Das Du-Bewusstsein: Zur Sozialontologie der zweiten Person 9783495994948, 9783495994931


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Table of contents :
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0. Anrede
1. Einführung. Oder: Worum geht es?
2. Tradtionelle Ich-Philosophie und die antiidealistische Kritik des ›Neuen Denkens‹
3. Vorläufer eines Du-Bewusstseins
4. Franz Rosenzweig: Das Ich als »Beim-Namen-Gerufenen«
5. Martin Buber: Urbindung statt Urdistanz
6. Ferdinand Ebner: Von der Icheinsamkeit zur Duhaftigkeit des Seins
7. Eugen Rosenstock-Huessy: Die (Sozial-)Grammatik der Seele
8. Nachträgliche Durchmusterung: Ich-Kategorie und das Ich-Anderer-Verhältnis
9. Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
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Das Du-Bewusstsein: Zur Sozialontologie der zweiten Person
 9783495994948, 9783495994931

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Thomas Jung

Das Du-Bewusstsein Zur Sozialontologie der zweiten Person

https://doi.org/10.5771/9783495994948 .

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Thomas Jung

Das Du-Bewusstsein Zur Sozialontologie der zweiten Person

https://doi.org/10.5771/9783495994948 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99493-1 (Print) ISBN 978-3-495-99494-8 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495994948 .

Inhaltsverzeichnis

0. Anrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einführung. Oder: Worum geht es? . . . . . . . .

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2. Tradtionelle Ich-Philosophie und die antiidealistische Kritik des ›Neuen Denkens‹ . . .

21

3. Vorläufer eines Du-Bewusstseins

. . . . . . . . .

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4. Franz Rosenzweig: Das Ich als »Beim-NamenGerufenen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Martin Buber: Urbindung statt Urdistanz . . . . .

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6. Ferdinand Ebner: Von der Icheinsamkeit zur Duhaftigkeit des Seins . . . . . . . . . . . . . . .

67

7. Eugen Rosenstock-Huessy: Die (Sozial-)Grammatik der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

8. Nachträgliche Durchmusterung: Ich-Kategorie und das Ich-Anderer-Verhältnis . . . . . . . . . .

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9. Schlussbemerkung

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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0. Anrede

»[…] so als sehnten wir uns nach Zwiesprache von Mund zu Mund, wenn die Schreibe beginnt« (Eugen Rosenstock-Huessy)

Ein Vorwort oder eine Vorrede ist dann misslich, ist diskreditiert, wenn man sich an Gustave Flauberts Aussage hält. Dieser hätte sich eher aufgehängt, als etwa ein Vorwort zu schreiben. Malcom Lowry jedoch liebte Vorworte, weil es für ihn ein unsäglicher Genuss war, diese zu lesen1. Diese beiden Zuordnungen sparen aber das Verhältnis von Autor und Leser konsequent aus, gehören eher zur je persönlichen Attitüde dieser Autoren. Daher der Einspruch: Mit einem Vorwort oder einer Vorrede wendet man sich direkt an den Leser und umgeht den Inhalt, das Thema, das geschrieben werden soll. Eine durch die Vorrede jedoch praktizierte Hinwendung an den Leser täuscht eine mündliche Anrede vor, so als sei die Anonymität des potentiellen Lesers gar nicht vorhanden. Insofern ist die Vorrede allemal eine adressierte Rede, etwa so wie man einen persönlich gehaltenen Brief an eine unbekannte Person schreibt. In dieser adressierten Rede legt man offen, erklärt sich, was der Anlass zum Verfassen des nachträgli­ chen Textes war, sich diesem oder jenem Thema anzunehmen und es als eine umfängliche Schrift in die Welt der Leser zu implemen­ tieren. Da es nachfolgend um ein Du-Denken, ein philosophisch gehaltenes Thema zur zweiten Person singular der Grammatik 1 Vgl. hierzu: Bernard-Henri Lévy (2005): Sartre – Der Philosoph des 20. Jahr­ hunderts, DTV-Verlag, München, S. 425.

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0. Anrede

geht, kann die hier praktizierte Vorrede, weil sie eben an den Leser adressierte Rede ist, zugleich als eine Ansprache angesehen werden, die den Leser ernst nimmt, an ihn appelliert, um ihm zu sagen: Das geht uns beide an, was zum Thema einer Philosophie des Du-Bewusstseins zu sagen ist. Gewiss – mit einem Blick auf die Alltagspraxis des Prono­ mens Du – ist die philosophische Thematisierung der Du-Katego­ rie nicht ganz unproblematisch. Zeigt doch unsere gegenwärtige Kommunikationspraxis zwei signifikante Auffälligkeiten: Da ist zunächst das für die Gegenwart symptomatische Phänomen der unentwegten Selbstdarstellungspraxis. Es ist die Welt einer Kom­ munikationspraxis der medialen Narzissten, welche das Du nur als strategische Verlängerung ihrer Eigenliebe benutzen. Das medial adressierte Du in den Netzwerken ist nur ein Surrogat, eine digitale Partnerschaft des Scheins, um die notorische Selbstbezüglichkeit zu überdecken. Eine weitere Auffälligkeit, die gegenwärtig festzustellen ist, zeigt sich in dem distanzlosen Gebrauch des Dus, die eine irgend­ wie diffus angestrebte Gemeinschaftlichkeit suggerieren soll. Das Credo ›Wir sind doch alle gleich, wir gehören irgendwie alle zusam­ men‹, ist gegenwärtig en vogue, ist die dominante Äußerungs­ praxis, um das persönliche Du zu verallgemeinern. Diese kom­ munikative Praxis der direkten Anrede gipfelt im Erlebnisstrom von Massenevents, von spontanen Gemeinschaftsbildungen, aus welchem Anlass auch immer, bei denen das Begehren nach gemein­ samer Gesinnungspraxis durch die Du-Anrede bekräftigt werden soll. Schon Jean Paul war für diesen inquisitorischen Gebrauch des Dus hellhörig: »Viele Gemeine machten vom Vorrechte des Trunks und der Spezialinquisition, nämlich Du zu sagen, untereinan­ der Gebrauch«2. Gegen diese Entleerung des Du-Gebrauchs, seine permanente Verflachung, ist der nachfolgende Text verfasst. Er rekonstruiert bzw. reinterpretiert ein philosophisch begründbares Du als das Jean Paul (1986): Siebenkäs, 12 Werkbände, Band 1, (Hg.) Norbert Miller, Carl Hanser Verlag, München, S. 478.

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0. Anrede

Bewusstseinselement des Menschen, wie es mit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Form eines Denkens des ›Dualis‹ als erste Abkehr vom idealistischen Primat des Ichs bzw. seines Selbstbewusstseins sich kund tat, sich aber erst in der Philosophie des ›Neuen Denkens‹ im frühen 20. Jahrhundert des Pronomens der zweiten Person systematisch anzunehmen, um es philosophisch zu rehabilitieren bzw. antiidealistisch zu begründen und auszuweisen.

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

»So wie du ist kein größeres Wort als alle Superlative« (Julius an Lucinde, Fr. Schlegel)

Dialog ist das bevorzugte Stichwort unserer Zeit: politisch-diplo­ matisch, partnerschaftlich wie auch als gesellschaftlich eingefor­ derte Kommunikationspraxis für alles, was als Dissens überwun­ den werden soll. Der Grundgedanke ist: Durch einen Dialog soll eine wechselseitige Perspektivübernahme ermöglicht werden, an deren Ende – so die mitschwingende Hoffnung – eine befriedete Situation angesichts von konfliktuellen Spannungen und gegen­ seitigen Beschädigungen eintreten soll. Es ist im Grunde eine Friedensformel: statt Auseinandersetzung, statt Streit, gar Krieg, lieber ein allgemeiner Konsensus. Der einst griechische Sinngehalt des Agonalen, des produktiven Widerstreits von Differenzen, soll durch die Dialogizität in Form eines beidseitigen Interessenaus­ gleichs oder einer Handlungsabstimmung abgeschafft werden. Jeder gibt etwas preis, damit nichts eskaliert, was beide Partner schädigt. Soweit das zeitgemäße, durch kommunikative Vernunft gesteuerte Credo. Die Philosophie des 20. Jahrhunderts, als auch ihre gegenwär­ tige Ausrichtung, hat darauf reagiert oder aber sie hat den gedankli­ chen Boden entwickelt, damit das Dialogische seine aktuelle Würde erhielt bzw. erhält. Inwieweit das Eine der Reflex des anderen ist oder nur eine Gleichzeitigkeit von philosophischem Denkpara­ digma und öffentlichem Mainstream mag dahin gestellt sein. Ausgehend vom Primat der Sprache, der aus der Linguistik resultierenden Ergebnissen zur Sprache, steht insbesondere die kontextuelle Verbindung von Äußerungen, von Sprechakten, im

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

Zentrum sprachphilosophischer Klärungen. Die Regelhaftigkeiten und Normierungsprozesse im Wechselgespräch von Sprechakten, ihr jeweiliger pragmatischer Handlungs- und Kooperationssinn, kann begründet werden. Der Preis dieses Umschwenkens ist der, dass die traditionelle Letztbegründungskategorie eines welterzeu­ genden Subjekt als transzendentaler Kategorie des autonomen ›Ichbewusstseins‹ abgelöst werden konnte. Nunmehr konzentriert sich die Begründungsarbeit des philosophischen Denkens auf dialogische bzw. kooperierende Sprachprozesse, in denen das Eini­ gungsvokabular nach ihrer sprachlogischen Grundierung, Her­ kunft bzw. Ableitung durchgemustert wird. Dieser philosophische Durchbruch aus dem alten Triumph der Subjektivität, in der der Monismus des Subjekts die letztbe­ gründende Instanz der Welterkenntnis war, hat die Frage nach einer veränderten sozialontologischen Bestimmung des Menschen nicht unberücksichtigt gelassen. Anders, und deshalb in sozialon­ tologischer Ausrichtung gefragt: Wenn das Dialogische qua syste­ matischer Sprachanalyse zugleich das Miteinander, das Mit-Sein des Menschen ausmacht, wie kann dann das Dialogdenken die Frage nach dem Sein des Menschen beantworten? Löst sie nur die Hypostasierung des Menschen als autonomes Wesen auf oder muss sie nicht zugleich eine andere Bewusstseinskategorie offe­ rieren, die zwangsläufig die alte Kategorie des Ich-Bewusstseins zugunsten einer neuen ins philosophische Gedankenspiel ein­ bringt? Das Sprachdenken entlang des Dialogischen, dies wird häufig vergessen oder ausgeklammert, hatte schon am Beginn des 20. Jahrhunderts eine kurze, aber nicht unwichtige Phase der sozial­ ontologischen Neuausrichtung des Menschen. Es war die Phase, die in der Gestaltung der ›sogenannten Dialogphilosophien‹ von Ferdinand Ebner, Martin Buber, Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy versuchte, aus dem Argumentationskorsett des idealistischen, maßgeblich ich-zentrierten Denkens auszubre­ chen. Ihr gemeinsamer Anspruch war ein Sprachdenken, das einen

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

»Umbruch des Denkens«3 in aller Radikalität herbeiführen wollte. Der Titel oder das Stichwort, das sich diese sprachdenkerischen Zeitgenossen für ihre Programmatik gaben, lautete: ›Neues Den­ ken‹. Eugen Rosenstock-Huessy hat die gemeinsame Argumenta­ tionsbasis so umrissen, dass diese Denker – allemal aus einem religiösen Gedankengut kommend – sich in einer geistigen Nähe bewegten, so dass man von einem zwar arbeitsteiligen, jedoch einheitlichen Vorgehen dieses ›Neuen Denkens‹ sprechen kann. Wollte man diesen neuen Denkansatz skizzieren, so hat Emmanuel Lévinas es beschrieben: Diese »Zeitgenossen […] beschreiben und betonen [ein Denken], das die Nähe von Mensch zu Mensch, die Nähe des Nächsten oder den Empfang, den der Mensch dem Menschen bereitet […]«4, zum ausschließlichen Thema hatte. Das Entscheidende ist hier nun, und dies ist der Fokus der Durchmusterung dieser sogenannten Dialogphilosophen, dass sie nun nicht mehr als frühe Statthalter der dialogischen Philosophie rekonstruiert werden sollen. Stattdessen, und dies ist die sozialon­ tologische Stoßrichtung der folgenden Aufarbeitung dieser Auto­ ren, gilt es, das spezifische Du-Bewusstsein, das in ihren Texten – manchmal auch wie nebenbei – eingelagert ist, herauszustellen. Situiert man die anstehende Frage in einer umfassenden universalgeschichtlichen Abfolge von divergenten Bewusstseins­ formen, so kann man auf Jean Gebser rekurrieren. Seine Übersicht der Abfolge menschlicher Bewusstseinsformen sieht wie folgt aus: Es gibt die archaisch-magische, die mythische, die mentale und schließlich für die Zukunft der Menschheit die unabdingbare notwendige Bewusstseinsform des integrale Bewusstseins. Die archaische-magische Bewusstseinsform ist vollkommen ichlos, bleibt nur bezogen auf numinose Götter bzw. deren Surro­ gate. Sie entspricht dem, was m. E. die biblische Erzählung vom ›Turmbau zu Babel‹ aussagt: Die Zunge war noch nicht gespalten, 3 Eugen Rosenstock-Huessy (1958): Der Atem des Geistes, Kleinere Schriften, Stuttgart, S. 388. 4 Emmanuel Lévinas (1991): Außer sich, Meditationen über Religion und Philo­ sophie, Carl Hanser Verlag, München, S. 7.

