehauptung, die auf gestufte […] Formen der Lebenstüchtigkeit hinausläuft – im Extremfall um den Preis der Liebesunfähigkeit. Dagegen läßt sich beim anderen, dem GanymedTypus, […] eine Grundrichtung auf Entgrenzung und Selbsthingabe beobachten, die zwar entschiedene Liebesfähigkeit verrät, aber bis zur faktischen Lebensuntüchtigkeit gehen kann.79
Die Analyse verspricht in diesem Zusammenhang Impulse für das sich in der vorliegenden Arbeit anschließende Kapitel der Textanalyse. Fuhrmanns Analysen zur Konstellation »Typus-Antitypus«80 greifen aus männlichkeitstheoretischer Sicht Argumente der Korrespondenz- und Kontrastrelationen bei Pfister auf. In dem sich anschließenden Abschnitt »Vereinigung der Gegensätze«81 arbeitet Fuhrmann anhand der beiden Dramenfiguren Faust und Egmont die »kritische Spannung zwischen Prometheus- und Ganymed-Typus«82 heraus, die sich innerhalb des Werkumfangs Goethes vor allem in den beiden genannten Figuren offenbaren würde. Damit eröffnet sich auch in seinem Schema die Möglichkeit heterogener Männlichkeitsentwürfe. Diese zeigen sich laut Fuhrmann nicht ausschließlich in »Ausnahmefiguren«, die »die zweideutige Qualität ›dämonischer‹ Größe aufweisen«,83 sondern auch in Dramenfiguren, bei denen Fuhrmann folgende Unterscheidung vornimmt: Man kann unter ihnen zwei Gruppen unterscheiden: die fertigen und die unfertigen Charaktere. Unter den fertigen sind es insbesondere die Vermittler und die Pädagogen, unter den unfertigen die Wandlungs- und Entwicklungsfähigen, die eine solche coincidentia oppositorum zeigen oder verwirklichen.84
Fuhrmann gelangt dadurch zu dem Ergebnis, dass sich die männlichen Figuren im Werk Goethes zu etwa gleichen Teilen dem »Prometheus-« und »Ganymed«-Typus sowie einer dritten Gruppe zuordnen ließen, die durch das Merkmal der Androgynie gekennzeichnet sei.85 Das zweite Beispiel einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung zur ›Männlichkeit‹ im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist Walter Erharts Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit.86 Erharts Zielsetzung wird sofort zu Beginn des Textes als dreisträngig definiert: ›Männlichkeit‹, ›Familie‹ und ›Erzählen‹ nennt er dabei als einzelne Themenschwerpunkte.87 Die Trias weist von Anfang an auf das Ineinanderübergehen soziologischer und literaturwissenschaftlicher Bereiche hin, was bei Erhart auf methodologischer Ebene Berücksichtigung findet: 79 80 81 82 83 84 85 86
87
Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 109. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 110ff. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 115ff. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 115ff. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 120. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 120. Fuhrmann: Der androgyne Mensch, S. 131. Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001. Erhart: Familienmänner, S. 7.
105
Um diesen modernen Entstehungszusammenhang von Familie, Geschlechterordnung und Männlichkeit zu beschreiben, werde ich einerseits das kulturelle Wissen rekonstruieren, das seit dem 19. Jahrhundert über Familie (und über Männlichkeit) verbreitet worden ist, […]. Zum anderen möchte ich zeigen, daß dieses Wissen über Familie und über Männlichkeit in Form von Geschichten vorliegt.88
Erhart weist dabei auf die Möglichkeiten in tradierten fiktionalen Texten hin, epistemologische Grundlagen innerhalb der Geschlechterdebatte des 19. bzw. 20. Jahrhunderts zu legen. Diese Absicht verfolgt die vorliegende Arbeit für das ausgehende 18. Jahrhundert. Da sich der Hinweis auf die Ursprünge des Nachdenkens über ›Männlichkeit‹ und ›Familie‹ im 18. Jahrhundert auch bei Erhart findet,89 versteht sich die vorliegende Arbeit als »Grundlagenforschung«, die Ansätze zur literarischen ›Männlichkeit‹ im 18. Jahrhundert untersucht und die genderbezogene Analyse literarischer Texte im 19. bzw. 20. Jahrhundert dadurch vorbereitet. Erhart versucht, sich seiner Zielsetzung in drei Etappen zu nähern: Mit der Betonung der Relativität von ›Männlichkeit‹ solle zunächst »die verborgene Geschichte der modernen männlichen Subjektivität«90 in den Blick genommen werden, um daraufhin auf dieser Grundlage »eine andere, gewissermaßen tiefere Schicht moderner Männlichkeit freizulegen«,91 die Erhart in der Familie versinnbildlicht sieht: Die moderne Familie spielt zunächst (seit dem 18. Jahrhundert) eine neue und ganz entscheidende Schlüsselrolle am Ursprung der männlichen Subjektivität, und sie prägt darüber hinaus auch die Art und Weise, wie sich Männer in modernen Gesellschaften selbst verstehen, behaupten und konstruieren: als Familienmänner.92
Durch die Betonung einer sorgfältigen Untersuchung ›männlicher Subjektivität‹ gelingt es Erhart, die Dynamik der Kategorie ›Männlichkeit‹ insbesondere innerhalb sozialer Funktionen als ›Familienmänner‹ herauszuarbeiten. Sein Ziel, ein »grobschlächtig soziologisches Muster männlicher Rollenzwänge« oder ein »psychoanalytisches Drehbuch ödipaler Geschichten« zu vermeiden, erreicht er vor allem, indem er die historische Verankerung seiner Untersuchung zu keinem Zeitpunkt aus dem Auge verliert. Die Interdependenz von ›Männlichkeit‹ und Familie müsse durch Berücksichtigung der »privaten Seite«, genauer noch der »Instabilität und Innerlichkeit« von ›Männlichkeit‹ aufgezeigt werden.93 In diesem Zusammenhang legt Erhart Wert auf die kulturelle Konstruierbarkeit beider Konzepte – ›Familie‹ und ›Männlichkeit‹ – deren Konstruktion »immer wieder neu erfunden werden«94 müsse, womit er den von Connell so eindringlich geschilderten Gedanken der Dynamik des Männlichkeitsparadigmas aufgreift und ihn um das Beispiel der Familie erweitert. Die dritte Etappe schlägt die Brücke zur Literatur, indem Erhart
88 89 90 91 92 93 94
Erhart: Familienmänner, S. 9. Erhart: Familienmänner, S. 8. Erhart: Familienmänner, S. 8. Erhart: Familienmänner, S. 8. Erhart: Familienmänner, S. 8. Erhart: Familienmänner, S. 8. Erhart: Familienmänner, S. 8.
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nachweist, dass ›Männlichkeit‹ in der Moderne durch »eine narrative Struktur«95 gekennzeichnet sei. Der entscheidende Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass – wie Erhart es selber formuliert – »das geschlechtertheoretische Erkenntnisinteresse […] auf eine spezifisch literaturwissenschaftliche Fragestellung«96 abzielt. Erhart interessieren das männlichkeitsbezogene Was und Wie der narrativen Texte. Er wählt aus diesem Grund als Beschreibungsgrundlage ein Genre der Epik, dessen Bedeutung für den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert als vergleichbar mit der Bedeutung des Dramas im späten 18. Jahrhundert angesehen werden kann: den Familienroman. Dementsprechend erstreckt sich seine deutsche Textauswahl von Theodor Fontanes Roman Vor dem Sturm bis zu Franz Werfels Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Methodologisch nähert sich Erhart seinem Ziel durch die dreisträngige Dokumentationslinie der Geschichte von Familie, Geschlechtern und ›Männlichkeit‹ im Spezifischen während des 19. Jahrhunderts (Kapitel 1). Besonders überzeugend gelingt ihm die Umsetzung seines methodologischen Vorhabens im 3. Kapitel, in dem er folgendes Ziel verfolgt: Vielmehr werde ich in meiner Arbeit literarische Werke und zeitgenössische GeschlechterTheorien [in diesem Fall solche des beginnenden 20. Jahrhunderts, M.B.] als einen ineinander verwobenen und fortlaufenden Text betrachten, dessen Elemente sich wechselseitig kommentieren: Familientheorien und Erzählformen, Medizingeschichte und literarische décadence.97
Neben der wechselseitigen Beeinflussung von geschlechtertheoretischen und literatur-wissenschaftlichen Theorieansätzen zeigen die literarischen Texte laut Erhart weiterhin, wie ›Männlichkeit‹ im 19. Jahrhundert durch Familie definiert werden könne.98 Beide Aspekte seien »Teile einer literarisch-narrativen Struktur«.99 Die von Erhart vorgeschlagenen Thesen zur Interdependenz der Kategorien ›Männlichkeit‹ und ›Familie‹ lassen sich auch aus dramentheoretischer Perspektive weiterdenken und beinhalten somit durchaus interessante Anregungen, die aus einer an Narrativik orientierten für eine auf Dramatik abzielende Untersuchung abgeleitet werden können: Dabei liefert eine entsprechende Prüfung in den im 4. und 5. Kapitel der vorliegenden Arbeit vorliegenden Textbeispielen durchaus Ergebnisse, die Erharts Überlegungen stützen. Sowohl in Minna von Barnhelm als auch in Die Räuber sind sowohl Familienverhältnisse als auch Umgangsmechanismen der Dramenfiguren mit dem Themenkomplex ›Männlichkeit‹ nachhaltig gestört. Der Text Die Räuber offenbart darüber hinaus das zerstörerische Potenzial der Eifersucht zwischen Brüdern. Familien und familienähnliche Beziehungen durchlaufen auch in den Texten Mozart/Da Pontes eine kritische Prüfung: Vor allem die amourösen Verhältnisse werden in ihrer Spannweite vornehmlich von männlichen Dramenfiguren herausge95 96 97 98 99
Erhart: Familienmänner, S. 9. Erhart: Familienmänner, S. 10. Erhart: Familienmänner, S. 18f. Erhart: Familienmänner, S. 15. Erhart: Familienmänner, S. 15.
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fordert. Interessant ist dabei die Frage, ob die gestörten emotionalen Bindungsstrukturen auch Störungen und Brüche innerhalb des Männlichkeitsentwurfes der Figuren nach sich ziehen und wenn ja, inwiefern sich diese beiden Aspekte ein- oder wechselseitig bedingen. Die Dramenfiguren agieren in jedem einzelnen Textbeispiel sowohl im deutschen als auch im italienischen Textkorpus, systemtheoretisch argumentiert, im System der Familie bzw. im System der Intimität. Sie sind dadurch mittels der systemimmanenten Funktion (Ehemann, Liebhaber, Vater, Bruder) im Gesamtsystem und mittels der systemimmanenten Leistung gegenüber anderen Elementen des gleichen Systems (Beschützer, Versorger) gekennzeichnet. Erharts Betonung der engen Verzweigung von ›Männlichkeit‹ und ›Familie‹ bringt zwangsläufig die Frage nach deren Kompatibilität hervor. Anhand der Textanalyse muss daher im folgenden Kapitel untersucht werden, inwiefern der individuelle Männlichkeitsentwurf der betreffenden Figur den Funktions- und Leistungsanforderungen des Systems, in dem die Figur agiert, gerecht werden kann oder ihnen entgegentritt. Dieses methodologische Vorhaben soll an dieser Stelle anhand eines Beispiels kurz vorgestellt werden: Götz von Berlichingen ist eine Figur, deren Funktion im Gesamtsystem der Familie innerhalb jener patriarchalischen Struktur, wie sie für den Übergang von Mittelalter zur Frühen Neuzeit angenommen werden kann, die des Familienoberhauptes ist. Diese Funktion korrespondiert zunächst mit der ›hegemonialen Männlichkeit‹ eines kraftvoll-entschlossenen Reichsritters im ausgehenden Mittelalter. Die Korrespondenz stützt sich – und das wird im Text entscheidend – auf andere systembezogene Prämissen: die des Rechtssystems, in dem Götz agiert. Dabei wird deutlich, dass Götzens Männlichkeitsentwurf nur im mittelalterlichen System des Faustrechts und Fehdewesens erfolgreich sein kann. Wie in der Textanalyse noch genau zu zeigen sein wird, hat der tiefgreifende Umformungsprozess der Justiz entscheidenden Einfluss auf die Bewertung des Männlichkeitsentwurfes eines Reichsritters. Im neuen Rechtswesen ergäbe sich daher ein Auseinanderdriften der Positionen ›Familienoberhaupt‹ und ›Männlichkeitsentwurf‹. Das würde zur Konsequenz führen, dass die Figur Götz sich zunehmend im Spannungsfeld zwischen veränderter Männlichkeitsevaluation und familiärer Funktion befände. Die spannende Frage dabei lautet, ob – und wenn ja – wie Götz im nach innen gerichteten System der Intimität (z. B. als Vater oder Ehemann) hegemonial sein kann, obwohl er es im nach außen gerichteten Männlichkeitsentwurf scheinbar nicht mehr ist. Erharts Argumentation und Analyse sind aus den zuvor genannten Gründen für diesen Untersuchungsgegenstand sehr fruchtbar und werden in die sich anschließende Textanalyse einfließen. Das dritte Beispiel einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung zur ›Männlichkeit‹ ist Toni Tholens Text Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur.100 Tholens Zielsetzung besteht dabei in der Befragung von »Texte(n) der Überlieferung auf ihre Konfiguration männlicher Subjektivität hin«.101 um »das 100
101
Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: Toni Tholen: Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur. Heidelberg 2005. Tholen: Verlust der Nähe, S. 9.
108
Spiel der in der männlichen Subjektivität wirksamen Kräfte zur Darstellung zu bringen«.102 Diesem Ziel geht Tholen mit folgendem Textkorpus nach: Seine Analyse reicht von dem biblischen Buch Hiob über Goethes Faust (erster und zweiter Teil) bis hin zu Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler und ausgewählter Lyrik Rilkes. Im theoretischen Teil des Textes (S. 1–21 der zitierten Ausgabe) legt Tholen dieser Zielsetzung einen (geschlechter)-philosophischen Ansatz zu Grunde. Im Rekurs auf Walter Benjamin greift er die Fragestellung nach einer laut Benjamin verloren gegangenen »Kraft, aus der heraus der Mann seine Nähe bestimmt«,103 auf. Diese ›Kraft‹ sieht Tholen im sogenannten »männlichen Eros« versinnbildlicht. Er versteht den Begriff des ›Eros‹ »im weiten Sinne einer Form schaffenden, Herrschafts- und Liebesbeziehungen generierenden Kraft«, die sich auch, aber nicht nur als Sexualität äußere104 und will sich bemühen, »dem Verlust der Nähe in den Verletzungen nachzugehen, die sich im Raum des männlichen Eros vollziehen, um so männliche Subjektivität als Subjekt und Objekt von Verletzungen kenntlich zu machen«.105 Der im Untertitel angesprochene ›Verlust der Nähe‹ bezeichnet folglich einen Verlust der Kraft des Eros beim Mann und zieht für Tholen die Suche nach einer: […] kreatürlichen Männlichkeit und nach Männern, die sich in der Nähe ihrer eigenen Körperlichkeit [und damit ihres Eros’, M.B.] fühlen, von einer Erotik wissen, die nicht verletzend oder gar zerstörend, sondern von einer hingebungsvollen Zärtlichkeit ist.106
nach sich. Grundvoraussetzung dafür sei »die Bereitschaft zur Selbstreflexion auf Seiten des Mannes.«107 Diesem zunächst eher geschlechterphilosophischen als literaturwissenschaftlichen Ziel versucht sich Tholen mit soziologischen (Connell) und soziohistorischen, teilweise psychoanalytischen (Bürger) Theorieansätzen zu nähern. Ein immer wieder rekurrierender Begriff ist dabei der des ›Subjekts‹, der in der »Suche nach einem neuen Mannsein«108 eine Zentralposition besetze. Um das »neue Mannsein« zu definieren, bezieht sich Tholen zunächst auf ein Konzept Peter Bürgers, nach dem ein Alternativentwurf zur ›Männlichkeit‹ zunächst ausgeschlossen wird, da die männliche Subjektivität sich in der ständigen Auseinandersetzung zwischen der Artikulation unmittelbarer Triebe und Lustgefühle und deren disziplinierender Kontrolle in einen Stillstand begebe.109 Innerhalb der geschlechterphilosophischen Zielsetzung Tholens und seinem von Benjamin übernommenen Postulat erscheint die Entscheidung, die literarischen Texte vor allem auf ihre männlichen emotionalen Bindungsstrukturen hin zu untersuchen,110 als methodologisch konsequent. Hierin liegt auch der hauptsächliche Impuls für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit. Die amourösen und – in einem wei102 103 104 105 106 107 108 109 110
Tholen: Verlust der Nähe, S. 10. Vgl. Tholen: Verlust der Nähe, S. 8f. Tholen: Verlust der Nähe, S. 17. Tholen: Verlust der Nähe, S. 16. Tholen: Verlust der Nähe, S. 9 Tholen: Verlust der Nähe, S. 9. Vgl. Tholen: Verlust der Nähe, S. 4. Vgl. Tholen: Verlust der Nähe, S. 12ff. Tholen: Verlust der Nähe, S. 18.
109
teren Sinne – affektiven Relationen der männlichen Dramenfiguren sind durch ihre Wirkursächlichkeit eng an den Untersuchungsgegenstand ›Männlichkeit‹ gebunden; sie konstituieren in den Dramentexten eine affektive Grundlage, auf der die männlichen Figuren soziale Kompatibilität unter Beweis stellen, und tragen daher zu einem erheblichen Teil zur Konfiguration von ›Männlichkeit‹ bei. Gleichfalls ist die in der Figur angelegte Repräsentationsform von ›Männlichkeit‹ eine Orientierung für die affektiv-emotionale Spannweite der Figur. Gerade im Hinblick auf die Problematisierung der amourösen Codes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist diese Erkenntnis bedeutsam. Ein möglicher Anknüpfungspunkt an die Untersuchung Tholens ist die Verbindung zwischen der – wie er sie nennt – ›erotischen Komponente‹ und der ›männlichen‹ Subjektbildung. Die Verbindung dieser beiden Kriterien wirft mit Bezug auf die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit unweigerlich (geschlechter)soziologische Fragen nach den Verbindungsmechanismen von Emotionalität und ›Männlichkeit‹ auf, die in einigen Ansätzen der aktuellen ›Männerforschung‹ vor allem im Zusammenhang von ›Männlichkeit‹ und ›Macht- und Gewaltausübung‹ diskutiert werden. In Tholens Argumentation mit Bezug zur Bereitschaft der emotionalen männlichen Selbstreflexion zeichnet sich eine gewisse Nähe zu Kaufmans Ansatz ab, der bereits im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit vorgstellt worden ist. Für die Analyse von ›Männlichkeit‹ in Dramentexten impulsgebende Abschnitte stellen die Thematisierung von ›Männlichkeit‹ und Narzissmus (S. 70ff.) sowie die Ausführungen zu ›Männlichkeit‹ und Tod (S. 111ff.) dar. Diese umfassen – gemeinsam mit der bereits angesprochenen Schwerpunktlegung auf die Frage nach einer ›männlichen‹ Subjektivität sowie ›männlichem‹ Begehren – die Punkte aus Tholens eher geschlechtsphilosophischer als literaturwissenschaftlicher Arbeit, die für die Zielsetzung der Analyse der Dramentexte stimulierend sind. Der letzte Text, der im Rahmen der Vertreter einer literaturwissenschaftlichen Männlichkeits-forschung vorgestellt werden soll, ist Ildikó Vékonys Literarische Männlichkeitsentwürfe: Zur ästhetischen Inszenierung von Männlichkeit in der bundesdeutschen Prosaliteratur um 1980.111 Er zielt darauf ab, eine »ästhetische Analyse von literarischen Repräsentations- und Zuschreibungsformen der Männlichkeit«112 vorzunehmen. Die Parallelen zu Erharts Text ergeben sich vor allem aus der Orientierung einer Untersuchung von ›Männlichkeit‹ und ihren Darstellungen in Prosawerken. Im Vergleich zur vorliegenden Arbeit fällt auf, dass sich Vékony ebenfalls des durch Hans Bosse und Vera King geprägten Begriffs ›Männlichkeitsentwurf‹ bedient, um der »Vorstellung von wandelnden Männlichkeitskonzepten«113 Rechnung zu tragen. Anhand dreier Werke der bundesdeutschen Prosaliteratur der späten 70er und frühen 80er Jahre, Martin Walsers Seelenarbeit, Wolfgang Hildes-
111
112 113
Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: Ildikó Vékony: Literarische Männlichkeitsentwürfe: Zur ästhetischen Inszenierung von Männlichkeit in der bundesdeutschen Prosaliteratur um 1980. Königstein/Taunus 2006. Vékony: Literarische Männlichkeitsentwürfe, S. 18. Vékony: Literarische Männlichkeitsentwürfe, S. 22.
110
heimers Marbot sowie Botho Strauß’ Der junge Mann versucht Vékony, »die Verunsicherung in der eigenen (Geschlechts-) Identität und eine damit einhergehende Krise der Männlichkeit«114 aufzuzeigen. In einem knappen historischen Abriss der angesprochenen Krisenhaftigkeit zitiert sie den Begriff der ›hegemonialen Männlichkeit‹, um zu verdeutlichen, dass »dessen Gültigkeitsbereich durch die Theorieentwicklung der letzten zwei Jahrzehnte hinterfragt und im Wesentlichen erschüttert wurde.«115 Im historischen Abriss der Forschungsansätze zur ›Männerforschung‹ verweist sie mehrfach auf die entscheidende Bedeutung, die dem späten 18. Jahrhundert und somit dem Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit zukommt. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass sich in den beispielhaft ausgewählten Texten der literaturwissenschaftlichen Männerforschung trotz der zum Teil sehr unterschiedlichen methodologischen Vorgehensweisen folgende Tendenz zeigt: ›Männlichkeit‹ wird in engem Zusammenhang mit der Problematik der Selbstfindung und Subjektbildung der literarischen Figuren analysiert. Innerhalb dieses ›männlichen‹ Selbstfindungsprozesses kommt den beiden Parametern der Eigenund Fremdwahrnehmung der Figuren sowie dem Zusammenhang zwischen ›Männlichkeit‹ und emotionalen Bindungsstrukturen (Familie, Ehe, amouröse Bindungen) eine entscheidende Bedeutung zu. Störungen auf den genannten emotionalen Gebieten und Störungen im Bereich der ›Männlichkeit‹ der Figur stehen in einem kausalen Verhältnis, das entweder monodirektional (einseitige Beeinflussung des Männlichkeitsentwurfes durch die gestörten emotionalen Bindungsstrukturen) oder reziprok beschrieben werden kann (beide Aspekte bedingen sich wechselseitig). Androgynität dient in literarischen Texten als Vermittlungsinstanz zwischen dem Männlichkeitsideal der betreffenden Zeit eher und weniger entsprechenden Männlichkeitsentwürfen. Gerade in der Koexistenz von Männlichkeitsentwürfen, die den historisch-epistemologischen Grundlagen stark oder wenig entsprechen und der Zwischenform des androgynen Männlichkeitsentwurfes lässt sich das ausgehende 18. Jahrhundert als Transit-Zeit auf dem Wege zur Herausbildung eines neuen Verständnisses der Begriffe ›Geschlecht‹ und ›Mann‹ erkennen.
114 115
Vékony: Literarische Männlichkeitsentwürfe, S. 18. Vékony: Literarische Männlichkeitsentwürfe, S. 19.
111
4.
Analyse der Männlichkeitsentwürfe in ausgewählten deutschen Dramentexten
4.1
Methodologische Vorbemerkungen
Die beiden folgenden Kapitel verfolgen das Ziel, die literarischen Männlichkeitsentwürfe des 18. Jahrhunderts aus dem deutschen (Kapitel 4) und italienischen Sprachraum (Kapitel 5) anhand einer Textanalyse der dramatischen Texte zu dokumentieren. Die entsprechende Methode ist textzentriert, aufgrund des Einbezugs der Ergebnisse aus den vorangegangenen Kapiteln jedoch nicht ausschließlich textimmanent. Sie setzt sich aus folgenden Teilmethoden zusammen: Jeder Text wird zunächst auf wichtige Spannungsfelder und Konfliktherde mit männlicher Beteiligung hin vorgestellt. Diese Vorgehensweise führt zum einen in die im Text repräsentierten und den Handlungsverlauf entscheidend beeinflussenden Figurenkonstellationen ein und liefert bereits eine erste Orientierung zum Konflikt- und Entwicklungspotenzial der einzelnen männlichen Handlungsträger. In einem zweiten Schritt werden die wichtigsten männlichen Figuren des Textes auf ihre individuelle Männlichkeitsentwürfe hin analysiert. Dabei rücken statische und dynamische Aspekte der Figur ins Zentrum der Analyse. Darüber hinaus zielt dieser zweite Schritt auf eine Positionsbestimmung der betreffenden Figur im Hinblick auf Nähe oder Ferne zu der im Text präsentierten Form von ›hegemonialer Männlichkeit‹ ab. Die dritte Etappe umfasst – unter Einbezug der Ergebnisse aus den ersten beiden Etappen – die Analyse ausgewählter Textpassagen, in denen sich die Thematisierung der Männlichkeitsentwürfe besonders deutlich zeigt.
4.2
Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück1
4.2.1 Schwerpunkte der Analyse Die Einzelanalyse der männlichen Figuren in Lessings 1767 erschienenem Text umfasst den Major von Tellheim, Paul Werner und Just. Folgende Schwerpunkte der Analyse werden in diesem Zusammenhang behandelt:
1
Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück. In: Wilfried Barner u. a. (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in 12 Bänden. Band 6. Werke und Briefe 1767–1769. Hrsg. von Klaus Bohnen. Frankfurt am Main 1985, S. 9–110. Im Folgenden zitiert als Sigle: MvB Seitenzahl.
112
Im Bereich der Problemkonstellationen wird die zentrale Stellung Tellheims deutlich:2 Innerhalb des Systems des Militärs interagiert er vor allem mit Paul Werner, zuweilen auch mit Just, als ihm hierarchisch untergeordnete Figuren. Tellheims Einstellungen zu Just und Werner unterscheiden sich dahingehend, dass er vor allem mit Werner über die dienstlichen Beziehungen hinaus teilweise auch freundschaftlich verkehrt, währenddessen er Just gegenüber stärker das Bewusstsein der hierarchischen Unterschiede zum Ausdruck bringt. Just und Paul Werner zeigen in ihren Gesprächen mit dem Major die Überschneidungssphären von militärischem Gehorsam bzw. Dienstpflicht und vertrauter, freundschaftlicher Interaktion in sehr differenzierter Weise. Dabei steht Tellheims Männlichkeitsentwurf wiederholt vor der Herausforderung, sich zwar gegenüber Just als ›Herr‹ bzw. gegenüber Paul Werner als ›Vorgesetzter‹ zu positionieren, aber gleichzeitig wiederholt mit ihren Hilfsangeboten konfrontiert zu werden. Dieses Spannungsverhältnis wird einen Schwerpunkt der Analyse bilden. Darüber hinaus soll untersucht werden, wie die persönliche Verzweiflung des Majors aufgrund seiner prekären finanziellen Situation den Umgang mit den ihn umgebenden Figuren, sein Selbstverständnis als ›Mann‹ und als ›Soldat‹ und seinen amourösen Handlungsspielraum beeinflusst. In Paul Werner und Just, den beiden mit Tellheim verbundenen Gefolgsleuten bzw. Dienerfiguren, laufen verschiedene Fäden der Problemkonstellationen, an denen Tellheim beteiligt ist, zusammen. Die Männlichkeitsentwürfe beider erweisen sich dabei als vielschichtig und aus diesem Grund für die Einzelanalyse als außerordentlich interessant. Insbesondere die Spannung zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung wird in diesem Zusammenhang ebenso Berücksichtigung finden wie die im Vergleich zu Tellheim unterschiedlichen Sichtweisen auf das System des Militärs, die sich vor allem anhand der Figur Paul Werners zeigen. Just und Werner dienen Tellheim – soviel sei bereits an dieser Stelle vorweggenommen – darüber hinaus auch als kommunikative Instanzen, mittels derer er mit dem Wirt oder auch mit Minna in Kontakt tritt. Schließlich nimmt die Beziehung zwischen Tellheim und Minna die zentrale Position ein, was sich unter anderem auch dadurch zeigt, dass Minna nicht nur mit ihm, sondern auch in Tellheims Abwesenheit mit verschiedenen Figuren wiederholt über ihn spricht. Neben dieser für die Analyse Tellheims entscheidenden Beziehung interagieren auch Paul Werner und Just mit unterschiedlichen Strategien mit den beiden weiblichen Figuren, Minna und Franciska. Dabei ist vor allem die Konstellation zwischen Paul Werner und Franciska interessant, in der formale Parallelen (ein Repräsentant des Militärs interagiert im Bereich der Intimität mit einer Frau) und spezifische Unterschiede (hohes und niederes Paar in einem Lustspiel, Ziel und Gegenstand der Kommunikation) zur Beziehung zwischen Tellheim und Minna untersucht werden sollen.
2
Guthke sieht Tellheim im »Mittelpunkt der dramatischen Welt«: »Nicht, daß er alle Szenen beherrscht, aber es gibt kaum einen Auftritt, in dem nicht bedeutend von ihm gesprochen wird, der also nicht final auf ihn bezogen ist.« In: Karl S. Guthke: Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie. Göttingen 1961, S. 34.
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4.2.2 Major von Tellheim Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität: Der »gelähmte« Offizier Der Major von Tellheim ist zweifelsohne eine der männlichen Figuren, die in der Lessing-Forschung am kontroversesten diskutiert und analysiert werden.3 Der folgende Abschnitt will in dieser ohnehin weit entwickelten Auseinandersetzung keine Partei ergreifen, sondern eine zusätzliche und in der Forschung bislang zu wenig berücksichtigte Komponente als Untersuchungsgegenstand vorschlagen: Tellheim in einer männlichkeitsbezogenen Analyse.4 Diesbezüglich versucht Günter Saße 1993, die Frage nach der Ehre Tellheims um zeitgenössische Ehe- und Pflichterwartungen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Mann und Frau geknüpft wurden, zu erweitern.5 Brigitte Pruttis Arbeit zielt 1996 darauf ab, Tellheims Position zu Minna vor allem im Kontext seines Verhältnisses zum Konzept einer ›Vater‹-Figur neu zu definieren, wobei patriarchalische, extern fokussierte Komponenten sich mit dem Drang nach der nach innen gerichteten Autoaggression verbinden.6 Saßes soziohistorische sowie Pruttis eher geschlechterpsychologische Einbettung sollen im Folgenden unter Beachtung der epistemologischen Grundlagen des 18. Jahrhunderts um den Aspekt einer Analyse der Dynamik des Männlichkeitsentwurfes Tellheims erweitert werden. Hinter der Figurenbezeichnung »Major von Tellheim« erscheint in dem Lessings Text vorangestellten Verzeichnis der Zusatz »verabschiedet«. Damit wird bereits vor dem Beginn des Haupttextes ein zentraler Widerspruch umrissen, in dessen Spannungsfeld der Männlichkeitsentwurf Tellheims untersucht werden soll: Er besteht gerade in der Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen militärischem Ruhm und sozialem Abstieg, zwischen einer an die Erfüllung strenger Normen geknüpften Eigenwahrnehmung und der Beurteilung durch andere Figuren. Tellheim ist unter verschiedenen Gesichtspunkten ein Repräsentant des Systems des Militärs im 18. Jahrhundert: Diese Repräsentanz äußert sich auf formaler Ebene vor allem in der Fremdwahrnehmung: Sowohl Just, der Wirt, Paul Werner und Riccaut als auch Minna und Franciska benutzen wiederholt die Anredeform »Herr Major«. Dass die Funktion und der Status als Offizier jedoch auch als intrinsische Definitionsgrundlage der Persönlichkeit Tellheims bezeichnet werden kön3
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Ein guter Überblick zur älteren Forschungstradition (allerdings mit Bezug auf den gesamten Text) findet sich bei Beatrice Wehrli: Kommunikative Wahrheitsfindung. Zur Funktion der Sprache in Lessings Dramen. Tübingen 1983, S. 98ff. Zu aktuellen Fragestellungen vgl. Monika Fick: Lessing – Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2000, S. 247ff. Auch wenn sich bei Fick: Lessing – Handbuch, S. 248 die Formulierung findet, die »Beziehung zwischen Mann und Frau« als Thema des Stücks könne an »eine lange Deutungstradition anknüpfen«, sind die bisherigen Versuche, Tellheim in seiner ›Männlichkeit‹ zu untersuchen, doch deutlich unterrepräsentiert und darüber hinaus weitestgehend auf die Betrachtung eines »Geschlechterkampfes« reduziert. Vgl. Günter Saße: Der Streit um die rechte Beziehung. Zur »verborgenen Organisation« von Lessings Minna von Barnhelm. In: Wolfram Mauser, Günter Saße (Hg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Tübingen 1993, S. 41ff. Vgl. Brigitte Prutti: Bild und Körper. Weibliche Präsenz und Geschlechterbeziehungen in Lessings Dramen: »Emilia Galotti« und »Minna von Barnhelm«. Würzburg 1996.
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nen, verdeutlichen die wiederholten selbstreflexiven Passagen in seiner Figurenrede, die im weiteren Verlauf noch einer genaueren Analyse unterzogen werden sollen.7 Selbst- und Fremdwahrnehmung Tellheims teilen ein entscheidendes Charakteristikum: Sie zitieren Ereignisse und Zustände aus der Vergangenheit und manövrieren sich aus diesem Grund unweigerlich in den Vergleich mit der Gegenwart.8 Dieser Vergleich deckt verschiedene Facetten des Schicksals Tellheims auf, die jeweils mit dem Übergang zwischen Kriegs- und Friedenszeit in Folge des Siebenjährigen Krieges verbunden sind, worauf Barner im Rekurs auf den ersten Literaturbrief Lessings hinweist.9 Finanzielle Schwierigkeiten und der drohende Bankrott des Majors ergeben sich sowohl durch ungedeckte Wechsel während der Kriegszeit als auch durch den Verlust der Anstellung als Soldat danach. Diesem Verlust der Anstellung entsprechen die Einbuße des ehemals umfangreichen Bedienstetenapparates, wie sie durch Just in III/2 gegenüber Franciska enthüllt wird, sowie die Gefahr, aufgrund von Begünstigungen gegenüber dem Feind mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.10 Wiederum eng damit verbunden ist die berufliche Perspektivlosigkeit Tellheims in Friedenszeiten, die zusätzlich durch seine im Krieg erlittene körperliche Versehrtheit – der Lähmung eines Armes – motiviert wird. Brenner spricht in diesem Zusammenhang von einer »dreifach dimensionierten Fragilität Tellheims«: Sein gewaltsam aufrechterhaltener Ehrbegriff ist äußerst labil. Die Position Tellheims in den sozialen Institutionen, die das Subjekt formieren, ist gefährdet; und – von der Forschung kaum beachtet – auch der Körper Tellheims ist lädiert.11
Die Akkumulation an ungünstigen Begleitumständen führt schließlich zur Exklusion aus dem System des Militärs und – im Falle Tellheims noch entscheidender – zum Entschluss, wichtigen zwischenmenschlichen Beziehungen zu entsagen. Der Bereich der amourösen Beziehungen wird durch die entsprechende Entscheidung ebenso berührt wie der Bereich des freundschaftlichen Umgangs mit seinen Gefolgsleuten. Der auf Tellheims soziale Funktion abhebenden Exklusion aus dem System des Militärs entspricht eine auf den Anspruch auf Hegemonie bezogene Exklusion aus dem Kernbereich ›hegemonialer Männlichkeit‹. Ein Vergleich mit 7
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Damit kann der Auffassung Schmales widersprochen werden, dass »von militärisierter Männlichkeit im 17./18. Jahrhundert vor der Französischen Revolution keine Rede sein könne«. Vgl. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 131. Vgl. Simonetta Sanna: Lessings »Minna von Barnhelm« im Gegenlicht: Glück und Unglück der Soldaten. Bern 1994, S. 38. Vgl. Wilfried Barner u. a. (Hg.): Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. München 1998, S. 261. Die entsprechenden Textstellen finden sich in der »Einleitung« und im »ersten Literaturbrief« des ersten Teils des Texts Briefe, die neueste Literatur betreffend. Vgl. G. E. Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend. Stuttgart 1979, S. 5 und 6f. Der Verweis auf die Textstelle wird auch von Fick: Lessing – Handbuch, S. 243 gegeben. Die zeitgenössischen strafrechtlichen Konsequenzen eines solchen Tatbestandes zeigt Saße: Liebe und Ehe. Oder: Wie sich die Spontaneität des Herzens zu den Normen der Gesellschaft verhält: Lessings »Minna von Barnhelm«. Tübingen 1993, S. 70ff. Peter J. Brenner: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 2000, S. 119. Tellheims Verletzlichkeit wird auch von Peter-André Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2007, S. 236 hervorgehoben.
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Zedlers 1739 erschienenem Lexikon deckt das Defizit der objektiven Voraussetzungen, die Tellheim mit Bezug auf die Zuschreibung einer solchen Position aufweist, auf: Mann […] bedeutet einen tapfferen, streitbaren, kühnen Held, der einen Muth hat wie ein Löwe, ausdauert im Kampf, einen Ausbund und fürnehmlichen Mann.12
Tellheim – das kann bereits an diesem frühen Punkt der Analyse festgestellt werden – besitzt zumindest in seiner gegenwärtigen Situation keine einzige der bei Zedler aufgeführten Eigenschaften. Sein Männlichkeitsentwurf befindet sich damit von Beginn des Textes an in einem Zustand, der im Rekurs auf die frühe Männerforschung (Pleck) als Geschlechterrollenstress bezeichnet werden kann,13 der insbesondere durch »eine erlebte Diskrepanz von maskulinen Rollenidealen und eigener subjektiver Körperlichkeit«14 entsteht. Diese Ausgangssituation soll im Folgenden daraufhin hinterfragt werden, wie und auf Grundlage welcher Motive Tellheim die Bewältigung seines persönlichen Schicksals zunächst vehement ablehnt und im Laufe des Textes umso entschlossener in Angriff nehmen will. Dabei muss ein besonderes Augenmerk darauf verwendet werden, wie sein männliches Selbstverständnis, das ihn als Offizier ursprünglich in einen Kernbereich der ›hegemonialen Männlichkeit‹ rücken sollte, das Bewusstsein des persönlichen Schicksals widerspiegelt oder sich davon distanziert. Die Einzelanalyse hinterfragt insbesondere die Beziehungen, die Tellheim zu den anderen männlichen Figuren – vor allem zu Just und Paul Werner – unterhält, sowie seine Position im System der Intimität gegenüber Minna. Darüber hinaus wird seine Sichtweise auf das System des Militärs, die sein Handeln maßgeblich beeinflusst, einer kritischen Prüfung unterzogen. Mit Bezug auf die prekäre finanzielle Situation Tellheims erfolgt die Informationsvermittlung zu Beginn des Textes indirekt durch Mittel der Fremdcharakteristik. Die Szenen I/1 sowie I/2 lassen Just und den Wirt entscheidende Aspekte des Konfliktpotenzials, auf dem der Text beruht, benennen. In der Auseinandersetzung beider Figuren wird Tellheim mit folgenden Attributen versehen: »armer Herr«, »ehrlicher Mann« sowie »abgedankter Officier«. (MvB 11f.) Wie eng die Bereiche ›Soldatentum‹ und ›Männlichkeit‹ in Lessings Text aneinander gebunden sind, wird durch folgende Äußerung Justs über Tellheim und die Replik des Wirts in I/2 bereits antizipiert: Just: […] Meinen Herrn! so einen Mann! so einen Officier! Der Wirt: Den hätte ich aus dem Hause gestoßen? auf die Straße geworfen? Dazu habe
ich viel zu viel Achtung für einen Officier, und viel zu viel Mitleid mit einem abgedankten! (MvB 11f.)
Zwei Aspekte sind an dieser Stelle interessant: Just – das wird an seinem Ausruf deutlich – empfindet Tellheim gegenüber in zweifacher Hinsicht Respekt: als
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Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Pleck gilt als der Begründer dieses Paradigmas. Vgl. Pleck: The Myth of Masculinity. Andreas Thiele: Männlicher Geschlechtsrollenstress über die Lebensspanne. In: Therese Steffen (Hg.): Masculinities – Maskulinitäten. Mythos – Realität – Repräsentation – Rollendruck. Stuttgart 2002, S. 265.
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›Mann‹ und als ›Offizier‹.15 Just bleibt mit dieser Feststellung allerdings auf einer Ebene, die die gegenwärtige Situation Tellheims ignoriert. Anhand der Äußerung des Wirts lässt sich im Vergleich dazu über den Bezug zur Vergangenheit (»Achtung für einen Offizier«) hinaus auch der zur Gegenwart (»Mitleid mit einem abgedankten«) nachvollziehen. Tellheim wird folglich indirekt in den Haupttext eingeführt, indem er als Mitleid erweckende männliche Figur vorgestellt wird, die weit davon entfernt ist, männliche Dominanz auszuüben oder gar zu beanspruchen. Die Bereiche ›Männlichkeit‹, ›Soldatentum‹ und ›Mitleid‹ werden auch von Franciska in II/5 aufgenommen: »[…] Er muß unglücklich sein. Das jammert mich.« (MvB 39) und erwecken ebenso den Eindruck der gegenseitigen Inkompatibilität wie die Tatsache, dass sich Just als Dienerfigur in die Position des Fürsprechers bzw. Verteidigers der Soldatenehre Tellheims manövriert. Damit geht der Anspruch auf Eigeninitiative, seine über das Soldatentum definierte ›männliche‹ Ehre wiederherzustellen, von Tellheim auf Just über. Die Beziehung zwischen Just und dem Major soll aus diesem Grund im Folgenden zuerst analysiert werden: Die Szenen I/3, I/4, I/8 sowie I/10 spiegeln den fraktalen Zustand, den Tellheim selbst mit dem engsten ihm noch verbliebenen Kreis an Dienerfiguren verbindet, am Beispiel der Interaktion mit Just wider. Während der erste Auftritt Tellheims in I/3 in Gegenwart des Wirts noch konkrete Befehle gegenüber Just enthält, um das Hierarchieverhältnis zwischen Herrn und Diener gegenüber dritten Personen transparent werden zu lassen, verweist die Interaktion in I/4 bereits auf Mechanismen der Auflösung dieser Hierarchie: Just beabsichtigt tatsächlich, Tellheims Ehre durch physische Gewalt gegenüber dem Wirt Genugtuung zu verschaffen: v. Tellheim: Was willst du aber? Just: Ich will, daß Sie es empfinden sollen, wie sehr man Sie beleidigt. v. Tellheim: Und dann? Just: Daß Sie sich rächten – Nein, der Kerl ist Ihnen zu gering. – v. Tellheim: Sondern, daß ich es dir auftrüge, mich zu rächen? (MvB 16f.)
In der privaten Gesprächssituation stellt sich die von Tellheim noch in Gegenwart des Wirts beanspruchte Dominanz des Dienstherrn als moderat dar; vielmehr ist es in I/4 Just, der agiert, und Tellheim, der sich darauf beschränkt zu kommentieren. Just fordert von Tellheim zunächst – den Regeln des Militärs entsprechend – die Wiederherstellung der Ehre in einem Duell. Tellheim geht darauf nicht näher ein – seine Rache: »Er [der Wirt, M.B.] hätte mich nicht wieder mit Augen sehen, und seine Bezahlung aus deinen Händen empfangen sollen.« (MvB 17) exkludiert Mittel der körperlichen Gewalt a priori. Den Grund dafür enthüllt Just in I/8: Just:
[…] Sie vergessen Ihrer Blessuren, und daß Sie nur eines Armes mächtig sind. Sie können sich ja nicht allein ankleiden. Ich bin Ihnen unentbehrlich; und bin […] ein Bedienter, der […] für seinen Herrn betteln und stehlen kann. (MvB 23)
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Vgl. Antonino Orlando: Lessings »Minna von Barnhelm«. Eine Interpretation. Zürich 1978, S. 1.
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Die Aussage Justs verdeutlicht, wie dramatisch sich das Abhängigkeitsverhältnis Tellheims ihm gegenüber vor allem aufgrund der Lähmung des Arms gestaltet: Tellheim ist nicht nur unfähig, seine Ehre durch körperliche Auseinandersetzung wiederherzustellen – und dadurch die charakteristischen Erwartungen an einen zumal hochdekorierten Soldaten zu erfüllen. Seine körperliche Versehrtheit liefert ihn auch in intimen Bereichen – wie dem des alltäglichen Ankleidens – dem Zustand der Bedürftigkeit einer anderen Person aus, um ihm auch diese einfachsten Tätigkeiten zu ermöglichen. Die körperliche Lähmung lenkt den Fokus auf zwei kritische Bereiche des Männlichkeitsentwurfes Tellheims: zum einen, inwiefern ein Soldat mit einer solchen körperlichen Behinderung leben soll sowie zum anderen, inwiefern Tellheim auch im privaten Bereich noch handlungsfähig sein kann.16 Der gepanzerte Körper eines Soldaten, der laut Lothar Böhnisch eine der ältesten Versuche zum Schutz der internen ›männlichen‹ Gefühlswelt vor externen Einflüssen mittels der Strategie eines externalisierenden Dominanzgebarens darstellt,17 wird im Beispiel Tellheims plötzlich selber verwundbar. Von einer beruflichen Perspektive aus macht das eine Rückkehr in direkte Kampfhandlungen im System des Militärs praktisch unmöglich. Aus der auf seinen Männlichkeitsentwurf bezogenen Perspektive ließe sich zunächst vermuten, dass eine im Krieg erlittene Verletzung, die innerhalb der soldatischen Dienste einkalkulierbar ist, eventuell auch als Dokumentation männlicher Risikobereitschaft gegenüber dem eigenen Körper interpretiert werden könnte.18 In diesem Sinne hätte Tellheim eine Bedingung, die sich mit seinem Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ als Offizier verbindet, über die Maßen hin erfüllt. Allerdings ist Tellheim nicht durch Narben gekennzeichnet, sondern teilweise gelähmt. Die Versehrtheit greift aus diesem Grund über ein reines Emblem der Tapferkeit hinaus; anders formuliert, ist die körperliche Lähmung nur nach den Regeln des Systems des Militärs eine Trophäe zur Dokumentation von Tapferkeit, da sich Tellheim damit zu Zeiten des Friedens sein Leben weder als Zivilist selbstständig organisieren, noch perspektivisch wieder für die Reintegration in das System des Militärs empfehlen kann.19 Die Bindung des Karrierestrebens eines Offiziers an dessen Männlichkeitsentwurf lässt sich im Falle Tellheims durch einen Rekurs auf eine von Walter Erhart getroffene Feststellung anschaulich verdeutlichen: Erhart hebt klar hervor:
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Die meines Erachtens nach in der Tellheim-Forschung zu wenig beachtete physische Versehrtheit hebt zum Beispiel Kagel hervor. Vgl. Martin Kagel: Des Soldaten Glück: Aufklärung, Kriegserfahrung und der Ort des Militärs in Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm. In: Herbert Rowland u. a. (Hg.): Lessing Yearbook/Jahrbuch XXXV 2003. Göttingen 2004, S. 22f. Auch Ludwig Stockinger: Aufklärung und »Bürgerliche Gesellschaft« im Spiegel von Christian Felix Weißes Singspiel-Libretti. In: Katrin Löffler, Ludwig Stockinger (Hg.): Christian Felix Weiße und die Leipziger Aufklärung. Hildesheim 2006, S. 136, betont die Versehrtheit. Vgl. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 110ff. Vgl. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 198. Vgl. Schmales Ausführungen zur sozialen Marginalisierung körperlich versehrter junger Männer im Militär in: Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 196f.
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Jeder Dienstgrad ist nur das Bruchstück eines ›Ganzen‹, das die Offizierslaufbahn verspricht: Lohn einer erworbenen Männlichkeit, die nicht selten in ihrem höchsten Symbol gipfelt – dem General. […] So wie der Offizier eine Fiktion darstellt, die sich durch die Bewegung der Laufbahn buchstäblich erst realisiert, so dokumentiert sich die zum Vorschein kommende Männlichkeit in dieser Laufbahn als die Realisierung eines Willensmenschen, der lange Zeit Fiktion bleibt und sich erst zum Schluss vollendet.20
Tellheims Rückkehr in das System des Militärs wird nicht nur von ihm selber in Frage gestellt; sie erscheint auch im Text bis zur Aufhebung des Verdachtsmoments, das gegen ihn vorliegt, höchst unplausibel. Der Argumentation Erharts folgend, zieht die physische Beeinträchtigung auch seine an das soldatische Ideal gebundene männliche Selbstverwirklichung in Zweifel. Verstärkend tritt hinzu, dass die interne Gefühlswelt Tellheims aus psychosozialer Sicht nach dem Argumentationsschema Böhnischs ungeschützt offen liegt: Tellheim ist gezwungen, sich anderen Figuren gegenüber zu offenbaren – finanziell zunächst, aber vor allem auch emotional. Sein männlicher Selbstschutzmechanismus ist mit dem Körper irreparabel verletzt worden und legt dadurch das »Doppelgesicht des männlichen Habitus, die dahinter liegende Spannung zwischen Dominanz und Verfügbarkeit, Abwehr von und Sehnsucht nach eigengerichteten Gefühlen«,21 frei. Die interessante Frage ist, weshalb dieser Zustand seinen Männlichkeitsentwurf so entscheidend prägt, da das Bedürfnis nach Dienerfiguren, die zur Verwirklichung der eigenen Interessen beitragen sollen, für sich genommen einen solchen Schluss noch nicht zwingend zulassen würde. Die Antwort auf diese Frage resultiert aus der Tatsache, dass Tellheim Just eben nicht nur zur Umsetzung seiner beruflichen Pläne, sondern zur Aufrechterhaltung der eigenen privaten Existenz dringend benötigt. Im Rekurs auf die von Böhnisch analysierten Mechanismen zur Lebensbewältigung bei Männern22 vor allem in Krisensituationen lässt sich der Zuspruch einer ›handlungsfähigen‹ Männlichkeit vor allem aus der Flexibilität ableiten, mit der es dem betreffenden Mann gelingt, auf wechselnde Außeneinflüsse zu reagieren: Insofern ist die Außenfixierung [Böhnisch spricht im weiteren Zusammenhang von ›Externalisierung‹, M.B.] des Mannes eine komplexe Konstruktion, die gesellschaftlich abverlangt, interaktiv eingespielt und psychodynamisch verschoben ist. Von daher ist es plausibel, dass diese Komplexität von Männlichkeit und Mannsein im Alltag (unbewusst) reduziert und diese Reduktion ritualisiert werden muss, um handlungsfähig zu bleiben.23
Tellheim wird – analog zu Böhnischs Ausführungen – die Handlungsfähigkeit zwar gesellschaftlich abverlangt, wobei es ihm jedoch nicht gelingt, sie – in Böhnischs Worten – zu ritualisieren, ihr also durch konkretes Handeln zu entsprechen. Diese Handlungsunfähigkeit Tellheims manövriert ihn unweigerlich in die Position der Hilflosigkeit bzw. der Abhängigkeit gegenüber Just; beides führt in die Exklusion aus dem Kernbereich einer ›handlungsfähigen‹ Männlichkeit: 20
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Erhart: Laufbahnen. Die Fiktionen eines Offiziers. In: Ursula Breymayer, Bernd Ulrich, Karin Wieland (Hg.): Willensmenschen. Über deutsche Offiziere. Frankfurt am Main 1999, S. 156. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 40. Vgl. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 192ff. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 192.
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Da […] Hilflosigkeit nicht als positives soziales und kulturelles Gut anerkannt ist, vielmehr als Schwäche gilt, gleichsam als soziale Impotenz, ist sie in der männlichen Gesellschaft ein Tabu.24
Zusätzlich verstärkend wirkt dabei die Tatsache, dass die Hilflosigkeit Tellheims auch solche Bereiche umfasst, die weit über das reine Dienstverhältnis zu Just hinausgehen. Die körperliche Versehrtheit schränkt den Anspruch auf Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit des Majors entscheidend ein, was dadurch intensiviert wird, dass Tellheim sich mit der für ihn neuen Situation nicht progressiv, sondern vor allem retrospektiv auseinandersetzt. Der bereits eingangs angeführte Widerspruch zwischen Tellheims soldatisch-ritterlicher Ehre der Vergangenheit,25 die sich einer vollkommenen körperlichen Leistungs- und Handlungsfähigkeit gewiss sein konnte und der Situation Tellheims in der Gegenwart, ist Ausdruck dieser Dominanz der Vergangenheit. Die Entscheidung, Just zu entlassen (I/4 sowie später I/8) lässt sich vor dem Hintergrund der offensichtlichen Abhängigkeit ihm gegenüber nur wie folgt erklären: Just: Ich bin Ihnen nichts schuldig, und doch wollen Sie mich verstoßen? v. Tellheim: Weil ich dir nichts schuldig werden will. (MvB 22)
Indem Tellheim die von Just in I/8 aufgelisteten Schulden ihm gegenüber als Hilfsangebot entschieden zurückweist, wird klar, dass seine Beziehung zu Just unter dem Zeichen des Bewusstseins der Abhängigkeit von einem Diener steht, was seinem Stolz widerstrebt. Wie inkonsequent er jedoch diese Absicht verfolgt, wird daran deutlich, dass er sie noch in der gleichen Szene widerruft und Just bereits in I/10 den folgenschweren Auftrag erteilt, den Ring Minnas zu versetzen. Emotionale Blockade: Der »gebrochene Mann« Der Eindruck eines gebrochenen Mannes, der aus einem persönlichen Fatalismus heraus externe Angebote zur Hilfe ausschlägt, rekurriert auf die ›Marloff-Episode‹, die die Kommunikation zwischen Tellheim und Just in I/6 unterbricht. Tellheim präsentiert sich mit der Frage: »Kann ich Ihnen worin dienen?« (MvB 18) absolut konform zu den zeitgenössischen Imaginationen ›männlicher‹ sozialer Pflichten, wie Frevert in der Analyse des Begriffs ›Mann‹ bei Zedler feststellt.26 Abgesehen davon, dass die Witwe eines der wenigen Freunde Tellheims: »Sie wissen, Ihr Gemahl war mein Freund […]; und ich war immer karg mit diesem Titel« (MvB 18) die Schuld im Gegensatz zu Just tatsächlich begleichen und Tellheim dadurch hätte helfen können, liegt die Bedeutung der Szene im Hinblick auf den Männlichkeitsentwurf Tellheims jedoch darüber hinaus in der ersten Vergegenwärtigung der emotionalen Lähmung des Majors: 24 25
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Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 193. Vgl. auch S. 199f. Den Bezug zur Ritterlichkeit betonen vor allem Staiger zit. nach: Horst Steinmetz (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹. Dokumente zur Rezeptions- und Interpretationsgeschichte. Königstein 1979, S. 95 und Orlando: Lessings »Minna von Barnhelm«, S. 3. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 25.
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v. Tellheim:
Hören Sie auf, Madame! Weinen wollte ich mit Ihnen gern; aber ich habe heute keine Tränen. Verschonen Sie mich! Sie finden mich in einer Stunde, wo ich leicht zu verleiten wäre, wider die Vorsicht zu murren. (MvB 19)
Der eingeschränkten physischen Mobilität entspricht eine psychische Unfähigkeit zur Artikulation von Emotionen. (Kucklick 63) Vor dem Hintergrund der anthropologischen Kenntnisstände in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich anhand der körperlichen Versehrtheit und des Ungleichgewichts der »Körpersäfte« eine Verbindung zu Zuschreibungen von melancholischen Neigungen ziehen: Melancholie, die: […] 1) Ein hoher Grad der Traurigkeit oder Schwermüthigkeit, besonders so fern sie ihren Sitz in einer fehlerhaften Beschaffenheit des Körpers hat.27
Tellheims Neigung zur Melancholie offenbart sich vor allem in den Bereichen, in denen seine Abhängigkeit von anderen Figuren oder seine Unfähigkeit bzw. sein mangelnder Wille zur Selbstbestimmung transparent wird. Die Ablehnung des Hilfsangebotes, das von der Witwe Marloffs an ihn herangetragen wird, ist Ausdruck einer solchen mangelnden Entschlusskraft und vollzieht sich ebenso wie die Auseinandersetzung mit Just im Einklang mit seinem militärischen Ehrenkodex.28 Tellheim negiert bewusst, hilfsbedürftig zu sein und befindet sich wiederholt in dem Widerspruch, dass ihn die Realität eines Besseren belehrt. Die Abhängigkeit Tellheims von den ihn umgebenden männlichen Figuren spiegelt sich auch in dem Verhältnis zu seinem Gefolgsmann Paul Werner wider, wobei sich die Duplizität der Ereignisse zu der zuvor analysierten Beziehung zwischen Tellheim und Just in diesem Zusammenhang vor allem darin zeigt, dass auch Paul Werner Tellheim – analog zu Just – mit einem finanziellen Hilfsangebot entgegentritt: Werner: […] Da nehmen Sie doch! (reicht ihm die Rolle Dukaten.) v. Tellheim: Werner! Werner: Nun? warum sehen Sie mich so starr an? – So nehmen Sie doch, Herr Major! v. Tellheim: Werner! Werner: Was fehlt Ihnen? Was ärgert Sie? v. Tellheim: (bitter, indem er sich vor die Stirne schlägt, und mit dem Fuße auftritt) Daß
es – die vierhundert Taler nicht ganz sind! […] Werner: Was sagen Sie? v. Tellheim: Es geht dich nur zur Hälfte an! – Geh, Werner! (Indem er die Hand, mit der ihm Werner die Dukaten reichet, zurückstößt.) (MvB 58f.)
Die Ablehnung des Hilfsangebots wird in III/7 insbesondere auch von Merkmalen der Physiognomie Tellheims unterstützt. Dem von Paul Werner beschriebenen »starren« Blick folgt ein Akt der Gewalt gegen sich selbst, indem Tellheim sich mit der noch einsatzfähigen Hand »vor die Stirne schlägt«. Dadurch weist Tellheim Kenn-
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Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Zit. nach: http://mdz.bib-bvb.de/digbib/lexika/adelung/text/band3/ (Zugriff: 23. 10. 2007). Vgl. Barner u. a. (Hg.): Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, S. 264, der in der Marloff-Episode und der Weigerung Tellheims, das Hilfsangebot anzunehmen, seinen »wahren Charakter« versinnbildlicht sieht.
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zeichen auf, die die von Kaufman vertretene These der selbstbezogenen Gewaltausübung als Ergebnis der Ablehnung von ›männlicher Passivität‹ unterstreichen: The continual conscious and unconscious blocking and denial of passivity and all the emotions and feelings men associate with passivity – fear, pain, sadness, embarrassment – is a denial of part of what we are. The constant psychological and behavioural vigilance against passivity and its derivatives is a perpetual act of violence against oneself.29
In Tellheims Fall zeigt sich analog zu Kaufmans Thesen eine zweifache Bedrohung des Männlichkeitsentwurfes durch ›Passivität‹: biologisch – durch die Lähmung eines Armes – sowie sozial – durch die Exklusion aus dem Beruf.30 Der auf sich selber projizierten Gewalt folgt eine Form der externalisierten Gewaltartikulation, indem Tellheim Werners Hand »zurückstößt«. Den Zusammenhang zwischen selbstund fremdbezogener Gewaltausübung arbeitet Böhnisch wie folgt heraus: Die Parole ›hart gegen sich selbst sein‹ beinhaltet auch immer: Keine Gefühle sich selbst gegenüber und damit auch nicht gegenüber anderen zu zeigen. Gewalt gegen sich selbst und Gewalt gegen andere liegen bei manchen Männern eng beieinander.31
Während Tellheims Einschätzung der Situation ihm suggeriert, die Kontrolle über seine Empfindungen zu verlieren, büßt er zeitweise auch die Fähigkeit der sprachlichen Reaktion Werner gegenüber ein. Die im Textauszug zuvor deutlich werdende Einsilbigkeit in Kombination mit dem »starrem« Gesichtsausdruck sowie dem Aufstampfen mit dem Fuß sind demnach nicht nur Anzeichen körperlicher, sondern auch sprachlicher Ohnmacht,32 die schließlich in einen strengen Fatalismus gegenüber seiner eigenen Krisensituation mündet, der sich bereits in der Marloff-Episode33 und in der Auseinandersetzung mit Just angedeutet hatte. Von Seiten der Bediensteten – an dieser Stelle durch Werner – zeigen sich wiederholt Versuche, die Ehre des Majors auch dann noch retten zu wollen, als Tellheim selber den Glauben daran verloren zu haben scheint: Werner:
Sie brauchen es nicht? Und verkaufen lieber, und versetzen lieber, und bringen sich in der Leute Mäuler? v. Tellheim: Die Leute mögen es immer wissen, daß ich nichts mehr habe. Man muß nicht reicher scheinen wollen, als man ist. Werner: Aber warum ärmer? – Wir haben, so lange unser Freund hat. v. Tellheim: Es ziemt sich nicht, daß ich dein Schuldner bin. (MvB 60)
Dabei ist Tellheims Rechtfertigungsstrategie, mit der er das Hilfsangebot Werners ablehnt, in zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen wird im Gegensatz zu Tell29 30
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Kaufman: The Construction of Masculinity and the Triad of Men’s Violence, S. 21. Zum Themenbereich der »passiven Individualität« Tellheims und dem entgegengesetzten »autonomen Subjektentwurf« Minnas vgl. Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, S. 120f. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 198. Weiterführend zum Zusammenhang von ›männlichem‹ Stress unter dem Einfluss von Erwartungsmustern und den inner- und außersprachlichen Konsequenzen wird folgender Text empfohlen: Ronald F. Levant, William S. Pollack (Hg.): A New Psychology of Men. New York 1995. Vgl. Gerhard Kaiser: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang. Tübingen 2007, S. 121, der Tellheim in diesem Zusammenhang einen »egozentrischen Edelsinn« attestiert.
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heims Verhältnis zu Just, das trotz einer privaten Vertrautheit zwischen Herrn und Diener in mehr oder weniger streng hierarchisch definierten Grenzen bleibt, anhand Werners Äußerung »Wir haben, solange unser Freund hat« transparent, dass er sich Tellheim gegenüber sowohl innerhalb als auch außerhalb des Systems des Militärs als ›Freund‹ versteht. Auf die individuellen Schwierigkeiten Tellheims mit den Konzepten ›Freundschaft‹ und ›Freund‹ ist bereits im Zusammenhang mit der MarloffEpisode hingewiesen worden, in der Tellheim zugibt: »[…] mein Freund, sage ich; ich war immer karg mit diesem Titel.« (MvB 18) Diese Schwierigkeiten bestimmen auch seine Reaktion in III/7: Ohne auf Werners auf Privatheit abzielendes Argument einzugehen, beruft sich Tellheim gerade auf die entgegengesetzte Sphäre der öffentlichen Wahrnehmung, nach deren Regeln er Werner in dreifacher Hinsicht nichts schuldig werden darf – weder als Aristokrat, noch als Vorgesetzter und damit auch nicht als Offizier. Im Gegensatz zu Tellheims Verhältnis zu Just, der zwar als Dienerfigur im privaten Bereich an der Intimsphäre Tellheims partizipiert, jedoch aus dem öffentlich-kollegialen Bereich des Militärs exkludiert ist, stellt Werner in gewisser Weise als ›Kollege‹ und ›Freund‹ eine Synthese aus beidem dar. Aus diesem Grund muss das männliche Selbstverständnis Tellheims, das diese Synthese fatalerweise ablehnt, das Hilfsangebot Werners viel stärker als Gefährdung des eigenen Anspruchs auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ erleben als die auf die Intimsphäre begrenzbaren Hilfsangebote Justs. Dieser Schluss resultiert aus einer fehlerhaften Einschätzung der eigenen ›männlichen‹ Position Tellheims in der Gegenwart, die selbstverständlich weit davon entfernt ist, Ansprüche auf ›Hegemonie‹ erheben zu können. Statt sich diesem Zustand offensiv zu stellen, ihn vollends zu akzeptieren und somit das Hilfsangebot nicht misszuverstehen, bevorzugt Tellheim die Flucht in die Vergangenheit, die ihm aus den geschilderten Gründen ein Einlenken unmöglich macht. »Aus Liebe zu der Sache«: Tellheim und das Militär Der sich daraus ergebende zweite Gesichtspunkt rückt die Grundlage der Interaktion beider Soldaten in den Mittelpunkt der Analyse: das Militär. Das gegenseitige Bewusstsein des ›Soldaten‹ hebt eine »gemeinsame Aktivität« im System des Militärs hervor, über die sich in Männerfreundschaften »Gefühle der Nähe und des Vertrautseins« herausbilden können.34 Eine freundschaftliche Interaktion vollziehe sich bei Männern laut Böhnisch – anders als bei Frauen – vornehmlich mit Bezug auf jene gemeinsame Aktivität.35 Diese ist in der Interaktion erstens nicht mehr gegeben und zweitens aus Sicht Tellheims auch in einer weiten Perspektive nicht absehbar. Die Ablehnung der freundschaftlichen Dienste Werners verdeutlichen zum einen, wie sehr Tellheim die Ebene einer selbstreflexiven maskulinen Identität an die Voraussetzung einer gemeinsamen Aktivität knüpft und zum anderen, dass es Werner offenbar gelingt, diese Kausalität zugunsten der Freundschaft aufzubrechen. Aus Tellheims männlich-militärischem Selbstverständnis lässt sich aus diesem Grund die 34 35
Vgl. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 198f. Böhnisch: Männliche Sozialisation, 198f.
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wechselseitige Unvereinbarkeit beider Bereiche – Privatheit und Öffentlichkeit – ableiten, auf die er auch weiterhin beharrt, als Werner ihm die soldatischen Kameraden- und Freundesdienste, mit denen er Tellheim während des Krieges mehrfach das Leben gerettet hat, ins Gedächtnis ruft. Jedoch offenbart sich die Distanz zwischen dem Major und seinem ehemaligen Wachtmeister auch mit Bezug auf die unterschiedlichen Beweggründe, mit denen beide im Militär gedient haben. Während Werner – wie in der Einzelanalyse seines Männlichkeitsentwurfes noch genauer zu untersuchen sein wird – im Militär befristete Söldnerengagements und die damit verbundenen kurzfristigen Abenteuer entweder direkt anstrebt oder zumindest nicht kategorisch ausschließt, appelliert Tellheim dieses Mal direkt an die soldatische Ehre seines Gesprächspartners – eine Tatsache, die an dieser Stelle vor allem als Zwischenergebnis festgehalten und zu einem späteren Zeitpunkt der Analyse nochmals aufgegriffen werden soll: v. Tellheim:
[…] Man muß Soldat sein, für sein Land; oder aus Liebe zu der Sache, für die gefochten wird. Ohne Absicht heute hier, morgen da dienen: heißt wie ein Fleischerknecht reisen, weiter nichts. (MvB 62)
Im Hinblick auf Tellheims eng mit der soldatischen Ehre verbundenen Männlichkeitsentwurf und dessen subjektive Zeitkonstruktion kann aus diesem Grund die von Kilian beschriebene Kategorie ›Kontinuität‹ als vorherrschende zeitbezogene Definitionsgrundlage herausgearbeitet werden. Der Kontinuitätsbezug offenbart sich allerdings im Falle Tellheims nicht nur – wie im Gespräch mit Werner – im Hinblick auf die Definition eines ehrenvollen Soldatendaseins. Vielmehr umfasst er große Bereiche der Eigenwahrnehmung des Majors. Aufgrund eines fortwährenden, kontinuierlichen Vergleichs mit der eigenen Lebensgeschichte und daran geknüpften Reminiszenzen an ein Dasein in Ruhm und Ehre ist Tellheim nicht nur körperlich, sondern auch in seiner Entscheidungsfähigkeit und Flexibilität gelähmt. In der Terminologie Kilians ausgedrückt, wird die Ebene der ›Kohärenz‹ von ihm permanent nicht bedient. Diese Tatsache hat schwerwiegende Auswirkungen auf seine Selbstwahrnehmung. Brenner verdeutlicht: »Auf der anderen Seite aber definiert die Ehre die charakterliche, vor allem aber die soziale Existenz Tellheims.«36 Dem ließe sich auch die auf das Bewusstsein seiner ›Männlichkeit‹ abzielende, geschlechterspezifische Existenz des Majors hinzufügen, wie noch gezeigt werden wird. Um sich mit den für ihn neuen Umständen konstruktiv auseinanderzusetzen und sich dadurch dem Anspruch auf Wiederherstellung seiner ›soldatischen Männlichkeit‹ zu stellen – einer Forderung, die bezeichnenderweise durch seine Bediensteten an ihn herangetragen werden – müsste er einen Teil seines auf ›Kontinuität‹ fixierten Männlichkeitsentwurfes zugunsten eines stärkeren Kohärenzbezugs aufgeben. Seine ostinate Weigerung, gerade diesen Schritt zu gehen, lässt sich aufgrund der Tatsache, dass das Verharren in der ›Kontinuität‹ den Gegenwartsbezug Tellheims behindert, auch als Form psychischer maskuliner Autoaggression bezeichnen. Auch diese ist jedoch bereits von deutlich erkennbaren Brüchen affiziert, wofür sowohl das rasche Umschwenken 36
Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, S. 115.
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in der Frage, ob er sich von Just trennen oder weiter mit ihm zusammenarbeiten soll (I/8), als auch die in III/7 mehrfach auftretende Kombination aus verzweifelter Physiognomie und Körperlichkeit als Beispiele angeführt werden können: Neben den zuvor bereits angesprochenen Schlägen gegen die Stirn und dem Aufstampfen mit dem Fuß steht die Körperlichkeit Tellheims gegen Ende der Szene vor allem im Zeichen des Kontakts mit Werner. Dabei will er den aufgrund der wiederholten Ablehnung des Hilfsangebots in seiner Ehre verletzten Wachtmeister zurückhalten: v. Tellheim: (indem er Werners Hand ergreift) Und, Kamerad, das denkst du nicht noch? Werner: Nein, das denk ich nicht mehr. – Wer von mir nichts annehmen will, wenn ers
bedarf, und ichs habe; der will mir auch nichts geben, wenn ers hat, und ichs bedarf. – Schon gut! (Will gehen.) v. Tellheim: Mensch, mache mich nicht rasend! Wo willst du hin? (hält ihn zurück.) […] Bist du dann zufrieden? Werner: Muß ich nicht? – Geben Sie mir die Hand darauf, Herr Major. v. Tellheim: Da, Paul! (MvB 62f.)
Durch die Anredeform »Kamerad« und das gleichzeitige Ergreifen der Hand Werners löst sich Tellheim zum ersten Mal in der Szene deutlich aus dem durch die soldatischen Hierarchien geprägten Denken in den Kategorien ›Vorgesetzter‹ und ›Untergebener‹. Die Bezeichnung als ›Kamerad‹ und letztlich die vertraute Anrede ›Paul‹ nehmen Werners in der Szene vorangegangene Schilderung der gegenseitigen Unterstützung im Krieg zur Lebensrettung auf und betonen im Gegensatz zu Tellheims Position zuvor das gleiche Schicksal im Kriegsfall. Die Körperlichkeit dient Tellheim in III/7 zunächst durch das Zurückstoßen der ausgestreckten Hand Werners unter dem Bewusstsein der hierarchischen Differenz noch dazu, Distanzen zu schaffen. Dagegen bemüht er sich unter dem Eindruck der Auflösung der Hierarchien im Folgenden darum, eben jene Distanz – auch körperlich – zu überbrücken. Ähnlich wie in der Auseinandersetzung mit Just deutet der rasche Umschwung in der Bewertung der Situation durch den Major auf die tiefe innere Zerrissenheit hin, aufgrund derer es ihm nicht gelingt, freundschaftliche Dienste sofort von dem Anspruch auf Wahrung der Hierarchie zu entkoppeln, sie aber dennoch letztlich zu erstreben. Im Zeichen dieser heftigen Gefühlsschwankungen steht auch die Interaktion zwischen Tellheim und Paul Werner im fünften Akt. Sächsisches Fräulein und preußischer Invalide: Minna und Tellheim Da sie allerdings maßgeblich durch die Entwicklung seiner Auseinandersetzung mit Minna beeinflusst wird, soll Tellheims Männlichkeitsentwurf zunächst auf die Charakteristika innerhalb des Bereichs der amourösen Intimität hin (Akt I bis IV) untersucht werden. Anhand des fünften Aktes lässt sich daraufhin zeigen, wie entscheidend die verschiedenen Bereiche der Intimität Tellheims (Liebe zu Minna und Freundschaft zu Paul Werner) durch ihre Wirkursächlichkeit mit seinem Männlichkeitsentwurf verbunden sind. Erste konkrete Anzeichen für Störungen im amourösen Bereich offenbart Tellheim bereits in I/10, als er – noch im Ungewissen über die Identität Minnas – sein Verhältnis zu Frauen in einer Vorahnung artikuliert: 125
v. Tellheim:
Mache, Just, mache, daß wir aus diesem Hause kommen! Die Höflichkeit der fremden Dame ist mir empfindlicher, als die Grobheit des Wirts. Hier nimm diesen Ring; die einzige Kostbarkeit, die mir übrig ist; von der ich nie geglaubt hätte, einen solchen Gebrauch zu machen! – Versetze ihn! (MvB 24)
Die emotionale Verletzbarkeit Tellheims äußert sich in seiner Figurenrede ebenso wie die symbolische Lossagung von seiner Beziehung zu Minna. Durch die Entscheidung, den Ring als Symbol der Bindung an den Partner zu »versetzen«, löst Tellheim die Beziehung – wie es zunächst scheint – endgültig auf. Es lohnt sich, den Ring als Symbol einer genaueren Analyse zu unterziehen, da ihm in Lessings Text bekanntermaßen auch im Hinblick auf die dramatische Progression eine erhebliche Bedeutung zukommt.37 In I/10 gesteht Tellheim, welchen ideellen Wert der Ring für ihn besitze. Allerdings wird diese Aussage umgehend durch zweierlei Gründe in Zweifel gezogen: Der erste ist die eigene Reaktion Tellheims, der trotz des schmerzvollen Rückblicks in die Vergangenheit relativ schnell den Entschluss fasst, den Ring zu verkaufen, um sich auf Kosten der Erinnerung an eine vergangene Liebe von finanziellen Verbindlichkeiten zu befreien und seine Ehre damit zumindest teilweise wiederherzustellen. Den zweiten Grund enthüllt Just unmittelbar danach in I/11: Just:
[…] Hm! auch den kostbaren Ring hat der Herr noch gehabt? Und trug ihn in der Tasche, anstatt am Finger? (MvB 25)
Der Ring – und somit Tellheims Bindung an Minna – war folglich für die Öffentlichkeit nicht sichtbar.38 Beide Gründe lassen darauf schließen, dass die Frage der öffentlichen Reputation den Affekthaushalt des Majors bei Weitem dominiert. Die Ursachen dafür werden bei dem Aufeinandertreffen von Tellheim und Minna in II/8 zum ersten Mal dargelegt. Wie insbesondere anhand des Nebentextes erkennbar wird, präsentiert sich Tellheim jedoch zu Beginn der Szene als vollkommen von seinen Affekten beherrschter Mann – und agiert somit in Gegenwart Minnas vollkommen widersprüchlich zu seiner Haltung im ersten Akt in einer »Überlagerung von Wunschund Angstvorstellungen«:39 v. Tellheim:
(tritt herein, und indem er sie erblickt, flieht er auf sie zu). Ah! Meine
Minna! – Das Fräulein: (ihm entgegen fliehend). Ah! mein Tellheim! – v. Tellheim: (stutzt auf einmal, und tritt wieder zurück). Verzeihen Sie, gnädiges Fräu-
lein. (MvB 42)
Diese Textstelle ist in der Forschung mehrfach kommentiert worden, wobei sich wiederholt der Hinweis auf den von Lessing im 20. Stück der Hamburgischen Dramaturgie enthüllten Gegensatz zwischen der »Sprache des Herzens« und dem »hässlichen Ton des Zeremoniells« findet.40 Die rasche Abfolge von Hingabe und 37 38
39 40
Eine weiterführende Untersuchung findet sich bei Prutti: Bild und Körper, S. 206ff. Vgl. Arntzen zit. nach: Steinmetz (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹, S. 121. Vgl. Prutti: Bild und Körper, S. 220. Für die entsprechenden Textstellen vgl. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Leipzig 1972, S. 136ff.
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Selbstdisziplin bzw. Reflexion, mit der nach Wehrli für Tellheim die Probleme »erst beginnen«,41 verweist auf einen Bereich der Anthropologie der Aufklärung, der insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein deutlich zunehmendes Interesse verzeichnet, das sich schließlich auch in literarischen Texten niederschlägt: die angestrebte Dominanz bzw. Herrschaft der oberen über die unteren Seelenkräfte, die Herrschaft von Verstand bzw. Vernunft über die Leidenschaften sowie der Seele über den Körper.42 Diese Fähigkeiten beeinflussen im Laufe des 18. Jahrhunderts immer stärker die Tendenz zur Distinktion der Geschlechtereigenschaften, wie anhand der begriffsgeschichtlichen Analyse der Termini ›Mann‹ bzw. ›Männlichkeit‹ bereits im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte.43 Tellheims Disziplinierung der Affekte, die in der zuvor zitierten Passage deutlich wird, kann aus diesem Grund als Versuch bezeichnet werden, der insbesondere an die Definition des ›Männlichen‹ gebundenen Forderung nach Mäßigung der Leidenschaften zu entsprechen. Die sich daraus ergebende Frage lautet, inwiefern der Text bereits selbstreflexive Tendenzen der Aufklärung aufweist, die auch im Bereich der Geschlechterfrage Zweifel an den Postulaten der – speziell von männlichen Figuren geforderten – Beherrschbarkeit der Leidenschaften äußern. Das Zusammenspiel von Haupt- und Nebentext ist dafür in der Szene II/8 von besonderer Bedeutung: Tellheim versucht sowohl, durch sein Zurückweichen körperliche Distanz zu Minna zu wahren als auch die Distanz auf die Ebene des Verbalen zu projizieren, indem er von der eingangs verwendeten Form »meine Minna« zur distanzierten Form »gnädiges Fräulein« übergeht. Martini arbeitet diesbezüglich heraus, dass das Gespräch »paradoxal zwischen Tellheims Liebeseingeständnis, Liebesverweigerung und Flucht« verlaufe.44 Dabei wird sich der Major plötzlich der Öffentlichkeit der Kommunikation bewusst – da neben Minna und ihm auch Franciska und der Wirt Zeuge seiner spontanen Leidenschaft geworden sind. Wie allerdings anhand des Verbergens des Rings in der Tasche deutlich wurde, strebt Tellheim genau das Gegenteil – die Exklusion der Öffentlichkeit aus seinem Verhältnis mit Minna – an, was zum einen die zusätzliche Forderung an seine Selbstdisziplin erklärt und zum anderen sein Verharren in der Sprachlosigkeit hervorruft, die erst in II/9 in der Gewissheit der Wahrung einer Zone der Intimität mit Minna aufgehoben werden kann: v. Tellheim:
(zurückweichend). Sie suchten einen glücklichen, einen Ihrer Liebe würdigen Mann; und finden – einen Elenden. (MvB 43)
41 42
43
44
Wehrli: Kommunikative Wahrheitsfindung, S. 103. Eine eher historisch intendierte Orientierung über die zunehmende Bedeutung anthropologischer Fragstellungen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert findet sich bei Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Vgl. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 53f. und Spalte 64, Krünitz: Ökonomisch-technologische Encyklopädie, S. 723. Fritz Martini: Riccaut, die Sprache und das Spiel in Lessings Lustspiel ›Minna von Barnhelm‹ In: Gerhard Bauer, Sibylle Bauer (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Darmstadt 1968, S. 406. Vgl. Kucklick 17f., der »Liebesunfähigkeit« der Männer im ausgehenden 18. Jahrhundert in einen direkten Zusammenhang zu den Problemen der funktional differenzierten Gesellschaft rückt.
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Die bereits in den Auseinandersetzungen mit Just und Paul Werner deutlich gewordene Fixierung auf den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart führt Tellheim auch Minna gegenüber als Eigencharakteristik an und erklärt im Folgenden die sich für ihn ergebenden Konsequenzen: v. Tellheim:
Recht, gnädiges Fräulein; der Unglückliche muß gar nichts lieben. Er verdient sein Unglück, wenn er diesen Sieg nicht über sich selbst zu erhalten weiß; wenn er es sich gefallen lassen kann, daß die, welche er liebt, an seinem Unglück Anteil nehmen dürfen. – Wie schwer ist dieser Sieg! – Seit mir Vernunft und Notwendigkeit befohlen haben, Minna von Barnhelm zu vergessen: was für Mühe habe ich angewandt! (MvB 43)
Die Berufung auf die Verantwortung für das eigene korrespondiert aus Tellheims Sicht mit der Pflicht, das fremde Schicksal zu schützen. Erneut tritt in seiner Figurenrede ein verbitterter Fatalismus hervor, der ihn die selbstauferlegte Pflicht herleiten lässt, seinen Affekten zu entsagen. Die enge Verknüpfung seines männlichen Selbstverständnisses mit der an eine soldatische Ehre gebundenen Erwartungshaltung manifestiert sich deutlich in der Sprache, die gerade in einem zweifelsohne emotional aufgeladenen Moment mit militärisch besetzten Begriffen (der ›Sieg‹ über sich selbst oder der ›Befehl‹, Minna zu vergessen) die Disziplinierung herzustellen bemüht ist. Die Beherrschbarkeit der Affekte – in diesem Fall der amourösen Art Minna gegenüber – sei ihm von »Vernunft und Notwendigkeit befohlen«, womit er sich als Vertreter des zuvor geschilderten anthropologischen Postulats der Beherrschbarkeit der unteren durch die oberen Seelenkräfte ausweist. Im gleichen Zusammenhang verdeutlicht er jedoch auch die Schwierigkeiten, die für ihn mit diesem Prozess verbunden gewesen seien. Dadurch legt er die Schlussfolgerung nahe, dass die Strategie, den Leidenschaften zu entsagen, um eine Voraussetzung zum Zuspruch von ›Männlichkeit‹ zu schaffen, dem sich in einer Krise befindlichen männlichen Individuum nur über das Applizieren von Mechanismen der Gewalt gegen sich selber ermöglicht wird. Indem Minna ihn – zunächst unverhofft – persönlich trifft und ihn in dem folgenden Wortwechsel dazu zwingt, offen auszusprechen, dass er sie noch immer liebe, bricht die vermeintlich gelöste amouröse Krise aufs Neue über Tellheim herein. Sein Fluchtversuch – oder, systemtheoretisch argumentiert – sein Versuch, das Dasein als ›Exklusionsindividuum‹ fortzuführen und zu intensivieren, muss spätestens in diesem Moment als gescheitert bezeichnet werden, wozu sowohl Mittel der Gewalt gegen sich selber, als auch Mittel fremder Einflussnahme durch Minna entscheidend beitragen. Das komische Potenzial dieser zweifelsohne aus Sicht Tellheims sehr ernsten Situation wird durch die Tatsache verstärkt, dass der Major das Zusammentreffen mit Minna als ›Abschied‹ deutet, währenddessen Minna auf ein Wiedersehen abzielt. Tellheims Männlichkeitsentwurf wird von Minna wie durch einen dramatischen Katalysator noch tiefer in die Krise gestürzt. Dazu trägt auch bei, dass Tellheim nicht nur versucht, seine Affekte zu unterdrücken, sondern sich der durch Luhmann für das ausgehende 18. Jahrhundert konstatierten »Semantik des Gefühls«45 keinesfalls bedienen kann: Ebenso zögerlich wie auf die Frage, ob er Minna noch liebe, verhält sich Tellheim, als Minna ihn bittet, von sei45
Vgl. Luhmann: Liebe als Passion, S. 123ff.
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nem »Unglück« zu berichten, wobei ihm: »Mein Fräulein, ich bin nicht gewohnt zu klagen« (MvB 45) die Anforderungen an eine durch das Militär geprägte ›Männlichkeit‹, die sich durch eine Resistenz gegenüber Emotionen definiert, erneut als Rechtfertigungsgrundlage dient. Tellheim will nicht kommunizieren; er weicht, wie Schröder formuliert, Minnas Impulsen entweder aus oder antwortet widerwillig.46 Die Inkommunikabilität der emotional aufgeladenen Bereiche ›Liebe‹, ›Schicksal‹ und ›Unglück‹ begründet Tellheim im Anschluss wie folgt: v. Tellheim:
[…] Aber Sie meinen, ich sei […] der blühende Mann, voller Ansprüche, voller Ruhmbegierde; der seines ganzen Körpers, seiner ganzen Seele mächtig war; […] der Ihres Herzens und Ihrer Hand […] täglich würdiger zu werden hoffen durfte. – Dieser Tellheim bin ich ebenso wenig, – als ich mein Vater bin. Beide sind gewesen. Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Krüppel, der Bettler. (MvB 45f.)
Prutti gelangt in ihrer Analyse zu dem Ergebnis, dass Tellheim im Evozieren eines Bildes aus seiner ruhmreichen Vergangenheit eine »Rekonstruktion des fragmentierten männlichen Subjekts« beabsichtige.47 Allerdings ist dieser Auffassung kritisch hinzuzufügen, dass Tellheims Argumentation wohl statt der ›Rekonstruktion‹, von der Prutti spricht, gerade durch den Zustand einer fortlaufenden Dekonstruktion des ehemals verkörperten Männlichkeitsentwurfs erschwert wird. Schröder sieht darin erneut eine Verbindung zum sprachlichen Duktus, den sowohl Minna als auch Tellheim wählen: So wie sie [Minna, M.B.] hier die natürliche »Sprache des Herzens« noch auf eine spürbar willkürliche Weise handhabt, so spricht Tellheim seine unnatürlich-zeremonielle Sprache schon auf eine unwillkürliche, weil psychologisch begründete Weise.48
Die Definition des – wie Tellheim sich ausdrückt – »blühenden« Mannes leitet sich sowohl über primär soziale Aspekte wie Reputation und Ambition, als auch über biologisch-anatomische Aspekte her. Das Primat der sozialen Funktion über biologisch-anatomische Kennzeichen spiegelt die Zuschreibungsgrundlagen der Kategorie ›Männlichkeit‹ einer frühen Phase der Aufklärung wider. Die Brisanz der Interaktion zwischen Minna und Tellheim erwächst in II/9 vor allem daraus, dass Minna meint, den vornehmlich auf den sozialen Gesichtsverlust abzielenden Äußerungen Tellheims mit einer dezidierten Forderung nach Körperlichkeit zu entgegnen. Erneut ist das Zusammenwirken von Haupt- und Nebentext in dieser entscheidenden Situation bedeutsam: Das Fräulein: […] Deine Hand, lieber Bettler! (indem sie ihn bei der Hand ergreift.) v. Tellheim: (der die andere Hand mit dem Hute vor das Gesicht schlägt, und sich von
ihr abwendet.) Das ist zu viel! – Wo bin ich? – Lassen Sie mich, Fräulein! – Ihre Güte foltert mich! – Lassen Sie mich! – Das Fräulein: Von mir? (Indem sie seine Hand an ihre Brust zieht.) Träumer! […] v. Tellheim: […] Lassen Sie mich, Minna! (reißt sich los und ab.) (MvB 46) 46
47 48
Zur kommunikativen Unfähigkeit Tellheims vgl. Orlando: Lessings »Minna von Barnhelm«, S. 26 sowie Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, S. 128. Prutti: Bild und Körper, S. 230f. Jürgen Schröder: Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und Drama. München 1972, S. 234.
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Schröder hebt diesbezüglich zu Recht hervor, dass Minna versucht, »jeden zeremoniellen Ansatz […] Tellheims in die Sprache des Herzens zurückzuübersetzen.«49 Allerdings besitzt die Szene – von der Forschung noch nahezu unbeachtet – darüber hinaus eine stark erotische Komponente. Die Projektion sexueller Desiderate, unterstützt von der Kleidung Minnas, dem Negligee, und der von ihr initiierten körperlich-intimen Berührung spiegelt durchaus mehr wider als den von Prutti unterstellten »Wunsch nach der Heimkehr in die weiblich-mütterlichen Arme«.50 Es erstaunt, wie beispielsweise Prutti damit die sinnlichen Komponenten der Szene übergeht: Minna begehrt zumindest an dieser Stelle deutlich eher sexuell als ideell. Jedoch verdeutlicht der körperliche Zustand Tellheims, dass Minna ihn an seinem gelähmten – und damit nicht nur mechanisch unbrauchbaren, sondern durch die Lähmung auch für Erotik unbrauchbaren Arm – ergreift. Die Unbrauchbarkeit bezieht sich dabei vor allem auf eine aktive Zärtlichkeit, die für Tellheim unmöglich ist. Durch sie wird er zwingend in eine passive erotische Position gezwungen. Diese kann vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Wissensbestände, die mit Bezug auf die »Rollenverteilung« während des Sexualakts eher die Position vertreten, dem Mann Aktivität und der Frau Passivität zuzuschreiben, als Revision der Subjekt-Objekt-Konstruktion im geschlechterspezifischen Zusammenhang verstanden werden. Der soldatische Körper Tellheims verliert in dieser Situation über die ohnehin eingebüßte Unversehrtheit hinaus auch den Bezug zum Status des Subjekts. Er wird manövrierbar in den Händen einer Frau, die ein erotisches Spiel initiieren will, das der Mann jedoch nicht zu empfinden vermag bzw. an dem er nicht aktiv partizipieren kann.51 Dem Verbergen des Gesichts hinter dem Hut und dem Abwenden von Minna liegt das Bedürfnis nach Distanz zugrunde, über das Tellheim allerdings nicht mehr entscheiden kann. Minna »ergreift« und »zieht« ihn, sodass er sich nur mit einem erneuten Akt der Gewalt von ihr befreien kann. Zum ersten Mal wird innerhalb des Textes auch nicht nur im Rückblick auf die Vergangenheit, sondern aus dem Gegenwartsbezug klar, dass Tellheims Männlichkeitsentwurf nicht hegemonial sein kann. Er bedarf nicht nur der Hilfe anderer Figuren, sondern auch des emotionalen Schutzes vor anderen Figuren. Im Rekurs auf Tholens Ansatz weist Tellheim gerade jene emotionale, erotische Distanz zur eigenen Körperlichkeit auf, die seiner Männlichkeit den Zugang zu einer nicht zerstörerischen erotischen Subjektivität verwehrt.52 Er selbst begreift dies jedoch als Schutzmechanismus. Um die Distanz zu Minna aufgrund dieser Erfahrung zu wah49 50
51
52
Schröder: Gotthold Ephraim Lessing, S. 233. Prutti: Bild und Körper, S. 232f. sieht in Minna Tellheims »mütterliches Wunschbild«. Im Gegensatz dazu betont Stockinger: Aufklärung und »Bürgerliche Gesellschaft« im Spiegel von Christian Felix Weißes Singspiel-Libretti, S. 134, überzeugend das kalkuliert-erotische Potenzial der Argumentation Minnas, indem er hervorhebt, dass Minna »Argumente der vernünftigen Überredung zusammen mit der augenfälligen Schönheit ihrer körperlichen Präsenz geschickt kombiniert«. Vgl. Eleanor E. Ter Horst: Lessing, Goethe, Kleist and the Transformation of Gender: from Hermaphrodite to Amazon. New York 2003, S. 38, der den »Wechsel in den Geschlechterrollen zwischen Minna und Tellheim« als Spiegelfunktion tragischer und komödiantischer Aspekte interpretiert. Tholen: Verlust der Nähe, S. 16.
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ren, bemüht Tellheim auch im weiteren Verlauf immer wieder seine Gefolgsleute, die entweder – wie Just in III/2 – einen Brief übergeben, oder – wie Paul Werner in IV/4 – seine bevorstehende Ankunft melden sollen. Die Strategie, Minna einen Brief zu schreiben, in dem er seine Situation nochmals erklärt, stellt, genau betrachtet, eine Verkettung verschiedener Mittel zur Wahrung der Distanz dar: der Brief als Mittel der sekundären Oralität anstatt eines klärenden Gespräches, die Übergabe dieses Briefes durch einen Diener anstatt von eigener Hand und die indirekte Übergabe an Franciska anstelle Minnas. Deutlicher kann die Betonung der Distanz nicht hervortreten.53 Umso prekärer erscheint vor diesem Hintergrund die Forderung Minnas, die dem Major in III/10 durch Franciska überbracht wird: Franciska: Das will das Fräulein von Ihnen selbst hören, nicht lesen. v. Tellheim: Von mir selbst hören? Damit mich jedes Wort, jede Miene von ihr verwirre;
damit ich in jedem ihrer Blicke die ganze Größe meines Verlusts empfinde? Ohne Barmherzigkeit! […] Sie will ausfahren, und die Stadt besehen. Sie sollen mit ihr fahren. v. Tellheim: Mit ihr fahren? […] Ganz allein? Franciska: In einem schönen verschlossnen Wagen. v. Tellheim: Unmöglich! Franciska: Ja, ja; im Wagen muss der Herr Major Katz aushalten; da kann er uns nicht entwischen. (MvB 65) Franciska:
Minna verlangt von Tellheim zwei Dinge, die er zu leisten weder im Stande, noch willens ist: Die (erneute) direkte Konfrontation in einem Gespräch, bei dem er sich vor allem auch ihren »Blicken« ausgesetzt fühlen würde, sowie eine Interaktion in einer beengten Umgebung, in der Flucht für ihn unmöglich ist. Erstes will Tellheim nicht, da er instinktiv spürt, seine Leidenschaften erneut nicht disziplinieren zu können, und Letztes bedroht erneut die Schutzfunktion seiner (beschädigten) Körperlichkeit. Beide Aspekte beschäftigen ihn derartig, dass er schließlich nicht einmal mehr die abschließende Beleidigung Franciskas – in Gegenwart Paul Werners – wahrzunehmen scheint. »Da kann er uns nicht entwischen« vervollständigt Tellheims Transformation zum maskulinen Objekt-Desiderat des weiblichen Jagdinstinkts. Er wird pikanterweise noch nicht einmal mehr von einer Dienerfigur vor eine Alternative gestellt. Die Bloßstellung Franciskas beschränkt sich nicht nur auf den befehlenden Tonfall, sondern umfasst darüber hinaus auch detaillierte Anweisungen der Kleiderordnung: Franciska:
[…] Kommen Sie nicht so, wie Sie da sind; in Stiefeln, kaum frisiert. […] Kommen Sie in Schuhen, und lassen Sie sich frisch frisieren. – So sehen Sie mir gar zu brav, gar zu preußisch aus! v. Tellheim: Ich danke dir, Franciska. Franciska: Sie sehen aus, als ob Sie vorige Nacht kampiert hätten. (MvB 66)
Der männlich-militärische Kleidungsstil Tellheims steht nach Franciskas Meinung in Widerspruch zu seiner männlich-amourösen Aufgabe. Erneut wird daran, dass ihn 53
Vgl. Schröder: Gotthold Ephraim Lessing, S. 236f.
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Franciska darauf hinweisen muss, transparent, wie stark sich der Major aus dem Bereich der Intimität entfernt hat. Das Spannungsverhältnis zwischen ›soldatischer‹ und ›passionierter‹ Männlichkeit setzt sich auch in dem entscheidenden Treffen zwischen Minna und Tellheim in IV/6 fort, wobei Minna eingangs die Exklusion militärischer Attribute fordert: »O, Herr Major, so gar militairisch wollen wir es miteinander nicht nehmen.« (MvB 79) Tellheims Figurenrede bleibt jedoch weiterhin davon affiziert; zu tief ist das Soldatentum in sein männliches Selbstkonzept oder den bereits zuvor angesprochenen »Ton des Zeremoniells« eingebunden. Minna bietet ihm daraufhin eine Alternative an: Das Fräulein:
[…] Ich bin Ihre Gebieterin, Tellheim; Sie brauchen weiter keinen Herrn. – […] Was sind Sie noch mehr? Ein Kriepel: sagten Sie? Nun, (indem sie ihn von oben bis unten betrachtet) der Kriepel ist doch noch ziemlich ganz und gerade; scheinet doch noch ziemlich gesund und stark. – Lieber Tellheim, wenn Sie auf den Verlust Ihrer gesunden Gliedmaßen betteln zu gehen gedenken, so prophezeie ich Ihnen voraus, daß Sie vor den wenigsten Türen etwas bekommen werden; ausgenommen vor den Türen der gutherzigen Mädchen, wie ich. v. Tellheim: Jetzt höre ich nur das mutwillige Mädchen, liebe Minna. (MvB 81)
Minna beansprucht damit nicht nur die Hegemonie einer zukünftigen Verbindung (»Ich bin Ihre Gebieterin«), sondern spricht dem Major darüber hinaus weitere Alternativen ab. Tellheim avanciert hier vom melancholisch Leidenden zum Erpressten. Er ist es jedoch, der Minna diese Gelegenheit verschafft, indem es ihm wiederholt nicht gelingt, klare Entscheidungen zu treffen bzw. zu verteidigen und sich gegenüber seiner ehemaligen Geliebten in der Form jener individualisierten soldatischen ›Männlichkeit‹ zu präsentieren, die sie von ihm einfordert. Tellheim muss im Hinblick auf die dramatische Entwicklung als performativ gehemmter Mann herausgearbeitet werden.54 Die von ihm vertretenen Ideale finden keine Entsprechung in der Umsetzung in eine Tat, was insbesondere Minna bemerkt und bereits in II/1 konstatiert: Das Fräulein:
[…] Er hat das rechtschaffenste Herz, aber Rechtschaffenheit und Edelmut sind Worte, die er nie auf die Zunge bringt. (MvB 29)
Erneut wird die versehrte Körperlichkeit Tellheims von Minna beinahe zynisch einbezogen: Das Fräulein: […] Um so viel sicherer bin ich vor Ihren Schlägen. v. Tellheim: Fräulein! Das Fräulein: Sie wollen sagen: Aber Sie um so viel weniger vor meinen. Nun, nun, lie-
ber Tellheim, ich hoffe, Sie werden es nicht dazu kommen lassen. Sie wollen lachen, mein Fräulein. Ich beklage nur, daß ich nicht mit lachen kann. (MvB 82)
v. Tellheim:
Ludwig Stockinger weist auf das Konfliktpotenzial einer von Minna in Aussicht gestellten Beziehung zu Tellheim hin: 54
Dadurch wird er intertextuell mit dem Grafen von Almaviva und Don Ottavio vergleichbar. Das verbindende Moment besteht jeweils in der Unfähigkeit der männlichen Figuren, insbesondere im System der Intimität erfolgreich zu agieren.
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Es ist der Widerspruch zwischen der Forderung nach Gleichheit in einer Beziehung, die das rechtliche Band der Ehe mit starker seelischer und körperlicher Gefühlsbindung vereinigt, und der Forderung nach hierarchischer Über- und Unterordnung in dieser Beziehung, in der dem Mann nach den geltenden gesellschaftlichen Konventionen die übergeordnete Rolle zukommt. Tellheim, der nicht nur sozial und ökonomisch geschwächt, sondern auch körperlich erheblich behindert ist, könnte in dieser Ehe nur eine untergeordnete Rolle spielen, und er kann deswegen erst dann wieder dem Gedanken einer Heirat nähertreten und sich und Minna das Gefühl der Liebe eingestehen, als er glaubt, daß Minna von ihrem Onkel enterbt und verstoßen worden sei. Jetzt kann er die Rolle eines beschützenden und damit auch Herrschaft ausübenden Mannes erneut einnehmen. […] Dieser Widerspruch zwischen Herrschaft und Liebe wird von Minna nun in recht drastischer Weise explizit mit einem Thema verbunden, das – zumindest innerhalb dessen, was die »Bürgerliche Gesellschaft« für aussprechbar hielt – schon weitgehend mit einem Tabu belegt war: die körperliche Gewalt als letztes Mittel der Regulierung von Konflikten im Sinne der Stabilisierung der Herrschaft des Mannes, eine Gewalt, die in der Ehe zwischen Minna und Tellheim allerdings nicht mehr vom Mann ausgehen würde – er kann ja seinen rechten Arm nicht mehr bewegen –, sondern von der Frau.55
Tellheim wird dabei nicht nur – wie bereits zuvor – die eigene Entscheidungsfähigkeit, sondern an dieser Stelle auch die mit dem Konzept der Stärke verbundene männliche Physis abgesprochen, womit er sich im Widerspruch zu dem bei Adelung 1798 vorgenommnen Definitionsversuch des ›Mannes‹ befindet, in dem »Stärke, Tapferkeit und Herzhaftigkeit« als vordergründige Charakteristika genannt werden.56 Minnas Aussage kann insofern, wenn auch scherzhaft gemeint, aus Tellheims Sicht real als Androhung physischer Gewalt von Seiten einer Frau verstanden werden. Die noch bei Zedler 1739 festgehaltene »Herrschaft des Mannes über das Weib«57 findet in der Interaktion Minna – Tellheim zumindest bis zum Ende des vierten Aktes keine Berücksichtigung, was den Männlichkeitsentwurf des Majors vor dem Hintergrund der geschlechterbezogenen Episteme des 18. Jahrhunderts der Lächerlichkeit preisgibt.58 Wie im Rekurs auf Kant bereits gezeigt werden konnte, führt die entsprechende Kennzeichnung als »lächerlich« zur Exklusion aus der zeitgenössischen Assoziation von ›Männlichkeit‹ im 18. Jahrhundert.59 In Tellheims Situation greift die Lächerlichkeit, der er preisgegeben wird, schließlich auf eine intrinsisch empfundene Form der Lächerlichkeit über.60 Damit wird – den Thesen Pfisters folgend – die Brücke hin zu einer transpsychologischen männlichen Figur geschlagen, deren Bewusstsein und Einsicht in die Ausweglosigkeit ihrer Situation ihr »tragisches Dilemma transzendiert«, wobei das Selbstverständnis der betreffen55
56 57 58
59
60
Stockinger: Aufklärung und »Bürgerliche Gesellschaft« im Spiegel von Christian Felix Weißes Singspiel-Libretti, S. 136. Vgl. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 53. Vgl. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Vgl. die Ausführungen Schmales zum Themenkreis »bedrohte Männlichkeit« und »starke Frau«. In: Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 135ff. Vgl. Kant in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 201. Zu Tellheims Situation inmitten der empfundenen Lächerlichkeit vgl. Schröder: Gotthold Ephraim Lessing, S. 237. Vgl. Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. Frankfurt am Main 1973, S. 94f.
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den Figur laut Pfister »über das Maß des psychologisch Plausiblen« hinausgehe.61 Im Falle Tellheims ist es die Korrelation von geschichtlichen, ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten im Zuge des Übergangs von Kriegs- zu Friedenszeit, die eine Wiederherstellung seiner Ehre scheinbar unmöglich machen: Allesamt teilen diese Aspekte die Gemeinsamkeit, sich seinem persönlichen Einflussbereich zu entziehen. Tellheims Schicksal liegt jedoch nicht nur in seiner gesellschaftlichen Funktion als ›Soldat‹, sondern darüber hinaus auch in seiner persönlich-amourösen Funktion als ›Mann‹ ausschließlich in den Händen fremder Figuren. Er ist gezwungen, im ersten Fall auf ein längst unwahrscheinlich gewordenes Eingreifen staatlicher Instanzen zu vertrauen und muss sich im zweiten Fall – wie in der Figurenrede Minnas zuvor drastisch verdeutlicht wurde – der Entscheidung einer Frau beugen, ihn als ›Mann‹ trotz seiner körperlichen Versehrtheit zu akzeptieren. Beide Aspekte kennzeichnen Tellheim vorerst als eine eher fremddynamische männliche Figur, wobei allerdings beachtet werden muss, dass seine Resistenz gegenüber diversen Hilfsangeboten gleichzeitig auch auf eine eigendynamische Komponente der ›Männlichkeit‹ verweist. Gerade aus der Überblendung von fremd- und eigendynamischen Aspekten der Krise im Männlichkeitsentwurf Tellheims resultiert der Fatalismus der Figur, der in IV/4 folgende transpsychologischen Ausmaße annimmt: v. Tellheim:
[…] Hierdurch, mein Fräulein, halte ich meine Ehre für gekränkt; nicht durch den Abschied, den ich gefordert haben würde, wenn ich ihn nicht bekommen hätte. – Sie sind ernsthaft, mein Fräulein? Warum lachen Sie nicht? Ha, ha, ha! Ich lache ja. Das Fräulein: O, ersticken Sie dieses Lachen, Tellheim! Ich beschwöre Sie! Es ist das schreckliche Lachen des Menschenhasses! […] Das Zeugnis meines Oheims, aller unsrer Stände – v. Tellheim: Ihres Oheims! Ihrer Stände! Ha, ha, ha! Das Fräulein: Ihr Lachen tötet mich, Tellheim! Wenn Sie an Tugend und Vorsicht glauben, Tellheim, so lachen Sie so nicht! Ich habe nie fürchterlicher fluchen hören, als Sie lachen. […] O, über die wilden, unbiegsamen Männer, die nur immer ihr stieres Auge auf das Gespenst der Ehre heften! Für alles andere Gefühl sich verhärten! Hierher Ihr Auge! Auf mich, Tellheim! (der indes vertieft, und unbeweglich, mit starren Augen immer auf eine Stelle gesehen). (MvB 83f.)
Schröder fasst diesbezüglich zusammen: »Die nachdenkliche Pause Minnas versteht und mißbraucht er, um das Gespräch […] – so als wolle er sich endlich für ihr überlegenes Lachen rächen – endgültig zu zerreißen.«62 Die Textstelle zeigt im Zusammenwirken von Haupt- und Nebentext, insbesondere durch das wiederholte, auf Minna befremdlich wirkende, sarkastische Lachen Tellheims sowie dessen Unzugänglichkeit gegenüber den Argumenten der Gesprächspartnerin interessante Aspekte des sich im 18. Jahrhundert in der Forschung entwickelnden Zusammenhangs von Anthropologie, Physiognomie und Wahnsinnstheorie.63 So findet sich beispielsweise in der bereits im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit zitierten Ökonomisch-technologischen Encyklopädie von Johann Georg Krünitz aus dem Jahr 1806, 61 62 63
Vgl. Pfister: Das Drama, S. 248. Schröder: Gotthold Ephraim Lessing, S. 237. Vgl. die Ausführungen zum »starren Blick« Tellheims bei Fick: Lessing – Handbuch, S. 252f.
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die maßgeblich auf Wissensbestände des 18. Jahrhunderts zurückgreift, folgender Eintrag zum Begriff des ›Lachens‹: Das wahre Lachen, ist entweder ein natürliches, oder widernatürliches, in Ansehung der Ursachen, die solches wirken. […] Das widernatürliche, oder unwillkürliche Lachen, ist eigentlich eine krampfige Zusammenziehung der Gesichts=Muskeln, welche dem Lachen gleicht. […] Man glaubte sonst, daß die Verwundung oder Entzündung des Zwerchfelles immer ein unwillkürliches Lachen bewirkte, aber Erfahrungen haben diese Meinung widerlegt. Die Krankheit kann aus den Ursachen der übrigen Convulsionen, besonders aber aus dem Genusse giftiger Pflanzen, entstehen. […] und wovon dieses Lachen auch das sardonische Lachen, L. Risus Sardonius* genannt worden ist. * Figürlich nennt man Sardonius risus, ein Lachen in seinem Unglück, da einer zugleich lacht und weint; bey dem, wie man zu sagen pflegt, Lachen und Weinen in Einem Topfe ist […] Dieser Zufall widerfährt auch oft hysterischen Frauenspersonen, und vergeht mehrentheils von selbst. Man bemerkt ihn auch bey denjenigen, die von Taranteln gestochen sind.64
Ohne auf die zweifelsohne interessanten Korrelationen zwischen dem bei Krünitz angesprochenen »widernatürlichen Lachen« und pathologischen Symptomen – der Kennzeichnung des »widernatürlichen Lachens« als eine »Krankheit« – in diesem Zusammenhang näher eingehen zu können,65 soll dennoch hervorgehoben werden, dass der Lexikoneintrag den Zustand des »Lachens in seinem Unglück« unter anderem auch mit einer geschlechterspezifischen Zuweisung ergänzt: (»widerfährt auch oft hysterischen Frauenspersonen«). Sowohl das pathologische als auch das geschlechterbezogene Argument widerspricht den Anforderungen der Kontrolle der Leidenschaften, die im 18. Jahrhundert an einen ›Mann‹ gestellt werden und verdeutlicht, dass sich Tellheim auch in seiner Verzweiflung weiter von der Zuschreibung der Männlichkeitsattribute entfernt. Gleichzeitig wirft Tellheims in der Krise befindlicher Männlichkeitsentwurf zwei grundlegende Fragen einer selbstreflexiven Form der Aufklärung auf. Zum einen stellt er aus anthropologischer Sicht in Frage, inwiefern bestimmte Emotionen aus den unteren Seelenkräften tatsächlich durch Verstand bzw. Vernunft kontrolliert werden können und sollen. Zum anderen kann Tellheims sarkastisch-resignierende Form des Lachens als Absage an eine von Gott vorbestimmte, »beste aller möglichen Welten«, an die Theodizee, verstanden werden, worauf bei Brenner gezielt hingewiesen wird.66 In diese Richtung argumentiert auch Martini: Dies Lachen entstammt nicht einer Vernünftigkeit, die sich mit der Weltvernunft einig weiß, sondern einer inneren Verstörung, die die Verstörung jeglicher Weltgerechtigkeit und Weltordnung erfährt.67
64 65
66
67
Zit. nach: http://www.kruenitz1.uni-trier.de/xxx/s/ks05561.htm (Zugriff: 16. 10. 2007). Als Text, der diesen Zusammenhang insbesondere aus sozio-historischer Perspektive weiterführend untersucht, wird hier stellvertretend Honegger: Die Ordnung der Geschlechter angeführt. Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, S. 127. Einen Überblick zu bisherigen Versuchen, den Text in der Auseinandersetzung mit der Theodizee zu analysieren, bietet Fick: Lessing – Handbuch, S. 250f. Martini: Riccaut, die Sprache und das Spiel in Lessings Lustspiel ›Minna von Barnhelm‹, S. 411.
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Ein erneuter Versuch Minnas, die erschöpften kommunikativen Mittel durch den Einsatz von Körperlichkeit – ähnlich wie bereits in II/9 – zu rekompensieren, führt zu folgender Einsicht Tellheims: v.Tellheim:
[…] Mein Fräulein, lassen Sie mir noch heute meinen gesunden Verstand, und beurlauben Sie mich. Sie sind auf dem besten Wege, mich darum zu bringen. Ich stemme mich, soviel ich kann. (MvB 85)
Diese Kritik greift auch Minna in dem zuvor zitierten Textabschnitt auf (»die wilden, unbiegsamen Männer«) und erweitert sie auf die einseitige Fixierung auf den Begriff der ›männlichen‹ Ehre hin. Damit berührt sie einen zentralen Punkt der Krise, in der sich Tellheims Männlichkeitsentwurf befindet, was anhand seiner hitzigen Reaktion transparent wird: v. Tellheim: Ich brauche keine Gnade; ich will Gerechtigkeit. Meine Ehre Das Fräulein: Die Ehre eines Mannes, wie Sie v. Tellheim: (hitzig) Nein, mein Fräulein, Sie werden von allen Dingen recht gut urteilen
können, nur hierüber nicht. […] wenn meiner Ehre nicht die vollkommenste Genugtuung geschieht; so kann ich, mein Fräulein, der Ihrige nicht sein. Denn ich bin es in den Augen der Welt nicht wert, zu sein. Das Fräulein von Barnhelm verdienet einen unbescholtenen Mann. (MvB 86)
Tellheims Rechtfertigungsstrategie wird durch die vermeintliche Unvereinbarkeit eines privaten Glücks und der öffentlichen Wahrnehmung motiviert. Sein Männlichkeitsentwurf, der an dieser Stelle durch den Wunsch, ein ›unbescholtener Mann‹ zu sein, gut paraphrasiert werden kann, definiert sich vordergründig über das System der Öffentlichkeit, von dem er sich »die vollkommenste Genugtuung seiner Ehre erhofft«. An dieser Stelle wird deutlich, weshalb es Tellheim im System der Intimität nicht gelingen kann, die von Luhmann im Sinne einer ›passionierten Liebe‹ beschriebene Integration von Privatheit und Öffentlichkeit zu vollziehen: Die Wiederherstellung der Ehre erhebt Tellheim Minna gegenüber zur Voraussetzung der Liebe. Die Öffentlichkeit greift nicht nur in die Privatheit ein; sie wird zu deren zwingenden Voraussetzung. Die primäre Ausrichtung auf die Partnerin im System der Intimität wird dabei von ihm ebenso vehement ausgeschlossen wie das Zurückstellen der eigenen Reputation zugunsten der Wahrnehmung als amouröses Paar, worin Saße – Minnas Perspektive nachvollziehend – »männlichen Hochmut, der selbst in der Not vom patriarchalischen Gestus der Dominanz nicht lassen kann«,68 sieht. Auch bei Wosgien wird die historisch motivierte, geschlechterspezifische Diskrepanz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit hervorgehoben: Minna wird […] der private Bereich der Liebe zugewiesen, für den Bereich der öffentlichen Angelegenheiten hält man sie dagegen nicht für kompetent. So ist die Ehrensache für Tellheim eindeutig eine »Männerangelegenheit«.69
68 69
Saße: Der Streit um die rechte Beziehung, S. 42. Gerlinde Anna Wosgien: Literarische Frauenbilder von Lessing bis zum Sturm und Drang. Ihre Entwicklung unter dem Einfluß Rousseaus. Frankfurt am Main 1999, S. 123. Vgl. dazu auch Sanna: Lessings »Minna von Barnhelm« im Gegenlicht, S. 36ff. sowie S. 54.
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Um den Anforderungen an einen Ehemann im 18. Jahrhundert zu entsprechen, die die Differenz der Geschlechter, wie Frevert formuliert, »weit mehr im Sozialen ansiedeln als im Körperlich-Natürlichen«,70 sieht sich Tellheim im gesteigerten Maße der Wahrung seiner Ehre ausgesetzt.71 Erschwert wird dieser Prozess zusätzlich dadurch, dass es Tellheim in IV/6 nicht gelingt, den vermeintlich so wichtigen Begriff der ›Ehre‹ Minna gegenüber zu definieren, sodass er sie an seiner statt das tautologische »Die Ehre ist – die Ehre« (MvB 86) sagen lässt.72 Darüber hinaus löst Minnas theatralisch-inszenierter Abgang in IV/6 sowie das im Gespräch mit Franciska in IV/7 fingierte Unglück nicht nur berechtigte Zweifel an Tellheims zuvor geäußerter Überzeugung, sondern auch an seinem bis dato zum Ausdruck gebrachten männlichen Selbstkonzept aus. Erst der Übergang vom vierten zum fünften Akt löst die Spannung und die vermeintlichen Widersprüche in Tellheims Männlichkeitsentwurf auf. In V/2 reflektiert er seinen plötzlichen Gesinnungswandel in seiner Figurenrede wie folgt: v. Tellheim:
Wie ist mir? – Meine ganze Seele hat neue Triebfedern bekommen. Mein eignes Unglück schlug mich nieder; machte mich ärgerlich, kurzsichtig, schüchtern, lässig: ihr Unglück hebt mich empor, ich sehe wieder frei um mich, und fühle mich willig und stark, alles für sie zu unternehmen. (MvB 91)
Diese Schlüsselstelle des Textes soll genauer untersucht werden: Die zentrale Frage zielt auf Tellheims – im Haupttext angesprochene – »Triebfedern« ab. Dabei ist entscheidend, dass sich im Vergleich zu den ihn betreffenden Umständen, die er in IV/6 Minna gegenüber erwähnt hatte, tatsächlich keine Änderungen ergeben haben: Tellheims öffentliche Reputation ist weiterhin beschädigt; sämtliche Hinweise auf das Gegenteil, die an ihn von anderen Figuren herangetragen werden, weist er bis zur vollständigen Gewissheit in V/9 (noch) vehement von sich. Die in der Forschungstradition weit verbreitete Annahme, Tellheim müsse der Beziehung mit Minna entsagen, da er seine Reputation nicht wiederhergestellt sieht, würde seinen amourösen Umbruch erst nach Erhalt des königlichen Handschreibens in V/9 überzeugend motivieren.73 Die von Fick beschriebene Scheu, »die Geliebte in sein Unglück hineinzuziehen und eine schwerwiegende Minderung ihrer Glücksumstände zu verursachen«,74 legt Tellheim jedoch bereits vor der eigenen Gewissheit seiner (vollständig) 70 71 72
73
74
Vgl. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 26. Vgl. Saße: Der Streit um die rechte Beziehung, S. 52ff. Dieser Hinweis wird bei Martini: Riccaut, die Sprache und das Spiel in Lessings Lustspiel ›Minna von Barnhelm‹, S. 414; Wehrli: Kommunikative Wahrheitsfindung, S. 112 und S. 115 sowie bei Fick: Lessing – Handbuch, S. 245ff. ausführlich diskutiert. Mit der Tautologie setzt sich auch Kagel: Des Soldaten Glück, S. 25f. auseinander. Eines der wenigen Beispiele, die diesen Umstand formulieren, ist in der Forschung der Text Pruttis: Bild und Körper, S. 268, die jedoch im Gegensatz zur vorliegenden Arbeit den Grund für Tellheims Reaktion in einer »extremen Autoritäts- bzw. Vaterfixierung« (ebd.) Tellheims ausmacht. Den entscheidenden Aspekt der Ausübung von ›Herrschaft‹ betont dagegen Stockinger: Aufklärung und »Bürgerliche Gesellschaft« im Spiegel von Christian Felix Weißes Singspiel-Libretti, S. 136. Fick: Lessing – Handbuch, S. 244.
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wiedererlangten Reputation ab. Daher ist die Ursache für seine überraschende Meinungsänderung in einem anderen Bereich zu suchen: Einzig das Unglück Minnas »hebt ihn empor« und lässt ihn – wie aus dem Gespräch mit Paul Werner in V/1 hervorgeht – zwei wichtige Überzeugungen, die er zuvor noch glühend vertreten hatte, verwerfen: die Bitte um Geldanleihen bei Paul Werner und die abgelehnte Aussicht auf Heirat mit Minna. Ein entscheidendes Kriterium für diesen Umschwung beinhaltet seine Formulierung, »alles für sie zu unternehmen«. An dieser Stelle neigt ein beachtlicher Teil der Untersuchungen zu Tellheim dazu, den Affekt des Mitleids als Ursprung der Meinungsänderung auszumachen.75 Allerdings wird aus einer genderanalytischen Perspektive Folgendes deutlich: Nicht aus der angeblich unverzichtbaren Rehabilitation seiner öffentlichen Ehre, sondern nur aus der vermeintlichen Gewissheit der Hilflosigkeit der Frau an seiner Seite, der »Aufhebung weiblicher Autonomie«,76 bezieht Tellheim die Sicherheit, wieder die Kennzeichen eines wehrhaften ›Mannes‹ zu besitzen, die er zuvor noch für sich selber verneint hatte: Willen, Entschlossenheit, Stärke. Die kausale Verknüpfung jener Eigenschaften mit der Hilflosigkeit der Frau lässt auf einen nicht primär nach Ehre, sondern nach maskuliner Dominanz strebenden Männlichkeitsentwurf schließen, der sich verpflichtet fühlt, die eigene Stärke in den Dienst der Frau zu stellen.77 Connells Ansatz, ›Männlichkeit‹ anhand dreier Stränge – Macht-, Produktions- und emotionaler Bindungsbeziehungen – zu beschreiben, bietet auch in Tellheims Situation einen überzeugenden Erklärungsansatz: Durch die Gewissheit der Hilflosigkeit Minnas erhöhen sich sowohl seine Perspektiven der (zwischengeschlechtlichen) Macht- als auch der (sozial abhängigen) Produktionsbeziehungen, indem er Minna gegenüber den Status eines handelnden Subjekts und der Funktion eines Beschützers wiederzuerlangen hofft. Die veränderte Situation im zwischengeschlechtlichen Bereich hat im Falle Tellheims auch Einfluss auf die innergeschlechtliche Interaktion zwischen Tellheim und Paul Werner, wie sich anhand der Szene V/1 deutlich zeigt. Tellheims Ablehnung des finanziellen Hilfsangebots seines ehemaligen Wachtmeisters in III/7 erfährt unter dem Eindruck der wiedererlangten Hoffnung eine überraschende Wende: v. Tellheim:
[…] ich brauche dein Geld. Geschwind, Werner, gieb mir, so viel du hast; und denn suche so viel aufzubringen, als du kannst. […] Kurz, Werner, Geld! Geld! (MvB 126)
75
76 77
Diese These findet sich beispielsweise bei Wehrli: Kommunikative Wahrheitsfindung, S. 113f. und Fick: Lessing – Handbuch, S. 255f., wieder. Bei Saße: Der Streit um die rechte Beziehung, S. 45, findet sich mit Bezug auf Tellheims Reaktion die Formulierung »der aus Verantwortung für die Geliebte der Ehe entsagt.« Vgl. diesbezüglich Wosgien: Literarische Frauenbilder von Lessing bis zum Sturm und Drang, S. 126f. setzt die Diskussion um Tellheims ›Mitleid‹ bereits in einen genderspezifischen Kontext. Prutti: Bild und Körper, S. 288. Prutti sieht in Tellheims Dominanzstreben eine Untergrabung der »partnerschaftlichen Gleichheit zugunsten einer mehr oder minder enterotisierten Vater-Tochter-Konstellation«. Prutti: Bild und Körper, S. 287.
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Die noch in III/7 artikulierten Bedenken des Majors, mit Annahme der Hilfe eines in der sozialen Hierarchie niedriger positionierten Soldaten gegen die Regeln der öffentlichen Wahrnehmung zu handeln, weichen einer offensiven Position eines seiner Sache sicheren Vorgesetzten. Die Eile, zu der er Paul Werner treibt, lässt sich im männlichkeitsinternen Bereich als Ausdruck einer wiedererlangten Sicherheit der Hegemonieverhältnisse deuten: Obwohl sich an Tellheims Situation, bedürftig zu sein, nach wie vor nichts geändert hat (beständig weist er Werners Anspielungen auf die nahende Hilfe wie bereits schon im Gespräch mit Minna in IV/6 von sich), besteht ein entscheidender Unterschied zur Interaktion mit Werner in III/7 darin, dass Tellheim das Geld erstens durch die veränderte Situation Minna gegenüber zu einem konkreten Zweck einsetzen will. Zweitens gelangt er in die Position, selbstständig Entscheidungen treffen zu können, aktiv zu sein, Minna gegenüber in der Funktion des ›Beschützers‹ aufzutreten und somit seine soldatische Schutzfunktion im amourösen Bereich zu rekompensieren. Die imperativische Struktur des Dialogs in V/1 (»Geschwind …, gib mir …, geh und bringe …, geh nur …«) spiegelt die männlichkeitsinternen Hierarchieverhältnisse wieder – Tellheim befiehlt Werner, Geld zu besorgen. Dabei manövriert er sich in einen klaren Widerspruch zu seinen in III/7 an die soldatische Ehre gemahnten Äußerungen gegenüber dem Untergebenen: Plötzlich nimmt er nicht nur ausdrücklich in Kauf, dass Werner ihm das Geld, das er für den Verkauf seines Gutes erhalten soll, vorschießt, sondern stellt sogar in Aussicht, mit Werner »wieder Dienste [zu, M.B.] nehmen« (MvB 90)78 und in anderen Worten den Weg eines Söldners einzuschlagen, was er noch in III/7 als vollkommen ›unehrenhaft‹ kritisiert hatte: »Ohne Absicht heute hier, morgen da dienen: heißt wie ein Fleischerknecht reisen, weiter nichts.« (MvB 62) Tellheims Äußerung in V/9 vorausgreifend, lässt sich das auch an seiner eigenen Figurenrede beweisen: v. Tellheim:
[…] Ich ward Soldat, aus Parteilichkeit, ich weiß selbst nicht für welche politische Grundsätze, und aus der Grille, daß es für jeden ehrlichen Mann gut sei, sich in diesem Stande eine Zeit lang zu versuchen, um sich mit allem, was Gefahr heißt, vertraulich zu machen, und Kälte und Entschlossenheit zu lernen. (MvB 99)
Sowohl die amouröse als auch die berufliche – und aufgrund der engen Bindung seines Männlichkeitsentwurfes daran auch die geschlechts- bzw. identitätsabhängige – Kohärenz Tellheims muss an dieser Stelle nicht nur ernsthaft in Zweifel gezogen, sondern auch grundsätzlich revidiert werden. Die deutliche Abkehr der von ihm zuvor mehrfach geäußerten Überzeugungen in den ersten beiden Bereichen entlarvt seinen Männlichkeitsentwurf als ein Gebilde inhaltsloser Phrasen, die sich der Etikette wegen einem öffentlichen Ideal gegenüber verpflichtet sehen, sich aber letztlich doch als weitestgehend unabhängig davon erweisen. Lukács formuliert wie folgt: Die ganze […] Komposition von Minna von Barnhelm beruht ja gerade auf diesem ununterbrochenen Umschlagen der abstrakten Moral in menschlich-konkrete, individualisierte aus der jeweils konkreten Lage entspringende Ethik.79 […] Wenn Tellheim später [in der zu78 79
Vgl. Kagel: Des Soldaten Glück, S. 28f. Georg Lukács: Minna von Barnhelm. In: G. Bauer; S. Bauer (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Darmstadt 1968, S. 431.
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vor zitierten Äußerung, M.B.] mit Minna über sein eigenes Leben spricht, so tauchen dabei solche große Worte – mit Recht – überhaupt nicht auf, er schildert vielmehr sehr schlicht die Entstehung seines Soldatentums […]. Hier fällt keine Silbe von Vaterland, und wenn die »gute Sache« auch aus der Ferne gestreift wird, so kann sie bestenfalls eine längst überholte Jugendillusion gewesen sein.80
Dieser Feststellung lässt sich grundsätzlich zustimmen; eine interessante Weiterentwicklung bringt jedoch erst die genderbezogene Analyse: In dem Moment, da Tellheim sich gegenüber einer Frau wieder als ›Beschützer‹, ›Verteidiger der Ehre‹, ›Entscheidungen Treffender‹ – und somit innerhalb einer patriarchalischen Dominanzposition – wiederzufinden glaubt, fällt die angebliche externe Abhängigkeit von gesellschaftlich-strukturellen Begleitumständen, die Fixierung auf die Restitution seiner ›soldatischen Ehre‹, wie ein Kartenhaus zusammen.81 Die Kunstfertigkeit von Lessings in Tellheim angelegten Männlichkeitsentwurf zeigt sich darin, dass nicht etwa die über weite Strecken des Textes zu dominieren scheinende Suche nach der (verloren gegangenen) Ehre, sondern der Wunsch nach ›hegemonialer Männlichkeit‹ zum Schlüssel für Tellheims Situation wird. Diese an Connells Thesen angelehnte Argumentation lässt sich auch im Rekurs auf die von Holter beschriebene »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« auf Tellheim anwenden: Dem geschlechts- bzw. männlichkeitsinhärenten Drang zu Dominanz führt zur Legitimation der ›Männlichkeit‹ an sich: Tellheim fühlt sich in dem Moment als ›Mann‹, in dem er zwischengeschlechtlich (gegenüber Minna) und binnengeschlechtlich (gegenüber Paul Werner) dominieren kann. Tellheims Männlichkeitsentwurf rekurriert folglich auf ein traditionelles, den Anforderungen des Patriarchats folgendes Muster. Dieses definiert sich in seinem Fall – den Umständen entsprechend – nicht durch das Applizieren physischer Gewalt, wofür die Interaktion mit Minna zu eben diesem Thema in IV/6 nachträglich als Bestätigung angeführt werden kann. Vielmehr ist es der Wille zu handeln, zu protegieren und Entscheidungen zu treffen. Lessings Text verdeutlicht erst retrospektiv an dieser Stelle, weshalb Tellheim den Ring – wie Just in I/11 eröffnet – nicht mehr tragen konnte: Das äußere Attribut der amourösen Bindung verweist in Tellheims Selbstverständnis auf die dominante Position innerhalb der Beziehung, derer er sich nicht mehr sicher sein konnte. Wie stark die Abhängigkeit von der vermeintlich wiedererlangten Position eines Männlichkeitsentwurfes, der sich als ›hegemonial‹ erweist, bei Tellheim ist, zeigt sich insbesondere in der dramatischen Entwicklung von V/5 bis V/11. Nach dem neu gewonnenen Vertrauen in die eigene (›männliche‹) Stärke ist Tellheim bemüht, auch die emotionale Empathiefähigkeit zurückzugewinnen. Anhand des Nebentextes in V/5 wird deutlich, dass die intrinsische Überzeugung Tellheims auch Einflüsse auf die externalisierenden Aspekte seiner Körperwahrnehmung hat: 80 81
Lukács: Minna von Barnhelm, S. 438f. Diese Feststellung widerspricht beachtlichen Teilen der »Tellheim-Deutungen«, die Tellheim trotz der offensichtlichen Widersprüche »an der Ehre festhalten« lassen. Vgl. Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, S. 118, der allerdings kurz darauf doch auch soweit geht, zuzugeben, dass Tellheims »gewaltsam aufrechterhaltener Ehrbegriff äußerst labil« sei. (Ebd. S. 119).
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v. Tellheim:
Diesen Ring nahmen Sie das erstemal aus meiner Hand, als unser beider Umstände einander gleich, und glücklich waren. Sie sind nicht mehr glücklich, aber wiederum einander gleich. Gleichheit ist immer das festeste Band der Liebe. – Erlauben Sie, liebste Minna! – (ergreift ihre Hand, um ihr den Ring anzustecken.) Das Fräulein: Wie? mit Gewalt, Herr Major?. (MvB 94)
Im Gegensatz zu II/9 und IV/6 greift er in V/5 – sogar mehrfach – nach Minnas Hand, lässt sie kurz darauf los und gesteht, ihm habe Minnas Weigerung, den Ring anzunehmen, »weh getan«. (MvB 94) Die seinem männlichen Selbstkonzept geschuldete Überzeugung von der eigenen Wehrhaftigkeit wird zur Voraussetzung dafür, auch im emotional-amourösen Bereich Affekte zuzulassen und die Position des werbenden Mannes einzunehmen, die Minna zuvor von ihm eingefordert hatte. Diese emotionale Öffnung betrifft auch den Bereich des amourösen Thesaurus’, was insbesondere durch die Anrede »liebste Minna«, die das zuvor verwendete »mein Fräulein« ersetzt, deutlich. Sein Motiv dafür ist, wie er bereits durch die Formulierung »Gleichheit ist immer das festeste Band der Liebe« darstellt – jedoch nicht etwa der Affekt der Liebe, sondern der des Mitleids: v. Tellheim:
[…] Ärgernis und verbissene Wut hatten meine ganze Seele umnebelt; die Liebe selbst […] konnte sich darin nicht Tag schaffen. Aber sie sendet ihre Tochter, das Mitleid […]. Der Trieb der Selbsterhaltung erwacht, da ich etwas Kostbarers zu erhalten habe, als mich, und es durch mich zu erhalten habe. […] durch mich, Minna, verlieren Sie Freunde und Anverwandte, Vermögen und Vaterland. Durch mich, in mir müssen Sie alles dieses wieder finden, oder ich habe das Verderben der Liebenswürdigsten Ihres Geschlechts auf meiner Seite. (MvB 95f.)
Die Außenfokussierung seines männlichen Beschützerdranges (»etwas Kostbarers als mich zu erhalten«) erwächst aus der Überzeugung von der eigenen Aktivität und Fähigkeit (»es durch mich zu erhalten«); und erst an dieser Stelle verknüpft sich die neu gestellte Aufgabe wieder mit der Wahrung der Ehre, dieses Mal jedoch in einem geschlechterspezifischen Kontext: (»das Verderben der Liebenswürdigsten Ihres Geschlechts«). Als ›Mann‹ ist Tellheim aufgrund des Mitleids zunächst aus seiner Sicht als ›Beschützer‹ gefordert, nicht etwa als ›Liebhaber‹ oder ›Liebender‹. Diese Funktionen erklärt er erst in dem Moment einzunehmen, da er vollständige Gewissheit über die Wiederherstellung seiner Ehre erlangt: v. Tellheim:
[…] Aber nun, da mich nichts mehr zwingt, nun ist mein ganzer Ehrgeiz wieder einzig und allein, ein ruhiger und zufriedener Mensch zu sein. Das werde ich mit Ihnen, liebste Minna, unfehlbar werden […] Morgen verbinde uns das heiligste Band; und sodann wollen wir […] in der ganzen weiten bewohnten Welt den stillsten, heitersten, lachendsten Winkel suchen, dem zum Paradiese nichts fehlt, als ein glückliches Paar. (MvB 100)
Tellheim stellt damit das Leben mit Minna als Exklusionsindividuum, fernab der Gesellschaft, in Aussicht.82 Auf Minnas Ablehnung, die eine Reprise der Äußerung Tellheims aus V/5 (»Gleichheit ist immer das festeste Band der Liebe«) darstellt, 82
Vgl. Prutti: Bild und Körper, S. 297, Barner u. a. (Hg.): Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, S. 264f., Erhart: Laufbahnen, S. 160f. sowie Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, S. 132f.
