Das Dämonische: Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs 9783110582994, 9783110568639

The notion of the demonic is a key category in the philosophical–theological works of Paul Tillich. This volume discusse

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German Pages 343 [344] Year 2018

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Die Wirklichkeit des Dämonischen
Das ‚höchst-wirkliche Wesen‘ und die ‚Verschlossenheit‘
Heilige Scheu als religiöses Urphänomen
Das Dämonische in Tillichs Dresdener Dogmatik
Das Dämonische bei Paul Tillich und Thomas Mann
Das Dämonische
Geld und Kultur bei Georg Simmel und Paul Tillich
The Abyss of Meaning
Die Dämonie der Seele
„Wer sich von seinen Teufeln trennt, verliert auch seine Engel“
,Christus auf der Drachenschaukelʻ
Quand les expériences religieuses contemporaines rencontrent la notion tillichienne du démonique
Autorenverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Das Dämonische: Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs
 9783110582994, 9783110568639

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Das Dämonische

Tillich Research

Tillich-Forschungen Recherches sur Tillich Edited by Christian Danz, Marc Dumas, Werner Schüßler, Mary Ann Stenger and Erdmann Sturm

Volume 15

Das Dämonische

Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs Herausgegeben von Christian Danz und Werner Schüßler

ISBN 978-3-11-056863-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-058299-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-058207-9 ISSN 2192-1938 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Das Dämonische gehört ohne Frage zu den Schlüsselbegriffen im Werk Paul Tillichs. Der Begriff taucht in seinen Schriften seit den 1920er Jahren auf und avanciert seitdem zu einer grundlegenden Kategorie seiner Religions- und Kulturphilosophie. Der Bedeutung des Begriffs ungeachtet, hat sich die Forschung dessen problemgeschichtlichen Hintergründen sowie seiner systematischen Funktion für die Religionstheorie Tillichs bislang kaum angenommen. Diesem forschungsgeschichtlichen Desiderat wendet sich der vorliegende Band zu, der auf eine Jahrestagung der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft e.V. zum Thema Das Dämonische bei Paul Tillich und Thomas Mann, die vom 8. bis 10. April 2016 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar in Kassel stattfand, zurückgeht und um weitere einschlägige Beiträge ergänzt wurde. Die Autoren des Bandes thematisieren erstmals Tillichs Verständnis des Dämonischen in problem- und werkgeschichtlicher sowie systematischer Perspektive. Erst dadurch wird sein Verständnis des Dämonischen vor dem Hintergrund der vielschichtigen Kontroversen um diese Deutungskategorie des Ambivalenten in den philosophischen und theologischen Debatten des 20. Jahrhunderts prägnant herausgearbeitet. Der Band wäre ohne die vielfältigste Unterstützung nicht zustande gekommen. Die DPTG e.V. und die Universität Wien haben die Drucklegung dankenswerter Weise durch einen Zuschuss ermöglicht. Danken möchten wir Bernhard Lasser und Patrick Pertl (beide Wien), in deren Händen sowohl die Erstellung der Druckvorlage als auch der Register lag, dem Verlag de Gruyter in Berlin für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Tillich Research sowie Dr. Albrecht Döhnert für die gewohnt sehr gute Zusammenarbeit. Wien und Trier Dezember 2017

https://doi.org/10.1515/9783110582994-001

Christian Danz Werner Schüßler

Inhalt Christian Danz / Werner Schüßler Die Wirklichkeit des Dämonischen Eine Einleitung 1 Philipp Schwab Das ‚höchst-wirkliche Wesen‘ und die ‚Verschlossenheit‘ Zum Begriff des Dämonischen bei Schelling und Kierkegaard Peter Schüz Heilige Scheu als religiöses Urphänomen Das Dämonische und das Numinose bei Rudolf Otto

11

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Folkart Wittekind Das Dämonische in Tillichs Dresdener Dogmatik Theologie- und werkgeschichtliche Hintergründe der schöpfungstheologischen Sündenlehre und ihrer Bezüge zur Kultur- und 69 Geschichtsphilosophie Jan Rohls Das Dämonische bei Paul Tillich und Thomas Mann

125

Christian Danz Das Dämonische Zu einer Deutungsfigur der modernen Kultur bei Georg Simmel, Georg 147 Lukács, Leo Löwenthal und Paul Tillich Friedemann Voigt Geld und Kultur bei Georg Simmel und Paul Tillich

185

Herman Westerink The Abyss of Meaning Paul Tillich’s views of the Demonic and the Pathological in cultural 203 historical Perspective

VIII

Inhalt

Lutz Müller Die Dämonie der Seele Komplexe und Schattenseiten aus Sicht der Analytischen Psychologie C. G. Jungs 227 Werner Schüßler / Christina Saal „Wer sich von seinen Teufeln trennt, verliert auch seine Engel“ Das Dämonische als Prinzip des Schöpferischen und Zerstörerischen bei 247 Paul Tillich und Rollo May Angela M. Opel ,Christus auf der Drachenschaukelʻ Paul Tillich und das Dämonische als Thema der Kunst

265

Marc Dumas Quand les expériences religieuses contemporaines rencontrent la notion 301 tillichienne du démonique Autorenverzeichnis

327

Personenregister Sachregister

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Christian Danz / Werner Schüßler

Die Wirklichkeit des Dämonischen Eine Einleitung Die Kategorie des Dämonischen gehört ohne Frage zu den Schlüsselbegriffen im Werk Paul Tillichs. Das wird schon dadurch unterstrichen, dass er ihr zwei Abhandlungen widmete. In der Mai-Ausgabe der Theologischen Blätter von 1926 erschien zunächst der Aufsatz Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie und im November desselben Jahres sodann im Tübinger Verlag Mohr Siebeck die Studie Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte. ¹ Die hier ausgearbeitete Konzeption hat er in seinem weiteren Werk aufgenommen und ihr eine grundlegende Bedeutung für eine theologische Analyse seiner Gegenwart beigemessen. In seiner 1936 erschienenen Autobiographie Auf der Grenze schreibt er über die Bedeutung dieses Begriffs für sein Denken: Ein wichtiger, der Kairoslehre zugehöriger Begriff ist der des Dämonischen, den ich in einer besonderen Schrift über ‚Das Dämonische, ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte‘ entwickelt habe und der in der dort geprägten Bedeutung in die theologische und geistes-

 P. Tillich, Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie, in: Theologische Blätter 5 (1926), Sp. 32– 35. Der Beitrag ist aufgenommen im achten Band der Gesammelten Werke Tillichs (GW VIII, 285 – 291). Die Werke Paul Tillichs werden in diesem Band nach folgenden Ausgaben und Siglen zitiert: Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg.v. I. Henel u. a., bisher 20 Bde., Stuttgart, dann Berlin 1971 ff. = EW; Gesammelte Werke, hg.v. R. Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959 – 1975 = GW; Main Works/ Hauptwerke, hg.v. C. H. Ratschow, 6 Bde., Berlin/New York 1987– 1998 = MW. P. Tillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, Tübingen 1926. Der Text ist wiederabgedruckt in: GW VI, 42– 71 und – als Neuedition des Erstdruckes von 1926 – in: P. Tillich, Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 139 – 163. Der ursprünglich vorgesehene Titel der Studie von 1926 lautete Das Dämonische in der Geschichte.Vgl. A. Christophersen/F. W. Graf (Hg.), „Beweise einer unsichtbaren Beziehung“. Die Korrespondenz zwischen Paul Tillich und dem Tübinger Verlag J. B. C. Mohr (Paul Siebeck), in: Jesus of Nazareth and the New Being in History. International Yearbook for Tillich Research, Vol. 6, Berlin/Boston 2011, 237– 407, bes. 294. 281. Im Nachlass Paul Tillichs in der Andover-Harvard Theological Library in Cambridge/Massachusetts befindet sich ein handschriftliches Manuskript zu der Studie in dem Notizbuch mit der Nachlasssignatur bMS 649/12(3). Es trägt den Titel Geistesgeschichte des Daemonischen. Zur Daemonie der Gegenwart. Weitere Manuskripte zu der Studie von 1926 finden sich in den Notizbüchern bMS 649/12(6) – hier mit dem Titel Das Dämonische und die Geschichte – sowie bMS 649/12(8). https://doi.org/10.1515/9783110582994-002

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Christian Danz / Werner Schüßler

geschichtliche Diskussion übergegangen ist. […] Er beschreibt eine Macht im persönlichen und sozialen Leben, die zugleich schöpferisch und zerstörerisch ist. (GW XII, 48)

Das Dämonische, dessen Bedeutung Tillich für seine eigene Theologie und Religionsphilosophie in der zitierten Stelle betont, ist indes kein Begriff, der einen gleichsam eindeutigen Tatbestand benennt. Was hier mit dem Stichwort gemeint ist, ist selbst etwas Zweideutiges und Ambivalentes, wenn anders das Dämonische zugleich schöpferisch und zerstörerisch sein soll. Es handelt sich um eine Kategorie des Zweideutigen, dessen also, was sich einer eindeutigen Bestimmung entzieht, und keinesfalls um einen negativ konnotierten Begriff. Solche Bedeutungen verbinden sich mit dem Dämonischen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Einführung des Dämonischen als einer Kategorie des Ambivalenten in die zeitgenössische Diskussion reklamierte Tillich in seiner Autobiographie für sich.² Ausgeblendet bleibt freilich in dieser Selbstdeutung, dass die Kategorie des Dämonischen um 1900 einen Schlüsselbegriff der Gegenwarts- und Zeitdiagnostik darstellt, den der Theologe aufgreift und dessen Deutungshoheit er für sich fordert.³ Aber weder der Begriff noch seine inhaltliche Fassung als Kategorie des Zweideutigen gehen auf Tillich selbst zurück, sondern die Kategorie des Dämonischen verdankt sich den Deutungen der Moderne vor dem Hintergrund des durchschlagenden Modernisierungsprozesses um die Jahrhundertwende.⁴ Erst vor dem Hintergrund der Verwendung dieser Kategorie des Ambivalenten in den kulturwissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Debatten seiner Zeit wird Tillichs Konzeption des Begriffs verständlich. Allerdings besagt die zeitgenössische Debatte über das Dämonische noch nichts über die systematische Funktion, die der Begriff für die Konstruktion seiner Theologie, Religions- und Kulturphilosophie hat. Ein wichtiger Referenzautor für die Etablierung und den Gebrauch des Dämonischen als einer zeitdiagnostischen Kategorie um 1900 ist Johann Wolfgang von Goethe. Im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit schreibt er:

 Dieser Einschätzung hat sich auch die begriffsgeschichtliche Forschung angenommen, wie sie ihren Niederschlag im Historischen Wörterbuch der Philosophie gefunden hat. Vgl. C. Axelos, Art.: Dämonisch, das Dämonische, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel 1972, 4 f.  Ähnliches lässt sich auch für andere Begriffe konstatieren, wie die in dem Zitat genannte Kategorie des Kairos. Auch sie hat Tillich aus der zeitgenössischen Debatte aufgenommen und für sich reklamiert. Vgl. hierzu A. Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008.  Vgl. hierzu L. Friedrich/E. Geulen/K.Wetters (Hg.), Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, Paderborn 2014; F. W. Graf, Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 81.

Die Wirklichkeit des Dämonischen

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Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt schien für dasselbe durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.⁵

Freilich hat Goethe den Begriff nicht erfunden. Er taucht bei Homer bereits in der antiken Literatur auf und ebenso in den neutestamentlichen Schriften sowie der frühchristlichen Theologie, in der Dämonologien geradezu konzipiert werden.⁶ Auch in seinen frühen Verwendungsstufen ist das Daimonion nichts, was rein negativ konnotiert wäre.⁷ In der frühchristlichen Aufnahme des Begriffs, seiner Verschränkung mit der Sündenlehre, erhält das Dämonische eine gegengöttliche Bedeutung. Sie ist vorausgesetzt, wenn die Taufe als Herrschaftswechsel verstanden wird, durch die der Täufling dem teuflischen Reich der Dämonen entrissen und Christus anheimgegeben wird. Gegenüber der Begriffsgeschichte nimmt Goethe hingegen eine folgenreiche Umprägung vor: Aus dem Dämon wird das Dämonische. Der Weimarer Dichterfürst ist jedoch nicht der einzige Stichwortgeber für den Diskurs über das Dämonische um 1900. Auch die theologischen Sündenlehren des 19. Jahrhunderts traktieren ausgiebig das Dämonische,⁸ ebenso die Philosophie des Deutschen Idealismus oder der dänische Denker Søren

 J. W. von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: ders., Sämtliche Werke, I,14, hg.v. K.-D. Müller, Frankfurt a. M. 1986, 839 f. Zu Goethes Verständnis des Dämonischen vgl. R. Borgards, Morphologischer Dämon. Zur ersten Strophe von Goethes Urworte. Orphisch, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg.v. L. Friedrich/E. Geulen/K. Wetters, Paderborn 2014, 65 – 78; C. Zumbusch, Dämonische Texturen. Der durchkreuzte Wunsch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg.v. L. Friedrich/E. Geulen/K. Wetters, Paderborn 2014, 79 – 95; H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1996, 504– 566; K. Wetters, Demonic History. From Goethe to the Present, Evanston 2014.  Zur Begriffsgeschichte des Dämonischen vgl. L. Friedrich/E. Geulen/K. Wetters, Einleitung: Dämonen, Dämonologien und Dämonisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg.v. dens., Paderborn 2014, 9 – 23; Axelos, Dämonisch, 4 f. O. Böcher/G. Wanke/G. Stemberger/G. Tavard, Art.: Dämonen („böse Geister“), in: TRE, Bd. 8, Berlin/New York 1981, 270 – 300. Vgl. auch H. M. Nobis, Art.: Dämonologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel 1972, 5 – 9.  Vgl. nur Platon, Symposium 206b–207a.  Vgl. hierzu den Beitrag von Folkart Wittekind in diesem Band.

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Christian Danz / Werner Schüßler

Kierkegaard.⁹ In seiner Schrift Der Begriff Angst, erschienen im Juni 1844, erklärt er mit Blick auf die zeitgenössische Theologie: In unseren Zeiten hört man vom Dämonischen nur selten reden. Die einzelnen Erzählungen, die es im Neuen Testament darüber gibt, läßt man im allgemeinen dahingestellt sein. Sofern die Theologen sie zu erklären versuchen, ziehen sie es vor, sich in Beobachtungen dieser oder jener unnatürlichen Sünde zu vertiefen, wobei man dann auch Beispiele dafür findet, daß das Tierische eine solche Macht über einen Menschen errungen hat, daß es sich beinah durch einen tierisch-unartikulierten Laut oder eine tierische Mimik oder einen tierischen Blick verkündet […]. Was die Theologen in dieser Hinsicht bemerken, kann wohl richtig sein, doch alles kommt auf die Pointe an.¹⁰

Das Dämonische sei keinesfalls, wie die Theologen meinen, als Knechtschaft der Sünde zu verstehen. Es verhalte sich mit jenem Phänomen umgekehrt, da es ein „unfreies Verhältnis zum Guten“ bezeichne.¹¹ Es sei, so jedenfalls das Neue Testament, schlicht Angst vor dem Guten. Die sündentheologische Reformulierung, die Kierkegaard vor dem Hintergrund seines Verständnisses des menschlichen Selbst als einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, vornimmt, wird im 20. Jahrhundert vielfach aufgegriffen. Es steht im Hintergrund zahlreicher Theorien einer konkreten Existenz.¹² Zu einer religionsgeschichtlichen Kategorie avanciert das Dämonische in der sich um die Jahrhundertwende etablierenden sogenannten religionsgeschichtlichen Schule. Erfasst werden mit der Kategorie frühe Stufen der Religionsgeschichte, solche Religionsformen also, die verglichen mit den späteren Hochreligionen noch keine in deren Sinn ethische Durchprägung erfahren haben.Von der religionsgeschichtlichen Schule ist auch Rudolf Otto, der in Göttingen in den 1890er Jahren studierte, beeinflusst, in dessen Hauptwerk Das Heilige der Begriff vor dem Hintergrund der goethischen Prägung eine systematisch tragende Rolle  Vgl. hierzu den Beitrag von Philipp Schwab in diesem Band. In seiner frühen Skizze Über Dichter, Propheten, Dichterbegeisterung, die der junge Schelling 1792 im Tübinger Stift verfasst hatte, deutet er den allgemeinen Begriff des Propheten bei Platon als „Sprecher der Gottheit“ und kommt in diesem Zusammenhang auch auf das Dämonische zu sprechen. Hierzu schreibt er: „denn vorher hatte Sokrates von ‚seinem Gott‘ (dem in ihm wohnenden Dämon) gesprochen“ (F.W.J. Schelling, Frühe theologische Arbeiten 1792– 1793, hg.v. C. Buro/K. Grosch, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, 15 – 25, hier 23).  S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, Stuttgart 1992, 138 f.  A.a.O., 139.  Vgl. nur K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 31925, 429 f. Zur Bedeutung von Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen für die sich in den 1920er Jahren herausbildende Existenzphilosophie, in deren Kontext auch Tillichs Denken sowie seine Konzeption des Dämonischen steht, vgl. M. Fritz, Menschsein als Frage. Paul Tillichs Weg zur anthropologischen Fundierung der Theologie, Habilitationsschrift Neuendettelsau 2016.

Die Wirklichkeit des Dämonischen

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spielt.¹³ Die Deutung, die der Marburger Theologe dem Dämonischen in seinem religionsphilosophischen Klassiker gegeben hat, steht auch im Hintergrund von Paul Tillichs Aufnahme des Begriffs. Herangezogen wurde die Kategorie des Dämonischen aber auch in den kulturund sozialwissenschaftlichen Deutungen der Moderne sowie der Literatur und bildenden Kunst um 1900.¹⁴ Das Stichwort wird hier zu einem Synonym für die Erfahrung der modernen ‚Wirklichkeit‘, in der Signifikant und Signifikat auseinanderfallen.¹⁵ Die wohl prominenteste und wirkungsgeschichtlich einflussreichste Konzeption hat der junge Georg Lukács in seiner Theorie des Romans von 1920 vorgelegt.¹⁶ In Aufnahme der von seinem Lehrer Georg Simmel diagnostizierten ‚Tragödie der Kultur‘, die auch für Tillich von nicht zu unterschätzender Bedeutung geblieben ist,¹⁷ widmete Lukács dem Dämonischen einen für seine geschichtsphilosophische Theorie des Romans zentralen Abschnitt. Seine Herrschaft tritt das Dämonische erst in der Moderne an, das heißt, es setzt den Verlust einer Einheit der Kultur voraus, die Lukács als transzendentale Obdachlosigkeit bezeichnet.¹⁸ Dadurch findet sich die Seele nicht mehr in ihren Objektivationen wieder. Die Kultur sowie das Handeln der Menschen in ihr werden ambivalent. Hierfür steht das Dämonische, dessen Ausdruck der Roman ist.

 Vgl. R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, hg.v. J. Lauster/P. Schüz, München 2014. Zu Ottos Deutung des Dämonischen vgl. den Beitrag von Peter Schüz in diesem Band.  Zum Dämonischen in der Literatur um 1900 vgl. die Beiträge in Friedrich/Geulen/Wetters (Hg.), Das Dämonische. Zu Thomas Manns Verständnis des Dämonischen vgl. den Beitrag von Jan Rohls in diesem Band. Zum Dämonischen in der Kunst vgl. den Beitrag von Angela M. Opel in diesem Band.  Vgl. hierzu F. Fellmann, Phänomenologie und Expressionismus, Freiburg i. Br./München 1982, 44– 56 (Wirklichkeit – Europas dämonischer Begriff). Vgl. hierzu auch J. Hörisch, Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M. 52015, 10: „Seit 1900 steht nämlich nicht mehr allein zur Diskussion, wie, wo, wann und unter welchen rituellen Umständen Sein und Sinn ihr offenbares Rendezvous haben, sondern ob sie überhaupt zur Deckung kommen können.“  Vgl. G. Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied/Berlin 1971. Zum Verständnis des Dämonischen bei Lukács vgl. K. Wetters, The Luciferian and the Demonic in Georg Lukács Die Theorie des Romans, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg.v. L. Friedrich/E. Geulen/ders., Paderborn 2014, 243 – 266; I. Kalinowski, Das Dämonische in der „Theorie des Romans“ von Georg Lukács, Hamburg 2015.  G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 12, hg.v. R. Kramme/A. Rammstedt, Frankfurt a. M. 2001, 194– 223. Vgl. hierzu die Beiträge von Christian Danz und Friedemann Voigt in diesem Band.  Lukács, Die Theorie des Romans, 32.

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Christian Danz / Werner Schüßler

Die vertriebenen und die noch nicht zur Herrschaft gelangten Götter werden Dämonen: ihre Macht ist wirksam und lebendig, aber sie durchdringt die Welt nicht mehr oder noch nicht: die Welt hat einen Sinneszusammenhang und eine Kausalverknüpftheit erhalten, die der lebendig wirkenden Kraft des zum Dämon gewordenen Gottes unverständlich ist und aus deren Ausgangspunkt gesehen sein Treiben als reine Sinnlosigkeit erscheint.¹⁹

Lukács Deutung des Dämonischen in seiner Theorie des Romans wurde in der zeitgenössischen Debatte breit rezipiert.²⁰ So bezieht sich der junge Leo Löwenthal, der 1921 seinen Beitrag Das Dämonische. Entwurf einer negativen Religionsphilosophie ²¹ vorlegte, explizit auf Die Theorie des Romans und arbeitet das Dämonische als eine Kategorie des Mehrdeutigen aus. Vor diesem debattengeschichtlichen Hintergrund konzipierte Paul Tillich sein Verständnis des Dämonischen. In der bisherigen Forschungsliteratur zu diesem Schlüsselbegriff des prominenten Theologen ist jedoch dieser Kontext nicht in den Blick genommen worden.²² Dabei knüpft Tillich an die zeitgenössischen Kontroversen an, nimmt sie auf und führt sie weiter, freilich ohne das selbst explizit zu machen.²³ Der Begriff taucht in seinen Texten bereits im Jahre 1919 auf,²⁴

 A.a.O., 75.  Vgl. hierzu N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989; B. L. Wagoner, Prophetic Interruptions: Critical Theory, Emancipation, and Religion in Paul Tillich, Theodor Adorno, and Max Horkheimer, Macon, Georgia 2017.  L. Löwenthal, Das Dämonische. Entwurf einer negativen Religionsphilosophie, in: ders., Untergang der Dämonologien. Studien über Judentum, Antisemitismus und faschistischen Geist, Leipzig 1990, 10 – 25. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Christian Danz in diesem Band. Löwenthal selbst bezieht sich in seiner Studie neben Lukács und Ernst Bloch vor allem auf Karl Jaspers, der in seinem frühen Werk Psychologie der Weltanschauungen dem Dämonischen ein eigenes Kapitel widmete. Vgl. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 191– 198.  Die bisherige Literatur zum Dämonischen bei Tillich beschränkt sich weitgehend auf ein Referat seiner Ausführungen und ließ die systematische Funktion der Kategorie für den Aufbau seiner Religionstheorie zumeist unberücksichtigt.  Das notieren auch die Herausgeber des Bandes Das Dämonische in ihrer Einleitung: „Die seit Paul Tillichs Studie von 1923 [sic!], wenn nicht abgebrochene, so doch latent gewordene, Diskussion [über das von Goethe ‚sozusagen salonfähig gemachte Dämonische jenseits der GoethePhilologie‘] ist aufzunehmen und zu vertiefen mit dem Ziel, einen vernachlässigten, aber offenbar bis in die jüngste Gegenwart beharrenden Komplex mit großer Streubreite zu beleuchten.“ (Friedrich/Geulen/Wetters, Einleitung, 9)  Vgl. P. Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, EW XII 90: „Durch den Versuch dieses Staates [der Römer], sich vom Machtgedanken her religiöse Weihe zu geben, wird er dämonisch und bekommt die Qualitäten des gegengöttlichen Weltreiches.“ Vgl. auch ders., Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung (I), EW X, 239. 241.

Die Wirklichkeit des Dämonischen

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gewinnt aber erst vier Jahre später in seinem Beitrag Grundlinien des Religiösen Sozialismus und vor allem in den Vorstufen zu diesem Text²⁵ eine erste terminologische Fassung und systematische Funktion. Das Dämonische erscheint hier in einer geschichtsphilosophischen Perspektive als Moment der Dialektik der Autonomie. In den Grundlinien des Religiösen Sozialismus wird es definiert als „Erhebung des irrationalen Grundes aller individuellen schöpferischen Formverwirklichung im Widerspruch mit der unbedingten Form“.²⁶ Dass Tillich diese frühe Fassung des Dämonischen, die er seit 1923 in seine Religionsphilosophie eingefügt hatte,²⁷ selbst als ungenügend beurteilt hat, geht aus seiner nur wenig beachteten Stellungnahme zu kritischen Anfragen an seine Konzeption hervor, die 1924 in den Blättern für Religiösen Sozialismus erschien.²⁸ Auch der 1926 in den Theologischen Blättern veröffentlichte Beitrag Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie, der in seinem Eingangsabschnitt einen werkgeschichtlichen Überblick über die Kategorie bietet, notiert Aspekte, die sich auch auf seine eigene, frühe Verwendung des Begriffs beziehen. Die hier aufgeworfene Frage, wie „der Widerspruch des Wirklichen gegen das tragende Heilige und seinen unbedingten Anspruch zu verstehen sei“, wenn denn dem Bewusstsein als solchem schon das Unbedingte zugrunde liegt, lasse sich, wie Tillich schreibt, nicht durch die „Kategorien profan, kulturell, autonom, humanistisch (mit denen z. B. Gogarten und Emil Brunner das Problem zu lösen suchen)“ beantworten, da „es neben dem uns Angehenden keinen ‚Ort‘ geben kann, von dem aus wir ihm widersprechen können“ (GW VIII, 286). Das signalisiert systematische Probleme, die mit der Fassung von Religions- und Kulturbegriff verbunden sind. Und in der Tat ist Tillichs Fassung der Religion als Meinen des Unbedingten,²⁹ die er Anfang der 1920er Jahre konzipiert, mit der Schwierigkeit konfrontiert, nicht angeben zu können, wie sich Religion und Kultur unterscheiden, da beiden das Unbedingte als Grundfunktion des Bewusstseins zu-

 P. Tillich, Die religiöse Erneuerung des Sozialismus [1922], EW X, 311– 227; ders., Die Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte [1922], EW XIII, 644– 657; ders., Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf, in: ders., Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/ W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 84– 108.  Tillich, Grundlinien des Religiösen Sozialismus, 90.  Auch Tillichs Religionsphilosophie, die 1925 publiziert wurde und die einen eigenen Abschnitt über Das Göttliche und das Dämonische enthält (GW I, 338 f.), repräsentiert noch eine Vorstufe der Konzeption des Dämonischen. Der Text wurde nämlich von Tillich bereits 1923 abgeschlossen, aber erst zwei Jahre später veröffentlicht.  Vgl. P. Tillich, Tillichs Antwort, in: Zu Tillichs Systematik, in: Blätter für Religiösen Sozialismus 5 (1924), Nr. 5/6, 17– 22.  Eine erste Formulierung dieser Konzeption bietet der 1919 ausgearbeitete Entwurf Rechtfertigung und Zweifel. Vgl. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, EW X, 128 – 185, bes. 176.

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Christian Danz / Werner Schüßler

grunde liegt und Religion ausdrücklich nicht inhaltlich bestimmt werden soll.³⁰ Das genannte Problem, es ist der Gegenstand der Kontroverse mit Karl Barth, die er 1923 in den Theologischen Blättern führte,³¹ löste Tillich 1924 durch die Einführung der Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung in die systematische Konzeption seiner Theologie.³² Erst dadurch erhält die Kategorie des Dämonischen ihre abschließende Fassung. Das Dämonische bezieht sich auf die von Tillich sogenannte Grundoffenbarung, also die reflexive Erschlossenheit des Selbstverhältnisses des Bewusstseins, die ambivalent ist. Diese sei, wie in Rechtfertigung und Zweifel ausgeführt wird, notwendig als zweideutig zu bestimmen. Sie ist Grund und Abgrund zugleich. Noch Luther wußte, daß der deus absconditus dem Menschen als Dämon erscheinen würde. Darum sind die Götter der Völker immer zugleich göttlich und dämonisch. Dämonen bleiben auch die Lichtesten unter ihnen. Dämonische Elemente hat selbst noch in sich die den Abgrund suchende Mystik und der mit irrationalem Willen in den Abgrund verdammende Gott der doppelten Prädestination.³³

Die zweideutige und ambivalente Erschlossenheit des Bewusstseins, für die die Grundoffenbarung steht, wird fragmentarisch überwunden durch die Heilsoffenbarung.³⁴ Erst durch die Reformulierung der aktuellen geschichtlichen Religion durch die Heilsoffenbarung vermag Tillich diese von der allgemeinen Grundlagenfunktion des Unbedingten, die auch für die Kultur gilt, zu unterscheiden. Auch hier wird die Religion nicht inhaltlich bestimmt, sondern als Überwindung des „Dämonischen in der Menschheitsreligion“.³⁵ Damit sind die Eckpunkte sowie die Grundlagen der geschichtsphilosophischen Kategorie angedeutet, die in der Studie Das Dämonische von 1926 systematisch gebündelt ausgeführt werden. Deren Hintergrund bildet freilich die ausführlichere Konzeption der Marburger und Dresdener Dogmatikvorlesung.³⁶ In

 Vgl. hierzu F. Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung. Zur Ausformung der Christologie Tillichs in der Auseinandersetzung mit Karl Barth, in: Jesus of Nazareth and the New Being in History. International Yearbook for Tillich Research 6 (2011), 90 – 119.  Vgl. P. Tillich, Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten, GW VII, 216 – 225; K. Barth, Von der Paradoxie des „positiven Paradoxes“, GW VII, 226 – 239; P. Tillich, Antwort, GW VII, 240 – 243.  Vgl. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, in: ders., Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 124– 137. Vgl. hierzu Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung, 98 – 114.  Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, 135.  Vgl. ebd.  Ebd.  Vgl. hierzu den Beitrag von Folkart Wittekind in diesem Band.

Die Wirklichkeit des Dämonischen

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seinem weiteren Werk hat Tillich an dieser Fassung des Dämonischen, wie es seit 1924 dargestellt wurde, festgehalten.³⁷ Die Systematische Theologie, die in ihrem dritten Band eine ausgearbeitete Lebens- und Geistphilosophie bringt, knüpft mit der Grundbestimmung der Zweideutigkeit des Lebens an diese Fassung an. Konsequent wird deshalb auch hier auf den „zweideutigen Charakter“ hingewiesen, der dem Dämonischen eignet.³⁸ Es „widerstrebt nicht der Selbst-Transzendierung, wie es das Profane tut, sondern es verfälscht die Selbst-Transzendierung, indem es einen bestimmten Träger der Heiligkeit mit dem Heiligen selbst identifiziert“.³⁹ Und wie in seinen Texten um 1924 deutet Tillich in der Systematischen Theologie die Manifestation des göttlichen Geistes als fragmentarische Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens. Tillich hat sein Verständnis des Dämonischen als eine Kategorie des Zweideutigen und Ambivalenten zu einer Schlüsselkategorie der religiösen Gegenwartdeutung ausgebaut.⁴⁰ Daraus resultieren sowohl Stellung als auch Bedeutung der Kategorie für sein Werk. Einbezogen werden von ihm in die geschichtsphilosophische Kategorie alle Dimensionen menschlichen Lebens in der Kultur, wie die bildende Kunst oder Einsichten der Psychoanalyse.⁴¹ Insbesondere die Rezeption letzterer in seinem Verständnis des Dämonischen hat, wie die Aufnahme von Tillichs Konzeption bei Rollo May deutlich macht, den tiefenpsychologischen Diskurs vorangetrieben.⁴² Die heuristische Funktion der Kategorie für die Erschließung moderner Religionsdiskurse ist vor dem Hintergrund eines verstärkten Interesses an Dämonen und dämonischen Mächten in der Gegenwartskultur nicht ohne Belang.⁴³

 Vgl. hierzu den Beitrag von Werner Schüßler und Christina Saal in diesem Band.  P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 3, hg.v. C. Danz, Berlin/Boston 2017, 581.  Ebd.  Vgl. nur die systematische Grundlegung der Anthropologie in seiner 1933 erschienenen Schrift Die sozialistische Entscheidung, die – ohne die Kategorie des Dämonischen zu verwenden – den Ursprung, d. h. diejenige reflexive Selbsterschlossenheit, die dem Bewusstsein bereits zugrunde liegt, als eine zweideutige Wirklichkeit fasst und das Verhältnis von wirklichem und wahrem Ursprung entsprechend des Verhältnisses von Grund- und Heilsoffenbarung aus den Texten von 1924 konstruiert. „Der Ursprung ist zweideutig. In ihm ist eine Spaltung zwischen wahrem und wirklichem Ursprung. Das wirklich Ursprüngliche ist nicht das in Wahrheit Ursprüngliche. Es ist nicht die Erfüllung dessen, was mit dem Menschen vom Ursprung her gemeint ist. Die Erfüllung des Ursprungs ist vielmehr das, was dem Menschen als Forderung, als Soll gegenübersteht.“ (MW III, 292)  Vgl. hierzu die Beiträge von Herman Westerink und Lutz Müller in diesem Band.  Vgl. hierzu den Beitrag von Werner Schüßler und Christina Saal in diesem Band.  Vgl. hierzu den Beitrag von Marc Dumas in diesem Band.

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Christian Danz / Werner Schüßler

Das Dämonische ist eine grundlegende Kategorie im Werk Paul Tillichs. Die Beiträge des vorliegenden Bandes thematisieren diese erstmals sowohl vor ihrem problem- und debattengeschichtlichen Hintergrund als auch in werkgeschichtlicher und systematischer Perspektive sowie mit Blick auf die Frage, was der Begriff des Dämonischen für die gegenwärtige religiöse Lage bedeutet.

Philipp Schwab

Das ‚höchst-wirkliche Wesen‘ und die ‚Verschlossenheit‘ Zum Begriff des Dämonischen bei Schelling und Kierkegaard In seiner 1960 in Tokio gehaltenen Rede Der philosophische Hintergrund meiner Theologie schreibt Paul Tillich: In den Tiefen des Göttlichen ist beides, das Göttliche und das Dämonische; etwas Irrationales ist in ihm, das niemand versteht. So sieht es auch Schelling (der in besonderem Maße mein philosophischer Lehrer war – wenn auch nur durch seine Bücher). Er starb vor mehr als 100 Jahren, aber er war der eigentliche Begründer des modernen Existentialismus, noch vor Kierkegaard. Das in dieser Linie des Denkens hervorgekehrte dämonische Element erhielt seine volle Ausprägung bei Nietzsche, der auf die heutigen existentialistischen Philosophen einen großen Einfluß ausübte, so auf Sartre und Heidegger. (GW XIII, 481)

Der mittlere Teil dieser Partie präsentiert Schelling als eigentlichen philosophischen Lehrer Tillichs¹ und zugleich als eigentlichen Begründer der Existenzphilosophie, noch vor Kierkegaard. Diese Zusammenstellung Schellings und Kierkegaards findet sich, mit einigen Variationen, mehrfach in Tillichs Werk. So benennt Tillich etwa an prominenter Stelle – in dem 1955 zu Schellings 100. Todestag erschienenen Vortrag Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes – den Einfluss von Schellings Berliner Vorlesung zur Philosophie der Offenbarung 1841/42 auf Kierkegaard, der diese Vorlesung selbst gehört und mitgeschrieben hat,² und weist sie mithin als ein „Urdokument existentialer Philosophie“ (GW IV, 136) aus. In der autobiographischen Skizze Auf der Grenze von 1936 zeigt sich dieselbe Konstellation mit leicht verschobenem Akzent: Letztlich triumphiere doch noch der „Idealismus in Schelling […] über seinen Ansatz zu existenziellem Denken“ – und erst Kierkegaard habe „das geschlossene System

 Vgl. auch den kurz darauf folgenden Hinweis auf „meinen Lehrer Schelling“ (GW XIII, 488); vgl. entsprechend auch GW IV, 133.  Vgl. dazu die v. Verf. erstellte Neuübersetzung der Mitschrift: S. Kierkegaard, Notizbuch 11, in: Deutsche Søren Kierkegaard Edition (= DSKE), hg.v. N. J. Cappelørn u. a., 11 Bde., Berlin/Boston 2005 ff., Bd. 3 (Journale und Aufzeichnungen. Notizbücher 1– 15), 331– 406 u. 769 – 834 sowie zur Interpretation P. Schwab, ‚Das Reich der Wirklichkeit ist nicht vollendet‘. Kierkegaard als Hörer Schellings und Kritiker Hegels, in: A. Hutter/A. M. Rasmussen (Hg.), Kierkegaard im Kontext des deutschen Idealismus, Berlin/Boston 2014, 77– 104. https://doi.org/10.1515/9783110582994-003

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der idealistischen Wesensphilosophie durchbrochen und damit ein wirklich existentielles Denken begründet“ (GW XII, 50).³ Nun ist aber in der eingangs zitierten Partie die Bemerkung zu Schelling und Kierkegaard als Denkern der Existenz ein bloß erläuternder Einschub. Der Hauptsache nach skizziert Tillich im entsprechenden Absatz eine ‚Linie des Dämonischen‘, beginnend mit Augustinus, über Duns Scotus, Jakob Böhme und eben Schelling bis hin zu Nietzsche und der modernen Existenz- und Existenzialphilosophie. Bemerkenswert ist dabei, dass gerade Schelling als zentrales Moment dieser Entwicklung erscheint, wohingegen Kierkegaard allenfalls indirekt in die Linie des Dämonischen mit einbezogen wird. Dies kontrastiert in eigentümlicher Weise mit dem Begriffsgebrauch beider Denker. Wird nämlich die Bestimmung des Dämonischen in Schellings Werk zumeist eher beiläufig verwendet und nur an einer Stelle vertiefend erörtert, so ist sie hingegen bei Kierkegaard ein markanter und prominenter, zudem in einer Vielzahl von Texten theoretisch reflektierter Terminus in der Analyse von Existenzformen. Diese Eigentümlichkeit spiegelt sich in gewisser Weise auch bei Tillich selbst darin, dass Schelling mit dem ‚Dämonischen‘ über ein Mittelglied verknüpft wird, nämlich über ein „Irrationales“ in den Tiefen des Göttlichen, „das niemand versteht“ (GW XIII, 481). Mithin dürfte Tillichs Verständnis des Dämonischen weniger auf Schellings ausdrückliche Verwendung des Wortes als vielmehr auf Motive seines Denkens hindeuten, die sich unter anderen Titeln spätestens seit der Freiheitsschrift von 1809 ausprägen, namentlich als der „ewig dunkle[] Grund“ in Gott, als das „immer noch […] im Grunde [liegende] Regellose“ oder als der „nie aufgehende Rest“ (SW VII, 358 – 360).⁴ Entsprechend schreibt auch Tillich an anderer Stelle: „Auf dem Grund aber alles Lebendigen wohnt das Grauen, sagt Schelling“ (GW IX, 23).⁵

 Vgl. z. B. auch die verwandten Äußerungen in GW IV, 146 – 152; GW VIII, 228, 307; GW XI, 104; GW XII, 331; vgl. auch bereits GW I, 20 – 23. Vgl. für einen kritischen Kommentar zu Tillichs Engführung von Kierkegaard mit Schelling J. Ringleben, Tillich als Denker des Seins – zwischen Hegel und Kierkegaard. Eine philosophische Perspektive, in: Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung 1 (2005), 101– 118, hier 110 – 112.  Schellings Werke werden zitiert nach den folgenden Ausgaben: F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke (= SW), hg.v. K. F. A. Schelling, 14 Bde., Stuttgart/Augsburg 1856 – 1861; ders., Historischkritische Ausgabe, hg.v. der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (= AA), 3 Abt., Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff.; ders., Aus Schellings Leben. In Briefen, hg.v. G. L. Plitt (= Plitt), 3 Bde., Leipzig 1869 f.  Demgemäß wird auch in der Forschung die These vertreten, im Hintergrund von Tillichs Konzeption des ‚Dämonischen‘ stünden in sachlicher Hinsicht durchaus schellingsche Fragestellungen – ohne dass in dieser These aber Schellings eigener Begriff des Dämonischen präsent ist. Vgl. hierzu und zu entsprechenden Forschungspositionen G. Neugebauer, Tillichs frühe

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Einen verwandten Eindruck vermittelt auch ein Text aus Tillichs Nachlass, der wohl 1926 und damit zeitnah zu seinen größeren Abhandlungen über das Dämonische⁶ entstanden ist. Hier notiert Tillich stichworthaft: „Die protestantische Mystik, der ‚Ungrund‘ in Gott. Die Schellingsche Naturauffassung. Das gebändigte Dämonische. Das Hervorbrechen der reinen Dämonie negativ bei Schopenhauer, positiv bei Nietzsche“ (EW XI, 38). Und einige Zeilen später hält Tillich als eine der vier gegenwärtigen „Tendenzen“ fest: „Nietzsche und die dämonische Linie“ (ebd.). Auch hier also zieht Tillich die ‚Linie‘ des Dämonischen über die Theosophie und Schelling bis hin zu Nietzsche; auch hier wird Schelling nicht direkt über den Begriff des Dämonischen selbst, sondern über die Mittelbestimmungen des Ungrundes in Gott und der Natur miteinbezogen – und Kierkegaard als Theoretiker des Dämonischen fällt an dieser Stelle nun gänzlich aus. Damit ist der weitere Horizont umrissen, in den die folgenden Untersuchungen sich einschreiben. Ihr Interesse ist ein spezifisch begriffsgeschichtliches und richtet sich mithin auf die explizite Verwendung des Wortfeldes des ‚Dämonischen‘ bei Tillichs existenzphilosophischen Gewährsmännern Schelling und Kierkegaard. Dabei muss die rezeptionsgeschichtliche Frage, inwieweit Tillichs eigenes Verständnis des Dämonischen von diesem Begriffsgebrauch beeinflusst ist, zurückgestellt werden. Die aufgerufenen Zusammenhänge dürften ohnehin deutlich gemacht haben, dass der Nachweis einer unmittelbaren Beeinflussung in dieser Hinsicht wenigstens äußerst schwierig zu führen wäre – zumal Schelling und Kierkegaard in Tillichs direkt dem Dämonischen gewidmeten Texten nicht genannt sind.⁷ Wie bereits angedeutet unterscheidet sich der Gebrauch des Begriffs des ‚Dämonischen‘ bei Schelling und Kierkegaard schon äußerlich betrachtet recht deutlich: Bei Schelling findet der Ausdruck sich nur selten in philosophisch signifikanter und eigenständiger Bedeutung, während er bei Kierkegaard zur spezifischen Konturierung bestimmter Existenztypen dient – beginnend schon im frühen Werk und Nachlass und kulminierend in einem langen Kapitel des Begriffs Angst. Es wird zu zeigen sein, dass dieser äußeren Differenz – trotz aller Berührungspunkte und verwandter Traditionsbezüge – auch eine innere entspricht. Zwar bezeichnet bei beiden Denkern das Dämonische in gewisser Weise ein ‚Grenzphänomen‘, aber in durchaus unterschiedlicher Hinsicht: Bei Schelling

Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 336 f.  Vgl. zur Sache, zur Textbasis und zum Stand der Forschung C. Danz, Das Göttliche und das Dämonische. Paul Tillichs Deutung von Geschichte und Kultur, in: International Yearbook for Tillich Research 8 (2013), 1– 14.  Vgl. GW VIII, 285 – 291; GW VI, 42– 71.

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meint das Dämonische in den prominentesten Partien das Unsterbliche des Menschen, das sich im Übergang in die ‚Geisterwelt‘ durch den Tod als ‚höchstwirkliches Wesen‘ und als ‚Essentifikation‘ des Menschen auspräge. Bei Kierkegaard hingegen bezeichnet der Begriff eine Typologie von Existenzformen, vornehmlich Gestalten der verschlossenen Innerlichkeit, und in der theologisch zugespitztesten Fassung eine in sich verhärtete ‚Angst vor dem Guten‘. Gemeinsam ist aber beiden, dass der Begriff des Dämonischen eine durchaus beträchtliche Spannweite hat, die sich nicht ohne Verlust in eine einzige Bestimmung einfassen lässt. Bei Schelling zeigen sich in den verstreuten Äußerungen doch erhebliche Variationen, und auch bei Kierkegaard ist der Begriff trotz relativer Kontinuität wandlungsreich. Insofern zielt die folgende Darstellung auf ein plurales Panorama der Begriffe des Dämonischen bei beiden Denkern ab.

1 Das Dämonische bei Schelling Die Bestimmung des ‚Dämonischen‘ ist bei Schelling, gerade im späteren Werk, überwiegend orientiert am Substantiv ‚Dämon‘ und lässt sich dementsprechend oftmals recht eindeutig traditionellen Verwendungsweisen zuordnen. So bezieht sich Schelling in platonischer Tradition auf den „Dämon des Sokrates“⁸ oder auf Sokrates als den „wahre[n] Dionysos der Philosophie“ und mithin als „dämonische[n] Mann“,⁹ auch bezeichnet der Ausdruck ‚Dämon‘ ein ‚vermittelndes Wesen‘ im Sinne des Eros in Platons Symposion. ¹⁰ In verwandter Weise meint ‚Dämon‘ in verschiedenen mythologischen Kontexten ein „Mittelwesen zwischen Mensch und Gott“,¹¹ einen Halbgott oder allgemeiner heidnische göttliche beziehungsweise übernatürliche Wesen.¹² Sodann erscheint der Begriff des Dämons im Allgemeinen und in verschiedenen Zusammenhängen zur Kennzeichnung von ‚Geistern‘, so als ‚guter Geist‘, etwa als „schützender Dämon“ (SW VII, 313) oder als „wohlthätige Schutzgeister“ (SW VII, 379), häufiger aber im Sinne „böser

 F. W. J. Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hg. u. komm. v. H. Fuhrmans, Turin 1972, 394; vgl. auch F. W. J. Schelling an König Maximilian, 16. April 1854, in: König Maximilian II. von Bayern und Schelling. Briefwechsel, hg.v. L. Trost/F. Leist, Stuttgart 1890, 261.  SW XII, 284; vgl. auch SW XIII, 456.  Vgl. F.W. J. Schelling, Die Weltalter. Fragmente, in den Urfassungen von 1811 und 1813, hg.v. M. Schröter, München 1946, 165.  SW XII, 275; vgl. auch SW XIII, 399.  Vgl. SW XII, 227, 363, 388 u. F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hg. u. eingel. v. M. Frank, Frankfurt a. M. 31993, 218, 220.

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Geister“ (ebd.) oder „böser Dämonen“,¹³ bisweilen auch im Sinne einer „dämonischen Natur“.¹⁴ Schließlich findet sich bei Schelling in einer Diskussion der „Besessenen oder sogenannten Daemoniaci“ (SW XIV, 276) auch ein direkter Verweis auf die Dämonen-Darstellungen des Neuen Testaments.¹⁵ Die wenigen Stellen, an denen sich bei Schelling eine eigenständigere Verwendung des Begriffs abzeichnet, knüpfen an die genannten Bedeutungsdimensionen an, und zwar in einer zunächst durchaus spannungsreichen Doppelbestimmung. So führt Schelling einerseits den Begriff des Dämonischen mit seiner Konzeption des Bösen eng. In diesem Sinne diskutiert Schelling in der Freiheitsschrift von 1809 eine Auffassung des Bösen, die, indem sie „das Böse in der Welt erklärt, dagegen das Gute völlig auslöscht, und anstatt des Pantheismus einen Pandämonismus einführt“ (SW VII, 355). In verwandtem Begriffsgebrauch erläutert Schelling im selben Werk den Gedanken, dass „mit der entschiedenen Hervortretung des Guten auch das Böse ganz entschieden und als dieses hervortritt“, durch die parallelisierende Wendung, dass „göttliche Kräfte den überall hervortretenden dämonischen“ entgegenwirkten (SW VII, 379 f.).¹⁶ Wird also hier das Dämonische dem Bösen wenigstens angenähert, wenn nicht diesem gleichgesetzt, so findet sich andererseits ein gleichsam ‚neutralerer‘ Begriffsgebrauch, in dem das Dämonische das ‚Geistige‘ überhaupt bezeichnet. In dieser Richtung spricht Schelling im Fragment Vom Wesen deutscher Wissenschaft kritisch von einer Tendenz der „letzte[n] Zeit“, die „Philosophie […] von allem Dämonischen, aller eigentlichen Metaphysik zu reinigen“ (SW VIII, 10).¹⁷ Im Gespräch Ueber den

 SW XII, 507, 511; vgl. auch AA I,1, 63 Anm.; SW VIII, 451; SW XIV, 138 u. die Parallelstelle in F.W. J. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg.v.W. E. Ehrhardt, Hamburg 1992, 506. Vgl. in weiterem Sinne auch F.W. J. Schelling an G. H. Schubert, 28. April 1809 (Plitt II, 151), an C. F. von Neurath, 1817 (Plitt II, 400), an K. F. Dorfmüller, 18. Januar 1839 (Plitt III, 145).  SW XIV, 273; als „Dämonen oder Geister in der Natur“ auch in SW VI, 77.  In den genannten Feldern sind auch Schellings Zitate anderer Autoren zu verorten, in denen das Wort Dämon, δαίμων oder daemon erscheint, insbesondere im Sinne heidnischer übernatürlicher oder göttlicher Wesen (vgl. AA I,1, 79 f. Anm.; SW VIII, 380 f., 405 f., 417 f.; SW IX, 268), böser Geister (vgl. SW XI, 28, 213 Anm., 513 Anm.) oder des platonischen Eros (vgl. SW VIII, 382).  In den Gottheiten von Samothrake schreibt Schelling in ähnlicher Verwendung, aber im mythologischen Feld, dass im „ägyptischen und indischen System […] ein Dämonisches nicht zu verkennen“ sei; dieses wird näher erläutert als „ein wie mit Absicht wirkender Geist des Irrthums, der den Mißverstand ins Ungeheure, ja ins Gräuelhafte auswirkt“ (SW VIII, 363). Ähnlich beiläufig in der Philosophie der Mythologie (vgl. SW XII, 454).  Die Schrift ist wenigstens zum Teil 1807 verfasst. Vgl. Schellings Übersendung von Ausschnitten an F. H. Jacobi, 16. Juni 1807, in: F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente, hg.v. H. Fuhrmans, 3 Bde., Bonn 1962– 1975, Bd. 3, 440 f. Im selben Sinne heißt es hier kritisch von der Konzeption des Staates als eines „mechanische[n] Perpetuum mobile“, dass in einem solchen „alles Dämonische […], das vom Himmel kommt und nicht berechnet werden kann, […] von keiner

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Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt erläutert dann Schelling explizit das „rein Dämonische“ als das „Geistige“ (SW IX, 98).¹⁸ Einen wichtigen Hinweis zu dieser zweiten Verwendungsweise – und damit auch für die sogleich zu interpretierende, noch spezifischere Begriffsbestimmung Schellings – gibt eine etymologische Nebenbemerkung in der späten Philosophie der Mythologie. Hier präsentiert Schelling das Verhältnis von Hestia, Demeter und Persephone als Prozess einer sukzessiven Besonderung oder Trennung. Dazu heißt es, das sich entwickelnde „Bewußtseyn“ sei „erst in der Trennung von Persephone als Demeter, als Mutter, und zwar als die göttliche, oder, wenn man die Sylbe Δη in Δημήτηρ mit dem δαι (= δαη) in δαίμονες vergleichen darf, so ist es erst jetzt als die wissende, als die geistige, als die vom Materiellen befreite Mutter erklärt“ (SW XII, 629 f.). Schelling stützt sich hier wohl auf eine zeitgenössisch angenommene Etymologie von δαίμων, wobei aber der Sache nach bereits die heute gängige Etymologie mit präsent ist.¹⁹ Im Schneider von 1805 ist als erste Bedeutung von „δαίμων“ angeführt: 1) ein Genius, d.i. entweder ein guter Schutzgeist oder böser Plagegeist; mit einem Worte, das Geschick, Schicksal eines Menschen, weil man beides, Glück und Unglück, von jenen herleitete […]. Die Lateiner übersetzten diese δαίμονας durch Lares […]. Daher gebrauchten denn auch einige spätere Philosophen δαίμων als Geist, Seele des Menschen […].²⁰

In etymologischer Hinsicht ergänzt Schneider: „Die erste Bedeut. ist s.v. a. δαήμων, sciens, der weiss, von δάω, δαίω“.²¹ Nach dieser heute nicht mehr vertretenen Etymologie bezeichnet also der δαίμων ursprünglich den Wissenden oder eben das Geistige. Nun meint aber das als Beleg angegebene Verb δαίω nicht allein ‚wissen‘, sondern nach der bei Schneider angegebenen Hauptbedeutung zuallererst „theilen, vertheilen“.²² Darauf ist auch nach heutigem Kenntnisstand

Bedeutung“ sei (SW VIII, 11 f.). In diesen Partien könnte Schelling allerdings auch die kritisierte Perspektive wiedergeben, nach der alles, was sich der ‚Berechnung‘ entzieht, von diesem ‚berechnenden Denken‘ aus betrachtet als Dämonisches, das heißt als unwissenschaftlich und dunkel erscheinen müsse.  Vgl. auch beiläufig Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 292, zur „dämonische[n], geistige[n] Natur“ des Weins und die Parallelstelle mit „dämonische oder geisterhafte Natur“ in SW XIII, 437.  Für eine Diskussion der etymologischen Aspekte danke ich Christoph Rüßler (Freiburg).  J. G. Schneider, Art.: δαίμων, in: ders., Kritisches Griechisch-Deutsches Wörterbuch. Beym Lesen der griechischen profanen Scribenten zu gebrauchen, 2 Bde., Jena/Leipzig 21805 f., Bd. 1, 272.  Ebd.  Schneider, Art.: δαίω, 273.

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δαίμων am wahrscheinlichsten zurückzuführen: Gemäß der modernen Etymologie bezeichnet δαίμων zunächst den ‚Zuteiler‘, mithin den Geist, der Gutes und Böses voneinander absondert, möglicherweise auch ursprünglich den Totengott, der zwischen den Lebenden und den Toten trennt.²³ Darin liegt also Schellings doppelter Anknüpfungspunkt in eigener Sache: Er begreift das Dämonische einerseits als das Geistige bzw. Seelische überhaupt und zugleich andererseits als Trennung oder, mit einem von Schelling oft verwendeten Ausdruck, als Scheidung – namentlich als Scheidung von Geistigem und Materiellem (wie hier im Blick auf Demeter), aber auch als Scheidung von Lebendem und Totem oder als Scheidung von Gutem und Bösem. Erstmals in Schellings Werk deutet sich dieser ihm eigentümliche Begriffsgebrauch in einer Passage aus Philosophie und Religion von 1804 an, im Abschnitt zur ,Unsterblichkeit der Seeleʻ: Wenn die Verwicklung der Seele mit dem Leib (welche eigentlich Individualität heißt) die Folge von einer Negation in der Seele selbst und eine Strafe ist, so wird die Seele nothwendig in dem Verhältniß ewig, d. h. wahrhaft unsterblich seyn, in welchem sie sich von jener Negation befreit hat; dagegen ist es nothwendig, daß die, deren Seelen fast bloß von zeitlichen und vergänglichen Dingen erfüllt und aufgeblasen waren, in einen dem Nichts ähnlichen Zustand übergehen und am meisten im wahren Sinne sterblich seyen: daher ihre nothwendige und unwillkürliche Furcht vor der Vernichtung, während dagegen in denjenigen, welche schon hier von dem Ewigen erfüllt gewesen sind und den Dämon in sich am meisten befreit haben, Gewißheit der Ewigkeit und nicht nur die Verachtung, sondern die Liebe des Todes entsteht. (SW VI, 61)

Thematisch ist hier die Scheidung der Seele vom Leib durch den Tod, und der ‚Dämon‘ bezeichnet dabei offenbar den ewigen oder ‚wahrhaft unsterblichen‘, das heißt den geistigen Anteil des Menschen – mithin die Seele selbst, die schon im Diesseits, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, aus der ‚Verwicklung‘ mit dem Endlichen und Vergänglichen (dem Leib) ‚befreit‘ werden kann. Schon in Philosophie und Religion ist die Bestimmung des Dämons in der Scheidung zwischen Seele und Leib auf die „Geschichte des Geisterreichs“ (SW VI, 60) bezogen. Hier, in der ‚Geisterwelt‘, und näher im Übergang in diese, ist auch Schellings ausführlichste begriffliche Bestimmung des ‚Dämonischen‘ zu

 Vgl. H. Frisk, Art.: δαίμων, in: Griechisches Etymologisches Wörterbuch, 3 Bde., Heidelberg 1960 – 1972, Bd. 1, 341: „Zu δαίομαι (s. d.), u. zw. wahrscheinlich im Sinn von ‚Verteiler, Zuteiler‘ (vgl. v. Wilamowitz, Glaube 1, 363)“. Vgl. auch W. Kirchschläger u. a., Art.: Dämon, in: Lexikon für Theologie und Kirche, hg.v. W. Kasper u. a., 11 Bde., Freiburg u. a. 31993 – 2001, Bd. 3, Sp. 1– 6; O. Böcher u. a., Art.: Dämonen („böse Geister“), in: Theologische Realenzyklopädie, hg.v. G. Müller, 36 Bde., Berlin/New York 1977– 2004, Bd. 8, 270 – 300.

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verorten. Sie findet sich in den 1810 gehaltenen und aus dem Nachlass edierten Stuttgarter Privatvorlesungen ²⁴ und wird die kurze Anzeige aus Philosophie und Religion erheblich differenzieren. Den Hintergrund für diese Erörterung bildet der Abschnitt über Psychologie im letzten (‚ideellen‘) Teil der komprimierten Systemskizze von 1810 mit dem sogenannten ‚Psychologischen Schema‘, in welchem Schelling den „menschlichen Geist“ nach seinen „drei Potenzen“ betrachtet, als Gemüt, Geist (im engeren Sinn) und Seele.²⁵ Bereits im Schema selbst verwendet Schelling den Begriff des Dämonischen einmal beiläufig, im Sinne der Freiheitsschrift, zur Bezeichnung des „dämonisch-teuflische[n] Böse[n]“ (AA II,8, 160). Der folgende Abschnitt bringt nun diese Bestimmung mit der Bedeutung des Dämonischen als des Geistigen und auch der Trennung zusammen.²⁶ Schelling behandelt hier „das Schicksal des Menschen in einem künftigen Leben“ und geht so vor, dass er auf den Übergang fokussiert; er handelt namentlich „vom Uebergang des Menschen aus der ersten Potenz seines Lebens in die zweite, also vom Tode“ (AA II,8, 168). Diese Darstellung hat ihren Ausgangspunkt bemerkenswerterweise im Gegensatz des Guten und des Bösen. Die „Nothwendigkeit des Todes“ setzt nämlich nach Schelling „zwei absolut unverträgliche Principien voraus, deren Scheidung der Tod ist“ – und dieser unverträgliche Gegensatz „ist das Verhältniß von Gut und Bös“ (AA II,8, 170). Schon an dieser Stelle ist der Übergang durch den Tod mit der (geforderten) Scheidung des Guten und des Bösen wesentlich verbunden. Komprimiert trägt nun Schelling seine kurz zuvor in den Privatvorlesungen und bereits in der Freiheitsschrift entwickelte Theorie des Bösen ein, nach der durch den Fall des Menschen das Böse auch in die Natur eingetreten sei.²⁷ Der „Widerstreit von Gut und Bös“ finde sich mithin  Vgl. zu den Stuttgarter Privatvorlesungen die Neuedition in AA II,8 und zur Interpretation v. a. V. Müller-Lüneschloß, Über das Verhältnis von Natur und Geisterwelt. Ihre Trennung, ihre Versöhnung, Gott und den Menschen. Eine Studie zu F. W. J. Schellings „Stuttgarter Privatvorlesungen“ (1810) nebst des Briefwechsels Wangenheim – Niederer – Schelling der Jahre 1809/1810, Stuttgart-Bad Cannstatt 2012; L. Hühn/P. Schwab (Hg.), System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings „Stuttgarter Privatvorlesungen“, Freiburg/München 2014.  Vgl. AA II,8, 154– 168.  Vgl. zum im Folgenden interpretierten Abschnitt v. a. Müller-Lüneschloß, Über das Verhältnis, 277– 285 sowie P. L. Oesterreich, Die Freiheit, der Irrtum, der Tod und die Geisterwelt. Schellings anthropologischer Übergang in die Metaphysik, in: J. Jantzen/P. L. Oesterreich (Hg.), Schellings philosophische Anthropologie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 23 – 50, hier bes. 48 f.; ders., Spielarten der Selbsterfindung. Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling, Berlin/New York 2011, bes. 200 f.  Vgl. in der Freiheitsschrift bes. SW VII, 376 und in den Privatvorlesungen bes. AA II,8, 140: „Sowie aber der Mensch, anstatt sein natürliches Leben dem göttlichen unterzuordnen, vielmehr in sich selbst das zur relativen Unthätigkeit bestimmte (das natürliche, eigne) Princip aktivirte – zur Thätigkeit erweckte –, war auch die Natur wegen des nun verfinsterten Verklärungspunkts

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auch als „Contrarietät in der Natur“; da der Mensch an der Natur „durch seinen Leib Theil hat“, könne „der Geist in diesem Leben nicht ganz in seinem Esse erscheinen […], sondern zum Theil in seinem non-Esse“ (ebd.). Aufgrund der „Mischung des Guten und Bösen“ kann also „der Mensch in diesem Leben nicht ganz erscheinen, wie er ist, nämlich seinem Geiste nach“ (ebd.). Diese notwendige Scheidung oder Trennung des Guten und des Bösen, und damit des wahren Seins vom Nicht-Sein des Menschen, tritt mit dem Tod ein. In Schellings Worten: Einmal aber muß der Mensch in sein wahres Esse gelangen und von dem relativen non-Esse befreit werden. Dieß geschieht, indem er ganz in sein eignes A 2 [seine zweite Potenz, P.S.] versetzt, und also nicht zwar vom physischen Leben überhaupt, aber doch von diesem geschieden wird, mit Einem Wort durch den Tod oder durch seinen Uebergang in die Geisterwelt. (AA II,8, 170 – 172)

In der genaueren Bestimmung dieses Übergangs hat das ‚Dämonische‘ seinen Ort. Wie aber die zitierte Partie bereits anzeigt, bedeutet der Tod in den Privatvorlesungen – im Unterschied zu der angeführten Partie aus Philosophie und Religion – keineswegs die einfache Absonderung des Geistigen vom Leiblichen. Auf die Frage „Was folgt aber nun dem Menschen in die Geisterwelt?“ lautet die „Antwort: Alles, was auch hier schon Er selber war, und nur das bleibt zurück, was nicht Er selber war“ (AA II,8, 172). Dies erläutert Schelling folgendermaßen: Der Mensch geht „nicht bloß mit seinem Geiste im engern Sinn des Worts in die Geisterwelt über, sondern auch mit dem, was in seinem Leib Er selber, was in seinem Leib Geistiges, Dämonisches war“ (ebd.). Der Leib ist also nicht für sich genommen toter Körper, der dem Geist als sein schlechthin Anderes bloß unverbunden gegenübersteht; vielmehr gilt nach Schelling, „daß auch der Leib an und für sich schon ein geistiges Princip enthalte“ (ebd.). Damit zeigt sich, dass der Ausdruck des ‚Dämonischen‘ von Schelling im Sinne eines präzisierenden Begriffs verwendet wird: Er soll dasjenige Geistige bezeichnen, welches dem Leiblichen nicht bloß entgegensteht, sondern das wahre Wesen, das Bleibende im Geistigen und Leiblichen des Menschen ist. Dies macht dann der unmittelbar folgende zentrale Absatz zum Dämonischen in Schellings Werk vollends deutlich: Der Tod ist daher keine absolute Trennung des Geistes von dem Leib, sondern nur eine Trennung von dem dem Geist widersprechenden Element des Leibs, also des Guten vom Bösen und des Bösen vom Guten (daher auch das Zurückbleibende nicht der Leib genannt wird, sondern der Leichnam). Also nicht ein bloßer Theil des Menschen ist unsterblich,

genöthigt, eben dieses Princip in sich zu erwecken, und nolens volens eine von der geistigen unabhängige Welt zu seyn.“

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sondern der ganze Mensch seinem wahren Esse nach, der Tod eine reductio ad essentiam.Wir wollen das Wesen, das im Tode nicht zurückbleibt – denn dieß ist das caput mortuum –, sondern gebildet wird, und das weder bloß geistig noch bloß physisch, sondern das Geistige vom Physischen und das Physische vom Geistigen ist, um es nie mit dem rein Geistigen zu verwechseln, das Dämonische nennen. Also das Unsterbliche des Menschen ist das Dämonische, nicht eine Negation des Physischen, sondern vielmehr das essentificirte Physische. Dieses Dämonische ist also ein höchst-wirkliches Wesen, ja weit wirklicher, als der Mensch in diesem Leben ist; es ist das, was wir in der Volkssprache (und hier gilt es eigentlich: vox populi vox Dei) nicht den Geist, sondern einen Geist nennen; wenn z. B. gesagt wird, es sey einem Menschen ein Geist erschienen, so wird darunter eben dieses höchstwirkliche, essentificirte Wesen verstanden. (Ebd.)²⁸

In dieser Weise also fügen sich das Geistige, die Scheidung und das Böse im Dämonischen bei Schelling zusammen. In der Scheidung trennt sich das ‚Wesentliche‘ vom ‚Unwesentlichen‘ und Zufälligen. Das ‚Dämonische‘ bezeichnet dabei die Essenz und zugleich das Unsterbliche im Menschen, das durch die reductio ad essentiam des Todes hervortritt oder vielmehr erst eigentlich gebildet wird – und welches gerade deshalb, weil es das Physische (Reelle) nicht gänzlich negiert, sondern purifiziert, als ‚höchst-wirkliches Wesen‘ erscheint.²⁹ Eben als Essentifikation auch des Physischen ist dieses ‚höchst-wirkliche Wesen‘ nicht bloß das Geistige oder der Geist, sondern ein Geist.³⁰ Mithin tritt der Begriff des ‚Dämonischen‘ vornehmlich ein, um einem verkürzten Verständnis entgegenzuwirken: Der Ausdruck soll zeigen, dass der auf seine Essenz reduzierte Mensch keineswegs als ein ‚rein‘, das heißt vom Leiblichen getrenntes bloß Geistiges erscheint. Offenkundig ist diese Essentifikation auch die Scheidung des Guten vom Bösen, aber in einem besonderen Sinne. Keineswegs nämlich gilt für Schelling das Leibliche als das Böse, das als Äußerliches und Negatives mit dem Tod abgestreift würde, vielmehr ist das Böse – wie bereits in der Freiheitsschrift ³¹ – entschieden als Positives gefasst. Das Böse sei, so heißt es auch in den Stuttgarter Privatvorlesungen, „nicht bloße Privation des Guten, nicht bloße Verneinung der

 Vgl. die im Wesentlichen parallele, aber verkürzte Partie der Georgii-Nachschrift, AA II,8, 173. In der Nachschrift wird der Ausdruck ‚Dämonisches‘ in verwandter Weise auch noch an späteren Stellen verwendet, im Blick auf den Zustand nach dem Tod (AA II,8, 175 – 177) und den „Rapport zur Geisterwelt“ (AA II,8, 181).  Entsprechend wird in der Forschung das Dämonische auch interpretiert als „geist-leibliche[s] Wesen“, hinter dem die „Suche nach dem Erhalt der Persönlichkeit“ stehe (Müller-Lüneschloß, Über das Verhältnis, 283, 285) oder als „spirituelle[r] Realismus“ (Oesterreich, Die Freiheit, 48).  Die hier anklingende Doppelbedeutung von ‚Geist‘ im Deutschen hat im 20. Jahrhundert insbesondere Derrida exponiert. Vgl. z. B. J. Derrida, De l’esprit. Heidegger et la question, Paris 1987, 66 f.  Vgl. bes. den Begriff der „positiven Verkehrtheit“ in SW VII, 366.