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

noch nicht grammatikalisch zerteilt. Die mythische Bewusstseins­ form ist wirhaft, sie hat ein Bewusstsein der Gemeinschaftlichkeit, die sich jedoch bereits abzugrenzen weiß, von dem, was nicht in den Gemeinschaftssinn integrierbar ist und von daher für andere Gemeinschaften ausgegrenzt werden soll. Die mentale Bewusstseinsform ist diejenige, die uns, unser soziales Zusammenleben, seit der Antike mehr oder weniger struk­ turiert und dominant bestimmt hat. Diese Bewusstseinsform ist ichhaft wie rationalistisch begründet; zugleich firmiert sie philoso­ phiegeschichtlich unter dem Leitbegriff ›Selbstbewusstsein‹. Bis zur Gegenwart hinein hat dies bis zur »Ego-Hypothrophie, zur Ich-Überbetonung, und damit zur Isolation, zu jener Beziehungslo­ sigkeit« geführt, »der wir heute überall begegnen«5. Die Vorstellung Jean Gebsers, die Menschheit möge ichfrei werden, um dann in einer integralen Bewusstseinsform, in der alle vorherigen histo­ risch durchlaufenden Bewusstseinsformen sich zu einer Ganzheit synthetisieren, garantiere so, und nur so, die Erhaltung der Welt; andererseits bleibt nur der Tod der Menschheit6. Eigentümlich an dieser universalgeschichtlichen Abfolge von Bewusstseinsformen ist nur eines: Die Gestalt, die Figuration einer Bewusstseinsform, die auf das Du gründet und zu Überlegungen zu einer etwaigen DuPhilosophie führen könnte, ist nicht bedacht bzw. ausgespart wor­ den. Bruchlos wandelt sich das lange Zeit geltende Ich-Bewusstsein in eine Synthese zu einem integralen Wir der Menschheit um – so Jean Gebsers Prognose für die Zukunft. Seine Forderung, die Menschheit möge doch ichfrei werden, verweist darauf, dass die Bewusstseinsform der Ich-Setzung seine philosophiegeschichtliche Tradition hatte und auf diese Weise die sozialontologische Bestimmung Menschen ausmachte. Erst der neuere, philosophische Blick auf die Beziehungsformen zwischen dem Ich und dem Anderen hat diese langanhaltende Begründungs­ tradition eines ausschließlichen Primats eines Ich-Bewusstseins Jean Gebser (1987): Ausgewählte Schriften, (Hg.) H. Chr. Meiser, DTV Verlag, München, S. 32. 6 Ebd., S. 33ff. 5

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

ins Wanken gebracht, ohne dass explizit die Frage nach dem spezifischen Konstitutionsgrund des Dus für das Ich aufgenommen worden wäre. Das Verhältnis von Ich und Anderer war und ist das Thema der Sozialontologie, alles andere, was wir das Soziale, die Sozialtät und Ähnliches nennen, ist Gegenstand wie Thema der Sozialphiloso­ phie. Bei der sozialontologischen Fragestellung geht es nicht um die vorfindliche, d. h. faktische Gegebenheit des Anderen, auch nicht um den Anderen als Element von gesellschaftlich bestimmten, d. h. plural erzeugten Gebilden. Diese werden maßgeblich von der Soziologie, entweder makrosoziologisch oder gar mikrosozio­ logisch, thematisiert und untersucht. Die bisherige sozialontologische Frage zielt vielmehr auf den Anderen, auf seine originäre Seinsart, die in ihrer Beziehungsweise auf das Ich reflektiert und begründet wird. Sie, diese Frage, soll in erster Linie die fundierende Seinsqualität des Anderen in seiner absetzbaren Daseinsweise zum Ich oder aber in der je gegebenen Begegnungsqualität bzw. des spezifischen Zwischen-uns-Seins von Ich und Anderen beantwortet werden. Das ›Zwischen‹ wird auf diese Weise zwar bereits zu einer Loslösung vom Primat des Ichs, aber der Andere bleibt immer noch – und sei es als Bezugsreferenz – Teilmoment des transzendentalen Bestimmungshorizonts des Subjekts. Das »Zwischen« – dies muss man auch der Dialogik Martin Bubers vorhalten – erfasst zwar kategorial das Miteinan­ dersein der Menschen, aber das Du hat keinen konstitutiven Gehalt für diese soziale Gegebenheit. Der Terminus Andersheit bzw. Alterität unterschlägt bereits sprachlich den personal bindenden Charakter von Du-Erfahrungen, die sich im Ich und seinem Wer­ den epigenetisch zeitigen. Das menschliche ›Abenteuer des Zusammenlebens‹ (Tzvetan Todorov) wird in diesem sozial-philosophischen Horizont auf ein bloßes »Zusammensein […] eine Korrespondenz der Zustände mit anderen […], d. h. Wirkungen auf sie [die Mitmenschen/ T. J.]

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

ausübt und Wirkungen von ihnen empfängt«7 reduziert, mithin auf Strukturgegebenheiten ausgerichtet. Der Andere erscheint als ein Einzelfall einer allgemeingültigen Struktur bzw. als ein Element zweier verschränkter Intentionalitätsakte, seien sie nun dialogisch oder differenztheoretisch zu analysieren. Daher auch: Er, der Andere als ein Du, bleibt so – bei aller Gleichursprünglichkeit – immer noch am Ausgang eines Ichs, das den Anderen, seine Andersheit, als eine Differenz setzt. Jeder Begründungsversuch, die Eigenständigkeit des Anderen zu denken, steht unter dem Verdacht, dass diese Eigenständigkeit als Analogie oder Abbild zum Ich konstituiert ist oder sein kann. Die ursprüngliche und sehr originäre sozialontologische Qua­ lität des Dus wird damit aber nicht vollständig begriffen, denn diese Du-Erfahrung kann nicht als Konstitutionsfundament durch eine primordiale Erfahrungsbindung, also eine immer schon wirksam gewordene Bewusstseinsform des Dus, ausgewiesen werden. Die primäre Koexistenz, die vom Du ausgeht, kommt so gerade nicht zum Tragen für sozialontologische Überlegungen. Es muss gelten, was Tzvetan Todorov ganz allgemein und insgesamt für das soziale Denken in den »bedeutenden Strömungen der Philosophie« konsta­ tiert hat: »die soziale Dimension, das Faktum des Zusammenlebens, wird allgemein nicht als für den Menschen notwendig angesehen«8. Inwieweit aber das menschliche Zusammenleben durch eine vor­ gängige Du-Präsenz in jedem menschlichen Bewusstsein, und zwar durchaus in kontrafaktischer Weise zum sozialen Alltag, immer schon vorausgesetzt werden muss oder kann, bleibt unbeantwortet. Dieses ist jedoch nur begründbar im Durchgang zu denjenigen Philosophien, die sich einer »Philosophie der zweiten Person«9 Georg Simmel (1992): Soziologie, Gesamtausgabe, Band 11, Suhrkamp Verlag, Fft./M., S. 18. 8 Tzvetan Todorov (1996): Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allge­ meinen Anthropologie, Wagenbach Verlag, Berlin, S. 13. 9 Dieser Terminus geht auf Gabriel Marcel zurück, den ich aus seinem Buch: Dialog und Erfahrung (1969), (Hg.) Wolfgang Ruf, Knecht Verlag, Frankfurt/M., entnommen habe. 7

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

verschrieben hatten. Dies sind allemal die Denker des ›Neuen Den­ kens‹, wie sie durchweg bis heute in den philosophischen Sortier­ kasten unter dem Titel ›Dialogphilosophie‹ eingestellt wurden bzw. werden. Diese Denker bzw. Philosophen des ›Neuen Denkens‹ werden hier vornehmlich durch Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner, Eugen Rosenstock-Huessy und Martin Buber repräsentiert. Obwohl in ihren Schriften der Dialoggedanke nicht abzuweisen ist, haben sie jedoch das Thema einer Philosophie des Dus, also der zweiten Person der Grammatik, akzentuiert und vor allem sprachphilosophisch fundiert. In einer ersten Gedankenskizze, die Eugen Rosenstock-Huessy an Franz Rosenzweig 1916 gesandt hatte, wird die ganze Richtung dieser »Philosophie der zweiten Person« bereits vorgegeben: »Sie [gemeint ist seine Sprachlehre/T. J.] hat die Rolle vom Du aufgestellt, das dem Ich vorgeht, ohne dass das Ich nie zustande käme […]«10. Man kann dieses Zitat als programmatische Aussage der Philosophie des ›Neuen Denkens‹ betrachten. Sie, diese Aussage, bildet den Fokus, um die Rekonstruktion der maßgeblichen Schrif­ ten der vorgenannten Denker interpretatorisch aufzuschlüsseln. Dabei werden andere Text dieser Denker eher vernachlässigt, ebenso auch die starke religiöse Grundierung, die in diesen Texten eingelassen ist – soweit dies möglich ist – umgangen bzw. nur peripher angesprochen. Um das nachfolgende Vorhaben formelhaft auszudrücken, was diese sozialontologische Studie anleitet und von welchem Grundgedanken sie getragen wird, lässt sich der Titel einer Schrift von Martin Buber heranziehen: »Urdistanz und Beziehung«11. In diesem Text geht es vor allem um die Ausbuchstabierung eines anthropologisch-philosophischen Fundaments des Menschen. Mit der nachfolgenden Studie soll jedoch gerade eine Umwandlung des Titels von Martin Buber vollzogen werden, indem es jetzt heißen muss: ›Urbindung und Ich-Werdung‹. Martin Buber geht Eugen Rosenstock-Huessy (1952): a. a. O., S. 8. Martin Buber (1978): Urdistanz und Beziehung, Lambert Schneider Ver­ lag, Heidelberg.