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zeigt er sich im Überschwang seiner ›unteren Seelenkräfte‹ sogar bereit, den Brief mit der Nachricht der Wiedergutmachung zu zerreißen. Minnas Überlegenheit als Interaktionspartnerin – sie erkennt Tellheims fehlende Selbstkontrolle: »Er erlaube mir, daß ich, bei seiner fliegenden Hitze, für uns beide Überlegung behalte« (MvB 100) – führt zur alles entscheidenden Frage: Das Fräulein: (das ihm in die Hände greift) Was wollen Sie, Tellheim? v. Tellheim: Sie besitzen.
[…] Das Fräulein:
Wollen Sie es wagen, Ihre eigene Rede [Gleichheit ist immer das festeste Band der Liebe, M.B.] in meinem Munde zu schelten? v. Tellheim: Sophistin! So entehrt sich das schwächere Geschlecht durch alles, was dem stärkern nicht ansteht? So soll sich der Mann alles erlauben, was dem Weibe geziemet? Welches bestimmte die Natur zur Stütze des andern? (MvB 102)
Die Bindung von Tellheims Männlichkeitsentwurf an das Geschlechterverständnis kann kaum deutlicher resümiert werden als in diesem Textauszug. Wosgien gelangt dabei zu folgender Erkenntnis: Deshalb ist Tellheim dem traditionellen Rollenverständnis verpflichtet, das von einer Hierarchie der Geschlechter ausgeht. […] Wenn er von Gleichheit spricht […], versteht er darunter die gleichen sozialen »Umstände« […] und gesellschaftlichen Voraussetzungen, nicht etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau. […] Diesen Anspruch leitet er aus seiner Männlichkeit ab, die im Laufe der Komödie immer wieder dezidiert hervorgehoben wird.83
Der fruchtbare Ansatz in Wosgiens Argumentation, den sie wie folgt resümiert: »Tellheim glaubt, Minna nur lieben zu dürfen, wenn er ihr gesellschaftlich und ökonomisch überlegen oder wenigstens ebenbürtig ist«,84 legt folgende weiterführende Überlegung nahe: Tellheim will – wie bereits anhand der Brüchigkeit seiner Ideale im Übergang vom vierten zum fünften Akt hergeleitet werden konnte – nicht lieben, sondern besitzen.85 Um diese Absicht zu begründen, führt er ein geschlechtertheoretisches Argument aus dem Bereich des biologischen Determinismus an, das seinen Männlichkeitsentwurf in die dem »stärkeren Geschlecht« zugedachte Position des ›Beschützers‹ manövrieren soll. Der Einfluss Rousseaus – Emile erscheint 1762, also ca. 5 Jahre vor Lessings Text – wird mit Bezug auf Tellheims Argumentation zumindest insofern deutlich, als Rousseau der ›männlichen‹ Stärke, der sich die Frau »unterwerfen« solle,86 besondere Aufmerksamkeit widmet, wobei er den Gehorsam der Frauen gegenüber den Männern als »Ordnung der Natur« betrachtet.87 Allerdings setzt Lessing Tellheims ›männliches‹ Selbstverständnis und damit indirekt auch die Thesen Rousseaus sowohl im inneren als auch im äußeren Kommunikationssystem des Textes in zweifacher Hinsicht der dramatischen Ironie aus: Textintern verfügen sowohl Minna als auch Franciska, textextern die Zuschauer über die 83 84 85
86 87
Wosgien: Literarische Frauenbilder von Lessing bis zum Sturm und Drang, S. 123f. Wosgien: Literarische Frauenbilder von Lessing bis zum Sturm und Drang, S. 124. Zum Ergebnis eines in Tellheim manifestierten »männlichen Besitzanspruches« gelangt auch Prutti: Bild und Körper, S. 295. Vgl. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 167. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 188.
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(Tellheim vorenthaltene) Information, dass Minna ihr eigenes Unglück zum einen nur fingiert und zum anderen Tellheim nicht ihren, sondern seinen eigenen Ring, zurückgegeben hatte. Dieser Wissensvorsprung parodiert Tellheims neu erwachten Drang zur Dominanz, da er unzweifelhaft verdeutlicht, dass der Major weiterhin den ludistisch-amourösen Bestrebungen Minnas ausgesetzt ist.88 Umso drastischer gestaltet sich Tellheims auf Minnas Ringkauf bezogener Prozess der Erkenntnis in V/10: v. Tellheim:
(zu Justen) Was sagst du? – Das ist nicht möglich! – Sie? (indem er das Fräulein wild anblickt.) […] Ist das wahr, mein Fräulein? – Nein, das kann nicht wahr sein! Das Fräulein: (lächelnd) Und warum nicht, Tellheim? – Warum kann es nicht wahr sein? v. Tellheim: (heftig) Nun, so sei es wahr! Welch schreckliches Licht, das mir auf einmal aufgegangen! Nun erkenne ich Sie, die Falsche, die Ungetreue! […] Vergessen Sie meinen Namen! – Sie kamen hierher, mit mir zu brechen. Es ist klar! (MvB 103f.)
Tellheims Reaktion resultiert erneut nicht primär aus amouröser Enttäuschung, sondern vor allem aus der Erkenntnis, auf die Funktion einer manövrierbaren Figur innerhalb des von Minna initiierten Spiels reduziert worden zu sein. Diese vermeintliche Einsicht affiziert seinen erst kurz zuvor wieder gewonnenen und aus diesem Grund noch instabilen »männlich-tugendhaften Stolz«89 und macht ihm die Öffnung gegenüber rationalen Argumenten unmöglich. Wie bereits in der Umbruchsituation zwischen dem vierten und fünften Akt erfährt Tellheims Männlichkeitsentwurf aufgrund der Interaktion mit Minna einen entscheidenden Impuls auf seinen Handlungsspielraum gegenüber Paul Werner, was wiederholt verdeutlicht, dass Tellheim unfähig ist, die Bereiche ›amouröse‹ und ›freundschaftlich-kameradschaftliche‹ Interaktion voneinander zu trennen. Die Szene V/11 zeigt dementsprechend eine im Text bislang ungekannte, ausgesprochen ›dunkle‹ Facette Tellheims: v. Tellheim: Behalte dein Geld! Werner: Es ist ja Ihr Geld, Herr Major. – Ich glaube, Sie sehen nicht, mit wem Sie spre-
chen? v. Tellheim: Weg damit! Sag ich. Werner: Was fehlt Ihnen? Ich bin Werner. v. Tellheim: Alle Güte ist Verstellung; alle Dienstfertigkeit Betrug. Werner: Gilt das mir? v. Tellheim: Wie du willst! 88
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Darin allerdings »Minnas Übergang von einer komödiantischen weiblichen Geschlechterrolle im vierten Akt zu einer tragischen männlichen im fünften Akt« zu erkennen (Ter Horst: Lessing, Goethe, Kleist and the Transformation of Gender, S. 53), scheint eher aus dem Wunschdenken zu resultieren, ›Geschlechterrollen‹ in einer bipolaren Klarheit festmachen zu wollen. Lessing operiert – wie gezeigt werden konnte – in diesem Zusammenhang weitaus differenzierter. Christoph Lorey: Lessings Familienbild im Wechselbereich von Gesellschaft und Individuum. Bonn 1992, S. 137.
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Werner: Ich habe ja nur Ihren Befehl vollzogen. – v. Tellheim: So vollziehe auch den, und packe dich! (MvB 104f.)
Die verallgemeinernde Absage an »Güte« und »Dienstfertigkeit« wird im Nebentext durch die Physiognomie Tellheims: »der vor Wut an den Fingern naget, das Gesicht wegwendet, und nichts höret« (MvB 105) unterstützt und verweist damit auf einen Zustand, in dem Tellheim gemäß der Anthropologie der Aufklärung vollständig unter dem Einfluss jener ›unteren Seelenkräfte‹ steht, die er eigentlich als Repräsentant eines ›Männlichkeitsentwurfes‹, der sich auf Grundlage der Anforderungen des späten 18. Jahrhunderts als ›hegemonial‹ zu etablieren sucht, beherrschen sollte. Die Rückbesinnung auf die ›Vernunft‹ kann in Tellheims Fall nicht intrinsisch erfolgen; sein erneuter Gesinnungswandel in V/12 wird erst durch die Ankündigung des ›deus ex macchina‹, Graf von Bruchsall, ermöglicht: Das Fräulein: Ist ers? – O nun geschwind, Tellheim – v. Tellheim: (auf einmal zu sich selbst kommend) Wer? Wer kömmt? Ihr Oheim, Fräu-
lein? Dieser grausame Oheim? Lassen Sie ihn nur kommen; lassen Sie ihn nur kommen! – Fürchten Sie nichts! Er soll Sie mit keinem Blicke beleidigen dürfen! Er hat es mit mir zu tun. – Zwar verdienen Sie es um mich nicht – (MvB 106)
Wie bereits bei den vorangegangenen plötzlichen Inkongruenzen, die Tellheim textübergreifend kennzeichnen, muss auch an dieser Stelle wieder die Frage gestellt werden, worauf seine unerwartete Meinungs- und Bewusstseinsänderung zurückzuführen ist. Erneut tendieren Teile der Tellheim-Forschung dazu, ihm diesbezüglich eine »Ritterlichkeit, die […] auf Mitleid und echtem Verantwortungsbewusstsein basiert«,90 zu attestieren. Die genderanalytische Herangehensweise legt eine andere Annahme nahe: Der Grund dafür liegt zum wiederholten Male darin, dass ein externes Ereignis (in diesem Fall die vermeintliche Bedrohung der Ehre Minnas durch den Grafen von Bruchsall) sein intrinsisches Selbstverständnis des ›Mannes‹ in der patriarchalischen Funktion eines ›starken‹ und ›entschlossenen‹ Mannes gegenüber einer ›schwachen‹, ›schutzbedürftigen‹ Frau aktiviert.91 Die Einschränkung »Zwar verdienen Sie es um mich nicht« impliziert, dass das externalisierte Bedürfnis, die seinen Vorstellungen einer ›wehrhaften Männlichkeit‹ entsprechenden Aufgaben wahrzunehmen, gegenüber dem eigentlichen Verhältnis zu Minna dominiert. Es ist einzig der Aufklärung Minnas in V/12 zu verdanken, dass Tellheim über die vollständige Einsicht in das Spiel mit dem Ring auch seine Position im System der Intimität wahrnehmen will: v. Tellheim:
Wo bin ich? – (ihre Hand küssend) O boshafter Engel! – mich so zu quälen! […] Noch kann ich mich nicht erholen. – Wie wohl, wie ängstlich ist mir! So erwacht man plötzlich aus einem schreckhaften Traume! (MvB 107)
Durch den Auftritt des Grafen von Bruchsall in V/13 wird Tellheim schließlich nicht nur als ›Partner‹ Minnas und ›Freund‹ des Grafen in die Familie Minnas integriert: 90 91
Diese Formulierung geht auf Wehrli: Kommunikative Wahrheitsfindung, S. 118 zurück. Vgl. Prutti: Bild und Körper, S. 306, die in diesem Zusammenhang von einem »Umschlag aus hilfloser Autoaggression in eine heldische Beschützerpose« spricht.
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»Ich bitte um Ihre Freundschaft. – Meine Nichte, meine Tochter liebet Sie« (MvB 108), sondern auch als ›Mann‹ wertgeschätzt: Der Graf:
[…] Doch Sie sind ein ehrlicher Mann, Tellheim; und ein ehrlicher Mann mag stecken, in welchem Kleide er will, man muß ihn lieben. (MvB 108)
Erst nach der Rehabilitation seines öffentlichen Ansehens und der Klärung der Missverständnisse im Bereich der Intimität gegenüber Minna gelingt es Tellheim schließlich auch, sein kollegial-freundschaftliches Verhältnis zu Paul Werner losgelöst von externen Einflüssen zu gestalten. Jedoch erschöpft sich die Lösung von Tellheims Konflikten nicht ausschließlich, wie in diversen Texten vornehmlich der älteren Tellheim-Deutung angenommen, durch die Wiederherstellung seiner Ehre. Daher muss eine genderorientierte Analyse Tellheims von Martinis Feststellung, dass »das eigentliche Lustspiel mit der Selbstreflexion des fingierten Spiels im fiktiven Spiel zu Ende sei«,92 Abstand nehmen. Die daran gebundene, wiedererlangte Handlungsfreiheit wird erst zur Basis für die emotionale Komponente Tellheims, wobei der Händedruck und der Ausruf »Ha! Wer ein besseres Mädchen und einen redlicheren Freund hat als ich, den will ich sehen!« (MvB 109) zum ersten Mal ungetrübt von patriarchalischen Anforderungen gegenüber Minna und berufsbedingten Hierarchieauflagen gegenüber Werner als Ausdruck dessen verstanden werden können, dem Tellheim den gesamten Text über ausgewichen war: Der Wiederentdeckung seiner männlichen-intrinsischen Gefühlswelt, die seinem Männlichkeitsentwurf letztlich das lang ersehnte Gleichgewicht bringt – oder die finale Rückkehr zur »Sprache des Herzens«. Ob dieses finale Gleichgewicht allerdings Aussicht auf eine längere Dauer besitzt oder doch letztlich nicht vollkommen frei von einer auf das Lustspiel bezogenen Gattungskonvention ist,93 entzieht sich der vorliegenden Analyse, wenngleich Lessings Dramenschluss zu derartigen Überlegungen einlädt. 4.2.3 Paul Werner In einer zeitgenössischen Rezension zu Lessings Text, die 1767 in den Neuen Critischen Nachrichten in Greifswald erscheint, findet sich zu Paul Werner folgender kurzer Kommentar: »Ein ehemaliger Wachtmeister des Majors, Paul Werner, ein braver Soldat, mit etwas wilden Sitten, aber natürlich gutem Herzen, welcher im Kriege Geld gemacht hatte […]«.94 Die Rezension weist auf zwei wesentliche Kriterien hin, nach denen der Männlichkeitsentwurf Paul Werners, der sich selber als »gewesener Wachtmeister« (MvB 26) des Majors bezeichnet, im Folgenden untersucht werden soll: zum einen unter soldatischen Gesichtspunkten im System des Militärs im Vergleich zu Tellheim sowie zum anderen unter Gesichtspunkten, die den amourösen Bereich betreffen und Werner maßgeblich in der Interaktion mit Franciska zei92
93
94
Martini: Riccaut, die Sprache und das Spiel in Lessings Lustspiel ›Minna von Barnhelm‹, S. 426. Vgl. Kagel: Des Soldaten Glück, S. 20, der die Auflösung des Konflikts als »völlig unrealistisch« bezeichnet. Zit. nach: Steinmetz (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹, S. 4.
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gen. Der erstgenannte Bereich wird bereits mit dem Auftritt Werners in I/12 im Gespräch mit Just thematisiert. Dabei zeigt sich seine Perspektive auf den Kriegszustand, die sich maßgeblich aus dem Drang nach Ruhm, Aktivität und Abenteuer und demzufolge aus der Ablehnung von Frieden, Passivität und Routine zusammensetzt: Werner:
[…] Gott sei Dank, daß doch noch irgendwo in der Welt Krieg ist! Ich habe lange genug gehofft, es sollte hier wieder losgehen. Aber da sitzen sie, und heilen sich die Haut. Nein, Soldat war ich, Soldat muß ich wieder sein! (MvB 26)
Mit der Ablehnung der Passivität, die Werner mit dem Frieden verbindet, kann – Kilians Thesen folgend – für seine subjektive Zeitwahrnehmung ein akuter Bezug zur Ebene der ›Kohärenz‹ festgestellt werden.95 Darüber hinaus erfüllt Werner durch die Vermeidung von Passivität nach Kaufman die Voraussetzung für eine stark externalisierte, auf ›männliche‹ Dominanz abzielende Form der ›Männlichkeit‹.96 Damit erfüllt er – eine These Schmales aufgreifend – die Erwartungen einer historisch bedingten »Militarisierung des Mannes«97 seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Soldat werden und Soldat sein für ein hohes allgemeines patriotisches Ziel, für das sich zu opfern und zu sterben sich lohnte […]. Das Mannsein, als Mann geboren werden, implizierte als Teil der Geschlechtsidentität diese Opferfunktion, die propagandistisch geschickt mit dem Nimbus des Märtyrer- und Heldentodes verbunden wurde.98
Die Ebene der ›Kontinuität‹ lässt sich des Weiteren auch nicht unter der Prämisse eines ›dauerhaften Kriegszustandes‹ nachweisen, da der inhaltliche Bezug, den die kriegerische Auseinandersetzung dabei aufweist, aus Werners Perspektive vollkommen nebensächlich ist; er ist Soldat aus den zuvor genannten Gründen und stellt sowohl Just als auch später Tellheim gegenüber in Aussicht, als Söldner auch in fernen Länden »Dienste nehmen« zu wollen. Die Selbstdarstellung als ›Soldat‹ ist für Werner Grundlage seiner Subjektivität, wobei es – im Gegensatz zu Tellheim – nicht vordergründig karrierebezogene oder der Reputation verpflichtete Aspekte sind, aus denen er die Motivation und Legitimation dafür herleitet. Das zeigt sich insbesondere in dem geschichtlichen Rückgriff gegenüber Just in I/12: Werner:
[…] Unsere Vorfahren zogen fleißig wider den Türken; und das sollten wir noch tun, wenn wir ehrliche Kerls, und gute Christen wären. Freilich begreife ich wohl, daß ein Feldzug wider den Türken nicht halb so lustig sein kann, als einer wider den Franzosen; aber dafür muß er auch desto verdienstlicher sein, in diesem und in jenem Leben. Die Türken haben dir alle Säbels, mit Diamanten besetzt – (MvB 26)
Der Rekurs auf die Türkenkriege dient jedoch nur als Vorwand dazu, eine geschichtliche Tradition fortzuführen. Vielmehr stellt er das Bestreben, auf der Ebene der (gegenwartsbezogenen) ›Kohärenz‹ unter Beweis zu stellen, »ehrliche Kerls« und »gute Christen« zu sein, in den Vordergrund. Wie gering Werners Einsicht in die ge-
95 96 97 98
Vgl. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 75ff. Vgl. Kaufman: The Construction of Masculinity and the Triad of Men’s Violence, S. 18ff. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 195. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 195.
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schichtliche Dimension der Türkenkriege ausfällt, wird anhand des angedeuteten Zusammenhangs zwischen immanenter und transzendenter Belohnung (»in diesem und in jenem Leben«) zum Ausdruck gebracht. Dieser bewegt sich aus Sicht des Söldners letztlich – wie er an dem Beispiel der diamantbesetzten Säbel unmissverständlich deutlich macht – maßgeblich in dem Bereich der Immanenz. Das Streben nach materiellen Werten deutet zum einen auf eventuelle Trophäen hin, die Werner sich als ›Beute‹ aus den Kriegen erhofft. Zum anderen wird bereits an dieser Stelle angedeutet, warum Werner im Vergleich zu Tellheim auch im weiteren Verlauf des Textes als finanziell abgesicherter Mann auftritt; sein offenkundiges Interesse an materiellen Werten schließt Plünderungen in Kriegszeiten zumindest nicht vollkommen aus. Der polyseme Ausdruck »verdienstlicher« liegt diese ›immanente‹ Lesart ebenso nahe wie die ›transzendente‹, indem er auf »dieses oder jenes Leben« verweist. Durch die Formulierung »ehrliche Kerls« erhält Werners Argumentation auch eine geschlechterspezifische Komponente, die als Bindeglied dazu dient, die beiden Bereiche des ›ehrlichen Mannes‹ und des ›Mannes als Soldat‹ miteinander in Einklang zu bringen. Die bereits in der Einzelanalyse Tellheims herausgearbeitete Verbindung zwischen ›Soldatentum‹ und ›Männlichkeit‹ wird dabei wieder aufgegriffen und in ausgewählten Aspekten weiterentwickelt. Für Werner ist Tellheim innerhalb des Militärs nicht nur ein Vorbild, sondern als Offizier auch ein Vorgesetzter. Für seine Pläne, als Söldner nach Persien zu gehen, braucht er Tellheims Reputation als Offizier: Werner:
[…] Ich dächte: hol euch hier alle der Henker; und ginge mit Paul Wernern, nach Persien! – Blitz! – der Prinz Heraklius muß ja wohl von dem Major Tellheim gehört haben; wenn er auch schon seinen gewesenen Wachtmeister, Paul Wernern, nicht kennt. (MvB 26)
Den Eintritt in die Dienste des »Prinzen Heraklius« hofft Werner, unter Berufung auf den Ruf, den Tellheim im Militär genießt, zu verwirklichen. Er fordert an dieser Stelle, nach Connell argumentiert, die ›patriarchale Dividende‹, um unter Berufung auf die Nähe zu einem Mann, der entsprechende Anforderungen erfüllt, an dessen Reputation zu partizipieren. Dabei verkennt er die tatsächliche Situation Tellheims, dessen Aussichtslosigkeit die Ausschüttung dieser ›Dividende‹ unmöglich macht. Diese Tatsache führt zu einem Zwischenergebnis, das Tellheim und Werner zwar als Kollegen im System des Militärs, die über weitreichende Erfahrungen im Krieg verfügen, zeigt, wobei sich allerdings nicht nur ihre Motivationsgrundlagen, die zur Partizipation an militärischen Aktionen führen, sondern auch ihre Perspektiven, die aus ihrer unmittelbar im Krieg gewonnenen Erfahrung resultieren, maßgeblich voneinander unterscheiden. Die Differenz besteht darin, dass Werner – im Gegensatz zu Tellheim – auch an außermilitärischen Einnahmequellen, dem Besitz von Haus und Hof und dem damit verbundenen Amt des Bürgermeisters, beteiligt ist.99 Obwohl diese ihm scheinbar keine vollkommene Genugtuung verschaffen können, ermöglichen sie ihm gleichwohl eine Option der finanziellen Sicherheit, die Tellheim durch die Exklusion aus dem System des Militärs versagt bleibt. 99
Vgl. die Feststellung Justs in I/12 bzw. des Wirts in III/4, Werner besitze ein ›Freischulzengericht‹.
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Durch die Kombination verschiedener Funktionen in diversen Teilsystemen der Gesellschaft wird deutlich, dass in der Figur Werner bereits Anzeichen eines Individuums innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaft angelegt sind. Während Tellheim auf externe Unterstützung, die ihm die Rückkehr in das System des Militärs ermöglichen soll, angewiesen ist, stellt Werner aus Gründen der Abenteuerlust und des Strebens nach Besitz die Rückkehr in den Dienst als Söldner in Aussicht; präsentiert sich allerdings gleichsam unentschlossen, einem sesshaften, auf stabilen Verhältnissen basierenden Leben freiwillig zu entsagen. Eine mögliche Erklärung für diesen in der Figur entscheidenden Zweifel bietet die Berücksichtigung der Frage nach dem ungefähren Lebensalter Werners. Dabei deutet die Überblendung von abenteuerlichen bzw. sinnlichen Motiven des Soldatendaseins, die den Typus des ›Helden‹, ›Abenteurers‹ und ›Verführers‹ zitieren, mit jenen des Freischulzen, der durch ›Sesshaftigkeit‹ und ›Kontinuität‹ bzw. ›finanziellen Wohlstand‹ gekennzeichnet ist, auf eine Schwellensituation hin, an der Lessing Werners Männlichkeitsentwurf anlegt. Nicht mehr ausschließlich fixiert auf martialische und amouröse Abenteuer, wenngleich auch noch nicht vollkommen überzeugt von einem Leben in stabilen Berufs- und Familienverhältnissen, kann für Werner mit Bezug auf das Lebensalter der Übergang zwischen einer jüngeren und mittleren bzw. reiferen Generation männlicher Figuren angenommen werden. Auch durch die Fremdcharakteristik, die von Seiten des Wirts in III/4 geäußert wird, lässt sich diese Annahme unterstützen: Werner, so wird deutlich, befindet sich nicht nur auf der Schwelle hin zu einem reiferen Lebensalter, sondern auch zu der damit verbundenen Verschiebung innerhalb seines Wertesystems: Im Laufe des Textes häufen sich Andeutungen dahingehend, dass seine Abenteuerlust sich allmählich zu einer Suche nach Sesshaftigkeit wandelt, wie in seinem amourösen Werben um Franciska noch gezeigt werden soll. Gleichzeitig scheint vor dem Hintergrund konventioneller Muster des 18. Jahrhunderts plausibel, dass die ›Begierde‹ sich mit fortschreitendem Lebensalter von der ›Wollust‹ stärker in Richtung ›Geldgier‹ bzw. ›Geiz‹ verschiebt. Allerdings ist es gerade die Übergangssituation, die eine Entwicklung der Figur und somit auch des Männlichkeitsentwurfes in beide Richtungen theoretisch möglich erscheinen lässt. Gerade an dieser Stelle tritt ein zweiter Unterschied zu Tellheim schwerwiegend hinzu: Werner kann im Gegensatz zu Tellheim aufgrund des Bewusstseins der körperlichen Unversehrtheit in aktive Kampfhandlungen zurückkehren. Sein »gepanzerter Soldatenkörper« – und somit nach Böhnisch die Grundlage seines ›männlichen‹ Selbstschutzmechanismus’ – ist intakt und ermöglicht ihm weit reichende berufliche Pläne. Perspektivierung und Sinnbeimessung des Soldatentums unterscheiden die Positionen von Tellheim und Werner von Textbeginn an bis zum Ende des vierten Aktes. Auf den plötzlichen und unter dem Einfluss seiner Beziehung zu Minna stehenden Meinungsumschwung Tellheims ist bereits eingegangen worden. Werner zeigt sich jedoch textübergreifend weitestgehend konstant in seiner Auffassung, dem ruhelosen und an Abenteuern orientierten Soldatenleben nachzugehen. Daran vermögen auch die gelegentlichen Mahnungen Tellheims nichts Grundsätzliches zu ändern. Seine Gespräche mit Tellheim in III/7 und V/1 können dafür als Beweise herangezogen werden. Sie enthalten jedoch darüber hinaus auch eine wei148
tere interessante Grundlage der Entscheidungsfindung Werners: Trotz der erklärten Absicht, sich in den Dienst eines fremden Feldherrn zu stellen, akzeptiert er den Entschluss seines Vorgesetzten: »Nun ja doch, Herr Major; ich will Ihnen folgen. Sie wissen besser, was sich gehört. Ich will bei Ihnen bleiben.« (MvB 62) Der Entschluss, seinen Platz an der Seite Tellheims trotz abweichender Interessen nicht aufzugeben, weist ihn – ebenso wie Just – als treuen Gefolgsmann aus. Im Unterschied zu diesem ist es jedoch weder die Überzeugung, als Helfer für Tellheim unabdingbar zu sein, noch die Genügsamkeit, seine Funktion als Diener hinreichend zu erfüllen, sondern vielmehr die an den soldatischen Ehrenkodex gebundene Gehorsamspflicht gegenüber einem vorgesetzten Offizier, die ihn dazu veranlasst. Trotz seines sanguinischen Temperaments – auf das insbesondere in den amourösen Interaktionen gegenüber Franciska noch eingegangen werden soll – besitzt Werner eine konkrete Vorstellung des soldatischen Tugendkatalogs, die unter den Bediensteten des Majors vor allem von Just unterscheidet. Im Gegensatz zu diesem lehnt er die Mittel der Lynchjustiz in I/12 entschieden als unehrenhaft ab. Darüber hinaus strebt er eine Beziehung zu Tellheim jenseits der ihm zweifelsfrei bekannten Regeln der beruflichen Unterordnung an. In dieser Beziehung, die sich in einem ›System der Freundschaft‹ definieren ließe, stellt er mit der Aufhebung der gesellschaftlichen auch eine Neudefinition der männlichkeitsinternen Hegemonieformen in Aussicht. Die Szene III/7 trägt dafür Symbolcharakter: v. Tellheim:
Sei nicht verdrüßlich, Werner! Ich erkenne dein Herz und deine Liebe zu mir. Aber ich brauche dein Geld nicht. […] Werner: […] Wir haben, so lange unser Freund hat. v. Tellheim: Es ziemt sich nicht, daß ich dein Schuldner bin. Werner: Ziemt sich nicht? – Wenn an einem heißen Tage […] sich Ihr Reitknecht […] verloren hatte, und Sie zu mir kamen, und sagten: Werner hast du nichts zu trinken? und ich Ihnen meine Feldflasche reichte, nicht wahr, Sie nahmen und tranken? – Ziemte sich das? – […] v. Tellheim: Du marterst mich; du hörst es ja, ich will dein Schuldner nicht sein. Werner: Erst ziemte es sich nicht; nun wollen Sie nicht? […] v. Tellheim: […] Ich bekenne es mit Vergnügen, dass ich dir zweimal mein Leben zu danken habe. Aber, Freund, woran fehlte mir es, daß ich bei Gelegenheit nicht ebenso viel für dich würde getan haben? He! (MvB 59f.)
Die Diskrepanz zwischen den beiden dargestellten Positionen ergibt sich, wie an Tellheims Bezeichnung »Freund« deutlich wird, nicht zwingend aus der Tatsache, dass Werner dem Vorgesetzten die Freundschaft an sich anbietet, die Tellheim laut eigener Aussage unter den Umständen des Krieges – und folglich im System des Militärs, allerdings jeweils in akuten Krisensituationen – »mit Vergnügen« in Anspruch genommen hatte.100 Da jedoch weder die Ausnahmesituation der Lebensgefahr noch die Interaktion innerhalb des Systems des Militärs in der vorliegenden Situation ge100
Vgl. Lorey: Lessings Familienbild im Wechselbereich von Gesellschaft und Individuum, S. 126. Dem Zusammenhang zwischen ›Militär‹ und ›Freundschaft‹ widmet sich auch Kagel: Des Soldaten Glück, S. 27f.
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geben ist, lehnt er Werners Angebot, in einem privaten Kontext der Freundschaft zu interagieren, ab. Erneut erscheint Werner, systemtheoretisch argumentiert, dabei als der zukunftsorientierte Repräsentant einer funktional differenzierten Gesellschaft, dem es gelingt, die Männerfreundschaft auch ohne den von Böhnisch wiederholt herausgearbeiteten Bezug zu einer gemeinsamen Aktivität (so beispielsweise der des Militärs) anzustreben.101 Werner stellt damit eine auf das Individuum, nicht auf die Aktivität, bezogene Form der Freundschaft in Aussicht, während Tellheim diese Abkoppelung der männlichen Interaktion von einer gemeinsamen Sinn gebenden Instanz – einem gemeinsamen Referenzrahmen, der außerhalb des Interesses für den jeweils Anderen liegt, ablehnt. Das entsprechende Auf und Ab innerhalb der Interaktion Tellheim-Werner wird insbesondere im fünften Akt deutlich. Über die bereits analysierten internen Motivationsgrundlagen Tellheims hinaus ist dabei interessant, dass er die freundschaftliche Annäherung an Werner, die auch die Akzeptanz des Hilfsangebots einschließt, in V/1 mit dem Bezug auf die gemeinsamen beruflichen Pläne verknüpft: »Und übermorgen, geh ich mit ihr fort. […] Wenn du willst, Werner, so komm mit. Wir wollen wieder Dienste nehmen.« (MvB 90) Werners Reaktion auf diesen Meinungsumschwung schlägt nach anfänglichem Erstaunen in zweifacher Erwartung sowohl der beruflichen Abenteuer als auch der möglichen Freundschaft zu Tellheim in heitere Euphorie um: »O Herzensmajor! – Übermorgen? Warum nicht lieber morgen?« (MvB 90) So schnell externe Einflüsse und die Perspektive auf gemeinsame Pläne die Bereitschaft Tellheims, Werner als ›Freund‹ gegenüberzutreten, anregen, umso entschiedener klingt sie bei der vermeintlichen Auflösung der externen Einflüsse ab. In V/11 wird Werner erneut mit einem Meinungsumschwung Tellheims – dieses Mal zu seinen Ungunsten – konfrontiert und die abweisend-zynischen Kommentare Tellheims mit dem Hinweis »ich bin ein Mensch […] der auch Galle hat« (MvB 105) beantwortet. Die Ergebenheit gegenüber seinem Vorgesetzten stößt in dem Moment an ihre Grenze, da sie Werners Selbstwertgefühl – nicht als ›Soldat‹ oder ›Mann‹, sondern als ›Mensch‹ allgemein verletzt. So sehr ihn die Reaktion Tellheims auch verletzt, desto mehr dominiert der Wunsch nach Nähe zu seinem Vorgesetzten. In Szene V/14 wird dieser Prozess transparent: v. Tellheim:
Hier Just, – hebe den Beutel auf, und trage ihn nach Hause. Geh! – (Just damit ab.) Werner: (der immer noch mürrisch im Winkel gestanden, und an nichts Teil zu nehmen geschienen; indem er das hört). Ja, nun! v. Tellheim: (vertraulich, auf ihn zugehend). Werner, wann kann ich die andern hundert Pistolen haben? Werner: (auf einmal wieder in seiner guten Laune). Morgen, Herr Major, morgen. – (MvB 109)
Auch die mehrfachen Stimmungsschwankungen Tellheims können die Ergebenheit Werners nicht nachhaltig erschüttern. Welche Bedeutung Werner dem anschließenden Händedruck und Tellheims auf ihn bezogener Fremdcharakteristik »redlicher 101
Vgl. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 198f. sowie Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 197.
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Freund« beimisst, zeigt sich unter anderem daran, dass der Nebentext in der folgenden Szene vermerkt: »Werner, der sich die Augen wischt.« (MvB 110) Über das Militär und die entsprechende kollegiale Interaktion mit Tellheim hinaus lässt sich der Männlichkeitsentwurf Paul Werners auch im System der Intimität analysieren, wobei er wiederholt mit Franciska interagiert. Das erste Aufeinandertreffen in III/4 wird sofort mit einem Körperkontakt initiiert: Werner:
(der ihnen [Franciska und dem Wirt, M.B.] hinterwärts näher kömmt, und auf einmal der Franciska auf die Schulter klopft). Frauenzimmerchen! Frauenzimmerchen! Franciska: (erschrickt). He! Werner: Erschrecke Sie nicht! – Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, ich sehe, Sie ist hübsch, und ist wohl gar fremd – Und hübsche fremde Leute müssen gewarnet werden – Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, nehm Sie Sich vor dem Manne in Acht! (auf den Wirt zeigend.) (MvB 53)
Das Moment der Überraschung entspricht der offensiven Position, die Werner in der Kommunikation mit Franciska zunächst besetzt, wobei die Überwindung der körperlichen Distanz auch mit einer sprachlichen Annäherung einhergeht: Die sechsfache Wiederholung des Diminutivs in »Frauenzimmerchen« innerhalb weniger Momente wird von charakteristischen Elementen einer Sprache der Verführung, den Komplimenten (»Sie ist hübsch«), unterstützt. Interessant ist, wie es Werner zugleich gelingt, einen potenziellen Konkurrenten um die Aufmerksamkeit Franciskas, den anwesenden Wirt, aus dem intimen Bereich der Kommunikation auszugrenzen. Die fingierte Warnung »nehm’ Sie sich […] in Acht« korrespondiert mit der nach außen gerichteten Beschützerfunktion, die Werner einnimmt. In diesem Sinne lässt sich sein Männlichkeitsentwurf zunächst auf der Grundlage seines amourösen Werbens unter dem Gesichtspunkt der von Holter beschriebenen »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« sowie des von Connell vertretenen Ansatzes als Ausdruck des Anspruchs auf ›patriarchalische Dominanz‹ und ›hegemoniale Männlichkeit‹ beschreiben: Männlichkeitsintern werden andere (potenzielle) Konkurrenten ausgegrenzt, und männlichkeitsextern wird gegenüber der Frau der Anspruch auf die dominante, da Entscheidungen treffende Position des »Beschützers« erhoben. Diese Position lässt sich problemlos in den auf Wehrhaftigkeit und Abschirmung gegenüber externen Einflüssen trainierten ›soldatischen‹ Männlichkeitsentwurf integrieren. Die an die protektive Komponente gebundene aktive Position des Soldaten im System der Intimität ist bereits in der Einzelanalyse Tellheims – vor allem zu Beginn des fünften Aktes – herausgearbeitet worden und lässt sich an dieser Stelle auch auf die zwischengeschlechtliche Interaktion Werners übertragen. Allerdings werden bereits an dieser Stelle Unterschiede mit Bezug auf die Kausalität des Verhaltens zwischen Tellheim und Werner deutlich. Während Tellheims amouröser Aktionsspielraum erst durch externe Einflüsse (das durch Minna simulierte Unglück) auf den Plan gerufen wird, verdeutlicht die Fremdcharakteristik Werners durch den Wirt die internen Grundlagen des Verführungstypus, der dem Männlichkeitsentwurf Werners zugrunde liegt: »Ah, es ist doch immer noch der lustige, spaßhafte, ehrliche Werner!« (MvB 53) Die ungezwungene Art der zwischengeschlechtlichen Kommunikation im engeren und Werners Männlichkeitsentwurf im weiteren Sinne werden dabei 151
als eigendynamisch transparent, während Tellheim innerhalb dieser Kategorie eher den fremddynamischen Männlichkeitsentwürfen zuzuordnen ist. Ein weiteres Argument für die Disposition, die Werner als Verführer aufweist, findet sich in seinem sanguinischen Temperament, auf das er im Gespräch mit Tellheim in III/9 indirekt hinweist: »Unsere Bekanntschaft ist noch blutjung. Sie ist von heute. Aber junge Bekanntschaft ist warm.« (MvB 63) Die Flirtbemühungen erhalten durch die Fremdcharakteristik Werners aus Sicht des Wirts eine zusätzliche Unterstützung: Der Wirt:
[…] O, es ist ein vortrefflicher Mann, der Herr Paul Werner! – (zur Franciska, als ins Ohr.) Ein wohlhabender Mann, und noch ledig. Er hat drei Meilen von hier ein schönes Freischulzengerichte. Der hat Beute gemacht im Kriege! – Und ist Wachtmeister bei unserm Herrn Major gewesen. O, das ist ein Freund von unserm Herrn Major! das ist ein Freund! der sich für ihn tot schlagen ließe! (MvB 54)
Die ›Männlichkeit‹ Werners wird erneut sowohl durch materielle als auch durch ideelle Attribute – Vermögen und Grundbesitz sowie die Freundschaft zu Tellheim – charakterisiert. Anhand der Reihenfolge in der Nennung der Eigenschaften lässt sich implizit rekonstruieren, womit der Wirt glaubt, Franciskas amouröse Gefühle am ehesten zu wecken. Interessanterweise ist es gerade eine Frage der Bedeutungszumessung eines sowohl materiellen als auch ideellen Objekts, des Rings, den Tellheim beim Wirt versetzen ließ, die Werner in III/5 auf die Beschreibung des Zusammenhanges von ›Soldatentum‹ und ›amouröser Intimität‹ eingehen lässt: Werner: Vielleicht, daß er den Bettel hat gern wollen los sein. Franciska: Es ist kein Bettel! Es ist ein sehr kostbarer Ring, den er wohl noch dazu von
lieben Händen hat. Das wirds auch sein. Von lieben Händen! ja, ja! So was erinnert einen manchmal, woran man nicht gern erinnert sein will. Drum schafft mans aus den Augen. Franciska: Wie? Werner: Dem Soldaten gehts in Winterquartieren wunderlich. Da hat er nichts zu tun, […] und macht vor Langerweile Bekanntschaften, die er nur auf den Winter meinet, und die das gute Herz, mit dem er sie macht, für Zeit-Lebens annimmt. Husch ist ihm denn ein Ringelchen an den Finger praktiziert; er weiß selbst nicht, wie es daran kömmt. Und nicht selten gäb er gern den Finger mit drum, wenn er es nur wieder loswerden könnte. (MvB 56) Werner:
Innerhalb des Männlichkeitsentwurfes ist der amouröse Bereich Werners von seiner subjektiven Zeitwahrnehmung affiziert, was sich daran zeigt, dass er die Ebene der ›Kohärenz‹, wie bereits zuvor anhand seiner Auffassung des soldatischen Daseins herausgearbeitet worden ist, zu Lasten der ›Kontinuität‹ auch auf den emotionalen Bereich überträgt. Werner spricht – obwohl er sich dessen nicht vollständig bewusst zu sein scheint – nicht nur über Tellheim, sondern in seiner vermeintlichen Werbung um Franciska vor allem über sich selbst. Das Soldatenleben und somit den Kernbereich seines eigenen Männlichkeitsentwurfes schildert er als eine systembedingte Absage an die Treue in der Liebe.102 Die Tatsache, dass er damit hofft, als Verführer 102
Zum Zusammenhang von ›Kohärenz‹-Dominanz und amouröser Untreue vgl. insbesondere die Einzelanalyse zu Don Giovanni. Zur Exklusion der Frauen aus dem ›Männerraum‹ des Militärs vgl. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 198.
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gegenüber Franciska erfolgreich zu sein: »Das ist kein unebenes Frauenzimmerchen!« (MvB 57) offenbaren ihn im Umgang mit ihm ebenbürtigen Frauen gleichsam als unerfahren und vorschnell, was sich insbesondere auch daran feststellen lässt, dass Franciska sehr schnell erkennt, Werner durch seine Eitelkeit zu ihren Zwecken instrumentalisieren zu können: Franciska: (beiseite). […] Herr Freischulze, oder Herr Wachtmeister – Werner: Frauenzimmerchen, wenns Ihr nichts verschlägt: – Herr Wachtmeister, höre ich
am liebsten. (MvB 56f.)
Dabei muss ferner eine erotisch-ludistische Komponente der amourösen Kommunikation Werners beachtet werden, die Martini interessanterweise mit dem erotischen Werbeverhalten Riccauts gegenüber Damen vergleicht.103 Werner unterliegt dabei dem Trugschluss, dass er Franciska aufgrund seines verführerischen Repertoires und in Anbetracht seiner ›soldatischen Männlichkeit‹ bereits für sich gewonnen habe. Er erkennt dabei freilich nicht, dass Franciska seinen sprachlichen Duktus bereits dechiffrieren konnte. Der Anspruch auf Dominanz und Überlegenheit gegenüber Franciska wird durch die Unterschätzung der Dienerfigur zumindest im äußeren Kommunikationssystem des Textes überworfen, wenngleich Werner ihn im inneren Kommunikationssystem bis einschließlich III/10 zu verwirklichen glaubt, worauf das komische Potenzial der Werner/Franciska-Handlung maßgeblich beruht. Im Gespräch mit Tellheim und Franciska schlägt das nach Hegemonie strebende maskuline Geltungsbedürfnis Werners ins Gegenteil um, da er durch die Vergabe intimer Informationen gegenüber Franciska erpressbar wird. Die einzige Möglichkeit, sich aus dieser heiklen Lage zu retten, sieht Werner im Widerruf des zuvor Gesagten in III/10 in Gegenwart Tellheims und III/11 zu Franciska: (III/10) Werner:
Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, Sie wird ja wohl Spaß verstehn? (MvB 66)
(III/11) Werner:
Nein, Frauenzimmerchen; eben das wollte ich Ihr noch sagen: die Schnurre fuhr mir nun so heraus! Es ist nichts dran. Man hat ja wohl an Einem Ringe genug. Und […] aber hundertmal, habe ich den Major sagen hören: Das muß ein Schurke von einem Soldaten sein, der ein Mädchen anführen kann! – So denk ich auch, Frauenzimmerchen. Verlaß Sie sich darauf! (MvB 67)
Werner distanziert sich von seinen Aussagen, wobei im Hinblick auf sein Gespräch mit Franciska in III/5 folgende Schlussfolgerungen zu seinem Männlichkeitsentwurf gezogen werden können: Während sein Auftreten zunächst (also in III/5) unter der Prämisse eines zweifach motivierten männlichen Dominanzgebarens – als ›Verführer‹ und als ›Soldat‹ – steht, reflektiert es zugleich sein strenges Rollenbewusstsein im System des Militärs. Darin erstellt es anhand habitualisierter und mit dem soldatischen Selbstkonzept verbundenen Erwartungen einen Katalog von Anforderungen, um männlichkeitsintern als ›Soldat‹ sowie als ›Mann‹ akzeptiert zu werden. Werner 103
Martini: Riccaut, die Sprache und das Spiel in Lessings Lustspiel ›Minna von Barnhelm‹, S. 389f.
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begeht insofern einen strategischen Fehler, als er diesen Katalog auch auf die männlichkeitsexterne Ebene zu übertragen versucht und nicht erkennt, dass er dadurch seine amourösen Pläne eher gefährdet als fördert. Erst durch die Einsicht, von Franciska erpressbar und somit auch männlichkeitsintern – gegenüber Tellheim – potenziell Konflikten ausgesetzt zu sein, zieht er seine an den soldatischen Männlichkeitsentwurf gebundenen Aussagen in Zweifel. Darüber hinaus ist zu beachten, dass sich Franciska offenbar sowohl mit dem ›Soldaten‹ als auch mit dem ›Freischulzen‹ Werner arrangieren könnte: Sie scheint, wie im Gespräch mit Just deutlich wird, an einem finanziell abgesicherten Mann zumindest ebenso Interesse zu hegen wie an einem erotisch-faszinierenden. In einer Abstraktion seiner zwischengeschlechtlichen Handlungsspielräume lässt sich feststellen, dass erst die deutliche Transparenz der Abhängig- bzw. Unterlegenheit gegenüber einer Frau ihn zur Relativierung seines auf Protektion ausgerichteten Dominanzanspruchs bringt. Die Einflussnahme Franciskas führt zu einer Revision der Kräfteverhältnisse innerhalb der amourösen Konstellation zu Werner: War es noch in III/4 Werner als ›Beschützer‹, der Franciska aufgrund seiner Erfahrung vor dem Wirt warnen will, so wird Franciska in III/10 zur Mentorin des Wachtmeisters, die ihn im Hinblick auf die Treue unterweist. Als Ergebnis dieser Revision bleibt Werner trotz Bekundung seiner Zuneigung zu Franciska nur der Rückzug in eine Position, in der er sich der weiblichen ›Dominanz‹ entziehen kann: als Soldat. Sein Auftritt in IV/4 als Bote gegenüber Minna und Franciska wird zum Ausdruck des Bemühens, durch verschiedene militärische Etikette die Restitution seiner ›männlichen‹ Souveränität zu erreichen, was ihn – nach Martini – zu einer »Parodie seines Herrn« werden lässt.104 Dabei ist das Zusammenwirken von Haupt- und Nebentext entscheidend: (Paul Werner, der in einer steifen Stellung, gleichsam im Dienste hereintritt.) […] Werner: (geht, ohne auf die Franciska zu achten, an das Fräulein). Der Major von Tellheim läßt an das gnädige Fräulein von Barnhelm durch mich, den Wachtmeister Werner, seinen untertänigen Respekt vermelden […] Das Fräulein: Wo bleibt er denn? Werner: […] so gab er mir einen Wink, dem gnädigen Fräulein den Vorfall zu rapportieren. […] Werner: […] Haben Ihro Gnaden etwas zu befehlen? (im Begriffe wieder zu gehen.) Franciska: Nun, wo denn schon wieder hin, Herr Wachtmeister? Hätten wir denn nichts miteinander zu plaudern? Werner: (sachte zur Franciska, und ernsthaft). Hier nicht, Frauenzimmerchen. Es ist wider den Respekt, wider die Subordination. – Gnädiges Fräulein – […] (Werner macht eine steife Verbeugung, und geht ab.) (MvB 77f.)
Werners Erscheinung steht in zweifacher Hinsicht unter dem Einfluss des Militärs: Sein sprachlicher Duktus (»vermelden«, »rapportieren«, »befehlen«) ist davon ebenso affiziert wie seine Körpersprache. Dass Werner versucht, emotionale Ele104
Martini: Riccaut, die Sprache und das Spiel in Lessings Lustspiel ›Minna von Barnhelm‹, S. 403.
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mente, insbesondere gegenüber Franciska, aus der Kommunikation auszublenden, begründet er mit der Gegenwart Minnas, durch die er sich zur Aufrechterhaltung eines militärischen Zeremoniells verpflichtet sieht. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt auch Franciska in der sich anschließenden Szene IV/5: Franciska:
[…] Aber ich merke wohl; er glaubte, vor Ihro Gnaden, auf die Parade ziehen zu müssen. Und wenn die Soldaten paradieren, – ja freilich scheinen sie da mehr Drechslerpuppen, als Männer. (MvB 78)105
Ob es tatsächlich die von Werner vorgegebene Verpflichtung gegenüber den soldatischen Etiketten ist, die ihn zu seiner ›Parade‹ motiviert, lässt sich anhand des Textes nicht vollends klären, wobei jedoch auffallend ist, dass sich Franciska und Werner zwischen dem betont emotionalen »Abschwur« vom unsteten Liebesentwurf eines Soldaten in III/11 und seinem betont emotionsfernen militärischen Auftritt in IV/4 nicht noch einmal getroffen haben. Der Bruch in der Dynamik der Figur lässt sich als wiedergewonnenes Bewusstsein der komplexen Anforderungen verstehen, die Werner untersagen, seine Eigenwahrnehmung als ›Soldat‹ mit seiner Eigenwahrnehmung als ›Mann‹ zu verbinden. Er tritt deutlich nur als ›Soldat‹ auf, dem im System der soldatischen Dienstpflichten, das auch auf den Prinzipien der von ihm angesprochenen ›Subordination‹ basiert, ein Auftrag erteilt wurde. Die Interaktion im System der Intimität wird davon exkludiert. Die Parallele zu Tellheim ist an dieser Stelle – wenn auch nicht in der Ursache, so doch im Ergebnis – auffallend: Die Integration der Bereiche ›Intimität‹ und ›soziale Funktion‹ gestaltet sich in Lessings Text in besonderem Ausmaß für die beiden Figuren kompliziert, die ihren Männlichkeitsentwurf eng an die Tätigkeit eines Soldaten knüpfen. Diese Integration gelingt Werner erst, nachdem Franciska ihm in V/15 einen Heiratsantrag macht: Franciska: So seh Er mich doch an! Werner: Ich fürchte, ich habe Sie schon zu viel angesehen, Frauenzimmerchen! – Nun,
da seh ich Sie ja! Was giebts denn? Herr Wachtmeister – – braucht Er keine Frau Wachtmeisterin? […] Werner: Zöge Sie wohl auch mit nach Persien? Franciska: Wohin Er will! Werner: […] Geb Sie mir Ihre Hand, Frauenzimmerchen! Topp! – Über zehn Jahr ist Sie Frau Generalin, oder Witwe! (MvB 110) Franciska:
Werner, der noch vollkommen unter dem emotionalen Einfluss der vorangegangenen Freundschaftsbekundung Tellheims in V/14 steht, knüpft die amouröse Verbindung an die Voraussetzung, mit Franciska »Dienste nehmen« zu fahren. Sein pointierter abschließender Ausruf, in dem – im Überschwung der Emotionen – das sanguinische Temperament erneut aufblitzt, stellt unterschiedliche Interpretationen in Aussicht: Zum einen lässt er berechtigte Zweifel dahin gehend aufkommen, ob er Franciskas Sehnsucht nach Liebe tatsächlich verstehen und von seinem Drang 105
Zum Zusammenhang von soldatischem Zeremoniell und ›Männlichkeit‹ vgl. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 182 sowie S. 195ff.
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nach Abenteuern trennen kann. Erhart sieht in den letzten Worten Werners die »tragische Alternative zwischen Offizier und Nicht-Offizier, zwischen Laufbahn und Tod.«106 Der Ausgang des Textes würde sich in der ersten Lesart dementsprechend aus Sicht des Männlichkeitsentwurfes Werners wie eine Affirmation der protektiven Bestrebungen patriarchalischen Ursprungs präsentieren, die auch von der abschließenden Pointe des Lustspiels nicht verdeckt werden können: Indem Franciska ihn, Werner, nach Persien begleiten soll, stellt er ihr ein Leben in einem Umfeld in Aussicht, das mit einer hohen Risikobereitschaft verbunden ist. Eine zweite mögliche Interpretation müsste allerdings die zuvor herausgearbeiteten materiellen Bestrebungen Werners und die Tatsache, dass sich Franciskas Bedürfnisse gerade in diesem Punkt denen des Ehemanns in spe annähern, beachten. Durch die Aussicht, dass sich sowohl Werner als auch Franciska wohl als zukünftiges Ehepaar unter Umständen auch mit einer finanziell abgesicherten Sesshaftigkeit arrangieren könnten, entstehen Zweifel daran, ob das zukünftige Paar das Unternehmen »Krieg« tatsächlich in Angriff nehmen wird. Die entsprechende Entscheidung zwischen beiden Möglichkeiten hat Einfluss auf die Analyse von Werners Männlichkeitsentwurf. Der Fall, dass Franciska ihn als Gefährtin in den Krieg begleitet, wird durch den Haupttext insofern gestützt, als »Generalin oder Witwe« in beiden Fällen eine erneute Partizipation Werners am System des Militärs bzw. am Krieg in Aussicht stellen würde. Dabei behält er zwingend die Position des Entscheidungen treffenden Mannes, unter dessen Schutz sich Franciska mit großer Sicherheit angesichts der Prognose, einer Zukunft als Frau eines Söldners entgegen zu gehen, stellen muss. Damit ließe Lessing Werners Männlichkeitsentwurf aller angedeuteten inneren Wandlungsprozesse zum Trotz schließlich wieder in dessen Ausgangsposition zurückkehren, von der aus er noch in III/4 versucht hatte, Franciskas Zuneigung zu gewinnen. Für den Fall einer ironisierenden Betrachtung des Systems ›Militär‹ ließe sich der Ausspruch Werners allerdings auch als Absage an den Krieg deuten. Die Einflussnahme Franciskas würde in dieser Lesart zu einer Domestizierung des Soldaten führen – Werners Männlichkeitsentwurf würde demnach die Rolle eines familiären Versorgers und treuen Ehemanns in den Vordergrund rücken. Gerade die Tatsache, dass Lessing die finale Interpretation über die Entscheidung dem Leser bzw. Zuschauer überlässt, hebt den Männlichkeitsentwurf Werners als mehrdeutig, facettenreich und gerade deshalb für eine genderorientierte Analyse als besonders herausfordernd hervor. 4.2.4 Just Just, der Diener Tellheims, eröffnet Minna von Barnhelm »schlummernd« und »im Traume redend«, wie der Nebentext in I/1 vorschreibt, mit unbewussten Äußerungen, die bereits wesentliche Kennzeichen seines Männlichkeitsentwurfes antizipieren: »Schurke von einem Wirte! – Du, uns? – Frisch, Bruder! – Schlage zu, Bruder!« (MvB 11) Das Wortfeld »schlagen« dominiert seinen gesamten ersten Auftritt und 106
Erhart: Laufbahnen, S. 161.
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verweist auf die physische Präsenz Justs und dessen bereits zu einem sehr frühen Punkt im Text erkennbaren Affinität zur Gewalt.107 Die erste Szene verdeutlicht jedoch darüber hinaus auch ein entscheidendes Kriterium seines Verhältnisses zu Tellheim: Just – das wird anhand seiner Vergegenwärtigung »Ich muss nur bald meinen armen Herrn aufsuchen«108 erkennbar – akzeptiert das Dienst- und Abhängigkeitsverhältnis, in dem er zu Tellheim steht. Allerdings interpretiert er seine Funktion als Diener Tellheims in einem solchen Ausmaß, dass er in I/2 im Gespräch mit dem ihm verhassten Wirt zum Verteidiger seines Herrn avanciert. Dabei wirkt sein zuweilen naives, jedoch von Grund auf ehrliches Verständnis der ›Anerkennung‹, die Tellheim aus seiner Perspektive gebührt, auf seine Entschlossenheit zusätzlich verstärkend. Bereits an dieser Stelle verdichten sich die Anzeichen dafür, dass Just als ›männliche‹ Figur maßgeblich im Zusammenhang mit seiner Beziehung zu Tellheim analysiert werden kann. Just akzeptiert Tellheim nicht nur als ›Herrn‹; er achtet ihn darüber hinaus als ›Mann‹ und als ›Offizier‹. Dabei unterscheidet er nicht zwischen den für Tellheim wichtigen Kategorien des Vergangenheits- oder Gegenwartsbezugs, sondern knüpft seine Forderung nach einer gebührenden Behandlung Tellheims an dessen Ruf, der aus seiner Sicht ungeachtet der derzeitigen Situation Tellheims weiter bestehe: Just:
Einen Officier, wie meinen Herrn! Oder meint Er, dass ein abgedankter Officier nicht auch ein Officier ist, der Ihm den Hals brechen kann? (MvB 14)
Der Einsicht in die Hilflosigkeit und mangelnde Entschlussfähigkeit Tellheims, die Just mit den Worten »Und Sie, – Sie erkenne ich nicht mehr, mein Herr« (MvB 16) kommentiert, begegnet er mit dem indirekten Vorschlag, seinen Vorgesetzten stellvertretend zu rächen, um dessen Ehre wiederherzustellen. Wie stark der Drang in ihm ist, dieses Vorhaben mit Mitteln der körperlichen Gewaltausübung in die Tat umzusetzen, wurde in I/1 im Traum bereits angedeutet und in I/3 und I/4 durch eine Reihe sehr bildhafter Wünsche: »Daß ich ihm nicht die Zähne austreten soll!« (MvB 15) veranschaulicht. Interessanter als Justs exakter Wortlaut und im Hinblick auf seinen Männlichkeitsentwurf aufschlussreicher gestaltet sich jedoch die Antwort auf die Frage, aus welchen Gründen er seine Absichten so deutlich zum Ausdruck bringt. Mit Bezug auf die Lehre der Temperamente des 18. Jahrhunderts lässt sich im Fall Justs zweifelsfrei eine Nähe zur Cholerik feststellen. Den Zusammenhang von ›schwarzer Galle‹ und ›aufbrausendem Verhalten‹ zeigt der entsprechende Eintrag in Adelungs Wörterbuch für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts mit folgendem Definitionsansatz: Schwarze Galle, die: ein von der vorigen Galle verschiedener, brauner dicker Saft, der von dem Blute abgesondert wird, sich in den Nebennieren befindet, und ein Merkmahl eines 107
108
Ter Horst: Lessing, Goethe, Kleist and the Transformation of Gender, S. 39, sieht in der Szene ein »komödiantisches Portrait männlicher Aggressivität«. Ter Horst: Lessing, Goethe, Kleist and the Transformation of Gender, S. 39. Problematisiert wird die Polarität von Gewaltbereitschaft gegen den Wirt und Fürsorge gegenüber Tellheim vor allem durch Arntzen zit. nach: Steinmetz (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹, S. 116f.
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mürrischen, verdrießlichen und zornigen Temperamentes ist. […] Die Galle plaget ihn, sagt man von einem mürrischen Menschen, dessen dickes zähes Blut viele schwarze Galle absondert.109
Just weist die genannten Merkmale insbesondere anhand seines Verhaltens im ersten Akt auf. Damit befindet er sich im Kontrast zu Tellheim, für den der Hang zur Melancholie charakteristisch ist. Dieser Gegensatz steht in einem parallelen Verhältnis zur Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit: Während Tellheim Gewalt im Bewusstsein seiner versehrten Körperlichkeit vehement ausschließt, neigt Just als Choleriker tendenziell dazu, seine Physis mit Mitteln der Gewalt einzusetzen. Auf die mangelnde Selbstkontrolle seiner Leidenschaften, der ›unteren Seelenkräfte‹, wirkt der Alkohol, den ihm der Wirt in I/2 verabreicht, wie ein Katalysator, so dass er am Ende von I/2 verkündet: »Ich will mich ereifern.« (MvB 14) Wie hartnäckig Just den Gedanken der Rache an dem Wirt weiterverfolgt, um Tellheims Ehre wiederherzustellen, zeigt sich anhand seiner Reaktion im Gespräch mit Paul Werner am Ende des ersten Aktes: Just: […] Höre nur, Paul; dem Wirte hier müssen wir einen Possen spielen. Werner: Hat er dem Major was in den Weg gelegt? – Ich bin dabei! – Just: Wie wärs, wenn wir ihm des Abends […] aufpaßten und ihn brav durchprügelten? – Werner: Des Abends? – Aufpaßten? – Ihrer zwei, einem? – Das ist nichts. – Just: Oder, wenn wir ihm das Haus über dem Kopf ansteckten? – Werner: Sengen und brennen? – Kerl, man hörts, daß du Packknecht gewesen bist, und
nicht Soldat; – pfui! Oder, wenn wir ihm seine Tochter zur Hure machten? Sie ist zwar verdammt häßlich – (MvB 27)
Just:
Auf die Position Paul Werners ist unter Abschnitt 4.2.3 genauer eingegangen worden. Mit Bezug auf Just wird insbesondere die Unverhältnismäßigkeit deutlich, mit der er zu Gewaltaktionen neigt. Trotz des gemeinsamen Bestrebens, dem Major damit einen freundschaftlichen Dienst zu leisten, unterscheidet sich die Legitimationsgrundlage der Mittel Werners und Justs erheblich. Just zitiert mit dem Überfall von hinten, dem Sengen und Brennen sowie der angedeuteten Vergewaltigung eine Reihe von Neidingstaten, die sich mit dem Tugendkodex eines Soldaten nicht vereinbaren lassen. Werners Replik: »Kerl, man hört’s, dass du Packknecht gewesen bist und nicht Soldat« legt die Distanz Justs zum System des Militärs offen.110 Obwohl er die Ehre und Reputation des Majors wiederholt anmahnt und verteidigen will, besitzt er doch letztlich nur ein naives Verständnis davon, was sich mit dem Begriff der ›soldatischen Ehre‹ verbindet. Diese reduzierte Kenntnis resultiert aus der Genügsam109
110
Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Zit. nach: http://mdz.bib-bvb.de/digbib/lexika/adelung/text/band2/ (Zugriff: 23. 10. 2007) Der Begriff ›Packknecht‹ findet sich bei Zedler und Adelung noch nicht. Im dem von Jakob und Wilhelm Grimm herausgegebenen Wörterbuch (ab 1854) findet sich folgender Vermerk: »soldat beim gepäck, troszknecht: Werner zu Just. kerl, man hörts, dasz du packknecht gewesen bist und nicht soldat. Lessing 1, 525 (M. v. Barnh. 1, 12)«. Lessing wird demnach im Zusammenhang mit dem Begriff bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts beispielhaft zitiert. Zit. nach: http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/ dwb/ (Zugriff: 14. 06. 2008).
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keit Justs, sich mit den ihn unmittelbar umgebenden Bedingungen zu arrangieren. Die zuvor angesprochene fehlende Differenzierung von Vergangenheits- und Gegenwartsbezug beeinflusst darüber hinaus seine Wahrnehmung der ihn umgebenden Welt, was sich insbesondere in I/12 verdeutlicht: Werner: – Just, – hast du von dem Prinzen Heraklius gehört? Just: Heraklius? Ich wüßte nicht. Werner: Kennst du den großen Helden im Morgenlande nicht? Just: Die Weisen aus dem Morgenlande kenn ich wohl, die ums Neujahr mit dem Sterne
herumlaufen. – – Mensch, ich glaube, du liesest eben so wenig die Zeitungen, als die Bibel? (MvB 25)
Werner:
Im Gegensatz zu Werner, der am weltpolitischen Geschehen Anteil nehmen möchte, fehlt Just nicht nur das Wissen darüber, sondern vor allem das Interesse daran. Genügsam identifiziert er sich primär mit der Funktion des Dieners Tellheims, unabhängig davon, wo und unter welchen Umständen seine Dienste verlangt werden. Die fehlende Orientierung auf die Zukunft korrespondiert mit einem intensiven Gegenwartsbezug, der sich nach der Klassifikation von Kilian als vermehrtes Bestreben nach der synchronen Ebene der Identitätsgestaltung, der ›Kohärenz‹, bezeichnen lässt.111 Gestützt auf das Bewusstsein seiner Körperlichkeit und unter Einfluss seines cholerischen Temperaments verfolgt Just eine Strategie, die der Lynchjustiz erheblich näher kommt als dem soldatischen Duell, das er von Seiten Tellheims noch in I/4 andeutungsweise gefordert hatte. Einen Erklärungsansatz dafür bietet die identifikatorische Potenzial, mit dem Just sein Schicksal an das seines Herrn knüpft: Auf die von Werner in I/12 in Aussicht gestellte finanzielle Hilfe für Tellheim antwortet Just stellvertretend für beide: »Werner, du meinest es herzlich gut; aber wir mögen dein Geld nicht. Behalte deine Dukaten […]« (MvB 27) Just trifft im Namen Tellheims damit eine wichtige Entscheidung, die nicht nur den Vorgesetzten, sondern auch ihn selbst betrifft. Auf die Frage Werners hin, wovon er und Tellheim leben wollten, antwortet Just: »Wir lassen anschreiben, und wenn man nicht mehr anschreiben will und uns zum Hause herauswirft, so versetzen wir, was wir noch haben.« (MvB 27) Just partizipiert in diesem Sinne am sozialen Abstieg Tellheims; er akzeptiert die finanzielle Misere des Majors als seine eigene. Die wiederholte Verwendung des Pronomens »wir« ist Ausdruck der Identifikation mit der Figur des Vorgesetzten, die auf die freie Entscheidung Justs zurückzuführen ist. Dabei wird Just als mehrdimensional ›männliche‹ Figur transparent, deren Männlichkeitsentwurf sich nicht ausschließlich auf physische Präsenz des gewaltbereiten Rohlings reduzieren lässt. Mehrfach – sowohl in I/4 als auch in I/8 – kündigt ihm Tellheim den Dienst, um nicht in die Verlegenheit zu geraten, seinem Diener etwas »schuldig« zu werden. Die Frage, weshalb Just ihm dennoch weiterhin dient, verbindet das Verantwortungsgefühl gegenüber einem Hilfsbedürftigen mit der Treue des Dieners. Im Gegensatz zu Leporello, der sich mit seiner Situation unzufrieden zeigt und Don Giovanni aus reiner Bequemlichkeit nicht verlässt, will Just dezidiert bei Tellheim bleiben: 111
Vgl. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78.
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Just:
Haben Sie Barmherzigkeit mit mir, mein Herr. Ich weiß wohl, daß die Menschen mit Ihnen keine haben, aber – v. Tellheim: Was willst du? Just: Ich hätte mir eher den Tod als meinen Abschied vermutet. (MvB 21)
Die Emotionalität der Situation wird zusätzlich verstärkt, da anhand des Nebentextes und Tellheims Frage zuvor deutlich wird, dass Just unmittelbar vor I/8 geweint haben muss. Diese emotionale Aufladung kontrastiert ihn nicht nur im Vergleich zu Tellheim, sondern klassifiziert ihn ebenfalls für die bereits angesprochene Zuschreibung einer mehrdimensionalen ›Männlichkeit‹. Justs Achtung vor dem Major hat – wie anhand der von ihm in I/8 aufgelisteten Vorschüsse deutlich wird, die Tellheim für ihn getätigt hatte – neben der hierarchischen auch eine persönliche Grundlage der Dankbarkeit. Die Treue, die sich aus seiner Perspektive daraus ableitet, veranschaulicht er wie folgt: Just:
[…] Vorigen Winter gieng ich in der Dämmerung an dem Kanale und hörte etwas winseln. Ich stieg herab, und griff nach der Stimme, und glaubte ein Kind zu retten, und zog einen Budel aus dem Wasser. Auch gut; dachte ich. Der Budel kam mir nach; aber ich bin kein Liebhaber von Budeln. Ich jagte ihn fort, umsonst; ich prügelte ihn von mir, umsonst. […] Er ist ein häßlicher Budel, aber ein gar zu guter Hund. (MvB 22)112
Durch die kontinuierliche Treue unterscheidet sich Just maßgeblich von den weiteren Bediensteten des Majors mit Ausnahme Paul Werners, wie das Gespräch mit Franciska in III/2 beweist. Im gleichen Zusammenhang wird Justs universelle Einsetzbarkeit, die ihn »alles in einem; Kammerdiener und Jäger, Läufer und Reitknecht« (MvB 48) sein lässt. Die von Franciska spöttisch in Frage gestellte Motivation Tellheims, gerade Just als Diener zu behalten, beantwortet dieser mit der Vermutung: »Vielleicht findet er, daß ich ein ehrlicher Kerl bin.« (MvB 48) ›Wehrhaftigkeit‹, ›Treue‹ und ›Ehrlichkeit‹ sind drei der entscheidenden Charakteristika seines Männlichkeitsentwurfes. Eine weitere Säule, auf der sein Verhältnis zu Tellheim beruht, ist neben der Treue das Gefühl der Verantwortung für seinen Vorgesetzten, das durch die besondere Hilfsbedürftigkeit Tellheims motiviert wird. In der Bindung an das Schicksal des Vorgesetzten kann Just – im Gegensatz zu Leporello Don Giovanni gegenüber – nicht von dessen hegemonialer Stellung profitieren. Das Konzept der ›patriarchalen Dividende‹ Connells wird an dieser Stelle insofern umgedeutet, als es nicht eine ursprünglich von ›hegemonialer Männlichkeit‹ ausgeschlossene Figur ist, die durch die Nähe zu einer ›hegemonial männlichen‹ Figur die Dividende erhält. Just kann durch die Bindung an Tellheim nicht an ›hegemonialer Männlichkeit‹ partizipieren, da sein Bezugspunkt (Tellheim) bereits marginalisiert und somit aus dem Kernbereich der Hegemonie ausgeschlossen ist. Insofern lässt sich mit Bezug auf Just durch die eigenbestimmte Nähe zu Tellheim gewissermaßen eine ›negative patriarchale Dividende‹ annehmen, die ihn gemeinsam mit seinem Herrn eher von der gesellschaftlichen Reputation aus- als einschließt. Die Partizipation an dem Schicksal 112
Zur Treue Justs und der Anekdote mit dem Hund vgl. Orlando: Lessings »Minna von Barnhelm«, S. 20 sowie Arntzen zit. nach: Steinmetz (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings ›Minna von Barnhelm‹, S. 117.
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Tellheims legitimiert Just in I/8 durch die körperliche Versehrtheit des Majors. Dabei wird deutlich, dass der im Zusammenhang mit dem Gespräch zwischen Just und Werner herausgearbeiteten Naivität seines Gerechtigkeitsverständnisses in der Interaktion mit Tellheim eine schwach ausgeprägte Empathiefähigkeit entspricht. Diese Erkenntnis erlaubt ein kurzes Resümee der bisher formulierten Ergebnisse zu der Figur Just: In seinem Männlichkeitsentwurf spiegeln sich biologisch-anthropologische Elemente, wie die vornehmlich physische Präsenz, die durch sein cholerisches Temperament gestützt wird, wider. Durch diese Elemente, die auch im Zusammenhang mit seiner sozialen Position innerhalb der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft interpretiert werden müssen, wird er seinem Herrn als ›männlicher‹ Gegenentwurf zur Seite gestellt. Ergänzend lassen sich Justs Treue gegenüber Tellheim, seine Anteilnahme und Identifikation gegenüber dessen Schicksal sowie die sich daraus ergebende ›negative patriarchale Dividende‹ als Kennzeichen anführen. Allerdings lässt sich der Männlichkeitsentwurf Justs nicht allein auf Gewaltbereitschaft und Treue gegenüber seinem Herrn reduzieren. Gerade im zweiten und dritten Akt offenbart Just insbesondere in der Auseinandersetzung mit Minna und Franciska zuweilen ein subtiles komödiantisches Potenzial, das weit über seine mitunter derben Äußerungen aus dem ersten Akt hinausgeht. Dabei muss die in der Forschung mitunter auftretende Einschätzung als männliche Figur, die »durch den gänzlichen Mangel an ›Witz‹« charakterisiert sei,113 relativiert werden. Bereits die Einsilbigkeit, mit der Just in II/6 Minna und Franciska gegenüber in Erscheinung tritt, verdeutlicht seine Abneigung gegen die Funktion eines »Postillon d’amour«. In III/1 reflektiert er seine Funktion als Bote wie folgt: Just:
(einen Brief in der Hand) […] Ein Briefchen von meinem Herrn an das gnädige Fräulein, das seine Schwester sein will. – Wenn sich nur da nichts anspinnt! – Sonst wird des Brieftragens kein Ende werden. (MvB 46f.)
Die Äußerung spiegelt wider, wie brüchig sich der Anspruch auf Überlegenheit gegenüber den Dienerfiguren in den Texten gegen Ende des 18. Jahrhunderts präsentiert. Just weiß instinktiv, dass die Erklärung Minnas, »Tellheims Schwester« zu sein, nur als Vorwand dient, um mit ihm in Kontakt zu treten. Er weiß ebenso um die Möglichkeit, dass sich daraus eine amouröse Beziehung ergeben kann und stellt aus diesem Grund ein Beispiel einer männlichen Dienerfigur – vergleichbar mit Leporello – dar, denen es gelungen ist, die Korrespondenz der hierarchisch vorgesetzten Figuren nicht nur zu dechiffrieren, sondern auch deren Intentionen zu antizipieren. Darüber hinaus zeigt Just im Gespräch mit Franciska in III/2, dass er sich der Mittel der Ironie gezielt bedienen kann. Auf Franciskas provokante Frage, weshalb Tellheim ausgerechnet ihn als Diener behalten habe, eröffnet Just ihr, welches Schicksal die ehemaligen – von Franciska hoch geschätzten – Diener teilen. Dabei gelingt es ihm, aufgrund einer unterschwelligen Ironie gerade jene Souveränität unter Beweis zu stellen, die Franciska zuvor in Frage gestellt hatte:
113
Vgl. Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Commedia dell’arte und théâtre italien. Stuttgart 1965, S. 295f.
161
Franciska: […] Willhelm war ein andrer Mensch! – Reisen läßt ihn der Herr? Just: Ja, er läßt ihn, – da ers nicht hindern kann. Franciska: Wie? Just: O, Willhelm wird sich alle Ehre auf seinen Reisen machen. Er hat des Herrn ganze
Garderobe mit. Franciska: Was? Er ist doch nicht damit durchgegangen? Just: Das kann man nun eben nicht sagen; sondern, als wir von Nürnberg weggiengen, ist
er uns nur nicht damit nachgekommen. (MvB 48f.)
Justs Schilderung wirkt derart nachdrücklich auf Franciska, dass sie im Anschluss zugeben muss: »Ich bedanke mich, Just. Ich setzte die Ehrlichkeit zu tief herab. Ich will die Lehre nicht vergessen.« (MvB 51) Der Männlichkeitsentwurf Justs offenbart aus diesen Gründen eine durchaus breite Vielfalt an Eigenschaften einer vermeintlich eindimensionalen Dienerfigur, deren Entwicklungsspektrum sich in einer männlichkeitsbezogenen Analyse angenähert werden kann. Die männlichkeitsorientierte Analyse zeigt für Lessings 1767 erschienenen Text folgendes Ergebnis: Der Major von Tellheim tritt dabei als zentrale männliche Figur in den Brennpunkt der Männlichkeitsanalyse, wobei die Ursachen seiner männlichen Identitätskrise zu einem erheblichen Teil aus der binnen- und zwischengeschlechtlichen Hierarchiekonstellation resultieren. Im zwischengeschlechtlichen Bereich gelingt ihm das erst durch die Gewissheit, patriarchalisch-protektive Aktivität erneut ausüben zu können. Diese Restitution erhebt er zur Voraussetzung neuer Hoffnung im binnengeschlechtlichen Bereich. In Just und Paul Werner stellt der Text zwei männliche Dienerfiguren vor, deren Ergebenheit zu Tellheim sie unweigerlich an dessen Schicksal partizipieren lässt, wobei sich beide entscheidend durch ihre Nähe zu Tellheim, wenn auch in unterschiedlichen Akzentuierungen, definieren. Jenseits von den binnengeschlechtlichen Auseinandersetzungen um männlichkeitsinterne Identitäts- und Machtfestigung erfährt Lessings Text vor allem durch die sehr gefestigten weiblichen Figuren entscheidende Impulse: auf die dramatische Progression und – damit verbunden – auf die entsprechenden Männlichkeitsentwürfe.
4.3
Johann Wolfgang Goethes Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand 114
4.3.1 Schwerpunkte der Analyse Goethes 1773 in der zweiten Fassung erschienener Text, den Friedrich Sengle als »ersten Durchbruch zum eigentlichen historischen Drama«115 und Matthias Luserke 114
115
Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Götz von Berlichingen. In: Dieter Borchmeyer u. a. (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände. Band 4. Dramen 1765–1775. Hrsg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt am Main, 1985. S. 281–389. Im Folgenden zitiert als Sigle: GvB Seitenzahl. Friedrich Sengle: Das deutsche Geschichtsdrama. Geschichte eines literarischen Mythos. Stuttgart 1952, S. 26.
162
als »Initiationstext des Sturm und Drang«116 bezeichnet, weist eine Vielzahl unterschiedlicher männlicher Figuren auf, die sich für eine geschlechterspezifische Analyse ihres Männlichkeitsentwurfes eignen. Einige männliche Figuren – wie beispielsweise der Georg, Kaiser Maximilian, Olearius oder der Bischof von Bamberg – treten in nur einer einzigen bzw. in wenigen Szenen auf und können aus diesem Grund in der folgenden Untersuchung nicht berücksichtigt werden, obwohl sie innerhalb der dramatischen Entwicklung zweifelsohne wichtige Funktionen einnehmen. Die zu analysierenden Figuren sind in einem historischen Übergangsprozess verankert, der nach Heide Wunder durch die verstärkte Differenzbildung »die Grundlage für die Hierarchisierung der Geschlechter in der Ordnung der Gesellschaft«117 bildet. Für eine genauere Analyse der Männlichkeitsentwürfe bieten sich über die Titelfigur Götz hinaus insbesondere Adelbert von Weislingen und dessen Diener Franz an. Im Bereich der männlichkeitsinternen Figurenkonstellationen nimmt Götz von Berlichingen die zentrale Stellung ein. Als Burgherr in Jaxthausen lassen sich die weiteren männlichen Figuren in zwei grobe Kategorien – mit ihm verbundene und gegnerische Figuren – einteilen: Die mit ihm verbundenen Figuren treten innerhalb des Systems der Ritterburg Jaxthausen entweder als seine Mitstreiter, wie Hans von Selbitz, Lerse oder Franz von Sickingen, oder als seine Bediensteten, wie beispielsweise Georg, auf. In diesem Bereich wird interessant sein, die Auffassung des von Götz vertretenen und im Text repräsentierten Rittertums zu hinterfragen, die maßgeblich in der Überzeugung besteht, Verantwortung für seine Umwelt zu übernehmen. Die zweite Kategorie umfasst jene männlichen Figuren, die Götz ablehnend gegenüberstehen. Dabei sind die Motive, entsprechend dem umfangreichen Figurentableau, sehr breit gefächert: Sie reichen von den Figuren, die Götz militärisch bekämpfen bzw. instrumentalisieren wollen (die verschiedenen Soldaten der Reichsarmee sowie im fünften Akt auch Metzler und weitere Anführer der aufständischen Bauern) bis zu den Figuren, die Götz in Weltanschauungs- und Hegemoniefragen mit Bezug auf die soziokulturellen Entwicklungsprozesse im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert als Rivalen bzw. Widersacher gegenüberstehen (wie beispielsweise der Bischof von Bamberg, die Kaiserlichen Räte, die Ratsherrn von Heilbronn sowie die aufständischen Bauern). Zwischen Freund- und Feindschaft schwankt vor allem die Beziehung zwischen Götz und Weislingen, die im Hinblick auf den Gesamttext die interessanteste männlichkeitsinterne Konstellation darstellt.118 Weislingen, der vom Schwager in spe in die Position des härtesten Widersachers Götzens gerät, streift seinem ehemaligen Jugendfreund gegenüber die emotionalen Bereiche der Freundschaft, des Hasses, 116 117
118
Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 107. Heike Wunder: Wie wird man ein Mann? Befunde am Beginn der Neuzeit (15.–17. Jahrhundert). In: Christiane Eifert u. a. (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel. Frankfurt am Main 1996, S. 122. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 115, hebt in der Beziehung zwischen Götz und Weislingen die Überblendung eines »genuinen Sturm-und-Drang-Motivs der feindlichen Brüder« sowie eines »Vater-Sohn-Konflikts« hervor.
163
der Achtung, der Angst und schließlich der Reue. Dieses kaleidoskopartige Affektrepertoire kennzeichnet seinen Männlichkeitsentwurf und macht ihn aus diesem Grund für die Einzelanalyse in besonderem Maße interessant. Die Dienerfigur Franz wird vor allem im Zusammenhang mit ihren Positionierungen gegenüber dem Dienstherrn, Weislingen untersucht. Bevor mit der Figurenanalyse begonnen wird, stellt sich eine wichtige methodologische Frage, wobei die Aufmerksamkeit auf folgenden Aspekt gelenkt wird: Kritiker werfen Connell zuweilen eine historisch übergreifende und daher verallgemeinernd unpräzise Ausdehnung seiner Theorie der ›hegemonialen Männlichkeit‹ vor. Diese Kritik verdient es durchaus, dass die Theorie daraufhin hinterfragt wird. Connell verankert deren Entstehung, wie im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit bereits erwähnt, im Zeitraum des Übergangs zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, im sogenannten ›langen 16. Jahrhundert‹ – und somit zu der Zeit, die der empirische Autor Goethe in seinem Text behandelt. Diese These stützt Connell unter anderem auf die Entstehung einer individuellen Handlungsfreiheit. (Vgl. Connell 1995, 206f.) Individualitätsgedanke und Problematisierung von ›Männlichkeit‹ seien in Europa seit der Frühen Neuzeit eng miteinander verbunden. (Connell 1995, 206f.) Dieser Versuch, einen historischen Ausgangspunkt für das Konzept ›hegemonialer Männlichkeit‹ festzulegen, ist in der Männerforschung auch von weiteren Vertretern, wenngleich mit zum Teil unterschiedlicher Akzentuierung, angestrebt worden: ›Männlichkeit‹ als eine »von Vernunft geprägte Charakterstrukur« habe sich laut Victor Seidler in Europa seit dem 16. Jahrhundert verstärkt durchgesetzt. (Connell 1995, 206f.) Seidler betont dabei besonders die Verbindung zwischen dem Streben nach Individualität und (patriarchalischer) Dominanz. Wolfgang Schmale attestiert dem 16. Jahrhundert die Grundlagen dessen, was im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Herausbildung eines »modernen männlichen Geschlechtscharakters« führen sollte.119 Allerdings sei dessen begriffliche Basis nach Kucklick endgültig erst im 18. Jahrhundert – das heißt: zur Zeit der untersuchten Dramentexte – gelegt worden. (Kucklick 27) Nun stellt sich für Goethes Text Götz von Berlichingen folgende Frage: Kann Connells Konzept auf einen Text angewendet werden, der zwar 1773 – vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Wissensbestände des 18. Jahrhunderts – entsteht, der jedoch auf der Figurenebene Männlichkeitsentwürfe des 16. Jahrhunderts beinhaltet? Mein Vorschlag lautet: »Ja« – das Konzept ist ab der Frühen Neuzeit anwendbar, der Kampf um ›hegemoniale Männlichkeit‹ kennzeichnet auch die Figuren in Goethes Text, wenngleich mit dem Zusatz, dass die Strategien und Anforderungen, denen sich die Figuren stellen, unter Beachtung des Kontextes des 16. Jahrhunderts ausgewertet werden müssen. Der Text stellt insofern eine besondere Herausforderung an die Untersuchung dar, da ein empirischer Autor des 18. Jahrhunderts literarische männliche Figuren und somit literarische Männlichkeitsentwürfe des 16. Jahrhunderts schafft, für die jedoch erst wesentlich später ein entsprechendes Forschungsinteresse und Begriffsinventar bereitgestellt wird.
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Vgl. Schmale (Hg.): MannBilder, S. 28ff.
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Darüber hinaus wird sich in der Analyse zeigen, inwiefern der Goethes Text auch aus einer poetologischen Perspektive Impulse für die Männerforschung bieten kann. Mathias Luserke hebt Folgendes gezielt hervor: Sturm und Drang ist Literatur, die in der Geschichte (Mittelalter, Frühe Neuzeit) das sucht und findet, was sie in der Gegenwart vermißt, die in Phantasmen das beschreibt, was ihr die Gegenwart verweigert. […] Goethe führte in Dichtung und Wahrheit, 10. Buch, den Begriff des »Selbsthelfers« hierfür ein, der sich als Beschreibungs- und Kennzeichnungskategorie eines Sturm-und-Drang-Typus etablierte.120
Der in Götz angelegte Männlichkeitsentwurf des »Selbsthelfers« kann und soll demnach auch als poetologische Präferenz innerhalb des Normensystems der Literatur des Sturm und Drang interpretiert werden. Dem entspricht auch die dramatisch vor Augen geführte Unvereinbarkeit der individuellen Handlungsfreiheit, des »tatkräftigen, selbständigen Handelns«121 mit historischen Wandlungsprozessen, die dem Individuum die »Wirkungslosigkeit und geschichtliche Hilflosigkeit«122 verdeutlichen. 4.3.2 Götz von Berlichingen Der »große Mensch« Die Titelfigur aus Goethes Text beschreibt Jakob Michael Reinhold Lenz in seinem Aufsatz »Über Götz von Berlichingen« folgendermaßen: Ein Mann, der weder auf Ruhm noch Namen Anspruch macht, der nichts sein will als was er ist: ein Mann. […] sehen Sie da ist der ganze Mann, immer weg geschäftig, tätig, wärmend und wohltuend wie die Sonne, aber auch eben so verzehrendes Feuer, wenn man ihm zu nahe kommt – und am Ende seines Lebens geht er unter wie die Sonne, vergnügt, bessere Gegenden zu schauen wo mehr Freiheit ist.123
Interessant ist in diesem Zusammenhang die dezidierte Betonung der engen Verbindung zwischen Götz und der Kategorie ›Mann‹. »[…] der nichts sein will als was er ist: ein Mann« scheint die Figur Götz auf ihren Männlichkeitsentwurf festzulegen oder jenen zumindest zu ihrem essentiellen Charakteristikum zu erheben. Die Passage aus dem von Lenz verfassten Aufsatz legt allerdings die Frage nahe, was Lenz unter einem ›Mann‹ versteht. In den Analogien zu Feuer und Sonne deutet sich gerade ein wesentliches Kennzeichen an, unter dem nicht nur die Götz-Figur, sondern insbesondere der durch sie repräsentierte Männlichkeitsentwurf im Folgenden analysiert werden sollen: die Vergänglichkeit. Darüber hinaus bemüht Lenz mit dem Vergleich zur Sonne das Element des Kolossalen, womit Götz auch in der neueren Forschungsarbeit immer wieder identifiziert wird. Ulrich Karthaus beispielsweise 120 121 122 123
Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 11f. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 12. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 12. Jakob Michael Reinhold Lenz: Über Götz von Berlichingen. In: ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. Von Sigrid Damm. Band 2. Leipzig 1987, S. 640.
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behandelt Goethes Text in seiner Monographie zum Sturm und Drang unter dem Kapitel »Die Tragödie des großen Menschen«, was er wie folgt begründet: »Groß« hat hier nicht die für den Sturm und Drang kennzeichnende Bedeutung. Nicht die gesellschaftliche Stellung, Macht oder Einfluß machen die Größe aus, sondern eine unerklärliche Ausstrahlung, die man mit dem griechischen Wort Charisma – Gnadengabe – bezeichnen kann.124
Die persönlichkeitsbezogene ›Größe‹ der Figur Götz, die sich nach Karthaus durch ihr besonderes Charisma herleitet, hat ihren Ursprung sowohl darin, welche Funktion Götz ausfüllt – er ist ein Vertreter des Schwertadels bzw. der Reichsritterschaft – als auch wie er sie ausübt. Ob im Kampfgetümmel, in der Sorge um seine Familie oder in der klaren Positionierung seiner Auffassungen von Recht und Ordnung gegenüber seinen Widersachern: In Götz laufen verschiedene Muster der ›Männlichkeit‹ zusammen, durch die er sich Respekt und Achtung unter den ihn umgebenden Figuren verschafft. Physische Stärke und Unnahbarkeit gehören ebenso dazu wie Selbstdisziplin, Standhaftigkeit und Mut. Mit Bezug auf die herausgearbeiteten Assoziationen mit dem Begriff ›Mann‹ im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts konnte gezeigt werden, dass sich die charakterbezogene ›Größe‹ eines Mannes vornehmlich über seine Verdienste herleitet. In Adelungs Wörterbuch aus dem Jahr 1798 findet sich diesbezüglich ferner der Vermerk einer »engeren Bedeutung« des Wortes ›Mann‹, in der »der Nebenbegriff der Stärke, des Muthes, der Tapferkeit auf eine herrschende Art hervortritt«.125 Größe – Stärke – Mut – Tapferkeit: Die folgende Untersuchung will nicht nur der in der Forschung bereits an verschiedenen Stellen behandelten Frage nachgehen, wie diese Aspekte im Zusammenhang mit seiner Physis stehen, sondern vor allem Götzens Männlichkeitsentwurf im komplexen Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Umbruchs im Übergang vom 15. ins 16. Jahrhundert hinterfragen.126 124
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Ulrich Karthaus: Sturm und Drang. Epoche, Werke, Wirkung. München 2000, S. 95. In dieser Deutungstradition steht auch Francis J. Lamport: The Charismatic Hero: Goethe, Schiller, and the Tragedy of Character. In: Jeremy A. Adler u.a (Hg.): Publications of the English Goethe Society.New Series Vol. LVIII. Papers Read before the Society 1987–88. Leeds 1989, S. 66f., der zusammenfassend feststellt: »The tragedy of character turns out to be a tragedy of character.« (S. 66). Peter Michelsen: Goethes »Götz«: Geschichte dramatisiert? In: Werner Keller (Hg.): Goethe-Jahrbuch. Band 110. Weimar 1993, S. 47f., sieht die ›Größe‹ Götzens dagegen in seiner Freiheit. (Ebd.). »Größe und Kraft« werden bei Emil Staiger: Goethe 1749–1786. Zürich 1952, S. 85, bereits als »eindrucksvollste Züge seines Charakters« beschrieben. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 55. Umfassende Interpretationen, die sich zwar nicht ausdrücklich einer genderorientierten Analyse widmen, aber aufgrund ihrer Komplexität und Anschaulichkeit zur weiteren Lektüre empfohlen werden, bieten vor allem folgende Texte: Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte. Spätbarock. Sturm und Drang. Klassik. Frühromantik. Stuttgart 1979, S. 104–128, insbesondere mit dem Schwerpunkt der Herausarbeitung des Zusammenhangs von ›Charakter‹- und ›Gesellschaftsdrama‹, Walter Hinderer: Götz von Berlichingen. In: ders. (Hg.): Goethes Dramen. Interpretationen. Stuttgart 1992, S. 13–65 sowie Marianne Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Tübingen 1995, die sich vor allem mit der Opposition zwischen der ›Ritterwelt‹ und der ›höfischen Welt‹ auseinandersetzt.
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Dabei wird in einem zweiten Schritt interessant sein, wie die im Drama dargestellte Zeit von Goethe im Hinblick auf die Männlichkeitsvorstellungen des 18. Jahrhunderts ausgewählt und bearbeitet wurde – wie also Geschlechtervorstellungen des späten 18. Jahrhunderts zur Konzeption des »letzten großen Mannes seiner Epoche«,127 des frühen 16. Jahrhunderts, beitragen können.128 Dafür sollen folgende Aspekte als Orientierungshilfe dienen: Götzens Männlichkeitsentwurf in der Auseinandersetzung zwischen den Systemen des Schwert- und des Hofadels, Götz als Freund, Kamerad, Ehemann und Vater in den verschiedenen Bereichen des Systems der Intimität sowie zwischen Physis und Psyche, Freiheitskampf und Freiheitsideologie. Den Ausgangspunkt für diese Analyse soll die Frage bilden, welche Position Götz in seiner Welt – in Jaxthausen – und innerhalb des Reichs einnimmt. In der hierarchischen Struktur besetzt Götz in Jaxthausen die Spitze; er ist Nachkomme eines Geschlechts, dem die Burg seit 200 Jahren erbrechtlich gesichert ist. Entsprechend der Stellung als Burgherr und dem Selbstverständnis eines Reichsritters tritt er den von ihm Abhängigen in den umgebenden Ländereien gegenüber unter anderem auch in der Funktion eines Patrons auf. Rechenschaftspflichtig sieht sich Götz selber nur gegenüber seinem Gewissen, Gott und dem Kaiser. Die Beziehung zu seinen Bediensteten in der Burg wird von einem eher großfamiliären Gestus geprägt, der durch die einfachen Lebensverhältnisse motiviert wird, die auf Jaxthausen herrschen und an denen hierarchieunabhängig prinzipiell alle Burginsassen zumindest teilweise partizipieren, was Georg im ersten Akt andeutet: »Ich kenne Betten nur vom Hörensagen, in unsrer Herberg ist nichts als Stroh.« (GvB 289) In diesem Zusammenhang lässt sich Schröders Argumentation verstehen: Im Gottfried und Götz ist offensichtlich das Häusliche, Familiäre, Patriarchalische zu einer Welt ausgebreitet worden. Geschichte soll nicht erklärt, sondern erlebbar gemacht werden.129
Die enge Bindung an seine Mitstreiter wird im Folgenden noch genauer analysiert. Die einfachen Bedingungen, unter denen Götz lebt, sind Spiegelbild eines ritterlichen Lebensstils, der sich luxusfern nur an den zum Überleben notwendigen Anforderungen orientiert und aus diesem Grund in scharfem Kontrast zu dem höfischen Leben steht, das in der Szene I/Im bischöflichen Palast zu Bamberg. Der Speisesaal gezeigt wird.130 Gleichzeitig stiftet das Bewusstsein der einfachen Lebensbedingungen nicht nur in Jaxthausen, sondern auch in der Beziehung zu anderen Gefolgsleuten und Reichsrittern wie Lerse, Franz von Sickingen oder Hans von Selbitz ein Gemeinschaftsgefühl, das für die Treue gegenüber Götz entscheidend ist. Ein wichtiges Kriterium, das Götz im System von Jaxthausen prägt, ist die Gewiss127
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Schröder: Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe. In: Hinck (Hg.): Sturm und Drang. Frankfurt am Main 1989, S. 200. Einer Fragestellung, die auf die Individualitätsproblematik einer Figur des 15./16. Jahrhunderts in einem Drama des späten 18. Jahrhunderts abzielt, widmet sich die interessante Studie von Kemper »Ineffabile«. Schröder: Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe, S. 201f. Den Kontrast von ›ritterlichen‹ und ›höfischen‹ Verhaltensformen betonen Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 28 und Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang.
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heit des Respekts, mit dem ihm seine Gefolgsleute begegnen. Dabei lässt sich die von Kucklick vertretene These anwenden, nach der sich die stratifikatorisch differenzierte Gesellschaft Achtung und Ehre gegenüber dem Reichsritter Götz zeigen sowohl seine Untertanen als auch seine Familie. Götz ist für seine Mitstreiter ein Vorbild an männlich-ritterlicher Tugend,131 was insbesondere im Gespräch mit Bruder Martin im ersten Akt deutlich wird: Martin:
So seid Ihr Götz von Berlichingen? Ich danke dir Gott, daß du mich ihn hast sehen lassen, diesen Mann den die Fürsten hassen, und zu dem die Bedrängten sich wenden. […] Vergeßt mein nicht, wie ich Eurer nicht vergesse. (Götz ab.) Wie mir’s so eng ums Herz ward, da ich ihn sah. Er redete nichts, und mein Geist konnte doch den Seinigen unterscheiden. Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehn. (GvB 288f.)
Bertram misst der Textstelle mit Bezug auf den Erkennungswert des Individuums anhand des Namens folgende besondere Bedeutung zu: Was Götz in der Begegnung mit dem Mönch Martin erfährt, ist unter anderem eine bestimmte Eingliederung des Namens in Diskurse, die unabhängig von der Figur bestehen. […] Er [der Name, M.B.] hängt an Geschichten, die über die Figur hinausreichen.132
Martins Respekt gilt nicht nur den Taten des Ritters, die er vom Hörensagen kennt, sondern vor allem auch der »Tapferkeit und Stärke, der keine Müdigkeit etwas anhaben kann«. (GvB 287)133 In dem Ruf, ein willensstarker Anführer zu sein, steht Götz auch bei den Bauern, die im fünften Akt von seiner militärischen Führungsstärke profitieren wollen. Den auf die Stärke bezogenen militärischen Respekt gegenüber Götz teilen auch seine Widersacher außerhalb des Systems von Jaxthausen. Während der Bischof von Bamberg ihn als »übermütigen und kühnen Ritter«, der ihn »unsäglich molestiert«, (GvB 304) bezeichnet, versucht der Kaiser, Götzens Fähigkeiten zu seinen Gunsten für die Kriege gegen die Türken zu instrumentalisieren: »Ich mögte die Leute [Götz, Sickingen und Selbitz, M.B.] gerne schonen, sie sind tapfer und edel. Wenn ich Krieg führe, müßt ich sie unter meiner Armee haben.« (GvB 332) Auch unter seinen militärischen Gegnern genießt Götz Respekt, wie sich in der Szene Lager der Reichsexekution im dritten Akt zeigt: Hauptmann:
[…] Auch ist unsere gemessene Order ihn in die Enge zu treiben, und lebendig gefangen zu nehmen. Es wird schwer halten, denn wer mag sich an ihn machen?
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Der Vorbildcharakter wird auch bei Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 163 hervorgehoben. Georg W. Bertram: Philosophie des Sturm und Drang. Eine Konstruktion der Moderne. München 2000, S. 90. Auf die Interaktion zwischen Götz und Bruder Martin geht Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 110f. verstärkt ein, der in Götz »Züge eines christlichen Heilsbringers« hervorhebt. (Ebd.). Auch bei Schröder: Individualität und Geschichte im Drama des jungen Goethe, S. 200, wird die Begegnung gesondert analysiert, wobei Schröder die »beinahe religiöse Verklärung« betont. Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 192f., sieht in der Klosterbruderszene den Beginn »der Entfaltung der Geniethematik«. Vgl. ebd. Martins Problematisierung des Freiheitsbegriffs rückt Kemper: »Ineffabile«, S. 63f., ins Zentrum der Überlegung.
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Erster Offizier:
Freilich! Und er wird sich wehren wie ein wildes Schwein. Überhaupt hat er uns sein lebenlang nichts zu leid getan, und jeder wird’s von sich schieben Kaiser und Reich zu gefallen Arm und Bein dran zu setzen. (GvB 333f.)
Im Vergleich der angeführten Respektsbekundungen durch beiderseits Gleichgesinnte und Widersacher wird deutlich, dass sich Götz die Achtung der anderen Figuren insbesondere durch seine physische Präsenz und seine militärische Erfahrung zusichert. Beide Bereiche zählen zu den tradierten Mustern einer ritterlichen ›Männlichkeit‹, die sich ihrer Stärke und Wehrhaftigkeit gewiss sein kann. Eiserne Hand und eiserner Wille: Physis und Psyche im Zeichen der Stärke Die unmittelbare Verbindung von Kampf und Körperlichkeit manifestiert sich in Götz selber, indem er – wie Bruder Martin im ersten Akt enthüllt – in einem Gefecht seine rechte Hand verlor, die ihm durch eine eiserne Prothese ersetzt wurde. Die Prothese galt bereits zu Lebzeiten des historischen Götz als manuelle Meisterleistung der frühneuzeitlichen Mechanik. Sie bildet sowohl für den historischen als auch für Goethes Götz die Voraussetzung dafür, dass die Stärke der Figur mit der Prothese weiterhin besteht und durch das medizinische Artefakt zusätzlich an Sagenhaftem gewinnt: Die Verletzung wird zum unverkennbaren Symbol des buchstäblich ›eisernen Willens‹, der ritterlichen Entschlossenheit und der übermenschlichen – weil maschinenähnlichen – Stärke der Götz-Figur.134 Allerdings ist die eiserne Hand nicht das einzige Emblem der Stärke, durch die entscheidende physische Grundlagen seines Männlichkeitsentwurfes versinnbildlicht werden. Wiederholt wird seine Rüstung durch ihn und andere Figuren thematisiert. Die eiserne Hand und die Rüstung lassen Götz in einem gepanzerten Soldatenkörper auftreten, der nach Lothar Böhnisch eine zweifache Funktion erfüllt, die auf die ›Männlichkeit‹ des Soldaten Einfluss nimmt: Der durch die Rüstung geschützte Soldatenkörper dient als Grundlage eines maskulin-aggressiven Dominanzgebarens nach außen sowie zur Abwehr externer Einflüsse und damit dem Schutz des maskulinen (emotionalen) Inneren.135 Götzens versehrter Körper erinnert ihn folglich immer wieder an seine ritterliche Vergangenheit und die damit verbundenen Kampfeinsätze. Die Götz-Forschung verfolgt jedoch in der Deutung der eisernen Hand unterschiedliche Interpretationslinien: Während Luserke und Hinderer die Aspekte der »Versehrtheit und Verletzlichkeit« stark betonen,136 findet sich bei Graham die These, dass durch die Versehrtheit der 134
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Die »übermenschliche« Schilderung durch Bruder Martin betont Karthaus: Sturm und Drang, S. 95, gezielt. Auch Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 118f., hebt die Bedeutung der Hand mit Bezug auf die Stärke hervor und bezeichnet sie im Rekurs auf die Lebensbeschreibung Herrn Götzens von Berlichingen als »männlichheroisches Werkzeug«. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 111. Vgl. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 111f. sowie Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 38f., Bernhard Sowinski, Reinhard Meurer (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Götz von Berlichingen. München 1997, S. 83ff., Ilse A. Graham: Vom Urgötz zum Götz: Neufassung oder Neuschöpfung? Ein Versuch morphologischer Kritik. In: Martini u. a. (Hg.): Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. 9. Jahrgang. Stuttgart 1965, S. 247ff.
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Hand der (vor allem emotionale) Kontakt zur Außenwelt nicht mehr möglich sei.137 Die ausschließlich auf defizitäre Aspekte abhebenden und in der jüngeren Götz-Forschung dominierenden Ansätze unterschätzen jedoch, dass die Versehrtheit – im Gegensatz zum Major von Tellheim in Lessings Minna von Barnhelm – nicht mit einer Einschränkung der ritterlichen Kampftüchtigkeit verbunden ist. Bruder Martin kommentiert diese Tatsache wie folgt: Martin:
Es war ein Mönch bei uns vor Jahr und Tag, der Euch besuchte, wie sie [die Hand, M.B.] Euch abgeschossen ward vor Landshut, wie er uns erzählte, was Ihr littet, und wie sehr es Euch schmerzte, zu Eurem Beruf verstümmelt zu sein, und wie Euch einfiel, von einem gehört zu haben, der auch nur eine Hand hatte, und als tapferer Reutersmann doch noch lange diente. (GvB 288f.)
Der Körper ist – wie anhand Martins Schilderung transparent wird – Grundlage der ritterlichen Profession, und Götz schöpft vor allem aus der Perspektive Hoffnung, auch mit der Prothese weiterhin ein »tapferer Reutersmann« sein zu können – eine Tatsache, die Luserke als Kennzeichen der Individualität hervorhebt.138 Die zuvor zitierte Textstelle ist im Hinblick auf Götzens Männlichkeitsentwurf äußerst interessant. Nicht nur der Beruf an sich, sondern auch die Weise, wie er ihn ausübt, hat für den Reichsritter Götz Priorität. Das Adjektiv ›tapfer‹ verweist gleichzeitig auf das mögliche Gegenteil, mangelnde Tapferkeit, die dem »verstümmelten« Ritter droht. Die eigentliche Gefahr ergibt sich in Götzens Situation nach der Verletzung nicht etwa aus kurativen bzw. medizinischen Bedenken einer schwerwiegenden Blessur, sondern aus den sozialen Implikationen, die sich daraus ableiten: der Gefahr, zur Passivität gezwungen zu werden. Damit würde Götz einen zentralen Gesichtspunkt seines Männlichkeitsentwurfes, der seine Selbstrechtfertigung aus physisch gestützter Aktivität im militärischen Bereich herleitet, aufgeben müssen: die Eigenbestimmung sowie das Maß an physischer Freiheit, das er in diversen Bereichen des Rittertums – außerhalb des Kampfes beispielsweise auch beim Reiten oder beim Überleben in der Natur – benötigt. Die Prothese wird zu einem Garant der Fortführung seines Lebensstils, wobei sie nur einen Verweis auf den Zusammenhang von Rüstung und Körperlichkeit darstellt. Allerdings besteht ein besonders Kennzeichen der Götz-Figur darin, das ein zuvor beschriebenes Bewusstsein der eigenen körperlichen Versehrtheit sich insbesondere gegen Ende des Textes äußert, indem Götz die 137
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Vgl. Graham: Goethe and Lessing. The Wellsprings of Creation. London 1973, S. 33ff. insbesondere S. 37: »And how could he know a world he has no organ to explore, only to attack?«. Interessant ist dazu der Kommentar Martinis: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 120f. Auch bei Kaiser: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang, S. 204, wird die Hand ausschließlich als Defekt – als »Zeichen seiner fortschreitenden Isolierung« gedeutet. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 112f., sieht die Hand als Symbol der Aufrechterhaltung der Aktivität der Figur, wenngleich die Prothese ihm »dauerhalf die Versehrtheit an Leib und Seele vor Augen führen würde«. Vgl. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 112. Allerdings fügt er hinzu: »Das Handeln ist authentisch, nicht aber die Mittel dazu sind es. Die eiserne Hand ist das Symbol für die Künstlichkeit der Kunst, mit der für ein wahres und echtes Ziel gestritten wird.« (Ebd.). Zweifel an der Erfüllbarkeit der Funktion der »Tatenhand« äußert auch Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 119.
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eingebüßte Freiheit mit der eingebüßten Hand assoziiert: »[…] Sie haben mich nach und nach verstümmelt, meine Hand, meine Freiheit, Güter und guten Namen«. (GvB 386)139 Die eiserne Hand wird somit zum Spiegelbild des Ist-Zustands bei Götz: Durch die ritterliche Aktivität wird sie als Garant für Freiheit, durch die erzwungene Passivität zum Symbol der Einschränkung von Freiheit offenbar.140 Ein weiterer entscheidender Teil der Rüstung Götzens ist der Harnisch, den Bruder Martin im ersten Akt bewundernd thematisiert: Götz: Was seht Ihr mich so an, Bruder? Martin: Daß ich in Euren Harnisch verliebt bin. Götz: Hättet Ihr Lust zu einem? Es ist schwer und beschwerlich ihn zu tragen.
[…] Wäre Euer Gelübde nicht so heilig, ich wollte Euch bereden einen Harnisch anzulegen, wollt Euch ein Pferd geben, und wir zögen mit einander. Martin: Wollte Gott, meine Schultern fühlten sich Kraft, den Harnisch zu ertragen, und mein Arm die Stärke, einen Feind vom Pferd zu stechen! (GvB 286f.)
Luserke sieht die Interaktion zwischen Götz und Martin als Spiegelbild der Auseinandersetzung mit der Aufklärungskritik, indem »Martin das religiöse Programm der Selbstbändigung der menschlichen Natur und Leidenschaften verkörpere« und »Götz dessen konsequente Destruktion vor Augen führe«.141 Abgesehen von den Desideraten, die der durch das Leben in Enthaltsamkeit geprägte Bruder Martin im Stillen hegt, ist seine Fremdwahrnehmung mit Bezug auf Götz entscheidend: Die physische Kraft und Wehrhaftigkeit der Figur wird an dieser Stelle beinahe apotheosenhaft hervorgehoben und zu der eigenen Situation Martins in Kontrast gesetzt. Götz wird dabei deutlich als Repräsentant einer ›hegemonialen‹ Form von ›Männlichkeit‹ wahrgenommen. Die Bewunderung des Harnischs als Teil der ritterlichen Rüstung lässt sich vor diesem Hintergrund als Bestreben Martins werten, an dem durch Götz versinnbildlichten ›hegemonialen‹ Männlichkeitsentwurf zu partizipieren. Respekt und Bewunderung dienen dabei als die auf Götz projizierten Motivationsgrundlagen, währenddessen Sehnsucht nach Abenteuer und Tatendrang die intrinsischen Komponenten der Wunschvorstellungen Martins bilden. Die eiserne Hand und der Harnisch sind als Attribute eines kampfbereiten Mannes jedoch nicht nur auf Angriff, sondern vor allem auch auf die Verteidigung des männlichen Körpers ausgerichtete Teile der Rüstung, die den von Böhnisch beschriebenen gepanzerten Soldatenkörper142 schützen sollen. Allerdings wird in der angesprochenen Szene mit Bruder Martin auch eine weitere Komponente der eisernen Hand deutlich: Wenngleich sie Götz auch weiterhin ermöglicht, als Ritter aktiv zu werden, so büßt er mit ihr doch zumindest auf der rechten Seite jegliche Art der affektiven Sensibilität ein, da sie »gegen den Druck der Liebe unempfindlich« (GvB 288) ist. Gesteigerte maskuline Wehrhaftigkeit im Kampf geht in der Selbstwahrnehmung der Figur 139 140
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Auf die Assoziationskette weist auch Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 39, hin. Zur Bedeutung des Freiheits-Begriffs für Götz vgl. Kaiser: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang, S. 202f. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 110. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 111.
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zwingend einher mit der Einbuße affektiver Komponenten des Mannes. Die Opposition zwischen physischen und emotionalen Fähigkeiten soll an dieser Stelle der Analyse noch zurückgestellt und im Kontext ›Götz im System der Intimität‹ näher behandelt werden. Ein zweiter wesentlicher Faktor, auf den sich Götzens Männlichkeitsentwurf stützt, ist neben der physischen Robustheit auch die unerschütterliche Überzeugung, mit der er als Reichsritter seine Unabhängigkeit legitimiert. In der Szene I/Jaxthausen. Götzens Burg sind es vor allem diese Tugenden, die er im Gespräch mit Weislingen wiederholt betont: Götz:
[…] Bist du nicht eben so frei, so edel geboren als einer in Teutschland, unabhängig, nur dem Kaiser untertan […] Verkennst den Wert eines freien Rittersmanns, der nur abhängt von Gott, seinem Kaiser und sich selbst, verkriechst dich zum ersten Hofschranzen eines eigensinnigen neidischen Pfaffen. […] Ich bin euch ein Dorn in den Augen, so klein ich bin, und der Sickingen und Selbitz nicht weniger, weil wir fest entschlossen sind zu sterben eh, als die Lust jemanden zu verdanken, außer Gott, und unsere Treu und Dienst zu leisten, als dem Kaiser. (GvB 297ff.)
Luserke betont in diesem Zusammenhang die »durchaus geschlechtsspezifisch[e]«143 Komponente der Textstelle. Die Rechenschaftspflicht, die Götz nur »Gott, dem Kaiser und sich selbst« gegenüber bindet, impliziert die Nicht-Anerkennung weiterer Autoritäten außerhalb der genannten.144 Willems gelingt es überzeugend, den von Götz zitierten Freiheitsbegriff wie folgt zu beschreiben: An dieser Stelle hat der Begriff ›Freiheit‹ jedoch eine ganz andere Bedeutung. Er bezeichnet eine Rechtsstellung. Freiheit ist eine Qualität, die, wie das Adelsprädikat, mit der Geburt erworben wird. Sie bezeichnet das »Fehlen der nur aus patrimonialen Beziehungen ableitbaren regelmäßigen Aufgabenpflicht« und »den Freiwilligkeitscharakter der Leistungen für den Herrscher«.145
Die Konsequenzen, die Götz daraus ableitet, setzten nicht nur ihn und seine ritterliche Welt, sondern auch seinen Männlichkeitsentwurf, den er als Teil dieser Welt ebenso als unanfechtbare Autorität versteht, einem ständigen Wettbewerb mit Vertretern der von ihm verachteten ›höfischen Welt‹ aus. Ein interessanter Verknüpfungspunkt eröffnet sich diesbezüglich mit der Figur Adelbert von Weislingen, die unter Abschnitt 4.3.3 genauer untersucht werden soll. Interessant ist an dieser Stelle, dass sowohl die von Götz im Gespräch mit Georg geäußerte Eigenwahrnehmung: »Die künftigen Zeiten brauchen auch Männer« (GvB 285) als auch die höhnische Warnung an die Bürger im Rathaus im vierten Akt: »Kommt! Kommt! Es wäre mir angenehm den tapfersten unter euch kennen zu lernen« (GvB 360) seinen Widersachern indirekt oder direkt das Prädikat ›männlich‹ im Sinne einer auf Mut und Entschlossenheit aufbauenden, ritterlichen ›Männlichkeit‹ abspricht. Sehr stark wird in diesen Szenen transparent, dass Götzens männliches Selbstkonzept sich innerhalb 143 144 145
Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 112. Vgl. Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 29. Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 153f. Vgl. auch Kemper: »Ineffabile«, S. 46ff.
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des Systems der Reichsritterschaft durch eine möglichst enge Orientierung an den ritterlichen Normen herleitet. Im Rekurs auf die von Connell vertretenen Thesen zur ›hegemonialen Männlichkeit‹ muss im spezifischen Fall bei Götz davon ausgegangen werden, dass er eine Form ›männlicher‹ Hegemonie ausschließlich im System des Rittertums verankert sieht. Das Idealbild eines Reichsritters entspricht dem Konzept von ›Männlichkeit‹, das Götz überhaupt erst als solches anerkennt. Götzens Männlichkeitsentwurf erweist sich im Sinne des von Connell beschriebenen Ansatzes nur im System des Rittertums, das in Jaxthausen besteht, als uneingeschränkt ›hegemonial‹. Die Spitze der maskulinen Hierarchie besetzt er im Bereich der Macht- und Produktionsbeziehungen als Burgherr, der sich seinen Untertanen gegenüber verantwortlich fühlt. Die emotionalen Bindungsstrukturen weisen Götz gegenüber seiner Familie vor allem protektive Funktionen zu. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, das ein eventuelles Konfliktpotenzial, das seinen ›hegemonialen‹ Männlichkeitsentwurf in Jaxthausen herausfordern könnte, sich am ehesten im Bereich der emotionalen Bindungsstrukturen und dabei konkret in der Bewertung des Rittertums durch Maria sowie den Vergleich zwischen Vater (Götz) und Sohn (Carl) manifestiert, was unter dem Gesichtspunkt ›Götz im System der Intimität‹ noch genauer analysiert werden soll. Unangefochten zeigt sich der Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ dagegen in den ersten beiden genannten Bereichen: Zu stark ist die physische Präsenz der Figur, als dass sie von einem systemimmanenten Konkurrenten herausgefordert werden könnte. Allerdings sind die physische Stärke und die Unabhängigkeit zwar wichtige, aber nicht die einzigen Komponenten des Anspruchs auf ›hegemoniale Männlichkeit‹. »Ein tapferer Reutersmann«: ›Rittertum‹ und ›Männlichkeit‹ Götzens Männlichkeitsentwurf orientiert sich darüber hinaus vielmehr an einer Reihe habitualisierter Codes, die er als Grundlagen der ritterlichen Ehre anerkennt. Die Legitimation des Dominanzanspruches leitet sich für Götz in Jaxthausen unter gender-analytischen Aspekten aus einer Überblendung der beiden von Holter beschriebenen, zuvor zitierten Theorieansätze her. Elemente der ›direkten Geschlechtshierarchie‹ werden von Elementen der ›Theorie der strukturell bedingten Ungleichheit‹ begleitet. In seiner vermeintlich einfachen Feststellung: »Die künftigen Zeiten brauchen auch Männer« (GvB 285) wird diese Überblendung deutlich: Männer, die sich auf einen Männlichkeitsentwurf berufen können, der Götzens Vorstellungen eines Reichsritters entspricht, würden dem Zitat nach gesellschaftlichstrukturelle Schlüsselpositionen besetzen, die sich aus einer männlichkeitsinhärenten Idoneität herleiten. Dem Besorgnis der Götz-Figur, dass eine längere Kampfabstinenz dazu führen könnte, das »Fechten« zu verlernen, entgegnet Sickingen in IV/ Ein großer Saal auf dem Rathaus: »Der Mut verlernt sich nicht, wie er sich nicht lernt.« (GvB 362f.) Der Mut als grundlegendes Kennzeichen des Männlichkeitsentwurfes wird somit aus Sicht der Ritter als geschlechtsinhärentes Kriterium klassifiziert, das dem An173
forderungskatalog an die von Götz repräsentierte ›hegemoniale‹ Form der ›Männlichkeit‹ entspricht. Die implizite Anforderung setzt jedoch auch für andere Götz umgebende Figuren die Kenntnis und den Respekt der ritterlichen Verhaltensnormen voraus. Diese Codes werden allerdings im Laufe des Textes wiederholt gebrochen; das System des Rittertums existiert bereits zu Lebzeiten Götzens nicht mehr als homogenes Ganzes: Ein wesentliches Charakteristikum des Textes besteht nach Karthaus in der Tatsache, dass sowohl Vertreter des Schwert- als auch des Hofadels darin auftreten146 und in den jeweiligen Machtkonstellationen vorgestellt werden. Dabei wird deutlich, dass die Bindung an ritterliche Etikette für Götz als Vertreter des Schwertadels eine tiefgreifendere Bedeutung besitzt als für Weislingen, der als Vertreter des Hofadels auftritt. Die Aufforderung an Weislingen zu einem per Handschlag besiegelten Treueschwur dient dafür als ein konkretes Beispiel: Götz:
[…] Dem sei wie ihm wolle, Adelbert, Ihr seid frei, ich verlange weiter nichts als Eure Hand, daß Ihr inskünftige meinen Feinden weder öffentlich noch heimlich Vorschub tun wollt. Weislingen: Hier faß ich Eure Hand. Laßt von diesem Augenblick an Freundschaft und Vertrauen gleich einem ewigen Gesetz der Natur unveränderlich unter uns sein. (GvB 306f.)
Die mit dem Bereich der ›Freundschaft‹ verbundenen Aspekte der zitierten Passage werden zunächst bewusst zurückgestellt, um stärker auf Götzens Bezug zu einem ritterlichen Wertesystem einzugehen: Für Götz ist dieses Versprechen bindend; erste Zweifel, ob für Weislingen das Gleiche gilt, äußert er im Gespräch mit Selbitz im zweiten Akt: »Glaubst du daß er bundbrüchig werden wird?« (GvB 306) Nachdem er endgültig Gewissheit über den Verrat Weislingens erlangt, resigniert er: »Es ist genug! Der wäre nun auch verloren! Treu und Glaube du hast mich wieder betrogen.« (GvB 325) McInnes hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die persönliche Erfahrung der Unvereinbarkeit des eigenen mit dem Wertesystem Weislingens für Götz offenbar größere Bedeutung trägt als die möglichen und mit Gefahren verbundenen Implikationen auf politischem Gebiet: Es ist auch bemerkenswert, daß sich Götz kaum der politischen Tragweite von Weislingens Verrat bewußt ist. Eher wird er von dem Schmerz überwältigt, daß er seinen Jugendfreund verliert, der auch sein Schwager hätte werden sollen.147
Ein weiterer dezidiert ritterlicher und für Götzens Männlichkeitsentwurf wichtiger Code, der über den Treueschwur hinaus gebrochen wird, ist der Zustand des ›ritterlichen Gefängnisses‹, das die kaiserlichen Räte Götz in der Szene IV/Rathaus nicht zugestehen wollen: Rat: Und doch haben wir gemessene Ordre Euch […] in den Turn zu werfen. Götz: In Turn! Mich!
[…] 146 147
Karthaus: Sturm und Drang, S. 90. Edward McInnes: Moral, Politik und Geschichte in Goethes Götz von Berlichingen. In: Werner Besch u. a. (Hg.): Zeitschrift für Deutsche Philologie. Band 103. Sonderheft 1984, S. 6.
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In Turn! Ihr mißbraucht die kaiserliche Gewalt. In Turn! Das ist sein Befehl nicht. Was! mir erst, die Verräter! eine Falle stellen, und ihren Eid, ihr ritterlich Wort zum Speck drin aufzuhängen! Mir dann ritterlich Gefängnis zuzusagen, und die Zusage wieder brechen. Rat: Einem Räuber sind wir keine Treue schuldig. Götz: Trügst du nicht das Ebenbild des Kaisers, das ich in dem gesudeltsten Konterfei verehre, du solltest mir den Räuber fressen oder dran erwürgen. (GvB 359)
Die Schwierigkeiten entstehen in dem Moment, als Götz Jaxthausen verlässt. Versinnbildlicht wird dies dadurch, da der Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert im deutschen Sprachgebiet durch die Einführung des ›Landfriedens‹ eine entscheidende Etappe im Niedergang des Rittertums darstellt, dem seit dem Wormser Reichstag von 1495 mit dem Fehdewesen die Rechtsgrundlage entzogen wird. Die Unvereinbarkeit der Bereiche ›Rittertum‹ und des neu eingeführten ›Allgemeinen Rechts‹ bzw. des ›Allgemeinen Landfriedens‹148 wird in der zuvor zitierten Szene ebenso offenbar wie die Tatsache, dass die Aspekte, die als hinreichende Voraussetzung für ›hegemoniale Männlichkeit‹ im System des Rittertums gelten – Stärke, Verlässlichkeit und Ehre – für Götz im neuen, durch die Verkündung des ›Allgemeinen Landfriedens‹ bestimmten System keine Entsprechung finden. Der männlich-hegemoniale Reichsritter wird zum männlichen Gesetzlosen, zu einem ›Räuber‹, der sich jenseits des geltenden Rechts bewegt. Die Tatsache, dass Götz die drohende Gefangenschaft sowohl unter Berufung auf seine überlegene Physis: »[…] Wer kein Ungrischer Ochs ist, komm mir nicht zu nah« (GvB 360) als auch durch externe Hilfe durch Sickingen, der das Rathaus umstellt hat, abwenden kann, täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass er innerhalb des neuen Rechtssystems unterlegen ist. Das tragische Ende der Titelfigur wird hier bereits antizipiert und einzig durch einen Einbruch der alten Tradition des Faustrechts – vor allem durch die Hilfe Sickingens – aufgeschoben. In diesem Zusammenhang wird besonders deutlich, dass Götz und die Vertreter des kaiserlichen Gerichts sich auf unterschiedliche kommunikative Codes berufen und diese in der Verhandlung anwenden. Karthaus sieht darin folgendes Charakteristikum des Textes: Indem Götz das alte Faust- und Fehderecht übt, verkörpert er alte deutsche Traditionen. Das Drama ist, so gesehen, eine nationale Dichtung, auch in der patriarchalischen Lebensweise, die Götz im Umgang mit seinen Knechten übt, vor allem aber in der Sprache, die er spricht.149 148
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Zur Einführung des ›ius commune‹ und den Implikationen für Götz in Deutschland vgl. Karthaus: Sturm und Drang, S. 93, Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 46f. sowie mit Schwerpunkt auf dem Zusammenhang von ›Recht‹ und ›Moral‹ Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 158ff. Außerdem Sowinski, Meurer (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Götz von Berlichingen, S. 78f. und McInnes: Moral, Politik und Geschichte in Goethes Götz von Berlichingen, S. 11f. Eine eher staatsphilosophisch intendierte Studie, die den Text in der Auseinandersetzung zwischen politischen Wandlungsprozessen und Konzepten ›individueller Freiheit‹ lokalisiert, findet sich bei Ferdinand van Ingen: Aporien der Freiheit: Goethes ›Götz von Berlichingen‹. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Verlorene Klassik? Tübingen 1986, insbesondere S. 8ff. Goethes Auseinandersetzung mit dem Wormser Reichstag betont Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 106. Karthaus: Sturm und Drang, S. 94.
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Anhand der entsprechenden Verhörszene lässt sich nachvollziehen, wie die Bedürfnisse nach Individualität und Unabhängigkeit in Götz verschmelzen; der sich selber nicht als ›Rebell‹ gegen den Kaiser versteht, wiewohl er als ›Rebell‹ gegen geltendes Reichsrecht – oder mit einem Zitat von Hinderer – als »konservativer Reaktionär«150 handelt: Schreiber:
Ich Götz von Berlichingen bekenne öffentlich durch diesen Brief. Daß da ich mich neulich gegen Kaiser und Reich rebellischer Weise aufgelehnt – Götz: Das ist nicht wahr. Ich bin kein Rebell, habe gegen Ihro Kaiserliche Majestät nichts verbrochen, und das Reich geht mich nichts an. Rat: Mäßigt Euch und hört weiter. Götz: Ich will nichts weiter hören. Tret einer auf, und zeug! Hab ich wider den Kaiser, wider das Haus Österreich nur einen Schritt getan! (GvB 358f.)
Götz deutet die Anschuldigung der ›rebellischen Auflehnung‹ als Treuebruch gegenüber dem Kaiser, den er bestreitet. Er erweist sich in diesem Zusammenhang als unfähig und unwillig, die veränderten Gesetzeskonstellationen zu akzeptieren, die er allesamt mit den juristischen Angelegenheiten, die das Reich betreffen, ablehnt.151 Dabei ist es gerade dieses starre Beharren auf die eigene Unabhängigkeit, durch das er sich in den Augen der kaiserlichen Räte in den Verdacht der ›Rebellion‹ manövriert und mithilfe seines Mitstreiters Franz von Sickingen letztlich tatsächlich rebelliert. Das Ergebnis ist eine immer deutlichere Züge annehmende Isolation der Figur:152 Isoliert erscheint Götz im Angesicht der kaiserlichen Räte, als isoliert wird seine Vorstellung des ritterlichen Fehdewesens ausgewiesen, in die Isolation der Urfehde wird er nach der Verhandlung gezwungen.153 Als isolierte Figur zeichnet ihn Goethe am Ende des vierten Aktes, indem Götz als gezwungenermaßen domestizierter Ritter Lanze und Harnisch gegen Papier und Tintenfass eintauscht und an seinen eigenen Memoiren zu schreiben beginnt. Vor dem Gegensatz der uneingeschränkten und vor allem unangefochtenen Macht in Jaxthausen und der Hilflosigkeit gegenüber dem kaiserlichen Gericht in Heilbronn bleibt Götz letztlich nur die Möglichkeit, die Urfehde zu leisten und – wie in der Szene Jaxthausen am Ende des vierten Aktes deutlich wird – in die Passivität zurückzukehren. Er erweist sich allerdings als inkompatibel mit der ihm zugedachten Rolle als Müßiggänger: 150
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Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 29. Auch bei Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 106, findet sich eine vergleichbare Formulierung: »Zwar ist Götz, der Freund der Bedrängten und Ausgebeuteten, auch ein Rebell – aber er ist ein Rebell um einer alten, vergangenen, ihm gerechter und freier dünkenden Ordnung willen, ein Rebell aus Konservativismus, wie er ständisch dem Reichsritter ansteht«. Vgl. auch Lamport: The Charismatic Hero, S. 79. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 113, kommentiert dieses Kennzeichen als »zunehmende[n] Realitätsverlust« der Figur. Vgl. auch McInnes: Moral, Politik und Geschichte in Goethes Götz von Berlichingen, S. 15. Vgl. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 114f. Die Bedeutung der Isolation wird auch von Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 122f., betont. Die Tatsache, dass die Urfehde auf Götz als ›Provokation‹ wirken muss, hebt Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 157, hervor.
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Götz:
Der Müßiggang will mir gar nicht schmecken, und meine Beschränkung wird mir von Tag zu Tag enger, ich wollt ich könnt schlafen oder mir nur einbilden die Ruh sei was angenehmes. Elisabeth: So schreib doch deine Geschichte aus die du angefangen hast. […] Götz: Ach! Schreiben ist geschäftiger Müßiggang, es kommt mir sauer an. Indem ich schreibe was ich getan habe, ärgere ich mich über den Verlust der Zeit in der ich etwas tun könnte. (GvB 367)
Indem Götz seine eigene Geschichte aufschreiben soll, läuft er Gefahr, sich selber zu einer historischen Figur zu reduzieren, da er durch den fiktionalisierten Vergangenheitsbezug seine Einflussnahme auf die Gegenwart aufgibt. In diesem Sinne kann Niefangers These verstanden werden: Er bekennt sich damit nicht zur Selbstlosigkeit seines Tuns, sondern zur Stilisierung seiner eigenen Gestalt. Von ›Individualität‹ kann hier nicht geredet werden. Zu deutlich manifestiert sich das Bemühen, eine Rolle zu erfüllen und so wenigstens den Namen eines Ritters zu gewinnen.154
Die Replik Götzens auf den Vorschlag seiner Frau lässt auf die von Kilian beschriebene »synchrone Ebene der Identitätsgestaltung«155 einer männlichen Figur schließen, die sie mit dem Begriff ›Kohärenz‹ bezeichnet. Dabei löst der den Schreibprozess begleitende Vergangenheitsbezug bei Götz einen gesteigerten Drang nach ›Kohärenz‹ im Sinne Kilians aus; die Zeit, in der er »etwas tun könnte« – wie es im Text heißt – ist für Götz verlorene Zeit, so er sie nicht mit ritterlichen Taten erfüllen kann. Niefangers Feststellung, die eiserne Prothese symbolisiere »die Tat und nicht die Schrift«156 spiegelt diese Inkompatibilität wider. Götzens Männlichkeitsentwurf lehnt jene Form der ›Kontinuität‹ ab, die sich nicht mit dem Anforderungskatalog an einen primär physisch geforderten Ritter vereinbaren lässt. Verstärkt wird diese Tendenz durch den Rückzug auf seine Burg. Jaxthausen dient Goethe an dieser Stelle als deiktisches Element der Vergangenheit, wobei Götz selbst seine eigene Burg in dem Moment »von Tag zu Tag enger« wird, da er seine ritterliche Entscheidungsfreiheit, seine Selbstbestimmung, einbüßen muss. In diesem Sinne ist die Enge, die er in dem zuvor genannten Textauszug beklagt, durchaus auch räumlich zu verstehen. Götz wirkt in geschlossenen Räumen wie ein wildes Tier in einem Käfig. Diese kühne These belegt der Text – über seinen zuvor zitierten, wütenden Auftritt im Rathaus von Heilbronn hinaus – in mehreren Szenen insofern, als Götz sich gerade in den Augenblicken, in denen er sich frei, selbstbestimmt und damit in seinem Männlichkeitsentwurf losgelöst von externen Einflüssen fühlt, durchweg in offenen Räumen der Natur befindet.157 Das Zusammenwirken von physischen und ideellen Aspekten als Grundlage der Selbstbestimmtheit, die sich in Götz zeigt, betont Karthaus: 154 155 156 157
Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der frühen Neuzeit: 1495–1773. Tübingen 2005, S. 384f. Vgl. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78. Niefanger: Geschichtsdrama der frühen Neuzeit, S. 384. Nach Nadja El-Dandoush: Leidenschaft und Vernunft im Drama des Sturm und Drang. Dramatische als soziale Rollen. Würzburg 2004, S. 70, werden »Freiheit und Sinnlichkeit […] als Zeichen für die Vitalität des Menschen entdeckt«.
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Freiheit ist Autarkie – Unabhängigkeit – und Autonomie – Leben nach eigenen Gesetzen. Seine kriegerische Tüchtigkeit und seine körperliche Kraft machen jene personalen Qualitäten nach außen hin sinnlich faßbar.158
Es ist darüber hinaus kein Zufall, dass Götz den Kampf gegen das Heer der Reichsexekution trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit über weite Strecken ausgeglichen, teilweise sogar siegreich gestalten kann, indem er sich die natürlichen Gegebenheiten des Geländes zunutze macht. In der Natur entfaltet sich die Stärke der Figur; in einer Situation der schnellen, überlegten Entscheidungen und der physisch betonten Handlungen. Die Szenen in den geschlossenen Räumlichkeiten in Jaxthausen, die vor seiner Urfehde liegen, zeigen ihn nur in der Funktion des Ritters, der von seinen Streifzügen abends heimkehrt, um jedoch sofort wieder neue Pläne zu fassen, die ihn erneut in offene Räume treiben. Jaxthausen ist demnach nur ein deiktisches Zwischenstadium, in dem Götzens Männlichkeitsentwurf sich nicht neu definiert, sondern kurzweilig zur Ruhe kommt, um daraufhin neue Bestätigung in der Wildnis zu suchen. Am Ende des vierten Aktes ist die Situation grundlegend verändert: Jaxthausen wird durch die geleistete Urfehde zum letzten Refugium des Ritters, der sich eingestehen muss, Macht und Einfluss außerhalb seines direkten Wirkungsbereiches eingebüßt zu haben, und dem die Perspektive für die Wiederaufnahme seines ritterlichen Lebensstils fehlt. Ein Männlichkeitsentwurf, der bislang seine Selbstlegitimation aus einem starken Bewusstsein der eigenen Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit bezogen hatte, soll plötzlich durch Fremdeinfluss zu einem domestizierten Autobiographen werden, der eben jenen Lebensentwurf, den er bis vor kurzem glühend zu verteidigen entschlossen war, nur noch retrospektiv betrachten kann. Dass er in einem ausschließlich auf Reflexion ausgerichteten Lebensstil keine Genugtuung empfinden kann, verdeutlicht er bereits im ersten Akt im Gespräch mit Weislingen: »Kein Wort mehr davon, ich bin ein Feind von Explikationen, man betrügt sich oder den andern, und meist beide.« (GvB 299) In der textinternen Entwicklung der Figur stellt das Ende des vierten Aktes insofern ein Zwischenstadium dar, als die Bindung an die Urfehde noch deutlicher als zuvor hervorhebt, wie stark Götzens Männlichkeitsentwurf an die Parameter der körperlichen Präsenz in heiklen Situationen, des Lebens in der freien Natur sowie der eigenbestimmten Aktivität gebunden ist. Diesbezüglich bietet erst der fünfte Akt durch die Forderung der Bauern, ihn als Anführer zu instrumentalisieren, für Götz scheinbar die Gelegenheit zur Reaktivierung seiner männlichen Aktivität. Allerdings wird sehr schnell erkennbar, dass ein nichtritterlicher Kampf – oder eine Auseinandersetzung, die ohne Legitimation mit Methoden geführt wird, die dem System der Ritterschaft widersprechen – für Götz nicht akzeptierbar sein können: Götz: Was wollt ihr mit mir? Kohl: Ihr sollt unser Hauptmann sein. Götz: Soll ich mein ritterlich Wort dem Kaiser brechen, und aus meinem Bann gehen. Wild: Das ist keine Entschuldigung.