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inneren Harmonie, sondern positive Disharmonie“, und es komme „auch nicht aus dem Leib, wie so viele noch jetzt meinen“, sondern sei „in gewissem Betracht das reinste Geistige“ (AA II,8, 160). Gemäß Schellings Theorie zeigt sich also in der essentifizierten Gestalt des Dämonischen durchaus der Gute wahrhaft als vom Bösen gereinigter wahrhaft Guter – aber eben auch der Böse als vom Guten gereinigter wahrhaft Böser. So verwundert es auch nicht, dass in der Formulierung des Dämonischen als positives, ‚höchst-wirkliches Wesen‘ Formulierungen anklingen, die Schelling zuvor für die Positivität des Bösen verwendet hat – heißt es doch gerade vom Bösen, es sei „ein höchst reelles Wesen“ (AA II,8, 142). Wie in Philosophie und Religion behandelt Schelling auch in den Privatvorlesungen die Möglichkeit, das Dämonische bereits im Diesseits annähernd zu erreichen, und hier erscheint nochmals der Bezug zum Bösen. Zunächst grenzt Schelling wiederholend ab: Man stelle sich gewöhnlich „den Menschen im Zustand nach dem Tode als ein luftähnliches Wesen vor, oder recht abstrakt als ein pures, lauteres Denken“; wie gezeigt sei der Mensch aber dort, als essentifiziertes Physisches, „ein höchst-wirklicher, ja weit kräftiger und also auch wirklicher als hier“ (AA II,8, 174). Zum „Beweis“ führt Schelling an, „alle Schwäche“ komme „aus der Getheiltheit des Gemüths“, die ja dann durch die Essentifikation im Tode aufgehoben ist (ebd.). Hierzu heißt es: Wäre ein einziger Mensch, in welchem sie ganz getilgt, der nur das Gute in sich hätte, er könnte Berge versetzen. Daher wir auch sehen, daß Menschen, die es schon hier bis zum Dämonischen bringen (und im Bösen wird diese Entschiedenheit häufiger erreicht als im Guten) – etwas Unwiderstehliches in sich haben; sie fasciniren gleichsam alles ihnen Entgegenstehende […]. (Ebd.)

Damit ist zugleich das ‚Phänomen‘ der Faszination durch das eminent Gute und gerade auch das eminent Böse im Diesseits erläutert: Es fasziniert durch seine Reinheit und Ungeteiltheit, durch seine ‚Eindeutigkeit‘ gleichsam, die als Vorwegnahme der aufs Wesen reduzierten Gestalt des Dämonischen nach dem Tode erscheint.³² Es sei abschließend noch kurz bemerkt, dass die Bestimmung der ‚Essentifikation‘ durch den Tod, die Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen erstmals deutlich exponiert und mit dem Begriff des Dämonischen fasst, eine Nachgeschichte in seinem Werk hat, allerdings teils ohne den Leitbegriff von 1810  In Variation erscheint dieser Gedanke auch nochmals im Blick auf Völker: „Deßwegen diejenige Nation, die sich am meisten aus der Mischung gesetzt hat, d. h. die entweder das Böse oder das Gute am meisten von sich ausgeschlossen hat, also entweder die frömmste und tugendhafteste oder die ruchloseste und lasterhafteste die meiste Macht hat, weil sie am meisten dämonisch ist“ (AA II,8, 180).

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zu nennen. Nach dem Tod der Frau des Geheimrats Georgii, in dessen Haus die Stuttgarter Vorlesungen stattgefunden hatten,³³ weist Schelling in einem Brief an Georgii vom März 1811 nochmals auf den im Vorjahr entwickelten Gedanken zurück, „daß der Tod, weit entfernt die Persönlichkeit zu schwächen, sie vielmehr erhöht, indem er sie von so manchem Zufälligen befreit“.³⁴ Dieser Brief wird 1829 ausschnittsweise von Justinus von Kerner in der Seherin von Prevorst veröffentlicht,³⁵ und Schelling nimmt den Gedanken in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung nochmals auf. Die Fassung der Sämmtlichen Werke gibt hier mehrere Formulierungen, die dem Text von 1810 nahe kommen – so zur „Essentification“ und dem „höchst wirkliche[n] Wesen“ (SW XIV, 207) –, der Begriff des Dämonischen fällt aber dabei nicht. Hingegen enthält die sogenannte ‚Urfassung‘ der Philosophie der Offenbarung, die wohl auf 1831/32 zu datieren ist, nochmals komprimiert die Kernbestimmung von Schellings Theorie des Dämonischen und zeigt damit die wenigstens relative Konstanz dieses Begriffs in Schelling Werk: Der Tod des Menschen ist nicht eine Scheidung des Menschen in zwei Bestandteile, sondern eine Essentifikation seines ganzen Wesens. Wir können das Produkt dieser Essentifikation, um es vom rein Geistigen zu unterscheiden, das Dämonische nennen. Dieses Dämonische ist ein höchst wirkliches Wesen, es ist der wahren Schätzung nach noch wirklicher, selbst als der gegenwärtige Leib, der nur zusammengesetzt und wegen der gegenseitigen Ausschließung seiner Teile ein gebrechliches, zerstörbares Ganze [sic!] ist.³⁶

2 Das Dämonische bei Kierkegaard Im Werk Kierkegaards³⁷ zeichnet sich im Blick auf die Bestimmung des ‚Dämonischen‘, wie eingangs bemerkt, ein anderes Gesamtbild ab als bei Schelling.³⁸

 Vgl. zum Hintergrund nochmals Müller-Lüneschloß, Über das Verhältnis, 13 – 72.  F. W. J. Schelling an E. F. Georgii, 19. März 1811 (Plitt III, 253).  J. Kerner, Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere, 2 Bde., Stuttgart/Tübingen 1829, Bd. 1, 6. Darauf verweist Schellings Sohn an der gleich genannten Stelle aus der Philosophie der Offenbarung, vgl. SW XIV, 207 Anm.  Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 596.  Kierkegaards Werke werden zitiert nach den folgenden Ausgaben: Søren Kierkegaards Skrifter (= SKS), hg.v. N. J. Cappelørn u. a., 28 Bde., 28 Kommentarbde., Kopenhagen 1997– 2013; Deutsche Søren Kierkegaard Edition (= DSKE), hg.v. N. J. Cappelørn u. a., 11 Bde., Berlin/Boston 2005 ff.; S. Kierkegaard, Gesammelte Werke (= KGW), übers. u. hg.v. E. Hirsch/H. Gerdes/H.-M. Junghans, 36 Abt. in 26 Bdn. u. Registerbd., Düsseldorf/Köln 1950 – 1969; ders., Die Tagebücher (= T), übers. u. hg.v. H. Gerdes, 5 Bde., Düsseldorf/Köln 1962– 1974. Die Übersetzung ist z.T. vom Verf. modifiziert.

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Nicht nur ist der Begriff auf das Ganze gesehen deutlich prominenter, er tritt auch in einer Vielzahl von Texten markant als zentrale Bestimmung hervor. Gleichwohl erscheint das ‚Dämonische‘ bei Kierkegaard keineswegs in einheitlicher und konstanter Gestalt. Vielmehr zeigen sich im Verlaufe seines Werks durchaus vielschichtige, ja heterogene Verwendungsweisen des Dämonischen, die sich nicht bruchlos in eine einzige Konzeption oder auch nur in eine konsistente Typologie einfassen ließen.³⁹ Dies hat mehrfache Gründe. Schon äußerlich betrachtet fällt auf, dass Kierkegaard oftmals die adjektivische Form ‚dämonisch‘ zur Charakterisierung verschiedenster Existenzgestalten, Phänomene oder Äußerungen verwendet, ohne dabei stets explizit zu erläutern, worin genau ihre spezifisch dämonische ‚Qualität‘ jeweils liegt.⁴⁰ Sodann, und tiefer gehend, entspricht die Vielgestaltigkeit von Kierkegaards Begriffen, und gerade auch seiner zentralen, dem kontextuellen Verfahren seiner Existenzanalyse: Diese zielt nicht darauf ab, allgemeingültige und systematisch fixierbare Bestimmungen menschlicher Existenz freizulegen, vielmehr setzt sie ihre analytischen Begriffe je spezifisch und konkret dem jeweils verhandelten Phänomen und der in Frage stehenden ‚Situation‘ aus.⁴¹ Dies gilt gerade auch für die dem Anschein nach umfassendste Analyse des Dämonischen im Begriff Angst, verhandelt diese doch das Phänomen unter einem bestimmten Blickwinkel und im Kontext einer spezifischen Fragestellung. Damit ist aber noch nicht vollends erklärt, weshalb auch den expliziteren Analysen des Dämonischen für sich genommen eine gewisse Unfasslichkeit eignet. Ein Grund hierfür dürfte in dem ‚Phänomenbereich‘ selbst liegen, den Kierkegaard oftmals mit der Bestimmung des Dämonischen anvisiert: An vielen

 Vgl. zum Dämonischen bei Kierkegaard insbesondere M. Hackel, Das Dämonische bei Kierkegaard, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2011, 383 – 410 sowie für einen Überblick über die einzelnen Verwendungsweisen W. McDonald, Art.: Demonic, in: S. M. Emmanuel/W. McDonald/J. Stewart, Kierkegaard’s Concepts: Classicism to Enthusiasm, Bd. 15, II, Farnham 2014, 147– 152.  Vgl. auch die entsprechende Einschätzung von Manuela Hackel, Kierkegaards Werk sei „zwar reich an dämonischen Figuren, und der Däne räumt der Untersuchung des Dämonischen viel Raum ein, dennoch aber bleibt der Begriff selbst merkwürdig hybrid“; es handele sich beim Dämonischen um einen der „präsentesten und zugleich unschärfsten Begriffe im Werk Kierkegaards“ (Hackel, Das Dämonische, 384, 387).  Vgl. z. B. KGW 1, 10, 137/ SKS 2, 17, 129; JJ:299 (DSKE 2, 242 / SKS 18, 234), NB12:80 (SKS 22, 187), Papir 454 (SKS 27, 562).Vgl. exemplarisch für eine nicht näher erläuterte Verwendung auch Not5:30 (DSKE 3, 197 / SKS 19, 187).  In dieser Kontextualität oder ‚Regionalität‘ liegt ein Charakteristikum von Kierkegaards nichtsystematischer, indirekter Methode. Vgl. dazu P. Schwab, Der Rückstoß der Methode. Kierkegaard und die indirekte Mitteilung, Berlin/Boston 2012, hier bes. 5, 9 – 37. Vgl. auch den Hinweis auf die indirekte Mitteilung bezüglich des Dämonischen in Hackel, Das Dämonische, 388 f.

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Stellen erscheint das Dämonische als eine Grenzbestimmung, ⁴² als eine zugleich geheimnisvolle und faszinierende „dämonische Macht“,⁴³ das heißt als ein ‚Etwas‘ im Menschen, das ihn gerade über das Menschsein hinaushebt oder hinaustreibt – bisweilen im Guten, sehr viel häufiger aber im Bösen, etwa als Selbstüberhebung oder Anmaßung.⁴⁴ Die Unfasslichkeit und Vielgestaltigkeit des Dämonischen bei Kierkegaard hat mithin methodische wie auch inhaltliche Gründe. Angesichts der Komplexität von Kierkegaards Verwendungsweisen kann im Folgenden allein eine exemplarische Darstellung der vielgestaltigen Erscheinungsform des Dämonischen gegeben werden, die dabei drei Schwerpunkte setzt: erstens auf der Bestimmung des Dämonischen in der Ironieschrift, die einige zentrale Motive des späteren Werks erstmals exponiert; zweitens auf den Figurationen des Dämonischen in Kierkegaards frühem ‚ästhetischen‘ Werk, anhand von Entweder/Oder; drittens schließlich auf den ausführlichsten und begrifflich geschärftesten Analysen im Begriff Angst und der Krankheit zum Tode. Dabei lassen sich vorab die Bezugspunkte der Tradition, von denen Kierkegaards Bestimmungen des Dämonischen ausgehen, deutlicher noch als bei Schelling ein-

 Vgl. für eine etwas anders gelagerte Interpretation des Dämonischen als eines „Krisenbegriff[s]“ Hackel, Das Dämonische, 403.  KGW 1, 78, 109 / SKS 2, 79, 105 f.; KGW 4, 61 / SKS 4, 59; KGW 7, 232 / SKS 4, 521. Vgl. zur Erläuterung auch NB30:88 (T V, 231 / SKS 25, 457). Vgl. auch die Formulierung bereits in der Ironieschrift, der „sokratische Dämon“ stelle für die Interpretation eine „Schwierigkeit“ dar, die stets „jedoch nicht so sehr abschreckend als vielmehr anziehend und mit ihrem geheimnisvollen Zauber betörend gewirkt“ habe (KGW 31, 163 / SKS 1, 207).  Diese Bewegung zeigt sich an vielen ‚dämonischen‘ Gestalten in den pseudonymen Werken, sie findet sich aber auch, etwas nüchterner, vor allem in Kierkegaards Selbstreflexionen der späteren Journale. Im Blick auf die immer wieder neu bedachte Frage nach der ‚eigenen Aufgabe‘ heißt es beispielsweise 1849: „Ich habe auch eine Neigung dazu gehabt, beinahe dämonisch mich selbst dazu zwingen zu wollen, stärker zu sein als ich bin“ (NB11:205 (T III, 256 / SKS 22, 129)). Dieselbe Struktur zeigt sich, wenn Kierkegaard über sein spätes Pseudonym Anti-Climacus notiert, dass dieser „sich selbst mit der Idealität verwechselt“ habe, sei „das Dämonische in ihm“ (NB11:209 (T III, 257 / SKS 22, 130)). Vgl. zum Dämonischen im „guten“ oder „bösen Sinne“, in Bezug auf Sokrates und die indirekte Mitteilung, NB20:152 (SKS 23, 472). Vgl. z. B. auch NB5:33 (DSKE 4, 438 f. / SKS 20, 384); NB6:71 (DSKE 5, 57 / SKS 21, 53); NB6:81 (DSKE 5, 68 / SKS 21, 62); NB6:86 (DSKE 5, 71 / SKS 21, 65); NB10:44 (DSKE 5, 327 / SKS 21, 279 f.); NB11:204 (T III, 254 f. / SKS 22, 127); NB11:211 (T III, 258 / SKS 22, 131); NB12:193 (SKS 22, 264); NB15:46 (T IV, 86 / SKS 23, 32); NB15:124 (SKS 23, 90); NB16:22 (T IV, 124 / SKS 23, 109); NB17:32 (T IV, 146 / SKS 23, 185); NB24:86 (T V, 27 / SKS 24, 373); NB25:64 (T V, 64 / SKS 24, 482); NB26:7 (SKS 25, 15); NB31:104 (SKS 26, 79); NB32:141 (SKS 26, 236).

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grenzen: Kierkegaard bezieht sich zum einen auf Sokrates und sein Daimonium,⁴⁵ zum anderen, und dominierend, auf die christliche Auffassung, namentlich die Darstellungen der Dämonenaustreibungen im Neuen Testament und die daran sich anschließende Tradition – unter anderem, wie bei Schelling, mit Verweis auf die „Daemoniaci“.⁴⁶ Auch bei Kierkegaard finden sich freilich eher unspezifische Verwendungsweisen im allgemeineren Sinne eines ‚bösen Geistes‘,⁴⁷ bisweilen in Bezug auf Volkssagen und Märchen.⁴⁸ Im Vergleich mit Schelling tritt die vorplatonische mythologische Tradition deutlich in den Hintergrund.⁴⁹

2.1 Das Dämonische als egoistische Verschlossenheit – Über den Begriff der Ironie Bereits in der Magisterdissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates von 1841 zeichnet sich eine Auffassung des Dämonischen ab, die im späteren Werk als ein Grundmotiv weiter ausgeführt wird.⁵⁰ Kierkegaards Ziel der gesamten Ironieschrift besteht bekanntlich darin, den Standpunkt des Sokrates als Ironie und diese wiederum als reine Negativität auszuweisen. Im  Vgl. bes. den entsprechenden Abschnitt der Ironieschrift (KGW 31, 163 – 172 / SKS 1, 207– 215); vgl. auch KGW 31, 24, 231 / SKS 1, 86, 267 f.; NB6:88 (DSKE 5, 72 / SKS 21, 65); NB7:8 (DSKE 5, 88 / SKS 21, 79).  DD:39a (DSKE 1, 200 / SKS 17, 235); vgl. auch DD:178 (DSKE 1, 241 / SKS 17, 271); DD:201 (DSKE 1, 247 f. / SKS 17, 277); EE:77 (DSKE 2, 30 / SKS 18, 31); FF:190 (DSKE 2, 114 / SKS 18, 111); GG:5 (DSKE 2, 125 / SKS 18, 121); KGW 2, 170 / SKS 3, 158; NB:111 (DSKE 4, 94 / SKS 20, 85); NB3:40 (DSKE 4, 301 f. / SKS 20, 266); NB9:65 (DSKE 5, 279 f. / SKS 21, 239); NB12:168 (SKS 22, 245); NB14:62 (T IV, 49 f. / SKS 22, 380); NB18:5, (SKS 23, 257); NB23:139 (SKS 24, 275); NB25:10 (SKS 24, 444); NB26:30 (SKS 25, 36); NB32:127 (T V, 298, 301 / SKS 26, 215, 217); NB34:26 (SKS 26, 339); Papir 576 (SKS 27, 674). Vgl. auch die Verwendung des Begriffs in Kierkegaards lateinischen Übersetzungen von Paulus-Briefen, CC:6 (SKS 17, 173); CC:11 (SKS 17, 196 f.) und in Notizen zu H. C. Klausens dogmatischen Vorlesungen, u. a. ausführlich „Über die bösen Geister“, Not1:5 (DSKE 3, 16 – 19 / SKS 19, 19 – 22); Not1:6 (DSKE 3, 29 / SKS 19, 31); Not1:7 (DSKE 3, 41, 56 / SKS 19, 41, 55).  Vgl. KGW 31, 13 / SKS 1, 77; KGW 2, 129, 221 / SKS 3, 121, 200; AA:14 (DSKE 1, 35 / SKS 17, 3); EE:28 (DSKE 2, 11 / SKS 18, 15); NB13:92 (T IV, 28 / SKS 22, 336); NB14:83 (T IV, 58 / SKS 22, 393); Papir 254 (SKS 27, 200). Vgl. auch die Verwendung im Sinne eines Schutzgeistes, als „mitleidender Dämon“ (KGW 1, 272 / SKS 2, 247).  Vgl. DD:69 (DSKE 1, 209 f. / SKS 17, 244); Not15:15 (DSKE 3, 485 / SKS 19, 445); KGW 1, 77 f. / SKS 2, 79; KGW 2, 175 / SKS 3, 161.  Vgl., zumeist in Bezug auf sekundäre Quellen, KGW 31, 111, 173 / SKS 1, 162, 216; NB10:180 (DSKE 5, 410 / SKS 21, 349).  Angesichts der sogleich genannten Stellen erscheint es wenigstens fraglich, inwieweit sich das Daimonium des Sokrates klar von anderen Verwendungsweisen des Dämonischen abgrenzen lässt. Vgl. hierzu McDonald, Art.: Demonic, 147, 151 f.

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Sinne dieses Anliegens interpretiert er auch das Daimonium des Sokrates. Dabei ist es bemerkenswert, dass das Daimonium und der Dämon sich schon hier zu einer systematischen Bestimmung des Dämonischen überhaupt verdichten. Kierkegaard benennt die bei Sokrates aufgewiesene „Bestimmung der abstrakten Innerlichkeit“ direkt als „das Dämonische“ und hebt als „Hauptsache“ seiner Interpretation des Daimoniums hervor, „dass das Dämonische Sokrates’ gänzlich negatives Verhältnis zu dem Bestehenden in religiöser Hinsicht bezeichnet“; und näher besteht das Dämonische darin, dass Sokrates „das Bestehende verwarf, sich in sich verschloss, sich egoistisch auf sich selbst begrenzte“.⁵¹ Schon die erste Figuration des Dämonischen in Kierkegaards Werk bezeichnet also eine Gestalt selbstisch auf sich beharrender verschlossener Innerlichkeit, die durch eine negative, abgrenzende Position gegenüber dem Äußeren (dem ‚Bestehenden‘) charakterisiert ist, und dies insbesondere in religiöser Hinsicht. Dabei ist freilich zu beachten, dass Sokrates und sein Standpunkt der Ironie von Kierkegaard im zweiten Teil der Schrift als ‚welthistorisch berechtigte‘ Erscheinung ausgewiesen wird, die in ihrer Opposition gegen das ‚Bestehende‘ das ‚Prinzip der Subjektivität‘ in die Welt gebracht habe; demgegenüber werden moderne, romantische Formen der Ironie als unberechtigt kritisiert, als bloß willkürlich sich selbst genießende Formen der Subjektivität.⁵² Zwar argumentiert Kierkegaard hier noch nicht vornehmlich in christlichem Horizont, sondern, eigentümlich hegelianisierend, in ‚weltgeschichtlicher Perspektive‘, und er verwendet auch nicht explizit den Begriff des Dämonischen zur Charakterisierung der romantischen Ironie – gleichwohl ist deutlich, dass die sozusagen ‚funktionslose‘, verschlossene (und insofern ‚dämonische‘) Ironie gerade unter modernen Vorzeichen eine prekäre Gestalt darstellt. In Ansätzen bietet Kierkegaard in der Charakterisierung der (modernen) Ironie auch eine erste ‚phänomenale‘ Analyse des Dämonischen: Als Kernbestimmung der Ironie erscheint die Langeweile – „Langeweile, diese inhaltslose Ewigkeit, diese genusslose Seeligkeit, diese oberflächliche Tiefe, diese hungrige Übersättigung.“⁵³ Diese Darstellung der Ironie als innere Zweideutigkeit und Leere der Langeweile entspricht durchaus einer Beschreibung, die an früherer Stelle der

 KGW 31, 174 / SKS 1, 217. Diese Partien fassen die Analyse des Daimoniums zusammen; vgl. in der Analyse selbst auch die Bestimmung der „partikularen Persönlichkeit“ (KGW 31, 171 / SKS 1, 214).  Vgl. KGW 31, 263 – 292 / SKS 1, 297– 321. Vgl. zur Interpretation P. Schwab, Zwischen Sokrates und Hegel. Der Einzelne, die Weltgeschichte und die Form der Mitteilung in Kierkegaards Über den Begriff der Ironie, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2009, 127– 152 sowie Schwab, Der Rückstoß, 455 – 483.  KGW 31, 291 / SKS 1, 320.

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Schrift noch im Blick auf Sokrates gegeben und gerade mit dem Dämonischen verknüpft wird. Dort spricht Kierkegaard – mit Anklang an Stellen wie Mt 12,43 oder Lk 11,24 – von dem „ungeheuren Dämon, der die wüsten und leeren Stellen der Ironie behaust“.⁵⁴ In sich egoistisch und selbstisch verschlossene Innerlichkeit, die in dieser Innerlichkeit wesentlich Leere ist – so erscheint also zunächst das Dämonische. Schließlich bietet der zweite Teil der Ironieschrift auch noch den Übergang zur ersten Gestalt des Dämonischen im pseudonymen Werk, wobei sich eine gegenüber der sokratisch-ironischen Form des Dämonischen zunächst zu unterscheidende Valenz zeigt. In der Charakterisierung von Schlegels Lucinde bestimmt Kierkegaard die Figur des Julius negativ: Dieser sei „kein Don Juan“, der „durch seine sinnliche Genialität als ein Zauberer alles verführt“, welche sinnliche Genialität „Worte nicht beschreiben können, von der aber ein paar absolut gebietende Bogenstriche Mozarts eine Vorstellung geben können“; Don Juan seinerseits sei ein „Dämon, der keine Vergangenheit, keine Entwicklungsgeschichte hat, sondern sogleich wie Minerva voll gerüstet hervortritt“.⁵⁵ Hier wird zwar das ‚Dämonische‘ unmittelbar allein auf eine gewisse ‚Unzeitlichkeit‘ des Verführers Don Juan und nur indirekt auf die Sinnlichkeit bezogen. Im selben Abschnitt aber spricht Kierkegaard bezüglich der Romanfigur Lisettes davon, dass diese schon als Kind „dämonisch begeistert von der Sinnlichkeit“ gewesen sei.⁵⁶ Es ist auf den ersten Blick kaum einzusehen, wie die angezeigte Verbindung des Dämonischen und der Sinnlichkeit mit der sokratisch-ironischen Gestalt des Dämonischen als sich in sich verschließender Subjektivität in Einklang zu bringen ist – beschreibt doch letztere offenbar ein entschieden geistiges Prinzip. Diese Frage ist dann ein Gegenstand von Kierkegaards erster pseudonymer Schrift.

2.2 Das Dämonische als Sinnlichkeit, Geist und Langeweile – Entweder/Oder Die Bestimmung des Dämonischen als Sinnlichkeit findet sich im ersten Auftritt des Dämonischen in Kierkegaards pseudonymem Werk, namentlich in dem Don Juan gewidmeten Essay „Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musi-

 KGW 31, 128 / SKS 1, 177.  KGW 31, 298 f. / SKS 1, 327.  KGW 31, 300 / SKS 1, 328. Kierkegaard zitiert hier teilweise Schlegel wörtlich, aber das Adjektiv „dämonisch“ ist sein eigener Zusatz. Ein wenigstens verwandter Begriffsgebrauch zeigt sich dort, wo Kierkegaard von „der leidenschaftlichen Unruhe, all dem Dämonischen“ in Alkibiades’ Liebe zu Sokrates spricht (KGW 31, 51 / SKS 1, 112).

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kalisch-Erotische“ des ersten, ‚ästhetischen‘ Teils von Entweder/Oder (1843). Der Hauptsatz des Ästhetikers in dieser Hinsicht lautet: „Die Musik ist das Dämonische. In der erotischen sinnlichen Genialität hat die Musik ihren absoluten Gegenstand“.⁵⁷ Diese durch die Musik ausgedrückte ‚Genialität‘ ist verkörpert in Don Juan als dem unmittelbaren Verführer – in ihm erscheinen die Sinnlichkeit und das „Begehren“ als „absolut gesund, siegreich, triumphierend, unwiderstehlich und dämonisch“.⁵⁸ Die hiermit gegebene Bestimmung des Dämonischen erklärt sich wesentlich aus ihrem Kontext. Der Ästhetiker vertritt die Auffassung, dass die Sinnlichkeit als ein Prinzip erst durch das Christentum gesetzt worden sei – und dies eben dadurch, dass das Christentum in seinem Prinzip des Geistes die Sinnlichkeit ausschließe und sie damit erst eigentlich als solche bestimme. Der Kulmination der Sinnlichkeit als „erotische sinnliche Genialität“⁵⁹ aber eigne wesentlich Unmittelbarkeit; werde ein Ausdruck für diese Unmittelbarkeit verlangt, so sei ein solcher nur in der unmittelbarsten aller Künste zu suchen – in der Musik.⁶⁰ Insofern kann der Ästhetiker sagen, dass die Musik sich „im strengen Sinne“ als „eine christliche Kunst“ erweise, „oder richtiger als die Kunst, die das Christentum setzt, indem es sie von sich ausschließt, als Medium für dasjenige, was das Christentum von sich ausschließt und dadurch setzt“.⁶¹ Vergleicht man diese Bestimmung des Dämonischen mit der an Sokrates aufgewiesenen, so zeigt sich zugleich eine inhaltliche Differenz und eine strukturelle Parallele. Ist bei Sokrates das Dämonische als Subjektivität gerade geistig, so ist es im nur musikalisch darzustellenden Don Juan als Unmittelbarkeit eben sinnlich. Konstitutiv für das Dämonische ist aber bei beiden das Moment des Ausschlusses, oder begrifflich gesprochen, der Negativität: So wie Sokrates als in sich verschlossene Subjektivität sich negativ zum Bestehenden (Staat, Religion) verhält, so steht Don Juan als Inkarnation der sinnlich-erotischen Genialität in

 KGW 1, 68 / SKS 2, 71. Schon 1837 – in einer der frühsten Aufzeichnungen, die den Begriff des ‚Dämonischen‘ verwenden – notiert Kierkegaard zu seiner Auffassung, Don Juan sei „unmittelbar musikalisch“, als eine Bestätigung, dass „in der Volkssage das Dämonische wesentlich musikalisch ist“ (DD:69 (DSKE 1, 209 f. / SKS 17, 244)). Diese Partie bildet unmittelbar die Vorlage für die zweite Stelle zum Dämonischen im Don Juan-Essay, vgl. KGW 1, 77 f. / SKS 2, 79.Vom Dämonischen der Musik spricht in ähnlicher Hinsicht auch der Ethiker, vgl. KGW 2, 175 / SKS 3, 161. In einer späteren Aufzeichnung notiert Kierkegaard übrigens die Idee, auch Don Juans Diener Leporello als „Dämon“ zu interpretieren (Papir 385 (SKS 27, 459)).  KGW 1, 90 f. / SKS 2, 90.Vgl. die verwandten Charakterisierungen in KGW 1, 108 f., 114 f. / SKS 2, 105 f., 110.Vgl. auch die Analyse der Angst in Don Juan als „dämonische Lebenslust“ (KGW 1, 140 / SKS 2, 131).  KGW 1, 68 / SKS 2, 71.  Vgl. die Herleitung KGW 1, 64– 68 / SKS 2, 68 – 71.  KGW 1, 68 / SKS 2, 71.

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dem Bereich, den das Christentum als von sich ausgeschlossen bestimmt. Freilich kann dabei Don Juan als Gestalt des sinnlich-unmittelbaren Verführers nicht im Sinne verschlossener Innerlichkeit verstanden werden, er ist damit gleichsam ‚unschuldiger‘ als die reflektierte Negativität des Sokrates; ihm fehlt aber umgekehrt die ‚weltgeschichtliche Mission‘ des Sokrates, die diesem als einer berechtigten Grenzgestalt im Übergang zweier Epochen zukommt. Dieses dreifache Verhältnis von Sinnlichkeit, Geist und Christentum nimmt der Ästhetiker an späterer Stelle nochmals auf, indem er Don Juan eine weitere dämonische Figur kontrastierend zur Seite stellt, nämlich Faust. Hier erscheint dann doch auch Don Juan, wenngleich in anderer Weise als Sokrates, als Gestalt der Grenze: „Indem die Sinnlichkeit sich als das zeigt, das ausgeschlossen werden soll, als das, womit der Geist nichts zu tun haben will, ohne dass doch dieser ein Urteil über es gefällt oder es verdammt hat, da nimmt das Sinnliche diese Gestalt an, ist das Dämonische in ästhetischer Indifferenz.“⁶² Insofern gilt für das unmittelbar-ästhetische Dämonische in Don Juan, sofern es geschichtlich noch vor dem ‚Urteil‘ steht, nicht die Bestimmung der „Sünde“⁶³ – wohl aber offenbar für Faust, den der Ästhetiker nach diesem Indifferenzpunkt platziert. Daraus ergibt sich die folgende Dichotomie: „Don Juan ist also der Ausdruck für das Dämonische, bestimmt als das Sinnliche, Faust ist der Ausdruck für das Dämonische, bestimmt als das Geistige, das der christliche Geist ausschließt“.⁶⁴ Zwar ist die Gegenüberstellung deutlich, gleichwohl bleibt aber das spezifisch Dämonische in Fausts Geistigkeit nur skizzenhaft angezeigt. Einen wenigstens indirekten Hinweis gibt ein Komplementärtext zum Don Juan-Essay aus dem ersten Teil von Entweder/Oder, die der Darstellung von Frauengestalten in ‚reflektierter Trauer‘ gewidmete Rede „Schattenrisse“. In der Skizze zu Gretchen kommt der Ästhetiker auf die eben zitierte Dichotomie wieder zurück: „Faust ist ein Dämon ebenso wie ein Don Juan [es ist], aber ein höherer. Das Sinnliche bekommt erst Bedeutung für ihn, nachdem er eine ganze vorhergehende Welt verloren hat, aber das Bewusstsein dieses Verlustes ist nicht ausgetilgt, es ist beständig zur Stelle, und er sucht deshalb im Sinnlichen nicht so sehr Genuss als Zerstreuung.“⁶⁵ Daraus wäre annäherungsweise zu erschließen: Das Dämonische in Faust liegt zuerst in seiner Verzweiflung, die aus dem Scheitern seines Versuchs erwächst, die Welt im

 KGW 1, 96 / SKS 2, 95.  KGW 1, 96 / SKS 2, 94.  KGW 1, 96 / SKS 2, 95. Vgl. auch im Folgenden die Gegenüberstellung des „Geistig-Dämonischen“ und des „Dämonischen“ als „Naturmacht“ (KGW 1, 98 f. / SKS 2, 96 f.).  KGW 1, 221 / SKS 2, 201. Eine weitergehende explizite Analyse des Dämonischen in Faust gibt keine der vielen Stellen, die sich im Werk Kierkegaards mit dieser Figur beschäftigen. Vgl. die folgende Anm.

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Ganzen durch Wissen zu fassen, und die ihn in verschlossener Schwermut auf sich selbst zurückwirft – und erst in zweiter Hinsicht in seiner daraus folgenden Hinwendung zur Sinnlichkeit als Zerstreuung.⁶⁶ Wird in Don Juan und Faust die Bestimmung des Dämonischen an konkreten Figuren komplementär vorgeführt, so findet sich der Begriff im ersten Teil von Entweder/Oder auch noch in einer anderen Hinsicht, nämlich im ‚theoretischen Traktat‘ des Ästhetikers, der „Wechselwirtschaft“.⁶⁷ Der wesentliche Unterschied zu den bisher (und auch im Folgenden) dargestellten Fällen besteht darin, dass das Dämonische hier nicht mehr der von außen geführten Analyse einer Existenzform dient, sondern aus der Innenperspektive, sozusagen ‚in eigener Sache‘, vom Ästhetiker mobilisiert wird.⁶⁸ Dabei nimmt der Ästhetiker eine Konzeption aus der Ironieschrift in verwandelter Form auf, bestimmt er doch die „Langeweile“ als den „dämonischen Pantheismus“.⁶⁹ Strukturell durchaus verwandt mit Schellings Gegenüberstellung von (wahrem) „Pantheismus“ und „Pandämonismus“ (SW VII, 355) in der Freiheitsschrift, obschon freilich in ganz anderer Absicht, kontrastiert auch der Ästhetiker: „Im Pantheismus liegt im Allgemeinen die Bestimmung der Fülle, mit der Langeweile ist es umgekehrt, sie ist auf Leere gebaut, aber eben deshalb eine pantheistische Bestimmung. Langeweile ruht auf dem Nichts, das sich durch das Dasein schlingt“.⁷⁰ Die dämonische Langeweile ist mithin dem Ästhetiker der umgekehrte Pantheismus. Sie ist insofern pantheistisch, als sie eine allumfassende Bestimmung des Daseins gibt, obschon allein eine negative, die es ‚aufzuheben‘ gilt, wie der Ästhetiker in ironischem Anklang an den Hegelianismus ausführt: Bleibt man bei der Langeweile „als solcher stehen, so wird sie das Böse, sobald sie hingegen aufgehoben wird, so ist sie wahr“⁷¹ – und das Programm der ‚Wechselwirtschaft‘ besteht dann allein darin, die ge-

 Vgl. zum Hintergrund z. B. BB:49 (DSKE 1, 150 – 153 / SKS 17, 138 – 140), wo allerdings die Bestimmung des Dämonischen nicht fällt.Vgl., ohne Bezug auf Faust, auch eine frühe Notiz, nach der „der Zweifel das Dämonische“ ist, das durch den „Glauben“ überwunden werde (Not5:20 (DSKE 3, 195 / SKS 19, 185)).  Vgl. zu diesem Text bes. P. Lübcke, Kierkegaard: Aesthetics and the Crisis of Metaphysics, in: B. Bertung (Hg.), Kierkegaard – Poet of Existence, Kopenhagen 1989, 75 – 83.  Zur wichtigen Frage nach Innen- und Außenperspektive vgl. nochmals Hackel, Das Dämonische, 398, 400.  KGW 1, 309 / SKS 2, 279. Vgl. zur ‚dämonischen Langeweile‘ in der Forschung, im Blick auf Entweder/Oder und den Begriff Angst, W. McDonald, Kierkegaard’s Demonic Boredom, in: C. Salzani/B. dalla Pezza (Hg.), Essays on Boredom and Modernity, Amsterdam/New York 2009, 61– 84; L. Liva, The Abyss of Demonic Boredom. An Analysis of the Dialectic of Freedom and Facticity in Kierkegaard’s Early Works, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2013, 143 – 155.  KGW 1, 310 / SKS 2, 280.  KGW 1, 309 / SKS 2, 279.

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lingende Form dieser ‚Aufhebung‘ auszuweisen. Sei nämlich die Langeweile als „Wurzel allen Übels“ erkannt, so komme es „vornehmlich auf ruhige Überlegung an, sodass man nicht, dämonisch besessen von der Langeweile, indem man ihr entfliehen will, sich in sie hineinarbeitet“.⁷² Dieser Begriff des Dämonischen weicht nun offenkundig von den vorherigen ab; er bezeichnet nicht die existenzielle Physiognomie eines bestimmten Typus, sondern erscheint als Grundbestimmung des Daseins überhaupt. Gewiss lässt sich diese Auffassung durch eine von außen kommende Interpretation in Kontinuität mit den bisherigen Analysen setzen. Hinterlegt man der „Wechselwirtschaft“ die vom Ästhetiker selbst gegebenen Deutungen Don Juans und insbesondere Fausts, so kann die Charakterisierung der Langeweile als ‚dämonisch‘ im Sinne einer versteckt formulierten Einsicht des Ästhetikers interpretiert werden, seine eigene Existenz sei wesentlich Schwermut und Verschlossenheit, was sich im ‚ästhetischen Aktionismus‘ der Wechselwirtschaft als bloß äußerlicher Hülle gerade bestätige.⁷³ Diese Auslegung ist aber – wie auch die Deutung des Ästhetikers durch den Ethiker⁷⁴ – gerade nicht zwingend, sofern sie sich nicht unmittelbar und mit Notwendigkeit aus der Innenperspektive ergibt.⁷⁵ Der Ästhetiker selbst beschreibt im ‚dämonischen Pantheismus‘ zunächst die nihilistische Grunderfahrung einer Sinnleere des Daseins, als Erfahrung einer ‚Macht‘, die von der Existenz beständig Besitz zu ergreifen droht – und die es deshalb in der Existenz zu bewältigen gilt. Das Dämonische als egoistische, aber welthistorisch gültige Verschlossenheit in Sokrates; als unmittelbar-erotische Sinnlichkeit in Don Juan; als Schwermut des Verlusts in Faust, und schließlich als Erfahrung der Sinnleere des Daseins im Ästhetiker selbst – damit ist ein erstes Panorama des Dämonischen umrissen, das

 KGW 1, 311 / SKS 2, 280 f.  In einer späteren Notiz beschreibt auch Kierkegaard, wie das Dämonische beständig zugleich das Gegenteil dessen sagt, was es sagen will, und damit indirekt auch auf das „Heilmittel“ gegen das Dämonische hindeute. Vgl. NB30:88 (T V, 231 / SKS 25, 457) und auch bereits NB15:71 (SKS 23, 49).  In der Analyse des Ethikers deutet sich an mehreren Stellen an, dass er den Ästhetiker als ‚dämonische‘ Gestalt versteht. Vgl. KGW 2, 128 f., 170 / SKS 3, 121, 158. Der Herausgeber des Werks, Victor Eremita, spricht zwar nicht in Bezug auf den Ästhetiker, aber im Blick auf dessen literarisches ‚alter ego‘, den Verführer des Tagebuchs, vom „dämonischen Blick“ (KGW 1, 10 / SKS 2, 17). Kierkegaard selbst notiert als Titel für eine mögliche Fortsetzung: „Das Tagebuch des Verführers. \ Nr. 2.\ Ein Versuch im Dämonischen \ von \ Johannes Mephistopheles“ (JJ:183 (DSKE 2, 205 / SKS 18, 199)).  Vgl. zu dieser Frage P. Schwab, Ethik und Ethikkritik. Philosophie der Existenz bei Kierkegaard und Nietzsche, in: H. Feger/M. Hackel (Hg.), Existenzphilosophie und Ethik, Berlin/Boston 2014, 89 – 111, hier bes. 94– 96.

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offenkundig nicht bloß einen Begriff repräsentiert. Die folgenden Schriften Kierkegaards werden die Figurationen des Dämonischen noch beträchtlich erweitern, oftmals, wie im Falle Sokrates’, Don Juans und Fausts, vorgeführt an konkreten Figuren – etwa in der Darstellung des Wassermanns in Furcht und Zittern ⁷⁶ sowie des Modehändlers und des Quidam in den Stadien auf des Lebens Weg. ⁷⁷ Die begrifflich geschärftesten und umfänglichsten Analysen bieten aber der Begriff Angst und, daran anschließend, die Krankheit zum Tode.

2.3 Das Dämonische als ‚Angst vor dem Guten‘ – Der Begriff Angst und die Krankheit zum Tode Die 1844 unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis publizierte Abhandlung Der Begriff Angst ist die systematischste Schrift in Kierkegaards so genannter ‚erster pseudonymer Phase‘ bis 1846. Angesichts der von Johannes Climacus in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift formulierten Leitthese „Ein System des Daseins kann es nicht geben“⁷⁸ erscheint allerdings diese Form der Angstschrift im Horizont von Kierkegaards Existenzdenken keineswegs als unproblematisch; und wenn Climacus in seinem Rückblick auf die zuvor erschienenen pseudonymen Werke sagt, die Abhandlung zur Angst sei „direkt und sogar ein wenig dozierend“,⁷⁹ so handelt es sich offenkundig kaum einfach um ein Kompliment. Nun lässt sich aber gerade auch der systematisierende Grundzug der Angstschrift im Sinne eines indirekten Verfahrens auffassen.⁸⁰ Vigilius Haufniensis tritt als der uninteressierte und Phänomene schematisierende Beobachter  Vgl. KGW 3, 51, 98 f., 106 – 123 / SKS 4, 143, 177 f., 183 – 196.  Vgl. KGW 9, 109 f., 124– 126, 140 – 142, 155 – 157, 175, 179, 208 f., 221, 242 f., 423 f., 449 f., 453 f., 461 f., 464 f., 476, 480 f., 483 – 487, 502– 504, 515, 517– 525 / SKS 6, 100 f., 113 f., 126 – 128, 139 – 141, 156, 159, 185 f., 196 f., 214– 216, 369 f., 390 f., 394 f., 401, 403 f., 413, 417, 419 – 422, 435 f., 446, 448 – 454 und dazu JJ:326 (DSKE 2, 251 f. / SKS 18, 243 f.); NB28:103 (T V, 174 f. / SKS 25, 290); NB29:113 (T V 205 / SKS 25, 376); NB30:99 (SKS 25, 467). Vgl. im publizierten Werk auch KGW 4, 28 – 30, 36 – 38, 60 f., 77 f. / SKS 4, 31 f., 37– 39, 58 f., 75 f.; KGW 10, 71 f., 248 – 250, 294 f. / SKS 7, 80, 231 f., 271 f.; KGW 12, 33 Anm., 50, 92 f., 110 f. / SKS 8, 33 Anm., 47 f., 82 f., 98 f.; KGW 16, 107 f. / SKS 11, 85 f.; KGW 18, 17/ SKS 12, 32 f.Vgl. im Buch über Adler KGW 26, 35 f. Anm., 41– 44, 54 f., 58 f., 60 – 62 / SKS 15, 143 Anm., 149 – 153, 162, 167 f., 170 – 173 sowie im Gesichtspunkt KGW 23, 22 f., 76 f. / SKS 16, 12, 59 f.  KGW 10, 101 / SKS 7, 105.  KGW 10, 264 / SKS 7, 245. Vgl. zu diesem Rückblick Schwab, Der Rückstoß, 131– 134.  Vgl. zur Darstellungsform der Angstschrift, auch in Bezug auf Schelling, P. Schwab, Sprung und intelligible Tat. Zu Kierkegaards Transformation einer Grundfigur aus Schellings Freiheitsschrift, in: G. Wenz (Hg.), Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift 1809, München 2010, 99 – 112 sowie ausführlich ders., Der Rückstoß, 528 – 548.

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auf, der sich streng in den Grenzen seiner eigenen Wissenschaft, der Psychologie, hält, und den Leser auch stets auf diese Begrenzung aufmerksam macht: Gerade der einzelne Existierende ist im schematisierend-verallgemeinernden Verfahren des Psychologen nicht zu erreichen und steht mithin beständig aus. So ist letztlich auch Vigilius’ Verfahren allein ‚aufmerksam-machend‘, verweist also den Einzelnen zurück auf sich selbst und ist in dieser Hinsicht indirekt. Die eigentümliche Methode der Schrift ist auch im Blick auf die in ihr formulierte Analyse des Dämonischen zu beachten; diese erfolgt unter einer bestimmten Perspektive sowie unter einer vorgegebenen ‚Schematisierungsform‘ und deckt eben deshalb nicht alle Gestalten des Dämonischen ab, die sich in Kierkegaards Gesamtwerk zeigen. Gerade in Caput IV, das fast gänzlich dem Dämonischen gewidmet ist,⁸¹ unterstreicht Haufniensis mit einer charakteristischen Wendung die Grenze seiner Ambition: „Die Hauptsache für mich ist hier allein, mein Schema in Ordnung zu haben“.⁸² Im Rückblick auf das bislang Entwickelte fragt sich dabei wenigstens, wie die dämonischen Gestalten des Sokrates und Don Juans im Schema der Angstschrift einzuordnen wären. Bemerkenswerterweise erscheinen nämlich beide Figuren auch kurz in der Analyse des Begriffs Angst – ohne aber klar auf das Dämonische bezogen zu werden. Vigilius deutet selbst auf den Don Juan-Essay aus Entweder/Oder zurück und stimmt dem Verfasser zu, Don Juan sei „wesentlich musikalisch“.⁸³ Dies dient aber allein der Kontrastierung: Die Gestalt des Dämonischen wird hier nicht an Don Juan und auch nicht an Faust, sondern an Mephistopheles verdeutlicht, und diese sei, so heißt es abgrenzend, „wesentlich mimisch“.⁸⁴ So aber bleibt offen, inwiefern die ästhetisch-unmittelbare Dämonie Don Juans in Vigilius’ Auffassung ihren Ort hat. Ähnlich verhält es sich im Falle des Sokrates. Eher beiläufig kommt Vigilius in der polemischen Erörterung des Begriffs der Negativität auf Sokrates’ Ironie zu sprechen und bestimmt diese auch seinerseits als „Verschlossenheit“ – er charakterisiert sie aber, mit Anspielungen auf Mt 6,6, näher als ein ‚Ausweiten im Göttlichen‘ und damit gerade nicht als dämonische Verschlossenheit.⁸⁵ Mithin bietet auch die Darstellung des Dämonischen im Begriff Angst nicht den alles umspannenden Begriff des

 Vgl. zur Interpretation dieser Partie auch R. L. Hall, Language and Freedom: Kierkegaard’s Analysis of the Demonic in The Concept of Anxiety, in: R. L. Perkins (Hg.), The Concept of Anxiety, Macon 1985, 153– 166.  KGW 7, 143 / SKS 4, 438.  KGW 7, 136 Anm. / SKS 4, 432 Anm.  KGW 7, 136 / SKS 4, 432.  Vgl. KGW 7, 139 / SKS 4, 434 f. Die Anspielung auf den Bibelvers liegt darin, dass von Sokrates gesagt wird, er habe „damit begonnen, seine Tür zu schließen […], um im Verborgenen zu reden“ (KGW 7, 139 / SKS 4, 435).

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Dämonischen, sondern allein einen, freilich erhellenden Zugang zum Phänomen neben anderen. Der Ort des Dämonischen wird in Caput IV durch Vigilius’ Analyse des Zusammenhangs von Angst und Sünde bestimmt; es liegt als eine von zwei Optionen in der „Angst der Sünde“, das heißt genauer in der „Angst als Folge der Sünde im Einzelnen“.⁸⁶ Ist nämlich einmal die Sünde im Individuum gesetzt, also durch „den qualitativen Sprung […] in die Welt gekommen“, so bezieht sich die Angst zwar weiterhin – wie im ‚Urgeschehen‘ in Caput I – auf Möglichkeit, aber hier nun auf eine konkrete Möglichkeit, nämlich auf die Folge oder die „Konsequenz“ der bereits gesetzten Sünde.⁸⁷ Diese Konsequenz kann eine zweifache sein: Entweder das Individuum ängstigt sich in der Sünde vor der weiteren Sünde – dies ist die Angst vor dem Bösen. Oder aber das Individuum verharrt in der Sünde und ängstigt sich vor der Aufhebung der Sünde – dies ist die Angst vor dem Guten, die Vigilius im Titel des Abschnitts direkt als „Das Dämonische“ bestimmt.⁸⁸ Mit dieser Gleichung verfolgt Vigilius ein doppeltes Ziel: Einerseits soll das Dämonische offenkundig die Angst vor dem Guten erläutern; andererseits soll aber zugleich die Angst vor dem Guten auch das Phänomen des Dämonischen erst eigentlich erklären, wobei Vigilius seinen Ausgangspunkt in den Dämonen-Darstellungen des Neuen Testaments nimmt.⁸⁹ Aus dem Schema von Caput IV erhellt nun, dass das Dämonische keineswegs einfach mit der „Knechtschaft der Sünde“ gleichzusetzen ist: Diese ist nämlich „ein unfreies Verhältnis zum Bösen“, eben die Angst vor dem Bösen, und befindet sich daher „von einem höheren Standpunkt aus im Guten“.⁹⁰ Das Dämonische hingegen hat eine andere Qualität, es steht im Bösen und ist „ein unfreies Verhältnis zum Guten“ – wozu der Psychologe Vigilius lakonisch anmerkt, „das Gute“ bezeichne hier „natürlich Wiederherstellung der Freiheit, Erlösung, Errettung, oder wie man es nennen mag“.⁹¹ Gegen dieses Gute ‚sperrt‘ sich gleichsam das Dämonische, es ist also ein direkter Widerstand gegen die Erlösung durch Aufhebung der Sünde und erscheint eben darin gegenüber der ‚Angst vor dem Bösen‘ als potenzierte Form der Sünde.⁹²  KGW 7, 114 / SKS 4, 413. Offenkundig können gerade aufgrund dieser Ausgangsperspektive der Grieche Sokrates und auch Don Juan als ‚ästhetische Indifferenz‘ (s.o.) nicht unmittelbar mit einbezogen werden.  KGW 7, 114– 116 / SKS 4, 413 – 415.  KGW 7, 122 / SKS 4, 420.  Vigilius verweist auf Mt 8,28 u. 34; Mk 5,1– 20; Lk 8,26 – 39 u. Lk 11,14. Vgl. KGW 7, 123 / SKS 4, 421.  KGW 7, 123 / SKS 4, 421.  Ebd.  Diese ‚Potenzierung‘ ergibt sich der Sache nach, sie wird aber von Vigilius nicht ausdrücklich als solche formuliert.Vgl. den Hinweis im Blick auf die Reue (KGW 7, 119 / SKS 4, 417) und vor allem

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Bemerkenswert ist dabei, wie weit Vigilius’ Darstellung ausgebreitet ist; das Dämonische habe einen weit größeren „Umfang“ als zumeist angenommen, ja es fänden sich „Spuren davon in jedem Menschen, so sicher wie jeder Mensch ein Sünder ist“.⁹³ Schien das Dämonische bislang der Bestimmung von Ausnahmeexistenzen und ‚Grenzgängern‘ vorbehalten, so wird es nun zum allgemeinen Phänomen. In der näheren Klärung des Begriffs orientiert sich Vigilius an drei Sätzen. Das Dämonische wird zunächst im Allgemeinen gefasst als „Unfreiheit“ – wohlgemerkt als selbstverschuldete –, die zugleich „sich abschließen will“, also in ihrer Unfreiheit verschlossen bleiben möchte.⁹⁴ Das führt zum ersten Satz als Doppelbestimmung: „Das Dämonische ist das Verschlossene und das unfreiwillig Offenbare“.⁹⁵ Hier wird die Charakteristik des Dämonischen als Verschlossenheit vertieft, die sich schon bei Sokrates in der Ironieschrift gezeigt hatte: Das Individuum schließt sich gleichsam mit sich selbst ein, verweigert die ‚Durchsichtigkeit‘ oder eben die ‚Offenbarkeit‘ nach außen. Das Dämonische ist „das Stumme, und wenn dieses sich äußern soll, muss das gegen seinen Willen geschehen, indem die der Unfreiheit zugrunde liegende Freiheit, bei der Kommunikation mit der Freiheit außer ihr, revoltiert, und nun die Unfreiheit verrät, derart, dass es das Individuum ist, das sich gegen seinen Willen verrät in der Angst“.⁹⁶ Darin wird nochmals sichtbar, dass Vigilius die Unfreiheit im Dämonischen als einen selbstverschuldeten Verlust der Freiheit versteht, die aber gleichsam die ‚Verbindung‘ mit der ‚ursprünglichen‘ Freiheit nie gänzlich abzubrechen vermag und deshalb, trotz des dämonischen Beharrens auf der Verschlossenheit, in der Berührung mit der Freiheit außer ihr unfreiwillig offenbar wird. Diese Bestimmung wird durch den zweiten Satz reflektiert: „Das Dämonische ist das Plötzliche“.⁹⁷ Hier zeigt sich von einer anderen Seite, was dem Dämonischen wesentlich fehlt, nämlich Zusammenhang oder „Kontinuität“.⁹⁸ Setzt die

die verwandte Figur in der Krankheit zum Tode, in der die „Verzweiflung über seine Sünde“ als „Potenzierung“ der Sünde beschrieben wird (KGW 17, 109 / SKS 11, 221).  KGW 7, 126 / SKS 4, 423 f.  KGW 7, 127 / SKS 4, 424.  Ebd. Vgl. zur Verschlossenheit des Dämonischen auch JJ:341 (DSKE 2, 260 / SKS 18, 252); NB2:53 (DSKE 4, 180 / SKS 20, 161 f.); NB23:207 (T 5, 306 – 309 / SKS 24, 304– 307), zur Stummheit des Dämonischen auch NB:111 (DSKE 4, 94 /SKS 20, 85).Vgl. zum Egoismus auch NB23:81 (SKS 24, 247 f.).  KGW 7, 127 / SKS 4, 425.  KGW 7, 134 / SKS 4, 430. Vgl. zum zweiten und dritten Satz die erste entsprechende Notiz von 1843 in JJ:104 (DSKE 2, 177 f. / SKS 18, 172 f.), in der auch die oben zitierte Bemerkung zu Mephistopheles und dem ‚Mimischen‘ bereits vorgeprägt ist.  KGW 7, 134 / SKS 4, 430.

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Verschlossenheit eine Diskontinuität zwischen Innen und Außen, so zeigt das Plötzliche eine Diskontinuität im Blick auf die Zeit. Als nur unfreiwillig Offenbares erscheint das Dämonische allein abrupt und zusammenhangslos auf, als das ‚Unberechenbare‘, und gerade in diesem plötzlichen Aufscheinen wird „der Unfreiheit Angst“.⁹⁹ Bemerkenswert ist dabei, dass Vigilius zwar zunächst klar sündentheologisch ansetzt, im Einzelnen aber tendenziell ethisch argumentiert: Die Forderungen der Durchsichtigkeit, Offenbarkeit, Kontinuität und Kommunikation sind in den drei Sätzen zum Dämonischen in Bezug auf den „Zusammenhang mit dem übrigen Menschenleben“ formuliert; das Verschlossene und das Plötzliche sind vornehmlich in der Opposition zum innenweltlichen Außen gefasst.¹⁰⁰ So erscheint in der näheren Durchführung das Dämonische weniger als ein ‚Handaufheben gegen Gott‘, als man im Eingang hätte erwarten können – dieses Motiv wird dann aber in der Krankheit zum Tode klar mit dem Dämonischen verbunden werden. Im Blick auf die Bestimmung des Plötzlichen im zweiten Satz bringt Vigilius selbst den Einwand auf, man könne versucht sein, doch gerade dem Dämonischen in seiner Verschlossenheit eine „außerordentliche Kontinuität“ zuzusprechen; hierbei aber handele es sich allein um eine „Schein-Kontinuität“, die dem Drehen des Kreisels auf seiner Spitze vergleichbar sei, mithin um das „traurige perpetuum mobile eines Einerlei“.¹⁰¹ Dies erläutert der dritte Satz, der wiederum eine Bestimmung aus früheren Konzeptionen des Dämonischen aufnimmt: „Das Dämonische ist das Inhaltlose, das Langweilige“.¹⁰² Die Verschlossenheit des Dämonischen ist gerade kein Positives, kein Reichtum inneren Gehaltes – in ihm herrscht vielmehr die „grauenhafte Leere“, das „Negative“, das Hohle, das „Nichts“.¹⁰³ Auffällig ist im Ganzen, wie bereits bemerkt, dass Vigilius in seiner Analyse das Dämonische als ein geradezu allgegenwärtiges Phänomen vor-

 KGW 7, 137 / SKS 4, 433.  KGW 7, 134 / SKS 4, 431.Vgl. dazu den bemerkenswerten Hinweis zur Kommunikation, „selbst wenn man auf die religiöse Bedeutung des Wortes Rücksicht nehmen will, schadet es nichts“ (BA, 128 / SKS 4, 425; Herv. v. Verf.). Ob diese Begrenzung in Vigilius’ psychologischem ‚Abstand‘ zu dogmatischen Bestimmungen begründet ist, ist nicht auszumachen; immerhin spricht er auch direkt von Sünde, selbst wenn er diese als Grenzbegriff behandelt. Vgl. zur Forderung des Ethischen in der hier behandelten Hinsicht nochmals Hackel, Das Dämonische, 397 f.  KGW 7, 134 / SKS 4, 431. „Einerlei“ auch bei Kierkegaard deutsch.  KGW 7, 137 / SKS 4, 433.  KGW 7, 138 f. / SKS 4, 434 f. In der ‚grauenhaften Öde‘ und Leere klingen die Formulierungen zu Sokrates aus der Ironieschrift an, und nicht zufällig findet sich im Anschluss die oben genannte Partie zur Ironie, in der diese aber gerade nicht mehr als dämonische Gestalt charakterisiert wird.

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führt.¹⁰⁴ So heißt es etwa im Blick auf das „Offenbarwerden“, dieses könne das „Allererhabenste (Erlösung im eminenten Sinne) und das Unbedeutendste (Aussprechen einer Zufälligkeit) bedeuten“, aber „dies darf nicht verwirren, die Kategorie ist dieselbe; die Phänomene haben dies gemeinsam, dass sie dämonisch sind, mag auch der Unterschied im Übrigen schwindelerregend sein“.¹⁰⁵ Verdichten sich also in der Angstabhandlung einerseits zentrale Bestimmungen des Dämonischen – so die Verschlossenheit und die Langeweile – zu einer systematischen Figur, so droht doch andererseits der Begriff durch seine immense Ausweitung an Spezifität einzubüßen. Die Krankheit zum Tode, 1849 unter dem ‚neuen‘ Pseudonym Anti-Climacus erschienen, schließt zwar durchaus an die zentralen Bestimmungen des Begriffs Angst an, präsentiert aber wieder eine klarer eingegrenzte Konzeption des Dämonischen. Das Dämonische ist auch hier Verschlossenheit,¹⁰⁶ erhält aber zugleich eine genau bestimmte Position in der Verzweiflungsanalyse: „Die dämonische Verzweiflung ist die potenzierteste Form der Verzweiflung, die verzweifelt sie selbst sein will“.¹⁰⁷ Demnach ist das Dämonische die höchste, geistigste Gestalt des Trotzes als ‚verzweifelt man selbst sein wollen‘, und steht als solche nicht zufällig am Ende des ersten Abschnitts der Untersuchung. Diese Form der Verzweiflung wird in zwei Hinsichten beschrieben: Einerseits beharrt die spezifisch dämonische Gestalt des Trotzes nicht allein im allgemeinen Sinne auf sich selbst, sondern auf ihrem Leiden oder ihrer Qual. Dieses Leiden macht sie zur Kernbestimmung und zum Auszeichnenden ihres Selbst und möchte es um jeden Preis festhalten. Gerade darin erweist sich der dämonisch Verzweifelte als eine Formation der ‚Angst vor dem Guten‘: Er ängstigt sich vor „der Ewigkeit“, und zwar davor, dass sie ihn „scheiden würde von seinem, dämonisch verstanden, unendlichen Vorzug vor anderen Menschen, seiner, dämonisch verstanden, Berechtigung, der zu sein, der er ist“.¹⁰⁸ Die dämonische Verzweiflung leitet also ihre Berechtigung, gegen alles allein aus und in sich selbst zu sein, von ihrem Leiden ab, und eben deshalb darf dieses Leiden nie überwunden, nie ‚gehoben‘ werden. Andererseits aber schließt sich der dämonische Trotz, obwohl wesenhaft Verschlossenheit, nicht schlechterdings in sich selbst ab. Die dämonische Verzweiflung besteht nach Anti-Climacus nicht darin, dass sie sich trotzig losreißt

 Dies zeigt sich auch in der abschließenden Partie zu Formen des Freiheitsverlusts, in denen das Dämonische im Blick auf das ‚Ausbleiben der Ewigkeit‘ an einer Fülle von Existenzgestalten skizzenhaft ausgewiesen wird. Vgl. KGW 7, 141– 160 / SKS 4, 437– 453.  KGW 7, 131 / SKS 4, 428.  Vgl. KGW 17, 66 f. / SKS 11, 180 f.  KGW 17, 74 / SKS 11, 187.  KGW 17, 72 / SKS 11, 186.