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

noch davon aus, dass das »Erste die Urdistanzierung sei, das Zweite das In-Beziehung-treten«12 ist. Die These der Urbindung geht aber davon aus, dass das Erste, das Primordiale, die koexistenti­ elle Erfahrung eines Dus und ein In-Beziehung-treten erst die nachträgliche Bewusstseinseinlagerung ist. Anders gesagt: Die Ich-Werdung konstituiert sich auf der Basis einer vorgängigen, basalen Du-Erfahrung. Diese kann entweder gelungen oder aber misslungen sein. Vollzieht man eine textuelle Detektion der maßgeblichen Schriften dieser Philosophen des ›Neuen Denkens‹13, so kann die Begründung dieser ›Urbindung‹ an deren spezifischer Begründung des Du-Denkens herausgestellt werden. In den Schriften, weniger jedoch bei Martin Buber, bei dem der Beziehungsakt maßgeblich ist, wird nämlich die zweite Person unserer Grammatik, das Du also, immer in den Vordergrund gestellt. Diese Grammatik hat Eugen Rosenstock-Huessy einmal »Sozialgrammatik« genannt, um sie von der herkömmlichen ›Schulgrammatik‹ abzusetzen. Sein kritisches Anliegen formuliert sich deutlich in der kurzen Sentenz: »Die Rangordnung von Denken, Sprechen und Schreiben steht auf dem Kopf«14. Es geht nicht um eine Verunglimpfung oder gar Aussetzung des philosophischen Denkens, um eine Suspendierung des Ver­ nunftprimats einzuleiten und damit eine neue Denkform des Irrationalismus herbeizuführen. Die kritische Einlassung hier ist eher ein Überschreiten dessen, was bisher das Philosophieren und damit an sozialontologischer Dignität gezeitigt hat: »Das Philosophieren erzwingt Sätze in der dritten Person. Es ist augenhö­ rig««15. Das Wesentliche, das Humane an der Sprache ist nicht »das Abstrahieren, der Begriffsapparat der Gedanken […]«16, denn Ebd.; S. 11. Anm.: Hans Ehrenberg mit seinem überaus stark christlichen Bezug wird hier ausgespart. 14 Eugen Rosenstock-Huessy (1952) a. a. O. S. 7. 15 Ebd., S. 30. 16 Ebd. S. 46. 12

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

das Sprechen, der Akt der Anrede, ist erst dasjenige, was etwas in der Welt hervorbringt – mithin ein schöpferischer Vorgang. Das Schöpferische liegt im Akt des Ernennens, im Vorgang der Namensgebung. Solchermaßen wird die Kategorie des Dus zum Argumentationsterrain, um philosophiegeschichtlich mit der »fal­ schen Annahme ›Individuum‹«17 zu brechen. Eugen RosenstockHuessy hat hier insbesondere die sozialontologische Fehldeutung des Menschen als Sozialwesen aus dem Primat des Subjekts im Blick. Er sieht sie seit der Renaissance gewährleistet, vor allem seit dem denkmethodischen Individualismus durch René Descartes und sozialpolitisch nobilitiert mit dem Denken Thomas Hobbes18. Alle Denker bzw. Philosophen des ›Neuen Denkens‹ kündigen konsequent die Abkunft der Vorherrschaft des denkenden Subjekts mit seinem Primat der autonomen Individualität auf; sie sehen in dieser Abkunft eine gänzliche Verfehlung des sozialontologischen Denkens, das jede Bestimmung des menschlichen Seins zu einer ›Philosophie der ersten Person‹, dem ›Ich‹, gerinnen lässt. Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel war diesbezüglich die Kategorie ›Subjektivtität‹ innerhalb seiner skizzierten philosophischen Welt­ geschichte die »zweite welthistorische Gestalt des Geistes«19 auf der universalgeschichtlichen Bahn seiner Selbstwerdung. Die gegen­ wärtige Kultur des wildgewordenen Individualismus drückt sich aus in den prominent geltenden Maximen: Erkenne Dich selbst. Sei Du selbst! Und schließlich: Selbst ist jeder für sich! In diesen Äuße­ rungen hat der ontologische Subjektivismus seine philosophische Rechtfertigung gefunden. Eine Sozialontologie der Sozialität, die von einem Du-Bewusstsein der Menschen ausgeht, ist daher der kritische Einspruch, den diese Studie verfolgt. Dass man dabei auf die religiös fundierten Argumentationen der Denker des ›Neuen Denkens› zurückgreifen muss, liegt nicht etwa an einer Affinität Ebd., S. 255. Anm.: Thomas Hobbes Grundgedanke ist das Prinzip der absoluten Selbster­ haltung im Umgang mit dem jeweils Anderen. Jeder verfolgt seine Motive und Interessen, was zum Kampf jeder gegen jeden führt. 19 Vgl. hierzu: Jochen Ritter (1974): Subjektivität, Suhrkamp Verlag, Frank­ furt/M., S. 22 -23. 17

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1. Einführung. Oder: Worum geht es?

des Autors an theologischen bzw. religiösen Sinngebungen. Viel­ mehr ist es der Glaube, dass in dem vorgenannten Denken eine Umwandlung des gegebenen Primats der »zweiten weltgeschichtli­ chen Gestalt« notwendig sein muss, damit es einen Ausgang aus der gegenwärtigen Gewalttätigkeit in der Menschenwelt geben muss – denn nah ist das Rettende!

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2. Tradtionelle Ich-Philosophie und die antiidealistische Kritik des ›Neuen Denkens‹

»Sprache vermag es, den Besitzfall zum Zeigefall zu erhöhen, das Haben zum Sein« (Karl Kraus)

Die Philosophie war seit der Renaissance in der Bestimmung des Menschen eine Philosophie A-solo. Ihren Höhepunkt hatte diese philosophische Ausweisung des Menschen in einer Art Philoso­ phie des Singles, wie sie exemplarisch der deutsche Idealismus ausformulierte. Der Idealismus forderte nicht nur – als Folge der Säkularisierung – die Autonomie des Menschen ein, er verabsolu­ tierte auch das Ich, das Subjekt, als alleinigen und ausschließlichen Konstitutionsgrund der Wirklichkeitserfassung. Das Ich, in Gestalt des Selbstbewusstseins, war die Instanz, um die Letztbegründung für die Seinsgewissheit des fragenden Menschen abzusichern. Was Réne Descartes denkmethodisch in seinen ›Meditationen über die Erste Philosophie‹ auf den Weg gebracht hatte, nämlich, dass das Denken trotz aller Zweifel letztlich daran nicht vorbei­ kommt, ein ›ich denke, also bin ich‹ als Existenzgrund vorauszu­ setzen, war der Grundbaustein des philosophisch legitimierten Selbstbewusstseins. Ausgehend davon, dass im Prinzip alles zu bezweifeln, weil alles möglicherweise nur fiktional oder ein Traum­ gebilde sein kann, was das Ich als Welttatsachen wahrnimmt, bleibt dennoch dasjenige, was jeder Form der Auflösung von Ich und Welt widersteht: die nicht mehr hintergehbare Gewissheit, das letztlich das Ich es ist, das den Zweifel denkt. Mit Réne Descartes Philosophie ist das Sein des Menschen auf das denkende Subjekt,

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2. Tradtionelle Ich-Philosophie und antiidealistische Kritik

das Ich, zurückbezogen worden; das ›Ich denke‹ garantiert die Gewissheit einer letztlich sicheren Welterfassung. Der deutsche Idealismus hat diese Vorgabe des ›cogito, ergo sum‹ nicht mehr nur als philosophische Basis der Erkenntnis betrachtet, vielmehr in der Begründungsfigur eines sich selbst setzenden Ichs systematisch ausformuliert und den Grundstein der neuzeitlichen Subjektphilo­ sophie gelegt. Johann Gottlieb Fichte hat in seiner ›Wissenschaftslehre‹ die Absolutsetzung des Ichs aus dessen prinzipieller Gedankenfreiheit behauptet, wie auch aus seiner Ursprünglichkeit abgeleitet: »Es ist ursprünglich nichts gesetzt als das Ich, und dieses ist nur schlechthin gesetzt«20. Das Ich – so Johann Gottlieb Fichte – setzt sein eigenes Sein; es steht einem von ihm gesetzten Nicht-Ich gegenüber. Man könnte nun annehmen, dass hier ein Wechselverhältnis von Ich und Nicht-Ich, also zu allen weltlich Objekten und damit auch prinzipiell zu einem Du besteht, da dieses Du zum Bereich des Nicht-Ich gehört. Da aber alle Objekte der Welt, gleich welcher Art, als Produkte des setzenden Ichs angesehen werden, also das Nicht-Ich eine Setzung aus dem vorgängig gesetzten Ich ist, so bedeutet dies, dass selbst noch der Mitmensch nur aus einer subjektiv gesetzten Subjekt-Objekt-Perspektive existent ist. Hinzu kommt, dass die Ich-Setzung nicht nur ursprünglich ist; sie resultiert auch daraus, dass das Ich tatbezogen ist, d. h., im Handeln sein Fundament hat: »Nicht zum müßigen Beschauen und Betrachten seiner selbst, auch zum Brüten über andächtige Empfindungen, – nein zum Handeln bist du da; […]«21. Die Welt besteht nur deshalb, weil sie vom Ich erzeugt ist, denn: »Der Grund, warum ich etwas außer mir annehme, liegt nicht außer mir, sondern in mir selbst«22. Prononcierter kann man das Ich nicht als Nabel der Welterfahrung ausdrücken. Mit der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes hatte sich dasjenige vollzogen, was nach Franz Rosenzweig 20 Johann Gottlieb Fichte (o. J.): Sämtliche Werke 1844–1846, (Hg.) von I.H. Fichte, 8 Bände, Band 1, Leipzig, S. 101. 21 Johann Gottlieb Fichte (o. J.): a. a. O., Band 3, S. 345/ S. 359. 22 Johann Gottlieb Fichte (o. J.): a. a. O., Band 2, S. 185.

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das »weitaus beliebteste Wort bei den Philosophen« ist: das Ich. Er fasst deshalb zusammen, was der Philosophen letzter Weisheit ist: »Sprach ich nicht vorhin davon, daß mir die Welt begegnet ist? Mir! – also habe ich gegenüber der Welt doch noch mein Mich. Ich denke, also bin ich. Mein Ich ist das ›einzige Sichere‹. Die Welt ist Schein. Daß aber mir dieser Schein scheint, das kann nicht selber Schein sein; das ist ›Wesen‹. Das Ich also ist das Wesen der Welt«23. Keine Zeitlichkeit, kein Endlichkeitsgedanke tangiert diese Absolutheit des Ichs. Während Johann Gottlieb Fichte die Ich-Kategorie noch philo­ sophisch-idealistisch auswies, sie begrifflich-systematisch begrün­ dete, wurde mit Max Stirners Hauptwerk ›Der Einzige und sein Eigentum‹ jeder idealistische Grundzug in eine Anarchie des klein­ bürgerlichen Besitzdenkens verkehrt, in dem die wahre Natur des Ichs – freilich philosophisch unsystematisch – auf die Spitze getrie­ ben wurde: Das Ich wurde zum gedanklichen Zentrum des Egois­ mus in toto. Im Idealismus waren es noch Moral und Sittlichkeit, die dem Autonomiestreben, dem Freiheitsdrang des Menschen, Zügel anlegen sollten. Die besagte Schrift Max Stirners ist keine systematische Abhandlung. Es ist eine Suada von Ich-Beschwörungen, von Selbstbekundungen, die die Losung Max Stirners »Nur ich und nichts als ich«24 immer wieder umkreisen. Diese ausschließliche Ichbezogenheit, die in der Stirner-Rezeption gelegentlich zur »individualanarchistischen Strömung« der Philosophie des 19. Jahr­ hunderts gerechnet wird25, entkleidet alle Idealismen, wie sie sich in den Kategorien der Humanität, der Gerechtigkeit, der Wahrheit, des Guten usw. philosophisch ausgewiesen haben. Was bleibt, ist nur der Egoismus der Selbsterhöhung, dieser kühne »›Lobge­ Franz Rosenzweig (2018): Das Büchlein vom gesunden und kranken Men­ schenverstand, Jüdischer Verlag, Frankfurt/M. S. 65. 24 Max Stirner (2016): Der Einzige und sein Eigentum, Sammlung Hofenberg, Verlag Contenmax, Reprint der Ausgabe, 1924, Berlin, S. 140. 25 Daniel Loick (2017): Anarchismus zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg, S. 57. 23

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sang‹ auf das Ideal des skrupellosen Egoisten, der sich selbstherrlich zum Maß aller Dinge erklärt«26. Damit hatte die Philosophie des Ichs zweifelsfrei ihren Gipfel eingelöst. Es ist nicht allein der Fanatismus der ›Eigenheit‹, die Max Stirner gegen alles von außen Gesetzte, gegen jede äußere Vereinnahmung ins Spiel bringt, es ist bereits mehr; nämlich dasjenige, was Friedrich Nietzsche nobi­ litierte: der Wille zur Macht. Carl Schmitt hat Max Stirner, diesen Philosophen der Egomanie, einmal als Ich-Verrückten bezeichnet, von dem aber – wie Edmund Husserl es formulierte – »eine versucherische Kraft«27 ausgehe. Fasst man die Essentials dieser Schrift zusammen, so lässt sich aufs Ganze gesehen Folgendes ausmachen: 1. Die von Max Stirner behauptete ›Eigenheit‹ ist zirkulär begründet, d. h. in sich so geschlossen, dass die Welt zur Beute des Eigennutzes wird. 2. Der Einzige ist sozial gesehen ein Hasardeur, ein Ausbeuter gegenüber seiner Mitwelt. 3. Zwar steht die ›Eigenheit‹, und nicht etwa das Eigentum, im Zentrum der Argumentation, aber diese zielt nur auf eine Selbstermächtigung im Konkurrenzkampf mit anderen. Damit nimmt Max Stirner die ungesellige Natur des Menschen, wie sie u. a. bei Thomas Hobbes formuliert wurde, ernst und rechtfertigt so den Kampf jeder gegen jeden. Noch bei Immanuel Kant resultierte die ungesellige Natur des Menschen aus dessen »Rohigkeit eines bloß tierischen Geschöpfes […], aus dem Gängelband des Instinkts […]28, die jedoch durch die sittliche Entwicklung des Menschen diese »Rohigkeit« verlieren sollte. Und bei Thomas Hobbes ergibt sich die Ungeselligkeit aus einem natürlich gegebenen Selbster­ haltungstrieb, der nur durch den übermächtigen Staat gebändigt werden kann. 4. Max Stirners philosophische Polemik läuft auf eine Totalentwertung überkommener Kulturwerte hinaus, sodass letzten Endes das eigene Recht vor dem gemeinschaftlichen Recht Richard Reschika (2001): Philosophische Abenteurer, Verlag Mohr Siebeck, UTB, Tübingen, S. 68. 27 Ebd., S. 70. 28 Immanuel Kant (1983):Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, (Hg.) W. Weischedel, Band VI, WBG, Darmstadt, S. 85ff. 26