158
Karthaus: Sturm und Drang, S. 96. Vgl. Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 153f.
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Götz:
Und wenn ich ganz frei wäre, und ihr wollt handeln wie bei Weinsperg an den Edlen und Herrn, und so fort hausen wie ringsherum das Land brennet und blutet, und ich sollt euch behülflich sein zu eurem schändlichen rasenden Wesen, eher sollt ihr mich tot schlagen wie einen wütigen Hund, als daß ich euer Haupt würde. (GvB 371f.)
Die Ritterlichkeit, an die sich Götzens Männlichkeitsentwurf entscheidend knüpft, tritt an dieser Stelle in den Vordergrund: Ebenso entschieden, wie Götz die Passivität ablehnt, ist für ihn ein ritterlicher Kampf undenkbar, der sich nicht mit den aus seiner Sicht grundlegenden Prinzipien – Ehrenhaftigkeit, Angemessenheit und Respekt gegenüber dem Gegner – vereinbaren lässt. Dieser ideelle Aspekt wird von dem Bewusstsein begleitet, gegenüber dem Kaiser sein »ritterlich Wort« gegeben zu haben. Die Tatsache, dass Götz sich letztlich dennoch in den Dienst der Bauern stellt, knüpft er an ein ritterliches Versprechen, das er ihnen abverlangt: Götz:
[…] Wollt ihr abstehen von allen Übeltaten, und handeln als wackere Leute, und die wissen was sie wollen, so will ich euch behülflich sein zu euren Forderungen, und auf acht Tag euer Hauptmann sein. […] Wild: Auf ein viertel Jahr wenigstens mußt du uns zusagen. Stumpf: Macht vier Wochen, damit könnt ihr beide zufrieden sein. Götz: Meintwegen. Kohl: Eure Hand. Götz: Und gelobt mir den Vertrag den ihr mit mir gemacht, schriftlich an alle Haufen zu senden, bei Strafe ihm streng nachzukommen. Wild: Nun ja! Soll geschehen. (GvB 372)
Dabei ist über die Bindung an den Code eines ›ritterlichen Verhaltens‹ besonders auffallend, mit wem Götz den auf den Handschlag beruhenden Vertrag eingeht: Er geht davon aus, dass das gegebene Wort für die Bauern ebenso verbindlich ist wie für ihn selber. Die Tragik der Figur erwächst folglich auch aus der fehlerhaften Einschätzung der Realität, wobei die Duplizität der Ereignisse im Vergleich zu dem ebenfalls durch einen Handschlag besiegelten Treueschwur zwischen Götz und Weislingen am Ende des ersten Aktes unübersehbar ist: Götzens Problem besteht in entscheidenden Situationen darin, dass er seinen Männlichkeitsentwurf und die daran geknüpften Anforderungen verabsolutiert – oder, anders formuliert – dass es ihm wiederholt nicht gelingt, sich der soziokulturellen Wandlungsprozesse, die ihn umgeben, hinreichend bewusst zu werden. In dem Moment, als er versucht, mit Außenstehenden unter Zuhilfenahme der Semantik des Rittertums (Treue gegenüber den Kameraden, Ehre gegenüber einem Reichsritter, Bindung an ein gegebenes Versprechen) in Kontakt zu treten, muss er scheitern, da der Code, den er als selbstverständlich voraussetzt, für seine Interaktionspartner keine Bindung besitzt. Wie Weislingen geben ihm auch die kaiserlichen Räte ihr Versprechen, in diesem Fall auf ›ritterlich Gefängnis‹, um ihn dadurch zum Prozess nach Heilbronn zu überreden. Wie Weislingen werden auch sie wortbrüchig. Vor diesem Hintergrund mag es erstaunen, dass Götz sich im fünften Akt zum dritten Mal auf ein Versprechen von Figuren einlässt, die deutlich keine Bindung an den Tugendkatalog des Rittertums aufweisen, – ein Hinweis dafür findet sich bereits in den sprechenden Namen Metzler, Stumpf, Kohl und Wild. Eine mögliche Erklärung mag 179
sich aus dem Druck ergeben, den die Bauern auf Götz ausüben. Allerdings ist die physische Überlegenheit Götzens – wie auch anhand seiner Äußerungen im folgenden Textabschnitt erkennbar wird – so deutlich, dass der Zwang als alleiniges Kriterium nicht überzeugend wirkt. Der endgültige Bruch zwischen Götz und den revoltierenden Bauern in der Szene Bei einem Dorf des fünften Aktes hebt die gegensätzlichen Positionen hervor: Götz: Wer verbrannte Miltenberg? Metzler: Wenn Ihr Umstände machen wollt, so wird man Euch weisen wie man keine
macht. […] Drohst du mir. Du Nichtswürdiger. Glaubst du daß du mir fürchterlicher bist (zu Metzler) weil des Grafen von Helfenstein Blut an deinen Kleidern klebt. Metzler: Berlichingen! Götz: Du darfst meinen Namen nennen und meine Kinder werden sich dessen nicht schämen. Metzler: Mit dir feigen Kerl! Fürstendiener. Götz (haut ihm über den Kopf daß er stürzt. Die andern treten dazwischen). (GvB 376f.) Götz:
Wie bereits in der heiklen Situation im Heilbronner Rathaus im vierten Akt ist es erneut Götzens überlegene Physis, die er gezielt einsetzt, um seine Widersacher in Schranken zu halten. Allerdings vermerkt der Nebentext kurz darauf »Tumult und Schlacht« (GvB 377) – Götz muss fliehen, wird verwundet und findet bei Zigeunern Zuflucht. Die Bezeichnung der entsprechenden Szene V/Nacht, im wilden Wald. Zigeunerlager zitiert sowohl unter Gesichtspunkten der räumlichen und zeitlichen Deixis (»wilder Wald«, »Nacht«) als auch in sozialer Hinsicht Formen des Zusammenlebens, die, systemtheoretisch argumentiert, Ansätzen einer segmentären Differenzierung, dem Zusammenleben in Stammesform, entsprechen. Es ist kein Zufall, dass Götz gerade in diesem Umfeld – nach Martini dem »Lumpenproletariat der Zigeuner«159 – Zuflucht und vor allem Anerkennung findet: Götz: Ich flehe Hülfe von euch. Meine Wunden ermatten mich. Helft mir vom Pferd. Hauptmann: Helf ihm. Ein edler Mann, an Gestalt und Wort. Wolf (leise): Es ist Götz von Berlichingen.
[…] Götz: Kennt Ihr mich? Hauptmann: Wer sollte Euch nicht kennen. Götz unser Leben und Blut lassen wir vor
Euch. (GvB 378f.)
Die Fremdwahrnehmung durch den Hauptmann der Zigeuner (»Ein edler Mann, an Gestalt und Wort«) verdeutlicht das Bewusstsein eines gemeinsamen Codes, der sich trotz der unterschiedlichen Ausgangspositionen (Götz als Reichsritter und der Zigeunerhauptmann als Repräsentant einer segmentären, sublegalen Ordnung) innerhalb der Notsituation ergibt. Der Code wird dadurch erleichtert, dass Götzens Rebellion ihn ebenfalls in einen sublegalen Raum manövriert. Er beruht auf einer bestimmten Form männlichen Charismas – nicht zufällig wählt der Hauptmann die Bezeichnung »ein edler Mann«, die durch »Gestalt und Wort«, folglich durch physische und verbal-psychische Attribute, gestützt wird. Es ist für die prekäre Lage der 159
Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 123.
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Titelfigur bezeichnend, dass Götz als der »edle Mann« nur in einem Zigeunerlager erkannt wird, indem Wolf konstatiert: »Es ist Götz von Berlichingen«.160 Sein Männlichkeitsentwurf gilt in diesem Sinne nur noch in jener Form einer vergangenheitsverhafteten Subkultur als ›edel‹, ›anerkannt‹ und letztlich als potenziell ›hegemonial‹, die sich den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen – wie er selber auch – entzieht. Die Auflösungserscheinung dieser letzten Zuflucht wird von Goethe sowohl durch die Tatsache, dass Götz – verwundet – ohne den schützenden Harnisch in den letzten Kampf reitet, als auch durch die Verzweiflung der Figur Wolf versinnbildlicht: Wolf:
Fort fort! Alles verloren. Unser Hauptmann erschossen. Götz gefangen. (Geheul der Weiber und Flucht.) (GvB 379)
Indem Götz den Harnisch zuvor durch den Feiertagswams des Hauptmanns ersetzt, wird das Attribut kriegerischer maskuliner Wehrhaftigkeit, das noch in der Szene I/Herberge im Wald als Projektionsfläche des Rittertums von Bruder Martin bewundert worden war, gegen ein Artefakt des domestiziert-kriegsfernen Lebens eingetauscht. Götz, der nach dem Angriff auf das Zigeunerlager in den Kampf aufbricht, wobei der Nebentext dezidiert vermerkt: »gürtet sich, und sitzt auf ohne Harnisch«, (GvB 379) ist in dem Feiertagswams ungeschützt dem Kampf ausgesetzt und gerät schließlich in Gefangenschaft. Der Harnisch markiert damit einen textuellen Rahmen der Figur vom ersten zum fünften Akt, wobei das Ablegen dem endgültigen Scheitern Götzens vorausgeht. Seinem beinahe verzweifelten Aufbäumen gegen die Übermacht, das Martini als »tragischen Titanismus«161 bezeichnet, liegt ein bestimmter Fatalismus zugrunde, der wie folgt motiviert ist: Durch die Zuflucht bei Gesetzlosen manövriert sich der ohnehin mit Aufkündigung der Urfehde wortbrüchig gewordene Götz erneut in einen – vom Standpunkt des Reichsrechts aus betrachtet – illegalen Raum. Schwerwiegender als diese Tatsache fällt jedoch ins Gewicht, dass er sich seiner eigenen Hilflosigkeit immer stärker bewusst wird. Während die Passivität des Schreibens ihn zu dem Bündnis mit den aufständischen Bauern veranlasste, um sich in den Dienst einer vermeintlich guten Sache zu stellen, wird die Aktivität, nach der sein Männlichkeitsentwurf strebt, für ihn letztlich unbeherrschbar. Die Spirale an Konfliktsituationen führt dazu, dass er sich einem dreifachen Defizit gegenübergestellt sieht: An erster Stelle muss dabei die eingebüßte Freiheit angeführt werden, die er angesichts des drohenden Verfahrens gegen ihn nach Bruch der Urfehde erwartet. Da Götz sowohl sich selber als auch seine Mitstreiter nur als ›freie Männer‹ respektiert, kommt der Entzug der Freiheit nicht nur einem Entzug der Männlichkeits-, sondern auch der Daseinsgrundlage gleich. Das Streben nach Freiheit mündet in die völlige Unfreiheit der Gefangenschaft.162 Das
160
161 162
Auf die Parallele der an den Namen gebundenen Erkenntnis, die sich zwischen der Szene im Zigeunerlager und dem Gespräch mit Bruder Martin im ersten Akt ergibt, weist Bertram: Philosophie des Sturm und Drang, S. 92, hin. Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 110. Vgl. Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 116.
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Gespräch mit Elisabeth im Gefängnis in Heilbronn spiegelt diese Tatsache deutlich wider: Götz:
[…] Suchtest du den Götz? Der ist lang hin. Sie haben mich nach und nach verstümmelt, meine Hand, meine Freiheit, Güter und guten Namen. (GvB 386)
Der Einbuße an Freiheit folgt als zweiter Aspekt die Einsicht in die Wertlosigkeit ritterlicher Etikette, die sich im Treuebruch der Bauern ihm gegenüber manifestiert. Den beiden eher psychisch wirkenden defizitären Aspekten tritt die physische Versehrtheit, die ihn zum Aufsuchen externer Hilfe veranlasst, als dritte Einbuße hinzu. Die Grundlagen seines ritterlichen Männlichkeitsentwurfes sind aus den genannten Gründen nachhaltig erschüttert, und die Hoffnung auf Wiedererlangen der Grundpfeiler des ritterlichen Selbstverständnisses – Freiheit, Selbstbestimmung, Ehrenhaftigkeit und körperliche Robustheit – wird, wie Götz in der Szene V/Heilbronn im Turn resümiert, ins Jenseits verlegt: Götz:
Wen Gott niederschlägt, der richtet sich selbst nicht auf. Ich weiß am besten was auf meinen Schultern liegt. Unglück bin ich gewohnt zu dulden. Und jetzt ist’s nicht Weislingen allein, nicht die Bauern allein, nicht der Tod des Kaisers und meine Wunden. – Es ist alles zusammen. Meine Stunde ist kommen. Ich hoffte sie sollte sein wie mein Leben. Sein Will geschehe. (GvB 386)
Den Verlust der Unabhängigkeit empfindet Götz vor allem deshalb als unwiderruflich, da – wie anhand seines Kommentars deutlich wird – mit dem Kaiser auch die zentrale Figur gestorben ist, der er Treue und Gehorsam geschworen und gegen die Feinde zu verteidigen gelobt hatte. Götz weiß, dass ihm somit die letzte Machtinstanz verloren geht, die seinen ritterlichen Lebens- und damit auch Männlichkeitsentwurf einzuordnen und zu schätzen wusste.163 Sein auf die Krankheit des Kaisers bezogener Ausspruch: »Unsere Bahn geht zu Ende« (GvB 368) zum Abschluss des vierten Aktes lässt sich unter dieser Voraussetzung als dunkle Vorahnung deuten. Die Fügung des Schicksals deutet er schließlich als Urteil Gottes. Seiner ›Rebellion‹ muss er, der Stärke und der Freiheit beraubt, ebenso endgültig entsagen wie der Utopie eines idealen Staates, die er während der Belagerung der Burg am Ende des dritten Aktes in der Szene Saal mit den Worten: »Es lebe der Kaiser!« (GvB 352) initiiert: Götz:
Das soll unser vorletztes Wort sein, wenn wir sterben. Ich lieb ihn, denn wir haben einerlei Schicksal. Und ich bin noch glücklicher als er. […] Was soll unser letztes Wort sein? Georg: Es lebe die Freiheit! Götz: Es lebe die Freiheit! Alle: Es lebe die Freiheit! Götz: Und wenn die uns überlebt können wir ruhig sterben. Denn wir sehen im Geist unsere Enkel glücklich, und die Kaiser unsrer Enkel glücklich. Wenn die Diener der Fürsten so edel und frei dienen wie ihr mir, wenn die Fürsten dem Kaiser dienen wie ich ihm dienen mögte. (GvB 352) 163
Kaiser Maximilian I. führte den Beinamen »der letzte Ritter«, was auf seine Affinität gegenüber dem Ritterstand und auf Kenntnis bzw. seinen Respekt gegenüber den Reichsrittern schließen lässt.
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Zwei Aspekte sind an der zuvor aufgeführten Textstelle im Hinblick auf den Männlichkeitsentwurf der Götz-Figur besonders interessant: Zum einen die enge Bindung des eigenen an das Schicksal des Kaisers, was als Bestätigung der Ergebenheit und der ritterlichen Treue Götzens interpretiert werden kann, und darüber hinaus die Verschmelzung der von Martini herausgearbeiteten Deutungslinien der Götz-Figur: Er verknüpfte derart eine Identität des Nationalen mit einer Identität des Ritterlichen – eine Verbindung, die in die deutsche nationale Mythologie und deren Bilderwelt eingegangen ist.164
Der zweite Aspekt zielt auf die entschiedene Hervorhebung der Wortfamilie um das Verb ›dienen‹ ab. Dass Goethe Götz als Gefolgsmann und Untertan des Königs die ›dienende Funktion‹165 derart betonen lässt, muss im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts auch im Kontext mit dem Begriff des ›Mannes‹ verstanden werden, wie die Analyse des entsprechenden Eintrags im Zedler-Lexikon von 1739 zeigt: Mann heißet überhaupt einen Bedienten, wie denn noch im Englischen ein Diener Man genennet wird. Im Deutschen treffen wir diese Bedeutung noch in etwas in denen zusammen gesetzten Wörtern an, als in Amt-Mann, Fuhr-Mann, Hauß-Mann, Thür-Mann, BootsMann u. ja auch selbst in dem Worte: Lehns-Mann.166
In Verbindung mit der kämpferischen dritten Lesart, die bei Zedler abgedruckt ist (»Mann […] bedeutet einen tapfferen, streitbaren, kühnen Held, der einen Muth hat wie ein Löwe, ausdauert im Kampf, einen Ausbund und fürnehmlichen Mann […]«)167 erhält die Äußerung, die Götz den versammelten Verteidigern der Burg zuruft, eine interessante Bedeutung: mutig zu kämpfen, sich als freier Mann in den Dienst einer ehrbaren Sache zu stellen, um seinem Versprechen und damit sich selber sowie seinem Dienstherrn gegenüber treu zu sein. Diese Tatsache kennzeichnet nicht nur den Männlichkeitsentwurf, den Götz von sich, aber auch von seinen Gefährten erwartet, sondern schließlich ein Bild einer Gesellschaft, in der er sich im Geiste die Verantwortung seines Standes, der Reichsritterschaft, wie folgt ausmalt: Götz:
[…] Wir würden die Gebürge von Wölfen säubern, wollten unserm ruhig ackernden Nachbar einen Braten aus dem Wald holen, und dafür die Suppe mit ihm essen. Wär uns das nicht genug, wir wollten uns mit unsern Brüdern gleich Cherubs mit flammenden Schwertern, vor die Grenze des Reichs gegen die Wölfe die Türken, gegen die Füchse die Franzosen lagern, und zugleich unsers teuern Kaisers sehr ausgesetzte Länder und die Ruhe des Ganzen beschützen. Das wäre ein Leben Georg! wenn man seine Haut vor die allgemeine Glückseligkeit setzte. (GvB 353)168
Die Feinde bekämpfen, das Land beschützen, dem Kaiser dienen – diese Aufgaben projiziert Götz auf den Stand des Reichsritters in der Zukunft. Hinderer sieht darin 164 165 166 167 168
Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 110. Vgl. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 25. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Auf die ›Abendmahlszene‹ geht folgender Text verstärkt ein: Graham: Vom Urgötz zum Götz, S. 270f. Eine Deutungsvariante der Textstelle, die den Begriff der ›Freiheit‹ in den Mittelpunkt stellt, bietet Kemper: »Ineffabile«, S. 54ff.
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die Veranschaulichung des »überlieferte[n] Ideal[s] patriarchalischer Herrschaft […], das auch dem modernen Konkurrenzkampf, dem Kampf aller gegen alle, ein Ende setzt«.169 Da bereits herausgearbeitet werden konnte, dass der Ritterstand aus seiner Perspektive sehr eng mit den Anforderungen an eine ›hegemoniale‹ Form der Männlichkeit verbunden ist, lassen die Formulierungen ›wir säubern‹, ›wir lagern‹, ›wir beschützen‹ auf eine gruppenspezifischen hegemonialen Männlichkeitsentwurf, der sich in dem Traum eines Männerbundes der Ritter manifestiert, schließen. Der Tod des Kaisers lässt diesen Traum wie die Lebensenergie der Götz-Figur endgültig versiegen. Allerdings bleibt die Frage, weshalb es Götz, der – wie bereits angedeutet – über die Kampfhandlungen hinaus auch im System der Intimität agiert, letztlich nicht gelingt, darin einen stabilisierenden, ausgleichenden Faktor zu finden, was die Aufmerksamkeit auf den folgenden Abschnitt der Analyse lenkt. Kamerad, Patron, Ritter: Götz im System der ›Freundschaft‹ Im System der Intimität soll der Männlichkeitsentwurf der Götz-Figur in den Bereichen ›Freundschaft‹ und ›Familie‹ untersucht werden. Freundschaft verbindet ihn textübergreifend mit Georg sowie seinen Gefolgsleuten Selbitz, Sickingen und Lerse und vor allem im ersten Akt mit Adelbert von Weislingen. Dabei muss zwischen einer Freundschaft väterlicher Prägung gegenüber Georg, einem eher kollegialen Verhältnis zu den gleichaltrigen Gefolgsleuten und der Erinnerung an eine Jugendfreundschaft mit Weißlingen unterschieden werden. Das Alter ist folglich ein entscheidendes Merkmal, durch das Götz sein freundschaftliches Verhältnis zu den anderen männlichen Figuren bestimmt. Die Freundschaft mit Georg enthält dabei väterlich-protektive Aspekte, die bereits durch die Bezeichnung ›Junge‹ oder ›Bub‹ angedeutet wird: Götz:
[…] Georg! hört der Junge nicht! Georg! Georg! (Der Bub im Panzer eines Erwachsenen.) Georg: Gestrenger Herr! (GvB 283)
Das hierarchische Verhältnis zwischen ›Herrn‹ und ›Buben‹ erfährt in dieser Situation in dem Einbezug unterschiedlicher Lebensalter eine generationenbezogene Erweiterung. Götz fühlt sich aufgrund seines Lebensalters170 und der entsprechenden 169
170
Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 30. In diesem Zusammenhang enthält Hinderers Text eine interessante Deutung der Wolfsmetapher, die Götz wiederholt bemüht. Vgl. ebd. S. 31f. Mit Bezug auf das Lebensalter der Götz-Figur existieren unterschiedliche Annahmen. Sicher ist, dass er als Vater, Ehemann und erfahrener Ritter alle Anforderungen erfüllt, ihm gemäß der im 18. Jahrhundert verwendeten Formel »30 Jahr – ein Mann« die ›Männlichkeit‹ vor dem Hintergrund der Lexika des 18. Jahrhunderts zuzusprechen und damit ein Lebensalter jenseits der 30 anzunehmen. Da sein Sohn, Carl, das Kleinkindalter bereits überschritten hat und Götz dem adoleszenten Georg gegenüber mehrfach in der sozialen Rolle des Vaters auftritt, ist ein Lebensalter über 40 Jahre wahrscheinlich. Der Text selber bietet allerdings für eine genaue Klassifizierung mit Ausnahme der Aussage Elisabeths in V/Jaxthausen (»sein graues Haupt«) keine eindeutigen Anhaltspunkte, die eine genaue Zuschreibung des Lebensalters ermöglichen würden.
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Lebenserfahrung gegenüber Georg nicht nur weisungsberechtigt, sondern vor allem verantwortlich: »mir wäre leid wenn dir ein Unfall begegnen sollt’.« (GvB 318) Die Verantwortung wird dadurch stimuliert, dass Georg – wie in der Einzelanalyse der Figur noch zu zeigen sein wird – alle Anlagen aufweist, die ihn für die von Götz versinnbildlichte ritterliche Profession qualifizieren könnten; Mut, Tapferkeit, Tatendrang sowie ehrliche Einfachheit. Georg wird mehrfach als Versinnbildlichung der von Götz projizierten Zukunft des Ritterstandes hervorgehoben, so beispielsweise in der Szene I/Herberge im Wald, als Götz den Ungestüm Georgs, ihn in den Kampf zu begleiten, bremsen muss: Georg: Nehmt mich mit, daß ich’s zeigen kann. Götz: Das nächste Mal, auf mein Wort. Unbewaffnet wie du bist, sollst du nicht in Streit.
Die künftigen Zeiten brauchen auch Männer. (GvB 285)
Georg wird im Laufe des Textes wiederholt als treu ergebener Gefolgsmann, der Götz darüber hinaus bewundert, geschildert. Die Freundschaft zwischen den beiden mit Bezug auf ihr Lebensalter sehr verschiedenen männlichen Figuren stützt sich von Seiten Götzens auf die Verlässlichkeit und den Stolz, während Bewunderung und der Wille, es seinem Herrn einmal an Tapferkeit gleich zu tun, Georg besonders motivieren. Götzens hegemonialer Männlichkeitsentwurf entspricht aus diesem Grund der Vorbildfunktion des idealtypischen Ritters, zu dem Georg erzogen werden soll, der wiederum durch den fortwährenden Umgang mit Götz unter den Prämissen dieses Männlichkeitsentwurfes sozialisiert wird. Götz spürt in der Ungeduld Georgs die emotionale Nähe, und er reflektiert sie aus der Position des Beschützers heraus mit einer für ihn außergewöhnlichen emotionalen Regung, als Georg im Bauernkrieg gemeinsam mit den plündernden Aufständischen gefangen wird: »O Georg! Georg – Sie haben ihn mit den Bösewichtern gefangen – Mein Georg! Mein Georg! –«. (GvB 376) Nach der Gewissheit des Todes seines ›Buben‹ gibt Götz den eigenen Lebenswillen endgültig auf, was den zuvor angesprochenen Zukunftsbezug der auf Georg gerichteten Hoffnung der Götz-Figur hervorhebt: »Er ist tot – Georg ist tot. – Stirb Götz – Du hast dich selbst überlebt, die Edlen überlebt«. (GvB 388) Die anschließende Frage, auf welche Weise Georg gestorben sei, dient ihm als Linderung, nachdem Elisabeth ihm versichert: »Er wehrte sich wie ein Löw um seine Freiheit«. (GvB 388) Die Freundschaftsbeziehung zwischen Götz und Georg kann im Paradigma der ›Männlichkeit‹ durch zwei parallele Männlichkeitsentwürfe abgebildet werden, die zwar altersbezogen unterschiedliche Entwicklungsstadien verkörpern – mittleres Alter und Jugend –, wobei sie jedoch in der ideellen Ausrichtung eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen, auf denen die Freundschaft beruht. Die Gewissheit, Georg sei einen ›ritterlichen‹ Tod gestorben, gibt Götz trotz der Verzweiflung Trost: »Gott sei Dank.« (GvB 388), da er die Kontinuität seiner Auffassung von ›männlich-ritterlichem‹ Verhalten in Georg somit auch im letzten Moment gewährleistet sieht. Die freundschaftlichen Beziehungen, die Götz zu seinen Mitstreitern unterhält, zeigen ihn im Gegensatz zur Freundschaft mit Georg vor allem in der Interaktion mit Männern ähnlichen Lebensalters, die sich maßgeblich über die Kameradschaft wäh185
rend der gemeinsamen Unternehmungen definieren. Sickingen, Selbitz und Lerse bilden mit Götz einen Männerbund der Reichsritter und Mitstreiter. Wolfgang Lipp hebt mit Bezug auf Männerbünde hervor: Bünde […] dynamisieren zugleich das Handeln, binden es an Führer und gliedern es ein in Bewegungen, die bei allen gefühlshaften, auf Zusammenschluß gerichteten Merkmalen auch Zwecke kennen, Projekte verfolgen und nach außen drängen.171
Diese Feststellung lässt sich auf Goethes Text anwenden, indem die kameradschaftliche Freundschaft zwischen Götz und seinen Gefolgsleuten sowohl auf den »auf Zusammenschluss gerichteten« als auch auf teleologischen, projektbezogenen Merkmalen basiert: Götz respektiert Sickingen, Selbitz und Lerse aufgrund ihrer Erfahrung und Wertevorstellungen, die sich mit seinen Ansichten als kompatibel erweisen: Selbitz wird in der Szene Jaxthausen des zweiten Aktes – ebenso wie Götz – als Befürworter des ritterlichen Fehdewesens vorgestellt: »Jedermann wird Euch loben, daß Ihr denen von Nürnberg Fehd angekündigt habt.« (GvB 315) Im Falle Lerses ist der gemeinsam erlebte Kampf und die Tapferkeit, die sich Götz und Lerse gegenseitig zuerkennen, Grundlage für ein militärisches Bündnis. Aus ehemaliger Feindschaft, die allerdings den gegenseitigen Respekt nicht ausschloss, wird im dritten Akt Freundschaft. Diese wird durch Lerses Wunsch, nicht als Söldner, sondern als freier Mann für Götz im Kampf gegen die Reichsexekution zu dienen, motiviert: Götz:
Wie sollte mir einkommen, daß der mir seine Dienste anbieten würde, der auf das feindseligste mich zu überwältigen trachtete? Lerse: Eben das Herr! Von Jugend auf dien ich als Reuters Knecht, und habs mit manchem Ritter aufgenommen. […] Ich kannte Euren Namen, und da lernt ich Euch kennen […] und von Stund an beschloß ich Euch zu dienen. (GvB 338)172
Selbitz und Götz teilen auch physische Gemeinsamkeiten, die aus Kampfeinsätzen resultieren: Obwohl sowohl Götz als auch Selbitz entscheidend gezeichnet sind (Selbitz besitzt nur noch ein Bein), gehen sie dem ritterlichen Leben weiter nach und werden, wie aus der Schilderung der Kaufleute zu Beginn des dritten Aktes hervorgeht, trotz ihrer Versehrtheit zu einer unkontrollierbaren Gefahr für die Reichsstände. Das vergleichbare Schicksal, das Götz im Vergleich zu seinem eigenen in Selbitz erkennt, lässt ihn den Mitstreiter als Vertrauten und Ratgeber wahrnehmen. Im gleichen Zusammenhang definiert sich die Männerfreundschaft über die gemeinsame Aktivität des ›gerechten Räubers‹, wie er in der Vorstellung von Selbitz in der Szene II/Herberge. Bauernhochzeit. Musik und Tanz draußen erscheint: »Götz! Wir sind Räuber!« (GvB 329) Die Ermahnung an das gemeinsame Projekt, den Brautleuten zu dem »ihrigen zu verhelfen«, evoziert die Basis der gemeinsamen Freund171
172
Wolfgang Lipp: Männerbünde, Frauen und Charisma. Geschlechterdrama im Kulturprozeß. In: Gisela Völger, Karin von Welck (Hg.): Männerbande. Männerbünde. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich. Bd. I. Köln 1990, S. 38. Zu den Grundlagen der Lerse-Figur und möglichen autobiographischen Referenzen vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit. Aus meinem Leben. Darmstadt 1998, S. 336. Auf die Bewunderung Götz gegenüber der ansonsten in der Forschung wenig beachteten Figur weist Lamport: The Charismatic Hero, S. 65, hin.
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schaft: Den Aktionsdrang als Ritter, der die Abscheu vor ungerechter Behandlung und die Verteidigung der Ehre in den Mittelpunkt des Wertesystems rückt. Im Rekurs auf Lothar Böhnisch bilden sich freundschaftliche Beziehungen unter Männern im Gegensatz zu Frauen nicht in erster Linie personen- oder affektzentriert, sondern vor allem aktivitätsbezogen heraus.173 Sowohl Georg als auch Selbitz erfüllen Götz gegenüber dieses Kriterium. Die kameradschaftliche Treue, die insbesondere während des Kampfes gegen das Heer der Reichsexekution im dritten Akt in bedrohlichen Situationen deutlich wird, weist Götz inmitten der Mitstreiter gemäß der Formel ›Erster unter Gleichen‹ als Bezugspunkt aus: Er gibt die entscheidenden Anweisungen, und für ihn kämpfen die Ritter. Selbitz verliert den Lebenswillen, als ihm in III/Eine Höhe mit einem Wartturn die Botschaft überbracht wird, Götz im Schlachtgetümmel nicht mehr ausmachen zu können. Dass die Treue und die Bindung des eigenen Lebenswillens an das Schicksal des Kameraden reziprok funktionieren, wird durch die abschließenden Worte der Götz-Figur zusammengefasst: »Selbitz starb, und der gute Kaiser, und mein Georg –«. (GvB 388) In der Freundschaft mit Sickingen überschneiden sich kameradschaftliche und familiäre Motive: Als Reichsritter und Weggefährte partizipiert Sickingen an dem zuvor beschriebenen Männerbund der Ritterschaft und entspricht – ebenso wie Lerse und Selbitz – in den Kategorien Tapferkeit, Edelmut und Treue dem Männlichkeitsentwurf, den Götz für sich selber und seine Interaktionspartner favorisiert. Durch die angestrebte Position als Schwager bildet die Freundschaft zu Sickingen zugleich die Brücke hin zur Intimität der Familie, die Götz unter allen Umständen zu beschützen versucht. Dabei ist es sicherlich interessant, dass er seine Einwilligung zur Heirat mit Maria einem Weggefährten erteilt, in dem er auch für die Seitenlinie seiner Familie Protektion und Ehrenhaftigkeit garantiert sieht: Auffallend ist an dieser Stelle, wie uniform sich der Männerbund, der sich in Jaxthausen um Götz herum bildet, durch eine allseitige Nähe zum Kernbereich der von Götz verkörperten hegemonialen Form der ›Männlichkeit‹ präsentiert. Insofern stellt das Werben Sickingens um Maria auch eine weitere Bemühung dar, die Position des Männerbundes insgesamt zu festigen. Dieser Bestrebung entspricht auch Götz, der – in Angst um die Zukunft der Verlobten – darauf drängt, dass Sickingen und Maria sich von den Kampfhandlungen um Jaxthausen fernhalten. Dennoch zeigt die Situation vor den kaiserlichen Räten in Heilbronn, dass Götz auf die Hilfe Sickingens angewiesen ist. In dem sich anschließenden Dialog wird der Freund Sickingen zum Motivator; die Männerfreundschaft offenbart an dieser Stelle eine ungewöhnlich deutliche emotionale Komponente. Götz, dem die eigene Hilflosigkeit sowohl durch die Vorgänge während des Verhörs als auch durch die Tatsache, auf fremde Unterstützung angewiesen zu sein, deutlich vor Augen geführt wurde, zeigt sich in der Interaktion mit dem Freund als zweifelnde, beinahe melancholische Figur. Im Unterschied zu den Gesprächen mit Selbitz im zweiten Akt, in denen Götz die Realität – den Treuebruch Weislingens – zumeist beschwichtigend, bewusst herunterspielend, kommentiert hatte, wirkt die empfundene Niederlage in Heilbronn in seiner Selbstsicherheit stär173
Vgl. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 198f.
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ker nach. In dieser Situation ist es insbesondere Sickingen, der an die Entschlossenheit des Freundes appelliert: »Ich seh, ich seh im Geiste meine Feinde, deine Feinde niedergestürzt. Götz nur noch ein halb Jahr!« (GvB 363) Götzens Reaktion verdeutlicht die dunklen Vorahnungen auf kommende Entwicklungen: Götz:
Deine Seele fliegt hoch. Ich weiß nicht, seit einiger Zeit wollen sich in der meinigen keine fröhliche Aussichten eröffnen – Ich war schon mehr in Unglück, schon einmal gefangen, und so wie mir’s jetzt ist war mir’s niemals. (GvB 363)
Die Gründe, die ihn zu dieser resignierenden Feststellung veranlassen, sind in der Männlichkeitsanalyse zuvor aus einer primär öffentlichen Perspektive – der Situation des Reichsritters in historischen Umbruchprozessen – analysiert worden. Einen ebenso wichtigen Impuls auf die Resignation, in die sich Götz mit fortschreitender Handlung immer stärker begibt, bilden jedoch zwei Aspekte aus dem System der Intimität: die Beziehung zu Weislingen und die persönliche Familiensituation. Götz und Weislingen Die Freundschaft, die Götz anfangs mit Weislingen verbindet, unterscheidet sich gegenüber den Beziehungen zu Georg oder Selbitz, Sickingen und Lerse vor allem dadurch, dass sie fast ausschließlich als vergangenheitsbezogen geschildert wird. Die Versuche, die in der Erinnerung gespeicherte Jugendfreundschaft in die Gegenwart zu übertragen, scheitern nicht nur, sondern führen letztlich dazu, dass aus Freunden Gegner werden, die schließlich beide scheitern. Der Beginn des Textes zeigt Götz wiederholt in der Bemühung, retrospektiv an gemeinsame Erlebnisse aus der Jugend anzuknüpfen: Götz:
[…] Ich erinnere mich mit Freuden meiner Jugend. […] Wir hielten immer redlich zusammen als gute brave Jungens, dafür erkennte uns auch jedermann. […] Castor und Pollux! […] Weislingen: Nichts mehr davon. Götz: Warum nicht. Nach der Arbeit wüßt ich nichts angenehmers, als mich des Vergangenen zu erinnern. (GvB 296f.)
Eine der folgenschweren Fehleinschätzungen, die Götz unterlaufen, ist die Annahme, den Wert der vergangenen Jünglingsfreundschaft direkt auf eine Männerfreundschaft zu übertragen. Dieses Unterfangen schlägt – wie der Text deutlich vor Augen führt – jedoch fehl. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts findet sich bei Johann Joseph Natter die Auffassung einer Verlässlichkeit der Freundschaft in Abhängigkeit von jenem entwicklungspsychologischen Zeitpunkt, in dem die betreffenden Figuren die Freundschaft schließen: Nur bey ihr [der Männerfreundschaft, M.B.] ist auf Dauer und Stetigkeit zu rechnen: denn der Mann hält räthlicher mit seinen Empfindungen Haus, als der Jüngling; er überlegt länger, ehe er sich bestimmt; seine Erfahrenheit prüft tiefer und schärfer; er fordert und giebt langsamer Freundschaft und Vertrauen – und hat eben deshalb seltener Ursache, das, was er gab oder annahm, zu bereuen. Männer, wenn sie es verdienen, Männer zu heissen, sind entschieden – und bleiben in der Regel, was sie sind, lebenslang; ihre Neigungen sind fixirt,
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ihre Grundsätze vestgestellt, ihre Lebensweisen gewählt […]; sie werden, seltnere Ausnahmen abgerechnet, nicht mehr von einem Wohnort zum andern geworfen; sie sind Gatten – oder haben Verzicht darauf gethan, es zu werden. Der Wechsel ihrer Gesinnungen und Neigungen kann also ihre Freundschaftsverbindungen nicht so leicht auflösen.174
Obwohl Natters Text, 1796 erschienen, Goethe zum Zeitpunkt des Verfassens von Götz von Berlichingen noch nicht vorgelegen haben konnte, eröffnet er eine überaus interessante Perspektive auf den Zusammenhang von Männlichkeitsentwürfen, Freundschaft und Lebensalter im ausgehenden 18. Jahrhundert.175 Männer schließen Freundschaften, die Aussicht auf Dauer haben, während Kinder- und Jugendfreundschaften mit dem Erwachsenwerden ihrer Basis entwachsen. Auf Goethes Text angewendet, lässt sich daraus Folgendes resümieren: Die Unmöglichkeit, den ›Jugendfreund‹ Weislingen auch als ›Männerfreund‹ zu erhalten bzw. zu reaktivieren, erscheint vor dem Hintergrund der Tatsache sehr deutlich, dass die Freundschaft, derer sich Götz erinnert, im Kindes- und Jugendalter entstanden war und somit nach Natter ohne die sorgsame Prüfung der freundschaftlichen Bindung eher als Ausdruck von jugendlicher Spontaneität verstanden werden kann. Verstärkend tritt hinzu, dass die von Natter aufgeführte Voraussetzung für eine Männerfreundschaft – »fixirte Neigungen«, »vestgestellte Grundsätze« – kurzum, Stabilität, besonders im Falle Weislingens keineswegs vorliegen. Weislingen erweist sich in seinen schwankenden »Gesinnungen und Neigungen« als unverlässlicher Partner. Er ist, so kann pointiert festgestellt werden, gemäß der Argumentation Natters und auf die Sozialisation der Freundschaft bezogen, noch kein ›Mann‹, wobei der Zusammenhang zwischen beiden an dieser Stelle auf das Lebensalter zurückgeführten Kategorien ›Männlichkeit‹ und ›Freundschaft‹ deutlich hervortritt. Die von Götz beabchsichtigte Freundschaft mit Weislingen weist in ihrem Ursprung charakteristische Aspekte auf, die sie mit einer anderen Männerfreundschaft des 18. Jahrhunderts vergleichbar macht: die Beziehung zwischen Tellheim und Werner in Minna von Barnhelm. Wie Lessing schildert auch Goethe einen Zustand der Freundschaft, der sich im Text zunächst nur retrospektiv positiv deuten lässt, da zumindest einer der beiden Freunde sich in der Gegenwart erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt sieht. Während Tellheim körperlich behindert, in seiner Ehre gekränkt und aus seinem Beruf entlassen auf den unbeschwerten Werner trifft, ist es in Goethes Text Weislingen, der sich selber als Gefangener »in Berlichingens Gewalt« (GvB 296) begreift, und – von Selbstzweifeln verfolgt – zwischen den Erinnerungen an die Freundschaft zu Götz und die Liebe zu Maria sowie dem Bewusstsein der Ergebenheit gegenüber dem Bischof schwankt, als Götz ihn, im Hochgefühl der Erinnerung, zum gemeinsamen Trinken auffordert. Götz, der das Ziel verfolgt, Weislingen als Verbündeten: »ich hoffte Adelbert wird künftig meine rechte Hand sein« (GvB 297) zu gewinnen, ist sich jedoch der Veränderungen, die seinen Jugendfreund im Umgang 174 175
Johann Joseph Natter: Über die Freundschaft. Leipzig 1796, S. 138ff. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984, insbesondere S. 47ff., der sich dem Themenkreis »Freundschaft in der Spätaufklärung« und im Übrigen auch Natter vertiefend widmet.
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mit dem höfischen Leben erfasst haben, bewusst: »Da hielt dich das unglückliche Hofleben, und das Schlenzen und Scharwenzen mit den Weibern«. (GvB 297) Der Appell an Weislingen, seine Freiheit notwendigerweise auch zu verteidigen, kann aus Götzens Perspektive als Hilfsangebot an den Freund gedeutet werden, der – aus Sicht des ›freien Rittersmanns‹ Götz – zum »Werkzeug« (GvB 299) der Reichsstände wird. Damit gefährdet Weislingen seine Freiheit und Unabhängigkeit, seine Treue gegenüber dem eigenen Gewissen und dem Kaiser, seine Ehre; die zentralen Aspekte, auf denen der von Götz favorisierte Männlichkeitsentwurf eines Ritters basiert. Der fatale Schluss, den Götz daraus zieht, ist die Gewissheit, die Freundschaft zu Weislingen über die Berufung auf ritterliche Attribute wiederherstellen zu können: Götz:
Verkennst den Wert eines freien Rittersmanns, der nur abhängt von Gott, seinem Kaiser und sich selbst, verkriechst dich zum ersten Hofschranzen eines eigensinnigen neidischen Pfaffen. (GvB 297f.)
Weislingen kann an dem Männerbund der Ritter und Gefolgsleute in Jaxthausen jedoch nicht partizipieren, was aus genderanalytischer Sicht durch seinen Männlichkeitsentwurf motiviert wird, der sich grundlegend von jenen der anderen Gefolgsleute der Götz-Figur unterscheidet. Götz gelingt es trotz seiner Einwilligung in die Verbindung zwischen Weislingen und Maria nicht mehr, die Bindung zwischen seinem Jugendfreund und dem Bischof von Bamberg aufzulösen. Der endgültige Bruch der Freundschaft vollzieht sich jedoch in verschiedenen Etappen, die die Enttäuschung der Götz-Figur umso nachhaltiger hervorheben: Im Moment des bereits zuvor angesprochenen Schwurs in der Szene I/Jaxthausen scheint die Freundschaft zwar noch erreichbar: Götz:
[…] Dem sei wie ihm wolle, Adelbert, Ihr seid frei, ich verlange weiter nichts als Eure Hand, daß Ihr inskünftige meinen Feinden weder öffentlich noch heimlich Vorschub tun wollt. Weislingen: Hier faß ich Eure Hand. Laßt von diesem Augenblick an Freundschaft und Vertrauen gleich einem ewigen Gesetz der Natur unveränderlich unter uns sein. (GvB 306f.)
Allerdings berichtet Götz im Anschluss daran von einem Traum, der ihn in der Nacht vor dem Heiratsversprechen zwischen Maria und Weislingen quälte: Götz:
Ich – bin ganz glücklich; was ich nur träumend hoffte, seh ich, und bin wie träumend. Ach! nun ist mein Traum aus. Mir wars heute Nacht, ich gäb dir [Maria, M.B.] meine rechte eiserne Hand, und du hieltest mich so fest, daß sie aus den Armschienen ging wie abgebrochen. Ich erschrak und wachte drüber auf. Ich hätte nur fort träumen sollen, da würd ich gesehen haben, wie du mir eine neue lebendige Hand ansetztest. (GvB 307)
Der Traum zeigt deutlich, wie die Unsicherheit über Aspekte, die in direktem Zusammenhang mit seiner Beziehung zu Weislingen stehen, die Stabilität der Individualität und des Männlichkeitsentwurfes der Götz-Figur beeinflusst. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, genau zwischen den geträumten und den im Wachzustand erlebten Elementen in Götzens Schilderung zu differenzieren. Dass der Traum eigentlich nicht an Maria, sondern vielmehr an Weislingen gerichtet ist, wird an dem Symbol der ›rechten Hand‹ deutlich, die in der Szene I/Jaxthausen. 190
Götzens Burg noch als Wunschvorstellung auf Weislingen projiziert worden war. Die eiserne rechte Hand ist – wie zuvor gezeigt werden konnte – das zentrale Artefakt, auf dem die Stärke, die Wehrhaftigkeit, die Individualität und somit auch der Männlichkeitsentwurf der Götz-Figur, allerdings auch das Bewusstsein über die eigene Versehrtheit, basiert. Indem Götz von Weislingen erwartet, ›seine rechte Hand zu werden‹, soll der Jugendfreund folglich an die Stelle des Symbols treten und somit nicht nur anorganische durch organische Materie ersetzen, sondern vor allem ideell – durch das Bündnis zweier Ritter – zum Garant der ›hegemonialen Männlichkeit‹ für Götz werden. Interessant ist dabei, dass Weislingen dadurch eine doppelte Ersatzfunktion einnehmen soll: Er wäre in diesem Fall nicht nur ›Ersatz‹, sondern ›Ersatz‹ anstelle einer Prothese – oder, anders formuliert – ein weiteres Abbild von einem Abbild.176 Die Prognose für die Erfolgsaussicht dieser Wunschvorstellung gestaltet sich in Götzens prophetischem Traum ausgesprochen düster:177 Elemente des Verlusts und der Zerstörung (»daß sie aus den Armschienen ging wie abgebrochen«) deuten in einer Prolepse an, dass die Hand und somit ein wesentliches Attribut seines Männlichkeitsentwurfes durch die Beziehung zu Weislingen in Gefahr geraten werden. Die plötzliche Unterbrechung des Albtraums sowie die Konsequenzen, die Götz daraus zieht, lassen sich mit Peter-André Alt wie folgt einordnen: Der pathologische Träumer steht unter dem Einfluß der Schuld, während der Erwachende das freie Leben gewinnt, dem man sich einzig mit klarem Bewußtsein aussetzen kann, will man nicht in den bedrohlichen Strudel von Wahnsinn und Selbstverlust geraten. Die Träumer bleiben bei Goethe gefährdete Figuren, denen die nötigen Bindungen an die Wirklichkeit fehlen.178
Die »pathologische Komponente«, die Alt anführt, ist in Götzens Traum ebenso deutlich vorhanden wie der »bedrohliche Strudel von […] Selbstverlust«. Allerdings muss beachtet werden, dass Götz seinen Traum im Wachzustand – und somit nach Wiedererlangung der kognitiven Kontrolle – eigenständig zu einem positiven Ende führt: (»da würd ich gesehen haben«). Die dunkle Vorahnung des Träumers wird an dieser Stelle durch einen optimistischen Wunsch des Erwachten ersetzt, der Götz für den Moment vor einer Beschädigung seiner Individualität (und seines Männlichkeitsentwurfes) bewahrt. Der Moment des abrupten Abbruchs einer negativen Prognose über die Zukunft wird dabei vom Wunschdenken Götzens bestimmt, was Lamport wie folgt kommentiert: In Götz von Berlichingen […] the defeat or failure of the charismatic hero is attributed essentially to the strength and above all to the dishonesty of the forces ranged against him, even though he may contribute to his downfall by a failure (springing from his own admirable, if naïve rectitude) to anticipate and so adequately to counter this dishonesty.179 176
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In diese Richtung zielt auch die Argumentation bei Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 113, der Weislingens Stellvertreterfunktion als »doppeltes Double« bezeichnet. Vgl. Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 158. Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002, S. 199f. Lamport: The Charismatic Hero, S. 70. Lamport sieht darin eine intertextuelle Parallele zur Figur des Egmont.
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Entscheidend ist jedoch die im Traum verhaftete, symbolische Prognose über seine Beziehung zu Weislingen, die sich im Laufe des Textes als realitätsnäher als der Wunsch des Wachzustandes erweisen wird. Die Einsicht in die prophetische Aussagekraft seines Traums formuliert Götz im Gespräch mit Sickingen im vierten Akt: »O! das deutete der Traum den ich hatte, als ich Tags drauf Marien an Weislingen versprach.« (GvB 363) Martini kommentiert in diesem Zusammenhang: Der Selbstbetrug der Traumauslegung ist ein Zeichen der Ohnmacht jenes Mannes, der seine innere Vorstellungswelt, fast möchte man sagen, sein glaubensbereites Träumen einer Wirklichkeit entgegensetzt, die sich zu allem, was er ist und was er will, in Widerspruch befindet.180
Indem Weislingen »ein doppeltes Band« (GvB 333) der Freundschaft und Treue im kameradschaftlichen sowie im familiären Sinn zerreißt, wird Götz – wie bereits zuvor gezeigt werden konnte – die Brüchigkeit der habitualisierten ritterlichen Verhaltensnormen in aller Deutlichkeit vor Augen geführt: Per Handschlag geleistete Treueeide, Versprechungen sowie Vertrauensbekundungen im intimsten Kreis können Weislingen ebenso wenig dazu veranlassen, Götz die Treue zu halten, wie das von Karthaus explizit hervorgehobene Charisma der Götz-Figur. Der Abfall Weislingens kann auch im Zusammenhang mit dem für den Männlichkeitsentwurf Götzens wichtigen Begriff des ›Respekts‹ betrachtet werden. Dieser wird Götz als Ritter, Anführer, Burgherr und als Mann entgegengebracht. In der Abkehr von Götz verletzt ihn Weislingen in genau diesen Bereichen: Der Code des Ritters wird nicht akzeptiert und erscheint vor dem Hintergrund des Vertrauensbruchs als inhaltslose Etikette; Weislingen bevorzugt es, sich unter die Kontrolle eines anderen Anführers zu stellen und sucht sich somit einen anderen Männlichkeitsentwurf aus, in dessen Nähe er zu seinen Zielen zu gelangen hofft. Als Burgherr erkennt ihn Weislingen, der seine Güter in Franken hat, nicht an, und als ›Mann‹ entbehrt Götz Weislingen gegenüber das textübergreifende Faszinationspotenzial, das ihm die Treue und die Freundschaft der anderen Mitstreiter zusichert. Gerhard Kaiser resümiert wie folgt: »Götz hat viele Freunde, die sich ihm freiwillig unterordnen, ein Mann aber ist es, um den er mit Leidenschaft wirbt, und gerade an ihm muß er scheitern: Weislingen.«181 Der endgültige Verlust Weislingens als Freund wiegt auch aus dem Grund umso schwerer, als Götz ihn als Schwager in die Familie aufnehmen wollte und sich – wie seine Reaktion in II/Im Spessart zeigt – gegenüber seiner Schwester und ihrem Schicksal verantwortlich fühlt. Diese Tatsache bildet die Brücke zum letzten Bereich der Intimität, in dem sich der Männlichkeitsentwurf der Götz-Figur bewähren muss: im Kreis der Familie, als Bruder gegenüber Maria, als Ehemann gegenüber Elisabeth und als Vater gegenüber Carl.
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Martini: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 120. Kaiser: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang, S. 203.
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Götz und seine Familie Die beiden Frauen vertreten mit Bezug auf den ritterlichen Männlichkeitsentwurf, den Götz repräsentiert, unterschiedliche Positionen. Während Maria in der Sorge um ihren Bruder darauf bedacht ist, Carl von einem ähnlichen Schicksal fernzuhalten: »Du tust besser Carl, leb du einmal auf deinem Schloss, als ein frommer christlicher Ritter« (GvB 292), überwiegt bei Elisabeth der Stolz und die Bewunderung für ihren Mann, was sie auf den gemeinsamen Sohn projizieren will: »Gebe nur Gott daß unser Junge mit der Zeit braver wird, und dem Weislingen nicht nachschlägt, der so treulos an meinem Mann handelt.« (GvB 292) In der Beziehung zu Maria zeigt sich Götz als protektiver Bruder, der sich insbesondere nach dem Antrag Sickingens darum bemüht, Schwester und Schwager aus der Gefahrenzone in Jaxthausen zu entfernen. In der Weigerung beider offenbart sich die Treue, mit der sowohl Maria als Schwester als auch Sickingen als Freund an der Seite des Ritters stehen wollen. Götzens Antwort darauf spiegelt – wie schon im Traum vor der Verbindung zwischen Maria und Weislingen – eine Vorahnung des eigenen tragischen Schicksals wider: Götz:
Ja, es ist weit mit mir kommen. Vielleicht bin ich meinem Sturze nahe. Ihr beginnt heut zu leben, und ihr sollt euch von meinem Schicksal trennen. (GvB 348)
Götz formuliert die Einsicht in die persönliche Tragik in diesem Zusammenhang sehr deutlich. Wie nachhaltig ihn der Moment emotional bewegt, zeigt sich zum einen in dem Abschiedskuss, den er Maria in III/Jaxthausen gibt, sowie in seiner Liebeserklärung an Elisabeth kurz darauf: Götz: Ich trieb sie, und da sie geht mögt ich sie halten. Elisabeth du bleibst bei mir! Elisabeth: Bis in den Tod. (Ab.) Götz: Wen Gott lieb hat, dem geb er so eine Frau. (GvB 349)
Die beiden Situationen transportieren eine affektive Komponente im Bereich der engen, familiären Intimität, die Götzens Männlichkeitsentwurf durchaus als emotionsfähig beweist. Trotz der im Gespräch mit Bruder Martin im ersten Akt erwähnten Tatsache, dass seine »Rechte, obgleich im Kriege nicht unbrauchbar, gegen den Druck der Liebe unempfindlich« (GvB 288)182 sei, beherrscht er amouröse Codes und erweist sich als empfänglich für Gefühle. Elisabeth wirkt insbesondere vor dem Verhör durch die kaiserlichen Räte beschwichtigend auf Götz ein. Die Kommunikation zwischen beiden schwankt in den Anredeformen zwischen dem vertrauten »Du« (wie beispielsweise in der Szene III/Saal) und dem distanzierten »Sie«, das in IV/Wirtshaus zu Heilbronn von Elisabeth gezielt dazu eingesetzt wird, Götz an eine zentrale, seit dem Mittelalter überlieferte ritterliche Tugend, die Beherrschung, zu erinnern. Elisabeth wirkt – im Gegensatz zu Maria, die Zweifel an dem ritterlichen Verhalten äußert – als stabilisierender Faktor für Götzens Männlichkeitsentwurf. Götz reagiert darauf, indem er sich in entscheidenden Situationen, während der Be182
Damit wird die ausschließlich defizitäre Deutung der »rechten Hand« und somit der Versehrtheit Götzens relativiert. Vgl. Graham: Goethe and Lessing, S. 33ff. insbesondere S. 37: »And how could he know a world he has no organ to explore, only to attack?«. Interessant ist dazu der Kommentar Martinis: Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte, S. 120f.
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lagerung in Jaxthausen, vor dem Verhör durch die kaiserlichen Räte und während der Urfehde am Ende des vierten Aktes, vertrauensvoll an seine Frau wendet und mit ihr wie mit einem Gefolgsmann kommuniziert. In den Situationen der Krise geht der dramatische Impuls dabei auf Elisabeth über. In der erwähnten Szene IV/Jaxthausen fordert sie von ihm ein progressives Denken und Schaffen, um »einer edlen Nachkommenschaft die Freude« zu verschaffen, ihn »nicht zu verkennen«. (GvB 367) Ihr gelingt es damit im Gegensatz zu ihrem Mann, sich aus dem Zustand des reinen Gegenwartsbezugs zu lösen und der ritterlichen Vergangenheit (und insofern auch dem ritterlichen Männlichkeitsentwurf) der Götz-Figur für die Zukunft einen neuen Sinn, den der Weitergabe auf die Nachkommenschaft, zuzuweisen. Dieser Aspekt berührt einen sensiblen Punkt im System der Intimität: Das Verhältnis zwischen Götz und seinem Sohn Carl. Insbesondere im ersten Akt wird die Diskrepanz zwischen Vater und Sohn mehrfach betont. Carl, der als einziger Sohn der Götz-Figur zwar in dem von Götz dominierten System der Ritterburg in Jaxthausen, aber innerhalb des Systems vor allem in Kontakt mit den Frauen aufwächst, steht unter wechselseitigem pädagogischen Einfluss der auf einen »frommen christlichen Ritter« (GvB 292) abzielenden Erziehung von Maria und der Position Elisabeths, die ihren Sohn als »braven« (GvB 292)183 Ritter nach dem Vorbild ihres Ehemanns heranwachsen lassen möchte. Bereits die ersten Sequenzen spiegeln jedoch wider, dass Carls Wesen deutlich stärker zur Erziehung durch Maria tendiert, als dem Anforderungskatalog der von Götz verkörperten Ritterlichkeit zu entsprechen: Elisabeth:
Da kam der Schneider zu deinem Vater und bat ihn, er mögte ihm zu seinem Geld verhelfen. […] Wärst du nicht auch ausgeritten? Carl: Nein, da muß man durch einen dicken dicken Wald, sind Zigeuner und Hexen drin. Elisabeth: Is ein rechter Pursch, fürcht sich vor Hexen. (GvB 291)
Die Diskrepanz zwischen der Erwartungshaltung, die an den Sohn des Burgherrn herangetragen wird, und deren Entsprechung in der Realität wird vor allem von den Außenstehenden bemerkt, die Götzens Männlichkeitsentwurf als ›hegemonial‹ anerkennen. In diesem Zusammenhang muss auch die Bemerkung eines ›Reuters‹ in I/Jaxthausen. Götzens Burg eingeordnet werden, der die Ankunft der Reiterschar im Stall der Burg meldet, woraufhin Carl: »Ich will mit Tante« (GvB 293) lieber im häuslichen Bereich der Burg in der Nähe Marias bleibt, als seinen Vater direkt zu begrüßen, was der ›Reuter‹ wie folgt kommentiert: »Der wird nicht sein Vater, sonst ging er mit in Stall.« (GvB 293) Beide Sequenzen teilen die Exklusion Carls aus naturnahen bzw. ›wilden‹ Bereichen des ritterlichen Lebens bei gleichzeitiger Inklusion in geschützte Räumlichkeiten der Burg. Dabei wird die kindliche Furcht vor unbekanntem Gelände (dem »dicken« Wald in Carls Schilderung) auch auf einige der Burg zugehörige, potenziell bekannte Räume (den Stall) ausgedehnt. Furcht und 183
Die wechselhaften Erziehungsziele Marias und Elisabeths werden auch von Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 37 betont, der zu folgender Schlussfolgerung gelangt: »Karl könnte in der Tat eher der Sohn von Weislingen als von Götz sein«. (Ebd.). Vgl. Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 184ff.
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Desinteresse an diesen Räumen weisen Carl im Zusammenhang mit der räumlichen Deixis als Kind aus, dessen Disposition als »domestizierter Ritter« deutlich gegenüber dem naturverbundenen, rauen Wesen seines Vaters dominiert. Damit entfernt sich Carl entschieden von den Anforderungen, die innerhalb des Initiationsprozesses im Aufbruch in die Frühe Neuzeit an Söhne gestellt wurden, wie Wunder betont: Söhne mußten zum »starken Geschlecht« werden, körperlich von größerer Kraft und moralisch von größerer Stärke als das »schwache Geschlecht«, um die Legitimität der Geschlechterhierarchie bestätigen zu können. Gerade moralische Stärke stellte große Anforderungen an den »Mann«, der, um Mann zu werden, erst einmal lernen mußte, sich selbst im Zaume zu halten.184
Allerdings muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass die Anforderung an physische und psychische Stärke und Belastbarkeit in Carls spezifischem Fall nicht in erster Linie dazu dienen soll, zwischengeschlechtlichen Hierarchien, sondern genealogischen Ansprüchen, die mit der Nachfolge in der Funktion des Burgherrn in Jaxthausen verbunden sind, zu entsprechen. Der Begriff des ›Patriarchats‹ muss aus diesem Grund weiter gefasst und aus der engen Auslegung mit Beschränkung auf die Dominanz von Männern gegenüber Frauen herausgelöst werden. Carls Zukunft besorgt Götz weniger aus dem Grund, innerhalb der Familie nicht dominant zu sein, sondern vor allem dadurch, dass ihm männlichkeitsintern die zentralen Attribute einer Führungspersönlichkeit fehlen. Sein Interesse für Küche, Zubereitungsarten von Speisen und die Nähe zur Tante entsprechen im 16. Jahrhundert traditionell dem ›weiblichen‹ Einflussbereich und exkludieren ihn vom Leben unter ›Männern‹. Die emotionale Spannung zwischen Vater und Sohn wird in dem anschließenden Gespräch hervorgehoben: Carl: Ich weiß noch was. Götz: Was wird das sein? Carl: Jaxthausen ist ein Dorf und Schloss an der Jaxt, gehört seit zweihundert Jahren de-
nen Herrn von Berlichingen erb und eigentümlich zu. Götz: Kennst du den Herrn von Berlichingen. Carl (sieht ihn starr an). Götz (vor sich): Er kennt wohl vor lauter Gelehrsamkeit seinen Vater nicht. […] Ich
kannte alle Pfade, Weg’ und Furten, eh’ ich wußt wie Fluss, Dorf und Burg hieß. […] Carl: Und vor mich zum Nachtisch, hat die Tante einen Apfel gebraten. Götz: Kannst du sie nicht roh essen? Carl: Schmeckt so besser. Götz: Du musst immer etwas apartes haben. (GvB 295)
Das Reproduzieren von Begriffen ohne Anbindung an deren Inhalte erscheint in dem Gespräch als Merkmal der maximalen Entfremdung zwischen Vater und Sohn, wobei die Distanz nicht nur die Auffassung des Sinns von Begrifflichkeiten an sich, sondern vielmehr deren Rückbindung an die Identität umfasst. In Götzens Replik »Ich kannte alle Pfade […] eh ich wußt wie Fluss, Dorf und Burg hieß« wird die erforschende Tendenz eines auf Abenteuer und Entdeckung der Natur basierten Sozialisationsprozesses beschrieben, den ein junger Mann durchläuft, ehe er in den Stand 184
Wunder: Wie wird man ein Mann, S. 125.
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eines Ritters gelangt. Der Prozess der Initiation, der die ritterliche Identitätsbildung begleitet, ist durch die enge Bindung der Identität an den Männlichkeitsentwurf folglich auch ein Prozess der maskulinen Initiation, deren Prüfungen (Kenntnisse des Geländes, Überleben in der Natur, Entsagen der häuslichen Bequemlichkeit und Einfachheit) vor allem in zivilisationsfernen Räumen (Wald, Feld oder Fluss) stattfinden. Zu eben diesem Initiationsritus ist Carl ebenso wenig bereit, als er sich dafür interessiert. Auswenig reproduziertes und in inhaltlose Begriffe gekleidetes Wissen, das der ursprünglichen Erfahrung und Empfindung entbehrt, ist mit dem ›hegemonialen‹ Männlichkeitsentwurf, den Götz in Jaxthausen repräsentiert, nicht vereinbar. Wuthenow weist mit Bezug auf die Textstelle auf die Rousseau-Rezeption im ausgehenden 18. Jahrhundert hin: Indem das Kind den Herrn von Berlichingen nicht kennt, obschon es sich um den Vater handelt, ist es durch falsches, leeres Wissen sich selbst entfremdet, bevor es noch im Wissen zu sich hat finden dürfen. Als Folge der falschen Erziehung entfremdet es sich auch seinem Vater; es ist gelehrsam, aber im fruchtlos überflüssigem Wissen untüchtig und frühzeitig gleichsam verdorben.185
Im Hinblick auf die Kontakte zu Johann Gottfried Herder, die Goethe während und kurz vor der Entstehungszeit des Textes pflegte, lässt sich anhand dieses Ergebnisses eine Nähe zu dessen Abhandlung über den Ursprung der Sprache feststellen, in der Herder klar gegen eine unnatürlich-gekünstelte Sprache, deren empfindungszentrierter Ursprung nicht mehr transparent wird, Stellung bezieht. In der Position, die Götz vertritt und die mit seinem Männlichkeitsentwurf assoziiert wird, würde sich diesbezüglich die ›natürliche‹ Grundlage der Sprache nach Herder äußern: Wollen wir also diese unmittelbaren Laute der Empfindung Sprache nennen: so finde ich ihren Ursprung allerdings sehr natürlich. Er ist nicht bloß nicht übermenschlich: sondern offenbar tierisch: das Naturgesetz einer empfindsamen Maschine.186
Die unterschiedliche Auffassung dahin gehend, wozu Sprache dienen sollte, dient jedoch innerhalb der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn nur als Folie, auf der die Unvereinbarkeit der Nachkommenschaft mit den Prinzipien hervorgehoben wird, die Götz als Garantie für das Fortbestehen seines ritterlichen Lebens- und Männlichkeitsentwurfes ansieht. Beinahe erscheint die Situation, die Götz im Gespräch mit Elisabeth in V/Gärtgen am Turn schildert, vor dem Hintergrund der Ereignisse, die mit dem Schicksal der Götz-Figur verbunden sind, in einem ironischtragischen Licht: Götz:
[…] Mein alter Vater segnete uns, und eine Nachkommenschaft von edlen, tapfern Söhnen, quoll aus seinem Gebet. Du hast ihn nicht erhört, und ich bin der Letzte. […] Georg ist tot. – Stirb Götz. Du hast dich selbst überlebt, die Edlen überlebt. (GvB 388)
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Ralph-Rainer Wuthenow: Rousseau im »Sturm und Drang«. In: Hinck (Hg.): Sturm und Drang, S. 27. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (digitalisierte Version) Zit. nach:http://www.zeno.org/Literatur/M/Herder,+Johann+Gottfried/Theoretische+ Schriften/Abhandlung+%C3 %BCber+den+Ursprung+der+Sprache (Zugriff: 20. 01. 2008).
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Die Tragik der Figur besteht im System der Intimität in der Tatsache, dass ihm die Unvereinbarkeit von familiärer Konstanz in der Nachkommenschaft und freundschaftlichen Gefolgsleuten am Ende seines Lebens vor Augen geführt wird. Die ›Söhne‹, von denen Götz in der Prophezeiung seines Vaters spricht, sind nicht seine eigenen Söhne, sondern treu ergebene Gefolgsleute, denen gegenüber er die Funktion eines Ersatz-Vaters oder väterlichen Freundes einnimmt. Die Blutlinie, die Götz in der Prophezeiung seines Vaters nur als Zwischenstadium auf dem Weg zu einem (männlichen) Nachfolger vorsieht, ist unterbrochen; das Geschlecht ›Berlichingen‹ endet in der Ritterschaft mit ihm.187 Da dem ritterlichen Männlichkeitsentwurf der Götz-Figur auf der Ebene der Gegenwart die Daseinsgrundlage durch den Verlust von Freiheit, Unabhängigkeit und Verbündeten (Selbitz und Georg sind tot, Sickingen ist geschlagen) unwiderruflich entzogen wurde, besteht seine einzige Hoffnung auf Weitergabe seines Lebenswerkes in der eigenen Nachkommenschaft. Diese Hoffnung – darin ist der Text sehr explizit – zerschlägt sich, da sein einziger Sohn, Carl, aus den genannten Gründen die ›hegemonial‹ männliche Position nicht besetzen kann und damit nach Karthaus das Ende der Epoche versinnbildlicht, in der Götz lebt.188 Die familiäre Situation fügt sich aus diesem Grund wie ein Teil in jenes Mosaik der atmosphärischen Dichte des Textes ein, aus dem die Ursachen für Götzens Scheitern entstehen: Die geschichtliche Entwicklung, die zu Götzens Lebenszeit das Mittelalter endet und die Neuzeit beginnen läßt, ist ein vielfältiger Vorgang, für den kein Einzelner verantwortlich ist, der jedoch in das Leben jedes Einzelnen eingreift. Daher ist die Tragik dieses dramatischen Helden keine Schuld, kein Fehler und kein Irrtum, sondern ein Verhängnis.189
In dem Moment, als Götz seiner Frau auf ihr ängstliches Nachfragen hin im Gefängnis von Heilbronn antwortet: »Suchtest du den Götz? Der ist lang hin« (GvB 386) resümiert er, jener »edle Mann«, den »das Jahrhundert von sich stieß« (GvB 389), seine Position im Wandel der Zeit und verweist gleichsam auf die Vergänglichkeit seiner individuellen Freiheit, seinem ritterlichen Leben und – nicht zuletzt – seinem Männlichkeitsentwurf. 4.3.3 Adelbert von Weislingen Adelbert von Weislingen, der sich vom ehemaligen Jugendfreund zum Gegenspieler der Götz-Figur entwickelt, bietet im Hinblick auf eine an seinem Männlichkeitswurf orientierte Untersuchung zahlreiche interessante Ansatzpunkte. Im Folgenden werden aus diesem Grund sowohl sein Verhältnis zu Götz als auch die entscheidenden Konfliktsituationen in den Bereichen der Befolgung ritterlicher bzw. höflicher Verhaltensnormen sowie seine Position im System der Intimität genauer analysiert. 187 188 189
Vgl. Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 45. Vgl. Karthaus: Sturm und Drang, S. 92. Karthaus: Sturm und Drang, S. 92. Vergleichbar argumentiert Michelsen: Goethes »Götz«: Geschichte dramatisiert?, S. 52.
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Weislingens hervorstechendes Merkmal sind die inneren Spannungen, die ihn textübergreifend in verschiedenen Konstellationen kennzeichnen. Obwohl ihnen unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen, ziehen sie jeweils den Effekt nach sich, die Figur in der Entscheidungsfindung zu lähmen und dadurch die Unsicherheit zu einem wichtigen Kontinuum der Figurenkonzeption zu erheben.190 Bereits zu Beginn des Textes wird diese Spannung im Gespräch zwischen Metzler und Sievers aus der Perspektive der Fremdwahrnehmung antizipiert. Weislingen wird darin von Metzler als »des Bischofs rechte Hand« (GvB 281)191 vorgestellt. Damit erscheint Weislingen als »verhöflichter Ritter«192 von Beginn an durch die Nähe zum höfischen Leben in Bamberg in Opposition – oder, wie Karthaus es bezeichnet – als »Kontrastfigur«193 zu Götz und dem System des Rittertums, das in Jaxthausen praktiziert wird. Allerdings befindet er sich zu diesem Zeitpunkt gerade in Jaxthausen, wobei Götz das Ziel verfolgt, ihn, wie er in I/Jaxthausen. Götzens Burg formuliert, zu seiner »rechten Hand« (GvB 297) zu erklären. Die allegorische Formulierung misst Weislingen in beiden Fällen die Funktion eines Sekundanten zu, der sich potenziell vor die Wahl gestellt sieht, sich zwischen der Nähe zu zwei Machtzentren zu entscheiden: Bamberg oder Jaxthausen, Rittertum oder Hofleben. Im Hinblick auf seinen Männlichkeitsentwurf ist jedoch entscheidend, dass er sich – unabhängig von seiner Entscheidung – in beiden Fällen in den Randbereichen der Macht, nicht aber im eigentlichen Machtzentrum, aufhalten würde. Durch die Nähe zur Macht erhält er sowohl als Vertrauter des Bischofs in Bamberg als auch als Jugendfreund Götzens in Jaxthausen die von Connell beschriebene »patriarchale Dividende«. Eine der grundlegenden Fragen ist dabei sowohl, aus welchen Motiven heraus als auch wie er sich den Machtzentren in Bamberg und Jaxthausen zu nähern versucht. Die Interaktion mit Götz im ersten Akt zeigt Weislingen in physischer und psychischer Rast- und 190
191 192
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Dieser Aspekt ist in der Forschung bislang zu selten hervorgehoben worden. Weislingen wird in der Tat als ›Gegenspieler‹ Götzens dabei sehr häufig eher über- als unterschätzt. Kaiser: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang, S. 204, betont die Position Weislingens als »Rivale« Götzens. Wells sieht ihn als einen ›kalkulierenden Politiker‹ (George A. Wells: Götz von Berlichingen. History, Drama, and Dramatic Effectiveness. In: Frank M. Fowler u. a. (Hg.): Publications of the English Goethe Society. New Series Vol. LVI. Papers Read before the Society 1985–86. Leeds 1987, S. 86f.); bei McInnes: Moral, Politik und Geschichte in Goethes Götz von Berlichingen, S. 7ff., wird ihm ein »ungewöhnliche[r] Erfolg […] auf diplomatisch-politischem Gebiet« attestiert, den der Autor des Aufsatzes auf »die Geschicklichkeit, mit der er diese Methoden verwendet und sie konsequent ausnützt, um sein Ziel zu erreichen« zurückführt. (Ebd.). Konsequenz – das wird die geschlechterspezifische Analyse dokumentieren – scheint allerdings die am wenigsten ausgeprägte Eigenschaft der Figur zu sein, was die zuvor angesprochenen Deutungslinien mit erheblichen Zweifeln konfrontiert. In diesem Sinne lässt sich Michelsen: Goethes »Götz«: Geschichte dramatisiert?, S. 50, zustimmen, der betont: »In der Tradition der in ihrer Empfindsamkeit hin und her gerissenen Helden vom Schlage Mellefonts handelt er nicht aus Bosheit, sondern aus Schwäche […]«. (Ebd.). Betont wird diese Tatsache insbesondere von Graham: Goethe and Lessing, S. 32. Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 28. Vgl. Volker Neuhaus: Johann Wolfgang Goethe: Götz von Berlichingen. In: Hinck (Hg.): Geschichte als Schauspiel. Frankfurt am Main 1981, S. 91. Karthaus: Sturm und Drang, S. 91.
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Ratlosigkeit:194 Einsilbig begegnet er den Bemühungen von Seiten Götzens, ihn als Gast, und nicht als Gefangenen, zu behandeln. Zur Selbstreflexion und Vergegenwärtigung der Situation wird er erst fähig, nachdem ihn Götz für einen Moment allein zurücklässt: Weislingen:
O daß ich aufwachte! Und das alles wäre ein Traum! In Berlichingens Gewalt, von dem ich mich kaum losgearbeitet hatte, dessen Andenken ich mied wie Feuer, den ich hoffte zu überwältigen! […] Rückgeführt Adelbert in den Saal! wo wir als Buben unsere Jagd trieben. Da du ihn liebtest, an ihm hingst wie an deiner Seele. Wer kann ihm nahen und ihn hassen? Ach! Ich bin so ganz nichts hier. […] Wie wird sich der Bischof ängstigen, und meine Freunde? […] Können sie mir geben wonach ich strebe? (GvB 296)
Der Wunsch, aufzuwachen, weist auf grundlegende Störungen der Wahrnehmungsprozesse hin: Weislingen will und kann die Realität, in der er sich befindet, noch nicht akzeptieren. Die Diskrepanz zwischen Götz und ihm wird in diesem Zusammenhang besonders anhand ihrer gegensätzlichen Bezugnahmen zur Vergangenheit deutlich. Während Götz die Erinnerung an die Vergangenheit bewusst sucht, um die Jugendfreundschaft auf Gegenwart und Zukunft zu übertragen, versucht Weislingen, sich von seiner Vergangenheit zu befreien, die in der Erinnerung vor allem mit Götz verbunden ist: (»den ich hoffte zu überwinden«).195 Die Wiederherstellung der Männerfreundschaft steht aus diesem Grund unter ungünstigen Vorzeichen, was zusätzlich durch die Wortwahl Weislingens (»in Berlichingens Gewalt«) hervorgehoben wird. Dass die gemeinsame Jugendfreundschaft auch in Weislingens Gedächtnis positiv gespeichert ist, bedroht seinen Gegenwartsbezug zu Bamberg umso mehr. Die Textpassage enthält darüber hinaus eine Aussage über die gemeinsame Sozialisation im Kindesalter: Weislingen, der nicht wie Götz dem Schwert-, sondern dem Hofadel angehört, war mit dem jungen Götz systemübergreifend befreundet. Die Unmöglichkeit, diese Freundschaft unter dem geschichtlichen Wandlungsprozess aufrechtzuerhalten, überträgt die gesellschaftliche Isolation der Reichsritter an dieser Stelle auf eine persönliche Ebene, die Weislingen schrittweise bewusst wird. Die Achtung und die Zuneigung Götz gegenüber (»Wer kann ihm nahen und ihn hassen?«) drohen seine gegenwärtigen Pläne – von denen zu diesem Zeitpunkt mit Ausnahme der Tatsache, dass sie mit dem Bischof von Bamberg verbunden sind, noch nichts Genaues bekannt ist – zu gefährden. Die Selbstreflexion hebt hervor, dass die eingangs erwähnte Konfliktsituation der Entscheidungsfindung bei Weislingen identitätsbedrohend wirkt. Diese Bedrohung wird in der subjektiven Wahrnehmung der Figur als existenziell empfunden (»Ich bin so ganz nichts hier«), wobei sich die Ungewissheit der Entscheidung zwischen den Machtzentren Jaxthausen und Bamberg mit der Ungewissheit der eigenen Ziele überschneidet. Indem Weislingen in Frage stellt, ob die Repräsentanten des höfischen Lebensstils, zu denen er eine affektive Nähe in empfindet (»meine Freunde«), ihm zu seinen Zielen verhelfen kön194 195
Vgl. Karthaus: Sturm und Drang, S. 91. Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 51, spricht in diesem Zusammenhang von »Minderwertigkeitsgefühle[n] gegenüber Götz«.
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nen, verlegt er seine Entscheidung auf unbestimmte Zeit in die Zukunft. Er erscheint durch die Unfähigkeit, seine Bestrebungen genau zu artikulieren, bereits in den ersten Äußerungen als Gegenentwurf zu Götz, der auf eine Entscheidung seines Jugendfreundes drängt. In seiner Absage an die von Götz im Trinkspruch ausgedrückte und an die Vergangenheit gebundene Fröhlichkeit: »Die Zeiten sind vorbei« (GvB 296) offenbart sich ein melancholischer Charakterzug, der im weiteren Textverlauf immer deutlicher in den Vordergrund gerät. Götzens Appell an den durch ihn selber versinnbildlichten »Wert eines freien Rittersmanns« (GvB 296) entgegnet er, indem er die Position der Gegner der Reichsritter verteidigt. Die durch die persönliche Unentschlossenheit belastete Freundschaft wird an jener Stelle zum Politikum, da Götz Weislingen als ›Werkzeug‹ der Fürsten bezeichnet. Er spricht ihm damit zentrale Eigenschaften ab, auf die sich sein eigener ›hegemonialer‹ Männlichkeitsentwurf entscheidend stützt: Individualität, Unabhängigkeit und Stärke. Weislingen weiß darauf nicht adäquat zu reagieren; sein Ausruf »Berlichingen« (GvB 299) muss eher als Ausdruck der Hilflosigkeit denn als Protest gewertet werden. In diesem Sinne lässt sich Hinderers Feststellung verstehen, in der er Weislingen »eine bestimmte Ich-Schwäche im Charakter«196 attestiert. Während Götz mit den Bemühungen, Weislingen durch Berufung auf die gemeinsame freundschaftliche Vergangenheit als Verbündeten zu gewinnen, zunächst ohne Aussicht auf Erfolg bleibt, gelingt es Maria, Weislingen im System der amourösen Intimität zu einer emotionalen Regung zu bewegen: In der Szene I/Jaxthausen offenbart sich Weislingen zum ersten Mal als Figur, die entschlossen handelt sowie gleichsam als Mann, der klare Entscheidungen trifft: Weislingen: Ich fühle nichts, als nur daß ich ganz dein bin. (Er umarmt sie.) Maria: Ich bitte Euch laßt mich. […] Ihr scheinet aber schon von dem Besitz nehmen zu
wollen, was nur unter Bedingungen Euer ist. […] Weislingen: (Er nimmt ihre Hand.) Wie wird mirs werden, wenn ich Euch verlassen soll! […] Maria: Auch der Aufschub hat seine Freuden. Weislingen: Sage das nicht Maria, ich muß sonst fürchten du empfindest weniger stark als ich. Doch ich büße verdient, und schwindet nicht alle Entsagung gegen den Himmel voll Aussichten? Ganz der Deine zu sein, nur in dir und dem Kreis von Guten zu leben, von der Welt entfernt, getrennt […] Ich habe viel gehofft und gewünscht, das widerfährt mir über alles Hoffen und Wünschen. (GvB 305f.)
Die Verbindung zwischen Maria und ihm ist – vergleichbar mit der Freundschaft zu Götz – aus Weislingens Perspektive zunächst ein Element der Vergangenheit. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass Weislingen in der zitierten Textpassage deutlich seine Absicht erkennen lässt, die amouröse Vergangenheit auf die Gegenwart zu projizieren. Im Gegensatz zu der von Götz angestrebten Freundschaft assoziiert er mit der Beziehung zu Maria keine Bedrohung seiner gesellschaftlichen Reputation; mehr noch, er zeigt sich sogar bereit dazu, auf die Einbindung in die Gesellschaft zu verzichten und somit, systemtheoretisch argumentiert, in die 196
Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 36.
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Nähe der Position eines Exklusionsindividuums zu gelangen (»nur in dir und dem Kreis von Guten zu leben, von der Welt entfernt«). Seine Vorstellung, die die eigene Unzufriedenheit durch Exklusion aus der Öffentlichkeit sowie Verabsolutierung einer amourösen Bindung (»nur in dir […] zu leben«) zu überwinden versucht, manövriert ihn in eine intertextuelle Parallele zu der Figur des Major von Tellheim gegen Ende von Minna von Barnhelm. Wie Tellheim bezieht auch Weislingen das wiedererlangte Bewusstsein der eigenen Identität aus der amourösen Bindung an eine Frau. Während jedoch im Falle Tellheims herausgearbeitet werden konnte, dass die Hilfsbedürftigkeit Minnas in ihm seine ursprüngliche Funktion des soldatischen Beschützers wiederaufleben lässt, ist es im Beispiel Weislingens die Freiheit, die er durch die amouröse Hoffnung wiederzuerlangen glaubt: Weislingen:
[…] Wie ich von den elenden Menschen abhing die ich zu beherrschen glaubte, von den Blicken des Fürsten, von dem ehrerbietigen Beifall umher. Götz teurer Götz hast mich mir selbst wiedergegeben, und Maria du vollendest meine Sinnesänderung. Ich fühle mich so frei wie in heiterer Luft. (GvB 308)
Zum ersten Mal wird in der zitierten Passage ein genauerer Einblick in die Wertevorstellungen Weislingens gegeben: Das Streben nach Achtung und Reputation bestimmte seinen Ehrgeiz bei Hofe; verbunden waren diese Ambitionen mit dem Verlust an persönlicher Freiheit. Erst in diesem Moment erschließt sich die ausweichende Grundstimmung, die Weislingen in den vorangegangenen Gesprächen mit Götz gekennzeichnet hatten, da er als Figur, die sich selber als ›unfrei‹ wahrgenommen hatte, plötzlich mit dem auf Jaxthausen verbreiteten und von Götz nicht nur versinnbildlichten, sondern auch direkt angesprochenen »Wert eines freien Rittersmanns« (GvB 297) konfrontiert worden war. Kemper bezeichnet diesen Prozess, den Weislingen durchläuft, als »Rückkehr zum eigenen Ich«.197 Bemerkenswert und innerhalb der Forschung bislang noch zu wenig beachtet198 ist im Zusammenhang mit seiner »Sinnesänderung« (GvB 308) die wechselseitige Beeinflussung der beiden Ebenen innerhalb des Systems der Intimität: Erst nachdem es Weislingen gelungen ist, durch die Pläne mit Maria Hoffnung im amourösen Bereich zu schöpfen, zeigt er sich auch dem Freundschaftsangebot Götzens gegenüber nicht nur aufgeschlossen, sondern zugleich bereit, es durch einen Treueschwur zu bekräftigen:
197 198
Kemper: »Ineffabile«, S. 52. Überzeugend stellt McInnes: Moral, Politik und Geschichte in Goethes Götz von Berlichingen, S. 7, »erotische und soziale Wünsche« als Movens für Weislingens Ambitionen dar. Die Beeinflussbarkeit und vor allem die andauernde Unsicher- und Unzufriedenheit, die zu einem wichtigen Charakteristikum dieses Zusammenhangs werden, werden allerdings nicht problematisiert. Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 183, betont die Überblendung der Bereiche der ›Intimität‹ (in der Beziehung zu Maria) und der Sehnsucht nach Partizipation an der ›Welt der freien Ritter‹. Was sie jedoch nicht mit einbezieht, ist der für eine geschlechterspezifische Fragestellung entscheidende Aspekt der Ableitung einer Entscheidung für den ›ritterlichen‹ Männlichkeitsentwurf ohne tatsächliche innere Überzeugung und aufgrund externer – sinnlicher – Einflüsse, die im Falle Weislingens, wie oben gezeigt, vorliegen.
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Götz:
[…] ich verlange weiter nichts als Eure Hand, dass Ihr inskünftige meinen Feinden weder öffentlich noch heimlich Vorschub tun wollt. Weislingen: Hier fass ich Eure Hand. Lasst von diesem Augenblick an Freundschaft und Vertrauen gleich einem ewigen Gesetz der Natur unveränderlich unter uns sein. (GvB 306f.)
Willems sieht in Weislingens Bestreben, durch das Bündnis mit Götz »dem Kreis der Tugendhaften« beizutreten, eine »Glücksutopie«, die von ihm beschworen wird.199 Mit Bezug auf die Analyse der beiden von Götz und Weislingen verkörperten Männlichkeitsentwürfe wird an dieser Stelle jedoch auch ein weiteres wichtiges Merkmal deutlich: Es ist nicht allein der von Götz versinnbildlichte und den Anspruch auf das Zentrum ›hegemonialer‹ Männlichkeit erhebende ritterliche Männlichkeitsentwurf, der Weislingen zum Bündnis mit Götz bewegt. Das entscheidende Motiv dafür ergibt sich durch seine Beziehung zu einer Frau. Diese Tatsache lässt auf die Nicht-Akzeptanz des maskulinen Hegemoniebilds, das sich um Götz herum in Jaxthausen entfaltet, schließen. Insbesondere im Vergleich zu den unter den vorangegangenen Abschnitten untersuchten Beziehungen zwischen Götz und Georg oder Götz und Bruder Martin präsentiert sich Weislingen durch die Entscheidungsfindung, die zwischengeschlechtlich motiviert ist, als Gegenentwurf zu den beiden Figuren Georg oder Bruder Martin: Sie entwickeln ihren Entschluss, Götz zu folgen bzw. folgen zu wollen, aus dem Wunsch heraus, dem durch Götz symbolisierten Männlichkeitsentwurf nacheifern zu wollen. Die persönliche Identifikationsabsicht mit dem Lebensentwurf eines Reichsritters wie Götz, die beispielsweise im Falle Georgs mehrfach hervorgehoben wird, ist bei Weislingen zumindest intrinsisch nicht vorhanden; das Bündnis mit Götz wird extrinsisch motiviert und behält somit von Anfang an durch den Bezug auf externe Bedingungen einen provisorischen Charakter. Dieser provisorische Charakter wird durch die bereits unter 4.3.2 analysierte »stellvertretende« Funktion Weislingens als Ersatz für die rechte (künstliche) Hand verstärkt. Der Treueschwur mit der künstlichen Hand Götzens führt nach Luserke zu folgendem Ergebnis: Wo nur stellvertretend gehandelt wird, wo kein authentisches Handeln mehr möglich ist, entstehen Soll-Bruchstellen.200
Götz ist sich der Zerbrechlichkeit dieses Zustands selber nicht hinlänglich bewusst, da er die Umstände der Verbindung Weislingen – Maria ebenso wenig in Betracht zieht wie die Kürze der Entscheidungsfindung. Unter diesem Eindruck verwirft er den prophetischen Albtraum und lässt Weislingen über das System der Freundschaft hinaus auch an der Familie partizipieren: »Mein Freund und Bruder!« (GvB 307) Die Integrität Weislingens wird allerdings durch Elisabeths Äußerung sowohl direkt im Anschluss an die Verbindung zwischen Maria und ihm: »So geschwind!« (GvB 308) als auch in I/Jaxthausen Götzens Burg: »Weislingen […], der so treulos an meinem Mann handelt« (GvB 292) in Frage gestellt. Dass sie damit die Situation weit199
200
Willems: Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang, S. 181. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 113.
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aus realistischer einschätzt als Götz, wird vor allem im Verlauf des zweiten Aktes deutlich, der Weislingens Abfall von Jaxthausen markiert. Die Konfliktsituation, in der sich der Männlichkeitsentwurf Weislingens beweisen muss, umfasst eine doppelte Spannung, die im zweiten Akt in zwei parallelen Handlungssträngen behandelt wird: Im Bereich der Treue berufen sich sowohl Götz als auch der Bischof von Bamberg auf Weislingens Bündniszusage. Unter dem Einfluss des Machtzentrums in Bamberg wird das alte Dilemma der Entscheidungsfindung erneut zu Weislingens Kernproblem: Die Aussage »Und ich weiß nicht was ich sagen soll« (GvB 319) deutet auf einen Rückfall in die Position der Unentschlossenheit hin, die er in Jaxthausen letztlich abgelegt zu haben schien. Verstärkt werden die Zweifel im zweiten Handlungsstrang des zweiten Aktes, indem Weislingen zunehmend unter den Einfluss von Adelheid von Walldorf gerät und somit auch im System der Intimität Maria gegenüber untreu zu werden droht. Da auch die Unsicherheit im amourösen Bereich wiederum dazu beiträgt, die bereits überwunden geglaubte Identitätskrise zu forcieren: »Ich bin so geplagt mit dem was ich bin, daß mir wenig bang ist für was man mich nehmen mag« (GvB 320), knüpft sich in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Einfluss der räumlichen Deixis auf Weislingen an. Obwohl herausgearbeitet wurde, dass das Doppelbündnis mit Maria (als zukünftiger Ehemann) und Götz (als Bündnispartner) nicht auf die gefühlte Nähe zu dem durch Götz repräsentierten Ideal der ›hegemonialen Männlichkeit‹ zurückgeführt werden kann, werden beide Versprechen in Jaxthausen und somit in einem mit dem System des Rittertums verbundenen Raum gegeben. Sie werden darüber hinaus auch mittels der kodifizierten Etikette des Rittertums, dem Treueschwur per Handschlag und dem Segen des ritterlichen Patrons und Burgherrn für die bevorstehende Heirat, bekräftigt. Kausal damit verbunden zeigt sich das wiedererlangte Gefühl der individuellen Freiheit, indem Götz – wie Weislingen resümiert – »ihn sich selber wiedergegeben« habe. Wenn auch, so lässt sich daraus schlussfolgern, Weislingen den durch Götz repräsentierten Männlichkeitsentwurf nicht für sich selber beansprucht, so gelangt er dennoch zu dem für Götz entscheidenden Gefühl der Freiheit, an dem er zumindest als Gast im System des Rittertums unter den Bedingungen von Jaxthausen partizipiert. Die von Natascha Würzbach vertretene Auffassung, dass dargestellte Räume »verschiedenen Semantisierungen unterworfen« seien, aber vor allem auch »mimetisch auf die soziale Realität verweisen« können,201 lässt sich in besonderem Maße auf die Situation, in der sich Weislingen befindet, anwenden. Die Verbindung zu der für die vorliegende Arbeit entscheidenden Thematik der Männlichkeitsanalyse kann im Fall Jaxthausen wie folgt beschrieben werden: Die von Würzbach angesprochene »Semantisierung« des Raums verweist in Jaxthausen als Ritterburg zunächst auf das System des Rittertums und – auf die Burginsassen bezogen – auf die soziale Identität des ›Manns‹ als ›Ritter‹. Im Rekurs auf den von Zimbardo vertretenen Ansatz können die Eigenschaften der Bindung an den Freiheitsdrang, die Unabhängigkeit und die enge Orientierung an einem ritterlichen Verhaltenskodex als Grundlage eines – beispielsweise durch Götz verkörperten – ›ritterlich-männlichen‹ Selbstkonzepts ver201
Vgl. Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 49.
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standen werden. Die Verbindung zur räumlichen Deixis ergibt sich vor allem daraus, dass dieses Selbstkonzept in Jaxthausen von mehreren Figuren geteilt und akzeptiert wird. Auch Weislingen wird während seines Aufenthalts in der Götzenburg potenziell in das System der Ritterschaft integriert; die Burg ist zudem der Raum der ›Selbstfindung‹ der Figur. Allerdings ist dieser Zustand auf den Raum Jaxthausen beschränkt. Die Semantisierung des Raums und ihr Zusammenhang mit den Konzepten verschiedener Männlichkeitsentwürfe werden im Gegensatz dazu in Bamberg vor allem durch den Rückfall in die Unfreiheit der Entscheidungsfindung Weislingens beeinflusst. Bamberg wird dabei als Raum gekennzeichnet, in dem sich die Männlichkeitsentwürfe durch ihre Abhängigkeit von der öffentlichen Reputation innerhalb der höfischen Gesellschaft präsentieren: Anders als in Jaxthausen gilt der Freiheitsdrang, auf dem wesentliche Gesichtspunkte des ritterlich-männlichen Selbstkonzeptes basieren, nicht als hinreichendes Mittel, um zur Verwirklichung der eigenen Ziele zu gelangen. Durch Intrigen, Lagerbildung und das Bestreben einer möglichst engen Annäherung an die Quelle der lokalen Machtinstanz wird der Gegensatz zu dem in Jaxthausen verankerten System einer einfachen moralischen Aufrichtigkeit, die sich insbesondere unter den Gesichtspunkten der Oralität auf gegebene Treueschwüre stützt, transparent. Das Gespräch zwischen Weislingen und Adelheid in II/Adelheidens Zimmer kann dafür beispielhaft angeführt werden: Weislingen: […] Zöge mich nicht die Ritterpflicht, der heilige Handschlag – […] Adelheid: […] Was habt Ihr versprochen? Und wem? Einem Mann, der seine Pflicht ge-
gen den Kaiser und das Reich verkennt, in eben dem Augenblick Pflicht zu leisten, da er durch eine Gefangennehmung in die Strafe der Acht verfällt. […] Ein Feind des Kaisers! Geselle eines Räubers, du Weislingen mit deiner sanften Seele. (GvB 321)
Innerhalb des in Bamberg praktizierten höfischen Systems greift die Infragestellung des Treueschwurs, den Weislingen Götz gegenüber geleistet hat, tatsächlich weiter: Die Implikationen umfassen die Ablehnung eines gesamten Wertesystems, das jenes zuvor herausgearbeitete, von Götz besetzte ›ritterlich-männliche Selbstkonzept‹ als Gesetzlosigkeit diffamiert. Die unmittelbare Konsequenz für Weislingen umfasst über die Unterdrückung des in Jaxthausen wiederentdeckt geglaubten Freiheitsdranges hinaus die Konfrontation mit vielfältigen Quellen der höfischen Instrumentalisierung durch den Bischof: »Spare nichts, wenn du ihn zurück bringst« (GvB 313) und insbesondere durch Adelheid. Erste Zweifel an der Überzeugung seiner Treue zu Götz: »Und ich weiß nicht was ich sagen soll« (GvB 319) entstehen bereits im Gespräch mit dem Bischof; aber das ausschlaggebende Moment ergibt sich – analog zur Situation in Jaxthausen – erst im Kontakt mit einer Frau – Adelheid. Die Duplizität der Ereignisse ist unter dem Gesichtspunkt der Position, die Weislingen innerhalb des Systems der Intimität einnimmt, auffallend: Jeweils in den Gesprächen mit Maria und Adelheid revidiert Weislingen Entscheidungen, die er zuvor überzeugt vertreten hatte. Der weibliche Einfluss auf die männliche Entscheidungsfindung lässt ihn – im Gegensatz zu seiner Resistenz gegenüber binnengeschlechtlichen Überzeugungsversuchen – in zwischengeschlechtlichen Konstellationen als besonders wankelmütig erscheinen und lenkt die Aufmerksamkeit in der Analyse auf die 204
Beziehung zu Adelheid von Walldorf. Die in der Szene II/Bamberg. Zimmer der Adelheid durch das Kammermädchen beim Anblick Weislingens geäußerte Fremdwahrnehmung zitiert Attribute der Schönheit, die einer ästhetisch vollkommenen, jedoch nicht zwangsläufig einer betont maskulinen Körperlichkeit entsprechen: Fräulein:
Ich sah ihn wie er zum Schloß herein reiten wollte, er saß auf einem Schimmel. […] Adelheid: Wie gefällt er dir? Fräulein: Als mir nicht leicht ein Mann gefallen hat. Er glich dem Kaiser hier (deutet auf Maximilians Porträt) als wenn er sein Sohn wäre. Die Nase nur etwas kleiner, ebenso freundliche lichtbraune Augen, ebenso ein blondes schönes Haar, und gewachsen wie eine Puppe. Ein halb trauriger Zug auf seinem Gesicht war so interessant. Adelheid: Ich bin neugierig ihn zu sehen. Fräulein: Das wär ein Herr für Euch. (GvB 316)
Die Schönheit Weislingens, die zweifelsohne Reize auf das Kammerfräulein und Adelheid ausübt, geht mit einer latenten physischen Zerbrechlichkeit einher. Ein Mann, dem das Attribut zuerkannt wird, »wie eine Puppe gewachsen« zu sein, gerät unweigerlich durch den Vergleich mit dem Spielobjekt junger Frauen in den Verdacht, sich aus dem Kernbereich eines patriarchalisch-dominanten und heterosexuell wirkenden Männlichkeitsentwurfs zumindest teilweise zu entfernen. Die puppenhafte Physis Weislingens, die durch die Gleichmäßigkeit seiner Schönheit unterstützt wird, exkludiert ihn in der Fremdwahrnehmung von jenen Bereichen eines maskulin konnotierten Aktionsraumes, der eine überlegene Körperlichkeit voraussetzt und beansprucht. Beispiele dafür finden sich in den Kampfhandlungen und – allgemeiner gefasst – in der Präsenz in physisch anspruchsvollen Situationen. Weislingen ist in seiner ›Schönheit‹ ebenso unberührt wie unvereinbar mit jenem dezidiert maskulinen Aktionsraum der Aggression. Im Gegensatz zu Götz, dessen Leib zu einem Palimpsest der eigenen kriegerischen Vergangenheit wird, ist Weislingen durch die Ferne zu Kampfhandlungen in seiner Erscheinung unversehrt. In den amourösen Desideraten, die sowohl durch Maria im ersten Akt als auch durch das Kammerfräulein und Adelheid in der zuvor zitierten Szene vertreten werden, wird folgendes erotisches Faszinationspotenzial veranschaulicht: Die weiblichen Figuren bewundern einen Mann, der sich von dem dominant-maskulinen, beispielsweise durch Götz repräsentierten Typus deutlich abgrenzt und zuweilen sogar androgyne Züge aufweist. Die optische Differenz zu Götz dient allerdings auch als Projektionsfläche der charakterbezogenen Gegensätze. Der Vergleich der Statur Weislingens mit einer Puppe weist auf seine potenzielle Manövrierbarkeit als Objekt zur Befriedigung ludistischer Wünsche in den Händen einer Frau, in diesem Fall Adelheids, hin. Obwohl die Ankündigung: »Das wär ein Herr für Euch« (GvB 316) die Position Weislingens als Liebhaber Adelheids vorerst nur andeutet, wird bereits anhand der Argumentationslinie der beiden Frauen die Wirkung Weislingens deutlich. Von der Sichtung geht sie zur Imagination erotischer Wünsche über, die der Text sowohl durch die Beschreibung der Physis als auch durch den Verweis auf den melancholischen »halbtraurigen Zug auf seinem Gesicht« suggeriert. In dem Zusammenspiel von zerbrechlicher Physis und Melancholie erweckt 205
Weislingen bei seiner Ankunft in Bamberg zusätzlich den Eindruck, ihn nicht nur manövrieren, sondern sich selber ihm gegenüber als dominant inszenieren zu können. Der intertextuelle Vergleich zu Mozart/Da Pontes Text Le Nozze di Figaro zeigt im Bereich des amourösen Begehrens der Frauen Parallelen zur Figur des Cherubino auf. Ähnlich wie bei Mozart/Da Ponte besteht das Ergebnis auch im Falle Weislingens darin, dass eine Figur, die sowohl körper- als auch charakterbezogen in den von Connell beschriebenen Bereichen dem Kern einer dominant-maskulinen Form ›hegemonialer Männlichkeit‹ eher fern bleibt, von mehreren Frauen sexuell ausdrücklich begehrt wird. Diese intertextuelle Parallele wird allerdings anhand der Figur des Dieners Weislingens, Franz, noch deutlicher. Allerdings muss insbesondere im Falle Weislingens ergänzt werden, dass die fehlenden Attribute aus dem Bereich der Machtbeziehungen – Stärke, Unabhängigkeit und Individualität – auch den Bereich der vermeintlichen amourösen Erfolge nachhaltig beeinflussen. Im selben Maße, wie Weislingens Bemühungen um Adelheid an Intensität gewinnen, wird er ihr hörig und büßt somit zunehmend das Ausmaß an Selbstständigkeit ein, das er durch die Nähe zum Machtzentrum in Bamberg zu erreichen hoffte. Bereits die Entscheidung, nicht abzureisen und sich somit von Götz endgültig loszusagen, wird in der Szene II/ Vorzimmer aus Sicht der amourösen Bemühungen um Adelheid motiviert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Weislingen offenbar zugunsten seiner amourös-erotischen Ambitionen gegen das eigene Bewusstsein entscheidet: Weislingen:
Du bleibst! Sei auf deiner Hut, die Versuchung ist groß. Mein Pferd scheute wie ich zum Schloßtor herein wollte, mein guter Geist stellte sich ihm entgegen, er kannte die Gefahren die mein hier warten. Doch ist’s nicht recht, die vielen Geschäfte die ich dem Bischof unvollendet liegen ließ, nicht wenigstens so zu ordnen daß ein Nachfolger da anfangen kann, wo ich’s gelassen habe? […] Wäre doch besser gewesen, wenn ich nicht gekommen wäre. Aber ich will fort – morgen oder übermorgen. (GvB 323)
Zwei Aspekte sind an dieser Stelle entscheidend. Im Rekurs auf Lotmans Thesen zum Zusammenhang zwischen der Position einer Figur innerhalb dessen, was er als »künstlerischen Raum«202 bezeichnet, markiert die Schwelle, die Weislingen bei seinem Einritt nach Bamberg überschreitet, jene »Grenze«, deren Überschreitung dem Text nach Lotman eine »Sujethaftigkeit« verleiht.203 Weislingen vollzieht mit der Grenzüberschreitung nach Bamberg nicht nur den Eintritt in einen Raum mit neuen topologischen bzw. topographischen, sondern auch semantischen Charakteristika. Dieser Moment der Grenzüberschreitung wird für ihn irreversibel. Analog zu Lotmans Argumentation würden sich damit drei Möglichkeiten eröffnen: Entweder bleibt die Figur (erstens) nach der Grenzüberschreitung in ihren wesentlichen Merkmalen konstant, oder sie tritt (zweitens) in den anderen Raum ein, wobei sie zumindest ein wichtiges eigenes Merkmal zugunsten des Raumes aufgibt und sich somit anpasst, oder sie bewirkt (drittens) nach der Grenzüberschreitung eine Veränderung der Struktur des erreichten Raumes. An dieser Stelle bietet Lotmans Ansatz eine 202 203
Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 311ff. Vgl. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 336ff.
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überzeugende Erklärung für das Dilemma Weislingens: Er unterliegt der Illusion, den erreichten neuen Raum (das höfische System in Bamberg) seinen persönlichen Ambitionen gemäß zu seinen Zwecken instrumentalisieren zu können. Weislingen hofft folglich auf die dritte zuvor beschriebene Möglichkeit, nach der Grenzüberschreitung den erreichten Raum zu modifizieren. Tatsächlich ist es jedoch nicht der Zugewinn an individuellem Glücksgefühl und der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, sondern die Einbuße an individueller Freiheit, die ihn in Bamberg erwartet. Weislingen erweist sich demnach als eine Figur, die nach der Grenzüberschreitung mindestens ein Charakteristikum aufgeben muss, um innerhalb des neuen Raumes zu bestehen. In seinem Fall kann gerade jene individuelle Freiheit, die Götz ihm in Aussicht gestellt hatte, als das Kennzeichen interpretiert werden, das Weislingen mit dem Eintritt in die höfische Welt in Bamberg irreversibel aufgibt. Der zweite wichtige Aspekt der zuvor zitierten Textstelle besteht in seiner Beispielhaftigkeit dafür, wie Texte des zeitlich fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts Probleme behandeln, die sich aus einer konsequenten Umsetzung der Postulate einer vernunftbestimmten Handlungsweise der Figuren ergeben. Weislingens obere Seelenkräfte, sein Verstand bzw. seine Vernunft, sind beim Überschreiten der Schwelle nach Bamberg aktiv und projizieren ihre Vorahnung auf sein Schicksal, dessen er sich in diesem Moment bewusst wird. Das Problem ergibt sich aus dem insbesondere von der frühen Aufklärung noch vertretenen Postulat der Herrschaft jener oberen über die unteren Seelenkräfte, die Leidenschaften und Affekte:204 Obwohl Weislingen sich der Gefahr, die er auch in der ›Versuchung‹ verbalisiert, bewusst ist, überschreitet er die Schwelle des Schlosstors unter dem Vorwand der Pflichterfüllung (»die vielen Geschäfte […] zu ordnen«). Dass die amourösen Affekte als Motiv der Bundbrüchigkeit wesentlich schwerwiegender sind, zeigt sich nicht zuletzt in dem Opportunismus, mit dem Weislingen seine mögliche Abreise (»morgen oder übermorgen«) in zunächst ungeklärte Zukunft verlegt. Die Situation wird vor allem dadurch zusätzlich erschwert, dass Weislingen innerhalb des inneren Kommunikationssystems des Textes einen Wissensrückstand gegenüber Adelheid aufweist: Während sie wissentlich in ihrer Rolle als Lockvogel agiert und zugleich ihre erotisch-ludistischen Desiderate zu befriedigen versucht, bleibt Erstes Weislingen verborgen. Das Gespräch zwischen ihm und Adelheid in II/Bamberg spiegelt die veränderte Position Weislingens im System der Intimität wider: Weislingen: Seid Ihr mich schon müde? Adelheid: Euch nicht sowohl als Euren Umgang. Ich wollte Ihr wärt wo Ihr hin wolltet,
und wir hätten Euch nicht gehalten. (GvB 325)
204
El-Dandoush: Leidenschaft und Vernunft im Drama des Sturm und Drang, S. 80, stellt fest, dass die Tragik Weislingens aus einem »Konflikt zwischen seinen verschiedenen Leidenschaften« erwachse. Diese zweifelsfrei zutreffende Erkenntnis überrascht jedoch, da sie im gleichen Text, der unter dem Titel »Leidenschaft und Vernunft im Drama des Sturm und Drang« erschienen ist, zuvor noch überzeugt festgestellt hatte, dass »an keiner Stelle des Götz näher auf die Leidenschaften und Affekte der Dramenfiguren eingegangen« werde. (Ebd. S. 68.).
207
Die Frage, die Weislingen an Adelheid richtet, verdeutlicht die Abhängigkeit, in die er sich begeben hat: Während die zweifelnde Grundhaltung sich anfangs vor allem auf seinen eigenen Willen, seine Pläne, Wünsche und Ziele beschränkt hatte, wird sie jetzt auf die Außenwahrnehmung der Figur übertragen: Weislingen stellt sich mit der Frage nicht nur als Liebhaber, sondern auch als ›Mann‹ in Adelheids Gegenwart zur Disposition, was sich insbesondere in ihrer folgenden pointierten Feststellung zeigt: Adelheid:
[…] Aber laßt mich Euch was von Mannsleuten erzählen. Was seid denn ihr, um von Wankelmut zu sprechen? Ihr die ihr selten seid was ihr sein wollt, niemals was ihr sein solltet. Könige im Festtagsornat, vom Pöbel beneidet. (GvB 325)
Es gelingt Adelheid in dieser Situation, Weislingen an seinem empfindlichsten Punkt zu demaskieren: in der Frage nach dem Verhältnis von ›männlichem‹ Machtanspruch, der sich über eine konkreten Entscheidungsfindung legitimiert (»die ihr selten seid was ihr sein wollt«) und dessen realer Entsprechung. Im gleichen Zusammenhang wirft sie dem unentschlossenen Weislingen Nichterfüllung der geschlechterspezifischen – auf die von ihr angesprochenen »Mannsleute« bezogenen – Anforderungen vor (»niemals was ihr sein solltet«). Die Abhängigkeit von emotionaler Nähe: »Könntest du mich lieben, könntest du meiner Leidenschaft einen Tropfen Linderung gewähren« (GvB 326) wird von Adelheid unter Abspruch der ›Männlichkeit‹ Weislingens beantwortet: Adelheid:
[…] Ich sah statt des aktiven Manns der die Geschäfte eines Fürstentums belebte, der sich und seinen Ruf dabei nicht vergaß, der auf hundert großen Unternehmungen wie auf übereinander gewälzten Bergen zu den Wolken hinauf gestiegen war; den seh ich auf einmal, jammernd wie einen kranken Poeten, melancholisch wie ein gesundes Mädgen, und müßiger als einen alten Junggesellen. (GvB 326)
Die Kontrastierung von Vergangenheit und Gegenwart hebt die Entfernung Weislingens vom Kernbereich einer ›hegemonialen Männlichkeit‹, die für den höfischen Bereich Bambergs angenommen werden kann, hervor: Die Kennzeichen ›Aktivität‹ und ›Reputation‹ sowie die karrierebezogenen Ambitionen werden dabei als vergangen gedeutet. Weislingens gegenwärtige Position in der Wahrnehmung Adelheids deckt mit ›Jammer‹, ›Krankheit‹ und ›Melancholie‹ nicht nur jene Bereiche ab, die der Aktivität entgegenstreben, sondern grenzt ihn deutlich von einem Kernbereich eines Männlichkeitsentwurfes aus, der den Anspruch auf ›Hegemonie‹ erheben könnte. In den Vergleichen mit einem Kranken, einem Mädchen und einem ›alten Junggesellen‹ erscheint er dadurch nicht nur aus Adelheids Sicht unattraktiv, sondern im Vergleich zu seiner ambitionierten Vergangenheit geradezu lächerlich, worin er sich im deutlichen Gegenentwurf zu einer ›männlich‹ konnotierten Verhaltensdisposition befindet: Dem Schönen ist nichts so sehr entgegengesetzt als der Ekel, so wie nichts tiefer unter das Erhabene sinkt als das Lächerliche. Daher kann einem Manne kein Schimpf empfindlicher sein, als dass er ein Narr, und einem Frauenzimmer, dass sie ekelhaft genannt werde.205
205
Kant in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 201.
208
Weislingen wird in der amourösen Kommunikation als deutlicher Gegenentwurf zu Götz geschildert: Pathetisch nach Zuneigung strebend und von Selbstzweifeln: »Nach dem übereilten Schritt wieder mit mir selbst einig zu werden« (GvB 327) geprägt, gelingt es ihm nicht, eigene Entscheidungen mit Nachdruck zu treffen und sie gegenüber Adelheid überzeugend zu rechtfertigen. Das Ende von II/Bamberg verdeutlicht, wie die Zweifel, die Weislingen an seiner (maskulinen) Identität und seiner Position als ›Mann‹ in der Funktion ›Liebhaber‹ hegt, durch eine kommunikative Unsicherheit nach außen und somit für Adelheid sichtbar projiziert werden: Adelheid: Ein Tag bringt den andern, und beim Schicksal steht das Zukünftige. Weislingen: Aber wir müssen wollen. Adelheid: Wir wollen ja. Weislingen: Gewiß? Adelheid: Nun ja. Geht nur. Weislingen: Zauberin! (GvB 328)
Die Unzufriedenheit und Ungewissheit der Position im System der Intimität wird aus Weislingens Sicht zusätzlich dadurch verstärkt, dass er den Misserfolg als Liebhaber mit der Entscheidung, sich von Götz loszusagen, assoziiert. Die Opferbereitschaft, mit der er der Freundschaft entsagt hatte, wird durch die Zweifel an der Erwiderung seiner Leidenschaft durch Adelheid von ihm selber in Frage gestellt. In beiden Bereichen – sowohl dem der Freundschaft als auch dem der Liebe – wird Weislingen als stark fremddynamische männliche Figur206 transparent. Mit Bezug auf die zwischengeschlechtliche Interaktion wird seine geschwächte Position gegenüber Adelheid vor allem dadurch deutlich, dass er – wie Luserke feststellt – die Frau als ›Zauberin‹ »mythologisiert«.207 Der Beginn des dritten Aktes zeigt ihn diesbezüglich in einer zumindest scheinbar veränderten Position: Die stetigen Gefühle des Zweifelns werden im Gespräch mit dem Kaiser umso drastischer durch sein Insistieren auf ein militärisches Vorgehen gegen Götz revidiert. Weislingen schwenkt dabei innerhalb weniger Szenen von Ansätzen der Reue Götz gegenüber zum Affekt des Hasses um. In der Nähe zum Machtzentrum – im Gespräch mit dem Kaiser – äußert er die Absicht, Götz zu vernichten: »Hätten wir einmal diesen Sickingen, Selbitz – Berlichingen auf die Seite geschafft, das Übrige würde bald von sich selbsten zerfallen.« (GvB 332) Mit Bezug auf den Männlichkeitsentwurf Weislingens lässt sich an dieser Stelle deutlich die ›patriarchale Dividende‹ nachweisen, die durch eine auffallende Parallele zur Situation im ersten Akt pointiert wird: Wie bereits zum Ende des ersten Aktes befindet sich Weislingen auch in der zuvor zitierten Szene in einem Machtzentrum und verkehrt als Vertrauter freundschaftlich mit dem Mann, der innerhalb des Bereichs – im ersten Akt in Jaxthausen, im dritten Akt Augsburg – das jeweilige Zentrum der Macht besetzt. Wie im ersten Akt befähigt die gefühlte Nähe zur Macht Weislingen erst zu einer Entscheidungsfindung, zu der er sich andernfalls als unfähig erweist. Die Szene III/Augsburg. Ein Garten ist jedoch über die eigene Positio206
207
Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 52, formuliert, Weislingen sei »im Schillerschen Sinn eine sentimentalische, allerdings weitgehend außengelenkte Figur«. Vgl. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 110.
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nierung Weislingens hinaus auch im Hinblick auf sein Verhältnis zu Götz interessant. Während er im ersten und zweiten Akt des Textes unentschlossen zwischen Nähe und Distanz zu Götz schwankt, verbittert sich seine Reaktion auf seinen ehemaligen Jugendfreund, sodass Weislingen seine eigene Selbstverwirklichung nur auf Grundlage der Vernichtung Götzens zu erreichen glaubt. Als Racheengel tritt er im dritten Akt dem Kaiser gegenüber sowie in IV/Adelheidens Schloss im Gespräch mit Adelheid auf: Adelheid: Das ist verhaßt. Weislingen: Ich hab die Zähne zusammen gebissen. Ein so schöner Anschlag, so glück-
lich vollführt, und am Ende ihn auf sein Schloß zu lassen! Der verdammte Sickingen. (GvB 363)
Wiederholt tritt die Bitterkeit, mit der er seinen ehemaligen Jugendfreund verfolgt, auch im fünften Akt in den Vordergrund, wobei sie pathologische Züge annimmt: Weislingen:
[…] Und wenn ich dich habe! – Es ist noch Gnade wenn wir heimlich im Gefängnis dein Todesurteil vollstrecken. – So verlischt er von dem Andenken der Menschen, und du kannst freier atmen töriges Herz. (GvB 377)
Er wird an dieser Stelle erneut als deutlich fremddynamische männliche Figur gekennzeichnet. Über die ehrgeizigen Ziele in den Machtzentren von Bamberg oder Augsburg hinaus wird die Rivalität zu Götz zur Leitidee Weislingens. Den Triumph über den Jugendfreund erlebt er dabei als bestimmend, sodass er ihm alles andere unterordnet; seine Beziehung zu Franz und zu Adelheid ebenso wie sein eigenes machtpolitisches Streben. Die Urfehde, die Götz nach dem Verhör in Heilbronn leisten muss, erlebt Weislingen als persönliche Niederlage. Erneut gelingt es ihm nicht, seine Verbitterung über das Nicht-Erreichen eines Ziels von anderen Aspekten zu trennen. Die persönliche Unzufriedenheit über das misslungene Unternehmen zur Verhaftung Götzens überträgt er auf das System der Intimität, in dem er Adelheid gegenüber Eifersucht zeigt: Weislingen: […] Carls ungewöhnliche Aufmerksamkeit für dich beunruhigt mich. Adelheid: Und mein Betragen? Weislingen: Du bist ein Weib. Ihr haßt keinen, der euch hofiert. Adelheid: Aber ihr! Weislingen: Es frißt mich am Herzen der fürchterliche Gedanke! Adelheid! Adelheid: Kann ich deine Torheit kurieren? Weislingen: Wenn du wolltest! Du könntest dich vom Hof entfernen. (GvB 364f.)
Die zitierte Sequenz verdeutlicht nachdrücklich, wie die Unsicherheit Weislingens aus dem beruflichen in den privaten Bereich übergreift: Nach dem Scheitern seiner Rache gegen Götz fürchtet er, als Liebhaber Adelheids zu scheitern und wird insofern zum Objekt dramatischer Ironie, als er den Nebenbuhler um die Gunst Adelheids fälschlicherweise in Carl, dem Nachfolger Maximilians, vermutet und die wachsende Annäherung zwischen Adelheid und seinem Diener Franz nicht bemerkt. Die Aufforderung an Adelheid, sich vom Hofe zurückzuziehen, spiegelt erneut die Unfähigkeit Weislingens wider, die Beziehung zu seiner Geliebten adäquat zu beurteilen: Analog zu Connells Definition ›hegemonialer Männlichkeit‹, die jenen Dominanzanspruch des Patriarchats erfüllen soll, der die Dominanz des Mannes 210
über andere Männer oder – wie im Falle Weislingens – über eine Frau gewährleistet, beruht die Exklusion Weislingens aus dem Zentrum ›hegemonialer Männlichkeit‹ auf einer fatalen Fehleinschätzung: Einer gefühlten Dominanz im Bereich der Machtbeziehungen ist die reale Grundlage entzogen: Adelheid instrumentalisiert ihn nicht nur; sie betrügt ihn: »Die Unternehmungen meines Busens sind zu groß, als daß du ihnen im Weg stehen solltest. […] mein Weg geht über dich hin.« (GvB 365) Der Betrug im Streben nach Einflussnahme und Macht dehnt sich in der amourösen Tändelei mit Franz auch auf die emotionalen Bindungsstrukturen aus. Dass Weislingen dennoch Adelheid gegenüber Forderungen erhebt und in der formelhaften Wendung »Beruhige dich, du weißt wie ich dich liebe« (GvB 365) Trost findet, kann angesichts der Tatsache, dass er direkt im Anschluss durch die offensichtliche Intimität zwischen Adelheid und Franz als gehörnter Geliebter gezeichnet wird, als Offenbarung seiner selbstverschuldeten Hilflosigkeit gedeutet werden. Weislingen manövriert sich unfreiwillig in den tragikomischen Bereich, indem er aufgrund seines Wissensrückstandes bis kurz vor seinem Tod im fünften Akt immer wieder versucht, sowohl mit seiner untreuen Geliebten, als auch mit seinem Nebenbuhler Franz Pläne für zukünftige Unternehmungen zu besprechen. Freundschaft und Liebe werden in Weislingens Fall zu Katalysatoren des eigenen Untergangs. Die Gründe dafür sind aus genderanalytischer Perspektive eng mit der charakterlichen Schwäche verbunden, die es Weislingen textübergreifend nicht ermöglicht, konsequente Entscheidungen zu treffen und diese unter Abwägung der jeweiligen Begleitumstände umzusetzen.208 Die Brüchigkeit in der Überschneidung des ›Selbstkonzeptes‹ bildet bei Weislingen einen Boden für diese charakterliche Schwäche, die sich seine Gegner zunutze machen. Der charakterlichen Schwächung tritt am Ende des fünften Aktes auch eine physische Beeinträchtigung hinzu: Es gehört zu den dramatisch-ironischen Zügen der Figur, dass die Intrige zwischen Franz und Adelheid durch ihre Wirkursächlichkeit mit Weislingens Untergang verbunden sind, da die einseitige Konzentration auf die Rache an Götz die Liaison erst ermöglicht. Im gleichen Zusammenhang mündet sie in den Plan der Vergiftung und somit in Weislingens Tod. Bis zuletzt gelingt es Weislingen jedoch nicht, sein eigenes von dem Schicksal Götzens zu trennen. Der Zustand des fremddynamischen Männlichkeitsentwurfes wird aus diesem Grund zu einem seiner wichtigen textübergreifenden Charakteristika. Darüber hinaus besteht eine reziproke Beziehung zu Götz auf dem Gebiet der Träume: In V/Weislingens Schloss findet sich ein traumhaftes Pendant zu jener dunklen Vorahnung, die Götzens Traum in I/Jaxthausen kennzeichnet: Weislingen:
Ich bin so krank, so schwach. All meine Gebeine sind hohl. Ein elendes Fieber hat das Mark ausgefressen. Keine Ruh und Rast, weder Tag noch Nacht. Im Schlummer giftige Träume. Die vorige Nacht begegnete ich Götzen im Wald. Er zog sein Schwert und forderte mich heraus. Ich faßte nach meinem, die Hand versagte mir. Da stieß er’s in die Scheide, sah mich verächtlich an und ging hinter mich. – Er ist gefangen und ich zittere vor ihm. (GvB 381f.)
208
Vgl. Alt: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 67.
211
Der Traum steht unter dem Einfluss des zunehmend pathologisch agierenden Weislingen. Der Zustand des »Schlummers« weist dabei auf eine zwar betäubte, jedoch nicht vollkommen außer Kraft gesetzte Wahrnehmungsfähigkeit hin, in der sich rationale und emotionale Prozesse überlagern. Wenn auch die Duellsituation aus Sicht Weislingens zum Zeitpunkt des Traumes unwahrscheinlich und somit dem Bereich der Imagination zuzuordnen ist, so weist sie dennoch in ihrer Abfolge eine gewisse Kohärenz auf: Weislingen begegnet Götz im Wald, wobei die lokale Deixis Götz in seinem typischen Einflussbereich ausweist. Weislingen ist demnach bereits in der Position eines atypischen ›Schlachtfeldes‹, bevor der eigentliche Kampf beginnt. Die Traumsequenz zitiert im Ziehen der Waffe und der Herausforderung weiterhin zentrale Elemente eines ritterlichen Kampfstils, der auf Grundlage des Textes erneut Götz zugeordnet wird. Die Konsequenz des Traumes besteht in der Eigenwahrnehmung Weislingens: Er will »nach seinem Schwert fassen« und erweist sich als unfähig, sich selber zu koordinieren. Der Wunsch nach Vermeidung einer direkten Konfrontation mit Götz führt zur endgültigen Einsicht in die eigene Schwäche, die in das Paradoxon »Er ist gefangen und ich zittere vor ihm« mündet. Graham deutet die Unfähigkeit Weislingens vor allem aus der Perspektive, dass er selber ein Teil Götzens sei: We know why Weislingen is impotent against Götz. He is a part of him, a member of his body; he is Götz’s right hand, and the hand cannot rise against the master.209
Diese Interpretation – so interessant sie auch klingen mag – verkennt jedoch, dass es Weislingen nie gelingt, wie bei Graham beschrieben »zur Hand Götzens« zu werden. Zwar entsprach dies dem Wunsch Götzens, aber eine tragische Komponente innerhalb der Beziehung zwischen den beiden Männern besteht ja gerade darin, dass die entsprechende Umsetzung nicht gelingt. Es lohnt sich folglich, die bei Graham ausgeführte Symbolik der Hand um einen genderanalytischen Gesichtspunkt zu erweitern: Dabei lässt sich das Bewusstsein der eigenen Unfähigkeit Weislingens auch durch die wiederholt empfundene Ferne zum Kernbereich ›hegemonialer Männlichkeit‹ beschreiben. Die selbstgewählte Rivalität zu Götz wirkt als Katalysator des permanenten Gefühls der Unterlegenheit. Die Exklusion aus Macht- und Dominanz mündet schließlich in einen erneuten Prozess des Zweifelns an der eigenen Entscheidung: »Und soll er sterben? – Götz! Götz!« (GvB 382) Marias anschließender Auftritt fällt aus diesem Grund bei Weislingen auf fruchtbaren Boden und evoziert sein Mitleid. Allerdings ist sein fiebriges Wesen in dieser Situation bereits so stark vom Bewusstsein des nahenden Todes bestimmt, dass er Maria als Individuum nicht mehr wahrnimmt, sondern das Todesurteil gegen Götz unter dem Eindruck eines »Engels des Himmels« (GvB 382) zerreißt. In diesem Zusammenhang muss Hinderers Hinweis beachtet werden, dass Weislingens charakterliche Schwäche, sich selbst im Moment seines bevorstehenden Todes noch an der Fremdbestimmtheit zeige, indem er »die Verantwortung für seine falschen Handlungen […] auf ›böse 209
Graham: Goethe and Lessing, S. 36. Graham greift damit eine von ihr selber bereits früher gewählte Hypothese auf. Vgl. Graham: Vom Urgötz zum Götz, S. 249f.
212
Geister‹«210 schiebt: Nicht seine (rationale) Erkenntnis führt zur Einsicht in die fehlerhaften Entscheidungen, sondern ein Zusammenwirken aus Ehrfurcht vor Götz, Rührung beim Anblick Marias und Barmherzigkeit im Bemühen, sich vor dem Tode seiner Sünden zu entledigen. Die im Laufe des Textes fehlende und erst kurz vor dem Tod einsetzende Erkenntnisfähigkeit, die über die Unfähigkeit zur Entscheidungsfindung hinaus die zweite wesentliche Schwäche Weislingens darstellt, wird im Moment des tragischen Schicksals: »Gift von meinem Weibe! Weh! Weh! Ich fühls. Marter und Tod« (GvB 383) zu einem Höhepunkt gesteigert. Dass ihm noch kurz vor dem eigenen Tod die Komplexität der ihn umgebenden Schuld offenbart wird, die den Verrat an Götz, das Verlassen Marias, die Liaison mit Adelheid und die Mitschuld am Tod seines Dieners umfasst, deutet Weislingen letztlich als Gottesurteil: »Du bist ein furchtbarer Rächer Gott!« (GvB 383) 4.3.4 Franz Franz, der Diener Weislingens, repräsentiert gemeinsam mit der Figur Georg in Goethes Text eine Form der ›Männlichkeit‹, die maßgeblich durch das junge Lebensalter gekennzeichnet ist. Beide, Franz und Georg, können einem Lebensalter zugeordnet werden, das sich zwischen der Adoleszenz und dem Erreichen des 30. Lebensjahrs befindet. Diese Parallele eröffnet eine Vergleichsmöglichkeit zwischen beiden Figuren, die in der folgenden Analyse mit berücksichtigt werden soll. Dabei werden in der Interaktionsstruktur mit anderen männlichen Figuren zunächst Gemeinsamkeiten deutlich: Wie Georg orientiert sich auch Franz an einem älteren Mann, dem er dient und an dessen Schicksal er teilnimmt, für den er Reisen unternimmt und Korrespondenzen arrangiert. Die parallele Struktur Götz-Georg sowie Weislingen-Franz umfasst folglich jeweils einen Herrn und einen zugeordneten Diener, wobei der soziale Unterschied bzw. Abhängigkeitsgrad mit dem unterschiedlichen Lebensalter korrespondiert. Erfahrung steht der Jugend in beiden Fällen gegenüber. Mit Bezug auf die genderanalytische Perspektive lässt sich die von Connell beschriebene Kategorie der ›patriarchalen Dividende‹ auf beide Figuren anwenden, da sowohl Georg als auch Franz von der Nähe zu einem Mann profitieren, der sich – in beiden Fällen zumindest im Vergleich mit den Dienerfiguren – im engeren Kreis des jeweiligen Zentrums einer hegemonialen Form der ›Männlichkeit‹ befindet: Im Falle Georgs dient Götz als Burgherr von Jaxthausen als Modell eines angestrebten Männlichkeitsentwurfes; für Franz nimmt Weislingen durch die Nähe zum Machtbereich des Bischofs von Bamberg ebenfalls zunächst eine modellhafte Funktion ein, die er in I/Jaxthausen überschwänglich beschreibt: »Ihr steht in einem Andenken bei Hof und überall, daß nicht zu sagen ist.« (GvB 309) Die Bewunderung, mit der Franz von der Reputation Weislingens berichtet, trägt er in einem Pathos vor, der in klarem Gegensatz zu den kühldistanzierten Repliken seines Herrn steht. Die pathetische Sprache: »nach Eurem Tod wird’s heller blinken, als die messingene Buchstaben auf einem Grabstein« 210
Hinderer: Götz von Berlichingen, S. 36.
213
(GvB 309) wird bei Franz zum Ausdruck des sanguinischen Temperaments, das ihn insbesondere im ersten Gespräch mit Weislingen als männliche Figur kennzeichnet, die vollkommen unter dem Einfluss der unteren Seelenkräfte, der Leidenschaften und Affekte, steht. Die Grundlage dieser Affektgebundenheit besteht im amourösen Bereich und ist entscheidend mit Adelheid von Walldorf verbunden. Franz, der in der Bewunderung Adelheids schwelgt: »Bamberg ist nicht mehr Bamberg, ein Engel in Weibergestalt macht es zum Vorhof des Himmels« (GvB 310), wird aus diesem Grund mit der Figur Cherubino aus Le Nozze di Figaro vergleichbar: Die Unbeherrschbarkeit der eigenen Affekte ist mit dem Einfluss einer Frau verbunden und lässt beide Figuren, die dem sanguinischen Temperament zugeordnet werden können, als Vertreter einer Überlagerung eigen- und fremddynamischer Aspekte der ›Männlichkeit‹ erscheinen. Franzens Äußerung: »Nur von der bloßen Erinnerung komm ich außer mir« (GvB 310) bezeichnet die fremddynamische Komponente seines Männlichkeitsentwurfes, der den optischen Reizen – Franz spricht von »Mund und Wange«, »Stirn«, »Busen« sowie »Haaren« (GvB 310) – Adelheids nicht widerstehen kann. Sein Männlichkeitsentwurf wird dabei zum ersten Mal in einer stark ausgeprägten Sensibilität transparent, die die emotionalen Bereiche des maskulinen Inneren gegenüber externen Reizen offenlegt. Im gleichen Zusammenhang treffen die externen Einflüsse auf eine interne Disposition der Affektbezogenheit: Franz fühlt »ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz«. (GvB 361f.) Die Überbetonung der Empfindung lähmt jedoch seinen Handlungsspielraum: »der Paß vom Herzen nach der Zunge war versperrt«. (GvB 311) In diesem Zusammenhang weist er eine Parallele zu Weislingen auf; beiden gelingt es nicht, sich von den Affekten der Rache bzw. der sexuellen Erregung zu emanzipieren. Im Rekurs auf das von der Aufklärung vertretene Postulat der Beherrschbarkeit der unteren durch die oberen Seelenkräfte können demnach beide männliche Figuren als Gegenentwurf zur Forderung einer früheren Phase der Aufklärungsanthropologie verstanden werden. Nach Pfister lässt sich für Franz das »ungebrochene Verhältnis zur sexuellen Libido«211 junger bzw. jugendlicher Figuren nachweisen. Die Affektgebundenheit wirkt dabei – wie im Falle Weislingens die Unentschlossenheit – als Bedrohung der eigenen ›männlichen‹ Individualität. Franz versucht, aus seiner eigenen sanguinischen Disposition einen Annäherungspunkt zu Adelheid abzuleiten, wie seine selbstreflexive Äußerung in I/Jaxthausen beweist: Franz:
[…] Aber um dich Adelheid ist Leben, Feuer, Mut – Ich würde! – Ich bin ein Narr – dazu machte mich Ein Blick von ihr. (GvB 311)
Das Bewusstsein und die Akzeptanz der eigenen Irrationalität aufgrund externer Einflüsse widerspricht nicht nur den anthropologischen, sondern insbesondere auch den auf ›Männlichkeit‹ bezogenen Anforderungen des 18. Jahrhunderts:
211
Vgl. Pfister: Das Drama, S. 228.