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Philipp Schwab

von der „Macht, die sie gesetzt hat“; vielmehr will sie „aus Trotz sich ihr aufnötigen“, und zwar als „Einwand gegen das ganze Dasein“ – als Einwand gegen die „Gutheit“ des Daseins und damit auch gegen den Schöpfer.¹⁰⁹ Klarer als im Begriff Angst ist mithin der dämonische Trotz als eine ‚Revolte‘ gegen Gott gekennzeichnet. In dieser polemischen Position verhärtet sich das dämonisch verzweifelte Selbst und weist Trost und Erlösung von sich, hieße dies doch, als der Einwand gegen Dasein und Gott, in dem es trotzig es selbst sein will, aufgehoben zu werden. Diesen vor der Erlösung im Guten sich verschließenden dämonischen Trotz vergleicht Anti-Climacus zum Abschluss mit einem Schreibfehler, der „gegen den Verfasser Aufruhr machen“ wollte und „in wahnwitzigem Trotz“ zu diesem sagte: „Nein, ich will nicht ausgestrichen werden, ich will stehen bleiben als Zeuge gegen Dich, als Zeuge dafür, dass Du ein mäßiger Schriftsteller bist“.¹¹⁰ *** Abschließend seien in aller Kürze die Konzeptionen des Dämonischen bei Schelling und Kierkegaard nochmals vergleichend zusammengeführt. Beide Denker gehen in ihrer Darstellung des Dämonischen von weitgehend gemeinsamen Traditionslinien aus, setzen aber leicht abweichende Akzente; während Schelling stärker auf den mythologischen Hintergrund des Begriffs abhebt, bezieht sich Kierkegaard eindeutiger auf die sokratische und die christliche Tradition, die freilich in Schellings Werk ebenfalls präsent sind. Bei Schelling wie bei Kierkegaard zeigt sich das Dämonische in vielfachen Formen, wobei Kierkegaard dem Phänomen aufs Ganze gesehen doch eine deutlich größere Aufmerksamkeit zukommen lässt – und gerade im Werk Kierkegaards widersetzt sich die phänomenale Vielgestaltigkeit des Dämonischen einem systematisierenden Zugriff. Schließlich fassen beide an prominenten Stellen ihres Werkes das Dämonische als eine Grenzgestalt des Menschlichen auf, und am nächsten dürften sie sich dort kommen, wo das Dämonische als das eminent Böse bestimmt wird. In der Akzentuierung der Grenzposition des Dämonischen zeigt sich allerdings auch die markanteste Differenz der Auffassung, die zugleich auf einen Unterschied der denkerischen Ansätze im Ganzen verweist: Während in Schellings eingehendster Untersuchung das Dämonische als die essentifizierte und ‚höchst-wirkliche‘ Gestalt des Menschen im Übergang in das Geisterreich erscheint, liegt die Pointe von

 KGW 17, 74 / SKS 11, 187.  Ebd. Vgl. auch die weiteren Erläuterungen in KGW 17, 108 – 111 / SKS 11, 220 – 222. Vgl. hierzu auch eine spätere Notiz, nach der das Dämonische das „Umgekehrte“ des Glaubens ist und das „Heilmittel“ auch ahnt, aber zurückweist, sofern es für das Dämonische als solches verderblich ist (NB30:88 (T 5, 231 / SKS 25, 457)). Vgl. zu dieser Umkehrung im Dämonischen auch bereits NB15:71 (SKS 23, 49).

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Kierkegaards geschärftesten Analysen darin, das Dämonische als problematische Figuration der Verschlossenheit gerade in der konkreten, das heißt für ihn diesseitigen Existenz auszuweisen.

Peter Schüz

Heilige Scheu als religiöses Urphänomen Das Dämonische und das Numinose bei Rudolf Otto Religion fängt mit sich selber an und ist selber schon in ihren ‚Vorstufen‘ des Mythischen und Dämonischen wirkend.¹ Rudolf Otto

In der zweiten Hälfte des Jahres 1916 schrieb Rudolf Otto an den Jenaer Neutestamentler Heinrich Weinel, um ihm als dem Herausgeber der Schriftenreihe Lebensfragen im Verlag J. C. B Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen ein soeben fertiggestelltes Buchmanuskript anzubieten: Gestern habe ich meine Arbeit über das Heilige vollendet. Zur Politur, zur Auffüll[un]g von Lücken, für Nachträge u[nd] Berichtig[un]gen rechne ich noch etwa 14 Tage arbeit. Ein Nachtragskapitel über das IRRationale in der Mystik und v[ie]ll[ei]cht noch eine Auseinandersetzung über das Irrationale in Goetheʼs Auffassung des Dämonischen will ich erst schreiben, wenn die Sache im Druck ist, da ich dann erst übersehen kann wie lang das Ganze wird. Zu lang soll sie nicht werden. Und deswegen lasse ich v[ie]ll[ei]cht diese Kapitel ganz fort.²

 R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (im Folgenden: DH), München 23–251936, 160, mit gleichem Wortlaut bereits in DH 1917, 136.  Aus dem Brief von Rudolf Otto an Heinrich Weinel, Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Nachlass Weinel, Kiste 5, Bl. 249. Weinel, ein Schüler Gunkels, gab die 1904 mit Karl Sells Die Religion unserer Klassiker und Rudolf Ottos Naturalistische und religiöse Weltansicht eröffnete und auf breitere Öffentlichkeitswirkung angelegte Buchreihe Lebensfragen heraus. Dass Otto auch sein Werk über das Heilige gerne in dieser renommierten Reihe platziert hätte, deutete sich schon in einem Brief Ottos an den Verleger Siebeck vom 10.7.1916 an. Die Pläne für das Buch reichen schon weiter zurück: Bereits am 30.6.1909 hatte Otto brieflich gegenüber Paul Siebeck das Buchprojekt, aus dem später Das Heilige wurde, angekündigt und hierin auch bereits jene „primitiven Formen der Religion“ angedeutet, mit denen er später den Begriff des Dämonischen verband: „Ich will eine Einleitung in die Religionsgeschichte schreiben. […] Ich verstehe darunter das Entstehen und die primitiven Formen der Religion, so wie sie aller Höherbildungen und charakteristischen Einzelbildungen in der Gestalt der geschichtlichen grossen Religionen vorangehen. (Man nannte das früher wol etwas abstrakt ‚allgemeine Phänomenologie der Religion‘)“ (Otto an Siebeck, Staatsbibliothek Berlin, Nachl. 488, Klammer im Original). Otto beschreibt hier das Vorhaben als Pendant zu dem verbreiteten Lehrbuch der Religionsgeschichte von Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye (vgl. P. D. Chantepie de la Saussaye, Lehrbuch der Religionsgeschichte, 2 Bde., Freiburg/Leipzig/Tübingen 11887, 21897, 31905, 41925). https://doi.org/10.1515/9783110582994-004

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Am Ende wurde man sich jedoch nicht einig: Das Heilige erschien im darauffolgenden Jahr nicht in Weinels Lebensfragen bei J. C. B. Mohr, sondern im Breslauer Verlag Trewendt & Garnier.³ Interessant für den vorliegenden Zusammenhang sind an der zitierten Passage nicht nur die Umstände der Entstehung von Ottos berühmtem Hauptwerk, sondern besonders auch der Hinweis auf eine geplante ‚Auseinandersetzung‘ mit ‚Goetheʼs Auffassung des Dämonischen‘. Ob hiermit die vierseitige Passage über das Dämonische bei Goethe im Kapitel über ‚Das Heilige in der Erscheinung‘ (Kap. 20)⁴ gemeint ist, die in der einige Monate nach dem Brief erschienenen Erstauflage von Das Heilige auftaucht, oder ob es sich um eine darüber hinausgehende, eigenständige Abhandlung oder Ergänzung zum Thema handelt (die nie realisiert wurde), muss offen bleiben. Was sich in der zitierten Bemerkung aber andeutet, ist zumindest so viel: Otto räumt dem Begriff des Dämonischen im Anschluss an Goethe offenbar bereits im Vorfeld der Erstauflage seines Hauptwerks eine besondere Bedeutung ein, die sich in den zahlreichen Erweiterungen und Ergänzungen, die Otto in den darauffolgenden Jahren in Das Heilige einarbeitete, deutlich niedergeschlagen hat. Das dem Buch seit der fünften Auflage vorangestellte Motto aus dem Zweiten Teil von Goethes Faust erscheint wie eine Bekräftigung der immer deutlicher herausgehobenen Stellung, die Goethe und das Dämonische in Ottos Denken einnehmen.⁵ In Fausts Worten vom ‚Schaudern‘ und vom ‚Ungeheuren‘ im Zusammenhang mit den geheimnisvolldämonenhaften ‚Müttern‘ sah Otto offenbar auch zusammengefasst, was er in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens mit der ‚dämonischen Scheu‘ als Urmoment der Religion zu beschreiben versuchte.

 Von Trewendt & Garnier wechselte das Buch dann nach mehreren Auflagen 1923 zum Verlag Friedrich Andreas Perthes, Stuttgart/Gotha. Als der Verlagsdirektor bei F. A. Perthes, Leopold Klotz, ab 1925 insbesondere die theologische Abteilung des Verlags in den neugegründeten Leopold Klotz Verlag, Gotha, überführte, wechselte auch Das Heilige 1926 zu Klotz. 1932 erfolgte dann ein erneuter Verlagswechsel, diesmal zum Verlag C. H. Beck, München, wo 1936 mit dem 23.–25. Tausend die letzte von Otto überarbeitete Auflage erschien.  Vgl. den Abschnitt über das Dämonische bei Goethe in DH 1917, 156 – 160.  Vgl. das dem Buch seit DH 51920 vorangestellte Motto aus der Szene „Finstere Galerie“ im Faust II: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil, / Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, / Ergriffen fühlt er tief das Ungeheure.“ Das Goethewort bildet seit der fünften Auflage zugleich den Abschluss eines eingefügten Abschnitts zu Goethes Begriff des „Ungeheuren“ (DH 51920, 50 f., entspricht in der Ausgabe letzter Hand: DH 23–251936, 55), der aus einer Passage zur Interpretation des Begriffs „δεινός“ bei Sophokles am Ende des Kapitels zum „Fascinosum“ hervorging (vgl. DH 1917, 43 zum Begriff „δεινός“, dann in DH 21918, 44 f. erstmals im Zusammenhang mit dem Begriff des „Ungeheuren“, ohne die Nennung Goethes bis DH 41920, 45 f.). Später wurde der Abschnitt dann zu einem eigenen Kapitel der ‚Momente des Numinosen‘ ausgebaut (vgl. hierzu das Kapitel ‚Ungeheuer‘ in seiner Endgestalt in DH 23–251936, 53 – 55).

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Im Folgenden soll dieser Spur nachgegangen werden. Entlang einiger Stationen seines Schaffens erweist sich der Begriff des Dämonischen bei Otto als ein grundlegender Topos, an dem sich elementare Charakteristika seines Denkens explizieren lassen. Anhand einiger werkgeschichtlicher Beispiele sollen dabei die Hintergründe des Dämonischen bei Otto näher bestimmt und ausgewertet werden und lassen dabei auch die Ähnlichkeiten und Differenzen zu Paul Tillichs Arbeiten über das Dämonische deutlich werden.

1 Vorbemerkungen: Die Entdeckung und ‚Entkoppelung‘ des Dämonischen in der Religionsgeschichte Die Wurzeln von Ottos Begriff des Dämonischen reichen zurück bis in seine frühen Jahre an der theologischen Fakultät in Göttingen.⁶ Die grundlegenden Einsichten, die Otto dort als Student, Stiftsrepetent, Privatdozent und außerplanmäßiger Professor gewann, ähnelten schon bald jenen seines engsten und lebenslangen Freundes Heinrich Hackmann, der, etwas älter als er, nach Abschluss seines Studiums in Göttingen 1890 im Rückblick festhielt: Ziehe ich die Summe von dem, was ich in Göttingen gelernt habe, besonders von Duhm, Ritschl und Lagarde, […] so ist es etwa folgendes: Ich habe gelernt, daß die Gegenstände der Theologie irrational sind, deshalb dem Verstande nur gar zu fern, dem kindlichen Geiste noch am ersten greifbar, wenn auch so massiv, daß der Reflexionsmensch darüber sich entsetzt; ich habe gelernt, daß es viel(e) Theologien, gute und schlechte, giebt, die das religiöse Irrationale fassen wollen, daß man sich aber hüten muß, irgend eine, auch die noch so ehrfurchtgebietend auftretende, […] für Religion, für unwidersprechliche Autorität zu nehmen; […].⁷

 Von der eher konservativ-lutherischen Fakultät in Erlangen kommend, begegnete Otto hier im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zunächst dem liberalen Erbe des kurz zuvor verstorbenen Albrecht Ritschl und zählte bald einige von dessen Schülern zu seinen Lehrern. Vgl. hierzu S. Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl. Eine Verhältnisbestimmung, in: J. Lauster et al. (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin/New York 2013, 203 – 217; G. Alles, Toward a Genealogy of the Holy. Rudolf Otto and the Apologetics of Religion, in: Journal of the American Academy of Religion 69 (2001), 323 – 341; sowie P. Schüz, Mysterium tremendum. Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto, Tübingen 2016, 104– 135.  Zitiert aus der Loccumer Vita hospitis Nr. 277 von Heinrich Hackmann, verfasst am 27.9.1890 und abgedruckt in H. Rollmann, Duhm, Lagarde, Ritschl und der irrationale Religionsbegriff der Religionsgeschichtlichen Schule. Die Vita hospitis Heinrich Hackmanns als geistes- und theolo-

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Es war besonders die Religionsgeschichte und ihre kritische Erforschung, die Hackmann und Otto in Göttingen beeindruckte und tief prägte. Hackmann gehörte schon bald zum Kern der sich formierenden Religionsgeschichtlichen Schule, in deren Wirkungskreis später auch Otto stand.⁸ Die Entdeckung dessen, was Hackmann in seiner Charakterisierung Göttingens als das ‚religiöse Irrationale‘ beschreibt, steht für eine grundsätzlich neue Bewertung auch jener Elemente der Religion, die in den Quellen der Religionsgeschichte hinter archaischen Ausdrucksformen einer Welt voller Magie, Dämonen und Geister zutage treten und nur schwer in den traditionellen Rahmen christlicher Theologie zu passen scheinen. Wurden solche urtümlichen Zeugnisse aus der Bibel und ihrem Umfeld zuvor mehrheitlich als vermeintlich heidnischer Aberglaube oder vorreligiöse, pagane Vorstellungswelten betrachtet, war man nun bereit, in jenen archaischen Formen Urmomente des eigentlichen Wesens der Religion anzuerkennen. Bahnbrechende Studien zur aufkommenden religionsgeschichtlichen Forschung und der kritischen Exegese in jener Zeit ließen die Welt der Dämonen und Geister in den Religionen und ihre Bedeutung auch für die christliche Religionsgeschichte immer deutlicher zu Bewusstsein treten.⁹ Jenes Bewusstsein für das Irrationale gab der jungen Theologengeneration am Ende des 19. Jahrhunderts und ihrem Religionsbegriff eine ganz eigene Prägung, die Jahre später auch Eingang in den Untertitel von Ottos Hauptwerk Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen […] fand. Bei den Lehrern Hackmanns, die im Fall von Paul de Lagarde, Hermann Schultz, Bernhard Duhm und Rudolf Smend bald auch für Otto zu prägenden Gestalten wurden, taucht das Irrationale immer wieder auf und lässt zusehends

giegeschichtliches Dokument, in: ZRGG 34 (1982), 276 – 279, 277 (runde Klammer in Original). Hackmann absolvierte sein Theologiestudium von 1883 bis 1886 in Leipzig und Göttingen, war anschließend als Lehrer tätig, arbeitete dann von 1889 bis 1890 im Loccumer Hospiz, wo die zitierte Selbstbeschreibung entstand. In die Zeit als Lehrer in Hildesheim fällt die Begegnung mit dem fünf Jahre jüngeren Rudolf Otto, die dann zu einer lebenslangen Freundschaft wurde. Von 1891 bis 1893 war Hackmann – wie später auch Otto von 1895 bis 1897 – Inspektor am Theologischen Stift in Göttingen und qualifizierte sich in dieser Zeit mit der exegetischen Arbeit über Die Zukunftserwartungen des Jesaja (1893) als Privatdozent für das Alte Testament.  Zum Verhältnis Ottos zur Religionsgeschichtlichen Schule vgl. M. Laube, Rudolf Otto und die Religionsgeschichtliche Schule, in: Lauster et al. (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, 219 – 234.  Vgl. hierzu nur J. Wellhausen, Reste arabischen Heidentums (1887), Berlin 21897, insbes. das Kapitel über das ,niedere Heidentumʻ a.a.O., 147– 250; A. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 21906 und hier besonders das Kapitel Der Kampf gegen die Dämonen in Bd. 1, 108 – 126; C. Clemen, Die Reste der primitiven Religion im ältesten Christentum, Gießen 1916 sowie O. Böcher et al., Art.: Dämonen („böse Geister“), in: TRE, Bd. 8, 270 – 300.

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auch den Begriff des Dämonischen ins Blickfeld treten.¹⁰ Dies gilt besonders für den Alttestamentler Bernhard Duhm, wie Smend ein Schüler des seit 1892 wieder in Göttingen lehrenden Julius Wellhausen und einer der „geistigen Väter“ der Religionsgeschichtlichen Schule,¹¹ mit dem Hackmann und Otto in persönlichem Kontakt standen.¹² In Duhms vielbeachtetem Vortrag über Das Geheiminis in der Religion von 1896 wird die These vertreten, es sei „aus der protestantischen Religion das Geheimnis fast ganz verschwunden“ und man habe auf dem Weg in die Moderne zu sehr dem „Bedürfnis der Rationalität“ nachgegeben.¹³ Es sei vornehmlich „die Ethik für die Hauptsache“ gehalten und dabei vergessen worden, die bleibende Bedeutung des „Geheimnisvollen und Irrationalen“ im Wesen der christlichen Religion ernst zu nehmen.¹⁴ Im Zuge seiner religionsgeschichtlichen Erkundungen fasst Duhm demgegenüber nun gerade jene Zeugnisse und Überlieferungen als wesentlich ins Auge, in denen er eine Art irrationalen Kern, ein religiöses Urmoment erblickt. Jenen „irrationalen Rest“, jene geheimnisvollen „schöpferischen Kräfte[n]“ hinter den oft fremdartigen und archaischen Quellen der Religionsgeschichte belegt Duhm nun mit dem Begriff des „Dämonischen“: Aber in welcher Form das Geheimnis der Religion erscheinen mag, so muß es, sofern es ein echtes und nicht von den Laien nachgemachtes Geheimnis ist, den Ausschlag geben in der Frage nach dem Wesen der Religion. Es ist das dämonische Element, das den Kern und das Leben der Religion bildet, das sie hervorbringt, neben dem alle Institutionen, alle Lehre, alle religiöse Ethik, als nur sekundär zu gelten hat, wenn auch natürlich dies Sekundäre auf die erzeugende Kraft zurückwirkt.¹⁵

 Zu Ottos Lehrern in Göttingen vgl. Schüz, Mysterium tremendum, 116 – 131.  G. Lüdemann/M. Schröder (Hg.), Die religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987, 25.  Duhm war auch nach seinem Wechsel von Göttingen nach Basel mit seinem Schüler Hackmann in enger Verbindung geblieben, der vermutlich auch die Verbindung zu Otto vermittelt hat. In Ottos Briefwechsel mit Hackmann ist überliefert, dass auch Otto mindestens einmal bei Duhm zu Besuch in Basel war (vgl. den Brief von Rudolf Otto an Heinrich Hackmann aus Porto Fino vom 19. 3.1902, Universitätsbibliothek Marburg, Hs. 797.210). Zu der direkten Verbindungslinie zwischen Duhm, Hackmann und Otto vgl. H. Rollmann, Duhm, Lagarde, Ritschl und der irrationale Religionsbegriff, 276 – 279. Ebenfalls auf die Bedeutung Duhms für Otto weist hin: K. v. Rabenau, Art.: Duhm, Bernhard, in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), 179 – 180.  B. Duhm, Das Geheimnis in der Religion. Vortrag gehalten am 11. Februar 1896, Tübingen 2 1927, 4.  A.a.O., 28 und 4 f. Duhm folgert in diesem Sinne zur Grundhaltung des neueren Protestantismus: „ein Lehrsystem erscheint uns um so vollkommener, je mehr es das Irrationale überwunden hat.“ (A.a.O., 4)  A.a.O., 25. Duhm fährt fort: „Die Zweige, Blätter und Früchte gehören ja gewiß zum Baum, die Früchte bestimmen für uns seinen Wert, die Blätter führen ihm die Nahrung zu, aber die erzeu-

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Duhm warb für eine stärkere Einbeziehung religionspsychologischer Elemente in der modernen Theologie, um den dämonischen Kern der Religion nicht nur religionsgeschichtlich zu beschreiben, sondern ihn auch frömmigkeitstheoretisch als Ursprung einer „aus den dunkelsten Wurzeln unserer Seele auftauchenden, seelenerschütternden Ahnung“¹⁶ geltend machen zu können: Wer die Religion unbeirrt von den Meinungen des Tages und von den eigenen subjektiven Anschauungen kennenlernen will, der muß jenes dämonische Element der Religion historisch und psychologisch zu ergründen suchen. Diese Forschung ist nicht allein nicht leicht, sondern wird immer zuletzt auf einen irrationalen Rest stoßen, der für die reine Wissenschaft unauflösbar bleibt.¹⁷

Bemerkenswert und durchaus innovativ ist an Duhms Vorstoß, den besonders Ernst Troeltsch positiv zu würdigen wusste,¹⁸ dass der Begriff des Dämonischen hier von der Beschreibung antiker Dämonenvorstellungen abgelöst und als ,dämonisches Elementʻ offenbar zu einer religionstheoretischen Kategorie religiöser Intuition sui generis erhoben wird.¹⁹ Noch deutlicher wird dies, wenn Duhm in seinem Buch Israels Propheten von 1916 im Blick auf seine langjährigen Studien zur Prophetenforschung konstatiert, es sei „in Kultur und Religion […] die unterste Stufe die dämonistische, indem wir das Wort Dämon in neutralem Sinn, ohne Rücksicht auf gut und böse, brauchen“ und über die sich dann „die Verehrung

gende und gestaltende Kraft birgt doch der Kern, die geheimnisvolle Urzelle, und von hier aus strömt sie in das Geäder des letzten Blattes aus.“ (Ebd.)  A.a.O., 28.  A.a.O., 25 f.  Vgl. besonders die ausführliche Würdigung Duhms in dem Artikel E. Troeltsch, Zur theologischen Lage, in: ChW 12 (1898), 627– 631, 650 – 657. Troeltsch beschreibt Duhm hier – ganz im positiven Sinne – als „Eine der merkwürdigsten Erscheinungen“ unter den „Sonderlingen der Theologie“ seiner Zeit (a.a.O., 631), der es in ihrer religionsgeschichtlichen Forschung um die eigentliche „Lebendigkeit“ der Religion, um „das Zwingende und Dämonische der großen religiösen Genien“ und um das „ehrfurchtsvolle Erleben einer unendlichen Macht“ gegangen sei (a.a.O., 654 f.). Troeltsch selbst hat die hier entfalteten Gedanken dann besonders in seinen Studien zur Idee des religiösen Apriori weitergeführt (vgl. hierzu u. a. E. Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft (1905), in: KGA 6, 215 – 256.  Grundsätzlich zu Duhms Betonung des Irrationalen im religiösen Erleben und zu seiner Stellung im Umfeld von Wellhausenschule und Religionsgeschichtlicher Schule vgl. T. A. Rudnik, Bernhard Duhm (1847– 1918) – „Die Propheten sind das Fundament von Israels Religion“, in: B. Schröder/H. Wojtkowiak (Hg.), Stiftsgeschichte(n). 250 Jahre Theologisches Stift der Universität Göttingen (1765 – 2015), Göttingen 2015, 117– 126; H. v. Reventlow, Die Prophetie im Urteil Bernhard Duhms, in: ZThK 85 (1988), 259 – 274 und R. Smend, Bernhard Duhm, in: Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 113 – 128.

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Jahwes […] gelagert hat […].“²⁰ Was Duhm vorschwebt, ist demnach eine vor und unter den großen monotheistischen Gottesvorstellungen und Theologien der Religionsgeschichte verborgene und nur noch in geheimnisvollen Spurenelementen der Quellen durchschlagende, rohe Urform der Religion, die in der Bibel insbesondere in charismatischen und divinatorischen Gestalten greifbar wird. Das Dämonische als religiöse Kategorie wird also von der klassischen Begriffsverwendung in Bezug auf Dämonen als negative Geister- und Zwischenwesen deutlich unterschieden. Es ist derart geheimnisvoll und irrational, dass es sich einer positiven oder negativen Bewertung entzieht; es liegt vor allen religiösen Ausdrucksformen, auch und gerade vor denen der Dämonen- und Geisterwesen. Am Beispiel Abrahams expliziert Duhm seine Auffassung einer religionsgeschichtlichen Epoche, in der jenes dämonische Element noch nicht durch rationale religiöse Deutungskonzepte angereichert und überlagert worden sei und sich dann von hier aus durch die späteren Zeitalter des Judentums und Christentums hindurch als deren eigentlicher Glutkern erhalten habe: Übrigens enthält die Meinung, daß Abraham noch der dämonistischen Periode der Religion angehört haben mag, nichts Herabsetzendes. Solange die dämonistische Religion noch nicht zur Unterschicht der höheren Religionsbildung geworden und damit der Gefahr des Stagnierens und Entartens ausgesetzt ist, hat sie ihr Recht, kann sie gesund, rein und stark sein. Sie weiß noch nichts von einem Monotheismus, denkt noch nicht in absoluten Begriffen, hat noch keine Ahnung von unseren ‚geistigen‘ in Wahrheit oft inhaltsleeren Abstraktionen. Dafür hat sie ein naives, unmittelbares Verhältnis zu der unsichtbaren Welt, wie es die Kinder haben, die nach Jesus am besten für das Reich Gottes geschickt sind, ist lebendiger und oft reiner als höhere Religionsformen, die ihren Fortschritt nicht durch die Religion selber, sondern durch die Einflüsse der anderweitigen Kultur oder gar der äußeren Zivilisation gewonnen haben. Das was beim Jahwisten und Elohisten an die dämonistische Vorstellungswelt gemahnt, ist wahrlich nichts Verächtliches. Abraham kann recht wohl ein echter Gottesmann gewesen sein, ohne daß er schon einen Begriff von dem Gott der großen Geschichte hatte […].²¹

Was Rudolf Otto in seinem am Ende des gleichen Jahres fertiggestellten Werk Das Heilige über Abraham schrieb, kommt dem sehr nahe. Der Erzvater Israels fun-

 B. Duhm, Israels Propheten, Tübingen 1916, 5 f. Zwischen dem hier konsequent verfolgten Dämonistischen und dem in der Geheimnis-Schrift von 1896 beschriebenen Dämonischen besteht sachlich kein erkennbarer Unterschied. Das Buch erschien ebenfalls in der von Weinel besorgten Reihe Lebensfragen und fasst die Erträge von Duhms Prophetieforschung zusammen. Vgl. hierzu insbesondere auch die bahnrechende frühe Studie B. Duhm, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion, Bonn 1875.  Duhm, Israels Propheten, 27 f. Zum „Dämonistischen“ in der Religionsgeschichte Israels vgl. überdies a.a.O., 35, 45, 117, 171, 225 und 460.

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giert hier als Prototyp für das in Ottos Frömmigkeitstheorie zentrale ,Kreaturgefühlʻ.²² In späteren Auflagen des Hauptwerks spricht Otto sogar von einem in der Religionsgeschichte paradigmatischen „Abraham-Erlebnis“.²³ Gemeint sind damit all jene religiösen Ausdrucksformen, die jenseits des rationalen Gottesbegriffs als Reflexe der „dämoni[sch]en [Sch]eu“ und als schauervolles Geheimnis („mysterium tremendum“) greifbar werden.²⁴ In diesem Sinne klingt es wie ein direktes Anknüpfen an Duhms Prophetendeutung, wenn Otto in seinem Spätwerk über die jenseits von „bloßem ‚Theismus‘“ liegende „Gottesidee“ der Propheten festhält: Will man die biblische Gottesidee verstehen, so muß man den ebenso neuen und unableitbaren Ansatz verstehen, der im Erleben und in der Intuition israelitischer Profeten durchbricht und in Christi Gotteserkenntnis sich vollendet.²⁵

In der bei Duhm und seinem Umfeld greifbaren Deutung des Dämonischen als ‚dämonisches Element‘ ist also ein von der Generation Ritschls und seinen älteren Schülern sich deutlich absetzendes Interesse an den religionsgeschichtlichen Wurzeln mystischer, irrationaler Urmomente der Religion greifbar, das über bloß religionswissenschaftliche Dämonenkunde hinausgeht. Es vollzieht sich hier, was man jüngst am Beispiel Goethes als „Entkoppelung von Dämonen und Dämonischem“ bezeichnet hat.²⁶ Das Dämonische wird als religionstheoretische  Vgl. hierzu DH 1917, 10: „Als Abraham in 1. Mos. 18, 27 mit Jahveh zu reden wagt über das Los der Sodomiter, spricht er: ‚Ich habe mich unterwunden mit dir zu reden, ich, der ich Erde und A [sch]e bin‘. Das ist sich selber bekennendes ‚Abhängigkeitsgefühl‘, das doch noch viel mehr und etwas anderes ist als Abhängigkeitsgefühle. Ich suche nach einem Namen für die Sache und nenne es Kreaturgefühl, das Gefühl der Kreatur, die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem, was über alle Kreatur ist.“ An späterer Stelle heißt es weiter (DH 1917, 21 f.): „Die ‚Abhängigkeit‘, die in Abrahams Worten sich ausdrückt, ist nicht die der Ge[sch]affenheit sondern der Ge[sch]öpflichkeit, ist Ohnmacht gegenüber Übermacht, ist eigene Nichtigkeit.“  DH 23–251936, 25.  So schon in der Erstauflage: DH 1917, 16. Vgl. hierzu grundsätzlich die Kapitel zum ,mysterium tremendumʻ und der numinosen ,Scheuʻ, insbesondere in DH 1917, 13 – 32.  R. Otto, Profetische Gotteserfahrung, in: ders., Sünde und Urschuld. Und andere Aufsätze zur Theologie, München 1932 (im Folgenden: SU), 61 f. Die zitierte Abhandlung geht ursprünglich auf den Aufsatz R. Otto, Prophetische Gotteserfahrung, in: ChW 37 (1923), 437– 447 zurück. Was Otto hier über die vor-theistischen, irrationalen und intuitiven Elemente in der Prophetie – insbes. bei Jesaja – schreibt, kann sich auf grundlegende Wandlungen des Prophetenbildes in der Exegese seit dem späten 19. Jahrhundert, namentlich bei Heinrich Ewald, Julius Wellhausen, schließlich bei Duhm und Hermann Gunkel berufen. Vgl. hierzu K. Schmid, Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentlichen Prophetie, in: ZNThG/JHMTh 3 (1996), 225 – 250.  Vgl. L. Friedrich/E. Geulen/K. Wetters, Einleitung. Dämonen, Dämonologien und Dämonisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien, in: dies. (Hg.), Das Dämonische. Schicksale einer

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Kategorie begriffen, die von den religionsgeschichtlich greifbaren Dämonenvorstellungen grundsätzlich unterschieden wird. Die Bedeutung dieses Entkoppelungsgedankens im religionsgeschichtlichen Klima Göttingens um 1900 ist für Ottos späteres Werk kaum zu überschätzen.²⁷ In den Vorstößen seines späteren religions- und frömmigkeitstheoretischen Hauptwerks geht es genau um jene eigenständigen und rohen Urmomente der Religion, die Duhm als dämonisches Element beschrieb. Auch Otto fand – wie sich noch zeigen wird – später bei Goethe eine grundlegende Bestätigung der seit seinen theologischen Lehr- und Wanderjahren in Göttingen verfolgten Spur des Dämonischen in der Religionsgeschichte.

2 Spuren des Dämonischen in Ottos frühen Werken In Ottos Erstlingswerk, der Licentiatenarbeit von 1898 über Luthers Geistverständnis, wird das erwachte Interesse an religionsgeschichtlichen Grundmotiven des Irrationalen und Dämonischen bereits in Spuren erkennbar.²⁸ Otto entdeckte hier bei Luther ein eigentümliches „Entsetzen vor dem ‚Allmächtigen‘, dem Ewigen und Jenseitigen“,²⁹ das er als das „allgemein-religiöse Gefühl, ‚Staub und Asche‘ zu sein“³⁰ beschreibt: Gott bleibt ihm Gott und Mensch Mensch, und wie kann sich der Mensch unterfangen mit Gott zu reden, er der Staub und Asche ist. Dieses Gefühl muss man als ständigen Oberton mitklingen lassen hören bei Luthers Worten von dem Gott, der nichts ist als die völlige Zuverlässigkeit, von dem Glauben, der nichts als Vertrauen, dem Worte, das eitel Gnadenbotschaft ist: sonst klingen sie unrichtig. Man darf nicht als theologische Definitionen auffassen, was als Paradoxie kühnen Glaubens gesprochen ist.³¹

Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, Paderborn 2014, 9 – 23, hier 10 und ferner K. Wetters, Demonic History. From Goethe to the Present, Evanston 2014.  Allerdings bleibt Duhm bei Otto leider ungenannt und daher der beschriebene Zusammenhang nur eine Hypothese. Da jedoch zu Duhm selbst und seinen Anhängern – vor allem zu Hackmann und Troeltsch – ein persönlicher Kontakt und Austausch belegt ist, erscheint die hier angenommene Verbindungslinie insbesondere im Blick auf den Begriff des Dämonischen als durchaus naheliegend.  Vgl. R. Otto, Anschauung vom heiligen Geiste bei Luther. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, Göttingen 1898 (im Folgenden: AHG).  AHG, 87.  A.a.O., 88. Otto verweist in diesem Zusammenhang besonders auf Luthers Schrift De servo arbitrio (vgl. ebd).  A.a.O., 87.

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Das am Beispiel Luthers entdeckte „Empfinden der Kreatürlichkeit in ihrer Nichtigkeit gegenüber dem Überweltlichen“³² kündigt bereits deutlich die im späteren Hauptwerk zentrale Konzeption des ,Kreaturgefühlsʻ an.³³ Otto treibt hier bei Luther um, was er später in Das Heilige als „irrationales Erleben eines tief irrationalen transzendenten Objektes“ umreißt, „das sich fast der Bezeichenbarkeit mit ‚Gott‘ entzieht“.³⁴ Er macht bei Luther „ganz persönliche geheimnisvolle dunkle fast unheimliche Hintergründe seiner Frömmigkeit“ aus, „von denen die klare Seligkeit und Freudigkeit seines Gnadenglaubens erst richtig abgehoben und auf deren Folie sie gesehen werden müssen wenn man sie selber nach ihrer vollen Kraft und Tiefe würdigen will.“³⁵ Schon der frühe Otto nähert sich Luther damit als einem „Virtuosen und Heros der Religion“,³⁶ in dem etwa jene prophetischen Motive aufbrechen, die Duhm als ‚dämonisches Element‘ im Auge hatte. Bis in sein Spätwerk hinein bleibt Luther damit der vielleicht wichtigste Kronzeuge Ottos, bei dem nicht abergläubischer Dämonenglaube, sondern religiöse „Urgefühle“, das „uralte ‚Unheimliche‘“,³⁷ das „unbegreifliche Paradox“³⁸ das „Irrational-Furchtbare ja Dämonische des Numinosen“ zum Durchbruch kommen.³⁹ Im Hintergrund ist dabei freilich auch Ottos frühe Auseinandersetzung mit Schleiermacher mit in die Rechnung zu nehmen. Auch in der kommentierten Neuedition der Reden von 1899 ging es Otto in erster Linie um die originalen Urmomente und Grundintuitionen der Religion, die ihm in der Erstauflage von Schleiermachers Jugendwerk noch besonders roh und unverstellt zum Ausdruck gebracht erschienen.⁴⁰  A.a.O., 54.  So bemerkte Otto in der ersten Auflage von Das Heilige: „Ja, an Luthers de servo arbitrio hat sich mir das Verständnis des Numinosen und seines Unterschiedes gegen das Rationale gebildet, lange bevor ich es im Qādoš des Alten Testamentes und in den Momenten der ‚religiösen [Sch]eu‘ in der Religionsge[sch]ichte überhaupt wiedergefunden habe.“ (DH 1917, 104) Später verweist Otto an dieser Stelle explizit auf seine „Anfänger-Schrift“ von 1898 und die ihm hier bereits vor Augen stehenden „irrational-numinosen Einschläge in Luthers und jedem echten Gottes-begriffe“ (DH 23– 25 1936, 123, Anm. 1).  DH 23–251936, 126.  A.a.O., 119.  AHG, 1. Otto betont immer wieder, Luther sei „kein Systematiker“ gewesen (a.a.O., 4), sondern im Kern seiner Persönlichkeit ein zutiefst frommer religiöser Virtuose.  DH 23–251936, 122.  A.a.O., 124.  A.a.O., 131. Vgl. außerdem zum Begriff des Dämonischen im Zusammenhang mit Luther DH 1917, 103 und DH 23–251936, 121.  Zur Bedeutung von Ottos früher Schleiermacherdeutung vgl. besonders C.-D. Osthövener, Ottos Auseinandersetzung mit Schleiermacher. Religionstheorie als Zeitdiagnose, in: Lauster et

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In Ottos frühem Jesusbüchlein von 1902 ist von der Idee des Dämonischen auf den ersten Blick noch wenig zu spüren.⁴¹ Dennoch vermag Otto aber auch hier die Gestalt Jesu bereits als „eigentümliche[n] Rand von etwas Inkommensurablem“⁴² zu bezeichnen, der in seinem späten Reich Gottes und Menschensohn von 1934 mit langen Ausführungen zu dämonischen Elementen in der Religionsgeschichte aufgegriffen wird.⁴³ Die Überlieferung vom Umgang Jesu mit dämonischen Mächten und die dämonischen Züge in seinem eigenen Wesen sind dort nun für die Deutung Jesu grundlegend: Will man sagen, wer Jesus war, so muß man den Exorcisten, den Charismatiker an ihm ernstnehmen. Sein Charisma ist nicht accidens an ihm, sondern gehört wesentlich zu seiner Gestalt, und hilft mit, den Sinn seiner Gestalt finden.⁴⁴

al. (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, 179 – 190 und in gefühlstheoretischer Perspektive R. Barth, Religion und Gefühl. Schleiermacher, Otto und die aktuelle Gefühlsdebatte, in: L. Charbonnier/M. Mader/B. Weyel (Hg.), Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen, Göttingen 2013, 15 – 48.  Vgl. die Schrift R. Otto, Leben und Wirken Jesu nach historisch-kritischer Auffassung, Göttingen 1902 (im Folgenden: LWJ), von der Otto in seinem späten Jesusbuch von 1934 sagt, es habe ihm seine spätere Konzeption des „Heiligen“ hier noch nicht vor Augen gestanden (vgl. R. Otto, Reich Gottes und Menschensohn. Ein religionsgeschichtlicher Versuch [im Folgenden: RGM], München 1934, 35, Anm. 1).  LWJ, 31. Vgl. hierzu auch den 30 Jahre später abgedruckten Auszug in SU, 91– 95, 91.  Zur Deutung dämonischer Mächte in der Religionsgeschichte im Zusammenhang mit Jesus vgl. besonders RGM 1934, 74– 88. Das Entscheidende an der Überlieferung dämonischer Mächte ist hier laut Otto das sich darin ausdrückende intuitive Bewusstsein für die widerstreitenden, dualistischen Prinzipien der Welt (vgl. RGM 1934, 29 – 33). Sie sind rohe Ausdrucksformen, die „zwischen-eintreten“ (a.a.O., 31) in die „dualistische Entgegensetzung alles Hiesigen und Weltlichen zum ganz anderen der Gotteswelt“, in denen „Religion zu sich selbst“ kommt (a.a.O., 29). In der Zeit Jesu hat sich nach Ottos Auffassung eine „besonders starke Welle von Dämonismus über die Welt Palästina’s ergossen“ (a.a.O., 32) und stellt demnach eine religionsgeschichtlich besonders reiche und intensive Epoche der Unterscheidung zwischen Gott und Welt im „Gefühl für einen ‚Wert‘-sinn“ für das „Ganz andere“ dar (a.a.O., 30). Für die exorzistische und damit jene Trennung von Göttlichem und Geschöpflichem aufhebende Kraft Jesu vgl. u. a. die Deutung der Beelzebubperikope in Kap IV, a.a.O., 74– 84. Siehe hierzu auch die Überlegungen über das „Dämonische“ vor dem Hintergrund des „‚numinosen‘ Eindruckes“ Jesu in DH 23–251936, 187 und auch bereits in DH 1917, 165.  RGM 1934, 324.

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3 Wahlverwandtschaften des Dämonischen: Überlegungen zu Ottos Goethedeutung Die skizzierten Momente des Unheimlichen und Paradoxen in Ottos frühen Werken stehen – wie eingangs bereits angedeutet – in Das Heilige in engem Zusammenhang mit dem Begriff des Dämonischen im Spätwerk Goethes.⁴⁵ Anhand der Entwicklung von Ottos Goethedeutung lässt sich daher auch einiges über die Entwicklung der Idee des Dämonischen bei Otto erfahren.⁴⁶ Grundsätzlich lag Otto mit seinen immer ausführlicheren Bemerkungen zu Goethe in religionsphilosophischer Absicht durchaus im Trend seiner Zeit. Das frühe 20. Jahrhundert war eine Phase der äußerst intensiven und interdisziplinären Goetherezeption, der sich auch die Theologie nicht entziehen konnte.⁴⁷ Nicht nur herausragende Beispiele wie Adolf von Harnack belegen, dass sich auch zahlreiche Stimmen des Protestantismus in den umfassenden Debatten zur Deutung Goethes im frühen 20. Jahrhundert zu Wort gemeldet haben.⁴⁸ Im Falle Ottos markieren den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit Goethe die seit 1902 intensiv betriebenen Studien zum Verhältnis von Naturalismus und Religion, die in dem Buch Naturalistische und Religiöse Weltansicht gebündelt und später insbesondere auf die Gegenüberstellung von Goethe und

 Zum Dämonischen als Schlüsselbegriff bei Goethe vgl. u. a.W. Muschg, Goethes Glaube an das Dämonische, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 32 (1958), 321– 343, der in einem kurzen Verweis auf Otto und Tillich das Dämonische als „Ausdruck elementaren religiösen Gefühls“ bezeichnet (a.a.O., 325); unter den neueren Studien vgl. J. Jäger, Dämon und Charisma bei Goethe. Ein zentrales Begriffsfeld in Goethes spätem Weltbild, Frankfurt a. M. 2013 und L. Friedrich/E. Geulen/K. Wetters (Hg.), Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, Paderborn 2014.  Zur vergleichsweise wenig erforschten Goethedeutung Ottos vgl. T. A. Gooch, „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil“. Über die Goethe-Rezeption Rudolf Ottos, in: Lauster et. al. (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, 307– 318.  Vgl. hierzu die luziden Studien von Friedemann Voigt zur Entwicklungsgeschichte theologischer Goethedeutungen um 1900: F. Voigt, Die Goethe-Rezeption der protestantischen Theologie in Deutschland 1890 – 1932, in: Protestantismus und Ästhetik. Religionskulturelle Transformationen am Beginn des 20. Jahrhunderts, hg.v. V. Drehsen/W. Gräb/D. Korsch, Gütersloh 2001, 93 – 119 und F. Voigt, Kultur und Bildung bei Georg Simmel, Ernst Cassirer und Adolf Harnack. Lehrund Wanderjahre der Goethe-Rezeption in Kulturphilosophie und Theologie, in: Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, hg.v. D. Korsch/E. Rudolph, Tübingen 2000, 179 – 200.  Vgl. hierzu nur A. v. Harnack, Die Religion Goethes in der Epoche seiner Vollendung, in: ders., Erforschtes und Erlebtes, Gießen 1923, 141– 170 und von dem mit Otto aus Göttinger Tagen befreundeten Schweizer P. Wernle, Die dreifache Ehrfurcht bei Goethe, in: ChW 16 (1902), 530 – 535.

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Darwin zugespitzt werden.⁴⁹ Goethe fungiert dabei zunächst als Paradigma für das Vorhaben, dem Naturalismus „gegenüber Recht und Freiheit frommer Weltansicht offenzuhalten“.⁵⁰ Ottos These ist, dass Goethes Morphologie im Wesentlichen Teleologie ist, die auf eine „in den Tiefen seines naturmystischen Gemütes geborene Intuition“⁵¹ zurückgeht und damit auf grundsätzlich anderen epistemologischen Grundlagen beruht, als die auf Darwins Deszendenzlehre aufbauende und sich zu Unrecht auf Goethe berufende monistische Weltanschauung der Moderne.⁵² Schon 1904 formuliert Otto in diesem Sinne ,Leitsätzeʻ, die bereits wie Attribute dessen klingen, was später insbesondere im Anschluss an Goethe mit dem Begriff des Dämonischen bezeichnet wird: „Auch die unter Gesetze gebrachte Welt ist Geheimnis, nur formuliertes.“ Und „[w]ahres Wesen und Tiefe der Dinge fassen wir nicht, und die Welt, die wir fassen, ist nicht das wahre Wesen sondern seine unzulängliche Erscheinung für uns. In Gefühl und Ahnung weist Erscheinung über sich auf das wahre Wesen hinaus.“⁵³ Weil er in ihm eine paradigmatische Gestalt religiöser Intuition erblickt, wird Goethe fortan zu einer Schlüsselfigur in Ottos Denken. Gefühl und Erkenntnis sind bei Goethe eins – und das Dämonische ist gewissermaßen die Tiefenschicht und unmittelbare Ausdrucksform jener intuitiven Erkenntniskategorie, die Otto später zu seiner Konzeption des Numinosen führt. Die erste konkrete Nennung des Dämonischen im Naturalismusbuch von 1904 greift Otto 1908 in einem Artikel für die Christliche Welt wieder auf.⁵⁴ Wenn

 Ottos Auseinandersetzung mit dem Naturalismus stellt einen der umfangreichsten und wichtigsten Schwerpunkte in Ottos Gesamtwerk dar. Mit dem Buch R. Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 1904 (31929, im Folgenden NRW) gingen zahlreiche Aufsätze in ZThK, ThR und ChW einher. Hinzu kamen seit 1901 zahlreiche Rezensionen zum Thema und schließlich 1909 die Studien zu Goethe und Darwin, die in der Schrift R. Otto, Goethe und Darwin. Darwinismus und Religion, Göttingen 1909, zusammengefasst wurden. Als Zusammenfassung der jahrelangen Auseinandersetzung mit Naturalismus und Darwinismus in theologischer Perspektive vgl. R. Otto, Rationale Theologie gegen naturalistischen Irrationalismus, in: SU, 190 – 225.  NRW 21919, 212.  SU, 193.  Otto hat dabei besonders Ernst Haeckel und den Deutschen Monistenbund im Auge. Während der Darwinismus auf „blinde Naturkausalität“ setze, die „von der Teleologie befreit“ (SU, 206 – 218), gehe es Goethe nach Ottos Auffassung um ein sich auf Urformen und deren Entwicklung besinnendes, „frommes Weltgefühl“ (a.a.O., 212). Vgl. hierzu ausführlicher Schüz, Mysterium tremendum, 308 – 326.  NRW 1904, 27 (Hervorhebungen im Original). Zu der in der zweiten Auflage eingearbeiteten Unterscheidung von Erfahrung und Idee im Anschluss an Goethe vgl. NRW 21909, 286.  Vgl. den Artikel R. Otto, Welt und Gott, in: ChW 22 (1908), 1242– 1245, eine erweiterte und überarbeitete Passage des gleichnamigen Kapitels aus NRW 1904, 280 – 286. Die Veränderungen fanden dann wiederum Eingang in die zweite Auflage NRW 21919, 279 – 286. Die zitierte Stelle zum

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Otto hier den antiken griechischen Begriff δαιμoνία als „dämonisch“ übersetzt und hiermit im Anschluss an Aristoteles die Natur als „seltsam, geheimnis- und wundervoll, auf Göttliches weisend und über sich selber hinaus weisend […]“ beschreibt, ist die von archaischen Dämonenvorstellungen losgelöste und ebenfalls an die klassische Antike anknüpfende Fassung des Dämonischen bei Goethe im Sinne einer geheimnisvollen und schöpferischen Urkraft deutlich herauszuhören.⁵⁵ Mit Ottos früher Goethedeutung engstens verwoben sind die parallel zu den Naturalismusschriften verfolgten Studien zu Jakob Friedrich Fries, die den maßgeblichen Schritt Ottos hin zu einer eigenständigen religionsphilosophischen Theorie der Religion markieren. Das Wesen der Religion bestimmt demnach ein Erleben und Gefühl eigener Art, eine eigentümliche ,Ahndungʻ, wie es bei Fries heißt.⁵⁶ Auch im Buch Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie von 1909 taucht dabei Goethe als Paradebeispiel jenes Ahndens, Erlebens und geheimnisvollen Schauens auf, das in Das Heilige unter dem Begriff der ,Divinationʻ zusammengefasst wird.⁵⁷ Aufschlussreich ist für diesen Kontext besonders die 1910 verfasste Rezension zu einem Vortrag des Biochemikers, Medizinnobelpreisträgers und Friesianers Otto Meyerhof, in die Otto auch eigene Überlegungen zu Goethes „künstlerisch-intuitiver Methode“ und ihrem Verhältnis zur klassischen Philosophie bei Platon und Aristoteles einfließen lässt.⁵⁸ Einen wichtigen Entwicklungsschritt zu Ottos Verständnis des Dämonischen bedeutet schließlich Ottos immer intensivere Auseinandersetzung mit der Religionsgeschichte, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auch durch eindrückliche Reisen angeregt wurde. Es verbinden sich nun die religionsphiloso-

Dämonischen findet sich in NRW 1904, 281 („δαιμoνία“), in ChW 22 (1908), 1242 („dämonisch“) und in NRW 21919, 280 („δαιμoνία“). Aufschlussreich zum griechischen Begriff sind hierzu die Ausführungen in R. Otto, Tiefen des Sensus numinis, in: ders., Das Gefühl des Überweltlichen (Sensus numinis), München 1932 (im Folgenden: GÜ), 267 f.  Otto, Welt und Gott, 1242. Zu Goethes Anknüpfung an den Begriff des Dämonischen in der griechischen Antike, insbesondere bei Platon und Aristoteles, vgl. T. Buck, Art.: Dämonisches, in: Goethe-Handbuch, Bd. 4.1, hg.v. H.-D. Dahnke/R. Otto, Stuttgart/Weimar 1998, 179 und ferner A. Nicholls, Goethe’s Concept of the Daemonic. After the Ancients, Rochester 2006. Für einen Überblick über die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Begriffsfeldes ,dämonischʻ in Goethes Werk vgl. Jäger, Dämon und Charisma bei Goethe, 19 – 61.  Vgl. hierzu insbes. das Kapitel zur ‚Ahndungslehre‘ in R. Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie. Zur Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie (im Folgenden: KFR), Tübingen 1909 (21921), 111– 125.  Vgl. hierzu besonders die Nennungen Goethes in KFR 1919, 111 und 114.  Vgl. R. Otto, Rez.: Otto Meyerhof, Über Goethes Methode der Naturforschung. Ein Vortrag, Göttingen 1910, in: Deutsche Literaturzeitung 32 (1911), 1428 – 1432, hier 1431.

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phischen Überlegungen im Anschluss an Schleiermacher, Fries und Goethe mit der religionsgeschichtlichen und religionspsychologischen Forschung des frühen 20. Jahrhunderts und werden durch das schier unerschöpfliche Material religiöser Ausdrucksformen insbesondere aus den religiösen Traditionen Asiens bereichert.⁵⁹ Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang vor allem Ottos grundsätzliche Kritik an Wilhelm Wundts Völkerpsychologie. ⁶⁰ Anders als Wundt, der davon ausging, die Religion sei von ihr vorangehenden ,Vorstufenʻ⁶¹ zu unterscheiden und habe sich erst als ,Tätigkeit der Phantasieʻ und durch ,belebende Apperzeptionʻ aus primitiven und vorreligiösen Seelen-, Geister-, und Dämonenvorstellungen entwickelt,⁶² tritt Otto für eine hinter den vielfältigen Ausdrucksformen der Religionsgeschichte liegende, eigenständige ,Quelleʻ der Erkenntnis ein, die auch archaischen Kulten und Mythen als immer schon genuin religiöser Kern durch die „Weckung ganz bestimmter, sehr deutlich von andern zu unterscheidender Gefühle“ voraus und zu Grunde liegt.⁶³ Religion ist, wie Otto später resümiert, vorstufenlos und auch in primitivsten Ausdrucksformen schon immer sie selbst: So fängt Religion zwar nicht als fertige Religion wohl aber mit sich selber an, sofern sie, als sensus numinis von Anbeginn Erlebnis des Mysteriösen und Zug und Trieb zum Mysterium ist, ein Erleben, das aus den Tiefen des Gefühlslebens selber, auf Reize und Anlässe von außen hin, als das ‚Gefühl des Ganz andern‘ durchbricht. […] Ein Trieb von dämonischer

 Zu der Bedeutung von Ottos Reisen für sein Denken vgl. Schüz, Mysterium tremendum, 300 – 308. Besonders die Welt des Fernen Ostens öffnete Otto ganz neue Horizonte, die nicht zuletzt durch zahlreiche Übersetzungen (vgl. darunter nur R. Otto, Dipika des Nivasa. Eine indische Heilslehre, Tübingen 1916; ders., Vischnu-Nārāyana. Texte zur indischen Gottesmystik I. Aus dem Sanskrit übertragen von Rudolf Otto, Jena 1917 und ders., Siddhanta des Ramanuja: Texte zur indischen Gottesmystik II, Jena 1917) und durch religionskundliche und religionsphilosophische Studien (man denke nur an das – bezeichnenderweise im Titel eine Wendung Goethes aufnehmende – große Werk R. Otto, West-östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung, Gotha 1926 [21929 und 31971]).  Die intensive Auseinandersetzung Ottos mit Wundt fällt in die Zeit unmittelbar nach dem Erscheinen seines Buchs Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie. Vgl. hierzu aus den relevanten Publikationen besonders den ausführlichen Aufsatz R. Otto, Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie, in: ThR 13 (1910), 251– 275, 293 – 305 (im Folgenden: MRW) und die letztmalig überarbeitete Version der Kompilation von Ottos Wundt-Aufsätzen in GÜ, 11– 57.  Vgl. MRW, 265 u. a.  Vgl. MRW 257– 258, 262, und besonders 265 – 268.  Vgl. MRW, 259 und 263 (Hervorhebung im Original), wo Otto vom „eigentümlichen Gefühle des Grauens“ und vom „sonderbaren Gefühle des Uebernatürlichen“ spricht (ebd.), die sich „aus dem Rohen ins Feinere und Reichere“ entwickeln (a.a.O., 265) und demgegenüber die Apperzeptionslehre Wundts als „etwas nur zweiter Hand“ erscheint (a.a.O., 264).

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Gewalt, der nicht erklärt wird aus den Rückwirkungen selbst geschaffener Fantasie-erzeugnisse und ihrer eingebildeten Werte, sondern der sich losreißt aus den Sfären ureigensten […] suchenden Ahndens und zugleich gewaltigen Interesses.⁶⁴

Während bei Wundt die urtümlichen Geister- und Dämonenvorstellungen der Religionsgeschichte nur Entwicklungsprodukte des ,Seelenglaubensʻ und archaische ,Vorstufenʻ der durch ,Heterogonieʻ hervorgebrachten Religion sind,⁶⁵ kann Otto in den religionsgeschichtlichen Welten der Dämonen und Geister unmittelbare rohe Ausdrucksformen eines in ihnen liegenden Erlebens ganz eigener Art erkennen, ,eine Anlageʻ, die er später – auch hier mag Goethe Pate stehen – ,Urfänomenʻ nennt.⁶⁶ Wundts Begriff des Dämons empfindet Otto demgegenüber als viel zu künstlich aus der antiken Mythologie abgeleitet und fern von jenem „Scheuen völlig eigener Art, typisch verschieden von ‚Furcht‘ im gewöhnlichen Sinne“,⁶⁷ worin er die eigentliche Wurzel der Religion erkennt: Dieses sorgfältig definierte Wesen des ‚Dämon‘ [bei Wundt] stimmt doch nicht mit den losen, ganz flatterhaften Vorstellungen, die unter diesem und den ihm entsprechenden Namen umgehen. ‚Numen‘ wäre wohl ein glücklicheres Wort dafür, gerade weil man eigentlich nicht sagen kann, was das ist. Und die Wurzel der ‚numina‘ liegt nicht im Seelenglauben. Das numen, das im geheimnisvollen Grauen der Höhlen und Grotten, dieser weltweiten und allmenschlichen Anreger und Geburtsstätten der ‚Scheu‘, dämmert, das Numen der Einöden und grauenhaften Stätten, der Berge und Klüfte, der wunderlichen und auffallenden Naturerscheinungen wird nur mit Gewalt auf Seelen-vorstellungen, ja auf irgendeine klare Vorstellung überhaupt bezogen.⁶⁸

Otto bindet in den späteren Überarbeitungen seiner Wundt-Studien die Vorstellung von Dämonen unmittelbar an das ihr zu Grunde liegende Erleben, das er später ,dämonisches Grauenʻ und ,dämonische Scheuʻ nennt.⁶⁹ Die Dämonenvorstellungen der Religionsgeschichte sind für Otto letztlich intuitive Ausdrucksformen jener ,Scheuʻ, deren Grund schlechterdings dunkel bleibt und freilich von rationalen Gottesbildern überlagert, auch in den großen Weltreligionen zu allen Zeiten als ‚mysterium tremendum‘ lebendig war.

 GÜ, 53.  Vgl. MRW, 270 – 271, 275, 293 und zusammenfassend 298.  Zum Begriff der Anlage vgl. MRW, 298; zum Urphänomen vgl. GÜ, 48 und 42, Anm. 3.  MRW, 302. Die Überlegungen zur „Scheu“ bezeichnet Otto hier erstmals als das „unableitbare, mit anderm garnicht zu verwechselnde religiöse Grundgefühl“ (MRW, 298 und 299 f.) und bereitet damit die berühmt gewordene Konzeption des ,mysterium tremendumʻ in Das Heilige vor (vgl. hierzu Schüz, Mysterium tremendum, 326 – 333).  MRW, 301.  Vgl. GÜ, 46 und die wichtigsten Nennungen in DH 23–251936, 16 – 19, 42 f. und 160 – 162.

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Die oben insbesondere am Beispiel Goethes beschriebene ,Entkoppelungʻ des Dämonischen von den Dämonen der Religionsgeschichte wird hier also nochmals deutlich: Das Erleben der „dämonischen Scheu“ ist es, was bei Otto nun den eigentlichen Urmoment „auf allerniedrigsten Religionsstufen, wo alle deutlicheren Begriffe von ‚Dämon‘, ‚Gott‘ oder ähnlichem noch ganz versagen“,⁷⁰ ausmacht und demgegenüber Dämonenwesen nur archaische und rohe Ausdrucksformen sind, die jedoch – das ist gegenüber Wundt deutlich geworden – den ursprünglichen Charakter des numinosen Erlebens in sich tragen.

4 Das Dämonische und das Numinose in Das Heilige In Ottos Hauptwerk von 1917 laufen die früheren Überlegungen zum Dämonischen nun im Gedanken einer Kategorie religiösen Erlebens sui generis zusammen und spiegeln sich in dem reichen religionskundlichen Material, zu dem Otto in den Jahren zuvor auch durch zahlreiche Übersetzungen heiliger Schriften Indiens und besonders durch seine ausgedehnten Reisen angeregt wurde. In seinem Versuch, sich dem ,Numinosenʻ als jener ,Deutungs- und Bewertungskategorieʻ zu nähern, die das eigentliche Innere der Religion ausmacht, skizziert Otto zunächst unterschiedliche Momente religiösen Erlebens, unter denen das Gefühl des ,schauervollen Geheimnissesʻ in dem Kapitel über das ,Mysterium tremendumʻ zu den wichtigsten und ursprünglichsten gehört.⁷¹ Die in der Auseinandersetzung mit Wundt entdeckte „dämonische Scheu“ taucht hier nun als „rohe und erste Regung“ jenes eigentümlich abdrängenden Erschauerns auf, das Otto von gewöhnlicher Angst oder Furcht grundlegend unterschieden wissen will.⁷² Denn es handelt sich – so seine grundlegende These – um eine intuitive ,Erlebens- und Wertungs-funktion des menschlichen Geistesʻ a priori, die sich nicht auf ein natürliches Objekt der Bedrohung, sondern auf das schlechthin Andere, Geheimnisvolle, Übernatürliche richtet und als unheimliches Grauen erlebt wird.⁷³ Es sind die unzähligen Varianten der Gottesfurcht und des heiligen

 MRW, 303.  Vgl. DH 1917, 13 – 25 und in der Letztgestalt des Buchs DH 23–251936, 13 – 37.  DH 23–251936, 16 f. Zur Unterscheidung der „numinosen Scheu“ von Angst und Furcht vgl. P. Schüz, Numinose „Scheu“ als „artlich andere Zuständlichkeit“. Rudolf Otto und der moderne Angstbegriff, in: Lauster et al. (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, 127– 142.  Vgl. u. a. DH 23–251936, 17.