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Geltung hat. Auf diese Weise ist jedes Verbrechen – gleich welcher Art – zu rechtfertigen. Dass das philosophische Denken des 19. Jahrhunderts, als Folge der nachträglichen Kritik an den Schriften von Georg Wil­ helm Friedrich Hegel, immer mehr die absolute Souveränität des Einzelnen behauptete, wird an den Philosophien Sören Kier­ kegaards und Friedrich Nietzsches deutlich: Sören Kierkegaard durch die subjektive Wahl, die als eine existenzielle Wahrheit des Einzelnen firmiert, und Friedrich Nietzsche durch die krea­ tive Selbsterschaffung des Menschen über seine bis dato gesetz­ ten Bestimmungsqualitäten. Wie ist die Ich- bzw. Subjekt-Philosophie im Gedankengang bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel ausgewiesen? Ist sie mit dem Vermittlungsgedanken von Ich und Anderem überhaupt noch gegeben? Das Ich wird bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel als Träger des Selbstbewusstseins ausgewiesen, so wie er es in der ›Phänomenologie des Geistes‹ entfaltet und begründet hat. Das Selbstbewusstsein entsteht aber nicht etwa in einem selbstrefle­ xiven Akt des Ichs, vielmehr erst durch die Vermittlung mit einem Anderen, der wiederum für sich durch diese Vermittlung sein Selbstbewusstsein erlangt. Dies ist jedoch keine nur formale Vermittlung, denn ihr zugrunde liegt ein wechselseitiges Anerken­ nungsverhältnis, damit das Ich in seinem Selbstbewusstsein und der Andere in seinem sich realisieren können. Insofern ist mit die­ sem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis bereits die elemen­ tare Beziehungsstruktur von Ich und Anderem in Szene gesetzt. Das Ich als Träger des Selbstbewusstseins inkorporiert nicht etwa ein Nicht-Ich, wie es Johann Gottlieb Fichte noch meinte, sondern bereits den Anderen, der dem Ich als das Andere seiner selbst begegnet. Jedoch, dies setzt eine Ich-Leistung voraus, denn dieses Selbst des Ichs muss sich zunächst entäußern, d. h., es muss aus sich heraustreten, damit es zum Aneignungsprozess kommt. Die Selbstgewissheit gewinnt das Ich, indem es sich im Anderen selbst anschaut, ohne dass es sich dem Anderen völlig angleicht oder sich in einem mimetischen Prozess verliert. Nun ist es aber

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so, dass der Andere wie auch das Ich beidseitig Anerkennung verlangen, denn dies ist das Werk einer anthropogenen Begierde. Es kommt also, weil das Ich vom Anderen eine Anerkennung, wie dieser die Anerkennung vom Ich verlangt, zu einem Kampf um Anerkennung, da die Anerkennung – so Georg Wilhelm Fried­ rich Hegel – ein Wert ist, der über die eigene Selbst-Immanenz hinausgeht. Letztlich bedeutet dies: »Sich anerkennen zu lassen, heißt sich gegenüber anderen durchzusetzen29. Damit ist dreierlei in Szene gesetzt: Der Kampf um Anerkennung tilgt jede Form der gegenseitigen Annahme, denn das Anerkennen liegt im Horizont des Eigeninteresses. Es besteht von vornherein eine Beziehungs­ struktur zwischen Ich und Anderem als Rivalitätskampf um die Durchsetzung dieses Eigeninteresses. Das jeweilige Ich hat die auslösende Priorität im Rivalitätskampf, denn das Ich – wie auch das andere Ich – bringt seine jeweiligen Selbstentäußerungen im Kampf um Anerkennung erst hervor. Keine etwaige Du-Qualität ist in diesem Kampf um Anerkennung denkbar. Der Prozess, damit das Ich sein Selbstbewusstsein erlangt, ist dreigliedrig: Zunächst die Selbstentäußerung des Ichs in Form eines aus sich selbst Heraustretens, dann der notwendige Kampf durch den Auftritt des Anderen und schließlich die wechselsei­ tige Anerkennung, so dass im Ich die Struktur von ›ego‹ und ›alter ego‹ inkorporiert werden kann. Für das Ich stellt sich zwar die Erfahrung ein, dass es auf den Anderen verwiesen ist, aber es bleibt die Priorität des jeweiligen Ichs als ein Ich-Setzender (aufgrund des Eigeninteresses an Anerkennung!) bewahrt. Das Ich ist der Ursprung der Entäußerung seiner selbst und zugleich dasjenige, das das andere Ich für sich setzt. Das wechselseitige Anerkennungsverhältnis ist notwendig, denn es gehört zum Kon­ stitutionsgrund des Selbstbewusstseins, aber das Ich bleibt letztlich der jeweilige Produzent dieses Anerkennungsverhältnisses. Ein Anderssein des Anderen gibt es nicht, und damit auch keinen Anderen mit einer originären Du-Qualität. Der Andere erscheint nur als derjenige, gegen den um diese Anerkennung gekämpft 29

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Tzvetan Todorov (1996): a. a. O., S. 35. https://doi.org/10.5771/9783495994948 .

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werden muss. Der Andere ist per se ein Fremder, ein Widersacher, nicht etwa ein Vertrauter bzw. eine Vertraute, der als der ›Nächste‹ oder die ›Nächste‹ in Erscheinung treten könnte. Die Herrschaft des Ichs, zwar wechselseitig, bleibt in der Hegelschen Anerkennungsdialektik bewahrt und unangetastet. Sie ist zwar nicht so opak, nicht so ichzentriert wie in der Philosophie Johann Gottlieb Fichte, sie fungiert aber weiterhin als zentraler Gedankenfokus der idealistischen Weltanschauung. Jenseits der philosophiegeschichtlichen Bestimmung des Pri­ mats des Ichs lässt sich noch die Frage stellen: Gibt es eine rein geschichtliche Genese für die Mächtigkeit der Ichkategorie? Hat u. U. das Selbstbewusstsein des sich selbst setzenden Ichs mögli­ cherweise eine profane geschichtliche Herkunft, die jenseits der philosophischen Begründungsweise liegt bzw. dieser vorausgeht? Seit der Antike, und insbesondere im Mittelalter, war es so, dass der Herrscher derjenige war, der sich Ich nennen durfte, während die Untertanen im Prinzip ›ichlose‹ Wesen waren, die nur durch das soziale Band mit den anderen Untertanen eine gemein­ schaftliche Identität hatten. Ichformulierungen und eigene Identi­ tät waren immer nur Insignien der jeweiligen Herrscher. Dieses Zusammenfallen von Ich-Instanz und herrschaftlicher Macht hatte somit eine machthistorische Genese, die m. E. hintergründig bis in die philosophische Selbstermächtigung des Ichs hineinreichte. Vielleicht ist gerade die Verabsolutierung des Ichs bei Max Stirner ein spätes Revival der einstigen Ansprüche eines alten Herrscher­ denkens. Es gibt noch einen zweiten Hinweis, dass die Ich-Katego­ rie, ihre individualistische Bestimmung, unter Umständen ein Trugschluss ist. Vilém FIusser ist – ganz dem Denkansatz der Rollenbestimmung zwischen Ich und anderen verhaftet – von der identitätsstiftenden Funktion der Maske ausgegangen: »Eher sieht es so aus, als ob das, was wir mit dem Wort ›Ich‹ meinen, eine Reihe von einander überdeckenden Masken sei, die zwar einander, aber keinen sich hinter ihnen verbergenden Kern verhüllen – wie bei der berüchtigten Zwiebel, bei deren Analyse wir schließlich entdecken,

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dass die entblätterten Hüllen, nicht verhüllen«30. Er folgert daraus, dass »Die Maske demnach jene Vorrichtung [ist], dank derer man überhaupt erst ein Selbst wird, und dies, weil man von den anderen dementsprechend angesehen wird«31. Damit wird deutlich, dass die Ich-Vorstellung und damit die Frage: Was bin ich unter allen ande­ ren Menschen?, nicht eine von innen gesetzte Antwort ist, sondern bereits jeweils durch den Blick der Anderen, ihre Zuschreibungen, sich ergibt. Das Maskenspiel der historischen Könighäuser hatte wohl auch daher seine rollenspezifische Inszenierungsgewohnheit. Jenseits dieser beiden Verweise, dass die Ich-Kategorie auf tönernen Füßen steht, gibt es aber philosophische Einsprüche, die als antiidealistische Begründungen das Ich infrage stellen. Sie lassen sich zusammenfassen, ohne sich auf die gängigen Kritiken der Hegel-Philosophie, wie sie im 19. Jahrhundert deutlich wurden, stützen zu müssen. Es genügt hier die antiidealistischen Einsprüche anzuführen, die seitens der sogenannten Dialogphilosophien in Form ihrer Programmatik eines ›Neuen Denkens‹ vorgetragen wurden. Dabei soll hier noch nicht der eigentliche Du-Gehalt des ›Neuen Denkens‹ angesprochen werden, denn dies kann unter dem Fokus eines originären Du-Bewusstseins in den nachfolgenden Kapiteln ausgebreitet werden. Es geht einzig und allein um die antiidealistische Kritik, die insbesondere von Franz Rosenzweig, Eugen Rosenstock-Huessy, aber auch von Martin Buber ausge­ führt worden ist. Deren kritische Einlassungen begründen die eigentliche philosophiegeschichtliche Stoßrichtung des ›Neuen Denkens‹. Bei Ferdinand Ebner, der ebenfalls das ›Neue Denken‹ repräsentierte, gibt es hingegen keine philosophiegeschichtliche Begründung einer antiidealistischen Kritik, wie sie explizit bei den vorgenannten Denkern vorzufinden ist. Was sind nun die elementaren antiidealistischen Kritikpunkte bzw. Einwände? Eugen Rosenstock-Huessy nimmt die Sinnhaf­ tigkeit des abendländischen Denkens insgesamt aufs Korn und 30 Vilém Flusser (1995): Die Revolution der Bilder – Der Flusser-Reader zur Kommunikation, Medien und Design, Bollmann Verlag, Mannheim, S. 171. 31 Ebd., S. 172.