214
Die Männlichkeit, […] die Eigenschaft, nach welcher ein Ding männlich ist; doch nur in den drey letzten Bedeutungen, gesetztes, ernsthaftes Wesen, Fertigkeit die Furcht gehörig zu mäßigen.212
Franz gelingt es nicht, das bei Adelung aufgeführte »gesetzte Wesen« mit Bezug auf seine amouröse Leidenschaft unter Beweis zu stellen. Das Verlangen wird existenzbedrohend, was sich vor allem in seiner resignierenden Feststellung »Mir ist als wenn ich aus der Welt sollte« (GvB 319) zeigt, mit der er Weislingens Vorschlag begegnet, Bamberg und somit Adelheid zu verlassen. Da sowohl Franz als auch Weislingen nachhaltig unter dem Einfluss Adelheids stehen, bietet es sich an, das Verhalten beider Figuren innerhalb des Systems der Intimität näher zu untersuchen. Dabei fällt auf, dass Franz bei Adelheid stärkeres amouröses Interesse hervorruft als sein Herr: Adelheid: Da – deine Lippen sind warm. Franz (vor sich, auf die Brust deutend):
Hier ist’s noch wärmer! […] Die Tränen stehn ihm in den Augen. Ich lieb ihn von Herzen. So wahr und warm hat noch niemand an mir gehangen. (GvB 336f.)
Adelheid:
Franz erweist sich sowohl aufgrund seiner Physiognomie und des sanguinischen Temperaments als auch durch seine aufrichtige Hingabe als derjenige, der Adelheids emotionalen Bedürfnissen weitaus mehr entspricht als Weislingen. Die erneute Parallele zur Figur des Cherubino besteht in diesem Zusammenhang in der Tatsache, dass eine Figur, die sich im Hinblick auf ihr Lebensalter näher an der Adoleszenz als an einer ›reifen Männlichkeit‹ befindet, im amourös-erotischen Bereich den Kernpunkt der weiblichen Desiderate ausfüllt, währenddessen einer Figur wie Weislingen mit vergleichbaren Bestrebungen und trotz reiferen Alters diese Form einer systeminternen ›Hegemonie‹ versagt bleibt. Dieser Zustand würde im Rekurs auf die von Connell vertretenen Thesen zur ›hegemonialen Männlichkeit‹ die separate Bewertung der Machtbeziehungen von den emotionalen Bindungsstrukturen widerspiegeln: Die Exklusion aus dem Kernpunkt einer der Bereiche impliziert demnach die Exklusion aus den anderen nicht zwingend; sie kann unter Umständen auch als Stimulus zur Inklusion in einen anderen Bereich verstanden werden. Wie anhand der Figuren Franz und Cherubino verdeutlicht, bedeutet das: ›Hegemonie‹ im Bereich der Intimität setzt nicht unbedingt einen auf Macht gestützten, dominant-maskulinen Männlichkeitsentwurf voraus. Aus umgekehrter Perspektive lässt sich die Kompatibilität dominant-maskuliner, die ›Hegemonie‹ im Bereich der Machtbeziehungen besetzender Figuren wie Götz oder Graf von Almaviva mit dem Erfolg im System der Intimität durchaus in Zweifel ziehen. Die Tragik, die Franz trotz seiner sexuellen Anziehungskraft umgibt, lässt ihn das Schicksal seines Herrn letztlich teilen: Die auf amouröse Erfüllung fokussierte Beziehung zu Adelheid entwickelt sich für beide zum Weg in die Selbstzerstörung. 212
Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Spalte 64. Für Initiationsprozesse in der Frühen Neuzeit arbeitet Wunder: Wie wird man ein Mann, S. 125, die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung als dezidierte Anforderung an einen ›Mann‹ heraus.
215
Die Ursache ist in beiden Fällen einer Form der charakterlichen Schwäche beider männlicher Figuren geschuldet: Im Falle Weislingens, wie im vorangegangenen Abschnitt dargelegt, besteht diese in der Unfähigkeit, sich zu einer endgültigen Entscheidung durchzuringen und diese konsequent gegen die Außenwelt zu vertreten. Bei Franz geht die einseitige Fokussierung auf das affektbetonte Begehren mit einer Form der Selbstaufgabe einher, die seine Individualität zuerst in Frage stellt und schließlich vollkommen vereinnahmt. Als er Adelheid in IV/Adelheidens Schloss begegnet, ist die Verabsolutierung des sexuellen Begehrens in einem solchen Maße ausgeprägt, dass sie ihn die Loyalität zu Weislingen und somit das Bewusstsein der eigenen Position innerhalb der Gesellschaft nicht nur in Zweifel ziehen, sondern widerrufen lässt: Franz:
Es ist Euer Wille daß ich mich tot schmachten soll, in den Jahren der Hoffnung macht Ihr mich verzweifeln. Adelheid: Er dauert mich, […] Ich fühle deine Lieb und Treu, und werde nie unerkenntlich sein. Franz (beklemmt): Wenn Ihr das fähig wärt, ich müßte vergehn. […] Adelheid: Du weißt nicht was du willst, noch weniger was du redst. Franz (mit Verdruß und Zorn mit dem Fuß stampfend.): Ich will auch nicht mehr. Will nicht mehr den Unterhändler abgeben. (GvB 365f.)
Franz erkennt nicht, dass er Adelheid aufgrund der Regeln der stratifikatorischen Differenzierung weder dauerhaft lieben kann noch darf; er erweist sich weiterhin als unfähig einzusehen, dass Adelheid derartige Absichten überhaupt nicht erwägt, obwohl sie sich von ihm gerührt zeigt (»Er dauert mich«). Der ihm aus seiner Sicht vorenthaltene Erfolg im System der Intimität erklärt sich ihm demnach nicht rational unter Einbezug der Umstände, sich nicht in die Geliebte seines Dienstherrn verlieben zu dürfen. Vielmehr wirkt der mangelnde Erfolg als Katalysator, der eigene Ambitionen stimuliert (»Will nicht mehr den Unterhändler abgeben«) und der dem Gefühl der Rivalität zwischen ihm und Weislingen Raum eröffnet. Die Unerfahrenheit, die Franz in dieser Situation offenbart, führt schließlich dazu, dass er von Adelheid zu ihren Zwecken instrumentalisier- und manövrierbar wird. Wie Tellheim zuweilen Minna gegenüber sowie Cherubino in der Gegenwart Susannas und der Gräfin führt das Streben nach weiblicher Gunst bei extrinsisch-gesellschaftlich oder intrinsischcharakterlich geschwächten männlichen Figuren verhältnismäßig leicht zum Verlust der Selbstkontrolle und des Bewusstseins der individuellen (maskulinen) Position. Dadurch werden die auf den angeführten Wegen geschwächten männlichen Figuren zum Spielball in den Händen einer starken Frau. Sie begehen in ihrem Bestreben, verzweifelt zu handeln, nicht nur folgenschwere Fehler, sondern streifen in den Situationen der Hilflosigkeit, die den amourösen Ansprüchen entgegenzustreben scheint, unweigerlich die Grenzen der Karikatur. Nun ließe sich im Falle Cherubinos berechtigt anmerken, dass ein wesentlicher Teil des komödiantischen Potenzials der Figur eben auf dieser Hilflosigkeit beruht. In den tragischen Texten – und insbesondere bei Franz – wirkt die Komik allerdings umso bitterer, als die Hilflosigkeit letztlich zur völligen Selbstaufgabe der Figur führt. Adelheids erotische Annäherung ist Ausdruck der Gewissheit der eigenen Überlegenheit gegenüber dem jungen Mann: 216
Adelheid:
Lieber warmer Junge. (Sie faßt ihn bei den Händen, zieht ihn zu sich, und ihre Küsse begegnen einander, er fällt ihr weinend an den Hals.) Lass mich. Franz (erstickend in Tränen an ihrem Hals.): Gott! Gott! Adelheid: Laß mich, die Mauern sind Verräter. Laß mich. (Sie macht sich los.) Wanke nicht von deiner Lieb und Treu, und der schönste Lohn soll dir werden. (Ab.) Franz: Der schönste Lohn! Nur bis dahin laß mich leben! Ich wollte meinen Vater ermorden, der mir diesen Platz streitig machte. (GvB 366)
Die Überlagerung aus sexuellen Desideraten und sozialer Aspiration lässt Franz sich der moralischen Transgression gegenüber öffnen: Durch die Tatsache, dass Adelheid letztlich von ihm verlangt, Weislingen, seinen Herrn, zu vergiften, erhält sein Ausruf: »Ich wollte meinen Vater ermorden, der mir diesen Platz streitig machte« eine prophetische Nuance. Wie weit Adelheid ihm überlegen ist, verdeutlicht ihr berechnendes Vorgehen in V/Adelheidens Schlafzimmer. Da sie die beiden Triebfedern in Franzens sanguinischem Wesen, das erotische Begehren ihr gegenüber und das Bestreben, sich durch eine eigene Aufgabe, eine eigene gesellschaftliche Funktion von Weislingen zu emanzipieren, klar ausmachen konnte, gelingt es ihr, durch die fingierte Bitte um Hilfe beide zu instrumentalisieren: Adelheid:
Betrogner töriger Junge, du siehst nicht, wo das hinaus will. […] Denn lange stehts’ ihm schon nach meiner Freiheit. Er will mich auf seine Güter. Dort hat er Gewalt mich zu behandeln, wie sein Haß ihm eingibt. Franz: Er soll nicht. […] Adelheid: Wirst du mich retten? Franz: Eh alles! Alles! Adelheid (die weinend ihn umhalst): Franz, ach uns zu retten! Franz: Er soll nieder, ich will ihm den Fuß auf den Nacken setzen. (GvB 380)
Adelheid versteht es, den Männlichkeitsentwurf, den Franz verkörpert – durch Jugend, Ungestüm, Leidenschaft und Unerfahrenheit gekennzeichnet – dadurch zu lenken, dass sie ihm durch eine fingierte Bedrohung beide Wünsche in erreichbare Nähe rückt: Durch den Mord an Weislingen stellt sie Franz in Aussicht, im System der Intimität endlich einen Konkurrenten auszuschalten und sich im gleichen Zusammenhang aus der hierarchisch untergeordneten Position des Dieners zu befreien. Vergleichbar mit Minnas Vorgehen am Ende des vierten Aktes in Lessings Text soll Franz durch die fingierte Schwäche der Frau eine Position des Beschützers einnehmen, die sein männliches Dominanzgebaren gegenüber dem Konkurrenten Weislingen rechtfertigt. Franz reagiert umgehend auf die Perspektive maskuliner Hegemonie: »Er soll nieder, ich will ihm den Fuß auf den Nacken setzen« (GvB 380) zitiert sein von Adelheid beeinflusstes und sich im Umbruch befindliches männliches ›Selbstkonzept‹. Während sich die auf seinen Männlichkeitsentwurf bezogene ›soziale Identität‹ und die ›soziale Rolle‹ bei Franz zuvor noch an den Kategorien ›jugendhafte Männlichkeit‹ bzw. ›Diener Weislingens‹ orientiert hatten, führt die von Adelheid forcierte Konkurrenzsituation mit Weislingen dazu, dass die genderbezogene ›soziale Identität‹ der Figur Franz auf einmal eine nach ›hegemonialer Männlichkeit‹ strebende Komponente erhält. Diese Tatsache bewirkt in seiner Eigenwahrnehmung die veränderte ›soziale Rolle‹ als ›legitimer Partner Adelheids‹ und ›unabhängiger Mann‹. Allerdings kann es als Ausdruck des sanguinischen Tem217
peraments gewertet werden, dass Franz innerhalb weniger Szenen nicht nur die zuvor angesprochene Wut und das Verlangen nach Rache, sondern auch den Affekt der spontanen Reue zeigt. Der Männlichkeitsentwurf wird in diesem Zusammenhang ein letztes Mal in seiner äußerst sensiblen Reaktion auf externe Stimuli gezeigt, die zum nachhaltigsten Charakteristikum der Figur wird. In V/Weislingens Schloss reagiert Franz auf den Anblick des im Sterben liegenden Weislingen mit einer Emotionalität, durch die er zeigt, dass er sich der Tragweite der eigenen Schuld inzwischen bewusst geworden ist: Franz (wirft sich vor ihm [Weislingen, M.B.] nieder und faßt seine Knie).
[…] Weislingen:
Franz steh auf und laß das Weinen. Ich kann wieder aufkommen. Hoffnung ist bei den Lebenden. Franz: Ihr werdet nicht. Ihr müßt sterben. Weislingen: Ich muß? Franz (außer sich): Gift. Gift. Von Eurem Weibe. Ich. Ich. (Er rennt davon.) […] Maria (kommt): Er ist hin. Zum Saalfenster hinaus, stürzt er wütend in den Main hinunter. (GvB 383)
Die Reue, die in jenem Moment einsetzt, als Weislingen das Todesurteil gegen Götz widerruft, versinnbildlicht die Mitschuld an der Vergiftung seines Herrn und mündet im Überschwang der Affekte in den Suizid. Maries Schilderung, er sei »wütend in den Main hinunter« gestürzt, resümiert die selbstzerstörerischen Züge eines auf die Affekte fixierten, vor allem fremddynamischen, sanguinischen Männlichkeitsentwurfes. Goethes Text erweist sich auch aus dem Grund als besonders interessant für eine Analyse der Männlichkeitsentwürfe, da alle männlichen Figuren im Ergebnis scheitern, wobei sich die Gründe, die dazu führen, in Abhängigkeit der jeweiligen Figur unterscheiden und sowohl männlichkeitsexterne als auch männlichkeitsinterne Aspekte umfassen. Wenn der eingangs zitierte Ulrich Karthaus von der »Tragödie des große Menschen«213 spricht, so lässt sich diese Aussage am Ende der Textanalyse festhalten und um den Aspekt erweitern, dass Goethe mit Götz von Berlichingen vor allem auch ein tragisches Schauspiel der ›Männlichkeit‹ – oder im Rekurs auf Luserke – des Charakters »des großen Mannes«214 geschaffen hat.
4.4
Friedrich Schillers Die Räuber215
4.4.1 Schwerpunkte der Analyse Schillers 1781 erschienener Text soll im Folgenden auf die entscheidenden männlichen Figuren hin untersucht werden: die Brüder Karl und Franz Moor sowie Moritz Spiegelberg, einen wesentlichen Vertreter der Räuberbande. 213 214 215
Karthaus: Sturm und Drang, S. 95. Luserke-Jaqui: Sturm und Drang, S. 109. Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: Friedrich Schiller: Die Räuber. In: Friedrich Schiller. Sämtliche Werke. Erster Band. Gedichte. Dramen I. Hrsg. von Gerhard Fricke. München, 1987. S. 491–618. Im Folgenden zitiert als Sigle: DR Seitenzahl.
218
Die familieninternen Strukturen umfassen Konflikte zwischen den Generationen der Männer, die sich im Laufe des Textes in der Auseinandersetzung des Vaters mit seinem geliebten, aber verlorenen Sohn Karl, aber auch mit seinem weniger geliebten Sohn Franz zeigen. Innerhalb der jüngeren Generation betont der Text vor allem den Konflikt der beiden ungleichen Brüder, auf den in der Forschungstradition wiederholt eingegangen worden ist.216 Die vorliegende Arbeit setzt sich aus diesem Grund als Ziel, die Frage der familieninternen Konflikte um eine männlichkeitsorientierte Perspektive zu erweitern. Dieses Anliegen scheint unter anderem auch aus dem Grund umso interessanter, als sowohl Karl als auch Franz wiederholt auf Ausdrücke aus dem Wortfeld der ›Männlichkeit‹ zurückgreifen. Im Falle Karls wird diese Reflexion in besonderem Maße durch jene Anforderungen, die er selber an seinen Männlichkeitsentwurf richtet, geprägt. Franz hingegen rekurriert wiederholt auf die Bereiche einer Physiognomie, wobei er sich der Autoreflexion der ›Männlichkeit‹ vor allem durch die Gegenüberstellung defizitärer und vorbildhafter Eigenschaften nähert. Die familieninternen Konfliktsituationen bilden allerdings nicht die einzige Interpretationslinie, innerhalb derer die Männlichkeitsentwürfe der Figuren untersucht werden sollen. Einen weiteren Schwerpunkt der Analyse nimmt die Position Karls als Anführer der Räuberbande ein. Dabei soll die Figur innerhalb der Struktur eines ›Männerbundes‹ lokalisiert und einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Machtausübung und Hierarchiebildung unter Männern sind in diesem Zusammenhang ebenso Grundlage der Untersuchung wie Komplizenschaft und Rivalität sowie die kritische Frage, inwiefern sich innerhalb des ›Männerbundes‹ Spannungen äußern, die auf das Fehlen familiärer und somit potenziell gemischtgeschlechtlicher Strukturen zurückzuführen sind. Eine Figur, die Karl innerhalb der Räuberbande als Rivale entgegentritt, ist Spiegelberg, wobei die Auseinandersetzung der beiden Männer über einen ausschließlichen Machtkampf mit der Aussicht auf Dominanz des Männerbundes hinausgeht: Es sind vielmehr jene Textpassagen, in denen Spiegelberg sich deutlich von den Positionen und Grundsätzen Karls distanziert, welche die Heterogenität der Gruppe, der individuellen Freiheitskonzeptionen und – im Hinblick auf die vorliegende Arbeit – der Männlichkeitsentwürfe dramatisch verdeutlichen. Im Bereich der zwischengeschlechtlichen Figurenkonstellationen, insbesondere im System der Intimität, wird die Konfliktsituation der beiden Brüder Moor aufgegriffen und im Kontext der Interaktion mit Amalia von Edelreich untersucht. Auch dabei wird das Augenmerk auf den von der Forschung bislang noch zu wenig berücksichtigten Aspekt gelenkt, inwiefern die von Karl und Franz versinnbildlichten Männlichkeitsentwürfe sich als kompatibel mit den amourösen Vorstellungen Amalias erweisen. Der Text verspricht somit die Möglichkeit einer beispielhaften Untersuchung, die eine Synthese der anthropologischen, physiognomischen und auf 216
Als Auswahl werden folgende Texte genannt: Guthke: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen 1994, Hans Richard Brittnacher: Die Räuber. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998 und Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2000.
219
›männliches‹ Handeln ausgerichteten Imaginationen von ›Männlichkeit‹ vor dem Hintergrund der geschlechterbezogenen Reflexionen des späten 18. Jahrhunderts umfasst. Die sich anschließende Einzelanalyse der männlichen Figuren widmet sich der Reihenfolge nach Karl und Franz Moor sowie Moritz Spiegelberg. 4.4.2 Karl Moor Sehnsucht nach ›Größe‹: Eigen- und Fremdwahrnehmung Die Figur Karl Moor bildet den Einstieg in die Einzelanalysen der Männlichkeitsentwürfe in Schillers Text. Sie stellt zugleich eine Zusammenführung der zentralen Analysestränge einer männlichkeitszentrierten Untersuchung dar: Karl wird sowohl in seiner Eigen- als auch in der bei Schiller maßgeblichen Fremdwahrnehmung analysiert. Seine Positionen innerhalb des Textes decken über die familiäre Sphäre als Sohn bzw. Bruder hinaus auch die intime Sphäre als Geliebter sowie das selbst gewählte Dasein des Räuberhauptmanns ab. An diese sozialen Verortungen knüpfen sich jeweils unterschiedliche Anforderungskataloge, denen Karl – je nach Kontext – in unterschiedlichem Maße gerecht zu werden versucht und die sein männliches Selbstkonzept nachdrücklich beeinflussen: Vom reuigen Rebellen, der sich heimatund familienfern vom rastlosen Leben eines Vagabunden gesättigt zeigt, führt ihn sein Zorn über den von Franz fingierten Brief erneut in die Ferne, erneut in die Position eines Außenseiters. Der endgültige Moment der Umkehr ist der Erinnerung an seine vergangene Liebesbeziehung zu Amalia geschuldet, die für ihn die Brücke zur Konfrontation mit der eigenen Herkunft wird. Demnach wird auch insbesondere Karls Position innerhalb des Systems der Intimität zu einem zentralen Gegenstand der Analyse seines Männlichkeitsentwurfes, der wie in kaum einem anderen in der vorliegenden Arbeit untersuchten Textbeispiele entscheidend durch die kritische Auseinandersetzung in jenen selbstreflexiven Passagen beeinflusst wird, in denen sich Karl über ›Männlichkeit‹ äußert. Wie anhand dieser Eigenschaften bereits deutlich wird, bietet der Männlichkeitsentwurf Karls eine breite Facette unterschiedlicher Gesichtspunkte zur Analyse an – er weist die Figur somit als ausgesprochen mehrdimensional aus, wobei sich die Mehrdimensionalität insbesondere an den Bruchstellen der Figur – so im Bruch mit der Vater- und Familienwelt in I/2, dem vermeintlichen Bruch mit dem Räuberdasein in III/2 und schließlich dem endgültigen Bruch mit der Freiheit am Ende von V/2 – zeigt. Die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung der Figur bestimmt bereits die Vorstellung Karls zu Beginn des Textes, wobei an dieser Stelle mit der Perspektive der Fremdwahrnehmung begonnen werden soll, die sich im weiteren Verlauf immer wieder als entscheidendes Kriterium für die Untersuchung seines Männlichkeitsentwurfes erweisen wird. Dabei muss selbstverständlich sorgfältig zwischen der Darstellung der vermeintlichen Schande, die Franz in seinem gefälschten Brief in I/1 entwirft, und den Erinnerungen an die gemeinsame Kinder- und Jugendzeit unterschieden werden. Da der erstgenannte Bereich der Fiktion und Machtambition Franzens entstammt, ist er für die Analyse des Männlichkeitsentwurfes 220
Karls nicht relevant und wird erst in der auf Franz bezogenen Einzelanalyse wieder aufgenommen. Wesentliche Informationen über die Fremdwahrnehmung, die dem Männlichkeitsentwurf Karls zugrunde liegt, enthalten jedoch die Erinnerungen an die Vergangenheit, die sein Bruder im Gespräch mit dem alten Moor in I/1 äußert: Franz:
[…] Ahndete mirs nicht, da er, noch ein Knabe, den Mädels so nachschlenderte, mit Gassenjungen und elendem Gesindel auf Wiesen und Bergen sich herumhetzte, den Anblick der Kirche, wie ein Missetäter das Gefängnis, floh, und die Pfennige, die er Euch [dem alten Moor, M.B.] abquälte, dem ersten dem besten Bettler in den Hut warf. (DR 495)
Karls Handeln als ›Mann‹ wird von Franz in einen kausalen Zusammenhang zu seinem Verhalten der ›Knabenzeit‹ gesetzt. Deutlich tritt die Diskrepanz zu der eigenen Situation hervor: Karls Affinität zum weiblichen Geschlecht sowie sein naturverbundenes und vermeintlich kirchenfernes Wesen werden umgehend zu jenen »frommen Gebeten und heiligen Predigtbüchern« (DR 495) in Kontrast gesetzt, mit denen sich Franz in einem vergleichbaren Knabenalter beschäftigte. Die Ursache leitet Franz aus einem unkontrollierten Einfluss der Leidenschaften her, die er, die vergangenen Hoffnungen des alten Moor zitierend, für Karl annimmt. Franz:
[…] Der feurige Geist, der in dem Buben lodert, sagtet Ihr [der alte Moor, M.B.] immer, der ihn von jeden Reiz von Größe und Schönheit so empfindlich macht; diese Offenheit, die seine Seele auf dem Auge spiegelt, diese Weichheit des Gefühls, die ihn bei jedem Leiden in weinende Sympathie dahinschmelzt, dieser männliche Mut […] dieser kindische Ehrgeiz, dieser unüberwindliche Starrsinn […] werden ihn dereinst […] zu einem großen, großen Manne machen. (DR 495f.)217
Das Bild des »großen Mannes«, das Franz in dieser Textpassage anspricht, ergibt sich aus den Hoffnungen des alten Moor, die ›Mut‹, ›Ehrgeiz‹ und ›Willensstärke‹ Karls bereits in der Kindheit diagnostiziert und deterministisch auf seinen »feurigen Geist«, der auf ein sanguinisches Temperament verweist, zurückgeführt hatten.218 Die geschilderte Fremdwahrnehmung weist Karl folglich als eigendynamische männliche Figur aus. Diese These soll jedoch vorerst als Zwischenergebnis verstanden werden, das nach dem ersten Auftritt Karls erneut überprüft werden muss. Interessant ist, dass Franz den Prozess der männlichen Initiation – eventuell wäre es treffender, an dieser Stelle den Begriff ›Reife‹ zu verwenden – in seiner Schilderung dem Vater gegenüber insofern übergeht, als er in den sechs Jahren der Abwesenheit Karls eine reine Verstärkung des »feurigen Geistes« (DR 496) annimmt. Im Unterschied dazu wird in der Antwort des alten Moor: »Ein unzärtliches Kind! ach! aber mein Kind doch! mein Kind doch!« (DR 498) deutlich, dass Karl für ihn ungeachtet seines aktuellen Lebensalters als ›Kind‹ Bedeutung besitzt. Die Gegenüberstellung der beiden in I/1 angesprochenen Fremdwahrnehmungen lassen sich aus 217 218
Vgl. Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 29. Ein interessanter Beitrag zur Bedeutung der Farb- und Feuermetaphorik anhand des Beispiels Karl Moor findet sich bei Marianne Schuller: Körper, Fieber, Räuber. Medizinischer Diskurs und literarische Figur beim jungen Schiller. In: Wolfram Groddeck, Ulrich Stadler (Hg.): Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität. Berlin 1994, S. 162f.
221
linguistischer Sicht mit dem Begriffspaar ›Intension‹ sowie ›Extension‹ genauer erklären:219 Während die Intension sowohl für Franz als auch für den alten Moor in ›Karl Moor‹ besteht, unterscheiden sich die jeweiligen Extensionen: Für Franz ist Karl »ein Vatersöhnchen« (DR 495), ein »feuriges Genie« (DR 496), »ein Schoßkind« (DR 500); während der alte Moor Karl wiederholt als »mein Kind« (DR 498) und »meinen Sohn« (DR 499) bezeichnet. Die Fremdwahrnehmung des von Karl versinnbildlichten Männlichkeitsentwurfes wird von Franz ausnahmslos negativ bestimmt, währenddessen der Vater zwischen augenblicklicher Verzweiflung über das vermeintliche Schicksal »seines Kindes« und der Erinnerung an die vergangenen Hoffnungen schwankt. Beiden Positionen ist gemein, dass sie unter einem wesentlichen Einfluss der Vergangenheit stehen, den sie allerdings mit unterschiedlichen Konsequenzen auf die Gegenwart übertragen. Diese Tendenz wird auch in Amalias auf Karl bezogener Fremdwahrnehmung in I/3 reflektiert: Franz:
Allerliebste Träumerin! […] (Ihr auf die Brust klopfend) Hier, hier herrschte Karl wie ein Gott in seinem Tempel, Karl stand vor dir im Wachen, Karl regierte in deinen Träumen […]. Amalia: (bewegt) Ja wahrhaftig, ich gesteh es. […] – ich lieb ihn! (DR 517)
Während Franz die starke amouröse Bindung Amalias an Karl im Präteritum beschreibt, verdeutlicht Amalia mit »ich lieb ihn« das nachhaltige Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart, wobei sie sich in ihrer Fremdwahrnehmung durchaus mit dem zuvor zitierten Ausspruch des alten Moor (»mein Kind doch«) vergleichen lässt. Eine erste Schlussfolgerung der zu Beginn des Textes dargestellten Fremdwahrnehmung Karls ergibt folglich, dass der Gegenwarts- oder Vergangenheitsbezug jener Figuren, die aus Karls unmittelbarem familiären Umfeld stammen, mit deutlichen Wertungen verbunden ist. Karl Moor polarisiert – seine ›elektive Entropie‹, die Summe der auf ihn ausfallenden Meinungen, ist aus diesem Grund äußerst gering, was nach Pfister auf eine konfliktträchtige Situation hinweist, in der sich die entsprechende Figur befinde.220 Die Spannungen nehmen dabei innerhalb und im direkten Umfeld der Familie Moor wiederholt auf Karls Männlichkeitsentwurf positiv oder negativ Bezug, indem Amalia ihn bedingungslos liebt, der alte Moor ihm als ältestem Sohn nachtrauert und Franz ihn als Rivalen im dreifachen Sinn – um die Zuneigung des Vaters, um die Gunst Amalias und um die Nachfolge als zukünftiger Graf von Moor – hasst. Daran knüpft sich die interessante Frage, inwiefern Karl selber die in der Fremdcharakteristik dominanten Meinungen, die ihn als ›Mann‹ kennzeichnen, bestätigt oder widerlegt. Bereits Karls erster Auftritt in I/2 zeigt ihn – wie der Nebentext vermerkt – »in ein Buch vertieft« (DR 502), das in seiner Äußerung »[…] wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen« (DR 502) als eines der biografischen Werke des Grie219
220
In Jörg Meibauer u. a.: Einführung in die germanistische Linguistik. Stuttgart 2002, wird Intension als »der Inhalt oder die deskriptive Bedeutung eines Begriffs« definiert (ebd. S. 348), während Extension »die Klasse der Elemente, die ein sprachlicher Ausdruck bezeichnet« umfasst (ebd. S. 347). Vgl. Pfister: Das Drama, S. 233.
222
chen erkennbar wird. Die Tatsache, dass der ebenfalls anwesende und trinkende Spiegelberg221 ihm die Lektüre des jüdischen Feldherrn Flavius Josephus empfiehlt, projiziert eine doppelte Opposition zwischen den beiden Figuren: Karl, der sich »vor diesem tintenklecksenden Säkulum« (DR 502) ekelt, verharrt in der Erinnerung und dem Wunsch nach vergangener menschlicher – und mit Bezug auf die Schriften Plutarchs – männlicher ›Größe‹.222 Spiegelberg, dessen Affinität zum Trinken auf den Bezug zum aktiven, nicht auf Erinnerung abzielenden Lebenswandel verweist, zitiert im Gegensatz dazu einen Autor der Vergangenheit, der insbesondere aufgrund seiner detaillierten Schilderungen diverser Kampf- und Kriegssituationen überliefert ist.223 In der Forschungstradition ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass Karls Vergangenheitsbezug in I/2 ihn als Außenseiter der gesellschaftlichen Strukturen seiner Zeit erkennbar macht.224 Allerdings hat die Tatsache, dass seine Ablehnung des von ihm verächtlich beschriebenen »schlappe[n] Kastratenjahrhundert[s]« (DR 503) mit einer Vielzahl dezidiert männlicher Attribute versehen ist, bislang kaum Beachtung gefunden. Die Sehnsucht nach dem ›großen Menschen‹ wird für Karl zwingend zur Sehnsucht nach einer außergewöhnlichen, vor allem auf Charisma, Entschlossenheit und physischer Kraft basierenden Form der ›großen Männlichkeit‹: Moor:
Der lohe Lichtfunken Pometheus’ ist ausgebrannt […]. Da krabbeln sie nun wie die Ratten auf der Keule des Herkules, und studieren sich das Mark aus dem Schädel, was das für ein Ding sei, das er in seinem Hoden geführt hat? […] ein schwindsüchtiger Professor hält sich bei jedem Wort ein Fläschchen Salmiakgeist vor die Nase und liest ein Kollegium über die Kraft. Kerls, die in Ohnmacht fallen, wenn sie einen Buben gemacht haben, kritteln über die Taktik des Hannibals […] Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert […] Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen. (DR 502f.)
Die Diskrepanz zwischen den durch Stärke gekennzeichneten, teils mythologischen, teils historischen männlichen Figuren – Prometheus, Herkules und Hannibal – und deren Rezeption in der Gegenwart durch jene Figuren, die sie nur ›studiert‹, jedoch nicht an deren Kraft Anteil haben, deutet Karl als Verlust an maskuliner ›Stärke‹. Die zuvor beschriebene ›Größe‹ der Männer, die Karl zitiert, beruft sich auf einen Anforderungskatalog, der ihnen in der Gegenwart nur noch einen Platz in der Geschichte und in Geschichten zuweist. Auf dem Weg von der Antike in die Gegenwart sei die ›Männlichkeit‹ – wie Karl beklagt – »kastriert« und somit ihrer »Stärke der Lenden« beraubt worden. Der Sehnsucht nach vergangener männlicher ›Stärke‹ entspricht jener nach ›Freiheit‹, die er kurz drauf äußert: 221 222
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Diese Opposition betont bereits Staiger: Goethe 1749–1786, S. 88. Die Bíoi parálleloi (lat. Vitae parallelae) Plutarchs, entstanden um 96 n. Chr., behandeln vor allem die ›Größe‹ griechischer und römischer Herrscher, Politiker und Staatsbeamten im Vergleich zueinander. Als eines der wesentlichen Werke des Flavius Josephus gilt die siebenbändige Schrift De bello Judaico (um 75–79 n. Chr.). Dieser Aspekt wird in der Einzelanalyse Spiegelbergs unter Abschnitt 4.4.5 noch genauer ausgeführt. Diese Tatsache wird vor allem von Hinderer: Freiheit und Gesellschaft beim jungen Schiller. In: Hinck (Hg.): Sturm und Drang, S. 246, betont: »Er [Karl, M.B.] sagt sich von der menschlichen Gesellschaft los, tritt »gleichsam aus dem Kreise der Menschheit« (III,2).«
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Moor:
[…] Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. […] Ah! Dass der Geist Hermanns noch in der Asche glimmte! – Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen. (Er wirft den Degen auf den Tisch und steht auf) (DR 504)
Zwei Aspekte sind an dieser Passage besonders interessant: Zum einen wird Karls Verweilen in der nachdenklichen, beinahe melancholischen Grundstimmung als Kontrapunkt zu seinem eigentlichen Wunsch nach Tatendrang, Aktivität und Veränderung aus der Vergangenheit transparent. Dieser Wille nach Umsturz der gegebenen, zuvor kritisierten Zustände in Deutschland wird erneut in die Tradition eines geschichtlichen Bewusstseins gesetzt, wobei dieses Mal nicht die Heroen der griechischen Mythologie oder sagenumwobene punische Feldherrn, sondern die Figur des »Hermann« (Arminius) eine nationale Interpretationsebene eröffnen: Der Unmut, den Karl verspürt, lässt ihn auf eine der ersten Überlieferungen eines vermeintlich dezidiert deutschen »großen Mannes« rekurrieren. In dem Wunsch der Verbindung der Komponenten ›Stärke‹, ›Freiheit‹ und ›Männlichkeit‹ werden an dieser Stelle bereits intertextuelle Parellelen zur Figur Götz von Berlichingen deutlich:225 Die Fixierung auf eine vergangene ›Größe‹ verknüpft sich für beide Figuren mit der Erinnerung an eine ›hegemoniale‹ Form der ›Männlichkeit‹, die sie jeweils bewundernd für die Gegenwart herbeisehnen.226 Da der damit verbundene Erinnerungsprozess mit der Einsicht in die Unzulänglichkeit der Gegenwart verbunden ist, wird er sowohl für Götz als auch für Karl als Anhänger eines maskulinen Ideals der Vergangenheit zum individuellen Verlusterlebnis, dessen Grundlagen sich aus dem geschichtlichen Wandel – und somit auch im Sinne des dynamischen Männlichkeitskonzeptes, wie es sich bei Connell findet – ergeben. Die Artikulation des Strebens nach Aktivität227 wird erneut auch von der Perspektive der Fremdwahrnehmung aus gestützt. Spiegelberg: »ein Kerl wie du, der mit dem Degen […] auf die Gesichter gekritzelt hat« (DR 504) zitiert auch über die Mensuren hinaus gemeinsame rebellische Erlebnisse aus der studentischen Vergangenheit Karls, die dieser bereits bereut. Das Rebellentum der Vergangenheit wird aus Karls Sicht nicht zur Dokumentation dessen, was Spiegelberg »männlich gesprochen und edelmännisch« (DR 506) bezeichnet, sondern zu einem Grund, sich seiner Vergangenheit zu schämen: »Und du schämst dich nicht, damit groß zu prahlen?« (DR 505) Der Wurf des Degens auf den Tisch, der im Nebentext der Szene verzeich225
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Zum Freiheits-Begriff bei Karl vgl. Hinderer: Freiheit und Gesellschaft beim jungen Schiller, S. 250 sowie Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 30ff. Vgl. Abschnitt 4.3.2 der vorliegenden Arbeit, der sich mit der Einzelanalyse der Götz-Figur beschäftigt. Den Vergleich betonen unter anderem folgende Texte der Forschungsliteratur: Rudolf Ibel: Goethe, »Goetz von Berlichingen«. Frankfurt am Main 1975, S. 59f., Wuthenow: Rousseau im »Sturm und Drang«, S. 49. Zur Sehnsucht nach ›Größe‹ vgl. Hinderer: Freiheit und Gesellschaft beim jungen Schiller, S. 243f. sowie Kaiser: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang, S. 284. Michael Mann: Sturm-und-Drang-Drama. Studien und Vorstudien zu Schillers »Räubern«. Bern 1974, S. 108, hebt den »blinden Tätigkeitsdrang« Karls hervor, der im Laufe des Textes zu einem »zielvollen Schaffensdrang« objektiviert werde.
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net ist, kann aus diesem Grund als Absage an einen Lebens- und Männlichkeitsentwurf verstanden werden, dem Karl als Student noch nachgegangen war, von dem er sich jedoch nach der Einsicht in die Ergebnislosigkeit im Gegensatz zu Spiegelberg abgewendet hat. Anstelle des Rekurses auf die von Spiegelberg favorisierte, aktive Revolte führt Karls Reminiszenz an Vergangenes ihn von der Reflexion über ›männliche Größe‹ hin zu folgenden Wünschen: Moor:
[…] Im Schatten meiner väterlichen Haine, in den Armen meiner Amalia lockt mich ein edler Vergnügen. Schon die vorige Woche hab ich meinem Vater um Vergebung geschrieben […]; und wo Aufrichtigkeit ist, ist auch Mitleid und Hilfe. (DR 508)
Die drei zentralen Aspekte sind die Sehnsucht nach der Wiederaufnahme in die Familie, der Versöhnung mit dem Vater sowie die Erfüllung der Liebe zu Amalia. Innerhalb von Karls Männlichkeitsentwurf füllen alle drei auf Affekten basierenden Wünsche jenen Platz aus, über den Karl bislang wenig preisgegeben hatte: seine emotionalen Ziele, die ihm im Vertrauen auf die erwartete Verzeihung des Vaters vor allem Eines geben – Hoffnung. Je stärker sich die Überzeugung in den Erfolg seines Versöhnungsplanes gestaltet, desto drastischer fällt seine Enttäuschung aus, nachdem er den von Franz geschriebenen Antwortbrief wahrnimmt. Die Auswirkung auf seine Autoreflexion zur ›Männlichkeit‹ lautet: Moor:
[…] aber wenn Blutliebe zur Verräterin, wenn Vaterliebe zur Megäre wird, o so fange Feuer, männliche Gelassenheit, verwilde zum Tiger, sanftmütiges Lamm, und jede Faser recke sich auf zu Grimm und Verderben. (DR 514)
An dieser Stelle wird deutlich, dass die in der Schilderung in I/1 von Franz entworfene Darstellung Karls als eigendynamische männliche Figur revidiert werden muss: Seine veränderte Positionierung, die sich in der Entfesselung der »männliche[n] Gelassenheit« äußert, steht unter dem Einfluss einer unmittelbaren Fremddynamik: Der persönlichen Enttäuschung über den vermeintlichen Liebesentzug des Vaters entspricht der Widerspruch zu den eigenen Wunschvorstellungen und Plänen, der die ursprünglich eher resignierende, beinahe melancholische Stimmung mit »Feuer«, »Grimm« und »Verderben« auflädt und somit in den sanguinischen Bereich umleitet, der sich zunehmend der Zugänglichkeit rationaler Argumente verschließt. Eine interessante Deutung dieser Passage im Kontext der Beziehung zwischen Karl und seinem Vater bietet Brittnacher an: Daß die Regel von der väterlichen Güte scheinbar vom Vater außer Kraft gesetzt wird, bedeutet für Karl den Verlust jeder Regel. […] Auf die vermeintliche Suspension der Universalregel der väterlichen Gnade antwortet Karl mit einem gnadenlosen Universalhaß, der sich zu universaler Vernichtung berechtigt glaubt, weil ihm vorenthalten wurde, was allein die versöhnliche Ordnung der Welt garantiert hatte.228
Roller und Grimm, die zuvor bereits in Spiegelbergs Pläne zur Gründung einer Räuberbande eingeweiht worden waren, versuchen wiederholt, mit Karl ein Gespräch 228
Brittnacher: Die Räuber, S. 333f. Vgl. Friedrich A. Kittler: Dichter – Mutter – Kind. München 1991, S. 84, der im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem alten Moor und Karl von »zwei spiegelbildlichen Phantasmen« spricht: »[…] der Vater nennt sich Mörder und Mordopfer des Sohns, der Sohn Mörder und Mordopfer des Vaters«.
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darüber zu beginnen, der sich jedoch in eine wütende Hasstirade steigert. Dreimal wird er aufgefordert, die Kameraden anzuhören, und dreimal verdeutlichen seine Antworten die geistige Fixiertheit auf Rache und Wut. Im Kontext der zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark rezipierten Aufklärungsanthropologie ließe sich Karl in dieser Situation als Beispiel für den überschäumenden Einfluss der unteren Seelenkräfte – der Leidenschaften und Affekte – anführen, die ihm, dem influxus physicus geschuldet, eine rationale Beurteilung der Situation nicht ermöglichen.229 Die Tatsache, dass er gerade in diesem Moment der vollkommenen Unterwerfung von Verstand bzw. Vernunft unter die Affekte und Leidenschaften in den Entschluss einwilligt, die Räuberbande als Hauptmann anzuführen, wird im weiteren Verlauf des Textes noch zu beachten sein. Allerdings erweist sich der Zustand des influxus physicus als vorübergehend, indem Karl kurz darauf bemüht ist, rationale Argumente für seinen Entschluss zu finden: Moor:
Siehe, da fällts wie der Star von meinen Augen! was für ein Tor ich war, daß ich ins Käficht zurückwollte! – Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit, – Mörder, Räuber! – mit diesem Wort war das Gesetz unter meine Füße gerollt – Menschen haben Menschheit vor mir verborgen, da ich an Menschheit appellierte, weg dann von mir Sympathie und menschliche Schonung! – Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr, und Blut und Tod soll mich vergessen lehren, daß mir jemals etwas teuer war! (DR 515)
Die Enttäuschung auf emotionaler Ebene führt ihn dazu, den zuvor geäußerten Resignationen durch ein Dasein in Tatendrang und Freiheit zu entgegnen, wobei er jene Tugenden in Opposition zu geltendem Recht definiert: Das Gesetz habe – wie er kurz zuvor noch festgestellt hatte – »noch keinen großen Mann« gebildet, währenddessen die Freiheit »Kolosse und Extremitäten« hervorbringe. Karls Austritt aus der nachdenklichen Grundstimmung wird aus diesem Grund zu einem Eintritt in die selbstgewählte Laufbahn zur Entwicklung zu einem »großen Mann«. »Mörder, Räuber!«: Karl und die Räuberbande Wie Schiller darlegt, muss diese Form der verspäteten maskulinen Initiation230 zwingend mit einem Dasein, einer Lebensform im illegalen Bereich einhergehen, da sich Karls Streben nach maskuliner ›Größe‹ durch explizite Gesetzesferne begründet. Die Perspektive als »Mörder und Räuber« isoliert ihn gesellschaftlich, was zusätzlich durch die Wahl der von Schwarz angesprochenen »böhmischen Wälder« (DR 515), mittels einer Isolationskomponente der lokalen Deixis, verstärkt wird. Brittnacher kommentiert die Gründung der Räuberbande wie folgt: »Die von Karl beschworene […] Staatsform […] erscheint vor diesem Hintergrund gewiß nicht als frühsozialistische Utopie, sondern eher als ein Paradies pubertierender Lands229 230
Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 47f. Wenn man Franzens Äußerung in I/1 Glauben schenkt, sind seit dem Abschied Karls aus dem Elternhaus bereits 6 Jahre vergangen. Er ist somit dem Jugendalter längst entwachsen.
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knechte«.231 Im Rekurs auf die von Franz in I/1 geschilderte Befürchtung, Karl könne durch die Sehnsucht, ein »großer, großer Mann« zu werden und aufgrund seines »feurigen Genies« in den »Wäldern residieren, um dem müden Wanderer seine Reise um die Hälfte der Bürde [zu, M.B.] erleichtern« (DR 496), wirkt es beinahe als dramatische Ironie, wenn Karl gerade diese prophetischen Äußerungen als Reaktion auf die Intrige Franzens hin umsetzt. Für eine genderorientierte Analyse ist an dieser Stelle jener Aspekt besonders beachtenswert, der hinterfragt, wie die von Karl angestrebte ›männliche Größe‹ definiert ist und vor allem, auf welchem Wege er sie zu erreichen glaubt. Der erste Teil der Frage ist bereits beantwortet worden: Freiheit, Gesetzesferne, Transgression und Subversion sind zentrale Eigenschaften, die Karl als ›Räuber‹ und ›Mörder‹ nicht nur einkalkuliert, sondern dezidiert anstrebt: »und Glück zu dem Meister unter euch, der am wildesten sengt, am gräßlichsten mordet, denn ich sage euch, er soll königlich belohnet werden.« (DR 515) Die Frage, auf welchem Wege er dieses Ziel erreichen möchte, wird im Folgenden beantwortet: Durch den Zusammenschluss in einer Räuberbande soll ein Männerbund mithilfe eines Schwurs geschlossen werden: Moor:
[…] tretet her um mich ein jeder und schwöret mir Treu und Gehorsam zu bis in den Tod! – schwört mir das bei dieser männlichen Rechte! Alle: (geben ihm die Hand). Wir schwören dir Treu und Gehorsam bis in den Tod! Moor: Nun, bei dieser männlichen Rechte! schwör ich euch hier, treu und standhaft euer Hauptmann zu bleiben bis in den Tod! (DR 515f.)
Interessant ist an dieser Stelle die intertextuelle Parallele zu dem unter Abschnitt 4.3 behandelten Text Götz von Berlichingen: Wie Karl wird auch Götz mehrfach bedrängt, sich einem militärischen Männerbündnis (im Falle Götzens mit den aufständischen Bauern) als Anführer anzuschließen. Der Unterschied zwischen beiden Entscheidungssituationen besteht jedoch darin, dass Karl seinen Bündnispartnern im Gegensatz zu Götz keine Bedingungen stellen muss und sie vielmehr zu noch kühneren, noch gewagteren Taten aufmuntert. Während Götz den Bauern gegenüber schließlich einwilligt, ist es in Schillers Text Karl, der den Entschluss, die Räuber231
Brittnacher: Die Räuber, S. 334. Mit Bezug auf Karls vermeintlich revolutionäre Ideen findet sich forschungsgeschichtlich ein breites Spektrum an Deutungen. Vor allem frühere Ansätze wie Staiger: Goethe 1749–1786, S. 86f., betonen die »gewaltige revolutionäre Idee«, die Karl erfüllen würde. Ibel: Goethe, »Goetz von Berlichingen«, S. 60, sieht Karl als »idealistischen Phantast in Verfolg[ung] eines bewußt gefaßten Plans sozial-revolutionärer Gesinnung«. Hinderer: Freiheit und Gesellschaft beim jungen Schiller, S. 245, kommentiert: »Sprach er vorher noch von einer Republik, die er gründen wollte, so erscheint ihm eine Räuberbande jetzt die adäquate Gesellschaft für seine Rache und seine Selbsthilfe zu sein«. Guthke: Schillers Dramen, S. 43, sieht in Karls Entscheidung in seiner kritischen Deutung einen Ausdruck einer »antibenevolentistischen, egomanen Macht- und Glücksphilosophie von Helvétius«. Lothar Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie. Paderborn 2004, S. 124, sieht Karls Ziele als Zusammenwirken unterschiedlicher Motive: »Verlangen nach Größe, Durst nach Taten, Freiheitsbedürfnis, Rachsucht«. Kaiser: Aufklärung. Empfindsamkeit. Sturm und Drang, S. 283, hebt die »Hybris«, mit der Karl »der vollkommenen Gerechtigkeit nachjagt«, hervor.
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bande anzuführen, im Zuge seiner persönlichen Enttäuschung offensiv trifft. Guthke betont darüber hinaus das Streben nach Glückseligkeit, das er Karls Absichten, als »von seinen Kumpanen bewundernd umringter Räuberhauptmann«232 in Aktion zu treten, attestiert. Die Kennzeichen eines Männerbundes sind dabei von entscheidender Bedeutung. Laut Wolfgang Lipp bestehen sie in Folgendem: Institutionen wie Familien, Sippen, Nachbarschaften sind ›gemeinschaftlich‹, reine Zweckverbände »gesellschaftlich« geprägt […]. Bünde lassen solche Elemente nicht nur konvergieren, sondern geben ihnen den Charakter des Verschworenen; sie dynamisieren zugleich ihr Handeln, binden es an Führer und gliedern es ein in Bewegungen, die bei allen gefühlshaften, auf Zusammenschluß gerichteten Merkmalen auch Zwecke kennen, Projekte verfolgen und nach außen drängen.233
Die von Lipp angeführten Charakteristika lassen sich sehr genau auf die Situation in Schillers Text anwenden: Der »Charakter des Verschworenen« wird durch die Bindung an den Schwur »bis in den Tod« direkt umgesetzt und konstituiert somit eine kodifizierte Norm, gegenüber der sich alle Bündnismitglieder zu Gehorsam und Treue verpflichten. Karl wird als Anführerfigur auserkoren, auf die jener Schwur zurückgeführt werden kann. Er verpflichtet zugleich sich selber wie auch die anderen Mitglieder zu unbedingtem Gehorsam, dessen etwaiger Bruch mit drastischen Konsequenzen verbunden sein muss. Der Männerbund definiert sich durch ein Zusammenspiel von gleichrangigen und hierarchisch unterschiedlichen Instanzen: Obwohl alle Mitglieder den Schwur ablegen und damit die kodifizierte Norm des Bundes anerkennen, vertritt Karl eine hierarchisch dominante Position. Er ist es schließlich auch, der mit der Parole »Räuber und Mörder« die »Zwecke« und »Projekte« umreißt, die – der Argumentation von Lipp folgend – das »Doppelgesicht«234 eines Männerbundes umreißen: Bünde haben insofern ein Doppelgesicht; nehmen sie einerseits die Züge von Außenseitern (outlaws), Untergrundgruppen, Banden und Rebellen an – Symbol dafür ist z. B. der ›wilde Mann‹, ist das ›wilde Heer‹ […] –, treten sie zum anderen als Verbände auf, die […] das Brauchgeschehen verwalten, die Prestigeordnung (den Verhaltenskodex) bestimmen oder Volksjustiz üben. Bünde erscheinen im Kulturprozeß […] insoweit bald als Repräsentanten – als Bewahrer und Wahrer, Verfechter und Idealisten –, bald als Freibeuter, Hasardeure und Gegenmächte gegebener sozialer Ordnungen.235
Die Akzeptanz der anderen Bündnismitglieder – mit Ausnahme Spiegelbergs – die sich in Rollers Feststellung »Ohne den Moor sind wir Leib ohne Seele« (DR 514) andeutet, verdeutlicht Karls Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ im Sinne Connells; er stellt im Rekurs auf Connell die momentan gültige Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats dar. Dass diese Position nicht unangefochten bleiben wird, lässt Spiegelbergs prophetischer Ausspruch am Ende von I/2 bereits erahnen: »Dein Register hat ein Loch. Du hast das Gift weggelassen.« (DR 515) Die 232 233 234 235
Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 41. Lipp: Männerbünde, Frauen und Charisma, S. 38. Lipp: Männerbünde, Frauen und Charisma, S. 38. Lipp: Männerbünde, Frauen und Charisma, S. 38f. Vgl. Luserke-Jaqui (Hg.): SchillerHandbuch, S. 22.
228
Prolepse nimmt eine zukünftige Entwicklung des dramatischen Geschehens vorweg, die mit der Struktur des Männerbundes wirkursächlich verbunden ist: Als entscheidendes Problem wird die bereits zum Zeitpunkt des Schwurs in I/2 offenbare Heterogenität des Männerbundes ›Räuberbande‹ erkennbar. Karl erwächst in Spiegelberg ein Konkurrent um die Hegemonie, der nicht nur andere Machtambitionen, sondern auch das Ziel einer unterschiedlichen inhaltlichen Profilierung des Bundes verfolgt. Wie später deutlich wird, entwickelt sich die Auseinandersetzung um den Kernpunkt ›hegemonialer Männlichkeit‹ auch zu einer Standortbestimmung und einem Hinterfragen der bündnisinternen Ziele und Methoden der Räuberbande. Die Divergenzen im letztgenannten Bereich werden insbesondere in II/3 deutlich. Erneut ergeben sich wesentliche Kennzeichen Karls aus der Perspektive der Fremdwahrnehmung, die im Gespräch zwischen Spiegelberg und Razmann thematisiert wird: Razmann:
[…] Er [Karl, M.B.] mordet nicht um des Raubes willen wie wir – nach dem Geld schien er nicht mehr zu fragen, sobald ers vollauf haben konnte, und selbst sein Dritteil an der Beute […] verschenkt er an Waisenkinder, oder läßt damit arme Jungen von Hoffnung studieren. Aber soll er dir einen Landjunker schröpfen […] – Kerl! da ist er dir in seinem Element, und haust teufelmäßig, als wenn jede Faser an ihm eine Furie wäre. (DR 540f.)
Die unterschiedlichen Zielsetzungen innerhalb der Räuberbande gehen, wie sich aus Razmanns Schilderung ergibt, auf unterschiedliche Motivationen zurück. Indem Karl »nicht um des Raubes willen« wie die anderen Räuber »mordet«, sondern die Beute teilweise unter Bedürftigen aufteilt und insbesondere wohlhabende Menschen beraubt, betreibt er eine Form der außergerichtlichen Selbstjustiz, die sich von dem lustvollen Plündern, Vergewaltigen und Lynchen Spiegelbergs klar abgrenzt, mit dem dieser vor Razmann zuvor geprahlt hatte. Gegenüber dem Pater verdeutlicht Karl dies in II/3: »Sag ihnen, mein Handwerk ist Wiedervergeltung – Rache ist mein Gewerbe.« (DR 553) Das Bestreben, in der Funktion des Anführers der Räuberbande als ›großer Mann‹ zu handeln, realisiert Karl demnach durch die bereits zuvor in Aussicht gestellten Eigenschaften der persönlichen Freiheit und Unabhängigkeit, der Härte gegenüber Besitzenden und der Barmherzigkeit gegenüber Bedürftigen. Es sind gerade diese Tugenden, die sich in Razmanns Schilderung bereits als Stoff für Geschichten erweisen; Karl wird somit ein Protagonist innerhalb der Mythen- und Legendenbildung der Räuberbande:236 Seine Taten werden von dritten Personen weitererzählt, wohingegen Spiegelberg diese Art der oralen Überlieferung nur selber bewerkstelligen kann. Verstärkend tritt dieser Tendenz hinzu, dass sich Karl darüber hinaus wiederholt in den Dienst des Männerbundes stellt, wie Roller beschreibt: »[…] dem Hauptmann dank ich Luft, Freiheit und Leben.« (DR 544) Allerdings erfasst ihn Mitleid, als er erfährt, welche Opfer die Befreiungsaktion des Kameraden hervorgerufen hat: 236
In diesem Sinne argumentiert auch Hinderer: Freiheit und Gesellschaft beim jungen Schiller, S. 249, der Karl als »Racheengel gegenüber einer korrupten herrschenden Gesellschaft« beschreibt.
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Schweizer: […] Weißt du nicht, Schufterle, wieviel es Tote gesetzt hat? Schufterle: Dreiundachtzig sagt man. Der Turm allein hat ihrer sechszig zu Staub zer-
schmettert. Räuber Moor: (sehr ernst). Roller, du bist teuer bezahlt. Schufterle: Pah, pah! […] ja, wenns Männer gewesen wären – aber da warens Wickel-
kinder, die ihre Laken vergolden, eingeschnurrte Mütterchen […], Patienten, die nach dem Doktor winselten […] Moor: O der armen Gewürme! Kranke, sagst du, Greise und Kinder? – […] Wirklich, Schufterle? – […] Fort Ungeheuer! Laß dich nimmer unter meiner Bande sehen! Murrt ihr! – Überlegt ihr? – Wer überlegt, wenn ich befehle? – […] es sind noch mehr unter euch, die meinem Grimm reif sind. Ich kenne dich, Spiegelberg. Aber ich will nächstens unter euch treten, und fürchterlich Musterung halten. (DR 544f.)
Die Heterogenität innerhalb des Männerbundes wird an dieser Stelle zum ersten Mal direkt thematisiert: Während Schufterle in seiner abwertenden Schilderung verdeutlicht, dass sein Mitgefühl nur ›Männern‹ gilt, zeigt sich Karl von dem Ausmaß der von ihm verschuldeten militärischen Aktion betroffen, womit er seine unter dem Eindruck des Zorns in I/2 in Aussicht gestellte Aussage »Glück zu dem Meister unter euch, der am wildesten sengt, am gräßlichsten mordet, denn ich sage euch, er soll königlich belohnet werden« (DR 515) revidiert. Mit dem zeitlichen und erfahrungsbedingten Abstand, sein Handeln zu reflektieren, nimmt die Empathiefähigkeit Karls zu; von seiner im Moment des Bündnisschwurs dominanten ›maskulinen Härte‹ zeigt II/3 die Entwicklung hin zu einer ›maskulinen Barmherzigkeit‹, ohne jedoch den Anspruch auf bündnisinterne Dominanz darüber aus den Augen zu verlieren: Guthke weist zurecht auf die Bedeutung der »herrischen Pose«237 (»Wer überlegt, wenn ich befehle«) hin. Die Koexistenz von empathischsentimentalen und dominant-rauen Handlungsimpulsen deutet auf eine in dem Männlichkeitsentwurf angelegte Grundspannung zwischen Protektion und Ich-Immanenz hin, die sich im weiteren Verlauf innerhalb und außerhalb der Räuberbande wiederholt Prüfungen ausgesetzt sieht. Karl befindet sich damit jedoch in einer isolierten Position innerhalb des Bundes;238 er erweist sich als dynamische männliche Figur, deren Fähigkeit zur Autoreflexion sie das Handeln gegebenenfalls auch revidieren lässt. Vor diesem Hintergrund ist der Konflikt innerhalb der Räuberbande unvermeidlich: Karl ist Spiegelbergs von seiner eigenen abweichende Gesinnung bekannt, und es ist dezidiert seine Position im Kernbereich der ›hegemonialen Männlichkeit‹, die ihn dazu befähigen soll, unter seinen Anhängern »fürchterlich Musterung zu halten«. Dass der Männerbund ›Räuberbande‹ nicht zwangsläufig auch mit einer Freundschaft unter Männern einhergehen muss, verdeutlichen Böhnischs Forschungsergebnisse: Nach der Argumentation Böhnischs entwickelt sich eine Freundschaft unter Männern im Gegensatz zu einer Frauenfreundschaft vor allem aktions- bzw. gegen237 238
Guthke: Schillers Dramen, S. 41. Auf die Spannungen zwischen Karl und der Bande verweist Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984, S. 171.
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standsbezogen.239 Indem jedoch im Falle der Räuberbande unterschiedliche, sich teilweise gegenseitig ausschließende Motivationsgrundlagen und Zielsetzungen miteinander konfrontiert werden, ist der gemeinsame Bezug auf ›den Gegenstand‹ oder ›das Thema‹ der Männerfreundschaft nicht mehr gegeben. Die Räuberbande entwickelt somit eine eigene gruppenspezifische Dynamik, die nicht nur hierarchiebezogene, sondern auch emotional-affektive Konkurrenz diverser Argumente hervorbringt, wobei sich Karl als Anführer im Zentrum der Konflikte befindet. Der Abscheu über die mitverschuldeten Taten führt ihn schließlich zu einer zweifachen Revision: Zum einen gelangt Karl zur Einsicht, als Räuber nicht in die angestrebte Position eines ›großen Mannes‹ gelangt zu sein, zum anderen leitet er daraus den Wunsch nach Rücktritt von seinem Schwur ab: Moor:
O pfui über den Kindsmord! den Weibermord! – den Krankenmord! […] da steht der Knabe, schamrot und ausgehöhnt vor dem Auge des Himmels, der sich anmaßte, mit Jupiters Keule zu spielen, und Pygmäen niederwarf, da er Titanen zerschmettern sollte – geh, geh! du bist der Mann nicht, das Racheschwert der obern Tribunale zu regieren […] hier entsag ich dem frechen Plan, gehe, mich in irgendeine Kluft der Erde zu verkriechen, wo der Tag vor meiner Schande zurücktritt. (Er will fliehen.) (DR 548)
Die Definition der ›Männlichkeit‹ über ›männliche‹ Taten tritt in Karls Wahrnehmung in scharfen Kontrast zu der Realität, in der er sich befindet. In dieser Situation ist es der plötzliche Einbruch der Bedrohung in den böhmischen Wäldern, durch den Karl seine Pläne verwerfen muss und sich in seiner Funktion als Anführer der Bande, die eine Struktur einer patriarchalischen Ordnung240 aufweist, zum Kampf stellt: Moor:
(langsam, vor sich) Ich habe sie vollends ganz einschließen lassen, itzt müssen sie fechten wie Verzweifelte. (Laut) Kinder! nun gilts! Wir sind verloren, oder wir müssen fechten wie angeschossene Eber. (DR 549)
Die Bedrohung hebt jedoch die Dissonanzen innerhalb des Männerbundes nicht auf, sie verlegt sie nur auf einen unbestimmten Zeitpunkt in die Zukunft: Durch das gemeinsame Feindbild der böhmischen Soldaten, die das Räuberlager umzingeln, ist die Basis für eine von allen getragene und akzeptierte Aktivität wieder gegeben. Pikulik hebt hervor: »[…] das Gefühl der Verantwortung als Hauptmann führt zu seinem plötzlichen Entschluß, mit den anderen die Freiheit zu verteidigen.«241 Dadurch erweist sich der Männerbund insgesamt und die Treue gegenüber Karl im Besonderen als so gefestigt, um auch dem Angebot des Paters zu widerstehen, Karl als Anführer gegen Zusicherung der Amnestie auszuliefern. Dennoch kann die kurzfristige Konzentration auf den gemeinsamen Kampf nicht über Karls innere Spannungen hinwegtäuschen, die sich insbesondere in III/2 zeigen. Aus Böhmen an die Donau geflüchtet, kommt die Bande dort zum ersten Mal nach dem Kampf zur Ruhe, während die Sonne untergeht, was bei Karl, der – wie der Nebentext anmerkt – »in den Anblick verschwimmt«, (DR 561) die melancholische Stimmung wieder 239 240
241
Vgl. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 198f. Vgl. Brittnacher: Die Räuber, S. 335, der hervorhebt, dass Karl »selbst im gesetzlosen Leben der Räuberbande« versuche, »die Gesetze väterlicher Ordnung zu rekonstruieren.« Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe, S. 124.
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aufleben lässt, die sich bereits in I/2 angedeutet hatte. Der Anblick der ihn umgebenden Natur und insbesondere der untergehenden Sonne löst in Karl eine Sehnsucht nach Glückseligkeit242 aus, die sich in der folgenden transpsychologischen Passage243 offenbart: Moor:
Da ich noch ein Bube war – wars mein Lieblingsgedanke, wie sie zu leben, zu sterben wie sie [die Sonne, M.B.] – (Mit verbißnem Schmerz) Es war ein Bubengedanke! […] (drückt den Hut übers Gesicht). Es war eine Zeit – Laßt mich allein, Kameraden. Schwarz: Moor! Moor! Was zum Henker? – wie er seine Farbe verändert! […] Moor: Es war eine Zeit, wo ich nicht schlafen konnte, wenn ich mein Nachtgebet vergessen hatte – Grimm: Bist du wahnsinnig? Willst du dich von deinen Bubenjahren hofmeistern lassen? Moor: (legt sein Haupt auf Grimms Brust). Bruder! Bruder! Grimm: Wie? sei doch kein Kind – ich bitte dich – Moor: Wär ichs – wär ichs wieder! Grimm: Pfui! Pfui! (DR 561)
Die Szene legt Karls emotionalen Wünsche sukzessive mit Bezug auf sein Lebensalter offen: Im Rekurs auf die Zeit, als »er noch ein Bube war«, wird ihm die Distanz zur Situation als Mann schmerzhaft bewusst.244 Diese Diskrepanz beeinflusst seine Wahrnehmung der Gegenwart; sie wirkt sich auf die Physiognomie aus (»wie er seine Farbe verändert«)245 und lässt ihn unweigerlich seine Emotionen gegenüber den ihn umgebenden Figuren zeigen: Die Unwiederbringbarkeit der kindlichen Frömmigkeit und Unschuld lenkt die Aufmerksamkeit auf die Schuld, die Karl als Räuberhauptmann in der Gegenwart auf sich geladen hat und distanziert ihn zusätzlich von seinem seit der Kindheit gehegten Wunsch nach Heldentum, der sich in der Analogie mit der Sonne zeigt: »So [wie die untergehende Sonne, M.B.] stirbt ein Held! – Anbetenswürdig!« (DR 561) Das Verlangen nach Rückkehr zur Kindheit kann somit auch als Verlangen nach Unschuld verstanden werden. Eines der bemerkenswertesten Kennzeichen der Szene ist die körperliche Nähe, durch die Karl bei Grimm Trost sucht. Durch das Stützen des Kopfes »auf Grimms Brust«, wie der Nebentext vermerkt, überschreitet Karl den Bereich der auf die gemeinsame Aktion bezogenen Kameradschaft innerhalb der Räuberbande: Grimm wird – zumindest für einen kurzen Augenblick – zu seinem »Bruder«; die Räuberbande somit zu seiner »Familie«. Die Reflexion der eigenen Lebensgeschichte, die Karl unweigerlich zur 242
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Dieser Aspekt wird ausführlich bei Jean-Jacques Alcandre: Ecriture dramatique et pratique scénique. Les ›Brigands‹ sur la scène allemande des XVIII e et XIX e siècles. Vol. I. Berne 1986, S. 38ff. und Guthke: Schillers Dramen, S. 42ff., behandelt. Gleichzeitig bietet die Passage ein Beispiel für die von Rüdiger Safranski: Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus. Bonn 2004, S. 105, festgestellte »Romantisierung des Räubertums«. Den transpsychologischen Kommentar in den Reflexionsmonologen betonen insbesondere Guthke: Schillers Dramen, S. 33 und Monika Ritzer: Schillers dramatischer Stil. In: H. Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 242. Die selbstreflexive Rede Karls ist in der Forschung wiederholt als Kritik am Rousseauismus gedeutet worden. Vgl. Brittnacher: Die Räuber, S. 339, aber auch insbesondere Wuthenow: Rousseau im »Sturm und Drang«, S. 48ff. Die Korrelation der medizinischen Kenntnisse Schillers und der Konzeption der Szene betont Guthke: Schillers Dramen, S. 33.
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Erinnerung an den Bruch mit seiner Familie treibt, wirkt dabei als Katalysator seiner melancholischen Verfassung. Das individuelle Schicksal: »die ganze Welt eine Familie und ein Vater dort oben – Mein Vater nicht – Ich allein der Verstoßene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen« (DR 561f.) erlebt er wiederholt als Verlusterfahrung, die die Grenze von Immanenz und Transzendenz verschwimmen lässt.246 Damit lässt sich mit Bezug auf die Motivationsgrundlagen Karls eine entscheidende These formulieren, die insbesondere im weiteren Verlauf des Textes verfolgt werden soll. Seine emotionalen Bestrebungen können zwei Gruppen zugeteilt werden – einer extern und einer intern fokussierten. In beiden Fällen sind die Motivationen wirkursächlich mit seinem Männlichkeitsentwurf verbunden. Im Bereich der extern fokussierten Wünsche sehnt sich Karl nach der Aussöhnung und Wiedervereinigung mit anderen Figuren, seinem Vater und Amalia. Dabei stehen für ihn zwei Sozialformen in Aussicht, in denen er zwei ihm vertraute, aber in der Gegenwart verloren gegangene maskuline Positionen besetzen könnte: die des Sohns und die des Geliebten. Diese externe Fokussierung lässt sich bereits in I/2 nachweisen, wird aber vor dem Hintergrund von III/2 deutlicher. Der Bereich der internen Fokussierung rückt in III/2 sein Bestreben nach eigener ›Unschuld‹ in den Mittelpunkt, die ihn – wie in der Passage zuvor gezeigt werden konnte – mit der Erinnerung an seine ›heroischen‹ Männlichkeitsvorstellungen der Kindheit und Jugend in der Gegenwart konfrontiert. Der Prozess der Erinnerung löst wiederum die zuvor angesprochene Verlusterfahrung aus. In diesem Rahmen wird das Augenmerk in der Analyse auf zwei Aspekte gelegt: zum einen auf die Sehnsucht nach körperlicher Nähe, wiewohl sie von Grimm – dem die familiäre Perspektive auf Karls überraschende Gefühlsäußerung fehlt – sofort vehement abgelehnt wird. In seinem Bedürfnis nach physischer Nähe verdeutlicht Karl Schwarz und Grimm gegenüber seine eigene Hilflosigkeit. Diese steht jedoch im Widerspruch zu seiner hegemonialen Position innerhalb der Bande und zu seinem Führungs-, der auch gleichzeitig ein Beschützeranspruch ist. Im Rekurs auf die von Böhnisch benannten Triebkräfte (maskuliner) Körperlichkeit, Selbstschutz und Selbstbehauptung,247 sind die Mitglieder der Räuberbande mit Karls Selbstbehauptung, die sich insbesondere in seinen militärischen Aktionen unter Beweis stellen ließ, durchaus vertraut. Wie Böhnisch hervorhebt, sei der Drang nach Selbstbehauptung »in kritischen und risikoreichen Sozialsituationen« – dem bewaffneten Kampf als Anführer einer Bande von Gesetzlosen etwa – ein Zeichen eines männlichen, nach Dominanz strebenden Geschlechtshabitus.248 Karl jedoch selber als Schutz suchendes Individuum wiederzuerkennen, versetzt den Dominanzanspruch automatisch in einen Widerspruch: Karl, der sonst durch seine Physis Wehrhaftigkeit unter Beweis stellt, wird anhand seiner Psyche als schutzbedürftig und hilflos transparent. Dementsprechend unterschiedlich gestalten sich seine Reaktionen in verschiedenen 246
247 248
Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe, S. 125, sieht in der Vergegenwärtigung des verlorenen Glücks ein Indiz dafür, dass Karl »mit sich selber zerfallen« sei. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 110ff. Vgl. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 112.
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Situationen: Phasen der Wehrhaftigkeit im Kampf werden von solchen der schwärmerischen Sehnsucht, in der er beinahe verletzlich erscheint, gefolgt. Karls Männlichkeitsentwurf lässt sich demzufolge in seinem Facettenreichtum nicht nur als dynamisch, sondern vor allem auch als mehrdimensional bezeichnen. Die Reaktion Grimms (»Pfui! Pfui!«) versinnbildlicht die ablehnende Haltung eines Mannes, in dessen Erwartungshaltung das Verlangen nach Trost und emotionalem Zuspruch sich nicht mit jener ›hegemonialen Männlichkeit‹ in Einklang bringen lässt, die Karl als Anführerfigur beansprucht. Die zweite Reaktion Karls, die sich aus seiner Erinnerung ergibt, ist die Vergegenwärtigung der aktuellen Position inmitten von Gesetzlosen, die der kindlichen Unschuld widerspricht: »Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt – angeschmiedet an das Laster mit eisernen Banden.« (DR 562) Der gegenseitige Treueschwur aus I/2 wird dabei nicht mehr positiv als Beweis der Dauerhaftigkeit des ›Männerbundes‹ definiert, da sich die ihm zugrunde liegenden Wertevorstellungen aus Karls Perspektive im Moment der Erinnerung an die Vergangenheit im Auflösen befinden. Sein Männlichkeitsentwurf offenbart sich in diesem Zusammenhang in einer sprunghaften Dynamik, in der sich eigen- und fremdverursachte Komponenten überlagern. Das plötzliche Umschwenken hin zu familiärer Glückseligkeit wird von den übrigen Räubern als pathologisches Anzeichen gedeutet: »Nur Geduld! der Paroxysmus ist schon im Fallen.« (DR 562)249 Ebenso wie die Anzeichen der Physiognomie (kurz darauf wird Karls »vernichtender Blick« von Kosinsky beschrieben) ist auch die Erinnerung jedoch innerhalb der Dynamik, die Karls Affekthaushalt kennzeichnet, nicht nachhaltig genug, um die emotionale Bindung und die Verantwortung gegenüber seiner ›Ersatzfamilie‹, der Räuberbande, aufzulösen: Das familiäre Verlusterlebnis rückt zugunsten des unmittelbar empfundenen Todes eines Kameraden (Rollers) in den Hintergrund. Dieser führt schließlich dazu, dass die Wiederholung und Verstärkung des Schwurs aus I/2 die Dynamik der Figur verdeutlicht: Moor:
Ja, Kinder – es war ein heißer Nachmittag – und nur einen Mann verloren – mein Roller starb einen schönen Tod. […] (Er wischt sich die Augen) Wieviel warens doch von den Feinden, die auf dem Platz blieben? Schweizer: […] – dreihundert in allem. Moor: Dreihundert für einen! […] (Er entblößt das Haupt) Hier heb ich meinen Dolch auf! So wahr meine Seele lebt! Ich will euch niemals verlassen. Schweizer: Schwöre nicht! du weißt nicht, ob du nicht noch glücklich werden, und bereuen wirst. Moor: Bei den Gebeinen meines Rollers! Ich will euch niemals verlassen. (DR 563) 249
In Zedlers Univerallexicon findet sich folgender Eintrag zum Stichwort ›Paroxysmus‹: »ein Anfall, Anstoß, ist die Zeit, in welcher eine Kranckheit ihre Macht durch allerhand Zufälle ausübet; als in den Fiebern, wenn selbige den Patienten anfallen […] oder wenn jemand von der schweren Noth gerühret wird. Dergleichen Anfall ist entweder ordentlich […] oder unordentlich, da er keine Zeit beobachtet; sondern […] bald geschwinde, bald langsam zustösset, wie bey den irrenden und abweichenden Fiebern zu geschehen pfleget.« (http://mdz10.bibbvb.de/~zedler/zedler2007/suchen/suchergebnisse.html?suchmodus= standard Zugriff: 04. 04. 2008).
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Innerhalb der dramatischen Struktur des Textes wirkt der unmittelbar folgende Auftritt Kosinskys zunächst als Bekräftigung der »wiedererlangten männlichen Tugenden« Karls. Konsinsky, der mit den Worten »Männer such ich, die dem Tod ins Gesicht sehen, und die Gefahr wie eine zahme Schlange um sich spielen lassen« (DR 563) eingeführt wird, zitiert in seiner Figurenrede jene Form der Entschlossenheit, die Karl der für ihn ›hegemonialen‹ Form der ›Männlichkeit‹ attestiert und mit der er vor allem im ersten Akt den Kampf gegen das ›Kastratenjahrhundert‹ aufgenommen hatte. In der Interaktion mit Kosinsky erweist sich Karl als nicht nur als kampf-, sondern vor allem als lebenserfahrener Mann, dessen protektive Bestrebungen zunächst darauf abzielen, den jüngeren und heißblütigen Kosinsky: »So, junger Herr? […] Geh, geh! du bist deiner Amme entlaufen« (DR 565) vom Dasein innerhalb der Räuberbande abzubringen. Das Gespräch thematisiert in diesem Zusammenhang wiederholt den Bereich der ›Männlichkeit‹, indem Kosinsky Karl zunächst als »Mann mit vernichtendem Blicke« (DR 564) – mit Hilfe einer dezidiert maskulinen Physiognomie – unter den Räubern erkennt. Die mangelnde Fähigkeit zur Beherrschung und zum Abwägen der Gefahr entfernen Kosinsky jedoch in Karls Wahrnehmung aus dem Bereich der ›Männlichkeit‹ – er beschreibt ihn als »junger Herr«, »Knabe«, »Jüngling« und »mein[en] Sohn«, attestiert ihm eine »kindische Phantasie« und grenzt sich selber scharf davon ab: »Willst du dich anmaßen, einen Mann mit Schmeicheleien zu fangen?« (DR 565f.) Karl wird in dieser Situation als Repräsentant einer gereiften männlichen Generation wahrnehmbar, die gegenüber Kosinsky bereits in der Funktion eines »Vaters« Verantwortung übernehmen will. Grundlagen dafür bilden die Erfahrungen eines Lebensentwurfes als Gesetzloser. Die Duplizität des Tatendranges zwischen Kosinsky in der Gegenwart und Karl in dessen Vergangenheit wird insbesondere daran deutlich, dass Kosinsky die »Mordbrennereien« (DR 564), die er vom Hörensagen kennt und Karl als Verdienst zuschreibt, als Ausdrucksform einer heldenhaften Form der ›Männlichkeit‹ ebenso akzeptiert wie Karl zuvor im Moment des ersten Treueschwurs in I/2. Karls Entschluss erfährt erst in jenem Moment eine entscheidende Änderung, als sich die Parallelen zwischen der eigenen und der Lebensgeschichte Kosinskys vom Drang nach Abenteuern und Taten in den Bereich der familiären und amourösen Intimität ausweiten. Wie bereits durch die eigene zuvor geschilderte Erinnerung sind es gerade die Elemente des unmittelbaren sozialen Umfelds der Intimität, die Karls Affekte aufs Neue herausfordern – war es zu Beginn von III/2 noch die durch die schwärmerische Wahrnehmung der Natur ausgelöste Erinnerung an frühkindliche Unschuld, die zur Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit führte, so ist es im Zuge von Kosinskys Schilderung die Erinnerung an die amourösen Wunschvorstellungen Amalia gegenüber, die Karls Überzeugung vom Dasein als Räuberhauptmann erschüttern. Wie bereits zuvor spiegelt sich der veränderte Affekthaushalt anhand physiognomischer Kennzeichen wider, die von den anderen anwesenden Figuren bemerkt werden: Schweizer: Sachte, sachte! Unser Hauptmann wird feuerrot. Moor: Hör auf! ich wills ein andermal hören – morgen, nächstens, oder – wenn ich Blut
gesehen habe. […]
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Kosinsky:
Blut, Blut – höre nur weiter! […] und übermorgen sollte ich meine Amalia vor den Altar führen. Moor: (steht schnell auf). […] (der bisher in heftigen Bewegungen hin- und hergegangen, springt rasch auf, zu den Räubern) Ich muß sie sehen – auf! rafft zusammen – du bleibst, Kosinsky – packt eilig zusammen! (DR 566ff.)
Während für Karl die Wiedererkennung der eigenen vergangenen Aspirationen – ›Männlichkeit‹ als ›Rebell‹ unter Beweis zu stellen – in Kosinsky zum Motiv wird, ihm den Zugang zur Räuberbande zu verwehren, um ihn zu schützen, bricht er diese Strategie abrupt exakt in dem Moment ab, als er sich in Kosinsky auch amourös wiedererkennt. Der Zufall, dass beide Geliebten den Namen Amalia tragen, verstärkt das bereits zu Beginn der Szene thematisierte Verlusterlebnis Karls; erneut wird er als männliche Figur transparent, der es wiederholt nicht gelingt, sich von den Einflüssen der Affekte zu befreien. Sämtliche zuvor angeführten rationalen Argumente Kosinskys Wunsch gegenüber werden im Sturm der Leidenschaft in einer für die Figur charakteristischen Dynamik pulverisiert, was plötzlich sogar dazu führt, dass Karl der Räuberbande ein neues Ziel auferlegt: ihn auf seiner Rückkehr in die Heimat zu begleiten: »auf! rafft zusammen […] packt eilig zusammen!« (DR 568) Dass diese neue Zielsetzung ausschließlich persönlich motiviert ist und bei den anderen Räubern zunächst auf Unverständnis stößt, verdeutlicht die Reaktion der Umstehenden: »Wohin? Was?« (DR 568) Die Vergegenwärtigung der möglichen Gefahr für Amalia, die Karl aus dem Bericht Kosinskys ableitet, wird folglich nicht nur zu einem persönlichen, sondern darüber hinaus auch zu einem kollektiven neuen Sinngebungsprozess für die Bande, die Schweizer stellvertretend annimmt: »[…] geh in die Hölle, ich folge dir!« (DR 568) Der Szene kommt im Hinblick auf Karls Männlichkeitsentwurf insofern eine entscheidende Bedeutung zu, als sie deutlich zeigt, wie die emotionale Komponente seiner Individualität das Streben nach männlicher Dominanz lenkt. Karl ist auch im Moment der höchsten affektiven Beeinflussung noch immer der Anführer der Räuberbande, noch immer derjenige, der Befehle erteilt und keinen Widerspruch duldet, noch immer Patriarch der Gesetzlosen – oder in anderen Worten – noch immer in der Position ›hegemonialer Männlichkeit‹. Diese versucht er, zur Erfüllung seiner intimen Wunschvorstellungen, der Versöhnung mit dem Vater und der Verbindung mit Amalia, zu instrumentalisieren. Das Bewusstsein des wiederholten Treueschwurs gegenüber der Bande gerät ihm dabei im Strudel der Aufbruchstimmung in Vergessenheit; Karl setzt seinen nach emotionaler Erfüllung strebenden, individuellen Männlichkeitsentwurf vor seine Verpflichtungen gegenüber dem Männerbund – ein verhängnisvoller Schritt, wie sich noch zeigen wird. Tragik des »männlichen Muts«: verlorener Sohn und verlorener Geliebter Die bedingungslose Unterordnung unter den Bereich der Intimität lässt Karl im vierten Akt in zwei Bereichen agieren: als ›verlorener Sohn‹ und als ›verlorener Geliebter‹. Die räumliche Nähe zum väterlichen Schloss löst wiederholt die Erinnerung an 236
Kindheit und Jugend aus, die allerdings im Vergleich zu III/2 von einer Überlagerung der wehleidigen, von Melancholie geprägten Erinnerung und Entschlossenheit bestimmt ist. Die Szene arbeitet die sprunghafte Dynamik des Männlichkeitsentwurfes Karls unter anderem auch anhand des Zusammenwirkens von Haupt- und Nebentext heraus und ist dadurch für die Analyse besonders interessant: Moor:
Sei mir gegrüßt, Vaterlandserde! (Er küßt die Erde) Vaterlandshimmel! Vaterlandssonne! – und Fluren und Hügel und Ströme und Wälder! seid alle, alle mir herzlich gegrüßt! wie so köstlich wehet die Luft von meinen Heimatgebürgen! wie strömt balsamische Wonne aus euch dem armen Flüchtling entgegen! […] (Er lächelt) Die goldne Maienjahre der Knabenzeit leben wieder auf in der Seele des Elenden – […] Hier solltest du wandeln dereinst, ein großer, stattlicher, gepriesener Mann – […] (Er fährt auf) Warum bin ich hiehergekommen? daß mirs ginge wie dem Gefangenen, den der klirrende Eisenring aus Träumen der Freiheit aufjagt? […] Lebt wohl, ihr Vaterlandstäler! einst saht ihr den Knaben Karl, und der Knabe Karl war ein glücklicher Knabe – itzt seht ihr den Mann, und er war in Verzweiflung. (Er dreht sich schnell nach dem äußeren Ende der Gegend, allwo er plötzlich stille steht und nach dem Schloß mit Wehmut herüberblickt) Sie nicht sehen, nicht einen Blick? […] Nein! sehen muß ich sie – muß ich ihn – es soll mich zermalmen (Er kehrt um) Vater! Vater! dein Sohn naht – weg mit dir, schwarzes, rauchendes Blut! weg, hohler, grasser, zuckender Todesblick! […] (Er steht an der Pforte) Wie wird mir? was ist das, Moor? Sei ein Mann! (DR 569f.)
Sich seiner eigenen Unentschlossenheit bewusst, mündet der Karls Monolog in die formelhafte Wendung: »Sei ein Mann!«. Dem geht ein Prozess voran, in dem die lokale Annäherung und Entfernung zum väterlichen Schloss und dessen Umgebung auch auf emotionaler Ebene eine Entsprechung findet. Das Wiedererblicken des heimischen Bodens löst nicht nur eine genaue Beschreibung der lokalen Deixis, sondern darüber hinaus auch eine Apotheose der Erinnerungen aus, die sich wiederum mit den beschriebenen Räumen verbinden. Diese unzweifelhaft positiven Erinnerungen spiegelt auch die Physiognomie Karls wider, indem er – wie der Nebentext bemerkt – »lächelt«. Wie bereits in III/2 ist es jedoch der unmittelbare Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der erneute Zweifel an der Entscheidung hervorruft und sowohl eine lokale (»er dreht sich schnell nach dem äußeren Ende der Gegend«) als auch eine emotionale Entfernung (»lebt wohl, ihr Vaterlandstäler«) nach sich zieht. Die Parallele zu III/2 ist damit allerdings noch nicht beendet: Ebenso wie zuvor sind es die amouröse Bindung zu Amalia (»sehen muß ich sie«) und das Verlangen nach familiärer Aussöhnung (»muß ich ihn«), die Karl die Entscheidung wiederum revidieren lassen (»er kehrt um«). Die Fähigkeit zur Selbstreflexion zieht die Forderung nach der Beherrschbarkeit der Affekte nach sich. Wenn Karl als männliche Figur, die im bisherigen Verlauf des Textes mehrfach als ein von Leidenschaften getriebener Mann in Aktion getreten war, den selbstauferlegten Appell an die ›Männlichkeit‹ gerade an jene Eigenschaft knüpft, die Affekte zu beherrschen, so verdeutlicht dies Folgendes: zum einen das Bewusstsein, dass sich zögerliches, unentschlossenes Handeln nicht mit dem angestrebten Konzept von ›Männlichkeit‹ vereinbaren lässt. Zum anderen jedoch auch, dass sich sein Männlichkeitsentwurf – wie sich bereits in III/2 angedeutete hatte – internen Einflüssen auf emotionaler Ebene gegenüber als wesentlich empfänglicher und anfälliger erweist als externen. 237
An dieser Stelle ist die Überblendung der Eigen- und Fremddynamik des Männlichkeitsentwurfes entscheidend: Wie bereits im Verlauf der Kosinsky-Episode ist es zwar ursächlich ein externer Reiz, der Karls Reflexion initiiert (in III/2 Kosinskys vergleichbares Schicksal, in IV/1 der Anblick der Heimat), wobei jedoch die Spannungen, die sich daraus für Karl ergeben, auf seine interne Unentschlossenheit und Unsicherheit zurückzuführen sind. Nicht das Mitleid mit Kosinskys Situation wird zum Movens der Rückkehr, sondern die Projektion auf die individuelle Gefühlswelt. Vergleichbar gestaltet sich der Prozess der Entscheidungsfindung in IV/1: Die zwischenzeitliche Abkehr von Karls Plan resultiert aus dem individuell erlebten Misserfolg als Mann (›Knabe‹ – ›glücklich‹, ›Mann‹ – ›Verzweiflung‹).250 Um diese Diskrepanz auszugleichen, bedarf es vor allem einer Bestätigung auf dem Gebiet der emotionalen Unsicherheit, es bedarf intimer Sicherheit, die Karl sowohl Amalia als auch dem Vater gegenüber sucht. Im ersten Fall erlangt Karl die Sicherheit durch das Gespräch mit Amalia in IV/2: »Sie liebt mich, sie liebt mich! – ihr ganzes Wesen fing an sich zu empören, verräterisch rollten die Tränen von ihren Wangen.« (DR 571) Da er sich jedoch in der Ahnengalerie des Schlosses befindet und somit direkt mit dem Bild des Vaters konfrontiert wird: »Ein göttlicher Mann!« (DR 571), verstärkt der visuelle Reiz das auf sich selbst projizierte Schuldgefühl, indem Karl – »in den Anblick [des väterlichen Portraits, M.B.] versunken« (DR 571) und »vom Anblick des Vaters ergriffen« (DR 571) – den Bruch mit der Vater-Welt als selbstverschuldet empfindet »Ich, ich hab ihn getötet.« (DR 571) Emotionale Zuwendung erfährt er, abgesehen von Amalia, die ihn jedoch vorerst nicht in seiner Identität erkennt, von Daniel in IV/3, der ihn darüber hinaus über die Intrigen des Bruders in Kenntnis setzt. Die Gewissheit, dass nicht väterlicher Liebesentzug, sondern Franzens Streben nach Macht ihn zum einen um die emotionale Bindung an Familie und Amalia, zum anderen um den Anspruch auf die Nachfolge als kommender Graf von Moor und drittens um ein Leben frei von den Verbrechen als Räuberhauptmann gebracht hat, löst den emotionalen Widerspruch aus I/2 auf: Moor:
(auffahrend aus schröcklichem Pausen). Betrogen, betrogen! da fährt es über meine Seele wie der Blitz! – Spitzbübische Künste! Himmel und Hölle! nicht du, Vater! […] Mörder, Räuber durch spitzbübische Künste! […] oh ich blöder, blöder, blöder Tor! (Wider die Wand rennend). (DR 581)
Dass es Karl jedoch im Vergleich zu ähnlich emotional bewegten Situationen zuvor relativ schnell gelingt, seine Affekte zu beherrschen, zeigt die Reaktion im Anschluss daran: Da die unmittelbare Rache die Gefahr des Brudermords in sich birgt, zwingt sich Karl zur Beherrschung seiner Leidenschaft und entscheidet sich vorerst für die Entfernung vom väterlichen Haus. Die beiden emotionalen Spannungsmomente, die sein Selbstkonzept beeinflusst hatten, scheinen zunächst aufgelöst: Karl erlangt Einsicht dahingehend, dass ihn der Vater nicht verstoßen hat und Amalia ihn noch immer liebt. Allerdings offenbart das Treffen mit Amalia in IV/4 einen tiefen Widerspruch zwischen den amourösen Wunschvorstellungen und dem selbst ge250
In diesem Sinne Argumentiert auch Wuthenow: Rousseau im »Sturm und Drang«, S. 50.
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wählten Lebensstil als Räuberhauptmann,251 der sich wie folgt herleitet: In der Gartenszene befindet sich Karl Amalia gegenüber immer noch in der verschleierten Identität eines Fremden. Der Widerspruch, der beide trennt, beruht im inneren Kommunikationssystem des Textes auf einem zweifachen Wissensrückstand Amalias: Ebenso wie sie ihren Geliebten trotz des Bildnisses, das Karl in jungen Jahren zeigt, aufgrund des veränderten äußeren Erscheinungsbildes nicht wiederzuerkennen vermag, bleibt sie auch mit ihren Vorstellungen der ehrbaren Handlungen Karls zwingend in der Vergangenheit verhaftet. Im Hinblick auf eine männlichkeitsorientierte Analyse lässt sich zusammenfassen: Der reife, gegenwärtige Mann ›Karl‹ ist ihr sowohl äußerlich als auch in der Gesinnung unbekannt, da ihre Erinnerungen sich an den jungen ›Karl‹ knüpfen, in den sie sich einst verliebt hatte. Im Gegensatz zu Amalia wird sich Karl dessen bewusst. Seine auf die eventuelle Erfüllung einer Liebesbeziehung gerichtete Äußerung: »Ja, eine Welt, wo die Schleier hinwegfallen und die Liebe sich schröcklich wieder findet – Ewigkeit ist ihr Name« (DR 584) kann als Einsicht in die Tatsache verstanden werden, dass sein Dasein als ›Räuber‹ in einer unüberbrückbaren Opposition zu der Unschuld und Treue Amalias steht. Karls Gegenwart zeigt sich dabei unter dem verheerenden Einfluss der gesetzlosen Vergangenheit. Dass sich Amalia von Karls moralischer Integrität überzeugt zeigt, wird zur dramatischen Ironie: Amalia:
(froh aufhüpfend). Ha, wie bin ich ein glückliches Mädchen! Mein Einziger ist Nachtstrahl der Gottheit, und die Gottheit ist Huld und Erbarmen! Nicht eine Fliege konnte er leiden sehen – Seine Seele ist so fern von einem blutigen Gedanken, als fern der Mittag von der Mitternacht ist. Moor: (kehrt sich schnell ab in ein Gebüsch, blickt starr in die Gegend). (DR 584)
In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte für Karls Männlichkeitsentwurf entscheidend: Karl bemerkt am Beispiel der amourösen Beziehung zu Amalia, dass er auf der Ebene der Gegenwart nicht mehr jenem Männlichkeitsentwurf entsprechen kann, den Amalia in ihrer Liebeserklärung schildert. Diese Erkenntnis rückt sein eigenes Ziel der Wiederherstellung einer Balance im System der Intimität in die Ferne und führt ihm die Entfremdung vor Auge, die er sich selbst gegenüber als Räuberhauptmann durchlaufen hat. Die Tragik der Szene wird vor allem dadurch intensiviert, dass Amalia unwissentlich gerade jene Ängste Karls aufgreift, die ihn bereits in III/2 gequält hatten: Verlust und Unerreichbarkeit des Männlichkeitsentwurfes, von dem er als Kind und junger Mann geträumt hatte, durch das Dasein als Räuber und die damit auf sich geladene, schwere moralische Schuld. Die textübergreifende Paradoxie Karls besteht – auf seine Vorstellungen zur ›Männlichkeit‹ bezogen – folglich darin, dass er durch die im Zuge der Leidenschaften getroffene Entscheidung für den Lebens- und Männlichkeitsentwurf als ›Räuber‹ nicht in seinen Männlichkeitsentwurf als ›Geliebter‹ zurückkehren kann, obwohl sowohl seine Zweifel am Leben in der Gesetzlosigkeit als auch sein Verlangen nach emotionaler Bindung unwiderlegbar sind. Das Ventil der Aggression ›Räuberbande‹ wird für ihn nicht 251
Vgl. Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008, S. 202.
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zum Medium maskuliner Verwirklichung, wie I/2 noch in Aussicht gestellt hatte, sondern schließlich zum Hindernis emotionaler Erfüllung. Die Räuberbande als Versinnbildlichung eines freien, unabhängigen Männerbundes verhindert die individuelle Freiheit Karls, indem sie ihn rituell bindet und – wie die Szene mit Amalia verdeutlicht – die Biographie seines Männlichkeitsentwurfes durch konkrete Taten für immer prägt. Insofern entbehrt Karls Replik auf das Lautenspiel Amalias in IV/4, in der er sich als ›Hektor‹ von ›Andromache‹ verabschiedet, um einem unbesiegbaren Gegner entgegenzutreten, nicht einer symbolischen Parallele zu seiner eigenen Situation. Karls ›Achilles‹, so lässt sich in einer Analogie feststellen, ist der Männerbund ›Räuberbande‹, in dem in Karls Abwesenheit interne Spannungen zum Mord an Spiegelberg geführt haben. Die Situation deutet Karl in IV/5 zwar als Eingriff einer transzendenten Gerechtigkeit, den er allerdings auch auf sich selber zukommen sieht.252 Seine prophetische Erkenntnis: »Lenker im Himmel – ich verstehe – die Blätter fallen von den Bäumen – und mein Herbst ist kommen« (DR 588) erinnert an den resignierenden Götz: »Meine Stunde ist kommen« (GvB 386) in Goethes Text. Die Parallele zwischen beiden ›rebellischen‹, männlichen Figuren besteht in diesem Zusammenhang darin, dass sie sich der Unausweichlichkeit des selbst gewählten Schicksals bewusst werden: Beide spiegeln einen freiheitsliebenden und an einer heroischen Selbstverwirklichung orientierten Männlichkeitsentwurf wider, Götz aufgrund seiner Sozialisation als Vertreter des Schwertadels, Karl aufgrund seiner Leidenschaften, die unter den Einfluss von Rache und Drang nach Selbstjustiz gelangen. Beide Figuren führt der Weg in die Gesetzesferne, um nach eigenen Regeln zu leben; beide sind Anführer eines Männerbundes, der sich zunehmend im Verborgenen organisiert, um dann unabhängig seine Ziele zu verfolgen. Ein entscheidender Unterschied zwischen Götz und Karl besteht jedoch in der Tatsache, dass Götz bis zuletzt von der Rechtmäßigkeit seines Lebens- und damit auch Männlichkeitsentwurfes als ›Reichsritter‹ überzeugt ist; er ist sich selber keiner Schuld bewusst und muss sich im Moment des Scheiterns eingestehen, mit der Welt, die ihn umgibt, nicht mehr kompatibel zu sein. Diese Konsequenz zieht auch Karl Moor, wobei er im Gegensatz zu Goethes Titelfigur durchaus Zweifel an seiner Tätigkeit als ›Räuber‹ hegt, die sich im Laufe des Textes verstärken. Der Grund dafür liegt darin, dass Götz bereits als Kind in dem System des Schwertadels geboren und darin sozialisiert wird, währenddessen Karl durch die Intrige Franzens als Mann in die Gesetzlosigkeit gedrängt und damit gerade dazu gezwungen wird, jenem Lebens- und Männlichkeitsentwurf zu entsagen, nach dem er sich tatsächlich sehnt. Die Gewaltspirale, die das Trinklied der Räuber in IV/5 versinnbildlicht: »Stehlen, morden, huren, balgen/ Heißt bei uns nur Zeit zerstreun« (DR 585), mündet in Zersetzungserscheinungen des Bundes, dem Karl als Anführer vorsteht.253 Der Mord an Spiegelberg verdeutlicht, wie sich die Gewaltmechanismen des an Kampf gewöhnten Männerbundes in der Zeit des Stillstands verselbstständigen. Karl, der gerade von der unüberbrückba252
253
Guthke: Schillers Dramen, S. 41, attestiert Karl in diesem Zusammenhang »Hybris«, die ihm das Gefühl vermittle, »berufen« zu sein, »seinen Bruder zur Strecke zu bringen«. Vgl. Brittnacher: Die Räuber, S. 344f.
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ren Differenz zu Amalia erschüttert zur Räuberbande zurückkehrt, wird die Unmöglichkeit an Einflussnahme somit nicht nur im System der Intimität, sondern auch in der Räuberbande vor Augen geführt: Moor:
Bald – bald ist alles erfüllet. – Gebt mir meine Laute – Ich habe mich selbst verloren, seit ich dort war – meine Laute sag ich – ich muß mich zurücklullen in meine Kraft […] Doch warens nur die Tränen im Schauspielhaus – den Römergesang muß ich hören, daß mein schlafender Genius wieder aufwacht. (DR 588f.)
Die Meditation im Lautenspiel mündet in Suizidgedanken, die Karl unter anderem auch durch die Berufung auf die Vorstellung des Weiterbestehens seiner entkörperlichten ›Männlichkeit‹ rechtfertigt: Moor:
[…] Nein! Nein! Ein Mann muß nicht straucheln – Sei, wie du willst, namenloses Jenseits – bleibt mir nur dieses mein Selbst getreu […] wenn ich nur mich selbst mit hinübernehme. Außendinge sind nur der Anstrich des Manns – Ich bin mein Himmel und meine Hölle. (DR 591)254
Der Moment der Entscheidung zur Abkehr von den Selbstmordgedanken ergibt sich aus einem Fatalismus: »Nein! Ich wills dulden!« (DR 592) und der Berufung auf den Stolz, der über die Zukunftsängste triumphiert.255 Über die Entschlossenheit hinaus, sich dem eigenen Schicksal zu stellen, führt das zufällige Zusammentreffen mit dem lebendig begrabenen Vater zu einem neuen Sinngebungsprozess der Unternehmungen Karls: der Rache an seinem Bruder: Moor:
Rache, Rache, Rache dir! […] So zerreiß ich von nun an auf ewig das brüderliche Band! […] Hier knie ich – […] hier schwör ich […] das Licht des Tages nicht mehr zu grüßen, bis des Vatermörders Blut, vor diesem Steine verschüttet, gegen die Sonne dampft. […] [zu den anderen Räubern, M.B.] eh soll kein Gedanke von Mord oder Raub Platz finden in eurer Brust, bis euer aller Kleider von des Verruchten Blute scharlachrot gezeichnet sind […] Entblößet eure Häupter! Kniet hin in den Staub, und stehet geheiligt auf! (Sie knien). (DR 596f.)
Die Szene erinnert in der Intensität der Leidenschaften, mit der Karl den Racheplan gegen Franz inszeniert, unweigerlich an I/2: Der entfesselte Sturm der Affekte mündet wie auch im Moment der Gründung der Räuberbande in einen doppelten Treueschwur, mit dem sich sowohl Karl als auch die Räuber verpflichten: Karl der selbst gestellten Aufgabe, Franz zur Rechenschaft zu ziehen, sowie die Räuber, ihn dabei bedingungslos zu unterstützen. Die Schwurszene, die Guthke als »Regression ins destruktiv Barbarische«256 bezeichnet, nimmt dabei nicht nur durch ein entsprechend konnotiertes Begriffsinventar: »dreimal schröcklicher Gott«, »höhere Majestäten«, 254
255
256
Vgl. Hinderer: Freiheit und Gesellschaft beim jungen Schiller, S. 245 sowie Immer: Der inszenierte Held, S. 206. Den Gedanken des Stolzes hebt Guthke: Schillers Dramen, S. 38, hervor: »[…] einen privaten Selbstmord hatte Karl Moor ja schon einmal vermieden […], vermieden in der Geste des Stolzes, ja: der Vermessenheit; das Aushalten im Leben galt ihm als die größere Tat, an der er sich selbst berauschte; nicht nur das: er genoß dort seine Christus-Rolle: »Ich wills vollenden.»«. Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 38, hebt den Stolz als Gegenmotiv zum Suizid hervor. Guthke: Schillers Dramen, S. 48.
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»die schröckliche Engel seines finstern Gerichts« (DR 596f.), sondern auch durch eine Isotopiekette kodifizierter Handlungsmuster (Anrufung Gottes, Zwiegespräch mit Gott, Empfang des Segens) klare Kennzeichen einer religiös motivierten Gemeinschaft auf, der Karl als priesterähnlicher Zeremonienmeister Aufgaben überträgt.257 Wie bereits in III/2 verpflichtet er den Männerbund ›Räuberbande‹ dazu, ihm bei der Durchsetzung individueller Interessen beizustehen. Die tragischen Konsequenzen daraus deuten sich vor allem durch die von Karl initiierte totalitäre Struktur der Bedingungsgefüge aus, die dem Schwur zugrunde liegen: Schweizer soll ihm Franz »nicht tot« ausliefern. Die Nichterfüllung der Aufgabe zieht sowohl Karl als auch Schweizer zufolge die Auslöschung der eigenen Existenz nach sich: »Entweder, du siehst zwei zurückkommen, oder gar keinen.« (DR 598) Die Totalität des Treueschwurs nimmt darin einen vergleichbar drastischen Ton auf, mit dem sich Karl in I/2 an die Bande gebunden hatte: Moor:
[…] Den soll dieser Arm gleich zur Leiche machen, der jemals zagt oder zweifelt oder zurücktritt! Ein Gleiches widerfahre mir von jedem unter euch, wenn ich meinen Schwur verletze! (DR 516)
Anhand der vergleichbaren Schwüre aus I/2 und IV/5 werden die Grundlagen des Scheiterns in Karls Fall offengelegt: Es bleibt ihm kein Raum für eine etwaige individuelle Revision der Entscheidungen. Wo die Erfüllung eines Versprechens an das eigene Leben geknüpft wird, ist der Beschluss nicht nur für ihn selber, sondern – wie sich zeigen wird – auch für andere Figuren (Amalia und Schweizer) allen rationalen und emotionalen Momenten gegenüber irreversibel und wirkt somit selbstzerstörend auf seinen eigenen Ursprung zurück. Wenn sich auch der Auftrag und der an ihn gebundene Schwur bereits im Vollzug befindet, so ist es erneut die emotionale Komponente, die Karls Verlangen nach Rache im Gespräch mit dem alten Moor in V/2 lindert und erste Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Befehls hervorbringt. Die Barmherzigkeit des alten Mannes erschließt sich Karl nicht primär über die Empathiefähigkeit mit seinem Bruder: »Nein, bei meiner grimmigen Seele. Das soll nicht sein. Ich wills nicht haben. Die große Schandtat soll er mit sich in die Ewigkeit hinüber schleppen!« (DR 609), sondern über die Liebe zu seinem Vater: Der alte Moor:
(mit Schmerz). […] (Legt seine Hand auf des Räubers Haupt) Sei so glücklich, als du dich erbarmest! Räuber Moor: (weichmütig, aufstehend). O – wo ist meine Mannheit? Meine Sehnen werden schlapp, der Dolch sinkt aus meinen Händen. Der alte Moor: Wie köstlich ists, wenn Brüder einträchtig beisammen wohnen […] Lern diese Wollust verdienen, junger Mann, und die Engel des Himmels werden sich sonnen in deiner Glorie. Deine Weisheit sei die Weisheit der grauen Haare, aber dein Herz – dein Herz sei das Herz der unschuldigen Kindheit. Räuber Moor: O ein Vorschmack dieser Wollust. Küsse mich, göttlicher Greis! Der alte Moor: (küßt ihn). Denk es sei Vaterskuß, so will ich denken, ich küsse meinen Sohn – Du kannst auch weinen? Räuber Moor: Ich dacht, es sei Vaterskuß! – Weh mir, wenn sie ihn jetzt brächten! (DR 611) 257
Vgl. Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 40, der Karl in der entsprechenden Szene mit einem »Hohepriester« in einer »Art Gottesdienst« vergleicht.
242
Der alte Moor stellt Karl, der sich ihm allerdings noch nicht zu erkennen gegeben hat, eine doppelte Glückseligkeit in Aussicht: Die beiden entscheidenden Grundmotivationen, die das individuelle Wertegefüge Karls bestimmen, scheinen vor dem Eintreffen der übrigen Räuber in erreichbarer Nähe zu liegen. Durch die Aussöhnung mit dem Bruder durch Vergebung (»wenn Brüder einträchtig beisammen wohnen«) und somit die Erfüllung des innigen väterlichen Wunsches (»wie köstlich ists«) rückt für Karl die externe Fokussierung auf Wiederherstellung der familiären Beziehungsstrukturen ebenso in Aussicht wie die interne Fokussierung auf die Rückkehr zu seinem seit der Kindheit und Jugend gehegten Wunsch einer ›heroischen Männlichkeit‹ ohne Schuldgefühle (»dein Herz sei das Herz der unschuldigen Kindheit«). Dass sich Karl zu diesem Angebot, das die Reinigung vergangener Sünden durch den Verzicht auf gegenwärtige Rache in Aussicht stellt, unter Umständen bereit erklärt, verdeutlicht die Unsicherheit seiner Befürchtung (»weh mir, wenn sie ihn jetzt brächten«). Geschuldet ist dieser erneute Prozess des rationalen Umdenkens und des emotionalen Umorientierens sowohl der Rührung in Gegenwart des alten Moor in der Rolle des Vaters als auch des erfahreneren Mannes. Das Gespräch beschränkt sich nicht ausschließlich auf die Komponente der Empathiefähigkeit, sondern erweitert diese um den Aspekt des männlichen Lebensalters: Im innerenKommunikationssystem des Textes258 werden Vater und Sohn dabei vor allem als älterer bzw. jüngerer Mann transparent. »Junger Mann« nennt der alte Moor den unentschlossenen Karl, indem er ihm in Aussicht stellt, das »Herz der unschuldigen Kindheit« durch »die Weisheit der grauen Haare« wiederzugewinnen. Die Mentorenfunktion des Vaters wiederum resultiert – wie er kurz zuvor enthüllt – aus der eigenen Lebenserfahrung, die ihn erkennen lässt, »einen Sohn gequält« zu haben, um von »einem Sohn wieder gequält zu werden.« (DR 610) Da der Vater zum einen eben jene Sehnsucht nach Abschluss mit der schuldbeladenen Vergangenheit anspricht, die entscheidend an den Männlichkeitsentwurf als Räuberhauptmann gebunden ist, und zum anderen die Liebe Karls als väterliche Liebe erwidert, wird Karl noch intensiver als zuvor in seiner Entschlossenheit erschüttert. In seiner maskulinen Eigenwahrnehmung (»O – wo ist meine Mannheit?«) widersprechen sich zunächst die Positionen der racheerfüllten Entschlossenheit und der – wie der Nebentext anmerkt – »weichmütigen« Reue, die ihn »den Dolch aus den Händen« sinken lässt. Wie bestimmend die Sorge vor einem eventuellen Auftragsmord an Franz für den Gefühlshaushalt Karls ist, offenbart sich vor allem in dem Moment, als die Gefährten Schweizers »im stummen Trauerzug mit gesenkten Häuptern und verhüllten Gesichtern« (DR 612) zurückkehren. Der Nebentext vermerkt wiederholt, wie sich Karl vor ihnen zurückzuziehen versucht und erst in dem Augenblick Erleichterung erfährt, als er von Franzens Selbstmord in Kenntnis gesetzt wird. Seine Reaktion: »Habe Dank, Lenker der Dinge – Umarmet mich, meine Kinder – Erbarmung sei von nun an die Losung – Nun wär alles überstanden« (DR 612), die im Nebentext mit dem Kommentar »froh emporhüpfend« (DR 612) beschrieben wird, wirkt in mehrfacher Hinsicht als Spiegelbild seiner zunehmenden 258
Wobei zu beachten ist, dass der alte Moor seinen Sohn (noch) nicht erkannt hat.
243
Entfremdung innerhalb des Männerbundes ›Räuberbande‹: Die Nachricht vom Tod seines Kameraden und Freundes Schweizer kommentiert er ebenso wenig wie die Trauer der anderen Räuber.259 Die Folgen seines Befehls werden ihm erst dann bewusst, als Amalia »mit fliegenden Haaren« (DR 612) als Beute der Bande herangeführt wird. Durch die Enthüllung seiner wahren Identität gegenüber der Geliebten und seinem Vater wird die befürchtete Schande offenbar. Der Prozess der Aufklärung mündet jedoch in Raserei: Räuber Moor:
Reißt sie von meinem Halse! Tötet sie! Tötet ihn! mich! euch! alles! Die ganze Welt geh zugrunde! (Er will davon) […] Zu spät! Vergebens! Dein Fluch, Vater, – frage nichts mehr! – ich bin, ich habe – dein Fluch – dein vermeinter Fluch! – Wer hat mich hergelockt? (Mit gezognem Degen auf die Räuber losgehend) Wer von euch hat mich hierhergelockt, ihr Kreaturen des Abgrunds? – So vergeh dann, Amalia! – Stirb Vater! Stirb durch mich zum dritten Mal! […] Dein Karl ist ihr Hauptmann! (DR 613)
Das Geständnis führt ihm seine Taten erneut vor Augen: »[…] hahaha! Hört ihr den Pulverturm knallen über der Kreißenden Stühlen?« (DR 613), wobei die pathologische Komponente seiner Wahrnehmung der ihn umgebenden Situation immer stärker wird. Das Lachen nimmt dabei bereits transpsychologische Züge der Figur an; und unter Berufung auf seine ›Männlichkeit‹ lehnt er Gnade für Amalia ab: Räuber Moor:
[…] beben vor einem Weib? – Nein, ein Weib erschüttert meine Mannheit nicht – Blut, Blut! Es ist nur ein Anstoß vom Weibe – Blut muß ich saufen, es wird vorübergehen. (Er will davonfliehn). (DR 613f.)
Diese Passage versinnbildlicht aus geschlechterspezifischer Perspektive, dass sich Karls Autoreflexion über seine »Mannheit« durch die Beschwörung einer unerweichlichen maskulinen Stärke in jenem »Heroismus« offenbart, den Pikulik als »obsolet und unmöglich geworden«260 beschreibt. Wie in verschiedenen Schlüsselszenen zuvor ist es auch Amalia gegenüber eine Komponente des Systems der Intimität, die amouröse Bindung, durch die Karl seine Affekte revidiert und leidenschaftliche Rache in passionierte Liebe umwandelt: »O Amalia! Amalia! Amalia! (Er hängt an ihrem Mund, sie bleiben in stummer Umarmung).« (DR 614) Zum letzten Mal charakterisiert ihn der plötzliche Wechsel innerhalb seines Affekthaushaltes, da er gerade in der Situation des vermeintlichen privaten Glücksgefühls an seine Verpflichtungen gegenüber der Bande erinnert wird: Die Räuber:
(durcheinander, reißen ihre Kleider auf). […] Marsch mit uns, Opfer um Opfer! Amalia für die Bande! Räuber Moor: (läßt ihre Hand [von Amalia, M.B.] fahren). Es ist aus! Ich wollte umkehren und zu meinem Vater gehen, aber der im Himmel sprach, es soll nicht sein. (Kalt) Blöder Tor ich, warum wollt ich es auch? Kann denn ein großer Sünder noch umkehren? (DR 615)
Der mehrfach wiederholte Treueschwur richtet sich letztlich gegen ihn selber. Mit Bezug auf die Hierarchie innerhalb der Räuberbande gilt er – wie Karl in I/2 unzwei259
260
Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, als die Beziehung zu Schweizer – wie Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe, S. 124, hervorhebt, im Laufe des Textes »Züge des empfindsamen Freundschaftskultes« angenommen hatte. Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe, S. 125.
244
felhaft geschworen hatte – sowohl für seine Mitstreiter als auch für ihn als Anführer uneingeschränkt. Das Entsagen der Beziehung zu Amalia impliziert aus diesem Grund eine Unterordnung unter die codifizierte Norm des Männerbundes ›Räuberbande‹. In der Forderung »Amalia für die Bande« liegt auch implizit der Appell an Karl, den ideellen Wert Amalias dem des gemeinsamen Bundes unterzuordnen. Statt den Gefährten eventuell Widerstand zu leisten, steht seine Entscheidung umgehend fest. Der endgültige Verlust Amalias wird als schicksalhafte Wendung gedeutet, die ihm seine Vergangenheit als »großer Sünder« auferlegt. Interessant erscheint die Frage nach Karls Motivation, Amalias Wunsch letztlich zu entsprechen und sie zu töten: Amalia:
(seine Knie umfassend). […] Tod ist meine Bitte nur! […] zeuch dein Schwert, und ich bin glücklich. Räuber Moor: Willst du allein glücklich sein? Fort, ich töte kein Weib! Amalia: Ha Würger! du kannst nur die Glücklichen töten, die Lebenssatten gehst du vorüber. (Kriecht zu den Räubern) […] euer Meister ist ein eitler feigherziger Prahler. Räuber Moor: Weib, was sagst du? (Die Räuber wenden sich ab) Amalia: […] (Sie will gehen, ein Räuber zielt) Räuber Moor: Halt! Wag es – Moors Geliebte soll nur durch Moor sterben! (Er ermordet sie). (DR 615f.)
Im Rekurs auf Connell lässt sich feststellen, dass die Entscheidung in dem Moment fällt, als Amalia die Position Karls der ›hegemonialen Männlichkeit‹ vor der Räuberbande in Frage stellt. Mit Bezug auf eine gender- und männlichkeitsorientierte Analyse der Textstelle wird deutlich, dass Karl (»Moors Geliebte soll nur durch Moor sterben«) Amalia erst in diesem letzten Moment als individuellen ›Besitz‹ definiert.261 Die Bedeutung der Szene im Hinblick auf einen patriarchalisch geprägten Männlichkeitsentwurf wird dadurch potenziert: Die Betonung liegt in Karls Worten auf der Tatsache, dass nur er in das Schicksal Amalias eingreifen dürfe – es geht folglich dezidiert um das Recht der Bestimmung; nicht etwa um den Wunsch, der Bitte der Geliebten zu entsprechen (»ich töte kein Weib«). In diesem Zusammenhang lässt sich die Argumentation Guthkes verstehen und auf den in Karl angelegten Männlichkeitsentwurf hin anwenden: Offenkundig wird also die »Reinheit« des Idealismus Karl Moors beeinträchtigt durch den Drang zur bewunderten Mittelpunktstellung […]. Selbst am Ende des Stückes, im großen Konversionsmonolog, kann man dies noch erkennen. Es ist ein Streben nach einem wenig edlen Glück: egozentrisch, arrogant, oberflächlich, beifallsbedürftig, »dieser Welt« allzu sehr verhaftet noch im Moment des freiwilligen Abschieds von ihr.262
Zweifelsohne ließe sich Guthkes polarisierende Interpretation im Hinblick auf den gesamten Text diskutieren; für das Interesse der vorliegenden Arbeit jedoch zeigt er vor allem einen Aspekt schonungslos auf: Zum ersten und letztlich einzigen Mal agiert Karl gegenüber einer Frau gemäß den Regeln des Patriarchats; er verwirft damit zum einen seinen bisherigen Handlungsspielraum innerhalb des Systems der Intimität, der sich durch eine Ferne zu patriarchalischer Dominanz sowie einer Nähe 261 262
Vgl. Brittnacher: Die Räuber, S. 329f. Guthke: Schillers Dramen, S. 43.
245
zur empathischen und passionierten Kommunikation definiert hatte. Zum anderen erscheint die vermeintliche Motivation, »nur er als Geliebter habe das Recht, über das Schicksal der Geliebten zu entscheiden«, als Stimulus für einen Mord in einem derartig strengen Widerspruch zu seiner zuvor geäußerten und praktizierten Ablehnung leichtfertig ausgeübter Gewalt, dass Folgendes transparent wird: Die sukzessive Verlusterfahrung führt zu einer sukzessiv steigenden Isolation der Figur. Der Tod des Vaters, den Karl aufgrund seines langen Verschweigens der Identität mitverschuldet, die Gefangennahme Amalias, die – wie der Nebentext bemerkt – »mit fliegenden Haaren« (DR 612) zumindest in Ansätzen auf eine sexuelle Nötigung durch die Räuber verweist, die Ausweglosigkeit des Treueschwurs sowie der Gesichtsverlust gegenüber Vater und Amalia führen in der Gesamtheit zu irrationalem Handeln. Während der Text das leidenschaftliche Potenzial Karls mehrfach gezielt herausarbeitet, aber letztlich durch emotionale, vor allem auf die Liebe zum Vater und zu Amalia bezogene Affekte beruhigen lässt, erreicht die Verzweiflung im Moment des Mords ein Niveau, auf dem ihr kein Korrektiv mehr gegenübersteht. Der alte Moor ist tot, Amalia unerreichbar, der Verlust an Ehre gegenüber Familie und der Räuberbande offenbar; Karl wird erpressbar. Unter dieser Voraussetzung lässt sich die patriarchalisch intendierte Äußerung (»Moors Geliebte soll nur durch Moor sterben«) weniger repräsentativ für die männliche Figur Karl Moor, sondern vielmehr als Klimax für die zunehmende Irrationalität, die dem Männlichkeitsentwurf am Ende des Textes zugrunde liegt, verstehen. Besonders interessant wird dieser Gedanke, wenn er auf Connells Postulat der Dominanz des Patriarchats sowohl über Frauen als auch über Männer übertragen wird: Während die Dominanz Karls gegenüber den umstehenden Männern, seinen Bündnisgenossen, in dem Moment endet, als sie ihn an seinen Treueschwur ermahnen, resultiert die Dominanz gegenüber Amalia, die sie selber von Karl erbittet, aus einem Zusammenwirken der Infragestellung seiner ›hegemonialen Männlichkeit‹ vor den anderen Männern und der Infragestellung des Besitzanspruches, der die individuelle Entscheidung legitimiert bzw. sie einem anderen Mann (»Wag es«) abspricht. Der Mord als Reaktion auf die Forderung der Bande wirkt gleichsam als Höhepunkt der Auflösungserscheinung des Männerbundes: Moor:
(auf den Leichnam mit starrem Blick). […] Nun seht doch! Habt ihr noch was zu fordern? […] ich habe euch einen Engel geschlachtet. Wie, seht doch recht her! Seid ihr nunmehr zufrieden? Grimm: Du hast Schuld mit Wucher bezahlt. Du hast getan, was kein Mann würde für seine Ehre tun. Komm itzt weiter! Moor: […] (Mit bitterem Gelächter) Die Narben, die böhmischen Wälder! Ja, ja! dies mußte freilich bezahlt werden. Schwarz: Sei ruhig, Hauptmann! […] Führe uns weiter! Moor: […] Ich höre von diesem Nun an auf, euer Hauptmann zu sein. (DR 616)
Durch die Tat kauft sich Karl von seinem mehrfach geleisteten Schwur frei; paradoxerweise gelingt es ihm erst durch eine derartige Gewaltausübung, die er zuvor im Gegensatz zu den anderen Räubern vermieden hatte, sich aus dem Männerbund zu entfernen. Die Regeln der maskulinen Gruppe – so erkennt er durch den Mord an 246
Amalia an – muss er über seine individuellen maskulinen Bedürfnisse stellen, um sich Freiheit zu erkaufen. Die sich anschließende Reflexion zeichnet ihn als resignierenden, aber seiner Fehleinschätzung bewussten Mann, der seine Strafe erwartet: Räuber Moor:
O über mich Narren, der ich wähnte die Welt durch Greuel zu verschönern, und die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten. Ich nannte es Rache und Recht […] O eitle Kinderei […] Gnade – Gnade dem Knaben, der Dir vorgreifen wollte – Dein eigen ist die Rache. […] Er soll mich lebendig haben. Ich geh, mich selbst in die Hände der Justiz zu überliefern. (DR 617)
Seine Erkenntnis, die den Rahmen zu den ehrgeizigen Vorstellungen in I/2 schlägt, wird unter dem Eindruck der akkumulierten Schuld:263 »was soll ich […] ein Leben länger verheimlichen, das mir schon lang im Rat der himmlischen Wächter genommen ist« (DR 617) sowohl als menschliche als auch als männliche Hybris gedeutet: Das Vorhaben »Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu erhalten« erweist sich in Karls Eigenwahrnehmung am Ende des Textes folglich nicht nur als Auflehnung gegen eine höhere Instanz des Schicksals, sondern auch als »eitle Kinderei«, durch die er seinem noch in I/2 formulierten Bestreben, als ›großer Mann‹ zu handeln, nicht entsprechen kann. Sein tragisches Scheitern erlebt er – so das Resümee einer männlichkeitsorientierten Analyse der Figur – als ein individuell-männliches Scheitern an den selbst formulierten Hoffnungen und auferlegten Rahmenbedingungen. 4.4.3 Franz Moor »Herr muß ich sein«: Machtstreben und Ich-Immanenz Franz Moor formuliert am Ende von I/1 eine wesentliche Aussage, die sich für seinen Männlichkeitsentwurf im Laufe des Textes als entscheidend herausstellen wird: Franz:
[…] Frisch also! mutig ans Werk! – Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich sein, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht. (DR 502)264
Die Figurenrede thematisiert dabei direkt die wesentlichen Ziele, die Franz beharrlich verfolgt. Sie lassen sich zwei größeren Gruppen zuordnen: Zum einen lautet sein vordergründiges Bestreben, »Herr zu sein«, wozu er zum anderen »alles um sich her ausrotten« muss. Die Revision der bestehenden Ordnung mit dem Ziel der Errichtung einer neuen Ordnung im Sinne eines »universalen Egoismus«265 nimmt in die263
264 265
Vgl. Hinderer: Freiheit und Gesellschaft beim jungen Schiller, S. 246, der Karl eine Sozialisierung »durch Sühne« attestiert. Auch Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 176, sieht in Karls Position am Ende des Textes eine Demonstration von »innere[r] Freiheit und moralische[r] Größe, die nach Schiller das Phänomen des Erhabenen konstituieren.« Safranski: Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus, S. 115, hebt »den Triumph der stolzen Freiheit bei Karl« hervor, »der seinem Selbst getreu« bleibe. Vgl. Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 26. Brittnacher: Die Räuber, S. 338. Vgl. Hinderer: Freiheit und Gesellschaft beim jungen Schiller, S. 244 sowie Guthke: Schillers Dramen, S. 46, sowie Alt: Klassische Endspiele, S. 61.
247
sem Zusammenhang nicht zufällig den Begriff ›Herr‹ auf.266 In Zedlers Universallexikon findet sich unter dem Eintrag ›Herr‹ unter anderem folgende Definition: Herr, Dominus, Maitre, Proprietaire, ist eigentlich derjenige, dem das volle Eigenthum samt der Nutzung einer Sache zustehet, daß er damit ohne jemandes Einrede, nach eigenen Gefallen, schalten und walten kan [sic].267
Der Eintrag bei Zedler und die Argumentation Franzens rekurrieren auf die Machtdimension, die sich mit dem Begriff ›Herr‹ verbindet. Indem Franz ›Herr‹ werden will, strebt er die uneingeschränkte Machtposition und Verfügungsgewalt über die Güter des Vaters – das Anwesen der Familie Moor – an. ›Herr‹ würde ihn jedoch nicht nur zum Patriarchen über die Güter, sondern auch über sämtliche Angestellten erheben. Der Männlichkeitsentwurf Franz Moors bietet demnach Anknüpfungspunkte zu der von Bourdieu vertretenen These des Zusammenhangs zwischen Machtstreben und einem mit dem ›männlichen Habitus‹ verbundenen Dominanzanspruch, der sich sowohl auf physische als auch auf psychische Dominanzbestrebungen ausdehnt.268 Dieser Aspekt wird in der Auseinandersetzung zwischen Franz und Amalia bedeutsam sein, da dem rein materialistischen Machtanspruch ein patriarchalischer Anspruch auf Dominanz hinzutritt, der sich innerhalb der Familie gegen seinen Bruder Karl richtet und darüber hinaus in Aussicht stellt, seine Macht auch auf Amalia auszudehnen, was im weiteren Verlauf der Figurenanalyse noch genauer untersucht werden soll. Die eingangs zitierte Figurenrede verdeutlicht jedoch auch die Diskrepanz, die zwischen dem Streben nach Macht und seiner momentanen Position besteht: Die neue Ordnung, in der sich Franz selber als Spitze der Hierarchiepyramide inszenieren will, kann nur durch Revision der bestehenden Ordnung entstehen. In I/1 werden bereits drei wesentliche Elemente angesprochen, die sich für Franz auf dem Weg zur Machtübernahme als Hindernis erweisen: die Gesetze der Primogenitur, die ihm formal die Machtübernahme unmöglich machen, die mangelnde Zuneigung des Vaters sowie die vergeblichen Bemühungen um Amalia als Geliebte.269 Das ambitionierte Streben nach Macht muss aus Franzens Perspektive folglich eine Reaktion auf diese Ausschlussgründe anbieten, um erfolgreich zu sein. Die Einzelanalyse wird vor diesem Hintergrund zeigen, dass die Strategien zum Ausschluss möglicher Konkurrenten und zur Übernahme der Macht in einem engen Wechselverhältnis zu dem Männlichkeitsentwurf stehen, durch den Franz insbesondere zu Karl in Opposition gesetzt wird. Die Beziehung zu Karl und das Bestreben, den Vater zur Revision der Erbfolge zu drängen, bestimmen in I/1 die Interaktion zwischen Franz und dem alten Moor. Das vordergründige Charakteristikum, das sich dabei offenbart, ist die indirekte Form der Auseinandersetzung, mit der Franz gegen seinen Bruder intrigiert: Diffamierung und arglistige Täuschung sind die Strategien, 266
267 268 269
Zur Revision der alten Ordnung, der ein verabsolutierter Materialismus zugrunde liegt, vgl. Brittnacher: Die Räuber, S. 327f. sowie S. 332 und S. 338f. Zit. nach: http://mdz10.bib-bvb.de/~zedler/zedler2007/index.html (Zugriff: 11. 05. 2008). Vgl. Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 23ff. Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 25, spricht in diesem Zusammenhang von einer Planung »einer dreidimensionalen Gewalttat«.
248
mit denen er sein Ziel verfolgt, den Vater dazu zu bewegen, sich des »Sohnes zu entäußern« (DR 497). Die Vermeidung einer direkten Konfrontation beruht auf der Einsicht in die physische Unterlegenheit gegenüber dem Bruder, die Franz als Ungerechtigkeit der Natur deutet: Franz:
[…] Ich habe große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein, und bei meiner Ehre! ich will sie geltend machen. – Warum bin ich nicht der erste aus Mutterleib gekrochen? Warum nicht der einzige? Warum mußte sie mir diese Bürde von Häßlichkeit aufladen? […] Warum gerade mir die Lappländernase? Gerade mir dieses Mohrenmaul? Diese Hottentottenaugen? Wirklich, ich glaube, sie hat von allen Menschensorten das Scheußliche auf einen Haufen geworfen und mich daraus gebacken. (DR 500)270
Auf den Einfluss Lavaters ist im Zusammenhang mit Franzens berühmter Selbstbeschreibung wiederholt hingewiesen worden.271 Die als unvorteilhaft erlebte Eigenwahrnehmung der Physis wird zu Karl in Opposition gesetzt. Franz beschreibt sich aus männlichkeitsorientierter Perspektive als Verneinung eines maskulinen Standards, den er sich in seinem Bruder vor Augen führt. Umso nachdrücklicher fällt die Verleumdung gegenüber dem Vater aus, wobei Franz sämtliche Attribute Karls, die ihn als »feuriges Genie«, dessen »männlicher Mut« ihn zu einem »großen, großen Manne« (DR 495f.) führen sollen, negativ deutet. Seine zuvor zitierte Eigenwahrnehmung – von der der Vater allerdings nichts ahnt – lässt diese Verunglimpfung retrospektiv als Sehnsucht nach eben jenem Männlichkeitsentwurf deutlich werden, der sich von seinem eigenen so nachhaltig unterscheidet. Sukzessive wird die Sehnsucht Franzens, die über das reine Machtstreben auch den Wunsch nach Anerkennung und Zuspruch umfasst,272 in I/1 transparent: Von der Natur benachteiligt, sieht er sowohl seine physischen als auch die charakterbezogenen Eigenschaften als Ursprung der Exklusion aus sämtlichen Machtoptionen an. Als Zweitgeborener erlebt er sich nicht nur als ein in der Herrschaftsabfolge benachteiligtes Individuum, sondern auch als biologisch-physiognomisches Restprodukt. Die Liebe des Vaters, die sich nicht ihm, sondern dem verächtlich als »Schoßkind« (DR 500) verspotteten Karl zuwendet, wird ebenso auf das Charakteristikum zurückgeführt, »kalt, trocken [und] hölzern« (DR 496) zu sein, wie das Gefühl, Karl auch auf amourösem Gebiet gegenüber Amalia unterlegen zu sein. Die Rivalität gegen den Bruder auf der Basis eines verabsolutierten und in der Forschung wiederholt betonten Materialismus nach Vorbild La Mettries und Helvétius’273 dominiert seinen Männlichkeitsentwurf – und das vor allem aus dem 270
271
272 273
Vgl. Mann: Sturm-und-Drang-Drama, S. 83 und Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe, S. 110f. So beispielsweise bei: Brittnacher: Die Räuber, S. 341f. Interessant ist der Hinweis bei Alt: Klassische Endspiele, S. 60, »der häßliche Körper verweise nicht auf die böse Seele, sondern die böse Seele auf die, wie es bei Shakespeare heißt, »eigne Mißgestalt«.« Vgl. Brittnacher: Die Räuber, S. 332. Die Fixierung auf materialistische Ansätze wird vor allem in folgenden Texten betont: Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste. Die Inversionen des Franz Moor. In: Barner u. a. (Hg.): Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. 37. Jahrgang. Stuttgart 1993, S. 198f., Guthke: Schillers Dramen, S. 32 und S. 52f. sowie Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 21.