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Schauers in den Quellen der Religionsgeschichte, die Otto hier vor Augen hat und deren Wesen er zu ergründen versucht. „‚Dämonen‘ wie ‚Götter‘“, also archaischste Mythen wie hochabstrakte Gottesbegriffe wurzeln demnach in ein- und demselben Gefühl ganz eigener Art, einer Intuition für das der Welt schlechthin entgegengesetzte „Ganz andere“, das allein in Momenten geheimnisvoller „Scheu“ a priori erahnt, niemals aber wirklich erkannt und unter Begriffe gebracht werden kann.⁷⁴ Mit dem Begriff des Dämonischen versucht Otto nun unter den verschiedenen Erscheinungsformen jener ,Scheuʻ den ursprünglichsten und rohsten Urmoment zu beschreiben, der in allen Stufen und Entwicklungsformen der Religion lebendig ist: Weit ist das Gefühl des Numinosen auf seinen höheren Stufen verschieden von dem der bloßen dämonischen Scheu. Aber seine Herkunft und Verwandtschaft verleugnet es auch hier nicht. Auch wo der Dämonen-glaube sich längst zum Götter-glauben erhöht hat behalten die ‚Götter‘ als numina für das Gefühl immer etwas ‚Gespenstisches‘ an sich, nämlich den eigentümlichen Charakter des ‚Unheimlich-furchtbaren‘ der geradezu mit ihre ‚Erhabenheit‘ ausmacht oder durch sie sich schematisiert. Und dieses Moment verschwindet auch nicht auf der höchsten Stufe, auf der Stufe reinen Gottesglaubens, und darf hier wesensmäßig nicht verschwinden: es dämpft und adelt sich nur.⁷⁵

Eben jene ,dämonische Scheuʻ in den Momenten religiösen Erlebens ist es auch, von der Otto zufolge die eigentümliche Faszination und Anziehungskraft des Numinosen ausgeht: „So grauenvoll-furchtbar das Dämonisch-Göttliche dem Gemüte erscheinen kann, so lockend reizvoll wird es ihm“ in dem irrationalen Trieb, dem Geheimnisvollen näher zu kommen.⁷⁶ Otto versucht nun im weiteren Verlauf des Werkes die Spuren der ,dämonischen Scheuʻ in der Religionsgeschichte nachzuzeichnen.⁷⁷ Der bereits in Naturalismusschrift, Goethedeutung und Wundt-Auseinandersetzung vorkommende Entwicklungsgedanke taucht hier nun wieder auf: Die ‚dämonische Scheu‘, selber durch mancherlei Stufen laufend, erhebt sich auf die Stufe der ‚Götterfurcht‘ und Gottesfurcht. Das daimónion wird zum theîon. Die Scheu wird zur

 A.a.O., 16 – 19.  A.a.O., 19.  Zum „fascinans“ des Numinosen vgl. a.a.O., 42 f.  In diesen Zusammenhang gehört auch das seit den Zwanzigerjahren intensiv verfolgte Engagement Ottos für die Gründung einer Religionskundlichen Sammlung in Marburg, in deren Bestand auch Objekte und Darstellungen gehören, die als Ausdrucksformen der „dämonischen Scheu“ Ottos gelten können. Vgl. hierzu bereits die in DH 1917 zwischen den Seiten 66 und 67 eingebundene Darstellung der hinduistischen Gottheit Durgā.

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Andacht. Die verstreuten und verworren aufzuckenden Gefühle werden zur religio. Das Grauen wird zum heiligen Erschauern.⁷⁸

Neben herausragenden Einzelgestalten wie Luther⁷⁹ oder Jakob Böhme⁸⁰ ist es besonders das Alte Testament, in dem Otto noch „Anklänge“ der „dämonischen Scheu“ in der „älteren Erzählungs-literatur“ auszumachen meint.⁸¹ Im Pentateuch und bei den Propheten, besonders bei Jesaja und Hiob, wird die „dämonische Scheu“ in der geheimnisvollen „orgḗ“ Jahwes als „niedere Stufe des numen“ freigelegt.⁸² Ähnlich wie bereits Bernhard Duhm unterscheidet Otto jene dämonischen Scheu-Momente als Glieder „in der Entwicklungs-kette des religiösen Gefühles“ von lediglich oberflächlicher „Dämonenfurcht“.⁸³ Die kulturgeschichtlich weit verbreiteten Vorstellungen einzelner Dämonen im Sinne von Fabelwesen und Gespenstern versteht Otto als von der Phantasie geschaffene, zuweilen zwischen Grusel und Komik changierende „apokryfe Absenker“ des Numinosen, die sich nicht auf eine a priori aufbrechende Intuition des schlechthin irrationalen „Ganz anderen“ richten, sondern auf ganz handfeste innerweltliche Erfahrungsgegenstände.⁸⁴ Erneut geht es hier also um die Entkoppelung des Dämonischen von den Vorstellungen einzelner Dämonen- und Geisterwesen aus dem Reich der Legenden, die Otto als bloße „Karrikaturen“ und „Zerrbilde[r] des Numinosen“ bezeichnet.⁸⁵ Echte Objektivationen des Dämonischen als unterste Ebene des Numinosen sind dagegen solche Wesen in der Religionsgeschichte, die „nicht als ‚guter‘ oder ‚böser‘ Dämon“ beschrieben und ethisch bewertet werden können, sondern die lediglich als „wandelnde Demon DH 23–251936, 134 f.  Vgl. das Kapitel zu Luther in DH 23–251936, 116 – 133 und konkret zum Dämonischen in Luthers Gottesbild a.a.O., 121.  Vgl. a.a.O., 131.  A.a.O., 92 f.  A.a.O., 92.  Ebd.  A.a.O., 92 f. Der Begriff des „Absenkers“ taucht erstmals in DH 1917, 30 auf.  DH 23–251936, 33 f., ebenso bereits in DH 1917, 30. Auf der Ebene des Gefühls entspricht der „dämonischen Scheu“ in diesem Sinne die nicht-numinose, nur auf Absenker gerichtete „Gespensterfurcht“: „Was aber in solcher Karikatur noch erkenntlich ist das gilt in viel stärkerem Sinne vom Dämonischen selber von dem das Gespenstische nur ein Absenker ist.“ (DH 23–251936, 34 und ebenso, mit orthographischen Abweichungen, in DH 1917, 30). In dem späteren Ergänzungsaufsatz über das Das Überpersönliche im Numinosen greift Otto hierzu – wie bereits früher in der Naturalismusschrift – auf griechische Begriffe zurück: „Der ‚daímōn‘ ist sicherlich konkretes, personales Einzelwesen. Aber das ‚daimónion‘ […] ist dies sicher nicht.“ (Vgl. die bereits seit 1921 in den Beilagen zu Das Heilige enthaltene und später in den Aufsatzbänden abgedruckte Passage in GÜ, 267 f.)

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strativ-Pronomina“, als „reine Objektivationen des numinosen Gefühles selber“ erscheinen.⁸⁶ Gegenüber den in die empirischen Welt- und Erfahrungszusammenhänge abgesenkten und damit gewissermaßen ent-numinosierten Gespenster-, Dämonen- und Fabelwesen ist das Dämonische als ein a priori veranlagtes Ahnen und Scheuen des der Welt schlechthin Entgegengesetzten und Inkommensurablen, das „selber noch nicht ein Gott aber noch viel weniger ein Gegengott sondern ein ‚Vorgott‘ ist, eine noch gebundene verhaltene niedere Stufe des numen, aus der allmählich der ‚Gott‘ in höherer Erscheinung hervorwächst.“⁸⁷ Wie grotesk und absurd diese vor-göttlichen Erscheinungsformen zuweilen in den religionsgeschichtlichen Quellen anmuten können, hat Otto deutlich vor Augen: So können die Begleiterscheinungen der „dämonischen Scheu“ mitunter „eher als ein Gegenteil von Religion denn als Religion selber aussehen“ nämlich wie „etwas Bizarres Unverständliches, oft Fratzenhaftes“, gleich einer „fürchterlichen Autosuggestion“, ja als „Spukgebilde einer kranken an einer Art Verfolgungswahn leidenden Elementar-fantasie“.⁸⁸ Deshalb das Dämonische von der eigentlichen Religion als archaische, pseudo- oder prä-religiöse Kultur- und Phantasieleistung abzuscheiden, wäre aber – wie schon gegen Wundt gezeigt – der falsche Schluss: gerade in seiner befremdlichen, sich jeder Domestizierung und Rationalisierung entziehenden Charakteristik des „Rohen“ drückt sich für Otto die eigentliche „Unableitbarkeit und Apriorität“ der „dämonischen Scheu“ als eine vor jeder Erfahrung liegende Ahnung, als ein intuitiver „Wertsinn“ des „Ganz anderen“ und schlechthin Mysteriösen aus, der jede kulturelle Vereinnahmung und Abschleifung von sich drängt und sich in immer neue paradoxe Formen und Analogien zurückzieht.⁸⁹ Otto kann so zeigen, wie dämonische Urmomente der Religion zuweilen auch noch in den Traditionen hochabstrakter und rationaler Theologie als irrationale Vorbehalte und Reste, als ,dunkle Ideeʻ, spürbar bleiben.⁹⁰ In seinem Spätwerk hat Otto diese Überlegungen zum Dämonischen besonders in der Schrift Gottheit und Gottheiten der Arier aufgegriffen und im Blick auf die persisch-indische Religionsgeschichte vertieft.⁹¹  DH 23–251936, 149.  A.a.O., 93.  A.a.O., 160 und ebenso bereits in DH 1917, 136 f.  DH 23–251936, 160 – 162 und grundsätzlich zur Apriorizität der ,dämonischen Scheuʻ im Kapitel über das ,Roheʻ in a.a.O., 162– 164 bzw. in DH 1917, 136 – 139.  Vgl. DH 23–251936, 162 f. Otto macht hier nochmals deutlich, wie das „Rohe“ der a priori aufbrechenden „Scheu“ in den „rationalen Momenten“ der Religion zwar scheinbar „überwunden“ wird, jedoch dabei gerade nicht in „verstandesmäßige Begreiflichkeit“ übergeht, sondern in Ideogrammen bewahrt wird.  In R. Otto, Gottheit und Gottheiten der Arier, Gießen 1932 (im Folgenden: GGA) liegt der Schwerpunkt insbesondere auf Momenten der ,Numinosierungʻ der Natur, also auf dem intuitiven

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Gegen Ende seines Hauptwerkes nimmt Otto schließlich die eingangs erwähnte und an werkgeschichtlichen Beispielen verfolgte Fährte des Dämonischen bei Goethe auf. Hierbei kommt insofern nochmal eine ganz eigene Note ins Spiel, als Goethe für eine Erfassung des Dämonischen steht, die sich gerade jenseits der Religionsgeschichte und überhaupt jenseits expliziter Religion zu artikulieren versteht. Eben hierin erweist er sich nach Ansicht Ottos als herausragende „divinatorische Natur“, in der die a priori veranlagte Intuition für das „Ganz andere“ in besonders originaler und unverstellter Weise zum Durchbruch kommt.⁹² Schon in seinen Überlegungen zum numinosen Moment des „Ungeheuren“⁹³ gibt sich Otto als bemerkenswert belesener und sensibler Goethekenner zu erkennen, wenn er anhand der Sternwarten-Szene in Wilhelm Meisters Wanderjahren Momente des Ungeheuren als ganz eigene Erkenntniskategorie des Schauderns herausarbeitet und mit verwandten Motiven in anderen Werken verknüpft.⁹⁴

Wiedererkennen des Numinosen in Naturerscheinungen, die damit ,numinos apperzipiertʻ und zu heiligen Orten und Dingen, bzw. zum schauervollen ,Tabuʻ werden (vgl. GGA, 3 – 15). Nicht Angst und Furcht erweckende Orte lassen demnach die Vorstellung dämonischer Wesen entstehen, sondern die ursprüngliche, geradezu transzendentale Intuition des Dämonischen, die sich erst sekundär an Natur- und Alltagserfahrungen heftet und zu numinosen Objektivationen und schließlich zu dämonischen Gottheiten wie Rudra oder Varuna aufsteigt (vgl. GGA, 16 – 65 und ausführlich zur alten vedischen Gottheit Varuna den Aufsatz König Varuna – Das Werden eines Gottes, in GÜ, 125 – 202). Noch weit anschaulicher und klarer als in Das Heilige wird zugleich das Phänomen des „Absinkens“ und „Depotenzierens“ des Dämonischen in die gruselig spukende „Halbwelt der ‚kleinen Geister‘“ mit ihren „halb komischen Figuren“ (GGA, 37, Anm. 1) beschrieben, wie man sie aus Rübezahl-, Kobold-, Vampir- und Gespenstererzählungen kennt (vgl. hierzu besonders auch den Aufsatz Steigende und sinkende Numina in GÜ, 64– 115) und auch in unseren Tagen manchmal über Kinoleinwände flattern sieht.  DH 23–251936, 179.  Zu der Entstehungsgeschichte des Kapitels Ungeheuer in DH 23–251936, 53 – 55, das sich nach und nach aus dem Kapitel über das „Fascinosum“ emanzipierte, vgl. oben Anm. 5. Erst seit DH5 (1920), 50 f. steht der ursprünglich dem Begriff „δεινός“ gewidmete Abschnitt (in DH 1917, 43 und ergänzt durch das „Ungeheure“ in DH 21918, 44 f.) im Zusammenhang mit Goethe, der dann schließlich zum Kronzeugen und Mottogeber des gesamten Werkes wird.  Vgl. DH 23–251936, 54 f. Vgl. hierzu die besagte Szene in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1829), Buch I, Kap. 10, in: Münchner Ausgabe (im Folgenden: MA) 17, 350 – 354, in der es vor allem um die Unterscheidung des Erhabenen von dem eigentümlichen Erleben des Ungeheuren geht (bes. a.a.O., 351). Ebenso wie Otto, der neben den Wanderjahren auch beeindruckend textkundig auf verwandte Motive in den Wahlverwandtschaften, in Dichtung und Wahrheit und im Torquato Tasso verweist, bringt der Kommentar der Münchner Ausgabe die Sternwarten-Szene gleichfalls mit der bereits oben (Anm. 5) erwähnten Szene „Finstere Galerie“ in Faust II, 6271– 6274 (MA 18.1, 157) in Verbindung und verweist dabei auf Burke, Boisserée und Kant (vgl. den Kommentar zu den Wanderjahren in MA 17, 1126 f.).

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Der längste Goetheabschnitt in Das Heilige befindet sich seit der ersten Auflage im Kapitel über ,Das Heilige in der Erscheinungʻ und ist explizit dem Dämonischen gewidmet.⁹⁵ Als Grundlage dienen Otto hier vor allem das 20. Buch aus Goethes Dichtung und Wahrheit und die einschlägigen Bemerkungen zum Dämonischen in den Gesprächen mit Eckermann, die mit längeren Zitaten wiedergegeben werden.⁹⁶ Goethe wird darin von Otto als divinatorischer Virtuose höchster Güte gezeichnet, der das Dämonische auf quasi-prophetische Weise in Dichtung zu gießen vermag. Dabei ist es gerade die „Divination des ‚Heiden‘ Goethe“, die Otto zu beeindrucken scheint.⁹⁷ Er betont, dass Goethe „seine Erlebnisse des Dämonischen“ mit „seinen eigenen höheren Begriffen vom Göttlichen“ letztlich „nicht auszugleichen gewußt“ hat.⁹⁸ Von der Figur des Propheten, als deren herausragendes Beispiel Otto hier Hiob nennt, wird Goethe daher ausdrücklich unterschieden, weil bei ihm das „Irrationale“ nicht als ein „tiefster Wert und heiliges Selbstrecht“ bzw. als Divination des „Göttlichen und Heiligen selber“ erlebt wird, sondern „auf der Vorstufe des Dämonischen“ im ganz unbestimmten Moment der Scheu verbleibt.⁹⁹ Die Pointe des Dämonischen bei Goethe, die Otto auch in späteren Werken aufgreift, ist es demnach, das unmittelbare ,intuitive Erfassenʻ, das ,Aperçuʻ, die ,Anamnesisʻ des bereits a priori erahnten Numinosen unmittelbar und vor jeder religiösen Schematisierung und Bewertung erfasst zu haben, ohne dabei auf explizit religiöse und prophetische Motive zurückgreifen zu müssen.¹⁰⁰ Dies gilt auch für die tiefsinnige Schlußbemerkung über ‚Gefühl‘ am

 Vgl. die eingangs im Anschluss an den Brief Ottos an Weinel erwähnte Passage im Einführungskapitel zum Begriff der ,Divinationʻ in DH 1917, 156 – 160, in der Ausgabe letzter Hand mit nur geringfügigen Änderungen DH 23–251936, 179 – 182.  Vgl. DH 23–251936, 179 – 182.  A.a.O., 181 f.  A.a.O., 182. Die entscheidende Referenz ist hierfür die von Otto a.a.O., 181 zitierte Stelle in Dichtung und Wahrheit, in der Goethe das Dämonische als etwas umschreibt, „das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff noch weniger unter ein Wort gefaßt werden konnte“ (J. W. v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 20. Buch, in: MA 16, 820). Der Kommentar der Münchner Ausgabe sieht hierin die „substantiellste“ Äußerung Goethes zum Dämonischen und betont – ganz ähnlich wie Otto – das „Prinzip der Häufung von Paradoxien als Hinweis auf das Unsagbare, Unfaßbare“ das sich dem Gottesbegriff und der religiösen Konkretion versperrt (vgl. den Kommentar zu Dichtung und Wahrheit in MA 16, 1072 f.).  DH 23–251936, 181 f.  In dem späteren Ergänzungsaufsatz Geist und Seele als numinose Wunderwesen, der 1932 in dem Aufsatz Tiefen des sensus numinis aufging, heißt es in diesem Sinne: „Die Einsicht in das innere Wunder der Seele entbindet sich dem Erlebenden nicht reflexiv sondern als ein ‚Aufgehen‘, als ein ‚Durchbruch‘, als ein durchbrechendes Klarwerden der Intuition, like a flash, wie der Engländer sagt, oder als ein ‚plötzliches Aperçu‘, wie Goethe sagt. Sie hat darum leicht die beiden folgenden Momente an sich: einerseits das Moment des inspirativen Eintretens oder Eindringens,

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Ende von Das Gefühl des Überweltlichen von 1932, in der Goethe die zentrale Referenz in Ottos Skizze einer Theorie ,religiöser Intuitionʻ bildet.¹⁰¹

5 Rückblick und Ausblick: Das Dämonische und das Problem des ‚immer Inadäquaten der Ausdrucksmittel‘ Die entscheidende Leistung in Ottos Deutung des Dämonischen war es, dem um 1900 aufbrechenden Interesse an den archaischen Elementen der Religionsgeschichte im Zwischenraum der göttlichen und menschlichen Sphäre eine frömmigkeitstheoretische Grundlage gegeben zu haben. Dabei ging Otto weit über eine bloße Ursprungstheorie der Religion hinaus, die in Dämonen und anderen urtümlichen Zwischenwesen lediglich kuriose Vorstufen der sich hieraus erst entwickelnden Religionen erblickt: Die Pointe seiner Überlegungen ist vielmehr der Gedanke der bleibenden Präsenz der ‚dämonischen Scheu‘ in allen Formen und Stufen der Religion als ihr roher und irrationaler Glutkern. Das Dämonische ist bei Otto nicht einfach das Adjektiv zu den Dämonenvorstellungen der Religionsgeschichte, sondern eine ganz eigene, von den Dämonen abgekoppelte goetheanische Vokabel, ein terminus technicus in frömmigkeitstheoretischer Absicht für eine Kategorie intuitiven Ahnens des schlechthin Mysteriösen. Die Vorstellungen von Dämonen und überhaupt das endlos „Vorantreibende, nie Ruhende in der Vorstellungsproduktion“ der Religion sind demnach unvermeidbare Erscheinungsformen des „immer Inadäquaten der Ausdrucksmittel“ des Numinosen, zu denen die Momente der „dämonischen Scheu“ drängen.¹⁰² Es geht Otto um die Erfassung des grundsätzlichen Darstellungsproblems der Religion in ihrem stetigen Ringen um adäquate und immer wieder neue Darstellungsformen der sich letztlich jeder Formgebung entziehenden Intuition des Dämonischen. Leicht entstehen dabei nach Ottos Beobachtung auch allzumenschliche, banale Absenker, Verwechselungen mit weltlichen Erfahrungszusammenhängen, die den dämonischen Charme des Numinosen zwar noch in sich tragen, letztlich jedoch aus gewöhnlicher Angst und Furcht und nicht aus der Intuition für das ‚Ganz andere‘ hervorgehen. zugleich mit dem Charakter des Plötzlichen, Unmittelbaren und des Auf einmal, und andererseits das der Anamnesis, des Sicherinnerns an etwas, das auch schon vor der Einsicht ein im dunklen Gefühle Besessenes und Vertrautes war.“ (GÜ, 264).  Vgl. GÜ, 327– 333.  GÜ, 52 bzw. MRW, 302 (Hervorhebung im Original).

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Insgesamt markiert der Begriff des Dämonischen damit einen Eckpfeiler des theologiegeschichtlichen Sonderwegs, den Otto im frühen 20. Jahrhundert einschlug. Sowohl dem rational-dogmatischen Altprotestantismus seiner Herkunft, als auch dem bürgerlich-aufgeklärten liberalen Protestantismus im Erbe Albrecht Ritschls hielt er gleichermaßen vor, die dämonisch-intuitive Eigendynamik der Religion zu unterschätzen. Sein Bemühen um das Dämonische galt der Faszination für die Widerstandskräfte der Religion gegen den Versuch ihrer theologischen, kulturellen oder ethischen Domestizierung. Mit der aufkommenden Dialektischen Theologie hatte Otto in jenem Sinn für das ,Ganz andereʻ zwar eine gewisse Gemeinsamkeit, fand in ihr dann jedoch nur umso erbittertere Gegner, die den Begriff der Offenbarung von Momenten ,dämonischer Scheuʻ tunlichst fernhalten wollten.¹⁰³ Indessen ist die weitreichende Wirkungsgeschichte von Ottos Konzeption des Dämonischen kaum zu überblicken und hob ihn schnell in den Rang eines Klassikers zu diesem Thema.¹⁰⁴ Schon in den Zwanzigerjahren kam es zu bemerkenswerten Aufnahmen und Weiterführungen. Als ein frühes Beispiel für die Rezeption von Ottos Ansatz in der wissenschaftlichen Exegese wäre besonders der 1924 auf dem Alttestamentlertag in München gehaltene Vortrag des Tübinger Theologen Paul Volz über Das Dämonische in Jahwe zu nennen. Im Anschluss an Otto plädiert Volz für die These, dass man es in den Motiven des Dämonischen, die in der Religionsgeschichte und in den Gottesbildern des Alten Testaments begegnen, mit etwas „Unverlierbarem in der Frömmigkeit“ zu tun habe, was sich auch im Glauben des Christentums als bleibender Zug des „Unheimlichen“ erhalten müsse:¹⁰⁵ So ist der Gott des Alten Bundes nicht ein überwundener Gott. Ich möchte viel eher sagen, dieser Zug des alttestamentlichen Gottes und der alttestamentlichen Frömmigkeit, den wir beschrieben haben, ist etwas, was wir zurückgewinnen und bewußt behaupten müssen. Es ist scheinbar etwas besonders Altertümliches am Alten Testament, dieses Dämonische in Gott; in Wirklichkeit aber ist es, in aller Wandlung und Entwicklung, etwas Ursprüngliches und Ewiges.¹⁰⁶

Unter den zahlreichen Aufnahmen von Ottos Idee des Dämonischen in Studien zur Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte ragt besonders das vielbeachtete und

 Vgl. hierzu die zustimmenden und zugleich ablehnenden Bemerkungen über Otto in R. Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung (1924), in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 1933, 22 (84).  Vgl. hierzu die prominente Nennung Ottos beispielsweise in den Lexikonartikeln C. Axelos, Art.: Dämonisch, das Dämonische, in: HWPh, Bd. 2, 4 f. und U. Berner, Art.: Dämonische, das, I. Religionswissenschaftlich, in: RGG4, Bd. 2, 544.  P. Volz, Das Dämonische in Jahwe, Tübingen 1924, 40 (Hervorhebung im Original).  A.a.O., 41.

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seit 1925 mehrfach wiederaufgelegte Lutherbuch des Historikers Gerhard Ritter heraus, dessen Skizze der dämonischen Elemente im Wesen und Denken Luthers auch von Otto selbst als bemerkenswerte Ergänzung zu seinen eigenen Studien empfunden wurde.¹⁰⁷ Als bedeutendste Konzeption des Dämonischen auf systematisch-theologischem und religionsphilosophischem Gebiet kann bis heute diejenige Paul Tillichs gelten, der das „Wissen um den irrational-dämonischen Charakter des Lebens“ (GW XII, 45) später als grundlegendes Wesensmerkmal seines Denkens bezeichnete. Als Tillich 1926 seine wichtigsten Schriften über das Dämonische verfasste, stand er gerade in engem Kontakt mit Otto, den er lebenslang als eine seiner prägendsten Inspirationsfiguren gelten ließ – schon deshalb liegt in diesem Zusammenhang eine inhaltliche Verbindung nahe.¹⁰⁸ Auch Tillich verwendet den Begriff des Dämonischen zunächst als von der mythologischen Welt der Dämonen gelöste, religionsphilosophische Grundformel für eine religiöse Ur-Intuition, wenn er schreibt: Das Dämonische ist die negative und positive Voraussetzung der Religionsgeschichte. Aus dem dämonischen Untergrunde erheben sich alle höheren, individuellen, historisch geprägten Formen der Religion, im Kampfe mit dem Dämonischen gewinnen sie ihre eigentümliche Gestalt, in dem dämonischen Element, das als Untergrund nie schwinden darf, haben sie ihre zwingende Kraft für das Bewußtsein.¹⁰⁹

In der überaus komplexen und sich durch fast alle Epochen seines Werkes ziehenden religionsphilosophischen Bestimmung des Dämonischen weicht Tillich jedoch auch deutlich von Ottos Ansatz ab.¹¹⁰ Im Versuch, die innere Dialektik

 Vgl. G. Ritter, Luther. Gestalt und Symbol, München 1925. In Das Heilige verwies Otto später ausdrücklich auf das Buch Ritters, in dem er seine Gedanken zu Luther treffend weitergeführt sah (vgl. DH 23–251936, 119, Anm. 3). Zum Inhalt des Buchs, zu seiner wechselvollen Auflagengeschichte und zu den Bezügen zu Ottos Lutherdeutung vgl. Schüz, Mysterum tremendum, 190 – 194.  Vgl. besonders den Aufsatz P. Tillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte (1926), in: ders., Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 139 – 163. Zum Verhältnis von Otto und Tillich vgl. W. Schüßler, „My very highly esteemed friend Rudolf Otto.“ Die Bedeutung Rudolf Ottos für das religionsphilosophische Denken Paul Tillichs, in: IYTR 8, Berlin/Boston 2013, 153 – 174 und P. Schüz, Rudolf Otto und Paul Tillich – biographische und theologische Überlegungen, in: T. Dietz/H. Matern (Hg.), Rudolf Otto. Religion und Subjekt (CHK 12), Zürich 2012, 197– 236.  Tillich, Das Dämonische, 151.  Ein wichtiger Grund hierfür ist sicherlich, dass Tillich in seiner Konzeption des Dämonischen auf andere geistesgeschichtliche Referenzen zurückgreift als Otto. An erster Stelle ist hier besonders Kierkegaard zu nennen (vgl. hierzu besonders C. Danz, Das Göttliche und das Dämonische. Paul Tillichs Deutung von Geschichte und Kultur, in: IYTR 8, Berlin/Boston 2013, 1– 14).

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in den Erscheinungsformen des Heiligen zu beschreiben, versteht Tillich das Dämonische als ein dem Göttlichen widerstreitendes, gleichwohl aber zum Wesen des Göttlichen unmittelbar hinzugehörendes Prinzip. Subtiler als bei Otto steht das Dämonische bei Tillich nicht für die unbestimmte und rohe numinose „Scheu“ vor dem „Ganz anderen“, sondern für die hiermit einhergehende „Spannung zwischen Formschöpfung und Formzerstörung“, aus der die charakteristische Zweideutigkeit religiöser Ausdrucksformen und Symbole resultiert.¹¹¹ Wenn Tillich das Dämonische als das „heilig Gegengöttliche“ (GW I, 338) oder als Erscheinung der „Wesenswidrigkeit“ und der „Sünde“ bezeichnet,¹¹² betont er damit weit schärfer als Otto, bei dem das Dämonische unbestimmt und dunkel bleibt, das negative Vorzeichen. Damit liegt Tillich vielleicht eher auf der Linie dessen, was Otto mit dem Gedanken des ,numinosen Absenkersʻ beschrieb: Gemeint war hiermit bei Otto die Tendenz des Numinosen, auch in Formen zu drängen, die sich schließlich von ihrem numinosen Grund entfremden und zur „Karikatur seiner selbst“ bzw. zum „Negativ-numinosen“ depotenziert werden.¹¹³ Solche „Absenker“ sind demnach nicht mehr heilig, sondern pseudoheilig, sind – in Tillichs Begriffen – Bedingtes im Gewande des Unbedingten, und faszinieren durch ihren numinosen Charme, der aber in Wirklichkeit nur Schein und damit geradezu das Gegenteil des Numinosen ist. Das Dämonische bei Otto bezeichnet den eigentlichen Urmoment numinosen Erlebens vor jeder Schematisierung und Rationalisierung als geheimnisvolle Scheu vor dem ‚Ganz anderen‘, Tillich dagegen betont mit dem Dämonischen die negativen und sinnwidrigen Kräfte, die das Numinose – bzw. das Heilige, wie Tillich es lieber nennt – an der ihm angemessenen Verwirklichung hindern bzw. in sein Gegenteil verkehren. Was schließlich Tillich den „Kampf gegen das Dämonische in der Religionsgeschichte“ nennt,¹¹⁴ verbindet ihn wiederum mit Otto in der gemeinsamen Vorliebe für mystische Theologie und Frömmigkeit als der eigentlichen Selbstreinigungskraft der Religion in ihrem Drang zum Paradoxen, Antinomischen, Mysteriösen als der vielleicht einzig adäquaten Darstellungsform des Göttlichen. Die Berührungspunkte mit dem Ansatz Tillichs führen am Ende der vorliegenden Untersuchung zu Ottos Goethestudien zurück, deren Pointe unter anderem darin bestand, dass Goethe seine Intuition des Dämonischen gerade nicht mit

 Tillich, Das Dämonische, 141. Vgl. auch zum Dämonischen im Zusammengang mit der Zweideutigkeit des Lebens ST III, 124– 128.  Tillich, Das Dämonische, 148.  Vgl. erneut den Aufsatz Steigende und sinkende Numina in GÜ, 64. In GGA, 95 identifiziert Otto sogar das „negativ-numinose“ direkt mit dem Dämonischen.  Tillich, Das Dämonische, 151.

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konkreten Formen und Begriffen der Religion verband.¹¹⁵ Für Otto liegt das Wesen jener Intuition in ihrer sich der Religion und dem Gottesbegriff versperrenden Irrationalität und Fremdheit in Gestalt eines unergründlichen Geheimnisses; ein Gedanke, dem sich vermutlich auch Tillich – in freilich anderer Terminologie – anschließen könnte. Vielleicht traf Otto hiermit zugleich auch ein Grundmotiv moderner Spiritualität, namentlich die sich auch jenseits expliziter Religion artikulierende Faszination für das Dunkle, Groteske und Irrationale, die sich in neuromantisch anmutenden, geradezu faustischen Motiven der Kultur mit den Eindrücken des latent-abgründigen Krisenbewusstseins der Moderne verbindet.¹¹⁶ Damit rückt das Dämonische bei Otto am Ende ganz in die Nähe dessen, was Goethe mit dem Begriff der ,Urphänomeneʻ bezeichnete.¹¹⁷ Die Bemerkungen über das Urphänomen in den Maximen und Reflexionen können als ebenso schöne wie treffende Zusammenfassung von dem gelten, was Otto mit dem Begriff der ,dämonischen Scheuʻ als der schaudernden Ahnung eines letztlich unfasslichen Mysteriums zu beschreiben versuchte: Vor den Urphänomenen, wenn sie unseren Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu, bis zur Angst. Die sinnlichen Menschen retten sich ins’s Erstaunen; geschwind aber kommt der tätige Kuppler-Verstand und will auf seine Weise das Edelste mit dem Gemeinsten vermitteln.¹¹⁸

 Aufschlussreich für diesen Kontext ist der 1926 von dem Germanisten Eugen Wolff verfasste Beitrag E. Wolff, Irrationales und Rationales in Goethes Lebensgefühl, in: Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (1926), 491– 507, der deutlich an Otto orientiert ist. Vgl. hierzu auch die zustimmenden Worte Ottos in DH 23–251936, 77 f., Anm. 1 und 179, Anm. 1.  Zu Ottos Verhältnis zu jenem ,neuromantisch-neureligiösen Nervʻ um 1900 und seiner Bedeutung für die damalige Spiritualität mit einem deutlichen Hang zum Irrationalen, Dunklen und Abgründigen, wie er im Symbolismus und im Jugendstil, sowie in Zirkeln um Dichter wie Stefan George, Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hoffmannsthal greifbar wird, vgl. die Studie M. Buntfuß, Ottos (neu)romantische Religionstheologie im Kontext der ästhetischen Moderne, in: Lauster et al (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, 454.  Zur Verbindung des Dämonischen mit dem Begriff des Urphänomens, die Goethe besonders gegenüber Hegel äußerte, vgl. Buck, Dämonisches, 179. Bemerkenswert ist überdies, dass Goethe in der für den Begriff des ,Urphänomensʻ zentralen Farbenlehre ähnliches von seinen Lesern fordert, wie Otto im Eingangsteil von Das Heilige, nämlich, sich vor dem Hintergrund der beschriebenen Inhalte auf das eigene Erleben zu besinnen. Siehe hierzu in J. W. v. Goethe, Die Farbenlehre, in: MA 10, das Vorwort (9 – 16) und besonders die Einleitung in den Didaktischen Teil (19 – 26). Vgl. demgegenüber Ottos bekannte Aufforderung zur Selbstbesinnung in DH 23–251936, 8 und Gooch, „Das Schaudern“, 315, der ebenfalls auf die genannte hermeneutische Parallele zwischen Goethe und Otto hinweist.  J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 412 [Zählung nach Max Hecker], in: MA 17, 792. Vgl. hierzu auch a.a.O., 798: „Das unmittelbare Gewahrwerden der Urphänomene versetzt uns in eine Art von Angst, wir fühlen unsere Unzulänglichkeit; nur durch das ewige Spiel der Empirie belebt erfreuen sie uns.“

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Das Dämonische in Tillichs Dresdener Dogmatik Theologie- und werkgeschichtliche Hintergründe der schöpfungstheologischen Sündenlehre und ihrer Bezüge zur Kultur- und Geschichtsphilosophie

1 Einleitung Die folgenden Ausführungen gelten einer Deutung der Lehre vom Dämonischen in der Dresdener Dogmatik.¹ Die Stellung dieser Lehre innerhalb der Schöpfungslehre und ihr Verhältnis zur Lehre von der Sünde sind dabei zu berücksichtigen. Die Funktion dieser Bezüge ergibt sich werkgeschichtlich durch einen Vergleich mit Tillichs System von 1913. Schon hier sind auch die bleibenden kultur- und sozialgeschichtlichen, freiheitstheoretischen und geschichtsphilosophischen Kontexte erkennbar. Schließlich ist zu beachten, dass Tillich mit dieser Konzeption nicht allein dasteht, sondern bestimmte Überlegungen der Theologie des 19. Jahrhunderts aufnimmt und eine Tendenz weiterführt, die auf eine kosmologische und geistesgeschichtliche Ausweitung der Sündenlehre hinführt. Es „läßt sich seit 1922/23 im philosophischen wie im theologischen Diskurs eine im einzelnen schwer zu deutende Hochkonjunktur des Begriffs der ‚Dämonie‘ beobachten; das starke Interesse am ‚Dämonischen‘ bzw. den ‚dämonischen Mächten‘ spiegelt vielleicht den Versuch, für die harten ‚depersonifizierenden Kräfte‘ oder ‚Schicksalsmächte‘ des modernen Kapitalismus einen starken theologischen Begriff oder eine wirkmächtige theologische Metapher zu finden“.²  Vgl. EW XIV. Die Lehre vom Dämonischen bildet den dritten Abschnitt des ersten Teils der Dogmatik, der Schöpfungslehre. Diese Schöpfungslehre enthält als erstes die Schöpfungslehre im engeren Sinn, dann die Sündenlehre und als drittes die Lehre vom Dämonischen, unter der barock wirkenden, aber in ihren Teilen erklärbaren Überschrift: „C. Das Seiende als Zusammenhang von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der vollkommenen Offenbarung. (Von Gott und Welt in dem Zusammensein von Getrenntheit und Verbundenheit)“ (EW XIV, 223).  F. W. Graf, Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 81. Das von Graf benannte Motiv einer religiös aufgeladenen Kapitalismuskritik spielt sicherlich eine große Rolle. Allerdings ist es allein vielleicht zu inhaltlich gedacht: Das Dämonische ist bei Tillich sowohl ein kritischer als auch ein affirmierender Begriff. Anders als für uns heute ist für Tillich die sokratisch-platonische, von der Klassik https://doi.org/10.1515/9783110582994-005

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Diese Beobachtung Grafs trifft auf Tillich exakt zu, ob auch die Deutung zutrifft, bleibt zu fragen. Natürlich ist der Begriff selbst auch im 19. Jahrhundert theologisch jederzeit präsent, da in der Bibel von Dämonen und Gewalten die Rede ist. Seine modern-antimoderne Konjunktur wird dann vorbereitet durch Rudolf Ottos Buch Das Heilige von 1917, in dem er bereits eine prominente Rolle gewinnt. Aber in einer ersten Rezeption des Buches durch Tillich wird er noch nicht aufgenommen.³ Dagegen gewinnt er in der Tat für Tillichs theologische Dogmatik der 20er Jahre, die durch Sinn und Durchbruch bestimmt ist, eine zentrale Orientierungsfunktion. Offenbarung ist die Überwindung des Dämonischen in der Geschichte, so die soteriologische Grundkonzeption der Dresdener Dogmatik. Das bedeutet, dass der Begriff des Dämonischen im Zentrum der Konstruktion steht, sowohl für den ersten, den schöpfungstheologischen Teil der Dresdener Dogmatik als auch für den zweiten, den christologischen Teil, der das Dämonische in der Religionsgeschichte bearbeitet. Diese Beobachtung zur Begriffsverwendung muss allerdings inhaltlich überprüft werden. Wie so oft signalisiert die Verwendung eines neuen Begriffs durch Tillich nicht unbedingt eine entsprechend neue systematische Denkart. Vielmehr nimmt Tillich Begriffe aus der öffentlichen Debatte auf und baut sie in sein Denken ein, wodurch er natürlich auch versucht, die Debatte mit zu bestimmen. Für den Begriff des Dämonischen ist ihm dies gelungen. Er hat mit der Aufnahme des Begriffs seine eigene Stellung als eines aufmerksamen Beobachters der Brüche und Krisen einer sich modernisierenden Gesellschaft in der öffentlichen Wahrnehmung befestigt. Aber hat er auch seine eigene Theologie mit dem Begriff des Dämonischen neu strukturiert? Um Tillichs Verwendung des Begriffs in den 20er Jahren, auf dem dann in Abwandlungen seine Bedeutung bis zur späten Systematischen Theologie beruht, aufzuklären, ist ein werkgeschichtlicher Zugriff auf die Formierung seines Denkens notwendig. Die Schaltstellen des Systems, die mit dem Begriff besetzt wer-

und besonders Goethe verwendete positive Konnotation des Begriffs jederzeit präsent. Deshalb ist es ein Spiegel der Wahrnehmung der modernen Freiheit, die (aus der Sicht Tillichs) sowohl Fortschritt als auch Gefahr darstellt. Diese (einerseits gottgegebene, andererseits den Menschen zu Gott erhebende) Freiheit prägt alle Bereiche der Gesellschaft. Die Verschärfung der Wahrnehmung resultiert aus dem Verlust einer bürgerlichen Einheitsidee im Geist. Insofern steht das Dämonische umfassender für die Autonomisierung der Teilbereiche der Kultur und für ihre sich durchsetzende, im ‚sittlichen‘ Sinn kritikresistente Eigengesetzlichkeit.  Vgl. EW VI, 95 – 136. Hier fällt der Begriff bei Hirsch, wird aber – trotz des Kreisens um Negativität – nicht selbst thematisch: „Sittlich falsche Urteile sind nicht weniger dämonische und lebenszerstörende Mächte als dialektische Schwierigkeiten und Irrtümer.“ (A.a.O., 111)

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den, müssen identifiziert werden und ihre parallelen Beschreibungen in den verschiedenen Phasen des Systems nebeneinandergestellt werden. Um jedoch ein theologiegeschichtliches Verständnis für die Funktion des Dämonischen bei Tillich zu gewinnen, ist es darüber hinaus notwendig, die bei Tillich hervorstechenden geschichts- und kulturgeschichtstheologischen Komponenten seiner Verwendung auf bestimmte Konzeptionen der Sündenlehre des 19. Jahrhundert zurückzuführen. Es wird sich zeigen, dass hier viele Bedeutungsverbindungen bereits angelegt waren, die Tillich schon früh in seine Schöpfungs- und Sündenlehre aufnimmt und dann in dem Begriff des Dämonischen zu bündeln und zu systematisieren versucht. Das Dämonische wird in der Dresdener Dogmatik im Kontext der Schöpfungsund der Sündenlehre thematisch. Die Schöpfungslehre baut dabei auf bestimmten Grundannahmen von Tillichs Technik-, Kultur- und Sozialphilosophie auf (von Tillich zunächst noch im idealistischen Begriff einer Philosophie des Geistes⁴ zusammengefasst). Diese welt- und wirklichkeitsbezogenen, das Handeln des Menschen strukturierenden Grundannahmen müssen mit dargestellt werden, wenn Tillichs Lehre von Sünde und Dämonie umrissen wird. Auch dazu finden sich schon Anregungen in Dogmatiken des 19. Jahrhunderts. Dabei geht es um eine vorreligiöse Deutung des Sündenbegriffs, der dann nicht nur als Struktur ethischen Entscheidens (wie bei Kant), sondern in seiner Anwendung auf die Kulturphilosophie als Strukturbegriff menschlichen Handelns im Kontext der Welt, also nicht nur als ein Moment abstrakter Freiheit, sondern zugleich als ein Moment des sozialen und weltbezogenen Verhaltens des Menschen zu stehen kommt. Schließlich sind die geschichtsphilosophischen Implikationen von Sünde und Dämonie darzustellen. Im Gegensatz zu der vordergründigen Aufteilung der ausgeführten Teile der Dresdener Dogmatik in Natur und Geschichte (bzw. Schöpfung und Erlösung) ist zu sagen, dass auch die Schöpfungslehre bzw. die Lehre vom Sein oder der Natur ihr Ziel in einem Verständnis der Geschichte hat. Das Handeln des Menschen in Politik, Wirtschaft, Kunst und Religion ist immer geschichtlich – auch noch vor der sinnhaften Selbstreflexion der Geschichte in der offenbarten Religion und dem daran hängenden Heilsangebot. Es ist darauf hinzuweisen, dass Tillichs bekannter Aufsatz zum Dämonischen sich kaum als Ausgangsbasis für sein Verständnis eignet – vielmehr ist dieser Aufsatz eine

 Bereits im System von 1913 verweist Tillich im Geschichtsparagraph auf die notwendige Anwendung und Rückbezüglichkeit von Gottes Geschichtshandeln auf die grundlegenden Strukturen der Kultur- und Sozialphilosophie: vgl. EW IX, 273 – 434, bes. 342.

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Kurzzusammenfassung des Gesamtprogramms, das aus dem Text der Dresdener Dogmatik und seinen systematischen Bezügen zu eruieren ist.⁵

2 Theologiegeschichtliche Überlegungen zu kosmologischen und kulturphilosophischen Elementen der Sündenlehre des 19. Jahrhunderts Im Folgenden geht es nicht um die Sündenlehre des 19. Jahrhunderts allgemein. Diese beschränkt sich über weite Strecken im Kontext der Kantischen und Schleiermacherschen Sündenlehre auf die anthropologische, ethische und subjektivitätstheoretische Bedeutung der Sünde. Sünde kommt durch den Menschen in die Welt, sie hat erst im Sündenfall Gottes gute Schöpfung korrumpiert. Erklärt werden muss deshalb, wie der Mensch infolge des Sündenfalls so beschaffen ist, dass er sowohl heilsfähig als auch heilsbedürftig bleibt. Insbesondere Kierkegaard hat gemäß diesem Strang der Sündenlehre die Sünde zu einem grundlegenden individualitätsbezogenen, im Akt des Glaubens als Entscheidung selbst angelegten Strukturprinzip menschlichen Selbstverhältnisses in der Verantwortung gemacht. Daneben hat es aber eine andere Ausrichtung der Sündenlehre gegeben, die sich aus der geschichts- und schöpfungsbezogenen Spekulation der Aufklärung⁶ und der Philosophie Hegels⁷ und Schellings⁸ herleitet. Auf die Dar-

 Vgl. MW V, 99 – 123. Insbesondere die eingängige Bezeichnung des Dämonischen als die Form des Formwidrigen ist nur im Kontext von Schöpfungs- und Sündenlehre verständlich.Vgl. dazu W. Schüßler, „Form der Formwidrigkeit“. Zu Paul Tillichs Begriff des Dämonischen, in: ders./C. Görgen (Hg.), Gott und die Frage nach dem Bösen. Philosophische Spurensuche: Augustin – Scheler – Jaspers – Jonas – Tillich – Frankl, Berlin 2011, 119 – 134.  Vgl. jetzt den Überblick von G. Raatz, Die Erbsündenkritik der protestantischen Aufklärungstheologie – Forschungsskizze zu einem Topos der anthropologischen Wende, in: Kerygma und Dogma 63 (2017), 38 – 62.  Es ist dabei darauf hinzuweisen, dass nicht alle Formen spekulativer Theologie eine welt- und geschichtsbezogene Sündenlehre entwickeln. Vgl. z. B. die Studie von T. Vocka, Das Problem des Bösen in der Hegelschen Schule, Frankfurt a. M. 2003 (zu Marheineke, Vatke, Erdmann und Zeller).  Vgl. Wolfhart Pannenbergs Bemerkung zum Offenbarungsbegriff: „Der frühe Schelling dachte eher an den Gesamtprozeß der Geschichte oder auch, noch umfassender, an die Schöpfung der Welt, die im Menschen gipfelt. Bei Schelling wurde der Begriff der Offenbarung oder Selbstoffenbarung also auf den ganzen Prozeß des Hervorgangs der Welt der endlichen Dinge aus Gott bezogen […]. Beide [sc. Schellings und Hegels] Auffassungen erschienen jedoch der Theologie des

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stellung Schellings und seiner Rezeption durch Tillich⁹ wird hier verzichtet, vielmehr soll die theologische Aufnahme der Idee in den Dogmatiken des 19. Jahrhunderts untersucht werden.

2.1 David Friedrich Strauß Eine Theologiegeschichte der Sünde vor Tillich in der genannten Absicht fängt am besten mit David Friedrich Straußʼ Glaubenslehre an. Hier werden die Ergebnisse der Aufklärungskritik zusammengefasst und es wird der radikale Abbau überkommener Vorstellungsgehalte für notwendig erklärt. Die Konsequenzen, die Strauß daraus zieht, lösen aber nicht die Lehre ganz auf, sondern führen zu einer spekulativen Umformung. Die weitere Theologie des 19. Jahrhunderts ab dem Erscheinen der Glaubenslehre (1840/41) lässt sich immer wieder als Versuch verstehen, den für das Religionsverständnis selbst ruinösen Konsequenzen (welche Strauß bekanntlich als notwendige Folgen eines rein objektiven Tatsachenberichts über die Entwicklung der Theologie darstellt) zu entkommen. Strauß geht dabei wie viele andere im Gefolge der Aufklärungskritik davon aus, dass die Kritik sowohl die Vorstellung eines Urstands als auch die Vorstellung eines realen Sündenfalls in der Geschichte unmöglich gemacht hat. Der Urstand und die ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen beschreiben keine historische Tatsache und keinen realen Zustand des Menschen, sondern seine überhistorische Natur und sein gedankliches Wesen. Dadurch wird das moderne historische Wissen auch in der Theologie als maßgeblich anerkannt.¹⁰ Damit allein ist aber noch nichts gewonnen, da die Natur des Menschen seine Handlungen nicht in einer Weise prägen kann wie bei einem Tier (oder einem Roboter oder einem Engel). Vielmehr muss es sich um eine Natur handeln, die die weitere Entwicklung des Menschen erlaubt. Insofern baut Strauß auch den wesentlichen

19. Jahrhunderts als verdächtig. In ihnen beiden schien sich eine ‚pantheistische‘ Identifizierung des Weltprozesses mit Gott zu äußern.“ (Ders., Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 245.) Gleichwohl gibt es Versuche, die damit gegebene geschichtstheologische Relevanz des Sündenbegriffs auszuarbeiten.  Vgl. dazu U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theologie der Sünde, Stuttgart/ Berlin/Köln 2000, 21– 48 und 49 – 62. Murmanns Studie bietet ebenfalls immer noch den inhaltsreichsten Einblick in die Sündenlehre der Dresdener Dogmatik (vgl. a.a.O., 63 – 96).  Vgl. D. F. Strauß, Die christliche Glaubenslehre, Bd. 1, Tübingen/Stuttgart 1840, 714. Strauß verweist neben Hegel auch auf Schleiermacher, der darauf verzichtet habe, den Urstand als einen festen historischen Zustand vorzustellen und ihn auf die „bleibenden Grundverhältnisse“ (a.a.O., 716) der menschlichen Natur beziehe. Alle nachfolgend in diesem Abschnitt angegebenen Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf die zuvor genannte Quelle.

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Inhalt der ursprünglichen Vollkommenheit ab: weder Wahrheit noch Gutheit waren ursprünglich gegeben oder können überhaupt ursprünglich gegeben werden. Wahrheit und Gutheit im menschlichen Bewusstsein, so Strauß mit Hegel, sind (prinzipiell) nur jeweils das Ergebnis von ‚Vermittlung‘ und ‚Abarbeitung‘, von ‚Erziehung‘ und ‚Reinigung‘. Der Urstand ist das Bild für die „wesentliche Bestimmung des Menschen“, aber als „der Begriff, das Ansich“ liegt er „dem ganzen Verlaufe der daraus hervorgehenden Zustände als ihr Princip zum Grunde“ (715). Das Hervorgehen, also die Entwicklung, ist deshalb nötig, weil der Geist am Anfang noch nicht bei sich ist, sondern in einem anderen Zustand, dem der Sinnlichkeit und der endlichen Bestimmung, gefangen ist. Daraus lässt sich schließen, dass Strauß das Hegelsche System der Entwicklung des Geistes zu sich selbst in einem auf das Bewusstsein selbst bezogenen Sinn versteht. Sinnlichkeit, Endlichkeit und Natur sind Gegenbegriffe des Geistes. Aufgabe des Menschen ist, die am Anfang bereits mitgegebene Bestimmung des Geistes in sich zu entwickeln. Dabei meint Strauß nicht das Individuum, sondern die Entwicklung der Gattung in der Geschichte. Insofern fallen alle Fragen nach individueller Schuld, ihrer Zurechnung und Vergebung im Kontext einer allgemeinen Entwicklungsgeschichte des Geistes fort. Sündenbewusstsein, Reue und Bekehrung haben für Strauß keinen Ort im religiösen Bewusstsein, mit dem sich der Einzelne auf die Bestimmung der Gattung bezieht. Aus der Auflösung realer Geschichtsvorstellung für die mythischen Erzählungen folgt zugleich, dass es keine einzelne Tat des Sündenfalls gab, sondern hier nur in einer einzelnen Handlung vorgestellt wird, was die Struktur alles menschlichen Handelns ist. Das abstrakte Moment der Differenz im (bildhaft trinitarisch) gedachten Verhältnis des Geistes zu sich selbst wird jetzt zu dem der faktischen, empirischen Entzweiung. Sie muss aber wie die (bleibende) Einheit der Trinität zugleich mit Versöhnung gedacht werden, weil die reale Grundlage in der Sache die ist, dass „Entzweiung und Versöhnung, Sünde und Erlösung […] für uns in jedem Atom der Menschheit und ihrer Geschichte sich immer neu erzeugen“.¹¹ Damit wird die vorstellungshafte Trennung der beiden Ereignisse ‚Sündenfall in Adam‘ und ‚Erlösung in Christus‘ wieder aufgehoben. Mit Hegel wird die Entzweiung in der Sünde als notwendige Struktur der Freiheitsgeschichte gesehen, oder, in Straußʼ Worten, als „Phasen, welche die Menschheit auf dem Wege der Realisierung ihres Begriffes durchzumachen hat“.¹² Bezüglich der Sündenlehre ergeben sich daraus folgende Probleme: zunächst lässt Strauß es wie Hegel in der Schwebe, wie die gedankliche Struktur der sich

 D. F. Strauß, Die christliche Glaubenslehre, Bd. 2, Tübingen/Stuttgart 1841, 71 f.  A.a.O., 72.

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ihrer bewusstwerdenden Freiheit und die geschichtliche Entwicklung des Freiheitsbewusstseins sich zueinander verhalten, wieso also eine Strukturbeschreibung des absoluten Geistes zugleich als geschichtliche Verlaufstheorie verwendet werden kann. Für die Sünde bedeutet dies dann, dass sie zu einem notwendigen Moment jedes Freiheitsbewusstseins erklärt wird. Schuld, Zurechnung und Verantwortung fallen für die Beschreibung der Sünde aus.Weiter: Die philosophische Idee kann den eigentlichen Inhalt der religiösen Vorstellung (nämlich die individuelle Schuld des einzelnen vor Gott und seine Verantwortung für die religiöse Schätzung seines Lebens) nicht angemessen mitrekonstruieren. Der (von Kant und Schleiermacher betonte) die Person betreffende und als realer Wechsel des Lebens erlebte Wechsel von Unglaube und Glaube wird also ebenfalls ortlos. Jede Entwicklungstheorie muss aus dem unverfügbaren Evidenzereignis von Heil einen graduellen Wandel von mehr zu weniger Sünde machen. Entsprechend wird sodann jede reale Externität der Gnade und die Behauptung einer Erlösungsnotwendigkeit des Menschen undenkbar. Und schließlich fällt in der Strukturbeschreibung der Freiheit die religionsgeschichtliche Entwicklung hin zum Christentum weg und damit die geschichtliche Erlöser- und Stifterfunktion Christi aus. Religion als erlebte existenzielle Selbstdeutung der einzelnen geschichtlichen Person, des Christen, wird bedeutungslos; und die Realität der Sünde wird theoretisch nicht angemessen dargestellt.

2.2 Richard Rothe Dass man vor dem Hintergrund idealistischen Denkens nicht zu den von Strauß aufgezeigten Konsequenzen kommen muss, sondern es auch anders machen kann, zeigt ein Blick auf die Sündenlehre Rothes. Denn zwar kommt Rothe wie Strauß von der aufgeklärten Idee eines Einbaus der Sündenlehre in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit her. Wie Strauß geht Rothe selbstverständlich davon aus, dass ein realer Sündenfall in der Geschichte nicht (mehr) sinnvoll vorgestellt werden kann. Allerdings baut Rothe auch die Ursprungsvollkommenheit (die bei Strauß zu einer innerweltlichen Entwicklungsmöglichkeit des Menschen zu sich selbst hin führt) aus der modernen Lehre aus. Das Ergebnis davon ist eine an jedem Punkt der Geschichte göttlich gelenkte Entwicklung des Menschen, die in dem erweckten Wechsel von Unglauben zu Glauben ihren stärksten Ausdruck findet. Dadurch kann Rothe (jedenfalls der Intention nach) individuelle Frömmigkeit, ihr Nicht-selbst-gemacht-Haben, und menschheitliche Entwicklung als gattungsbezogene Freiheitsgeschichte engstens miteinander verknüpfen.

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Wegen des Ausfalls des Urstands und der Anbindung der Entwicklung an Gottes Willen kommt Rothe bereits¹³ zu zwei Entscheidungen, die auch Tillich später aufgenommen hat: einerseits ist die Entstehung der Sünde bereits in dem Schöpfungsakt Gottes mit enthalten. Andererseits setzt instantan zugleich mit diesem Schöpfungsakt derjenige Prozess ein, mit dem Gott die Schöpfung auf sich selbst hin lenkt. Daraus folgt ein Drittes: eine Erklärung für die Existenz der Sünde in der Schöpfung ist nicht zu geben, sie liegt – wenn überhaupt – höchstens in der Ermöglichung des Prozesses selbst, also der vom Menschen selbst zu erarbeitenden Realisierung der Freiheit als eigentliches Ziel des Schöpfungsaktes.¹⁴ Rothe entwickelt die Lehre von der Erlösung deshalb bereits als eine auf Jesu Christi Auftreten in der Geschichte hin zielende Theorie einer von Gott gelenkten geschichtlichen Entwicklung. Erlösung als geschichtliche Tat Gottes stellt die Möglichkeit dafür bereit, vom Menschen im Glauben angeeignet werden zu können. Damit steht die objektive Erlösungslehre der Soteriologie gegenüber. In diesem entwicklungsgeschichtlichen Sinn wird die Erlösungslehre in zwei Teilen entfaltet. Der erste Teil enthält als Prädestinationslehre zunächst Verhältnisbestimmungen von Gattungs- und individueller Entwicklung. Rothe gleicht Schleiermachers angenommene, aber nicht näher behandelte Allerlösungslehre dadurch aus, dass er einerseits einen göttlichen Plan der geschichtlichen Aufeinanderfolge individueller Bekehrungen behauptet, der für die Gattungsentwicklung am besten sei. Er lässt andererseits eine endgültige Nichtbekehrung einzelner, also ein endgültiges Bleiben in der Sünde zu – damit die spätere Annihilationslehre der Eschatologie vorwegnehmend. Er behauptet so die Kompatibilität von Lenkung der Welt durch Gott und Freiheit der Menschen. Denn Gottes Prädestination gilt nur einem übergeschichtlichen Individualitätsverständnis, nicht aber faktisch jedem einzelnen Menschen.¹⁵ Und schließlich erklärt Gottes

 Ich blende im Folgenden die Frage, wie weit die genannten Autoren selbst bereits auf Schellings und Hegels Religionsphilosophie zurückgreifen, aus.  „Ist im Begriff der Schöpfung das Sündigwerden des Menschen mitgesetzt, so kann dasselbe der Idee Gottes zufolge nicht anders in ihm gesetzt sein, denn zugleich als ein schlechthin wieder aufzuhebendes.“ (R. Rothe, Dogmatik. Aus dem handschriftlichen Nachlass hg.v. D. Schenkel, Zweiter Theil. Das Bewußtsein der Gnade, Heidelberg 1870, 2) Vgl. auch: „Unser christlichfrommes Bewußtsein fordert es schlechterdings, daß wir sofort in dem ursprünglichen Weltgedanken Gottes den Fall des menschlichen Geschlechts in die Sünde als reparabel gesetzt denken.“ (A.a.O., 24) Alle nachfolgend in diesem Abschnitt angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die zuvor genannte Quelle.  Das ist gleichsam eine soteriologische Variante von Julius Müllers vorzeitlich-individueller Sündenfalllehre: „[…] das concrete Individuum […], in welchem […] das voraus gesetzte abstracte und unbenannte Individuum historische Existenz erhalten hat, [darf] diejenigen göttlichen

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Prädestination verlaufsgeschichtlich, wieso das Christentum (noch) nicht zu allen Menschen gekommen ist, indem Hegels ‚List der Vernunft‘ theologisch als Verbindung von absolutem geschichtlichen Heilsplan und historischer Lenkung der Realgeschichte durch Gott behauptet wird. Damit bindet Gott sinnvoll die freien individuellen Entscheidungen in eine gesamtgeschichtliche Entwicklung ein. Als zweiten (dem als dritter dann die Christologie folgt) Teil der Erlösungslehre allerdings formuliert Rothe eine Lehre von der geschichtlichen Vorbereitung der Erlösung (die auf Tillichs religionsgeschichtliche Konstruktion der Dogmatik vorausweist), die aber, wie er selbst einführend einräumt, eine absolute Neuerung ist: „Die kirchliche Dogmatik kennt gar kein unsrer Überschrift entsprechendes Lehrstück.“ (35)¹⁶ (Allerdings enthält bereits die Bibel nach Rothes Meinung entsprechende geschichtsphilosophische Überlegungen.) Rothe baut Bestandteile der Offenbarungslehre und der Schriftlehre in diese ‚geschichtliche Vorbereitungslehre‘ ein, es handelt sich um eine entwicklungsgeschichtliche Konstruktion der Religionsgeschichte auf die Offenbarung in Christus hin. Israel, Hellenismus und römisches Reich werden als notwendige weltgeschichtliche Stadien der Möglichkeit einer universalen Religionsgeschichte interpretiert. Allerdings wird diese Religionsgeschichte mit der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit verbunden. Gott knüpft mit seiner Offenbarung dadurch an die bestehende Geschichte und das bestehende Selbstverständnis des Menschen an, dass er in allen Schritten des erwachenden moralisch-religiösen Bewusstseins die Schaffung des Menschen vollendet. Religion ist die Entstehung des Bewusstseins der Sünde als Sünde, also eine reflexive Erhellung der geschaffenen Daseinsbedingungen auf ihr Ziel hin.¹⁷ Die bekannte Doppelheit von Manifestation und Inspiration, Rothes Beharren auf dem Wunder als göttlichem Eingriff in die Geschichte, gilt also dem Zusammengehören von Inhalt und Bewusstsein. Es ist eine religiöse Variante der Entstehung von Freiheit durch Freiheitsbewusstsein. Geschichte als Entwicklung wird einerseits ausdrücklich in die Kontinuität weltlichen Geschehens hineingestellt, andererseits wird die Selbstbezüglichkeit des

Wirksamkeiten auf sich selbst beziehen […], die als solche oder unmittelbar nur auf jenes ideelle Individuum gingen, dessen geschichtliche Realisierung es über sich genommen hat“ (25).  Die Überschrift lautet: „Von der geschichtlichen Vorbereitung der Ausführung des Erlösungsrathschlusses“.  „Soll die Entwicklung der natürlichen Menschheit die klare Erkenntnis der Sünde als Sünde zum Ergebnis haben, so kann sie dieß nur vermöge einer eigenthümlich neuen und also schöpferischen Wirksamkeit Gottes auf sie und in ihr, welche also der wirklichen schöpferischen Setzung des neuen Anfängers des Geschlechts [i. e. Jesus Christus] vorbereitend vorangehen muß und selbst schon wesentlich eine erlösende Wirksamkeit ist, ungeachtet sie die volle Erlösung nur erst anbahnt.“ (44)

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Geistes in dieser Entwicklung und damit ihre Unableitbarkeit aus der Sünde der Welt betont. Sünde wird realisiert im entstehenden Sündenbewusstsein; und mit der durch Gott immer weiter offenbarten Erlösung in der Religionsgeschichte wächst erst die Sünde als geschichtlich realitätshaltige Selbstbeschreibung des Menschen. Rothe bietet damit ein Beispiel dafür, wie theologisch die aufklärerische Entwicklungsidee mit der alleinigen Erlösungsaktivität Gottes und der individuellen Bewusstwerdung als Ort des Sündenbewusstseins ausgeglichen werden kann. Er bindet bereits Sündenbewusstsein und Erlösung eng aneinander. Erlösung realisiert sich geschichtlich in der reflexiven Einsicht in die eigene Sünde. Zudem verknüpft er diesen Bewusstseinswandel mit der religionsgeschichtlichen Entwicklung. Beides zusammen kulminiert dann in einer objektiven Christologie, die zugleich Ort des Eingreifens Gottes in die Geschichte wie auch Auftreten eines realisierten humanen Bewusstseins im Durchbruch durch die geschaffene Verblendung ist.

2.3 Alois Emanuel Biedermann Rothes Theologie zeigt nicht nur, wie die Realgeschichte in die Konstruktion von Schöpfung und Sünde einbezogen wird. Sie zeigt auch, dass damit in der Sündenlehre ein Ausgleich zwischen allgemeinen Entwicklungen und individuellen Zurechnungen notwendig wird. Gottes Eingreifen in die Geschichte ist zugleich der Ort des Bewegtwerdens des Einzelnen vom Unglauben zum Glauben, von der unbewussten Sünde zur bewussten und damit zum Heil. Rothe verbindet hier Motive der Erweckung mit der aufklärerischen Geschichtstheologie und kommt dadurch zu anderen Lösungen als beispielsweise Strauß, der die Entwicklung des Geistes auf die Gattung bezieht. Auch in der spekulativen Theologie jedoch wird es zunehmend notwendig, den individuellen Ernst des Sündengedankens aufzunehmen und die entsprechenden religiösen Gefühle theoretisch zu formulieren. Zwar geht es entgegen der Schuld-, Zurechnungs- und Individualisierungsproblematik des Sündenbegriffs in der Linie Kant-Schleiermacher-Kierkegaard weiterhin um die geschichtliche Entwicklung des ganzen Menschengeschlechts. Anders als in der Entwicklungsund Erziehungsidee der Aufklärung jedoch, an die in kritischer Hinsicht durchaus angeknüpft wird, soll der Kern des Sündengedankens, nämlich eine Form des aktiven Widersetzens des menschlichen Geistes gegen Gott, bewahrt werden. Nur gegen diese harte Differenz ist ein gnadenhaftes Einwirken Gottes denkbar, sonst wäre (gegen Strauß) die Entwicklung bloß ein auf natürliche Weise nach inneren Gesetzmäßigkeiten ablaufender Prozess.