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sieht in der Programmatik des ›Neuen Denkens‹ die entschei­ dende Begründung, dass sich das Denken auf die menschliche Existenz generell zurückbesinnen muss. Diese Rückbesinnung auf die eigentliche Bestimmung des Menschen liegt für ihn im verkehrten Sprachdenken, das seit Parmenides bis einschließlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel die idealistisch-metaphysische Denktradition fundiert hatte. Dies habe nämlich »den Vorrang des Sprechens vor dem Denken, des Namen vor dem Begriff« auf den Kopf gestellt32. Die griechische Philosophie bzw. ihre Logik sei im Grunde sprachfeindlich, weil sie die Wirklichkeit über denkbe­ griffliche Operationen aufschlüsselt. In seiner Soziologie spricht Eugen Rosenstock-Huessy auch von »unserer Spracherkrankung als Vergriechung«33. In der Identität von Denken und Sein liegt ein falsches Existenzdenken des Menschen vor, dessen Gipfel sich in der Ich-Besessenheit seit dem cartesianischen Denken ausgebreitet hat. Damit wird aber, und dies ist der zentrale Vor­ wurf Rosenstock-Huessys, eine Hypostasierung der denkerischen Erkenntnis der Wirklichkeit – ausgehend vom transzendentalen Subjekt – vorgenommen. Dieser »sprachverachtende Idealismus«34 führt letztlich zu einer Ich-Einsamkeit, die das Denken sprachlos macht, weil sie das Verhältnis von Denken und Sein in eine nur begriffsoperative Identität überführt. Der Idealismus praktiziert seit dem griechischen Denken des Parmenides einen fatalen IchMonismus, der das soziale Ereignis des Sprechens von Mensch zu Mensch systematisch unterschlägt. Die Weltauslegung, und damit das Existenzverstehen, liegen in dem fragwürdigen Vorrang eines denkenden Subjekts, das vom faktischen Geschehen des gegen­ seitigen Ansprechens bzw. Angesprochen-Werdens abstrahiert. Eugen Rosenstock-Huessy (1963/1964): Die Sprache des Menschenge­ schlechts, Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bände, Band 1, Heidelberg S. 676 (vgl. auch S. 613). 33 Eugen Rosenstock-Huessy (1958): Die Vollzahl der Zeiten, Soziologie in 2 Bänden, Band 2:, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, S. 218. 34 Eugen Rosenstock-Huessy (1956): Die Übermacht der Räume, Soziologie in 2 Bänden, Band 1, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, S. 160. 32

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Die fatale Konsequenz dieses Verlustes hat Ludwig Landgrebe wie folgt umrissen: »Die metaphysische Erkenntnis des höchsten Seins hört auf, getragen zu sein von der Gewissheit des Du im Verstehen, das als ein totales Verhalten mehr ist als bloßes Erkennen. Verlorengegangen ist der Augustinische Gedanke der unmittelbaren Gewissheit in der Anrede des Du, die Glauben und Wissen einte«35. Die Lektüre der Schriften von Augustinus, die Eugen RosenstockHuessy dazu aufruft, hat den einzigen Sinn, die von René Descartes vollzogene Trennung von Glauben und Wissen aufzuheben. In dieser Trennung vollzieht sich ein Wissen, ein Erkennen, das von einer in sich geschlossenen Ich-Tätigkeit getragen wird. Die Sprache ist in diesem Sinne nicht mehr als ein ›Sprechen zwischen uns‹ und als ein Existenzverstehen aufzufassen; sie ist bloß ein Instrument eines nur subjektiv vorausgesetzten Ich-Aktes von Welterfahrung. Die Grundbefindlichkeit der existentiellen Welt­ erfahrung ist keine reine Ich-Angelegenheit, sie situiert sich im wechselseitigen Geschehen des Sprechens zwischen Hörer und Sprecher; mithin zwischen einem Ich und einem Du. In ihrer Ablehnung des Idealismus sind Eugen RosenstockHuessy und Franz Rosenzweig geistesverwandt, obwohl ihre reli­ giösen Quellen – aus denen sie schöpfen – different sind. Radikal und mit großer Verve hat Franz Rosenzweig dem idealistischen Denken einen kranken Menschverstand attestiert, weil es »alle Symptome von akuter Apoplexia philosophica« aufweist, die selbst durch »die unheilvolle Wirkung der Impfung mit Kriticin«36 nicht zu heilen ist. Dieses Attest ist eindeutig gegen René Descartes Terminus vom ›Gesunden Menschenverstand‹ gerichtet, der im Grunde nichts anderes verfolgt als ein Denken nach rationalisti­ schen Prinzipien. Die Philosophie – so Franz Rosenzweig – sei eben »die Bundesgenossin des erkrankten Verstandes«37. Bis zur Philosophie René Descartes datiert Franz Rosenzweig seine Dia­ Ludwig Landgrebe (1963): Der Weg der Phänomenologie. Das Problem einer ursprünglichen Erfahrung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, S. 80. 36 Franz Rosenzweig (2018): a. a. O., S. 57. 37 Ebd., S. 94.

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gnose zurück. Gegen den Ich-Monismus polemisiert er vehement an: »Armer Tor, der du fühlst, daß dein Ich, wie es dich in dir spiegelt, nur selbstbetrügerischer Betrug sein kann, nun bläst du es bis zu den Wolken auf, bis es zu groß ist, um noch für deinen Betrug durchzupassieren […]«38. Dieses »Riesenich« will »lieber den Weltherrscher im Exil spielen als euer Haus verwalten«39. Dabei ist es nur »ein Stück Welt, ein losgelöstes Stück Welt […] weiter nichts«. Dieses Stückchen Welt will sich – so der idealistische Traum vom Subjekt – »zum Gesetz der Welt ernennen«, obwohl es doch nur »ein graues Nichts um Schatten«40 ist. So weit, mit fast polemisch formulierten Grenzgängen von ausgeführten Gedankensplittern, geht die resolute Ich-Absage von Franz Rosenzweig in seinem Büchlein ›Vom gesunden und kranken Menschenverstand‹. Grundsätzlicher jedoch ist die Absage an das idealistische Denken in seinen gesammelten Schriften, in denen sein Hauptwerk ›Der Stern der Erlösung‹, besonders im 2. Teil, das ›Neue Denken‹, entfaltet und begründet, zu finden ist. Ausgehend von der existentiell aufgeworfenen Frage nach dem Sinn des Seins des Menschen bezweifelt Franz Rosenzweig, dass diese Frage allein durch das Denken zu beantworten ist. Die philosophische Frage nach der Welt geht von der zeitlosen Frage aus: ›Was ist‹ bzw. ›was ist alles‹? Diese offensichtliche Fragwürdigkeit von Welt und Mensch hat die Philosophie von Parmenides bis Wilhelm Friedrich Hegel bestimmt. Die Antwort suchte man durch den Primat des Denkens zu lösen: »Immer wieder lief doch das Denken den Abhang der gleichen Frage, was die Welt sei, hinan; immer wieder wird an diese Frage alles andere etwa noch fragwürdige angeschlossen; immer wieder endlich wurde die Antwort auf die Frage im Denken gesucht«41. Damit wird das Sein, das doch einer existenzieller Beantwortung durch den Menschen bedarf, Ebd., S. 81. Ebd., S. 82. 40 Ebd., S. 83 und 84. 41 Franz Rosenzweig (1976/1984): Der Mensch und sein Werk, Gesammelte Schriften, Band 2, Den Haag-Dordrecht, S. 6.

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auf die philosophische Grundfrage: ›Was ist?‹ zurückgebunden, sodass das Sein nur als Gedachtes erscheint bzw. bestimmbar ist – bestimmbar deshalb, weil in den »Ist-Sätzen ein Zwang für das Prädikat«42 vorherrscht. Dieser Zwang jedoch zielt darauf, dass die Frage nach dem Sein, der existentiellen Wirklichkeit, in feststehen­ den Wesens-Aussagen enden soll. Ist-Aussagen gehen von einem Kausalnexus von Denken und Sein aus, der die existentielle Welt­ erfahrung im Lichte der dritten Person, also der Es-Kategorien, übersetzt. Das philosophische Denk-»System ist die Welt in der Form der dritten Person«43 bzw. nur als die Form der Objektivierung gegeben. Hinter der Frage: ›Was ist?‹ lauert aber das Nicht-Sein, das Nichts, was den Menschen in seiner Todeserfahrung elementar aufruft, sich zur vorfindlichen Welt existentiell zu verhalten. Man kann sich bewusstlos dieser Nichtigkeit überlassen oder aber man kann die Welt in ihrer Fülle, in ihrer Schöpfung ›bejahen‹, indem man die Welt durch die Sprache des Menschen als menschliche erst eröffnet (Franz Rosenzweig benutzt hier den religiösen Begriff der Offenbarung!) bzw. zugänglich macht. Die Erfahrung von Welt ergibt sich in der Sprache, und zwar so, dass sie als unmittelbar evidente Erfahrung sich zeigt, und so das Leben als ein Existieren bezeugt. Dies heißt, dass die Wirklichkeit der Welt nicht mehr durch eine Behauptung, durch eine denklogisch abgesicherte ›IstForm‹ bestimmt ist. Die untrügliche Gewissheit, die sich in der Weltbejahung kund tut, lautet: Die Welt ist anzunehmen. Vor aller Erfahrung von Welt trägt die Welt das Signum, dass sie – vor dem Hintergrund des Nichts – existentiell lebenswert, dass sie als ein Wert des Existierens zu ›bejahen‹ ist. Warum dies so ist, begründet Franz Rosenzweig mit dem Schöpfungsgedanken der Welt, der sich vorgängig durch das Urphänomen Gott begründet. Welt, Mensch und Gott sind die drei Urphänomene, die erst, wenn man sie in ihrer gegenseitigen Verweisung durchbuchstabiert, erahnen lassen, was der Vernunft entgeht: dass sie elementare Existenzgrößen sind, die Franz Rosenzweig (2018): a. a. O., S. 79. Franz Rosenzweig: (1976/1984): a. a. O., Gesammelte Schriften, Band 3, S. 130. 42

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jeder objektiven Fixierung widersprechen. Man kann von ihnen sprechen, sie durch die menschliche Sprache ausdrücken, ohne sie als reines Wissen, als Denkgewissheiten, festzuschreiben. Dies betrifft vor allem die Existenz, das Dasein des Menschen, denn: »Das Sein des Menschen selbst ist das Allerfragwürdigste […]«, denn es ist kein »gewußtes, allgemeines Sein«44. Es ist eine Existenzform, deren Besonderheit sich zu allererst im Namen (und nicht etwa im Begriff!) ›Mensch-Sein‹ ausdrückt. Will man Mensch und Welt in ihrem bejahenden Charakter verstehen, so muss man auf das Sprechen des Menschen zurückge­ hen. In ihr, der Sprache als ›Anrede‹, nicht etwa als Zeichensystem, nicht als syntaktisches System von Wort zu Wort-Verbindungen, vollzieht sich jeweils immer wieder das Ereignis, das Geschehen einer im wechselseitigen Sprechen aufschließbaren Wirklichkeit wie auch ihrer jeweiligen Neuschöpfungen. Der Mensch – so die Grundbestimmung von Franz Rosenzweig – vollzieht den Eintritt in seine Existenz nur durch die Sprache als ein wechselseitiges Geschehen des Sprechens. Daher auch das Diktum: »Die Sprache [ist] das Organ der Existenz«45. Wie dieses Organ beschaffen ist, wie es – bezogen auf das Du-Bewusstsein – begründet ist, soll das Kapitel zu Franz Rosenzweig aufzeigen. Zunächst soll aber die phi­ losophische Vorgeschichte der Du-Kategorie dargestellt werden.

Franz Rosenzweig (1976/1984): a. a. O, Band 2, S. 67/68. Stéphane Mosès (1983): System und Offenbarung, Die Philosophie Franz Rosenzweigs, Wilhelm Fink Verlag, München, S. 94. 44 45

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»[…] denn ohne Du, ist das Ich unmöglich«. (Friedrich Heinrich Jacobi)

Gegen die Ichzentrierung im idealistischen Denkkorpus gab es bereits erste Versuche, die Du-Kategorie ins Spiel zu bringen, sie als eigenes Korrelat zum Ich zu setzen. Diese Versuche lagen jedoch alle noch im gedanklichen Umkreis des Idealismus. Friedrich Heinrich Jacobi hatte schon im ausgehenden 18. Jahrhundert die Denkperspektive eines Aufbrechens der Ichzen­ trierung im deutschen Idealismus eröffnet. In seinem Brief an Mendelsohn, in dem er sich zu seiner Spinoza-Lektüre äußerte, formulierte er – geradezu apodiktisch: »[…] ohne Du ist das Ich unmöglich«46. Er setzt dabei auf eine Erfahrung, die das Ich vom Anderen nur haben kann mittels der sinnlichen Evidenz. Diese ist jedoch im unmittelbaren Gefühl, im rein subjektiven Empfinden, das dem reinen Vernunftdenken überlegen ist, gegeben. Das Ich muss nur die Sinne öffnen: »Ich öffne Aug´ und Ohr, ich strecke meine Hand aus und fühle im demselben Augenblick unzertrennlich: Du und Ich«47. Für Friedrich Heinrich Jacobi war das transzendental begründete Subjekt Immanuel Kants immer eine schiefe Denk­ bahn, die den Nihilismus vorbereitete. Er bezeichnete diese Art

46 Friedrich Heinrich Jacobi (1812/1825): Briefe über die Lehre des Spinoza, Werke, 6 Bände, (Hg.) F. Köppen/ F. Roth, Leipzig, S. 211. 47 Friedrich Heinrich Jacobi (1812/1825): Schriften, Werke 6 Bände, Band 1. (Hg.) F. Köppern/ F. Roth, Leipzig, S.