249
Grunde, dass es gerade entscheidende Elemente des Männlichkeitsentwurfes sind, um die Franz Karl beneidet. Die von Connell beschriebene ›patriarchale Dividende‹ kommt allerdings für Franz nicht in Frage; zu stark dominiert der intrinsische Wunsch nach alleiniger Herrschaft und Machtkonzentration, als er ihn zugunsten der Nähe zu einem Zentrum ›hegemonialer Männlichkeit‹ teilen könnte. Dass dieses Streben nach vollkommener Macht bereits zu Beginn des Textes in Franz eine gefährliche Eigendynamik entwickelt, die ihn – frei von moralischen Skrupeln – nicht nur den Bruder um sein Erbe betrügen, sondern auch den baldigen Tod seines Vaters ersehnen lässt: »und Gram wird auch den Alten bald fortschaffen« (DR 500),274 deutet auf das dramatische Entwicklungspotenzial der Figur und ihres Männlichkeitsentwurfes hin. Ein erstes Zwischenergebnis lässt sich wie folgt formulieren: Im Hinblick auf das Streben nach ›hegemonialer Männlichkeit‹ wird Franz als Figur gekennzeichnet, die im Bewusstsein der defizitären Voraussetzungen dennoch die Überzeugung äußert, in die Machtposition vorzustoßen. Der Anspruch auf Hegemonie muss demnach durch andere Strategien gerechtfertigt werden. Die Szene I/1 hebt eine Eigenschaft hervor, die Franz als Rekompensation der mangelnden physischen Voraussetzungen deutet: Die intellektuelle Überlegenheit, die er mit dem Begriff ›Witz‹ – im Kontext des 18. Jahrhunderts als ›Schläue‹ und ›Verstand‹ bzw. ›Auffassungsgabe‹ zu verstehen – definiert. Der scharfe Verstand, der sich in Franz mit skrupellosem Kalkül, Heuchelei und Tücke mischt, wird in I/1 sowohl implizit in der Auseinandersetzung mit seinem Vater, als auch explizit in der Figurenrede durch Franz thematisiert.275 Unter der Voraussetzung, den Vater zur Enterbung Karls zu drängen, gelingt es Franz geschickt, die simulierte Sorge um Gesundheit und Ehre des Vaters und die Verunglimpfung des Bruders durch den fingierten, vermeintlich belastenden Brief zu instrumentalisieren. Kalkül, Simulation und Dissimulation276 werden zur Grundlage der Intrige, die Franz entspinnt. Seinen Verstand definiert er dabei als ›Waffe‹: »Ihr seht, ich kann auch witzig sein; aber mein Witz ist Skorpionstich.« (DR 496) Die väterliche Zuneigung zu dem verhassten Bruder kann – dessen ist sich Franz sicher – nur durch die Kennzeichnung des Scheiterns aller Hoffnungen, die der alte Moor in Karl gesetzt hatte, überworfen werden. Franz definiert sich aus diesem Grund wiederholt in Opposition zu jenen Eigenschaften Karls, die er als Ergebnis eines »männlichen Muts« (DR 495), »kindischen Ehrgeizes« und eines »Universalkopfes« (DR 496) dem entsetzten Vater gegenüber anprangert. Ironischerweise wird es gerade die Sehnsucht nach einer »großen« – ruhmvollen und universalen ›Männ274 275
276
Vgl. Immer: Der inszenierte Held, S. 224. Vgl. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 198f., weist auf Schillers Vorwort zur ersten Auflage hin, in dem der Autor Franz bereits einen »verfeinerten Verstand« attestiert habe. Vgl. Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 26f., Karthaus: Sturm und Drang, S. 127 und Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe, S. 111. Unter ›Simulation‹ wird in diesem Zusammenhang das Vortäuschen positiver Affekte – so z. B. der Liebe zum Vater und zum Bruder – verstanden. ›Dissimulation‹ bezeichnet das Verbergen negativer Affekte – wie etwa des Neids und des Hasses gegenüber Karl. Beide Eigenschaften bezeichnen Strategien, mit denen Franz seinem Ziel näher zu kommen hofft.
250
lichkeit‹: »zu einem großen, großen Manne machen« (DR 496), die Franz in Gegenwart des Vaters zwar negativ deutet, insgeheim über die Machtposition hinaus jedoch selber danach strebt. Die Beziehung zu seinem Vater wird in diesem Zusammenhang von der Diskrepanz der intellektuellen und der institutionellen Machtbeziehungen bestimmt: Dem Sohn zwar im Hinblick auf den kalkulierenden Verstand unterlegen, besetzt der alte Moor jedoch kraft seiner Position als Hausherr institutionell jene Machtposition, nach der Franz strebt. Der Wissensvorsprung gegenüber dem Vater führt zu einer praktischen Revision der Machtbeziehungen im Hause Moor, die sich zwar formal noch in den Händen des Vaters befinden, tatsächlich jedoch bereits auf Franz übergehen. Aktiv und ehrgeizig verfolgt der Zweitgeborene seine Ziele; mit intellektueller Akribie gelingt es ihm, den Vater von der Schuldhaftigkeit seiner früheren Präferenz Karls zu überzeugen: »Gerecht! sehr gerecht! – Mein, mein ist alle Schuld!« (DR 498) und ihm somit die Erlaubnis zur freien Verfügung über Karls Schicksal auszustellen: »Darum wirds besser sein, Ihr überlaßt das Schreiben mir.« (DR 499) Die Manipulierbarkeit des Greises muss Franz bereits als Teilerfolg innerhalb seiner Ambitionen erleben; die Position, die er am Ausgang von I/1 als ›Herr‹ bezeichnet, besitzt er zumindest theoretisch bereits: Die Isolation Karls und die Dominanz über den Vater scheinen ihm den Weg an die Spitze der Hierarchiepyramide der im Hause Moor bereits geebnet zu haben. Aus diesem Grund widmet er sich in I/3 seinem zweiten erklärten Ziel, der ›Eroberung‹ Amalias.277 Obwohl es sich in diesem Zusammenhang um das System der Intimität handelt, steht die Interaktion mit Amalia von Anfang an unter dem Vorzeichen der Rivalität mit Karl. In der Frage: »[…] verdien ich weniger als der, den der Vater verflucht hat?« (DR 516) zeigt sich die Unfähigkeit Franzens, den strategischen Teilerfolg, den er gegenüber Karl mit der Missbilligung des Vaters erreicht hat, auch als solchen wahrzunehmen; er geht davon aus, sich durch die Verunglimpfung seines Bruders auch die Zuneigung von dessen Jugendliebe zuzusichern. Dabei verkennt er, dass ihm mit Amalia eine durchaus entschlossene, mutige junge Frau gegenübersteht: Amalia: Wenn du mich liebst, kannst du mir wohl eine Bitte abschlagen? Franz: Keine, keine! wenn sie nicht mehr ist als mein Leben. Amalia: O, wenn das ist! Eine Bitte, die du so leicht, so gern erfüllen wirst, (stolz) – Hasse
mich! Franz:
Allerliebste Träumerin! wie sehr bewundere ich dein sanftes liebevolles Herz! (Ihr auf die Brust klopfend.) Hier, hier herrschte Karl wie ein Gott in seinem Tempel. (DR 517)
Nicht zufällig wählt Franz das Verb ›herrschen‹ mit Bezug auf die Liebe, die Amalia für Karl empfindet. Insbesondere im weiteren Verlauf seiner Bemühungen um Amalia wird deutlich, dass er eben jene Position der amourösen Herrschaft anstrebt, die er für die Vergangenheit Karl zuschreibt. Seine Aussage kurz zuvor »Ich liebe dich wie mich selbst, Amalia!« (DR 517) kann aus diesem Grund in Frage gestellt werden – es ist vielmehr ein narzisstisches Bestreben nach Eroberung und Be277
Vgl. Alcandre: Ecriture dramatique et pratique scénique, S. 20f.
251
sitz, das ihn in seinen Avancen gegenüber Amalia durch die überschwängliche Liebeserklärung zuerst den Code der passionierten Liebe zitieren lässt, bevor er – ähnlich wie in I/1 gegenüber dem Vater – versucht, seine intellektuelle Überlegenheit dazu zu benutzen, Karl vor Amalia zu verschmähen. Dass es ihm tatsächlich auf die Genugtuung ankommt, bei Amalia als Liebhaber zu reüssieren, wird daran transparent, dass er die passionierte Sprache der Liebe ebenso heftig abwirft wie er sie initiiert hatte. Die Parallele zu I/1 ist offensichtlich: Da Franz bemerkt, Amalia nicht aufgrund seiner natürlichen Eigenschaften zu ›gewinnen‹, versucht er, seinen Rivalen durch Diffamierung auszuschalten. Im Hinblick auf seinen Männlichkeitsentwurf lässt sich feststellen, dass er im Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit, als ›Mann‹ in der Funktion des ›Liebhabers‹ und ›Verführers‹ zu agieren, denjenigen Konkurrenten auszuschalten versucht, der diese Position in Amalias Wahrnehmung besetzt (Karl). Seine Hoffnung, Amalia nicht durch Einsicht in seine Eignung als Geliebter, sondern aufgrund von Karls vermeintlicher Unzulänglichkeit zu überzeugen, die er zu allem Überfluss nicht nur moralisch, sondern in der bildhaften Schilderung der Geschlechtskrankheit auch physisch motiviert, scheitert jedoch. Amalia gelingt, was dem alten Moor aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht möglich war: Sie entlarvt Franz: »Schamloser Lügner« (DR 518). Das Ausmaß der Verzweiflung offenbart sich, als Franz eine dritte Strategie der Simulation anwendet: Nachdem er – wie der Nebentext genau definiert – »mit verhülltem Gesicht« ausharrt, ist es nicht mehr die Simulation der Liebe oder die Verleumdung, durch die er Amalias Aufmerksamkeit beansprucht, sondern das auf ihn selber projizierte Mitleid: Franz:
(mit verhülltem Gesicht). Laß mich, laß mich! – meinen Tränen den Lauf lassen […] O Amalia! Wie lieb ich dich um dieser unerschütterlichen Treue gegen meinen Bruder – verzeih, daß ich es wagte, deine Liebe auf diese harte Probe zu setzen! […] unsere Seelen stimmten so zusammen. Amalia: O nein, das taten sie nie! Franz: Ach, sie stimmten so harmonisch zusammen, ich meinte immer, wir müßten Zwillinge sein! […] Du bist, sagt ich oft zu mir selbst, ja, du bist der ganze Karl, sein Echo, sein Ebenbild! Amalia: (schüttelt den Kopf). Nein, nein, […] kein Äderchen von ihm, kein Fünkchen von seinem Gefühle – (DR 520)
Die Tatsache, dass Franz in Anspielung auf die vermeintliche Ähnlichkeit mit Karl dessen Platz an der Seite Amalias einnehmen möchte, ist für die Einzelanalyse von entscheidender Bedeutung: Als Abbild eines Anderen, des abwesenden Rivalen, will er zu seinem Ziel gelangen. Diese Stellvertreterfunktion als ›Liebhaber‹ widerspricht der Anforderung der Individualität nicht nur, sie konterkariert sie, weil die von Franz beschworene Ähnlichkeit von Amalia vehement verneint wird. Während die Intrige in I/1 vor allem durch die intellektuelle Schärfe, mit der Franz dem alten Moor den Plan unterbreitet, noch bedrohlich – da psychisch differenziert – wirkt, lässt sie Franz im System der Intimität unfreiwillig die Züge der Komik streifen. Seine trotzige Reaktion, die der Nebentext durch »mit den Füßen stampfend« (DR 521) beschreibt, zeigt ihn als hilflosen, bloßgestellten Mann. Dieser Zustand ist im 252
Wesentlichen Amalia zuzuschreiben, vor der Franz unterlegen wirkt,278 obwohl er verschiedene zuvor angesprochene Register der Täuschung und Verstellung zieht. Auch seine Drohung: »Wart! so sollst du vor mir zittern!« (DR 521) wird von ihr mit einer Gegenüberstellung mit Karl beantwortet: »Geh, Lotterbube – itzt bin ich wieder bei Karln.« (DR 521) Die Opposition zwischen dem abweisenden Kommentar und der Sehnsucht nach der Jugendliebe legt eine strenge Exklusion Franzens aus dem Kernbereich der ›hegemonialen Männlichkeit‹ im System der Intimität nahe. Zudem wird deutlich, dass seine rekompensatorische Stärke des Intellekts im System der Intimität an ihre Grenzen stößt: Während er sich durch geschickte Intrigen gegenüber dem Vater im Bereich der erbrechtlichen und herrschaftsbezogenen Aspekte aus eigener Kraft in die Nähe der Macht manövrieren konnte, bleibt ihm dieser Schritt mit Bezug auf die amourösen Eroberungen versagt. Rebellion gegen den Vater, Revision der Ordnung Die entsprechenden Zweifel kennzeichnen auch seinen Monolog in II/1 und münden in die Frage: »Soll sich mein hochfliegender Geist an den Schneckengang der Materie ketten lassen?« (DR 521) Das Streben nach Macht verzögert sich in Franzens Wahrnehmung, wobei er die Ursache in der Fortdauer des Lebens des alten Moor sieht. Diesen selber zu töten, scheut er sich: »Ich möchte ihn nicht gern getötet, aber abgelebt« (DR 521) zwar, fasst jedoch kurz darauf den Entschluss, ihn mit Hilfe einer erneuten Intrige zum Zusammenbruch zu bringen. Sein Kalkül offenbart sich unter dem Einfluss der Machtgier an dieser Stelle nicht nur als ein »Genie der Inversion«,279 sondern auch als herausgehoben transgressiv: Der Tod des eigenen Vaters soll beschleunigt werden, um in die herrschende Position zu gelangen. Allerdings fehlt ihm die letzte Entschlossenheit, diesen Plan eigenständig durchzuführen, weshalb er sich um die Mithilfe Hermanns bemüht. Die maskuline Komplizenschaft manövriert Franz in die Rolle des Dirigenten; eine Position, in der er sich nicht nur hegemonial bestätigt, sondern auch zunächst frei von Verdacht fühlen kann. Das Bewusstsein, auf externe Hilfe angewiesen zu sein, wirkt in diesem Zusammenhang weniger vordergründig als die dezidierte Manipulierbarkeit einer anderen Figur, um sich selber zu schützen. Vergleichbar zu seiner Intrige in I/1, wird die Komplizenschaft durch die intellektuelle Überlegenheit gegenüber dem Gesprächspartner ermöglicht. Franz appelliert an zwei wesentliche Aspekte, anhand derer er sich Hermanns Dienste verschafft: zum einen Hermanns verletzte Eitelkeit, die er durch den Affekt der Rache als besonders maskulin hervorhebt: »Das ist der Ton eines Manns! Rache geziemt einer männlichen Brust. Du gefällst mir, Hermann« (DR 523) und zum anderen das Streben nach materiellen Gütern, indem er ihm Bezahlung anbietet. Der Aspekt der ›Männlichkeit‹ findet eine weitere gesonderte Be278 279
Vgl. Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe, S. 116. Mann: Sturm-und-Drang-Drama, S. 92, bezeichnet Franz in diesem Zusammenhang als »Antiarzt«. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 203, sieht Franz in I/1 als »umgekehrten Aufklärer« und in II/1 als »umgekehrten Arzt«.
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tonung, indem Franz in Aussicht stellt, Hermann im Falle einer Machtübernahme »zu einem wichtigen großen Manne« (DR 525) machen zu wollen. Franz verspricht Hermann demnach die ›patriarchale Dividende‹ im Sinne Connells; knüpft sie jedoch an eine doppelte Voraussetzung: zum einen der eigenen Machtübernahme und zum anderen der Komplizenschaft Hermanns. Dieser, von sozialen Ambitionen und amourösen Rachegefühlen getrieben, erweist sich – analog zum alten Moor in I/1 – als leicht beeinfluss- und manipulierbarer, naiver Weggefährte. Der Plan, den Vater durch den fingierten Tod Karls selber in den Tod zu treiben, stellt insofern eine Intensivierung der intriganten Bemühungen dar, als die noch rein machtbezogene Intrige in I/1 in II/1 mit dem kalkulierten Todesfall des eigenen Vaters existenziell wird. Die pathologische Komponente der Boshaftigkeit wird am Ende von II/2 transparent. Die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Reaktionen auf den vermeintlichen Tod des alten Moor wird zunächst im Nebentext reflektiert: Amalia:
(mit einem plötzlichen Schrei). Tot! Alles tot! (Ab in Verzweiflung) (Franz hüpft frohlockend herein) Franz: Tot! schreien sie, tot! Itzt bin ich Herr. Im ganzen Schlosse zetert es, tot! – Wie aber, schläft er vielleicht nur? – freilich, ach freilich! […] Wackerer, willkommener Schlaf! Wir wollen dich Tod heißen! (Er drückt ihm [dem alten Moor, M.B.] die Augen zu). (DR 535)
Verzweiflung auf Seiten Amalias wird dabei durch Frohlocken auf Seiten Franzens konterkariert; die hämische Freude über den Tod des alten Moor lenkt jedoch die Aufmerksamkeit umgehend auf einen anderen Aspekt: Die Fixierung auf die Machtübernahme im Hause Moor lässt Franz den Tod des Vaters ausschließlich utilitaristisch deuten – die Herrschaft des Einen setzt den Tod des Anderen zwingend voraus. Während Schiller Franz auch bereits zuvor im Gegensatz zu Karl als empathieunfähige männliche Figur gekennzeichnet hatte, steigert er die Rigorosität des Strebens nach materiellen Gütern noch, indem er Franzens einzige Sorge mit dem kurzen Zweifel über den tatsächlichen Tod des Vaters beschreibt. Der Machtwechsel, den die symbolische Geste des Augenschließens versinnbildlicht, kann im Hinblick auf die Männlichkeitsentwürfe beider Figuren – das heißt von Vater und Sohn – nicht nur mit Bezug auf die Generationen als Übergang der älteren auf die jüngere, sondern auch angesichts des Stils der Machtausübung gewertet werden. Indem der alte Moor als Herrscher und oberster Richter seiner Güter durch Franz abgelöst wird, vermutet Franz, nun auch juristisch unantastbar zu sein. Er erlebt sich als ›Herr‹ und als ›Mann‹ jeglicher Konkurrenzsituation entledigt; Karl glaubt er verschollen und seinen Vater tot. Durch das Fehlen einer wirklichen Konkurrenzsituation sieht er nicht nur seine Taten als nicht mehr justiziabel: »Wer wird nun kommen, und es wagen […] mir ins Angesicht zu sagen: du bist ein Schurke!« (DR 535), sondern auch seinen Männlichkeitsentwurf als nicht länger hinterfragbar an. Mit Mosse argumentiert, setzt Franz in seiner eigenen Wahrnehmung in der Situation der Gewissheit über den Tod des Vaters den ›maskulinen Standard‹ als den personalisierten eigenen Standard fest.280 280
Vgl. Mosse: The Image of Man, darin insbesondere Kapitel 2.
254
Im gleichen Zusammenhang wird in der metaphorisch angedeuteten Entlarvung seiner zuvor zur Schau gestellten »Sanftmut und Tugend« (DR 535) deutlich, dass die Authentizität seines Männlichkeitsentwurfes: »Nun sollt ihr den nackten Franz sehen, und euch entsetzen!« (DR 535) nur unter der Voraussetzung einer Position erreicht wird, in der sich Franz als ›hegemonial männlich‹ wahrnimmt. Brittnacher attestiert Franz in diesem Zusammenhand eine »Allmachtsphantasie«, durch die er »aus der grausamen Herrschaft über andere die eigene Identität bestätigen will«.281 Der neue, von Franz angestrebte ›Standard‹ definiert sich mit Bezug auf den Männlichkeitsentwurf in der Funktion des ›Herrschers‹ als ausgesprochen patriarchalisch. In Opposition zu der durch den alten Moor betonten Güte, die Franz verächtlich als »Familienzirkel« (DR 535) bezeichnet, verfolgt Franz auf der Basis der neu erworbenen Machtbefugnisse die Strategie einer rauen, strengen Führung des Personals: »Ich will euch die zackigte Sporen ins Fleisch hauen, und die scharfe Geißel versuchen.« (DR 535) In seinem Fall kann von einer Überblendung der bei Holter beschriebenen »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« und der »Theorie der strukturell bedingten Ungleichheit« ausgegangen werden: Elemente des ersten – wie die Zurückführung auf sein unverstelltes Wesen – werden von solchen des zweiten Theorieansatzes – wie der Betonung der ›herrschenden‹ Position – ergänzt. Daran knüpft sich eine weitere Überlagerung, die in der Koexistenz von eigen- und fremddynamischen Antrieben seines Männlichkeitsentwurfes besteht. Besonders deutlich wird diese Überlagerung anhand der Interaktion mit Amalia in III/1: Franz, inzwischen »beneideter« und »gefürchteter« (DR 557) Herr über das Anwesen Moor, ist sich der Unvollständigkeit seiner Herrschaft durchaus bewusst: Amalia: Ich muß wohl hören, Franz von Moor ist ja gnädiger Herr worden. Franz: Ja recht, das wars, worüber ich dich vernehmen wollte. Ich bin Herr. Aber ich
möchte es vollends ganz sein, Amalia. (DR 557)
Zunächst ist die Äußerung Amalias interessant – sie »muß wohl hören«, dass Franz in die Position der Herrschaft vorgedrungen ist; die Informationsvergabe erfolgt aus ihrer Perspektive extern und bleibt auf diesem externen Niveau. Amalia ist folglich die Position Franzens zwar bekannt, akzeptieren will sie sie jedoch nicht. Unter geschlechtertheoretischen Gesichtspunkten wird die externe Attribuierung einer ›hegemonialen‹ Form der ›Männlichkeit‹ von ihr aus diesem Grund nicht internalisiert. Im gleichen Zusammenhang strebt Franz gerade nach diesem Punkt, den Amalia entschieden ablehnt. Aus seiner Sicht leitet sich die vollständige Definition der Herrschaft (»Ich bin Herr«) nicht ausschließlich über materialistische, sondern auch emotionale Aspekte her. Seine Interpretation des ›Patriarchats‹ umfasst eine geschlechterübergreifende Dominanzposition, die sich sehr treffend mit Connells Definition der ›hegemonialen Männlichkeit‹ beschreiben lässt. Indem nach Connell die Dominanz sowohl über andere Männer als auch über Frauen von einer solchen Position gewährleistet werden soll, muss Franz seine bisherigen Errungenschaften, die sich ausschließlich auf materialistische Aspekte beschränken, als defizitären Status 281
Brittnacher: Die Räuber, S. 328.
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seines nach Hegemonie strebenden Männlichkeitsentwurfes verstehen. Die von ihm vertretene Interpretation des Patriarchats schließt darüber hinaus vermeintlich protektive Bestrebungen ein, indem er Amalia als »arme, ohne ihn hülflose Waise« (DR 557) in ein direktes Abhängigkeitsverhältnis zu ihm rückt. Eine Parallele zu der vergleichbaren Situation in I/3 besteht darin, dass Franz zunächst versucht, sich Amalia unter Berufung auf den Kommunikationscode zu nähern, der sich mit einer passionierten Liebesauffassung verbindet, wobei er sich um eine bewusst konventionelle Sprachverwendung bemüht. In der berühmten Einleitungspassage zu Fragmente einer Sprache der Liebe definiert Roland Barthes die Bemühungen des Liebenden unter dem Rückgriff auf den Begriff ›Figur‹ wie folgt: Der Liebende hört in der Tat nicht auf, in seinem Kopf hin und her zu laufen, neue Schritte zu unternehmen und gegen sich selbst zu intrigieren. Sein Diskurs existiert immer nur in Gestalt von Sprach-»Anwandlungen« […]. Man kann diese Redebruchstücke Figuren nennen. […] Das Wort darf aber nicht in einem rhetorischen Sinne verstanden werden, sondern […] in einem sehr viel lebendigeren Sinne, die Gebärde des in Bewegung erfaßten und nicht des im Ruhezustand betrachteten Körpers, des Körpers der Athleten, der Redner, der Statuen: das, was sich vom angespannten, gestrafften Körper stillstellen läßt. So auch der Liebende im Banne seiner Figuren: er müht sich mit einem etwas närrischen Sport ab, er verausgabt sich wie der Athlet; er phrasiert wie der Redner; er wird, in einer Rolle erstarrt, wie eine Statue erfaßt. Die Figur – das ist der Liebende in Aktion.282
Franz besitzt – gemäß der Argumentation, die Barthes vorschlägt – durchaus ein breites Repertoire jener »Sprach-Anwandlungen«, die Barthes als ›Figuren‹ bezeichnet; im gleichen Zusammenhang lässt sich für ihn auch der in dem Zitat angeführte ›Bann der Figuren‹ konstatieren, in den Franz in seiner amourösen Kommunikation gerät. Die Besonderheit in der Konzeption des Werbens um Amalia liegt in der sehr konzentrierten Form, in der Franz auf die ›amourösen Redebruchstücke‹, den Code der Kommunikation, zurückgreift: III/1 führt Amalia die rasche Abfolge verschiedener damit verbundener Affekte sehr deutlich vor Augen. Die Kommunikation beginnt unter der Voraussetzung, dass sich Franz als ›Herr‹ vorstellt, dessen offen erklärtes Ziel es ist, ein Defizit – nicht etwa amouröser Art – sondern in seiner Position als ›Patriarch‹, zu beheben. Die entschlossene Antwort Amalias: »Niemals, niemals« (DR 557) führt dazu, dass Franz auf ein anderes ›Redebruchstück‹ zurückgreift: die ›Abhängigkeit‹ und den passionierten Ausdruck des ›Habenwollens‹: »erklärt sich freiwillig für Amalias Sklaven.« (DR 557) Nach der erneuten Ablehnung ersetzt Franz auch diesen Code abrupt durch den in Aussicht gestellten ›Befehl‹ der Liebe: »Franz spricht, und wenn man nicht antwortet, so wird er – befehlen.« (DR 557)283 Die Brüchigkeit eines eindeutig dominanten kommunikativen Codes tritt an dieser Stelle zum wiederholten Male deutlich hervor und zeigt sich eng mit seinem Männlichkeitsentwurf verknüpft: Solange Franz Amalia nicht »besitzen« kann, ist sein Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ unvollständig. Der Widerstand Amalias fordert ihn aus diesem Grund weniger als Verführer denn als ›Mann‹ heraus. Dass Amalia diesem Anspruch dadurch begegnet, dass sie ihn der Lächerlich282 283
Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt am Main 1984,S. 15f. Safranski: Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus, S. 112.
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keit preisgibt: »Wurm, du, befehlen? mir befehlen? – und wenn man den Befehl mit Hohnlachen zurückschickt?« (DR 557) widerspricht nicht nur dem Streben nach Anerkennung als ›Patriarch‹, sondern vor allem auch als ›Mann‹ – eine Tatsache, die Franz zu immer kühneren Drohungen treibt. Unter Rückgriff auf seine Befehlsgewalt versucht er, Amalia zunächst mit der in Aussicht gestellten Verwahrung im Kloster zu erpressen, um sie daraufhin durch die angedeutete Vergewaltigung einzuschüchtern: Franz:
Haha! ist es das? – Gib acht! Itzt hast du mich die Kunst gelehrt, wie ich dich quälen soll – diese ewige Grille von Karl soll dir mein Anblick gleich einer feuerhaarigen Furie aus dem Kopfe geißeln, das Schreckbild Franz soll hinter dem Bild deines Lieblings im Hinterhalt lauern […] an den Haaren will ich dich in die Kapelle schleifen, den Degen in der Hand, dir den ehelichen Schwur aus der Seele pressen, dein jungfräuliches Bette mit Sturm ersteigen, und deine stolze Scham mit noch größerem Stolze besiegen. Amalia: (gibt ihm eine Maulschelle). Nimm erst das zur Aussteuer hin! (DR 558)
Die Textstelle hebt die fortwährende Konkurrenzsituation, in der sich Franz Karl gegenüber befindet, hervor. Dabei werden seine zuvor fingierten amourösen Bemühungen um Amalia erneut als pures Besitzstreben entlarvt – die Bedrohung durch die erzwungene Heirat und den erpressten Liebesvollzug führt die zuvor zitierten ›Redebruchstücke‹ in der Rolle eines Verführers ad absurdum. Die in Aussicht gestellte, erzwungene Liebe verweist im Zusammenspiel mit den unkonntrollierten Affekten Franzens zudem auf einen Zustand, den Christoph Kucklick wie folgt beschreibt: War bis dato vor allem Frauen sexuelle Unkontrollierbarkeit nachgesagt worden, die von Patriarchen und Priestern patrouilliert werden musste, so wird im späten 18. Jahrhundert der Trieb zum naturalen Charakteristikum der Männer, und zwar rückwirkend durch die gesamte Geschichte. (Kucklick 16)
Die Triebhaftigkeit Franzens gegenüber Amalia erhält in diesem Zusammenhang durch die pathologische Komponente, mit der er über seinen erhofften Erfolg frohlockt, eine gesonderte Gewichtung. Das Lachen, mit dem er auf Amalias Ablehnung reagiert, wird zum Ausdruck eines verabsolutierten Besitz- und Eroberungsstrebens. Dieses manövriert ihn in Opposition zu einer weiteren Verführerfigur, die in der vorliegenden Arbeit noch analysiert werden soll: Don Giovanni. Während die Titelfigur aus Mozart/Da Pontes Text ihr Verführungsstreben an das Gefühl des ›plaisir‹ knüpft, zeigt sich Franz in seinem Bestreben nach dem ›Besitz‹ Amalias als ausschließlich auf die Vervollkommnung seines Machtanspruches und somit der Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ fixiert. Dass sein Plan allerdings an Amalias Wehrhaftigkeit scheitern muss, versinnbildlicht nicht nur die körperliche Züchtigung durch die im Nebentext hervorgehobene »Maulschelle«, sondern auch die folgende Konstellation: Amalia:
(fällt ihm um den Hals). Verzeih mir, Franz! (Wie er sie umarmen will, reißt sie ihm den Degen von der Seite und tritt hastig zurück) Siehst du, Bösewicht, was ich jetzt aus dir machen kann? […] (Sie jagt ihn davon). (DR 558)
Wie bereits in I/3 dominiert Amalia nicht nur die Auseinandersetzung, sie stellt Franz in seinem eigenen Streben nach Dominanz bloß. Die Symbolik der Gesten 257
Amalias ist besonders interessant: Indem sie die körperliche Nähe zunächst zu suchen scheint, konterkariert sie das aktive Streben nach Verführung, mit dem Franz versucht, sie zu bedrohen (»fällt ihm um den Hals«). Im Moment der Entwaffnung verliert Franz durch den Degen – mit dem er zuvor noch den »ehelichen Schwur aus der Seele pressen« wollte – nicht nur sein Objekt der hierarchischen Druckausübung als ›Herr‹, sondern auch ein dezidiertes Symbol seiner ›Männlichkeit‹. Jeglicher Wehrhaftigkeit beraubt und einer Frau schonungslos ausgeliefert, die offenbar zum Äußersten entschlossen ist, bleibt ihm nur der Weg der Flucht. Ähnlich wie in I/3, wenngleich in der Dramatik drastischer dargestellt, endet die Begegnung zwischen Franz und Amalia mit einer kläglichen Niederlage des vermeintlich potenten ›Herrn‹. Die Schwierigkeiten, sich in der hierarchisch dominanten Position zu behaupten, intensivieren sich mit der Rückkehr Karls unter falscher Identität in IV/2 und schlagen sich zunächst in dunklen Vorahnungen nieder: »Ich sollt ihn kennen! Es ist so was Großes und oft Gesehnes in seinem wilden, sonnverbrannten Gesicht, das mich beben macht – auch Amalia ist nicht gleichgültig gegen ihn!« (DR 572) Die Physiognomie wird dabei zum Emblem der Bedrohung, die Franz in dem geheimnisvollen Fremden instinktiv Karl erkennen lässt: »Holla Franz! siehe dich vor! […] Es ist Karl!« (DR 572) Sofort im Anschluss formuliert Franz die Bedenken, die er auf die Instabilität der eigenen Machtposition bezieht: Franz:
[…] (Auf und ab mit heftigen Schritten) Hab ich darum meine Nächte verpraßt – darum Felsen hinweggeräumt und Abgründe eben gemacht – bin ich darum gegen alle Instinkte der Menschheit rebellisch worden […] Bin ich nicht ohnehin schon bis an die Ohren in Todsünden gewatet, daß es Unsinn wäre zurückzuschwimmen, wenn das Ufer schon so weit hinten liegt – […] Also vorwärts wie ein Mann. (DR 572)
Die Rückkehr des alten Rivalen Karl lässt Franz seine Bemühungen, mit denen er sich Zugang zur Machtposition verschaffen konnte, zum ersten Mal retrospektiv betrachten. Dabei führt die Akkumulation von Schuld dazu, den möglichen Skrupeln gegenüber noch unsensibler zu werden. Trotz und Fatalismus gewinnen gegenüber den Bedenken die Oberhand und werden von einem rücksichtslosen Streben nach Behauptung der durch Intrigen erlangten Machtposition gestärkt. Die Aufforderung »vorwärts wie ein Mann« impliziert den Rückgriff auf eine Form der Entschlossenheit, die Franz als ›maskulin‹ definiert. Diese Tatsache erhält eine besondere Gewichtung, da daran erinnert werden muss, dass ihm durch die Rückkehr Karls ein männlicher Konkurrent in jenen beiden Bereichen erwächst, auf die sich der Legitimationsanspruch der Macht stützt: Sowohl in der Herrschaft über die Güter des Vaters als auch in der Zuneigung Amalias besitzt Karl den Anspruch auf die Position, die Franz sich im ersten Fall angeeignet hat und im zweiten weiterhin erstrebt. Um diesen Anspruch für immer auszulöschen, fasst Franz den Entschluss, den Bruder durch einen Auftragsmord für immer als Konkurrenten auszuschalten. Die Parallele zu II/1 liegt in der indirekten Planung der Tat: Wie bereits zuvor soll ein Adjutant – in diesem Fall der Greis Daniel – nicht nur als Helfer, sondern als Wegbereiter der Tat in Erscheinung treten. Erneut schreckt Franz vor einer direkten Konfrontation zurück. Je stärker seine Zurückhaltung in der direkten Konkurrenzsituation mit Karl wird, desto drastischer fällt sein Dominanzgebaren gegen den al258
ten Daniel aus. In der Gewissheit einer zweifachen Überlegenheit, die er aus seiner gesellschaftlichen Position als Hausherr und seiner dem Lebensalter geschuldeten physischen Stärke herleitet, beherrscht Dominanzgebaren den Umgang mit dem Diener. Die pathologische Komponente innerhalb der Figurenkonzeption erhält durch den wachsenden Verfolgungs- und Bedrohungswahn, der Franz ergreift, eine gesteigerte Bedeutung. Die Angst vor Karl hat ihren Ursprung in dem bereits zuvor angedeuteten Bewusstsein der Unterlegenheit in einer eventuellen direkten Auseinandersetzung. IV/2 zeigt sehr deutlich, wie einzelne Komponenten innerhalb des Paradigmas der Auseinandersetzungen um ›hegemoniale Männlichkeit‹ auch die Figurenkonstellationen außerhalb des Paradigmas beeinflussen. Um den Anspruch auf patriarchalische Dominanz jedoch trotz der Unterlegenheit gegenüber Karl der Dienerschaft weiterhin zu demonstrieren, begegnet Franz Daniel mit übertriebener Härte, die Unterstellungen, Beschuldigungen und physische Gewaltausübungen umfasst. Die intrinsische Angst findet demnach in Franz ihre extrinsische Entsprechung durch verbale und nonverbale Gewaltmechanismen, die er auf jemanden projiziert, der sich außerhalb der Konkurrenzsituation zwischen Franz und Karl befindet – Daniel.284 Als dieser schließlich bestätigt, dass der unbekannte Fremde eine besondere Rührung vor dem Bild des alten Moor empfunden habe, mündet der Affekt der Angst in die Bestätigung der dunklen Vorahnungen: Daniel: Etwas dergleichen erinnere ich mich von ihm gehört zu haben. Franz: (blaß). Hat er, hat er wirklich? Wie, so laß mich doch hören! Er sagte, er sei mein
Bruder? (DR 574)
Die wachsende Gewissheit über die Unmittelbarkeit der Bedrohung der eigenen Machtposition führt zu einer erneuten Form der maskulinen Komplizenschaft, die Franz dieses Mal in Daniel sucht. Dass er dabei bemüht ist, sich die Dienste unter Berufung auf seine ›Güte‹ zuzusichern: »Du weißt, ich bin immer ein gütiger Herr gegen dich gewesen, ich hab dir Nahrung und Kleider gegeben, und dein schwaches Alter in allen Geschäften geschonet« (DR 574), wirkt vor dem Hintergrund der Drohungen zuvor als Beleg einer zunehmenden Unzurechnungsfähigkeit der Figur. Die rasche Abfolge von Bedrohung und vermeintlicher Zuneigung erinnert in ihrer paradoxalen Struktur an Franzens vergebliche Bemühungen um Amalia. Sowohl Daniel als auch Amalia sind Figuren, die Franz sowohl bittet als auch notfalls erpressen will, um sie zu seinen Zwecken zu instrumentalisieren. Beide lehnen seine Pläne unter Berufung auf ihr Gewissen ab. Während es in Amalias Fall die ungebrochene Liebe und Treue zu Karl ist, trifft Franz in Daniel auf einen alten Mann, der durch den Einfluss einer tiefen Gläubigkeit sein Gewissen nicht mit Mord belasten will. In beiden Fällen treffen die Anweisungen, die Franz in Überzeugung seiner uneingeschränkten Machtposition gibt, auf eine ›höhere‹ Macht – Liebe oder Glauben –, vor der sie sich als unterlegen erweisen und auch durch Bedrohungen nicht durchgesetzt werden können. Im Hinblick auf den für Franzens Männlichkeitsentwurf entscheidenden Anspruch, ›Herr‹ zu sein, wird ihm demnach sowohl durch Amalia als auch 284
Zur Korrelation von Dominanzgebaren und Gewaltausübung vgl. Kaufman: The Construction of Masculinity and the Triad of Men’s Violence.
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durch Daniel – folglich durch eine junge Frau und einen greisen Mann – die Begrenztheit seines Dominanzanspruches vor Augen geführt, die er jedoch nicht akzeptieren will. Voller Hybris stellt er transzendente und immanente Gerichtsbarkeit in Frage: »Ich bin ja Herr. Mich werden Gott und Gewissen strafen, wenn es ja einen Gott und ein Gewissen gibt.« (DR 574) Die Lossagung von jeglichen regulierenden Instanzen stellt einen vorläufigen Höhepunkt innerhalb der Dynamik des Männlichkeitsentwurfes dar, der im Laufe des Textes immer rigoroser nach Macht bzw. Machterhalt strebt. Die Einsicht, dass Daniel sein Handeln eher seinem Glauben und seinem Gewissen als dem Gehorsam unterstellt, lässt Franz von seiner zuvor als eigenes Argument angeführten ›Güte‹ erneut in den Tonfall des Patriarchen zurückfallen. Er erpresst den 71jährigen, um ihm das Versprechen für den Auftragsmord an Karl abzuringen. Das transgressive Grundpotenzial, das dem Männlichkeitsentwurf zugrunde liegt, offenbart sich in seinem ganzen Ausmaß vor allem durch die Schilderung des alten Moor in IV/5 im Gespräch mit Karl: Der alte Moor:
[zu Karl, M.B.] Höre weiter! Ich ward unmächtig bei der Botschaft [des vermeintlichen Todes, der ihm von Hermann berichtet wurde, M.B.]. Man muß mich für tot gehalten haben, denn als ich wieder zu mir selber kam, lag ich schon in der Bahre, und ins Leichentuch gewickelt wie ein Toter. Ich kratzte an dem Deckel der Bahre. Er ward aufgetan. […] mein Sohn Franz stand vor mir, – Was? rief er mit entsetzlicher Stimme, willst du dann ewig leben? – und gleich flog der Sargdeckel wieder zu. (DR 594f.)
Die Frage »willst du dann ewig leben« wirkt in grotesker Weise als Reprise der Aufforderung zum Sterben, mit der Franz seinem Vater in II/2 begegnet: »Kraftlose Knochen, ihr wagt es – sterbt! verzweifelt!« (DR 533) Albtraum des Tyrannen: Pathologisierung und Nemesis Intrigen innerhalb der Familie, Betrug, Täuschung, geplanter Mord am eigenen Vater, in Auftrag gegebener Brudermord – die Intensivierung der Verbrechen, derer sich Franz schuldig macht, bestimmt den Verlauf des Textes ebenso wie seinen Männlichkeitsentwurf. In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass die Verabsolutierung des Machtanspruchs, den er gegenüber Hermann, Amalia und Daniel zeigt, von anfangs subtilen, aber letztlich immer stärker werdenden Zweifeln und Angstgefühlen begleitet wird. Die Interaktion mit Daniel in V/1 besitzt dafür einen symbolischen Wert. Der Nebentext führt in die Zeitkonzeption ein: »Finstre Nacht« (DR 598) und hebt zugleich Franzens Schlaflosigkeit hervor: »[…] Franz im Schlafrock hereingestürzt.« (DR 598) Somnambulismus und Albträume plagen den vermeintlich allmächtigen Hausherrn ebenso wie Sinnestäuschungen und Wachträume: »Geister ausgespien aus Gräbern – losgerüttelt das Totenreich aus dem ewigen Schlaf brüllt wider mich Mörder! Mörder!« (DR 598)285 Franz büßt zu Beginn des fünften Aktes nicht nur das Gefühl für die zeitliche Deixis: »wie weit ists in der 285
Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 54f., der die Angstträume, die Franz plagen, vor dem Hintergrund eines Verweises auf Schillers Dissertation Über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen näher untersucht.
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Nacht?« (DR 599), sondern auch die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Realität und Traum zeitweise ein. Interessant ist, dass seine Ratio erst in dem Moment wieder die Kontrolle über die verworrenen Affekte gewinnt, als Daniel – wie der Nebentext anmerkt – »mit dem Licht« (DR 599) zurückkehrt. In der Andeutung der Heimsuchung von Schuldgefühlen wird eine intertextuelle Parallele zu Adelbert von Weislingen aus Goethes Götz von Berlichingen deutlich: Wie Weislingen erscheint auch Franz trotz Nähe zu einem Machtzentrum, das er zu erhalten bemüht ist, als gebrochener, isolierter Mann, den die dunklen Erinnerungen an Schuldgefühle in der Einsamkeit der Macht heimsuchen. Erschwerend tritt der Zustand von Halluzinationen hinzu, die bei beiden Figuren auf Fieberanfälle zurückgeführt werden. »Ich habe das Fieber« (DR 599), äußert Franz Daniel gegenüber und versucht damit, die Fremdwahrnehmung der Physiognomie: »Ihr seid totenbleich, Eure Stimme ist bang und lallet« (DR 599) auf rein pathologische Aspekte zurückzuführen. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Psyche Franzens, die im Text wiederholt eine Anfälligkeit gegenüber Affekten wie Rache, Angst und Neid gezeigt hatte, zunehmend destabilisiert; eine Tatsache, die sich – wie auch im Falle Weislingens – insbesondere in seinen Träumen zeigt. Wenn man die Argumentation PeterAndré Alts zugrunde legt, so bietet die Literatur im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert unter Rückgriff auf die Ergebnisse der Erfahrungsseelenkunde Ansätze eines Traumkonzeptes, das nicht mehr ausschließlich durch die Abwesenheit der Ratio bestimmt wird.286 Das Bewusstsein, das nicht vollkommen ausgeschaltet, sondern auf einer verminderten Wahrnehmungsstufe weiterhin aktiv ist, lässt sich auch anhand der Traumvisionen bei Franz illustrieren. Dabei wird eine interessante Verbindung zwischen der Frage seiner Wahrnehmungsfähigkeit und der seines Männlichkeitsentwurfes deutlich: Der entscheidende Verknüpfungspunkt besteht in der Wiederkehr von Verdrängtem in den Phasen der Imagination, die den Traum Franzens wie folgt kennzeichnen: Franz:
Was? will diese Nacht währen bis an den Jüngsten Tag? hörtest du keinen Tumult in der Nähe? Kein Siegsgeschrei? Kein Geräusch galoppierender Pferde? wo ist Kar – der Graf, will ich sagen? (DR 599)
Die Imagination führt Franz nicht nur akustische Reize von ›Tumult‹, ›Geschrei‹ und ›Pferdegalopp‹, sondern auch seinen Bruder vor Augen. Im Traum erlebt er Karl nicht nur als Angstvision, sondern auch als Rivalen im Kampf um seine Position als ›Herr‹. Die sich daran knüpfende, unmittelbare Aufforderung an die Bediensteten enthält den Aufruf zum Kampf: »Alles soll auf sein – in Waffen – alle Gewehre geladen.« (DR 599) Der auf Rivalität beruhende Affekt der Angst in der Traumvision wird im Wachzustand in die Rivalität einer bewaffneten Auseinandersetzung überführt, wobei der Eindruck des Geträumten sein Unterbewusstsein dabei so nachhaltig dominiert, dass er auch im Wachzustand den wirklichen Namen beinahe preisgibt. Erst als Daniel mit dem Licht die Phase der Dunkelheit beendet, die Franz sowohl im wörtlichen als auch im metaphorischen-erkenntnisbezogenen Sinne um286
Vgl. Alt: Der Schlaf der Vernunft.
261
gibt, erkennt er: »Es war ledig ein Traum.« (DR 599) Doch auch im Zustand des wiedererlangten Bewusstseins zeigt sich Franz nicht als jener dominante Mann, der sich die Herrschaft über das Anwesen der Familie Moor entgegen sämtlicher Regeln angeeignet hatte: Daniel: Gebt mir erst die Schlüssel, ich will drunten holen im Schrank – Franz: Nein, nein, nein! Bleib! oder ich will mit dir gehen. Du siehst, ich kann nicht
allein sein! Wie leicht könnt ich, du siehst ja – unmächtig – wenn ich allein bin. […] Oh ihr seid ernstlich krank. (DR 599f.)
Daniel:
Die maskuline Komplizenschaft, um die Franz Daniel dabei ersucht, unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von den bislang behandelten Sequenzen. Zum einen ist es nunmehr Franz, der sich die Hilfe nicht für Taten an anderen Figuren, sondern zum eigenen Schutze erbittet. Zum anderen beinhaltet die Passage trotz der Befehlsform »bleib« eine Umkehr der Machtverhältnisse zwischen Herrn und Diener. Franz hat sich, wie anhand der Interaktion mit Daniel deutlich wird, in die Position der Abhängigkeit von anderen Figuren manövriert; die er inzwischen nicht mehr nur zur Vollstreckung seiner strategischen Pläne benötigt. Die Antwort Daniels nimmt Franz zum Anlass, seine Hilfsbedürftigkeit nicht auf eine mangelnde Entschlossenheit, sondern wie schon zuvor ausschließlich auf pathologische Einflüsse zurückzuführen. In diesem Sinne deutet er auch den Ursprung der Albträume: »Träume bedeuten nichts – nicht wahr, Daniel? Träume kommen ja aus dem Bauch, und Träume bedeuten nichts.« (DR 600) Diese auf den Traum bezogene, metareflexive Passage lässt sich in Ansätzen der rationalistischen Traumbeschreibung einordnen, welche die Tätigkeit der Imagination während des Schlafes ausschließlich durch die Abwesenheit der sogenannten »oberen Seelenkräfte« – Verstand bzw. Vernunft – herleiten.287 Die Traumgenese wird dabei dem zerebralen System abgesprochen. Franz führt sie stattdessen auf den Einfluss des vegetativen (und somit nicht kontrollierbaren) Nervensystems zurück. Er erlangt die Kontrolle über seine Affekte erst wieder, als Daniel ihn wachrüttelt: »Wo bin ich? – du Daniel? was hab ich gesagt? merke nicht drauf! ich habe eine Lüge gesagt, es sei was es wolle« (DR 600) Das wiedererlangte Bewusstsein geht mit einem plötzlichen Rückfall in die Sprache des dominanten Despoten einher: »Weg – weg! was rüttelst du mich so, scheußliches Totengeripp? – die Toten stehen noch nicht auf –« (DR 600) Dennoch ist die Wirkungskraft des Geträumten auch im Wachzustand noch so stark, dass Franz das Bedürfnis verspürt, Daniel seinen nachhaltigsten Traum zu erzählen. Der Diener wird damit nicht nur gebeten, Franz Gesellschaft zu leisten; er fungiert gleichzeitig als Adressat einer Traumerzählung seines zunehmend verwirrten Herrn, wobei der tiefgläubige Daniel »das leibhaft Konterfei vom Jüngsten Tage« (DR 601) wiedererkennt. Auf die offensichtlichen intertextuellen Parallelen zur Offenbarung des Johannes soll an dieser 287
Folgende Texte behandeln den Traum Franzens ausführlich: Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Bd. I. München 2000, S. 294, Alt: Der Schlaf der Vernunft, S. 210ff., Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 41f., Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 206, der die Nähe der Argumentation Daniels zur voraufklärerischen Mantik beschreibt. Darüber hinaus Guthke: Schillers Dramen, S. 54ff.
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Stelle nicht weiter eingegangen werden; im Hinblick auf den Männlichkeitsentwurf ist die Reaktion Franzens von größerer Bedeutung. Er wird im Traum vor die Instanz einer transzendenten Gerichtsbarkeit gestellt und versucht, diese im Wachzustand vor Daniel als Phantasiegebilde abzutun. Daniel jedoch deutet den Traum: »Träume kommen von Gott« (DR 602) als prophetische Aussage göttlichen Ursprungs. Interessant ist, dass die Überzeugung, mit der der lebenserfahrene Diener seinem Herrn diese Aussage noch einmal wiederholt, bei Franz zu ersten Zweifeln führt: Franz:
Pöbelweisheit, Pöbelfurcht! […] Rächet denn droben über den Sternen einer? – Nein, nein! – Ja, ja! Fürchterlich zischelts um mich: Richtet droben einer über den Sternen! […] öd, einsam, taub ists droben über den Sternen – wenns aber doch etwas mehr wäre? Nein, nein, es ist nicht! Ich befehle, es ist nicht! Wenns aber doch wäre? Weh dir, wenns nachgezählt worden wäre! wenns dir vorgezählt würde diese Nacht noch! – Warum schaudert mirs so durch die Knochen? Sterben! warum packt mich dieses Wort so? (DR 602)
Die Ungewissheit über das eigene Schicksal offenbart eine Schlüsselstelle, die seine Selbstreflexion nachhaltig beeinflusst: die Angst vor dem Tod und vor allem davor, von einer transzendenten Macht gerichtet zu werden.288 Dem Gefühl der Überlegenheit, das sich in IV/3 Daniel gegenüber noch in Spott über Religion niedergeschlagen hatte, ist vor dem Hintergrund der Traumerlebnisse der Anspruch auf Absolutheit verloren gegangen. Auch an dieser Stelle wird die Bedeutung der ausführlichen Traumschilderung innerhalb der Figurenkonzeption deutlich: Die Imagination, die Franz wiederholt auf den Zustand der fiebrigen Krankheit zurückführt, lässt ihn an seinen Überzeugungen zweifeln, zum ersten Mal zieht er zu Beginn des fünften Aktes eine Rechenschaftspflicht für seine Verbrechen in Erwägung. Alt behandelt diesen Aspekt in seiner Monographie ausführlich: Franz Moors Traum ist jedoch nur auf den ersten Blick ein apokalyptisch gefärbtes Orakel […]. Nicht die objektive Weissagung, sondern das subjektive Schuldgefühl bildet den latenten Gegenstand des Traums.289
Instinktiv wird Franz dabei bewusst, dass sein Machtanspruch und die damit verbundenen Handlungsmechanismen in der Traumvision eine Grenze erreicht haben, an der er allein nicht mehr für sein weiteres Schicksal garantieren kann. Die Gründe dafür umfassen ein breites Spektrum von Angstgefühlen und dem Bewusstsein der Unterlegenheit gegenüber Karl, Schuldgefühlen und dem Bewusstsein der Rechenschaftspflicht für seine Verbrechen sowie Unsicherheitsgefühlen und dem Bewusstsein der Vergänglichkeit des eigenen Lebens. Während Karl in den ersten beiden Motiven instinktiv nicht nur als Konkurrent um ›hegemoniale Männlichkeit‹, sondern auch als Instanz einer immanenten Gerichtsbarkeit wahrgenommen wird, 288
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Vor dem Hintergrund der medizinischen Kenntnisse Schillers behandelt Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 204ff., diesen Aspekt ausführlich. Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 41 und Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe, S. 112, sehen die Schreckensbilder im Traum als Ergebnis der religiösen Erziehung, die Franz während seiner Kindheit durchlaufen hatte. Alt: Der Schlaf der Vernunft, S. 211.
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fürchtet Franz im Bewusstsein der Vergänglichkeit zunehmend die transzendente Gerichtsbarkeit durch Gott. In einem Akt letzter verzweifelter Suche nach Sicherheit wendet er sich aus diesem Grund an Pater Moser, um dessen Argumente zu entkräften. Der Pastor jedoch verstärkt in seiner eindringlichen Schilderung der Reue und Buße während der letzten Momente vor dem Tod die prophetische Komponente der Träume, die Franz zuvor gequält hatten. Er wird – wie Brittnacher anschaulich betont – der »fleischgewordene Angsttraum vom Jüngsten Gericht.«290 Die Auseinandersetzung, die Franz scheinbar zum Spaß initiiert: »Ich will mir einen Spaß machen, mich mit Pfaffen herumzubeißen« (DR 603), wird für ihn ebenso unbeherrschbar wie die Angstgefühle, die der Figur im gesamten fünften Akt zugrunde liegen; eine Tendenz, die sich während des Gesprächs mit Moser auch im Nebentext niederschlägt: Anfangs noch selbstsicher in Erwartung der Bestätigung des eigenen Standpunkts, reagiert Franz nach den ersten Ausführungen des Pastors zunächst »verwirrt«, und »unruhig im Zimmer auf und ab gehend«, später »wild auf ihn [Moser, M.B.] losgehend« sowie schließlich – auf dem Höhepunkt der Verzweiflung – indem Moser ihm den Vater- und Brudermord als schwerste Sünde vor Augen führt »sich in seinem Sessel in schröcklichen Bewegungen herumwerfend.« (DR 604ff.) Durch die Projektion der Sünden auf sein eigenes Schicksal und unter dem Eindruck der unmittelbaren Bedrohung durch den Tumult der anstürmenden Räuber fasst Franz den Entschluss zur Buße und sucht Zuflucht im Gebet: Franz:
(auf den Knien). Höre mich beten, Gott im Himmel! – Es ist das erste Mal – soll auch gewiß nimmer geschehen – erhöre mich, Gott im Himmel! Daniel: Mein doch! Was treibt Ihr? Das ist ja gottlos gebetet. […] Franz: (betet). Ich bin kein Mörder gewesen, mein Herrgott – hab mich nie mit Kleinigkeiten abgegeben, mein Herrgott – Daniel: Gott sei uns gnädig! Auch seine Gebete werden zu Sünden. (DR 607f.)
Verzweiflung und pathologische Kennzeichen überblenden sich in den Gebeten, die – wie Daniel kommentiert – nicht nur die Form verletzen, sondern auch den Wahrheitsgehalt vermissen lassen, was eine aufrichtige Buße unmöglich macht. Getrieben von panischer Angst, ergreift Franz kurz vor seinem Suizid vollkommen der Wahnsinn, sodass Riedel resümiert: Franz Moor wird von der Nemesis geschlagen. Die Affekte, die in II/1 seinem Vater zum Verhängnis werden sollten, allen voran Furcht und Verzweiflung, treiben ihn in V/1 in den Selbstmord. Das Gewissen, in IV/2 zum Ammenmärchen erklärt, entfaltet jetzt in eben diesen Affekten seine ungebrochene Kraft.291
Diese Deutung ist allerdings innerhalb der Forschungstradition keinesfalls unumstritten, was sich beispielsweise durch die Ansicht Guthkes zeigt, der in dem Suizid einen Ausdruck individueller Freiheit292 sieht: 290 291
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Brittnacher: Die Räuber, S. 340. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 208f. Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 6, attestiert Franz eine »Pein des Identitätsverlusts und des ruhelosen Umgetriebenseins«. Vergleichbar argumentiert Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe, S. 125. Vgl. Guthke: Schillers Dramen, S. 57.
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So wie er [Schiller, M.B.] in der Darstellung des Verbrechers Franz Moor in der SchlußSzene nicht so sehr aus der moralistischen Perspektive visiert, vielmehr aus der, die er später die ästhetische nennen wird, […] wie er also […] den amoralischen Glanz des in seiner Willensfreiheit und Willensstärke konsequenten großen Verbrechers herausstreicht, der in der Stunde der Wahrheit nicht kniefällig wird, so hat er auf der Gegenseite Karl Moor nicht als den ungebrochenen Idealisten dargestellt.293
Der einst so überlegen und mächtig auftretende Mann ist unter dem Eindruck der Erinnerungen aus der Vergangenheit und der Traumbilder, die ihm die Zukunft deuten, zu einem Schatten seiner selbst geworden, wobei der selbstzerstörerische Absolutheitsanspruch nach vielfältiger Hegemonie mit seinem anfangs scharfen Verstand schließlich auch die Basis seines Männlichkeitsentwurfes zu Grunde richtet. 4.4.4 Moritz Spiegelberg Den Abschluss der Einzelanalyse bildet die Untersuchung des Männlichkeitsentwurfes von Moritz Spiegelberg, der sowohl als Initiator der ›Räuberbande‹ als auch als Karls gruppeninterner Widersacher in Erscheinung tritt.294 Er wird folglich insbesondere in verschiedenen Oppositionssträngen zu Karls Männlichkeitsentwurf analysiert, wobei Spiegelbergs Ziele und Ambitionen sowie die Methoden, mit denen sie er zu erreichen versucht, in den Mittelpunkt der Überlegung gerückt werden. Die Opposition zu Karl wird nicht nur durch den metaphorischen Namen,295 sondern auch bereits durch den Nebentext in der zweiten Szene des ersten Aktes hervorgehoben: Während sich Karl »in ein Buch vertieft« mit philosophischem Gedankengut auseinandersetzt, beschreibt der Nebentext Spiegelberg »trinkend am Tisch.« (DR 502) Die Orientierung auf Einfachheit wird auch durch die Lektüre, die er Karl empfiehlt, reflektiert – wie bereits aus der Sicht Karls unter Abschnitt 4.4.2 ansatzweise herausgearbeitet werden konnte, hebt Spiegelbergs Empfehlung der Schriften des Flavius Josephus auf eine Lektüre ab, die vor allem wegen der detaillierten Schlachtschilderungen Berühmtheit erlangte. Der Tatendrang und der Durst nach Abenteuer sind es, die Spiegelbergs Aufmerksamkeit erwecken. Während er sich in der Phase des Nachdenkens bei Karl auf kurze, wenig ernst gemeinte Erwiderungen beschränkt hatte, provoziert die durch Karl in Aussicht gestellte, militärische Aktion: »Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich« (DR 504) seine spontane Zustimmung:
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Guthke: Schillers Dramen, S. 62. Auch Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit, S. 294, hebt die Tatsache hervor, dass Franz »keine Umkehr vollziehe«. Damit kann der Auffassung von Werner von Stransky-Stranka-Greifelfels: »… so ists Symmetrie uns Schönheit gewesen …«: zu Vorlagen und Struktur von Friedrich Schillers Schauspiel »Die Räuber«. Stockholm 1998, S. 235f., widersprochen werden, Spiegelberg »bestimme oder beeinflusse […] zu keinem Zeitpunkt die Handlung, er kommentiere sie lediglich.« Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 34, unterstreicht Spiegelberg als »Urheber« des Wortes ›Räuberbande‹. Darauf ist in der Forschung mehrfach hingewiesen worden. Vgl. Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 33.
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Spiegelberg:
(aufspringend). Bravo! Bravissimo! […] Ich will dir was ins Ohr sagen, Moor, das schon lang mit mir umgeht, und du bist der Mann dazu – sauf, Bruder, sauf – wie wärs, wenn wir Juden würden und das Königreich wieder aufs Tapet brächten? […] Moor: (nimmt ihn lächelnd bei der Hand). Kamerad! Mit den Narrenstreichen ists nun zu Ende. (DR 504)
Spiegelbergs Vorschlag, dessen Motivation sich aus einem ungezügelten Drang zum aktiven Handeln herleitet, begegnet Moor zunächst mit Spott und später mit Gelassenheit ablehnend. Darüber hinaus ist jedoch Spiegelbergs Hinweis auf die Eignung Karls zu den vermeintlichen Plänen entscheidend, da er versucht, die dezidiert ›männlichen‹ Qualitäten Karls dahingehend hervorzuheben. Spiegelberg achtet – wie anhand seiner Erinnerung an die ›Narrenstreiche‹ während der gemeinsamen Studentenzeit deutlich wird – Karls Risikobereitschaft und Waghalsigkeit in Zusammenwirkung mit seiner physischen Präsenz. Eben an dieser Stelle wird die Diskrepanz zwischen den ehemaligen Kommilitonen zum ersten Mal verbalisiert: Während Karl bemüht ist, die Erinnerung an seine Taten zu verdrängen: »Und schämst du dich nicht, damit groß zu prahlen?« (DR 505) und damit einen Abschnitt seines Lebens hinter sich zu lassen, um einen neuen zu beginnen, existiert er in der Wahrnehmung Spiegelbergs nur in der rebellischen Vergangenheit: »Geh, geh! Du bist nicht mehr Moor.« (DR 505) Die Vergangenheit wird dabei aus Spiegelbergs Perspektive nicht nur identitäts-, sondern explizit auch als männlichkeitsgrundlegend definiert: »O du […] Prahlhans! Das war noch männlich gesprochen, und edelmännisch.« (DR 506) Durch die von ihm im Anschluss erzählte Kindheitsepisode hofft er, Karl von der Tatsache überzeugen zu können, dass »der Mut mit der Gefahr wachse« und »die Kraft sich im Drang erhebe« (DR 506), um ihn für seine Pläne empfänglich zu machen. Allerdings wird die Diskrepanz zwischen beiden Figuren im Vergleich zwischen den Kindheitserinnerungen Karls – wie beispielsweise in III/2 – und denen Spiegelbergs in I/2 aus dem reinen Gegenwartsbezug herausgelöst. Während Karl von einer heldenhaften Zukunft träumte, fand Spiegelberg sein »Seelengaudium« darin, den Hund des Nachbarn »überall zu necken.« (DR 506) Im Gegensatz zu Karl, der im Bereich der Tollkühnheit keine weiteren Herausforderungen sucht, gerät Spiegelberg in der Aussicht auf ein Gauner- und Halunkenleben: »wie man Handschriften nachmacht, Würfel verdreht, Schlösser aufbricht und den Koffern das Eingeweid ausschüttet« (DR 507), das sich nicht auf den Raum der gemeinsamen Studienstadt Leipzig beschränkt, in eine Ekstase der Vorfreude: Spiegelberg:
[…] (Steht auf, hitzig) Wie es sich aufhellt in mir! Große Gedanken dämmern auf in meiner Seele! Riesenpläne gären in meinem schöpfrischen Schädel […] ich erwache, fühle, wer ich bin – wer ich werden muß. […] (hitziger). Spiegelberg, wird es heißen, kannst du hexen, Spiegelberg? […] indes Spiegelberg mit ausgespreiteten Flügeln zum Tempel des Nachruhms emporfliegt. (DR 507)
Die Ambitionen Spiegelbergs, durch illegale und tollkühne Taten zum »Tempel des Nachruhms« zu gelangen, sind Grundlage und Stimulus seiner zukünftigen Pläne.296 296
Vgl. Wuthenow: Rousseau im »Sturm und Drang«, S. 48f, der die Abenteuerlust Spiegelbergs betont.
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Die Ich-Immanenz innerhalb des Wertegefühls, die sich im weiteren Verlauf noch stärker herausarbeiten lässt, wird an dieser Stelle bereits angedeutet: Der Drang nach Reputation knüpft sich jedoch nicht an eine Werte-, sondern allenfalls an eine Bekanntheitsbasis. Er leitet sich für Spiegelberg durch eine Verbreitung und Bewahrung seines Namens im Gedächtnis der Öffentlichkeit her, der die Rückkoppelung an ein eigenverantwortliches Handeln verloren geht. Während er mit dieser Einstellung bei Karl zunächst keinen Erfolg erzielen kann, erweisen sich die übrigen Gefährten seinen Plänen gegenüber aufgeschlossener, sie durch sein Dazutun zu »Helden, […] Freiherrn, […] Fürsten, […] Göttern« (DR 509) zu machen. Spiegelberg sucht sich in Schweizer, Roller, Grimm, Razmann und Schufterle Verbündete, denen er vor allem eins abfordert: Mut: »Es will nichts als Mut, denn was den Witz betrifft, den nehm ich ganz über mich.« (DR 510) Interessant ist die dezidierte Gegenüberstellung der beiden Eigenschaften ›Mut‹ und ›Witz‹ im Sinne von ›Verstand‹: Durch seine Forderung weist er zum einen den anderen Figuren den ›Mut‹ als Tugend zu, exkludiert sich allerdings selber daraus zugunsten des Verstandes. Spiegelberg gelingt es bereits zu diesem frühen Zeitpunkt innerhalb der Vorbereitung des Männerbundes ›Räuberbande‹, dessen Strukturen auf seine Stärke hin zu konfigurieren: Sowohl anhand seiner impliziten Distanzierung von der Tugend der ›Mut‹ als auch durch ein vermeintlich unbedeutendes Detail im Nebentext zuvor: »Spiegelberg […] springt wild auf […] und packt Schweizern an der Gurgel, der ihn gelassen gegen die Wand wirft.« (DR 509) wird Spiegelberg als Figur transparent, deren Stärke sich weder aus ihrer direkten physischen Präsenz noch aus solchen Tugenden, die sich der physischen Überlegenheit bedienen, herleitet. Spiegelberg definiert sich selber vielmehr als ›Mann‹, dessen »schöpfrischer Schädel« es ihm ermöglichen soll, der Mann zu werden, der er »werden muß.« (DR 507) Es ist die Gewissheit, sich der Unterstützung der anderen Männer gewiss zu sein, die ihn den ehrgeizigen Plan, die Räuberbande zu gründen, verkünden lässt: Spiegelberg:
Also denn! (Er stellt sich mitten unter sie mit beschwörendem Ton) Wenn noch ein Tropfen deutschen Heldenbluts in euren Adern rinnt – kommt! Wir wollen uns in den böhmischen Wäldern niederlassen, dort eine Räuberbande zusammenziehen. (DR 510)
Die Aufforderung zur Gründung eines ›Männerbundes‹ wird durch Spiegelberg in einen patriotischen Rahmen gesetzt. ›Deutsches Heldenblut‹ verweist gleichsam auf eine gemeinsame Herkunft, darüber hinaus jedoch auch auf eine Eignung zum ›Heldentum‹, die der Räuberbande als Definitionsgrundlage dienen soll. Durch die Vermittlung einer Perspektive eines gemeinsamen Abenteuers für die Zukunft gelingt es Spiegelberg, das zuvor bereits gegenüber Karl geäußerte Bestreben, »das süße Gefühl der Unvergesslichkeit« (DR 511) auszukosten, auch in den anderen Männern hervorzurufen. Roller hebt zusammenfassend hervor, wodurch es Spiegelberg gelingt, ihn und die anderen Kameraden zu instrumentalisieren: »Du bist ein Meisterredner, […] wenns drauf ankommt, aus einem ehrlichen Mann einen Hollunken zu machen.« (DR 511) Die skrupellose Verallgemeinerung persönlicher Ambitionen nach Ruhm und Bekanntheit trifft demnach auf eine demagogische Schläue, mit der 267
Spiegelberg seine Pläne in die Tat umzusetzen versucht. Allerdings besteht unter den entschlossenen Männern ein letzter Zweifel über die hierarchische Struktur der Räuberbande, den Roller hervorhebt: »Das Tier muß auch seinen Kopf haben, Kinder.« (DR 513) Spiegelbergs eigenes Streben nach Macht: »Ein feiner, politischer Kopf muß das sein! Ja! wenn ich mirs denke, was ihr vor einer Stunde waret, was ihr itzt seid, – durch einen glücklichen Gedanken seid« (DR 513) wird jedoch enttäuscht, indem Roller nicht ihm, sondern Karl die Führungsrolle zugedenkt: »Ohne den Moor sind wir Leib ohne Seele.« (DR 514) Die Opposition zu Karl wird in dieser Situation zur Dokumentation der Unterlegenheit Spiegelbergs in der Fremdwahrnehmung. Die anderen potenziellen Verbündeten erweisen sich mit Bezug auf seine Idee der Räuberbande zwar durchaus als beeinflussbar, wohingegen jedoch die Reputation Karls als ›feiner, politischer Kopf‹ – der Rolle also, in der Spiegelberg sich selber sieht – vor den anderen Männern ungebrochen und vor allem unanfechtbar bleibt. Die anfangs abstrakte, ehrgeizige – zum Teil an tollkühne Ideen gebundene – Diskussion über mögliche zukünftige Pläne und Bündnisse nimmt in ihrem Verlauf folglich zunehmend konkrete Formen einer Auseinandersetzung um ›Hegemonie‹ an, die anhand der Theorie Connells auch zu einer Auseinandersetzung um die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ wird. Die Tatsache, dass Spiegelberg gerade jene Position für sich beansprucht, die durch die anderen Bündnisgenossen jedoch umgehend mit einem Konkurrenten assoziiert wird, versetzt ihn zwangsläufig in den Status eines Herausforderers, der seine Eignung unter Beweis stellen muss, um zu demonstrieren, die gruppeninternen Anforderungen an die Führungsposition besser zu erfüllen als Karl. Innerhalb dieser dramatischen Grundstruktur kommt ihm der Zufall zu Hilfe: Nicht Karls Überzeugung am Dasein als Räuberhauptmann, sondern seine unter Abschnitt 4.2.2 herausgearbeitete Reaktion der Verbitterung über den vermeintlichen Ausschluss aus der Familie führt dazu, dass er in den Vorschlag einwilligt, der ihm bezeichnenderweise nicht durch Spiegelberg, sondern durch Schweizer, überbracht wird: Schweizer: Du sollst unser Hauptmann sein! du mußt unser Hauptmann sein! Spiegelberg: (wirft sich wild in einen Sessel). Sklaven und Memmen! Moor: […] (indem er Schwarzen hart ergreift) […] So wahr meine Seele lebt, ich bin
euer Hauptmann! Alle: (mit lärmendem Geschrei). Es lebe der Hauptmann! Spiegelberg: (aufspringend, vor sich). Bis ich ihm hinhelfe! (DR 515)
Mit dem Entschluss Karls ist der Grundstein für den bündnisinternen Konkurrenzkampf gelegt. Den pathetischen Moment des gegenseitigen Treueschwurs, in dem Karls Entschlossenheit und die Berufung auf Attribute eines auf physische Stärke gestützten Kampfes: »Taten«, »Blut und Tod«, »sengen«, »morden« (DR 515) hervortreten, erlebt Spiegelberg – wie der Nebentext vermerkt – »wütend auf und nieder laufend.« (DR 516) Die Menge befindet sich in Ekstase, was allerdings nicht auf seine ursprüngliche Idee, sondern zu einem entscheidenden Anteil auf die charismatische Figur ›Karl‹ zurückzuführen ist. Spiegelberg, der sich seiner Unterlegenheit in der Kategorie der körperlichen Robustheit gegenüber Karl bewusst ist, bleibt die Ankündigung vorbehalten, seine geistigen Fähigkeiten zum Konkurrenzkampf gegen 268
Karl zu instrumentalisieren: »Dein [Karls, M.B.] Register hat ein Loch. Du hast das Gift weggelassen.« (DR 516) Die Auseinandersetzung um ›hegemoniale Männlichkeit‹ und den damit verbundenen Führungsanspruch innerhalb der Räuberbande geht mit einer Auseinandersetzung um Ziele, Methoden und Grenzen des Handelns als ›Gesetzloser‹ einher. Spiegelbergs Taten, so wird im Gespräch mit Razmann in II/3 deutlich, verhelfen ihm nach der Gründung der Bande zu jenem Bekanntheitsgrad, den er sich noch in I/2 erträumt hatte, wobei er feststellt, »etwas Magnetisches« an sich zu haben, »das […] alles Lumpengesindel auf Gottes Erdboden anzieht wie Stahl und Eisen.« (DR 538) Im Gegensatz zu Karl wird die Räuberbande für Spiegelberg zu einem Medium, durch das er seine transgressiven Triebe ausleben kann. Die Schilderung der Plünderung eines Klosters gegenüber Razmann spiegelt die sadistische Freude über – wie er es selber bezeichnet – einen unterhaltsamen »Streich« (DR 537) wider: Erniedrigung, Erpressung und Vergewaltigung sind dienen aus Spiegelbergs Perspektive der Dokumentation der Tollkühnheit und des abenteuerlichen Aberwitzes. In der sublegalen Struktur der Räuberbande wird er zum Anführer plündernder und gewalttätiger Verbrecher, womit er sich deutlich als Repräsentant jenes durch Karl im Gespräch mit Kosinsky scharf verurteilten Männlichkeitsentwurfes erweist: Moor:
[…] Kützelt dich nach Namen und Ehre? willst du Unsterblichkeit mit Mordbrennereien erkaufen? […] Für Mordbrenner grünet kein Lorbeer! Auf Banditensiege ist kein Triumph gesetzt – aber Fluch, Gefahr, Tod, Schande – siehst du auch das Hochgericht da auf dem Hügel? Spiegelberg: (unwillig auf und ab gehend). Ei wie dumm! wie abscheulich, wie unverzeihlich dumm! das ist die Manier nicht! Ich habs anderst gemacht. (DR 565)
Als Vorbild dient für Spiegelberg in diesem Zusammenhang der Einfluss der italienischen Kultur am Beispiel des Schweizer Kantons Graubünden, wie er Razmann gegenüber in II/3 erklärt: Spiegelberg:
[…] zu einem Spitzbuben wills […] ein gewisses […] Spitzbubenklima, und da rat ich dir, reis ins Graubünder Land, das ist das Athen der heutigen Gauner. Razmann: Bruder! man hat mir überhaupt das ganze Italien gerühmt. Spiegelberg: Ja ja! […] Italien weist auch seine Männer auf, und wenn Deutschland so fort macht, wie es bereits auf dem Weg ist, […] so kann mit der Zeit auch in Deutschland was Gutes kommen. (DR 538)
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Spiegelberg den Zuspruch an ›Männlichkeit‹ (»auch Italien weist seine Männer auf«) an einen Lebensentwurf »des Spitzbubenklimas«, der Illegalität, bindet und deren wesentliche Ausprägung in der schweizerisch-italienischen Mentalität verortet. Die Beurteilung der ›Männlichkeit‹ und die daraus abgeleitete, vermeintliche Eignung für die Räuberbande stellt eine weitere Opposition zu Karl dar. In Spiegelbergs Äußerung: »Bruder, was ich dir vorhin erzählt habe, bleibt unter uns, er [Karl, M.B.] brauchts nicht zu wissen« (DR 542) versinnbildlicht sich die doppelte Strategie, mit der er gegen Karl vorzugehen versucht: Die offene Auseinandersetzung im Bewusstsein der körperlichen Unterlegenheit scheuend, verlegt er sich darauf, seine taktische Überlegenheit und seinen Einfluss auf andere Bündnismitglieder im Verborgenen auszuspielen. Spiegelberg kann 269
eine spezifische Form der »patriarchalen Dividende« attestiert werden. Mit Bezug auf die physischen Anforderungen weist er ein Defizit gegenüber der von Karl besetzten Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ auf. Dennoch erhebt er als Anführer einer kleinen Gruppierung innerhalb der Räuberbande Anspruch auf eben jene hegemoniale Position, die allerdings nicht durch die Nähe zu Karl, sondern vor allem durch die Hervorhebung äquivalenter maskuliner Eigenschaften aus seiner Sicht legitimiert werden soll: Überzeugungskunst und Erfahrung als Verbrecher sollen dabei Karls physische und charismatische Überlegenheit aufwiegen. Spiegelberg sieht sich innerhalb des Männerbundes nach einem der von Holter beschriebenen Theorieansätzen, den Bereich der ›direkten Geschlechtshierarchie‹, zu Höherem bestimmt. Sein Männlichkeitsentwurf, den er euphemistisch als »spitzbübisch« (DR 538) beschreibt, leitet sich nicht primär aus strukturell bedingten, männlichkeitsexternen Gesichtspunkten, sondern aus einer männlichkeitsinhärenten Dynamik her, die sein Wertesystem entscheidend bestimmt. Die damit verbundene Diskrepanz zu Karl führt in II/3 zu einer ersten verbalen Drohung von Seiten des Räuberhauptmanns: »[…] es sind noch mehr unter euch, die meinem Grimm reif sind. Ich kenne dich, Spiegelberg. Aber ich will nächstens unter euch treten, und fürchterlich Musterung halten.« (DR 547) Karl scheut die offene Auseinandersetzung im Vertrauen auf seine dominante Position innerhalb der Räuberbande nicht; im Gegensatz dazu legt die zuvor zitierte Äußerung Spiegelbergs gegenüber Razmann seine mangelnde Entschlossenheit zur direkten Konfrontation offen, eine Tatsache, die auch durch die im Moment der Bedrohung durch die böhmischen Reiter gerufenen, ängstlichen Worte: »Oh! warum bin ich nicht geblieben in Jerusalem?« (DR 549) gestützt wird. Die verdeckte Opposition erreicht in der Situation ihren Höhepunkt, als die Bande in IV/5 in Abwesenheit Karls in einem – wie der Nebentext anmerkt – »alten verfallenen Schloß« (DR 585) in der Nähe des Moorschen Anwesens lagert. Erneut ist es Razmann, den Spiegelberg im Verborgenen zuerst in sein Vorhaben einer Meuterei einweiht: Spiegelberg:
Pst! Pst! – Ich weiß nicht, was du oder ich für Begriffe von Freiheit haben, daß wir an einem Karrn ziehen wie Stiere, und dabei wunderviel von Independenz deklamieren – Es gefällt mir nicht. Schweizer: (zu Grimm). Was wohl dieser Windkopf hier an der Kunkel hat? Razmann: (leise zu Spiegelberg). Du sprichst vom Hauptmann? – Spiegelberg: Pst doch! Pst! – Er hat so seine Ohren unter uns herumlaufen. – Hauptmann sagst du? Wer hat ihn zum Hauptmann über uns gesetzt, oder hat er nicht diesen Titel usurpiert, der von Rechts wegen mein ist? […] Schweizer: (zu den andern). Ja – du bist mir der rechte Held, Frösche mit Steinen breit zu schmeißen – Schon der Klang seiner Nase, wenn er sich schnäuzte, könnte dich durch ein Nadelöhr jagen – Spiegelberg: (zu Razmann). Ja – und Jahre schon dicht ich darauf: Es soll anders werden. Razmann – wenn du bist, wofür ich dich immer hielt […] Razmann: Ha, Satan! worin verstrickst du meine Seele? (DR 586f.)
Spiegelberg gelingt es – wie anhand der Passage deutlich wird – nicht aus eigener Kraft, seine geplante Rebellion durchzuführen, die in die Machtübernahme der Räuberbande münden soll. Die Zwietracht, die er innerhalb der Räuberbande säen will, 270
motiviert sich aus den bereits angedeuteten Machtambitionen, die er seit I/2 hegt: Er sieht sich als Initiator der Räuberbande als rechtmäßiger ›Hauptmann‹. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass gerade er als Triebkraft des illegalen und transgressiven Handlungsraumes der Räuberbande sich in seinem Anspruch auf die Führungsposition auf geltendes Recht beruft (»diesen Titel […], der von Rechts wegen mein ist«). Dass er letztlich keine wirkliche Konkurrenz für Karl und somit auch keinen Männlichkeitsentwurf darstellt, der seine Ansprüche auf Hegemonie tatsächlich nachdrücklich geltend machen kann, ist der Tatsache geschuldet, dass er für sein Vorhaben Verbündete benötigt. Genau an diesem Punkt wirkt der charismatische Männlichkeitsentwurf Karls auch in dessen Abwesenheit stärker auf die Mitglieder des Männerbundes als die Präsenz Spiegelbergs: Die Überlegenheit Karls offenbart sich gerade in dieser Situation, als nicht er selber, sondern Schweizer stellvertretend für ihn die Hierarchieverhältnisse umreißt (»Schon der Klang seiner Nase […] könnte dich durchs Nadelöhr jagen«). Das fehlende Zusammenwirken von physischer und charismatischer Stärke unter gleichzeitiger Ankündigung des Meuchelmords: »so sind wir die erste, die den Säugling erdrosseln« (DR 587), der darüber hinaus den Treuebruch gegenüber Karl bedeutet, wird Spiegelberg in seinen Machtansprüchen und exzessiven Methoden innerhalb der Bande endgültig zur isolierten – und vogelfreien – Figur: Schweizer:
(zieht wütend sein Messer). Ha, Bestie! Eben recht erinnerst du mich an die böhmischen Wälder! Warst du nicht die Memme, die anhub zu schnadern, als sie riefen: Der Feind kommt! Ich hab damals bei meiner Seel geflucht – fahr hin Meuchelmörder! (Er sticht ihn tot) […] (wirft das Messer über ihn). Da! – und so krepier du – […] Die Bestie ist dem Hauptmann immer giftig gewesen, und hat keine Narbe auf ihrer ganzen Haut. […] von hintenher will er Männer zuschanden schmeißen? Männer von hintenher? (DR 587f.)
Schweizers Rechtfertigung umfasst neben der mangelnden Bereitschaft zum Kampf und der Angst auch eine Akkumulation von Gründen aus der Vergangenheit, die Spiegelbergs Männlichkeitsentwurf dezidiert ablehnen: Die Bezeichnung ›Memme‹ verweist auf die als ›unmännlich‹ konnotierte Angst vor dem bewaffneten Kampf, der unversehrte Körper auf mangelnden militärischen Einsatzwillen und der Plan »von hintenher« einen »Mann zuschanden zu schmeißen« auf eine Neidingstat, die sich mit dem Konzept eines ›männlichen‹ Handelns nicht in Einklang bringen lässt. Interessant ist die Wiederaufnahme des ›giftigen‹ Handelns in der von Schweizer geäußerten Fremdwahrnehmung, die als Rückgriff auf Spiegelbergs Äußerung »Du hast das Gift weggelassen« (DR 516) aus I/2 verstanden werden kann. Die Räuberbande wird – wie anhand des Scheiterns Spiegelbergs exemplarisch verdeutlicht wird – somit als ›Männerbund‹ transparent, in dem sich trotz einer allgemeinen Ferne zum Gesetz eigene gesetzesähnliche Strukturen herausbilden, die den Bund als solchen schützen sollen und den entsprechenden Anführer – Karl – solange legitimieren, bis er sich von dem gegenseitigen Treueschwur und somit von dem Männerbund ›Räuberbande‹ zu entfernen droht. Schillers Text kann im Hinblick auf die darin vorgestellten Männlichkeitsentwürfe, Karl und Franz Moor sowie Spiegelberg, wie folgt zusammengefasst werden: 271
Sowohl Karl als auch Franz Moor versinnbildlichen mit Bezug auf den Drang zur Aktivität und Selbstverwirklichung dynamische Männlichkeitsentwürfe, die sich in patriarchalisch geprägten Ordnungen durchzusetzen versuchen. Beide stehen in entscheidendem Maße unter dem Einfluss von Affekten und offenbaren vor allem in den autoreflexiven Textpassagen eine deutliche Tendenz zur transpsychologischen Figurenkonzeption. Karl strebt im Zuge seiner maskulinen Selbstverwirklichung nach Taten – Franz vor allem nach einem Status. Eine weitere Parallele der Figuren zeigt sich in der Tatsache, dass beide an dem Absolutheitsanspruch ihrer Ambitionen scheitern. Die aufgebrochenen Familienstrukturen – Karl als ›Patriarch‹ der Gesetzlosen und Franz als impotenter, schuldbelasteter ›Patriarch‹ im Hause Moor – dienen als Spiegelbild des eklatanten Scheiterns der Dominanzansprüche, die letztlich zur Selbstzerstörung beider Männer führen. So auch im Falle Spiegelbergs: Getrieben von machtpolitischen Ambitionen, erweist sich sein individueller Männlichkeitsentwurf mit den bündnisinternen Regeln als inkompatibel. Wo männliches Machtstreben sich ungezügelt entwickelt, so suggeriert der Text, richtet es sich in seinem zerstörerischen Potenzial gegen den Initiator. Die Dramatik des individuell männlichen Scheiterns trägt dabei entscheidend zur Dramatik des Gesamttextes bei, worin in Schillers Die Räuber das Faszinationspotenzial für eine genderorientierte Analyse liegt.
272
5.
Textanalyse der Männlichkeitsentwürfe in ausgewählten italienischen Dramentexten
5.1
Methodologische Vorbemerkungen
Die Analyse eines Librettos als Dramentext verlangt eine besondere Bemerkung: Die Gattungsbezeichnung ›Libretto‹ wird, wie bereits in der Einleitung dargelegt, als ›dramatischer Text‹ verstanden. Die vorliegende Arbeit wendet sich daher den literarischen Aspekten der dramatischen Gattung ›Libretto‹ zu,1 wobei die folgenden konstituierenden Elemente der verschiedenen Libretti in die Analyse einfließen sollen: Haupt- und Nebentext, dramatische Progression, dem Nebentext entnehmbare szenische Anweisungen sowie personalstrukturierende Informationen aus dem Figurentableau zu Beginn des Librettos. Anhand dieser Elemente, die für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit entscheidend sind, wird die Analogie zum Analyseverfahren der Dramentexte in Kapitel 4 deutlich. Gemäß der von Albert Gier beschriebenen Forschungspositionen folgt die vorliegende Arbeit der Tradition einer deskriptiven Librettoforschung. Gier definiert im Anschluss näher: Sie [die deskriptive Librettoforschung, M.B.] kann zum einen komparatistisch vorgehen, d. h. einen Operntext mit seiner unmittelbaren literarischen Vorlage, oder auch mehrere thematisch verwandte Libretti untereinander vergleichen […]. Die Alternative zu dieser Arbeitsweise stellt eine sozial- und mentalitätengeschichtlich ausgerichtete Forschung dar: Sie vermittelt Einsichten, die für eine geschichtliche Betrachtung des Gegenstandes, und damit für eine allgemeine Kultur- und Ideologiegeschichte, von herausragender Bedeutung sind.2
Durch den Vergleich verschiedener, zeitnah entstandener Libretti Mozart/Da Pontes sowie durch die Zentrierung der Analyse auf die Untersuchung der in den Texten vorhandenen Männlichkeitsentwürfe verfolgt die Arbeit das Ziel einer Synthese der beiden bei Gier geschilderten Aspekte. Ausdrücklich ausgenommen aus der Textanalyse sind sämtliche Bereiche der musikwissenschaftlichen Aspekte zu den Themengebieten Gesang, Oper, Partitur etc., die den Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Analyse sprengen würden. Aus diesem Grund bleiben auch die verschiedenen Inszenierungsarten der entsprechenden Opern – wie auch in Kapitel 4 die Inszenierungsarten der Dramen – von der Analyse ausgeschlossen. Dennoch soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass ein Inszenierungsvergleich zweifelsohne weiterführende Erkenntnisse zum Umgang mit den im Libretto angelegten 1
2
Vgl. Gier: Das Libretto, S. 3ff. sowie Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin 2000. Darin: Eintrag »Libretto«, S. 417f. Gier (Hg.): Oper als Text. Romanistische Beiträge zur Libretto-Forschung. Heidelberg 1986, S. 11.
273
Männlichkeitsentwürfen liefern kann. Dieses Vorhaben wäre allerdings aufgrund des Aufbrechens einer literaturwissenschaftlichen Perspektive Thema einer separaten Untersuchung. Die vorliegende Arbeit fragt folglich nicht nach den szenischen Umsetzungsmechanismen, sondern vielmehr nach dem literarischen Potenzial, das ihnen zugrunde liegt. Dass die Texte Mozart/Da Pontes dieses Potenzial in hohem Maße kennzeichnet, beweisen nicht zuletzt die zahlreichen und zum Teil sehr unterschiedlichen Inszenierungen der vergangenen Jahrzehnte. Das letztgenannte Argument stellt einen entscheidenden Impuls in der Frage nach der Auswahl der zu analysierenden Texte dar. Forschungen, die sich den Libretti Mozart/Da Pontes widmen, sind innerhalb der Italianistik noch immer deutlich unterrepräsentiert. Diese Tatsache wird dann besonders deutlich, wenn ein Vergleich zu der intensiven Forschungsarbeit angestellt wird, mit der sich die Literaturwissenschaft italienischen Autoren des betreffenden Zeitraums, wie Carlo Goldoni oder Vittorio Alfieri, widmet. Dabei weisen die Texte Mozart/Da Pontes eine bemerkenswerte literarische Qualität – und, im Hinblick auf die vorliegende Arbeit – insbesondere einen subtilen Umgang mit Männlichkeitsentwürfen auf, wie in der anschließenden Analyse gezeigt werden soll. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Da Ponte selbstverständlich die entscheidende Position mit Bezug auf die Arbeit am Text zukommt. Dennoch wird Mozart als ›Autor‹ jeweils gemeinsam mit Da Ponte genannt, da der Einfluss auf den Librettisten in der Mozart-Forschung inzwischen als unbestreitbar gilt.3 Aus den genannten Gründen werden die Libretti Mozart/Da Pontes als literarischdramatische Texte zum Untersuchungsgegenstand der Analyse von Männlichkeitsentwürfen in italienischen Dramentexten des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
5.2
Wolfgang Amadeus Mozarts/Lorenzo Da Pontes Le Nozze di Figaro4
5.2.1 Schwerpunkte der Analyse Die Einzelanalyse wird sich auf die Männlichkeitsentwürfe des Grafen, Figaros und Cherubinos konzentrieren, da auf die anderen männlichen Figuren ein vergleichsweise geringer Anteil in Haupt- und Nebentext im Verhältnis zum relativ umfassenden Gesamttext ausfällt. Le Nozze di Figaro wird quantitativ sehr stark durch die drei erstgenannten Figuren dominiert. In diesem Zusammenhang sind zwei andere Aspekte interessant, die sich aus der Figurenkonstellation ergeben: Erstens weist die geschlechterspezifische Gegenüberstellung zu Beginn des Textes ein deutliches männliches Übergewicht auf. Eine der entscheidenden Fragen, die es folglich zu klä3
4
Stellvertretend werden hier folgende Texte genannt: Frits Noske: The Signifier and the Signified. Studies in the Operas of Mozart and Verdi. The Hague 1977, Stefan Kunze: Il teatro di Mozart. Dalla finta semplice al flauto magico. Venezia 1990 und Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe. Frankfurt am Main 2005. Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: Wolfgang Amadeus Mozart: Le Nozze di Figaro. KV 492. Text von Lorenzo da Ponte. Stuttgart 2002. Im Folgenden zitiert als Sigle: LNdF, Seitenzahl.
274
ren gilt, ist, ob (und wenn ja, wie) Le Nozze di Figaro als dezidiert ›männlich‹ dominierter Text das Übergewicht männlicher Figuren in der Figurenkonstellation auch in der Problematisierung der entsprechenden Männlichkeitsentwürfe beinhaltet. Zweitens wird zu ermitteln sein, inwiefern sich in einem Text, der eine Vielzahl männlicher Figuren umfasst, aus den individuellen Kennzeichnungen der ›Männlichkeit‹ gruppenspezifische Repräsentationsformen ableiten lassen. Der Graf von Almaviva steht gemäß der Struktur einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft an der Spitze der Hierarchie. Er ist – wie Figaro in IV/6 verdeutlicht – ein ›Feudalherr‹, ›feudal signor‹ (LNdF 162), und damit sowohl gegenüber Figaro als auch Cherubino weisungsberechtigt, wobei sich sein Einflussbereich auch auf Figuren, die nicht ständig in seiner direkten Umgebung verkehren – beispielsweise auf Don Curzio – ausdehnt. Die von ihm direkt abhängigen Figuren, insbesondere Figaro und Cherubino, sind aufgrund ihrer Funktionen innerhalb der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft untereinander bekannt, da sie als Diener und Page entweder direkt im Haus des Grafen oder in der Umgebung davon arbeiten. Sie teilen darüber hinaus ein weiteres entscheidendes Kennzeichen: Allen ist zumindest theoretisch die Möglichkeit gegeben, Zutritt zu der intimen Wohn- und Aufenthaltssphäre des Grafen zu haben. Die Durchlässigkeit zwischen Beruf und Privatleben – oder, anders formuliert, zwischen Öffentlichkeit und Intimität – gestaltet sich doppelseitig: Auch der Graf wechselt kontinuierlich zwischen den Ebenen. Das Grundkonfliktpotenzial der männlichen Figuren des Textes ergibt sich aus der Überlagerung beider Sphären. Daraus resultiert, dass der Schutz von Intimität einen wichtigen Vergleichspunkt darstellt, an dem sich die unterschiedlichen Männlichkeitsentwürfe messen lassen müssen. Die Beziehung zwischen dem Grafen und Figaro steht unter dem Einfluss dieser Spannungen und hebt den versuchten Übergriff auf die Privatsphäre Figaros durch den Grafen sowie den beabsichtigten Umsturz des stratifikatorisch differenzierten Systems durch Figaro kontrapunktartig hervor. Figaro reflektiert die Konstellationsmechanismen zwischen Herr und Diener. Dabei fällt auf, dass er als Dienerfigur ein für die Texte Mozart/Da Pontes charakteristisches Merkmal eines breiten Coderepertoires aufweist, das es ihm erlaubt, sowohl mit spezifischen Codierungen der Dienerschaft als auch mit Codebruchstücken hierarchisch übergeordneter Instanzen zu agieren. Die Einzelanalyse wird diesen Aspekt genauer aufgreifen. Komplizierter gestaltet sich die Beziehung zwischen dem Grafen und Cherubino: Dabei ist es der Page, der in die vom Grafen beanspruchte Entscheidungshoheit im Bereich der amourösen Beziehungen eingreift und dadurch zahlreiche Missverständnisse hervorruft, die das buffoneske Potenzial des Textes entscheidend prägen. Cherubino partizipiert an verschiedenen Konstellationen mit männlicher Beteiligung und eröffnet durch eine Reihe seiner amourösen Verwirrungen ein Forschungsinteresse an den Bereichen der Überschneidung von ›Männlichkeit‹ und den Konzepten androgyner bzw. effeminierter Männlichkeitsentwürfe. Im Bereich der Interaktion zwischen männlichen und weiblichen Figuren lässt sich eine Struktur herausarbeiten, die die Form einer ›Liebeskette‹ (›chaîne amoureuse‹) aufweist: Die Gräfin von Almaviva liebt und begehrt den Grafen von Almaviva, der wiederum Susanna begehrt. Susanna ihrerseits liebt Figaro, den sie heiraten 275
will. Passionierte Liebe und Liebe als Verführungsspiel verbinden die einzelnen Glieder der Kette untereinander. Eine weitere Instanz innerhalb der zwischengeschlechtlichen Beziehungen geht von Cherubino aus, der im Zustand sexueller Verwirrung und Unentschlossenheit mal zu Susanna, mal zur Gräfin und schließlich auch zu weiteren Figuren (z. B. Barbarina) tendiert; eine Tatsache, die schließlich entscheidende Zweifel an seiner Beständigkeit hervorruft. Cherubino treibt dadurch die sexuelle Unordnung in Le Nozze di Figaro zu einem Höhepunkt, der jedoch auch durch das facettenreiche Auftreten der weiteren männlichen Figuren gestützt wird. Die Einzelanalyse der Männlichkeitsentwürfe beginnt mit dem Grafen von Almaviva und nimmt danach in weiteren Einzeletappen Figaro und Cherubino auf. 5.2.2 Graf von Almaviva »Marito moderno«: zwischen Libertin und Ehemann Der Graf von Almaviva ist im Hinblick auf seinen Anteil am Haupttext neben Figaro die entscheidende männliche Figur in Mozart/Da Pontes Libretto. Der Grad seiner elektiven Entropie ist ausgesprochen niedrig, da die Summe der Einstellungen der anderen Figuren ihm gegenüber (Susannas, Figaros, der Gräfin, Cherubinos und – weniger stark ausgeprägt – auch Don Bartolos) ihn beinahe einhellig als einen seinen Trieben verfallenen Aristokraten kennzeichnen. Manfred Pfister folgend, deutet diese Tatsache auf eine konfliktträchtige Situation hin, die den Grafen umgibt.5 In der Tat versucht Susanna, seinen Annäherungsbemühungen zu entkommen und verbündet sich im zweiten Akt mit Figaro und der Gräfin, um den Grafen durch List endgültig als treuelosen Lüstling zu entlarven. Figaro sieht in ihm als Nebenbuhler eine reale Bedrohung seiner bevorstehenden Heirat, die Gräfin leidet unter seiner Eifersucht und seinen amourösen Eskapaden, Cherubino hat Angst vor ihm, und Don Bartolo muss erkennen, dass er seinen Anspruch, als Rechtsbeistand Marcellinas zu handeln, nur durch Billigung des Grafen geltend machen kann und außerdem – wie in III/6 deutlich wird – das Wohl des eigenen (wiedergefundenen) familiären Glücks eindeutig über die Ehrfurcht vor dem Territorialfürsten stellt. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt des Textes lässt sich daher feststellen, dass die den Grafen umgebende Situation kaum konfliktträchtiger sein könnte; an allen kritischen Situationen der Figurenkonstellation ist er zumindest partiell beteiligt. Sein Männlichkeitsentwurf steht aus diesem Grund vor der Herausforderung, sich in einer Vielzahl von eigen- oder fremdverschuldeten Konflikten zu bewähren, die im Wesentlichen zwei großen Kategorien zugeordnet werden können: zum einen Konflikten im Bereich der Macht- und Dominanzbeziehungen sowie zum anderen Konflikten auf der emotionalen Ebene. Um herauszufinden, ob und wie ihm dies im Einzelnen gelingt, soll der Graf zunächst in die Hierarchie der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft eingeordnet werden, an deren Spitze er steht. Er weist klare Kennzeichen auf, die es erlauben, ihn der Gruppe der so genannten ›Gentry‹, einer 5
Vgl. Pfister: Das Drama, S. 233.
276
vermögenden Gruppe Menschen nobler Herkunft, zuzuordnen. Als offensichtlich wohlhabender Adliger logiert er auf einem Schloss und unterhält sich einen umfangreichen Bedienstetenapparat sowie ein eigenes Regiment. Darüber hinaus beansprucht er – wie die Szene II/11 verdeutlicht – die Hoheit über die Rechtssprechung auf seinen Ländereien. Drei Aspekte des Lebenswandels, die im Text mehrfach herausgearbeitet werden, weisen ihn zusätzlich als vermögenden Herrscher in einem Gebilde aus, das sich auf dem Weg zum Territorialstaat befindet: die Organisation glanzvoller Feste, die Beanspruchung und Durchführung der Jagd als Freizeitaktivität und die im Text sehr differenziert behandelte Diskussion um das vor allem den Land besitzenden Adligen zugeschriebene ›Recht der ersten Nacht‹ (›Ius primae noctis‹). Sowohl die auf materiellen Besitz ausgerichteten Charakteristika als auch die sexuellen Ansprüche des Grafen sollen im Folgenden genauer als Grundlage seines männlichen Selbstverständnisses herausgearbeitet werden. Elemente der Fremdcharakteristik, wie sie beispielsweise von der Gräfin in II/1 Susanna gegenüber geäußert werden, stellen die Liebesauffassung des Grafen in die Tradition der Libertinage, der ›amour séduction‹, die allerdings eine im Hinblick auf das ausgehende 18. Jahrhundert moderne Erweiterung erfährt: La Contessa:
Come lo sono I moderni mariti: per sistema Infedeli, per genio capricciosi, E per orgoglio poi tutti gelosi. (LNdF 54)
Nun, wie sie eben so sind, die Ehemänner von heute: prinzipiell untreu, von Natur launisch und aus Stolz dann alle eifersüchtig.
Die Gräfin spricht dabei nicht von ›modernen Verführern‹, sondern von ›modernen Ehemännern‹. Die Assoziationen ›Untreue‹ und ›Stolz‹ knüpfen an die Tradition der Libertinage an; wohingegen Eifersucht auf einen Umbruch innerhalb der tradierten Formen der ›amour séduction‹ hindeutet, da durch den Affekt der Eifersucht vorausgesetzt wird, die Liebe entgegen der Regeln der Verführungskunst nicht ausschließlich als Spiel aufzufassen. In dieser Deutungsweise projiziert die Gräfin bereits Elemente der ›amour passion‹ auf den amourösen Habitus des Grafen. Die Schwierigkeiten der Zuweisung des Grafen von Almaviva zu einer der beiden angeführten Liebesauffassungen spiegelt sich auch in der Forschung zu Le Nozze di Figaro wider: Während Elena Sala di Felice und Renato di Benedetto in ihrer Einschätzung zu dem Ergebnis gelangen, den Grafen als (prä)romantischen, passionierten Liebenden auszuweisen: »[…] l’interesse per la cameriera non è più, qui, frutto né della prepotenza feudale, né del cuore corrotto«,6 widerspricht Frits Noske dieser Auffassung: It is not so much erotic passion which carries him to the lady’s maid as the urge to convince himself of his unlimited feudal power. The third-act duet seems to contradict this explanation. There he looks across the boundaries of his social domain and recognizes Susanna as a human being. His words, although derived from the conventional amorous vocabulary,
6
Elena Sala di Felice, Renato di Benedetto: L’aria del Conte nelle »Nozze di Figaro«. In: E. Sala di Felice, Laura Sannia Nowé (Hg.): La cultura fra Sei e Settecento. Modena 1994, S. 212.
277
clearly spring from his heart. However this human tone […] is an exception to the rule. When in the fourth-act finale, he believes the difficulties have vanished, he is once more again in his usual attitude. Susanna is merely the object of a frivolous affair.7
Die kontrovers diskutierte Frage über die Liebeskodifikation des Grafen, die für die Analyse seines Männlichkeitsentwurfes nicht unerheblich ist, wird im Folgenden noch genauer zu erläutern sein. Die Klassifikation des Grafen von Almaviva als adeliger Grundherr impliziert für ihn und damit für seinen Männlichkeitsentwurf eine Spaltung der Kompetenz- und Handlungsspielräume: Während er innerhalb seines Herrschaftsbereiches praktisch absolut herrscht und keine nebengeschaltete Kontrollinstanz zu beachten braucht, ist er dem König gegenüber zu Gehorsam und diplomatischen Dienstleistungen verpflichtet, wie sich in I/6 zeigt: Il Conte:
Due parole. Tu sai Che ambasciatore a Londra Il re mi dichiarò; di condur meco Figaro destinai. (LNdF 34)
Nur zwei Worte. Du weißt, dass mich zum Gesandten in London der König ernannt hat; begleiten soll mich Figaro, so hab ich’s beschlossen.
Im Gegensatz zu Don Giovanni befindet sich der Graf von Almaviva folglich in einer politisch-gesellschaftlich eingeschränkt hegemonialen Position: Er handelt in dem Bewusstsein, Befehle auszuführen und zu erteilen. Interessant ist zu sehen, wie er die Hegemonie in seinem Herrschaftsbereich auch unter gleichzeitiger Erfüllung seiner Pflichten gegenüber dem König zu seinem persönlichen Vorteil zu gestalten bemüht ist. Indem – wie durch das vorangegangene Zitat deutlich wird – der Graf als Diplomat ins Ausland reisen soll, würde er innerhalb der Grundherrschaft, in der er absolute Macht beansprucht, verschiedene Kontrollmechanismen einbüßen. Die Zielsetzungen des Grafen, die sich aus der Figurenkonstellation ergeben, können wie folgt zusammengefasst werden: Damit er seine Absicht, Susanna zu verführen, verwirklichen kann, bemüht er sich zunächst, die Hochzeit Figaros und Susannas zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Während – wie im folgenden Abschnitt noch zu zeigen sein wird – Figaro stets bemüht ist, die Hochzeitsprozesse zu beschleunigen, beabsichtigt der Graf, Zeit zu gewinnen. Folglich steht sein Männlichkeitsentwurf – nach Kilians Argumentation – unter dem Zeichen der Kontinuität, währenddessen Figaro die Ebene der Kohärenz bedienen würde.8 Der Versuch, Figaro und Susanna zu isolieren, wird durch eine gegen Figaro lancierte Intrige unter Einbezug Marcellinas unterstützt. Ein weiteres Ziel des Grafen, das sich nicht zwingend aus der Ausgangskonstellation, sondern erst in der dramatischen Handlungsentwicklung herleitet, ist die Entfernung Cherubinos aus der unmittelbaren Nähe der Gräfin und Susannas. Mehrfach weist der Graf darauf hin, dass Cherubino kein »unschuldiger Knabe« mehr sei: 7
8
Noske: The Signifier and the Signified, S. 23. Dieser These schließt sich auch Gier an. Vgl. Gier: Cherubinos Haube. Eine Randbemerkung zur Dramaturgie von Text und Szene in der Oper. In: Beate Hiltner-Hennenberg (Hg.): Musik + Dramaturgie. 15 Studien. Fritz Hennenberg zum 65. Geburtstag. Frankfurt am Main 1997, S. 37. Vgl. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78.
278
Susanna: Egli è ancora fanciullo! Il Conte: Men di quel che tu credi. Il Conte: (LNdF 50)
Er ist doch noch ein Kind! Weniger, als Du glaubst.
Wichtiger als diese konkrete Formulierung ist der Gedanke der Rivalität, den der Graf dabei äußert: Cherubino nimmt er nicht nur – im Gegensatz zu Figaro – explizit als amourösen Konkurrenten im Werben um Susanna wahr, sondern auch als Gefahr für die Ehre der Gräfin und somit implizit auch für seine eigene Ehre. Auf die sich daraus entwickelnden Implikationen für Cherubino soll in Abschnitt 5.2.4 genauer eingegangen werden. Die genannten Zielsetzungen des Grafen, die er von sich nicht nur als Grundherr, sondern auch als nach Hegemonie strebender ›Mann‹ verlangt, werden im Anschluss auf ihre Erfüllung hin überprüft. Durch die Entscheidung, Figaro als Diener mitzunehmen, lässt sich – wie bereits angedeutet – aus Sicht des Grafen der Vollzug der Heirat zwischen Figaro und Susanna verzögern. Damit hofft er, zwei Teilziele zu erreichen, wobei sich das erste aus dem zweiten ableitet: Aufrechterhaltung seines Macht- und Entscheidungsanspruchs als Herrscher über seine Ländereien und somit der politisch-gesellschaftlichen Hierarchie sowie der mögliche Vollzug des ›Rechts der ersten Nacht‹ mit Susanna anstelle Figaros. Es mag überraschen, dass im Folgenden auf den Versuch, an diese Tradition anzuknüpfen, eine differenziertere Analyse ausfällt. Jedoch resultiert der Grundkonflikt innerhalb der Dreieckskonstellation Figaro-Susanna-Graf und somit einer der zentralen Konflikte des gesamten Textes aus diesem dem Adel nachgesagten Anspruch, der – obwohl er im Text nicht vollzogen wird – die geplante Heirat Figaros und Susannas zu gefährden droht. Es soll versucht werden zu zeigen, welchen wechselseitigen Einfluss das Bestreben der Verführung Susannas und der Männlichkeitsentwurf des Grafen aufweisen. Aus Sicht des Grafen ist dabei zu klären, inwiefern der Anspruch auf das ›Recht der ersten Nacht‹ eher aus Begierde gegenüber Susanna und damit aus seiner weitgehend unkontrollierten sexuellen Libido oder aus dem Bedürfnis entsteht, männliche Dominanz und Hegemonie gegenüber dem eigentlichen Bräutigam, Figaro, auszuüben. In der Klärung dieser Frage soll zunächst die zweite Interpretationsmöglichkeit kritisch hinterfragt werden: Jörg Wettlaufer definiert den Begriff ›Ius primae noctis‹ in einem weitgefassten Ansatz als »das Vorrecht eines Mannes, mit einer Frau von einem eigentlichen Ehemann den ersten Geschlechtsverkehr zu vollziehen.«9 Wettlaufer deutet den Anspruch auf den Vollzug des ›Rechts der ersten Nacht‹ vor allem unter machtpolitischen Gesichtspunkten: Das entscheidende Moment liegt dabei in der Idee des Vorrechts gegenüber dem Ehemann. Durch die enge Koppelung von weiblicher Sexualität an das gesellschaftliche Institut der Ehe besitzt in vielen Kulturen der Ehemann den ausschließlichen Anspruch auf den sexuellen Verkehr mit seiner Ehefrau. Eine Negierung dieser Regel durch das einmalige Recht eines anderen, zumeist sozial höher gestellten und mächtigeren Mannes auf den ersten Beischlaf mit der neu verheirateten Frau wurde deshalb häufig als despotisch oder tyrannisch empfunden und diente zur Charakterisierung einer solchen Herrschaftsform.10 9 10
Wettlaufer: Das Herrenrecht der ersten Nacht, S. 11f. Wettlaufer: Das Herrenrecht der ersten Nacht, S. 11f.
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Gestützt wird die von Wettlaufer vorgeschlagene Deutungsweise als Element der Machtdemonstration, im vorliegenden Fall gegenüber Figaro als Ehemann in spe, insbesondere durch die Monologe im dritten Akt. In III/1 lässt sich – der Argumentation Daniela Goldins folgend – der elliptische Nominalstil, mit dem der Graf die turbulenten Ereignisse des zweiten Aktes reflektiert, als Ausdruck seiner Verunsicherung deuten: […] è una rassegna di fatti, ellittica ed emblematica – poiché essi sono evocati di scorcio da un’immagine significante –, che nella sua sinteticità e varietà rende il disagio di un personaggio confuso dall’inventività dei servi.11
Die Szene III/4 zeigt den Grafen nicht nur als liebesdurstigen, temperamentvollen Südeuropäer, sondern vielmehr als verbitterten Herrscher, der sich eingestehen muss aber nicht will, dass ein Anderer an seiner Stelle die Liebesgunst Susannas erhalten soll: Il Conte:
Vedrò mentre io sospiro, Felice un servo mio! E un ben che invan desio, Ei posseder dovrà? Vedrò per man d’amore Unita a un vile oggetto Chi in me destò un affetto Che per me poi non ha? Ah no, lasciarti in pace, Non vo’ questo contento (LNdF 120)
Soll ich unter Qualen mitansehn, dass einer meiner Diener glücklich wird? Und ein Gut, das ich vergeblich erstrebe, soll er besitzen? Soll ich mitansehn, dass aus Liebeshand eine an jemand Nichtswürdigen sich bindet, die in mir eine Neigung weckte, welche sie für mich nicht fühlt? O nein, dich in Frieden lassen, diese Genugtuung sollst du nicht haben.
Die Position des Grafen zeigt deutliche Aspekte der Verknüpfung von Standes- und Machtbewusstsein in seinem Männlichkeitsentwurf. In der Gegenüberstellung seiner (unglücklichen, da unerfüllten) amourösen Situation und des entsprechenden Glücks seines Dieners (»servo mio«) offenbart er ein tiefgreifendes Selbstverständnis der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft: Nicht zufällig spricht er über Susanna als »ein Begehren« (»un desio«), das ein Anderer an seiner Stelle »besitzen werde« (»posseder dovrà«). Die amouröse Eroberung gleicht aus seiner Sicht einer Eroberungstrophäe und ist Ausdruck und Schmuck eines Männlichkeitsentwurfes, der sich seiner gesellschaftlichen Überlegenheit bewusst ist. Diese Schlussfolgerung würde Figaro aufgrund seiner Nichtzugehörigkeit, der Exklusion aus der hierarchisch dominanten Gesellschaftsschicht, die Fähigkeit zu amourösen Eroberungen versagen. Jedoch ist es gerade das Gegenteil, das der Graf befürchtet und vor allem nicht nachvollziehen kann: Als »unehrbares Ding« (»vile oggetto«) bezeichnet er Figaro und stellt damit seine an Standesbewusstsein, Herkunft, Besitz und Ehre gebundene Definition von ›Männlichkeit‹ dem aus seiner Sicht einfachen, unrühmlichen Männlichkeitsentwurf Figaros gegenüber. Die Enttäuschung darüber, dass Susanna »durch Liebe« (»per man d’amore«) den gesellschafshierarchisch untergeordneten 11
Daniela Goldin: La vera fenice. Librettisti e libretti tra Sette e Ottocento. Torino 1985, S. 131.
280
Figaro ihm vorzieht,12 rufen im Grafen zuerst Unverständnis und später Trotz und somit das Ziel hervor, mittels seiner soziokulturellen Position Figaro diese Genugtuung zu verwehren (»ah no, lasciarti in pace, non vo’ questo contento«). Als Teilschlussfolgerung kann an dieser Stelle formuliert werden, dass die von Wettlaufer angedeutete Korrelation zwischen einem dem Adel zugeschriebenen ›Recht der ersten Nacht‹ und der Dominanz von Macht gegenüber dem eigentlichen Ehemann im Falle des Grafen anhand der Szene III/4 Anspruch auf Gültigkeit besitzt. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass das Bestreben des Grafen nicht dezidiert auf das ›Recht der ersten Nacht‹, sondern auf die allgemeine Gelegenheit abzielt, Susanna im sexuell-amourösen Sinn zu besitzen und zu verführen. Darüber hinaus muss festgestellt werden, dass dies keinesfalls die erste Situation innerhalb des Textes darstellt, in der die Triebhaftigkeit des Grafen im sexuellen Bereich explizit erwähnt wird. Bereits in I/1 stellt Susanna im Gespräch mit Figaro eine Analogie zwischen dem feudalen Vorrecht der Jagd im Wald und der Jagd im Sinne einer amourösen Eroberungsstrategie her: Susanna:
Il Signor Conte, Stanco di andar cacciando le straniere Bellezze forestiere, Vuole ancor nel castello Ritentar la sua sorte, Nè già di sua consorte, bada bene, Appetito gli viene … (LNdF 18)
Der Herr Graf hat genug von der Jagd im Wald nach fremden Schönen; im Schloss will er noch einmal sein Glück versuchen, doch nicht auf seine Gemahlin, verstehst du, hat er Lust bekommen …
Noch findet sich in der Fremdcharakteristik des Grafen kein eindeutiges Anzeichen auf ein ›Recht der ersten Nacht‹, wohl aber auf Kennzeichen der Libertinage: Die Jagd endet bekanntlich im günstigsten Fall mit der Präsentation einer entsprechenden Trophäe des Jagderfolges. Übertragen auf die erotischen Eroberungen offenbart Susannas Einschätzung des Grafen sein donjuaneskes Potenzial des Verführers, der auf der Jagd nach neuen ›Trophäen‹, getrieben von immer neuen Herausforderungen, nach amouröser Momenthaftigkeit strebt und Stabilität ablehnt. Das ist für die Fremdeinschätzung des Männlichkeitsentwurfes des Grafen von entscheidender Bedeutung. In Eveline Kilians Darstellung ließe sich – ähnlich wie im Falle Don Giovannis – der damit verbundene Männlichkeitsentwurf durch Anstreben der Kategorie ›Kohärenz‹ und gleichzeitige Ablehnung der Kategorie ›Kontinuität‹ beschreiben.13 Das ›Recht der ersten Nacht‹ wird als eindeutig rekonstruierbares Thema zuerst als Spekulation Susannas in den Text eingeführt: 12 13
Vgl. Sala di Felice, di Benedetto: L’aria del Conte nelle »Nozze di Figaro«, S. 215. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78. Der Vergleich des Männlichkeitsentwurfes des Grafen von Almaviva mit dem Don Giovannis ist in der Forschung umstritten. Vgl. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 71. Dennoch ist er aufgrund ähnlicher sozialer Positionen und wiederholter Parallelen im Liebeswerben durchaus zulässig und zeigt, dass beide Figuren letztlich immer wieder vor einem ähnlichen Problem stehen: der Wahrung ihres Machtanspruches gegenüber der Umwelt, die sich – in beiden Fällen – vor allem in ihrem amourösen Handlungsspielraum widerspiegelt.
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Susanna:
Ei la destina Per ottener da me certe mezz’ore … Che il diritto feudale … Figaro: Come? Ne’ feudi suoi Non l’ha il Conte abolito? Susanna: Ebben; ora è pentito, e par che tenti Riscattarlo da me. (LNdF 20)
Nein, er setzt sie aus, um von mir gewisse halbe Stündchen zu erlangen …, die das Feudalrecht … Wie denn? Hat es der Graf auf seinen Ländereien nicht abgeschafft? Schon, schon, aber jetzt reut es ihn, und wie’s scheint, versucht er es bei mir sich wieder zu verschaffen.
In dem kurzen Dialog werden zwei Aspekte deutlich. Zum einen wird der Graf bereits zu Beginn des Textes (in I/1) im Zusammenhang mit dem ›Recht der ersten Nacht‹ von einer fremden Perspektive aus charakterisiert, zum anderen verdeutlicht der Textauszug die Unklarheiten über das Verhalten des Grafen mit Bezug auf das von Susanna angesprochene ›diritto feudale‹. Die Figurenrede in I/8 bestätigt das: Figaro:
[…] or che aboliste Un diritto sì ingrato a chi ben ama … Il Conte: Quel diritto or non v’è più; cosa si brama? […] Ma non merto per questo Nè tributi, nè lodi; è un diritto ingiusto Ne’ miei feudi abolendo, A natura, al dover lor diritti io rendo. (LNdF 46ff.)
[…] jetzt, da Ihr ein Recht abgeschafft habt, das so widerwärtig ist für den, der aufrichtig liebt … Dieses Recht existiert jetzt nicht mehr, was wünscht man? […] Aber deshalb verdiene ich weder Tribut noch Lob; indem ich ein ungerechtes Recht auf meinen Ländereien abschaffe, gebe ich nur der Natur, der Pflicht ihre Rechte zurück.
Dabei ist entscheidend, dass der Graf an dieser Stelle gegenüber einer breiten Öffentlichkeit spricht. Allerdings lässt sich seine deutliche Ablehnung des Anspruchs auf das ›Recht der ersten Nacht‹ nicht auf die Verführungsabsicht Susannas übertragen, was in der Szene I/6 erkennbar wird, in der sich der Graf in einem Bereich der Intimität an Susanna wendet. Verschiedene Elemente der verbalen und nonverbalen Kommunikation des Grafen deuten auf eine konkrete Verführungsabsicht gegenüber Susanna hin: Im Nebentext weisen Mozart/Da Ponte wiederholt auf eine ausdrückliche Körperlichkeit hin, die von Seiten des Grafen ausgeht: (si mette a sedere sulla sedia, prende Susanna per la mano): Un momento, e ti lascio, Odi. Susanna (si distacca con forza): Non odo nulla. […] Il Conte (con tenerezza, e tentando di riprenderle la mano): Finchè tu vivi Chiedi, imponi, prescrivi. (LNdF 34) Il Conte
(will sich auf den Sessel setzen, nimmt Susanna bei der Hand) Einen Augenblick nur, dann lass ich dich, hör zu. (macht sich gewaltsam los) Ich will nichts hören. […] (zärtlich, während er wieder nach ihrer Hand greift) Solange du lebst, fordere, gebiete, befiehl mir.
Wiederholt sucht der Graf in der Szene die körperliche Nähe und bedrängt die Dienerin; wiederholt macht sich Susanna ihrerseits frei davon. Grund dafür ist die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung des Grafen: Während Susanna ihn mehrfach als Verführer charakterisiert, erfährt diese Kennzeichnung in I/6 eine 282
nicht unwichtige Korrektur: Obwohl der amouröse Thesaurus des Grafen: »mia cara«, »io ti vo’ far felice«, »tu ben sai quanto io ti amo« (LNdF 34ff.) mit Schmeicheleien, Versprechungen und Liebesbekenntnissen noch zentrale Attribute einer Sprache der Verführung aufweist, vollzieht sich darin eine Änderung mit Bezug auf das ›Opfer‹ der Verführung. Der entscheidende Bruch mit dem Anspruch auf die tradierte Version des ›Rechts der ersten Nacht‹ findet sich im Angebot des Grafen, Susannas Liebesgunst nicht einzufordern, sondern dafür bezahlen zu wollen: Il Conte:
[…] Se per pochi momenti Meco in giardin sull’imbrunir del giorno … Ah per questo favore io pagherei … (LNdF 36)
[…] Wenn du einige Augenblicke mit mir im Garten bei Einbruch der Dunkelheit … Oh, für diese Gunst würde ich bezahlen …
Die in Aussicht gestellte Bezahlung und die Bitte – nicht Forderung – darum stellt Susanna und den Grafen als Partner in einem Kauf- und Dienstleistungsvertrag in Aussicht. Festzuhalten bleibt aus diesem Grund Folgendes: Der Graf hat – und er befindet sich dabei nicht im Widerspruch zu seinen Äußerungen gegenüber der Öffentlichkeit – mit Susanna reale Verführungsabsichten; er strebt nach sexueller Lustbefriedigung, die er allerdings nicht durch auf dem Feudalrecht beruhenden Bräuchen, sondern unter Einwilligung Susannas zu erreichen hofft. Die These Wettlaufers lässt sich aus diesem Grund für den Grafen in Le Nozze di Figaro nicht durchgängig aufrechterhalten: Nicht Macht ist sein vordergründiges Ziel, sondern vor allem die Befriedigung bzw. Erfüllung sexueller Desiderate. Die Erklärung, das ›Recht der ersten Nacht‹ abgeschafft zu haben, ist folglich durchaus nachvollziehbar und kann sich von dem Verdacht der Scheinheiligkeit befreien. Der Graf bittet um die Gunst des Liebesdienstes (»questo favore«), und bietet Bezahlung statt Zwang an. Den Anspruch auf das Feudalrecht der ersten Nacht gibt er zugunsten einer käuflichen Liebe auf. Im Rekurs auf die von Esther Vilar vertretenen interessanten Thesen zur Verbindung von ›Männlichkeit‹ und Polygamie besetzt der Graf von Almaviva eine Position zwischen ›sukzessivem‹ und ›sporadischen‹ Polygamiebedürfnis, wobei Vilar ›sukzessive Polygamie‹ als Form der Polygamie definiert, bei der »Phasen der Polygamie mit solchen der Monogamie« wechseln, »wobei der Rhythmus des Wechsels in direktem Verhältnis zu dem Vermögen steht, das er [der Mann, M.B.] für Frauen ausgeben kann«.14 Die finanziellen Möglichkeiten des Grafen erlauben die gleichzeitige finanzielle Versorgung der Gräfin sowie Susannas. Die finanzielle Offerte an die Kammerdienerin sprengt jedoch den Rahmen der ›sukzessiven Polygamie‹ und verweist auf eine Form der Vielweiberei, die Vilar als ›sporadische Polygamie‹ klassifiziert, bei der sie zwischen Promiskuität – der Beziehung zu »Frauen, die nicht zu haben sind« – und Prostitution – der Beziehung zu »Frauen, die jeder haben kann« – unterscheidet.15 Nicht zu haben ist Susanna deshalb für den Grafen, da er das ›Recht 14 15
Vilar: Der dressierte Mann, S. 173. Vilar: Der dressierte Mann, S. 177.
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der ersten Nacht‹ außer Kraft gesetzt hat und somit keinen juristischen Anspruch auf die Braut eines Anderen mehr geltend machen kann. Als Frau, die jeder haben kann, wird sie durch sein finanzielles Angebot zur Prostituierten. Die Frage, weshalb er diese Strategie wählt, kann nur in folgendem größeren Zusammenhang beantwortet werden: Um die bislang diskutierten Themenkomplexe ›Verführung oder Bitte um den Liebesdienst Susannas‹, ›Feudalrecht der ersten Nacht‹ sowie ›Machtdemonstration gegenüber Figaro‹ aus Sicht des Grafen von Almaviva in die Situation der ›Männlichkeit‹ des 18. Jahrhunderts einzubinden, bietet sich die folgende Überlegung an: Der drohende (amouröse) Machtverlust des Grafen gegenüber seinem Diener Figaro und die Kombination aus beabsichtigter Verführung und artikulierter passionierter Liebe gegenüber Susanna kennzeichnen den Männlichkeitsentwurf des Grafen in einer historischen Umbruchssituation. Diese umfasst vor allem sozialpolitische Aspekte und wurde von Niklas Luhmann als Übergang von stratifikatorisch zu funktional differenzierter Gesellschaft beschrieben.16 Damit korrespondierend, ergibt sich – erneut mit Luhmann argumentierend – die Ablösung des auf der ›amour séduction‹ basierenden Systems der amourösen Intimität durch den (prä)romantischen Liebescode der ›amour passion‹.17 Da sich jedoch beide Umbruchssituationen nicht vollkommen abrupt, sondern über einen längeren Zeitraum hin vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollziehen, kommt es dabei zu Berührungs- und Überschneidungsmomenten, die Felten wie folgt beschreibt: Die inhärente Brüchigkeit des Codes der Liebe als »seduzione« wird bei Mozart/Da Ponte bereits reflektiert, die Superposition des Codes der Liebe als Verführung durch den der Liebe als Passion vielerorts manifest. Das heißt: Die Affektkultur des späten ›Settecento‹ ist bereits von Brüchen affiziert, aber keinesfalls vollkommen instabil.18
Im Bereich der männlichen Geschlechtermatrix kann der Graf von Almaviva als eine Figur bezeichnet werden, in der die Spannungen dieser Berührungspunkte besonders deutlich hervortreten, was Noske als besondere »Tragik der Figur« ausmacht: And it is precisely this area which expresses the essence of his role: his personal tragedy. The Count is the victim of fate, which forces him to embody a feudal as well as an enlightened ruler. During the whole day he is tormented with the incompatibility of these two conceptions.19
Der Text verdeutlicht vor allem im ersten Akt anhand der amourösen Beziehungen mehrfach, dass der Anspruch des Grafen auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ unter der Voraussetzung, sich in der beschriebenen Umbruchssituation zu bewegen, nicht
16
17 18
19
Vgl. Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi, Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt am Main 1997, S. 65ff. Luhmann: Liebe als Passion, S. 49ff. Uta Felten: »Senza alcun ordine la danza sia«. Peter Sellars und Luc Bondys Don GiovanniInszenierungen im intermedialen Streit. In: Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl (Hg.): »Regietheater«. Konzeption und Praxis am Beispiel der Bühnenwerke Mozarts. Salzburg 2007, S. 260. Noske: The Signifier and the Signified, S. 22.
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dauerhaft geltend gemacht werden kann. Der Grund dafür liegt in einem eingeschränkten Coderepertoire begründet, das ihn im Gegensatz zu Don Giovanni in seinen Bemühungen mit weniger Flexibilität ausstattet. Der Beweis dafür lässt sich aus den Reaktionen Susannas sowohl im Gespräch mit Figaro in I/1, als auch im Gespräch mit dem Grafen selbst in I/6 ableiten: Das dem Code der ›amour séduction‹ zugeordnete Bestreben des Grafen, mit Susanna das ›Recht der ersten Nacht‹ zu vollziehen, wird von den Dienerfiguren antizipiert und führt dazu, dass sie sich dagegen bereits zu Beginn des Textes wappnen können. Ein weiteres Beispiel bietet die Szene I/8, in der der Graf – wie bereits zuvor dargestellt werden konnte – das ›Recht der ersten Nacht‹ in der Öffentlichkeit verurteilt. Susanna und Figaro nehmen diese Erklärung als Täuschung (›simulatio‹) wahr, die sich ebenfalls in das Repertoire eines Libertins einfügt. Obwohl aufgrund des zuvor Festgestellten durchaus Zweifel an der tatsächlichen ›Täuschung‹ des Grafen angemeldet werden können, ist in dieser Situation entscheidend, dass Susanna und Figaro Täuschungsmechanismen überhaupt erkennen, was auf eine unzureichend überzeugende Darstellung des Grafen schließen lässt. Der dem Code der ›amour passion‹ zugeordnete präromantische Thesaurus der Liebe und Zärtlichkeit zeigt bei Susanna ebenfalls keinen Erfolg; zu plakativ setzt ihn der Graf ein, als dass er Aussicht auf Erfolg haben könnte. Anders formuliert, besitzt der Graf im ersten Akt des Textes zwar das theoretische Bewusstsein mehrerer – vor allem amouröser – Codes, aber nicht die praktische Fähigkeit, ebendiese zu seinen Zwecken erfolgreich zu instrumentalisieren. In dem Versuch, sowohl im Bewusstsein der adligen Herkunft, als auch unter Berücksichtigung der vor allem emotional-sinnlichen Anforderungen der modernen Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts erfolgreich zu sein, ergibt sich für den Grafen von Almaviva eine Überlagerung eines eigen- und fremddynamischen Männlichkeitsentwurfes. Die Eigendynamik eines externalisierten männlichen Habitus des sich seiner Überlegenheit bewussten amourösen Verführers wird durch die situationsabhängige Fremddynamik, die den jeweils wechselnden Kontextbedingungen (Sphären der Intimität und Öffentlichkeit, Verhältnis zu Susanna als Dienstherr oder als zahlender Kunde) geschuldet ist, begleitet. Die amourösen Konfliktherde, an denen der Graf beteiligt ist, werden insbesondere im ersten und im Übergang zum zweiten Akt thematisiert. Letztgenannter führt die Diskussion zunächst aus der Perspektive der Gräfin weiter, die in ihrer Klage über das Verhalten des Grafen die Auffassung der ›amour séduction‹ im Allgemeinen kritisiert und sie ihrer Liebesauffassung der ›amour passion‹ gegenüberstellt. Für die Analyse des Männlichkeitsentwurfes des Grafen ist diese Fremdcharakteristik interessant: La Contessa:
Come lo sono I moderni mariti: per sistema Infedeli, per genio capricciosi, E per orgoglio poi tutti gelosi. (LNdF 54)
Wie sie eben so sind, die Ehemänner von heute: prinzipiell untreu, von Natur aus launisch, und aus Stolz dann alle eifersüchtig.
Dabei assoziiert sie das Verhalten des Grafen mit dem »moderner Ehemänner« (»moderni mariti«), obwohl sie es im eigentlichen Sinne ist, die in ihrer passionier285
ten Liebe, die nach Erfüllung strebt, die Ideale der sich im ausgehenden 18. Jahrhundert andeutenden modernen Gesellschaft antizipiert. Ihr sprachlicher Duktus – sie spricht mit Bezug auf den Grafen von ihrem »Schatz«: »il mio tesoro« (LNdF 54) und wiederholt Susanna gegenüber mehrfach das Ideal, »geliebt zu werden«: »ma se Figaro t’ama« (LNdF 54) – lässt diesen Schluss zu. Die Eigenschaften, die sie dem Grafen zuspricht, Untreue, Launenhaftigkeit und Stolz, verdeutlichen die Diskrepanz zwischen der Erfüllung sexueller Desiderate und den Anforderungen an die Institution der Ehe in den Oberschichten in der sich im Auflösen befindlichen, stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Luhmann äußert sich dazu wie folgt: Die Oberschichten hatten auf den Trend zur stärkeren Individualisierung und betont individuellen Handlungsbestimmung mit einer Liberalisierung ihrer Eheauffassung reagiert; sie konnten die Individuen, nicht aber die Ehen freigeben, weil die Reproduktion der Oberschicht über Ehen (und nicht, wie heute, über Karrieren) lief. Das bedeutet, daß der Code des amour passion für außereheliche Beziehungen entwickelt wurde. […] Das Hofieren der eigenen Gattin wäre als höchst lächerlich erschienen […]. Diese semantische und institutionelle Festlegung mußte die Entwicklung der Ehe zu einem intim-persönlichen Verhältnis blockieren – zumindest für die Oberschichten.20
Auf den Text Mozart/Da Pontes übertragen, ergibt sich demnach aus der sozio-historischen eine sozio-geschlechtliche Diskrepanz. Der Graf strebt nach der Trennung von Sexualität und Ehe (mit Ausnahme der Reproduktion) und entspricht dadurch den Anforderungen, die durch die sozio-historischen Gegebenheiten an ihn (und seinen Männlichkeitsentwurf) gestellt werden.21 Die Unzufriedenheit mit der ehelichen Beziehung zur Gräfin erlebt er folglich nicht als solche, sondern vielmehr als Konsequenz der gesellschaftlichen Erwartungshaltung. Darüber hinaus würde sein Männlichkeitsentwurf, der nach den separaten Sphären ›Sex‹ und ›Liebe‹ strebt, durch eine Überlagerung beider Bereiche seinen – in der Fremdcharakteristik der Gräfin hervorgehobenen – Stolz unterlaufen; die öffentliche Achtung wäre für ihn in Gefahr und würde ihn als einen »seine Gattin hofierenden« Aristokraten entlarven, was sowohl seinem männlichen Selbstverständnis, als auch der öffentlichen Wahrnehmung als ›Mann‹ in seiner Position schaden würde. Der Graf verhält sich aus diesem Grund – das lässt sich als vorzeitiges Resümee seines amourösen Aktionspotenzials festhalten – im Bestreben nach Erlangung der Kernposition ›hegemonialer Männlichkeit‹ konform zu den Regeln der Gesellschaftsstruktur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Frage, die zu klären bleibt, ist, ob es ihm tatsächlich gelingt, diesen Anspruch sowohl gegenüber den anderen männlichen Figuren als auch gegenüber den Frauen des Textes zumindest zeitweise auch geltend zu machen. Um sich dieser Frage zu nähern, bietet der turbulente 20 21
Luhmann: Liebe als Passion, S. 150. Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 24: »In libertären Adelskreisen im 17. und 18. Jahrhundert sind Liebe und Ehe nicht nur nicht deckungsgleich, sie schließen einander geradezu aus. Ein Ehemann, der seine Gattin tatsächlich liebt und eifersüchtig auf sie ist, macht sich zur lächerlichen Figur.«
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zweite Akt in Le Nozze di Figaro die Möglichkeit, die Position des Männlichkeitsentwurfes des Grafen aus dem noch im ersten Akt dominanten amourös-sinnlichen in einen eher gesellschaftlich-politischen Bereich zu transportieren. Dabei wird deutlich, dass der Graf bestrebt ist, seine ›Männlichkeit‹ nicht nur durch Liebe und Liebesabenteuer zu definieren. Gegen Ende der sinnlich-erotischen Verkleidungsszene zwischen der Gräfin, Susanna und Cherubino in II/2 wartet der Graf ungeduldig vor der Tür und hört Stimmen im Raum; in II/3 tritt er auf und stellt die Gräfin zugleich zur Rede: Il Conte:
Che novità! Non fu mai vostra usanza Di rinchiudervi in stanza! […] Ad ogni modo Voi non siete tranquilla. (LNdF 74)
Etwas ganz Neues! Ihr habt Euch sonst nie in Eurem Zimmer eingeschlossen! […] Wie dem auch sei: Ruhig seid ihr nicht.