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Biedermann hat seine Theologie bzw. christliche Religionslehre als eine Theorie des Weltprozesses entworfen. Dabei geht es ihm um eine Beschreibung nicht des Anfangs- und des Endpunkts des Prozesses (also nicht wie bei Rothes Erlösung), sondern um die Strukturelemente, die den Prozess in jedem einzelnen Moment bestimmen. Urstand und Fall sind nicht mehr Ausgangsbeschreibungen eines Zustands, sondern Beschreibungselemente der einzelnen Bewusstseinsprozesse, in denen sich das menschliche Bewusstsein seiner eigenen Bestimmung versichert und sie realisiert. Dadurch gewinnt die Theorie eine Verbindung zum individuellen Bewusstsein. Dieses wird der Ort, an dem die göttliche Bestimmung des Weltprozesses zum Austrag kommt, und zwar in der Form der Gewinnung eines personalen Freiheitsbewusstseins. Wie der Anlage nach die ganze Theologie Biedermanns, so wird auch die Sündenlehre durch verschiedene geschichtliche Stufen hindurch verfolgt. Zunächst rekonstruiert Biedermann (jeweils) die biblischen Grundlagen, die er am Ende, soweit es im Durchgang durch die moderne Kritik an den Vorstellungsgehalten möglich ist, neu begründen will. Grundlage der Schöpfung ist die Trennung zwischen einem Gott entsprechenden Prinzip (Geist) und einem „bloss von gottgeschaffenem [sic!], aber Gott entgegengesetztem weltlichen Sein“.¹⁸ Der Mensch besteht aus beidem und hat zugleich einen Einheitssinn, der von einer der beiden Kräfte bestimmt werden kann. Ziel ist es, dass der zunächst naturgegebene Natur-Sinn durch die Entwicklung zur Geistbestimmung verändert wird. Warum Gott das so macht, kann nicht erklärt werden: „Der Grund liegt vielmehr in der von Gott selbst auf seinen letzten Gnadenrathschluss hin dem Menschen anerschaffenen fleischlichen Natur.“ (199) Das Prinzip der Sünde liegt damit in der Fleischlichkeit, also Sinnlichkeit und Körperlichkeit¹⁹ des Menschen, die ihm, obwohl er eigentlich Geistwesen ist, in der Schöpfung mitgegeben wurde. Innerhalb der Schöpfung muss der Mensch sein fleischlich anerschaffenes Sein zu dem eigentlich von Gott gewollten Sinn hin, also zum reinen Geist, entwickeln. Warum Gott diesen Umweg geht, bleibt verborgen. Biblisch besteht das Wesen der Sünde nicht nur in einem Widerspruch gegen Gott, sondern ebenso in einem Widerspruch gegen die eigentliche Bestimmung

 A. E. Biedermann, Christliche Dogmatik, Zürich 1869, 194. Alle nachfolgend in diesem Abschnitt angegebenen Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich darauf.  In der Auflösung der über Sein, Natur und Wirklichkeit hin zur Geistigkeit führenden Entwicklung der Hegelisch-Straußschen Spekulation zugunsten eines bleibenden irdischen Grundgegensatzes von Fleisch und Geist, dessen Überwindung der zentrale Moment des geschichtlichen Geistlebens ist, stimmen die spekulative und die Ritschlsche Theologie überein. Die Wiederzusammenführung der beiden Sichtweisen ist eines der Grundprobleme der Theologie Tillichs.

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des Menschseins, „der tiefste Zwiespalt des Menschen in sich selbst“ (199). Allerdings wird dieser anerschaffene Zwiespalt zur Sünde erst im Kontext der Geschichte, nämlich indem Gott seine Gebote offenbart und die Freiheit des Menschen dadurch als Verbotsübertretung wirklich und erkennbar wird. Indem sich das auf den Geist bezogene Bewusstsein des Menschen geschichtlich entwickelt und zugleich unter der Macht des Fleisches steht, „geräth der Mensch […] mit Herz, Verstand und Willen immer völliger in die Gewalt der Sündenmacht“ (202). Dieses Wachstum reicht aus, um neben der Offenbarung des Gebots durch Gott eine notwendige weitere Gnadenoffenbarung zu verlangen. Denn der Mensch kommt aus eigener Kraft nicht aus der Nicht-Erfüllung des Gebots heraus. Der biblische Lehrkreis hält also einerseits an Gottes Schöpfermacht fest und bestätigt insofern Gottes Zuständigkeit auch für die Existenz des Bösen, andererseits wird das reale Böse als durch den Menschen getan (wenn auch als Konsequenz aus seinem fleischlichen Schöpfungsleib) angenommen. Allerdings werden Sünde und Schuld zugleich in eine Entwicklungsgeschichte der Realisierung des menschlichen Wesens eingezeichnet, die ihren Anstoß an den wesentlichen Freiheitspunkten (zunächst die Entstehung eines ethischen Normbewusstseins, womit die Sinai-Erzählung den Platz der Sündenfallgeschichte einnimmt, und dann die tatsächliche Möglichkeit der Erfüllung durch Christus) von außen von Gott bekommen muss. Die Aufklärungskritik neigt dazu, die beiden biblisch-vorstellungshaft getrennten Teile des Menschen zu separieren und einem die alleinige Erklärung für das Menschsein zuzugestehen. Doch die empirische Anthropologie der Aufklärung hält Biedermann für gescheitert und setzt ihr das Verlangen entgegen, „nun erst wirklich denkend das […] Problem einer substanziellen Einheit des menschlichen Wesens an die Hand zu nehmen, um den einheitlichen Begriff des Menschen als endlichen Geistes zu gewinnen“ (596). Dadurch verfallen die Vorstellungsbilder von Urstand und Fall der Kritik, Sünde ist von vornherein ein Moment des geschaffenen Menschen.²⁰ Allerdings will Biedermann nicht so weit gehen wie Schiller²¹ oder Hegel: Die Auffassung des Sündenfalls als eines ersten notwendigen produktiven Schritts hin zur Entwicklung eines ethischen Freiheitsbewusstseins lehnt er ab. Dadurch verändert sich die Lehre: Statt einer Beschreibung verschiedener aufeinanderfolgender Zustände in der Geschichte wird sie zu einer Strukturbeschreibung der Momente des Entwicklungsprozesses

 Vgl. dazu § 665 auf Seite 599.  Vgl. Anm. 1 auf Seite 600.

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selbst.²² Durch die Sünde, so bestimmt Biedermann, hat der Mensch nichts vorher Besessenes verloren, „sondern es ist nur noch nicht verwirklicht, was von Haus aus [sc. also naturgegeben!] in seiner Bestimmung liegt“ (603). Allerdings will Biedermann gleichwohl an dem strikten schuldbezogenen Sündencharakter des Widerspruchs gegen das Gebot Gottes festhalten. Er sieht gerade das sündentheoretische Problem der Aufklärungstheologie darin, dass sie zwei in religiösem Sinn unbefriedigende Lösungen zulässt. Entweder die Sünde ist nicht allgemein, sondern nur ein fallweises schuldhaftes Verfehlen des Richtigen, oder sie ist allgemein, aber im Sinne eines notwendigen Durchgangsstadiums einer normalen Entwicklung. „In beiden Fällen aber ist eine Erlösung aus der Sünde, anders als durch die in seiner eigenen Natur liegende Kraft, für den Menschen selbst weder nöthig noch überhaupt möglich.“ (606) Damit wäre also Gottes Erlösungstat, die ganze Christologie und letztlich ein religiöses Selbstverhältnis des Menschen überflüssig.Wie versucht Biedermann in seinem eigenen Entwurf daran festzuhalten, wenn er doch die Kritik der Aufklärung an den Bildern der Sündenlehre (Urstand, Fall und Erbsünde) teilt, sowie auch die entwicklungsbezogene Anlage der ganzen Sicht auf den Menschen beibehält? Biedermanns eigene positive Entwicklung der christlichen Lehre sieht den Grundwiderspruch bereits im Schöpfungsakt gesetzt. Dieser benennt nämlich Gottes bleibende Dominanz über den geschichtlich ablaufenden immanenten Naturprozess. Gott ist das dreifache Prinzip der geschichtlichen Entwicklung und jedes einzelnen geschichtlichen Aktes. Die entsprechenden Ausführungen Biedermanns lesen sich wie eine Vorwegnahme der Tillichschen Verschränkung von Schöpfungslehre, Geschichtsphilosophie, Religionstheologie und Kulturtheorie: Grundlage ist die Setzung der Natur und ihrer naturhaft gegebenen Entwicklung, welche als letztes in der Entstehung des Geistes gipfelt; Durchgangsmoment ist das geschichtliche Bewusstsein des Geistes, das über drei grundsätzliche Arten (Objektbewusstsein, ethisches Selbstverhältnis und Religion) mit sich vermittelt ist; und Ziel ist die Erfüllung des religiösen Selbstverhältnisses des Menschen durch die christliche Offenbarung. Dabei ist bereits die erste Stufe von Natur als Schöpfung prozesshaft gedacht, das Antriebselement der natürlichen Entwicklung bleibt der göttliche Geist als immanente Ermöglichung des teleologischen Prozesses. Gerade deshalb aber ist die Natur doppelt auf Gottes Geist bezogen, einmal positiv als (gleichsam pantheistisch) durchgehend göttlich bestimmt,  Vgl. die Ausführungen über „das Verhältnis der Sünde zur Bestimmung des Menschen an sich betrachtet“ (601); bzw. die Umformung des Zusammenhangs von Urstand, Sündenfall und Sünde als „der erste natürliche Zustand des Menschen, dem seine Bestimmung schon immanent, aber auch erst immanent ist; […] [Sünde ist nur] das eine Moment des Menschen, das Natur-sein, für sich fixiert dem andern, dem Geist-sein, gegenüber“ (604 f.).

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dann aber zugleich negativ als das Andere dieser Bestimmung, als das, was bestimmt werden muss. Und deshalb gerät in diesem Prozess das Sein der Natur in eine andere Betrachtung: „ihr negatives Verhältnis zu Gott, dass sie, als ausser Gottes absolutes In-sich-sein gesetzt, für sich selbst ein endliches, materielles, nicht-geistiges Dasein hat, Fleisch ist.“ (649)²³ Dieses negative Element ergibt sich also aus dem Charakter der Schöpfung selbst, nämlich eben Schöpfung und nicht Schöpfer zu sein und damit als abhängig von Gott Geschaffenes zugleich etwas ‚für sich selbst‘ (wie Biedermann sagt) zu sein, nämlich das Produkt des Aktes. Obwohl es sich dabei zunächst nur um eine naturhafte Notwendigkeit handelt, wird dieses Element im Folgenden zur Grundlage der Sündenbestimmung. Allerdings rekonstruiert Biedermann im Kontext der Lehre vom Geist zunächst nur die positiven Bedeutungen der Entwicklung. Der menschliche Geist wird, Funktionen der Urstandslehre aufnehmend, als Element des göttlichen Selbstbewusstseins im Kontext des Schöpfungsbezugs gedeutet.²⁴ Die Anthropologie, die im Anschluss an die Lehre vom Geist eigens entwickelt wird, bleibt eng auf die Strukturen des endlichen Geistes bezogen. Die Anthropologie gilt eigentlich nur der Herausstreichung des Erlösungsbedürfnisses durch eine Bestimmung der Sündhaftigkeit des Menschen. Diese aber wird bereits begründet in der durch die Schöpfung ihrer Struktur nach schon gegebenen Möglichkeit des endlichen Geistes, sich allein für sich selbst seiner bewusst zu sein. Das objektiv gesetzte Moment der Welt ist im Geist dessen Wissen von sich selbst außerhalb des göttlichen Geistes. Auch in dieser Form bleibt der menschliche Geist jedoch grundsätzlich auf Gott bezogen, von ihm in allen Momenten der Entwicklung abhängig. Diese auch als verborgene immer vorhandene Relation prägt den menschlichen Geist durchgehend. Deshalb muss die Realisierungsform des Bewusstseins als Geist aufgenommen werden. Das Für-sich-Sein des menschlichen Bewusstseins und seine Entwicklung geschieht wiederum in einem Dreischritt. Grundlage ist die naturhafte Entstehung und Existenz von Bewusstsein; Durchgangsmoment ist die geschichtlich-kulturelle Selbstbestimmung des menschlichen Geistes; Ziel aber ist die vollständige Offenbarung „nicht als etwas hinzukommendes anderes, sondern als die innere Vollendung“ (655). Auf der zweiten Stufe ist die verborgene Gottesrelation in der selbstbewussten Organisation des Lebens durch den Menschen enthalten. (Hier

 Biedermann verschiebt die Lehre vom Übel deshalb von der Sündenlehre bzw. Anthropologie in die Schöpfungslehre. Vgl. die entsprechenden Bemerkungen bei der Wiederaufnahme in § 778 auf Seite 674.  „[…] so concentriert und gipfelt sich mikroskopisch alles, was wir [zu]erst allgemein […] in der Welt überhaupt bezeichnet haben, in […] der Beziehung [sc. des absoluten Geistes] […] auf den endlichen Geist“ (652).

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ergibt sich eine deutliche Nähe zu der Funktion der Kultur- und Sozialphilosophie im Kontext der Schöpfungs- und Sündenlehre bei Tillich.) Biedermann nennt diese auf die freie Selbstbestimmung bezogene Stufe zwar das Gewissen,²⁵ entschränkt aber diesen Begriff zugleich: Er ist nicht bloß ethisch gemeint, sondern beschreibt das interne Normbewusstsein von Denken, Handeln und Gefühl insgesamt. Dieses Gewissen entwickelt sich geschichtlich im Bewusstsein einerseits ganz auf natürlichem Weg, aber andererseits müssen die Akte dieser Entwicklung zugleich jeweils als gegründet und gesteuert durch den göttlichen Willen angesehen werden.²⁶ Das heißt aber, dass die Freiheit des Menschen und seine Entwicklung einer freien Kultur von Wissenschaft, Kunst und Moral bereits in Gottes verborgener Offenbarung begründet ist.²⁷ Es gibt gar keine gänzliche Freiheit des Menschen für sich selbst außerhalb Gottes. Deshalb ist bereits in der Natur, also im normalen menschlichen Freiheitsleben, als drittes Element der Entwicklung des Geistes die Religion mit angelegt, und zwar als Bewusstsein von Gottes Wirken im Freiheitsbewusstsein, das die kulturelle Entwicklung hervorbringt. Diese dritte Stufe umfasst sowohl die außer- (bzw. für Biedermann: vor‐)christlichen Religionen als auch die christliche Offenbarung als inneres Prinzip des religiösen Bewusstseins. Die Religion bezieht sich hier im Geist bereits auf eine Sünde, die noch gar nicht als Sünde bewusst werden konnte und deshalb auch bisher nicht als solche genannt wurde. Die Sünde fällt als eine religiöse Beschreibung des gesetzten Selbstseins des Freiheitsbewusstseins auf dieser Stufe der Entwicklung vom Himmel.²⁸ Man wird sagen müssen, dass Biedermanns Behauptung einer tatsächlichen, nicht in die Entwicklung selbst bereits eingelagerten Gnade Gottes in einer entsprechenden antagonistischen Stärkung und Zurechenbarkeit von

 Vgl. dazu § 727 auf Seite 652 f.  „[…] dass die Offenbarung in jedem Moment natürlich und übernatürlich zugleich ist, indem diese Begriffe […] die zwei notwendig mit einander verbundenen wesentlichen Momente jedes göttlichen Offenbarungsactes als solchen bezeichnen“ (654).  „Der absolute Geist offenbart sich im endlichen creatürlichen Geist als die absolute Norm für seine subjektive endliche Selbstobjektivierung als Geist im Denken, Fühlen und Wollen – übernatürlich; aber in jedem concreten Moment durch die Vermittlung der natürlichen intellectuellen, ästhetischen und sittlichen Entwicklung des Menschen auf seinem jeweiligen endlichen Standort im räumlich-zeitlichen Weltprocess, – also natürlich.“ (654 f.)  „[…] nicht als etwas hinzukommendes anderes, sondern als die innere Vollendung derselben, die sich die beiden ersten Momente selbst zur Vermittlung gesetzt hat: es ist das Sich-selbstaufschliessen des absoluten Geistes zur wirkenden Kraft realen, Gott in sich selbst und damit sich in Gott wahrhaft findenden Geisteslebens im endlichen creatürlichen Geiste, – [es ist] die Offenbarung der auch den selbstgesetzten Widerspruch des endlichen Geistes mit dem absoluten Geist und mit sich selbst, die Sünde, aufhebenden göttlichen Gnade, oder die Selbstoffenbarung des absoluten Geistes in der religiösen Freiheit des endlichen Geistes.“ (655)

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Sünde und Schuld kein Gegenlager hat, insofern also als bloße Behauptung erscheint. Diese Einschätzung zeigt sich schließlich auch in der anthropologischen Sündenlehre selbst, die unter der Überschrift verhandelt wird: „Der endliche Entwicklungsprocess der religiösen Bestimmung des Menschen.“ (699) Ihr geht eine ausführliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen voraus, die diese als „Potenz zum Geist-werden“ (663) fasst. Die Lehre vom Menschen beschreibt also die Auswirkung dieser ‚Potenz‘ auf das geschichtliche Leben des Menschen. Die Gnade muss dagegen als „Erhebung dieser Potenz zur Actualität verstanden werden“ (710),²⁹ es wird also dabei um die abschließende Realisierung dieser Potenz im sittlich-religiösen freien Leben gehen. Die Beschreibung der Anlage der Potenz ist dabei vollständig von der Lehre vom absoluten Geist abgeleitet. Es handelt sich um eine ausführliche Anwendung der Schöpfungslehre, und zwar in der Absicht, den einen Punkt in dieser Entwicklung aufzuzeigen, an dem der Mensch aus eigener Kraft nicht mehr weiterkommt und deshalb eine abschließende Offenbarung Gottes in die Geschichte hinein notwendig wird. Die Christologie als ein solches Durchbruchsgeschehen innerhalb der Freiheitsgeschichte des Menschen kann als Zentrum der spekulativen Weltprozesslehre Biedermanns angesehen werden. (Auch hier ist der Weg zu Tillich nicht mehr weit.) Der Gnade steht infolgedessen keine entsprechende Sünde gegenüber.³⁰ Die Sünde ist vielmehr eine mitgesetzte Folge der Entwicklung der Freiheit. Sünde ist

 Mit der Kritik Straußʼ an der Behauptung, dass die Realisierung der Potenz als Sünde bezeichnet werden kann, könnte man an dieser Stelle auch sagen, dass sie ebenso wenig Gnade ist. Das Anlage-Realisierungs-Schema ist einer religiösen Deutung nicht zugänglich, weil es selbst im Bereich der Naturhaftigkeit verbleibt.  Biedermann behauptet zwar in § 767, im Bewusstsein der Bestimmung werde jede falsche Form des Bewusstseins zu einem „Act wider-göttlicher, nicht bloss nicht-göttlicher Selbstbestimmung“ (670), als ein Aufnehmen der endlich-naturhaften Seinsweise in die Bestimmung des Willens. Da es sich dabei aber zweifellos um einen notwendigen Durchgangsmoment handelt, insofern ja das endliche Wesen gerade in seiner natürlich-sinnlichen Form das Ziel der Realisierung des göttlichen Geistes ist, kann das antagonistische Element nicht eigens erwiesen werden. Die „natürliche Tendenz zur Eigenwilligkeit“ (671) ist der Realisierung der Freiheit immanent – und in dieser Form die Grundlage von Biedermanns Erbsündenneuformulierung. Damit aber wird die Erbsünde zu einem Moment der geschaffenen Natur des Menschen. Dass sie „nur einen allgemeinen Grund ihrer Möglichkeit“ (ebd.) hat, der erst durch den Menschen zur „Wirklichkeit“ (ebd.) wird, hilft nicht weiter (dazu hatte eigentlich Strauß in seiner Kritik, vgl. Strauß, Christliche Glaubenslehre, Bd. 2, 53 f., alles Notwendige gesagt): Diese Möglichkeit wird ja im Leben des Menschen immer Wirklichkeit, da sich der endliche Geist Gott gegenüber als Freiheit bestimmt, gerade indem er sich der Normen des Freiheitslebens bewusst wird. Dies ist auch der Einsatzpunkt einer sündlosigkeitsbestimmten Urbildchristologie.

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nicht ein bewusster Entschluss des Menschen, bzw. wird sie nicht als solcher hergeleitet. ‚Sünde‘ ist sie nur im Gegensatz zur Zielidee eines absoluten Geistes, nämlich dessen vollständiger Realisierung. Sünde wäre so etwas wie eine latente Potenzialität, der genau dieses als Fehler zugerechnet wird. Daraus entsteht aber gleichzeitig auch die bereits realisierte Freiheit. Jede Tat des Menschen ist Ausdruck der ihm in der Schöpfung gegebenen Potenz zur Selbständigkeit. Die Entwicklung des Menschen realisiert Freiheit, aber eine falsche Freiheit, die sich nicht als Realisierung der gottgegebenen Potenz begreift. Durch dieses zugrundeliegende falsche Verständnis von Freiheit wird der Gehorsam gegen das Gebot genauso falsch wie der Ungehorsam. Es entsteht ein Willensgegensatz des Menschen zur wahren geisthaften Selbstbestimmung und damit zu Gott als Bild der realisierten Norm. Am Ende stehen sich Ungehorsam und Gehorsam als zwei gleichberechtigte Formen des Abstandsbewusstseins zu Gott gegenüber – auch der Gehorsam gegen Gott ist für Biedermann ‚Sünde‘, insofern in diesem Gehorsam noch der Gegensatz von Norm und Erfüllung besteht. So kommen ‚Sünde‘ und ‚Gehorsam‘ zusammen in der eigentlichen Idee der Sünde, nämlich der Existenz des Menschen „in thatsächlichem Zwiespalt mit seiner immanenten Bestimmung zur freien Lebensgemeinschaft als Geist mit dem absoluten Geist“ (672). Nicht die erste Sünde, die das tatbezogene bisherige Sündenverständnis bezeichnet, also nicht Sünde als tatsächlicher Ungehorsam ist anthropologisch allgemein, sondern nur der Durchgang durch diesen Zwiespalt zwischen Gehorsam und Ungehorsam.³¹ Deshalb, weil diese Struktur alles ethische Bewusstsein umfasst, ist sie unvermeidbar. Sünde ist etwas strikt Allgemeines und infolgedessen auch nicht durch vertieften Gehorsam zu bekämpfen. Entsprechend sieht Biedermann hier das Einfallstor der Gnade, auf die er sich (wie später Tillich) in augustinisch-reformatorischer Paulusrezeption beruft. Die auf das Freiheitsbewusstsein gerichtete religiöse Entwicklungskonstruktion kämpft also mit der Problematik, dass sie einerseits die Autonomie des Menschen herauszuarbeiten hat, andererseits in dieser Freiheitsentwicklung ein Fehlmoment mitentwickeln muss, dass dann nicht mit Mitteln der beanspruchten natürlichen Entwicklung wieder bekämpft werden kann. Biedermanns Entwurf ist insofern interessant, als er einerseits umfassend die Formen des menschlichen Bewusstseins in diese Freiheitsentwicklung einstellt, andererseits die Religionsgeschichte als Ganzes ebenfalls zu dieser Entwicklung zählt und dadurch in die Religionsgeschichte selbst den entscheidenden Gegensatz mit hineinbringen muss. Denn die außerchristliche Religionsgeschichte zählt zu der normalen Freiheitsgeschichte des Menschen, die bereits ein Bewusstsein der Notwendigkeit

 Vgl. dazu § 774 auf Seite 673.

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der Erlösung des Menschen mit sich bringt. Biedermann führt diese vorchristliche Religionsgeschichte über den Gesetzesgehorsam, die Sühnopferpraxis sowie die apokalyptische Jenseitshoffnung nah an das Christentum heran. Die Religionsgeschichte bereitet den religiösen Sinn des Auftretens Jesu Christi mit vor. Die Religionsgeschichte ist in die Sündenlehre integriert – denn die tatsächliche Realisierung des göttlichen Geistes im menschlichen personalen Bewusstsein kann sie noch nicht leisten. Doch der in der Linie des protestantischen Sündenbewusstseins beschriebene personale Kern der Sünde als schuldhafte Verantwortung des Einzelnen vor Gott kann durch diese Geschichtskonstruktion nicht gesichert werden – wie ja auch die Christologie dann wesentlich historisch bleibt und die Soteriologie schließlich ohne Bezug auf diesen historischen Jesus Christus auskommen soll, während die Ekklesiologie als historische Vermittlungsfigur des Glaubens an die Welt (und nicht selbst als Heilsmittel) bestimmt wird. Da aber beides (humanes Freiheitsbewusstsein und vorchristlich bestimmtes religiöses Bewusstsein) wegen der Schöpfung nur verschiedene Formen göttlicher Offenbarung sind, werden sie vollständig erst in einem „dritten vollendenden Moment der Selbstoffenbarung des absoluten Geistes“ (655) vermittelt, die auf die Realisierung Gottes im Bewusstsein des Menschen und damit zugleich auf wahre menschliche Selbstverwirklichung hinzielt. Damit schafft Biedermann zum christlichen Schluss das Kunststück, Gnade als Eingriff Gottes in die Schöpfung mit der Realisierung der Freiheit als Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Menschen zusammenzudenken.

2.4 Albrecht Ritschl Bereits vor Tillich wurde also versucht, die geschichtlichen und sozialen Bezüge des Sündenverständnisses zurückzugewinnen. Der Hintergrund ist der Gottesbezug der ganzen Schöpfung: wenn der Heilsratschluss Gottes nicht nur den einzelnen Christen betreffen soll (und auch nicht nur die christliche Kirche), dann sind die vorlaufenden Bedingungen zur Erteilung der Gnade nicht nur für diese (also den Einzelnen und die Kirche) zu eruieren, sondern für die Welt und Menschheit als Ganze. Das führt zu der Forderung, ‚Sünde‘ als Grundbedingung des Seins der Schöpfung im Ganzen zu formulieren, wobei sich diese Forderung aber im Gegensatz zu der Einsicht erhebt, dass ‚Sünde‘ gerade nicht für den allgemeinen, philosophischen Verstand aus dem Gesichtspunkt allgemeiner Weltbeobachtung bereits erkennbar sein kann, sondern nur für die christliche Frömmigkeit und Lehre vom Standpunkt des von Gott gewährten Heils aus.

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Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, dass sich die Rückgewinnung der ‚kosmologischen‘, bzw. besser außermoralisch zu nennenden, schöpfungstheologischen Sündenkonzeption auch im Kontext der Ritschlschule abspielt. Während Ritschl im methodischen Rückgriff auf Schleiermacher seine Theologie im Ausgang vom Menschen und seinem Bewusstsein entwirft, fragen die Schüler zunehmend auch nach den geschichts- und wirklichkeitsbezogenen Implikationen des christlichen Gottesverständnisses. Als Endpunkt der Entwicklung wird Troeltsch dargestellt, der bereits viele Elemente der Tillichschen Geschichts- und Weltsicht im Sündenverständnis, die er wie Tillich im Rückgriff auf idealistische spekulative Konzeptionen des 19. Jahrhunderts gewinnt, aufweist. Ritschl hat mit dem Reich der Sünde eine bekannte Gegenkonzeption³² zur klassischen Erbsündenlehre geschaffen, die jedoch nur zu verstehen ist, wenn sie im Gesamtkontext seiner Theologie beachtet wird. Die Konstitutionsfrage nach dem Subjekt und seinem Handeln steht dabei nicht im Fokus. Religion wird also nicht so sehr als Grundreflexion der individuellen Subjektivität und ihrer Brüche in der Selbstbegründung verstanden. Vielmehr geht es um die Beschreibung der empirisch-historisch-sozialen Bedingungen sittlichen Handelns. Ritschl schaltet alle Aussagen über die Sünde aus, die (wie bei Müller) in ‚vorzeitliche‘ Gebiete reichen, aber auch alle, die eine allgemeine Natur des Menschen betreffen. Eigentliche Sünde, so die Grundaussage, ist als Bestandteil der Religion ein Sachverhalt, der nur für das reflexive Bewusstsein des Menschen, für das Selbstbewusstsein des Geistes, gegeben ist. Sündenbewusstsein ergibt sich religiös nur aus dem Gegensatz zum Versöhnungsbewusstsein, das durch die Gemeinde gegeben ist – historisch begründet in Jesus Christus, realisiert in der unsichtbaren Kirche, und zugleich teleologisch als Ziel der Welt und der Menschheit in umfassend realisierter Allgemeingültigkeit gesetzt im Reich Gottes. Das Reich der Sünde ist das Gewebe der eigennützigen Handlungen der Einzelnen, die die Welt im Gegensatz zu Gott (und nicht als seine Schöpfung) ausmacht. Ritschl stellt nicht die Frage nach der Möglichkeit freien Handelns, er setzt dies vielmehr voraus. Auch die Schuldfrage interessiert ihn nur beiläufig, nämlich als Bestätigung der nicht-naturhaften, sondern bewusstseinsbezogenen Art des Glaubens. Die notwendige Selbst-Zurechnung des Bösen, aus der klassisch das (für jeden immer notwendige und zugleich menschheitlich allgemeine) Er-

 Vgl. A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, Bonn 2 1883, 320: „Das Reich der Sünde aber ist ein Ersatz für die Annahme der Erbsünde, welcher alles dasjenige zu deutlicher Geltung bringt, was in dem Begriff der Erbsünde mit Recht beabsichtigt worden.“ Vgl. C. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996, 271– 277.

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lösungsbedürfnis entsteht, erscheint bei ihm in einer immer sozial-, geschichtsund bedingungsbezogenen Quantität. Der Bruch mit der Bestimmung des Menschen wird nicht erklärt, sondern immer bereits vorausgesetzt. Zwar kann das Böse unmöglich aus Gott abgeleitet werden, aber auch anthropologisch wird seine Entstehung nicht erklärt. Ritschl legt das Gewicht seiner Überlegungen auf den zweiten Bruch, nämlich den Umschwung von (historisch allgemein gegebener) Sünde zu (bewusster, geglaubter) Versöhnung. Der individuelle Glaube als Ort der Versöhnung geschieht, indem der Einzelne sich aus dem einen Sozialgefüge (dem Reich der Sünde) löst und in das andere Sozialgefüge (die Reich-GottesGemeinschaft) einfügt. Die dem dann logischerweise vorausliegende Bedingung personaler Selbstgegebenheit des Menschen wird nicht konstitutionstheoretisch bedacht. Zu Ritschls Umformung gehört auch, dass er die Strafaspekte der alten Sündenlehre auflöst und dass er die ewige Verdammnis, die aus der Erbsünde folgt, ebenso wenig wie diese selbst weiterführt. Das aktuelle Bewusstsein der Entfernung von Gottes Liebesforderung (nämlich: ein Bestandteil des Reiches Gottes zu werden) ist die einzige erkennbare und theologisch bestimmbare Form von Schuld, Strafe und Verderben. So bleibt als Ergebnis der Sündenlehre die Daueraufforderung, das Leben durch die christliche Orientierung am reinen, strikt allgemeinen und nicht auf weltliche Folgen und Konsequenzen bezogenen sittlichen Handeln auszurichten. Diese Forderung ist allgemein, so wie auch die Abweichung von der Norm des Reiches Gottes trotz aller individueller Bemühung bestehen bleibt, solange es außerhalb dieses Reiches noch eine weltlich bestimmte Menschheit gibt. Es gibt kein grundsätzlich Böses, sondern nur die bereits kontingent gegebene und unerklärbare (aber auch nicht erklärungsbedürftige) Abweichung vom Ziel. Grundsätzlich ist, wie Jesus Christus zeigt, ein sündloses Leben möglich. Wahres Menschsein ist wie Gottes Wollen mit dem Menschen supralapsarisch, also ohne Eingehen auf die Erlösung von der Sünde denkbar.³³ Dieses Menschsein ist in der Person Christi und seiner Stiftung der Kirche realisiert, und zwar in einer der Geschichte und der natürlichen Entwicklung enthobenen Weise. Damit wird die Sünde aus ihrer konstitutiven Funktion für das Subjektsein des Einzelnen herausgenommen. Nicht die Revolution der Denkungsart, sondern die Erziehung zur Anerkennung des Guten in der Geschichte ist die Aufgabe des

 Vgl. Ritschl, Die christliche Lehre, 332 f.: Versöhnung ist nicht auf Sünden bezogen, sondern auf die geistige und sittliche Beherrschung der Welt.

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Glaubens.³⁴ Diese Erziehung ist nicht nur ein richtiges Denken, sondern sie ist praktische Einordnung in den bereits gegebenen Realisierungszusammenhang des Guten in der Kirche. Gnadenempfang ist keine passive Größe des Errettetwerdens aus einer nicht beeinflussbaren Erbsünde, sie ist vielmehr Ermunterung zur tätigen Aneignung eines besser werdenden Selbst.³⁵ Deutlich bleibt, dass Ritschl dieses bessere Selbst rein bewusstseinsimmanent, als sittlich-religiöses Sich-als-Person-Wissen denkt und jeden direkten Bezug zu einer weltlichschöpfungsgebundenen, naturhaften Größe ausschließt. Die Kirche ist das Reich des Geistes Gottes und der freien Geister. In eine von Hegel übernommene Orientierung an der Realisierung des Geistes fügt Ritschl die Kirche als ursprungsbezogene Realisierungsinstanz und das Subjekt als notwendigen Ort des Um-sichWissens des Geistes ein. Gott und Gnade werden bei Ritschl als Begründungs- und Darstellungsgestalten der sittlichen Gemeinschaft gedacht, nicht als eigene theologisch zu objektivierende Größen. Ritschls Reich der Sünde ist also eine Beschreibung der geschichtlichen Wirklichkeit der sozialen Welt des Menschen. Sie wird aber nicht schöpfungstheologisch mit Gott verbunden, wodurch eine positive religiöse Schätzung der Welt und der Geschichte gerade ausbleibt. Die Funktion der Sünde ist ihre Überwindung, sie hat keine positive Bedeutung für die Realisierung der Freiheit. Damit hängt dann die schon oft beschriebene religiöse Fraglichkeit von Ritschls Deutung zusammen: werden die Sünde und das Böse hier wirklich ernst genommen? Die Beziehung der Sünde auf die Schöpfung könnte der theologische Ort sein, an dem Gottes Absicht mit der Sünde realistischer beschrieben wird – und damit zugleich auch die Freiheit des Menschen umfassender, als Autonomie jenseits religiöser Selbstdeutung, in den Blick kommt.

2.5 Julius Kaftan Kaftan³⁶ hat sich als Schüler Ritschls gesehen. Er hat Ritschls Kritik an der Lehre und den praktisch-sittlichen Umbau der Dogmatik aufgenommen. Seine eigene Grundlegung einer protestantischen Dogmatik für die moderne Welt, die er (wie Ritschl) als Ausbreitungs- und Missionsort des Christentums im Sinne eines all-

 Vgl. zu dieser Deutung A. von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart/Berlin/Köln 1999, bes. 270 – 274.  Vgl. die Kritik an den Reformatoren: Ritschl, Die christliche Lehre, 163 f.  J. Kaftan, Dogmatik, Tübingen 1909. Alle nachfolgend in diesem Punkt angegebenen Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich darauf.

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gemein menschlichen Rechte- und Pflichtenraums verstand, enthält allerdings unter der Hand einige Korrekturen an Ritschl, die ihn nach außen befähigten, seiner Dogmatik ein hinsichtlich der klassischen Lehre bewahrenderes, kirchlich konservativeres Gewand zu geben. So nimmt er Ritschls Konstruktion der Religion über die Gemeinde als Realisierungsort des Reiches Gottes zurück und formuliert Glaube individualitätsbezogener. Ritschls konsequente Funktionalisierung religiöser Glaubensinhalte für die Beschreibung der Zugehörigkeit (bzw. den Wechsel) zur Gemeinde wird dadurch aufgegeben und Glaube (auch) als inhaltliche Überzeugung gesehen. Damit kann Kaftan stärker wieder ein Offenbarungsverständnis aufnehmen, das Wissenselemente enthält und insofern an das Dogma gebunden bleibt. Noch entschiedener als Ritschl allerdings entlastet er die Religion des Einzelnen von allen theologischen Ursprungs- und Begründungsproblemen, dafür setzt er die bereits ablaufende Geschichte als Rahmen der Erziehung des Einzelnen und als allgemeine Entwicklung der Menschheit hin zum wahren christlichen Glauben an. Über den Gedanken einer umfassenden kultur- und religionsgeschichtlichen Entwicklung bezieht Kaftan auch die Welt wieder (anders als Ritschl) in das Erlösungsgeschehen mit ein. Die Welt ist nicht bloß das Reich der Sünde, das in der sittlichen Gottesbeziehung überwunden und abgelegt wird. Vielmehr wird die Anthropologie zu einem integralen Bestandteil der religiösen Weltbetrachtung (wobei Kaftan natürlich eine Kosmologie im alten naturphilosophischen Sinn mit Ritschl zusammen ablehnt). Aber im Gegensatz zu diesem wird auch außerhalb der Gemeinde ein positiver Weltbezug der religiösen Weltanschauung in Umformulierung der Vorsehung und Lenkung der Welt durch Gott gefordert.³⁷ Dadurch schließt die Weltentwicklung auch die Sünde mit ein und wird das Heilswerk Christi in gewisser Weise auf den Gesamtzusammenhang der Welt in ihrer (insofern dann doch von Gott gesetzten) Sündhaftigkeit bezogen. Kaftan geht aber noch einen Schritt weiter. Indem er zwischen Sünde und Schuld differenziert, wird über Ritschl hinaus eine Aussage über die Sünde der Welt denkbar, die nicht an das menschliche Bewusstsein der Sünde gebunden ist, sondern ‚Welt‘-aussagen im Gegenüber zum ewigen Sein Gottes wagt. Indem Kaftan zusätzlich (hier wiederum in Übereinstimmung mit Ritschl) die Lehre von der unsündlichen Vollkommenheit der dogmengeschichtlichen Aufbewahrung übereignet und zudem die Frage nach dem Ursprung des Bösen von der Entwicklung der Welt und der Geschichte löst, wird auch die außermenschliche

 Es soll „die Thatsache der Sünde in das Welt- und Geschichtsbild hineingezeichnet“ werden, „das uns der christliche Gottesglaube darbietet“ (333).

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Natur, soweit sie Schöpfung ist, in die religiöse Rede von der Sünde mit eingezogen. Kaftan beerbt viele von Ritschls Entscheidungen in der Sündenlehre, insbesondere seinen Ausgang bei dem Glauben und seine Ablehnung einer allgemein sichtbaren, anthropologisch legitimierten Sündenbehauptung. Sünde ist die Ablehnung des Willens Gottes, soweit die formale klassische, auch von Kaftan aufgenommene Definition. Aber er deutet dies eigenwillig um: Denn Gottes Wille ist nicht eine im Glauben als ein bewusster Akt wahrgenommene Größe, sondern Gottes Wille beherrscht die Geschichte des Menschen auch außerhalb seines Wissens und Bewusstseins. Gottes Wille ist ein das Leben durchgehend prägendes Erziehungselement, und erst durch die Verweigerung des Erzogenwerdens im Beharren auf der (falschen) Autonomie wird das natürliche Leben des Menschen zur Sünde. Gott ist damit nicht wie bei Ritschl als Grund des bereits in der Kirche realisierten Reiches Gottes gedacht, sondern individualistisch als objektive Kraft, die immer bereits vorausgesetzt ist, die sich dann aber realisiert und als real gewusst wird, indem sie jeden Menschen dauerhaft mit seinem Ziel, ein sittlicher Mensch zu werden, konfrontiert. Sünde, wie Kaftan exegetisch in Anlehnung an den biblischen Begriff des Fleisches behauptet, meint nichts anderes als die wachsende Ablehnung der Einwirkung des Willens Gottes. Dadurch wird aus dem gleichsam ‚natürlichen‘ Selbstbezogensein des Menschen immer mehr eine aktive Widersetzung gegen Gott und insofern geht die Sünde immer in Schuld über.³⁸ Insofern aber für den Menschen diese Ausrichtung in der Realisierung der Freiheit besteht, er also als sittlicher freier Mensch sich Gott annähert, entsteht durch die von Gott hervorgerufene Freiheitsgeschichte zugleich die Möglichkeit des Bösen, der Sünde und der Schuld des Einzelnen. Der Übergang von Natur und Sünde durch die nicht adäquat erfüllte Freiheit wirkt dann erst den von Ritschl als Ausgang genommenen sündhaften Zusammenhang aller Menschen im Handeln, der dadurch empirisch notwendig und allgemein ist. Das Böse wird also nicht wie in der alten Theologie aus dem Urstand heraus und damit immer in Gefahr der manichäischen oder pelagianischen Abirrung begründet. Sondern es kommt zwischenein in die immer bereits eingesetzt habende Entwicklung zur Freiheit. Damit umgeht Kaftan allerdings (wie Ritschl) auch das Begründungsproblem hinsichtlich der Freiheit, genauso wie eine Auskunft über das Wesen des Bösen und der Sünde. Ist Religion das individuelle Bewusstsein dieser Entwicklungstendenz hin zur sittlichen Freiheit und damit zur Anerkennung durch Gott, und sind theologische Aussagen in erster Linie auf dieses religiöse Wissen bezogen, so rekonstruiert

 Vgl. dazu Seite 341.

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Kaftan doch in einem zweiten Schritt die traditionelle Urstands- und Sündenfalllehre in einem naturphilosophisch-weltgeschichtlichen Sinn. Dabei geht er davon aus, dass auch das letzte Ziel der Natur in der geistigen Bestimmung des Menschen steht, dass dieses Ziel aber nicht aus der Natur selbst entwickelt werden kann, sondern von Gott in ihr gnadenhaft offenbart werden muss. Das Wesen der Welt ist es, religiös gesehen, als Schöpfung in einen zunächst bloß latenten Widerspruch zu Gott gesetzt zu sein, der sich erst dann auswirkt, wenn Gott sein Erziehungswerk beginnt. Das Wesen Gottes ist es, so könnte man sagen, als Ziel der Weltentwicklung auf diese permanent einzuwirken. Dieses Einwirken erschafft sich vermehrend die Sünde, die es zum Ziel hin überwindet. Gottes Geschichte, die seinem Wesen entspricht, alles auf sich selbst hin auszurichten, bestimmt sowohl die Welt als auch die Menschheit und ebenso jeden Einzelnen. Kaftans in zweite Linie gesetzten Spekulationen über die Menschheitsgeschichte nehmen die klassische Lehre von Gottesebenbildlichkeit und Sündenfall auf. Er bestimmt die ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen aber als Anlage zum Guten, welche die geschichtliche Erziehung hin zum Ziel der Bestimmung ermöglicht, und depotenziert (wie Ritschl supralapsarisch) auch den Sündenfall, indem er konstatiert, dass der Weg von der Anlage zum Ziel auch ohne Sünde kein wesentlich anderer gewesen wäre.³⁹ Damit zeigt sich, dass die Struktur des Erziehungsprozesses ohne die Sünde gedacht werden kann. Die Sünde ist bei Kaftan ebenso wenig konstitutiv für das personale Menschsein wie bei Ritschl. Gottes Erlösungsabsicht trifft den Menschen und ist in ihrer ursprünglichen Realisierung auch unabhängig von dem Sündenfall zu denken. Eine Veränderung der Natur des Menschen und der Natur überhaupt durch den Sündenfall ist nicht denkbar, die Lehre vom leiblichen Tod als Konsequenz der Sünde deutet Kaftan vergeistigt und deutungsbezogen um, also als Tod der Personalität und des eigentlichen Menschseins. Das Gesetz hingegen ist die Struktur des Religionsverständnisses des Gott widerstehenden Menschen. Diese Struktur gilt es aufzuheben, nicht aber zu erfüllen, weshalb sich auch Christus nicht erfüllend auf das Gesetz bezieht, sondern überwindend. Vollendete Sittlichkeit wird in der wahren christlichen Religion nicht als Aufgabe gesetzt, sondern als Gabe Gottes an den Menschen. Auch ohne Sünde wäre eine Offenbarung der Bestimmung des Menschen in der Geschichte notwendig gewesen. Damit wird die Inkarnation Gottes in Jesus Christus zu einer geschichtsspekulativen, die Naturphilosophie einschließenden Größe.⁴⁰

 Vgl. dazu Seite 384.  Kaftan kann wie Tillich später formulieren: „Und als diesen Mittelpunkt der Weltgeschichte vermag der Glaube nichts Anderes als die Erscheinung Jesu Christi vorzustellen“; er fährt aller-

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2.6 Ernst Troeltsch Troeltsch hat die in der Ritschlschule vorherrschende sittliche Deutung der Religion aufgenommen und sogar verstärkt, indem er sie zum Bestandteil des Gottesbegriffs selbst erklärt. Gott ist für ihn nicht nur das Gute selbst, nicht nur die angebotene Liebe für den Menschen, die dann in einem zweiten Schritt zur Erziehung und sittlichen Ausrichtung des Menschen führt. Sondern Gott ist selbst bereits als Wille des Guten durch die aktive Durchsetzungskräftigkeit in der Geschichte geprägt. Der Tendenz nach zielt die Versittlichung des Gottesgedankens selbst so auf eine Vergeschichtlichung der Durchsetzung Gottes in der Welt. Diese gilt nicht nur der menschlichen, sondern der Naturgeschichte überhaupt, die insgesamt auf eine Aufhebung in Geisterreiche (der sittlichen Freiheit) hin angelegt ist.⁴¹ Gottes Heiligkeit wird deshalb nicht als reines in sich selbst Sein des Guten gesehen, sondern bereits als ein aktiver „Gegensatz Gottes gegen das Böse und gegen alle sich genießende und bei sich selber stehenbleibende Natur“ (184). Gottes Wesen wird analog zur Freiheit des Menschen als immer neu Anfänge setzend verstanden, und die Durchsetzung Gottes geschieht für den Menschen gerade als Anteilgabe an der göttlichen Freiheit. Troeltsch verschärft die Sündenidee Kaftans, indem er die Freiheit in das Zentrum rückt und die Selbstbetätigung der Freiheit, zu der der Mensch aufgefordert ist, als „Möglichkeit einer wirklichen Realität des Bösen in sich“ (189) versteht. Damit wird – auch wenn Troeltsch diese Konsequenz nicht zieht – der Widerstand gegen Gott als Bestandteil seines Freiheitswesens einsehbar. Das Gleiche ergibt sich in Troeltschs Lehre von der Liebe Gottes, die den ritschlschen Reich-Gottes-Gedanken (überanthropologisch) universalisiert und den ritschlschen Übergang vom Reich der

dings fort: „d. h. diese wäre auch ohne die Sünde eingetreten, sie [nämlich die Erscheinung Jesu Christi, F.W.] ist ein nothwendiges Ereignis in der Verwirklichung des göttlichen Weltplans.“ (385) Es handelt sich um metaphysische Konsequenzen aus den Glaubensgedanken, die gezogen werden: „Ohne diese Annahme [sc. der Sünde] fällt nicht etwa die absolute Bedeutung der Erscheinung Jesu Christi weg, sondern sie wird dadurch erst wirklich von der Zufälligkeit befreit und in ihrer Nothwendigkeit als Mittelpunkt der Weltgeschichte erkannt.“ (385)  Vgl. E. Troeltsch, Glaubenslehre. Nach den Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, hg.v. G. von le Fort, Aalen 1981, 139. Alle nachfolgend in diesem Abschnitt angegebenen Seitenzahlen beziehen sich darauf. Zwar konnte Tillich die Dogmatik Troeltschs, die erst 1925 herausgegeben wurde, nicht kennen. Aber die Umrisse konnten ihm bereits vor dem System von 1913 bekannt sein aus den dogmatischen Aufsätzen und Artikeln Troeltschs. Zum Thema vgl. besonders E. Troeltsch, Theodicee, in: ChW 21 (1907), Sp. 345 – 350.

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Sünde in die Gemeinde in Gottes aktives Wesen einordnet.⁴² Damit wird unter der Hand der Widerstand gegen Gott zu einem Strukturmoment der göttlichen Gnade selbst. Gott befiehlt nicht nur das Gute, sondern er schafft es auch in uns durch die Gegenwart seines Geistes. Freilich geht aber nun diese Schaffung des Guten nur durch eine tiefe Erschütterung hindurch. Es muß durch Gottes Heiligkeit die natürliche Selbstsucht, der Wahn der Selbstgerechtigkeit und der Trotz der sündigen Gottesferne erst gebrochen werden […]. (213)

Troeltschs Ausführungen führen zu der Frage, ob nicht die aufzuhebende natürliche Tendenz (der Sünde) erst im Geschehen ihrer Aufhebung entsteht. Antwort darauf gibt die Anthropologie im Kontext der Sündenlehre. Obwohl Troeltsch diese im Hinblick auf den menschlichen Geist und die menschliche Freiheit (und insofern in Anknüpfung an Ritschl und Kaftan) bestimmt, weist er doch in den einleitenden Bemerkungen darauf hin, dass auch schon in der außermenschlichen Natur eine Weise des Widerstands gegen Gott existiert, nämlich „Hemmung und Reibung“ (300). Menschliche außermoralische Schwäche benennt Troeltsch als „Hemmung ohne Schuld und Willen“ (301). Hintergrund dafür ist die Anwendung des religiösen Entwicklungsgedankens auf die Schöpfung insgesamt. Gott wird, die Lücken des naturwissenschaftlichen Wissens ausnutzend, bestimmt als das Ziel einer einheitlichen umfassenden Entwicklung der Welt hin zu sich selbst. Schöpfung wird als Erhaltung in diesem Sinn umdefiniert, die Frage nach der eigentlichen Entstehung wird als unbeantwortbar abgewiesen. Die Anthropologie ist in diesem umfassenden Bild nur eine besondere einzelne Anwendung. Auch sie ist durch den Zielgedanken geprägt, der Schöpfung und Erlösung bzw. Eschatologie zusammenhängt mit der sittlichen Realisierung der geistigen Freiheit: denn das „sinnliche[] und psychische[] Leben[] [ist] Voraussetzung und Organ des Geistes und [geht] mit der ganzen Welt auf Gottes Schöpfung zurück […]“ (288 f.). Da nicht geklärt werden kann, woher überhaupt ‚die Welt‘ als Gegenort der Durchsetzung Gottes entsteht, wieso Gott sich also, bildlich gesprochen, überhaupt auf das Spiel der Entwicklung eines sich ihm Widersetzenden einlässt, gewinnt die Sündenlehre einen untergeordneten Rang. Sie ist einzuordnen in die Auszeichnung des Menschen, dass die genannte grundsätzliche „Immanenz des göttlichen Geistes im Endlichen […] im Menschen zum bewußten Durchbruch

 Gegen Ritschl führt Troeltsch aus: „Daher hat vielmehr umgekehrt der religiöse Liebesgedanke des Gottesreiches seine Analogie an dieser übermenschlich begründeten Liebe Gottes zu seinen Kreaturen.“ (215)

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[kommt]“ (296). Troeltsch denkt auch die Anthropologie als eine Entwicklungslehre hin zur Freiheit. Konsequenterweise löst er die Ebenbildlichkeitslehre stark von Kaftans Differenz von Anlage und Bestimmung und versteht die Anlage nicht statisch als einen vorausgesetzten Zustand, sondern als prozessbezogenes Strukturelement der Bestimmung selbst (wie Schöpfung und Erhaltung). Die Herausarbeitung der Freiheit aus der Natur wird zu einem Teil der göttlichen Bestimmung des Menschen und ist mit der Naturentwicklung teils verbunden, teils ihr entgegengesetzt. Troeltsch stellt die kulturbezogene These auf, dass die Freiheit sich in den Feldern von „Denken, Sittlichkeit und Kunst“ (287) realisiert und damit die als autonom zugestandene geschichtliche Entwicklung des Menschen von der Religion positiv in ihre Deutung mit einbezogen wird, weil sie eine göttliche Grundlage in ihrem Antrieb hat. Damit sind in der Theologie Troeltschs, die sich aus der sittlichen Religionsdeutung der Ritschlschule entwickelt und spekulative Überlegungen aufnimmt, bereits wesentliche Strukturmomente des idealistischen Systemaufbaus Tillichs (der sich parallel und zeitgleich zu diesem Text Troeltschs vollzieht) erkennbar. Weltbezogene Entwicklungsspekulation und Anbindung der religiösen Aussagen an das christliche Glaubensbewusstsein stehen bei Troeltsch durchgehend gegeneinander, denn nirgends wird erklärt, wieso Aussagen des Glaubens (die doch dann nur für den Glaubenden gelten können) von zugleich allgemeiner Gültigkeit sein können. Auch in der eigentlichen Sündenlehre setzt sich dies fort, insbesondere wenn man die beiden Aussagenreihen über das Wesen der Sünde einerseits und die Entstehung des Bösen andererseits miteinander in Beziehung setzt. Denn das eigentliche religiöse Wesen der Sünde besteht in dem radikalen Bösen, das erst durch Freiheit möglich wird und in dem bewussten sittlichen Widerspruch gegen die Freiheitsforderung und -begründung Gottes besteht. Troeltsch nimmt inhaltlich alte Bestimmungen auf, wenn er erklärt, dass Sünde in der „selbstsüchtige[n] Versteifung auf Kraft und Interessen des eigenen endlichen Selbst“ (303) besteht. Es ist nicht zu erkennen, worin eigentlich der Gegensatz zu dieser – doch wohl als Autonomieanspruch zu beschreibender – Definition im Gottvertrauen besteht. Denn auch das Gottesverhältnis besteht ja in der Zueignung personaler geistiger Freiheit. So scheint es aufgrund der Entwicklungssicht auf das Ganze derselbe Prozess zu sein, der einmal unreligiös als selbstsüchtig und ein andermal religiös als gottgestiftet beschrieben wird. Damit wird die religiöse Grunddeutung der Entwicklung der Welt zum Ort der Entscheidung zwischen Glaube und Unglaube. Die Frage wird zentral, ob es gelingt, den göttlichen Antrieb im Prozess der Entwicklung hin zur Freiheit zu erkennen und so das ‚wahre‘ religiöse Wesen der Freiheit zu realisieren – oder ob es bei einer bloß selbstbezogenen ‚Fehlform‘ des Freiheitsbewusstseins bleibt.

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In der Lehre von der Entstehung der Sünde (klassisch also dem Sündenfall) formuliert Troeltsch aber umgekehrt, indem er nicht vom vollendeten, auf Gott bezogenen Freiheitsbewusstsein ausgeht, sondern das Böse zu einem Strukturelement der Geistigkeit des geschaffenen Menschen erklärt: Die allgemeine Sündhaftigkeit kann somit nicht von einer Anfangstat hergeleitet werden, sondern muß in den Bedingungen des jedesmaligen Werdens selbst liegen, sich aus der Lage des zur Geistesbestimmung sich erhebenden Naturwesens stets von neuem erzeugen. (306)

Dasselbe, was zunächst die gute Schöpfungsbestimmung ausmacht, gerät dann unter eine abweichende Interpretation, einen neuen ‚Standpunkt‘: „Die ursprüngliche tierisch-eudämonistische Selbstbejahung, die zu der Durchsetzung des Naturwesens gehört, erscheint vom Standpunkt des Geistes aus als gottwidrige Selbstbejahung.“ (Ebd.) Damit muss konsequenterweise der Schöpfung die Anlage zum Bösen als anerschaffen zugeschrieben werden: „So ist mit dem Einzelwesen selbst und mit seiner Bestimmung das zu überwindende Böse gesetzt“, das Böse liegt in der „metaphysischen Konstruktion des Menschen“ (ebd.). Wie schon in der Sündenlehre vorher kann Troeltsch hier auch keine Schuld und auch nur eine unbewusste Form der Sünde erkennen, die von der realisierten Sünde in der freien Selbstbestimmung erst erkannt und als Sündengrundlage identifiziert werden muss. Mit der Idee einer metaphysischen Grundierung des sittlichen Freiheitsprozesses und der strikten Einbeziehung dieser Metaphysik in die Akte des Prozesses selbst, sozusagen als Strukturelemente des geschichtlichen zielgerichteten Geschehens, nimmt Troeltsch Elemente der theologischen Rückgewinnung der Kosmologie und einer naturbezogenen Schöpfungslehre aus der spekulativen Theologie und der Ritschlschule auf. Mit dieser Problemanlage von Troeltschs Denken ist Tillichs gleichzeitiger Entwurf einer eigenen Theologie eng verbunden.

3 Die Sündenlehre in Tillichs System von 1913 3.1 Die Idee des Systems: Reflexion und Sündhaftigkeit Im Jahr 1913 erarbeitet Tillich ein erstes umfassendes spekulatives System.⁴³ Die Rede von der Sünde und der Sündhaftigkeit durchzieht, einmal eingeführt, dieses System bis zu seinem Ende. Die ganze religionsphilosophische Theologie, die  Vgl. EW IX, 273 – 434. Alle nachfolgend in diesem Abschnitt angegebenen Seitenzahlen beziehen sich darauf.

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Dogmatik und die Ethik antworten auf die Entwicklung der Sünde, und zwar so, dass sie diese nicht beenden, sondern dass sie die Entwicklung der Sünde begleiten und ihr eine neue Deutung geben. Sünde und Freiheitsbewusstsein werden austauschbar, insbesondere die Entwicklung der Kultur als eines Systems der Freiheit in Technik, Ethik und Religion zielt auf freie Sünde oder sündhafte Freiheit. Erst in Bezug auf diese ist die religiöse Heils-, Erlösungs- bzw. Rechtfertigungsidee als alternative Deutung von Freiheit verständlich. Tillich nimmt damit zugleich die Vergeschichtlichungstendenzen der vorherigen Welt- und Wirklichkeitsverständnisse in der Theologie auf. Allgemeine Naturgeschichte und Bewusstseinsgeschichte als Durchbruch des religiösen Wissens um Freiheit werden in der Idee der Entwicklungsreflexion miteinander verbunden. Die Entwicklung in der Natur ist vom Standpunkt des Menschen aus, der Freiheit verwirklicht und darin um eine religiöse Sicht kämpft, selbst als Durchsetzungsort der ‚göttlichen‘ Entwicklungsidee erkennbar, also einer Struktur der Verflüssigung der sich notwendig auseinanderlegenden Bestandteile freien Denkens. Subjektivitätstheoretisch und auf die Gesamtabsicht von Tillichs System der Wahrheit hin formuliert: die Evidenz eines bestimmten konkreten Gedankens ergibt sich aus seiner gedachten Stellung im System, und zwar einerseits im Hinblick auf seine Begründung in der sich selbst setzenden und auseinanderlegenden absoluten Wahrheit und andererseits aus seiner teleologischen Funktion für die Durchsetzung (und Rückkehr zu) dieser Wahrheit. Der Gottesgedanke der Religionsphilosophie steht für dieses Eingespanntsein in die Bewegung des Systems sowie die Einsicht, dass dieses Eingespanntsein nur im Durchgang durch die Inhalte zu haben ist. Demgegenüber besteht dann die Sünde darin, dass alles Denken des Menschen, jede Erkenntnis, jedes Handeln und jede kulturelle Tätigkeit auf bestimmte Gehalte und deren Bearbeitung gerichtet ist und darin von der Bewegung des Systems gerade abstrahiert. Das gesamte System ist in drei Teilen aufgebaut: das abstrakte Wahrheitssystem, der Standpunkt der Reflexion und der Standpunkt der Theologie.⁴⁴ Damit ist die spätere Trennung von Wissenschaftslehre (bzw. der Enzyklopädie der

 Die Dogmatik als Verbindung des theologischen Prinzips (das für alle Religion gilt, also so etwas wie einen christologisch bzw. trinitarisch strukturierten und gedachten Religionsbegriff entwickelt) mit der religiösen Erkenntnis wendet den Religionsbegriff auf den Gottesbegriff des Christentums an, bietet also eine Theorie des Christentums als reiner Religion. Die Ethik hingegen verbindet (über den Begriff der ‚Einzelkirche‘, vgl. 376) den Begriff der christlichen Religion mit der Kulturwelt des abendländischen Christentums, bietet also eine Kulturphilosophie der europäischen Kultur und Gesellschaft der Moderne, die Freiheit als Strukturprinzip autonomer Kultur zulässt und zugleich religiös einlöst. Dogmatik und Ethik sind Unterpunkte des theologischen Prinzips, was die Gliederung des Systems als Ganzes in drei Teile nicht erkennen lässt.

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Wissenschaften) und Theologie noch im dreiteiligen Aufbau zusammengehalten. Im ersten abstrakten Teil, der das System des Wissens aus der Wahrheitsbindung des Denkens entwickelt, geht Tillich von einem doppelten Identitätsprinzip aus: Einerseits der Wahrheit, andererseits dem Denken der Wahrheit. Der Wahrheitsgedanke hat sein Prinzip in sich selbst, das Denken setzt sich als Denken der Wahrheit entgegen, andererseits ist es nur fähig, Wahrheit zu denken. Dieser (als identisch mit sich selbst gesetzte) Widerspruch gegen sich selbst ist notwendige und unbedingte Selbst-Voraussetzung.⁴⁵ Dieser Grundwiderspruch bewusster Differenz (Differenz im Bewusstsein) ist es, der sich in das System fortsetzt und über Zwischenstufen und -schritte einen antagonistischen Dualismus aus sich heraussetzt. Natur entsteht durch das Denken, das sich durch Wahrheit bestimmt sein lässt – oder umgekehrt, ein im Gegenstand vergehendes Denken erzeugt Natur. Freiheit hingegen entsteht durch bewusste Differenz des Gedankens gegen das Gedachte, durch das „Sich-Loslösen und Wieder-Zurückkehren des Denkens zur Wahrheit“ (288). Freiheit ist keine Eigenschaft eines Geistwesens, sondern die Struktur der Reflexivität in jedem inhaltlich bestimmten Gedanken. Diese Struktur liegt dem System (Kultur – Sittlichkeit – Religion) zugrunde. In diesen geistbezogenen Ableitungen steht der Widerspruch, der seit Anfang im System ist, (noch) unter der Einheit. Tillich nennt dies die ,Intuitionʻ. Der Begriff steht hier noch nicht für phänomenologische Denkweisen, sondern wird von Tillich benutzt, um verschiedene Aspekte zusammenzuhalten. Dazu zählen das Verhältnis von ,Einemʻ und ,Vielemʻ, von Subjekt und Objekt, von ,intentio rectaʻ und reflexiver ,intentio obliquaʻ, von Begriff und Urteil, von Inhalt und Form sowie von abstrakt und konkret.⁴⁶ Diese Gegensatzpaare werden in der Intuition aufeinander bezogen und so ineinander zusammengehalten. Diesem ersten Systemteil wird der zweite entgegengesetzt, in dem es zu einer anderen Denkform kommt, nämlich der Reflexion. In ihr „herrscht“ (306) der Widerspruch der vorher jeweils vereinten Perspektiven. Das ist die „Urantithese“ (307), die durch ein falsches Denken im Richtigen entsteht, indem die vorher geeinten und wechselseitig aufeinander bezogenen Gegensatzpaare auseinanderfallen und jeweils das Ganze nur noch in einer Perspektive enthalten. Durch die beherrschend bleibende Urantithese gilt, dass „der Reflexionsstandpunkt fundamental Standpunkt der Sündhaftigkeit“ (319) ist.

 Vgl. dazu Seite 281.  Vgl. die in § 17 genannten Begriffspaare. Tillich führt das Strukturmuster nur für Eines/Vieles aus: „Dadurch wird die Intuition in die beiden Momente aufgelöst, die in ihr eine Einheit eingegangen sind, das Schauen der Einheit im einzelnen und das Erkennen der Vielheit im Einen.“ (307). Reflexion heißt also nicht die Auflösung in Vieles vs. Eines, sondern (nur) die Entkoppelung der beiden Perspektiven, in denen jeweils beides enthalten ist.