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der Philosophie auch als »Kothphilosophie«48, um damit deftig den psycho-analen Untergrund dieser Philosophie zu markieren. Die Krux dieses Versuchs, das Du des Anderen begründen zu können, liegt aber in einem Fehlschluss. Die Erfahrung des perso­ nalen Dus des Anderen wird nämlich so unterschiedslos zu jedem anderen Objekt der Welt. Nicht nur, dass Friedrich Heinrich Jacobi das sprachliche Geschehen, das Angesprochen-Werden durch ein Du völlig ausgeblendet hat; er hat dem Du auch keine originäre Qualität zugesprochen, außer derjenigen, dass das Ich irgendwie auf ein Du verwiesen bleibt. Darum auch die Kritik: »Das genuine Du-Problem kommt deshalb bei Jacobi kaum zu seinem Recht«49. Ohne auf Friedrich Heinrich Jacobi zu rekurrieren, hat Ludwig Feuerbach die sinnliche Präsenz des Anderen, des Gegenübers, für das Ich-Du-Verhältnis zum Ausgangspunkt seiner philosophi­ schen Anthropologie gemacht. Dies hat ihm den Vorwurf einer sensualistisch-naturalistischen Theorie eingebracht. Erst Martin Buber hat das sinnliche Empfinden des Dus in der Schrift Ludwig Feuerbachs ›Grundsätze der Philosophie der Zukunft‹ rehabili­ tiert: Er, Ludwig Feuerbach, habe »jene Du-Entdeckung eingeleitet, die man ›die kopernikanische Tat‹ des modernen Denkens […] genannt hat«50. Zunächst jedoch liegt bei Ludwig Feuerbach eine starke Ablehnung der idealistischen Philosophie vor. Er nimmt damit die antiidealistische Kritik des ›Neuen Denkens‹ der Dialogphiloso­ phen vorweg: »Wenn die Philosophie sagte: Nur das Vernünftige ist das Wahre und Wirkliche, so sagt dagegen die neue Philosophie: Nur das Menschliche ist das Wahre und Wirkliche«51. Das Denken

48 Friedrich Vollhardt (1989): Friedrich Heinrich Jacobi: Metzler Philosophen Lexikon, J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, S. 389. 49 John Cullberg (1933): Das Du und die Wirklichkeit. Zum ontologischen Hin­ tergrund der Gemeinschaftskategorie, Uppsala, ohne Verlagsangabe, S. 25. 50 Martin Buber (1962): Das Problem des Menschen, Werke, Band I, München/ Heidelberg, S. 342. 51 Ludwig Feuerbach (1967ff.): Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Gesam­ melte Werke, (Hg.) W. Schuffenhauer, 21 Bände, Band 9, § 51.

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3. Vorläufer eines Du-Bewusstseins

allein garantiert für ihn nicht die Erfassung des Wirklichen; es muss von der sinnlichen Anschauung ausgehen, um das Wirkliche in seiner Sinnlichkeit zu entschlüsseln: »Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinne gegeben – nicht durch das Denken für sich selbst«52. Ludwig Feuerbach unterläuft die Kantische Syn­ these von Sensualismus und Rationalismus, ohne aber in beiden Denkansätzen hängen zu bleiben oder eine vermittelnde Position aufzubauen. Für ihn sind nicht die sinnlichen Daten allein das Ausschlaggebende, sondern der Ausgangspunkt, der nicht zuerst das Bewusstsein, das menschliche Leben bestimmt, eher wirkt sich das sinnliche Leben auf das Bewusstsein aus. Diese, seine Grund­ these, hat auch dazugeführt, die Philosophie Ludwig Feuerbachs als Ansatz einer materialistischen Anthropologie einzustufen, auf die Karl Marx dann ökonomiekritisch eingestiegen ist. Ludwig Feuer­ bach ging immer vom Wesen des Menschen als einer Ganzheit aus, mithin ein Wesen, in dem sich Verstand, Gefühl und Wille gleicher­ maßen verbinden und ausdrücken: »Was ist das Wesen des Men­ schen? Vernunft, Wille, das Herz«53. Dies alles würde aber immer noch einer Subjekttheorie zusprechen bzw. sich von ihr nicht gänz­ lich abwenden, denn die vorgenannte Wesensbestimmung trifft allemal auf das Einzelwesen ›Mensch‹ zu. Daher plädiert Ludwig Feuerbach auch für die gemeinschaftliche Natur des Menschen, die sich nur begründet durch das elementare Verwiesen-Sein auf den Anderen bzw. die anderen. Ganz gegen die Hegelsche Philosophie gerichtet, heißt es deshalb: »Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du«, denn »nur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen«54. Obwohl Ludwig Feuerbach bereits die sprachgebende Beziehungsstruktur der späteren Dialogphilosophen vorweg nimmt, wurde von ihm Ebd., Band 5, § 32. Ludwig Feuerbach (1967ff.): Das Wesen des Christentums, Gesammelte Werke, (Hg.) W. Schuffenhauer, 21 Bände, Band 5, S. 30. 54 Ludwig Feuerbach (1967ff.): Grundsätze der Philosophie der Zukunft, a. a. O., S. 330 und 345. 52

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deren Programmatik eines ›Neuen Denkens‹ (siehe nachfolgende Kapitel!) noch nicht aufgenommen oder vorausgesehen. Dafür waren die Argumentationen Ludwig Feuerbachs zu religionskri­ tisch, dass sich etwa Martin Buber oder gar Eugen RosenstockHuessy auf dessen Idee einer sinngebenden Konnexion von Ich und Du eingelassen hätten. Jedoch bereits sehr früh wurde auf die philosophische Bedeutsamkeit des Ich-Du-Empfindens bei Ludwig Feuerbach hingewiesen: »Ist mir das Entgegenstehen ein bloßes Nicht-Ich, so verhalte ich mich hochmütig […] und vertraue auf meine eigene Denktätigkeit. Das Du ist jedoch eine Wirklichkeit, die nicht von mir gesetzt werden kann […]; sie ist trotz der vertraulichen Nähe transzendent […]55. Ludwig Feuerbach hat den impliziten Egoismus des ichzentrierten Idealismus wahrgenommen, aber nicht konsequent als Strukturprinzip im Verhältnis von Du und Ich ausgelotet. Er war zu sehr an dem Entfremdungsphänomen des Menschen von seiner wahren Natur interessiert, sodass er später­ hin sogar ein leibgebundenes Denken zu begründen versuchte. In die Reihe der philosophischen Vorläufer für die Bezie­ hungsweise von Ich und Du gehört auch Wilhelm von Humboldt. Er sah in der Erforschung der Geschichte der Sprachen, deren kulturellen Ausdrucksformen und der Struktur der Sprache, seine eigentliche Lebensaufgabe. Für ihn war die Sprache das eigentliche Medium des menschlichen Denkens. So heißt es in seinem Text ›Über die Kawisprache‹ (eine Sprache auf den Inseln Javas!), dass die Sprache das bildende Organ des Gedankens sei. In einem Brief an Georg Forster schreibt er, dass nicht nur die Bildung des menschlichen Geistes eine individuelle Verpflichtung sei, sondern auch, dass durch die sprachliche Bildung der Mensch auf jedes andere ›Du‹ wirken solle. Erst in seinen Studien zur ›Vergleichenden Sprachwissen­ schaft und Sprachphilosophie, die Verschiedenheit des menschlichen

Gerhard Schmidt (1983): Einleitung, Grundsätze der Philosophie, Verlag Klos­ termann, Frankfurt/M., S. 23; (Zitiert nach: Fr. A. Lange: Geschichte des Mate­ rialismus. Leipzig, ohne Jahr und Verlagsangabe).

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Sprachaufbaus‹ und ›Über den Dualis‹56 hat er die Besonderheit der Du-Kategorie herausgestellt, insbesondere anhand des Begriffs des ›Dualis‹ näher begründet. Grundsätzlich ist es so, dass es eine Du-Notwendigkeit gibt, da nur aus ihr die gesellige Natur des Menschen zu verstehen ist; sie ist »nicht aus dem bloßen Bedürfnis abzuleiten«57. Selbst das subjektive Denken ist wesent­ lich an das gesellschaftliche Dasein gebunden. Das Du ist nicht der unbestimmte Andere, etwa für das Ich nur als ein bloßes Nicht-Ich vorhanden. Das Du ist zwar dem Ich gegenübergestellt, aber es unterscheidet sich von einer reinen Objektwahrnehmung. Diese löst nämlich nicht wie etwa das Du »tiefere und edlere Gefühle«58 im Individuum aus, da es an der gegenseitig gefühlten Einwirkung auf das jeweilige Selbst fehlt. Es gehört zur Sehnsucht des Menschen, des Individuums, dass der Andere, der Gegenüber, auf seine Weise auf das Ich zurückwirkt. Dies auch und gerade im Denken: »[…]der Mensch sehnet sich, abgesehen von allen körperlichen und Empfin­ dungsbeziehungen, auch zum Behuf seines Bloßen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du […] durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft«59. Dieses beidseitige ›Zurückstrahlen‹ von Ich und Du ereignet sich in der Sprache; sie ist die wahre Vermittlerin von Denkkraft zu Denkkraft. Der ›Dualis‹ ist bei Wilhelm von Humboldt die maßgebliche Kategorie, um das Wech­ selwirkungsverhältnis von Ich und Du begrifflich auszuweisen. Der ›Dualis‹, obwohl nicht in allen Sprachen vorfindlich, denn, »die Stammsprachen, welche den Dualis in sich aufgenommen haben«,60 sind nicht sehr viele. Hinzu kommt, dass der ›Dualis‹ als zweites Personalpronomen in einigen Sprachen differenzlos mit dem Pluralis, d. h. dem Wir, gleichgesetzt wird und so mehr 56 Vgl. herzu: Wilhelm von Humboldt (o. Jahresangabe): Schriften zur Sprache, Textauswahl, Verlag Zweitausendundeins, Frankfurt./M. 57 Wilhelm von Humboldt: a. a. O., Vergleichende Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, S. 175. 58 Wilhelm von Humboldt: a. a. O., Über den Dualis, S. 131. 59 Ebd., S. 129. 60 Ebd., a. a. O., S. 122.

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das Gemeinschaftliche anstatt die Zweiheit meint. Erst, wenn der ›Dualis‹ den »allgemeinen Begriff der Zweiheit, von dem er ausgeht«61 erfüllt, wird er der wahre ›Dualis‹, »wo die Sprache auf die Zweiheit der Wechselrede ruht«. In ihm ereignet sich »die Mög­ lichkeit des Sprechens selbst […] durch Anrede und Erwiderung«62. Der ›Dualis‹ ist bei Wilhelm von Humboldt die Dialogstruktur, in der die pronominale Unterscheidung von erster, zweiter und dritter Person wirksam wird. Der ›Dualis‹ ist deshalb auch »kein Luxus und Auswuchs der Sprachen«63, vielmehr ein »Abdruck des Geistes und der Weltsicht der Redenden«64. In ihm kommt die elementare Differenz zwischen der Beziehung zwischen den Subjekten, aber auch der Beziehungsweise zur Objektwelt zur Geltung. In der ersteren Form kommt nämlich eine wechselseitige Wirksamkeit »gemeinsamen Handelns«65 zum Tragen, während die Objektbezie­ hung im Modus des primär erkennenden Erfassens im äußeren Weltzugang liegt. Die Frage ist nun, inwieweit das Ich gegenüber dem Du, auch wenn sie jeweils mit ihrer Denkkraft aufeinander ›zurückstrahlen‹, dennoch die Priorität hat. Wilhelm von Humboldt hat, ganz in der Tradition des Idealismus, das Wesen des Ichs in Form seines existierenden Bewusstseins von sich selbst gesehen. Das Ich ist die Instanz einer Individualität, die es nach Wilhelm von Humboldt zu bilden gilt. Das Du, welches sich im Modus der Geselligkeit ereignet, bildet den gesellschaftlich notwendigen Appendix, um das Soziale zwischen den Menschen einzuleiten und festzuschrei­ ben. Das Du – im Gegensatz zu den Weltobjekten – wird innerlich empfunden, geht aus der Bedürftigkeit des Ichs letztlich hervor. So bleibt es bei einer maßgeblichen Differenz: »Das Ich im Selbst­ Ebd., S. 123 und 128. End., S. 129. 63 Ebd., S. 132. 64 Ebd., S. 128. 65 Wilhelm von Humboldt: Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, a. a. O., S. 176. 61