Die offensive Gesprächsführung, die im Laufe von II/3 immer mehr den Charakter eines Verhörs annimmt, weist ihn als zweifelnden, eifersüchtigen und von Erkenntnisdrang getriebenen Ehemann aus. Unterstützt wird der Haupttext durch die Kleidung des Grafen – er tritt in einem Jagdgewand22 (»da cacciatore«) auf und jagt somit nicht nur – wie bereits dargestellt werden konnte – dem Objekt seiner sexuellen Desiderate, sondern metaphorisch auch der Erkenntnis nach, welches Geheimnis die Gräfin vor ihm verberge. Der Drang zu erfahren, was in seinem Schloss geschieht, überblendet sich mit einem amourösen Besitzdenken, das ihn mit Bezug auf die Gräfin als eifersüchtigen Zweifler erscheinen lässt. Interessant ist, welchen Erfolg er damit erzielt: nämlich keinen. Obwohl sich im Lauf der Szene die Liste der verdächtigen Momente häuft, gelingt es dem Grafen weder, das genaue Geschehen zu enttarnen noch zu begreifen. Eine Auflistung der Geschehnisse, bei denen der Graf entweder vom Informationsfluss (räumlich) ausgeschlossen oder in denen er gezielt getäuscht wird, verdeutlicht die Macht- und Entscheidungslosigkeit des Aristokraten: In II/2 hört er Stimmen im Gemach seiner Frau und lässt sich von der Gräfin vom Gegenteil überzeugen, in II/3 fragt er nach dem Grund, weshalb sich die Gräfin eingeschlossen habe, und wird mit einer Ausflucht abgespeist. Cherubino verursacht Geräusche im Nebenzimmer, was die Gräfin abstreitet, der Graf ist im Begriff, die Ursache der Geräusche zu ergründen und lässt sich durch die Gräfin davon abbringen; eine ganze Reihe von Ausflüchten und Verzögerungstaktiken der Gräfin (Vorschub der öffentlichen Wahrnehmung, Zurückhalten des Schlüssels zum Nebenzimmer etc.) verschafft Cherubino schließlich Gelegenheit zur Flucht und entlarvt den Grafen in II/7 als tölpelhaften Choleriker, der sich genötigt sieht, demütig um Entschuldigung zu bitten. Das komische Potenzial dieser Sequenz beruht auf zwei wesentlichen Faktoren: zum einen auf der Serialisierung der Ausflüchte der Gräfin, die – die reine Abfolge 22
Ein (allerdings nicht weiter ausgeführter) Verweis auf die Kleidung des Grafen als Jäger findet sich bei Massimo Mila: Lettura delle Nozze di Figaro. Mozart e la ricerca della felicità. Torino 2003, S. 83.
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der Szenen betrachtend – den Grafen mit durchaus fragwürdigen Argumenten immerhin von II/2 bis II/7 davon abhalten kann, in das Nebenzimmer einzudringen. Der andere Faktor berührt den Männlichkeitsentwurf des Grafen in seinem Kern und verdeutlicht, weshalb sein Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ keine Entsprechung in der tatsächlichen Umsetzung findet. Der Graf wird zum manövrierbaren Objekt des Komplotts der Frauen und Cherubino; insbesondere gegenüber der Gräfin tritt er zwar zunächst als dominanter Patriarch auf und bedient sich eines scheinbar stark externalisierten männlichen Geschlechtshabitus’. Seine Verdächtigungen entbehren jedoch jeglichen Nachdrucks, was ihn, euphemistisch formuliert, äußerst unglücklich agieren lässt. Zunächst fordert er, ohne zu handeln, daraufhin handelt er, ohne erfolgreich zu sein; wodurch er unter den adligen männlichen Dramenfiguren Mozart/Da Pontes durchaus mit Don Ottavio vergleichbar wird. Ein Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹, der nicht an tatsächliche Handlungen geknüpft ist, wird durch die permanente Erfolglosigkeit der Komik preisgegeben; statt Respekt erntet der Graf Häme, was sich bereits durch das Beiseite-Sprechen der Gräfin in II/3 ankündigt: »Che imprudenza!« (LNdF 80). Die Überlegenheit weiblicher Figuren erreicht in II/7 ihren vorläufigen Höhepunkt, indem der Graf – seinen vermeintlichen Fehlverdacht erkennend – sich nicht nur von seiner Ehegattin, sondern auch von deren Dienerin triumphierend belehren lassen muss: Susanna:
Signore, Cos’è quel stupore? (Con ironia) Il brando prendete, Il paggio uccidete, Quel paggio malnato, Vedetelo qua. Il Conte (da se): Che scola! La testa Girando mi va. (LNdF 88)
Mein Herr, was soll dies Erstaunen? (Ironisch) Nehmt nur die Waffe, tötet den Pagen, diesen nichtsnutzigen Pagen, den Ihr hier seht. (für sich) Was für eine Lektion! Mir dreht sich der Kopf.
Die Infragestellung der eigenen Position wird in II/8 noch verstärkt: Il Conte (esce confuso dal gabinetto):
Che sbaglio mai presi! – Appena lo credo; Se a torto v’offesi Perdono vi chiedo. (LNdF 90)
(tritt verlegen aus dem Kabinett) Was hab ich nur für einen Fehler gemacht! – Ich kann’s kaum glauben. Wenn ich Euch zu Unrecht beleidigt habe, bitte ich um Verzeihung.
Das Erscheinungsbild als ein von Eifersucht getriebener Ehemann ist dem eines schuldbewussten Mannes gewichen, der bei seiner Ehefrau um Entschuldigung bittet. Die dramatische Ironie besteht darin, dass die Verdächtigungen des Grafen ja durchaus berechtigt gewesen waren, was seinen plötzlichen Umschwung zu einem reuevollen Verhalten gegenüber der Gräfin und Susanna zusätzlich der Komik preisgibt. In II/8 verfällt der Graf daraufhin erneut in die Sprache der passionierten Liebe: »Io v’amo«, »Vel giuro«, »Confuso pentito è troppo punito, abbiate pietà« (LNdF 90ff.), doch trotz der vermeintlichen Versöhnung mit der Gräfin am Ende von II/8 bleibt der Eindruck bestehen, dass er gegenüber den beiden Frauen einen wichtigen Teil seiner Reputation verloren habe. Das ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass 288
es ihm weder in seinem Auftritt als zunächst eifersüchtiger, noch später als reuevoller Ehemann gelingt, seine Affekte zu beherrschen, wie es die Souveränität einer Figur verlangen würde, die ihrerseits den Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ erhebt. Zu Beginn der Szene II/5 tritt der Graf mit Hammer und Zange: »con martello e tenaglia« (LNdF 84) auf, um die Tür gewaltsam (»a forza«) zu öffnen. Ebenso ungestüm, wie er die Geräte kurz darauf von sich wirft (»… getta il martello e la tenaglia sopra una sedia«), agiert er in II/7 und II/8 kurz vor bzw. nach der vermeintlichen Auflösung der Verwirrungen; wobei er der Gräfin gegenüber bereits nicht nur vom gewohnten »Sie« in das ungewohnte »Du« übergeht, sondern sie kurz darauf auch vor Susanna beim Vornamen nennt. Die Exhibition der Sphäre der Intimität gegenüber der Dienerin hebt deutlich hervor, was dem Grafen fortlaufend misslingt: der Schutz der eigenen Privatsphäre. Die strategische Überlegenheit der Gräfin gegenüber ihrem Mann wird auch durch die Elemente der Körperlichkeit gegen Ende von II/8 aufgegriffen: Il Conte (con tenerezza): Guartdatemi: La Contessa: Ingrato! Il Conte (bacia e ribacia la
mano della Contessa): Ho torto: e mi pento. (LNdF 94)
(zärtlich) Schaut mich an! Undankbarer! (küsst der Gräfin immer wieder die Hand) Ich tat Unrecht und bereue.
Deutlicher kann die Dominanz der Gräfin nicht ausfallen: Während sie die Möglichkeit wahrt, ihrem Ziel, der Überblendung von Ehe und Sexualität bzw. Intimität im Sinne der passionierten Liebe, näher zu kommen, muss der Graf sich eingestehen, »Unrecht getan zu haben« (»ho torto«). Der Kuss auf die Hand ist somit gleichsam Zeichen der Unterwürfigkeit als auch Indiz einer vorsichtigen sexuellen Annäherung. Er lässt den Grafen vor dem Eintreffen von Figaro in II/9 als gebrochenen, von zwei Frauen dominierten Mann erscheinen, der die Glaubwürdigkeit seines Hegemonieanspruches ihnen gegenüber scheinbar vollkommen verloren hat. Interessant ist mit Bezug auf das männliche Selbstverständnis des Grafen, dass er den Hegemonieanspruch gegenüber anderen männlichen Figuren auch über II/8 hinaus aufrechtzuerhalten bemüht ist. Das deutet im Falle des Grafen auf eine Trennung des männlichen Dominanzanspruches gegenüber Frauen und Männern hin; anders formuliert, steht das unterwürfige Verhalten gegenüber seiner Ehefrau und Susanna in seiner Vorstellung nicht im Widerspruch zu einem Dominanz beanspruchenden Auftreten gegenüber den anderen Männern. Im Rekurs auf die von Connell vertretene Auffassung, nach der eine Form der ›hegemonialen Männlichkeit‹ die Dominanz des Mannes sowohl gegenüber Männern als auch Frauen garantieren solle, wäre der Graf von Almaviva folglich mit diesem Paradigma nicht adäquat zu beschreiben. Für ihn müsste aus diesem Grund eine ›eingeschränkt hegemoniale Männlichkeit‹ angenommen werden. Allerdings wird auch diese Einschränkung umgehend auf die Probe gestellt: Die Reaktion auf Figaros Auftritt zeigt dies deutlich: »Nur langsam, langsam, nicht so rasch«: »Pian piano men fretta« (LNdF 96) beinhaltet zunächst die Grundautorität, die ihm zuvor vollkommen abhanden gekommen war. Damit manövriert sich der Graf erneut in jene Position des Verhörenden, die er bereits von II/2 bis II/7 besetzt hatte. Das Resultat ähnelt jedoch auffallend der Szene mit den beiden 289
Frauen – trotz seines anfänglich dominanten, beinahe inquisitorischen Auftretens führt eine Verkettung zweifelhafter Argumente dazu, dass er sich schließlich seine Machtlosigkeit eingestehen muss: Il Conte (Da sè):
Questo birbo mi toglie il cervello, tutto tutto è un mistero per me. Figaro (Da sè): Sbuffa invano e la terra calpesta; Poverino ne sa men di me. (LNdF 106)
(Für sich) Dieser Schurke raubt mir den Verstand, alles, all das ist mir unbegreiflich. (Für sich) Vergebens schnaubt er und stampft auf den Boden. Der Arme weiß weniger als ich.
Die Diskrepanz zwischen Anspruch und tatsächlicher Wirkungsweise führt im Falle des Grafen nicht nur zum Mitleid seines Dieners (»poverino ne sa men di me«), sondern auch zur unfreiwilligen Komik in II/11, als seine ostinate Forderung, Recht zu sprechen: »Olà silenzio,: io son qui per giudicar« (LNdF 108ff.) eher Verzweiflung als Entschlossenheit zeigt. Das Resultat des zweiten Aktes ist, dass insbesondere in konfusen Situationen die wesentlichen Macht- und Dominanzansprüche nicht vom Grafen, sondern von einer ganzen Reihe anderer Figuren durchgesetzt 23 werden. Die Szene III/1 liest sich wie eine Synthese aus dem bisher Gesagten: Il Conte:
Che imbarazzo è mai questo! […] Non so cosa pensar. Potrebbe forse Qualcun de’ miei vasalli … a simil razza È commune l’ardir, ma la contessa … Ah che un dubbio l’offende … ella rispetta Troppo se stessa: e l’onor mio … l’onore.23 (LNdF 112)
Was ist das nur für eine Peinlichkeit! […] Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es könnte vielleicht einer meiner Leute … dieser Sorte ist alle Frechheit zuzutrauen, aber die Gräfin … Ach, kein Verdacht darf sie treffen … sie hält zu große Stücke auf sich: und meine Ehre … die Ehre.
Die Sorge um die eigene Ehre bildet den Kernpunkt seiner Überlegungen. ›Männlichkeit‹ ist aus Sicht des Grafen stark an die öffentliche Reputation gebunden; beinahe hat es den Anschein, als sei sie ausschließlich daran gebunden. Den Anspruch auf die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹, die verlangt, den Anforderungen des Patriarchats so stark wie möglich zu entsprechen, hat der Graf im privaten Bereich bereits aufgegeben. Die Beziehungen zu Figaro und den weiteren männlichen Figuren gehören jedoch dem Bereich der Öffentlichkeit an, in dem der Graf seinen Anspruch noch geltend machen will. Die bereits zuvor analysierte und an Figaro gerichtete Szene III/4 ist ein Beweis dafür. Dass die Strategie des Grafen jedoch über die Wahrung der eigenen Ehre hinaus die Verführungsabsicht gegenüber Susanna weiterhin verfolgt, verdeutlicht sich in III/2. Die Tatsache, dass er seiner Ehefrau wiederholt misstraut; Susanna jedoch geradezu gutgläubignaiv entgegentritt, lässt sich als Beleg für die Hybris verwenden, aufgrund derer er die Dienerin als poten23
»Imbarazzo« lässt sich m. E. in diesem Zusammenhang besser durch ›Peinlichkeit‹ übersetzen. Die Variante in der Reclam-Ausgabe schlägt ›Konfusion‹ vor.
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zielle Bedrohung nicht wahrnimmt, sondern sie ausschließlich als sexuelles Desiderat einstuft: »Mi sento dal contento pieno di gioia il cor.« (LNdF 116) Er erkennt dabei selbstverständlich nicht, erneut einem Komplott unterlegen zu sein. Allerdings scheitert auch sein Plan, Figaros Hochzeit mit Hilfe Marcellinas zu verhindern, in III/5, woraufhin er zum wiederholten Male resignierend feststellen muss: »Son smarrito, son stordito, meglio è assai di qua partir.« (LNdF 124) Auch in seinem Verhältnis zu Cherubino wird dem Grafen die Macht- und Perspektivlosigkeit seiner Bemühungen vor Augen geführt, sodass er ungläubig resümiert: Il Conte (da sè):
Non so qual uom, qual demone, qual Dio Rivolga tutto quanto a torto mio. (LNdF 142)
(für sich) Ich weiß nicht, welcher Mensch, welcher Dämon, welcher Gott immer alles gegen mich wendet.
Die Hilflosigkeit wird dabei – wahrscheinlich sprichwörtlich – aufgrund ihrer Unbegreifbarkeit höheren Instanzen angelastet. Umso ungewollt komischer wirkt seine Ankündigung in III/13, »auf Rache zu sinnen«: »meditiam vendetta« (LNdF 146), insbesondere deshalb, da er kurz darauf in III/14 durch das vermeintliche Billet der Einladung zum Tête-à-tête mit Susanna im Garten zum wiederholten Male zu einer Spielfigur des Komplotts der Frauen avanciert. »A torto mio«: der düpierte Verführer Es ist in der Folge auch die Gartenszene im vierten Akt (IV/12), in der der nach Hegemonie strebende, aber dabei erfolglos bleibende Männlichkeitsentwurf des Grafen seine deutlichste Widerlegung findet: Der Graf gerät zufällig zwischen den liebestollen Cherubino und die als Susanna verkleidete Gräfin und wird dabei von Cherubino geküsst. Die homoerotische Komponente dieses Geschehens ist im Hinblick auf Cherubinos androgynen Männlichkeitsentwurf bereits pikant und manövriert den Grafen in eine für das ausgehende 18. Jahrhundert beinahe skandalöse Situation, die allerdings durch das komische Potenzial der ›Kussszene‹ entkräftet wird. Im Gegensatz dazu erfährt die Verballhornung des Männlichkeitsentwurfes des Grafen in IV/12 noch weitere Steigerungen: Auf den Kuss Cherubinos will er – erwartungsgemäß – mit körperlicher Züchtigung reagieren; doch auch diese gelingt ihm nicht, da sein Schlag anstelle Cherubinos Figaro trifft. In der sich anschließenden Sequenz versucht sich der Graf abermals als galanter Verführer, wobei sich in der apotheosenhaften Beschreibung der Hände der verkleideten Gräfin Parallelen zur Szene I/9 zwischen Don Giovanni und Zerlina auftun: Il Conte: Porgimi la manina! La Contessa: Io ve la do. Il Conte: Carina! […]
Che dita tenerelle, che delicata pelle, mi pizzica, mi stuzzica, m’empie d’un nuovo ardor. (LNdF 178)
Reich mir das Händchen! Ich geb es Euch. So ein hübsches! […] Was für zarte Finger, was für eine weiche Haut, es zwickt mich, durchzuckt mich, es erfüllt mich eine neue Glut.
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Die Verführungsbemühungen des Grafen um die als Susanna verkleidete Gräfin steigern sich in einem derartigen Maße, dass er ihr schließlich einen Ring als Zeichen seiner Liebe schenkt: Il Conte:
Oltre la dote, oh cara, ricevi anco un brillante che a te porge un amante (le dà un anello) in pegno del suo amor. (LNdF 178ff.)
Außer der Mitgift, meine Liebe, bekommst du noch einen Brillianten, den dir ein Liebender (er gibt ihr einen Ring) als Pfand seiner Liebe reicht.
Dass die von ihm gewählte passionierte Sprachform (»oh cara«, »in pegno del suo amor«) und der Ring als Symbol einer festen Bindung innerhalb einer romantischen Liebesbeziehung im Sinne der ›amour passion‹ im Gegensatz zu den tatsächlichen Absichten des Grafen stehen, wird kurz darauf deutlich: La Contessa: Al buio, signor mio? Il Conte: È quello che vogl’io:
Tu sai che là per leggere Io non desio d’entrar. (LNdF 180)
Im Dunkeln, mein Herr? Genau das will ich ja: Du weißt schon, nicht um zu lesen möchte ich dort hinein.
Die Verführungsabsicht wird an dieser Stelle offen artikuliert und entlarvt den Grafen gegenüber der Gräfin vollkommen. Im gleichen Zusammenhang werden seine gesamten (passionierten) Liebesschwüre zuvor mitsamt des Ring-Geschenks als bloße Etiketten der Verführungskunst enttarnt,24 was den Grafen vor der verkleideten Gräfin erneut als tollkühnen Verführer, der wesentlich stärker toll als kühn agiert, erscheinen lässt. Er erliegt – im Gegensatz zu Figaro, der Susanna zuvor erkennt – bis zur letzten Szene (IV/15) der Täuschung der Frauen (und Figaros) und wird in seiner Ehre geradezu vorgeführt. Dabei ist es kein Zufall, dass er sich nicht nur verbal nicht adäquat wehren kann, sondern auch physisch waffen- und daher schutzlos ist: »La mia sposa … Ah, senz’arme son io.« (LNdF 186) Aus diesem Grund fehlen ihm – wie die Gräfin abschließend triumphierend bemerkt – nicht nur die intellektuellen Fähigkeiten: »Più dolcile io sono« (LNdF 190), sondern auch zentrale Attribute der Wehrhaftigkeit für Männer seines gesellschaftlichen Standes. Der Anspruch, das Recht zu besitzen, Vergebung zu gewähren, äußert sich in einer ostinaten Verneinung der Bitten vor allem Figaros und Susannas. In dem Moment der größtmöglichen Verhärtung der Positionen – nicht weniger als sechs Mal wiederholt der Graf sein ›Nein‹ auf die Gnadengesuche hin25 – übernimmt die Gräfin die dominante Position, indem sie den Grafen zur Gnade stimuliert. Körperlich der Möglichkeiten der Intervention beraubt und geistig den ihn umgebenden Figuren unterlegen, bittet 24
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Damit kann Aussagen widersprochen werden, die in den Liebesschwüren des Grafen in den vorangegangenen Szenen eine aufrechte, passionierte Liebeskodifikation festzustellen glaubten. Vgl. Sala di Felice, di Benedetto: L’aria del Conte nelle »Nozze di Figaro«, S. 212. Borchmeyer betont die Parallele der Ablehnung des Grafen zum wiederholten ›No‹ Don Giovannis auf die Reueforderung der Statue des Ordensritters hin. Damit relativiert er seine Aussage aus dem gleichen Text, ›Don Giovanni und der Graf von Almaviva ließen sich nicht vergleichen‹. Vgl. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 77 sowie S. 71.
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er die Gräfin ein letztes Mal »in flehendem Ton« (»in tono supplichevole«) um Vergebung: »Contessa perdono!« (LNdF 190), womit er in Aussicht stellt, seinem Dasein als Libertin abzuschwören und sich dem Willen der Gräfin zu beugen. Der Männlichkeitsentwurf des Grafen von Almaviva lässt sich folglich als eine komplexe Überblendung aus dem Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ und der Unfähigkeit, diesem gerecht zu werden, resümieren. In diversen Bereichen des Männlichkeitsentwurfes wird diese Tatsache wiederholt deutlich: Dem Scheitern seiner amourösen Vorhaben (Verführung Susannas) entspricht seine Erfolglosigkeit auf gesellschaftlich-politischem Gebiet, was sich insbesondere in seinem Verhältnis zu den Dienerfiguren Susanna und Figaro, aber auch zu Cherubino zeigt. Strategisch und intellektuell der Gräfin unterlegen, wird sein Männlichkeitsentwurf ein um das andere Mal der Lächerlichkeit preisgegeben. Dieses komische Potenzial widerstrebt dem Selbstkonzept des Grafen, der bemüht ist, patriarchalische Dominanz gegenüber Frauen als auch Männern auszuüben. Die Tatsache, dass er damit fortlaufend scheitert und sich diesen permanenten Zustand des Misserfolgs nicht erklären kann, weist ihn – trotz seiner im amourösen Bereich erkennbaren ›modernen‹ Sprachform der ›amour passion‹ – jenseits seiner adligen Herkunft auch mental als Figur aus, die in Denkstrukturen der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft verhaftet ist. Sein Männlichkeitsentwurf definiert sich mehr als bei vielen anderen männlichen Figuren in den Texten Mozart/Da Pontes im Spannungsfeld des gesellschaftlichen Umbruchs am Vorabend der Französischen Revolution. Darüber hinaus wird anhand des Grafen von Almaviva deutlich, dass die sozio-historische Schwellensituation des Textes offenbar den adligen männlichen Figuren das Vordringen in den Kernbereich ›hegemonialer Männlichkeit‹ erschwert. Diese These muss anhand der Figuren Don Giovanni und Don Ottavio des zweiten zu analysierenden Mozart/Da Ponte-Textes noch überprüft werden. 5.2.3 Figaro Figaro, der Ehemann in spe Susannas und Diener des Grafen von Almaviva, wird in I/1 durch eine doppelte ›Dienstpflicht‹ vorgestellt: Unzweifelhaft steht er in einem hierarchischen Dienst- und Abhängigkeitsverhältnis zum Grafen; darüber hinaus fordert ihn jedoch auch Susanna auf, ihr amouröser Diener zu sein: »Sei tu mio servo o no?« (LNdF 16) Er korrespondiert in dieser Hinsicht mit der 1739 für den deutschsprachigen Raum ermittelten Lesart des Begriffs ›Mann‹,26 der Ute Frevert vor allem die »dienende Funktion« attestiert.27 Ohne diese vorbehaltlos auf den italienischsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts zu übertragen, soll jedoch der Aspekt ›Figaro als Diener‹ in der folgenden Einzelanalyse seines Männlichkeitsentwurfes weiterverfolgt werden. Interessanterweise stellt Figaro – wie noch zu zeigen sein wird – beide ihm auferlegten bzw. angedachten Dienstpflichten mit fortschreitender Handlung immer stärker in Frage, was die Ausgangsthese zulässt, seinen Männlichkeits26 27
Vgl. Zedler: Grosses vollständiges Universallexikon, Spalte 982. Vgl. Frevert: Mann und Weib und Weib und Mann, S. 25.
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entwurf eng im Zusammenhang mit dem Streben nach Selbstbestimmtheit zu analysieren. Sowohl im gesellschaftlich-öffentlichen als auch im amourös-intimen Bereich der Beziehungen zu anderen Figuren führt diese Tendenz zu einer unterschiedlich stark ausgeprägten Ablehnung diverser Formen der Fremdbestimmung und Bevormundung. Figaro wird durch seinen ersten Auftritt als mehrfach fremdbestimmt in das Geschehen eingeführt. Er steht aus diesem Grund zunächst unter Verdacht, vornehmlich als fremddynamisch männliche Figur zu agieren. Die Szene I/1 verdeutlicht unterschiedliche Forderungen, die von anderen Figuren an ihn herangetragen werden. Figaro ist zu Beginn des Textes in einer eher passiven Position, die durch seine Unkenntnis der ihn umgebenden Geschehnisse motiviert wird. Er ist sich – wie Noske darstellt – des sozialen Abstandes zwischen dem Grafen und ihm durchaus bewusst.28 »Cervello« (LNdF 20) fordert Susanna von ihm und somit die Aufgabe seiner anfänglich reichlich naiven Grundhaltung. Diese Forderung leitet sich wie folgt her: Figaro – so scheint es – ist gedanklich in einem solchen Maße in den Vorbereitungen der bevorstehenden Hochzeit mit Susanna versunken, dass ihm die Verführungsabsichten des Grafen von Almaviva bezüglich seiner zukünftigen Braut ebenso entgangen sind wie die Tatsache, dass sich das Zimmer, das er und Susanna bewohnen sollen, in unmittelbarer Nähe zu den Gemächern des Grafen befindet. Susanna ist Figaro intellektuell überlegen, sie tritt ihm gegenüber zunächst eher als Mentorin denn als Geliebte auf, die Figaro gewissermaßen auf die Entwicklung seiner eigenen Handlungsmotivation hin initiieren muss. In diesem Prozess, der im Libretto bereits in Szene I/2 zu Figaros entschlossener Reaktion führt, zeigt sich eine für das ausgehende 18. Jahrhundert bekannte Geschlechterkonzeption im Sinne Rousseaus: Susanna führt Figaro durch ihre weibliche Dominanz dazu, seine eigentliche Aufgabe wahrzunehmen: zu seiner, nach Rousseau argumentiert, natürlichen (männlichen) Stärke zu finden, sie zu schützen und damit als Mann selber aktiv zu werden: »[…] ihre [der Frau, M.B.] Macht liegt in ihren Reizen, und mit ihnen muß sie ihn [den Mann, M.B.] zwingen, seine eigene Kraft zu entdecken und zu gebrauchen. Die wirkungsvollste Art, diese Kraft zu erwecken, ist, sie durch Widerstand notwendig werden zu lassen.29
Den Anspruch darauf, aus der Passivität in die Aktivität überzugehen, Entscheidungen zu treffen und gegenüber einem anderen Mann, dem Grafen von Almaviva, das Bestreben nach sozialer Reputation und ›hegemonialer Männlichkeit‹ zu demonstrieren – oder anders formuliert – alles das, was die erste Szene noch in Frage gestellt hatte, anzustreben, artikuliert Figaro in II/2: Figaro:
Se vuol ballare Signor Contino, il chitarrino Le suonerò. Se vuol venire Nella mia scuola
28 29
Will er tanzen, der Herr Gräflein, mit der Gitarre spiel ich ihm auf. Will er lernen in meiner Schule,
Noske: The Signifier and the Signified, S. 26. Rousseau in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 167.
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La capriola Le insegnerò. […] Tutte le macchine Rovescierò. (LNdF 22)
die Kapriole bring ich ihm bei. […] Alle Machenschaften bring ich zu Fall.
Figaro tritt dabei zum ersten Mal als dramatisch-treibende Kraft des Textes auf; er selber fasst den Plan, den spöttisch mit dem Diminutiv bezeichneten Grafen (»signor Contino«) sowohl als Dienstherren als auch als Nebenbuhler Susannas herauszufordern und zu übertrumpfen. Er sieht sich dabei in der Rolle des Lehrers (»Nella mia scuole … Le insegnerò«) und äußert die Absicht, damit die bestehenden Hierarchiegrundlagen umzukehren (»Tutte le macchine rovescierò«). Der naiv anmutende Auftritt aus der vorangegangenen Szene mit Susanna ist einem deutlichen Bewusstsein der Konkurrenz einer anderen männlichen Figur gewichen; die zumal eine gesellschaftlich dominante Position besetzt. Im Gegensatz zum Grafen nimmt Figaro ihn tatsächlich als Konkurrent wahr und knüpft seinen Anspruch auf Intimität mit Susanna nicht an ein geburtsständisches Prinzip, sondern an die Erlernbar- und Anwendbarkeit konkreter mit dem Grafen assoziierter Techniken der Täuschung und Verstellung: »L’arte schermendo, l’arte adoprando.« (LNdF 22) Die Überzeugung, mit der er dabei auftritt, speist sich aus der Kenntnis libertiner Techniken der Verführung, in deren Zentrum er den Begriff der ›Verstellung‹ (›Dissimulatio‹) zitiert. Noske erkennt in Figaros Auftritt dennoch einen »unübersehbaren Zug der Anspannung und Frustration.«30 Auf beiden zu Beginn des Textes im Gespräch mit Susanna angeführten Ebenen – im gesellschaftlich-öffentlichen und im amourös-intimen Bereich – ist sich Figaro dessen bewusst, dass ihm in der Figur des Grafen von Almaviva ein ernstzunehmender Gegenspieler erwachsen ist. Der von Figaro geäußerte Anspruch auf selbstbestimmtes, freies Handeln initiiert aus diesem Grund auch einen Wettbewerb der beiden Männlichkeitsentwürfe; zunächst um die alleinige Gunst einer Frau und somit die Hierarchie im privat-amourösen Bereich und daraufhin um Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Machtausübung im Bereich der Öffentlichkeit. Dass Figaro dieser Auseinandersetzung mit einer derartigen Inbrunst entgegen geht, unterstützt Thesen, die Mozart/Da Pontes Le Nozze di Figaro als einen wichtigen, durch deutlich subversive Züge gekennzeichneten Text im Vorfeld der Französischen Revolution sehen. Die beiden vordergründigen Ziele Figaros, die Beschleunigung der Hochzeitsvorbereitungen mit Susanna sowie die Entlarvung des Grafen als Verführer, versucht er, mit folgenden Mitteln zu erreichen: Absegnung der Hochzeitsfeier durch den Grafen, Versuch, den Grafen zu einer Bekräftigung der Abschaffung des ›Herrenrechts der ersten Nacht‹ zu bringen, Involvierung der Öffentlichkeit, Appell an die Ehre sowie Bloßstellung des Grafen. Mit Beginn der Szene I/8 versucht sich Figaro – nicht zufällig durch die Metapher »Eccoci in danza« eingeleitet – als Spielleiter und damit in einer Funktion, die sein Handeln bis zum Ende des Textes maßgeblich beeinflussen wird. Figaros Rolle als ›Homo ludens‹, die bereits die Szene I/2 nahege30
Noske: The Signifier and the Signified, S. 4. Übers.: M.B.
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legt hatte, erfordert mit den zuvor angesprochenen Strategien der ›simulatio‹ und ›dissimulatio‹ die Fähigkeit, Affekte gezielt vorzutäuschen bzw. andere zu verbergen. Voraussetzung dafür ist, über die entsprechenden Codes der betreffenden Affekte zu verfügen. Figaro weiß um die Fokussierung des Grafen auf die öffentliche Meinung, die in engem Zusammenhang mit dem aus Sicht des Grafen wichtigen Begriff der Ehre steht. Indem Figaro dem Grafen das Versprechen abringt, die Hochzeitszeremonie mit Susanna zu leiten: »A voi prometto compier la ceremonia« (LNdF 48), drängt er den Grafen in eine Position, von der aus er nur reagieren kann. Das Aktions- und somit auch das Entscheidungspotenzial geht an Figaro über, der somit in I/8 nicht nur als offensive, sondern vor allem als dominante männliche Figur auftritt. Die durch den Grafen – im Beiseite-Sprechen – konstatierte »teuflische Schläue«: »diabolica astuzia« (LNdF 48) führt dazu, dass Figaro partiell in das Zentrum der ›hegemonialen Männlichkeit‹ vordringen kann. Gegenüber dem Grafen ist er intellektuell zwar nicht zwingend überlegen, jedoch weitaus spontaner. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die gesellschaftliche Position des Grafen – die eines feudalen Grundherrn – offenbar in Le Nozze di Figaro keinen absoluten Machtanspruch mehr besitzt und somit in der Spontaneität der Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt ist.31 Der Beweis dafür findet sich in der Tatsache, dass der Graf in I/8 sehr wohl erkennt, welche Strategie Figaro mit der öffentlichen Ansprache des ›Ius primae noctis‹ verfolgt, jedoch eben aufgrund der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit auch als Herrscher gezwungen ist, sich auf diese Taktik einzulassen, was er nicht ohne Bedauern kommentiert: »ma fingere convien.« (LNdF 48) Ein weiteres Kennzeichen Figaros in der Position des ›Spielleiters‹ ist die gezielte Instrumentalisierung anderer Figuren. Dabei wird nicht immer deutlich, ob sie sich aus dem Erfordernis, seine Pläne zu verwirklichen, oder aus einer Eigendynamik des ›Spiels‹, das Figaro inszeniert, herleitet. Einen Beweis dafür bietet die Szene IV/2, in der er Barbarina als ›Figur‹ funktionalisiert, um Bestätigung für seine Eifersuchtsvermutungen gegenüber Susanna zu erhalten: Figaro: Barbarina, cos’hai? […] Barbarina: La spilla,
che a me diede il padrone Per recar a Susanna. […] Cos’è, vai meco in collera? Figaro: E non vedi ch’io scherzo? […] Barbarina: E perché il chiedi a me quando sai tutto? Figaro: Avea gusto d’udir come il padrone Ti diè la commissione. (LNdF 152ff.)
31
Barbarina, was hast du? […] Die Nadel, die mir der Herr gegeben hat, um sie Susanna zu bringen. […] Was ist, bist du mir böse? Siehst du nicht, dass ich scherze? […] Und warum fragst du mich dann, wenn du doch alles weißt? Ich hatte Lust zu hören, wie der Herr dir den Auftrag gegeben hat.
In diesem Sinne argumentiert Kunze, der darin auch einen komödiantischen Aspekt des Textes sieht. In: Kunze: Il teatro di Mozart, S. 304f.
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Die verhörartige Art des Nachfragens dokumentiert das Bewusstsein Figaros der eigenen Überlegenheit gegenüber der gutgläubig antwortenden Cousine. Darüber hinaus lässt sie erkennen, wie sehr sich Figaro in der Funktion des aktiven ›Spielleiters‹ gefällt, obwohl er – wie die übrige Szene zeigt – bei seinen Nachforschungen nicht nur für ihn Angenehmes erfährt. Die Bitterkeit der vermeintlichen Erkenntnis Figaros, dass Susanna ihm tatsächlich untreu sein könne, zeichnet sich im Verlauf der folgenden Szenen immer stärker an seiner Physiognomie ab. In IV/6 – Figaro tritt, wie es im Nebentext heißt, »con mantello e lanternino notturno« (LNdF 160) auf – erkennt Don Bartolo: Don Bartolo:
Che brutto ceffo! Sembri un cospirator: che diamin sono Quegli infausti apparati? (LNdF 160)
Was für eine hässliche Visage! Du siehst aus wie ein Verschwörer: Was zum Teufel soll dieser unheilvolle Aufzug?
Figaros Antwort »Lo vedrete tra poco« impliziert zwei Aspekte: Die Gewissheit des eigenen Wissensvorsprunges gegenüber den ihn umgebenden Figuren, Basilio und Don Bartolo, sowie die Entschlossenheit, diesen Vorsprung aufrechtzuerhalten und ihn als ›Spielleiter‹ einzusetzen: Figaro:
Voi da questi contorni Non vi scostate; intanto Io vado a dar certi ordnini, E torno in pochi istanti: A un fischio mio correte tutti quanti. (LNdF 162)
Von dieser Stelle rührt ihr euch nicht; unterdessen gehe ich und gebe bestimmte Anordnungen; in wenigen Augenblicken komme ich zurück, und wenn ich pfeife, eilt ihr alle herbei.
Die Dominanz, mit der Figaro in dieser Situation auftritt, spiegelt durch die angestrebte Spielleiterposition einen deutlichen Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ wider. Die anderen (männlichen) Figuren nimmt er mit Ausnahme des Grafen überhaupt nicht als Konkurrenten wahr; ein stark externalisiertes, transparentes Bestreben des Spielleiters ›Figaro‹, »Befehle zu geben« (»a dar […] ordini«) kombiniert sich mit dem Dominanzanspruch des Mannes ›Figaro‹ nicht nur gegenüber dem Grafen, sondern auch gegenüber den übrigen männlichen Figuren. Dabei lässt er Don Bartolo und Basilio keine Gelegenheit zum Widerspruch, so dass Basilio in IV/7 nur zu konstatieren bleibt: »Ha i diavoli nel corpo.« (LNdF 162) Dass Figaro auch gegenüber dem Grafen versucht, durch Spontaneität in die offensive Position, zuerst zu handeln, zu gelangen, verdeutlichen auch weitere seiner Auftritte: so beispielsweise in II/9 sowie in III/13, als er die allgemeine Konfusion nach der Balkonszene Cherubinos und dem Auftritts von Antonio zu seinen Gunsten nutzen will: (II/9) Figaro:
Signori di fuori Son già i suonatori […] Corriamo, voliamo Le nozze a compir. (LNdF 94)
Ihr Herren, draußen warten schon die Musikanten […] Eilen wir, fliegen wir die Hochzeit zu feiern.
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(III/13) Figaro:
Ecco la marcia, andiamo; Ai vostri posti, oh belle, ai vostri posti. Susanna dammi il braccio. (Prende per un braccio la Susanna.) (LNdF 146)
Hört ihr den Marsch? Auf eure Plätze, ihr Schönen, auf eure Plätze. Susanna, gib mir deinen Arm. (Er nimmt Susannas Arm.)
Die Beschleunigungs- und Überraschungstaktik Figaros hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Bewertung seines Männlichkeitsentwurfes. Auf der Ebene der von Kilian beschriebenen Zeitkategorien32 ließe er sich als männliche Figur beschreiben, die im Bereich der ›Kohärenz‹, der Momenthaftigkeit, die Verwirklichung seines Hegemonieanspruches sucht. Die Ebene der ›Kontinuität‹ widerspricht aus Figaros Sicht dem Hegemonieanspruch, da sie seinem Konkurrenten, dem Grafen, Zeit verschaffen würde, auf die spontanen Vorschläge Figaros zu reagieren. Diese Befürchtung erweist sich innerhalb des Textes als durchaus gerechtfertigt. So entgegnet der Graf der zuvor angeführten Aufforderung Figaros zur Eile in der Hochzeitszeremonie in II/9 mit der Forderung nach Kontinuität: »Pian piano, men fretta.« (LNdF 96) Unverzügliches und kühnes Handeln soll Figaro die Möglichkeit eröffnen, sein erstes – die Heirat mit Susanna – mit dem zweiten Teilziel – der Entlarvung des Grafen – zu verbinden: Figaro:
Così potrem presto imbarazzarlo, Confonderlo, imbrogliarlo, Rovesciargli i progetti, Empierlo di sospetti […] Così quasi ex abrupto, e senza ch’abbia Fatto per frastornarci alcun disegno Vien l’ora delle nozze. (LNdF 58)
So können wir ihn rasch düpieren, ihn verwirren, ihn betrügen, seine Pläne durchkreuzen, ihn mit Misstrauen erfüllen […] So ist dann plötzlich, wie aus heiterem Himmel, und ohne dass er darauf ein probates Mittel als Reaktion wüsste, die Stunde der Hochzeit da.
Diese Strategie geht jedoch im Hinblick auf den weiteren Textverlauf, insbesondere auf den abschließenden vierten Akt, nicht auf; was dazu führt, dass Figaro die von ihm angestrebte Position als ›Spielleiter‹ nicht kontinuierlich besetzen kann. Er selbst wird schließlich in das Spiel eingebunden, was in der körperlichen Züchtigung durch Susanna in IV/13 kulminiert. Die Gründe dafür, dass er mit der Position der dramatisch treibenden Kraft auch aus dem Kernbereich ›hegemonialer Männlichkeit‹ ausscheidet, werden jedoch bereits in der Handlungsentwicklung im zweiten Akt antizipiert. Figaro ist – trotz oder gerade aufgrund seiner passionierten Liebe zu Susanna – ein an der Treue seiner Braut zweifelnder Bräutigam,33 der letztlich von den Frauen als Teilnehmer in das Verwirrspiel manövriert wird. Mehrfach, so beispielsweise in II/1, räsoniert er über eine mögliche Akzeptanz Susannas mit Bezug auf die Verführungsabsichten des Grafen: 32 33
Vgl. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78. Noske: The Signifier and the Signified, S. 14.
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Figaro (con ilare disinvoltura):
[…] Possibile è la cosa, e naturale. La Contessa: Possibil! Susanna: Natural! Figaro: Naturalissima. E se Susanna vuol possibilissima. (LNdF 56)
(mit heiterer Unbefangenheit) […] Möglich ist das alles, und nur natürlich. Möglich! Natürlich! Vollkommen natürlich. Und, wenn Susanna will, sehr gut möglich.
Die Zweifel an der Beständigkeit Susannas vermischen sich im Laufe der dramatischen Progression, insbesondere im vierten Akt, zunehmend mit misogynen Elementen und weisen aus diesem Grund eine Parallele zu den Verdächtigungen des Grafen gegenüber der Gräfin auf. Figaro ist so sehr vom Willen erfüllt, den Grafen zu düpieren, dass er dabei den Rat Marcellinas, seinen Verstand zu benutzen: »pensarci convien« (LNdF 156), der die Reprise der Forderung Susannas aus I/1: »E tu cervello« (LNdF 20) darstellt, nicht befolgt. Stattdessen geht er, von aufwühlender Eifersucht getrieben, einer neuen Aufgabe nach: »alle Ehemänner zu rächen«: »a vendicar tutti i mariti.« (LNdF 156) Je mehr Figaro sich mit der Funktion des ›Spielleiters‹ identifiziert, je stärker er die daraus resultierende Dominanz gegenüber anderen Figuren beansprucht, desto abrupter fällt seine Selbsterkenntnis in IV/8 aus: Figaro:
[…] Ed io comincio omai, A fare il scimunito Mestiere di marito. Ingrata! Nel momento Della mia cerimonia Ei godeva leggendo: e nel vederlo Io rideva di me senza saperlo. (LNdF 156)
[…] Und ich beginne jetzt, die dämliche Rolle des Ehemanns zu spielen. Undankbare! Im Augenblick meiner Hochzeitsfeier hatte er seinen Spaß beim Lesen: und als ich’s sah, da lachte ich – über mich, ohne es zu wissen.
Misogyne Elemente: »Guardate queste femmine, guardate cosa son!« (LNdF 168) mischen sich in Figaros Einschätzung der Situation mit Bitterkeit und melancholischem Selbstzweifel und lassen ihn durch die Aufzählung misogyner Attribute als intertextuelles Pendant zu einem weiteren fortweg zweifelnden Mann in den Texten Mozart/Da Pontes, Don Alfonso aus Così fan tutte, erscheinen. Die Entwicklung vom anfangs durch naiv-phlegmatische Charakterzüge gekennzeichneten hin zum sanguinischen Männlichkeitsentwurf und der zeitweilige Rückfall in die Melancholie lässt sich im Rekurs auf die von Pfister geäußerten Thesen zur Figurenkonzeption folgendermaßen deuten: Figaros Männlichkeitsentwurf nimmt zweifelsfrei eine dynamische Entwicklung und offenbart ein Potenzial der Mehrdimensionalität. Diese zeigt sich nicht nur durch die unterschiedlichen Temperamente, sondern vor allem auch durch den Wechsel zwischen eher einfältigen34 und eher intelligenten Passagen. In letztgenannten lassen Mozart/Da Ponte Figaro zuweilen pointiert argumentieren – etwa in II/9, als Figaro in seiner Replik die Gattungskonventionen der ›opera buffa‹ ironisierend reflektiert: 34
Vgl. Noske: The Signifier and the Signified, S. 10.
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Figaro:
Per finirla lietamente E all’usanza teatrale (prendendo Susanna sotto il braccio) Un’azion matrimoniale Le faremo ora seguir. (LNdF 98)
Um ein glückliches Ende zu finden, und nach guter Theatersitte, (er fasst Susanna unterm Arm) lassen wir jetzt eine Hochzeitsfeier folgen.
Intellektuelle Dominanz beansprucht Figaro auch gegenüber dem Gärtner Antonio in II/10, wobei er auch mit Bezug auf den Grafen resümierend und nicht ohne Eitelkeit feststellt: »Poverino, ne sa men di me.« (LNdF 106) Innerhalb der dramatischen Progression muss sich sein Männlichkeitsentwurf in diversen Kontexten beweisen und sieht sich einer ganzen Reihe von Spannungsverhältnissen gegenüber: der Konkurrenz mit dem Grafen, dem Misstrauen gegenüber Susanna sowie der Bedrohung durch Schulden bei Marcellina. Bereits durch die Initiation durch Susanna in I/2, in der sich der Wandel Figaros von Naivität zu Entschlossenheit andeutet, wird deutlich, dass Figaros Männlichkeitsentwurf in erhöhtem Maße der personen- oder kontextgebundenen Fremdbestimmung ausgesetzt ist und daher die eingangs aufgestellte These unterstreicht, ihn als überwiegend fremddynamische männliche Figur erkennbar werden zu lassen. Diese Klassifizierung steht dem Anspruch auf Selbstbestimmung, den Figaro während des gesamten Textes zu verwirklichen sucht, gegenüber und macht dessen Erfüllung unmöglich. Indem sich Figaro scheinbar von der Fremdbestimmung des Grafen emanzipiert, gerät er zwangsläufig in die Fremdbestimmung Susannas, aus der er sich nie vollständig befreien kann. Die Verwirrung, die in III/5 um die Herkunft Figaros zunächst entsteht und dann aufgelöst wird, bringt einen weiteren Aspekt seines Männlichkeitsentwurfes hervor, die Orientierung auf materielle Werte. Durch die Aufklärung der Umstände, die die Entführung Figaros im frühen Kindesalter betreffen, nutzt Figaro die Gelegenheit, seine noble Abstammung hervorzuheben: Figaro:
L’oro, le gemme, e i ricamati panni Che ne’ più teneri anni Mi ritrovaro adosso i masnadieri, Sono gl’indizi veri Di mia nascita illustre. (LNdF 122ff.)
Das Gold, die Edelsteine, die gestickten Tücher, die in meiner zarten Jugend die Räuber bei mir fanden, sind die wahren Beweise für meine adlige Geburt.
Figaros soziale Aspiration lässt ihn Anspruch auf die von Connell beschriebene ›patriarchale Dividende‹ erheben; wobei es sich letztendlich als unerheblich erweist, dass er der Sohn Marcellinas und Don Bartolos und somit zumindest teilweise adliger Abstammung ist. Wesentlich wichtiger sind zwei andere Aspekte: Explizit legt die Szene offen, dass Figaro unter den gegebenen Umständen unmöglich Marcellina heiraten kann und somit der Plan des Grafen, Figaro anderweitig zu binden, scheitert. Nur implizit rekonstruierbar ist die Selbstdarstellung Figaros: Die Aufzählung der materiellen Attribute – »l’oro, le gemme e i ricamati panni« – vor mehreren Zeugen lässt ihn zumindest für kurze Zeit an der materiellen Hegemonie des Grafen teilhaben, die Figaro ansonsten mit einer Mischung aus Missgunst und Neid beurteilt. 300
Die Fixierung auf materielle Werte besteht in ihm allerdings auch über diese Szene hinaus: In III/6 ist es nicht zufällig Figaro, der die vor ihn hingeworfenen Geldbörsen Susannas und Don Bartolos unverzüglich an sich nimmt – das Streben nach sozialer und an materielle Werte geknüpfter Reputation ist ein Kontinuum innerhalb seines Männlichkeitsentwurfes und verdeutlicht die Distanz, die trotz der zahlreichen Versuche, als ›Spielleiter‹ in dominante Positionen vorzudringen, zwischen ihm und den weiteren männlichen Figuren besteht. Darüber hinaus bringt der vierte Akt eine Veränderung in der Beziehung zwischen Susanna und Figaro mit sich: Susanna erkennt in IV/10 Figaros Misstrauen und beschließt, sich »zu amüsieren«: »Divertiamoci anche noi.« (LNdF 170) Der Spieltrieb Susannas lässt Figaro selber unbewusst zu einer Spielfigur werden. Anfang und Ende des Textes bilden demnach einen Rahmen, in dem Susanna – wie bereits eingangs erwähnt – in der Funktion der ›Mentorin‹ gegenüber ihrem zukünftigen Bräutigam auftreten will. Inmitten des anschließenden Tumults in IV/12 erhält der von seiner Eifersucht getriebene Figaro neben den psychischen: »Vo’ veder cosa fan là« (LNdF 178) auch eine physische Lehre, indem ihn der Graf anstelle Cherubinos schlägt und Figaro dadurch der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Jenseits des zweifelsohne komischen Potenzials dieser Gartenszene, in der der tölpelhafte Auftritt Figaros unweigerlich an die Figur des ›Arlecchino‹ aus der ›Commedia dell’Arte‹ erinnert,35 ist jedoch für die Bewertung des Männlichkeitsentwurfes bei Figaro entscheidend, welche Konsequenzen er aus der Züchtigung zieht – in diesem Fall keine erkennbaren, sodass Noske resümiert: But Figaro is unteachable. After a day of vicissitudes he has still to learn that it is the women who dominate. Not he, Susanna shall have the last word.36
Anders fällt die Bewertung des Ergebnisses der körperlichen Züchtigung Figaros bei Kunze aus, der darin die Wegbereitung einer restaurierten Harmonie zu erkennen glaubt: Per Figaro la prova d’amore definitiva sono gli schiaffi ricevuti da Susanna […]. Sono i ceffoni di Susanna – ossia un atto violento che di norma produce e rivela divisione – che ristabiliscono l’armonia.37
Statt allerdings – wie diese Einschätzung vermuten ließe – spätestens im Moment der Ohrfeige durch den Grafen die Zeit zur Besinnung zu nutzen und die Umstände der Szene genauer zu ergründen, verfolgt Figaro seine Verdächtigungen weiter und lässt sich, entgegen der Anforderungen an seine angestrebte Funktion des ›Spielleiters‹, weiterhin eher von Affekten als durch Vernunft leiten. Noske sieht in Figaros Werbeverhalten gegenüber der verkleideten Gräfin dessen Bemühungen, die Grenzen seines Standes auf amourösem Gebiet zu überschreiten,38 wobei zu bemerken ist,
35
36 37 38
Noske kommentiert diesen Auftritt wie folgt: »Although presently relieved, he makes a rather silly figure.« In: Noske: The Signifier and the Signified, S. 10. Noske: The Signifier and the Signified, S. 10. Kunze: Il teatro di Mozart, S. 297. Noske: The Signifier and the Signified, S. 10.
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dass Figaro die Gräfin ja zunächst als Susanna wahrnimmt und die Maskerade erst in IV/13 bemerkt. Die Szene IV/13 bringt demnach durch die Tatsache, dass die als Gräfin verkleidete Susanna vergisst, ihre Stimme zu verstellen, einen erneuten Wechsel der dramatisch-treibenden Instanzen hervor: Figaro erkennt die Verkleidung Susannas und entscheidet sich gerade deshalb dafür, an dem Spiel mit der Maskerade zu partizipieren: Figaro (da sè): Susanna! […] Susanna (da sè): L’iniquo io vo’
sorprendere, Poi so quel che farò. Figaro (da sè): La volpe vuol sorprendermi, E secondarla vo’. (LNdF 182)
(für sich) Susanna! […] (für sich) Den Frevler will ich erwischen, dann weiß ich, was zu tun ist. (für sich) Die Füchsin will mich erwischen, und ich will ihr dabei helfen.
Figaro gibt somit seine noch in IV/6 geäußerte Absicht auf, die anderen Figuren nach seinen Bedürfnissen anzuordnen. Zu stark wirkt in ihm der Drang, selber zu agieren. Durch das ›Mitspielen‹ in der Maskerade steigt Figaros Erregung, was sich erneut in seiner Physiognomie zeigt: »Come il polmon mi s’altera, che smania, che calor.« (LNdF 184) Die (wiederholte) körperliche Züchtigung Figaros – in diesem Fall durch Susanna – führt zur Erkenntnis auf beiden Seiten: Susanna muss in IV/14 überrascht feststellen, dass Figaro die Maskerade bereits zuvor erkennt hatte, währenddessen Figaro sich eingestehen muss, sich in seinen Eifersuchtsverdächtigungen gegenüber Susanna geirrt zu haben. Von diesem Augenblick an gibt er die Position des aktiv handelnden Mannes zugunsten der Fürbitte für Susanna (und Cherubino) auf. Im Hinblick auf die zunächst unerbittliche Haltung des Grafen in IV/15 führt diese erneute Änderung sogar dazu, dass Figaro sich dem Grafen gegenüber unterwürfig zeigt; er kniet nieder und bittet mehrmals um Vergebung. Der zuvor angeführte ›Rahmen‹ stellt somit auch die Hierarchie- und Abhängigkeitskriterien des Textbeginns wieder her: Figaro kehrt in die Position des Dieners des Grafen zurück und ist sich dessen bewusst; die Reue des Grafen ist – wie der Text unzweifelhaft zeigt – nicht auf die Initiativen Figaros, sondern auf die Figur der Gräfin von Almaviva zurückzuführen. Die Tatsache, dass die letzte nennenswerte Geste Figaros mit dem entsprechenden Text »Perdono! Perdono!« (LNdF 188) in der Unterwürfigkeit gerade eine Tendenz dokumentiert, gegen die sich Figaro zuvor mit aller Inbrunst gesträubt hatte, verdeutlicht, dass sein Männlichkeitsentwurf letztlich trotz aller Ambitionen nur zeitweise in den Kernbereich der ›hegemonialen Männlichkeit‹ vordringen, diese Position jedoch nie konstant und vor allem ohne Perspektiven besetzen konnte, sodass Noskes Konklusion wie folgt ausfällt: In the last act we see a bitter Figaro on the stage – a man who knows himself to bet he victim of an unjust social system, to which, nevertheless, unconditionally he submits.39
39
Noske: The Signifier and the Signified, S. 27.
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5.2.4 Cherubino Cherubino, dem Pagen im Hause des Grafen von Almaviva, kommt mit Bezug auf die Problematisierung der Männlichkeitsentwürfe zweifelsohne eine Schlüsselstellung in Mozart/Da Pontes Text zu. Der auf die androgyne Engelsgestalt rekurrierende Name impliziert bereits eines der vordergründigen Kennzeichen Cherubinos – die (in diesem Fall geschlechtliche) Ambiguität. Die Einzelanalyse wird aus diesem Grund insbesondere auf die Schwellenstellung, die Cherubino in diversen Bereichen einnimmt, ausführlich eingehen. Des Weiteren soll versucht werden, seinen Männlichkeitsentwurf dem des Grafen von Almaviva und Figaros gegenüberzustellen. Cherubino wird im Text mehrfach der jungen Generation zugeordnet, was ihn zunächst von den übrigen männlichen Figuren, die allesamt bereits der mittleren bzw. der älteren Generation angehören, abgrenzbar macht. Seine Zugehörigkeit zu einem höheren Stand wird indirekt im Text erwähnt, indem der Graf ihn als Offizier in ein Regiment eingliedern will, was den Rückschluss auf seine adlige Herkunft nahelegt.40 Dennoch verrichtet er im Schloss des Grafen Dienste; was ihm jedoch wiederum direkten Kontakt zu den Gemächern und damit in die Privat- bzw. Intimsphäre des Grafen und der Gräfin verschafft. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf sein Verhalten: Wenn auch seine Verwirrungen nicht allein auf die Gegenwart der Gräfin und Susannas zurückzuführen sind, – Cherubino ›begehrt‹ auch außerhalb des Schlosses – so wirkt der Kontakt mit den beiden Frauen im Schloss auf Cherubinos Konflikte in jedem Fall verstärkend. Mit seiner Jugend verbinden sich Ungestüm und Unerfahrenheit, wobei sich letztere auch zuweilen in Ungeschick äußert, was zu einem beträchtlichen Teil zur Komik des Textes beiträgt. Ähnlich wie Leporello in Don Giovanni lässt sich Cherubino der Art von Dienerfiguren zuordnen, deren Absicht es ist, sich durch die Nähe zu Figuren, die ›hegemoniale Männlichkeit‹ beanspruchen, partiell in die Möglichkeit zu manövrieren, die ›patriarchale Dividende‹ zu nutzen, um dadurch zumindest zeitweise an der Hegemonie zu partizipieren, worauf im weiteren Verlauf noch einzugehen sein wird. Allerdings werden in der Analyse auch entscheidende Unterschiede zu Leporello deutlich, die aus dem unterschiedlichen Lebensalter und der unterschiedlichen Herkunft sowie den damit verbundenen sozialen Aufstiegschancen beider Figuren resultieren. Zunächst jedoch soll das Hauptaugenmerk auf die zuvor erwähnte Ambiguität gelegt werden, die sich im Falle Cherubinos in drei wesentlichen Strängen niederschlägt: Physis, (amouröser) Unentschlossenheit sowie wiederholter figurenund männlichkeitsbetonter Autoreflexion. Alle drei Bereiche können nicht klar voneinander getrennt werden und bedingen bzw. ergänzen sich im Text wechselseitig. Cherubinos Männlichkeitsentwurf muss im Spannungsfeld zwischen allen drei Aspekten beschrieben werden. Das hervorstechende Merkmal besteht dabei vor allem in der physischen Ambiguität des Pagen, die sowohl der an verschiedenen Stellen beschriebenen Physiognomie Figaros als auch der aus dem Text rekonstruierbaren Physis des Grafen von Almaviva widerspricht. Cherubinos Körper wird im Text 40
Ähnlich argumentiert Noske. Vgl. Noske: The Signifier and the Signified, S. 19.
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wiederholt vor allem durch Susanna in die Randbereiche maskuliner Körperimaginationen gerückt. Nicht ohne Grund durchläuft Cherubino als Mann gleich zwei Travestiesituationen, wobei er in II/2 als Susanna und in III/7 als Cousine Barbarinas verkleidet werden soll. Die natürliche Physis Cherubinos erleichtert die Verkleidung als Frau aus mehreren Gründen: Susanna stellt in II/2 erstaunt fest, die gleiche Kleidergröße wie Cherubino zu haben: »Siam d’uguale statura« (LNdF 64) und reagiert im weiteren Verlauf der Szene sogar mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid auf den Anblick von Cherubinos entblößtem Arm: »Mostrate: non è mal: cospetto! Ha il braccio più candido del mio! Qualche ragazza …« (LNdF 70). Auch Barbarina hegt keine Zweifel daran, dass Cherubinos Verkleidung als ›Cousine‹ überzeugend wirken werde: »Di tutte sarai tu certo il più bello.« (LNdF 132) Die Ambiguität der körperlichen Erscheinung wird auch von männlichen Figuren kommentiert. Spöttisch prognostiziert ihm Figaro in I/8, nachdem bekannt wird, dass Cherubino auf Geheiß des Grafen in das Regiment einrücken soll, worauf er unter Soldaten verzichten und worauf er sich einstellen müsse: Figaro (a Cherubino):
[…] Non più avrai questi bei pennacchini, Quel cappello leggero e galante, Quella chioma, quell’aria brillante, Quel vermiglio donnesco color. Tra guerrieri […], Gran mustacchi, stretto sacco, Schioppo in spalla, sciabla al fianco, Collo dritto, muso franco (LNdF 52)
(zu Cherubino) […] Aus und vorbei, die schönen Federbüsche, jener leichte und galante Hut, diese Frisur, diese strahlende Miene, dieser rosige, mädchenhafte Teint. Unter Soldaten […], große Schnurrbärte, schmaler Beutel, Gewehr geschultert, den Säbel zur Seite, den Hals gerade, der Blick verwegen
Wenn auch die Fremdwahrnehmung Cherubinos ihm geschlechterübergreifend effeminierte Attribute der Körperlichkeit attestiert, so fallen die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, deutlich unterschiedlich aus: Während Figaro Cherubino in der zuvor zitierten Textpassage verspottet, wird der Page vor allem für Susanna, aber auch teilweise für die Gräfin und Barbarina trotz oder gerade wegen seiner offensichtlichen effeminierten ›Männlichkeit‹ zum Projektionsobjekt sexueller Desiderate. Mehr als jede andere männliche Figur in Le Nozze di Figaro gelingt es Cherubino, die Frauen in seiner Gegenwart durch seinen Körper, seine Stimme und sein unbeholfenes Auftreten zu betören. Während der Graf kraft seiner gesellschaftlichen Position Erotik erzwingen will und Figaro, von anderen Interessen getrieben, sich von der Erotik klar entfernt, besetzt Cherubino die Position des »farfallone amoroso« (LNdF 52), der unaufhörlich begehren will oder – getrieben von seinen Affekten – begehren muss und begehrt wird. Diesbezüglich bietet sich ein intertextueller Vergleich mit der Figur Franz aus Goethes Text Götz von Berlichingen an. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Cherubino weder durch seine physische Erscheinung noch durch seinen Habitus als (reifer) Mann gekennzeichnet ist. Der Makellosigkeit des Körpers entspricht Susannas als Schutz vor dem Zorn des Grafen intendierter Ausruf: »Egli è ancora fanciullo!« (LNdF 50) der sich auch auf die Unbeholfenheit 304
Cherubinos, seine »verliebte Heftigkeit des Pubertierenden«, bezieht. Trotz dieser Tatsachen besetzt er das Zentrum männlicher Erotik. Im Rekurs auf Kierkegaard symbolisiert Cherubino das ›erste Stadium des Musikalisch-Erotischen‹: Das Sinnliche erwacht, jedoch nicht zur Bewegung, sondern zu stiller Quieszenz, nicht zu Freude und Wonne, sondern zu tiefer Melancholie. Die Begierde ist noch nicht erwacht, sie ist schwermütig geahnt. […] Dies ist der schmerzliche, durch seine Süße aber zugleich betörende und bezaubernde Widerspruch, der mit seiner Wehmut, seiner Schwermut dieses Stadium durchdringt.41
Der tragikomischen Disposition Cherubinos entspricht jedoch über die Melancholie hinaus – und dennoch eng mit ihr verbunden – die Unfähigkeit, mit diesem erotischen Potenzial umzugehen, was sich in dem zweiten der anfangs angeführten Charakteristika äußert: der (amourösen) Unentschlossenheit. Ambiguität gilt auch an dieser Stelle als hervorstechendes Kennzeichen des Pagen; hin- und hergerissen zwischen Artikulation und Rezeption von erotischem Begehren ist er unfähig, eine konkrete Entscheidung zu treffen. Als Cherubino Susanna in I/5 seine turbulente Gefühlswelt schildert, knüpft er daran folgende Forderung: Cherubino:
Leggila alla padrona: Leggila tu medesima; Leggila a Barbarina, a Marcellina; (con trasporti di gioia) Leggila ad ogni donna del palazzo! (LNdF 32)
Lies sie der Herrin vor, lies du sie selbst, lies sie Barbarina vor, Marcellina; (freudetrunken) lies sie allen Frauen im Palast vor!
Die Serialisierung der begehrten Frauen – die Gräfin, Susanna und Barbarina – lässt auf amourösem Gebiet Vergleiche zum Männlichkeitsentwurf Don Giovannis zu.42 Wie Don Giovanni ist auch Cherubino ein ›Sklave‹ der Affekte, dessen Kontinuität in der amourösen Unordnung besteht. Ebenso wie Don Giovanni stellt auch Cherubino eine ›amouröse Liste‹ zusammen, die seine ungezügelte Begierde – wenn auch eher unbeabsichtigt – dokumentiert. Zu allen drei Frauen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen angehören, fühlt sich Cherubino erotisch hingezogen, wenn auch mit diversen Akzentuierungen. Barbarina, so wird in I/5 deutlich, ist seine heimliche Geliebte. Die Gräfin die er im selben Zusammenhang als »bella comare« (LNdF 30) bezeichnet, begehrt er ohne große Aussicht auf Erfüllung. Susanna nennt er ebenfalls in I/5 »sorella« (LNdF 30), was vorerst die Exklusion von Sexualität vermuten lässt. Zweifel an dieser Enthaltsamkeit gegenüber der Dienerin ergeben sich jedoch aus der stürmischen Umarmung in I/8 und vor allem an der Empfänglichkeit für Susannas Interesse in II/2. Der Begriff ›disordine‹ wird folglich – wie auch im Falle Don Giovannis – zum männlichkeitskonstituierenden Fak41 42
Søren Kierkegaard: Entweder – Oder. Teil 1. München 1988, S. 92. Die Affinität der Figur des Cherubino zu Don Giovanni wird in der Forschung vor allem im Rekurs auf Kierkegaard wiederholt hervorgehoben. Einige Texte sollen hier stellvertretend genannt werden: Noske: The Signifier and the Signified, S. 31; Kunze: Il teatro di Mozart, S. 276, Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 68f.
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tum Cherubinos. Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied zur Figur des Don Giovanni darin, dass Cherubino der ihn umgebenden ›Unordnung‹ zu keiner Zeit Herr wird und sie – im Gegenteil – sogar noch auf seine Umgebung überträgt. Dadurch greift er maßgeblich in die Problemkonstellationen ein, mit denen sich der Graf von Almaviva und Figaro, die beide im Gegensatz zu Cherubino den Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ direkt äußern, auseinandersetzen müssen. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass Cherubino die Auflösung der (bestehenden) Ordnung (›dissoluzione dell’ordine‹) auf amourösem Gebiet tatsächlich praktiziert, während Figaro sie auf gesellschaftspolitischem Gebiet nur propagiert: »Tutte le macchine rovescierò.« (LNdF 22) Neben der physischen und der amourösen Ambiguität nimmt Cherubino innerhalb des Textes auch durch seine wiederholte Autoreflexion der Identität und somit auch seines Männlichkeitsentwurfes eine Sonderstellung ein. Keine andere Figur kommentiert die eigenen Probleme so detailliert wie der liebestolle Page. Die Passagen der Autoreflexion lassen ihn – der Terminologie Pfisters folgend – als transpsychologische Figur klassifizieren, die durch Eigenkommentare die Grenze zur Irrationalität beschreibt: […] sie [die transpsychologische Figurenkonzeption, M.B.] liegt häufig satirischen Figuren zugrunde, die dann gleichzeitig als Subjekt und Objekt der Satire fungieren […], die ihr tragisches Dilemma mit einer Bewußtheit zu artikulieren vermögen, die dieses transzendiert.43
Vor allem in den Szenen I/5 und II/2 treten die Autoreflexionen verstärkt hervor. Cherubinos Männlichkeitsentwurf ist nicht nur der sexuellen und amourösen Ambiguität unterworfen; er zweifelt grundlegend daran, was sich in I/5 deutlich zeigt: Cherubino:
Non so più cosa son, cosa faccio, Or di foco, ora sono di ghiaccio, Ogni donna cangiar di colore, Ogni donna mi fa palpitar. (LNdF 32)
Ich weiß nicht mehr, was ich bin, was ich tue, bald glüh ich wie Feuer, bald erstarr ich zu Eis, Bei jeder Frau werde ich rot, bei jeder Frau klopft mir das Herz.
Der Auszug verdeutlicht die bereits angesprochene wechselseitige Beeinflussung von physischen, erotisch-sinnlichen und autoreflexiven Aspekten der Ambiguität Cherubinos. Er verweist durch die Überblendung von Identitätsfindung und amourösen Zweifeln auf den paradoxen Zustand des Liebenden, wie er durch Francesco Petrarca im Sonett 134 des Canzoniere beschrieben wurde,44 wobei der an den Canzoniere gemahnte amouröse Thesaurus das Identitätsproblem reflektiert: Pace non trovo, et non ò da far guerra; e temo, et spero; et ardo, et son un ghiaccio;
43 44
Frieden finde ich nicht, doch habe ich nichts zu kämpfen und ich bange und hoffe und glühe und erstarre zu Eis;
Pfister: Das Drama, S. 248. Verweise auf den Petrarkismus in Le Nozze di Figaro finden sich in: Jürgen von Stackelberg: Cherubino d’amore. Von Beaumarchais zu Da Ponte. In: Arcadia 25 1990, S. 141f.
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et volo sopra ’l cielo, et giaccio in terra; et nulla stringo, et tutto ’l mondo abbraccio.45
und fliege am Himmel entlang und stürze auf die Erde; und halte nichts fest, und umarme die ganze Welt.
In der Ungewissheit, seiner amourösen Affekte Herr zu werden, besteht ein weiterer entscheidender Unterschied zur Figur des Don Giovanni, dessen Identität durch die von ihm absichtlich initiierte ›Unordnung‹ nicht in Zweifel gezogen wird, sondern sich gerade darauf stützt. Cherubino befindet sich im entgegengesetzten Zustand: Seine Verwirrung trägt er mit Susanna einer Figur vor, mit der ihn eine mehrdimensionale Beziehung verbindet. Susanna tritt Cherubino gegenüber in Mozart/Da Pontes Text sowohl in erotikfernen als auch in erotiknahen Funktionen auf. Als mutterähnliche Instanz – was sich anhand ihrer Fürsprache gegenüber dem Grafen in I/8 zeigt »Egli è ancor fanciullo!« (LNdF 50) – kennzeichnet sie im Vergleich zu Cherubino intellektuelle Überlegenheit, die es ihr erlaubt, die ihr bekannten (zunächst) heimlichen Schwärmereien des Pagen für die Gräfin in I/5 spöttisch zu kommentieren. Cherubino selbst ist sich jedoch seiner asexuellen Beziehung zu Susanna nicht sicher. In IV/11 werden seine erotischen Wünsche gegenüber der als Susanna verkleideten Gräfin transparent, wobei die Ironie darin besteht, dass sich ihm somit die Chance bietet, der eigentlichen Bezugsperson (der Gräfin) tatsächlich nahe zu kommen, obwohl die Verkleidung ihm suggeriert, Susanna vor sich zu haben. Die wiederholte Körperlichkeit – Cherubino hält und küsst sowohl in IV/11 als auch in IV/12 die Hand der verkleideten Gräfin – bringt ihn somit unwissentlich ans Ziel seiner zuvor so häufig artikulierten Wünsche; was die Verbindung von Glücksempfinden und Tragikomik in seinen erotischen Bemühungen pointiert. In der Travestieszene in II/2 avanciert Cherubino zum Komplizen Susannas und der Gräfin, woraus sich während der Verkleidung die erotisch-sinnliche Wirkung des Pagen auf Susanna entwickelt. Zahlreiche Attribute der sexuellen Attraktivität werden in diesem Zusammenhang auf Cherubin projiziert: Er wird als »bel soldato« (LNdF 64) bezeich45 net, und schließlich äußert Susanna ihre Bewunderung gegenüber der Gräfin: Susanna (Piano alla Contessa)
Mirate quel bricconcello! Mirate quanto è bello! Che furba guardatura! Che vezzo, che figura! (LNdF 68)
(Leise zur Gräfin) Seht nur den Schelm an! Seht, wie schön er ist! Wie durchtrieben sein Blick! Welche Anmut, was für eine Figur!
Wie genau Cherubino dabei als Objekt der sexuellen Desiderate der Frauen (»se l’amano le femmine«) darstellt, soll vorerst noch in der Analyse zurückgestellt werden. Zunächst ist folgender Aspekt interessant: Die Fremdwahrnehmung der effeminierten Kennzeichen des Pagen spiegelt sich auch in der Charakterisierung durch andere männliche Figuren wider. Während der Graf von Almaviva in Cherubino einen amourösen Konkurrenten: »il damerino« (LNdF 42) erkennt, was anhand seiner Replik: »Men di quel che tu credi« (LNdF 50) auf Susannas: »Egli è ancora fanciullo« 45
Francesco Petrarca: Canzoniere. Roma 1997, S. 145f. Übersetzung: M.B.
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(LNdF 50) deutlich wird, beschreibt Figaro ihn vor allem in I/8 halb spöttisch, halb ernsthaft als Überblendung verschiedener mythologischer Figuren, denen allesamt eine ungebremste sexuelle Libido gemein ist: Figaro (a Cherubino):
Non più andrai farfallone amoroso Notte e giorno d’intorno girando; Delle belle turbando il riposo Narcisetto, Adoncino d’amor. (LNdF 52)
(zu Cherubino) Aus und vorbei, verliebter Schmetterling, das muntere Gaukeln tagsüber und nachts, das Unruhestiften bei den Schönen kleiner Narziss, Adonis der Liebe.
Die Verbindung Cherubinos zu beiden mythologischen Figuren – Adonis und Narziss – besteht dabei sowohl in den Attributen körperlicher Schönheit,46 der Fixierung auf den erotischen Affekt als auch in dessen gleichzeitiger Unbeherrschbarkeit, die sowohl bei Adonis als auch bei Narziss zum Tod führt.47 Trotz der Tatsache, dass Cherubino selbstverständlich im Unterschied zu Adonis und Narziss nicht direkt in Todesgefahr schwebt, offenbart sein ungezügelter Durst nach Erotik zweifelsohne auch selbstzerstörerische Potenziale. Die bereits besprochenen petrarkistischen Zitate aus I/5 werden in II/2 noch intensiviert und treten als unmarkierte Beispiele referentieller Intertextualität: »non trovo pace« (LNdF 64) auf, wodurch Cherubino die im Petrarkismus frequent verwendete Darstellung des amourösen Affekts als ›süßen Schmerz‹ (›dulce malum‹)48 reflektiert. Der Rekurs auf die mythologischen Figuren bietet allerdings darüber hinaus noch einen weiteren Anknüpfungspunkt: Sowohl Adonis als auch Narziss sind Vertreter einer jungen – oder, besser formuliert, jugendlichen – ›Männlichkeit‹, die einen männlichen Initiationsprozess entweder noch nicht durchlaufen haben (Narziss) bzw. in einem solchen sterben (Adonis). Auch Cherubino soll ›männlich‹ initiiert werden: Der Graf beabsichtigt, ihn aus seinem Einflussbereich zu entfernen und ihm eine Offiziersstelle in seinem Regiment zuzuweisen. Das Militär gilt als traditioneller Schauplatz einer dezidiert ›männlichen‹ Initiation und wirkt gerade aus diesem Grund als denkbar ungeeigneter Ort für Cherubino. Diesem ist das bewusst – er droht, vom amourösen in ein berufliches Unglück zu geraten. Interessant ist dabei, dass – wie in II/2 zu Beginn deutlich wird – Cherubino offenbar keine Vorstellung davon hat, was ihn beim Militär erwartet. Der jugendliche Zustand des Pagen ist der Momenthaftigkeit unterworfen, wie Kunze herausarbeitet: 46
47
48
Das Schönheitsattribut wird auch durch Stackelberg hervorgehoben. Vgl. von Stackelberg: Cherubino d’amore, S. 143. Bei Adonis wird dieser Zusammenhang indirekt dadurch hergestellt, dass Ares, von Eifersucht auf die Zuneigung der Aphrodite gegenüber dem schönen Jüngling getrieben, ihm einen wilden Eber schickt, den Adonis zwar erlegt, jedoch vorher im Kampf tödlich verwundet wird. Narziss stirbt in direkter Einwirkung der Schönheit seines Spiegelbildes, in das er sich an einem See verliebt und sich daraufhin selbst erkennt, woraufhin sich die Prophezeiung des Theiresias erfüllt, nach der er ewig leben solle, solange er »sich nicht selbst kennenlerne«. Zit. nach: Vollmers Wörterbuch der Mythologie aller Völker. S. 11f. (Adonis) und S. 343f. (Narziss). Vgl. Kierkegaard: Entweder – Oder, S. 93.
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Egli vive quell’attimo irrepitibile che divide la fanciullezza dalla maturità, il momento della innocente »formazione« […], l’istante in cui il presentimento si trasforma in consapevolezza e lo splendore dell’eterna giovinezza è pervaso dall’anelito verso un’esperienza e verso un appagamento finalmente umani.49
Dass Cherubino sich noch im Anfangsstadium des von Kunze beschriebenen Prozesses befindet, wird dadurch bestätigt, dass seine einzige Sorge darin besteht, durch die Einberufung zum Militär die komfortable Nähe des Palastes (und damit auch zur Gräfin) aufgeben zu müssen: Susanna:
[…] avanti, avanti: Signor uffiziale. Cherubino: Ah, non chiamarmi Con nome sì fatale! Ei mi rammenta Che abbandonar degg’io Comare tanto buona … (LNdF 60)
[…] herein, herein, Herr Offizier. Ach, nennt mich nicht bei diesem Unglücksnamen! Er erinnert mich daran, dass ich sie verlassen muss, eine so gütige Patin …
Auch aus der Wahrnehmung der anderen Figuren lässt sich die Unvereinbarkeit Cherubinos mit dem System des Militärs ableiten: Figaros süffisanter Abschiedsgruß mündet in die (ironische) Formel: »Cherubino alla vittoria; alla gloria militar.« (LNdF 52) Die beiden Bereiche der betont maskulinen, militärischen und des effeminierten Männlichkeitsentwurfes legen einen Einbezug der Ergebnisse der (männlichen) Körperforschung nahe. Schmale arbeitet in seinem historischen Abriss der Körperforschung die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als eine Periode der zunehmend geschlechterbezogenen Determinierung von Körperimaginationen und deren Darstellungen heraus.50 Eine der Formen spezifisch ›männlicher‹ Körpermetaphern51 findet sich in dem gepanzerten, wehrhaften Soldatenkörper wieder, der nach Böhnisch beide Triebkräfte der Körperlichkeit, Selbstbehauptung und Selbstschutz, bediene.52 Im Falle Cherubinos wird diese Widerspruch im Text vor allem durch den fingierten Abschiedsgruß Figaros in I/8 nur in Aussicht gestellt, da Cherubino die Offiziersstelle weder tatsächlich antritt und sich dem Initiationsritus somit entzieht noch sie als solche über die Tatsache hinaus, von der Gräfin entfernt zu sein, wirklich reflektiert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, nach den durch Böhnisch beschriebenen Triebkräften der Körperlichkeit im Falle Cherubinos zu fragen: Selbstbehauptung erscheint dabei als sehr unplausibel, da Cherubino keine Anzeichen (physischer) Dominanz gegenüber den anderen männlichen Figuren aufweist; der Trieb des Selbstschutzes würde der Angst Cherubinos entsprechen, die er – insbesondere gegenüber dem zu erwartenden Zorn des Grafen – mehrfach äußert. Allerdings würde der Trieb zum Selbstschutz auch ohne Uniform bereits eine gewisse 49 50 51
52
Kunze: Il teatro di Mozart, S. 300. Vgl. Schmale (Hg.): MannBilder, S. 29. Schmale verwendet den Begriff ›Körpermetapher‹ in seinem Text als »geschlechtlich determiniertes, sexualiertes Körperbild«. In: Schmale (Hg.): MannBilder, S. 22. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 111ff.
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Entschlossenheit zur Wehrhaftigkeit voraussetzen, mit der Cherubino offenbar nicht ausgestattet ist; überhastete Flucht, ungeschicktes Verstecken und Verkleidung durch Frauen sind die ›Waffen‹, mit denen er agiert. Die körperliche Reinheit, die Unentschlossenheit zur körperlichen Auseinandersetzung und somit die Ablehnung von Gewalt lassen ihn aus der Perspektive der Körperforschung als effeminierten Mann klassifizieren. Die gleichzeitige Betonung der selbstreflexiven Aspekte, die ihn als transpsychologische ›männliche‹ Figur kennzeichnen, widersprechen einem externalisierten Männlichkeitsentwurf und verweisen auf eine deutliche Dominanz der internalisierten Affektgebundenheit – die, wie aus dem zuvor Festgestellten hervorgeht – keine Anbindung an eine ›männliche‹ Körpermetapher findet. Eine der entscheidenden Szenen in der Bewertung von Cherubinos Männlichkeitsentwurf ist die Travestieszene II/2, in der der Page – nachdem er der Gräfin und Susanna seine amouröse Verwirrung vorgetragen hat – als Susanna verkleidet werden soll, um die gegen den Grafen gerichtete Intrige zu bewerkstelligen. Der Verlauf der Szene entspricht einer erotischen Klimax, in der vor allem Susanna die körperlichen Reize Cherubinos mit zunehmender Dauer (und zunehmender Ent- bzw. Verkleidung) immer stärker bemerkt, kommentiert und ihnen beinahe zu erliegen droht. Der Gräfin kommt in diesem Zusammenhang die Funktion der disziplinierenden Instanz zu, die zwar zugeben muss, von der Stimme Cherubinos überrascht zu sein: »Bravo! Che bella voce! Io non sapea che cantaste sì bene« (LNdF 64), jedoch ihre Affekte jederzeit beherrschen kann. Ihre Faszination gegenüber dem Pagen leitet sich aus rein mütterlich-beschützenden Motiven her; sie deutet das jugendliche Alter Cherubinos nicht als sexuellen Stimulus, sondern als Ausdruck seiner Hilfsbedürftigkeit. Aus diesem Grund nimmt sie ihn in IV/11 als »kleinen Pagen«: »picciol paggio« (LNdF 174) wahr. Susanna dagegen initiiert das erotische Spiel der Maskerade53 mittels der Körperlichkeit; sie nimmt Cherubinos Maße und vergleicht sie mit ihren eigenen, frisiert ihn und »wendet ihn nach Belieben hin und her«: »lo prende pel mento e lo volge a suo piacere.« (LNdF 66) Die Beliebigkeit der Bewegung lässt Cherubino von einem ursprünglich rein abstrakten ›Objekt‹ im Plan der Maskerade zu einem konkreten ›Objekt‹ der Körperlichkeit werden, das für Susanna manövrierbar ist. Cherubino wird nicht nur seiner (männlichen) Kleidung entledigt und durch die neue Frisur und die Haube der Gräfin in seiner Physiognomie verändert; sondern schließlich auch zu einem willenlosen Artefakt in den Händen Susannas umfunktioniert, was sich auch anhand des spielerisch-befehlenden Tonfalls Susannas während der Maskerade ergibt: Susanna:
Venite inginocchiatevi: […] Restate fermo lì. […] Pian piano or via giratevi: Bravo, va ben così. […] La faccia ora volgetemi: Olà quegli occhi a me. (LNdF 66)
53
Kommt, kniet nieder: […] Bleibt schön so, wie Ihr seid. […] Jetzt dreht Euch ganz langsam um: Brav, so ist es gut. […] Jetzt schaut mich an: Holla, die Augen zu mir.
Zur Inszenierung der Maskerade als Spiel vgl. Gier: Cherubinos Haube, S. 34f.
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Überfordert die männliche Identitätskrise Cherubino bereits vor der Verkleidung als Frau, so wird sie danach zusätzlich intensiviert. Paradoxerweise macht ihn gerade dieser Aspekt aus Susannas Sicht sexuell begehrenswert. Die folgende Passage beschreibt – wie bereits zuvor angekündigt – wie der Page zur Projektionsfläche sexueller Desiderate für sie wird: Susanna (Piano alla Contessa)
Mirate quel bricconcello! Mirate quanto è bello! Che furba guardatura! Che vezzo, che figura! Se l’amano le femmine Han certo il lor perché. (LNdF 68)
(Leise zur Gräfin) Seht nur den Schelm an! Seht, wie schön er ist! Wie durchtrieben sein Blick! Welche Anmut, was für eine Figur! Wenn ihn die Frauen lieben, haben sie gewiss ihre Gründe.
In der Reaktion Susannas auf den effeminierten Cherubino verdeutlichen Mozart/Da Ponte indirekt die Brüchigkeit eines übergreifenden Männlichkeitsentwurfes im ausgehenden 18. Jahrhundert, der Anspruch auf alleinige (erotische) Hegemonie gegenüber konkurrierenden Männlichkeitsentwürfen erhebt: Susanna wird von einem aristokratischen Libertin sexuell begehrt, sie ist einem bürgerlichen Mann, der sie passioniert liebt, versprochen, und dennoch richtet sich ihre einzige Artikulation sexueller Desiderate gerade an einen effeminierten Mann, der weder über Besitz, gesellschaftliche Reputation oder eine hervorstechend ›männliche‹ Körperlichkeit verfügt und sich außerdem in einer geschlechts- und altersbedingten Identitätskrise befindet. Wie pointiert die Faszination Susannas für Cherubino ist, lässt sich auch daran erkennen, dass sie beim Entdecken ›weiblicher‹ Attribute (die vergleichbaren Kleidermaße zwischen ihr und Cherubino, der Anblick der weißen Haut auf Cherubinos Arm) noch eine zusätzliche Steigerung erfährt. Allerdings wird Cherubino nicht nur durch Susanna begehrt: Auch in III/7, die der zweiten Travestie des Pagen durch Barbarina vorangeht, bildet die ›Schönheit‹ sein zentrales Attribut. Erneut soll er verkleidet werden, erneut trifft eine Frau die Entscheidung darüber, und erneut erscheint Cherubino eher als ›Objekt‹ der Handlung und widerspricht dadurch dem durch die anderen männlichen Figuren besetzten Drang nach Aktion und Spontaneität. Die männlichkeitsbezogene Paradoxie von Le Nozze di Figaro scheint folglich darin zu bestehen, dass die Konkurrenten um ›hegemoniale Männlichkeit‹, der Graf von Almaviva und Figaro, zumindest im amourösen Bereich von einer Figur übertroffen werden, die weder Anspruch auf diese Position erhebt noch über probate Mittel verfügt, sie dauerhaft zu besetzen. Kunze kommentiert diesen ungewollten Vorstoß Cherubinos wie folgt: […] è l’unico che non persegue alcun scopo preciso – senza la sua estasiata e estasiante grazia giovanile, che tutto domina, tutto tiene in sospeso.54
Dass Cherubino das eigentliche erotische Zentrum des Textes besetzt, stellt die anderen Männlichkeitsentwürfe vor eine Herausforderung, derer sie sich nur unzureichend erwehren können: Der Graf wirkt in seinen Aktionen untypisch gehemmt, und 54
Kunze: Il teatro di Mozart, S. 287.
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Figaro verliert sich in unwesentlichen Nebenerscheinungen. All jenes steht – wenn auch nicht ausschließlich – in Zusammenhang mit Cherubinos ›unmännlichem‹ Männlichkeitsentwurf. Wie überzeugend Cherubino die jeweiligen Travestiepläne umsetzen kann, dokumentiert eine Szene im dritten Akt des Textes: In III/11 erkennt die Gräfin Cherubino, der als »liebenswertes, äußerst bescheidenes Mädchen«: »amabil fanciulla ch’ha l’aria sì modesta« (LNdF 140) verkleidet erscheint, zunächst nicht und küsst ihn zum Gruß auf die Stirn, woraufhin ihn seine Gesichtsröte gegenüber den anderen Figuren verrät. Eine wichtige interpersonale Beziehung wurde aus der Beschreibung des Männlichkeitsentwurfes Cherubinos bislang ausgespart: die Interaktion zwischen dem Grafen von Almaviva und Cherubino. Die Beziehung ist durch hierarchische Abhängigkeit, die soziale Rollenzuweisung als Herr und Diener und den Affekt der Angst Cherubinos vor dem Zorn des Grafen maßgeblich geprägt und weist damit klare Parallelen zum Verhältnis zwischen Don Giovanni und seinem Diener Leporello auf. Inmitten des Tumults in der Gartenszene des vierten Aktes kommt einer Äußerung Cherubinos eine entscheidende Bedeutung zu: La Contessa: Cherubino
Via partite, o chiamo gente!
(sempre tenendola per la mano): Dammi un bacio, o non fai niente. La Contessa: Anche un bacio che coraggio! Cherubino: E perché far io non posso, Quel che il Conte ognor farà? (LNdF 176)
Verschwindet, oder ich rufe um Hilfe! (hält immer noch ihre Hand fest) Gib mir einen Kuss oder sei still. Auch noch einen Kuss, wie tollkühn! Und warum darf ich nicht tun, was der Graf jederzeit tut?
Die Äußerung reflektiert die patriarchale Dividende – oder, anders formuliert, die Partizipation an dem aus Cherubinos Sicht hegemonialen Männlichkeitsentwurf des Grafen trotz des Fehlens der dafür erforderlichen Voraussetzungen (soziale Reputation, körperliche Stärke, Entschlossenheit, Dynamik). Dies wird nur dadurch möglich, dass Cherubino unter Berufung auf das gleiche Geschlecht eine Parallele zum Grafen herzustellen bemüht ist und aus dieser Erkenntnis heraus einen entsprechenden Anspruch Recht ableiten will. Die Berufung auf das (männliche) Geschlecht zur Herleitung sexueller Desiderate gegenüber einer Frau – Cherubino verlangt von der als Susanna verkleideten Gräfin einen Kuss (»un bacio«) – weist in einzelnen Bereichen eine Nähe zu dem von Holter beschriebenen Theorieansatz der ›direkten Geschlechtshierarchie‹ auf. Allerdings ist der bei Holter beschriebene Zusammenhang von Machtausübung und männlichem Dominanzverhalten im Beispiel Cherubinos allenfalls zart angedeutet und zeigt die Grenzen der Anwendbarkeit dieses Theorieansatzes auf eine Figur wie Cherubino auf. Die Tatsache der Artikulation sozialer (und amouröser) Ambitionen lässt einen Vergleich zu Leporellos Forderung: »Voglio far il gentiluomo, e non voglio più servir« zu, wobei der wesentliche Unterschied zwischen beiden Dienerfiguren darin besteht, dass Cherubino eine Frage – und keine Forderung – formuliert. Seine Äußerung ist daher eher als Ausdruck seiner Verständnislosigkeit denn als Berufung auf Mechanismen männlichkeitsinhärenter Dominanzansprüche zu verstehen, worin sich erneut der effeminierte, konfliktableh312
nende Habitus des Pagen niederschlägt. Entsprechend entschieden kommentieren die weiteren anwesenden Figuren (Susanna, die Gräfin, der Graf und Figaro) die Frage Cherubinos. Der Versuch des Pagen, die verkleidete Gräfin tatsächlich zu küssen, stellt innerhalb des Textes die einzige Passage dar, in der sich Cherubino aus seinen amourös-melancholischen Zweifeln löst und im Begriff ist, wirklich zu handeln: Through his unappeasable appetite the page confuses the Count as well as the Countess and Susanna. In this way he imitates his master’s game; and because Almaviva recognizes himself in the young man’s behaviour, he is almost powerless to punish him efficiently.55
Es kann als symptomatisch für die Unfähigkeit Cherubinos verstanden werden, auf praktischem Wege erfolgreich zu sein, dass dieser Versuch misslingt und zu einem komödiantischen Höhepunkt des Textes wird, indem Cherubino den Grafen anstelle der Gräfin küsst. Auf die pointierte Wirkung dieser Aktion ist bereits in der Analyse des Männlichkeitsentwurfes des Grafen hingewiesen worden:56 Ebenso wie der zuvor betont maskulin auftretende Graf in seiner Wehr- und Waffenlosigkeit gegenüber dem effeminierten Pagen die Grenzen der Karikatur streift, unterstützt die (wenngleich unbeabsichtigte) intime Berührung die zuvor bereits anhand der Physiognomie und des Habitus’ aufgezeigten androgynen Aspekte Cherubinos, der sich schließlich auch in seinem bislang einzigen dezidiert ›männlichen‹ Bereich – seiner sexuellen Präferenz – zumindest nicht mehr nur hetero-, sondern auch homoerotischen Aspekten ausgesetzt sieht. Das burlesk-subversive Potenzial der Szene wird vor dem Hintergrund der Entstehungszeit auch dadurch deutlich, dass Cherubinos intimer Fauxpas für ihn selber ungeahndet bleibt; der Page scheidet, pointiert formuliert, durch einen homoerotischen Kuss und somit auf dem Höhepunkt seines effeminierten Männlichkeitsentwurfes aus dem Handlungsverlauf aus. Zusammenfassend weist Mozart/Da Pontes Text Le Nozze di Figaro verschiedene Männlichkeitsentwürfe auf, die skalenhaft die Positionen von dominant-maskulin bis hin zu effeminiert-maskulin besetzen. Während die Männlichkeitsentwürfe des Grafen und Figaros – der männlichen Figuren der mittleren Generation – vor allem die Überblendung amouröser, sozialer und machtpolitischer Gesichtspunkte offenlegen, lässt sich Cherubino nicht ohne Weiteres einer dieser Kategorien zuordnen. Der durch zahlreiche Attribute der Androgynität gekennzeichnete Cherubino steht ganz im Zeichen des ungebändigten Eros; seine physische Interimsstellung zwischen Jugend und Erwachsenheit korrespondiert mit seiner psychischen Verwirrung, die aus der Unbeherrschbarkeit der amourösen Triebe resultiert. Die Auseinandersetzung um den Kernbereich ›hegemonialer Männlichkeit‹ vollzieht sich zwischen dem Grafen und Figaro, zwischen Aristokrat und Diener, zwischen einem noch nicht vollständig entsagenden Libertin und einem noch nicht vollständig überzeugten passioniert Liebenden. In der Auseinandersetzung dieser beiden Männlichkeitsentwürfe und insbesondere der Interaktion mit den in Le Nozze di Figaro dominanten weiblichen Figuren entfaltet sich das dramatische Potenzial des Textes, das in die 55 56
Noske: The Signifier and the Signified, S. 32. Vgl. Mechthild Fend, Marianne Koos (Hg.): Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit. Köln 2004, S. 186.
313
Schlussfolgerung mündet, dass beide männliche Rivalen letztlich als mehr oder weniger düpierte Bittsteller vor ihren weiblichen Partnern auf die Knie fallen. Die teilweise sehr komplexen und turbulenten Strategien, die beide auf dem Wege zu diesem Finale anwenden, machen Le Nozze di Figaro zu einem Text, in dem die Genderund – für das Interesse der vorliegenden Arbeit ausschlaggebend – vor allem die Männlichkeitsproblematik auf komplexe, intelligente Weise reflektiert und zuweilen karikiert, in jedem Falle aber kontrovers diskutiert wird.
5.3
Wolfgang Amadeus Mozarts/Lorenzo Da Pontes Don Giovanni ossia il Dissoluto Punito57
5.3.1 Schwerpunkte der Analyse In der Liste der männlichen Figuren in Mozart/Da Pontes Text nimmt Don Giovanni die zentrale Position ein, an der sich alle anderen Figuren ausrichten. Er ist gleichzeitig Leporellos Herr, der Mörder des Komturs, Rivale Don Ottavios und Nebenbuhler Masettos. Die Konstellation weist ihn demnach gegenüber den anderen männlichen Figuren als entweder hierarchisch überlegen (Leporello, Masetto), oder als hierarchisch ebenbürtig, aber kontrapunktartig entgegengesetzt (Don Ottavio, der Komtur) aus. Da aufgrund der Konstellation davon ausgegangen werden muss, dass Don Giovanni von den ihm hierarchisch unterstellten Figuren ebenso wie von den zwar hierarchisch gleichgestellten, aber ideenbezogen entgegengesetzten Figuren bekämpft wird, ergibt sich bereits durch die Titelfigur in den diversen Konstellationen ein spannungsgeladenes Potenzial für Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Männlichkeitsentwürfen. Die Don Giovanni hierarchisch gleichgestellte Figur, Don Ottavio, ist entscheidend durch das Merkmal der Racheabsicht gegenüber Don Giovanni gekennzeichnet. In Don Ottavios Fall gilt die Rache dem Beschmutzer der Ehre seiner Geliebten. Wie bereits an diesen ersten Konstellationsmechanismen deutlich wird, dient Mozart/Da Ponte Rache als wesentlicher Affekt zur Versinnbildlichung der Distanz, die zwischen Don Giovanni und den anderen männlichen Figuren besteht. Leporello ist als Diener Don Giovannis nicht primär durch den Affekt der Rache, sondern vielmehr durch die hierarchisch bedingte Abhängigkeit in der Figurenkonstellation positioniert. Diese enge Bindung an die Titelfigur zieht auch Leporellos kontroverse Position gegenüber den anderen Figuren nach sich – binnen- und zwischengeschlechtlich. Für die dramatische Progression, die sich entscheidend auf die Akkumulation der Sünden Don Giovannis stützt, ist dabei entscheidend, dass die Liaison zwischen Don Giovanni und Donna Elvira – wie in I/5 deutlich wird – analytisch in den Text eingeführt wird und auf einen Punkt weit vor dem eigentlichen Beginn der Handlung zurückweist. Demgegenüber steht die minutiös geplante Ver57
Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: W. A. Mozart: Don Giovanni. KV 527. Il dissoluto punito o sia Il Don Giovanni. Text von L. da Ponte. Stuttgart, 2005. Im Folgenden zitiert als Sigle: DG, Seitenzahl.
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führung des Bauernmädchens Zerlina, die im Text von I/8 an in sämtlichen Einzelschritten nachvollziehbar wird. Der Gegensatz von Retrospektive (Donna Elvira) und aktuellem Geschehen (Zerlina) bewirkt, dass Donna Elvira Don Giovanni gegenüber (zunächst) als Anklägerin auftritt, währenddessen Zerlina an den Verführungskünsten bis zu einem gewissen Punkt durchaus Gefallen findet. Beiden amourösen Situationen ist gemein, dass sie keine direkten Konsequenzen im Hinblick auf Don Giovannis amouröses Streben fordern. Die Tragik der Titelfigur erwächst dagegen aus dem dritten Verführungskonflikt, der direkt am Beginn des Textes steht: Don Giovannis Beziehung zu Donna Anna. Ihr gegenüber ist Don Giovanni im Gegensatz zu den beiden anderen Frauenfiguren nicht nur der Verführer bzw. Lüstling, sondern darüber hinaus der Mörder ihres Vaters. Der Mord selber geht wiederum aus der Verführung hervor. Erst daraus resultieren Don Ottavios Schwur in I/3, den Mord zu rächen, und Don Giovannis Spott über die Staue des Komturs in II/11. An diesem Beispiel wird deutlich, wie stark die Konstellation der männlichen Figuren untereinander (Allianzbildung und Racheforderung gegen Don Giovanni) durch die amourösen Beziehungen der Titelfigur gelenkt wird. Eine Sonderstellung kommt Leporello zu: Gerade in den Szenen der Maskerade in II/3 und II/7 fungiert er als Figur, die ein »männliches Spiel im Spiel« inszeniert, indem Leporello seinen Herren auf Befehl möglichst überzeugend imitieren soll. Dabei gelingt Mozart/Da Ponte mit dem spielenden Leporello der Übergang zwischen der männlichen Figur Don Giovannis, die sich als Handlungsträger zeigt, und dem männlichen Typus des Verführers, der aus Leporellos Perspektive in seinem Spiel dargestellt wird. Anders formuliert, wird Don Giovannis Männlichkeitsentwurf in der Maskerade-Szene durch Leporello als typologisch-imitierbar dargestellt, was Gegenstand der Einzelanalyse wird. Die Einzelanalyse umfasst über Don Giovanni hinaus Leporello sowie Don Ottavio. 5.3.2 Don Giovanni »Quel casinetto è mio«: nobile, libertino, seduttore Einen interessanten Einstieg in die Untersuchung bietet die Zugehörigkeit der Figur Don Giovanni zu einem bestimmten sozialen Stand58 und die damit verbundenen Machtbeziehungen, die sich mit Connells Ausführungen zur ›Gentry‹ ergänzen lassen. Da gezeigt werden soll, wie die Standeszugehörigkeit der Artikulation von ›Männlichkeit‹ in Don Giovannis Fall gewisse Bahnen vorgibt, wird mit dem letzten, soziokulturellen Argument der sogenannten ›Standeszugehörigkeit‹ Don Giovannis begonnen. Don Giovanni gehört einem gesellschaftlichen Machtbereich an, der zweifelsohne wesentliche Merkmale der von Connell und Pfister ausführlich beschriebenen Kategorie ›Gentry‹ trägt. Er ist von adeliger Herkunft, besitzt die finanziellen Ressourcen, sich ein standesgemäßes Leben zu leisten und teilt damit wesentliche Kennzeichen des Grafen von Almaviva in Le Nozze di Figaro. Die Grundpfeiler 58
Vgl. Pfister: Das Drama, S. 228ff.
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des Lebensstils, den Don Giovanni pflegt, sind Land- und Gutsbesitz, die Selbstverständlichkeit eines persönlichen Bedienstetenapparates, das offensichtliche Fehlen eines geregelten Tages- und Arbeitsablaufes, sowie ein daraus resultierendes Streben nach verschiedenen Formen des Lustempfindens, die ein breit gefächertes Spektrum von Speis und Trank, Spott, Maskerade, Tanz und rauschendem Fest sowie diverse Abenteuer im amourösen Bereich umfassen. Jeder einzelne dieser Bereiche findet sich im Text an entscheidenden Stellen wieder, wobei besonders interessant ist, wie sich die singulären Komponenten teilweise untereinander bedingen. In I/9 äußert Don Giovanni die Absicht, Zerlina in sein Schloss zu geleiten: Don Giovanni:
[…] Quel casinetto è mio: soli saremo, E là, gioiello mio, ci sposeremo. Là ci darem la mano, Là mi dirai di sì; Vedi, non è lontano, Partiam, ben mio, da qui. (DG 46)
[…] Das Schlösschen dort gehört mir: Wir werden allein sein, und da, mein Schatz, heiraten wir. Dort reichen wir uns die Hand, dort gibst du mir dein Ja; du siehst, es ist nicht weit, gehen wir dorthin, meine Liebe.
Auf die genaue Analyse der für die Verführungskunst Don Giovannis symptomatischen Szene wird noch einzugehen sein; entscheidend ist an dieser Stelle jedoch der Zusammenhang, der zwischen dem Landbesitz (»casinetto«) und der Verführungsabsicht (»soli saremo … ci sposeremo«) besteht. Nur in der Gewissheit der Abgeschiedenheit eines (eigenen) Schlosses gelingt es Don Giovanni, sein Bestreben nach Lustempfinden – an dieser Stelle im amourös-sexuellen Bereich – zu verwirklichen. Den Zusammenhang von Adel, Vermögen und amourösen Affekten in der stratifikatorischen Differenzierung schildert Niklas Luhmann wie folgt: Auch später noch gelten Adel und vor allem Reichtum als nahezu unerläßliche Voraussetzungen für Liebe. Sie lassen sich allenfalls mit viel Mühe durch Tugend, aber wohl kaum durch die individuelle Einzigartigkeit persönlicher Eigenschaften kompensieren. Insofern hängt das Verhaltensmodell der Liebe fest in den Scharnieren der schichtmäßigen Gesellschaftsdifferenzierung.59
Beide Aspekte (Adel und Vermögen) bedingen sich und korrespondieren darüber hinaus mit dem Fehlen der Notwendigkeit eines geregelten Tagesablaufes. Nur die amouröse Spontaneität und die innere Gewissheit, dass nichts seine spontanen Verführungsabsichten stören kann, lassen Don Giovanni in den für ihn teilweise heiklen Situationen eine grundsätzliche Überlegenheit aufrechterhalten. Das wird im Verlaufe des Textes immer deutlicher, da sich Don Giovanni aus entsprechend heiklen Situationen unter Zuhilfenahme verschiedener Mechanismen zu befreien weiß: Bereits zu Beginn des Textes (I/1) ist es seine zunächst verbal-psychische, später physische Fähigkeit zur Gewaltausübung, mit der er sich sowohl Donna Annas Anklage als auch der Duellforderung des Komturs erwehren kann. In der für das Verhältnis zu Leporello symbolischen Szene I/4 ist es wiederum die Androhung von Gewalt und 59
Luhmann: Liebe als Passion, S. 66f.
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die Berufung auf die hierarchisch dominante Position des Grundherrn, die Don Giovanni überhaupt nicht erst in die Verlegenheit kommen lässt, sich mit Leporellos durchaus kritischen Anmerkungen an seiner Lebensführung ernsthaft auseinanderzusetzen. Leporello ist es schließlich, der Don Giovanni in konfliktträchtigen Situationen verteidigen bzw. vertreten muss, sei es, um ihm zur Flucht zu verhelfen (I/5), Masetto während des Festes abzulenken und damit Don Giovannis Verführung von Zerlina Vorschub zu leisten (I/20), oder durch den Kleidertausch in II/1 die Aufmerksamkeit von Don Giovanni auf sich selbst zu lenken. Ein wichtiges Charakteristikum der ›Gentry‹ ist deren spezifische Einstellung zum Bereich der sexuellen bzw. amourösen Beziehungen. Don Giovanni weist eine breit gefächerte Reihe von Merkmalen auf, die ihn als herausgehobenes Beispiel der Tradition der ursprünglich dem Adel zugeordneten Galanterie kennzeichnen. Dazu gehören die Inszenierung der Liebe als Spiel, das gezielte Applizieren verschiedener Verführungsstrategien unter Einbezug eines dezidierten Liebesthesaurus, die Simulation derjenigen Eigenschaften, die die Verführung begünstigen sowie die Dissimulation solcher Eigenschaften, die sie behindern könnten. Des entgegengesetzten Liebesentwurfes, dem der »passionierten Liebe«, ist sich Don Giovanni durchaus bewusst und kann ihn imitieren. Trotz dieses Bewusstseins für den »passionierten Code« hat er jedoch dafür nur Spott übrig, was in den Worten Leporellos in II/2 Ausdruck findet: Don Giovanni:
Discendi, o gioia bella: Vedrai che tu sei quella Che adora l’alma mia; Pentito io son già. Donna Elvira: No, non ti credo, o barbaro! Don Giovanni: Ah, credimi, (con trasporto e quasi piangendo) o m’uccido! Leporello: (piano a Don Giovanni) Se seguitate, io rido.
Komm herunter, meine Schöne: Du wirst sehen, dass du es bist, die ich anbete; ich bereue schon. Nein, ich glaub dir nicht, du Grobian! Ach, glaube mir, (überschwenglich und fast weinend) Oder ich bringe mich um! (leise zu Don Giovanni) Wenn Ihr so weiterredet, muss ich lachen!
(DG 94)
In Anlehnung an Kucklicks Thesen, die auf den Zusammenhang zwischen zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung und dem Entstehen einer ›negativen Andrologie‹ abzielen, wird Don Giovanni als Verführer-Typus transparent, der »die Ehe geringschätz[t], zerstör[t] oder meide[t], also die Selbstreferenzunterbrechung und die Fremdbestimmung sabotier[t]« (Kucklick 199). Männer, die sich der Ehe entziehen, werden laut Kucklick damit im späten 18. Jahrhundert zum »Inbegriff des Unsittlichen« (Kucklick 199).60 Die von Roger Vailland ausformulierten Regeln der Libertinage, nach denen der Libertin »niemals verführt werden«, im Gegensatz zum ›passionierten Liebenden‹ »agieren und nicht reagieren«, »das erotische Potenzial seines Körpers abrufen« und »zahlreiche Techniken des (Schau)Spielens erlernen« 60
Kucklick benennt in diesem Zusammenhang insgesamt sechs »Typen der Unmoral«: den Soldaten, den Geistlichen, den Hagestolz, den Onanisten, den Philosophen und den Verführer.
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solle,61 finden in der Konzeption der Figur Don Giovannis – vielleicht mit Ausnahme seiner scherzhaften Eigenwahrnehmung als Opfer seiner eigenen Triebe in der Szene II/1 – vor allem im Hinblick auf seine Handlungen Bestätigung, was allerdings nur eingeschränkt auf die von Niklas Luhmann formulierte These zur Auswahl der weiblichen Verführungsobjekte zutrifft: Man kann nicht genug betonen, daß die […] Freiheit der Liebeswahl verheiratete Personen und außereheliche Beziehungen betrifft. Unverheiratete Töchter werden gegen Verführung ziemlich wirksam geschützt, und ihre Verführung würde auch kaum zur »gloire« des Helden beitragen.62
Sowohl Donna Elvira, Donna Anna als auch Zerlina sind mit Don Giovanni in außerehelichen Beziehungen »verbunden«. Dennoch wird anhand der Liste, die Leporello über die amourösen Eroberungen seines Herren führen muss, deutlich, dass sich Don Giovannis Interesse an der Auswahl seiner Verführungsziele nicht nur auf Frauen beschränkt, die bereits in festen Beziehungen leben: Leporello:
[…] Delle vecchie fa conquista Per piacer di porle in lista; Ma passion predominante E’ la giovin principiante. Non si picca se sia ricca, Se sia brutta, se sia bella, Purchè porti la gonnella, Voi sapete quel che fa. (DG 36)
[…] Die Alten erobert er nur aus Spaß, um die Liste zu erweitern; seine besondere Passion jedoch gilt der jungen Anfängerin. Egal ist’s ihm, ob sie reich ist, hässlich oder schön: Wenn sie nur einen Rock anhat – Ihr wisst schon, was er tut.
Entscheidend ist der Hinweis auf die ›Anfängerin‹ (»giovin principiante«). Don Giovanni tritt in Leporellos Schilderung als erotisierender Mentor auf, der seine Erfahrung und Überlegenheit im amourösen Bereich nicht nur als Mittel zum Zweck einsetzt, sondern sie auch gleichsam auskostet. Jugend, Unerfahrenheit und Eroberungsdrang stimulieren sein Werben, wobei er sich gleichwohl nicht nur auf einen Frauentypus festlegen lässt. Die von Leporello angesprochene »dominante Leidenschaft« (»passion predominante«) schließt nicht die Gesamtheit der weiteren Leidenschaften aus; und so bleibt es letztlich gerade die unbegrenzte Wahlmöglichkeit zwischen Frauen verschiedener Herkunft sowie unterschiedlichen Alters und Aussehens, die seinen maskulinen Eroberungsplänen Form verleihen. Das von Don Giovanni selbst artikulierte Leitprinzip seiner amourösen Absichten: »Viva la libertà!« (DG 80) reflektiert das Bewusstsein der eigenen Inkonstanz,63 die aus Sicht des Libertins in II/1 eine Rehabilitation erfährt:
61 62 63
Vgl. Roger Vailland: Laclos par lui-même. Paris 1953, S. 55ff. Luhmann: Liebe als Passion, S. 60. Zur Bedeutung und vor allem zum Ursprung der Festszene, deren Zentrum der emphatische Ausruf »Viva la libertà« bildet, vgl. Sabine Henze-Döring: »Viva la libertà«: Zur Bedeutung der Festszene in Mozarts Don Giovanni. In: F. Göbler (Hg.): Don Juan. Don Giovanni. Don Zˇuan. Europäische Deutungen einer theatralischen Figur. Tübingen 2004, S. 219–237, insbesondere S. 226ff.
318
Don Giovanni:
È tutto amore. Chi a una sola è fedele Verso l’altre è crudele; Io, che in me sento Sì esteso sentimento, Vo’ bene a tutte quante: Le donne poi che calcolar non sanno, Il mio buon natural chiamano inganno. (DG 90)
Alles aus Liebe. Wer nur einer Einzigen treu ist – grausam ist er zu den andern; ich, der ich in mir ein so umfassendes Gefühl verspüre, hab sie alle gern: Die Frauen aber, die das nicht begreifen können, nennen mein gutes Wesen Untreue.
Don Giovanni deutet die Unbeständigkeit dabei als Barmherzigkeit gegenüber der Gesamtheit der Frauen um und verspottet indirekt das entgegengesetzte Modell der Beständigkeit. Im gleichen Zusammenhang verdeutlicht Don Giovanni die Unbeständigkeit als ein für seinen Männlichkeitsentwurf konstantes Erklärungsparadigma der Untreue. Im Rekurs auf die von Esther Vilar vorgenommene Klassifikation der Polygamie-Arten lässt sich Don Giovanni dem Bereich der so genannten ›sukzessiven Polygamie‹ zuordnen, in dem der Mann zwar danach strebt, mindestens zwei Frauen ›zu haben‹ – im Falle Don Giovannis sind es natürlich weitaus mehr – aber eine von beiden »bei erster Gelegenheit loszuwerden.«64 Dadurch wechselten sich »Phasen der Polygamie mit solchen der Monogamie« ab, »wobei der Rhythmus des Wechsels in direktem Verhältnis zu dem Vermögen steht, das er [der Mann, M.B.] für Frauen ausgeben kann.«65 Der Rhythmus gestaltet sich bei Don Giovanni, seinem Vermögen entsprechend, als fiebrigschnell. Die fortlaufende Suche nach neuen Sexpartnerinnen bringt dynamische, mit seinem Männlichkeitsentwurf verbundene Aspekte hervor, die auch auf die von Don Giovanni angesprochenen Frage der (Un)Beständigkeit Einfluss nehmen: »Die Konstanz der Personen produziert die Inkonstanz der Liebe«,66 versucht Luhmann diesen Zustand zu erklären: Die Merkmale, die eine Frau anziehend machen, werden mit Allgemeinbegriffen präsentiert. Wenn man sie an einer Frau liebt, kann man dann leugnen, daß sie sich auch bei anderen Frauen finden? […] Eben deshalb findet die Liebe ihre Konstanz nur im Wechsel, in der Inkonstanz.67
Darüber hinaus ordnet sich Don Giovanni im Hinblick auf die anthropologischen Vorstellungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als ausgesprochen affektgesteuerte Figur ein, deren untere Seelenkräfte, die auf den Sinneswahrnehmungen beruhenden verborgenen Leidenschaften und Empfindungen, seine oberen Seelenkräfte, Vernunft und Verstand, offenkundig beherrschen. Dieser Position der Titelfigur entspricht im Hinblick auf die Entstehungszeit des Textes nach Jürgen Wertheimer eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung: 64 65 66 67
Vilar: Der dressierte Mann, S. 173. Vilar: Der dressierte Mann, S. 173 Luhmann: Liebe als Passion, S. 126. Luhmann: Liebe als Passion, S. 125.
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Grob gesprochen ging es um die Auseinandersetzung zwischen zwei absolut unvereinbaren Wertesystemen […]. Don Juan als Vertreter eines auf Übergriff, Aktivismus und Serienprinzip angelegten Lustprinzips steht auf der einen Seite, während vor allem die Frauen als Repräsentantinnen bürgerlicher Kultur […] erscheinen. Sie engen den erotischen Aktions- und Spielraum des aristokratischen Liebes-Spielers in demselben Maße ein, indem sie ihn stimulieren und provozieren.68
Die in der Don-Giovanni-Forschung häufig aufgegriffene Frage nach einer Bewertung der von Wertheimer angesprochenen entgegengesetzten Wertesysteme soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit bewusst ausgespart bleiben, da der Text im Hinblick auf eine Wertung der Männlichkeitsentwürfe (insofern es überhaupt sinnvoll ist, eine solche darin ausmachen zu wollen) als mehrdeutig bezeichnet werden muss. Anders formuliert: Weder Don Giovanni oder Don Ottavio, noch Masetto oder Leporello lassen in ihrem (männlichen) Aktionsspektrum wirklich optimistische Ansätze erkennen, die über den Text hinausgehen und eine wertende Deutung des jeweiligen Männlichkeitsentwurfes erlauben würden. Interessanter ist dagegen die von Wertheimer angedeutete Parallele zwischen Figurenkonstellation und anthropologischen bzw. soziokulturellen Vorstellungen im Modernisierungsprozess der Gesellschaft im Laufe des 18. Jahrhunderts. Aus der anthropologischen Perspektive wird Don Giovanni in »sì esteso sentimento« als sinnliche Verführerfigur entlarvt. Wenn für ihn – was noch zu überprüfen sein wird – ein Basispotenzial einer dynamischen männlichen Figur angenommen werden kann, so deutet diese Rechtfertigungsstrategie darauf hin, ihn als eigendynamische männliche Figur zu kennzeichnen, da sein Männlichkeitsentwurf als Grundlage der figurbezogenen Dynamik erkennbar wird. Er kokettiert darüber hinaus mit der eigenen figurenbezogenen ›Eindimensionalität‹. Laut Pfister äußert jene sich wie folgt: Eindimensionale Figuren sind dadurch gekennzeichnet, daß sie durch einen kleinen Satz von Merkmalen definiert werden. In der extremsten Form reduziert sich dieser Satz auf eine einzige Idiosynkrasie, die, isoliert und übertrieben, die Figur zur Karikatur werden läßt.69
Die Art der Eindimensionalität, die Don Giovanni in seiner Selbstcharakteristik artikuliert, bezieht sich auf seine Willenlosigkeit in Gegenwart der Frauen. Der Verführer wird somit zum Sklaven seiner Hormone. Wertheimer bezeichnet den Sexualakt »als Grundlage und Zweck« des Verhaltens Don Giovannis, mit dem er »mittels eines Instruments, des Genitals, mit seiner Umwelt kommuniziert und interagiert.«70 Die Verführerfigur, die im Überschwang der Affekte eine Rechtfertigungsstrategie der eigenen Unbeständigkeit zu finden versucht, geht allerdings auch in der italienischen Tradition nicht auf einen Einfall Mozart/Da Pontes, sondern vielmehr auf Pietro Francesco Cavalli zurück, der Eliogabalo, die Titelfigur seiner Oper und eines der intertextuellen Vorbilder für Mozart/Da Pontes Don Giovanni, bereits 1667 als den Sinnen hoffnungslos verfallenen Menschen darstellte. Rosenberg sieht 68
69 70
Jürgen Wertheimer: Don Juan und Blaubart. Erotische Serientäter in der Literatur. München 1999, S. 7. Pfister: Das Drama, S. 243. Vgl. Wertheimer: Don Juan und Blaubart, S. 19.
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in der Figur des Don Giovanni durchaus mehrdimensionale Züge. Als Begründung versucht er, eine Unterscheidung zwischen ›höheren männlichen Tugenden‹ – er nennt unter anderem die traditionellen, mit dem Rittertum assoziierten Tugenden Beständigkeit, Treue, Wärme und Güte – und dem Gegenteil davon71 zu treffen – dafür führt er unter anderem die vornehme Herkunft, Reichtum, sexuelle Potenz, körperliche Schönheit und ritterliche Tapferkeit an.72 Don Giovannis »in vielen Facetten glitzernde Gestalt«, seine männliche Mehrdimensionalität, beschränke sich jedoch auf die Verneinung der ›höheren männlichen Tugenden‹.73 Der Bezug zwischen den von Don Giovanni in seiner Selbstcharakterisierung angedeuteten »inneren Triebkräften« (»sì esteso sentimento«) und seinem Männlichkeitsentwurf lässt sich nach dem von Holter verfassten Beitrag zur »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie«74 wie folgt beschreiben: Durch den Verweis auf seine interne Gefühlswelt, die ihn zur Unbeständigkeit treibe, verdeutlicht Don Giovanni seine geschlechts- bzw. männlichkeitsinhärente Disposition zur Transgression. Die Eigencharakteristik, die gegenüber Leporello als Rechtfertigung des eigenen Handelns verstanden werden kann, verlagert folglich die Frage nach der Verantwortung für das eigene Handeln in einen geschlechts- bzw. männlichkeitsinhärenten Bereich. Dieser fungiert – in Don Giovannis Eigenwahrnehmung – als wenig regulative Instanz seines ausschweifenden Lebensstils. Mit dem Verweis auf den Zusammenhang zwischen Gefühl und (männlichem) Geschlechtstrieb entzieht er sich unter Berufung auf ontologisch-geschlechtsbezogene Argumente der Verantwortung für seine Aktionen. Die Leidenschaften, denen sich Don Giovanni hemmungslos hingibt, verweisen zudem auf ein die Figur bestimmendes, dynamisches Prinzip der Beschleunigung und subjektiven Zeitwahrnehmung. Don Giovannis Triebhaftigkeit initiiert nicht nur wesentliche Elemente der Handlung; sie beschleunigt sie auch in ihrem Ablauf. Sein Verweilen im Augenblick der Erfahrung und Erfüllung von Lust ist an die Kategorie der Momenthaftigkeit75 geknüpft. Deren Verbindung zur sinnlich-triebhaften Liebesauffassung Don Giovannis beschreibt Søren Kierkegaard: Seine Liebe ist nicht seelisch, sondern sinnlich, und sinnliche Liebe ist ihrem Begriff nach nicht treu, sondern absolut treulos, sie liebt nicht eine, sondern alle, das heißt: sie verführt alle. Sie existiert nämlich nur im Moment, der Moment aber ist begrifflich gedacht eine Summe von Momenten, und damit haben wir den Verführer.76 71
72 73 74 75
76
Rosenberg nennt diese Tugenden nicht – wie es eine Unterscheidung zu den ›höheren männlichen Tugenden‹ nahe legen würde – ›niedere männliche Tugenden‹, sondern spricht nur vom Fehlen der ›höheren männlichen Tugenden‹ bei Don Giovanni. Vgl. Alfons Rosenberg: Don Giovanni. Mozarts Oper und Don Juans Gestalt. München 1968, S. 220. Rosenberg: Don Giovanni, S. 220. Rosenberg: Don Giovanni, S. 220. Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 16ff. Harald Goertz sieht darin einen Grund für Don Giovannis »treulose, sinnliche Liebe«. Vgl. Harald Goertz: Der Eros im Gewand der Lüge. Zur Diktion von Da Pontes Don Giovanni. In: Peter Csobádi u. a. (Hg.): Europäische Mythen der Neuzeit. Faust und Don Juan. Salzburg 1993, S. 205f. Kierkegaard: Entweder – Oder, S. 114.
321
Kierkegaard attestiert Don Giovanni insbesondere aufgrund des Zusammenwirkens von Lust- und Transgressionsprinzipien etwas »Dämonisch-Sinnliches«.77 Diese Kennzeichnung ist im Rekurs auf Kierkegaard bereits durch Rosenberg hervorgehoben worden, der in der frühen Don-Giovanni-Forschung des 20. Jahrhunderts das ›Dämonische‹ im Zusammenhang mit Don Giovannis Männlichkeitsentwurf betont: Der unersättliche Erotiker Don Giovanni ist demnach […] eine dämonische Gestalt oder genauer der Repräsentant dämonischer Männlichkeit. Er ist der ziellose Mann, die Verkörperung des Phallus, aber ohne Ziel und Zukunft, für den nur eines Wert hat: die ekstatische Bewußtlosigkeit des zeugenden Augenblicks.78
Rosenberg sieht in der beschriebenen Ziellosigkeit Anzeichen dessen, was er als ›männliche Schwäche‹ bezeichnet: Durch das »Unvermögen, in seiner Männlichkeit zu ruhen, sondern sie sich unaufhörlich bestätigen zu müssen«, gerate Don Giovanni gar in den Verdacht, ein »neurotischer Charakter« zu sein, der »aus innerer Unsicherheit das wesenhaft Männliche durch das phallisch Männliche ständig überkompensieren«79 müsse. Den von Eveline Kilian vorgeschlagenen Kategorien geschlechtsspezifischer Zeitwahrnehmung nachgehend, lässt sich für den Männlichkeitsentwurf Don Giovannis ein starker Bezug zur synchronen Ebene der Identitätsgestaltung feststellen, die Kilian mit dem Begriff der ›Kohärenz‹ bezeichnet.80 »Senza alcun ordine«: ›Männlichkeit‹ und ›Transgression‹ Die Festszene I/20 ist dafür mit allen von Don Giovanni arrangierten vergänglichen Sinnesfreuden (Kaffee, Schokolade, Eis, Pralinen, Musik, Maskerade und Tanz) symptomatisch. Das Fest nimmt – gerade auch durch Musik und Tanzbewegung81 – eine von Don Giovanni initiierte Beschleunigung auf, deren Ziel er Leporello gegenüber bereits in I/15 deutlich hervorhebt: Don Giovanni:
Fin ch’han dal vino Calda la testa, una gran festa fa’ preparar. […] Senza alcun ordine La danza sia, […] Ah la mia lista Doman mattina
77
78 79 80 81
Auf dass ihnen der Wein zu Kopfe steigt, lass ein großes Fest bereiten. […] Ohne jede Ordnung soll man tanzen, […] Ah, meine Liste sollst du morgen früh
Kierkegaard: Entweder – Oder, S. 109. Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem ›Dämonischen‹ und dem ›Sinnlichen‹ die anregende Diskussion bei Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 144ff. Rosenberg: Don Giovanni, S. 230. Rosenberg: Don Giovanni, S. 231. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78. Eine ausführliche Behandlung des Themenkomplexes ›Tanz‹ – ›Beschleunigung‹ – ›dionysisches Fest‹ findet sich bei Rosenberg. In: Rosenberg: Don Giovanni, S. 246ff. Vgl. auch – insbesondere zum Themenkreis »Viva la libertà« Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 172ff.
322
D’una decina Devi aumentar. (DG 64ff.)
um gute zehn Namen erweitern.
Das unter anderem von Rosenberg beschriebene, dionysische Grundelement der Festszene82 umfasst die Auflösung verschiedener Ordnungsmechanismen, die sich über einen kontinuierlichen Drang nach Erfüllung herleitet: Seine Männlichkeit feiert in den Armen des Weibes ihren sublimsten Sieg. Doch da es ihn treibt, von Sieg zu Sieg zu eilen, so eilt er auch von Weib zu Weib, eine jede zu übermenschlicher, göttlicher Lust entflammend.83
Rosenbergs auf Dionysos bezogene Darstellung lässt sich zweifelsohne auf Don Giovanni übertragen. Stefan Kunze attestiert Mozart/Da Pontes Titelfigur eine »destruktive Persönlichkeit« (»personalità distruttiva«).84 Die daraus resultierende, beabsichtigte Unordnung vollzieht sich nicht nur in der Zusammenstellung der Tänze (»minuetto, follia, alemanna«) und der zuvor aufgeführten Speisen, sondern auch in der Zusammensetzung der Tanzpaare (Don Giovanni tanzt mit Zerlina, Leporello zieht Masetto auf die Tanzfläche). Unordnung, Verkleidung und Zeitwahrnehmung erfahren auch in der vorrangigen Tageszeit, zu der Don Giovanni agiert, Berücksichtigung, wie Giovanna Gronda herausarbeitet: L’ora del Don Giovanni è, come si sa, quella notturna: dall’aggressione iniziale al ballo che chiude il primo atto, dalla serenata allo sprofondamento nelle fiamme, gli eventi decisivi hanno luogo di notte o a tarda sera; la luce del giorno nel primo atto favirisce nuovi incontri – Donna Elvira, Zerlina – ma impedisce nuove avventure ed è quasi del tutto assente dal secondo atto.85
Gronda zeigt, wie das Zeitarrangement dem auf Nicht-Entdeckung abzielenden Männlichkeitsentwurf Don Giovannis entspricht: Insbesondere in den Stunden der Dämmerung entlädt sich das Verführungspotenzial unter gleichzeitiger Wahrung der männlichen Identität, wie Don Giovannis Äußerung »Chi son io tu non saprai« (DG 18) in I/1 bereits zu Beginn des Textes deutlich macht. Die von wechselnden Beschleunigungsmechanismen abhängige, triebhaft subjektive Zeiterfahrung Don Giovannis wird dem Fest in I/20 aufgezwungen, um gerade die Kontinuität der Zeitwahrnehmung der geladenen Gäste durch kulinarische, visuelle und auditive Impulse zu unterbrechen.86 Dass sich das der Gegenwart verpflichtete Zeitempfinden Don Giovannis nicht auf eine diachrone Ebene der Identitätsgestaltung ausdehnt, verdeutlicht die Aufgabe, die Leporello zu erfüllen hat: Die Anfertigung der Liste der Verführten lässt sich der Ebene der ›Kontinuität‹ zuordnen und dient Don Giovanni bestenfalls als Element der Bestätigung seiner fortlaufenden amourösen Er82 83 84 85
86
Vgl. Rosenberg: Don Giovanni, S. 238ff. Rosenberg: Don Giovanni, S. 243. Kunze: Il teatro di Mozart, S. 394. Giovanna Gronda (Hg.): Introduzione. In: Il Don Giovanni. Torino 1995, S. XVII. Die Kennzeichnung des Textes als sogenanntes »Nacht-Stück« findet sich in der früheren DonGiovanni-Forschung bereits bei Rosenberg. In: Rosenberg: Don Giovanni, S. 249f. Darauf weist auch Henze-Döring hin: »Viva la libertà«, S. 228f.
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folge. Die Aufgabe jedoch fällt in die Verantwortung Leporellos, der insofern für Don Giovanni eine Art ›Lebensgeschichte‹ schriftlich fixiert. Ob die Liste dem Verführer jedoch tatsächlich als retrospektives Prädikat für seine Verführungskunst oder nicht doch eher einer jeweils gegenwärtigen Demonstration seines aktuellen »Eroberungskontostandes« dient, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor. Klar ist, dass Don Giovannis ›männliche Zeitwahrnehmung‹ mit seinem momentverhafteten Drang nach Erfüllung der Leidenschaften korrespondiert und – wie gezeigt werden konnte – durch die von Kilian beschriebene Gebundenheit an ›Kohärenz‹ gekennzeichnet ist. Dem entspricht die Argumentation Rosenbergs, dass der Figur des Don Giovanni »männlich-schöpferische« Taten versagt blieben.87 Rosenberg nennt dabei zwei Aspekte: das Ausbleiben von Nachkommen und das Ausschlagen der Weltgestaltung: Das Schöpferisch-Männliche drängt zur Weltgestaltung, zu dieser aber ist Don Giovanni nicht befähigt. […] Vielleicht könnte man sogar die Art des Männlichen, die er versinnbildlicht, geradezu als das Widerspiel wirklich produktiver Kraft auffassen und in diesem Bezug behaupten, die spezifische Männlichkeit Don Juans sei dort entstanden, wo der Mann der schöpferischen Fähigkeit durchgängig entbehrt und dennoch […] vergeblich nach ihr schmachten muß.88
Es lohnt sich, diese interessante These weiterzuverfolgen. Dabei ergibt sich im Falle Don Giovannis eine Beziehung der Wirkursächlichkeit, die daraus resultiert, dass die bereits herausgearbeitete Fixierung auf die Ebene der Kohärenz, der Momenthaftigkeit, einer Schöpfung im eigentlichen Sinne widerspricht. Schöpferisch tätig zu sein, würde voraussetzen, nicht nur produkt-, sondern insbesondere auch prozessorientiert zu handeln, wobei jeder der durch Rosenberg angeführten »Prozesse« (sowohl die Auseinandersetzung mit eventuellen Nachkommen als auch die Umgestaltung der Welt) zumindest ein gewisses Maß an Kontinuität verlangen würde. Zu dieser ›Investition‹ ist Don Giovanni weder bereit noch fähig; wobei sich die Wirkung seiner Momenthaftigkeit (mit Ausnahme der amourösen Liste Leporellos) durch das Nicht-Erstellen einer eigenen Lebensgeschichte aus der genealogischen Ursächlichkeit im Fehlen von Eltern und Familie herleitet. Für ihn existiert weder Vergangenheit noch Zukunft; sofern sie nicht an die flüchtigen Erinnerungen oder Erwartungen der Liebeseroberungen geknüpft ist. Die Grenze der These Rosenbergs liegt jedoch in der Beweisbarkeit am Text: Zwar ist an keiner Stelle von Familie, Kindern, Eltern oder gar ›beruflichen Plänen‹ Don Giovannis die Rede; allerdings gibt es auch keinen Ansatzpunkt zu vermuten, dass Don Giovanni – wie es Rosenberg formuliert – danach »schmachten müsse«. Vielmehr wird deutlich, dass sich die Bedeutung dieser Kategorien dem Typus des Verführers nicht erschließt.89 Über die eigenen Leidenschaften hinaus besteht jedoch in den außerehelichen Beziehungen, die Don Giovanni unterhält, eine weitere prekäre Situation: Im Falle 87 88 89
Rosenberg: Don Giovanni, S. 233. Rosenberg: Don Giovanni, S. 232. Die These Rosenbergs wird Teilweise bei Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 174f. weitergeführt, der von einem kontinuierlichen »Mißerfolg« bzw. einer »Serie von Fehlschlägen« Don Giovannis spricht.
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Donna Annas und Zerlinas existiert jeweils ein Nebenbuhler (Don Ottavio bzw. Masetto), der den Anspruch auf Eheschließung und damit sowohl auf das moralische als auch auf das juristische Alleinrecht der amourösen Beziehung erhebt.90 Attila Csampai sieht in den Gegenspielern Don Giovannis eine wichtige Stimulation für dessen Verführungsabsichten: Wenngleich ihn die anderen Männer ihrer geistigen und erotischen Unterlegenheit wegen persönlich überhaupt nicht interessieren, Leporello einmal ausgenommen, so erprobt er hin und wieder doch ganz gern seine intellektuellen und schauspielerischen Fähigkeiten an ihnen […]. Denn der Widerstand der Männer erhöht die Attraktivität ihrer Frauen; je schwieriger es für ihn ist, an eine Frau heranzukommen, desto mehr reizt sie auch den Verführer.91
Im Rekurs auf die von Connell und Pfister dargestellten Konzepte zur ›hegemonialen Männlichkeit‹ bzw. zur ›elektiven Entropie‹ entspricht dem deutlichen Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ Don Giovannis ein äußerst niedriger elektiver Entropiewert, da sich im Laufe des Textes eine weitestgehende Einigkeit zur Ablehnung Don Giovannis durch die verschiedenen Figuren ergibt. Wie sehr gerade diese Tatsache Don Giovannis Verführungsabsichten im Sinne Luhmanns herausfordert, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er Zerlina noch an ihrem Hochzeitstag verführen will (I/20). Getrieben von einem amourösen Abenteuer ins nächste, nimmt die Verführung – wie Don Giovanni in II/1 Leporello gegenüber verkündet – in seiner Selbstwahrnehmung einen konstituierenden Punkt ein: Don Giovanni:
[…] Lasciar le donne! Sai ch’elle per me Son necessarie più del pan che mangio, Più dell’aria che spiro! (DG 90)
[…] Die Frauen in Ruhe lassen! Du weißt, ich brauche sie nötiger als das Brot zum Essen, nötiger als die Luft zum Atmen.