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Tillich will an dieser Stelle gegen das idealistische Systemdenken das bleibende Recht der Reflexion betonen. Das Auseinander der Perspektiven kann nicht im Denken überwunden werden. Hegels gedankliche Synthesen bleiben Gegenstand des Zweifels. Stattdessen gilt es, das „dialektische Verhältnis zu durchschauen, in dem der Reflexionsstandpunkt dauernd zu dem absoluten Standpunkt sich befindet, nämlich in ihm aufgehoben zu sein und ihm entgegenzustehen“ (308). Hegels ‚Aufhebung‘ funktioniert deshalb nicht, weil sie die reale (und real bleibende) Entgegengesetztheit der Perspektiven im Denken bzw. im Selbstbewusstsein nicht akzeptiert. Hier wird verständlich, wie Tillich mit Berufung auf die reformatorische Idee des ‚simul iustus et peccator‘ glaubte, dem Idealismus entkommen zu sein.⁴⁷ Die Bedeutung ist die, dass Sünde ein Strukturmoment des Lebens bleibt und prinzipiell nicht religiös überwunden werden kann. Troeltschs Suche nach einem Strukturverständnis des dauernden Werdens im irdischen Leben, nach der flüchtigen Realisierung des Göttlichen unter den Bedingungen der Welt wird damit implizit aufgenommen. Religion wird zu einem Deutestandpunkt des Freiheitslebens, in dem das Auseinandergefallensein als Bedingung von Freiheit akzeptiert wird und in einer Heilsperspektive gerade erst recht und richtig affirmiert wird.

3.2 Sündhaftigkeit und Kultur Der Inhalt des Systems im Reflexionsstandpunkt wird ausgeführt, indem die einzelnen Teile aus dem Wissenssystem des intuitiven Standpunkts unter den genannten Gesichtspunkt des Auseinanderfallens der Einheitsperspektiven gestellt werden. Die Sünde in der Schöpfung wird zu einem wissenschaftstheoretischen, geschichtsphilosophischen und kulturgeschichtlichen Fundamentalbegriff. Dies geschieht, indem die Unterteilung allen Wissens in sachbezogenes, ethisches und religiöses Wissen auch hier als Gliederungsprinzip verwendet wird. Im Kontext des gegenständlichen Wissens werden Raum, Zeit und Kausalität am Einzelnen der entgegengesetzten Einbeziehung des Einzelnen in Raum, Zeit und Kausalität entgegengestellt und dadurch verselbständigt. Daraus folgen Leid, Tod und reine Funktionalität. Die ethische Durchführung betrifft den Menschen und seine Freiheit in den Kulturformen. Hier wird das spätere Dämonische zum Teil vorweggenommen, indem die sachliche Kultur zum Ort wird, an dem „Unfreiheit  Tillich religionsphilosophischer Neuentwurf Rechtfertigung und Zweifel von 1919 baut immer noch auf diesen Überlegungen zu Zweifel und Rechtfertigung von 1913 auf, auch die Stellung zum Idealismus und zu Heims christologischem Gewissheitstheorem werden hier bereits ähnlich beschrieben (vgl. dazu § 25 auf den Seiten 319 – 322).

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Gestalt gewinnt“ (310). Der einzelne Mensch bestimmt sich einerseits in Bezug auf sein Einbezogensein in die Kultur und andererseits als Subjekt der Selbstdurchsetzung gegen diese. Geschichtlich gesehen ist Realisierung der Freiheit zugleich (notwendig) die Realisierung von Unfreiheit. In diesem ‚Gesetz‘ liegt die Aufnahme der Sündenlehre in die (Religions‐)Philosophie. Unfreiheit (als Realisierung der Freiheit) geschieht in vier Formen: in der Wirtschaft entsteht der Gegensatz von Gewinnmaximierung Einzelner und Sozialismus, in der Politik der von Staatsabsolutismus und Demokratie. In der Wissenschaft zeigt er sich als Kampf der Methoden gegen den systematischen Zweifel und in der Kunst schließlich als Ausprägung einer geisthaft idealistischen bzw. geistverneinend realistischen Kunst gegen die Selbstaufhebung der Kunst in der Dekadenz.⁴⁸ In der Ethik wird die Sündhaftigkeit selbst manifest, zunächst in der Doppelform von Gesetzlichkeit und Ungesetzlichkeit, welcher dann der sittliche Relativismus gegenübersteht. Entsprechend ist es dann auch in der Religion, in der zunächst der Gegensatz von bestimmter Religion und Mystik auftritt, welcher dann schließlich in den gemeinsamen Gegensatz beider zum Atheismus überleitet. Tillichs Systemdenken formt die Sünde um zu einem (bleibenden!) Strukturmerkmal der Verwirklichung von Freiheit in den Feldern der Kultur. Damit nimmt er Ideen auf, wie sie schon Biedermann in seiner Weiterführung des Hegelianismus artikuliert hat. Bei Tillich unterliegt allerdings auch die gesamte geschichtliche Religion diesem einheitsverhindernden Strukturprinzip. Die Religionsgeschichte wird zu einem eigenen Feld kultureller Entwicklung. Damit wird sie zu einer eigenen Vorbereitungsgeschichte hin zur Offenbarung. Die Elemente der vor-offenbarungsbezogenen Religionsgeschichte können bis in die Gegenwart (Nebeneinander von Absolutheitsbehauptung für das Christentum und Mystik gegenüber dem modernen Atheismus) verlängert werden – sie wird dadurch gleichzeitig zu einem Strukturelement auch noch des Christentums als Religion. Die Offenbarung Christi geschieht sowohl an einem bestimmten Ort der Religionsgeschichte als auch ist sie bis heute das überwindende Ereignis in Bezug auf  Die letzte Idee bezieht sich auf die Stellung der Kunst als Überleitung zur Religion im idealistischen System und verbindet sie mit dem von Emile Zola 1886 verwendeten und sich in den 1890er Jahren breit durchsetzenden Begriff der (Kunst und Literatur der) Dekadenz. Huysman und Hofmannsthal haben weitere Aspekte des fin de siecle und des Dandyismus beigetragen. Auch an den Ästhetizismus des sogenannten ,Jungen Wienʻ ist möglicherweise gedacht. Natürlich muss Tillich 1913 noch nicht den Expressionismus im Blick haben – aber auch andere moderne Richtungen der letzten 10 Jahre werden nicht aufgenommen. Das schränkt die Bedeutung der Kunst für das Verständnis des Dämonischen ein. Tillich hat 1926 nicht an der Kunst das Wesen des Dämonischen erkannt, sondern seinen ethisch-kulturgeschichtlichen (Struktur‐)Begriff der Sünde auf neue Entwicklungen in der Kunst angewendet bzw. diese zur öffentlichkeitswirksamen Illustration eines Gedankens verwendet.

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jede geschichtliche Religion. In diesem Ereignis wird diese in ihre Wahrheit gebracht, und zwar indem ihre zwei entscheidenden Sichtweisen – Gott als Inhalt der Religion, an den das Subjekt glaubt, und der Mensch, der Religion hat und damit Gott begründet – in einer neuen Perspektive zusammengehalten werden.

3.3 Sünde in der Dogmatik Das theologische Prinzip der Rechtfertigung (und zwar als Ganzes in seinen drei Teilen Rechtfertigung, Christologie und Eschatologie bzw. abstrakt, konkret und im Vollzug bzw. Materialprinzip, Formalprinzip und methodische Durchführung) in Tillichs System von 1913 wird hier gedeutet als Aufrichtung einer Bewegungsrichtungsreflexion an den Akten des Bewusstseins. Tillich versucht damit die Spannung von Geschichte und Struktur, von realer Veränderung und purer Reflexivität in der Sündenlehre aufzuheben. Gott selbst wird trinitarisch als der Lebendige gedeutet, indem die Trinität als Bewegungsbegriff verstanden wird und damit Gott nicht als abstraktes Absolutes, sondern als Entwicklung von Einheit und Vielheit auf Einheit hin gesehen wird.⁴⁹ Schöpfung ist Betrachtung der Welt als gesetzt unter ihrem Begründungs- und Zielgedanken: „Allmacht heißt: Von ihm, durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.“ (333) Auch der Mensch wird letztlich unter die Zwecksetzung der Überwindung des Abstands zu Gott gestellt, allerdings ist der Abstand, der hier zu überwinden ist, die geforderte Realisierung der Freiheit selbst. Denn Gott schafft den Menschen zunächst als Freien und begrenzt damit seine eigene göttliche Allmacht. Er tut dies, um die Freiheitsentwicklung herauszufordern: „Der Mensch wird dadurch Mensch, daß er Ebenbild Gottes wird. Das ist der normative Begriff des Menschen, ein Wesen zu sein, das Gott lieben kann.“ (335) Die Vorsehung wird als anthropologische Zusammenführung von Freiheitsentwicklung und Gottesnähe gedeutet. Damit wird der Freiheitsgedanke der Lehre vom Menschen aufgenommen und in die Idee eines Zusammenbestehens von Freiheitsverwirklichung und Gottesbewusstsein überführt. Mit der Idee der teleologischen Bestimmung und Überwindung als Teil der Schöpfungswirklichkeit im Ganzen formuliert Tillich entsprechend die dogmatische Sündenlehre um. Sünde ist nicht Natur, nicht bereits das Geschaffensein als Einzelnes an sich, sondern der erst darauf einsetzende Widerspruch, als dieses geschaffene Einzelne nicht zugleich zu Gott hin unterwegs zu sein bzw. ist das „Sich-Entziehen“ (337) dieses teleologischen Drangs. Wie das kommt, wird nicht

 Vgl. dazu Seite 330 f.

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erklärt, sondern vorausgesetzt. Tillich hilft sich mit Verweis auf die Systemteile und darauf, dass der Standpunkt der Reflexion bzw. Sündhaftigkeit bereits vorher abgeleitet sei. Dass damit Sünde zu einer Strukturbestimmung des Seins der Welt wird, wird jedoch ausdrücklich bestätigt: Der transzendente Sündenfall muss für alles vorausgesetzt werden, d. h. der Fall kann nicht in der Welt schuldhaft geschehen, gleichwohl wird er allem weltlichen Sein zugerechnet. Eine eigene Überlegung im komplizierten Zusammenhang der absoluten Entstehung der Sünde (bzw. im Verhältnis Gott-Schöpfung-Sünde) widmet Tillich nur der Frage nach der Verantwortung Gottes für die Sünde. Er entscheidet sich für die Lösung, dass Gott verantwortlich für die Sünde ist, aber dies wiederum nur dort, wo er die Sünde überwindet. Die Zusammenordnung von Heil und Sünde wird damit von weltlichen Voraussetzungen gelöst und allein in der Religion bzw. Theologie gesehen. Sünde entsteht mit ihrer Überwindung im Heil, Schöpfung ist immer schon beides in eins, weil „Gott die Sünde zugleich verneint und bejaht“ (338). Damit wird auch die Schöpfung selbst immer unter den Gedanken der Vollendung gestellt und der Gegensatz von Schöpfer und Schöpfung auf den Prozess der Verwirklichung eines adäquaten Verhältnisses reduziert, dass nämlich die Schöpfung gegenüber Gott sowohl frei und eigenständig als auch ganz in ihm und von ihm abhängig ist. Gottes Liebe bedeutet, dass die Welt sich zugleich frei entwickeln und darin ihre Nähe zu Gott realisieren soll. Umgekehrt wird damit zugleich der Gedanke konsequent zu Ende gedacht, dass die Sünde erst in der göttlichen Einwirkung hin zum Heil entsteht. Die Sündenlehre in ihrer Anwendung auf die Welt wird dadurch zu einem Teilmoment der Beschreibung der Welt in der Schöpfungslehre. Sie isoliert jene freie Eigenständigkeit, zu der die Geschöpfe geschaffen sind und sieht in ihr ein Strukturmoment weltlichen Seins. Tillich bestätigt, dass die Probleme der klassischen Sündenlehre zwischen Anrechnung und Natur, Schuld und Verhängnis, Zwang und Freiheit nicht lösbar sind. Seine Verschiebung in den theologischen Standpunkt, also die Sicht des Ganzen als Entwicklung und Prozess, erlaubt es ihm, auch an dieser Stelle die Erledigung der Probleme anzuzeigen. Er benennt drei Elemente: die unbedingte Universalität des Sündenurteils über die ganze Schöpfung, die tatsündenhafte Bestätigung dieser Universalität der Sünde in jedem einzelnen geschichtlichen Moment⁵⁰ und schließlich die transmoralische Anwendung des Begriffs der Schuld auf alles Sein des Geschaffenen. Es gibt eine Schuld der objektiven Sünde, von der die subjektiv zurechenbare Schuld des  Tillich nennt ausdrücklich das Verhängnis im Bereich der Natur (der Begriff ist gleichbedeutend mit dem der Tragik und des Schicksals) und parallel die „mit Bewußtsein und Willen bejahte Sünde (Menschheit)“ (340). Die klassische Trennung von Schuld und Natur wird gezielt aufgehoben.

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handelnden Menschen nur eine mögliche Anwendung ist. Diese ausgeweitete ‚objektive‘ Schuld ergibt sich schließlich nur bzw. dieses Moment kann nur deshalb als Schuld behauptet werden, weil es der erlösenden Zuwendung durch Gott genauso bedarf wie der menschlichen Sünde. Die Schuld wird der Welt als Ganzes zugesprochen als Bestandteil der göttlichen Verwirklichung des Heils für die Welt. Der doppelte Gegensatz ist der, dass einerseits naturhaftes sündiges Sein nur umgeschaffen werden kann, während Schuld der göttlichen Heilsgnade bedarf. Andererseits wird damit ausgeschlossen, dass Heil als innerweltliche Entwicklung gedacht wird. Die in der Religion vorstellig gemachte ‚Entwicklungsgeschichte‘ kann also einerseits reflexiv gedeutet werden, sie ist die Bedingung der Möglichkeit von Entwicklung. Andererseits ist das Einsehen des Ziels der Welt in Gott selbst eine reale Entwicklung. Um beides zusammenzuhalten, redet Tillich in Bezug auf die Welt insgesamt von ‚Schuld‘. Tillich kommt damit zum Schluss zu dem Gedanken, dass Gott mit der Welt und ihrer Sünde zugleich leidet, weil er sie schafft, wie er auch zugleich sich dazu rettend und zielführend auf das Telos des Reiches Gottes und der erlösten Schöpfung hin verhält. Gott realisiert sich selbst, indem er durch das Negative seiner selbst hindurchgeht. Streng genommen lässt sich sagen, dass er nichts Anderes ist als dieser Prozess des Hindurchgehens. Die Christologie wird damit zu einer Strukturbeschreibung des Prozesses, mit dem Gott in allem weltlichen geschaffenen Sein hindurchgeht zu sich selbst. Er (der Prozess) kommt zum Bewusstsein und ist zugleich dieses zum Bewusstsein-Kommen als Prozess selbst in dem religiösen Akt der Menschen.

3.4 Zwischenbemerkung: Sündhaftigkeit und Geschichte Die Sündenlehre des Reflexionsstandpunkts zieht sich durch die gesamte weitere Systemanlage der Systematischen Theologie von 1913. Das System endet nicht mit der Entwicklung des theologischen Standpunkts, aber auch nicht mit der Dogmatik, sondern führt erst in der Ethik zum Ziel. Diese Ethik aber ist eine umfassende Kulturphilosophie der Gegenwart, gedeutet unter christlich-religiösem Gesichtspunkt. Sie nimmt das Kultursystem des absoluten Standpunkts (sachliche Kultur, Ethik und Religion) auf und führt es in umgekehrter Reihenfolge (weil ausgehend von der verwirklichten Religion) als Bearbeitung der Sündhaftigkeit aus dem Reflexionsstandpunkt durch.

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Ist aber erst die Ethik das Anwendungsziel,⁵¹ dann sind die vorigen theologischen Überlegungen Tillichs im Aufbau des Ganzen neu zu deuten. Es ist bereits bemerkt worden, dass die eigentlich philosophische Systemgrundlegung in den Aspekten von Rechtfertigung, Christologie und Eschatologie bereits eine erhebliche theologische ‚Schlagseite‘ aufweist. Zum Teil hat Tillich die Ausdrücke später geändert, wie ja auch der des Dämonischen eine Umformung und Präzisierung des allgemeinen Sündhaftigkeitsbegriffs sein wird. Die Rechtfertigung der Sünde, so kann man sagen, ist der Zentralbegriff des Systems, und zwar nicht in der Weise, dass er an einem Ort des Systems entwickelt wird und dann Ekklesiologie, Soteriologie, Ethik etc. auf dieser Basis von selbst ablaufen. Vielmehr ist diese Überwindung so gedacht, dass sie in actu und an jedem einzelnen Entwicklungsprozess in der Geschichte aufgewiesen werden muss. Insofern bleibt die Sündhaftigkeit der Welt die Grundlage, die an allen weiteren Systempunkten neu überwunden werden soll – bzw. im Prozess der Überwindung sich jederzeit wieder herstellt. Wenn aber die Sünde das an jedem Ort zu Überwindende bleibt, kann sie selbst nicht auf einen bestimmten Zustand fixiert werden. Vielmehr könnte man sagen, dass sie, auch und gerade im Verhältnis des Gegensatzes zur Rechtfertigung, das sich immer weiter Bestimmende ist. Damit wird aber das Zweideutige der Freiheit im Reflexionsstandpunkt selbst zu einem Element geschichtlicher Entwicklung. Anders gesagt: Gott setzt die Welt als Entwicklung der Freiheit, und indem sie sich als Freiheit entwickelt, entwickelt sie zugleich die Sünde und die Rechtfertigung in sich – oder auch, Gott setzt die sich entwickelnde Freiheit zugleich in und als Sünde und in und als Heil. Im Gegensatz zu Kaftan lässt sich also für Tillich sagen: Sünde ist nicht Gegenentwicklung gegen Gott im Bereich der Welt. Sondern Tillich sieht das Göttliche als beide Entwicklungen in einem einheitlichen Strukturbegriff der Entwicklung verbindend. Die Entwicklung hin zur Sünde ist schöpfungsimmanent und gottgewollt, weil sich nur so Freiheit verwirklicht, in der Auseinanderlegung des Eindeutigen zum Zweideutigen. Schöpfung, Sünde und Freiheit werden momentan synonym, weil Freiheit zu entwickeln gut ist, weil aber die Freiheit, die sich entwickelt, immer auch zugleich schlecht (oder böse) ist. Religion wird zu einem Einschätzungs- bzw. Deutemodus der Freiheitsentwicklung. Traditionell gesprochen handelt es sich um die Zuversicht, dass Gott die Entwicklung zum Guten wendet. Aber Gott tut dies nicht über eine Zielbestimmung und -durchsetzung (wie bei Kaftan), sondern er ist ein immanentes Reflexionsmoment des Entwicklungsgeschehens selbst. Man könnte sagen: wohin auch immer die Reise des modernen Menschen und der autonomen

 Vgl. die Überschriften in der nachträglichen Gliederung: Anm. 300 auf Seite 376.

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Entwicklung der modernen Kultur geht – wo überhaupt noch Entwicklung möglich ist, kann diese als Präsenz Gottes in der Welt verstanden werden. ‚Rechtfertigung‘ in ihrem Gegensatz zur Sünde wird also zu einem Strukturbegriff von Entwicklung. Man kann sie nicht isoliert betrachten, sondern muss Tillichs Gesamtaufbau des theologischen Standpunkts berücksichtigen. Er umfasst Rechtfertigung, Christologie und Eschatologie. Erst mit Letzterer ist jeder Versuch, Rechtfertigung als einen Zustand zu fassen, den es zu erreichen gilt, überholt. Die vielfältigen Gegensätze, die Tillich bearbeitet,⁵² sind nicht selbst Gegenstand oder gedankliche Grundlagen des absoluten Systems, sondern nur in ihrer Funktion, an ihnen eine Vermittlung der Gegensätze als sich ereignende aufzuzeigen. Denn es gilt, wie Tillich sagt, „Aufhebung nicht als vollendete, sondern als geschehende zu fassen“ (316). Natürlich hat der Rechtfertigungsbegriff von vornherein eine starke Verbindung zum subjektiven Glaubensbegriff. Der Wechsel von Sünde zu Heil bzw. von Unglaube zu Glaube ist das eigentliche christliche Gegenstück des systematischen Gedankens. Tillich nimmt ihn aber nicht in seiner kierkegaardschen Fassung auf, sondern in einer geschichtsphilosophischen, die er einerseits natürlich aus seiner Schellingrezeption, andererseits aber auch aus der spekulativen Theologie des 19. Jahrhunderts sowie aus dem Versuch der Ritschlianer ableitet, den Wechsel in ein naturphilosophisches, kosmologisches bzw. schöpfungstheologisches Gerüst einzustellen und damit die christologisch-ekklesiologische Engführung Ritschls selbst wieder zu überwinden. Die Überwindung der Sünde ist niemals nur ein Inhalt (wie z. B. durch eine Deklaration Gottes), sondern sie muss zugleich wirksam sein als ein Geschehen in der Zeit, wie es die Christologie als das Konkrete verdeutlicht. Die Christologie steht damit für das Reale an jedem faktischen Glaubensvollzug und genau damit im Gegensatz zur Schuld der Sünde. Theologisch darf das Heilsgeschehen nicht nur als Struktur des Subjekts gesehen werden, sondern zugleich als ein reales Ereignis an diesem. Das heißt aber, dass es nicht bloß Reflexion einer Struktur sein darf, so dass es als normale Entwicklung zur Durchsichtigkeit hin gefasst werden könnte. Sondern es ereignet sich zugleich als etwas Neues in der Geschichte. Dies kann man als Eingriff Gottes fassen, als Wunder. Wunder wird so (wieder) zu einem möglichen Reflexionsbegriff für die Geschichtlichkeit der Welt. Es zeigt sich, dass Tillichs ‚moderne‘ Religionsphilosophie mit ihrer Rückkehr zur Vorstellung Gottes als eines Handelnden in der Geschichte an einem Durchdenken des Sündenbegriffs hängt. Denn Überwindung der Sünde umfasst ein

 So z. B. Absolutes – Relatives, Abstraktes – Konkretes, Allgemeines – Besonderes, Ganzes – Bestimmtes, Ideales – Reales bzw. Gedachtes – Wirkliches, Gemeinschaftliches – Einzelnes, Denken als Akt – Gedachtes als Inhalt, Freiheit – Selbstbestimmung, Gewissheit – Anwendung.

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reales Geschehen am Menschen, dessen Struktur (im Sinne des gedanklichen Einbeziehens dieser Realität) zugleich die jedes Geschehens von Neuem in der Welt ist. Dieses reale Geschehen ist aber nicht einzelnes, sondern es ist die Struktur des Sich-Ereignens von gedanklicher Durchsichtigkeit an jedem Geschehen. Reflexivitätsaufrichtung an einem geschichtlichen Geschehen wird selbst als ein (unverfügbares) Geschehen verstanden, in dem die Geschichte zu sich selbst kommt. Indem sich Rechtfertigung geschehend ereignet, wird der Sinn von Geschehen in der Welt wahr und konkret, ohne jedoch fassbar zu sein. Darin besteht der Aufeinanderbezug von Rechtfertigung, Christologie und Eschatologie.

3.5 Sünde und freie Weltgestaltung Kehren wir nach dieser Zwischenüberlegung zu der Behandlung der Sünde in Tillichs System von 1913 zurück. Sünde bleibt in dem ganzen System bis hin zum Ende der Ethik als das zu Bearbeitende in der Welt erhalten, es geht gerade um die Beschreibung dieses Prozesses. Weltgeschichte und Kirchengeschichte laufen aufeinander zu, denn: „In der Kirchengeschichte wird sich die Weltgeschichte ihrer eigenen Voraussetzungen bewußt, und in der Weltgeschichte findet die Kirchengeschichte die Motive ihrer Bewegung.“ (369) Dieses Ziel kann als Bewusstsein wahrer Freiheit verstanden werden, denn es „bedeutet nichts anderes als den Übergang der Freiheit zu Gott“ (370).⁵³ Ziel der Ethik ist die Überführung des Reflexionsstandpunkts und seiner Gegensätze in das Bewusstsein der Freiheit als Ausdruck des Willens Gottes: „Gott handelt aber nicht mit dem Menschen wie mit einem Dinge, sondern wie mit dem Freien, der dann am meisten von Gott abhängig ist, wenn seine Freiheit die höchste Vollendung erreicht hat.“ (382) Realisierung wahrer Freiheit in einer Weltund Kulturgeschichte, die auch von sich aus (als Schöpfung) auf Freiheit ausgerichtet ist, ist also das Grundprinzip des Systems. Dieses System nimmt den Durchgang der Kulturphilosophie durch Kultur, Ethik (im engeren Sinn!) und Religion in umgekehrter, also aus dem Rechtfertigungsstandpunkt deduzierender Weise auf. In der (wahren) Religion realisiert sich (wahre) Freiheit in Gebet und im Kult. Tillich nimmt zur Beschreibung des Bewusstseinsaktes die von Herrmann vertiefte Kritik Luthers an der monastischen Bußfrömmigkeit auf. Buße ist nicht Verneinung des Selbst (in der das Selbst als Verneinendes erst recht erhalten

 Die von Tillich gemeinte Zusammenführung von Reflexionsbewegung des Bewusstseins und Entwicklungsgeschichte der Natur war schon Richard Wegener unklar, vgl. Anm. 275 und 276 auf Seite 371.

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bleibt), sondern ein Absehen des Selbst von sich auf Gott hin. In der Ethik (im weiteren, übergeordneten Sinn!) wird Glaube als die Tat der Freiheit beschrieben, in der der Mensch sich Gott zuwendet, in der also die Verwirklichung der Freiheit zugleich als die höchste Nähe zu Gott erkannt wird: „vollkommene Freiheit und vollkommene Hingabe an Gott“ (384). Diese Verwirklichung von Freiheit ist zugleich Tat des Menschen wie Tat Gottes im Menschen.⁵⁴ Der sittliche, also ethische Teil (im engeren Sinn) beginnt mit einer kurzen Skizze eines modernen Freiheitsbegriffs im Anschluss an die Differenz von inhaltlichen normativen Ethiken und der kantischen Ethik sowie dem idealistischen, von Tillich abstrakt genannten Versuch, Selbstbestimmung als Freiheitsgrundlegung zu verstehen sowie dieses romantisch in der genialen Individualität realisiert zu sehen. Alles dies wird überwunden in der Theologie, indem sie Freiheit in paradoxer Weise als höchste Nähe zu Gott versteht. Wie noch 50 Jahre später formuliert Tillich: „Die Autonomie hat sich vollendet zur Theonomie: Der Standpunkt des von Gott Gerechtfertigten ist der Standpunkt der Autonomie. Der Gerechtfertigte ist der absolut Freie.“ (393) Dies geschieht vice versa, indem sich jede moralisch-normative Heteronomie zur Christonomie vertieft. Geht man also davon aus, dass das Ziel der Darstellung die Anwendung eines wahren (religiösen) Freiheitsbegriffs auf das Handeln des Menschen ist und dabei zuletzt auch auf eine religiös besondere Technikethik zielt, dann gilt es, Tillichs Ausführungen zu den einzelnen Bereichen zusammenfassend zu verstehen. Zunächst ist die Differenz von philosophischer und theologischer Ethik wichtig. Denn während philosophisch abstrakte Normen aufgestellt werden und auf das Feld des jeweiligen Handelns angewendet werden, werden in der theologischen Ethik auf jedem Feld bleibende Antinomien beschrieben, und es wird gerade im jeweiligen Feld inhaltlich spezifisch diese Antinomie als Ort der Durchsetzung Gottes aufgefasst. Damit wird das Paradox ethisch relevant.⁵⁵ Im ethischen Bereich (im engeren Sinn) bestimmt der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft, von Selbstverwirklichung und Altruismus (bzw. in Tillichs Terminologie Wahrheit und Liebe) das Handeln. Er wird als sittliches ,Pro-

 „Nur ein mit mechanischen Kategorien gebildeter Freiheitsbegriff sieht hier einen Gegensatz; wer die Freiheit als lebendige Tat des sich Erhebens über seine eigne Gebundenheit erfaßt hat, sieht ein, daß Freiheit immer Tat Gottes im Menschen ist.“ (382)  „Die philosophische Ethik hat den konkreten Gemeinschaftsformen gegenüber die Aufgabe, die Idee jeder dieser Gemeinschaften systematisch zu entwickeln ohne Rücksicht auf die Widerstände, die der Zustand der Sündhaftigkeit ihrer Verwirklichung entgegenstellt. Die theologische Ethik hat diese Widerstände […] als Voraussetzung […] aufzunehmen und zu zeigen, wie durch das theologische Paradox trotz des Widerstandes die Gemeinschaft verwirklicht werden kann.“ (400)

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blemʻ in Familie, Staat, Gesellschaft und Kirche behandelt. Die theologische Behandlung überbrückt Absolutes und Relatives (Kirche), individuelle Würde und gesellschaftliche Bedeutung des Einzelnen (Gesellschaft und Soziales), Naturordnung und Freiheit (Staat) sowie Erziehung und Verzeihung (Familie). In der Kulturethik dagegen geht es nicht um sittliche Normen, sondern um die Dialektik von Natur und Geist. Das theologische Paradox führt hier Freiheitsgeschichte und Weltgeschichte zusammen. Im Feld der Technik geschieht dies, indem Beherrschung der Welt als Bestandteil der Reich-Gottes-Geschichte durchsichtig wird, ohne dass die natürliche Askese des Glaubens zur Weltverneinung führt und ohne dass die bleibende Gegenständlichkeit der Welt zur Verzweiflung des Geistes führt. Im Staat wird das Schwanken zwischen inhaltsleerer Ordnungsfunktion und historisch gefüllter Willkür, welche beide als einzige Begründung und Norm des Staates die Freiheit des Individuums vernichten würden, mit der Kirche verbunden. Die Kirche steht für die immer notwendige Kritik an den bestimmten staatlichen Vorgaben, doch zugleich stützt sie das Sein und die Notwendigkeit des Staates in absoluter Weise. Soziale Gerechtigkeit hingegen will human allgemeingültig sein, verzichtet aber auf die Einbeziehung der Einzelnen und ihres Lebenssinns in diese Allgemeingültigkeit. Die christliche Liebe vermittelt personale Karität und allgemeines humanes Ethos. Als letztes Element der Kultur gilt dieselbe Überwindung schließlich dem Verhältnis von Wissenschaft und Dogma. Als Wissenschaft ist die Theologie immer nur konkret und drückt das Ewige in ihr nicht adäquat aus. Die moderne Wissenschaft hingegen hat die Wahrheitsbindung vom Gottesgedanken gelöst und verallgemeinert. Die Kunst schließlich wird dem Kultus zugeordnet, womit jedes Feld kulturellen Handelns einen theologischen Gegenbegriff bekommt, wie Reich Gottes bei der Technik, Kirche beim Staat und Liebe bei der Humanität. Tillich geht (wieder) von dem im Reflexionsstandpunkt beschriebenen Problem der Sündhaftigkeit aus und wendet es auf die Kunst an. Die Philosophie des Ästhetischen umfasst bereits die Durchdringung von Stoff (Natur) mit Form (Geist), welcher Durchdringung damit aber der entscheidende „Gehalt selbst“ (423) fehlt. Indem in der Kunst der Geist der Materie seinen Willen aufdrängt, wird auch die Kunst zum Ort der Selbstdurchsetzung des von Gott getrennten Geistes. Je mehr in der Kunst deshalb die Materie zum Ort der Darstellung des Geistes wird, also mit der Entwicklung der Kunst in der Geschichte, umso mehr wird das ‚Ewige‘ in der Kunst vermisst. Die Lösung liegt in einer unterschichtigen Realisierung der Kunst als Kultus, welche Verbindung von der Kirche gelöst und auf alle Kunst angewendet wird. In der freien Kunst wird also der Kultus von seiner Konkretheit und Besonderheit befreit, als wahre Kunst wird zugleich die Kunst mit der Religion verbunden und als Ort der Realisierung Gottes in der freien Tätigkeit des Geistes sichtbar.

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3.6 Zusammenfassung Der Ausgangspunkt bei der Sündenlehre im 19. Jahrhundert und insbesondere der Frage nach dem Verhältnis von Entwicklungsgeschichte, Reflexionsgeschichte und Offenbarungsgeschichte im Akt der Überwindung der Sünde zeigt den theologischen Sinn auf, den Tillich mit der Ineinanderdeutung von Freiheitsentwicklung und Heilsbewusstsein verbindet. Dieser Ausgang zeigt überdies, wie Kultur- (mit Religions‐)geschichte und Aktreflexion miteinander zusammenhängen. In der Religion, die als Akt des Einzelnen, als Kulturgeschichte und als (objektive) Offenbarungsgeschichte gesehen werden kann, kommen die verschiedenen Aspekte zusammen. Sie ist sowohl Repräsentanz der Struktur desjenigen reflexiven Aktes, der sich an allen kulturellen Gebilden, Gedanken und Handlungen des Menschen ereignen soll, als auch ein realer Akt, also ein SichEreignen der Struktur in der Geschichte. Der Entwicklungs- und Geschichtsaspekt ist deshalb besser als ein Prozessoder Bewegungsbegriff zu deuten. Das Religiöse ist der prozessuale Richtungssinn im Geschehen der Welt. Er deutet Freiheit unter dem Aspekt des Bezogenseins auf das Ganze. Religion fordert die Verwirklichung des Weltlichen, der Kultur und des Menschen in Freiheit und Selbstbestimmung. Nur an dieser sich realisierenden Verwirklichung, aus der nichts ausgeschlossen werden kann, was Gottes Schöpfung ist, die also nicht menschlichen Geist gegen die Natur setzt, kann sich eine deutende Einstimmung in Gott als Grund und Ziel des Prozesses ereignen. Zeitvorstellungen werden bewusst zur Formulierung des Prozessbewusstseins verwendet und dann außer Kraft gesetzt: „Das ist der Sinn des Weltprozesses, der Sünde und des Sterbens und der Erlösung, daß aus der Einheit Gemeinschaft werde, aus dem Leben Gottes Reich Gottes. Das ist der Sinn der Sünde [!], daß sie der Durchgang ist von der Einheit zur Gemeinschaft.“ (375) Jedoch: „[W]as zeitliches Denken in Anfang und Ende zerlegt, das ist in Ewigkeit nicht zu trennen; und danach ist der Unterschied auch in Ewigkeit gesetzt und mit dem Unterschied auch die Sünde und die Erlösung.“ (375) Gott ist Ausdruck für die Struktur des Dauergeschehens von Sünde zu Erlösung, ist die Potentialität dessen, in der Freiheitsverwirklichung Gottes Willen am Werk zu sehen. Als ‚Durchgang‘ bekommt die Sünde ein Moment der Notwendigkeit. Die soteriologische Funktion ohne Sünde, also supralapsarisch, wäre nicht denkbar, denn diese ist ein bleibender Bestandteil der Soteriologie (und damit der Schöpfung Gottes) selbst.

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4 Die Dresdener Dogmatik⁵⁶ 4.1 Übergang: Sünde als schöpferische Tat Das System von 1913 funktioniert durch ein absolutes Moment des Ablaufs. Gott als das Absolute setzt den Prozess in Gang und steuert ihn auf sich hin. Sein Sinn im System besteht in der Setzung des Bewegungs- und Richtungssinns der Entwicklung. An jedem Punkt des Systems kann sowohl der Gesamtzusammenhang der Entwicklung im Absoluten als auch die Externität der Entwicklungssetzung erkannt werden. Deshalb kann Tillich den theologischen Standpunkt einfach ‚von Gott aus‘ formulieren. Für das jeweilige Moment der Entwicklung besteht der Sinn der Neudeutung von Gott aus darin, jenseits der Begründung als Einzelmoment auch die eigene (Durchgangs‐)Funktionalität für das Ganze reflexiv einzuholen. Sünde ist das Sein der Einzelheit ohne Berücksichtigung seines Einbezogenseins in die Entwicklung des Absoluten. Tillich hat diese Grundlegung des Systems am Ende des Ersten Weltkriegs fallengelassen. Der Briefwechsel mit Hirsch gibt Auskunft über eine subjektivitätstheoretische Neufassung der Grundlagen. Am Anfang steht nun eine zuständliche Form des Selbstbewusstseins, das sich noch nicht bestimmt, vereinzelt, konkretisiert oder vergegenständlicht hat. Der Prozess der Entwicklung wird jetzt nicht mehr wie im idealistischen Denksystem durch eine immanente und ungedeutete Fortschrittssetzung verursacht, sondern er wird dem Bewusstsein zugerechnet und als seine Tat verstanden. Diese Tat ist dann ‚Objektivation‘ des zuständlichen Bewusstseins, und solche Objektivationen sind die Grundlage der Welt und ihres Seins. ‚Kultur‘ ist Schöpfung des Bewusstseins, weil in ihr Bestimmung und Konkretisierung des Denkens im weitesten Sinn erfolgen. Dadurch wird Sünde zu einem Element der grundlegenden schöpferischen Tat des Bewusstseins. Sie ist in jedem Moment der Selbst- und Weiterbestimmung enthalten.⁵⁷ Und die Rechtfertigung der Sünde kann verstanden werden als reflexive Einholung der Begründung aller konkretisierenden und kultursetzenden Akte durch das zuständliche Bewusstsein. Reflexion wäre dann das Innewerden des

 Alle nachfolgend in diesem Abschnitt angegebenen Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf: EW XIV.  „Innerhalb dieser Dialektik steht nun die Kultur. Die Wissenschaft […], die Kunst […], das Gemeinschaftsleben […]. Für alle drei gilt die Dialektik des Negativen und Positiven, die im Unendlichkeitsbewußtsein liegt; ihre positive Einheit ist die ‚Schöpfung‘, ihre negative der ‚Zerfall‘. In jeder Kulturschöpfung liegen die negativen Elemente und in jeder Zerfallserscheinung die positiven“ (EW VI, 119).

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zuständlichen Urbewusstseins als Grundlage für konkretes Bewusstsein. Die Rückkehr zu Gott wird damit entschiedener als zuvor auf die Ebene der Reflexion gehoben. Durchbruch und Ereignishaftigkeit des Rechtfertigungsgeschehens sind die neuen Kennzeichen der teleologisch-eschatologischen Anlage des Denkens.

4.2 Aufbau: Die Gotteslehre im Verhältnis zu Schöpfung, Sünde und Dämonie Die Dresdener Dogmatik nimmt Ideen des Systems von 1913 auf, schneidet aber dessen Ausgang in einer Theorie des Absoluten ab. Der anhand des Briefwechsels mit Hirsch erkennbare Neuaufbau des Denkens auf einem bewussten Akt und seiner objektivierenden Selbstbestimmung wird theologisch so angewendet, dass der theologische Standpunkt – der früher in der Lehre von der sich im absoluten Denken äußernden absoluten Wahrheit als drittes Moment eingeführt wurde – jetzt zum Ausgangspunkt des gesamten theologischen Denkens wird. Diese Lehre vom theologischen Standpunkt ist in der Dresdener Dogmatik durch die in allen Teilüberschriften vermerkte Thematisierung der Lehrinhalte jeweils ‚in der vollkommenen Offenbarung’ (statt ‚von Gott aus‘) aufgenommen. Zugleich aber werden die inhaltlichen Bestandteile der beiden anderen Standpunkte, nämlich des Standpunkts der Intuition (oder der Einheit oder der Eindeutigkeit) und des Standpunkts der Reflexion (oder des Widerspruchs oder der Zweideutigkeit) innerhalb des theologischen Standpunkts neu verhandelt. Damit ist schon angedeutet, dass die abgeschnittenen Systemteile nicht verlorengegeben, sondern neu eingeordnet werden. Zu dieser gebündelten Neuformulierung dient auch ein weiterer Aufbauschritt, nämlich das Ineinanderschieben vom theologischen Standpunkt der Absolutheitslehre und dem methodischen Ausgang der Dogmatik von der Gotteslehre. Die Gotteslehre kam im System von 1913 als ein Bestandteil des theologischen Standpunkts (neben der einleitenden Rechtfertigungslehre und der abschließenden weltbezogenen Ethik) zu stehen. Die Dogmatik wurde als Lehre von Gott konzipiert, und in der Lehre von Gott wurden die grundlegenden philosophischen Bestandteile der Absolutheitstheorie der Reihe nach mit den klassischen Elementen der Eigenschaftslehre wiederum genannt. Diese Form der Gotteslehre bleibt grundsätzlich auch das Aufbauprinzip der gesamten Dresdener Dogmatik, insofern alle Lehrstücke zweigeteilt sind und zunächst die kosmologisch-anthropologischen Bedingungen klären (die vorher in der philosophischen Grundlegung der Theologie genannt wurden), während abschließend die entsprechende Gotteslehre formuliert wird. Die im System 1913 vorweg ausgeführten Elemente einer grundlegenden Theorie des Absoluten (nämlich einerseits als Lehre vom menschlichen Denken und an-

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dererseits als Ausprägung dieses Denkens in den verschiedenen Formen der menschlichen Selbstorganisation und Weltbeherrschung) werden in die Gotteslehre eingeschoben und so beides abwechselnd verhandelt, womit das spätere Schema von Frage und Antwort vorgebildet ist. Für die Lehre von der Sünde und dem Dämonischen heißt dies, dass die Lehre von Gott als Schöpfer, dann vom Zorn Gottes und schließlich seiner Weltregierung als Vorsehung aufgenommen wird, dass aber die Elemente der Absolutheitslehre, die die Setzung der ursprünglichen Einheit und dann des notwendigen Widerspruchs des Individuellen benennen, in diese Abfolge der Gotteslehre-Elemente eingeschoben werden. Es bildet sich dadurch ein erster Kreis der dogmatischen Lehre, der inhaltlich gesehen klassische Elemente der Schöpfungslehre aufnimmt. Diese wird aber von Tillich dadurch entscheidend verändert, dass die Sündenlehre direkt mit der Schöpfungslehre verbunden wird und beides eine Grundstruktur alles Seienden bildet, die dem geschichtlichen Selbstverhältnis des Bewusstseins (und seiner religiös ausgesagten Reflexionsvollzugsstruktur) vorausliegt. Dabei betrifft die Grundstruktur auch die kultur- und sozialgeschichtlichen Handlungen des Menschen. Die Schöpfungslehre ist also keine statische Lehre vom Sein und von der Natur unabhängig von ihrem Sein in der Geschichte, sondern eigentlich im Gegenteil: Sie ist eine religiöse Sinn-Lehre von der Geschichte der Welt, in der der Mensch lebt, vor ihrer reflexiven Sinn- und Selbsterschließungsqualität bzw. religiös gesprochen, vor der Heilsoffenbarung. Diese liegt dann erst der religiösen Offenbarungslehre in der Christologie zu Grunde. Genauer wäre also zu sagen, dass (auch) der erste Teil der Dogmatik die Grundstruktur desjenigen aktuosen Bewusstseins des Menschen beschreibt, mit dessen Vollzug die Welt bzw. die Natur des Seins der Welt (auch in Handlungen und geschichtlichen Entscheidungen) gesetzt und bestimmt wird. Die Schöpfungslehre als Ganze, die Tillich eine Lehre von der Natur des Seienden nennt, ist also eine Lehre von der Grundstruktur des geschichtlichen Seins der Welt und des geschichtlichen Handelns des Menschen. Insofern ist das Ziel des ersten Teils der Dogmatik nicht so sehr in der Beschreibung des Dämonischen selbst zu sehen, sondern erst in seiner Verbindung mit der Vorsehung. Erst in dem Gesamtzusammenhang von erstens durch das Absolute gesetzter Einheit alles Seienden, zweitens der Widerspruchsstruktur des Einzelnen und alles faktischen (weil einzelnen) Geschehens in der Welt und drittens dem tatsächlichen Zusammensein von Einheit und Widerspruch in einer die Welt ausmachenden Struktur von Zeitlichkeit erreicht der erste Teil der Dogmatik sein religiöses Ziel. Dieser Zeitlichkeit unterliegt alles Handeln des Menschen im Kontext von Technik, Kultur und Sozialem, sofern es eben noch nicht in religiöse Sinnstiftung überführt ist. Da aber diese Struktur der Zeitlichkeit als ihr letzter, durch das Absolute gesetzter innerer Sinn ausgesagt wird, also die notwendige

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Abkünftigkeit dieser Struktur aus dem Absoluten (bzw. dem absoluten Akt) infolge ihrer Setzung und Bestimmung durch dieses erkannt wird, handelt es sich notwendig um eine religiöse Lehre von der Welt als Schöpfung, die dann der Offenbarungslehre weiterhin zu Grunde liegt.

4.3 Unterscheidung von Sünde und Dämonie Entscheidend für das Verständnis des Dämonischen in der Dogmatik ist sein Verhältnis zur Sünde. Dabei darf aber im Aufbau der Dresdener Dogmatik nicht nur die Differenz von Sünde und Dämonie beachtet werden, sondern auch der Zusammenhang von Sünde und Dämonischem mit der Schöpfung. Das Dämonische ist nicht nur ein Unterpunkt der Sündenlehre. Vielmehr könnte man eher umgekehrt sagen, dass Schöpfungs- und Sündenlehre Unterpunkte der Lehre vom Dämonischen sind. Das Dämonische fasst die beiden vorigen Lehrpunkte zu einem einheitlichen Gesamtbild der Welt zusammen. Die Lehre von der Schöpfung beschreibt zunächst die Eindeutigkeit alles Geschaffenen infolge dieses Geschaffenheits-Charakters (sie nimmt also den Standpunkt der Intuition aus der Absolutheitslehre von 1913 auf). Die Lehre von der Sünde hingegen setzt dieser Eindeutigkeit dann die ebenfalls infolge des Geschaffenwerdens auftretende Zweideutigkeit alles einzelnen Wirklichen entgegen. (Hier wird der frühere Reflexionsstandpunkt aufgenommen.) In der Lehre vom Dämonischen dann wird drittens das faktische Zusammensein von Ein- und Zweideutigkeit (entsprechend der vorherigen Paradoxstruktur im theologischen Standpunkt) in allem einzelnen Geschehen und Sein in der Welt verhandelt. Schöpfung und Sünde beschreiben nur zwei isolierte Elemente der Struktur des Seins, erst das Dämonische gibt das Gesamtbild wieder und beschreibt, wie Welt, Sein und Zeit wirklich beschaffen sind. Schöpfung und Sünde werden also beide in das Dämonische aufgehoben. Tillichs Auskünfte über das Dämonische gehen immer von dieser Doppelstruktur, dem Zusammensein von Ein- und Zweideutigkeit, aus. Das Zusammensein ergibt dabei eine neue Qualität des Seins – es ist nicht nur eine weitere Ausführung des Zweideutigkeitscharakters. Zwar mag man sich fragen, auch im Hinblick auf die Verständlichkeit der Dogmatik, ob nicht eine umgekehrte Benennung besser gewesen wäre. Denn der Ursprung und das Wesen der Sünde hätten sicherlich ebenfalls unter dem verschärfenden Sigel des Dämonischen verhandelt werden können, so dass dann der Sündenbegriff frei gewesen wäre für eine verständliche Beschreibung der wirklichen Welt, in der der Mensch faktisch lebt. Aber Tillich hält, auch aufgrund seines permanenten Mithörens eines positiven Aspekts im Dämonischen, im Kontext der Dresdener Dogmatik und der Theologie der 20er

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Jahre konsequent an dieser Zuordnung fest. Damit kann er den aktuellen Debattenbegriff der Dämonie der modernen Welt aufnehmen und besetzen, er kann die theologische Sündenlehre vertiefen zu einer Strukturbeschreibung von Freiheit in der Moderne.

4.4 Dämonie und Kultur- bzw. Sozialgeschichte Um die Zuordnung der Lehre vom Dämonischen vollständig zu erkennen, ist eine Abgrenzung gegen den zweiten Teil der Dresdener Dogmatik, die Lehre von der Offenbarung (Jesu Christi) in der Geschichte, notwendig. Eine solche Abgrenzung ist in dem System von 1913 nicht erkennbar. Hier dominiert das Absolute als Ausgangs- und als Zielbegriff jederzeit die Gesamtentwicklung der Systeminhalte. Insofern ergibt sich ein durchgehender Zug der Wiedereinbringung der individualisierten Schöpfung. Bis hin zum Eschaton ist die Grundstruktur des Geschehens durch die Überwindung des Getrennten in Gott selbst festgelegt. In den 20er Jahren hingegen teilt Tillich die Aussagen auf drei verschiedene Gebiete (Schöpfung, Christusoffenbarung und eschatologische Vollendung) auf. Im Zuge einer verallgemeinernden Entgrenzung der Anthropologie und Christologie wird zunehmend die Grundoffenbarung Gottes in der Welt als ein eigener Teil des menschlichen Lebens – außerhalb der christlichen Religion – betont. Diese neue Betonung der Schöpfung richtet sich explizit gegen die Theologie Barths, die den Offenbarungsgedanken und damit die soteriologisch-anthropologische Orientierung der Religion in den Mittelpunkt stellt.⁵⁸ Tillich beharrt darauf, dass theologisch auch Aussagen über die Gottesbindung der Schöpfung möglich sind, die in einer relativen Unabhängigkeit zur Soteriologie stehen.Wie gesehen, umgeht er ein Problem dieser Aussagen, nämlich ihre Unabhängigkeit vom göttlichen Heilswillen, dadurch, dass er die Sünde nicht anthropologisch (oder moralisch) fasst, sondern sie zu einem Grundgedanken des geschaffenen Seins selbst erklärt. Gott ist in seinem Wesen darauf festgelegt, die Sünde zu überwinden. Aber diese Aussage engt ihn gerade nicht auf den Bereich der Sünde und der menschlichen Selbstbeurteilung ein, sondern erweitert umgekehrt die Notwendigkeit der soteriologischen Zuwendung Gottes auf die Gesamtheit des Seins überhaupt. Die inhaltliche Strukturierung der auseinanderfallenden und sich momentan soteriologisch verselbständigenden Teilbereiche Schöpfung und Christusoffen-

 Vgl. M. Murrmann-Kahl, Einleitung (I 9 – 83), in: C. Danz (Hg.), Paul Tillichs „Systematische Theologie“. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar, Berlin/Boston 2017, 15 – 34, bes. 22 f.

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barung geschieht nun dadurch, dass die Schöpfungslehre als Ausformulierung der Kultur- und Sozialphilosophie zu stehen kommt, während die Christologie umgekehrt die Bemerkungen zur Religion und zur Religionsgeschichte aufnimmt. Die Christologie ist als Lehre von der geschichtlichen Offenbarung eine reflexionsund vollzugsorientierte Religionsphilosophie. Sie nimmt die schon 1913 unternommenen Unterscheidungen von sozialbezogener Reflexion technischen Tuns und religiöser Symbolwelt zur Darstellung der Beziehung auf das Absolute auf. Dadurch bekommt die Christologie einen auf die religiöse Kultur bzw. die geschichtlichen Religionen selbst bezogenen symbolkritischen Unterton. Die Religionen werden selbst als Geschichte hin zur kritischen Selbstreflexion der Religion durchsichtig. Allerdings bleibt diese Religionengeschichte zugleich auf die Sozialphilosophie bezogen, insofern die religiösen Implikationen kultureller und sozialer Gebilde in ihr mitbedacht werden. Deshalb bleibt der teleologische Zug des frühen Systems momentan auch nach der Trennung von Schöpfungslehre und Christologie erhalten. Für die Schöpfungslehre als Ganze, also auch die Teillehren von der Sünde und dem Dämonischen, heißt dies, dass sie diejenigen bewussten Akte der menschlichen Weltgestaltung thematisieren, die dem Erkennen und Gestalten der Welt (in momentaner Unabhängigkeit von der explizit religiösen Symbolwelt) jederzeit zu Grunde liegen. Damit nimmt Tillich die aporetische Strukturierung der Kultur- und Sozialphilosophie aus dem System von 1913 auf. Staat,Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft sind die autonomen Bereiche der Kultur, in denen Gegebenes in freier Produktivität des Menschen verarbeitet wird. Sünden- und Dämonielehre sind so angelegt, dass die innere Aporetik und (schöpfungs‐)notwendige Widersprüchlichkeit dieses Tuns aufgezeigt wird.⁵⁹ Allerdings wird in den 20er Jahren noch stärker die bleibende Strukturiertheit der Welt unabhängig von der religiösen Heilsoffenbarung betont. Es wird eine eigene religiöse Deutung der Autonomie der Welt vorgenommen, die nicht sofort in die christologisch bestimmte Soteriologie überführt werden muss, sondern in der Anschauung Gottes im Vorsehungsglauben inhaltlich bestimmt wird. Es wäre deshalb falsch, aufgrund der Begriffsbestimmung des ‚Dämonischen‘ die positiven Züge der autonom verfassten kulturellen und sozialen Welt außer Acht zu lassen.⁶⁰ Vielmehr muss

 So schon 1913: „Die Menschheit ist also der Schauplatz des Kampfes zwischen Organisation und Desorganisation, lebendiger Einheit und erstarrender Vereinzelung. Für die einzelnen Formen und Phasen dieses Kampfes ist zu verweisen auf die Paragraphen über Philosophie des Geistes.“ (EW IX, 342)  Tillich spricht selbst von der ‚Positivität des Dämonischen‘: „Darum sind es auch keineswegs die Extreme der Wesenswidrigkeit, an denen das Dämonische sich offenbaren würde […], sondern nur dann, wenn sie getragen sind von einer entsprechenden positiven Mächtigkeit. Sonst ver-

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umgekehrt die Einbindung der Sünde in der Dämonie ernst genommen werden: Insofern die schöpferische Produktivität Gottes in die Sündhaftigkeit des Einzelnen mit aufgenommen wird, und insofern die Wirklichkeit der Welt nur als ein jederzeitiges Zusammensein von Einheit (Eindeutigkeit) und Widerspruch (Zweideutigkeit) behauptet wird, werden die zerstörerischen Bestandteile der freien Selbstbestimmung eingefangen und durch den Bezug auf Gottes Schöpfung einerseits als notwendig (und so als notwendige Bestandteile der von Gott gewollten Welt) behauptet, andererseits aber auch in ihrer positiven Funktion für die menschliche Weltgestaltung legitimiert. So gesehen ist die Lehre vom Dämonischen in ihrer Ausführung als Erhaltungs- und Vorsehungslehre eine Lehre von der Berechtigung der Freiheitsbeanspruchung des Menschen. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass eine am Aufbau der Dresdener Dogmatik orientierte Lektüre nicht nur die sozialphilosophischen Bestandteile der Dämonielehre herausarbeiten muss, sondern auch die kategorialen und ontologischen Elemente des Seins, die sich durch die Schöpfungslehre insgesamt ziehen, benennen sollte. Tillichs Lehre von den Seinsstufen ist noch an den idealistisch-dialektischen Aufbaugedanken des Systems von 1913 orientiert. Dieser Aufbau wirkt sich auch in den 20er Jahren als untergründige soteriologisch-eschatologische Triebkraft auf das Gesamtsystem aus, auch wenn die Seinslehre eine eigene religiöse ‚Zielbestimmung‘ bekommt. Die Stufen des Seins betreffen den Aufbau der Wirklichkeit insgesamt, aber sie haben ihr (wirklichkeits-, nicht religionsbezogenes) Ziel in der freien Geistigkeit des Menschen, wie sie sich in der Selbstorganisation und -bestimmung im Individuum und im Sozialen ausprägt. Tillich unterscheidet in der Schöpfungslehre im engeren Sinn die formale Bestimmung des Seins⁶¹ von seinen materialen Stufen.⁶² Diese Bestimmungen werden in den folgenden beiden Teilen der Schöpfungslehre (Sünde, Dämonie) aufgenommen und in ihrer Widersprüchlichkeit (Sünde) bzw. dem Zusammen von Gegeben- und Reflektiertsein (Dämonisches) thematisiert.⁶³

dunkelt gerade die Wesenswidrigkeit in ihrer offenkundigen Entfaltung die Zweideutigkeit und Positivität des Dämonischen. Es nähert sich dem Satanischen. Dieses aber hat keine Existenz, weil es das Negative, die Gestalt nur Zerstörende, nicht auch Tragende ist.“ (EW XIV, 227)  Macht und Bewusstheit, Raum und Zeit; vgl. § 31.  Leben, Person, Wesen bzw. Essenz; vgl. § 32.  Vgl. F.Wittekind, Das Sein und die Frage nach Gott (I 193 – 245), in: C. Danz (Hg.), Paul Tillichs „Systematische Theologie“. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar, Berlin/Boston 2017, 93 – 116.

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4.5 Dämonie und Erhaltung: Antinomie und Kontingenz Das System von 1913 verhandelt die Gotteslehre in der Reihenfolge Schöpfung der Welt, Schöpfung des Menschen, Vollendung der Schöpfung als Vorsehung, Sündenfall, Sündhaftigkeit der Welt und Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Theodizee. In der Dresdener Dogmatik wird der Vorsehungsabschnitt verschoben und in den von Gottes in der Geschichte geltender Gerechtigkeit eingeordnet. Damit wird Gottes Heilsplan und das Ziel der Welt aus seiner Abstraktheit herausgenommen und mit dem realen Geschichtsverlauf verknüpft. Die Vorsehungslehre wird zu einer Lehre vom religiösen Sinn der Geschichte. Vorgeschaltet wird der Vorsehung die Lehre von der Erhaltung der Welt. In der Erhaltung wird das Sein von Natur und Geist als a) geschaffen, b) nach einzelnem Sein strebend und c) darin gleichwohl als Geschaffenes seiend beschrieben. Das letzte Moment umfasst auch die Zerstörung des Einzelnen. Tillich trennt die Erhaltung der Existenz von der Erhaltung des Sinns der Existenz.⁶⁴ Als geschichtlich existierendes Einzelnes ist alles Einzelne der Vernichtung preisgegeben. Aber im Vorsehungsglauben wird dem Einzelnen trotz des Wissens um sein Ende ein in ihm selbst liegender Sinn zugesprochen. Dieser Sinn wird, um einem blanken Ereignispositivismus zu entgehen, negativ-kritisch als „Teilhabe des Selbst an der unbedingten Seinsfülle“ (233), als Erfahrung der die Selbstheit negierenden Transzendenz beschrieben und diese Teilhabe nicht als Erlebnis und Erfahrung (des Selbst), sondern als im Widerspruch dazu stehender Glaube gefasst. Verdeutlicht man sich, dass die Erhaltungslehre nicht ein Bestandteil der Schöpfungslehre ist, sondern im Kontext des Dämonischen den Sinn hat, Schöpfung und Sünde miteinander zu verbinden, dann wird Erhaltung nicht zu einer abstrakten Aussage über Gottes Wirken an der Welt, sondern sie wird zu einer Beschreibung des realen Seins der Dinge. Sie verbindet das potenzielle Nichtsein der Dinge mit dem Eigenrecht alles Bestimmten. Oder in Bezug auf das menschliche Bewusstsein gesprochen: Erhaltung verdeutlicht die Antinomie von

 „Die Frage ist nicht, ob das Zerstörerische die Existenz angreift, sondern ob es den Sinn der Existenz angreift. Die vorausgehende Frage [sc. § 39] war die nach der Erhaltung der Existenz. Die gegenwärtige [sc. § 40] ist die nach der Erhaltung des Sinnes. Diese Frage ist im Urstand nicht als Frage. Denn jeder Moment des Lebensprocesses ist die Antwort.“ (231 f.) In der Frage nach dem Sinn wird der (Welt‐)Prozess also als zusammenhängender, d. h. als Geschichte erkannt, nicht nur in seinem jeweiligen momenthaften Sein. Dadurch entsteht die Frage nach dem Sinn der vergehenden Einzelheiten. Die Geschichtsphilosophie der ‚dämonischen‘ Vorsehungslehre dient dem Zweck, diesen Sinn von der Ganzheits- und Zielebene zu verschieben auf die Wahrnehmung der tatsächlichen geschichtlichen Ereignisse. Ihr Sinn liegt nicht in einem ihnen fernen Ziel des Ganzen, sondern in ihrer momentanen Existenz, in ihrem Sich-Ereignen.

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autonomer Setzung, freier Konstruktion und Seinsmächtigkeit des Menschen einerseits und dem Sich-nicht-so-gesetzt-Haben und insofern kontingenten Begründungsselbstverhältnis andererseits. Die menschliche Freiheit schwebt über einem antinomischen Selbstverhältnis des Geistes, das selbst nur an der allgemeinen antinomischen Struktur des Seins aller Dinge partizipiert.

4.6 Dämonie und Vorsehung: Ereignis und Zusammenhang Der Vorsehungsglaube gilt der geschichtlichen Wirklichkeit, die von der antinomischen Struktur der Erhaltung getragen wird. Damit ist der Widerspruch alles Einzelnen und aller Größen gegen das ‚Ganze‘ bereits mitberücksichtigt. Die Vorsehung wird von Tillich gerade als Gegenstück zu einer heilsgeschichtlichen (oder universalgeschichtlichen) Ganzheitssinndeutung der Geschichte konzipiert. Diese Beanspruchung eines religiösen Wissens um den Sinn des Ganzen hielte er für naiv: „Wir erleben die Sinnwidrigkeit so tief, daß wir auch nicht einmal mehr von einem geschlossenen Sinnzusammenhang reden können.“ (233) Vorsehung bezieht sich auf das geschichtliche Ereignis selbst, aber nicht in seiner reinen Gegebenheit. „Wir können also viel eher davon reden, daß in jedem Augenblick sich der Sinn neu konstituiert.“ (ebd.) Das dafür in Anspruch genommene Ganze („in dem Form- und Kosmos-Charakter sich manifestierende Sinnhaftigkeit“, [224]) ist kein reales Ganzes, sondern eine schöpferische Transzendenz. Als solche ist sie auch kein Trost und keine Überhöhung. Vielmehr gilt sie zugleich mit der Einsicht in den Tod und Vernichtung des Einzelnen. Dem Tod selbst wird kein Sinn zugesprochen, der immer nur eine ideologische Vertröstung sein könnte. Vielmehr kommt Tillich zu dem Schluss, dass die Vorsehung „nicht den Sinn [hat], daß ein für mich bester Plan an meinem Leben abläuft, sondern […] den Sinn, daß jedes Geschehen eine direkt schöpferische Verwirklichung meines ewigen Sinnes in sich birgt […]“ (234 f.). Der mit der Vorsehung geglaubte Sinn des Geschehens ist ein Strukturprinzip alles sich geschichtlich Ereignenden. Tillich lehnt es deshalb in einem weiteren Schritt konsequent ab, irgendwelche Aussagen über einzelne Ereignisse zu machen, die eine Wertung, eine Differenz von Einzelereignissen umfassen könnten. Fragen nach dem Übel, der Zulassung des Übels, seinem pädagogischen oder moralisch-religiösen Sinn als Strafe oder Mahnung sowie nach der Theodizee Gottes angesichts schrecklicher Ereignisse in der Welt sind nicht möglich. Jedes Ereignis kann prinzipiell sinnvoll oder sinnnegierend sein. Festlegungen des Sinns von Geschichte auf Freiheitswahl und ihre Konsequenz oder aber Schicksal und Kontingenz sind falsch. Der Konsequenz, dass sinnlose und verbrecherische Taten Sinn haben könnten, wird nur dadurch ausgewichen, dass Sinn im weltli-

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chen Kontext ganz aufgehoben wird. Das Dämonische verleiht zwar jedem Geschehen einen schöpferischen Sinn – aber, wie gesehen, ist dieser Sinn nicht selbst als geschichtlicher ausweisbar. Von daher formuliert Tillich schließlich auch Hegels Lehre von der List der Vernunft in der Geschichte um. Es geht bei der List nicht um ein Wissen der Vernunft oder des Menschen von einem sich „hintenherum“ (249) durchsetzenden Sinn. Sondern „es sind schöpferische Neusetzungen, […] individuelle geschichtliche Wirklichkeiten, und schließlich ein Zusammenhang der Heilsgeschichte, der das Dämonische in den Dingen überwindet“ (ebd.). Damit ist der transzendente Geschehenssinn für das Einzelne wieder aufgerufen. Tillich nimmt die Zuspitzung der Sündenlehre auf die Prozesshaftigkeit der Geschichte also auf, aber er denkt diese Prozesshaftigkeit nicht als einen realen Sinn im einzelnen Geschehen, nicht als ein tatsächliches Hingeordnetsein auf das Reich Gottes, das sich geschichtlich durchsetzen könnte. Vielmehr ist dieses Hingeordnetsein auf Sinn im Sich-Ereignen selbst möglich, es ist die mögliche Grundstruktur geschichtlichen Seins, ein potenzielles Erschlossenwerden der Geschichte in religiöser Deutung.⁶⁵

4.7 Dämonie und Schicksal: Freiheit und Bestimmung In der neuformulierten Lehre vom Schicksal nimmt Tillich die urstandsanthropologischen Überlegungen zur Freiheit von 1913 auf ⁶⁶ und verbindet sie wiederum mit der dämonischen Grundstruktur nach dem Sündenfall. Die Bestimmung des Menschen kann dadurch von einem schöpfungsgegebenen Sein zu einer selbstvollzogenen Größe werden. Existenzialistische Ideen zur Schaffung der Essenz in der Existenz werden vorformuliert. Andererseits partizipiert auch die Freiheit der Selbstbestimmung an dem geschöpflichen Charakter alles Seins. Freiheit ist zugleich notwendig, sie ist gegeben; und sie ist frei, sie ist zu verwirklichen. Diesen Doppelcharakter verdeutlicht Tillich mit dem Schicksalsgedanken, indem er ihn christlich gegen die antike Vorstellung des Schicksals profiliert. Schicksal ist, von einem geschichtsphilosophisch einsichtigeren Standpunkt aus, nicht das Gegenteil der Freiheit, sondern ihre Bestimmung.