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gefühl, das Du in der eigenen Wahl, da hingegen alles, was sich unter der dritten Person steht, nur wahrgenommen, gesehen, gehört, äußerlich gefühlt wird«66. Das Du ist frei gewählt vom Ich, es tangiert das Ich in seinem Selbstgefühl insoweit, dass das Du zum Statthalter für die Verstärkung des Ichs herhalten muss. Im Ich liegt aber keine Spaltung zwischen Objektwahrnehmung und Du-Wahrnehmung vor. Eher ist es so, dass die Eigenwelt des Ichs hin und her oszilliert zwischen den faktischen Objektbestimmun­ gen, die das Ich zur Selbstorientierung vornimmt, und dem in der Wechselrede zwischen Ich und Du erforderlichen, gemeinsam abgestimmten Handlungsvollzug, um einvernehmlich über diese Objektwelt zu verfügen. Bei der Konstruktion der Wechselrede hat Wilhelm von Humboldt bereits die Vorlage geliefert, die in zweifacher Weise gewirkt hat: einerseits in Form der modernen Dialogphilosophie, die die sprachliche Struktur der Wechselrede herausgestellt hat, andererseits in Form des kommunikativen Handelns, wie es als konstitutives Element für soziale Verständigungsprozesse gegen­ wärtig von Jürgen Habermas prominent in die intellektuelle Szene gesetzt wird. Die Dialogphilosophie hat sich – so Martin Bubers Eingeständnis – u. a von der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts anregen lassen. Der sprachtheoretische Ansatz der Wechselrede bei Wilhelm von Humboldt ist jedoch für Martin Buber nicht mehr so, dass das Du für das Selbstbewusstsein des Ichs notwendig ist, wie es der Text über den ›Dualis‹ ausführt. Bei Martin Buber erscheinen Ich und Du als wechselseitige Relata einer Sozialontologie, mithin eines Seinsmodus der menschlichen Beziehung, die im ›Zwischen‹ liegt. Insofern hat Martin Buber die Anregung durch die Schriften Wilhelm von Humboldts hinter sich gelassen, wenn nicht gar überstiegen. Das Du bei Wilhelm von Humboldt wird noch als notwendige Ergänzung des Selbstgefühls des Ichs, seiner Individualitätsbildung, aufgefasst; aber die Mög­ lichkeit einer originären Du-Qualität wird außer Acht gelassen. Gerade dies versuchen aber m. E. die nachfolgend rekonstruierten 66

Ebd., S. 180.

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Denkansätze der sogenannten Dialogphilosophen, die mit ihrem Ansatz des ›Neuen Denkens‹ jede Form der Ichzentrierung konse­ quent infrage gestellt haben.

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4. Franz Rosenzweig: Das Ich als »BeimNamen-Gerufenen«

»Ich fange deshalb an zu sprechen, weil ich den Anruf erfahre: Sei!« (Franz Rosenzweig)

Mit dem Werk Franz Rosenzweig ist ein Du-Bewusstsein gege­ ben, das philosophisch sehr ambitioniert ist und im Umkreis der Dialogphilosophen sich durch das immense Verständnis Franz Rosenzweigs über die Denksysteme des deutschen Idealismus, vor allem Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Immanuel Kants, aus­ zeichnet. Die Gedankenführung ist bei Franz Rosenzweig »streng und in sich geschlossen« […], was sie vom Werk Martin Bubers, das »farbig und bunt«67ist, erheblich unterscheidet. Maßgeblich sind es – neben seiner antiidealistischen Kritik – zwei zentrale Argumentationslinien, die das Werk Franz Rosen­ zweig durchziehen: zum einen der Gedanke des Todes und damit das Endlichkeits-Bewusstsein des Menschen und zum anderen die Überwindung der tragischen Einsamkeit des ichbezogenen Menschen durch den Glaubensakt. Ersteres zielt auf den Gedanken, dass die Erfassung der Welt­ tatsachen nicht mehr zeitlos, nicht mehr ohne die Täuschung eines Begriffs ist, der dem Etwas in der Welt ein zeitloses Wesen zuweist. Die ›Was-ist-Frage‹ fördert keinesfalls ein Etwas und dessen Wesensbestimmung heraus, vielmehr ist sie ein »Brückenbogen, den sichtbaren, vom Menschen hinüber in das, was nicht er ist, in das

67 Bernd Caspar (2002): Das Dialogische Denken, Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber, Alber Verlag, Freiburg/München, S. 63.

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4. Franz Rosenzweig: Das Ich als »Beim-Namen-Gerufenen«

›andere‹, die Sprache«68. Da Sprache ein wechselseitiges Sprechen, ein Geschehen der Anrede durch das Namengeben ist, so ist die Etwas-Frage eingestellt auf das menschliche Leben, den zeitlichen Strom »in der Bewegung, in der der Menschen Leben, statt zu ›sein‹, geschieht«69. Das Sein ist keine letzte, in sich ruhende Instanz, es ist eine Zeitigung des Menschen in seiner Lebenswirklichkeit. Als auf Endlichkeit bezogene Zeitlichkeit jedoch ist sie das andere der Todeserfahrung: Sie ist kein Abgrund vor dem Tod, eher die Bejahung von Welt und Mensch durch das Sprechen von und über beides zugleich. Gegen die Gewissheit eines denkenden Ich-bin setzt Franz Rosenzweig die endliche Zeitlichkeit dessen, der im Leben steht und den Welttatsachen noch Namen gibt. Was die Endlichkeits­ einstellung betrifft, auf die Franz Rosenzweig abhebt, hilft viel­ leicht die kleine Erzählung, die Victor Hugo geliefert hat. Diese Erzählung ›Der letzte Tag eines Verurteilten‹ verdeutlicht, was die cartesianische Formel von ›Ich denke, also bin ich‹ umgeht: das Zeitbewusstsein des Verurteilten. Der anwesende Priester fragt den Verurteilten, bevor dieser den Fuß auf das Schafott setzt: »Nun, was denken Sie denn?«. Daraufhin antwortet der Verurteilte:»Ich denke […], dass ich heute Abend nicht mehr denken werde«70. Der nahe Todesgedanke hat das Existenzbewusstsein des Verurteilten so ergriffen, dass er sich nur noch auf die verbleibende Zeit des Existierens beziehen kann. Das Zweite, die Überwindung der tragischen Einsamkeit des Ich-Sagens, geschieht einzig im Glauben. Damit ist keine naive Anrufung eines gütigen Gottes oder gar das kirchliche Abziehbild, die ewige Oblate des personalisierten Gottes, gemeint. Davon ist Franz Rosenzweig weit entfernt. So wie die Namen ›Welt‹ und ›Mensch‹ letztlich keine Dingwörter von etwas sind, also begrifflich fixierbare Wesenheiten, die als Objekte in Erscheinung treten, so Franz Rosenzweig (2018): a. a. O., S. 87. Ebd., S. 86. 70 Victor Hugo (1945): Der letzte Tag eines Verurteilten, Verlag Birkhäuser, Basel, S. 63. 68

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4. Franz Rosenzweig: Das Ich als »Beim-Namen-Gerufenen«

ist gleichfalls Gott ein Name, wie der Eigenname jedes einzelnen Menschen. Was Welt, Mensch und Gott gemeinsam haben, was sie zum Anruf befähigt, ist ihre Namensfähigkeit ohne wesenhafte Trägerschaft zu sein: »Zwar daß der Gottesname ebenso wenig wie der Eigenname oder das bezeichnende Wort selber etwa sein Träger ›ist‹, das haben alle dreie gemein«71. Für den Menschen, den Einzelnen, ist der Eigenname, bei dem er gerufen wird, einzig die Bezeugung seiner Existenz, seines Daseins in der Welt. Gott jedoch »hat seinen Namen nicht, um gerufen zu werden; es bedeutet für ihn nichts, daß man ihn ruft, er gehört genauso dem, der ihn mit andern Namen oder im namenlosen Schweigen ruft. Aber wir, wir müssen ihn nennen. Er hat seinen Namen um unsretwillen, daß wir ihn rufen kön­ nen.«72. Dies ist keine Verpflichtung, kein biblisches Gebot: Es ist die Nennung eines Urphänomens, damit wir, d. h. die Menschen, für sich und die Welt eine existentielle Orientierung haben, weil sonst nur das blanke Nichts bleibt. Franz Rosenzweig übersetzt Offenbarung (allein durch die Sprache möglich!) als existentielle Orientierung. Das Wort bzw. der Name Gott ist beides »Name und Wort zugleich«, denn: »Soweit er Name ist, finden sich unter ihm die Menschen mit ihren von Haus aus verschiedenen Namen zusammen; soweit er Wort ist, gibt er den Dingen den Anstoß zu Ordnung und Verflechtung […]«73. Die Doppelnennung Gottes verleiht Welt und Mensch den Glauben, um sich und die Welt zu ›bejahen‹. Glauben ist im Sinne Franz Rosenzweigs die Weise, dass »der Mensch menschlich bleibt«, dass er nicht verweltlicht, verdinglicht, verorganisiert werden soll«74. Der Glaube unter dem Namen Gottes ist ein Existenzial des Menschen. In ihm legt er sich selbst, die Welt und Gottes Schöpfung insgesamt aus. Das Mittel hierfür ist die Sprache, da sie ein Schöpfungsgeschehen von Anfang an war und

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Franz Rosenzweig (2018): a. a. O., S. 101. Ebd. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103.

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4. Franz Rosenzweig: Das Ich als »Beim-Namen-Gerufenen«

ist. Im weltlichen Sinne hat Eugen Rosenzweig-Huessy das Spre­ chen einmal als »etwas in der Welt hervorbringen«75 bezeichnet. Nun wurde bereits ausgesagt, dass Franz Rosenzweig die Sprache als einen wechselseitigen Sprechvorgang versteht. In die­ sem, dem Sprechvorgang, liegt eine Kraft, weil mit ihm etwas zu benennen ist, was in der Welt existiert oder vorgeht und so nur für den Menschen in Erscheinung treten kann. Der Name ist dasjenige, was dem Etwas in der Welt durch den Sprechvorgang einen wahren, auf den Menschen bezogenen Gehalt gibt. Auf die Frage, was die Sprache im Gegensatz zum Denken ist, heißt es deshalb: »Das einzige, was sie sein kann, wenn die Welt Etwas ist und es also noch anderes gibt und dies andere doch nicht etwas das Wesen der Welt ist […]. Welcher Platz bleibt denn dann noch für die Sprache?, da es ihr anders, als etwa dem ›Denken‹, verwehrt ist, sich einzureden, sie sei selber das ›Wesen› der Welt. Es bleibt ihr nur das eine: Brücke zu schlagen zwischen der Welt und dem andern. Und das tut sie«. Ihre ausschließliche Funktion ist es, »ihr bloß Namen« zu geben, denn dies ist seit altersher ihre adamitische Tat. Mit dem Namen, mit dem Wort »hat der Mensch das Zeichen seiner Anwesenheit gesetzt. Das Wort ist nicht ein Teil der Welt. Es ist das Siegel des Menschen«76. Das Namenstheorem bei Franz Rosenzweig begründet sich als ein ›weltbejahendes‹ Übersetzen der Welt, ihrer Sachverhalte, strikt zum Menschen hin. Der Name ist nicht der Begriff, die Bezeich­ nung der Dinge, denn diese entspringen nicht der schöpferischen Kraft des Namengebens. Der Name der Dinge ist zu allererst die Verleihung eines Eigennamens, weil »einmal genannt, haften sie am Ding«77. Dieses Zitat könnte immer noch als reine Bezeichnung verstanden werden. Die Namensgebung jedoch, ihre adamitische Herkunft, verweist auf den ursprünglichen Schöpfungsvorgang, der mittels der Sprache Mensch und Welt in eine existentielle Daseinsbeziehung setzt: »Die Sprache läßt nichts in der Welt ohne Menschen-, ohne Gottesspur. Nun hat jedes Ding seinen Zusammen­ 75 76 77

Eugen Rosenstock-Huessy (1952): a. a. O., S. 51. Ebd., S. 73. Ebd., S. 75.