Don Giovannis amouröses Bestreben lässt sich demnach wiederholt im Sinne der Liebesauffassung der Galanterie bzw. der damit assoziierten Zielsetzung (›plaisir‹) beschreiben.92 Dennoch scheint er gerade darüber nicht nur seinen Zeitvertreib, sondern – schenkt man der zuvor zitierten Selbsteinschätzung Glauben – auch sein Selbstwertgefühl zu definieren: In galanten und in interessierten Formen des Werbens, in wahrer und in nur vorgetäuschter Liebe sucht der Mensch auf jeden Fall plaisir, und dies für sich selbst und für den anderen. […] Als plaisir ist der Mensch Subjekt. Das heißt: so wenig wie das Faktum des Denkens kann das Faktum des plaisir bestritten werden, ob es nun mit richtigen oder mit unrichtigen Vorstellungen, mit lauteren oder mit unlauteren Mitteln operiert. […] Im plaisir braucht das Subjekt also keine Kriterien, um sich seines plaisirs zu vergewissern, hier kann es in einer Art kriterienloser Selbstreferenz seiner selbst gewiß sein.93 90 91
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93
Vgl. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 168f. Vgl. Attila Csampai, Dietmar Holland (Hg.): Don Giovanni. Texte, Materialien, Kommentare. Reinbek 1981, S. 26. Vgl. »Egli vuole solo soddisfare il suo prepotente, inestiguibile bisogno di amare, di godere«. In: Giovanni Macchia: Tra Don Giovanni e Don Rodrigo. Milano 1989, S. 165. Luhmann: Liebe als Passion, S. 109f.
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Der für Don Giovanni ›lebensnotwendige‹ Zustand eines immer wieder neu gesuchten ›plaisir‹ wird im Text durch die amourösen Eskapaden dominiert, wobei es zu kurz greifen würde, sein ›plaisir‹ allein darauf zu beschränken. Es erstreckt sich vielmehr auf eine ganze Reihe von Bereichen, in denen bestehende (gesellschaftliche) Normen überreizt und damit verworfen werden können: dionysische Feste (I/15), Maskeraden (II/1) und schließlich – als Höhepunkt und Ergebnis der Ausschweifung – das Abendmahl mit einem Untoten (II/15). Dieser erweiterte Gedanke des ›plaisir‹ kann aus diesem Grund als zentraler Punkt beschrieben werden, an dem die Fäden von Adel, Vermögen und Galanterie im Männlichkeitsentwurf der Titelfigur zusammenlaufen. Somit erscheint es beinahe als Resümee der Autoreflexion Don Giovannis, wenn er kurz vor dem Eintreffen der Statue des Komturs in II/14 im Überschwang der Leidenschaft verkündet: Don Giovanni (bevendo):
Viva il buon vino, Sostegno e gloria D’umanità! (DG 148)
Vivan le femmine,
(trinkt) Es leben die Frauen, es lebe der gute Wein, Stütze und Ruhm der Menschheit!
Darüber hinaus nimmt das Zurschaustellen der Transgression (insbesondere auch in I/15) in der Analyse des von Don Giovanni versinnbildlichten Männlichkeitsentwurfes eine entscheidende Funktion ein: Eine emotional bedingte Transparenz der Figur nach außen, die durch den Zustand des fortlaufenden ›plaisir‹ und seine vielfältigen Artikulationen realisiert wird, bewirkt nach Luhmann unter anderem auch die Öffnung der Figur gegenüber den kritischen Urteilen seiner Umwelt: Im Zustande des plaisir läßt sich ein Mensch besonders gut beobachten und erkunden, er geht aus sich heraus, seine Freude bläht ihn auf – und er ist dann dem Scharfblick anderer besonders ausgesetzt.94
Wie auch die (sexuelle) ›Begierde‹, strebt ›plaisir‹ nach Erfüllung. In der Figur des Don Giovanni fallen beide nicht immer eindeutig differenzierbaren Aspekte zusammen, indem sich das Lustprinzip (›plaisir‹) wiederholt im Sinne der sexuellen Begierde artikuliert. Massimo Mila nennt diese Begierde »desiderio infinito«;95 Kierkegaard bezeichnet sie bei Don Giovanni als ›absolut‹: Die Begierde hat in dem einzelnen ihren absoluten Gegenstand, sie begehrt das einzelne absolut. Hierin liegt das Verführerisch. Die Begierde ist deshalb […] absolut gesund, sieghaft, triumphierend, unwiderstehlich und dämonisch. Man darf daher natürlich nicht übersehen, daß hier nicht von der Begierde in einem einzelnen Individuum die Rede ist, sondern von der Begierde als Prinzip, geistig bestimmt als das, was der Geist ausschließt.96
Kierkegaards Feststellung trifft im Falle Don Giovannis zu und wird anhand der Kommentare der Figur, die ihn am genauesten beobachten und demnach auch beur94 95 96
Luhmann: Liebe als Passion, S. 111. Mila: Lettura del Don Giovanni di Mozart, S. 8. Kierkegaard: Entweder – Oder, S. 103. Auch dafür findet sich bei Mila ein Kommentar: »La sua [del Don Giovanni, M.B.] natura essenzialmente erotica e sensuale viene isolata e proiettata fino a farne un valore assoluto«. In: Mila: Lettura del Don Giovanni di Mozart, S. 10.
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teilen kann (Leporello), wiederholt deutlich, wie beispielsweise in I/4: »Caro signor padrone, la vita che menate […] è da briccone.« (DG 28) In der verabsolutierten Triebhaftigkeit spiegelt sich folgende von Christoph Kucklick formulierte These wider: War bis dato vor allem Frauen sexuelle Unkontrollierbarkeit nachgesagt worden, die von Patriarchen und Priestern patrouilliert werden musste, so wird im späten 18. Jahrhundert der Trieb zum naturalen Charakteristikum der Männer, und zwar rückwirkend durch die gesamte Geschichte. (Kucklick 16)
Kucklick leitet daraus in seiner Argumentation ab, dass seither »die Historie der Geschlechter als eine endlose Folge männlicher Unterdrückung der Frauen umgeschrieben« sei, »in der Männer eine »universale Prostitution« erzwingen« würden. (Kucklick 16f.) Mozart/Da Pontes Don Giovanni wäre demnach eine literarische Figur zur Versinnbildlichung der gesteigerten maskulinen Triebhaftigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Im gleichen Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Ursache der ungenierten Zurschaustellung der triebhaften Vergnügungssucht, die Don Giovanni im Rekurs auf die Thesen Böhnischs als eine Figur mit einer stark externalisierten ›Männlichkeit‹ kennzeichnen. Die dauerhafte Präsenz in heiklen Situationen exponiert seine ›Männlichkeit‹ potenziell fortlaufend äußeren Angriffspunkten. Diese Präsenz der Figur durchzieht weite Teile des Textes: Wenn Don Giovanni auftritt, sind Transgression und Gefahr entweder direkt im Verzug oder werden unmittelbar vorbereitet. Die versuchte Verführung Donna Annas zu Beginn97 und das daraus resultierende Duell mit dem Komtur, die hektischen Begegnungen mit Donna Elvira sowie die Festszene mit der geplanten Verführung Zerlinas stellen nur eine Auswahl der Situationen dar, in denen Don Giovanni nicht nur ›plaisir‹ empfindet, sondern sich gleichzeitig auch möglicher physischer und psychischer Konsequenzen erwehren muss. Die starke Externalisierung seiner ›Männlichkeit‹ – oder, anders formuliert – der starke Drang, seinen ›männlichen Habitus‹ nach außen zu tragen, resultiert aus dem Ungleichgewicht zwischen seinem Selbstschutzmechanismus und seinem ›männlichen‹ Dominanzverhalten. Die Unterbetonung des Selbstschutzes der eigenen Körperlichkeit korrespondiert mit einer Überbetonung des durch den Affekt des ›plaisir‹ gelenkten Exhibitionismus der ›männlichen‹ Stärke. Die kalte Hand des (Un)Toten: Don Giovanni und der »Commendatore« Nur in der Gewissheit, im Grunde genommen vor allem physisch unverwundbar und – um eine Metapher der Körperlichkeit einzubeziehen – unantastbar zu sein, kommentiert Don Giovanni die Herausforderung des Komturs zum Duell in I/1 und 97
Ob Don Giovanni Donna Anna zu verführen oder zu vergewaltigen versucht, und inwiefern ihm dieses tatsächlich gelingt, ist in der Forschung umstritten. Der Text ist diesbezüglich relativ eindeutig: Anhand der Schilderung Donna Annas in I/13 wird klar, dass es sich zwar um einen Vergewaltigungsversuch handelt, der jedoch aus Sicht Don Giovannis erfolglos bleibt. Vgl. Wertheimer: Don Juan und Blaubart, S. 26 oder auch Csampi, Holland (Hg.): Don Giovanni. Texte, Materialien, Kommentare. Reinbek 1981, S. 9ff., Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 148ff.
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die mahnende Stimme des Untoten in II/15. Bis in die letzte Instanz lehnt Don Giovanni die geforderte Reue ab. Helga Finter zeigt in ihrer Darstellung der Rezeption Don Giovannis durch Georges Bataille, dass die Zurschaustellung der eigenen Siegesgewissheit in der Szene mit dem Untoten auch als »Don Giovannis Nein gegen die Einschüchterung des Todes, das er bis zum letzten Schrei behauptet«,98 verstanden werden kann. Die männliche Hybris, Mila bezeichnet sie als »amarezza cinica«,99 überschreitet damit die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, was sich insbesondere in der Berührung der Hand der Statue des Komturs, die Don Giovanni aus dem Jenseits angeboten wird, verdeutlicht. Trotz der Kälte des Todes, die Don Giovanni im Moment des Händedrucks empfindet: »Che gelo è questo mai?« (DG 152) behält er seinen maskulinen Dominanzanspruch bei und fährt eher in die Unterwelt ein, als seinem Männlichkeitsentwurf abzuschwören.100 Das Kokettieren mit dem Tod als Ausdruck des Transgressionstriebs wird allerdings nicht in jedem Fall unter dem Gesichtspunkt der Affinität von immanenten und transzendenten Sehnsüchten Don Giovannis gedeutet. Rosenberg sieht in Don Giovanni einen »leidenschaftlichen Willen zum Leben«101 und stellt fest, dass der Tod »das unwiderrufliche Ende seines lusterfüllten Daseins«102 repräsentiere. Don Giovanni und die Angst vor dem Tod? Daran lassen sich anhand der Standhaftigkeit und Unerschrockenheit, mit der er den steinernen Gast empfängt, ebenso berechtigte Zweifel anmelden wie an der Aussage, der Tod sei »das Ende« seines Strebens nach Lusterfüllung. Wie ein Widerspruch dazu – und ungleich überzeugender – erscheint Rosenbergs These, dass »die geistige und kosmische Hölle […] nicht so quälend« für Don Giovanni sein könne »wie die leibliche Hölle, die einen altgewordenen Don Juan erwartet.«103 Die in dem stark externalisierten männlichen Selbstverständnis angelegte Uneinsichtigkeit und die kategorische Ablehnung jeder Reue zeichnet das Schicksal der Titelfigur unentrinnbar voraus. Ute Jung-Kaiser nimmt aus diesem Grund neben dem Dämonischen, Faustischen, Musikalisch-Erotischen sowie dem Dionysischen auch eine tragische Komponente in ihre Liste der Don Giovanni konstituierenden Eigenschaften auf.104 Dass der tragische Hauptgedanke der Oper105
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Helga Finter: Das Lachen Don Giovannis. Zu Georges Batailles Rezeption des Dissoluto Punito. In: Csobádi u. a. (Hg.): Das Phänomen Mozart im 20. Jahrhundert. Wirkung, Verarbeitung und Vermarktung in Literatur, bildender Kunst und in den Medien. Salzburg 1991, S. 656. Mila: Lettura del Don Giovanni di Mozart, S. 35. Rosenberg sieht in der »Mitwirkung der kosmischen Gewalten beim Gericht über den Frevler« ein »typisches Requisit der Barockoper« verwirklicht. In: Rosenberg: Don Giovanni, S. 258. Rosenberg: Don Giovanni, S. 223. Rosenberg: Don Giovanni, S. 230. Rosenberg: Don Giovanni, S. 223. Ute Jung-Kaiser: Der weisse D’Andrade. Max Slevogts verbindliche Antwort auf die Frage, wie Mozarts Don Giovanni zu interpretieren sei. In: Csobádi u. a. (Hg.): Das Phänomen Mozart im 20. Jahrhundert. Wirkung, Verarbeitung und Vermarktung in Literatur, bildender Kunst und in den Medien. Salzburg 1991, S. 396. Jung-Kaiser: Der weisse D’Andrade, S. 388.
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allerdings durch Don Giovanni selbst initiiert und bis zum letzten Moment theoretisch noch abgewendet werden könnte, zeigt die individuell männliche Handlungsspanne der Figur deutlich auf. Sich auf seinen scheinbar über jegliche Gerichtsbarkeit erhabenen Männlichkeitsentwurf stützend, fordert Don Giovanni schließlich auch das Schicksal heraus – und der letzte mehrdeutige Ausruf »Ah!« lässt durchaus Spekulationen zu, dass er seine Triebhaftigkeit im Jenseits eventuell fortsetzen würde. Don Giovanni wäre dadurch im Rekurs auf Lotman als Figur zu beschreiben, die eine Grenzüberschreitung zwischen zwei semantisch kodierten Räumen (Diesund Jenseits) vollzieht.106 Aufgrund der beabsichtigten Fortsetzung seines transgressiven Strebens nach Lusterfüllung im Jenseits lässt sich die Grenzüberschreitung insofern präzisieren, als Don Giovanni nach Eintritt in den erreichten Raum wesentliche Kennzeichen der Figur beibehält. Beinahe scheint es in dem Maße der Hybris, die er aufweist, dass er unter Umständen auch die Herausforderung annehmen könnte, die Kennzeichen des anderen Raums (des Jenseits) nach der Grenzüberschreitung nach seinen Vorstellungen zu modellieren; das Prinzip der ungebremsten Lust auch auf der transzendenten Ebene fortzuführen. Abseits dieser Überlegungen bleibt jedoch die physische und psychische Koexistenz zweier Triebfedern: erotischer Sinnlichkeit und der Todesmotivik, durch die Don Giovannis Männlichkeitsentwurf am Ende des zweiten Aktes maßgeblich bestimmt wird, wie Giovanna Gronda in ihrer Einführung in das Libretto hervorhebt: Nell’inabissarsi del Don Giovanni, lo spettatore dei nostri giorni riconosce piuttosto la presenza ineludibile della morte: vi vede prendere forma non tanto una giustizia divina che punisce l’hybris blasfema insieme all’eccesso erotico, quanto un memento mori che la vitalità dell’eroe ha sfidato, provocato, eluso solo pro tempore. […] La scomparsa di Don Giovanni configura l’irrevocabilità di una scelta individuale: lo fissa per sempre a quel rifiuto, atto d’orgoglio, di coraggio e di coerenza.107
Wertheimer sieht in dem Bewusstsein der eigenen Überlegenheit und (männlichen) Dominanz eine Ursache der fehlenden Bereitschaft zur Reue Don Giovannis: Allein Don Juan zeigt sich den Angeboten der bürgerlichen Moral gegenüber unanfechtbar. Im Gegenteil: die bürgerlichen Opfer sind ihm in der Regel nicht gewachsen. Dies betrifft die Männer, die wie Don Ottavio in ohnmächtigen Rachephantasien delirieren, sich wie der Commendatore auf für sie unglücklich endende Duelle einlassen oder wie der höchst unsauber paktierende und partizipierende Leporello, der allenfalls noch seine Haut zu retten vermag.108
In der Gewissheit des Sieges über seine männlichen Konkurrenten erhält der Männlichkeitsentwurf Don Giovannis eine zusätzliche Verstärkung. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass er sich seiner körperlichen Fähigkeiten, die unter anderem Kampf, Verstellung, Imitation und Flucht beinhalten, sicher sein kann. Verschiedene Attribute der Körperlichkeit Don Giovannis durchziehen den gesamten Text und verdeutlichen, wie genau Connells These der Unentrinnbarkeit des eigenen Körpers in der Konstruktion des Männlichkeitsentwurfes auf die Figur Don Giovanni 106 107 108
Vgl. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 311ff. Gronda (Hg.): Introduzione, S. IX. Wertheimer: Don Juan und Blaubart, S. 16.
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zutrifft. Dabei wird wiederholt deutlich, dass die in Don Giovanni versinnbildlichte Körperlichkeit dem Körperverständnis der »zweiten Phase« nach der Klassifizierung Wolfgang Schmales entspricht, in der »eine weibliche und männliche Körpermetapher nebeneinander möglich seien«109 und ein Aristokrat »in den topischen Ort der Körpermetapher«110 vordringen würde. Da sich die gesellschaftlich-politische Macht in der stratifikatorischen Gesellschaft unter anderem auch durch Attribute der Körperlichkeit inszeniert (Mätressen, Zeugung möglichst vieler Nachkommen etc.), lässt sich die von Don Giovanni bei Leporello in Auftrag gegebene Liste der bereits Verführten durchaus als Ausdruck der Inszenierung seiner – auch körperlichen – Überlegenheit deuten. Ein klares Beispiel dafür findet sich auch in Don Giovannis zunächst ablehnender Haltung gegenüber der Duellforderung des Komturs in I/1: »Va’, non mi degno di pugnar teco.« (DG 20) Wie Mosse hervorhebt, basiert die Duellsituation auf der Anerkennung des gleichen (sozialen) Status der Kontrahenten: The duel was fought for the sake of male honor […]. Aristocratic honor was linked to the power of blood, it was attached to noble lineage and descent. […] To be worthy for dueling meant to be given the same social status as the adversary.111
Auf der Basis des Gesagten stellt sich die Frage, warum Don Giovanni dann die Duellforderung so barsch ablehnt, obwohl Don Ottavio mit Bezug auf die soziale Reputation formal die Duellkriterien erfüllen würde. Die Situation wird dann klarer, wenn man die Körperbezogenheit bedenkt. Als wesentlich älterer Duellpartner ist es nicht der soziale Status, sondern die für Don Giovanni offensichtliche körperliche Überlegenheit gegenüber dem Komtur, durch die es ihm nicht ehrenhaft genug erscheint, die Herausforderung zu akzeptieren. Darüber hinaus werden nicht nur die körperlichen Fähigkeiten Don Giovannis, sondern auch Teile seines Körpers selbst zum Inszenierungsobjekt seiner männlichen Körperlichkeit.112 Insbesondere die Hand der Titelfigur113 erfüllt als ausführendes Körperteil eine ganze Reihe von Funktionen, die eng mit Don Giovannis Männlichkeitsentwurf verbunden sind: Die versuchte Verführung Donna Annas: »Con una mano cerca d’impedire la voce, e coll’altra m’afferra stretta così […]« (DG 58), die Ermordung des Komturs, das Angebot für Hochzeit und Verführung an Zerlina: »Là ci darem la mano […]« (DG 46), die Gewaltandrohung und -ausübung gegenüber Leporello und Masetto und schließlich der Händedruck mit der Statue des Komturs: »Dammi la mano in pegno.« (DG 152) Die Hand Don Giovannis wird in solchen Situationen bedeutsam, in denen sie Handlungen ausführt oder Verhaltensweisen versinnbildlicht, die in direktem Zusammenhang mit seinen charakteristischen Männlichkeitsattributen stehen. In den zuvor aufgezählten Beispielen sind das Verführung bzw. Erotik, Gewalt, 109 110
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Schmale (Hg.): MannBilder, S. 23. Vgl. Schmale (Hg.): MannBilder, S. 23. Schmale verdeutlicht das anhand der Beispiele ›König‹ oder ›Kurfürst‹. Das entscheidende Kriterium ist allerdings die politisch-gesellschaftliche Dominanz der Aristokratie im Vorfeld der Französischen Revolution. Mosse: The Image of Man, S. 18f. Vgl. Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 129f. Weiterführende Analysen zur Handmotivik finden sich bei Goertz: Der Eros im Gewand der Lüge, S. 210f.
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Transgression und Tod. Auf besondere Affinität zwischen den beiden Bereichen Eros bzw. Thanatos verweist Rosenberg anhand der Zeitstruktur des Textes: Er beginne mit einer »mißglückten Liebesnacht« und ende in einer »Höllennacht«,114 beide Male bedient sich Don Giovanni der Dunkelheit – als Verführer und als Gastgeber beim Abendessen –, was die in der Forschung übergreifend vertretene These der Klassifikation des Textes als ein ›Nachtstück‹ unterstützt.115 »Chi son io tu non saprai«: Verführung und Täuschung Eine weitere Strategie, sich äußeren Einflüssen und damit eventuellen Bedrohungen seines Anspruchs auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ zu entziehen, stellt die von Don Giovanni vor allem in den Formen der Lüge, der Verstellung und der Maskerade angewendete Täuschung dar. Mit Bezug auf die Maskerade stellt Harald Goertz fest: Aus der Sicht der Mitspieler gilt Don Giovanni als notorischer Lügner. […] Maskiert erscheint Don Giovanni in der ersten Szene mit Donna Anna […], und Maske, Maskierung begleitet sein Wort und Handeln stets.116
Dadurch gelingt es Don Giovanni, das eigentliche Zentrum seiner männlichen Identität über weite Teile des Textes hinweg gezielt zu verbergen: »Chi son io tu non saprai« – »Wer ich bin, erfährst du nicht«, diese in I/1 an Donna Anna gerichtete Äußerung lässt sich als fortlaufendes Interesse der Figur des Don Giovanni zusammenfassen. In dem von Claudia Benthien und Inge Stephan herausgegebenen Band Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart unterscheiden die Herausgeberinnen unter anderem institutionelle und ludistische Beweggründe einer ›maskierten Männlichkeit‹. Für den erstgenannten Fall sei »Männlichkeit« […] eine »institutionelle Maske« […], mit der Männer Frauen (und andere Männer) davon abhalten wollen, hinter ihr »Geheimnis« zu kommen, dass »männlich ist, was nicht weiblich ist« bzw. dass »männlich ist, was gesellschaftliche Institutionen dafür ausgeben.«117
Da Don Giovanni – wie bereits gezeigt werden konnte – aufgrund seiner sozialen Unabhängigkeit weitestgehend Motive dafür fehlen, seinen Männlichkeitsentwurf aus gesellschaftlich-sozialen bzw. institutionellen Gründen zu verbergen, muss der Anreiz einer Maskierung innerhalb seines Männlichkeitsentwurfes in den ludistischen Elementen zu suchen sein, die laut Benthien/Stephan insbesondere die performativen Bereiche der Geschlechtsdarstellung bedienen.118 Eine solch stark externalisierte ›Männlichkeit‹ funktioniert nur auf der Basis des Bewusstseins der eigenen Überlegenheit gegenüber der Umwelt. In diesem Sinne lässt sich ein überzeugender Zusammenhang zwischen den Thesen Böhnischs und dem Konzept der ›hegemonialen Männlichkeit‹ Connells herstellen. Der Hegemonieanspruch Don Giovannis ge114 115 116 117 118
Rosenberg: Don Giovanni, S. 189. Vgl. Rosenberg: Don Giovanni, S. 249f. Goertz: Der Eros im Gewand der Lüge, S. 204. Benthien, Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade, S. 29. Vgl. Benthien, Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade, S. 32.
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genüber den anderen Männlichkeitsentwürfen im Text stützt sich im Wesentlichen auf eine stark durch Externalisierung dominierte Selbstwahrnehmung der Titelfigur, die sich sowohl der sozialen als auch der persönlichen Dominanz sicher ist. Der Hegemonieanspruch des Männlichkeitsentwurfes bei Don Giovanni misst sich beiderseits an seinen Beziehungen gegenüber Frauen im Bereich der Intimität und anderen Männern im gesellschaftlich-öffentlichen Bereich. Für den erstgenannten Bereich ist die Szene I/9 der Umgarnung Zerlinas für den Hegemonieanspruch in Abgrenzung zu Masetto beispielhaft:119 Vor dem Hintergrund des zuvor stattfindenden Hochzeitsfestes zwischen dem Bauernmädchen Zerlina und dem Burschen Masetto präsentiert sich Don Giovanni gegenüber dem Objekt seiner Begierde im inneren Kommunikationssystem des Textes120 als verantwortungsvoller Kavalier, der Zerlina vor der aus seiner Sicht unwürdigen Situation, Masettos Frau zu werden, bewahren möchte. Dieses geschickt fingierte Verhalten wirkt im äußeren Kommunikationssystem des Textes121 als dramatische Ironie, da gerade durch Don Giovannis lüsterne Absichten die moralische Integrität Zerlinas in höchste Gefahr zu geraten droht, was dem Leser und Zuschauer durch den Wissensvorsprung gegenüber den Aktanten auf der Bühne deutlich wird. Erneut sind die Gewissheit der eigenen Überlegenheit und ein genaues Beherrschen verschiedener Stilebenen des amourösen Thesaurus Grundlage für den Erfolg im Umgarnen Zerlinas: Il successo di Don Giovanni è legato alle sue capacità mimetiche, camaleontiche; per questo il suo linguaggio si adegua agli interlocutori, ironico e colloquiale con gli inferiori, sussiegoso e retorico con i nobili.122
Das breite rhetorische Repertoire des Verführers reicht vom höfischen bis zum bäuerlichen Bereich und erlaubt ihm, nicht nur seinen Sinn nach verschiedenen Frauentypen, sondern auch nach verschiedenen Stilebenen der Konversation der jeweiligen Situation anzupassen. Dieses Bewusstsein und die Abrufbarkeit verschiedener Codes arbeitet Frits Noske heraus: In each scene he [Don Giovanni, M.B.] smoothly adjusts to the relevant situation and in this way manipulates persons of all classes quite effectively. With Zerlina he uses a melodic language different from the one with which he addresses Donna Elvira […].123
Das Sprechen über die Liebe selber wird dabei zu einer Leidenschaft des Verführers, wenngleich er sein Ziel, Zerlina tatsächlich »willig« zu machen, dabei nicht aus den Augen verliert.124 Die Kommunikation ist aus Don Giovannis Sicht durchaus beherrscht, obwohl er es spürbar genießt, die Eitelkeit des Bauernmädchens durch eine beinahe grotesk wirkende, den Donna-Angelicata-Topos zitierende Apotheose he119 120 121 122 123
124
Zu einer weiterführenden Analyse der Szene I/9 vgl. Rosenberg: Don Giovanni, S. 236f. Dieser Begriff wird nach Pfister verwendet. Vgl. Pfister: Das Drama, S. 20f. sowie S. 39ff. Vgl. Pfister: Das Drama, S. 20f. sowie S. 39ff. Goldin: La vera fenice, S. 115. Noske: The Signifier and the Signified, S. 85f. Vgl. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 167, der zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt. Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 17: »Wer nicht verliebt ist, muß Verliebtheit simulieren.«
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rauszufordern: »occhi bricconcelli, […] labretti sì belli, […] ditucce candide e odorose« (DG 46). Pointiert wird die Situation in folgender Hinsicht: Die angedeutete Verführung steht in Opposition zur parallel stattfindenden Hochzeitsgesellschaft und symbolisiert somit die Gegenüberstellung von Libertinage und (prä)romantischer Liebeskonfiguration. Sie durchläuft somit die bekannten Stadien der Verführung in der Tradition der Libertinage, wie sie von Roger Vailland in einer Untersuchung zu Choderlos de Laclos beschrieben wurden: Auswahl des Opfers, Verführung des Opfers, Fallenlassen und symbolischer Tod des Opfers.125 Wertheimer sieht in der Szene I/9, wie die »Institution ›Ehe‹ in Szene gesetzt und gleichzeitig ad absurdum geführt« werde.126 Don Giovannis Spott auf Masetto: »Chi, colui […] un bifolcaccio vil« (DG 44) zielt auf die Verunglimpfung des Konkurrenten und die gleichzeitige Betonung seiner ›noblen‹ Charaktereigenschaften ab: »un onest’uomo, un nobil cavalier com’io mi vanto« (DG 44). Seiner Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ ist sich Don Giovanni dabei stets bewusst. Da die Tradition der Libertinage dem Verführer im Bereich der Intimität verbietet, Objekt seines inszenierten Spiels zu werden und damit die aktive Position in der Verführungskunst aufzugeben,127 korrespondiert sie auch mit der angestrebten hegemonialen Position Don Giovannis im gesellschaftlich-öffentlichen Bereich. Das wird insbesondere in den Auseinandersetzungen zwischen Don Giovanni und Leporello bzw. Masetto sowie zwischen Don Giovanni und dem Komtur deutlich. In den ersten beiden Beispielen stützt sich der Hegemonieanspruch auf das Standesbewusstsein des Adels und äußert sich sowohl deutlich im sprachlichen Duktus als auch in der Bereitschaft, körperliche Züchtigung nachdrücklich anzuwenden. Don Giovanni lässt zu keinem Zeitpunkt Zweifel daran aufkommen, dass er Leporello gegenüber ›Herr‹ und somit weisungsberechtigt ist. Im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen Eigenwahrnehmung Don Giovannis verdeutlicht sein Verhältnis zu Leporello, dass die »Theorie der direkten Geschlechtshierarchie« keine erschöpfende Basis einer Analyse seines Männlichkeitsentwurfes darstellt. In der Interaktion mit anderen männlichen Figuren, speziell mit Leporello, orientiert sich eine ›Männlichkeit‹ – den Thesen Holters folgend – an der »Theorie der strukturell bedingten Ungleichheit«;128 an der primären Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Umgebungsfaktoren. Sie basiert demnach auf strukturell bedingten Mechanismen ›männlicher Dominanz‹. Den Hierarchieanspruch seiner ›Männlichkeit‹ gegenüber dem Männlichkeitsentwurf Leporellos leitet Don Giovanni aus diesem Grund auch geschlechts- oder männlichkeitsextern ab, was seiner Eigenwahrnehmung des geschlechts- oder männlichkeitsinternen Dranges zur amourösen Unbeständigkeit ergänzend hinzutritt. Mögliche Bedenken des Dieners werden von Don Giovanni entweder mit Spott (I/2) oder mit der Androhung von Gewalt (I/2, I/4 oder II/1) erwidert: 125
126 127
128
Die von Vailland verwendeten entsprechenden Termini sind: le choix, la séduction, la chute, la rupture. Vgl. Vailland: Laclos par lui-même. Wertheimer: Don Juan und Blaubart, S. 65. Vgl. »La règle esentielle du libertinage est donc que le séducteur ne soit jamais séduit. […] Le libertin agit, le passionné subit.« In: Vailland: Laclos par lui-même, S. 55. Vgl. Holter: Social Theories for researching men and masculinities, S. 20.
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Leporello: Chi è morto, voi, o il vecchio? Don Giovanni: Che domanda da bestia! Il vecchio.
[…] Leporello:
Ma Donn’Anna Cosa ha voluto? Don Giovanni: Taci, Non mi seccar, vien meco, se non vuoi Qualche cosa ancor tu! (In atto di batterlo.) (DG 22)
Wer ist tot: Ihr oder der Alte? Die Frage eines Esels: der Alte. […] Doch Donna Anna, was hat sie gewollt? Schweig, reg mich nicht auf, komm mit, wenn du nicht auch etwas abbekommen willst! (Er tut, als wolle er ihn schlagen.)
Dabei setzen beide Elemente – Spott und Gewaltausübung – das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit (und implizit der Unterlegenheit des Anderen) voraus. Masetto gegenüber fällt Don Giovannis Spott zunächst subtiler aus: Don Giovanni:
Me ne consolo. Lo sposo? Masetto: Io, per servirla. Don Giovanni: Oh bravo! Per servirmi: questo è vero Parlar da galantuomo! (DG 40)
Das freut mich. Der Ehemann? Ich, zu Euren Diensten. O bravo! Zu meinen Diensten: Das ist fein, er spricht wie ein Herr.
In der intellektuellen Überlegenheit Don Giovannis sieht Mila die Bedeutung des Begriffs ›libertino‹ (›Freigeist‹) verwirklicht. Tatsächlich ist der Begriff im Italienischen polysem und bezeichnet zum einen mit dem bereits angesprochenen ›Freigeist‹ einen aufgeklärt denkenden Menschen des 18. Jahrhunderts und zum anderen den Libertin im amourösen Sinne. Milas Argumentation folgend, laufen beide Linien in der Figur Don Giovannis zusammen: Don Giovanni è, sí, lo sforzator di donzelle e l’insidiatore della virtú coniugale, ma è anche il libero pensatore, l’uomo nuovo che fa della ragione il suo dio.129
Mittels seiner intellektuellen Flexibilität gelingt es ihm, seinen Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ aus dem rein körperlichen Bereich auch auf den psychischen auszudehnen. Die auf das Denken bezogene Überlegenheit äußert sich vor allem in der Ironie, mit der er Masetto begegnet. Diese wird durch das tölpelhafte Verhalten Masettos noch zusätzlich verstärkt, sodass die Opposition Don Giovanni – Masetto mit der von Pfister vorgeschlagenen Kontrastrelation zwischen Figuren »mit und ohne ›ausgesprochene kognitive Fähigkeiten‹«130 korrespondiert. Darüber hinaus wird an der unmittelbaren, unterwürfigen Reaktion Masettos auf Don Giovannis Erscheinen auf dem Hochzeitsfest hin deutlich, dass die soziale Hierarchie und die Struktur der gesellschaftlichen Machtbeziehungen zwischen beiden auch durch Attribute der Kleidung, der Sprache und ein entsprechendes Benehmen verdeutlicht wird. Der ironische Spott Don Giovannis wird damit auch zum Ausdruck eines ludistischen Elements, mithilfe dessen er die Situation des Hochzeitsfestes auf das Bedürf129 130
Mila: Lettura del Don Giovanni di Mozart, S. 36. Pfister: Das Drama, S. 230.
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nis seiner eigenen Verlustierung hin taxiert, sein zukünftiges ›Opfer‹ selektiert und bereits Vorbereitungen auf eine mögliche Annäherung hin arrangiert. Don Giovanni tritt somit auch in der Funktion eines Spielleiters auf, der die teilnehmenden Figuren sorgsam den ihnen entsprechenden Plätzen im Spiel zuweist und Regeln und Spielverlauf sowie mögliche Sanktionen bei eventuellen Regelverstößen genau festsetzt: Don Giovanni:
Olà, finiam le dispute: se subito Senz’altro replicar non te ne vai, (mostrandogli la spada) Masetto, guarda ben, ti pentirai!
Olà, beenden wir die Streiterei: Gehst du nicht sofort und ohne Widerrede, (deutet auf seinen Degen) Masetto, nimm dich in Acht, du wirst es bereuen.
(DG 42)
Während der hegemoniale Männlichkeitsentwurf Don Giovannis sich – wie zuvor gezeigt werden konnte – in der Auseinandersetzung mit Leporello bzw. Masetto zum einen aus gesellschaftlichem Machtbewusstsein und zum anderen aus intellektueller Überlegenheit herleitet, lässt sich seine Beziehung zum Komtur vor allem anhand der durch Pfister beschriebenen Gegenüberstellung von ›alten‹ und ›jungen‹ Figuren und – im vorliegenden Fall – den dementsprechenden Männlichkeitsentwürfen darstellen. Die Interaktion zwischen Don Giovanni und dem Komtur bzw. der Statue des Komturs fungiert innerhalb des Textes als Rahmenhandlung, die aus den Szenen I/1 und II/15 besteht.131 Dabei nimmt der Komtur in Szene I/1 als Repräsentant der irdischen Gerichtsbarkeit in der Funktion des Vaters ein, der bemüht ist, die Ehre seiner Tochter wiederherzustellen. Trotz dieses intertextuellen Zitats einer ganzen Tradition von Texten des spanischen Ehrendramas des 17. Jahrhunderts und der aus Sicht des Komturs zweifellos ernst gemeinten Duellforderung entbehrt die Szene nicht einer gewissen Komik, die sich vor allem aus der unmittelbaren Reaktion Don Giovannis auf die Duellforderung ergibt: Il Commendatore:
Lasciala, indegno, battiti meco! Lass sie, Schamloser, schlag dich mit mir! Don Giovanni: Va’, non mi degno di pugnar teco. Geh, ich lass mich nicht herab, mit deinesgleichen zu fechten Il Commendatore: Così pretendi da me fuggir? So willst du mir entkommen? […] […] Don Giovanni: Misero, attendi, se vuoi morir. Elender, warte, wenn du sterben willst. (Combattono) […] (sie fechten) […] Don Giovanni (a parte): Ah … già cadde (beiseite) Ah … schon fällt er, il sciagurato … der Unglückliche … qualvoll Affannosa e agonizzante und sich verkrampfend, in der Già dal seno palpitante noch pochenden Brust Veggo l’anima partir. spürt er schon den Tod. (DG 20)
131
Darauf weist – wenn auch ohne Differenzierung zwischen Komtur und (un)toter Statue des Komturs – auch Rosenberg hin. In: Rosenberg: Don Giovanni, S. 219.
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Der Spott, mit dem Don Giovanni der Duellforderung des Komturs begegnet, ist Ausdruck des Bewusstseins seines stark externalisierten, männlichen Habitus. Einen möglichen Kampf mit dem viel älteren Gegner will Don Giovanni vor allem aus dem Grund vermeiden, dass ihm der Sieg gegen einen entschieden älteren Mann nicht zur Ehre gereichen würde, worauf unter dem Aspekt der Körperlichkeit bereits hingewiesen wurde. In dem Vers »non mi degno pugnar teco« wird diese Haltung in einem ›disprezzo totale‹, einer deutlichen Verachtung, öffentlich artikuliert. Damit verdeutlicht Don Giovanni die selbstbewusste Eigenwahrnehmung der Hegemonie seines Männlichkeitsentwurfes, die eine mögliche Niederlage überhaupt nicht in Betracht zieht, und setzt den Komtur, der ihm zwar gesellschaftlich ebenbürtig, aber altersund kräftebezogen unterlegen ist, dem öffentlichen Spott aus. Im altersbezogenen Vergleich zu Masetto (Jugend) und dem Komtur (Alter) symbolisiert Don Giovanni ein Zwischenstadium, das mit der im begriffsgeschichtlichen Abschnitt herausgearbeiteten Formel ›età virile‹ unter allen im Text vorgestellten männlichen Figuren am ehesten korrespondiert. Über das Alter Don Giovannis herrscht jedoch in der Forschungstradition kein Konsens. Rosenberg bestimmt für Don Giovanni ein Alter zwischen 20 und 25 Jahren: Sein ungezügeltes Verhalten weist deutlich auf die noch nicht gebundene, schweifende Mentalität eines zwanzig- bis fünfundzwanzigjährigen Mannes: seine Streiche, seine Mißachtung der Autorität, seine Spöttereien, seine Neugierde auf immer neue Frauen.132
Kierkegaard nimmt, davon abweichend, Don Giovanni in der bereits angesprochenen Lebensmitte an: »Schön ist er, nicht mehr ganz jung; sollte ich ein Alter vorschlagen, so würde ich 33 Jahre nennen, das Generationsalter nämlich.«133 Die Abgrenzung zur Jugend auf der einen und zum Alter auf der anderen Seite prädestiniert ihn für die zentrale Position innerhalb des Männlichkeitsparadigmas, in der sich die vollständige Entfaltung der physischen Kraft zeigt. Masetto hingegen kann aufgrund seiner Jugend dieses Stadium noch nicht erreicht haben;134 der Komtur hat seinen Zenit bereits überschritten. Wie bereits dargestellt, widerspricht diese Darstellung derjenigen Rosenbergs, der darüber hinaus zu erkennen glaubt: […] Don Giovanni [stellt, M.B.] den an der Grenze der Mannwerdung scheiternden Jüngling dar: er wird untergehen, verblühen, noch bevor er männliche Reife und Tugenden erlangt haben wird, er wird nie ›erwachsen‹, für die Welt verantwortlich werden.135
Dagegen – und somit für die Annahme Kierkegaards – sprechen zwei Argumente, zum einen, dass es ja gerade eines der den Männlichkeitsentwurf Don Giovannis bestimmenden Kennzeichen ist, keine »Verantwortung für die Welt« übernehmen zu wollen und somit, in den Worten Rosenbergs, das Erwachsensein abzulehnen. Zum anderen setzt Rosenberg, indem er Don Giovanni das »Erlangen männlicher Reife 132 133 134
135
Rosenberg: Don Giovanni, S. 222. Kierkegaard: Entweder – Oder, S. 124. Das beweisen Don Giovannis auf Masetto bezogene Kommentare in I/8: »O caro il mio Masetto! […] V’esibisco la mia protezione« sowie in I/9: »Alfin siam liberati […] da quel scioccone«. Rosenberg: Don Giovanni, S. 226.
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und Tugenden« abspricht, implizit voraus, dass ein Mann – so er denn dezidiert als solcher gelten wolle – dieses Stadium zwingend erreichen müsse. Die Definition der ›Männlichkeit‹ rekurriert aus Rosenbergs Sicht demnach auf die Ausbildung einer »männlichen, ritterlichen Person« und steht in der Tradition, die beispielsweise Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart für den deutschen Sprachraum im Jahr 1798 festhält. Auch ein Vergleich mit Alberti di Villanuovas Wörterbuch bestätigt – allerdings vergleichsweise vorsichtigere – Tendenzen der Definition von ›Männlichkeit‹ in Verbindung mit ehrenhaftem Verhalten, wie in der begriffsgeschichtlichen Untersuchung zuvor gezeigt werden konnte. Rosenberg lässt allerdings die historische Dynamik des Männlichkeitsparadigmas außer Acht. Der Text ist diesbezüglich deutlicher: Interessant ist, dass sich die Figur Don Giovanni auf dem Höhepunkt ihrer virilen Kraft eben jener auch vollkommen bewusst wird und dieses Bewusstsein offen artikuliert und damit externalisiert. Darin liegt ein entscheidender Unterschied zu Don Ottavio, dem Geliebten Donna Annas, dem diese Verbindung nicht gelingt, was zur Folge hat, dass er trotz seines weder zu jugendlichen noch zu stark fortgeschrittenen Lebensalters nicht in das Zentrum der männlichen Hegemonie vordringen kann. In der zweiten Szene der Interaktion zwischen Don Giovanni und (in diesem Fall) der Statue des Komturs (II/15) tritt dieser als Repräsentant einer transzendenten Gerichtsbarkeit auf. Gleichzeitig verdeutlicht die Szene einen weiteren Aspekt dafür, den Männlichkeitsentwurf der Titelfigur als ›hegemonial‹ zu kennzeichnen: die Kombination aus Unerschrockenheit und Hybris: Don Giovanni:
A torto di viltate Tacciato mai sarò! […] Ho fermo il core in petto: Non ho timor, verrò! (DG 152)
Feige soll man mich niemals nennen! […] Ich habe Mut in meiner Brust: Ich kenne keine Angst, ich komme!
Bis er vom Erdboden »verschluckt« wird, hält Don Giovanni beide oben genannten Merkmale aufrecht und verdeutlicht damit das Vertrauen auf seine Überlegenheit auch gegenüber jenseitigen Instanzen wie derjenigen des ›untoten‹ Komturs. Im Übermaß der bereits angesprochenen Transgression wird schließlich auch dieser zum Zielobjekt des Spotts: »No, vecchio infatuato!« (DG 152) Die beiden unterschiedlichen Interaktionssequenzen zwischen Don Giovanni und dem Komtur zu Beginn und zwischen Don Giovanni und der Statue am Ende des Textes führen zu einem kritischen Hinterfragen der Einordnung Don Giovannis in die im Rekurs auf Pfister beschriebene Kategorie der eher ›statischen männlichen Figuren‹. Obwohl sein Männlichkeitsentwurf sich aufgrund seines Facettenreichtums, der insbesondere auf Flexibilität beruht, als mehrdimensional präsentiert, muss die Figur in ihrer allgemeinen Konzeption auf der Grenze zwischen statischen und dynamischen Figuren gekennzeichnet werden, da sie im Hinblick auf den gesamten Text ein geringes Entwicklungspotenzial aufweist. Don Giovanni stellt in dieser Widersprüchlichkeit ein Zwischenstadium im Übergang von Statik und Dynamik dar und sprengt somit die von Pfister vorgeschlagene Trennung zumindest mit Bezug auf die Struktur des Männlichkeitsentwurfes auf. Zusammenfassend kann formuliert werden, dass Don 337
Giovannis Männlichkeitsentwurf aus folgenden Gründen ›hegemonial‹ sein kann und sich dabei in den folgenden Formen artikuliert: Erstens resultiert die Hegemonie aus der gesellschaftlichen Position, die ihn in einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft als vermögenden Vertreter des Adels an die Spitze der Hierarchieordnung setzt. Innerhalb des Textes wird dies insbesondere an dem Verhältnis Herr – Diener sowie an der galanten Liebesauffassung deutlich. Zweitens ergibt sich seine Hegemonie aus der Einsicht in die intellektuelle Überlegenheit gegenüber anderen Figuren. Niederschlag findet diese Überzeugung in Spott und Ironie, mittels derer Don Giovanni die ihn umgebenden Figuren als Aktanten in einem von ihm inszenierten Spiel funktionalisiert. Dabei verdeutlicht er wiederholt, dass ihm die Rolle der kontrollierenden Spielleiterinstanz zukommen solle. Drittens erfährt die Hegemonie Don Giovannis in dem Bewusstsein der eigenen physischen Stärke, die sich neben den bereits genannten Aspekten auch auf sein Lebensalter und die damit verbundene physische Dominanz stützt, eine zusätzliche Bekräftigung. Das Körperbewusstsein äußert sich vor allem in der Unerschrockenheit, sowohl Erscheinungen aus dem Dies- als auch aus dem Jenseits entgegenzutreten sowie in der fortwährenden Bereitschaft zur Ausübung von körperlicher Gewalt. Die drei Motive treten im Text normalerweise im Zusammenhang auf und ergänzen bzw. verstärken sich aus diesem Grund weiter. Der These eines dynamisch-prozesshaften Männlichkeitskonzeptes, wie es von Connell vertreten wird, folgend, kann sich der Männlichkeitsentwurf Don Giovannis nur aus der Abhängigkeit von anderen ihn umgebenden Figuren herleiten. Deren Männlichkeitsentwürfe stellen daher die Grundlage des virilen Selbstverständnisses Don Giovannis dar; all jenes, worüber er erhaben ist oder was er ablehnt. Eine Vermutung, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, ist, dass Don Giovanni nur deshalb so deutlich die hegemoniale Position der ›Männlichkeit‹ ausfüllen kann, da die ihn umgebenden männlichen Figuren dafür zu schwach sind. Diese These soll anhand der folgenden Einzelanalysen von Leporello und Don Ottavio überprüft werden. 5.3.3 Leporello Die Figur Leporello soll im Hinblick auf den in ihr angelegten Männlichkeitsentwurf zunächst analog zu Don Giovanni in ihrer sozialen Dimension analysiert werden, um, davon ausgehend, im Anschluss auf die Aspekte der Affekte und Moralvorstellungen, aber auch auf die parodistischen Fähigkeiten Leporellos einzugehen. Als Dienerfigur ist Leporellos Dasein an das Verhältnis zu seinem Herrn, seinem – wie Kunze schreibt – »secondo Io«136 gebunden. Damit – so verdeutlicht bereits die Eröffnungssequenz – ist er unzufrieden. Dennoch lehnt er ein Leben in Eigenverantwortung auch am Ende des Textes ab, obwohl er nach der »Höllenfahrt« Don Giovannis die theoretische Gelegenheit dazu hätte:
136
Kunze: Il teatro di Mozart, S. 497.
338
Leporello:
Ed io vado all’osteria A trovar padron miglior. (DG 158)
Und ich gehe ins Wirtshaus, einen bessern Herrn zu finden.
Ein Abhängigkeitsverhältnis zieht das kommende nach sich und weist Leporello – hierin besteht eine Parallele zu Don Giovanni – im Hinblick auf sein Entwicklungspotenzial als ›statische männliche Figur‹ aus. Die Tatsache, dass Leporello dabei nicht einmal ein selbstbestimmtes Leben in Erwägung zieht, verdeutlicht, wie sehr er bereits in den Strukturen der stratifikatorischen Gesellschaft verhaftet ist. Csampai verdeutlicht, dass Don Giovannis Tod für Leporello keine Befreiung, sondern einen »schweren persönlichen Verlust« darstellt, da »mit Don Giovanni auch ein Stück von ihm selbst, ein beträchtlicher Teil eigener Lebenssubstanz, dahingegangen sei.«137 Immerhin erklärt Leporello letztlich das Ziel, einen »padron miglior« aufzusuchen. Die Gründe dafür liegen in seinem von Spannungen gekennzeichneten Verhältnis zu Don Giovanni und leiten sich aus der Kombination von hierarchisch bedingter Pflichterfüllung und Gehorsam gegenüber dem Dienstherrn und der internalisierten Rebellion gegen eben jene Pflichterfüllung ab. Daraus muss für die Figur Leporello zwangsläufig ein Dilemma entstehen, mit dem sie sich vor allem in ironischen Kommentaren auseinandersetzt. Die innere Zerrissenheit zwischen der pflichtgemäßen Bindung an Don Giovanni und dem Bestreben, dem Strudel der Konflikte, die aus seinen Diensten hervorgehen, zu entfliehen, korrespondiert mit Leporellos facettenreichen, mehrdimensionalen Männlichkeitsentwurf, der sich aus diesen unterschiedlichen Zielsetzungen ableitet. Wertheimer stellt fest: Die Rolle als Lückenbüßer und Doppelagent spiegelt die Ambivalenz seiner Lebensform bildhaft wider: Gespalten zwischen moralischer Entrüstung und aktiver Mittäterschaft, Empörung und Neid, Mitleid und Sadismus, ist jede seiner Handlungen und Äußerungen doppeldeutig.138
Der Wunsch, selber in die hierarchisch dominante Position des »gentiluomo« (I/1) zu gelangen,139 hat jedoch aus Leporellos Sicht aufgrund der engen persönlichen Bindung an Don Giovanni keine Aussicht auf Erfolg. Darüber hinaus manövriert ihn diese Bindung in fortlaufende Schwierigkeiten, wie beispielsweise in der Szene des Duells zwischen Don Giovanni und dem Komtur (I/1) deutlich wird: Leporello:
Sta’a veder che il libertino Mi farà precipitar. […] (a parte) Potessi almeno di qua partir! (DG 20)
Ich muss dabei zusehn, wie der Wüstling mich mit hineinreißt. […] (beiseite) Könnte ich doch fort von hier!
Aus Situationen wie dieser, in denen sich Leporello der Fremdbestimmtheit des eigenen Daseins bewusst wird, entsteht sein Wunsch, sich von Don Giovanni loszusagen, wie in I/15: 137 138 139
Csampi, Holland (Hg.): Don Giovanni, S. 35. Wertheimer: Don Juan und Blaubart, S. 23. Kunze sieht in dem sich über sein Schicksal beschwerenden Diener zu Beginn des Textes eine komödiantische Tradition. In: Kunze: Il teatro di Mozart, S. 475.
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Leporello:
Io deggio ad ogni patto Per sempre abbandonar questo bel matto! Eccolo qui: guardate Con qual indifferenza se ne viene! (DG 62)
Ich muss mich unbedingt von diesem Verrückten trennen! Da kommt er: seht, wie gelassen er einherspaziert!
Die hierarchische Struktur zwischen Don Giovanni und Leporello, die insbesondere die standesbezogenen Figurencharakteristiken umfasst, kann anhand der Körperlichkeit treffend analysiert werden. Don Giovannis nach Hegemonie strebender Männlichkeitsentwurf ist sich – wie in dem vorangegangenen Abschnitt ausführlich beschrieben wurde – seiner Körperlichkeit bewusst und kann sie sowohl im militantgewaltsamen, im erotisch-amourösen und auch im kulinarischen Bereich instrumentalisieren. Mit Bezug auf das Verhältnis zwischen Herrn und Diener wird die Körperlichkeit vor allem in den Situationen, in denen Leporello versucht, das Abhängigkeitsverhältnis aufzulösen, zur entscheidenden Instanz der Restitution männlicher Hegemonie durch Don Giovanni, die mit Hilfe angedrohter physischer Gewaltausübung erfolgt. Leporello wird in jenen Momenten mit den Mechanismen des Dominanzanspruchs Don Giovannis konfrontiert, wenn er sich – wie beispielsweise in II/2 oder II/3 – weigert, den Befehlen Folge zu leisten, aber darüber hinaus auch, wenn er die Autorität Don Giovannis in Frage stellt (I/2, I/4). In I/20 wird er zu einer Spielfigur einer durch Don Giovanni fingierten Gewaltausübung, um die Festgesellschaft zu täuschen. Die Manövrierbarkeit der Körperlichkeit Leporellos, der Ausschluss aus körperlich-erotischen Beziehungen und die ironisierte Darstellung Leporellos als »physischer Genussmensch« unterstreichen verschiedene Aspekte der körperbetonten Dominanz Don Giovannis und der physischen Exklusion Leporellos aus dem Zentrum ›hegemonialer Männlichkeit‹. Besonders pointiert tritt diese Tatsache II/10a durch die Fesselszene zwischen Zerlina und Leporello hervor. Zerlina, so heißt es im Nebentext, »zieht Leporello mit einem Messer in der Hand an den Haaren hinter sich her«: »Zerlina, con coltello in mano, conduce fuori Leporello per i capelli.« (DG 120) Leporello wird in II/10a zunächst gezogen, gestoßen, bedroht und schließlich »energisch gefesselt«: »lo lega con molta forza.« (DG 122) Das Bauernmädchen scheint ihm mit Bezug auf die körperliche Robustheit durchaus ebenbürtig zu sein. Die Komik der Szene resultiert wesentlich aus der Verneinung der Männlichkeitsattribute in der Figur Leporello. Auf die spielgelbildliche Funktion der Szene II/10a zwischen Leporello und Zerlina und der Szene I/9 zwischen Zerlina und Don Giovanni hat bereits Goertz hingewiesen.140 Leporello gelingt es jedoch gerade nicht, mit den Don Giovanni nachempfundenen Elementen verbaler Schmeichelei: »Per queste tue mani candide e tenerelle, per questa fresca pelle, abbi pietà di me!« (DG 122) bei Zerlina die erwünschte Wirkung zu erzielen. Physische und verbale Dominanz, Gewaltandrohung und -ausübung und die symbolische Handlung des Fesselns bis hin zur Aktionsunfähigkeit Leporellos zi140
Goertz: Der Eros im Gewand der Lüge, S. 206f.
340
tieren im Zusammenspiel mit der offen artikulierten Hilflosigkeit zweifelsohne zentrale Elemente der Opera-buffa-Tradition; sie legen jedoch jenseits der Komik die Tragik des Männlichkeitsentwurfes Leporellos offen: Sein Ausschluss aus dem Zentrum maskuliner Dominanz wird dann besonders transparent, als er sich von einem Bauernmädchen derart bloßstellen lässt: Der hegemoniale Männlichkeitsentwurf Don Giovannis zeigt seine Wehrhaftigkeit militärisch auf der Straße im Duell mit dem Komtur, währenddessen Leporellos Unwehrhaftigkeit in einem häuslichen Rahmen durch die Fesselung durch ein Bauernmädchen pointiert offen gelegt wird. Die Komik funktioniert aus diesem Grund innerhalb der Handlungssukzession ausschließlich mit Leporello, der nicht die entscheidende Souveränität besitzt, sich auch der vermeintlich seichten Situation der Bedrohung durch Zerlina zu erwehren. Symptomatisch vollzieht sich seine »Befreiung«: In II/10b fleht er um Wasser und schleift bei seiner Flucht den Stuhl, an den er gefesselt ist, mit sich fort. Seine maskuline Körperlichkeit, ein zentrales Attribut des Männlichkeitsentwurfes, besitzt somit auch über die Szene hinweg – wie bereits in der Auseinandersetzung mit Don Giovanni gezeigt werden konnte – den Status eines manövrierbaren Objekts. Im Bereich der Zusammenhänge von Körperlichkeit und dem Wunsch nach Intimität ist Leporello durch den Widerspruch zwischen der Artikulation körperlichsexueller Desiderate und deren Nichterfüllung gekennzeichnet: (I/1) Leporello:
Voi star dentro colla bella, Ed io far la sentinella! (DG 18)
Ihr bleibt drinnen, bei der Schönen, und ich soll draußen Wache stehen!
(I/8) Don Giovanni:
[…] Oh guarda, guarda, Che bella gioventù! Che belle donne! Leporello: Fra tante per mia fè Vi sarà qualche cosa anche per me. […] Anch’io, caro padrone, Esibisco la mia protezione. (DG 40ff.)
[…] O sieh mal, sieh mal, die schöne Jugend! Die schönen Frauen! Unter so vielen ist bestimmt auch was für mich dabei. […] Auch ich, mein lieber Herr, biete meinen Schutz an.
Die Situation, in der Leporello theoretisch als Verführer erfolgreich sein könnte (II/3), endet aus seiner Perspektive katastrophal: Seine Maskerade wird vor der Verführung entlarvt, und er wird in II/8 bzw. II/9 in einer tribunalähnlichen Szene von Donna Elvira, Donna Anna, Don Ottavio, Zerlina und Masetto bedroht und schließlich gefesselt (II/10a). Der im Kontext des Librettos und vor allem im Vergleich zu Don Giovanni marginalisierte Männlichkeitsentwurf Leporellos lässt ihn – im Gegensatz zu seinem Herrn – in solchen Situationen scheitern, in denen er als »Genussmensch« seinen unmittelbaren Emotionen nachgeht. Deutlich wird diese verzerrte Spiegelfunktion ›hegemonialer Männlichkeit‹ bei Leporello durch den Drang der Imitation: Während des in I/20 stattfindenden Festes wirkt die Nachäffung der Schmeicheleien seines Herren hilflos und in dieser Hilflosigkeit beinahe grotesk tragikomisch: 341
Leporello (imita il padrone
colle altre ragazze): Sei pur cara, Giannotta, Sandrina! (DG 78)
(ahmt seinen Herren bei anderen Mädchen nach) So reizend, Giannotta, Sandrina!
Eine weitere, für den Beweis der angestrebten Imitation Don Giovannis durch Leporello entscheidende Szene ist II/13, wobei Leporello sehnsüchtig am kulinarischen Genuss Don Giovannis während des Abendessens teilhat, was dem Hausherrn nicht entgeht: Leporello (a parte):
Ah che barbaro appetito! Che bocconi da gigante! Mi par proprio di svenir. Don Giovanni (a parte): Nel veder i miei bocconi Gli par proprio di svenir! (DG 144)
(beiseite) Ah, welch ungeheurer Appetit! Was für Riesenbrocken! Ich werde richtig schwach. (beiseite) Wenn er meine Bissen sieht, dann wird er richtig schwach.
Es dauert im Anschluss nicht lange, bis Leporello den kulinarischen Verführungen erliegt und heimlich versucht, von den Resten der Tafel Don Giovannis zu essen, wie es im Nebentext der Szene angedeutet wird: »Leporello cangia il piatto a Don Giovanni e mangia in fretta.« (DG 18) Die unkontrollierte Hingabe gegenüber den für die Anthropologie des 18. Jahrhunderts wichtigen ›unteren Seelenkräften‹ beinhaltet bei Leporello auch ausgewählte Gaumenfreuden, wie das Verspeisen von Fasan: Die Imitation bezieht sich dabei allerdings nicht nur auf das Essen an sich (er isst nicht nur die Reste, sondern auch vom gleichen Teller wie Don Giovanni), sondern auch die Art des Genusses: »Questo pezzo di fagiano piano piano vo’ inghiottir.« (DG 18) Die Bedeutung dieser weitreichenden Imitation für den Männlichkeitsentwurf Leporellos besteht in der Vergleichbarkeit mit einer männlichen Figur, die das Zentrum der ›hegemonialen Männlichkeit‹ besetzt. Aus Leporellos Perspektive hat er dadurch mehrfach Anteil am Lebenswandel eines Aristokraten (an der patriarchalen Dividende) und versucht, diesen möglichst stilecht nachzuempfinden, wobei allerdings deutlich wird, dass er sich damit auf einem für ihn unpassenden Terrain bewegt: […] he would like to be a Don Giovanni, yet he is only Leporello. He borrows the impertinence and cynicism from his master and mixes them with his own vulgarity. In reality, however, he dwells in a world which is essentially alien to him.141
Das Bestreben, Don Giovanni erfolgreich nachzueifern, begleitet der entgegengesetzte Wunsch, den Kontakt zu Don Giovanni und damit die Position des libertinen Adjutanten aufzugeben. Dieser leitet sich aus dem Bewusstsein der Unerreichbarkeit der Attribute männlicher Dominanz ab und wird innerhalb des Textes zu einem Kontinuum der Figurencharakteristik Leporellos. Gleichzeitig zeigt der mit der Handlungsentwicklung einhergehende Prozess des Wechsels von intern (verdeutlicht anhand des Zur-Seite-Sprechens) und extern artikulierten Wünschen ein ansteigendes Selbstbewusstsein des Dieners, der sich mit Hilfe seiner Wunschartikulationen im 141
Noske: The Signifier and the Signified, S. 90.
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Laufe des Textes immer mehr gegen seinen Herren auflehnt, was in II/1 schließlich sogar zu einer Bezahlung Leporellos führt. Leporello wird dadurch vom unterwürfigen Helfer zum Söldner: Don Giovanni: Leporello:
Eh via buffone, non mi seccar.
No no padrone, non vo’ restar.
Don Giovanni: Sentimi, amico: Leporello: Vo’ andar, vi dico. Don Giovanni:
Ma che ti ho fatto, che vuoi lasciarmi? Leporello: Oh niente affatto! Quasi ammazzarmi! Don Giovanni: Va’ che sei matto! Fu per burlar. Leporello:
Ed io non burlo, ma voglio andar.
(Va per partire.) […] Vien qui, facciamo pace: prendi …
Don Giovanni:
Leporello: Cosa? Don Giovanni: (gli da del denaro)
Quattro doppie. (DG 88)
Schluss jetzt, Dummkopf, reiz mich nicht. Nein, nein, mein Herr, ich will nicht bleiben. Pass auf, mein Freund: Ich möchte gehen, das sag ich Euch. Aber was hab ich dir getan, dass du mich verlassen willst? Oh, überhaupt nichts! Mich nur fast umgebracht! Ach, sei nicht verrückt! Das war doch Spaß. Und ich spaße nicht, sondern will gehn. (Er will davongehen.) […] Komm her, wir schließen Frieden: Nimm … Wieviel? (gibt ihm Geld) Vier Dublonen.
Die Textstelle bietet interessante Parallelen zu einer vergleichbaren Situation in Le Nozze di Figaro an: Wie Don Giovanni versucht auch der Graf von Almaviva in einer für ihn zunehmend kritischen Situation, sich die Zuneigung einer untergebenen Figur (im Falle Don Giovannis – Leporello und im Falle des Grafen – Susanna) durch Bezahlung zuzusichern. Mit Bezug auf die Entstehungszeit der Texte im Vorfeld der Französischen Revolution wird deutlich, dass das Motiv des Herrn, der eine Bezahlung seiner Dienerfiguren anbietet, kaum überschätzt werden kann. In beiden Mozart/Da Ponte-Texten kommt dem Zahlungsangebot eine symbolische Funktion zu. Das in Aussicht gestellte Lohn-Dienst-Verhältnis löst die hierarchischen Abhängigkeitsstrukturen zwar nicht auf; es schlägt jedoch in der Legitimation der Abhängigkeit eine neue Komponente vor: Dienste nicht allein aufgrund patriarchalischer Dominanz zu befehlen, sondern sie durch eine angebotene Gegenleistung zu erkaufen. Die monodirektionale wird somit durch die Aussicht auf eine beidseitige Verpflichtung modifiziert. Im gleichen Zusammenhang spiegelt das Verhalten beider Dienstherrn – Don Giovannis und des Grafen – das Bewusstsein wider, ihre Dienerfiguren durch materielle Werte gezielt beeinflussen zu können. Anders formuliert, stellt Don Giovanni Leporello mit der Bezahlung eine materielle Motivation in Aussicht, um dem eigentlichen Bestreben Leporellos, sich aus dem Dienstverhältnis zu befreien, entgegenzuwirken. Dem liegt folgendes Kalkül Don Giovannis zugrunde: Mit der erneuten – diesmal erkauften – Abhängigkeit wird das hierarchische Verhältnis zwischen Herrn und Diener gerade zu einem entscheidenden Punkt innerhalb der Handlungssukzession, vor dem Kleider- und Rollentausch, bekräftigt. Kritisch merkt 343
Wertheimer mit Bezug auf die Tendenz zur Maskerade und Verstellung der eigenen Identität, die den gesamten Text durchzieht, Folgendes an: Die Verdoppelung der Figuren verweist zugleich auf die innere Brüchigkeit und Ambivalenz eindeutiger Weltbilder und Wirklichkeitsbezüge: Leporello wird als sozialer Paria und/ oder gefährlicher Mitläufer erkennbar.142
Dennoch muss das Verhältnis der beiden in Don Giovanni und Leporello dargestellten Männlichkeitsentwürfe über die rein hierarchisch bedingte Abhängigkeit hinaus differenzierter beschrieben werden. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die Wortwahl Don Giovannis, der Leporello sowohl in I/4 als auch in II/1 als ›Freund‹ bezeichnet, was in Ergänzung zu der zuvor angesprochenen Bezahlung in II/1 den Schluss nahelegt, dass die Abhängigkeit in Krisensituationen durchaus als beidseitig zu beschreiben ist: Leporello ist an Don Giovanni aus Gründen des Lebensunterhalts gebunden; Don Giovanni wiederum benötigt Leporello zur Verwirklichung seiner amourösen Pläne. Der dominante männliche Habitus Don Giovannis erscheint neben einer letztlich unterwürfigen männlichen Figur als umso dominanter; gleichzeitig wirft die rasche Überzeugungsfähigkeit nach der angebotenen Bezahlung kein positives Licht auf die Glaubwürdigkeit Leporellos, sich tatsächlich von Don Giovanni lossagen zu wollen. Trotz des vehement artikulierten Wunsches, den Herren zu verlassen, ist Leporello durch materielle Werte ›verführbar‹, was sich an seiner Reaktion in II/1 zeigt und vor allem der zu Beginn des Textes geäußerten sozialen Aspiration (»Voglio far il gentiluomo«) geschuldet ist. Die begriffsgeschichtliche Analyse verdeutlicht, dass sich in Leporellos Streben nach sozialem Prestige durchaus zeitgenössische Episteme von ›Männlichkeit‹ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts widerspiegeln: §. Essere uomo, o Essere un uomo, vale Esser persona di stima, o di conto; Essere eccelleate; Aver molta abilità.143
Die soziale Aspiration lässt seinen Männlichkeitsentwurf verstärkt mit dem von Holter beschriebenen Ansatz der »strukturell bedingten Ungleichheit« erklären. Wesentliche Charakteristika seiner Selbstwahrnehmung als Mann resultieren nicht primär aus einem geschlechtsbezogenen Habitus, sondern eher aus den zuvor geschilderten außergeschlechtlichen Motivationsgrundlagen. Der Unterschied zwischen Leporello und Don Giovanni gestaltet sich aus Leporellos Sicht demzufolge geschlechtsextern. Obwohl Leporello zweifelsohne diverse Elemente einer Buffa-Figur in der Tradition der Commedia dell’Arte aufweist, ist er wie keine andere Figur des Textes von tiefen inneren Spannungen gekennzeichnet. Leporello strebt, wie bereits gezeigt werden konnte, nach sozialer Reputation. Wenn ihm auch Don Giovannis amouröses Spiel suspekt ist, so dient er ihm doch zumindest im Sinne des Männlichkeitsentwurfes als »gentiluomo« als Beispiel, was in diesem Fall eher dem sozialen Status als der moralischen Implikation geschuldet ist. Er will nicht dienen, und insofern ist Don Giovannis Angebot der Entlohnung in II/1 als Teilerfolg Leporellos zu werten, da er 142 143
Wertheimer: Don Juan und Blaubart, S. 29. Alberti di Villanuova: Nuovo Dizionario Italiano-Francese, Bd. VI, S. 540.
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zumindest an dieser Stelle zu seinen Diensten nicht – wie andernfalls üblich – gezwungen, sondern dafür bezahlt wird. Die Aussicht, Lohn zu erhalten, korrespondiert mit seiner sozialen Aspiration und lässt ihn fortan noch verwegener agieren (II/3). Der Männlichkeitsentwurf Leporellos stützt sich folglich zum einen auf seinen sozialen Status des Dieners, der ihn im direkten Umfeld von Don Giovanni vergleichsweise marginalisiert. Die Ambiguität der Dienerfigur – ein in den Texten Mozart/Da Pontes immer wieder auftretendes Merkmal – erfasst jedoch in Leporellos Fall insbesondere auch den Bereich der ›Männlichkeit‹. Wie bereits gezeigt werden konnte, wird die enge Verknüpfung von sozialen und geschlechtsbezogenen Merkmalen auch im Falle Leporellos deutlich: Sein ›maskulines‹ Selbstverständnis ergibt sich nicht nur durch die sozial bedingte Abhängigkeit von Don Giovanni. Leporello selbst weist sich in verschiedenen Situationen als »Genussmensch« – Wertheimer bezeichnet ihn als »voyeuristischen Mitläufer«144 – aus. Sein Affektrepertoire umfasst neben den bereits beschriebenen kulinarischen Elementen auch die Lust an amourösen Abenteuern. Wiederholt äußert Leporello den Wunsch, unter den Frauen in seiner Umgebung auch ein ›Verführungsobjekt‹ für sich zu entdecken, wie in I/8 oder in II/11: (I/8) Leporello:
Fra tante per mia fè Vi sarà qualche cosa anche per me. (DG 40)
Unter so vielen ist bestimmt auch was für mich dabei.
(II/11) Don Giovanni:
Per la mano Essa allora mi prende … Leporello: Ancora meglio. Don Giovanni: M’accarezza, mi abbraccia … »Caro il mio Leporello, Leporello mio caro …« Allor m’accorsi Ch’era qualche tua bella. Leporello (a parte):
Oh maledetto! (DG 134)
Sie nimmt mich also bei der Hand … Noch besser. Streichelt mich, küsst mich … »Mein lieber Leporello, Leporello, mein Lieber …« Da erst fiel mir auf, dass es eine deiner Freundinnen war. (beiseite) Oh, verdammt!
Das Affektpotenzial Leporellos ist unzweifelhaft durch den Umgang mit Don Giovanni beeinflusst; es bietet Leporello jedoch darüber hinaus für die Struktur seines Männlichkeitsentwurfes nicht nur die Möglichkeit zur Partizipation am sinnlichamourösen Treiben, sondern auch an den Randbereichen der ›hegemonialen Männlichkeit‹ Don Giovannis. Wie sehr Leporello die Gelegenheit auskostet, die patriarchale Dividende auszuschöpfen, selber die Rolle des Verführers zu gelanden und damit unbewusst die Rolle der ›hegemonialen Männlichkeit‹ auszufüllen, verdeutlicht die Szene II/3 nach dem Kleidertausch mit Don Giovanni, die Leporello als AlterEgo der Titelfigur im schwärmerischen Tête-à-tête mit Donna Elvira zeigt:
144
Wertheimer: Don Juan und Blaubart, S. 65.
345
Leporello: Sì, carina! Donna Elvira: Crudele! Se sapeste,
Quante lagrime, e quanti Sospir voi mi costate! Leporello: Io, vita mia? Donna Elvira: Voi. Leporello: Poverina! Quanto mi dispiace! Donna Elvira: Mi fuggirete più? Leporello: No, muso bello. Donna Elvira: Sarete sempre mio? Leporello: Sempre! Donna Elvira: Carissimo! Leporello: Carissima! (A parte.) La burla mi da gusto. (DG 96)
Ja, du Hübsche! Grausamer! Wenn Ihr wüsstet, wieviele Tränen, wieviele Seufzer Ihr mich kostet! Ich, mein Leben? Ihr. Ärmste! Wie sehr ich das bedaure! Ihr werdet mir nicht mehr davonlaufen? Nein, du hübsches Gesichtchen. Ihr bleibt für immer bei mir? Für immer! Liebster! Liebste! (beiseite) Der Spaß gefällt mir.
Leporello avanciert in II/3 nicht nur zum Alter-Ego Don Giovannis, der die Szene mit voyeuristischem Genuss und dem anerkennenden Kommentar: »Il birbo si riscalda« (DG 98) begleitet, sondern im gleichen Zusammenhang zum Spielleiter der Maskerade, zum Initiator einer Täuschung und diverser amouröser Codes. Leporellos Verhalten setzt die Kenntnis dieser Codes voraus; er setzt sie zielgerichtet ein,145 was die Szene aufgrund des Wissensvorsprungs der Leser (und im Theater: der Zuschauer) mit dramatischer Ironie erfüllt. Implizit wird dabei deutlich, dass sich Leporellos Code-Bewusstsein nicht nur auf die rein sprachlichen Elemente beschränkt. »Lo giuro a questa mano che bacio con trasporto« (DG 98) verlagert die Imitation Don Giovannis über die Ebene des Übertrieben-Verbalen hinaus auf die Ebene des Übertrieben-Körperlichen. Ilsebill Barta unterscheidet zwischen ›bürgerlicher‹ und ›adliger‹ Körpersprache, wobei sie das Imitationspotenzial der ›bürgerlichen Körpersprache‹ des 18. Jahrhunderts wie folgt begründet: Für die bürgerliche Logik schien die adlige Körpersprache übertrieben, da der Bürger nicht in deren zeremonielles Beziehungsgeflecht eingebunden war. Die bürgerliche Körpersprache wurde einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterzogen. Was als Verkehrform überflüssig war, wurde ausgeschieden und eine an Betätigungen und Bedürfnissen des Bürgers orientierte, ›nützliche‹ Körpersprache entwickelt. So konnte er, je nach sozialer Umgebung, bestimmte Rollen spielen.146
Leporello nimmt diesbezüglich eine Sonderposition ein. Er imitiert – Bartas Terminologie folgend – als ›Bürger‹ Elemente einer ›adligen‹ Körpersprache in Verbindung mit einem dezidiert ›adligen‹ Sprachthesaurus, den er bereits in der vorangegangenen Szene II/2 ironisierend kommentiert:
145
146
Das gilt in der aktuellen Don-Giovanni-Forschung inzwischen als unbestritten. Vgl. Gronda (Hg.): Introduzione, S. XIX. Ilsebill Barta u. a. (Hg.): Frauen, Bilder, Männer, Mythen. Berlin 1987, S. 86
346
Leporello (piano a Don Giovanni):
Se seguitate, io rido. […] (a parte) Già quel mendace labbro Torna a sedur costei; Deh, proteggete, oh Dei, La sua credulità. (DG 94)
(leise zu Don Giovanni) Wenn Ihr so weiterredet, muss ich lachen. […] (für sich) Schon umstrickt das Lügenmaul sie wieder. Beschützt, ihr Götter, die Vertrauensselige.
Dass gerade die der Buffa-Tradition verpflichtete Figur Leporello in II/3 zum Liebesschwur gegenüber einer Aristokratin ansetzt, muss als Persiflage auf den Code der passionierten Liebe in der (prä)romantischen Liebeskonfiguration gewertet werden. Donna Elvira wird dabei zum Objekt des Spotts, da sie die einzige an der Szene beteiligte Figur ist, die ihr mit Ernst entgegentritt. Die von Luhmann so eindringlich beschriebene Imitierbarkeit des Codes147 wird aus diesem Grund innerhalb des Textes nicht nur zum alleinigen Kennzeichen Don Giovannis – auch Leporello besitzt eine profunde Kenntnis der amourösen Materie. Die Parallele kann noch weiter ausgedehnt werden: Beiden Figuren ist die Lust am Spott innerhalb der Inszenierung der Liebe als bewusst überhöhtes, ironisierendes (Schau)Spiel nicht abzusprechen: In die übersteigerten, superlativischen, »involutiv« ausgebauten Sprachformen dringt zunehmend psychologischer Scharfblick ein. Zugleich löst das Zusammenwirken von Salonkommunikation und Buchdruck die Eindeutigkeit der Orientierung an Regeln auf. Maximen, die in leichtgängiger galanter Kommunikation gefunden sind und überzeugen, wirken gedruckt wie Vorschriften, von denen man sich wieder distanzieren muß, um nicht subaltern zu wirken. […] Das Resultat ist: eine unerträgliche Pedanterie starker Worte – und Spott.148
Dass Leporello jedoch den Thesaurus der passionierten Liebe Donna Elviras nicht nur in der Rolle Don Giovannis verspottet, verdeutlicht bereits eine Reaktion auf die schmerzerfüllte Liebesklage Donna Elviras in I/5: Leporello (a parte):
Pare un libro stampato. (DG 32)
(beiseite) Das klingt ja wie gedruckt.
Der Unterschied zwischen I/5 und II/3 besteht jedoch im Aktionspotenzial Leporellos, das sich in der späteren Szene erst entfaltet. Die bereits verdeutlichte Ambiguität seines Männlichkeitsentwurfes resultiert auch dabei wieder aus der Koexistenz von Fremd- (Don Giovanni muss ihn in II/2 mit vorgehaltener Pistole zum Schauspiel zwingen) und Eigenbestimmtheit, die sich im Laufe des Gesprächs mit Donna Elvira ergibt. Leporello befindet sich in diesem Moment in der Position der Macht – und zwar dezidiert nicht als Leporello, sondern im Don-Giovanni-Kostüm. Leporellos Erfahrung patriarchalischer Dominanz ist extern durch Don Giovanni motiviert und kann gleichzeitig nicht internalisiert werden, da sie nicht mit seinem Selbstkonzept verbunden wird. Insofern trifft Connells Definition der zuvor angesprochenen ›patriarchalen Dividende‹ in der zeitlichen Begrenztheit, derer sich Leporello in II/8 durchaus bewusst ist, zu: 147 148
Vgl. Luhmann: Liebe als Passion, S. 23. Luhmann: Liebe als Passion, S. 61f.
347
Donna Elvira (senza esser vista):
Ah dov’è lo sposo mio? Leporello (dalla porta, senza esser visto): Se mi trova son perduto! (DG 110)
(ungesehen) Ach, wo ist mein Gatte? (von der Tür aus, ungesehen) Findet sie mich, bin ich verloren!
Die ›patriarchale Dividende‹, begleitet von männlicher Dominanz- und Machtausübung, spiegelt sich in Leporellos Figurenrede auch in I/20 in der echohaften Forderung nach Freiheit wider, als Don Giovannis Ausruf »Viva la libertà!« (DG 80) im Chor von Donna Anna, Donna Elvira, Don Ottavio, Don Giovanni und Leporello aufgenommen wird. Auch wenn Henze-Döhring in ihrer Deutung der Festszene zu dem Ergebnis gelangt, dass es »mithin nicht darum gehe, wer diese Phrase anstimmt, ob Adelige oder Bauern«,149 zeigt sich in einer gender- und machtbezogenen Analyse sehr wohl eine spezifische Bedeutung: Vor dem Hintergrund der Leporello eigenen Diskrepanz zwischen Dienerfigur und ambitioniertem selbstständigen Individuum ist die Freiheitsforderung allerdings polysem und lässt eine Interpretation mit Bezug auf amouröse Freiheit ebenso zu wie den Anspruch auf persönliche Freiheit von Unterdrückung der hegemonialen Form von ›Männlichkeit‹ durch Don Giovanni. Dass das Erlebnis der Machtausübung aus Leporellos Perspektive nicht andauernd ist, verdeutlicht seine Position am Ende des Textes: Gerade von Unterdrückungsmechanismen befreit, erklärt er, sich einen neuen Herrn suchen zu wollen. Dieser Aspekt verdeutlicht die Pluralität der Attribute des Männlichkeitsentwurfes bei Leporello, die ihn als eine ›mehrdimensional männliche Figur‹ kennzeichnen. Im Anschluss an Pfister bezeichnet ›Mehrdimensionalität‹ einer Figur Folgendes: Im Gegensatz dazu [zu eindimensionalen Figuren, M.B.] wird eine mehrdimensional konzipierte Figur durch einen komplexeren Satz von Merkmalen definiert, die auf den verschiedensten Ebenen liegen und zum Beispiel ihren biographischen Hintergrund, ihre psychische Disposition, ihr zwischenmenschliches Verhalten unterschiedlichen Figuren gegenüber, ihre Reaktion auf unterschiedlichste Situationen und ihre ideologische Orientierung betreffen können.150
Leporello weist nach den zuvor angeführten Eigenschaften vor allem mit Bezug auf die psychische Disposition, das zwischenmenschliche Verhalten gegenüber verschiedenen männlichen und weiblichen Figuren und sein multiples Reaktionspotenzial ›Mehrdimensionalität‹ auf, was seinen Männlichkeitsentwurf – wie verdeutlicht werden konnte – einer eindeutigen und monokausal motivierten Klassifikationsmöglichkeit entzieht. 5.3.4 Don Ottavio Don Ottavio, der Bewerber um die Hand Donna Annas, ist im Text formal mit allen Attributen eines potenziell hegemonialen Männlichkeitsentwurfes ausgestattet: Er gehört, wie in I/11 deutlich wird, der Gentry an und verfügt somit sowohl über Ver149 150
Henze-Döring: »Viva la libertà«, S. 228. Pfister: Das Drama, S. 244.
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mögen als auch über Landbesitz. Er definiert Ehre, Recht- und Pflichterfüllung wiederholt als Leitsätze seines aristokratischen Weltbilds. Darüber hinaus kann angesichts des sprachlichen Duktus’, den er Donna Anna gegenüber pflegt, kein Zweifel daran bestehen, dass er den Liebesthesaurus der Verführung beherrscht. Trotz dieser Anhäufung von Eigenschaften, die eine Positionierung der Figur im Fokus maskuliner Hegemonie begünstigen sollten, ist – das sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen – Don Ottavio den gesamten Text über der Zugang zu jener ›hegemonialen Männlichkeit‹ verwehrt. Interessant ist, dass diesbezüglich in der Don-Ottavio-Forschung keineswegs ein Konsens besteht. Fast scheint es, als berge die Figur Don Ottavio auch über den Text hinaus in der Forschungstradition ein erhebliches Potenzial zur Polarisierung. Während Noske in seinem Urteil feststellt: »Don Ottavio is the slave of social convention to such an extent that he moves on the stage as a character without any human dimension«,151 meint Ulrich Schulz-Buschhaus, in Don Ottavio einen »strukturell gewissermaßen gleichrangigen (wenngleich moralisch hoch überlegenen) Gegenspieler [Don Giovannis, M.B.]«152 zu erkennen und ist sich sicher, ihn als »Don Giovannis wirklichen Kontrahenten«153 auszumachen. Borchmeyer sieht ihn gar in Anlehnung an Friedrich Dieckmann als »Mann der Zukunft.«154 Mögen die Meinungen über Don Ottavio in der Forschung auch noch so weit auseinandergehen – der Text selber fällt diesbezüglich ein ›unerbittliches‹ Resümee: Don Ottavios noble Herkunft und sein Vermögen können die Ehre Donna Annas ebenso wenig wiederherstellen wie seine Waffen oder seine Überzeugung von Recht und Ordnung. Sein Auftreten wird textübergreifend von Misserfolg begleitet; entweder er kommt zu spät oder – was ihn noch unglücklicher erscheinen lässt – er kommt zwar zur rechten Zeit, bewirkt aber trotzdem nichts. In diesem Zusammenhang ist es symptomatisch, dass das »Urteil« über Don Giovanni gerade nicht von ihm, der es textübergreifend im Stile eines »blockierten Racheengels«155 immer wieder lautstark ankündigt, sondern von einem Untoten, einem Boten des Jenseits, gefällt und vollstreckt wird.156 Don Ottavio lassen sich im Text zwei grundlegende Zielsetzungen zuordnen, von denen er keine aus eigener Kraft erreicht: die bereits angesprochene Restauration der Ehre Donna Annas und – daraus resultierend – die Realisation einer intimen Beziehung zu Donna Anna. Beide Ziele führen im Text nicht an der Figur Don Giovannis vorbei, da Donna Anna bereits sehr früh (I/4) die Rache für den Mord an ihrem Vater und die versuchte Vergewaltigung als Kondition für eine intime Beziehung zu Don Ottavio deutlich macht. Sie lässt ihn gar schwören:
151 152
153 154 155 156
Noske: The Signifier and the Signified, S. 86. Ulrich Schulz-Buschhaus zit. in: Borchmeyer (Hg.): Mozarts Opernfiguren. Große Herren, rasende Weiber – gefährliche Liebschaften. Bern 1991, S. 88. Schulz-Buschhaus zit. in: D. Borchmeyer (Hg.): Mozarts Opernfiguren, S. 88. Vgl. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 160ff. Wertheimer: Don Juan und Blaubart, S. 26. Trotz seiner überwiegend positiven Deutung der Figur des Don Ottavio kann sich auch Borchmeyer vor diesem Resümee, das der Text untermauert, nicht vollständig verschließen. Vgl. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 164.
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Donna Anna:
Ah! Vendicar, se il puoi, Giura quel sangue ognor. Don Ottavio: Lo giuro … lo giuro agl’occhi tuoi, Lo giuro al nostro amor. Donna Anna, Don Ottavio:
Che giuramento, oh Dei! Che barbaro momento! Fra cento affetti e cento Vammi ondeggiando il cor. (DG 26)
Ach! Schwöre, ihn, wann immer du kannst, zu rächen. Ich schwöre es … ich schwöre es bei deinen Augen, ich schwöre es bei unsrer Liebe. Was für ein Schwur, ihr Himmlischen! Was für ein schrecklicher Augenblick! Zwischen tausend Gefühlen reißt mein Herz mich hin und her.
Voller Pathos erscheint die Reaktion Don Ottavios, ebenso pathetisch wie sein ganzes Auftreten in seiner ersten Szene, was insbesondere auch durch den Nebentext unterstützt wird: Don Ottavio (con ferro ignudo in mano):
Tutto il mio sangue Verserò se bisogna: Ma dov’è il scellerato? (DG 22)
(den gezogenen Degen in der Hand) All mein Blut vergieße ich, wenn’s nötig ist: Aber wo ist der Verbrecher?
Die Äußerung, mit der Don Ottavio in den Text eingeführt wird, vermittelt zunächst den Eindruck einer entschlossenen männlichen Figur, die sich wehrhaft, kampfbereit und tapfer präsentiert und – schenkt man den Worten Glauben – die direkte Konfrontation mit dem Beschmutzer der Ehre Donna Annas sucht. Jedoch wird schnell offenbar, weshalb Don Ottavios Männlichkeitsentwurf nicht hegemonial sein kann: Dem völlig überhöhten Pathos des Auftritts mit gezücktem Schwert folgt die Desorientierung in der rhetorischen Frage: »Ma dov’è il scellerato?« Don Ottavio will kämpfen, er verdeutlicht – auch mit metaphorischem Nachdruck – seine Entschlossenheit, »sein ganzes Blut vergießen zu wollen«, aber sein Gegner bleibt ein virtueller Entwurf. Da Don Ottavio diesem »Phantom« über weite Teile des Textes mit immer neuen Racheschwüren nachjagt, ohne tatsächlich Grundlegendes an der Ausgangssituation zu verändern, wird sein Pathos zuerst von Misserfolg und in dessen auffälliger Häufung sogar von Zügen der Karikatur gestreift. Diese Figurencharakteristik legt die Vermutung nahe, dass Mozart/ Da Ponte den Männlichkeitsentwurf Don Ottavios als Emblem des Spotts über die Rächerfiguren des spanischen Ehrendramas funktionalisieren. Allein die ostinate Ankündigung der Rache zunächst gegenüber dem »unbekannten Mörder«, später direkt gegenüber Don Giovanni, die Don Ottavio wiederholt als die ihm obliegende Pflicht definiert, ist in ihrer häufigen Wiederholung nicht mehr ernstzunehmen: (I/11) Don Ottavio:
Ah, ch’ora, idolo mio, son vani i pianti! Di vendetta si parli … ah Don Giovanni! (DG 50)
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Ach, Geliebte, ganz umsonst weinst du noch! Um Rache handelt es sich … ah, Don Giovanni!
(I/14) Don Ottavio:
[…] Ah di scoprire il vero Ogni mezzo si cerchi; io sento in petto E di sposo e d’amico Il dover che mi parla: Disingannarla voglio, o vendicarla. (DG 60)
[…] Ach, alles ist zu tun, die Wahrheit zu entdecken, ich fühle in der Brust die Pflicht als Mann und Freund. die mir befiehlt: entweder ihren Verdacht entkräften, oder sie rächen.
(II/10) Don Ottavio:
[…] un ricorso Vo’ far a chi si deve, e in pochi istanti Vendicarvi prometto; così vuole dover, pietade, affetto. […] Ditele [a Donna Anna, M.B.] che i suoi torti A vendicar io vado. (DG 118)
[…] ich will die notwendigen Schritte einleiten und verspreche, euch sogleich zu rächen; so verlangen es Pflicht, Mitleid und Liebe. […] Sagt ihr [Donna Anna, M.B.], ich ginge, das Unrecht zu rächen
Die Ziele Don Ottavios werden in dieser Auswahl seiner Racheschwüre transparent. Der entscheidende Unterschied zu Don Giovanni liegt darin, dass Don Ottavio seinen militärisch-männlichen Ankündigungen keine militärisch-männlichen Taten folgen lässt. Den verbalen Ankündigungen fehlt nicht nur der Erfolg, sondern auch der tatsächliche Versuch, erfolgreich zu sein; oder anders formuliert: die praktische Umsetzung. Während Don Giovanni agiert, verbleibt Don Ottavio in der Rolle desjenigen, der – wenn auch pathetisch – kommentiert. Diese Grunddisposition zur Passivität exkludiert ihn vom Brennpunkt der auf Aktivität basierenden und durch Don Giovanni repräsentierten ›hegemonialen Männlichkeit‹, was unter anderem auch in der Wortwahl der Figurenrede Don Ottavios deutlich wird: Ausdrücke aus dem Wortfeld der Pflichterfüllung (»il mio dover(e)«, »così vuole dover«, »se bisogna«) kennzeichnen auffallend häufig eine stilistische Distanz zu den von Don Ottavio geäußerten Inhalten. Rache – seine dramatische Triebfeder – speist sich aus diesem Grund vielmehr aus dem Bewusstsein der Erfordernisse seiner sozialen Position als aus seiner tiefen inneren Überzeugung. Die Reflexion über das eigene Verständnis des Adels scheint Don Ottavio zeitweise sogar aus seiner eigentlichen Position des Rächers in eine melancholische Phase des Zweifels zu ziehen: Don Ottavio:
Come mai creder deggio Di sì nero delitto Capace un Cavaliero! (DG 60)
Wie könnte ich je glauben, dass ein Adliger zu einem so dunklen Verbrechen imstande ist!
Die Einsicht in die Schuldhaftigkeit eines Adligen, die Don Ottavio noch zu Beginn von I/13 bezweifelt, erschüttert sein Weltbild und wirkt wie eine bittere intratextuelle Replik auf Don Giovannis ironisierende Behauptung »La nobiltà ha dipinta 351
negl’occhi l’onesta« (DG 46) aus der Verführungsszene mit Zerlina. Die Interferenz sozialer Verständnismuster und gendertheoretischer Erklärungsparadigmen wird an dieser Stelle pointiert verdeutlicht: Don Ottavios Bewusstsein des eigenen Männlichkeitsentwurfes stützt sich auf seine männlich-ritterliche Erziehung, die tugendhaftes Handeln zum Leitgedanken erhebt. Darin liegt gleichsam sein Habitus, sein fest definierter Code. Don Giovanni hingegen spielt mit verschiedenen Codes, die er je nach Situation spontan instrumentalisieren kann. Das Repertoire umfasst in Don Giovannis Fall ebenjene männlich-ritterlichen Elemente (gepflegte Konversation, Komplimente), die auch Don Ottavio mit dem Schema eines ›noblen Männlichkeitsentwurfes‹ verknüpft, aber es beschränkt sich bei Don Giovanni nicht darauf. Verschiedene Habitusformen mit den ihnen eigenen Codes liegen Don Giovanni ausdifferenziert und anwendungsbereit vor, und er kann sie im Gegensatz zu Don Ottavio situationsbezogen manövrieren. Dieses Manko kann Don Ottavio auch durch sein pathetisches Rekurrieren auf den traditionsbewussten, männlich-ritterlichen Habitus nicht kompensieren. Anhand seiner Art, im System der Intimität zu agieren, lässt sich erkennen, dass sich die in Don Ottavio erstarrten Mechanismen letztlich untereinander behindern. Disziplin kennzeichnet Don Ottavios Männlichkeitsentwurf, und – wie SchulzBuschhaus herausgearbeitet hat – mit eben dieser Disziplin versucht er, im System der Intimität erfolgreich zu agieren.157 Schulz-Buschhaus’ Feststellung, Don Ottavio habe »die ökonomische Integration, ja Identifikation von Liebe, Ehe und Familie […] schon mit ausgezeichnetem Erfolg hinter sich gebracht«,158 lässt sich hinzufügen, dass es für Don Ottavio geradezu bezeichnend ist, den Übergang von ›amour séduction‹ zu ›amour passion‹ zwar anzustreben, aber gerade dabei zu scheitern, da ihm der entsprechende Code nicht ausdifferenziert genug vorliegt. Besonders intensiv illustriert dies das Liebeswerben um Donna Anna, der gegenüber sich Don Ottavio zugleich in der Beschützer- als auch in der Liebhaberrolle sieht, wie er in I/3 selbstreflexiv kommentiert: »Hai sposo e padre in me.« (DG 26)159 Beide Bereiche führen ihn ihrer Kombination in eine – wie Borchmeyer formuliert – »Disziplinierung des Erotischen«,160 die – so Borchmeyer weiter – es ihm ermögliche, nicht nur »Liebe und Ehe zu identifizieren«, sondern auch »die Sozialisationsform der Freundschaft zu integrieren.«161 Die von Borchmeyer dabei ausgesparte, aber nicht unwesentliche Frage lautet, welche Konsequenzen sich daraus für Don Ottavio ergeben. In der Spannung der Kombination ›Geliebter‹ und ›Beschützer‹ kann Don Ottavios Männlichkeitsentwurf – so legt es der Text nahe – nicht hegemonial sein bzw. werden, da er in keinem der Bereiche wirklich reüssiert. Selbst als er Don Giovanni direkt gegenüber steht, (in I/12 und vor allem während des Festes in I/20) lässt er ihn entkommen. Die fehlende Durchsetzungskraft kennzeichnet auch seine amourösen Bemühungen um Donna Anna. Symptomatisch ist dafür die Szene II/12, in der sein
157 158 159 160 161
Schulz-Buschhaus zit. in: Borchmeyer (Hg.): Mozarts Opernfiguren, S. 89. Schulz-Buschhaus zit. in: Borchmeyer (Hg.): Mozarts Opernfiguren, S. 89f. Vgl. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 156. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 156. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 156.
352
Liebeswerben von Donna Anna entschieden zurückgewiesen wird. Interessant ist dabei auch der Nebentext, in dem die räumliche Deixis mit »düsteres Zimmer« (»camera tetra«) als ein der sinnlich-romantischen Liebeserklärung entgegengesetztes Terrain beschrieben wird. Dass Don Ottavio ausgerechnet in dieser Situation versucht, das Herz Donna Annas endgültig zu erobern, kennzeichnet seine mangelnde Fähigkeit zur Einschätzung der (amourösen) Situation. Durch Trost und einer erneuten Rachebekräftigung versucht er, den Aspekt der Körperlichkeit mit dem der Intimität zu vereinen: Don Ottavio:
Calmatevi, idol mio; di quel ribaldo Vedrem puniti in breve i gravi eccessi; Vendicati sarem. […] Di tua perdita amara Fia domani, se vuoi, dolce compenso Questo cor, questa mano … Che il mio tenero amor … (DG 140)
Beruhigt Euch nun, Geliebte; die schweren Verbrechen dieses Ungeheuers werden bald bestraft; dann sind wir gerächt. […] Für deinen bitteren Verlust sei morgen, wenn du willst, zärtlich getröstet durch dieses Herz und diese Hand … meine innige Liebe …
Donna Annas Reaktion zeigt Unverständnis und Ablehnung gegenüber der angedeuteten erotischen Komponente und provoziert ihrerseits Don Ottavios Kritik: Donna Anna:
Oh Dei, che dite? … In sì tristi momenti … Don Ottavio: E che? Vorresti Con indulgi novelli Accrescer le mie pene? Crudele! (DG 140)
Oh Götter, was sagt Ihr da? … In so trauervollen Augenblicken … Und? Willst du mit neuem Zögern meinen Schmerz verschlimmern? Grausame!
Der fehlerhaften emotionalen Einschätzung der Situation durch Don Ottavio folgt – wie an seiner Reaktion deutlich wird – ein emotionaler Offenbarungseid. Don Ottavio zeigt mit seiner vorwurfsvollen Replik, dass er zu einer ganzen Reihe affektivempathischer Handlungen nicht fähig ist: Der bereits angesprochenen mangelnden Einschätzung der Situation, in der sich Donna Anna befindet, folgt eine mangelnde Beherrschung der eigenen Affekte des erotischen Bereichs und darüber hinaus die Unfähigkeit zur perspektivischen Übernahme der Position Donna Annas. Don Ottavio nimmt insofern die Gegenposition zu Don Giovanni ein, der die genannten Fähigkeiten sehr facettenreich beherrscht und dadurch – wenn auch nicht in dauerhaften Beziehungen – aber doch zumindest in der Rolle des amourösen ›Eroberers‹ überzeugt. Die Opposition Don Ottavio – Don Giovanni resümiert Csampai wie folgt: Ottavio erscheint […] als größtmöglicher Gegensatz zu Don Giovanni, als der »solvente«, angepaßte, weichlich-dekadente Abkömmling des »ancien régime«, als kontaktarm, schmächtig, schwächlich, und vor allem gänzlich unerotisch, wenngleich er ein wenig eitel ist […] und eben, wie es sich für einen Aristokraten geziemt, auf Formen und Kleidung, auf Anstand und Distanz großen Wert legt.162
162
Csampi, Holland (Hg.): Don Giovanni, S. 29f.
353
Die Situation in II/12 verdeutlicht, wie sich innerhalb des Männlichkeitsentwurfes Aspekte inner- und außerhalb des erotisch-amourösen Bereichs bedingen: Don Ottavio erkennt nicht, dass der Schlüssel zur Sphäre der Intimität Donna Annas nur in klar definierten Aktionen, der Rache an Don Giovanni, liegt. Diese Aktionen würden allerdings eine handlungsfähige und handlungswillige männliche Figur erfordern, um Donna Anna durch eine männliche Beschützerfigur das Gefühl der Sicherheit, nach der sie sich offensichtlich sehnt, zu vermitteln. Nur so erhielte eine affektiv-erotische Beziehung überhaupt erst eine Basis. Aus bereits angeführten Gründen ist Don Ottavio dazu nicht in der Lage, was wiederum seinen eigenen Bestrebungen und Affekten entgegentritt. Die konsequente Ablehnung Donna Annas erlebt er folglich als Ablehnung seines Männlichkeitsentwurfes im emotionalen Zustand des Schmerzes (»accrescer le mie pene«). Der Vergleich zweier sozial gleichgestellter männlicher Figuren legt die Schlussfolgerung nahe, dass Aktion und Offensive auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ verweisen, von der Don Ottavio aufgrund der Passivität ausgeschlossen bleibt. Die abschließende Entscheidung Donna Annas, sich noch ein Jahr Bedenkzeit zu erbitten: »Lascia, o caro, un anno ancora allo sfogo del mio cor« (DG 156), impliziert eine (temporäre) Absage an die Intimität, die allerdings trotz der gesetzten Frist gewisse Zweifel an ihrer eventuellen Erfüllbarkeit offenlässt. Auch dieser Entschluss Donna Annas ist mit Bezug auf den von ihr durch den Racheschwur in I/3 geforderten Männlichkeitsentwurf Don Ottavios konsequent: Don Giovanni wurde – wie bereits festgestellt werden konnte – eben nicht durch den Bewerber um die Hand Donna Annas, sondern durch die Statue des Komturs, einer ›Figur‹ aus der Gerichtsbarkeit des Jenseits, zur Rechenschaft gezogen. Don Ottavio ist den Beweis seiner ›männlichen‹ Tatkraft schuldig geblieben; vor allem aber hat er seinen militärisch-pathetischen Schwur nicht gehalten. Die Nichterfüllung seiner selbst- und fremdauferlegten Pflicht berührt jedoch nicht nur die Beziehung zu Donna Anna. In II/10c verdeutlicht Zerlina, dass Don Ottavios Handeln einer gesellschaftlichen Erwartung an seine ›Männlichkeit‹ unterliegt: Zerlina:
E’ desso senza fallo: anche di questo Informiam Don Ottavio: a lui si aspetta Far per noi tutti, o domandar vendetta. (DG 126)
Er ist’s bestimmt: Auch darüber berichten wir Don Ottavio: Von ihm erwartet man, dass er für uns alle handelt oder Rache fordert.
Don Ottavios Männlichkeitsentwurf scheitert aus diesem Grund nicht nur in der Sphäre der Intimität, sondern auch in dem im 18. Jahrhundert beinahe durchweg ›männlich‹ konnotierten Bereich der sozialen Öffentlichkeit. Die Figur verdeutlicht somit, dass das Vorhandensein einzelner Attribute eines potenziell hegemonialen Männlichkeitsentwurfes noch nicht zwangsläufig zu dessen Ausprägung führen muss. Es sind vielmehr das Potenzial und dessen praktische Umsetzung, die den Weg in die ›hegemoniale Männlichkeit‹ bereiten. Somit kann geschlussfolgert werden, dass sich in dem Text Don Giovanni ossia il Dissoluto punito die von den Figuren verkörperten Männlichkeitsentwürfe in Abhängigkeit zur Titelfigur positionieren. Don Giovanni besetzt das Zentrum des mas354
kulinen Dominanzanspruches und setzt dadurch seine Ausprägung des Männlichkeitsentwurfes an die Spitze der männlichkeitsinternen Hegemonie. Die anderen männlichen Figuren versuchen zeitweise, in die Position Don Giovannis vorzudringen, wobei sie aus sehr unterschiedlichen Gründen daran scheitern: Leporello kann sich aufgrund der gesellschaftlichen Machtbeziehungen nicht von einem ›unselbstständigen Männlichkeitsentwurf‹ befreien und ist, wie im Text deutlich wird, zur Aufgabe der Unterwürfigkeit und zum Aufbau von Eigenverantwortlichkeit nicht in der Lage. Don Ottavio kennzeichnet ein ›unentschlossener Männlichkeitsentwurf‹, der sein Aktionspotenzial in der Kombination mit mangelnder Praxisfertigkeit erheblich einschränkt. Die für die weiteren Figuren kennzeichnende Unselbständigkeit, Unentschlossenheit und Unerfahrenheit spiegeln die Charakteristika des Männlichkeitsentwurfes bei Don Giovanni ex negativo wider. Der Männlichkeitsentwurf Don Giovannis ist in seiner Eigenfixiertheit so stark externalisiert, dass er sich seine eigenen Herausforderungen letztlich unter den Toten sucht. Sein geschlechtlicher Habitus entwickelt eine Mehrdimensionalität, die sich der diesseitigen Gerichtsbarkeit entzieht und diejenigen, die für sie eintreten, dem Spott preisgibt. Ungeachtet des oft interpretierten letzten Ausrufes Don Giovannis163 wird sein zutiefst mit seinem Selbstverständnis verbundener Männlichkeitsentwurf bis zum Schluss nicht gebrochen, geschweige denn zur Reue gezwungen, was Luhmanns These, dass sich »der Verführer ab etwa 1760 mit einer letzten starken Geste als moralische Figur verabschiede«164 mit dem Zusatz erweitern ließe: Doch dann kam Mozart/Da Pontes Don Giovanni.
5.4
Wolfgang Amadeus Mozarts/Lorenzo Da Pontes Così fan tutte o sia La scuola degli amanti165
5.4.1 Schwerpunkte der Analyse Die drei männlichen Figuren Don Alfonso, Ferrando und Guglielmo werden insbesondere im Hinblick auf die Themenkomplexe Freundschaft, berufliche Kollegialität und die Teilnahme an einem auf die Treue der Frauen abzielenden Liebesexperiment untersucht, das charakteristische Kennzeichen eines Spiels aufweist. Dabei ist die Konstellation der männlichen Figuren untereinander durch die Doppelsträngigkeit zwischen vorgegebener und tatsächlich entscheidender Motivation gekennzeichnet: Don Alfonso nimmt am Experiment teil, um – wie er wiederholt verkündet – den beiden jungen Männern die zwingende Untreue der Frauen im Allgemeinen am Beispiel ihrer Geliebten zu beweisen. Tatsächlich wird jedoch in der weiteren Entwicklung des Textes klar, dass der Spiel- und Navigationstrieb sowie der Erkenntnisdrang 163 164 165
So beispielsweise bei: Finter: Das Lachen Don Giovannis. Vgl. Luhmann: Liebe als Passion, S. 135. Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: W. A. Mozart: Così fan tutte o sia La scuola degli amanti. KV 588. Libretto von L. da Ponte. Stuttgart 2005. Im Folgenden zitiert als Sigle: CfT, Seitenzahl.
355
Don Alfonsos als mindestens ebenso schwerwiegende Motivation zur Initiation des Liebesexperiments interpretiert werden können. Ferrando und Guglielmo nehmen unter dem erklärten Vorwand an dem Experiment teil, um das Gegenteil – die unerschütterliche Treue ihrer Geliebten – zu beweisen. Wie schon im Falle Don Alfonsos enthüllt der Text bei fortschreitender Handlung für sie darüber hinaus weitere Motivationsgrundlagen, insbesondere Eitelkeit und Narzissmus. Eine im Hinblick auf die dargestellten Männlichkeitsentwürfe sehr interessante Erscheinung bildet der Themenkomplex ›Männlichkeit‹ als Maskerade. Es ist ein text- und figurenkonstituierendes Merkmal Ferrandos und Guglielmos, dass sie über einen erheblichen Teil des Textes hinweg in einer Verkleidung agieren. Mit den Kleidern versuchen sie jedoch nicht nur, sich ihrer kulturellen Wurzeln zu entledigen und sich als Repräsentanten einer im Sinne des 18. Jahrhunderts exotischen Region des Orients auszugeben; sie überschreiten neben den kulturellen auch moralische und amourös-sinnliche Grenzen durch das – wenn auch von ihnen nicht explizit angestrebte, aber doch einkalkulierte – ›chassé-croisé‹, den Partnertausch. Die Maskerade stellt in diesem Zusammenhang nicht nur den Übergang einer (tatsächlichen) Identität in eine gespielte andere Identität, sondern auch den Übergang in einen anderen Bereich der Männlichkeitsentwürfe des ausgehenden 18. Jahrhunderts dar: Aus italienischen Offizieren werden nach Uta Felten »erotomanische Orientale«.166 Die innerhalb der Maskerade verarbeiteten Nuancen der Männlichkeitsentwürfe Ferrandos und Guglielmos müssen aus diesem Grund immer unter der Berücksichtigung analysiert werden, dass beide über weite Abschnitte des Texts einen Männlichkeitstypus darzustellen versuchen, der nicht ihr eigener ist. Obwohl Verkleidung männlicher Figuren in den Texten Mozart/Da Pontes ein frequent auftretendes Merkmal darstellt (exemplarisch sei hier die Szene des Kleidertausches aus Don Giovanni zwischen der Titelfigur und Leporello genannt), unterscheidet sich die Maskerade in Così fan tutte davon insofern, als Ferrando und Guglielmo andere Männer und damit auch andere Männlichkeitsentwürfe imaginieren und anschließend repräsentieren. Sie kennen ihre Rollen im Gegensatz zu Don Giovanni und Leporello nicht, sie stellen sie selber her. Der Übergang vom sogenannten ›role taking‹ zum ›role making‹ gestaltet sich fließend. Der Text eröffnet somit auch Perspektiven des zeitgenössischen Imaginationsrepertoires exotisch-südlicher Männlichkeitsentwürfe im späten 18. Jahrhundert. Don Alfonso ist nach eigener Aussage mit beiden durch Freundschaft verbunden, wobei der Terminus ›Freundschaft‹ von ihm regelmäßig wiederholt, aber in jeweils unterschiedlichen Kontexten verwendet wird. Eine dieser Verwendungsarten, die in der Einzelanalyse Don Alfonsos noch intensiver untersucht werden, ist die Lesart des Begriffs ›Freundschaft‹ zur Herstellung einer auf Ebenbürtigkeit beruhenden emotionalen Beziehung, eines Systems der Freundschaft innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaft. Ob sich diese Ebenbürtigkeit aus Don Alfonsos Sicht 166
U. Felten: Theater und Oper. Anthropologische Aspekte des Medienwechsels bei Mozart/Da Ponte und Marivaux. In: Wolfgang Nitsch, Bernhard Teuber (Hg.): Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive. Tübingen 2002, S. 177.
356
auch auf die Männlichkeitsentwürfe ausdehnen lässt und inwiefern sie dem Bestreben Ferrandos und Guglielmos nach Hegemonie entgegenstrebt, wird dabei eine entscheidende Frage sein. Die Einzelanalyse beginnt zunächst mit der Untersuchung des Männlichkeitsentwurfes Don Alfonsos, um sich dann Ferrando und Guglielmo zu widmen. 5.4.2 Don Alfonso ›Vecchio filosofo‹: Don Alfonso als ›Menschenprüfer‹ Der in der Figur Don Alfonso angelegte Männlichkeitsentwurf stützt sich im Wesentlichen auf zwei Parameter, die im Folgenden auf ihre wechselseitige Beeinflussung hin untersucht werden sollen: ›männliche‹ Dominanz aufgrund der Intelligenz und ›männliche‹ Dominanz in der Funktion des Spielleiters in dem von ihm initiierten Liebesexperiment. ›Männliche‹ Dominanz umfasst dabei beide Geschlechter und lässt Don Alfonso aus diesem Grund zumindest theoretisch einen eigenen Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ erheben. Die Wirkungsmechanismen der Dominanz und deren Ursächlichkeit müssen daher zu beiden Geschlechtern in Beziehung gesetzt werden. Don Alfonso wird in der Figurenauflistung, die dem Text vorangestellt ist, als ›vecchio filosofo‹ (in der deutschen Übersetzung wird dafür angeboten: ›ein alter Philosoph‹) vorgestellt. Im Lexikon Francesco Alberti di Villanuovas findet sich 1798 unter dem Eintrag ›filosofo‹ für den italienischen Sprachraum folgende Erklärung: »[…] amatore, e studioso della sapienza. […] si dice anche un uomo astratto.«167 Er steht in einer doppelten Tradition der Aufklärung: sowohl in der Tradition der Moralisten, der Menschenprüfer, als auch der Anthropologen, der Menschenforscher, des 17. und 18. Jahrhunderts.168 Beide Aspekte werden im Hinblick auf Don Alfonsos Männlichkeitsentwurf noch genauer zu untersuchen sein. Don Alfonsos Ziel ist es, die Gültigkeit seiner anthropologischen Kenntnisse in einem Liebesexperiment zur Treue der Frauen nachzuweisen. Skeptisch-rationalistische (wie die Zentrierung auf den ›Vernunft‹-Begriff in I/13) und anthropologisch-essentialistische Ansätze (wie die in II/13 formulierte Herrschaft des Herzens über die (Un)Treue der Frauen) finden in seiner Figurenrede ebenso Berücksichtigung wie naturwissenschaftliche Untersuchungen des 18. Jahrhunderts über die Navigierbarkeit des menschlichen Affektensembles nach den Gesetzen der Mechanik. Stefan Kunze arbeitet zu Recht einen Bezug zu aufklärungskritischen Tendenzen um 1790 heraus: 167 168
Alberti di Villanuova: Nuovo Dizionario Italiano-Francese, Bd. III, S. 66. Die Kennzeichnung Don Alfonsos als ›aufgeklärter Geist‹ findet sich in der Forschungsliteratur mehrfach wieder. Vgl. Hans Felten: Gespielte Liebe. Da Ponte/Mozart: »Così fan tutte oder die Schule der Liebenden«. In: H. Kaspar Spinner, Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Gespielte Welt von Aristophanes bis Pirandello. Meisterwerke der Weltliteratur. Bd. IV. Bonn 1989, S. 149 sowie Csobádi: »Di pasta simile son tutti quanti«. Reflexionen über Wahr und Unwahr in der Musik. In: Silvia Kronberger, Ulrich Müller (Hg.): Die Frau, der Mann nicht traut. Così fan tutte: Treueprobe & Liebesverwirrung im (Musik-)Theater. Salzburg 2005, S. 32.
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Col suo esperimento, che incide nella vita di chi vi è coinvolto, Don Alfonso riela una concezione della ragione simile a quella che nell’Ottocento ne farà uno spauracchio, ossia come di un potere distruttivo. Nel 1790 l’ottimismo illuminista e razionalista aveva già ceduto il passo alla disillusione.169
Auf die Nähe des Liebesexperiments in Così fan tutte zu derartigen Versuchen und die Parallelen zu Julien Offray de La Mettries Text L’homme machine aus dem Jahr 1748 ist in der Forschung mehrfach hingewiesen worden.170 Die Figur Don Alfonso kann folglich vor dem Hintergrund der im 18. Jahrhundert aufkommenden Körperund Verhaltensforschung betrachtet werden. Interessant ist, dass die aus Sicht des 18. Jahrhunderts modernen Wissenschaften laut Victor J. Seidler auch als Zeichen eines neuen Männlichkeitsentwurfes gedeutet werden können: L’Illuminismo stabilì l’identificazione della mascolinità con la ragione, mentre di fatto le nuove scienze del diciasettesimo secolo si rappresentavano come una nuova filosofia maschile. Così la filosofia razionalista si vide come essenzialmente maschile e fu parte integrante dell’affermarsi di un nuovo modello di rapporti di forza tra i sessi.171
Insbesondere Hartmut Böhme ist die gezielte Herausarbeitung der Interrelationen von Forschungen an der Grenze zwischen Körper und Verhaltensweisen für das ausgehende 18. Jahrhundert zu verdanken: Wissen befestigte sich [gegen Ende des 18. Jahrhunderts, M.B.] aus der Distanz zum operationablen Körperding […]. Dieser Ordnungsstrategie der Medizin korrespondiert die der Moral insofern, als auch diese die unübersichtliche Vielheit der Stimmen und Stimmungen des Leibs von sich wies und einer homogenisierenden Prozedur unterwarf: Moral ist die Produktion eines berechenbaren Körpers, der am moralischsten dann ist, wenn seine Bahn ähnlich präzis ist wie die eines Sterns oder eines Blutkreislaufs.172
Die Präsentation Don Alfonsos als ›vecchio filosofo‹ zieht jedoch darüber hinaus zwei unmittelbare Eigenschaften nach sich: Don Alfonso wird der älteren Generation zugerechnet und als Vertreter eines intellektuellen – oder gelehrten – Männlichkeitsentwurfes beschrieben. Die Klassifizierung als ›vecchio‹ grenzt ihn nicht nur gegenüber dem von Ferrando und Guglielmo repräsentierten jungen Typus eines Männlichkeitsentwurfes ab, sondern weist ihn zusätzlich als erfahren und beherrscht aus. Damit lässt sich auch in Così fan tutte die von Pfister vorgeschlagene Kontrastrelation ›alt-jung‹ anhand der repräsentierten Männlichkeitsentwürfe nachvollziehen. In der Fremdwahrnehmung durch die beiden Offiziere wird er aus diesem Grund sowohl als »poeta« als auch als »vecchio« verspottet. (CfT 14) Die bereits an169 170
171 172
Kunze: Il teatro di Mozart, S. 597f. Stellvertretend werden hier folgende Texte genannt: Kurt Kramer: Da Ponte’s »Così fan tutte«. Göttingen 1973, S. 22f., Gerhard Splitt: Gespielte Aufklärung: Così fan tutte oder die Umkehrung der Moral. In: Freiburger Universitätsblätter. Heft 101, September 1988, S. 65., Werner Wunderlich: »Il core vi dono …«. Die Sprache der Liebe und die Zeichen der Treue in Così fan tutte. In: S. Kronberger, U. Müller (Hg.): Die Frau, der Mann nicht traut. Così fan tutte: Treueprobe & Liebesverwirrung im (Musik-)Theater. Salzburg 2005, S. 89 sowie Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 212ff. Victor J. Seidler: Riscoprire la mascolinità. Sessualità, ragione, linguaggio. Roma 1992, S. 56. Vgl. Böhme Zit. nach: http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/ natsub/leib.html Zugriff: (22. 05. 2007).
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gesprochene Erfahrung und Selbstbeherrschung sind die ersten Eigenschaften, die er in I/1 gegenüber der jüngeren Generation unter Beweis stellen muss. Dabei wird wiederholt deutlich, dass sich beide Eigenschaften auf das Bewusstsein einer vor allem intellektuellen Überlegenheit im Vergleich zu seinen männlichen Interaktionspartnern stützen.173 Diese gefühlte Überlegenheit lässt ihn einen noch genauer zu erforschenden Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ stellen und bietet theoretisch die Möglichkeit, sein körperliches Defizit gegenüber der jüngeren Generation zu rekompensieren. Die Einflussnahme des Alters auf den Intellekt erweist sich als umkehrbar: Don Alfonsos Alter lässt ihn ruhig und überlegt agieren; sein Intellekt stützt sich wiederum auf die mit dem Alter verbundene Lebenserfahrung: Don Alfonso:
Ho i crini già grigi, Ex cathedra parlo; Ma tali litigi Finiscano qua. (CfT 10)
Ich habe schon graue Haare, aus Erfahrung sprech ich, doch solche Streitereien mögen hier ihr Ende finden.
Im Hinblick auf die subjektive Zeitwahrnehmung Don Alfonsos ist dabei interessant, dass sie sich auf die diachrone Ebene bezieht. Im Rekurs auf die von Eveline Kilian vertretenen Thesen definiert sich Don Alfonso selber durch die Kategorie der ›Kontinuität‹.174 Anders als der jeweils an die Momenthaftigkeit geknüpfte Männlichkeitsentwurf Don Giovannis kann Don Alfonso aufgrund seines Alters nur von dieser Position aus argumentieren: Die spontan-sprunghafte, fiebrige Suche nach Kurzweiligkeit überlässt er Ferrando und Guglielmo, der jüngeren Generation. Das Bestreben, den aufbrausenden Unmut der beiden jungen Offiziere zu bremsen, korrespondiert mit einer Selbstwahrnehmung Don Alfonsos: Er kann genau einschätzen, auf welchem Gebiet er den beiden jungen Männern über- bzw. unterlegen sein wird. Diese Fähigkeit ist in Don Alfonsos Fall der Menschenkenntnis, die auf kontinuierlicher Erfahrung beruht, geschuldet. Mit der Kennzeichnung der subjektiven Zeitwahrnehmung Don Alfonsos als ›kontinuierlich‹ korrespondiert die Einordnung als statische männliche Figur. Der in Don Alfonso angelegte Männlichkeitsentwurf besitzt kein dynamisches Entwicklungspotenzial; es ist vielmehr die Ausgeglichenheit und Beharrlichkeit, mit der Don Alfonso seine Pläne verfolgt, die die Figur maßgeblich konstituieren. Die Besänftigung Ferrandos und Guglielmos in I/1 geht aus diesem Grund mit folgender Eigenwahrnehmung Don Alfonsos einher: Guglielmo:
Fuor la spada! Scegliete Qual di noi più vi piace. Don Alfonso (placido): Io son uomo di pace, E duelli non fo, se non a mensa. (CfT 12) 173
174
Heraus mit dem Degen! Wählt, wer von uns beiden Euch besser gefällt. (ruhig) Ich bin ein friedlicher Mensch und duelliere mich nicht, außer bei Tische.
Zur intellektuellen Überlegenheit Don Alfonsos vgl. Csobádi: »Di pasta simile son tutti quanti«, S. 32. Vgl. zur Gegenüberstellung von Personen ›mit bzw. ohne ausgesprochene kognitive Fähigkeiten‹: Pfister: Das Drama, S. 230. Vgl. Kilian in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 78.
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Don Alfonsos Reaktion auf die soldatische Aufforderung zum bewaffneten Kampf zeigt im Hinblick auf seine männliche Körperwahrnehmung deutlich zwei Aspekte: Zum einen ist der von Böhnisch beschriebene, internalisierende Selbstschutz in der Figur stärker ausgeprägt als die externalisierte Selbstbehauptung.175 Die Ablehnung der körperlichen Auseinandersetzung lässt ihn durch die ironische Bemerkung über das Duell zum anderen trotz seines Alters als überlegen erscheinen. Dazu trägt auch die demonstrative Ruhe bei, die ihn auch im weiteren Verlauf – so beispielsweise in I/11 – geduldig bleiben lässt. Indem er das militärisch geführte Duell, einen Kernpunkt der soldatischen Ehrenvorstellung und dezidiertes Merkmal einer duellbereiten militärisch motivierten ›Männlichkeit‹,176 mit einem kulinarischen Duell »bei Tische« vergleicht, verspottet er nicht nur den Beruf, sondern auch das männliche Selbstverständnis seiner Gesprächspartner. Ferrando, der auf diese Aussage im Anschluss sehr hitzig reagiert: »O battervi« (CfT 12) zeigt durch seine Replik, dass er nicht in der Lage war, die darin enthaltene Ironie wahrzunehmen. Don Alfonso und ›hegemoniale Männlichkeit‹ Don Alfonsos intellektuelle Überlegenheit soll im Folgenden als Basis für seinen Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ untersucht werden. Dabei ist zu analysieren, wie diese Überlegenheit entsteht und welche Ziele Don Alfonso damit verfolgt. Eine dritte Frage wird sein, inwiefern in Don Alfonsos Fall zwischen innergeschlechtlicher und zwischengeschlechtlicher männlicher Überlegenheit differenziert werden muss. Dabei trifft die Analyse auf eine spezifische Position Don Alfonsos: Der theoretischen Überlegenheit bzw. Dominanz im Vergleich zu den anderen Figuren steht die Tatsache gegenüber, dass Don Alfonsos primäres Interesse nicht in der konstanten Besetzung der Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹, sondern in der Bedienung zweier Grundtriebe besteht. Der erste, heuristische Aspekt weist ihn als Forscher menschlicher Verhaltensweisen aus und mündet in seine didaktische Funktion als Mentor der beiden Offiziere. Der zweite, ludistische Aspekt kennzeichnet ihn als Lustmenschen, dessen ›plaisir‹ im Beobachten eines von ihm inszenierten Spiels, eines ›Experiments‹, besteht.177 In Anlehnung an eine von Christoph Kucklick vertretene These zur Exklusion eines ›Philosophen‹ des 18. Jahrhunderts aus der »sexuellen Arena« (Kucklick 203) ließe sich Don Alfonso in seinem rekompensatorischen Lustempfinden als »Onanist des Geistes« (Kucklick 204) kennzeichnen. Beide zuvor genannten Grundtriebe – 175 176
177
Vgl. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 111f. Zur Bedeutung des Duells im Kontext der ›Männlichkeitsentwurf‹ des 18. und insbesondere des 19. Jahrhunderts vgl. Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991 sowie Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Interessant ist der Hinweis Borchmeyers auf die räumliche Deixis eines »Kaffeehauses«, das er als »außerhalb des festumschriebenen […] aristokratischen Milieus gelegenen Treffpunkt« beschreibt, der als »gesellschaftlich neutraler Ort […] Stätte für ein Experiment« sein könne, »das den eingespielten sozialen Diskurs auf die Probe und in Frage stellt.« In: Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 206.
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der ›heuristische‹ und der ›ludistische‹ – teilen die Gemeinsamkeit, Dominanzausübungen bis zu einem bestimmten Punkt zu ermöglichen, wobei zu beachten ist, dass sie für Don Alfonso keinen Selbstzweck erfüllen; Don Alfonso akzeptiert vielmehr die dominante Position als Strategie, mit der er seine tatsächlichen Ziele – Forschung und Voyeurismus – erfüllen kann. Aus diesem Grund gerät er zwangsläufig in eine hegemoniale Position und nimmt diesen Zustand, wenn auch nicht als erklärtes Ziel, aber letztlich doch bereitwillig an. Dennoch ist mit Bezug auf die Bewertung der männlichen Figuren in Così fan tutte und ihre Auseinandersetzung um die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ bedeutsam, dass Don Alfonso im Gegensatz zu Ferrando und Guglielmo nicht primär nach ihr sucht. Zwei Ursachen der intellektuellen Dominanz gegenüber Ferrando und Guglielmo sind bereits genannt worden: Don Alfonsos Alter und die damit verbundene Erfahrung sowie die Fähigkeit zur Beherrschung der eigenen Affekte. Der letzte Punkt ließe sich dahin gehend erweitern, dass es Don Alfonso nicht nur gelingt, trotz seiner offensichtlichen Freude als ›Spielleiter‹ des Liebesexperiments sachlich seine Pläne zu verfolgen, sondern dass er darüber hinaus auch über eine subtile Kenntnis der Affektwelt seiner Interaktionspartner – sowohl der Männer als auch der Frauen – verfügt. Diese Kennzeichen weisen ihn in seinem Männlichkeitsentwurf zunächst sowohl gegenüber Männern als auch Frauen als überlegen aus. Diese Überlegenheit speist sich unter anderem auch aus subtilen Strategien, mit denen er die Eitelkeit seiner Interaktionspartner herausfordert, wie noch zu zeigen sein wird. Auffallend ist seine beinahe übermäßige Verwendung der Bezeichnung ›Freund‹ für Ferrando und Guglielmo. Dadurch ist jedoch nicht zwangsläufig eine besondere affektive Nähe zu den beiden Soldaten gemeint.178 Der Terminus ›Freund‹ überbrückt für Don Alfonso die Grenzen verschiedener Systeme innerhalb einer Gesellschaft, die sich im Umbruchsprozess zwischen stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung befindet. Wenn er sich als Außenstehender, nicht dem System des Militärs angehöriger Adliger als ›Freund‹ zweier Offiziere bezeichnet, dann lanciert er somit die Nachricht, im System der Freundschaft jenseits aller beruflichen und systembezogenen Differenzen gleichberechtigt mit ihnen zu interagieren. Don Alfonso ist die Eitelkeit der Offiziere bekannt, und durch die Bezeichnung ›Freund‹ schmeichelt er ihr in I/1, was allerdings auch in I/3 von Dorabella erkannt wird: »È Don Alfonso, L’amico lor.« (CfT 20) Don Alfonsos genaue Kenntnis der Affektpotenziale umfasst darüber hinaus auch die weiblichen Figuren. So gelingt es ihm, in I/10 mögliche Risiken seines Liebesexperiments zu antizipieren, die er in seiner durchaus agilen Dienerin Despina sieht: Don Alfonso:
Temo un po’ per Despina: quella furba Potrebbe riconoscerli, potrebbe Rovesciarmi le macchine. (CfT 44)
178
Wegen Despina mache ich mir etwas Sorge: Diese Schlaumeierin könnte sie erkennen; sie könnte meine Pläne über den Haufen werfen.
Dieser Deutungsweise wird in dem von Csampai und Holland herausgegebenen Text nachgegangen, der Don Alfonso als ›väterlichen Freund‹ bezeichnet. In: Csampai, Holland (Hg.): Così fan tutte, S. 34.
361
Auch Despina gegenüber verlässt sich Don Alfonso zunächst auf seine Menschenkenntnis und hat damit Erfolg: »E che vorrebbe? È l’oro il mio giulebbe.« (CfT 44) Das Wissen über die menschlichen Affekte ist zugleich Don Alfonsos Methode, die er zur Manipulation der anderen Figuren einsetzt, aber auch Ziel seiner Bestrebungen. Sein Männlichkeitsentwurf basiert entscheidend auf seinem Auftritt als Mentor,179 der die Figur textübergreifend kennzeichnet und am Ende des Librettos in der Figurenrede verbalisiert wird: Don Alfonso:
V’ingannai, ma fu l’inganno Disinganno ai vostri amanti, Che più saggi omai saranno, Che faran quel ch’io vorrò. (Li unisce e li fa abbracciare.) […] Tutti quattro ora ridete, Ch’io già risi e riderò.
Euch habe ich getäuscht, aber die Täuschung war eine Enttäuschung für eure Liebhaber. Jetzt sind sie wohl klüger und werden tun, was ich will. (Er führt sie zusammen und lässt sie einander umarmen.) […] So lacht denn ihr vier alle zusammen. Ich habe schon gelacht und werde es weiter tun.
(CfT 152)
Die Rolle des Mentors erhebt Don Alfonso laut Hanns-Josef Ortheil über das Niveau »einer der üblichen belehrenden Figuren der Buffosphäre«180 hinaus und bildet eine wichtige Säule des tragikomischen Grundpotenzials in Così fan tutte: Plötzlich streift er das Komödiantische ab und läßt es wie eine Spielmaske zurück. […] Sein Wissen macht ihn zum rezitativischen Charakter, zum Grübler. […] In seinem Inneren allein wühlt das Wissen die Seele auf und offenbart den vom Lebensüberdruß getroffenen Charakter.181
Werner Wunderlich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Duktus der Sprache Don Alfonsos »Authentizität und Autorität« beanspruche.182 Interessant ist, dass sich der Anspruch auf Überlegenheit in dieser Mentorenfunktion nicht nur an Individuen seines Geschlechts richtet. Wenn in II/18 die Maskerade aufgehoben wird, enthüllt er, die Frauen in seinem Liebesexperiment getäuscht zu haben. Die Tatsache, dass er Figuren beiderlei Geschlechts zu seinen Helfern umfunktioniert und somit instrumentalisiert, ist ein Grund dafür, dass die von Pfister beschriebene Ermittlung des ›elektiven Entropiewertes‹ im Hinblick auf Don Alfonsos Männlichkeitsentwurf keine weiten Perspektiven eröffnet: Gemäß der Definition müsste der ihn betreffende Wert ausgesprochen niedrig sein, was jedoch in Mozart/Da Pontes Text aus genanntem Grund nicht auf eine besonders konfliktträchtige Situation, sondern auf die Manipulierbarkeit der anderen Figuren schließen lässt. Vor allem instrumentalisiert er jedoch die Männer zu seinen Zwecken. Als Beweis dafür soll der in der Forschung häufig diskutierte Topos der Untreue, der ›Inconstantia‹, dienen. Don 179 180
181 182
Vgl. Csampai, Holland (Hg.): Così fan tutte, S. 18. Hanns-Josef Ortheil: Schöne Verführung. Mozarts musikalische Komödien. In: Franz Norbert Mennemeier (Hg.): Die großen Komödien Europas. Tübingen 2000, S. 184. Ortheil: Schöne Verführung, S. 194f. Wunderlich: »Il core vi dono …«, S. 85.
362
Alfonso verwendet ihn in I/1 als Provokation gegenüber den jungen, von der ›Constantia‹ ihrer Geliebten überzeugten Offizieren, die sich daraufhin in ihrer Eitelkeit verletzt zeigen: Don Alfonso (scherzando):
È la fede delle femmine Come l’araba fenice: Che vi sia, ciascun lo dice; Dove sia, nessun lo sa. (CfT 12)
(scherzend) Die Treue der Frauen ist wie der Phönix der Araber: Dass es ihn gibt, behauptet jeder, wo er ist, weiß keiner.