 Tillich formuliert im Hauptsatz des Paragraphen, dass der Welt „Sinn sowie der Sinn jedes Einzelnen in ihr zur Erfüllung kommen kann“ (228) und weist in den Erläuterungen darauf hin, der Satz „ist so formuliert, daß er nicht eine Wirklichkeit, sondern eine Möglichkeit enthält“ (236). Die Welt ist auf den Vorsehungsglauben hin angelegt, aber er ist nicht zwangsweise in ihr realisiert.  Vgl. EW IX, 334 f.

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Umgekehrt ist der freie Selbstvollzug ein notwendiges Implikat des Schicksalsgedankens, ohne den es gar nicht als Schicksal zugerechnet werden könnte. Tillich verweist darauf, dass die christliche Theologie den Schicksalsbegriff aufgegeben hat und stattdessen von Prädestination, Vorsehung, Sünde und Gnade spricht. Er wirft allerdings dieser Theologie vor, dass sie wegen ihrer Orientierung am jenseitigen Heil die weltbezogenen Bestandteile der Zuwendung Gottes nicht angemessen berücksichtigt hat. Der Vorsehungsgedanke seinerseits gelte einseitig einem bereits gegebenen Subjekt und seinem Geschick in der Welt. ‚Schicksal‘ hingegen nimmt für Tillich das Selbstsein des Individuums auf. Der Begriff steht für eine religiöse Deutung des individuellen Lebens, die seinen Sinn mit dem tatsächlichen Leben verknüpft. Schicksal bedeutet, dass „die Individualität der Existenz als solche […] einen ewigen Sinn hat“ und zwar dadurch, dass „in dem zeitlichen Schicksal das ewige Schicksal sich verwirklicht, nicht durch es, so daß es nachher unwichtig wird, sondern in ihm, so daß es als solches ewige Wichtigkeit hat“. (244) Die Lehre vom Schicksal ist also eine geschichtsphilosophische Anwendung der alten Vorstellung von Gottes prädestinatorischer Bestimmung des Heils für den Einzelnen. Sie wendet das alte Schema von eschatologischem Heil oder endgültiger Verwerfung um in eine religiöse Deutung des einzelnen Lebens in der Geschichte. Gott gewährt Schicksal, weil immer nur das Leben für den Einzelnen derjenige Ort ist, an dem sich sein Heil ereignet.

4.8 Dämonie und Wunder: Geschichtliche Erschließung des Wesens Liegt der Sinn der Schöpfungslehre im Ganzen darin, die geschichtliche Welt des Menschen einer modernegemäßen religiösen Deutung zuzuführen, so gilt dies auch für die abschließende Lehre vom Wunder. Tillich bestreitet die mirakelhafte Auffassung des Wunders in der Kirche und der Theologie, aber er zieht sich nicht einfach auf einen naturalistischen Standpunkt hinsichtlich des Geschehens zurück. Gegen Barths Offenbarungslehre gelte es, die Verbindung von Gott und Schöpfung in der Wunderidee zum Ausdruck zu bringen. Es kann sich also nur um ein naturhaft mögliches Geschehen handeln, oder, theologisch gesprochen, um das Verstehen des Wunders in dem Sinn, dass seine „Einordnung in Schöpfung und Vorsehung vollzogen“ (256) ist. Die „Wesensform wird nicht verletzt, sondern verwirklicht“ (259). Voraussetzung von Tillichs Wunderlehre ist die vorherige Schöpfungslehre, insofern damit die Welt in ihrer religiösen Sicht auf Gott bezogen bleibt, insofern also ein Naturbegriff, der „am Begriff der fertigen Maschine orientiert ist und das Existenzielle in der Natur nicht kennt“ (ebd.), ab-

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gelehnt wird. Das Wunder selbst ist ein Geschehen, das in besonderer Weise als Realisierung des Wesens der Dinge in der Geschichte verstanden werden kann. Dies bezeichnet Tillich proto-christologisch als „neue Wirklichkeit“ (258) gegen den normalen Verlauf der Geschichte. Damit kann sowohl der objektive Charakter des Wunders ausgesagt wie zugleich seine notwendige Wahrnehmung und Einschätzung als Wunder bestätigt werden. Im Wunder gipfelt die religiöse Auffassung der Geschichte, die außerhalb des Heils möglich ist. Im Wunder erfassen Religionen die Welt als von Gott gelenkt, in seiner Möglichkeit kulminiert die Lehre von Schöpfung, Erhaltung und Vorsehung. Das Wunder ist ein Bestandteil der Lehre vom Dämonischen, weil in ihm die sündhafte Wesenswidrigkeit immer schon mit der bleibenden Erhaltung zusammengesehen werden muss. Insofern bestätigt die Möglichkeit des Wunders die doppelte Qualität des Dämonischen, eine (auch) positive Bestimmung der Welt auf Gott hin zu enthalten. Indem im Wunder Gottes Eingreifen in die geschichtliche Wirklichkeit ausgesagt wird, setzt sich die schöpfungsbezogene Sicht durch. Die absolutheitstheoretische Spekulation aus dem System von 1913 ist inhaltlich immer noch prägend, auch wenn die Grundlage sinntheoretisch gedacht wird. Die menschliche Konstruktion der Welt und der Geschichte ist immer teleologisch auf Wiederherstellung der Einheit ausgerichtet. Insofern geht die Schöpfungslehre in all ihren Teilen immer in die Lehre von der Offenbarung über.⁶⁷ In der Erfassung des Wesens der Geschichte wird sie reflexiv. Deshalb ist die Christusoffenbarung der Ort, an dem ein Geschehen in der Geschichte über ihren Sinn Auskunft gibt.

5 Zusammenfassung Das Dämonische ist zunächst einmal ein Oberbegriff für die Verbindung von Schöpfungs- und Sündenlehre zugunsten einer auf die reale geschichtliche Welt zielenden Theorie des geschichtlichen Handelns des Menschen. Die Lehre vom Dämonischen in der Dogmatik umfasst die traditionelle Lehre von der Erhaltung und Vorsehung, von Schicksal bzw. Prädestination und vom Wunder. Das Dämonische als Lehre von der geschichtlichen Welt bezieht sich auf das Handeln des Menschen in seinen geschichtlichen Formen. In seiner Verbindung von Sünde und Schöpfung benennt es die antinomische Grundstruktur aller kulturellen Gestaltungen und die aus dieser Antinomie folgende Beschreibung aller freien Entscheidungen des Menschen. Die Lehre vom Dämonischen ist aber

 Vgl. EW XIV, 247: „Damit weist auch diese, wie alle Betrachtungen dieses Abschnittes, auf das Heil hin.“

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nicht eine auf die reale Geschichte bezogene Entwicklungslehre in der Welt. Von solchen (immer noch metaphysischen) Konzepten einer Entwicklung hin zur Sittlichkeit oder zum Reich Gottes des 19. Jahrhunderts setzt sich Tillich ab. Geschichtsphilosophie beschreibt die Struktur geschichtlichen Seins und Handelns, sie gilt also im modernen Sinn eher der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz. Allerdings nimmt Tillich die Bedingungen mit in die Theorie der Geschichtlichkeit hinein – es handelt sich nicht um eine abstrakte Lehre, sondern um eine ethische Aufnahme der Sozial- und Kulturphilosophie in der Moderne. Trotz aller Kritik an den Gefahren der Moderne ist Tillichs Geschichtstheologie der Versuch einer Verteidigung der modernen autonomen Welt. Freiheit und Sünde realisieren sich notwendig gleichzeitig. Die Erlösung gilt deshalb beiden. Zudem ist die Geschichtlichkeit nicht nur auf die historischen Bedingungen der Moderne bezogen, sondern zugleich auch auf Freiheit und Bestimmung des Menschen. Die Lehre vom Dämonischen beerbt insofern die Entwicklungstheorien des Sittlichen, ohne sie aber inhaltlich zu füllen. Dadurch wird der Existenzialismus mit seiner Forderung einer Selbstbestimmung des Wesens erst in der Existenz durch Tillich mitgeprägt. Die Lehre vom Dämonischen schließlich formuliert eine Theorie der religiösen Deutung der Welt. Ihre religionsphilosophische Grundlegung meint ihre denknotwendige Allgemeingültigkeit. Insofern beansprucht Tillich, eine rationale Theorie der Geschichte vorgelegt zu haben, die im philosophischen Kontext bestehen kann. Ihr fundamentaler Kern bleibt die Absolutheitstheorie (aus Tillichs Rezeptionsphase des Idealismus) in ihrer sinntheoretischen Beziehung auf die bewussten Akte des Subjekts, mit denen es Welt durch Konkretisierung und Bestimmung setzt und sich darin immer wieder der vorausgesetzten begründeten Einheit bewusst wird. Die religiöse Deutung der Welt bleibt dabei von der Beziehung auf das offenbarte Heil des Einzelnen zu unterscheiden. Eine religiöse Deutung der Welt geschieht in allen Religionen, sie ist ein anthropologisches Grundbedürfnis. Die Besonderheit von Tillichs Theologie des Dämonischen besteht in der bewussten Umstellung von Erhaltungs-, Vorsehungs- und Sündenlehre. Die Sündenlehre wird zu einem integralen Moment der Schöpfungslehre. Damit werden theologische Motive aufgenommen, die die alte Urstandslehre wegen ihrer Ortslosigkeit aufgeben und den Sündenfall nicht als sich ereignenden Durchgangsmoment der Geschichte, sondern als ihr Strukturelement, als Struktur von Ereignis selbst verstehen. Die alte Vorstellung von Gottes guter Schöpfung wird damit verlassen. Heil wird zur Überwindung von Sünde im Ereignis, beides realisiert sich gegenseitig. Verwirklichung von Freiheit ist zugleich der Ort der Autonomie wie Ort der realisierten Gottesnähe. Beides ist nur verständlich, wenn zugleich die sündhafte Seite des Ereignisses mitgelesen wird. Das ist Sache der

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Religion und ihrer Deutung. In der wirklichen Welt baut der Mensch kulturell und technisch eine ihm gemäße Umwelt auf. Die religiöse Deutung versucht, die doppelseitige Abgründigkeit dieses Aufbaus bewusst zu machen. Damit werden Schwierigkeiten der Politik, der Gesellschaft, der Wirtschaft und der individuellen Lebensführung als sittliche Aufgabe durchsichtig. Religion führt nicht zu einem Eskapismus, sondern drängt den Menschen zur Wahrnehmung seiner Gestaltungsaufgaben – denn die religiöse Deutung der Welt hat gerade darin ihren letzten Sinn, jede Idee einer Hinter- oder Überwelt, eines jenseitigen Heils der Welt zu kritisieren, und zwar auch gegen die entsprechenden Bestandteile der christlichen Tradition und Theologie. Der Abbau aller geschichtsmetaphysischen Konstruktionen dient so gesehen ebenfalls der Einweisung des Menschen in die Gegenwart als Aufgabe. Der unbegründete anthropologische und geschichtliche Optimismus des 19. Jahrhunderts wird kritisiert und bekommt eine pessimistische Nebenströmung. Fortschritt ist keine Kategorie einer religiösen Deutung der Wirklichkeit. Vielmehr wächst mit jedem Fortschritt auch die Gefahr. Trotzdem gibt es keine Alternative zu einer auf diesen Fortschritt des Menschen im Sozialen und Kulturellen bezogenen Handlungsweise. Aber gerade dabei gilt es, die Sünde als Komponente der Freiheit wahr- und ernstzunehmen.

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Das Dämonische bei Paul Tillich und Thomas Mann Die Bekanntschaft zwischen Thomas Mann und Paul Tillich geht auf die Zeit des amerikanischen Exils zurück, und der Name Tillichs begegnet in Manns Tagebüchern erstmals am 26. April 1938 und zum letzten Mal genau sechs Jahre später am 26. April 1944. An diesem Tag ist Ludwig Marcuse mit seiner Frau zum Tee bei den Manns in Pacific Palisade, und die längere Unterhaltung dreht sich namentlich um das Tillich-Comité.¹ Mit dem Tillich-Comité ist der ‚Council for a Democratic Germany‘ gemeint, der sich im März 1944 unter der Federführung von Tillich zu konstituieren begonnen hatte. Am 1. April wird das Comité erstmals erwähnt, und am 17. April findet sich eine Notiz „über das unmögliche Verhalten der deutschen Emigranten“.² Fünf Tage später vermerkt das Tagebuch: „Manifest der Tillich-Leute, schwierige Frage der Unterzeichnung. Muß mich erklären, wenn ich nicht unterzeichne“.³ Dass Thomas Mann nicht unterzeichnete, hatte seinen Grund in den politischen Zielsetzungen des Council, die er als unangemessen empfand. Der Council verstand sich als überparteiliche Vertretung des deutschen Exils und wurde als amerikanische Parallele zu dem in der Sowjetunion gegründeten ‚Nationalkomitee Freies Deutschland‘ aus der Taufe gehoben. Im April 1944 versandte man das Gründungsmanifest an die potentiellen Unterzeichner, bevor es dann zusammen mit den Statements der amerikanischen Unterstützer, darunter Reinhold Niebuhr und John Dewey, am 3. Mai im ‚German American‘ der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Angesichts der alliierten Teilungsabsichten und der geplanten Gebietseinbußen hielt man entschieden an der territorialen Geschlossenheit und Souveränität Deutschlands fest. Man warnte geradezu vor den fatalen Konsequenzen, die eine Teilung des Staates und der Verlust der Souveränität haben würde. Man würde nämlich so nur einen Nährboden für einen neuen germanischen Nationalismus und damit für einen neuen Krieg schaffen.⁴ Bei Tillich kam noch die Befürchtung hinzu, dass bei einem Verlust der Ostgebiete und einer sowjetischen Vorherrschaft im Osten der deutsche Protestantismus

 Vgl. T. Mann, Tagebücher 1944– 1.6.1946, hg.v. I. Jens, Frankfurt a. M. 1986, 48. – Die Ausführungen zu T. Mann beziehen sich mehrfach auf J. Rohls, Thomas Manns ‚Doktor Faustus‘ und die Theologie, in: ZThK 110 (2013), 439 – 474.  Mann, Tagebücher 1944– 1.6.1946, 45.  A.a.O., 47.  Vgl. a.a.O., 410 f. https://doi.org/10.1515/9783110582994-006

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schweren Schaden leiden würde. Thomas Mann teilte die Bedenken, die seine Tochter Erika dem Manifest gegenüber äußerte. In einem Briefwechsel mit Carl Zuckmayer bezeichnete sie das Manifest als „eine mit anti-faschistischen und sozialistischen Schlagworten kärglich verbrämte Liste von deutschen Forderungen“.⁵ Zu den im Council vertretenen Emigranten, unter ihnen neben Politikern auch Theologen, Journalisten und Schriftsteller wie Brecht, meinte sie kritisch: Mitten im Krieg und in Ländern, die ihnen Gastfreundschaft gewähren, gründen sie ihre Vereine, verfassen sie ihre Proklamationen und scheuen sich nicht, die Menschheit mit dem dritten deutschen Weltkrieg zu bedrohen, für den Fall nämlich, daß ihre Ratschläge refusiert werden sollten.⁶

Erika fungierte hier als Sprachrohr ihres Vaters, für den die Kritik am Council letztlich auch das Ende der kurzzeitigen Zusammenarbeit mit Tillich bedeutete. Kennengelernt hatte man sich 1938. Tillich, seit 1933 auf Einladung Reinhold Niebuhrs zunächst Visiting Professor am Union Theological Seminary und 1937 zum Associate Professor of Philosophical Theology ernannt, hatte dem frisch in die USA emigrierten Thomas Mann ein Exposé über die Emigration zukommen lassen, und am 14. Mai 1938 besuchte der Theologe die Manns im New Yorker Bedford Hotel, wo sie sich einquartiert hatten, bevor sie nach Princeton zogen. Beim Tee unterhielt man sich angeregt über die Aufgabe der Emigration und – wie Thomas Mann seinem Tagebuch anvertraut – das Kommende. Gemeint war wohl die künftige Gestaltung der Gesellschaft, und hinter dem Stichwort „Humanistischer Kollektivismus“ wird man sicher Tillichs religiös-sozialistisches Gesellschaftsideal vermuten dürfen.⁷ Am 13. Oktober 1938 erhielt der Romancier dann die Einladung Tillichs, „in seiner christlich-sozialistischen Vereinigung zu sprechen“.⁸ Tillich stellte sich in dem Einladungsschreiben als „der theologische Interpret der religiös-sozialistischen Bewegung in Deutschland“ und Reinhold Niebuhr als sein amerikanisches Pendant vor und wünscht sich von Thomas Mann einen Vortrag, dessen „Thema etwa in der Richtung von Christentum und Humanismus liegen sollte, wobei die sozialistische Linie als ein Versuch gezeichnet werden könnte, die Prinzipien, in denen Christentum und Humanismus übereinstimmen, in einer bestimmten Situation zu verwirklichen“.⁹ Aber grund-

 A.a.O., 406.  A.a.O., 405 f.  T. Mann, Tagebücher 1937– 1939, hg.v. P. de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1980, 223.  A.a.O., 309.  P. Tillich, Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, hg.v. R. Albrecht/M. Hahl, Stuttgart 1980, 295.

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sätzlich stehe Thomas Mann die Wahl des Themas offen. Er könne etwa auch über das Verhältnis von neuem Kollektivismus und Mythos sprechen. Tatsächlich hielt Thomas Mann dann am 23. Januar 1939 in der Kapelle des Union Theological Seminary einen Vortrag über Das Problem der Freiheit. Es war unter Berufung auf die Menschenrechte ein Plädoyer für die Verbindung von individualistischem und sozialem Prinzip als Erbe der christlichen Humanität.¹⁰ Dem Vortrag schloss sich eine lebhafte Diskussion an mit längeren Beiträgen von Niebuhr und Tillich. Doch nach dieser Veranstaltung scheint es, folgt man Manns Tagebüchern, zunächst keinen weiteren Kontakt zwischen dem Literaten und dem Theologen gegeben zu haben. Erst am 12. April 1943 wandte sich Thomas Mann brieflich erneut an Tillich „wegen Theologie-Studium“.¹¹ Als er nach einem Monat immer noch keine Antwort erhalten hatte, schickte er einen Mahnbrief.¹² Dieses Mal reagierte Tillich sofort und schickte dem Autor einen stark biographisch geprägten Überblick über das Studium der protestantischen Theologie im Kaiserreich vor dem ersten Weltkrieg.¹³ Thomas Mann brauchte einen solchen Überblick für sein neues literarisches Projekt, eine moderne Version des frühneuzeitlichen Faustromans, der Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler aus dem Jahre 1587. Der Schauplatz vieler Szenen dieses dem Umkreis der lutherischen Orthodoxie entstammenden ‚Volksbuchs‘ ist Wittenberg, und Faust selbst ist zwar ein Doktor der Theologie, der sich aber vornimmt, „die Elementa zu speculieren“ und zu diesem Zweck einen Pakt mit dem Teufel schließt.¹⁴ Der mit dem Teufelspakt zum Schwarzkünstler gewordene Theologe Faust der lutherischen Orthodoxie geht allerdings bei Thomas Mann – und das ist das Neue an seiner Bearbeitung des Fauststoffs – mit dem im Wahnsinn endenden modernen Musiker in der Gestalt Adrian Leverkühns eine Verbindung ein. Zudem wird die Biographie dieser Gestalt des Doktor Faustus von seinem katholischen Jugendfreund Serenus Zeitblom, inzwischen als Lehrer am Freisinger Domgymnasium tätig, zur Zeit der Entstehung des Romans, nämlich während des Zweiten Weltkriegs nach dem Tode Leverkühns geschrieben. In dessen Biographie manifestiert

 Vgl. T. Mann, Reden und Aufsätze, Bd. 3, MGW XI, Frankfurt a. M. 1990, 959 – 962. Die Werke T. Manns werden, wenn nicht anders angegeben, zitiert nach der Ausgabe: T. Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a. M. 1990 (= MGW); ders., Tagebücher 1937– 1939, hg.v. P. de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1980, 351.  T. Mann, Tagebücher 1940 – 1943, hg.v. P. de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1982, 562.  Vgl. a.a.O., 576.  Vgl. a.a.O., 580.  R. Benz (Hg.), Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler, Stuttgart 1979, 15.

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sich paradigmatisch der politische Weg Deutschlands in die Zerstörung der Vernunft, das heißt in den Nationalsozialismus. Am 27. April 1943 schreibt Thomas Mann an seinen Sohn Klaus: Ich möchte gern wieder etwas schreiben und verfolge einen sehr alten Plan, der aber unterdessen gewachsen ist: eine Künstler- (Musiker‐) und moderne Teufelsverschreibungsgeschichte aus der Schicksalsgegend Maupassant, Nietzsche, Hugo Wolf etc., kurzum das Thema der schlimmen Inspiration und Genialisierung, die mit dem Vom Teufel geholt Werden, d. h. mit der Paralyse endet. Es ist aber die Idee des Rausches überhaupt und der Anti-Vernunft damit verquickt, dadurch auch das Politische, Faschistische, und damit das traurige Schicksal Deutschlands. Das Ganze ist sehr altdeutsch-lutherisch getönt (der Held war ursprünglich Theologe), spielt aber in dem Deutschland von gestern und heute.¹⁵

Die Figur des syphilitischen Künstlers nimmt zu Beginn der Arbeit am Roman konkrete Züge an. Der Künstler wird zu Adrian Leverkühn, einem protestantischen Theologiestudenten, der die Theologie gegen ein Kompositionsstudium eintauscht, sich im Bordell mit der Geschlechtskrankheit infiziert, einen Pakt mit dem Teufel eingeht und schließlich auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens dem Wahnsinn anheimfällt und so vom Teufel geholt wird. Zeitblom beginnt mit der Niederschrift seiner fiktiven „Biographie des teuren, vom Schicksal so furchtbar heimgesuchten, erhobenen und gestürzten Mannes und genialen Musikers“ Leverkühn zum selben Zeitpunkt wie Thomas Mann mit dem Roman beginnt, nämlich am 23. Mai 1943.¹⁶ Wie der Komponist ist er groß geworden in Kaisersaschern, einem bei Weißenfels und Merseburg angesiedelten mittelalterlichen Phantasieort im Kernland der Reformation, aber unweit von Naumburg, nahe dem Geburtsort Nietzsches, wo der syphilitische Künstler nach dem Ausbruch seines Wahnsinns zunächst von seiner Mutter gepflegt wurde. Dabei streicht Zeitblom die dämonischen Züge des Mittelalters heraus, um so eine Brücke zu schlagen zu seiner eigenen Zeit, der Zeit des Dritten Reichs. Denn sie neige „selbst in jene Epochen zurück und wiederholt mit Enthusiasmus symbolische Handlungen, die etwas Finsteres und dem Geiste der Neuzeit ins Gesicht Schlagendes an sich haben, wie Bücherverbrennungen und anderes, woran ich lieber mit Worten nicht rühren will“.¹⁷ Zeitblom, ein katholischer Liebhaber des Humanismus, bezeichnet sich selbst als „eine durchaus gemäßigte und […] gesunde, human temperierte, auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete Natur“.¹⁸ Zwar bestreitet er nicht den Einfluss des Dämonischen auf das

   

T. Mann, Briefe 1937– 1947, hg.v. E. Mann, Frankfurt a. M. 1963, 309. MGW XI, 164. A.a.O., 52. MGW VI, 10.

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menschliche Leben, zumal auf den genialen Künstler. Nietzsches Unterscheidung vom Dionysischen und Apollinischen taucht auf, wenn Zeitblom in Bezug auf die griechischen Mysterien von der Andacht der olympischen Griechen vor den Gottheiten der Tiefe spricht und erklärt, „daß Kultur recht eigentlich die fromme und ordnende, ich möchte sagen begütigende Einbeziehung des Nächtig-Ungeheuren in den Kultus der Götter ist“.¹⁹ Aber er habe das Dämonische als wesensfremd empfunden und es instinktiv aus seinem Weltbild ausgeschaltet. Der Hintergrund Leverkühns ist demgegenüber das Luthertum. Bereits sein Vater vertieft sich an langen Winterabenden in die Lutherbibel, doch daneben möchte er wie die Alchemisten und Schwarzkünstler der Renaissanceepoche „die elementa spekulieren“, das heißt die Geheimnisse der Natur erkunden.²⁰ Damit wird vorausgewiesen auf den späteren Teufelspakt seines Sohnes. Als Thomas Mann seinen Romanhelden an der Universität Halle-Wittenberg mit dem Studium der evangelischen Theologie beginnen lässt, konnte er auf den Überblick über Tillichs Studieneindrücke zurückgreifen, den ihm der Theologe einige Monate zuvor zugesandt hatte. Dabei interessierte den Romanautor vor allem die Skizze der Geschichte der protestantischen Theologie, die Tillich ihm lieferte. Was speziell die Hallenser Fakultät betrifft, an der Tillich selbst studiert hatte, so habe dort eine Mischung von konservativer Vermittlungs-Theologie und Ritschlianismus geherrscht.²¹ Berlin und Marburg, die beiden größten theologischen Fakultäten im Kaiserreich, seien demgegenüber die Hochburgen der liberalen Theologie gewesen, als deren Hauptvertreter Tillich Ritschl, Harnack und Troeltsch nennt. Die Theologie Ritschls sei in ihrem antimetaphysischen Charakter und ihrer Konzentration auf Ethik und Erkenntnistheorie wesentlich durch den zeitgenössischen Rückgang auf Kant geprägt gewesen.²² Das ethisch fundierte Persönlichkeitsideal teilte sie mit der bürgerlichen Gesellschaft, und gerade deshalb konnte sie die bürgerliche Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts bejahen. Das machte das Wesen des Kulturprotestantismus aus. „Das Religiöse wurde sozusagen eine Funktion der menschlichen Humanität und an dem Maße der entwickelten sittlichen Persönlichkeit gemessen.“ (GW XIII, 25) Tillichs Brief macht zugleich deutlich, was seine Generation am Ritschlianismus und der liberalen Theologie störte und zugleich an der konservativen Vermittlungstheologie faszinierte, als deren Hauptrepräsentanten er den Hallenser Systematiker Martin Kähler nennt. „Es fehlte uns in ihr die Einsicht in den ‚dämonischen‘ Charakter der menschlichen Existenz“ (GW XIII, 24). Gerade um dessen Heraus   

A.a.O., 17. A.a.O., 22. Vgl. P. Tillich, GW XIII, 23. Vgl. P. Tillich, GW XIII, 24 f.

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arbeitung sei es ihm selbst aber in den zwanziger Jahren gegangen, und die Erkenntnis des dämonischen Charakters des Menschen habe sich auch dank Reinhold Niebuhr gegenüber dem liberalen Moralismus und Humanismus weitgehend durchgesetzt. Wir fanden, daß die konservative Tradition mehr von einem wahren Verständnis der menschlichen Natur und der Tragik der Existenz bewahrt hat, als die liberale fortschrittlichbürgerliche Ideologie; auch hatte schon damals Kierkegaard einen starken Einfluß auf eine kleine Gruppe von Hallenser Theologie-Studenten. Uns fehlte in der liberalen Theologie die Tiefe und das Paradox; und ich glaube, die Weltgeschichte hat uns recht gegeben. (Ebd.)

Es ist nicht nur Kierkegaard, dessen Breitenwirkung in Theologie und Philosophie erst in der Zwischenkriegszeit einsetzte, auf den Tillich sich beruft, sondern eine der seinen vergleichbare kritische Sicht der bürgerlichen Kultur schreibt er Marx, Nietzsche und Freud zu. An die Stelle der Konzentration auf die Ethik in der liberalen Theologie und des ethischen Fortschrittglaubens fordert er unter anderem eine Erneuerung der Naturmystik sowie eine Betonung des Ekstatischen und Paradoxen in der Religion. Die Katastrophenerfahrung des ersten Weltkriegs, die auch den Nährboden der sogenannten Dialektischen Theologie bildet, bestätigt in Tillichs Augen nur die Abkehr seiner Generation von der liberalen Theologie.²³ Tillich versteht sein Insistieren auf dem dämonischen Charakter der menschlichen Existenz, dessen Berücksichtigung ihm im kantianisch geprägten theologischen Liberalismus fehlte, als genuin lutherisches Erbe. In seiner 1936 entstandenen Standortbestimmung Auf der Grenze charakterisiert er sich selbst als durch Herkunft, religiöses Erleben und theologische Reflexion lutherisch geprägt. Und als zum Luthertum im Unterschied zum Calvinismus hinzugehörig betrachtet er neben der Ablehnung jeder sozialen Utopie, Fortschrittsmetaphysik und puritanischen Gesetzlichkeit, der Hochschätzung des mystischen Elements der Religion und dem Bewusstsein um die Verfallenheit der menschlichen Existenz „das Wissen um den irrational-dämonischen Charakter des Lebens“ (GW XII, 45). Philosophisch zieht Tillich eine Linie, die von Böhme und der lutherischen Barockmystik über Schelling zum Irrationalismus und zur Lebensphilosophie des 19./20. Jahrhundert führte. Auf diese Tradition bezieht Tillich auch seinen eigenen Begrifft des Dämonischen zurück. „Er beschreibt eine Macht im persönlichen und sozialen Leben, die zugleich schöpferisch und zerstörerisch ist.“ (GW XII, 48) Der religiöse Sozialismus versuche beispielsweise zu zeigen, dass Kapitalismus und Nationalismus beides dämonische Mächte sind, da sie zugleich tragend und zerstörerisch sind und ihre höchsten Werte in den Rang des Göttlichen erheben.

 Vgl. P. Tillich, GW XIII, 26.

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Tillich sieht den dämonischen Charakter des europäischen Nationalismus durch dessen Entwicklung seit dem ersten Weltkrieg zum Mittel der tragischen Selbstzerstörung Europas nur bestätigt. Entwickelt hat er seine Lehre vom Dämonischen in den zwanziger Jahren, und zwar vor allem in der 1926 erschienenen Abhandlung Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte. Im selben Jahr veröffentlichte er auch einen kurzen Aufsatz mit dem Titel Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie. Tillich ist der Überzeugung, „daß dieser Begriff nicht nur historisch, sondern auch dogmatisch und vor allem ethisch wichtig ist, und daß er nicht wie die ‚Lehre vom Teufel‘ in einem Anhang zur Sündenlehre erscheinen darf, sondern von der Grundlegung der Religionsphilosophie an durch alle Hauptteile der Systematik hindurch verfolgt werden muß“ (GW VIII, 285). Tillich hält diese zentrale Bedeutung, die er dem Dämonischen einräumt, für näher an der biblisch-urchristlichen Tradition und an der Gottesanschauung Luthers als die durch Aristoteles oder Kant beeinflusste Theologie. Diese zentrale Bedeutung des Dämonischen sei ihm im Zusammenhang seiner Kulturtheologie aufgegangen. Denn wenn die Kultur nur eine Wirklichkeitsform des substantiell Religiösen, nämlich des Heiligen oder dessen, was mich unbedingt angeht, ist, dann stellt sich die Frage, wie denn überhaupt ein Widerspruch des Wirklichen gegen das Heilige und seinen unbedingten Anspruch, das heißt aber die Erhebung eines Bedingten zur Unbedingtheit, möglich sei. Eine derartige Erhebung eines Bedingten zur Unbedingtheit bedeutet „die Zerstörung der Sinneinheit und Wesensgestalt alles Wirklichen“ (GW VIII, 286). Dieser zerstörerische Widerspruch – und das ist Tillichs zentrale These – „hat seine Kraft aus dem, dem er widerspricht, dem tragenden Grunde und Abgrunde“ (ebd.). „Der Widerspruch gegen den unbedingten Anspruch des Heiligen ist also selbst getragen vom Heiligen, ist ‚heiliges Widergöttliches‘, d. h. Dämonisches.“ (Ebd.) Das ist aber nur möglich, weil das Heilige zwei verschiedene Momente in sich enthält. Es ist nämlich einerseits das unbedingt Tragende, unerschöpfliche Tiefe und Abgrund und andererseits das unbedingt Beanspruchende, gestaltende Form und Grund. Das Dämonische liegt da vor, wo die Kreatur die göttliche Tiefe des Unbedingten für sich als einzelnes Endliches, Bedingtes beansprucht. Tillich möchte der zweibegrifflichen Weltanschauung, die nur den Gegensatz von Unbedingtem und Bedingtem kennt, eine dreibegriffliche Weltanschauung gegenüber stellen, in der das Dämonische dasjenige ist, was als Bedingtes sich zum Unbedingten erklärt. Er grenzt diesen spezifischen Begriff des Dämonischen ausdrücklich ab von jenem bei Goethe anzutreffenden Verständnis des Dämonischen als der genial-produktiven Kraft, die ja gerade nicht zerstörerisch, sondern schöpferisch wirkt. Zur Existenz gelangt das zerstörerisch Dämonische immer nur in Verbindung mit den verschiedenen Sinnformen, die dadurch pervertiert werden. Gerade „das Hereinbrechen des Abgrundes in die höchsten

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Sinnformen und ihre Perversion zur Sinnwidrigkeit ist dämonisch“ (GW VIII, 287). Weil es sich beim Dämonischen um eine metaphysische Perversion und nicht um einen ethischen Mangel handelt, ist es für Tillich eine überpersönliche Macht, von der man besessen ist. Der Besessenheit steht daher auch nicht die Freiheit gegenüber, sondern die Begnadigung als Neuschöpfung. Das Dämonische findet sich auch nicht nur in den Sinnformen der Politik, des Rechts, der Wirtschaft und der Technik, sondern auch in der Religion, wenn nämlich die Religion sich als Religion zur Unbedingtheit erhebt. Das klassische Beispiel dafür ist bei Tillich Dostojewskis Großinquisitor, aber auch der Supranaturalismus Karl Barths.²⁴ Das Dämonische muss vom Satanischen unterschieden werden, das das im Dämonischen wirksame zerstörerische Prinzip ist, das aber als solches niemals wirklich ist. „Mythologisch gesprochen ist der Satan der oberste der Dämonen, ontologisch ist er das im Dämonischen enthaltene negative Prinzip.“ (GW VI, 45) Tillich sieht zwar die gesamte Religionsgeschichte auch gekennzeichnet durch einen Kampf gegen das Dämonische. Aber von diesen innerreligiösen Formen der Überwindung des Dämonischen unterscheidet er dessen Profanisierung, die das Dämonische nur dadurch überwindet, dass sie sich, wenn auch unbeabsichtigt, zugleich vom Göttlichen losreißt. Die Profanisierer „bekämpfen das Dämonische um der Reinheit des Göttlichen willen“ (GW VI, 62), seien es die griechischen Philosophen im Kampf gegen die Dämonie der mythischen Götter oder die Aufklärer im Kampf gegen die Dämonie der christlichen Konfessionen. Dieser Kampf sei mit den Waffen der rationalen Form geschehen, in der man die göttliche Klarheit sichtbar machen wollte, aber über der Klarheit sei die göttliche Tiefe verloren gegangen. Dämonenangst und Teufelsglaube seien ausgetrieben worden. „Mit der Dämonenfurcht aber versank auch die Furcht vor dem Göttlichen, die Erschütterung und Begnadung durch das Unbedingte.“ (Ebd.) Doch Tillich zeigt sich angesichts der immer wiederkehrenden Gegenschläge überzeugt, dass sich das Dämonische durch Profanisierung nicht völlig ausschalten lasse. Zwar habe die Entdämonisierung durch Profanisierung das Dämonische für das zeitgenössische Allgemeinbewusstsein fast völlig zum Verschwinden gebracht. Doch Tillich kennt auch Dämonien der Gegenwart, und zwar sowohl auf theoretischem als auch auf praktischem Gebiet. Auf theoretischem Gebiet benennt er den Intellektualismus, den er wegen seiner Vergewaltigung der Wirklichkeit durch das rationale Subjekt und der Zerstörung des Lebendigen in den Dingen als dämonisch betrachtet. Die ästhetische Gegenbewegung werde aber wegen der universalen Einfühlungsfähigkeit des Ästheten zu einem Ästhetizismus, der selbst nicht weniger dämonisch sei als der Intellektualismus. Auf praktischem Gebiet kennt

 Vgl. GW XII, 28; GW VI, 44.

Das Dämonische bei Paul Tillich und Thomas Mann

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Tillich gleichfalls zwei Dämonien, nämlich die Dämonie der autonomen Wirtschaft – gemeint ist der Kapitalismus –, und die Dämonie des souveränen Volkes, der Nationalismus. Zwar räumt Tillich ein, dass die nationalen Impulse des bürgerlichen Zeitalters als einzige die Kraft hatten und haben, der technischen Ökonomisierung und Rationalisierung des gesamten Daseins Widerstand zu leisten.

Sie schaffen ein bluthaft unmittelbares Bewußtsein, das vom Intellektualismus noch wenig zersetzt ist und den Ästhetizismus immer wieder aufrüttelt und das durch Erfüllung mit Konkretheiten das Bewußtsein vor völliger Sinnentleerung bewahrt. Die nationalen Dinge erhalten sakrale Unantastbarkeit und kultische Würde. (GW VI, 70)

Gerade darin liegt aber für Tillich auch schon der Beginn ihrer Dämonisierung, die im Nationalismus des ersten Weltkriegs kulminierte. Allerdings sieht Tillich keinen Weg, die Dämonien der Gegenwart zu überwinden.Vielmehr ist für ihn bereits die Frage nach Mitteln und Wegen ihrer Überwindung Ausdruck des selbst als dämonisch charakterisierten Intellektualismus. Daher gelangt er zu dem Schluss: „Die Dämonie zerbricht allein vor der Göttlichkeit, die Besessenheit vor der Begnadetheit, das Zerstörerische vor dem erlösenden Schicksal.“ (GW VI, 71) Für Tillich ist es zwar dem prophetischen Geist gemäß, in geschichtlichen Ereignissen Zeichen des erlösenden Schicksals zu sehen, und von ihm unbedingt gefordert, den Dämon zu enthüllen und ihm zu widerstehen. Aber überwunden werden kann das Dämonische durch nichts Endliches, Geschichtliches, sondern überwunden werden wird es nur im Ewigen, wo die Tiefe mit der Klarheit geeint ist. Damit ist jedem Fortschrittsglauben und jeder utopischen Erwartung der Überwindung des Dämonischen in der Geschichte eine Absage erteilt. Tillich beschließt seine Abhandlung über das Dämonische denn auch mit einer bescheidenen Auskunft:

Daß wir aber so auf das Ewige blicken können, daß wir nicht dem Dämon das gleiche Recht wie dem Göttlichen und damit das höhere, das einzige Recht zusprechen müssen, daß wir nicht im Angesicht der Welt dem Nein, dem Abgrund, der Sinnlosigkeit das letzte Wort geben müssen, das ist die Erlösung in der Zeit, die wieder und wieder Wirklichkeit wird, das ist das grundsätzliche Zerbrechen der Herrschaft des Dämonischen über die Welt. (Ebd.)

Tillichs Abhandlung Das Dämonische versteht sich als ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte und wurde Mitte der zwanziger Jahre veröffentlicht. Es war der Beitrag eines religiösen Sozialisten, der den geschichtsphilosophischen Optimismus des Marxismus nicht teilte. Gerade darin sah er ja sein lutherisches Erbe,

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das er durch seinen Freund Emanuel Hirsch, den Hauptrepräsentanten des nationalen Jungluthertums, verraten sah, als dieser sich der Begriffe des religiösen Sozialismus bediente, um die nationalsozialistische Revolution theologisch zu rechtfertigen. Tillich hatte Hirschs Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933 mit dem Titel Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung vor Augen, als er die Übernahme des Begriffs des Dämonischen durch seinen Göttinger Freund und politischen Gegner mit den Worten kritisierte: „Du übernimmst diesen Zentralbegriff und deutest das deutsche Geschehen als Überwindung der im Krisenzeitalter zusammengeballten Dämonien“ (EW VI, 146). So lautet der Einwand, den der inzwischen in die Vereinigten Staaten emigrierte Tillich 1934 in einem ‚Offenen Brief‘ gegen Hirsch vorbringt. Er macht ihm zum Vorwurf, den Begriff ‚dämonisch‘ einfach als Synonym für ‚verwerflich‘ zu verwenden.

Freilich, wenn man Personen, Gruppen, Richtungen dämonisch nennt, und zwar ganz undialektisch im Sinne von verwerflich, dann zeigt man nur, daß man von der wahren Tiefe und Macht des Dämonischen nichts verstanden hat. Und das werfe ich Dir allerdings vor und stelle zugleich fest, daß wir im Wissen um die dämonische Dialektik die Heiligsprechung auch des uns wichtigsten und wertvollsten Geschehens vermieden haben. (EW VI, 154)

Wenn er, Tillich, als religiöser Sozialist vom Kairos geredet habe, so habe er nur die geschichtliche Situation nach der Katastrophe des Weltkriegs gemeint, als die Dämonie des Kapitalismus enthüllt wurde, während Hirsch „die prophetischeschatologisch gedachte Kairos-Lehre in priesterlich-sakramentale Weihe eines gegenwärtigen Geschehens“ (EW VI, 152), nämlich der braunen Revolution von 1933, verkehre. Am 5. Februar 1944 notierte Thomas Mann in seinem Tagebuch: „nach dem Frühstück an dem theologischen Kapitel geschrieben“.²⁵ Gemeint ist das Kapitel über das Theologiestudium des Romanhelden Adrian Leverkühn in Halle. Tillich, der ihm das entsprechende Material geliefert hatte, war elf Jahre jünger als Thomas Mann und gehörte zu jener Generation von Theologen, die nach dem ersten Weltkrieg Abschied nahm von der kulturbejahenden liberalen Theologie, der sie Seichtigkeit und flachen Humanismus sowie mangelnde Einsicht in die Tiefe, das Dämonische, Ekstatische und Paradoxe der Wirklichkeit vorwarfen. Während er an dem theologischen Kapitel schrieb und Dostojewskis Teufelsdarstellung in den Brüder[n] Karamasov studierte, erhielt Thomas Mann am 10. April 1944 von Tillich

 Mann, Tagebücher 1944– 1.6.1946, 17.

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den Aufsatz Existential Philosophy zugesandt, in dem der Theologe seine an der Columbia University gehaltene Einführung in die deutsche Existenzphilosophie von 1934 zusammenfasst, die damals in den Vereinigten Staaten noch weitgehend unbekannt war. Am 13. April dankte ihm Thomas Mann brieflich, nicht ohne die Existenzphilosophie selbst einer scharfen Kritik zu unterziehen. Tillich hatte den Sonderdruck mit dem handschriftlichen Untertitel versehen: „Beitrag zur tragischen Geschichte des deutschen Geistes“.²⁶ Darauf nimmt der Romancier Bezug, wenn er schreibt: „ich fürchte oft, es ist ein Ausdruck unserer Neigung zur Selbstbemitleidung (die wir mit Brutalität bequem zu vereinigen wissen), dass wir für unsere Unfähigkeit, zum Leben in ein gesundes, uns und anderen wohltätiges Verhältnis zu kommen, so leicht die verschönernden Worte ‚tragisch‘ und ‚dämonisch‘ bei der Hand haben“²⁷. Was speziell die Herkunftsgeschichte der Existenzphilosophie betrifft, so fragt Thomas Mann, ob zu ihr nicht auch von Tillich nicht erwähnte Irrationalisten wie Klages und Theodor Lessing hinzugehörten. Von Heidegger mit seinem „philosophischen Schreckensjargon“ bekennt er: „ich habe diesen Nazi noch nie leiden können“.²⁸ Die Existenzphilosophie wird, obwohl oder gerade weil modern, als fortschrittsfeindlich kritisiert. Im Ganzen richtet die Front, soweit sie eine klare Front ist, sich doch gegen den Fortschritt, und das ist für mein Gefühl eine falsche, überholte, dem geschichtlichen Augenblick nicht angemessene Position. Denn es gibt den Fortschritt, er ist möglich, und die Philosophie sollte ihm dienen, statt ihm mit Innerlichkeit zu trotzen.²⁹

Der Briefschreiber gesteht unter Verweis auf Nietzsche dem Irrationalismus und seiner Kritik von Aufklärung und Idealismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar durchaus einige richtige Einsichten zu. Aber dann folgt die kritische Bemerkung: Er hat vertieft, korrigiert, an vieles erinnert. Dann hat er sich, vor Innerlichkeit rasend, als Fascismus in den Abgrund gestürzt. Ich glaube, wir müssen nun die zeitweise so lächerlich gewordene Fahne der Vernunft und des Fortschritts ‚von Neuem‘ weiter tragen.³⁰

In dieser Ablehnung der Existenzphilosophie macht sich auch der Generationenabstand zwischen Thomas Mann und Tillich geltend. Thomas Mann war in der Weimarer Republik als Vernunftrepublikaner aufgetreten, während der religiöse

 E. Sturm, Schrecklicher Heidegger! Ein Fund: Zwei unbekannte Briefe Thomas Manns an Paul Tillich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Juni 2002, Nr. 140, 45.  Ebd.  Ebd.  Ebd.  Ebd.

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Sozialist Tillich in ihr nur den politischen Ausdruck eines letztlich überholten liberalen bürgerlichen Geistes sah. Mit dem Begriff des Dämonischen konnte Thomas Mann daher zwar als Romancier durchaus etwas anfangen, aber er gebrauchte ihn nur im negativen und anders als Tillich niemals im positiven Sinne. Er diente ihm vielmehr schon bei der Beschreibung des Hallenser Theologiestudiums durch Zeitblom als Andeutung jenes Weges in die Verdammnis, den Leverkühn beschreiten sollte. Zwar sollte man von seiner positiven Wertung Schleiermachers her erwarten, dass der katholische Humanistenfreund Zeitblom die liberale Theologie verteidigt. Doch sie erscheint ihm als defizitär, weil sie – wie es unter Aufnahme der Kritik Tillichs heißt – durch ihre kulturbejahende Anpassung an die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft das Religiöse zur Funktion der menschlichen Humanität herabsetze. Sie „verwässert das Ekstatische und Paradoxe, das dem religiösen Genius wesentlich ist, zu einer ethischen Fortschrittlichkeit“.³¹ Ihrem „Moralismus und Humanismus mangle die Einsicht in den dämonischen Charakter der menschlichen Existenz“.³² Thomas Mann legt Zeitblom somit fast wörtlich die Kritik Tillichs an der Seichtigkeit der liberalen Theologie in den Mund so wie er ihn auch der konservativen Theologie á la Kähler ein weit tieferes Verständnis der menschlichen Natur und der Tragik des Lebens attestieren lässt. Darin stimme sie zudem mit den zeitgenössischen irrationalen Strömungen in der Philosophie überein, in der das Vitale, der Wille und Trieb, also das Dämonische ins Zentrum gerückt werde. Allerdings fühlt sich Zeitblom auch angesichts dieser modernen Tendenzen nicht ganz wohl. „Denn die Theologie, in Verbindung gebracht mit dem Geist der Lebensphilosophie, dem Irrationalismus, läuft ihrer Natur nach Gefahr, zur Dämonologie zu werden.“³³ Tillichs Betonung des Dämonischen der menschlichen Existenz sowie des Ekstatischen und Paradoxen in der Religion kam dem Romanautor Thomas Mann natürlich entgegen, so sehr er selbst durch Zeitblom den Irrationalismus, der dadurch in der Theologie wie in der zeitgenössischen Philosophie Einzug hält, als Gefahr und Bedrohung des gesitteten Menschengeistes brandmarken lässt. Wie Tillich bringt auch Thomas Mann jenes Menschenbild, das die abgründige Tiefe des Lebens und damit verbunden seine dämonischen Aspekte betont, mit dem Luthertum in Verbindung. Der Hallenser Theologe Kumpf, eine Karikatur Martin Kählers, ist ein stramm deutschnational gesonnener konservativer Lutheraner. Thomas Mann gestaltet ihn als Lutherus redivivus, der beim üppigen Abendessen im trauten Familienkreis vom Gitarrenspiel und Volksliedgesang

 MGW VI, 122.  Ebd.  A.a.O., 123.

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ablässt, um zwar nicht das berühmte Tintenfass, wohl aber eine Semmel gegen den im Zimmerwinkel vermuteten Satan zu schleudern. Er zeichnet sich wie der historische Luther durch einen massiven Teufelsglauben aus. In die Zeit der Entstehung des Romans fällt Thomas Manns Vortrag Deutschland und die Deutschen, in dem Luther als Inkarnation des deutschen Wesens porträtiert und negativ bewertet wird. Thomas Mann gesteht: Ich liebe ihn nicht, das gestehe ich offen. Das Deutsche in Reinkultur, das SeparatistischeAntirömische, Anti-Europäische befremdet und ängstigt mich, auch wenn es als evangelische Freiheit und geistliche Emanzipation erscheint, und das spezifisch Lutherische, das Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten, das fürchterlich Robuste, verbunden mit zarter Gemütstiefe und dem massivsten Aberglauben an Dämonen, Incubi und Kielkröpfe, erregte meine instinktive Abneigung.³⁴

Die positive Wertung Luthers in Tillichs Brief vermag Thomas Mann also nicht zu teilen. Aus Tillichs Brief geht auch hervor, dass der Romancier sich bei ihm nach der Stellung zum orthodoxen Glauben an Teufelwunder sowie an Himmel und Hölle im mythologischen Sinn erkundigt hatte. Tillich hatte darauf geantwortet, dass selbst für die während seiner Studienzeit in Leipzig, Erlangen und Greifswald vertretene orthodox-lutherische Theologie der Teufelsglaube überhaupt keine Rolle mehr gespielt habe. Auch Himmel und Hölle habe man symbolisch als Gottesgemeinschaft und Gottesferne verstanden. Gleichwohl stattet Thomas Mann seinen Kumpf mit einem durch und durch realistischen Teufelsglauben aus, und tatsächlich tritt der Teufel, kurz nachdem Kumpf mit der Semmel nach ihm gezielt hat, erstmals leibhaftig auf. Der Hallenser Privatdozent Eberhard Schleppfuß ist nicht nur durch seinen Namen, sondern auch durch schwarzen Mantel und Schlapphut als Teufel ausgewiesen. Die Vorlesungen von Schleppfuß dienen Zeitblom als Beispiel dafür, wie die Theologie zur Dämonologie wird, wobei die dämonische Auffassung von Gott und Welt, die der Privatdozent seinen Hörern vermittelt, auf modernstem religionspsychologischen Niveau angesiedelt ist und nichts gemein hat mit Kumpfs rustikalem Teufelumgang. Für Schleppfuß, das heißt aber für den Teufel selbst, ist das Böse einschließlich Satans „ein notwendiger Ausfluß und unvermeidliches Zubehör der heiligen Existenz Gottes selbst“.³⁵ Die Notwendigkeit des Bösen wird von Schleppfuß im Rahmen einer Theodizee behauptet, weil die Allseitigkeit des Universums neben dem Guten auch das Böse erfordere, so dass es ohne das Böse das Gute gar nicht gäbe. Darum habe Gott „die Welt, wie sie sei, nämlich mit Übel durchsetzt, erschaffen, das

 MGW XI, 1132 f.  MGW VI, 135.

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heißt sie zum Teil dämonischen Einflüssen überlassen müssen“.³⁶ Der Tummelplatz der Dämonen aber war in den Vorlesungen von Schleppfuß die Sphäre des Geschlechtlichen, Sexuellen, womit bereits auf die künftige Infektion Leverkühns im Bordell hingewiesen wird. Es sind vornehmlich Ausführungen des Hexenhammers, auf die sich Thomas Mann bei der Schilderung der Vorlesungen des Teufels in Gestalt des theologischen Privatdozenten stützt. Der Kreis der Zuhörer dieser Vorlesungen war begrenzt, denn es war nur eine Handvoll intellektuell und mehr oder weniger revolutionär ausgerichteter Studenten, die sie besuchten. In dem ursprünglichen Entwurf des Kapitels werden die Hörer noch etwas präziser beschrieben: Es waren das etwa junge Leute, die sich einem christlichen Sozialismus zuneigten, oder solche, die schon zu jener Zeit unter dem Einfluß der Schriften des dänischen Philosophen Kierkegaard standen und einem sehr absoluten, das offizielle Christentum und die Kirche radikal verwerfendem ethischen Subjektivismus huldigten.³⁷

Damit greift Thomas Mann Tillichs Ausführungen über den religiösen Sozialismus und die Bedeutung Kierkegaards für die protestantische Theologie auf. In den nächtlichen Gesprächen der jugendbewegten christlichen Studentenverbindung ‚Winfried‘ alias ‚Wingolf‘ lässt er Tillichs Ausführungen einfließen. Ein gewisser Konrad Deutschlin stellt die besondere Beziehung zwischen Deutschtum und Jugend heraus. Im Gegensatz zum reifen, kirchenkritischen, der Religion distanziert gegenüberstehenden Florentiner Renaissancebürger sei Luther unreif und damit deutsch genug gewesen, um den neuen Glauben zu bringen. Die Religiosität sei die Jugend selbst, „die Unmittelbarkeit, der Mut und die Tiefe des personalen Lebens, der Wille und das Vermögen, die Naturhaftigkeit und das Dämonische des Daseins, wie es uns durch Kierkegaard wieder zum Bewußtsein gekommen ist, in voller Vitalität zu erfahren“.³⁸ Deutsche Religiosität findet Deutschlin ausgedrückt in Dürers Kupferstich ‚Ritter, Tod und Teufel‘. Als Matthäus Arzt praktische Vorschläge zur Gesellschaftsreform unterbreitet, sieht Deutschlin in ihnen immer noch das Vorherrschen eines aufklärerisch-autonomen Rationalismus und ökonomischen Nützlichkeitsdenkens, das von der Mächtigkeit der irrationalen Gewalten noch gar nicht erfasst sei. Denn in jeder vitalen Bewegung steckten neben Ordnungsqualitäten dämonische Kräfte, die der Form ihre Tiefe verleihen. Damit

 A.a.O., 140.  T. Mann, Doktor Faustus, Bd. 10.2, Frankfurt a. M. 2007, 357. Zur Kierkegaardrezeption bei T. Mann vgl. H.-J. Sandberg, Der Kierkegaard-Komplex in Thomas Manns Roman ‚Doktor Faustus‘. Zur Adaption einer beziehungsreichen Thematik, in: Text & Kontext 6.1/6.2, 1978, 257– 274.  MGW VI, 160.

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vertritt Deutschlin aber annähernd jene Position, die Tillich in seiner Abhandlung Das Dämonische formuliert hatte. Adrian Leverkühn bricht das Theologiestudium nach dem vierten Semester ab, wechselt 1905 von Halle nach Leipzig, wo er zwar Philosophie belegt, sich aber in Wirklichkeit ganz der Musik widmet. Seinem musikalischen Mentor Wendell Kretzschmar schreibt er, er habe sich dazu entschlossen, „die Heilige Schrift unter die Bank zu legen und in die Kunst zu entlaufen“.³⁹ Allerdings sieht er darin keinen eigentlichen Abfall von der Theologie, sondern er schreibt: Mein Luthertum stimmt dem zu, denn es sieht in Theologie und Musik benachbarte, nahe verwandte Sphären, und persönlich ist mir obendrein die Musik immer als eine magische Verbindung aus Theologie und so unterhaltenden Mathematik erschienen. Item, sie hat viel von dem Laborieren und insistenten Betreiben der Alchimisten und Schwarzkünstler von ehemals, das auch im Zeichen der Theologie stand.⁴⁰

Leverkühns an Zeitblom gerichteter Brief aus Leipzig mit seinem in Reformationsdeutsch gehaltenen Bericht über den Bordellbesuch, gipfelt in dem Ausruf: „Amen hiemit und betet für mich!“⁴¹ Schließlich bricht der inzwischen nach München übergesiedelte Leverkühn 1912 nach Palestrina, dem Geburtsort des gleichnamigen Komponisten, auf, und in Palestrina sucht ihn der Teufel heim, um mit ihm einen Bund zu schließen. Der dämonische Teufelspakt, von dem Zeitblom aus Leverkühns geheimen Aufzeichnungen weiß, bildet die architektonische Mitte des Romans, und eine entscheidende Rolle spielt dabei Kierkegaard, der Thomas Mann bis dahin unbekannt war. Am 12. Juli 1944 vermerkt sein Tagebuch die Lektüre der Habilitationsschrift Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, die Theodor W. Adorno 1931 bei Tillich in Frankfurt eingereicht hatte.⁴² Am 10. Dezember findet sich im Tagebuch ein Hinweis auf Kierkegaards Entweder-Oder, tags darauf, Kierkegaard entlehnt, die Notiz: „Die Sinnlichkeit, vom Christentum entdeckt zugleich mit dem Geist. Die Musik als dämonische Sphäre, ‚sinnliche Genialität‘.“⁴³ Als der Teufel ihn in Palestrina aufsucht, liest Leverkühn gerade Kierkegaards Ausführungen über Mozarts ,Don Giovanniʻ.⁴⁴ Und der Teufel selbst spielt an späterer Stelle darauf an:

     

Ebd. A.a.O., 176. A.a.O., 191. Vgl. Mann, Tagebücher 1944– 1.6.1946, 76. A.a.O., 134. Vgl. MGW VI, 297.

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Wenn ich nicht irre, lasest du da vorhin in dem Buch des in die Ästhetik verliebten Christen? Der wußte Bescheid und verstand sich auf mein besondres Verhältnis zu dieser schönen Kunst, – der allerchristlichsten Kunst, wie er findet, – mit negativem Vorzeichen natürlich, vom Christentum zwar eingesetzt und entwickelt, aber verneint und ausgeschlossen als dämonischer Bereich, – und da hast du es denn. Eine hochtheologische Angelegenheit, die Musik – wie die Sünde es ist, wie ich es bin.⁴⁵

Die Musik wird so zwar als spezifisch christliche Kunst gesehen, aber zugleich als eine dem Dämonischen, Sündhaften zugeordnete Sphäre. Der moderne Teufel bedient sich des Lutherdeutsch, wie man es bei dem Systematiker Kumpf in Halle vernommen hatte. Er verspricht dem syphilitischen Komponisten einen ungeahnten Aufschwung der Inspiration, und zwar archaischer Inspiration. Wahrhaft entrückende, gläubige Inspiration als seliges Diktat verdanke sich nicht Gott, sondern dem Teufel als dem wahren Herrn des Enthusiasmus.⁴⁶ Der Teufel verspricht Leverkühn jene durch Krankheit gesteigerte schöpferische Genialität, die den Künstler bis zum Wandel eines Gottes emporhebt, die lähmende Erschöpfung der spätromantischen Komposition überwinden und die Zukunft der neuen Musik bestimmen wird. Die neue Musik wird einen völligen Bruch darstellen mit der Musik des bürgerlichen Zeitalters der Humanität, und gerade wegen dieses Bruchs wird sie wieder zutiefst religiös in einem archaischen Sinne sein. Denn „auf Theologie versteht sie sich besser als eine vom Kultus abgefallene Kultur, die auch im Religiösen nur eben Kultur sah, nur Humanität, nicht den Exzeß, das Paradox, die mystische Leidenschaft, die völlig unbürgerliche Aventüre“.⁴⁷ Der Teufel tritt so auf als derjenige, der im Unterschied zur bürgerlichen liberalen Theologie das wahre irrationale Wesen der Religion zu verteidigen vorgibt, und somit als die eigentliche theologische Existenz, insofern er die Diastase von Religion und bürgerlicher Kultur das Wort redet. Damit bezieht der Teufel genau jene theologische Position, die Tillich in seinem Brief als seine eigene gegenüber der kulturbejahenden liberalen Theologie geltend gemacht hatte. Denn an Letzterer, die das Religiöse zu einer Funktion der Humanität machte, fehlte ihm ja gerade die Tiefe, das Ekstatische, Paradoxe und Dämonische. Die Zeit nach dem Teufelspakt ist – was die erzählte Zeit betrifft – die Zeit unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs bis in die Endphase der Weimarer Republik, was die Erzählzeit angeht hingegen die Zeit vom Rückzug aus Russland bis zum Untergang der Hitlerdiktatur. Es ist die Zeit, in der Leverkühn die hu-

 A.a.O., 323.  Vgl. a.a.O., 316.  Ebd.

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manistische Sicht des Menschen und seiner Religion verabschiedet. Sein Antihumanismus findet seine kulturpolitische Variante in dem gegenrevolutionären Konservativismus des jüdischen Privatgelehrten Chaim Breisacher, hinter dem sich der jüdische Kulturhistoriker und -philosoph Oskar Goldberg verbirgt, aus dessen 1925 erschienenem Werk Die Wirklichkeit der Hebräer Thomas Mann zitiert. Breisacher sieht in der ganzen Kulturgeschichte nur einen Verfallsprozess und straft den bürgerlichen Liberalismus samt seiner Fortschrittsidee mit Verachtung. Religionsgeschichtlich macht er den Verfall bereits bei David, Salomo und den Propheten aus. Salomo gilt ihm in religiöser Hinsicht als fortschrittlicher Dummkopf, der an die Stelle des kultisch präsenten Nationalgottes einen abstrakten, allgemeinmenschlichen Himmelsgott setzt, die Volksreligion also in Allerweltsreligion verwandelt. Diese Entartung der Gottesvorstellung setze sich bei den Psalmpoeten nur fort und sei ein Schlag der Aufklärung ins Gesicht des Pentateuch, der wirkliche Opfer auf dem Schlachttisch als Nahrung Jahwes verlange. Für Breisacher ist die ursprüngliche Religion dämonisch und atavistisch, und Zeitblom sieht in seinen Attacken gegen jede geistige Form der Religiosität bereits die Anzeichen drohenden Unheils, „die neue Welt der Anti-Humanität“.⁴⁸ Als mit der Invasion der Alliierten das Strafgericht über das Dritte Reich immer näher rückt, wendet sich Zeitblom dem kompositorischen Schaffensrausch Leverkühns nach dem Ende des ersten Weltkriegs zu. Dieses Ende bedeutet für ihn nicht nur den Zusammenbruch des deutschen Autoritätsstaates, sondern zugleich das Ende der Epoche des bürgerlichen Humanismus. In dem nach dem Krieg eintretenden Prozess der Gärung von etwas Neuem entsteht Leverkühns großes Oratorium ‚Apokalipsis cum figuris‘. Der Text des Oratoriums ist eine Collage aus biblischen Texten – Johannesoffenbarung, aber auch Jeremias und Ezechiel – und visionären Texten des Mittelalters. Der eschatologische Bezug zur Hölle und zur Verdammnis ist dabei entscheidend. Zeitblom rückt das Oratorium nicht nur in die Nähe von Dantes Inferno, sondern mehr noch ähnelt es in seinen Augen Michelangelos ‚Jüngstem Gericht‘ in der Sixtina, wo „der Verdammte, üppig in Fleisch, von grinsenden Söhnen des Pfuhls umschlungen, getragen, gezogen, grässliche Abfahrt hält, indem er ein Auge mit der Hand bedeckt und mit dem anderen entsetzensvoll ins ewige Unheil starrt, nicht weit von ihm aber die Gnade zwei Sünderseelen noch aus dem Fall ins Heil emporzieht“.⁴⁹ Für die Beschreibung der Komposition holte sich Thomas Mann Rat bei Adorno. Am 30. Dezember 1945 fragt er bei ihm an:

 A.a.O., 378.  A.a.O., 476.