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4. Franz Rosenzweig: Das Ich als »Beim-Namen-Gerufenen«

hang aus dem Etwas der Welt heraus. Es ist nicht Schein«78. Die Namenstheorie Franz Rosenzweigs, insbesondere sein Theorem des Eigennamens, ist dasjenige, was die Welt als immerwährenden Schöpfungsvorgang plausibel macht. Mit dem Eigennamen wird das Recht, besser noch, das Gebot auf die Einzigartigkeit jedes Dings in der Welt festgeschrieben. Wie wirkt sich nun dieses Theorem des Eigennamens auf die Ich-Du-Beziehung zwischen den Menschen aus? Wird es durchge­ halten oder verflüchtet es sich so, dass das Ich in der Namensge­ bung die Oberhand behält? Die elementare Funktion der Sprache, ihre schöpferische Kraft, kommt immer dann zum Vorschein, wenn sie gesprochen wird; nicht als ein einsamer Akt, sondern als ein Sprechen zwischen den Menschen. Dieser Gedanke hat unmittelbar dazu geführt, die Gedankenwelt Franz Rosenzweigs der Dialogphilosophie zuzuschlagen bzw. mit dieser Philosophie zu verrechnen. Dass sich das Sprechen als eine Wechselrede, als Ereignis von Satz zu Satz zeigt, verweist zunächst auf das Ich, das sich an dem Anderen als Gesprächspartner zuwendet. Da aber das Ich aus sich heraustreten muss, um sich an ein Du zu adressieren, ist zunächst auf die Wechselseitigkeit des Sprechens hingewiesen. Der Gedanke einer Symmetrie der Dialogpartner ist somit gegeben. Andererseits gibt es die vorausgehende Funktion der Verlei­ hung des Eigennamens, der im Anruf des jeweils Anderen liegt. Die sich in der Wechselrede, im Dialog, ausdrückende Symmetrie hat von daher eine Voraussetzung, die m. E. nicht mehr beim Ich zu verorten ist. Der Anruf als Eröffnung der Wechselrede liegt nämlich bereits beim Du, welches das Ich zum Heraustreten aus sich selbst herausfordert. Beide, Ich und Du, haben zwar keine Macht über das Gespräch, aber indem das Du mittels Nennung des Eigennamens den jeweils Anderen anruft bzw. zum Sprechen auffordert, bleibt das Du primär: Es, das Du, ist letztlich der Urheber der Wechsel­ rede, denn der Anruf ist die Ur-Aktion der Wechselrede.

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4. Franz Rosenzweig: Das Ich als »Beim-Namen-Gerufenen«

Jedem ›Ich‹ geht immer die existentielle Frage voraus: ›Wo bist Du?‹. Nicht als Frage »nach dem Wesen des Du«, eher als ein vorlaufender Akt des Einzelnen in Form der Entdeckung des eigenen Ichs: »Das Ich entdeckt sich in dem Augenblick, wo es das Dasein des Du durch die Frage nach dem Wo des Du behauptet«79. Der Anruf ist keine faktische Anrede; er ist auch dort, wo das Du nicht unmittelbar gegenwärtig ist; der Anruf ist eine ständige Aufforderung. Warum Aufforderung? Weil mit der Frage ›Wo bist Du?‹ zugleich das existentielle Gebot gegeben ist: ›Sei!‹. Dies besagt die elementare Aussage: »Mit dem ersten Du ist die Schöpfung des Menschen fertig«80. Wiederum ist die Entstehung des Ichs vom Du aus gedacht. Eine dialogische Ausweisung der Schriften Franz Rosenzweigs insistiert auf das Geschehen der Wechselrede, vernachlässigt aber die Primordialität, das ursprüngliche Seiende eines anrufenden Dus. Das Ich ist allemal ein Geschöpf vom Du her gesetzt. Bei Franz Rosenzweig zwar religiös begründet, jedoch in weltlicher Hinsicht durch den Akt der Verleihung des Eigenamens gegeben.

Franz Rosenzweig (1988): Der Stern der Erlösung, Suhrkamp Verlag, Frank­ furt./M., S. 195. 80 Franz Rosenzweig (1976): Gesammelte Schriften; Band I, Den Haag-Dor­ decht, S. 471. 79

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5. Martin Buber: Urbindung statt Urdistanz

»(…) muss dem Menschen das Du zum Mitmenschen innewohnen« (Martin Buber)

Von allen Philosophen des ›Neuen Denkens‹ trifft die Einordnung, die diese Denker zur Dialogphilosophie rechnen, bei Martin Buber zunächst auf eine Zustimmung, die er selbst bestätigt hat. In seiner »problemgeschichtlichen Schrift« zur philosophischen Anthropolo­ gie formuliert er, dass er »die Erkenntnis des dialogischen Prin­ zips historisch einordnen und gegen einige zeitgenössische Theorien kritisch abheben«81 will. Im Zentrum seiner Erörterungen steht die philosophisch-anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen. Mit dieser Frage mustert er die vorliegenden Argu­ mentationen von Aristoteles bis zu Immanuel Kant durch, um dann überzuleiten zu Max Scheler und Martin Heidegger, die er zu den zeitgenössischen Theorien zählt. Die Quintessenz seiner kritischen Nachfrage ist zweifach: Eine dezidierte Absage an das individualistische wie auch kollektivistische Denken und dann die Eröffnung dessen, was er als grundlegend für die Frage nach dem Wesen des Menschen ansieht. In diesem Sinne formuliert M. Buber seine Absage: »[…] dass eine individualistische Anthropologie, die sich im wesentlichen nur mit dem Verhältnis der menschlichen Person zu sich selbst […] beschäftige, nicht zu einer Erkenntnis des Menschen führen kann«. Warum ist dies so? Der Individualismus erfasst nur einen Teil des Menschen, der Kollektivismus nur den Menschen als Teil einer Menge. Und er folgert schließlich, dass Martin Buber (1971): Das Problem des Menschen. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, Vorwort ohne Seitenangabe.

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5. Martin Buber: Urbindung statt Urdistanz

diese beiden Denkpostionen: »Zur Ganzheit des Menschen, zum Menschen als Ganzes […] beide nicht vordringen«82 können. Wie sieht nun die Lösung aus, die Martin Buber anbietet, um die Frage nach dem Wesen des Menschen beantworten zu können? Die Antwort liegt im Postulat einer »besonderen Seinsweise […] einer eigenen Kategorie des Seins«, die »das Prinzip des Menschen«83 ausmacht. Dieses Prinzip liegt ausschließlich in der Beziehung zum Anderen: »Erst wenn der Einzelne den Anderen, in all seiner Andersheit, als sich, als den Menschen erkennt und von da aus zum Anderen durchbricht, wird er […] seine Einsamkeit durchbrochen haben. Nur zwischen echten Personen gibt es echte Beziehung«84. Die Einsamkeit ist dasjenige, was das eigentliche Menschsein verfehlt. Das Denken der menschlichen Beziehung ist daher das argumentative Zentrum des Durchgangs durch die Philosophiege­ schichte, die Martin Buber in dieser Schrift konzise herausarbeitet und durchbuchstabiert. Die menschliche Beziehung konkretisiert sich, findet ihre Wirklichkeit im lebendigen Dialog, ohne dass Martin Buber damit ein nur alltägliches Wechselgespräch, eine bloße Konversation, meint. Eine Beziehung im dialogischen Ver­ ständnis Martin Bubers ist nämlich auch dann gegeben, wenn geschwiegen wird, wenn sich kein wechselseitiges, satzgebundenes Kommunizieren einstellt. Die Beziehung im Sinne des Dialogs ist ein »Innewerden«85 des Gegenübers, des Anderen in seinem originären »Dasein und Sosein«86. Insofern liegt diesem »Innewer­ den« eine spontane Begegnungsqualität zugrunde, die vor jedem Kommunikationsgeschehen schon die Beziehungsweise von Ich und Du stiftet.

Ebd., S. 158 und 159. Martin Buber (1978): Urdistanz und Beziehung, Beiträge zu einer philosophi­ schen Anthropologie I, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, S. 10/11. 84 Martin Buber (1971): a. a. O., S. 162/163. 85 Martin Buber (1978): Zwiesprache -Traktat vom dialogischen Leben, Verlag, Lambert Schneider, Heidelberg, S. 27. 86 Ebd., S. 43. 82

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5. Martin Buber: Urbindung statt Urdistanz

Damit ist zunächst klar, dass die Beziehung zwischen Ich und Du als lebendige Wirklichkeit keineswegs instrumenteller Natur ist und damit also kein von wechselseitigen Partnern jeweils ein in Szene gesetztes Sich-aufeinander-Beziehen und Kontaktieren darstellt. Die Beziehung von Ich und Du ist für Martin Buber ein existenziell transzendierendes Moment, das beide Partner umgreift und das Martin Buber das sphärische »Zwischen« von Ich und Du nennt: »Diese Sphäre, mit der die Existenz des Menschen gesetzt, aber begrifflich noch unerfasst [ist], nenne ich die Sphäre des Zwi­ schen. Sie ist eine Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit, wenn sie sich auch in sehr verschiedene Grade realisiert […]«87. Dieses »Zwischen«, dies ist deutlich bei Martin Buber hervorgehoben, ist nicht etwas, was etwa zu objektivieren wäre, denn es liegt bereits jenseits vom Subjektiven oder Objektiven. Diese Sphäre ist etwas ontisches, ist eine wesentliche Seinsweise des Menschen, die Martin Buber »ein gegenseitig präsentes Zu-zweien-Sein«88 nennt. Man könnte geneigt sein, diese Sphäre als etwas Mystisches, als ein numinoses Einheitserlebnis zu verstehen und würde damit Martin Bubers anfängliche Faszination für die Mystik als Inspira­ tionsquelle für diese Zwischensphäre von Ich und Du erklären. Dagegen steht aber, dass Martin Buber seine frühe Beschäftigung mit den mystischen Schriften später vehement kritisiert und sich ausschließlich dem dialogischen Denken als menschlichen Sinnbe­ reich zugewandt hat. Es lohnt sich, diesen Terminus »Zwischen« in seinem semanti­ schen Gehalt näher auszuloten. Das Zwischen enthält zwei Bedeu­ tungen: Einerseits verweist es auf ein Beziehungsmoment, das potentiell eingelöst werden kann, andererseits bedeutet es die Anzeige eines Abstandes, sodass eine Divergenz von Ich und Anderem besteht, die das Zusammengehen beider auflöst. Das »Zwischen« bei Martin Buber bedeutet jedoch keinen Abstand, eher eine Gegenseitigkeit, bei der es um das Unmittelbare der Vergegenwärtigung des jeweils Anderen in seiner Einzigartigkeit 87 88

Ebd., S. 165. Ebd., S. 169.

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5. Martin Buber: Urbindung statt Urdistanz

geht. Das »Zwischen« bei Martin Buber hat nicht die Bedeutung einer differenzlosen Melange von Ich und Anderer bzw. Du, denn dies würde einen mystischen Gehalt von Einheitlichkeit, von Ver­ schmelzung, bedeuten. Es besagt eher, dass das »Zwischen« eine Beziehungsform konstituiert, die eine völlige In-sich-Geschlos­ senheit, eine Selbstbezüglichkeit der jeweiligen Partner auflöst bzw. nicht mehr zulässt. Im Grunde zeigt das »Zwischen« eine ontische Qualität an, die von Martin Buber als »Zu-zweien-Sein« gekennzeichnet wird. Dieser Terminus geht – dies kann man aufweisen – auf eine Anregung zurück, die er von seinem akademischen Lehrer Georg Simmel erhalten hat. In einem Geleitwort, das Martin Buber der sozialpsychologischen Sammlung »Die Gesellschaft« vorange­ stellt hatte, wird von ihm die Kategorie des Zwischenmenschli­ chen im Sinne des Wechselwirkungsprinzips, das Georg Simmel soziologisch begründete, benutzt: »Wechselwirkung zweier oder mehrerer Menschen kann Sozietät oder Gesellschaft genannt wer­ den«89. Da war Martin Buber noch ganz im terminologischen Fahrwasser der soziologischen Denkweise Georg Simmels. Dessen Text »Die Gesellschaft zu zweien«90 legt bereits die soziologische Bestimmbarkeit der interpersonalen Struktur im sozialen Leben der Menschen fest. Für Georg Simmel ist die Wechselwirkung zwischen Individuen eine Beziehungsweise a priori, die insgesamt die gesellschaftliche Realitätsformung hervorbringt und festigt. Es besteht jedoch eine maßgebliche Differenz: Für Georg Sim­ mel sind diese gesellschaftlichen Interaktionen nur ›Formen‹ des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Für Martin Buber ist dies zu formal gedacht, denn die Koexistenz zwischen Ich und Du, das Zwischenmenschliche, ist für ihn die eigentliche Kategorie des Mensch-Seins, die sich als eine Doppelbewegung auslegt: Das Martin Buber (1906): Geleitwort in der Zeitschrift >Sammlung Gesellschaft