Diese Herausforderung ist im doppelten Sinne zu verstehen. Selbstverständlich umfasst Don Alfonsos Interesse an der Erforschung und experimentellen Probe menschlichen Verhaltens erklärtermaßen zunächst die Frauen, wie er in II/13: »Tutti accusan le donne, ed io le scuso« (CfT 134) verdeutlicht. Für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist jedoch weniger der zitierte Misogynie-Topos, als vielmehr Don Alfonsos männliche Positionierung dazu interessant. In der Gegenwart Ferrandos und Guglielmos in I/1 ist das Zitat daher nicht in erster Linie als Schmährede über die Frauen, sondern als Herausforderung der Konkurrenten im Kampf um die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ untereinander zu verstehen. Don Alfonso kennt die Bedeutung des ›Ehre‹-Begriffes für die beiden Offiziere, und durch die Behauptung, dass Dorabella und Fiordiligi als Frauen zwingend untreu sein müssten, fordert er bei Ferrando und Guglielmo die Eitelkeit und die Überzeugung in die eigene Unwiderstehlichkeit heraus. Ziel dieser Herausforderung ist daher – wie zuvor bereits angedeutet – nicht eine Verunglimpfung der Frauen, sondern Don Alfonsos angestrebter Wissensgewinn, der seinen Erkenntnisdrang im Hinblick auf menschliche Verhaltensweisen bedient. Mit diesem Wissensdurst geht der Triumph über die Vertreter eines ›jugendlichen‹ Männlichkeitsentwurfes und damit die Hegemonie von ›Geist‹ über ›Körper‹, von ›Intellekt‹ über ›Erotik‹, von ›Erfahrung‹ über ›Ungestüm‹, einher. Dieser Triumph, dessen Don Alfonso sich sicher ist, soll Ausdruck seiner auf dem Wissensvorsprung basierenden ›männlichen‹ Macht des lebenserfahrenen Skeptikers werden. Don Alfonsos Machtanspruch reicht jedoch über dieses Maß hinaus: Seine Überlegenheit soll – daran lässt er in mehreren Situationen im Text keinen Zweifel – auf Seiten der anderen Figuren nicht nur anerkannt, sondern erfahren werden. Stefan Kunze kommentiert dieses Bestreben wie folgt: Egli [Don Alfonso, M.B.] guarda tutto da una posizione di superiorità: scettico, spiritoso, beffardo, indifferente fino a rasentare il cinismo. Ha acconsentito malvolentieri all’esperimento, e ora conduce un gioco che ritiene inutile anzi dannoso.183
Kunze beschreibt dabei einen vermeintlichen Widerspruch: Beinahe scheint es, als ob Don Alfonsos Triumph nur durch eine leidhafte Prüfung auf Seiten der Teilnehmer an seinem Liebesexperiment vollständig sein könne. Auf die Machtbeziehungen, die Don Alfonso als Spielleiter gegenüber Ferrando und Guglielmo kennzeichnen, wird in seiner Figurenrede wiederholt hingewiesen: 183
Kunze: Il teatro di Mozart, S. 543.
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(I/1) Don Alfonso (fra se):
O pazzo desire! Cercar di scoprire Quel mal che, trovato, Meschini ci fa. (CfT 10)
(für sich) Was für ein verrücktes Verlangen, jenes Übel entdecken zu wollen, das, hat man es gefunden, uns zu kläglichen Figuren macht.
(I/7) Don Alfonso:
[…] Tanto meglio per me … Cadran più facilmente: Questa razza di gente è la più presta A cangiarsi d’umore. (CfT 32ff.)
[…] Umso besser für mich … So kommen sie leichter zu Fall: Diese Sorte von Menschen wechselt am raschesten ihre Stimmung.
(I/12) Don Alfonso (fra se):
Mi fa da ridere Questo lor ridere, Ma so che in piangere Dèe terminar. (CfT 58)
(für sich) Dass sie lachen, lässt mich lachen, aber eins weiß ich: In Tränen muss es enden.
Diese Auswahl aus der Figurenrede zeigt deutlich voyeuristische, beinahe sadistische Charakterzüge Don Alfonsos. Erst an dieser Stelle wird deutlich, weshalb er auf ein militärisches Duell verzichtet: Sein Triumph liegt in der schmerzvollen Selbsterkenntnis Ferrandos und Guglielmos, als Männer nicht unwiderstehlich, sondern austauschbar zu sein, die sich im Laufe des zweiten Aktes vollzieht. Im Bewusstsein seiner eigenen (physischen) Unterlegenheit will Don Alfonso demnach als Spielleiter die psychische Überlegenheit insofern instrumentalisieren, als er trotz körperlicher Nachteile in Richtung des Zentrums der ›hegemonialen Männlichkeit‹ vorstößt, indem er die ihm körperlich überlegenen Männer in ihrem Stolz verletzt. Ziel dieser Belehrung soll sein – wie er in II/18 unmissverständlich ausdrückt – dass die Offiziere tun werden, »was ich [d. h. Don Alfonso, M.B.] will«: »quel ch’io vorrò« (CfT 152), während sie – wie er in II/9 unmissverständlich ausdrückt – seine »Sklaven«: »infin domani siete entrambi miei schiavi« (CfT 118) sein sollen. Der Bruch der eigenen Überzeugung bzw. des eigenen Willens tritt innerhalb des Textes an dezidierten Stellen wiederholt auf. Am Ende sind es die Liebhaber, die sich Don Alfonsos Willen fügen müssen, nachdem sie ihrem eigenen durch das von ihm initiierte Spiel entsagen mussten. Indirekt führt Don Alfonsos Liebesexperiment jedoch auch die weiblichen Figuren zur Aufgabe ihrer eigenen Wünsche und Werte: »Fa’ di me quel che ti par« (CfT 130), haucht Firodiligi Ferrando in II/12 ebenso willenlos zu wie bereits Dorabella Guglielmo »Che brami?« (CfT 102) in II/5. Beide Äußerungen reflektieren die von Don Alfonso prognostizierte und initiierte Navigierbarkeit des Menschen aufgrund seiner Affekte und stellen somit, genau genommen, eine Absage an die rationalistische Anthropologie der Aufklärung dar, die ja gerade das Gegenteil – das Primat der oberen über die unteren Seelenkräfte – postuliert hatte. Don 364
Alfonsos Männlichkeitsentwurf erfährt seinem Alter gemäß Befriedigung nicht mehr über sinnlich-erotische Eroberungen amouröser Art; sein Narzissmus manifestiert sich nicht im Eros, sondern im Spiel- und Manipulationstrieb: In diesem Bereich ist er stark externalisiert und ebenso auf Selbstbestätigung angewiesen wie der nach amouröser Bestätigung strebende Männlichkeitsentwurf der jüngeren Generation. Nach Mustern innerhalb der anthropologischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts wechselt die ›Begierde‹ im Laufe des Lebensalters von der ungebremsten Libido hin zum Geiz bzw. zur Gier. Der Vergleich mit dem Wirt aus Lessings Minna von Barnhelm bietet sich diesbezüglich an. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied zwischen beiden männlichen Figuren darin, dass sich Don Alfonsos Begierde in Richtung eines gesteigerten investigativen Dranges steigert, während der Wirt aus Lessings Text von materiellen Aspekten dominiert wird. Don Alfonsos Männlichkeitsentwurf kokettiert mit der Eindimensionalität, die sich aus dem Dominanzanspruch in der Funktion des Spielleiters ergibt. Tatsächlich jedoch deckt der Text erst in der Entfaltung des Liebesexperiments durchaus mehrdimensionale Züge im (männlichen) Habitus des Spielleiters auf: Seine intellektuelle Selbstverliebtheit wird durch zwei Triebfedern fortlaufend stimuliert: die Lust am Voyeurismus und die Lust am Spiel an sich.184 Als Spielleiter übernimmt Don Alfonso innerhalb des Liebesexperiments sofort eine multiple Verantwortung: Er setzt die Regeln fest, ordnet die Figurenkonstellationen an, ruft die Spieler zur Beachtung der Regeln auf und entscheidet nicht nur über den Ablauf, sondern insbesondere auch über die Fortsetzung des Spiels. Ortheil sieht ihn aus diesem Grund als »Strategen, indem er die beiden Freunde und Offiziere zu neuen Wirkungen verbindet«.185 Als Kuppler fokussiert er seine Aufmerksamkeit auf die Vorbereitung einer möglichen Verführungssituation, wobei er die Affekte der Frauen durch unterschiedliche Sinneseindrücke zu stimulieren versucht: Don Alfonso:
Ah, correte al giardino, Le mie care ragazze! Che allegria! Che musica! Che canto! Che brillante spettacolo! Che incanto! Fate presto, correte! (CfT 90)
Ah, eilt in den Garten, meine lieben Mädchen! Welch Vergnügen! Was für Musik! Was für Gesang! Was für ein glänzendes Schauspiel! Welcher Zauber! Beeilt euch, lauft!
Mehrmals versuchen Ferrando und Guglielmo, das Spiel vorzeitig zu ihren Gunsten zu entscheiden (I/12 bzw. II/9), sie scheitern jedoch am Willen Don Alfonsos, der auf die Fortsetzung der Maskerade besteht. Auf die strukturelle Nähe des Liebesexperiments zum Ablauf der Libertinage (Maskerade, Verführung, Fallenlassen und symbolischer Tod des ›Opfers‹ sowie die Wiederherstellung der Ordnung) ist in der Forschung zu Così fan tutte bereits hingewiesen worden.186 Don Alfonso partizipiert an diesem in der Tradition der ›amour séduction‹ stehenden Ablauf des Spiels als 184
185 186
Kunze sieht Don Alfonso aus diesem Grund als »attempato« (»gealterten«) Don Giovanni. In: Kunze: Il teatro di Mozart, S. 276. Ortheil: Schöne Verführung, S. 186. Wie beispielsweise sehr ausführlich bei U. Felten: Theater und Oper, S. 176f.
365
Leiter und vor allem als Voyeur, dessen Erregung sich nicht nur durch das sinnliche Spiel der beiden Soldaten an sich steigert, sondern auch durch die Gewissheit, selbst Auslöser und Manipulator von Handlung und Figurenensemble des ›Spiels im Spiel‹ zu sein, was sich in I/4, I/5 und I/7 zeigt: (I/4) Don Alfonso (fra se):
La commedia è graziosa, e tutti e due Fan ben la loro parte. (CfT 26)
(für sich) Die Komödie ist reizend, und alle beiden spielen ihre Rollen gut.
(I/5) Don Alfonso (fra se):
Io crepo, se non rido! (CfT 30)
(für sich) Ich platze gleich vor Lachen!
(I/7) Don Alfonso:
Non sono cattivo comico! Va bene … […] Quante buffonerie! Tanto meglio per me … Cadran più facilmente. (CfT 32ff.)
Ich bin kein schlechter Komödiant, es läuft gut … […] So viel närrisches Getue! Umso besser für mich … So kommen sie leichter zu Fall.
Hanns-Josef Ortheil kommentiert den Zusammenhang zwischen Spielleitertum und Galanterie wie folgt: Don Alfonso ist in diesem Spiel der Regisseur, der Herrscher über die Einhaltung des galanten Spiels. Er ist an ihm nur als Zuschauer beteiligt, aber er wird die Stichworte geben müssen, die Regieanweisungen setzen, die Personen an die Hand nehmen, sie zur Seite schieben, aufeinander zuführen, sie vertauschen. Sein Metier ist es, die sinnlich bewegte, quecksilbrige Sphäre der Galanterie in Bewegung zu halten.187
Dieses Kennzeichen hebt ihn weit über das Interesse eines Moralisten, die ›mores‹ zu erforschen, hinaus: Nicht in ihrer Untersuchung liegt Don Alfonsos alleiniges Interesse, sondern in ihrer Manövrierbarkeit, die die ihn umgebenden Figuren zu marionettenhaften Schablonen werden lässt.188 Ortheil arbeitet diesbezüglich heraus, dass »der strategische Körper in der Spätzeit des 18. Jahrhunderts der Körper sei, der zunächst einer bestimmten Mechanik gehorche«:189 Dabei interessiert die Mechanik als Lehre von den möglichen Bewegungen. Welchen Gesetzen unterliegen Körper, die sich bewegen, wie läßt sich das Verhältnis von Masse und Kraft bestimmen, welche Momente wirken auf einen starren Körper ein?190
Sowohl die Untersuchung als auch die Manövrierbarkeit menschlicher Körper und Verhaltensweisen gehen dem Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ voraus: Die Voraussetzungen dafür verlangen aus Don Alfonsos Perspektive ebenso die Kenntnis 187 188 189 190
Ortheil: Schöne Verführung, S. 184f. Vgl. Kramer: Da Ponte’s »Così fan tutte«, S. 24. Ortheil: Schöne Verführung, S. 185. Ortheil: Schöne Verführung, S. 185.
366
der menschlichen Affekte wie deren gezielte Instrumentalisierung. Mit Bezug auf die Instrumentalisierung weiterer Figuren lassen sich trotz aller offensichtlichen Unterschiede darüber hinaus durchaus Parallelen zu Don Giovanni ziehen, der ebenfalls aufgrund der richtigen Einschätzung (und Kenntnis) der ihn umgebenden Figuren mühelos auf der Klaviatur der menschlichen Affekte spielen kann: mal komödiantisch, mal larmoyant; nachdrücklich ebenso wie demonstrativ gönnerisch. ›Pazzo desire‹: Affekt- und Coderepertoire Auch Don Alfonso erfüllt diese Anforderungen: Ihm steht aufgrund seiner Menschenkenntnis ein breites Repertoire von Codes aus unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Verhaltens zur Verfügung. Erneut wird an diesem Coderepertoire deutlich, dass Don Alfonso diesbezüglich zwei Ebenen miteinander verbinden kann: die der Kompetenz, indem er die entsprechenden Codes kennt, und die der Performanz, indem er sie zu seinen Zwecken instrumentalisieren kann. Deutlicher kann die Parallele zwischen Don Giovanni und Don Alfonso nicht ausfallen. Die performative Ebene der Codes setzt selbstverständlich noch eine weitere entscheidende Fähigkeit voraus, die Don Alfonso als Adliger mit den beiden Offizieren teilt: Die Fähigkeit zur affektbezogenen ›simulatio‹ und ›dissimulatio‹, zur gezielten Vortäuschung bzw. Verstellung, die innerhalb des Liebesexperiments vor allem in der Tradition der Liebe als Verführungsspiel steht. Dieser Code der Libertinage steht den männlichen Figuren in Così fan tutte ebenso zur Verfügung wie der (prä)romantische Code der passionierten Liebe. Allerdings besteht der wesentliche Unterschied zwischen Don Alfonso sowie Ferrando und Guglielmo darin, dass die Soldaten die ›simulatio‹ auf Geheiß und nach den Regeln Don Alfonsos einsetzen und damit in ihrem Spiel – ohne sich dessen bewusst zu werden – zu Marionetten Don Alfonsos werden. In einem Text wie Così fan tutte, der sein Hauptaugenmerk auf die Manipulierbarkeit von Affekten – und damit auch ihrer Träger, der Individuen, – legt, können Ferrando und Guglielmo allein aus diesem Grund nicht dauerhaft in das Zentrum der ›hegemonialen Männlichkeit‹ vordringen. Sie wähnen sich dort, aber die entscheidende männliche Figur ist Don Alfonso. Sein Simulationsrepertoire umfasst im Bereich der Affekte – seinem gesellschaftlichen Stand entsprechend – die Codes der Höflichkeit und Empathiefähigkeit, aber auch der simulierten Trauer, wie in I/3 deutlich wird: Don Alfonso:
Che farete? Che farò? Oh, che gran fatalità! Dar di peggio non si può: Ho di voi, di lor pietà. (CfT 20ff.)
Was wird aus euch, was wird aus mir? Oh, was für ein großes Unglück! Schlimmer kann’s nicht kommen: Mitleid hab ich mit euch und mit ihnen.
Über die Affekte hinaus agiert er jedoch – systemtheoretisch argumentiert – auch in verschiedenen Teilsystemen so überzeugend, dass davon ausgegangen werden muss, dass ihm der jeweilige Code und der entsprechende Thesaurus zu den betreffenden Teilsystemen ausdifferenziert vorliegen muss. Die Teilsysteme umfassen im Einzelnen das Militär (I/3 bis I/5), die Intimität (II/4) und das System der Juristerei (II/17). 367
Don Alfonso agiert dabei im ersten Fall als Motivator: »[…] Andar conviene ove il destino, anzi il dover v’invita« (CfT 28), im zweiten Fall als Kuppler und Alter-Ego der beiden verkleideten Offiziere: »La mano a me date, movetevi un po’. […] Se voi non parlate, per voi parlerò« (CfT 94) und schließlich im dritten Fall mit Despinas Hilfe als rechts- und lateinkundiger Notargehilfe: Don Alfonso:
Miei signori, tutto è fatto: Col contratto nuziale Il notaio è sulle scale, E, ipso facto, qui verrà. (CfT 140)
Meine Herren, alles ist bereit: Mit dem Ehevertrag ist der Notar im Treppenhaus und wird ipso facto hier erscheinen.
Die Kenntnis der Semantik und der Mechanismen der einzelnen Teilsysteme lassen ihn sicher und vor allem schnell reagieren, um seine eigentliche Funktion des Spielleiters zu unterstützen. Jedoch ist auch diese scheinbar absolut kontrollierende Instanz nicht frei von der Gefahr, ihre hegemoniale Position wieder aufzugeben. Don Alfonso gerät – je weiter sein Liebesexperiment fortschreitet – immer stärker in die Gefahr, Objekt seines eigenen Spiels zu werden: Das von ihm in I/1 mit Bezug auf Ferrando und Guglielmo angesprochene »verrückte Verlangen« (»pazzo desire«) nach Selbstbestätigung ergreift ihn schließlich auch beinahe selbst und lässt ihn, getrieben von der Lustempfindung des Spieltriebs, schließlich auf die Hilfe einer Frau zurückgreifen. Despina befindet sich darüber hinaus ursprünglich noch in einem von Hierarchien gekennzeichneten Verhältnis zu Don Alfonso. Die Einbindung der Dienerfigur der beiden Frauen in die Pläne des Spielleiters erhält dadurch eine zusätzliche Brisanz, die in dem Moment verstärkt wird, als Don Alfonso merkt, dass auch Despina dem Reiz des Spiels zunehmend erliegt und zu immer kühneren Kostümierungen – Kupplerin, Arzt und schließlich sogar Notar – bereit ist. An dieser Stelle bieten sich im Hinblick auf Don Alfonsos Verhältnis zur ›hegemonialen Männlichkeit‹ zwei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten an: In der ersten erscheint Despinas Einbindung durch Don Alfonso als Aufgabe seiner hegemonialen Position, da er sich somit in Abhängigkeit zu Despina begeben würde und nicht mehr (alleiniger) Leiter des Spiels sein könnte.191 Dieses Argument wird maßgeblich dadurch gestützt, dass Don Alfonso in I/10 zu realisieren beginnt, auf die Beteiligung einer Helferfigur angewiesen zu sein, um das Scheitern seines Liebesexperiments zu verhindern: Don Alfonso:
Temo un po’ per Despina: quella furba Potrebbe riconoscerli, potrebbe Rovesciarmi le macchine. (CfT 44)
Wegen Despina mache ich mir etwas Sorge: Diese Schlaumeierin könnte sie erkennen; sie könnte meine Pläne über den Haufen werfen.
Ein weiteres Argument zur Unterstützung dieser These ist die bereits angesprochene mehrdeutige Haltung, die Don Alfonso gegenüber der Position ›hegemonialer Männlichkeit‹ einnimmt: Die zeitweilige Akzeptanz kann nicht davon ablenken, 191
Vgl. Ortheil, der Don Alfonso ohne Despina als »machtlos« bezeichnet: Ortheil: Schöne Verführung, S. 187.
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dass seine Prioritäten andere Bereiche umfassen. Darüber hinaus lässt der Tonfall, in dem Despina dem hierarchisch überlegenen Don Alfonso in I/10 gegenübertritt, trotz der Verwendung der Anredeformeln »du« und »Sie« durchaus Zweifel an einem klar definierten Hierarchieverhältnis beider aufkommen, was erheblich zum komödiantischen Potenzial des Textes beiträgt und als Anzeichen des Umbruchs von der stratifikatorisch zur funktional differenzierten Gesellschaft dienen kann: Don Alfonso: Oh! Despina (esce): Ih! Don Alfonso: Despina mia,
Di te bisogno avrei. Despin: Ed io niente di Lei. Don Alfonso: Ti vo’ fare del ben. Despina: A una fanciulla
Un vecchio uomo come Lei non può far nulla. (CfT 44)
Oh! (kommt heraus) Ih! Meine Despina, ich bräuchte etwas von dir. Aber ich nichts von Ihnen. Ich will dir etwas Gutes tun. Ein alter Mann wie Sie kann einem Mädchen nichts Gutes tun.
In diesem Zusammenhang kann jedoch kritisch angemerkt werden, dass Don Alfonsos Alter ihn zwar – wie es Despina ausdrückt – vermeintlich davon abhält, »einem Mädchen etwas Gutes« im sexuellen Sinne zu tun, auch wenn das genauer hinterfragt werden müsste. Fest steht jedoch, dass Alfonso gemäß den Vorstellungen des 18. Jahrhunderts durchaus als vermögend gelten kann; die eventuell gesunkene sexuelle Libido ließe sich folglich durch ein gesteigertes Vermögen ausgleichen, mit dem er »einem Mädchen« durchaus »Gutes« tun könnte. Die zweite Interpretationsmöglichkeit bestätigt Don Alfonsos theoretisch möglichen Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹, da die von ihm initiierte Instrumentalisierung der anderen Figuren zu seinen Interessen fortschreitet. Diese Deutung lässt sich anhand der Einbindung Despinas nachweisen: Trotz anfänglicher Skepsis der Kammerzofe gelingt es Don Alfonso, durch Bestechung ihren Spieltrieb zu wecken und sie in sein Liebesexperiment einzubinden. Durch das Angebot, als Komplizin an einer hegemonialen Position zu partizipieren, schmeichelt Don Alfonso der Dienerin. Diese Taktik hat Erfolg und gelingt ihm nur deshalb, weil er das Streben nach sozialer Reputation bzw. nach materieller Rekompensation als Triebkraft der Affekte Despinas exakt kalkuliert: Don Alfonso:
[…] un zecchinetto Per una cameriera è un gran scongiuro. Ma, per esser sicuro, si potria Metterla in parte a parte del segreto. (CfT 44)
[…] ein Zecchinchen hat für eine Kammerzofe eine große, beschwörende Kraft. Aber um sicher zu gehen, könnte man sie nach und nach ins Vertrauen ziehen.
Daraus entsteht sein Plan, Despina sukzessive in sein Vorhaben einzuweihen. Interessant ist folglich auch Don Alfonsos Funktion als Regulator der Informationsvergabe an die ihn umgebenden Figuren. Die Parallelen der Konstellationen zwischen Don Giovanni/Leporello bzw. Don Alfonso/Despina sind offensichtlich: Leporello und Despina sind den beiden Dienstherrn jeweils hierarchisch unterlegene, sich in Abhängigkeit befindliche Figuren. Dabei muss selbstverständlich noch differenziert 369
werden, dass Leporello Don Giovanni unmittelbar dient, während Despina ursprünglich Kammerzofe bei Fiordiligi und Dorabella ist und sich Don Alfonso ihre Dienste erst durch Bestechung zusichert. Beide Dienerfiguren symbolisieren trotz deutlicher Elemente der Komik keinesfalls einfältige Individuen; sie sind mit reichlichem Ironiepotenzial und affektiver Simulationsfähigkeit ausgestattet und erfüllen die Aufträge ihrer Auftraggeber aufgrund ihres breiten Code-Repertoires, das insbesondere den amourösen, den sentimentalen und den schauspielerischen Code umfasst. Beide streben nach sozialer Reputation, beide werden instrumentalisiert, da sowohl Don Giovanni als auch Don Alfonso diesen Drang sehr schnell erkennen. Beide Dienerfiguren finden im Laufe der ihnen angetragenen Rollen Gefallen an Maskerade und Täuschung. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Don Alfonso versucht, eine Frau als Komplizin in seine Pläne einzubinden, um sie dadurch partiell an seiner momentanen Hegemonie teilhaben zu lassen. Dadurch wird auch das vermeintlich misogyne Grundelement des Textes in ein anderes Licht gerückt: Don Alfonso bezieht eine Frau, die die maskuline Unbeständigkeit sehr forsch kommentiert, in ein Liebesexperiment ein, das die Untreue der Frauen beweisen will. In I/13 scheint Despina gleichberechtigt neben ihm zu agieren, indem Don Alfonso sich nach den Plänen seiner Dienerin erkundigt: Don Alfonso:
Ma come Far vuoi perché ritornino, Queste tue bestioline? […] Despina: A me lasciate La briga di condur tutta la macchina. (CfT 64)
Aber wie willst du’s schaffen, dass sie zurückkehren, deine lieben Tierchen? […] Überlasst nur mir die Mühe, die ganze Intrige auszuführen.
Ob die Ahnungslosigkeit Don Alfonsos tatsächlich empfunden oder nur fingiert ist, um an Despinas Spielleitertum voyeuristisch teilzuhaben, lässt sich anhand des Textes nicht hinlänglich klären. Allerdings gelingt Don Alfonso somit die Motivation seiner Gehilfin, die an ihrer Funktion immer mehr Gefallen findet. Das Ende des Textes zeigt jedoch ausschließlich Don Alfonso in der resümierenden Funktion als Triumphator: Don Alfonso:
V’ingannai, ma fu l’inganno Disinganno ai vostri amanti, Che più saggi omai saranno, Che faran quel ch’io vorrò. (CfT 152)
Euch habe ich getäuscht, aber die Täuschung war eine Enttäuschung für eure Liebhaber. Jetzt sind sie wohl klüger und werden tun, was ich will.
Die Einbindung Despinas, die in II/18 ungewohnt kleinlaut zugeben muss: »Io non so se questo è sogno: mi confondo, mi vergogno« (CfT 152), wird aus diesem Grund als Stabilisierung seines Anspruchs primär auf Erfüllung der beiden ihn kennzeichnenden Triebe (Forschungs- bzw. Erkenntnisdrang sowie Voyeurismus) und sekundär auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ deutlich. In Don Alfonso, so lässt sich eine erste Teilschlussfolgerung ziehen, konstruierten Mozart/Da Ponte ein sehr komplexes Bild des Männlichkeitsentwurfes. Trotz des 370
Alters kann diese er in einem Text wie Così fan tutte zeitweilig hegemonial sein. Dabei ist jedoch zu beachten, dass sich der Hegemonieanspruch zum einen nicht primär, sondern nur im Dienste diverser anderer Ziele der Figur, folglich sekundär, herleitet. Zum anderen resultiert der Hegemonieanspruch weniger aus einer optimalen Erfüllung der Anforderungen patriarchalischer Strukturen, sondern vielmehr daraus, dass die anderen im Text repräsentierten Männlichkeitsentwürfe in ihrem Hegemonieanspruch versagen. Den Beweis dafür anzutreten, steht noch in einer genauen Prüfung in der Einzelanalyse Ferrandos und Guglielmos aus. Eines verdeutlicht jedoch der Text unmissverständlich: Bestätigt wird in Così fan tutte in seiner Position einzig Don Alfonso: »Fortunato l’uom che […] da ragion guidar si fa« (CfT 152); alle anderen Figuren müssen sich eingestehen, ab einem bestimmten Punkt des Liebesexperiments zu Darstellern oder Lakaien in einem Kammerspiel Don Alfonsos geworden zu sein. Dieses Resümee ist ebenso berechtigt wie die Feststellung, dass alle Figuren – Don Alfonso eingeschlossen – am Ende des Textes isoliert erscheinen. Das ›glückliche Ende‹ der Buffatradition wirkt auch in der Figur Don Alfonsos alles andere als überzeugend und gerät in den Verdacht, eher ein Zugeständnis des Duos Mozart/Da Ponte an die Gattungskonvention der Opera buffa als eine sich aus dem Handlungsverlauf entwickelnde Konsequenz zu sein. Trotz der aus Don Alfonsos Sicht gelungenen Versuchsdurchführung, bei der Hypothese und Ergebnis übereinstimmen, hat sein zur Schau gestelltes Lachen in II/18 den faden Beigeschmack, der ›letzte Triumph eines alten Mannes‹ gewesen zu sein, bei dem bis zum Schluss unklar bleibt, ob er auf seine eigene Überlegenheit oder die Konkurrenzlosigkeit der anderen Figuren zurückzuführen ist. Da diese Frage im Hinblick auf die Hegemonieverhältnisse der im Text vorhandenen Männlichkeitsentwürfe entscheidend ist, soll sie auch in der sich anschließenden Einzelanalyse Ferrandos und Guglielmos Beachtung finden. 5.4.3 Ferrando und Guglielmo Parallelen: Fremddynamik, Eitelkeit, Hybris Ferrando und Guglielmo sollen in diesem Abschnitt zunächst auf Gemeinsamkeiten und anschließend auf Unterschiede ihrer Männlichkeitsentwürfe hin untersucht werden. Diese methodologische Entscheidung rechtfertigt sich vor allem dadurch, dass beide im Text in der Mehrzahl der Szenen gemeinsam auftreten und innerhalb dieser Auftritte vor allem im ersten Akt wiederholt aus einer ähnlichen Perspektive, teilweise auch mit vergleichbaren Mitteln, agieren. Ein entscheidender Bruch in der Parallele der Figuren vollzieht sich im zweiten Akt, woraufhin die zuvor noch teilweise echohaft wirkenden Auftritte immer stärker isoliert und individualisiert werden. Beide – so lässt sich vorerst als These formulieren – entwickeln ihre Individualität erst im Laufe des zweiten Aktes; ihre Männlichkeitsentwürfe differenzieren sich erst in der Entwicklung des Textes von einem typenhaften hin zu einem figuralen maskulinen Bild. Ferrando und Guglielmo werden als »amante di Dorabella« bzw. als »amante di Fiordiligi« vorgestellt. Ihre textinterne Funktion kennzeichnet sie dem371
nach in erster Linie als Liebhaber der Frauenfiguren. Dass es sich darüber hinaus um zwei Soldaten handelt, wird erst durch die Vereinbarung der Wette mit Don Alfonso in I/1 deutlich: »Da soldati d’onore.« (CfT 16) Die Figurenbeschreibung zitiert demnach nicht vordergründig soziale Ansprüche oder Fertigkeiten; Ferrando und Guglielmo werden gewissermaßen umgehend funktionalisiert, ihnen wird eine konkrete Aufgabe zugewiesen, ohne zunächst Herkunft oder Eignung dafür näher vorzustellen. Die Männlichkeitsentwürfe beider Soldaten werden im Laufe des Textes verstärkt äußeren Einflüssen ausgesetzt: beginnend mit der Wette mit Don Alfonso über verschiedene Stufen innerhalb des Liebesexperiments bis zu jeweils verschiedenen Spielformen, wie Täuschung, Maskerade, Werbung, gespieltem Tod, Eroberung und Heirat. Ferrando und Guglielmo müssen sich mit diesen externen Einflüssen arrangieren, wobei sie zunächst freiwillig am Spiel partizipieren. Indem sie sich selber einverstanden erklären, Figuren innerhalb eines (von ihnen nicht gelenkten) Spiels zu sein, können sie zunächst als fremddynamische männliche Figuren klassifiziert werden. Amouröse und militärische Attribute begleiten beide über weite Strecken des Textes, wobei sie sich teilweise auch überlagern, was zu einer Überblendung beider Aspekte im Sinne der tradierten Amor-Darstellung führt, wie sie sich bei Ovid in den Amores I 9,1 findet: »Militat omnis amans, et habet sua castra Cupido.«192 Bereits anhand der Namen lässt sich diese Überblendung dokumentieren. Beide Namen beinhalten charakteristische Zeichen, die sowohl mit dem amourösen als auch mit dem militärischen Bereich assoziiert werden können. Eine ausführliche Untersuchung findet sich diesbezüglich bei Wunderlich,193 der herausarbeitet, dass sowohl in Ferrando (von ›ferro‹, ›Eisen‹) als auch in Guglielmo (von ›elmo‹, ›Helm‹) zentrale Attribute der Waffen- und Kriegsmetaphorik verarbeitet wurden, die im Zusammenhang mit der bereits angesprochenen Funktion als Liebhaber auf die Kennzeichnung des Liebenden als Soldat verweisen. Ferrando und Guglielmo teilen neben dem Soldatentum, das gesondert analysiert werden soll, auch eine Reihe anderer Charakteristika: Sie gehören beide der jungen Generation an und bilden damit eine Opposition zum fortgeschrittenen Alter Don Alfonsos. Ihre Duellforderungen erscheinen im Bewusstsein der körperlichen Überlegenheit gegenüber dem älteren Don Alfonso. Auf eben dieses Bewusstsein stützt sich ihr Anspruch auf die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹, die nicht wie im Falle Don Alfonsos auf intellektuellem, sondern auf physischem Dominanzgebaren beruht. Ferrando und Guglielmo wollen die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ dezidiert besetzen; sie verfolgen im Gegensatz zu Don Alfonso kein übergeordnetes Ziel. Damit erweist sich ihre Zielsetzung mit Bezug auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ innerhalb ihres Wertesystems als primär. Ihre hitzigen Reaktionen
192
193
Ovid: Amores I 9,1. In: Niklas Holzberg (Hg.): Publius Ovidius Naso: Liebesgedichte lateinisch/deutsch = Amores. Stuttgart 2002, S. 22. Vgl. Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe, S. 208. Wunderlich: »Il core vi dono …«, S. 99ff. Zur Hybris mit Bezug auf die Wette vgl. Csobádi: »Di pasta simile son tutti quanti«, S. 31.
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auf Don Alfonsos provokante Thesen lassen insbesondere in I/1 auf sanguinisches, teilweise cholerisches Temperament schließen. Aus den beiden Faktoren ›Jugend‹ und ›überschäumendes Temperament‹ leitet ihre Eignung als Liebhaber her, die für das Gelingen des Liebesexperiments unabdingbar ist. Allerdings kennzeichnet ihren jugendhaften Männlichkeitsentwurf nicht in erster Linie das von Pfister beschriebene »ungebrochene Verhältnis zur sexuellen Libido«,194 sondern ein hohes Maß an Narzissmus und Stolz, der von klaren Zügen der Hybris und Einfalt begleitet wird, wie Wunderlich hervorhebt: Hohle Phrasen, selbstgefällige Übertreibungen und eitle Attitüden entlarven sie als singende Nachfahren des plautinischen ›miles gloriosus‹. Freilich sind sie keine Maulhelden, die sich wie der römische Hauptmann militärischer Ruhmestaten brüsten, aber gleichwohl prahlerisch-siegesgewisse Angeber, die eine Schlacht auf dem Feld der Liebe […] um jeden Preis gewinnen wollen.195
Die im Titel angesprochene ›Schule der Liebhaber‹ erscheint gemäß der von Wunderlich vorgeschlagenen Lesart als Schule, die sie selber zu durchlaufen haben, um das, was ihnen offensichtlich fehlt, zu erlangen: Reife. Gerhard Splitt sieht darin einen »Humanisierungsprozeß […], dem ein Prozeß der Entheroisierung« entspreche.196 Ob die von Don Alfonso initiierte ›Unterweisung‹ in den Aspekten menschlichen Verhaltens jedoch gegenüber der exzessiven Selbstfokussierung Ferrandos und Guglielmos wirkt, muss angesichts der Schlussfolgerungen der Soldaten nach der Entdeckung der Untreue beider Partnerinnen bezweifelt werden. Besonders deutlich wird das anhand Ferrandos Aussage in II/13: »Mancheran forse donne ad uomini come noi?« (CfT 132) Naivität und Selbstüberschätzung sind in den Männlichkeitsentwürfen beider so stark externalisiert, dass Don Alfonso sie problemlos erkennen und als Figuren innerhalb des von ihm initiierten Spiels instrumentalisieren kann, wie Stefan Kunze hervorhebt: »La conseguenza è che i personaggi si rassegnano completamente al loro ruolo, rinunciando a qualsiasi libertà d’azione o spontaneità.«197 Ermöglicht wird diese Funktionalisierung auch aufgrund eines der größeren Lebenserfahrung geschuldeten Wissensvorsprungs, den Don Alfonso gegenüber den beiden Offizieren besitzt. Aufgrund der exponierten Hybris und Selbstverliebtheit gerät der Anspruch der beiden jungen Soldaten auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ gegenüber dem ›vecchio filosofo‹ wiederholt in Gefahr und muss – das kann an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden – letztendlich scheitern. Mozart/Da Ponte zeigen in Così fan tutte, wie (männlicher) Intellekt letztendlich über (männliche) narzisstische Physis triumphiert. Die entscheidenden Motive, die zu diesem Ergebnis führen, können anhand der Männlichkeitsentwürfe Ferrandos und Guglielmos nachgezeichnet werden. Ein wesentliches Bindeglied der insbesondere im ersten Akt für Ferrando und Guglielmo entscheidenden Kennzeichen der Männlichkeitsentwürfe ist ihre Position innerhalb der funktional differenzierten Ge194 195 196 197
Pfister: Das Drama, S. 228. Wunderlich: »Il core vi dono …«, S. 98. Splitt: Gespielte Aufklärung, S. 65. Kunze: Il teatro di Mozart, S. 544.
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sellschaft – innerhalb des Militärs. Beide definieren sich selber wiederholt über militärische Begrifflichkeiten: (I/1) Don Alfonso:
E un cenno, un motto, un gesto Giurate di non far di tutto questo Alle vostre Penelopi.
Ferrando: Giuriamo. Don Alfonso: Da soldati d’onore. Guglielmo: Da soldati d’onore.
Und schwört, dass ihr von all dem keine Andeutung, kein Wörtchen, kein Zeichen gegenüber euren Penelopen verlauten lasst. Das schwören wir. Bei eurer Soldatenehre. Bei unserer Soldatenehre.
(CfT 16)
Wie bereits festgestellt werden konnte, besteht zwischen der Wahrnehmung von ›Männlichkeit‹ und dem Begriff der ›Ehre‹ ein wichtiger Zusammenhang. Drei Informationen sind an dieser Stelle hervorhebenswert: Zunächst wird deutlich, dass der Begriff der Ehre im Wertesystem der Soldaten zumindest theoretisch einen wesentlichen Schwerpunkt ausfüllen sollte, wobei dies für den eher extrovertierten Guglielmo noch stärker gilt als für den teilweise durch Züge der Melancholie geprägten Ferrando. Beide – darin besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit – scheinen die soldatische Ehre allerdings nicht so stark verinnerlicht zu haben, dass sie sie daran hindern könnte, ein wenig ehrhaftes Spiel zur Täuschung der Geliebten zu initiieren. Daraus folgt die Reduktion des ›Ehre‹-Begriffs auf eine rein soldatische Etikettierung, eine hohle Phrase, die an sich bereits als Persiflage auf das Militärwesen des 18. Jahrhunderts wirken muss. Die tatsächliche Motivation der Berufung auf ihre soldatische Ehre besteht in ihrem Selbstkonzept als ›Männer‹. David D. Gilmore weist auf die entscheidende Bedeutung des ›Ehre‹-Begriffs in der Bestimmung dessen, was er ›mediterrane Männlichkeit‹ nennt, hin: Nell’area mediterranea, la maggioranza degli uomini è profondamente legata a un’immagine della virilità che costituisce una componente essenziale dell’onore e della reputazione personale. […] A causa dei suoi aspetti competitivi e sessualmente aggressivi, l’immaginario maschile dell’area del Mediterraneo è stato percepito, almeno per quanto riguarda alcuni dei paesi latini, come individualista, disgregante e fautore di isolamento.198
Das zeigt sich sehr deutlich dadurch, dass die militärischen Duelldrohungen gegenüber Don Alfonso zwar in I/1 einige Male hitzig ausgesprochen, aber ebenso schnell wieder vergessen werden. Demgegenüber führen die Provokationen des ›vecchio filosofo‹ im Bereich der amourösen Treue – in dem Bereich folglich, der die Qualität Ferrandos und Guglielmos als potente Phallokraten in Frage stellen könnte – umgehend zu Protesten und damit zwangsläufig zur Vereinbarung der Wette. Dadurch sollen die Offiziere die Gelegenheit erhalten, ihr eigentliches Bestreben in die Tat umzusetzen: sich in der Kunst der Verführung zu versuchen und sich, in der Gewissheit der eigenen Unwiderstehlich- und Einzigartigkeit, in ihrem maskulinen Selbstverständnis zu bestätigen.199 Ein grundlegender Ludismus trifft innerhalb der Männ198
199
David D. Gilmore: La genesi del maschile. Modelli culturali della virilità. Scandicci 1993, S. 36. Vgl. Ortheil: Schöne Verführung, S. 184.
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lichkeitsentwürfe beider teils auf eine stark ausgeprägte Naivität (insbesondere bei Ferrando) und teils auf einen stark ausgeprägten Narzissmus (insbesondere bei Guglielmo). Die Treue der Geliebten wird auf das eigene Selbstkonzept projiziert; je stärker die Überzeugung Ferrandos und Guglielmos von der Beständigkeit der jeweiligen Geliebten zu Beginn des Textes erscheint, desto drastischer wird sich der Gesichtsverlust im zweiten Akt gestalten. Die Berufung auf das Militär und die soldatische Ehre korrespondiert aus diesem Grund für Ferrando und Guglielmo mit einer – wie es Ulrike Baureithel formuliert – »Maske der Virilität«,200 die den Narzissmus kaschiert, der ihren Männlichkeitsentwurf stärker beeinflusst. Noske arbeitet eine Korrelation zwischen dem narzisstischen Selbstbild der Soldaten, ihrer menschlichen Unreife und ihren amourösen Relationen heraus: Both Ferrando and Guglielmo strike us as particularly immature. […] Neither young man is capable of a truly human relationship with the girl of his choice, nor is either aware of the fact that such a relationship might be possible. Each of them looks upon his sposa as one of life’s ornaments: Fiordiligi for Guglielmo’s possessions, Dorabella for Ferrando’s emotions.201
Dennoch erfolgt die Eigen- (in I/1) und Fremdwahrnehmung (in I/3 und I/4) zumindest im ersten Akt vor allem über die Herleitung des Daseins als Soldat: (I/3) Don Alfonso:
Al marzial campo Ordin regio li chiama. (CfT 22)
Aufs Schlachtfeld ruft sie ein königlicher Befehl.
(I/4) Don Alfonso:
Nei momenti i più terribili Sua virtù l’eroe palesa. (CfT 24)
In den schrecklichsten Augenblicken beweist der Held seine Tapferkeit.
Die mehrfach wiederholte Androhung physischer Gewaltausübung gegenüber Don Alfonso zeigt die Interrelation der in der Forschung wiederholt untersuchten Bereiche ›Militär‹, ›Körperbewusstsein‹, ›Gewalt‹ und ›Männlichkeitsentwurf‹. In diesem Zusammenhang kann auf Lothar Böhnischs These verwiesen werden, wonach der »gepanzerte Soldatenkörper« ein traditionsreiches Muster darstellt, um auf »aufbrechende Formen männlicher Gewalt […] [sowie, M.B.] Zeichen von Ungleichgewichten und Krisen in der männlichen Dominanzkultur«202 reagieren zu können, wobei er »den Willen nach außen und die Abwehr nach innen«203 symbolisiert. Im Hinblick auf Ferrandos und Guglielmos verbale Gewaltandrohungen erscheinen Böhnischs Thesen überaus nachvollziehbar: In ihren unterschiedlich stark externalisierten Männlichkeitsentwürfen müssen beide Offiziere dadurch als gewaltbereit bezeichnet werden, währenddessen sie sich männlichkeitsentwurfsintern vor dem 200
201 202 203
Ulrike Baureithel: Masken der Virilität. Kulturtheoretische Strategien zur Überwindung des männlichen Identitätsverlustes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In: Die Philosophin 8. Schwerpunkt: Paradigmen des Männlichen 1993, S. 24–35. Noske: The Signifier and the Signified, S. 116f. Vgl. Böhnisch: Männliche Sozialisation, S. 34. Vgl. Böhnisch: Körperlichkeit und Hegemonialität, S. 112.
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Spott und damit der Preisgabe der Lächerlichkeit, die dem Dominanzanspruch ihrer Männlichkeitsentwürfe entgegensteht, schützen müssen.204 Die im ersten Akt wiederholt aufgegriffene Parallele zwischen amourösen und militärischen Codes kennzeichnet insbesondere Ferrandos und Guglielmos Abschiedsszene in I/4. Bildhafthyperbolische Figurenrede und wechselhafte Treueschwüre werden dabei immer wieder durch inszenierte Militärarrangements unterbrochen. In I/4 heißt es im Nebentext auf einmal: »Si sente un tamburo in distanza.« (CfT 26) I/5 beginnt mit: »Marcia militare in qualche distanza.« (CfT 28) Die Inszenierung des Abschieds dient textintern jedoch nur als Vorbereitung einer weiteren Verkleidung: Die ›simulatio‹ mündet in immer drastischere Formen der Maskerade. Bereits ab I/4 wird das Soldatentum in seinen Ritualen von Pflichterfüllung und Abschiedsschmerz durch Ferrando und Guglielmo auf Geheiß Don Alfonsos hin als Maskerade initiiert; und diese erfährt durch die Identitätsumwandlung ab I/11 eine weitere Steigerung und hält als Verkleidung bis in die letzte Szene des zweiten Aktes an. Aus diesem Grund muss eine Analyse der Männlichkeitsentwürfe Ferrandos und Guglielmos jeweils deren multiple Struktur beachten, die daraus resultiert, dass beide über weite Strecken des Textes Männlichkeitsentwürfe darstellen und imitieren, die nicht ihre eigenen sind. Die Maskeradeabschnitte werden wiederum von Phasen des BeiseiteSprechens begleitet, in denen Ferrando und Guglielmo zeitweise wieder ihre ursprüngliche Identität (und somit ihre ursprünglichen Männlichkeitsentwürfe) annehmen. »Che sembianze! Che vestiti«: ›Männlichkeit‹ und Maskerade Obwohl sich verschiedene Figuren in den Texten Mozart/Da Pontes einer Verkleidung unterziehen – wie beispielsweise in der Verkleidung Cherubinos oder während des Kleidertausches zwischen Don Giovanni und Leporello – wird in keinem anderen der zu analysierenden Textbeispiele eine maskuline Maskerade so lange aufrechterhalten und so bestimmend für den Männlichkeitsentwurf, der dadurch repräsentiert wird. Ziel und Methode Ferrandos und Guglielmos bestehen nicht nur in einem einfachen karnevalesken Kleidertausch; sie nehmen nicht nur andere Namen (Sempronius und Titus) und andere Nationalitäten (Albaner) an, sondern versuchen darüber hinaus auch, einen aus Sicht des ausgehenden 18. Jahrhunderts exotischen Männlichkeitsentwurf möglichst glaubhaft darzustellen. In diesem Zusammenhang ist die Assoziation der Fremde mit primär ›männlichen‹ Reisenden für die Entstehungszeit des Textes wichtig. Ferrando und Guglielmo sollen – so wird es den Frauen glaubhaft gemacht – als Soldaten in den Krieg ziehen. Die ›männliche‹ Konnotation dieses Auftrages steht unzweifelhaft fest. Um zum Schlachtfeld zu gelangen, müssen die beiden Offiziere eine Reise in die Ferne antreten. An dieser Stelle setzt jenes Moment ein, das Würzbach eine »geschlechterstereotype Symbolisierung von Räumen« nennt: 204
Vgl. Kaufmans Thesen zur Ausübung ›männlicher‹ Gewalt gegenüber anderen Männern: Kaufman: The Construction of Masculinity and the Triad of Men’s Violence, S. 17f.
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Die Fremde […] repräsentiert eine Situation außerhalb der gewohnten Ordnung, verkörpert das Unberechenbare und Irrationale, wird aber durchaus auch mit Erlösungswünschen und Paradiesessehnsucht verbunden. Diese Ambivalenzen legen wiederum weibliche Zuschreibungen patriarchaler Provenienz nahe, die den männlichen Reisenden in die Rolle des Eroberers versetzen.205
Im Hinblick auf die Funktion, die der vorgeschobene Ruf auf das Schlachtfeld, die fingierte Abfahrt und die pompös inszenierte Ankunft der verkleideten Offiziere erfüllen, wird die Annahme Würzbachs anhand des Textes bestätigt: In der Tat kehren Ferrando und Guglielmo (sogar im zweifachen Sinn) als ›Eroberer‹ zu Dorabella und Fiordiligi zurück; sie repräsentieren als »reiche Exoten« den Besitz bzw. die Eroberung materieller Güter in der Fremde und verfolgen in ihrer Maskerade Ziele der amourösen Eroberung. Darin offenbart sich ein starkes ludistisches Grundelement, das sie mit Don Alfonso teilen – er als Maskierender, sie als Maskierte. Claudia Benthien fasst die Wirkungsmechanismen der Maskerade wie folgt zusammen: Maskerade kann also für die Wahrnehmung von Gender verschiedenste Auswirkungen haben. Erstens kann sie die Zeichen der (heterosexuellen) Geschlechtsidentität verstärken: […] durch Betonung von Körperformen. Dann ist es, zweitens, möglich, dass eine Maskerade […] eine sexuelle Identität verhüllt. […] Schließlich kann […] ein Spannungsverhältnis zwischen Körper und Kleidung auf unterschiedlichste Formen der Gender-Spaltung verweisen – zum Beispiel auf eine bewusste, inszenierte Infragestellung von Geschlechtsidentität.206
In Così fan tutte zeigen sich anhand der maskierten, exotischen Männlichkeitsentwürfe Ferrandos und Guglielmos ab I/11 einige Anknüpfungspunkte an die von Benthien angesprochenen Kennzeichen. Insbesondere die Präsentation der beiden – wie es im Nebentext in I/11 heißt – »amanti travestiti« (CfT 48) gegenüber Despina dient dafür als Beleg: Despina (fra se, ridendo):
Che sembianze! Che vestiti! Che figure! Che mustacchi! Io non so se son valacchi, Or se turchi son costor. Don Alfonso (sottovoce a Despina): Che ti par di quel aspetto? Despina (sottovoce a Don Alfonso): Per parlarvi schietto schietto, Hanno un muso fuor dell’uso, Vero antidoto d’amor. (CfT 48)
(lachend, für sich) Was für Gesichter! Was für Gewänder! Was für Gestalten! Was für Bärte! Ich weiß nicht, sind das Walachen, oder sind es Türken? (leise zu Despina) Was hältst du von diesem Anblick? (leise zu Don Alfonso) Um offen, ganz offen mit Euch zu reden: Sie haben eine ganz unmögliche Fratze, sie sind echte Liebestöter.
Der Spott Despinas richtet sich in erster Linie gegen das Erscheinungsbild der verkleideten Soldaten, das sie als unzeitgemäß (»fuor dell’uso«) wahrnimmt. Das optisch-geheimnisvoll Fremde vermag sie zugleich nicht eindeutig zuzuordnen: (»Io non so se son valacchi or se turchi«), bezeichnet es aber als »erotisch unbrauchbar« (»antidoto d’amor«). Durch die Maskerade imitieren Ferrando und Guglielmo den 205 206
Würzbach in: Nünning, Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 50f. Stephan: Im toten Winkel, S. 53.
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aus Sicht der Südeuropäer orientalisch-exotischen Männlichkeitstypus: Fremd anmutende physiognomische Kennzeichen, wallende Gewänder und Bärte werden unmittelbar als exotische Attribute der ›Männlichkeit‹ hervorgehoben, was Wunderlich wie folgt kommentiert: Die Wahlverwandten treten verkleidet als Albaner auf, Inbegriff furchteinflößender Fremder aus einem auch damals weitgehend unbekannten Land, das zum osmanischen Reich gehörte. Die beiden sind bunte Exponenten der rokokotypischen Vorliebe für orientalische Exotik und Erotik. Zudem entspricht der Mummenschanz dem Image des Orientalen, das ihm im Laufe des 18. Jahrhunderts in Europa, in Österreich zumal, verpaßt worden war: lüstern und gewalttätig.207
Im weiteren Verlauf des Textes treten Ferrando und Guglielmo alias Sempronius und Titus208 darüber hinaus mit floralen Ornamenten geschmückt auf, wie in II/4 aus dem Nebentext hervorgeht. Interessant ist, dass die Feststellungen mit Bezug auf das äußere Erscheinungsbild zunächst von Despina getroffen werden, wohingegen Dorabella die exotische Komponente der beiden vermeintlich Fremden erst in I/15 und damit erheblich nach dem ersten Aufeinandertreffen zu bemerken scheint: »Che figure interessanti!« (CfT 70) In der ersten Phase der Maskerade ist es zunächst Guglielmo, der seinen gespielten exotischen Männlichkeitsentwurf beschreibt: Guglielmo:
Guardate, toccate, Siam due cari matti Il tutto osservate: Siam forti e ben fatti, […] Abbiamo bel piede, Bell’occhio, bel naso; E questi mustacchi Chiamare si possono Trionfi degli uomini, Pennacchi d’amor. (CfT 56ff.)
Seht nur, fasst uns an, wir sind zwei liebe, nette Kerle, schaut auf das Ganze: Wir sind stark und gut gebaut, […] Wir haben schöne Füße, schöne Augen, eine schöne Nase. Und diese Schnurrbärte lassen sich bezeichnen als Triumph der Männlichkeit, als Panier der Liebe.
Die darin enthaltene Selbstverliebtheit, die die Offiziere bereits vor der Maskerade kennzeichnet, tritt auch nach der Verkleidung als exotischer Männlichkeitsentwurf deutlich hervor, sodass Dorabella in II/2 schließlich fragt: »Qual vuoi sceglier per te de’ due narcisi?« (CfT 88) Allerdings vollzieht sich dieser Prozess nicht unverzüglich. Zunächst konzentriert sich die Hervorhebung der eigenen Vorzüge in I/11 ausschließlich auf die Körperlichkeit. Stärke und Schönheit – so ließe sich Guglielmos eigene Apotheose zusammenfassen – mündeten direkt in ein Musterbild der ›Männlichkeit‹ (»trionfi degli uomini«). Die von Guglielmo angeführten Charakteristika werden in II/1 von Despina übernommen und zusätzlich erweitert: »Son ricchi, belli, nobili e generosi.« (CfT 82) Die implizit sexuellen Anspielungen in I/11 (»Guardate, toccate […] siam forti e ben fatti«) beziehen die Potenz als Definitionsgrundlage der 207
208
Wunderlich: Mozarts Così fan tutte. Wahlverwandtschaften und Liebesspiele. Bern 1996, S. 127. Zur Semantik dieser in römischen juristischen Texten als Fallbeispiele verwendeten Namen vgl. Wunderlich: »Il core vi dono …«, S. 104.
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›Männlichkeit‹ vor allen anderen Kennzeichen ein.209 Aus diesem Grund lässt sich folgern, dass die Männlichkeitsdefinition über die soldatische Pflicht zur Aufrechterhaltung der Ehre, wie sie in I/1 von Ferrando und Guglielmo vorgetragen wurde, mit der Verkleidung eine sexuell-erotische Aufladung erfahren hat. Bereits im Moment der ersten Begegnung mit Fiordiligi und Dorabella schöpfen die Verkleideten aus dem Repertoire amouröser Komponenten: Guglielmo:
Vista appena la luce Di vostre fulgidissime pupille … Ferrando: … Che alle vive faville … Guglielmo: … Farfallette amorose e agonizzanti … Ferrando: … Vi voliamo davanti … Guglielmo: … Ed ai lati, ed a retro … (CfT 52)
Kaum haben wir das Licht eurer strahlenden Äuglein erblickt … … das bei den Funken der Glut … … verliebte Falter, im Todeskampf … … fliegen wir vor euch her … … neben euch, und hinter euch …
Die Metaphorik des Falters verweist auf die ›Metamorphose‹ der beiden Soldaten und antizipiert – wie in der zuvor beschriebenen Darstellung Guglielmos – sexuelle Desiderate (»davanti ed ai lati, ed a retro«). Als Zwischenergebnis kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Wirkungsweise der männlichen Maskerade insbesondere in I/11 in Abhängigkeit davon, ob Eigen- oder Fremdwahrnehmung der Männlichkeitsentwürfe vorliegt, variiert: aus Guglielmos und Ferrandos Perspektive der Eigenwahrnehmung verstärkt sich – gemäß der zuvor zitierten Thesen Benthiens – ihre heterosexuelle Geschlechtsidentität als Männer durch die Betonung der (maskierten) Körperformen. Despinas Spott und die anfängliche Zurückhaltung Fiordiligis und Dorabellas nach der ersten Begegnung deuten jedoch darauf hin, dass in der Fremdwahrnehmung der maskierten Männlichkeitsentwürfe zunächst eher eine Infragestellung der heterosexuellen Omnipotenz zu verzeichnen ist. Dadurch werden die Soldaten nicht nur aus dem angestrebten Bereich der sexuell begehrenswerten Liebhaber ausgeschlossen, sondern zusätzlich der Lächerlichkeit preisgegeben, was im ausgehenden 18. Jahrhundert im Hinblick auf den Zuspruch von ›Männlichkeit‹ als vollkommen kontraproduktiv gilt, wie zuvor gezeigt werden konnte.210 Die Wahrnehmungsspaltung ist mit Bezug auf die Frage, ob die Männlichkeitsentwürfe Ferrandos und Guglielmos den Anspruch auf Hegemonie erheben können, von entscheidender Bedeutung. ›Hegemoniale Männlichkeit‹ – das wird dabei deutlich – kann nur dann erreicht werden, wenn Eigen- und Fremdwahrnehmung dahingehend übereinstimmen. In Benthiens Text findet sich dafür ein möglicher Erklärungsansatz: Insgesamt gilt, dass männliche Idealkörper wesentlich normierter sind als weibliche, für die es bis in die Gegenwart ein Repertoire verschiedener Typen gibt. Letzteres hängt mit der alten These von Weiblichkeit als Devianz des Männlichen untrennbar zusammen, die zwar abwertet, zugleich aber Spielräume des Andersseins eröffnet.211 209 210
211
Vgl. Wunderlich: Mozarts Così fan tutte, S. 127. Vgl. Kants Äußerung, dass nichts »tiefer unter das Erhabene [sinke, M.B.] als das Lächerliche«. In: Kant in: Doyé u. a. (Hg.): Philosophische Geschlechtertheorien, S. 199f. Benthien: Das Maskerade-Konzept in der psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung. In: Benthien, Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade, S. 57.
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Dieser Gedanke lässt sich mit Bezug auf die männliche Maskerade Ferrandos und Guglielmos durchaus weiterführen: Die stärkere Bindung an physische Normen behindert demnach nicht nur das Bestreben nach ›Andersheit‹, sondern mit der Maskerade auch der performativen Entsprechung. Despina formuliert die Abweichung der maskierten Soldaten von der ›männlichen‹ Norm – eine Äußerung, die die beiden ›orientalischen Gäste‹ zunächst in der Fremdwahrnehmung vom Kern- aber auch den Randbereichen ›hegemonialer Männlichkeit‹ ausgrenzt. In der Maskerade in Così fan tutte offenbart sich daher die Zerbrechlichkeit der nach Hegemonie strebenden Männlichkeitsentwürfe im ausgehenden 18. Jahrhundert, da selbst geringe Abweichungen einer implizit kodifizierten Virilitätsnorm zur Exklusion aus dem Dominanzanspruch des ›Mannes‹ führen können. Ein bislang noch nicht weiter behandelter Aspekt der Maskerade Ferrandos und Guglielmos ist der ludistische Trieb, der sich im Laufe des Liebesexperiments immer stärker offenbart. Sowohl durch die explizite als auch durch die implizite Charakteristik in der Figurenrede – oder, anders formuliert – sowohl in den Passagen, in denen sie ihre eigene Teilnahme am Spiel verbal reflektieren, als auch durch ihr Verhalten im Spiel an sich wird die Lust an der ›simulatio‹ amouröser Codes im Partnertausch deutlich erkennbar: (I/11) Ferrando, Guglielmo (fra se):
Qual diletto è a questo petto Quella rabbia ed quel furor! (CfT 50)
(für sich) Wie freut sich mein Herz über diesen Zorn und diese Wut!
(I/12) Ferrando, Guglielmo:
Ah, che dal ridere L’alma dividere, Ah, che le viscere Sento scoppiar! (CfT 58)
Ach, vor lauter Lachen zerspringt meine Seele. Oh, ich merke, dass mein Bauch am Platzen ist.
(I/16) Ferrando, Guglielmo (fra se):
Dalla voglia ch’ho di ridere Il polmon mi scoppia or or. (CfT 76)
(für sich) Ich habe solche Lust zu lachen, dass es mich fast zerreißt.
Durch Don Alfonso gesteuert, durchläuft die ›simulatio‹ Ferrandos und Guglielmos textintern eine dramatische Klimax. Der simulierte Abschied bildet in der dramatischen Progression den Anfang einer ganzen ›Kette der Täuschungen‹: Simulierte exotische Identitäten in der Maskerade werden gefolgt von simulierten amourösen Affekten in der Liebeswerbung, die schließlich mit dem simulierten Suizidversuch in I/15 und der wundersam-inszenierten »Heilung« durch Despina in I/16 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Dass Ferrando und Guglielmo während der Maskerade bis einschließlich II/9 (als die Untreue Dorabellas Ferrando gegenüber offenbart wird) und II/13 (Guglielmo erfährt die Untreue Fiordiligis) nicht erkennen, von Don Alfonso instrumentalisiert zu werden und zwar den Geliebten gegenüber aktive Spieler, Don Alfonso gegenüber jedoch selber nur Spielfiguren zu sein, verdeutlicht 380
die Unerfahrenheit, mit der sie sich auf das Liebesexperiment einlassen. In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass die beiden Soldaten während ihrer Maskerade nicht nur Gefallen am Spiel an sich finden, sondern darüber hinaus auch versuchen, teilweise in die Rolle des Spielleiters zu gelangen. Das Ende von I/15 kann dafür als Beleg herangezogen werden: Ferrando, Guglielmo (fra se):
Più domestiche e trattabili Sono entrambe diventate. Sta’ a veder che lor pietate Va in amore a terminar. (CfT 72)
(für sich) Freundlicher und zugänglicher sind die beiden geworden. Es wird sich zeigen, ob ihr Mitleid schließlich in Liebe endet.
Die Spannung und das Gefühl der Lust am Erforschen menschlicher Verhaltensweisen teilen sie an dieser Stelle mit Don Alfonso. Ebenso äußert sich, wie bereits im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde, der Zusammenhang von Wissensdrang und Machtanspruch insbesondere in der Figur des Spielleiters. Diese wird – textübergreifend – von Don Alfonso ausgefüllt, was ihn sich am weitesten an das von Connell beschriebene Konzept der ›hegemonialen Männlichkeit‹ annähern lässt. Da jedoch das Konzept an sich dynamisch verstanden werden soll, eröffnet es auch anderen Männern die Möglichkeit, zeitweise in den Kernbereich ›hegemonialer Männlichkeit‹ vorzudringen. Diese Tatsache wird dadurch unterstützt, dass es sich bei Così fan tutte um einen Text handelt, der durch die textinterne Struktur als ›Spiel im Spiel‹ mehrere Nuancen der Begriffe ›Spielleiter‹ und ›Objekt des inszenierten Spiels‹ vorsieht: Es wird im Verlauf des Textes durchaus plausibel, von einer Pluralität der Spielleiterinstanzen zu sprechen. An oberster Stelle der Hierarchie – und damit in der Position des Anspruchs auf maskuline Hegemonie – befindet sich Don Alfonso. Ferrando und Guglielmo sind bereits in das Liebesexperiment involviert; sie erfüllen diverse Aufträge Don Alfonsos, die zum Teil von ihnen verlangen, selber als Spielleiter gegenüber Fiordiligi und Dorabella in Erscheinung zu treten. Indem sie diese Funktion erfüllen, partizipieren sie nicht nur an der Macht des Spielleiters, sondern dadurch auch zeitweise an der ›hegemonialen Männlichkeit‹: Eine Möglichkeit besteht darin, eine andere Form des Verhältnisses zwischen Gruppen von Männern zu betrachten, nämlich die Komplizenschaft mit der hegemonialen Männlichkeit. Als komplizenhaft verstehen wir in diesem Sinne Männlichkeiten, die zwar die patriarchale Dividende bekommen, sich aber nicht den Spannungen und Risiken an der vordersten Frontlinie des Patriarchats aussetzen. (Connell 1999, 100)
Die Anwendung der These Connells auf Ferrando und Guglielmo impliziert zwar auf der einen Seite die Entschlossenheit, an der ›hegemonialen Männlichkeit‹ im Sinne der Spielleiterfunktion teilzuhaben, auf der anderen Seite jedoch auch die Ablehnung einer dauerhaften Präsenz im Zentrum der Funktion: Bestätigt wird dies im Text dadurch, dass sie in II/4 eine weitere von Don Alfonso erdachte amouröse Simulation bereitwillig durchführen (dieses Mal handelt es sich um eine Entschuldigungsszene), wobei die Abhängigkeit von Don Alfonso auch zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass er für sie – das heißt, in ihrem Namen – spricht: »Se voi non parlate, per voi parlerò.« (CfT 94) Der Unterschied in den Hegemonieverhältnissen zu Don 381
Alfonso besteht darin, dass sich Ferrando und Guglielmo nur teilweise in den Bereichen ›hegemonialer Männlichkeit‹ aufhalten, währenddessen es Don Alfonso als dominanter und permanenter Spielleiter gelingt, beständig darin zu agieren. Darin liegt ein wesentlicher Aspekt des ironischen Grundpotenzials in Così fan tutte: Gerade den von ihrer Unwiderstehlichkeit überaus überzeugten Soldaten gelingt es nur teilweise, den Bereich der ›hegemonialen Männlichkeit‹, nach dem sie streben, zu besetzen. In diesem Zusammenhang kann es als Parodie auf maskuline Dominanzansprüche gedeutet werden, dass gerade Don Alfonso – der ursprünglich andere Interessen verfolgt – als ›Spielleiter‹ der Dominanzposition zweifelsfrei näher ist als die beiden Offiziere. Unterschiede: Naivität und Melancholie Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die Parallelen in den beiden Männlichkeitsentwürfen herausgearbeitet wurden, soll das Augenmerk im Folgenden auf die charakteristischen Unterschiede gelenkt werden. Abgesehen von den durch Fiordiligi und Dorabella in II/2 beschriebenen Unterschieden im äußeren Erscheinungsbild (Dorabella beschreibt den verkleideten Guglielmo als »brunettino«, währenddessen Fiordiligi in Ferrando einen »biondino« zu erkennen glaubt) bestehen die wesentlichen Differenzen der in Ferrando und Guglielmo repräsentierten Männlichkeitsentwürfe in den Bereichen ›Temperament‹ und ›Eigenwahrnehmung‹ bzw. ›Eigendarstellung‹. Diese Unterschiede treten vor allem im zweiten Akt hervor, als das ›Liebesexperiment‹ auf Seiten der Frauen zu wirken beginnt. Gewisse unterschiedliche Ausprägungsstufen der Temperamente sind bereits zu Beginn des Textes erkennbar. Trotz der sanguinischen Grundierung, die beiden jungen Soldaten eigen ist, kann anhand des Textes nachvollzogen werden, dass sich Ferrandos Männlichkeitsentwurf im Verlauf der Handlungsentwicklung eher durch schwärmerisch-melancholische Züge definiert, währenddessen Guglielmo vor allem zu einer mit überzogener Eitelkeit verbundenen Cholerik neigt. So ist es in I/1 zunächst Ferrando, der sowohl ausruft: »La fenice è Dorabella!« (CfT 12) – und damit die Überzeugung von der Treue seiner Geliebten als Erster unterstreicht – als auch die Wette mit: »Giochiamo!« (CfT 14) als Erster akzeptiert. Wiederum Ferrando ist es, der den Schwur auf die Einhaltung der von Don Alfonso festgesetzten Spielregeln zuerst ablegt: »Giuriamo.« (CfT 16) Wunderlich hat in der Analyse des Namens bereits auf die Nähe zum italienischen Verb ›sich irren‹ (›errare‹) hingewiesen.212 Der vollkommene Glauben an die Treue Dorabellas verdeutlicht auch im weiteren Verlauf des Textes, so beispielsweise in I/12, Ferrandos Naivität. Demnach muss es als dramatische Ironie betrachtet werden, dass gerade der (zuerst) von der Treue überzeugte und darauf Geld verwettende Ferrando im zweiten Akt als Erster der beiden Soldaten gehörnt wird, indem Guglielmos Liebeswerbung zunächst Dorabella ›zu Fall‹ bringt. Neben der Naivität kann Unbeholfenheit als weiteres Charakteristikum Ferrandos bezeichnet werden. Insbesondere im amourösen Werben um Fiordiligi in II/6 wird 212
Vgl. Wunderlich: »Il core vi dono …«, S. 99.
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deutlich, dass Ferrando als Verführer zunächst ohne Aussicht auf Erfolg ist. Sein Sprachduktus ist von schwärmerischer, überladen wirkender Formelhaftigkeit geprägt: Ferrando (lietissimo):
Ah, lo veggio: quell’anima bella Al mio pianto resister non sa; […] In quel guardo, in quei cari sospiri Dolce raggio lampeggia al mio cor: […] (mesto) Ma te fuggi, spietata, tu taci Ed invano mi senti languir? (CfT 104ff.)
(freudig erregt) Ach, ich sehe: Diese schöne Seele kann meinen Tränen nicht widerstehen; […] Mit diesem Blick, mit diesen teuren Seufzern dringt ein süßer Strahl mir ins Herz. […] (traurig) Doch du fliehst, du Grausame, du schweigst und hörst, wie ich vergeblich schmachte?
Im Gegensatz zu Guglielmo agiert er vor allem physisch zurückhaltender: Der Körperkontakt, den Guglielmo bereits in II/5 zu Dorabella aufnimmt, gelingt Ferrando erst wesentlich später, am Ende von II/12. Die Sicherheit, mit der er sich noch in der Einganssequenz Don Alfonso gegenüber von Dorabellas Treue fest überzeugt zeigt, wird von der Unsicherheit seiner eigenen Liebesbemühungen konterkariert. Noske sieht darin einen Gegenentwurf zum Verführer-Typus Don Giovannis: Ferrando is anything but a Don Giovanni, […]. Instead we have to come to know him in the course of the drama as a young man who immaturely indulges his emotions and is virtually incapable of feigning love.213
Ferrando – das wird anhand des zweiten Aktes deutlich – ist kein Mann der Tat; seinem zuweilen aufbrausenden, aber vornehmlich schwärmerischen Charakter entspricht eher das Wort. Dem noch in I/1 vorgetragenen soldatischen Männlichkeitsentwurf gegenüber zieht er in II/5 sogar wiederholt das Mitleid Guglielmos auf sich, als dieser Dorabella verführt: Guglielmo (fra se):
Infelice Ferrando!
[…] Ferrando meschino! Possibil non par. (CfT 100ff.)
(für sich) Unglücklicher Ferrando! […] Armer Ferrando! Man hält es nicht für möglich.
Selbst in der Situation, als Gugliemo kurz davor ist, ihm in II/8 die Untreue seiner Geliebten zu verkünden, bleibt Ferrandos Überzeugung von der Treue Dorabellas unerschüttert, was ihn unfreiwillig tragikomisch wirken lässt: Ferrando:
E la mia Dorabella? Come s’è diportata? (Con trasporto) Oh, non ci ho neppur dubbio! Assai conosco Quella sensibil alma. (CfT 110)
213
Und meine Dorabella? Wie hat sie sich verhalten? (Begeistert) Ach, ich habe da nicht den geringsten Zweifel! Zu gut kenne ich diese einfühlsame Seele.
Noske: The Signifier and the Signified, S. 114.
383
Die Überzeugung in die eigene Unwiderstehlichkeit, die anhand dieser Äußerung ironische Züge annimmt, wächst – so scheint es – mit dem Vertrauen Ferrandos in seine Geliebte und erfährt daraufhin einen umso stärkeren Abfall. Dabei lohnt es sich, die temperamentbezogenen Anweisungen im Nebentext von II/8 einzubeziehen. Ferrando begrüßt Guglielmo »frohlockend« (»lietissimo«) und ist nach der Schilderung seiner amourösen Fehlschläge mit Fiordiligi zunächst noch »begeistert« (»con trasporto«) in der Vorfreude auf eine ähnliche Antwort Guglielmos. Nach der Enthüllung folgt sein tragischer Fall: Ferrando reagiert zuerst »wütend« (»furente«), dann »entschlossen« (»risoluto«). Diese tragikomischen Elemente exkludieren Ferrandos Männlichkeitsentwurf vom Dominanzanspruch des Patriarchats gegenüber Frauen, die er nicht einschätzen kann, und gegenüber Männern, von denen er – wenn auch im Rahmen des Experiments kalkuliert – bloßgestellt wird. Allerdings zeigt er im Gegensatz zu Guglielmo in II/9 Ansätze zur kritischen Selbsterkenntnis: Ferrando:
In qual fiero contrasto, in qual disordine Di pensieri e di affetti io mi ritrovo? […] Alfonso, Alfonso, Quanto rider vorrai Della mia stupidezza! Ma mi vendicherò: saprò dal seno Cancellar quell’iniqua … Cancellarla? Troppo, oddio, questo cor per leim i parla. (CfT 116)
In welch fürchterlichen Widerstreit, in welchem Durcheinander Der Gedanken und Gefühle befinde ich mich? […] Alfonso, Alfonso, wie sehr wirst du über meine Dummheit lachen! Aber ich werde mich rächen: Ich vermag die Treulose aus meinem Herzen zu verbannen … Sie verbannen? Zu sehr, oh Gott, spricht dies Herz in mir für sie.
Die innere Zerrissenheit zwischen Unverständnis und Scham spiegelt sich darin wider, dass den Rachegelüsten gegenüber Dorabella zugleich die Ohnmacht entgegentritt, sie wirklich zu realisieren. Zweifelnd ist Ferrando als Mann erneut nicht Herr seiner Entscheidungen; auch wenn für ihn das Experiment theoretisch beendet ist, überlässt er sich selbst den Entscheidungen, die Don Alfonso für ihn trifft. Ironischerweise gelangt er in II/12 ausgerechnet mit einem Symbol des ›soldatischen‹ Männlichkeitsentwurfs, seinem Degen, zum Ziel der Verführung Fiordiligis. Durch den Erfolg der Verführung gelingt es ihm im Folgenden, seine männliche Ehre als Liebhaber gegenüber dem »Konkurrenten« Guglielmo teilweise wiederherzustellen. Die auf die amouröse Ebene projizierte Auseinandersetzung um ›hegemoniale Männlichkeit‹ zwischen den beiden Offizieren lässt sich genauer durch das auf Money und Tucker zurückgehenden Konzept des ›kompetitiven Drucks‹ beschreiben.214 Der Druck, die angestrebte Geschlechtsrolle des potenten Liebhabers bzw. Eroberers zu erfüllen, erfährt durch den fortwährenden Vergleich untereinander einen kompetitiven Impuls, den Wunderlich wie folgt beschreibt:
214
Vgl. Money, Tucker: Essere uomo essere donna, S. 157.
384
Die Wette wird zu einem Wettkampf zwischen ihnen beiden. Sie wollen sich im Ausgang des Spiels nicht nur als die Überlegenen gegenüber Don Alfonso erweisen, sondern sich auch gegenseitig den Rang ablaufen. Damit wäre mehr gewonnen als die Wette und ihr Einsatz. Als Gewinn locken nämlich männliches Ansehen und – wichtiger noch – männliche Ehre.215
Der kompetitive Anreiz scheint insbesondere im Falle Guglielmos stark ausgeprägt zu sein. Er schwankt im Gegensatz zu Ferrando zwischen Sanguinismus und Cholerik.216 Deutlich tritt seine Unbeherrschtheit beispielsweise am Ende von II/12 hervor, als Ferrando Fiordiligi zur Untreue überredet, währenddessen Don Alfonso und Guglielmo hinter der Szene lauschen. Im Nebentext ist an dieser Stelle angemerkt: »Don Alfonso trattiene Guglielmo che vorrebbe entrare.« (CfT 130) Sein Männlichkeitsentwurf stützt sich noch stärker als in Ferrandos Fall auf Eitelkeit und militärisches Dominanzgebaren.217 Erfolge, die er im System des Militärs erringt, dienen ihm zur Verstärkung seines männlichen Selbstkonzeptes. Während eines prickelnderotischen Tête-à-têtes mit Dorabella in II/5 wirkt die Berufung auf die Ehre als Soldat im Zusammenspiel mit den gehauchten Liebesschwüren fast grotesk: Dorabella:
Crudele! Di sedur non tentate un cor fedele. Guglielmo (fra se): La montagna vacilla. Mi spiace; ma impegnato E’ l’onor di soldato. (A Dorabella) V’adoro! Dorabella: Per pieta … Guglielmo: Son tutto vostro! (CfT 100)
Grausamer! Versucht nicht, ein treues Herz zu verführen. (für sich) Der Berg wankt. Es tut mir leid, aber die Soldatenehre steht auf dem Spiel. (zu Dorabella) Ich bete Euch an! Erbarmen … Ich bin ganz der Eure!
Da das Liebesexperiment Don Alfonsos ebenfalls ›Eroberung‹ verlangt, projiziert Guglielmo dieses amouröse Vorhaben auf den bei ihm dominanten militärischen Bereich, wie in der Analogie ›Liebender-Soldat‹ bereits zuvor gezeigt werden konnte. Guglielmos Vorgehen hat zwei Auswirkungen: Zum einen muss er – um in seiner Terminologie zu bleiben – ein neues amouröses Terrain (Dorabella) erobern, um seinem Selbstverständnis als ›Soldat‹ zu entsprechen; zum anderen riskiert er, durch einen gleichzeitigen Verlust einer älteren Eroberung (Fiordiligi) in seiner soldatischen Ehre verletzt zu werden. Davon geht er jedoch selbstverständlich nicht aus. Zu stark wiegt in seinem Männlichkeitsentwurf die Hybris, die ihn die anfänglichen Erfolge in seinem Liebeswerben als Beleg für seinen nach Dominanz sterbenden Männlichkeitsentwurf auslegen lässt. In II/9 grenzt er sich von Ferrando dadurch ab: Guglielmo:
Caro amico, bisogna Far delle differenze in ogni cosa: Ti pare che una sposa Mancar possa a un Guglielmo? Un picciol calcolo,
215 216 217
Lieber Freund, man muss in allen Dingen Unterschiede machen: Glaubst du, dass eine Braut einem Guglielmo untreu sein kann? Eine minimale Differenz,
Wunderlich: Mozarts Così fan tutte, S. 143. Vgl. Csampai, Holland (Hg.): Così fan tutte, S. 27f. Vgl. Wunderlich: »Il core vi dono …«, S. 102.
385
Non parlo per lodarmi, Se facciamo tra noi … Tu vedi, amico, Che un poco più di merto …
ich rede nicht, um mich zu loben, wenn wir zwischen uns … Du siehst, Freund, dass da doch ein wenig mehr Verdienst …
(CfT 118)
Guglielmo projiziert seinen wiederholten Erfolg bei der Verführung Dorabellas – er war es auch, dem die Herstellung des Körperkontaktes in II/5 wesentlich früher gelang als Ferrando – in der zuvor zitierten Szene II/9 als Rechtfertigungsbasis auf seinen Männlichkeitsentwurf. Die Tatsache, dass Fiordiligi ihm niemals untreu sein könne und dass er bei Dorabella als Verführer reüssiert habe, verknüpft er darüber hinaus auch kausal mit der Kategorie ›Männlichkeit‹, und sieht sich aus diesem Grund gegenüber Ferrando als ›hegemonial‹.218 Dadurch kann anhand der Figur des Guglielmo in Così fan tutte festgestellt werden, dass der Drang, männliche Dominanz gegenüber potenziellen Konkurrenten herauszuarbeiten, um so stärker entwickelt ist, je intensiver die Überzeugung in die eigene männliche Stärke ausfällt. Auch Ferrando ist überzeugt, allerdings bezieht sich seine Sicherheit eher auf die Partnerin und lässt weniger Rückschlüsse auf seine Selbstwahrnehmung als ›Mann‹ zu. Für Guglielmos Unreife spricht, dass er sich auch nach seinem Erfolg weiterhin auf Don Alfonsos Experiment einlässt und sein eigenes Schicksal in II/8 bereits – allerdings ungewollt – antizipiert: Guglielmo:
[…] Ma quel farla a tanti e tanti M’avvilisce, in verità. Mille volte il brando presi Per salvar il vostro onor, Mille volte vi difesi Colla bocca e più col cor. (CfT 114)
[…] Aber dass ihr’s mit so vielen treibt, das bringt mich wirklich auf. Tausendmal griff ich zum Schwert, um eure Ehre zu retten; tausendmal hab ich euch verteidigt, Mit Worten, noch mehr im Herzen.
Nachdem es Ferrando gelingt, Fiordiligi in II/12 doch noch zu verführen,219 wird Guglielmo in II/13 im Anschluss sogar dem Spott seines Freunds ausgesetzt, indem Ferrando – im Nebentext ist vorgeschrieben: »ironicamente« (CfT 132) – den zuvor in II/9 von Guglielmo geäußerten Dominanzanspruch gegenüber dem Freund zitiert. Dem eher cholerischen Temperament entsprechend, fällt auch Guglielmos Reaktion nach der Entdeckung der Untreue seiner Geliebten im Vergleich zu Ferrando drastisch aus. Eine Kanonade an Schimpfwörtern, die er an Fiordiligi richtet, offenbart ein vulgäres Potenzial seiner Sprache: »Briccona, assassina, furfante, ladra, cagna!« (CfT 132) und lässt zugleich keinen Zweifel daran, dass sich Guglielmo seiner eigenen Partizipation an dem Liebesexperiment und somit seines eigenen Schicksals nicht bewusst ist.220 Die 218 219
220
Vgl. Wunderlich: Mozarts Così fan tutte, S. 147. Dabei ist die Formulierung Fiordiligis bedeutsam. Sie sagt: »Fa’ di me quel che ti par«. (»Mach mit mir, was du willst«.) Damit werden Spekulationen möglich, die im Hinblick auf Ferrandos unglücklichen Verführungsversuche zuvor in der Äußerung Fiordiligis eher ein ›Sich-Ergeben‹ als ein ›Wollen‹ sehen. Vgl. Kramer: Da Ponte’s »Così fan tutte«, S. 23.
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mangelnde Erkenntnisfähigkeit der eigenen Verantwortung verstärkt die Zweifel, die der Dramenschluss mit Bezug auf den Erfolg der »Schule der Liebenden« offenbart, sodass Wunderlich resümiert: Männerfreundschaft gerät zur Buhlenrivalität. Eifersüchtig sind die Freunde weniger aus Liebe zu ihren alten Verlobten als aus verletzter Eitelkeit. Ihre Siege haben ihre Niederlage eingeleitet. Ein jeder hatte die Rolle des anderen gespielt und sich selbst ausmanövriert. […] Damit verliert der Freundschaftsbund seinen einenden Wert und seine einigende Kraft, weil er an der individuellen, egoistischen Wunscherfüllung zerbricht.221
Während Ferrando unmittelbar nach der Enthüllung der Untreue Dorabellas über den Schmerz hinaus auch Grundzüge der Selbsterkenntnis zeigt, beschäftigt sich Guglielmo in der vergleichbaren Situation vornehmlich damit, wie er Fiordiligi am besten körperlich züchtigen kann: »[…] piuttosto studiam di castigarle sonoramente.« (CfT 132) Guglielmos Reaktion in II/13 offenbart, dass seine Unzufriedenheit mit dem Ausgang des Liebesexperiments eher der Tatsache geschuldet ist, sich seiner eigenen Austauschbarkeit als Liebhaber bewusst zu werden. Während Ferrando in II/9 trotz des Schmerzes über die Untreue Dorabellas die Liebe zu ihr nicht in Frage stellt: »Troppo, oddio, questo cor per lei mi parla« (CfT 116), müssen angesichts der Reaktion Guglielmos gegenüber Fiordiligi grundlegende Zweifel an seiner Liebesfähigkeit angemeldet werden. Zu stark tritt in ihm der Wunsch nach Selbstbestätigung in der Liebe als ›Mann‹ hervor, was ihn im entscheidenden Moment nicht nur als Liebhaber, sondern auch als Individuum scheitern lässt. Der zweite Akt von Così fan tutte zeigt, dass ein Männlichkeitsentwurf, der sich ausschließlich mit amourösen Etiketten schmückt und darüber hinaus weitere tiefgreifende Definitionsgrundlagen vermissen lässt, angreifbar wird. Der fraktale Zustand, in dem sich Guglielmos Männlichkeitsentwurf nach der Enthüllung der Untreue Fiordiligis befindet, äußert sich insbesondere in seinem Verhalten als Spielfigur innerhalb des durch Don Alfonso noch nicht beendeten Experiments. Die Maskerade hält auch in II/16 noch an und soll ironischerweise in der fingierten Heiratszeremonie der Paare, die das ›chassé-croisé‹ durchlaufen haben, gipfeln. Während die übrigen Figuren weiterhin möglichst glaubhaft an dem Spiel partizipieren, sind bei Guglielmo Haupt- und Nebentext nicht mehr kongruent: 222 Ferrando, Guglielmo: Sei pur bella! Fiordiligi, Dorabella: Sei pur vago! […] Fiordiligi, Dorabella, Ferrando: E nel tuo, nel mio bicchiero
Si sommerga ogni pensiero. (Le donne bevono) E non resti più memoria Del passato, ai nostri cor. Guglielmo (fra se): Ah, bevessero del tossico, Queste volpi senza onor!222 (CfT 140) 221
Wie schön du bist! Wie hübsch du bist! […] Und in deinem, in meinem Glas versinke jeder Gedanke. (die Frauen trinken) Und die Erinnerung an das Vergangene belaste unser Herz nicht mehr. (für sich) Ach, tränken sie doch Gift, diese ehrlosen Füchsinnen!
Wunderlich: Mozarts Così fan tutte, S. 153f.
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Die Szene der Demaskierung (II/18) nimmt sich demgegenüber wie ein vom Rest des Textes isoliertes Bruchstück aus, worauf in der Forschung mit Anspielung auf die Gattungskonvention eines ›dramma giocoso‹ wiederholt hingewiesen wurde.223 Mit Bezug auf die Männlichkeitsentwürfe der beiden Liebhaber bringt der Dramenschluss keine neuen Erkenntnisse, sondern irritiert gleichsam Zuschauer und Leser. Weder anhand des Haupt- noch des Nebentextes Ferrandos und Guglielmos wird plötzlich Reue am eigenen oder Ablehnung des Verhaltens der Geliebten – beides zuvor noch glühend vorgetragen – deutlich, was tatsächlich gewisse Zweifel an der textinternen Kohärenz der Figurenkonzeption aufkommen lässt: Ferrando (a Fiordiligi):
Bella damina, Il cavaliere Dell’Albania! Guglielmo (a Dorabella): Pel coricino Ecco, io le rendo, Signora mia. (CfT 150)
A voi s’inchina,
Il ritrattino
(zu Fiordiligi) Vor Euch verbeugt sich, schöne Dame, der Ritter aus Albanien! (zu Dorabella) Das Bildnis für das liebe Herzchen gebe ich Euch zurück, meine liebe Frau.
Gegenüber Don Alfonso verbleiben Ferrando und Guglielmo in der Passivität. »Faran quel ch’io vorrò« (CfT 152), äußert Don Alfonso resümierend-triumphierend, und der Text klingt auf einem erklärt optimistischen Schlusschor aus, dem es jedoch nicht gelingt, über folgende, von Wunderlich formulierte Schlussfolgerung hinwegzutäuschen: Die Männer haben nicht nur Geld verloren, sondern auch das Vertrauen in ihre richtigen Bräute und damit ihre Selbstsicherheit. Ferrando und Guglielmo sind Opfer, Sempronius und Titus Täter – oder umgekehrt? Die Schlacht auf dem Felde der Liebe endet mit einem Pyrrus-Sieg für die beiden Offiziere ebenso wie für die beiden albanischen Kavaliere.224
Als Ergebnis kann folgendes Resümee gezogen werden: Mozart/Da Ponte präsentieren in Così fan tutte keine stabilen Männlichkeitsentwürfe. Diese Tatsache zeigt sich insbesondere in der Gegenüberstellung der Parameter alt/jung, gelehrt/naiv, ein- und mehrdimensional. In dieser Gegenüberstellung offenbart sich ein ludistisches Grundelement des Textes, da die einzelnen Parameter jeweils mit unterschiedlichem Nachdruck und aus unterschiedlichen Gründen Anspruch auf die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ erheben – jeder Repräsentant stützt sich dabei auf die Überzeugung, als einziger Mann die Eignung dafür zu besitzen. Don Alfonsos Hegemonieanspruch kann als sekundärer Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ bezeichnet werden. Dabei dient er ihm als notwendige Voraussetzung zur Erfüllung seiner primären Ziele, Erkenntnisdrang und Lustgewinn als Voyeur. Im Gegensatz dazu weisen Ferrando und Guglielmo Kennzeichnen eines primären Anspruches auf 222
223
224
Vgl. Wunderlichs Kommentar zum Beiseite-Sprechen Guglielmos in: Wunderlich: Mozarts Così fan tutte, S. 158. Vgl. Csampai, Holland (Hg.): Così fan tutte, S. 36ff. sowie Kramer: Da Ponte’s »Così fan tutte«, S. 25ff. Wunderlich: »Il core vi dono …«, S. 103.
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›hegemoniale Männlichkeit‹ auf. Der Anspruch beruft sich auf ihre Jugend und ihre soziale Funktion als Soldaten. Während Don Alfonso die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ nicht ausdrücklich besetzen will, können Ferrando und Guglielmo im Laufe der Handlungssukzession trotz des wiederholt artikulierten Wunsches nicht als die idealisiert-maskulinen Figuren auftreten, als die sie sich noch zu Beginn des Textes wahrnehmen. Beide werden durch das Liebesexperiment in ihrer Verletzbarkeit der Tragikomik preisgegeben; beide müssen gerade auf amourösem Gebiet erkennen, nicht nur ihre Partnerinnen falsch eingeschätzt zu haben, sondern selber als Partner ersetzbar zu sein. Diese Erkenntnis steht in strengem Gegensatz zu der insbesondere durch Guglielmo verkörperten Eitelkeit, die sein männliches Selbstwertgefühl noch stärker an die Gewissheit, als Liebhaber einzigartig zu sein, als – beispielsweise in Ferrandos Fall – an die Treue der Partnerin knüpft. In der Maskerade müssen die Offiziere ihre eigenen männlichen Identitäten zugunsten fremder, exotischer Männlichkeitsentwürfe ablegen. Innerhalb dieses Transformationsprozesses bleibt die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung der dargestellten Männlichkeitsentwürfe die entscheidende Konstante, die Ferrando und Guglielmo weiterhin charakterisiert. Aufgrund der Tatsache, dass Don Alfonso die Position der ›hegemonialen Männlichkeit‹ nicht ausdrücklich dauerhaft besetzen will und weder Ferrando noch Guglielmo sie dauerhaft besetzen können, lässt sich schlussfolgern, dass der Text als Beispiel für die Dynamik und die Momenthaftigkeit des von Connell vorgeschlagenen Paradigmas dient. Vielmehr deutet der spielerisch-pointierte Umgang mit maskulinem Dominanzgebaren auf eine ironisierende Betrachtung patriarchalischer Ansprüche hin. Einzelnen Figuren gelingt es durch nachdrücklich vorgetragene Argumente zwar, zeitweise einen Anspruch darauf zu erheben, aber das Nicht-Wollen und das Nicht-Können lassen den Schluss zu, dass das innerhalb des Titels formulierte Postulat einer zwingenden Unbeständigkeit der Frauen durchaus auch auf das Bestreben der Männer, sich konstant in eine Position, die den Anforderungen des Patriarchats zumindest für eine bestimmte Zeit entspricht, übertragen werden kann.
389
6.
Zusammenfassung
Die Zusammenfassung der vorliegenden Arbeit soll die Ergebnisse der Textanalysen zusammenstellen und systematisieren. Dazu werden im Folgenden sechs Parameter herausgearbeitet, anhand derer sich die Männlichkeitsentwürfe in einem intertextuellen Vergleich einordnen lassen. Die Vergleichbarkeit der Texte untereinander leitet sich über den gemeinsamen Entstehungszeitraum hinaus vor allem aus den ähnlichen Positionierungen her, durch die sich die männlichen Figuren dem Kernbereich der einzelnen Parameter annähern oder sich davon entfernen. Aus diesem Grund wird deutlich, dass die Diskursivierung1 von ›Männlichkeit‹ im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl in der deutschen als auch in der italienischen Literatur trotz der unterschiedlichen epistemologischen und lexikographischen Voraussetzungen durchaus gemeinsame Schnittstellen anbietet. An diesen sehen sich literarische Figuren mit ähnlichen Problemsituationen konfrontiert, bringen vergleichbare Argumente für oder gegen eine konkrete Reaktion darauf hervor und durchlaufen in ihrer Eigen- und Fremdwahrnehmung verschiedene vergleichbare Stadien, in denen sich ihre Männlichkeitsentwürfe entsprechend als dynamisch oder statisch; als eigen- oder fremdbestimmt oder als ein- oder mehrdimensional erweisen. Die folgenden Parameter stellen insofern herausgehobene Vergleichspunkte dar, mittels derer sich die untersuchten Männlichkeitsentwürfe zusammenfassen lassen können. Im Einzelnen sind es: (i) Mut, (ii) körperliche Unversehrtheit/Stärke, (iii) Entschlossenheit/Standhaftigkeit, (iv) Freiheitsdrang, (v) amouröser Erfolg sowie (vi) eine Kategorie, die unter dem Parameter der ›rationalen und emotionalen Flexibilität‹ subsumiert werden soll. Eine solche Kategorisierung läuft unter Umständen Gefahr, den individuellen Erscheinungsformen der einzelnen Männlichkeitsentwürfe nicht genügend Rechnung zu tragen, um eine bessere Einordnung zu gewährleisten. Um diesem Vorwurf aus dem Wege zu gehen, scheint es sinnvoll, weitere Subklassifizierungen vorzunehmen. Wenn jeder der fünf genannten Punkte auf einer Skala dargestellt wird, so lässt sich eine Abstufung vornehmen in Figuren, die dem auf der Skala abgebildeten Parameter vollkommen bzw. größtenteils entsprechen, Figuren, die dem Parameter wei-
1
Der Terminus wird hier in Anlehnung an den ›Diskurs‹-Begriff verstanden als Prozess zur Entstehung von »Äußerungen, [die] gemeinsam ein globales Thema [konstituieren und differenzieren] und durch thematische und begriffliche Beziehungen, durch gemeinsame Werthaltungen oder auch konkret durch Zitate und andere Formen [verknüpft sind]«. Zit. nach: Hadumod Bußmann u. a. (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 2002, S. 171.
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testgehend oder zumindest partiell entsprechen sowie Figuren, die dem Parameter nur in sehr geringem Maße oder keinesfalls entsprechen. Ein weiterer wichtiger Vorteil einer differenzierten Skalierung besteht in der Tatsache, dass sich daraus Zusammenhänge zwischen den in den Textanalysen untersuchten Männlichkeitsentwürfen und möglichen Gründen für ihr Scheitern bzw. für ihren Erfolg ableiten lassen. Dadurch wird eine Verbindung zu dem wichtigen theoretischen Ansatz Connells, der ›hegemonialen Männlichkeit‹, ermöglicht. Da sich der Mehrzahl der untersuchten männlichen Figuren der Anspruch unterstellen lässt, sich dem Zentrum ›hegemonialer Männlichkeit‹ annähern zu wollen bzw. zumindest davon zu profitieren, wird das »Scheitern« eines Männlichkeitsentwurfes in diesem Zusammenhang als Unmöglichkeit verstanden, sich dem Zentrum der ›hegemonialen Männlichkeit‹ möglichst dauerhaft zu nähern bzw. es im Idealfall so lange wie möglich zu besetzen. Figuren, die sich dem Streben nach maskuliner Hegemonie im Sinne Connells nicht ausdrücklich verschreiben (wie etwa Cherubino oder Don Alfonso) müssen gesondert behandelt werden. Eine weitestgehende Entsprechung der zuvor angeführten Parameter i-vi gilt als Voraussetzung, jedoch nicht als hinlängliche Garantie, sich dem Zentrum ›hegemonialer Männlichkeit‹ zu nähern. Dementsprechend kann bei einer Häufung von Nichterfüllung einzelner Kategorien eine Exklusion aus der ›hegemonialen Männlichkeit‹ angenommen werden, wobei zwischen drei Hauptgründen unterschieden wird, die dem individuellen Scheitern der Figur und damit auch ihrem Männlichkeitsentwurf zugrunde liegen: zum einen die Fixierung auf eine vollkommene Entsprechung eines einzelnen der sechs Parameter und die daraus resultierende Inkompatibilität mit den weiteren Parametern bei einer Veränderung der Rahmenbedingungen, zum anderen die mangelnde Positionierung des Männlichkeitsentwurfes innerhalb des Parameters, die die Figuren in einem Zwischenstadium verankert, das sie von der Erfüllung des jeweiligen Parameters und somit der Annäherung an den Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ ausschließt. Ein dritter Grund des Scheiterns besteht in der deutlichen Ferne zur Entsprechung mehrerer Parameter. Über- und Nichterfüllung einzelner Kategorien – diesen Schluss legt bereits die Skalierung nahe – kann ebenso zum Ausschluss aus dem Zentrum des Anspruches auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ führen wie eine gehäufte mangelnde Zuordnungsfähigkeit der Figur. Um die etwas abstrakt wirkenden Parameter und deren Abstufungen für die Zusammenfassung transparenter zu gestalten, soll im Folgenden jeder einzelne Parameter als Kategorie vorgestellt werden, wobei die Männlichkeitsentwürfe innerhalb der Kategorie zusammenfassend dargestellt werden: i) Innerhalb des ersten Parameters, des ›Muts‹, bietet sich ein Rückgriff auf den Titel der vorliegenden Arbeit an: Der ›männliche Mut‹, soweit dies die Textanalysen zeigen konnten, scheint innerhalb der verschiedenen Männlichkeitsentwürfe ein entscheidendes Kriterium darzustellen, um das sich die männlichen Figuren nicht nur gruppieren, sondern skalenhaft anordnen lassen: Waghalsigkeit, Mut, Tollkühnheit und Unerschrockenheit in großer Ausprägung bilden in diesem Zusammenhang das obere Ende der Skala, auf dem sich die Figuren Götz und Georg, Karl, Figaro und vor allem Don Giovanni einordnen lassen. Eine Abstufung ist dabei noch zwischen 391
solchen männlichen Figuren möglich, die dem Parameter absolut (Götz und Don Giovanni) und jenen, die ihm überwiegend entsprechen (Karl und Figaro). Der ›männliche Mut‹ wird als Grundlage des Männlichkeitsentwurfes der aufgelisteten Figuren transparent; wobei sich ein enger Zusammenhang mit den Parametern (ii, ›körperliche Unversehrtheit/Stärke‹ und iii, ›Entschlossenheit/Standhaftigkeit‹) ergibt: Götzens und Don Giovannis Mut entfaltet sich in dem Maße, in dem sie sich ihrer physischen Wehrhaftigkeit bewusst werden. Ähnliche Voraussetzungen erfüllen Karl und Figaro: Beide planen waghalsige Unternehmungen, die nicht nur in ihr eigenes, sondern auch in das Schicksal anderer Figuren weitestgehend eingreifen. Karl schwankt zwischen den Extremen ›Rache an der Welt‹ und ›Aussöhnung‹, wobei er als Anführer der Räuberbande ebenfalls zu mutigen Handlungen entschlossen ist; Figaro ist getrieben von Bitterkeit und der Herausforderung, eine Auseinandersetzung mit seinem Dienstherrn, dem Grafen von Almaviva, zu wagen. Der ›männliche Mut‹, den alle genannten Figuren in unterschiedlichem Maße unter Beweis stellen, erhält seinen tatsächlichen Wert allerdings erst durch den textimmanenten Vergleich mit Figuren, die als Gegenentwurf die Skala des Parameters nach unten hin erweitern. In den Texten sind dies im Einzelnen: Tellheim, Weislingen, Cherubino und Don Ottavio. Sonderformen bieten die Figuren Franz Moor und Leporello. Sowohl Tellheim, Weislingen als auch Don Ottavio reflektieren eine wichtige Bruchstelle innerhalb des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher Reputation und Erwartungshaltung an ihren Männlichkeitsentwurf und der entsprechenden individuellen Ausprägung. Tellheim lässt den von ihm erwarteten Mut als ›Offizier‹ ebenso vermissen wie Weislingen als ›Ritter‹ und Don Ottavio als ›nobler Beschützer Donna Annas‹ – alle drei Figuren kennzeichnet die drastische Diskrepanz zwischen einer imaginierten Entsprechung des durch sie verkörperten Männlichkeitsentwurfes mit dem ›männlichen Mut‹ und der Realität. Eine starke Korrelation ergibt sich dabei mit dem Parameter iii (›Entschlossenheit/Standhaftigkeit‹), wie im weiteren Verlauf noch zu zeigen sein wird. Cherubinos fehlender Mut muss im Zusammenhang mit der Schwellensituation betrachtet werden, auf der sich der gesamte Männlichkeitsentwurf des ›schönen Pagen‹ befindet. Unentschlossen zwischen Adoleszenz und Erwachsenheit sowie maskuliner und effeminierter Physiognomie, entspricht die mangelnde Selbstsicherheit dem fehlenden Mut zur direkten Auseinandersetzung mit seinem textinternen Widersacher, dem Grafen von Almaviva. Franz Moor und Leporello besetzen insofern ein Zwischenstadium auf der Skala, als sie zwar partiell waghalsig agieren, insgesamt jedoch aufgrund der Bindung an andere Figuren (im Falle Franzens vor allem Daniel oder Hermann; im Falle Leporellos Don Giovanni) Mut nicht selbstständig entwickeln und umsetzen können, sondern vornehmlich auf Komplizenschaft angewiesen sind. Diese Tatsache eröffnet eine weitere Parallele zu einem der zuvor angeführten Parameter: iv (›Freiheitsdrang‹). ii) Innerhalb des zweiten Parameters, der Kategorie ›körperliche Unversehrtheit/ Stärke‹, besetzen die Figuren Paul Werner, Karl, der Graf von Almaviva, Don Giovanni und Ferrando bzw. Guglielmo den oberen Bereich der Skala, der durch wei392
testgehende Entsprechung zu dem Parameter definiert ist. Als entsprechend defizitäre Figuren konnten in der Textanalyse der Major von Tellheim, Franz Moor und Cherubino sowie Don Alfonso herausgearbeitet werden. Eine Sonderstellung nimmt innerhalb des zweiten Parameters die Figur Götz ein. Im Bewusstsein der eigenen Stärke gelingt es vor allem Karl und Don Giovanni, sich den an sie gerichteten Herausforderungen wiederholt zu stellen. Die Korrelation zwischen dem Lebensalter um 30 Jahre, das im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit als eine formelhafte Wendung als Zuspruch von ›Männlichkeit‹ herausgearbeitet werden konnte, verbindet sich in diesem Zusammenhang mit ritterlich/kämpferischen Fähigkeiten in der bewaffneten Auseinandersetzung mit anderen Figuren und dem Bewusstsein der physischen Überlegenheit gegenüber den Konkurrenten. In Paul Werner sowie Ferrando und Guglielmo korrespondiert dieses Bewusstsein darüber hinaus teilweise mit einem zuweilen ungestümen und impulsiven Dominanzgebaren, das sich im Falle Werners schnell durch die Interaktion mit Franciska und im Falle Ferrandos und Guglielmos durch die ›Lektion‹ des ihnen vermeintlich unterlegenen, jedoch erfahrenen Don Alfonsos relativiert. Als zusätzliches Kriterium spielt dabei das Lebensalter eine entscheidende Rolle: Sowohl Werner als auch Ferrando und Guglielmo gehören zwar der mittleren Generation an; sie sind jedoch im Vergleich zu Götz, dem Grafen von Almaviva oder Don Giovanni etwas jünger und – was sich für die Analyse als entscheidend herausstellt – unerfahrener. Der Graf von Almaviva und Don Giovanni weisen eine Korrespondenz der Gewissheit ihrer physischen mit ihrer sozialen Dominanzposition auf. Möglichen Rivalen versuchen sie, unter Berufung auf beide Aspekte die Grenzen der Hierarchien aufzuzeigen. Ebenso, wie bereits unter dem ersten Parameter des ›Muts‹ gezeigt werden konnte, definiert sich auch das Bewusstsein der eigenen Stärke und Unantastbarkeit unter Bezugnahme auf mögliche Gegenentwürfe anderer männlicher Figuren. Im Falle Tellheims führt das nicht zu einer offen ausgetragenen Rivalität zwischen ihm und Werner bzw. Just, sondern sogar zu einer Revision der Struktur ›Herr‹ bzw. ›Patriarch‹ und ›Diener‹ bzw. ›Schutzbefohlener‹. Durch seine Versehrtheit wird Tellheim teils von externen Einflüssen in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Werner und Just versetzt, teils manövriert er sich durch seine resignierende Gefühlslage selber hinein. Mit Franz Moor teilt er das Bewusstsein, physische Defizite aufzuweisen, die ihn als ›Mann‹ aus seinen angestrebten Funktionen bzw. Zielen exkludieren. Der Unterschied zu Franz besteht jedoch in der Herleitung des empfundenen Defizits – Franz beschuldigt die ›Natur‹, Tellheim weiß um seine Verletzung im Kriege – sowie in den Konsequenzen, die beide Figuren daraus ableiten: Während Tellheim sich selber und seine Pläne aufgibt, wirkt die als Ungerechtigkeit empfundene, mangelnde physische Stärke bei Franz als Katalysator seiner fatalen Pläne. Die Interrelation zwischen den verschiedenen Parametern wird an dieser Stelle besonders deutlich: Für Tellheim lohnt sich das Streben nach ›hegemonialer Männlichkeit‹ erst wieder, nachdem sich externe Umstände so entscheidend verändert haben, dass der Drang nach patriarchalischer Dominanz das empfundene Defizit ablöst. Es gelingt ihm bis zum Ende des Textes nicht, die selbst empfundene Schwäche in einem Parameter durch Berufung auf Stärke in einem anderen zu re393
kompensieren. Damit unterscheidet er sich radikal von dem Männlichkeitsentwurf, den Franz verkörpert: Die Berufung auf den Parameter v (›rationale und emotionale Flexibilität‹) erklärt er freimütig zur Grundlage seines Dominanzstrebens. Daran wird deutlich, dass Tellheim niemals ›hegemonial männlich‹ sein kann: Zu sehr fixiert auf die Erfüllung einer Kategorie, erweist er sich als inkompatibel mit weiteren Parametern, was ihn auch nach der vermeintlichen Wiedergutmachung im System der Intimität höchst unglaubwürdig agieren lässt. Die zuvor angesprochene Sonderrolle innerhalb des Parameters ii (›körperliche Unversehrtheit/Stärke‹) nimmt Götz ein. Trotz einer erheblichen Verletzung gelingt es ihm, seinen Männlichkeitsentwurf entscheidend auf Grundlage des Bewusstseins der eigenen physischen Überlegenheit zu behaupten. Durch eine ausgeprägte Erfüllung der Anforderungen in weiteren Parametern (i ›Mut‹, iii ›Entschlossenheit/Standhaftigkeit‹ sowie iv ›Freiheitsdrang‹) definiert er seine ›Stärke‹ nach der Verletzung unter Zuhilfenahme der eisernen Prothese neu und wird somit für seine Zeitgenossen – Gefolgsleute und Widersacher – zu einem lebenden Mysterium, dessen Stärke sie nach der Verletzung offenbar noch stärker bewundern oder fürchten als zuvor. iii) Innerhalb des Parameters ›Entschlossenheit/Standhaftigkeit‹ ergibt sich im Vergleich zu den anderen Kategorien eine starke Polarisierung – die Entsprechung fällt entweder sehr stark oder sehr gering aus; das Zwischenstadium, das sich beispielsweise noch unter Parameter i (›Mut‹) ergeben hatte, bleibt weitestgehend unbesetzt. Am oberen Ende der Skala befinden sich die Männlichkeitsentwürfe Götzens, Franz Moors, des Grafen von Almaviva, Don Giovannis und Don Alfonsos. Das bereits angesprochene, spärlich besetzte Zwischenstadium weist Karl auf, währenddessen Tellheim, Weislingen, Cherubino und Don Ottavio das untere Ende der Skala besetzen. Interessant ist, dass es einzelnen Figuren, die sich zwar durch eine starke Entsprechung des Parameters auszeichnen (Franz Moor, Don Alfonso) dennoch nicht gelingt, den Kernbereich ›hegemonialer Männlichkeit‹ innerhalb des entsprechenden Textes konstant zu besetzen. Der Grund dafür liegt in der defizitären Ausprägung, die sie in weiteren Kategorien aufweisen: Während Franz sowohl im Parameter i (›Mut‹) als auch ii (›körperliche Unversehrtheit/Stärke‹) durch Defizite gekennzeichnet ist, gelingt es Don Alfonso vor allem aufgrund seines Lebensalters nicht, innerhalb der Kategorie ii (›körperliche Unversehrtheit/Stärke‹) in die Position zu gelangen, ›hegemoniale Männlichkeit‹ zu beanspruchen. Die außerordentlich starke Entsprechung am oberen Ende der Skala in den Männlichkeitsentwürfen bei Götz, dem Grafen von Almaviva und Don Giovanni korrespondiert auffallend mit der Spitze der unter ii (›körperliche Unversehrtheit/Stärke‹) beschriebenen männlichen Figuren. Eine leichte Abweichung findet sich in Karl, bei dem sich Momente der absoluten Entschlossenheit und solche schwärmerischer Sehnsüchte und Selbstzweifel innerhalb der Dynamik des Männlichkeitsentwurfes mehrfach abwechseln. Auch Leporello schwankt zwischen dem Wunsch, sich von seinem Herrn loszusagen und der Unfähigkeit, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen. Den Einfluss des Parameters iii (›Entschlossenheit/Standhaftigkeit‹) auf das Entfaltungspotenzial des jeweiligen Männlichkeitsentwurfes verdeutlicht die Tatsache, dass insbesondere 394
jene männlichen Figuren, die das untere Ende der Skala besetzen, innerhalb des Textes nicht nur aufgrund extrinsischer, sondern vor allem auch intrinsischer Motive scheitern: Die mangelnde Entschlossenheit, die zudem in den meisten Fällen mit einer fehlenden bzw. zu wenig ausgeprägten Entscheidungsfähigkeit einhergeht, paralysiert die Figuren: Tellheim wird durch Minna in seiner Unentschlossenheit mehrfach entlarvt, Weislingen manövriert sich durch sein zögerliches Schwanken zwischen den Machtzentren in Jaxthausen und Bamberg in eine selbst herbeigeführte Unmündigkeit der Entscheidungsfindung, Cherubinos flatterhaft-unbeständiger Männlichkeitsentwurf führt ihn von einem Missgeschick zum anderen, und Don Ottavios mangelnde Durchsetzungskraft entlarven seine Racheschwüre gegenüber Don Giovanni als ein Gebilde inhaltsloser Phrasen. Allen in diesem Zusammenhang genannten Figuren ist gemein, dass sie in ihrem Zögern bis zu einem gewissen Grade glaubwürdig sind; jedoch darüber hinaus allesamt zu einem bestimmten Zeitpunkt den Eindruck der Lächerlichkeit erwecken. Während diese Tatsache im Falle Cherubinos noch zu einem beträchtlichen Teil zur Komik des Stücks beiträgt (und zweifelsohne beitragen soll), erhält die mit der mangelnden Entschlossenheit verbundene Hilflosigkeit vor allem in den deutschen Dramentexten eine ausgesprochen dunkle Facette. Weislingen geht daran grausam zugrunde, Tellheim gelingt es zwar, das ›Glück mit Minna‹ letztlich doch noch zu finden, wobei allerdings der Dramenschluss jenseits aller Gattungskonventionen berechtigte Zweifel an der Beständigkeit dieses Glücks sowie die Frage offenlässt, welche Funktion Tellheim in der in Aussicht gestellten Beziehung ausfüllen soll. iv) Der Parameter ›Freiheitsdrang‹ zieht eine Gegenüberstellung der Männlichkeitsentwürfe nach sich, bei der Figuren, deren Freiheitsbewusstsein ein entscheidendes Kriterium des Selbstkonzeptes darstellt, das obere Ende der Skala besetzen. Die beiden deutlichsten Männlichkeitsentwürfe, die den ›Freiheitsdrang‹ zur Conditio sine qua non erheben, sind Götz und Don Giovanni. Nicht zufällig wird der Begriff der ›Freiheit‹ von beiden in Schlüsselszenen des Textes direkt als Argument angeführt – während Götz sich sowohl in seiner Utopie eines Staates während der Belagerung seiner Burg als auch noch im Moment unmittelbar vor seinem Tod die ›Freiheit‹ in der Transzendenz als Ideal vor Augen führt, proklamiert Don Giovanni die ›libertà‹ innerhalb der Festszene am Ende des ersten Aktes. Beide Figuren legen der ›Freiheit‹ ein mehrdimensionales Konzept zugrunde – ›Freiheit‹ im Sinne von Selbstbestimmung und Ungebundenheit an externe Reglements ist darin ebenso einbegriffen wie (insbesondere für Don Giovanni) amouröse ›Freiheit‹ sowie (insbesondere für Götz) politische bzw. soziale ›Freiheit‹, die ihm ein Leben nach den Prinzipien eines Reichsritters ermöglichen soll. Mit Bezug auf die Männlichkeitsentwürfe beider Figuren wird deutlich, dass der unbändige Freiheitsdrang, den beide versinnbildlichen, jeweils von anderen Figuren bemerkt und kommentiert wird (Bruder Martin und der Bischof von Bamberg sowie Leporello und der Komtur); beide polarisieren damit ihre Umgebung. Dort, wo ein Männlichkeitsentwurf durch eine extreme Betonung der Parameter ›Mut‹, ›körperliche Unversehrtheit/Stärke‹, ›Entschlossenheit/Standhaftigkeit‹ sowie ›Freiheitsdrang‹ gekennzeichnet ist, wird der 395
Anspruch auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ ebenso verschärft wie die Distanz zu den Gegenspielern. Dieser Zustand, in der sich ein hegemonialer Männlichkeitsentwurf zugleich mit Bewunderung als auch mit Kritik konfrontiert sieht, lässt sich durch den Grad der ›elektiven Entropie‹ treffend kennzeichnen, wobei Götz und Don Giovanni als Beispiele dienen. Neben den beiden herausgehobenen Männlichkeitsentwürfen weisen die untersuchten Texte eine zweite Gruppe männlicher Figuren auf, denen eine Form des ›Freiheitsdrangs‹ zugrunde liegt, die auf das Erreichen von ›Freiheit‹ im Sinne eines Austritts aus der Fremdbestimmung als Diener abzielt. Der junge Franz versucht, sich unter dem Einfluss Adelheids ebenso von Weislingen zu emanzipieren wie Figaro vom Einfluss des Grafen von Almaviva oder Leporello von Don Giovanni. Interessanterweise wirft ein Blick auf die Ergebnisse dieser subversiven Bemühungen der Dienerfiguren insgesamt eher ein dunkles Bild auf deren Männlichkeitsentwürfe: Franzens Intrige gegen Weislingen endet für ihn katastrophal im Wahnsinn und im Selbstmord; darüber hinaus gibt er – ohne sich dessen über lange Zeit bewusst zu werden – als ›Werkzeug‹ Adelheids gerade jene ›Freiheit‹ unwiederbringlich auf, nach der er durch seine ›Rebellion‹ gegen den Dienstherrn vermeintlich zu streben scheint. Figaros Bemühungen, Susanna vor dem lüsternen Zugriff des Grafen zu beschützen, setzen innerhalb seines Männlichkeitsentwurfes einen Mechanismus in Gang, der hinter den vorgeschobenen Motiven der Eifersucht ein soziales Streben nach Prestige und Reputation offen legt: Indem er sich zunehmend in der Rolle des ›Spielleiters‹ gefällt, wird seine emotionale Distanz zu Susanna vor dem Hintergrund seiner Verbitterung gegen die ›Welt‹ als solche immer deutlicher. ›Heilung‹ erfährt er erst in dem Moment, als er sich selber als Figur seines inszenierten Spiels erkennt, was das ›lieto fine‹ des Textes mit ähnlichen Fragezeichen versieht wie die Aussöhnung der eitlen Soldaten Ferrando und Guglielmo mit Dorabella und Fiordiligi. Leporello beabsichtigt zwar wiederholt den Ausbruch in die ›Freiheit‹; wobei jedoch ein Zusammenwirken von mangelnder Entschlossenheit und dem Faszinationspotenzial, das von Don Giovanni ausgeht, die Umsetzung seiner Absicht verhindern. Die dritte Gruppe von Figuren innerhalb des Parameters ›Freiheitsdrang‹ umfasst jene Männlichkeitsentwürfe, die sich weder aktiv um Freiheit bemühen noch deren Wert schätzen. Am deutlichsten führt Götz diesen Zustand Weislingen vor Augen, indem er ihn direkt mit der Frage »Verkennst den Wert eines freien Rittersmanns« konfrontiert. Weislingen weiß darauf keine Antwort; und er findet sie im Laufe des Textes ebenso wenig als er sie wirklich sucht. In weniger drastischer Form trifft dies auch auf die Dienerfigur Just zu – Just zeigt sich von Beginn des Textes an entschlossen, Tellheim zu begleiten. Er sieht diese Aufgabe nicht als Einschränkung seiner ›Freiheit‹, sondern als moralische Verpflichtung, was er insbesondere dadurch betont, dass Tellheim in seiner Hilfsbedürftigkeit auf ihn angewiesen sei. Im Gegensatz zu Weislingen äußert jedoch Just keine entscheidenden Ambitionen außerhalb seiner Dienste Tellheim gegenüber. Aus diesem Grund kann sein Verzicht auf individuelle ›Freiheit‹ nicht zwangsläufig mit dem Scheitern der Figur gleichgesetzt werden. Im Falle Weislingens nimmt die Entwicklung eine andere Richtung: Getrieben vom Streben nach Nähe zur Macht und deren Zentren, anfällig 396
für sinnliche Triebe und unfähig zur klaren Positionierung, führt ihn die Bindung an den Hof in Bamberg im Allgemeinen sowie an Adelheid im Besonderen in die Katrastrophe – und in eine deutliche Ferne zu einer Form ›hegemonialer Männlichkeit‹. v) Im Bereich des Parameters ›amouröse Erfolge‹ tritt die Diskrepanz zwischen zwei Gruppen von Männlichkeitsentwürfen in den Vordergrund: Zum einen besteht sie aus solchen Figuren, deren Ambitionen auf eine vollständige Erfüllung der erotisch-sinnlichen Triebe durch Verführung abzielen (Franz Moor, der Graf von Almaviva, Cherubino sowie Don Giovanni) sowie zum anderen aus den hauptsächlich passioniert liebenden männlichen Figuren (Franz, Karl Moor sowie Figaro). Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht über die verschiedenen Liebesauffassungen hinaus in der Korrelation zwischen amourösen Absichten und amourösem Erfolg. Ein Männlichkeitsentwurf, dem es gelingt, diese Korrelation zu einer Grundlage des Anspruches auf ›hegemoniale Männlichkeit‹ zu erheben, findet sich in der Figur Don Giovanni. Interessanterweise und nicht ohne ein gewisses ironisierendes Potenzial ist es der Männlichkeitsentwurf des Verführers, des unbändigen Lüstlings, dem die Verbindung zwischen Erfolg im System der Intimität, patriarchalischer Dominanz und ›hegemonialer Männlichkeit‹ als einziger der untersuchten männlichen Figuren überzeugend gelingt. Für einige weitere Männlichkeitsentwürfe – das wird angesichts der Textanalyse schnell transparent – gilt das Zusammentreffen von Liebeswerben und -erfolg nur eingeschränkt: Paul Werner wendet in der Interaktion mit Franciska zwar libertine Argumente und Strategien an, wobei er jedoch erst durch Maßregelungen der aufgeweckten Dienerfigur als passioniert Liebender reüssiert. Götz wird zwar als liebender Vater und verantwortungsbewusster Ehemann, nicht aber als ›sinnliche‹ Figur geschildert. Karl Moor sehnt sich wiederholt nach Amalia, seine Liebe scheitert jedoch nicht nur an der Räuberbande, sondern vor allem auch an einer mangelnden kommunikativen Fähigkeit: Mehrmals lässt Karl die Gelegenheit verstreichen, sich Amalia gegenüber zu erkennen zu geben und dadurch die Katastrophe eventuell abzuwenden. Damit liegt das Augenmerk bereits auf der größten Gruppe jener Männlichkeitsentwürfe, deren Aktionsspielraum im System der Intimität durch defizitäre Aspekte gekennzeichnet ist. Tellheim, Karl Moor, Weislingen, Figaro sowie Ferrando und Guglielmo agieren gegenüber Frauen eher unglücklich als erfolgreich. Nicht selten sind die Konsequenzen dabei sowohl für die Männer selber als auch für die Frauen verheerend: Tellheim zwingt Minna durch sein starres Beharren auf dem – freilich patriarchalisch motivierten – Begriff der ›Ehre‹ dazu, ihm Schläge anzudrohen. Weislingen wird von Adelheid zuerst mehrfach betrogen und später durch Mithilfe seines Dieners Franz vergiftet, weswegen sie zum Tode verurteilt wird. Karl Moor erschießt seine Amalia, Figaro, Ferrando und Guglielmo werden von ihren jeweiligen Partnerinnen bloßgestellt, nachdem sie sie zunächst selber durch diverse Intrigen der Untreue zu überführen bemüht waren. Der Graf von Almaviva und Don Ottavio jagen einem lustbetonten (Almaviva) bzw. passionierten (Ottavio) Ideal nach und erweisen sich trotz ihrer gesellschaftlichen Dominanzpositionen als unfähig und dabei nicht selten als unfreiwillig komisch, um ihre amourösen Ziele zu erreichen. Amors Bereich – dieses Resümee legt die Textanalyse nahe – 397
wird für die Mehrzahl der Männlichkeitsentwürfe der vorliegenden Arbeit zu einem Schlachtfeld, auf dem die vermeintlich ›starken‹ Männer einen Pyrrhus-Sieg nach dem anderen erringen. vi) Der abschließende Parameter der ›rationalen und emotionalen Flexibilität‹ umfasst ein vielschichtiges Zusammenwirken von Codebewusstsein, Spontaneität im Erkennen von veränderten Kontextbedingungen, Weltwissen und Erfahrung sowie Empathiefähigkeit. Figuren, die in diesem Zusammenhang das obere Ende der Skala besetzen, besitzen vor allem die Fähigkeit, situative Gegebenheiten gegenüber anderen Figuren schnell zu erfassen und sie zu den eigenen Zwecken zu instrumentalisieren. Männlichkeitsentwürfe, die dieser Anforderung in besonderem Maße entsprechen, finden sich vor allem bei Don Giovanni und Don Alfonso. Trotz offensichtlicher Unterschiede mit Bezug auf ihr Lebensalter und die Ziele, die sie verfolgen, besteht eine wesentliche Parallele zum einen in der Fähigkeit, in der Funktion als ›Spielleiter‹ zu agieren, andere Figuren als ›Spielfiguren‹ anzuordnen und somit eine ludistisch geprägte Ordnung zu erstellen, deren Regeln sie entscheidend bestimmen. Dabei ist interessant, dass sich die Eignung zum ›Spielleiter‹ nicht nur durch einen reinen Wissensvorsprung gegenüber den anderen Figuren legitimiert. Der Ebene der Kompetenz, Situationen und Problemstellungen schnell zu erfassen, entspricht auf der anderen Seite die Ebene der Performanz, durch die eben jene Kontextbedingungen zu den eigenen Gunsten (um)gestaltet werden können. Beiden liegen insbesondere verschiedene kommunikative Codes vor, mit denen sie sich individuell auf ihre Interaktionspartner einstellen können: Don Giovanni schwankt in seinem Sprachduktus mühelos zwischen einem Libertin und einem entfesselt passioniert Liebenden. Don Alfonso gelingt es durch sein subtiles Codebewusstsein, sowohl eitle Offiziere, lüsterne Damen als auch spitzbübische Dienerfiguren in das von ihm initiierte Spiel einzubinden und das eigene Faszinationspotenzial auf sie zu übertragen. Dadurch werden sowohl Don Giovanni als auch Don Alfonso in ihrem ludistischen Trieb bestärkt und sichern sich durch die Manipulation anderer Spielteilnehmer gegen mögliche Kritikpunkte weitestgehend ab. Nun gestaltet sich die von Don Giovanni initiierte Unordnung vor allem auf amourösem Gebiet, währenddessen Don Alfonsos Liebesexperiment ihm vornehmlich heuristische Befriedigung verschaffen soll. Dieser Unterschied vermag jedoch nicht darüber wegzutäuschen, dass sich beide Figuren ihrer intellektuellen Dominanz gegenüber ihrer Umwelt hinlänglich bewusst sind. Männlichkeitsentwürfe, die sich unter anderem aufgrund einer mangelnden ›rationalen und emotionalen Flexibilität‹ in Problemsituationen manövrieren, sind Götz, der Graf von Almaviva und Don Ottavio. Während im ersten Fall (Götz) vor allem die Unfähigkeit sowie der Unwillen der Titelfigur dominieren, auf veränderte soziokulturelle Grundlagen zu reagieren, die Götzens Freiheit und Unabhängigkeit wesentlich beeinflussen würden, erweist sich der Graf von Almaviva wiederholt als intellektuell zu wenig flexibel, um das Spiel der Intrigen, das sowohl von der Gräfin und Susanna, als auch später von Figaro inszeniert wird, zu erkennen und geeignete Gegenmaßnahmen einzuleiten. Don Ottavio schließlich agiert unglücklich bis un398
glaubwürdig – in jedem Falle jedoch unflexibel. Weder seine ostinaten Rachedrohungen gegen Don Giovanni noch seine Liebesschwüre gegenüber Donna Anna können dabei ernsthaft über die Tatsache hinwegtäuschen, dass er weder im ersten noch im zweiten Fall über Kompetenz verfügt, sich auf den entsprechenden Adressaten Erfolg versprechend einzustellen. Selbstverständlich können die sechs aufgelisteten Parameter keine umfassende Beschreibung der Männlichkeitsentwürfe abbilden. Sie dienen vielmehr einer Orientierung über die Aspekte, die sich in der Textanalyse der vorliegenden Arbeit als Schwerpunkte erwiesen haben. Die untersuchten Dramentexte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verdeutlichen, dass sich ›Männlichkeit‹ einer eng an der Erfüllung von Normen orientierten Erwartungshaltung zunehmend entzieht. Das breite Spektrum an Erscheinungsformen und Interaktionsmodi männlicher Figuren lenkt die Aufmerksamkeit stattdessen vornehmlich auf die Krisenherde, die sich um die Patriarchen und Feudalherrn, Dienerfiguren und Komplizen, Kraft- und Potenzprotze sowie Melancholiker und Effeminati bilden. In diesem Zusammenhang erschließt sich nicht nur das Ausmaß an vorliegenden Männlichkeitsentwürfen, derer sich die Autoren großzügig bedienen, um ihren Texten sowohl erotische Spannung als auch politische Brisanz zu verleihen. Darüber hinaus zeigen sich somit insbesondere auch die Anwendungsmöglichkeiten solcher Theorieansätze des späten 20. Jahrhunderts, die in den vermeintlich häufig interpretierten männlichen Figuren der Dramentexte auf ihrer individuellen Suche nach der Nähe zur ›hegemonialer Männlichkeit‹ ein neues, interessantes Faszinationspotenzial offenlegen.
399
7.
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8.
Index nominum
Adelung, Johann Christoph 44, 55–59, 76, 133, 157, 166, 215, 337 Alberti di Villanuova, Francesco 61–62, 64–67, 337, 357 Alt, Peter-André 191, 263
Finter, Helga 328 Forster, Edgar J. 100 Frevert, Ute 42, 45, 47–49, 51–54, 59–60, 120, 137, 293 Fuhrmann, Helmut 103–105
Barner, Wilfried 115 Barta, Ilsebill 346 Barthes, Roland 256 Baureithel, Ulrike 375 Benedetto, Renato di 277, 281 Benthien, Claudia 331, 377 Bertram, Georg W. 168 Böhme, Hartmut 358 Böhnisch, Lothar 18–19, 22, 30–31, 35, 118–119, 122–123, 148, 150, 169, 171, 187, 233, 309, 360 Borchmeyer, Dieter 349, 352 Bosse, Hans 110 Bourdieu, Pierre 20–22, 35, 248 Brandt, Stefan Leonhard 17–18 Brenner, Peter J. 115, 122, 124, 135 Brittnacher, Hans Richard 225–226, 255, 264 Butler, Judith 7, 13–15, 21, 87
Gier, Alfred 273, 365 Gilmore, David D. 374 Goertz, Harald 331, 340 Goethe, Johann Wolfgang 85, 104, 164, 167, 176–177, 181, 183, 189, 191, 196, 218 Graham, Ilse A. 169, 212 Gronda, Giovanna 323, 329 Guthke, Karl S. 228, 230, 241
Campe, Joachim Heinrich 77, 79–80 Connell, Raewyn (Robert W.) 6, 8–9, 11–13, 23–24, 28–35, 41, 50, 101, 104, 106, 109, 147, 151, 164, 173, 198, 206, 213, 215, 224, 228, 245, 250, 255, 289, 300, 315, 325, 338, 381, 389 Csampai, Attila 325, 339, 353 Da Ponte, Lorenzo 3, 6, 41, 70, 86–87, 92–95, 102, 107, 206, 257, 273–276, 282, 284, 286, 288, 293, 295, 299, 303, 307, 311, 313–315, 320–321, 323, 327, 343, 345, 350, 355, 362, 370–371, 373, 376, 388 Dinges, Martin 11–12 Erhart, Walter 3, 5, 11, 13, 105–107, 118, 156 Felten, Uta 3, 284, 356 Fick, Monika 137
Hausen, Karin 9, 34, 41, 59–60 Hearn, Jeff 24 Henze-Döhring, Sabine 348 Herder, Johann Gottfried 196 Hinderer, Walter 169, 176, 183 Hippel, Theodor Gottlieb von 77–78 Holter, Øystein Gullvåg 24–27, 140, 151, 173, 255, 270, 312, 321, 344 Honegger, Claudia 49–50, 69, 73, 77 Hudson, Liam 16 Jablonski, Johann Theodor 55 Jordanova, Ludmilla J. 41 Jung-Kaiser, Ute 328 Kaiser, Gerhard 192 Karthaus, Ulrich 165–166, 174–175, 177, 192, 197–198, 218 Kaufman, Michael 19–20, 122, 146 Kemper, Dirk 93, 201 Kierkegaard, Søren 305, 321–322, 326, 336 Kimmel, Michael S. 24 King, Vera 110 Koselleck, Reinhart 41–44, 50 Krünitz, Johann Georg 59–60, 134–135 Kucklick, Christoph 37–40, 44, 56, 58–59, 68, 121, 164, 168, 257, 317, 327, 360 Kühne, Thomas 11, 23, 40 Kunze, Stefan 301, 308–309, 311, 323, 338, 357, 363, 373
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Lamport, Francis J. 191 Lenz, Jakob Michael Reinhold 165 Lessing, Gotthold Ephraim 114, 126, 142, 148, 156, 189 Lipp, Wolfgang 186, 228 Lotman, Jurij M. 83–84, 86, 206, 329 Luhmann, Niklas 12, 94, 128, 136, 284, 286, 316, 318–319, 326, 347 Lukács, Georg 139 Martini, Fritz 127, 135, 153–154, 180–181, 183, 192 Mauro, Tullio de 62 McInnes, Edward 174 Meuser; Michael 7, 10, 13, 21, 23–24, 30, 35, 69 Mila, Massimo 326, 328, 334 Money, John 9, 384 Mosse, George L. 17, 58, 61, 72, 254, 330 Mozart, Wolfgang Amadeus 6, 41, 70, 86–87, 92–95, 102, 107, 206, 257, 273–276, 282, 284, 286, 288, 293, 295, 299, 303, 307, 311, 313–315, 320, 323, 327, 343, 345, 350, 355–356, 362, 370–371, 373, 376, 388 Natter, Johann Joseph 188–189 Niefanger, Dirk 177 Noske, Frits 277–278, 284, 294–295, 301–302, 332, 349, 375, 383 Nünning, Ansgar 81–82, 89 Nünning, Vera 81–82, 89 Ortheil, Hanns-Josef 362, 365–366 Petrarca, Francesco 64, 306 Pfister, Manfred 81, 90–102, 105, 133–134, 214, 222, 276, 299, 306, 315, 320, 325, 334–335, 337, 348, 358, 362, 373 Pikulik, Lothar 231, 244 Pleck, Joseph H. 8–9, 13, 116
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Pockels, Carl Friedrich 38, 70 Prutti, Brigitte 114, 129–130 Riedel, Wolfgang 264 Rosenberg, Alfons 320, 322–324, 328, 331, 336–337 Rousseau, Jean-Jacques 73–76, 142, 196, 294 Sala di Felice, Elena 277, 281 Saße, Günter 114, 136 Schiller, Friedrich 220, 226, 254, 265 Schissler, Hanna 14 Schmale, Wolfgang 8, 15–17, 22–23, 69, 164, 309 Schröder, Jürgen 129–130, 134 Seidler, Victor J. 164, 358 Sengle, Friedrich 162 Splitt, Gerhard 373 Stephan, Inge 9, 20, 331 Stockinger, Ludwig 3, 132 Stollberg-Rilinger, Barbara 57 Tholen, Toni
109
Vailland, Roger 317, 333 Vékony, Ildikó 110–111 Vilar, Ester 6, 283, 319 Wehrli, Beatrice 127 Wertheimer, Jürgen 319–320, 329, 333, 339, 344–345 Wettlaufer, Jörg 279–281 Willems, Marianne 172, 202 Winckelmann, Johann Joachim 71–72 Wosgien, Gerlinde Anna 136, 142 Wunder, Heike 163, 195 Wunderlich, Werner 362, 372–373, 378, 382, 384, 387–388 Wuthenow, Ralph-Rainer 196 Zedler, Johann Heinrich 45, 51–55, 63, 75, 116, 120, 133, 183, 248 Zimbardo, Philip G. 203