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Jan Rohls

Wollen Sie mit mir darüber nachdenken, wie das Werk – ich meine Leverkühns Werk – ungefähr ins Werk zu setzen wäre; wie Sie es machen würden, wenn Sie im Pakt mit dem Teufel wären […]. Mir schwebt etwas Satanisch-Religiöses, Dämonisch-Frommes, zugleich Streng-Gebundenes und verbrecherisch Wirkendes, oft die Kunst Verhöhnendes vor, auch etwas aufs Primitiv-Elementare Zurückgreifendes […], die Takt-Einteilung, ja die Tonordnung Aufgebendes (Posaunenglissandi); ferner etwas praktisch kaum Exekutierbares: alte Kirchentonarten, A-capella-Chöre, die in untemperierter Stimmung gesungen werden müssen, sodaß kaum ein Ton oder Intervall auf dem Klavier überhaupt vorkommt etc.⁵⁰

Mit Adornos nicht erhaltenen Aufzeichnungen war Thomas Mann höchst zufrieden. Der Einfall, daß in dem verzweifelten Stück die Dissonanz für den Ausdruck alles Ernsten und Geistigen, das Harmonische und Tonale aber für die Welt der Hölle, i. e. des Gemeinplatzes stehen sollte, ist echte Schönberg- und mehr noch Berg-Schule.⁵¹

Weit entfernt von romantischer Erlösungsmusik trägt das Oratorium einen paradoxen, „theologisch negativen und gnadenlosen Charakter“.⁵² Es handelt sich bei Leverkühns Oratorium musikgeschichtlich um einen Schritt zurück, um die „Erneuerung kultischer Musik aus profaner Zeit“, der in Zeitbloms Augen etwas Dämonisches, Barbarisches, Vorkulturelles, Primitives anhaftet.⁵³ Das Oratorium ist ein „Werk religiöser Vision, das das Theologische fast nur als Richten und Schrecken kennt“ und dessen ersten Teil mit einem Höllengelächter endet.⁵⁴ Die Uraufführung des Oratoriums lässt Thomas Mann noch in der Konsolidierungsphase der Weimarer Republik im liberalen Frankfurt stattfinden. Doch während Zeitblom sich der Schilderung des Endes Leverkühns widmet, mündet die deutsche Geschichte mit dem von den Nationalsozialisten entfesselten Weltkrieg in eine Höllenfahrt. Die Höllenfahrt Leverkühns ist verbunden mit dessen zweitem Oratorium ‚Doctor Fausti Weheklag‘. Leverkühn beginnt mit der Komposition nach dem grausamen Tod des ihn bezaubernden Neffen Nepomuk Schneidewein, der von Thomas Mann gleichsam als Epiphanie der göttlichen Güte eingeführt wird, zu der Leverkühn sich zwar liebend hingezogen fühlt. Seine Überschreitung des dem Teufelspakt eingeschriebenen Liebesverbots führt unweigerlich zum Eingreifen des Teufels und zum grausamen Tod des Kindes. Am Ende steht der

    

T. Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, Frankfurt a. M. 1966, 110. T. Mann, Doktor Faustus, 701. Vgl. MGW VI, 498. MGW VI, 479. A.a.O., 495. A.a.O., 500.

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Entschluss der Rücknahme, das „es soll nicht sein“.⁵⁵ Das, was Leverkühn zufolge nicht sein, was zurückgenommen werden soll, ist das „Gute und Edle“, „was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel“.⁵⁶ Eben „das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen“.⁵⁷ Auf Zeitbloms Frage, was er denn zurücknehmen wolle, antwortet der Komponist: ‚Die Neunte Symphonie‘. Das kompositorische Werk dieser Zurücknahme ist die Symphonische Kantate ‚Dr. Fausti Weheklag‘. Bei ihr handelt es sich um ein entwicklungsloses riesiges Lamento. Sie ist, indem der Klagechor am Schluss übergeht in einen rein orchestralen Adagiosatz, die Zurücknahme von Beethovens ‚Neunter Symphonie‘, die mit dem Jubel der menschlichen Stimme endet. Über den Schluss des Kapitels, in dem Zeitblom die Komposition deutet, kam es zu einem Dissens zwischen Adorno und Thomas Mann. In seinem Beitrag Zu einem Porträt Thomas Manns schreibt Adorno: „eines schönen Nachmittags las mir der Dichter den Text vor. Ich rebellierte wohl ein wenig ungebührlich. Gegenüber der Gesamtanlage von ‚Doktor Fausti Weheklag‘ nicht nur sondern des ganzen Romans fand ich die höchst belasteten Seiten zu positiv, zu ungebrochen theologisch. Ihnen schien abzugehen, was in der entscheidenden Passage gefordert war, die Gewalt bestimmter Negation als der einzig erlaubten Chiffre des Anderen.“⁵⁸ Thomas Mann scheint, wie es das Postskript Die Entstehung des Doktor Faustus nahe legt, auf diese Kritik zumindest teilweise eingegangen zu sein und den ursprünglichen Schluss des Kapitels geändert zu haben. Es handelt sich um jene „Zeilen, in denen es nach all der Finsternis um die Hoffnung, die Gnade geht und die nicht dastanden, wie sie jetzt dastehen, sondern einfach mißraten waren. Ich war zu optimistisch, zu gutmütig und direkt gewesen, hatte zuviel Licht angezündet, den Trost zu dick aufgetragen“.⁵⁹ Erst durch die im Einzelnen nicht mehr rekonstruierbare Revision erhielt der Schluss die jetzige Form, wo von dem eigentümlicherweise an Tillich erinnernden „religiösen Paradox“ die Rede ist, „daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, – nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht“.⁶⁰ Kompositorisch macht Zeitblom diese Hoffnung, die als Wunder jenseits der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aufkeimen mag, an dem Ausklang der Kantate fest. Der letzte Laut

 A.a.O., 634.  Ebd.  Ebd.  Mann, Doktor Faustus, 870 f.; vgl. dazu H. R. Vaget, Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt a. M. 2006, 406 – 411.  MGW XI, 294.  MGW VI, 651.

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Jan Rohls

vergeht traurig in Schweigen und Nacht, doch klingt er in der Seele mit gewandeltem Sinn nach als ein Licht in der Nacht. Im Mai 1930 vollendet sich das Schicksal Leverkühns. Auf seine Einladung hin versammelt sich ein kleiner Kreis von Bekannten und Freunden, vor dem der Komponist in dem von ihm häufig gebrauchten altertümlichen Deutsch eine Ansprache hält. Als „Gottverlassenen und Verzweifelten“ bezeichnet er sich und als jemanden, der nicht zur Seligkeit, sondern zur Hölle vorherbestimmt ist.⁶¹ Bereits hinter seinem Hallenser Theologiestudium habe der Zug nicht zu Gott, sondern zum Teufel gestanden. Nach diesem Bekenntnis bricht Adrian Leverkühn, gleichsam eins geworden mit dem Doktor Faustus des alten Romans, wahnsinnig am Klavier zusammen. Was im Roman folgt, ist die Nachschrift, die Zeitblom kurz nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus mit der Frage beginnt, ob er wohl wieder in den Schuldienst zurückkehren werde. Werde ich wieder einer humanistischen Prima den Kulturgedanken ans Herz legen, in welchem Ehrfurcht vor den Gottheiten in der Tiefe mit dem sittlichen Kult olympischer Vernunft und Klarheit zu einer Frömmigkeit verschmilzt?⁶²

Es ist eine Form der goetheanischen Kulturreligion, die dem katholischen Humanisten Zeitblom hier vorschwebt und zu der auch Thomas Mann selbst sich bekennt. Es handelt sich um eine überkonfessionelle Religiosität, die er sich nicht anders vorstellen kann „als gebunden an die Idee des Menschen, als einen religiös fundierten Humanismus, der, vielerfahren, durch vieles hindurchgegangen, alles Wissen ums Untere und Dämonische hineinnähme in seine Ehrung des menschlichen Geheimnisses“.⁶³ Nach dem Zusammenbruch Leverkühns übernimmt Zeitblom es, ihn in eine Nervenheilanstalt nach Nymphenburg zu bringen, wo er drei Monate verbleibt und man bei ihm eine Geisteskrankheit diagnostiziert, bis die Mutter ihr armes Kind zu sich holt. Leverkühns Ende ist dem Ende Friedrich Nietzsches nachempfunden, und Zeitblom übernimmt dabei die Rolle des Theologen und Nietzschefreundes Overbeck, der den wahnsinnig gewordenen Philosophen aus Turin nach Basel brachte. Der Tod des wahnsinnigen Teufelsbündlers im August 1940 wird schließlich in unmittelbare Verbindung gebracht mit dem Ende Deutschlands, das im Dritten Reich gleichfalls einen Teufelspakt geschlossen hatte.

 A.a.O., 661.  A.a.O., 669.  MGW IX, 711.

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Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen?⁶⁴

Es ist das Bild des Verdammten aus Michelangelos ‚Jüngstem Gericht‘, das Zeitblom hier wie schon bei der Beschreibung des apokalyptischen Oratoriums aufgreift. Und wie bereits am Ende der Beschreibung von ‚Dr. Fausti Weheklag‘ taucht auch hier wieder die Frage auf: „Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tagen?“⁶⁵ Die Frage wird nicht beantwortet, sondern das letzte Wort hat das Gebet des Humanisten Zeitblom: „Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.“⁶⁶

 MGW VI, 676.  Ebd.  Ebd.

Christian Danz

Das Dämonische Zu einer Deutungsfigur der modernen Kultur bei Georg Simmel, Georg Lukács, Leo Löwenthal und Paul Tillich Man wird urteilen, der Erzähler trage dick und romantisch auf, indem er den Namen des Stumpfsinns mit dem des Dämonischen in Verbindung bringe und ihm die Wirkung mystischen Grauens zuschreibe. Und dennoch fabeln wir nicht, sondern halten uns genau an unseres schlichten Helden persönliches Erlebnis, dessen Kenntnis uns auf eine Weise, die sich freilich der Untersuchung entzieht, gegeben ist, und das schlechthin den Beweis liefert, daß Stumpfsinn unter Umständen solchen Charakter gewinnen und solche Gefühle einflößen kann. Hans Castorp blickte um sich … Er sah durchaus Unheimliches, Bösartiges, und er wußte, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg- und hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierend betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben.¹

Das Dämonische hatte um 1900 Konjunktur. Nicht nur in Thomas Manns 1924 erschienenem ironischen Bildungs-Roman Der Zauberberg, dem die zitierte Stelle entnommen ist,² auch in vielen anderen Texten der Zeit verdichtet sich die Zeitdiagnose in diesem Begriff. Das Leben in der modernen Kultur ist, um noch einmal Mann zu erwähnen, sich selbst in seiner stumpfsinnigen Betriebsamkeit unheimlich geworden. Doch was genau ist das Dämonische an dieser unheimlichen Betriebsamkeit des modernen Lebens und was bedeutet der zeitdiagnostische Begriff selbst, der zur Deutung dieses Lebens aufgegriffen wird? Der Hinweis auf Johann Wolfgang von Goethes prägnante Umdeutung der Dämonen in das Dämonische im 20. Buch von Dichtung und Wahrheit macht seine vielfältige Verwendung um 1900 allein noch nicht verständlich.³ Was ist das Neue, das nun

 T. Mann, Der Zauberberg. Roman, Berlin 1962, 890 f.  Zu Thomas Manns Verständnis des Dämonischen vgl. den Beitrag von Jan Rohls in diesem Band. Vgl. auch H. Maye, Paradoxien der konservativen Revolution. Das Dämonische der Kultur bei Thomas Mann und Oswald Spengler, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg.v. L. Friedrich/E. Geulen/K. Wetters, Paderborn 2014, 291– 310.  Vgl. J. W. von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: ders., Sämtliche Werke, I,14, hg.v. K.-D. Müller, Frankfurt a. M. 1986, 839 f.: „Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt schien für dasselbe durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.“ Zu Goethes Deutung des Dämonischen vgl. R. Borgards, Morphologischer Dämon. Zur ersten Strophe https://doi.org/10.1515/9783110582994-007

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Christian Danz

mit der Deutungskategorie wenn nicht auf den Begriff so doch artikuliert wird? In einem neueren Sammelband zum Dämonischen im Horizont von Goethes Bestimmung schreiben die Herausgeber: Unabhängig davon, ob das Dämonische subjektivitätstheoretisch, charakterologisch-psychologisch, geschichtsphilosophisch oder romantheoretisch verhandelt wird, geht es doch stets um Modelle für den Umgang mit Kontingenz, als unerwartetes Erbe und ungewollte Hypotheken (einschließlich paganer und christlicher Dämonenlehren) und vor allem um ungewisse Gegenwart und offene Zukunft.⁴

So gesehen verdichtet sich in der Kategorie des Dämonischen die von den Betroffenen um die Jahrhundertwende erfahrene beschleunigte Modernisierung von Kultur und Gesellschaft. Das Dämonische wäre dann eine Art von Neubeschreibung einer ‚Wirklichkeit‘, die einem radikalen Wandel unterliegt.⁵ Aber was machte die kontingent gewordene Wirklichkeit in der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen dämonisch? Ist das Dämonische lediglich ein anderes Wort für die von Max Weber diagnostizierte Entzauberung der modernen Welt in Folge von Rationalisierungsprozessen? In seinen Untersuchungen zur protestantischen Ethik und dem „Geist“ des Kapitalismus von 1904/05 rekonstruierte Weber die „stahlharte[n] Gehäuse“ der modernen Rationalität als Folgeerscheinung der calvinistischen und puritanischen Ethik. Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –,

von Goethes Urworte. Orphisch, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg.v. L. Friedrich/E. Geulen/K. Wetters, Paderborn 2014, 65 – 78; C. Zumbusch, Dämonische Texturen. Der durchkreuzte Wunsch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg.v. L. Friedrich/E. Geulen/K. Wetters, Paderborn 2014, 79 – 95; H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1996, 504– 566. Zur Begriffsgeschichte des Dämonischen vgl. L. Friedrich/E. Geulen/K. Wetters, Einleitung: Dämonen, Dämonologien und Dämonisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg.v. dens., Paderborn 2014, 9 – 23; C. Axelos, Art.: Dämonisch, das Dämonische, in: HWBPh, Bd. 2, Basel 1972, 4 f.  Friedrich/Geulen/Wetters, Dämonen, Dämonologien und Dämonisches, 19.  Vgl. hierzu F. Fellmann, Phänomenologie und Expressionismus, Freiburg i. Br./München 1982, 44– 56 (Wirklichkeit – Europas dämonischer Begriff).

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mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.⁶

Die schier aussichtslose Unentrinnbarkeit der entzauberten und rationalisierten modernen Welt für den Einzelnen, verbunden mit der Auflösung alter Orientierungsmuster und einem Nebeneinander heterogener Kultursphären ohne eine übergreifende Einheit, gibt der ‚Wirklichkeit‘ ihr stahlhartes Gepräge.⁷ Das aber, der Verlust der Einheit der Kultur um 1900, unterscheidet die kulturelle Selbstreflexion, die sich in dem Begriff des Dämonischen verdichtet, grundlegend von der Zeit Goethes. Webers Diagnose der modernen Kultur, sie sei unentrinnbar rationalisiert, die letzten religiösen Sinnpotentiale seien ‚verglüht‘ und durch den Mechanismus einer rücksichtslosen kalten Bürokratie ersetzt, lieferte eine Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die im Anschluss an ihn von zahlreichen Intellektuellen in dem Stichwort des Dämonischen aufgenommen wurde. Webers Nachfolger verbinden freilich dessen Diagnose der entzauberten Welt mit unterschiedlichen Therapievorschlägen eines Exodus aus der dämonischen Wirklichkeit.⁸ So auch Paul Tillich. Als er im Jahre 1926 im Tübinger Verlag Mohr Siebeck seine Studie Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte publizierte, fasste er nicht nur Überlegungen monographisch zusammen, die sich in seinen Schriften seit Beginn der 1920er Jahren finden, er griff vor allem auch einen Begriff auf, der in den zeitgenössischen Debatten in den unterschiedlichsten Gebieten von der Kunst bis hin zu Philosophie und Theologie verwendet wurde und positionierte sich in diesem Diskurs.⁹ „Das Dämonische“, so heißt es hier,

 M.Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1993, 153.  Ähnlich fällt die Deutung der modernen Kultur bei E. Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes, in: ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925 (= ND Aalen 1966), 297– 338, aus, auch wenn er aus der Diagnose andere Konsequenzen als Weber zieht.  Vgl. hierzu N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989. Auch Edmund Husserl verbindet, wie Ferdinand Fellmann deutlich macht, mit seiner transzendentalen Phänomenologie, wie sie in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie ausgearbeitet ist, den Anspruch einer messianischen Überwindung der Wirklichkeit, die Strukturanalogien zum Expressionismus ausweist. Vgl. Fellmann, Phänomenologie und Expressionismus, 24: „In den ‚Ideen‘ nähert sich Husserl der Denkform des Messianismus, für den der ‚Mitvollzug‘ alles ist. Wenn man erst einmal auf die neue Einstellung eingeschworen ist, ergeben sich Einsichten in die einzelnen Zusammenhänge ganz von selbst!“ Vgl. auch F. W. Graf, Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 81.  Vgl. P. Tillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, in: ders., Ausgewählte Aufsätze, hg.v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 139 – 163. Zur

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„enthält in sich Gestaltzerstörung, die nicht von außen kommt, nicht auf Mangel oder Unmächtigkeit beruht, sondern aus dem Grunde der Gestalt selbst stammt, der organischen wie der geistigen. Diesen Zusammenhang verstehen, heißt das im Begriff des Dämonischen Gemeinte in seiner Wahrheit und Notwendigkeit, also in seinem metaphysischen Wesen erfassen.“¹⁰ Die Eigenheit dieser Verwendung des Dämonischen sowie seine systematische Funktion für die Sinndeutung der Geschichte, die der Theologe in seiner Abhandlung über Das Dämonische ausführt, lassen sich nur vor dem Hintergrund sowohl der werkgeschichtlichen Entwicklung der Konzeption in seinen Texten der frühen 1920er Jahre als auch der Debatten erfassen, auf die er sich implizit und explizit bezieht.¹¹ Tillichs Deutungskategorie des Dämonischen wird im Folgenden vor ihrem problem- und debattengeschichtlichen Hintergrund rekonstruiert. Einzusetzen ist mit Georg Simmels Deutung der modernen Kultur, wie er sie in seinem einflussreichen Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur von 1911 vorgelegt hat. In den zeitgenössischen Kontroversen kommt dem genannten Text eine geradezu paradigmatische Schlüsselstellung zu. Simmel verdichtet die Selbstreflexion der Kultur, die um 1900 selbst zum Problem geworden ist, in dem Begriff einer Tragödie. Damit gibt er nicht allein ein Stichwort vor, welches in den nachfolgenden Debatten – in Verbindung mit Max Webers Studien zur Genese der Moderne – immer wieder aufgegriffen wurde, sondern schon Simmel kann die von ihm diagnostizierte Tragödie der Kultur mit dem Begriff des Dämonischen zusam-

Publikationsgeschichte des Textes in der Reihe Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte vgl. A. Christophersen/F. W. Graf (Hg.), „Beweise einer unsichtbaren Beziehung“. Die Korrespondenz zwischen Paul Tillich und dem Tübinger Verlag J. B. C. Mohr (Paul Siebeck), in: Jesus of Nazareth and the New Being in History. International Yearbook for Tillich Research,Vol. 6, Berlin/Boston 2011, 237– 407, bes. 278 – 300.  Tillich, Das Dämonische, 142.  In der Forschungsliteratur zu Tillichs Verständnis des Dämonischen wird der zeitgenössische Debattenkontext in der Regel nicht berücksichtigt. F. C.-W. Yip, Capitalism as Religion? A Study of Paul Tillich’s Interpretation of Modernity, Cambridge (Mass.) 2010, 35 – 39, bietet zwar einen Überblick über die Begriffsgeschichte des Dämonischen und bezieht die sogenannte Frankfurter Schule in seine Interpretation von Tillichs Kritik am Kapitalismus ein, aber er geht in diesem Zusammenhang nicht auf die zeitgenössischen Debatten über das Dämonische von Autoren wie Georg Lukács oder Leo Löwenthal ein, die diese Kategorie verwenden und der Frankfurter Schule nahestehen. Yip beschränkt sich stattdessen auf den romantischen Hintergrund des Dämonischen bei Schelling und Goethe sowie Rudolf Ottos Aufnahme von Goethes Begriff in seinem Buch Das Heilige. Vgl. jetzt B. L. Wagoner, Prophetic Interruptions: Critical Theory, Emancipation, and Religion in Paul Tillich, Theodor Adorno, and Max Horkheimer (im Druck). Zu Ottos Deutung des Dämonischen vgl. den Beitrag von Peter Schüz in diesem Band.

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menfassen.¹² An Simmels Deutung, die moderne Kultur selbst zeichne sich durch unerbittliche dämonische Strukturen aus, knüpften nicht nur seine Schüler an.¹³ Georg Lukács und Leo Löwenthal arbeiten vor dem Hintergrund der Analysen Simmels förmliche Theorien des Dämonischen aus, die im zweiten und dritten Abschnitt diskutiert werden. Mit Simmels Diagnose der modernen Kultur auf der einen Seite und deren Weiterführung in den Konzeptionen von Lukács und Löwenthal auf der anderen ist exemplarisch der debattengeschichtliche Horizont skizziert, in dem Tillichs Überlegungen zum Dämonischen stehen, an die er anknüpft und auf die er sich bezieht. Seine Fassung des Dämonischen ist in einer werk- und problemgeschichtlichen Perspektive im vierten Abschnitt darzustellen.

 Vgl. G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 12, hg.v. R. Kramme/A. Rammstedt, Frankfurt a. M. 2001, 194– 223, bes. 218. Inwieweit Simmels Verwendung der Kategorie des Dämonischen durch Goethe inspiriert ist, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter verfolgt werden. Simmel hat jedoch bekanntlich eine ganze Reihe von Studien zu Goethe vorgelegt. Vgl. nur G. Simmel, Kant und Goethe. Zur Geschichte der modernen Weltanschauung, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 10, hg.v. M. Behr/V. Krech/G. Schmidt, Frankfurt a. M. 1995, 119 – 166; ders., Goethe, Leipzig 1913 = ND in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 15, hg.v. U. Kösser/ H.-M. Kruckis/O. Rammstedt, Frankfurt a. M. 2003, 7– 270. Zu Simmels Goethe-Deutung vgl. F. Voigt, Kultur und Bildung bei Georg Simmel, Ernst Cassirer und Adolf von Harnack. Lehr- und Wanderjahre der Goethe-Rezeption in Kulturphilosophie und Theologie, in: D. Korsch/E. Rudolf (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, 179 – 200, bes. 186 – 192.  Auf Simmels Diagnose der Tragödie der modernen Kultur bezieht sich explizit Friedrich Gogarten in seinem Aufsatz Kultur und Religion, den er zuerst im Jahre 1924 in der Zeitschrift Zwischen den Zeiten publizierte und dann in den 1926 erschienenen Band Illusionen aufgenommen hat. Mit Simmel ist auch für Gogarten die rationalisierte moderne Kultur aufgrund ihrer Unentrinnbarkeit für den Einzelnen dämonisch geworden. Vgl. F. Gogarten, Kultur und Religion, in: ders., Illusionen. Eine Auseinandersetzung mit dem Kulturidealismus, Jena 1926, 101– 127, hier 111: „Dann sehen wir, warum das Spiel der Kultur in dieser Welt eine Tragödie sein muß; warum jedes kulturelle Tun in den toten starren Zwang eines bloß technischen Daseins führen muß; warum jeder Versuch, Kultur zu realisieren, die Seele zur souveränen Beherrscherin und Gestalterin des Lebens zu machen, gerade die tote Sache wie einen Götzen auf den Thron setzt und ihr die dämonische Macht gibt, mit der sie Menschen mordet und, was fast noch schauerlicher ist, Menschen produziert, weil ja nun doch diese Menschen nötig sind, um die Sachen herzustellen. Denn es müssen der Sachen mehr sein als der Menschen, ein Dutzend mal mehr Sachen als die Menschen bedürfen, nur dann haben die Sachen Gewalt über die Menschen, nur dann bekommen sie ihre dämonische Eigengesetzlichkeit.“

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1 Georg Simmel und die Tragödie der Kultur In seinem 1911 veröffentlichten Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur bestimmte Georg Simmel nicht nur Kultur als einen „Weg der Seele zu sich selbst“,¹⁴ er diagnostizierte zugleich auch eine tiefgehende Diskrepanz zwischen personaler und sachlicher Kultur, die er in der Metapher einer ‚Tragödie’ zusammenfasste. Auf jene Dissonanz hatte er bereits im zweiten, synthetischen Teil seiner 1900 publizierten Philosophie des Geldes aufmerksam gemacht, der dem Kulturbegriff gewidmet ist. Im Unterschied zur Kultur um 1800 sei die gegenwärtige durch eine eigentümliche Diskrepanz ausgezeichnet: „die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst – sind unsäglich kultiviert; aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen.“¹⁵ Diese Diagnose findet in dem elf Jahre später publizierten Text eine prägnante Ausarbeitung vor dem Hintergrund von Simmels Spätwerk und gipfelt in der These von einer Tragödie der Kultur.¹⁶ Simmel geht in seinem Aufsatz von einem Begriff des Geistes aus, der sich durch einen inneren Dualismus aufbaut. „Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt.“¹⁷ Es besteht ein Wechselverhältnis bzw. eine Wechselwirkung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Pol im Geist.¹⁸ Auf der Grundlage dieses Geistverständnisses, der als „strömende[] Lebendigkeit“¹⁹ sich selbst in selbstgeschaffenen Formen objektiviert, entwickelt er einen Begriff der Kultur, der an der Selbstbildung der Seele orientiert ist. Indem die Seele sich in ihren Gestaltungen

 Simmel, Begriff und Tragödie, 194.  G. Simmel, Philosophie des Geldes, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 6, hg.v. D. P. Frisby/K. C. Köhnke, Frankfurt a. M. 1989, 620. Zur werkgeschichtlichen Entwicklung des Denkens von Simmel vgl. F. Voigt, „Die Tragödie des Reiches Gottes“? Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmels, Gütersloh 1998, 107– 147.  Einschlägig für das Thema ist ebenso G. Simmel, Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik, in: Logos 4 (1913), 117– 160 = ND, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 12, hg.v. R. Kramme/A. Rammstedt, Frankfurt a. M. 2001, 417– 470; ders., Die Krisis der Kultur, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 13, hg.v. K. Latzel, Frankfurt a. M. 2000, 190 – 201.  Simmel, Begriff und Tragödie, 194.  Vgl. hierzu Voigt, „Die Tragödie des Reiches Gottes“, 109 – 121.  Simmel, Begriff und Tragödie, 194.

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entäußert, also den objektiven Geist bildet,²⁰ kultiviert sie durch dessen individuelle Aneignung zugleich sich selbst.²¹ Die objektiven Kulturgüter – Simmel nennt in seinem Text Religion, Kunst, Wissenschaft, Sittlichkeit und Wirtschaft – müssen folglich eine subjektiv-objektive Struktur haben, damit sie ihre für die Kultivierung der Seele notwendige Funktion erfüllen können.²² Der Dualismus von subjektiver Seele und objektiven Kulturgütern, von persönlicher und sachlicher Kultur ist für diese selbst konstitutiv.²³ Anders als über ihre Vergegenständlichung kann sich die Seele nicht erfassen, sich also nicht zur Persönlichkeit ausbilden. Die Kulturgüter des objektiven Geistes, die von der Seele geschaffene und geschichtlich gewordene Sachkultur, sind für die Kultur notwendig. Die Sachkultur hat jedoch einen prekären Status. Sie ist ambivalent. Sachbedeutung und Kulturbedeutung überlagern sich in ihr.²⁴ Nur indem die Kulturgüter ein überindividuelles Moment haben, also unabhängig von der Seele sind,²⁵ haben jene eine Form, die es erst ermöglicht, dem Menschen „eine Welt“ zu geben.²⁶ Der Sachkultur muss eine Eigenlogik bzw. eine Eigengesetzlichkeit innewohnen, damit der Kulturprozess überhaupt zustande kommt, d. h. jene von der Seele als Kulturgüter angeeignet werden können. Zugleich tendiert die Sachkultur zu einer gewissen Eigenständigkeit gegenüber der Seele. „Diese eigentümliche Beschaffenheit der Kulturinhalte […] ist das metaphysische Fundament für die verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturprodukte wächst und wächst“.²⁷ In

 Zu Simmels Begriff des objektiven Geistes und seinem problemgeschichtlichen Hintergrund in der Völkerpsychologie von Moritz Lazarus vgl. K. C. Köhnke, Von der Völkerpsychologie zur Soziologie. Unbekannte Texte des jungen Simmel, in: H.-J. Dahme/O. Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt a. M. 1984, 388 – 429; Voigt, „Die Tragödie des Reiches Gottes“, 122 f.  Demzufolge ist der „spezifische[] Sinn“ von Kultur allein „da erfüllt, wo der Mensch in jene Entwicklung etwas, das ihm äußerlich ist, einbezieht, wo der Weg der Seele über Werte und Reihen geht, die nicht selbst subjektiv seelisch sind“ (Simmel, Begriff und Tragödie, 198). Vgl. auch ders., Philosophie des Geldes, 618.  Vgl. Simmel, Begriff und Tragödie, 197.  Vgl. a.a.O., 198: „Kultur entsteht – und das ist das durchaus Entscheidende für ihr Verständnis –, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis.“  Vgl. a.a.O., 210.  Vgl. a.a.O., 199 – 203; ders., Philosophie des Geldes, 626 f.  Simmel, Philosophie des Geldes, 627.  Simmel, Begriff und Tragödie, 217. Zu den Deutungen dieser für Simmels Kulturbegriff grundlegenden Diskrepanz zwischen Seele und objektivem Geist vgl. Voigt, „Die Tragödie des Reiches Gottes“, 126 – 133; ders., Kultur und Bildung bei Georg Simmel, Ernst Cassirer und Adolf von Harnack, 182– 186.

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dieser Struktur der objektiven Kulturgüter hat die von Simmel diagnostizierte Tragödie der Kultur ihre Voraussetzung. Diese besteht nämlich in einem Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Kultur bzw. von persönlicher und objektiver Kultur. Aufgrund jener Diskrepanz kann die Seele die Sachkultur nicht mehr aneignen. Es ist der Begriff aller Kultur, daß der Geist ein selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nehme; aber eben damit ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert, die noch immer Kräfte der Subjektive verbraucht, noch immer Subjekte in ihren Bann reißt, ohne doch diese damit zu der Höhe ihrer selbst zu führen: die Entwicklung der Subjekte kann jetzt nicht mehr den Weg gehen, den die der Objekte nimmt; diesem letzteren dennoch folgend, verläuft sie sich in einer Sackgasse oder in eine Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben.²⁸

Das Auseinandertreten sowie die Diskrepanz betreffen sowohl das Subjekt als auch die kulturellen Gehalte. Beide Dimensionen lassen sich nicht mehr vermitteln, so dass der Weg der Seele zu sich selbst gleichsam abgeschnitten ist. Sie entfremdet sich also selbst von sich selbst. In den von ihr geschaffenen Gehalten, dem zur Form geronnenen objektiven Geist, begegnet die Seele damit nicht mehr sich selbst, sondern einer anonymen Sachlogik, den, um es mit Weber zu formulieren, ‚stahlharten Gehäusen‘ der modernen Rationalität. Die Tragödie der Kultur resultiert für Simmel nicht aus externen Voraussetzungen, einem blinden Schicksal oder einer Verkehrung von Zwecken in Mitteln,²⁹ sie ist im Wesen der Kultur selbst angelegt. Darin besteht „die eigentliche Tragödie der Kultur“.³⁰ Ihr, als Weg der Seele zu sich selbst, ist ihre eigene Zerstörung gleichsam ab ovo eingeschrieben. Simmels Deutung der modernen Kultur reflektiert den Verlust von deren Einheit sowie das damit verbundene Nebeneinander von Kultursphären, die einer eigenen Gesetzlichkeit unterliegen und den Einzelnen zu einem Rad in einem sinnlosen Getriebe werden lassen.³¹ Auch für

 Simmel, Begriff und Tragödie, 219.  Vgl. a.a.O., 218.  A.a.O., 219. „Denn als ein tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihr selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat.“ (Ebd.)  Vgl. ebd.: „In noch positiverer Weise aber setzt die Kulturentwicklung das Subjekt außerhalb ihrer selbst durch die schon angedeutete Form- und Grenzenlosigkeit, die dem objektiven Geist durch die numerische Unbeschränktheit seiner Produzenten kommt.“

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ihn ist es der moderne Kapitalismus, an dem die Tragödie exemplarisch sichtbar wird. Die mit diesem verbundene Arbeitsteilung führe nicht nur zu einem „ins Unabsehbare wachsenden Vorrat des objektiven Geistes“,³² auch die Persönlichkeit werde dadurch von sich selbst entfremdet.³³ In der modernen Ökonomie tritt mit deren Eigengesetzlichkeit jedoch lediglich etwas zutage, was für alle Kulturgüter gilt. Jene ambivalente Dynamik der Sachkultur, nämlich notwendig für den Weg der Seele zu sich selbst zu sein und diese zugleich zu verunmöglichen, bezeichnet Simmel in seinem Tragödien-Aufsatz mit dem Begriff des Dämonischen. Die ganze übermäßige Spezialisierung, die heute auf allen Arbeitsgebieten beklagt wird und doch deren Fortentwicklung wie mit dämonischer Unerbittlichkeit unter ihr Gesetz zwingt, ist nur eine Sondergestaltung jenes allgemeinen Verhängnisses der Kulturelemente: daß die Objekte eine eigene Logik ihrer Entwicklung haben – keine begriffliche, keine naturhafte, sondern nur ihrer Entwicklung als kultureller Menschenwerke – und in deren Konsequenz von der Richtung abbiegen, mit der sie sich der personalen Entwicklung menschlicher Seelen einfügen könnten.³⁴

Das Dämonische steht damit für eine der Kultur selbst eingezeichnete Struktur, der das Individuum gleichsam ausgeliefert ist. Simmel deutet also mit jener Kategorie die Tragödie, die die Kultur selbst ist.³⁵

 A.a.O., 220.  Vgl. a.a.O., 215: „Der Typus dieser Erscheinungen ist, absolut ausgedrückt, der: durch die Wirksamkeit differenter Personen entsteht ein Kulturobjekt, das als Ganzes, als dastehende und spezifisch wirksame Einheit, keinen Produzenten hat, nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen ist.“ Vgl. schon ders., Philosophie des Geldes, 628 – 641. Zu Simmels Theorie der Persönlichkeit vgl.Voigt, „Die Tragödie des Reiches Gottes“, 133 – 137.  Simmel, Begriff und Tragödie, 218.  Vgl. a.a.O., 223: „Das große Unternehmen des Geistes, das Objekt als solches dadurch zu überwinden, daß er sich selbst als Objekt schafft und mit der Bereicherung durch diese Schöpfung zu sich selbst zurückzukehren, gelingt unzählige Male; aber er muß diese Selbstvollendung mit der tragischen Chance bezahlen, in der sie bedingenden Eigengesetzlichkeit der von ihm selbst geschaffenen Welt eine Logik und Dynamik sich erzeugen zu sehen, die die Inhalte der Kultur mit immer wachsender Beschleunigung und immer wachsendem Abstand von dem Zwecke der Kultur abführt.“

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2 Der Roman als ,repräsentative[] Form des Zeitaltersʻ, oder: Das Dämonische bei Georg Lukács „Eine Soziologie der Kultur, wie sie von Max Weber, Troeltsch, Sombart und anderen unternommen wird, ist – so sehr sie alle auch methodisch von ihm abweichen mögen – doch nur auf dem von Simmel geschaffenen Boden möglich geworden.“³⁶ Mit diesen Worten taxierte der junge Georg Lukács die Bedeutung Georg Simmels für die Analyse der modernen Gesellschaft, an dessen Diagnose einer Tragödie der Kultur er selbst in seinen frühen Schriften angeknüpft hat.³⁷ Auch für Lukács ist die Kultur der Weg der Seele zu sich selbst.³⁸ In seiner 1916 erstmals in der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft publizierten Studie Die Theorie des Romans, die vier Jahre später in monographischer Form erschien, heißt es mit deutlichem Anklang an Simmel: Der Prozeß, als welcher die innere Form des Romans begriffen wurde, ist die Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit in der einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen Wirklichkeit zur klaren Selbsterkenntnis.³⁹

 G. Lukács, Erinnerungen an Simmel, in: K. Gassen/M. Landmann (Hg.), Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin 21993, 171– 176, hier 175 (zitiert nach Voigt, „Die Tragödie des Reiches Gottes“, 17). Vgl. hierzu auch die Ausführungen des Lukács-Schülers Karl Mannheim zum Kulturbegriff in seinem Budapester Vortrag Seele und Kultur von 1917, die im Horizont von Simmels Tragödien-Aufsatz stehen: K. Mannheim, Soul and Culture [1917], in: Theory, Culture & Society 29 (2012), 286 – 301.  Neben Simmel bildet Max Webers Deutung der modernen Gesellschaft den Hintergrund von Lukács’ frühem Denken. Vgl. hierzu U. Bermbach/G. Trautmann (Hg.), Georg Lukács. Kultur – Politik – Ontologie, Opladen 1987.  Vgl. hierzu auch G. Lukács, Die Seele und die Formen. Essays [1911], Neuwied/Berlin 1971.  G. Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied/Berlin 1971, 70. Auch Lukács’ Freund, der Simmel-Schüler Ernst Bloch, legt in seiner frühen Schrift Geist der Utopie den Kulturbegriff von Simmel seiner Diagnose der Moderne zugrunde. Für Bloch ist die Selbstbegegnung, also der Weg der Seele zu sich selbst, in der Moderne ebenso wenig möglich wie für Lukács. Vgl. E. Bloch, Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 1918 (Werkausgabe, Bd. 16), Frankfurt a. M. 1985, 389: „Denn das Nichtwissen ist der letzte Grund für die Erscheinung dieser Welt, und darum eben konstituiert das Wissen, der in unser Dunkel und die unkonstruierbare Frage genau einschlagende Blitz dereinstiger Erkenntnis auch den unausweichlich ausreichenden Grund für die Erscheinung, für das Angelangtsein in der anderen Welt.“

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Lukács radikalisiert indes die Analyse Simmels, indem er diese in einen geradezu gnostischen Gegensatz zwischen der Moderne und einer neuen, anderen Welt einspannt. Der „Schadenfreude des Schöpfergottes über das Scheitern aller schwachen Aufstände gegen sein mächtiges und nichtiges Machtwerk“ steht „das über allen Ausdruck hohe Leiden des Erlöser-Gottes über sein Noch-nicht-kommen-können“ gegenüber.⁴⁰ Vor diesem Hintergrund erhält auch der von Simmel nur peripher gebrauchte Begriff des Dämonischen eine neue Bestimmung. Er wird bei Lukács zu einer grundlegenden Deutungskategorie der Moderne.⁴¹ Der Roman ist für den jungen Lukács „zur repräsentativen Form des Zeitalters“ der Moderne geworden, „indem die Aufbaukategorien des Romans auf den Stand der Welt konstitutiv auftreffen“.⁴² Darin besteht seine geschichtsphilosophische Bedeutung. Um diese Stellung des Romans für das Selbstverständnis der modernen Kultur herauszuarbeiten, hebt der Autor diese vom antiken Griechenland ab. „Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz.“⁴³ Die Kultur ist der Weg der Seele zu sich selbst. In den seligen Zeiten der Antike bilden Seele und Welt eine Einheit,⁴⁴ deren Ausdruck das Epos ist.⁴⁵ Diese Einheit und Wechselwirkung von Selbst und Welt, die dem Epos zugrunde liegt, ist in der Moderne zerrissen. Kants Sternenhimmel glänzt nur mehr in der dunklen Nacht der reinen Erkenntnis und erhellt keinem der einsamen Wanderer – und in der Neuen Welt heißt Mensch-sein: einsam sein – mehr die Pfade. Und das innere Licht gibt nur dem nächsten Schritt die Evidenz der Sicherheit oder – ihren Schein.⁴⁶

 Lukács, Die Theorie des Romans, 81 f. Vgl. hierzu Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, 32– 40.  Zu Lukács Verständnis des Dämonischen vgl. K. Wetters, The Luciferian and the Demonic in Georg Lukács Die Theorie des Romans, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg.v. L. Friedrich/E. Geulen/ders., Paderborn 2014, 243 – 266; I. Kalinowski, Das Dämonische in der „Theorie des Romans“ von Georg Lukács, Hamburg 2015.  Lukács, Die Theorie des Romans, 82.  A.a.O., 21.  Vgl. ebd.: „Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn das Feuer, das in der Seele brennt, ist von derselben Wesensart wie die Sterne; sie scheiden sich scharf, die Welt und das Ich, das Licht und das Feuer, und werden doch niemals einander für immer fremd; denn Feuer ist die Seel eines jeden Lichts und in Licht kleidet sich ein jedes Feuer.“  Vgl. a.a.O., 26 f.  A.a.O., 28.

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Durch das Auseinandertreten von Seele und Welt in der Moderne kommt es zur Entfremdung nicht nur von Subjekt und Objekt, sondern auch der Seele von sich selbst.⁴⁷ Ihr Weg zu sich selbst ist ihr gleichsam abgeschnitten. Sie findet sich nicht mehr selbst in ihren Objektivierungen. Damit ist das Epos unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr als Ausdrucksgestalt des Lebens möglich.⁴⁸ An dessen Stelle tritt der Roman. Er ist „Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“,⁴⁹ des Verlusts einer übergreifenden Einheit der Kultur. Die geschichtsphilosophische Stellung des Romans besteht somit darin, dass die moderne, durch den Kapitalismus zerrissene Gesellschaft in ihm sich selbst darstellt.⁵⁰ Die apriorische Bedingung des Romans ist die Ironie des Dichters. In ihr gründet die Objektivität des Romans, Ausdruck der gottverlassenen Welt zu sein.⁵¹ Was versteht Lukács nun unter dem Dämonischen und wie zeichnet er es in seine geschichtsphilosophische Deutung des Romans ein? Im abschließenden fünften Abschnitt des ersten Teils der Theorie des Romans hat er seine Überlegungen zur zeitdiagnostischen Funktion der Romans in dem Begriff des Dämonischen zusammengefasst. Hier heißt es: Die vertriebenen und die noch nicht zur Herrschaft gelangten Götter werden Dämonen: ihre Macht ist wirksam und lebendig, aber sie durchdringt die Welt nicht mehr oder noch nicht: die Welt hat einen Sinneszusammenhang und eine Kausalverknüpftheit erhalten, die der lebendig wirkenden Kraft des zum Dämon gewordenen Gottes unverständlich ist und aus deren Ausgangspunkt gesehen sein Treiben als reine Sinnlosigkeit erscheint.⁵²

Das Dämonische ist erst in der Moderne möglich. Es setzt den Riss zwischen der Seele und der Welt voraus. Der Verlust der Einheit führt zur Spaltung des Subjekts in Seele und Psyche, zwischen konkretem und abstraktem Selbst.⁵³ Dadurch

 Lukács unterscheidet zwischen dem Selbst und Seele, wobei jenes für das allgemeine und diese für das konkrete Subjekt steht. Vgl. hierzu K. Kavoulakos, Literatur, Geschichtsphilosophie und utopische Ethik. Georg Lukács’ frühes „Dostojewski-Projekt“, in: DZPhil 61 (2013), 479 – 503, bes. 491.  A.a.O., 32: „Darum hat sich die Tragödie, wenn auch verwandelt, so doch in ihrer Essenz unberührt in unsere Zeit herübergerettet, während die Epopöe verschwinden und einer ganz neuen Form, dem Roman, weichen mußte.“  Ebd.  Vgl. a.a.O., 47: „Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.“  Vgl. a.a.O., 81.  A.a.O., 75.  Vgl. hierzu a.a.O., 64 f. 77. Vgl. hierzu auch Anm. 47.

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entsteht eine Innerlichkeit, die sich selbst sucht, aber in der Welt nicht mehr finden kann. Der Weg der Seele zu sich selbst ist dieser durch die stahlharten Gehäuse der modernen Rationalität abgeschnitten. Es bleibt lediglich „eine Forderung“, die „keine Wirklichkeit ist“, Seele und Wirklichkeit in Einklang zu bringen.⁵⁴ Auf dieser Einsicht des Dichters, der Ironie, fußt die Objektivität des Romans, und sie findet ihre Darstellung im Romanhelden und seinem Scheitern in der „wesenhafte[n] Bestrebung der Seele“,⁵⁵ sich selbst in ihren Abenteuern zu finden.⁵⁶ Das Dämonische hat folglich seinen Ort in der „Psychologie des Romanhelden“.⁵⁷ Was aber macht die Psychologie des Romanhelden dämonisch? Das Dämonische ist bei Lukács eine gleichsam überdeterminierte Kategorie. Sie benennt die dem Romanhelden abgerungene Erkenntnis der Unüberwindbarkeit des Risses zwischen Seele und Welt. Den „von der Macht des Dämons“ ergriffenen Menschen, die „in grundloser und nicht begründbarer Weise über sich hinausgingen und alle psychologischen oder soziologischen Grundlagen ihres Daseins kündigen“, „enthüllt sich plötzlich das Gottverlassene der Welt als Substanzlosigkeit, als irrationale Mischung von Dichtigkeit und Durchdringbarkeit“.⁵⁸ Allein, es ist lediglich die Erkenntnis der Tatsache, dass die Seele des Romanhelden sich selbst in ihren Abenteuern nicht begegnet. Seine Durchsichtigkeit ist „leer“, der sinnlose Kausal-Mechanismus der modernen Wirklichkeit erlaubt es nicht, „zur Erkenntnis gelangen zu können, daß es hier keinen Weg gibt“.⁵⁹ Dämonisch ist also die ambige Erkenntnis selbst, die der Dichter seinen Romanhelden zuteil werden lässt. Aber der Roman lässt nur erahnen und spricht es nicht aus, dass die Welt der Moderne gottverlassen ist. Die sich auf diese Weise andeutende dämonische Gottverlassenheit ist nicht mehr als ein negativer Hinweis auf die fehlende Erlösung durch einen anderen Gott als den Schöpfer der Welt.⁶⁰ Das Sich-nicht-finden-Können der Seele auf dem Weg zu sich selbst, also

 Lukacs, Die Theorie des Romans, 74.  A.a.O., 76.  Vgl. hierzu auch Wetters, The Luciferian and the Demonic, 262 f.  Lukács, Die Theorie des Romans, 77: „Der Roman ist die Epopöe der gottverlassenden Welt; die Psychologie des Romanhelden ist das Dämonische; die Objektivität des Romans die männlich reife Einsicht, daß der Sinn die Wirklichkeit niemals ganz zu durchdringen vermag, daß aber diese ohne ihn ins Nichts der Wesenlosigkeit zerfallen würde: alles dies besagt ein und dasselbe.“  A.a.O., 79.  Ebd.  Vgl. a.a.O., 81 f.: „Die Ironie, die das von Gott Erfüllte der von Gott verlassenen Welt in intuitiver Doppelsichtigkeit zu erblicken vermag; die die verlorene utopische Heimat der zum Ideal gewordenen Idee sieht und diese doch gleichzeitig in seiner subjektiv-psychologischen Bedingtheit, in seiner einzig möglichen Existenzform erfaßt; die Ironie, die – selbst dämonisch – den Dämon im Subjekt als metasubjektive Wesenheit begreift und dadurch, ahnend und unausge-

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das Scheitern ihrer Selbstbegegnung, die dem Subjekt selbst unverständlich bleibt, ist der Gehalt des Dämonischen in der Theorie des Romans von Lukács. Erlösung von der dämonischen Gottverlassenheit der modernen Welt findet die Seele allein in den Werken Dostojewskijs. In ihnen, die keine Romane mehr sind, wird eine „neue Welt, fern von jedem Kampf gegen das Bestehende, als einfach geschaute Wirklichkeit abgezeichnet“, die an die Stelle der Religion tritt.⁶¹

3 Die Fraglichkeit der Welt, oder: Das Dämonische bei Leo Löwenthal Im Jahre 1921 veröffentlichte der junge Leo Löwenthal in der Festschrift für den Frankfurter Rabbiner Nehemias Anton Nobel einen Beitrag mit dem Titel Das Dämonische. Entwurf einer negativen Religionsphilosophie. ⁶² Der junge Autor versprochen, von vergangenen und kommenden Göttern spricht, wenn sie von Abenteuern verirrter Seelen in einer wesenlosen und leeren Wirklichkeit redet; die Ironie, die in dem Leidensgang der Innerlichkeit die eine ihr angemessene Welt suchen und nicht finden kann, zugleich die Schadenfreude des Schöpfergottes über das Scheitern aller schwachen Aufstände gegen sein mächtiges und nichtiges Machwerk und das über allen Ausdruck hohe Leiden des Erlöser-Gottes über sein Noch-nicht-kommen-können in diese Welt gestaltet.“  A.a.O., 137. Vgl. a.a.O., 112 f.: „So ist, in merkwürdiger und melancholischer Paradoxie, das Gescheitertsein das Moment des Werts; das Denken und Erleben dessen, was das Leben versagt hat, die Quelle, der die Fülle des Lebens zu entströmen scheint. Es ist die völlige Abwesenheit jeder Sinnerfüllung gestaltet, aber die Gestaltung erhebt sich zur reichen und runden Erfülltheit einer wirklichen Lebenstotalität.“ Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Dostojewskij am Ende von Die Theorie des Romans, die eine Erlösung der Seele andeuten. „Erst in den Werken Dostojewskijs wird diese neue Welt, fern von jedem Kampf gegen das Bestehende, als einfach geschaute Wirklichkeit abgezeichnet.“ (A.a.O., 137) Vgl. auch G. Lukács, Béla Balázs: Tödliche Jugend, in: ders., [Zwei Rezensionen], in: DZPhil 61 (2013), 607– 612, bes. 607– 609. Zu Lukács’ DostojewskijProjekt vgl. A. Hoeschen, Das „Dostojewsky“-Projekt. Lukács’ neukantianisches Frühwerk in seinem ideengeschichtlichen Kontext, Tübingen 1999; K. Kavoulakos, Ästhetische Kulturkritik und ethische Utopie. Georg Lukács’ neukantianisches Frühwerk, Berlin 2014; ders., Literatur, Geschichtsphilosophie und utopische Ethik, 479 – 503. In Lukács’ späterem Werk Geschichte und Klassenbewußtsein von 1923 tritt an die Stelle der ästhetischen Erlösung das Proletariat. Mit ihm wird der Vollzug derjenigen Durchsichtigkeit verbunden, in der die unüberwindliche Spaltung von Seele und Welt überwunden ist. Vgl. G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Neuwied/Berlin 1970. Vgl. hierzu Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, 40 – 45.  Vgl. L. Löwenthal, Das Dämonische. Entwurf einer negativen Religionsphilosophie, in: ders., Untergang der Dämonologien. Studien über Judentum, Antisemitismus und faschistischen Geist, Leipzig 1990, 10 – 25. Zu Nehemias Anton Nobel vgl. R. Heuberger, Die Entdeckung der jüdischen Wurzeln. Leo Löwenthal und der Frankfurter Rabbiner Nehemias Anton Nobel, in: P.-E. Jansen

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knüpft Lukács’ Begriff des Dämonischen mit Ernst Blochs Messianismus vor dem Hintergrund der von Max Weber und Georg Simmel diagnostizierten Tragödie der modernen Kultur. In diesem messianisch-apokalyptischen Amalgam rückt das Dämonische, ähnlich wie bei Lukács, in den Status einer grundlegenden geschichtsphilosophischen Kategorie ein, welches die Wirklichkeit dieser Welt, „den gottverfluchten und gottsuchenden Raum zwischen Paradies und Messias“,⁶³ insgesamt deutet. Löwenthal, der in Heidelberg bei Bloch studierte und mit Lukács bekannt war,⁶⁴ hatte den Text im Wintersemester 1920/21 für Karl Jaspersʼ Seminar ausgearbeitet, in dem er über den Abschnitt Das mythologisch-dämonische Weltbild aus dessen 1919 publiziertem Werk Psychologie der Weltanschauungen zu referieren hatte.⁶⁵ Dessen Strukturierung von Stufen des Weltbilds im Sinne einer geschichtlichen Abfolge nimmt Löwenthal in seinen eigenen geschichtsphilosophischen Entwurf auf,⁶⁶ füllt diese jedoch mit einem anderen Verständnis des Dämonischen, welches der psychologischen Deutung von Jaspers strikt entgegengesetzt ist. Wer hier meinen würde, als Psychologe vorgehen zu dürfen, der offenbarte sich als verkappter ‚negativer‘ Metaphysiker, dessen Anspruch, in rein theoretischer Interessiertheit objektiven Gebilden nahe zu treten, sich zur Analyse seines eigenen, lediglich noch ‚funktionellen‘ Selbsts wandelte.⁶⁷

Der objektiven Beschreibung setzt Löwenthal in seinem Essay eine vollzugsgebundene Darstellung entgegen, die auf eine Deutung der eigenen Gegenwart

(Hg.), Das Utopische soll Funken schlagen … Zum hundertsten Geburtstag von Leo Löwenthal, Frankfurt a. M. 2000, 47– 67. Vgl. auch M. Löwy, Redemption and Utopia. Jewish Libertarian Thought in Central Europe. A Study in Elective Affinity, Stanford (Calif.) 1992, 47– 70; A. Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment, Berkley/Los Angeles/London 1997.  Löwenthal, Das Dämonische, 14.  In seiner religionsphilosophischen Skizze bezieht sich Löwenthal explizit auf Bloch und Lukács’ Theorie des Romans, deren Lektüre er auch in seiner Autobiographie erwähnt. Vgl. L. Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt a. M. 1980, 26. Auch im Briefwechsel mit Siegfried Kracauer aus dieser Zeit wird das Buch erwähnt. Vgl. In steter Freundschaft. Leo Löwenthal – Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1921– 1966, hg.v. P.-E. Jansen/C. Schmidt, Springe 2003, 20. 24. 31. 38.  Vgl. K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 31925, 191– 198. Über den Eklat, den sein Vortrag im Seminar von Jaspers auslöste, berichtet Löwenthal in seiner Autobiographie. Vgl. Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, 56 – 59.  Vgl. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 191 f., wo drei Stufen der Entwicklung des mythischen Weltbilds unterschieden werden.  Löwenthal, Das Dämonische, 11 f.

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zielt.⁶⁸ Der junge Autor benutzt das Dämonische als Beschreibungsform der Tragödie der Moderne. Löwenthal hat seine Skizze einer negativen Religionsphilosophie in zwei Teile strukturiert. Der erste Abschnitt erläutert unter der Überschrift Das Ziel die programmatische Intention der Studie, nämlich einen Ausweg aus „dieser unserer entsetzlichen erfrorenen Zeit“ aufzuzeigen.⁶⁹ Darauf folgt im zweiten Abschnitt eine geschichtsphilosophische Skizze, in der das Dämonische vom Mythos bis zur Gegenwart als eine Abfolge von Stufen bzw. Stadien rekonstruiert wird. Das dem Text vorangestellte Motto aus Jesaja 6 verwendet Löwenthal als Bild für den Glaubenden. In dieser Welt vermag der Fromme Gott lediglich zu ahnen. Erst mit dem Ende der Welt, wenn die Engel den Herrn verlassen haben, also in der messianischen Zeit, ist eine wirkliche Gottesbegegnung des Menschen in Unmittelbarkeit möglich.⁷⁰ In der Zwischenzeit der Welt bis zur endgültigen Offenbarung Gottes ohne Mittler bleibt nur eine Ahnung Gottes. Diese Verborgenheit und Abwesenheit Gottes in der Welt ist gleichsam die Bedingung der Möglichkeit des Dämonischen. „Darum treibt der ganze Spuk heidnischer, biblischer, christlicher Dämonologie und Hierarchie sein Wesen und trennt uns in guter und böser Absicht von Ihm.“⁷¹ Das Dämonische bildet, wie schon in dem Text von Jaspers, seit dem mythischen Zeitalter einen Bestandteil des Weltbilds, es kommt jedoch ähnlich wie bei Lukács erst in der Moderne und dem mit dieser verbundenen Bruch zwischen Subjekt und Objekt zur vollen Erscheinung, und zwar in der Seele.⁷² Von diesem Riss, den Simmel der Kultur selbst bereits eingeschrieben sieht und der die Folie für Lukács’ Verständnis des Dämonischen in seiner Theorie des Romans bildet, geht auch der junge Löwenthal aus. Die Diagnose der modernen Kultur soll freilich einen Ausweg aus deren Tragödie aufzeigen. Er besteht in einem apokalyptisch-messianischen „neuen Glauben“, der zu einer „neuen Innigkeit“ führt.

 Vgl. a.a.O., 12: „Nein, es gilt leibhaft hindurchzuwandeln durch das Reich absoluter Negation, wo des Teufels Fratzen und grinsende Gestalten ihren behäbigen Wohnsitz gefunden.“  A.a.O., 12.  Vgl. a.a.O., 11: „Denn nicht in der Weihe der Lippen, sondern im Erschauen des enthüllten göttlichen Wesens geschieht dem Menschen die Durchtränkung mit göttlichem Odem; und das große Ende, der utopisch strahlende Stern wird aufgehen, wenn alle Engel von Gott sich entfernen werden und in ‚mystischer Demokratie‘ ohne Hülle und Mittler ER sichals [sic!] unerschütterlichste Gewißheit und Gestalt offenbart.“  Ebd.  Vgl. ebd.: „So hebt denn das Problem des Dämonischen an bei der unseligen Verzaubertheit dieser Welt, deren schier völliges Verlassensein uns der Verzweiflung eines negativen Gottesbeweises in die Hände gibt.“ Zur Deutung der Moderne im Anschluss bzw. vor dem Hintergrund der Analysen von Max Weber und Georg Simmel vgl. auch a.a.O., 12 f.

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„Denn unser Reden bedarf eines neuen Sinnes, einer neuen Verantwortung.“ Die Voraussetzung hierfür macht der junge Löwenthal in der Erkenntnis des Risses zwischen Subjekt und Objekt aus. Des neuen Sinnes und der neuen Verantwortung wird das Reden nämlich „sofort teilhaftig, gewahrt es nur seiner eigenen Sünde: daß es des Zusammenhangs verlustig ging.“⁷³ Die theoretischen Grundlagen für die Analyse der Tragödie der modernen Kultur bildet eine Synthese von Marx und Husserl. Aus dieser Verbindung geht die „negative Religionsphilosophie“ hervor, die Löwenthal in seinem Essay skizziert.⁷⁴ Was versteht der junge Löwenthal unter dem Dämonischen und wie zeichnet er es in das apokalyptisch-messianische Szenario seiner negativen Religionsphilosophie ein? Das Dämonische ist für den Autor kein Begriff, sondern ein Ausdruck von Unbestimmtheit, die sich der Bestimmung entzieht. Den Facetten von dessen Deutung geht Löwenthal in seinem Beitrag nach, indem er zunächst in Anlehnung an Jaspers drei Stufen unterscheidet: das mythologische Zeitalter, das antike Griechentum und die Moderne. Letztere strukturiert er in Anlehnung an Kierkegaards Existenzstadien nochmals in die drei Stufen bzw. Stadien der Theorie, des Handelns und der Religion. Dabei unterscheidet Löwenthal drei Formbestimmungen des Phänomens, nämlich „konkrete Durchdrungenheit“, „Wertbetonung“ und dass das Dämonische „keine Letztheit“ sei.⁷⁵ Das Phänomen des Dämonischen wird der Wirklichkeit dieser Welt zugeordnet, in der das Göttliche verborgen und abwesend ist. Deshalb ist es keine Letztheit. Als solche bedeute es „ein Durchlaufen von Stadien“ und sei „der Ausdruck des Dynamischen, das verflucht ist, in bestimmter Abfolge die Antinomien der Werte zu durchlaufen“.⁷⁶ Was der junge Löwenthal mit der selbst überdeterminierten Deutungskategorie des Dämonischen beschreibt, ist die Wirklichkeit, die in den Deutungen des Menschen nicht aufgeht. Dieser Aspekt tritt in der geschichtsphilosophischen Konstruktion erst in der Moderne vollends hervor. Der Neukantianismus, den Löwenthal als Beleg für die moderne Kultur heranzieht, transformiert die Wirklichkeitserkenntnis in eine theoretische Aufgabe. Das mythische Weltbild wird

 A.a.O., 12.  A.a.O., 13: „So muß aus einheitlicher Grundhaltung Marxens weltgeschichtsdialektische Ökonomik mit der phänomenologischen Tendenz verschmelzen zu einer ‚negativen Religionsphilosophie‘, die den ganzen unbestrahlten Brei der Dinge erkennt, ihn umgestaltet zu einem zeitlich sich fügenden Kosmos und ihn in kindlichem Verlangen darreicht, auf daß das Wunder sich vollziehen dürfte.“  A.a.O., 15.  Ebd.

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dadurch zwar entzaubert,⁷⁷ aber die Erkenntnis wird hier zur unendlichen Aufgabe, so dass das Dämonische „im Blickfeld des theoretischen Betrachtens als ‚Problem‘ schlechthin“ wieder auftritt.⁷⁸ Dadurch treten jedoch nicht nur Subjekt und Objekt in einen Gegensatz, auch das Subjekt spaltet sich ähnlich wie bei Simmel und Lukács in ein allgemeines transzendentales und ein konkretes. Dieses, die konkrete Existenz, wird sich in den von ihr selbst geschaffenen allgemeinen Kulturformen nicht mehr durchsichtig. „Wir finden uns selbst hier wieder, in dieser schreckhaften Öde des entleerten Selbst und der gestaltbefreiten Welt.“⁷⁹ Die Fraglichkeit der Welt für die konkrete Existenz deutet Löwenthal mit dem Dämonischen. Jene ist ein Ausdruck dafür, dass sich die Seele in der rationalisierten Wirklichkeit und ihrem kausalen Mechanismus nicht mehr wiederfindet, die Welt ihr also fremd geworden ist. Die Deutungen der Wirklichkeit durch das konkrete Selbst, die Zuschreibungen von Sinn greifen ins Leere. Das Dämonische bezeichnet somit ein reflexives Bewusstsein, dem die rationalisierte Welt selbst fraglich geworden ist und das in ihr keinen Halt mehr findet.⁸⁰ Deshalb ist das Dämonische für Löwenthal eine „Leerform“, nämlich die unendliche Reflexivität selbst, die „allen Sinn wieder über den Haufen“ wirft.⁸¹ Erst durch die Anwendung der Wertbetonung, die Zuschreibung von Gut und Böse, gewinnt das Dämonische Bedeutung. Es ist also ein ambivalentes Phänomen. Der unendlichen Fraglichkeit der Wirklichkeit des Menschen, die aus der Trennung von Subjekt und Objekt resultiert und deren unterschiedliche geschichtliche Ausdrucksformen der Beitrag nachzeichnet, setzt Löwenthal das messianische Zeitalter einer unmittelbaren Gottesoffenbarung entgegen. Am Ende aber steht der Untergang der ganzen Dämonologien, denn das strahlende messianische Licht bedeutet die prinzipielle Verneinung und Vernichtung alles Zwielichtigen,

 Vgl. a.a.O., 16: „Die Zauberkausalität des Dämonischen wird ihres Gewandes beraubt, ihre Lebendigkeit schwindet“.  A.a.O., 16.Vgl. auch a.a.O., 16 f.: „Die Unlösbarkeit der daseienden Dinge ist dieser Einstellung kein Fährnis mehr, denn sie operiert mit dem Begriff der unendlichen Aufgabe und der unendlichen Lösung, der prinzipiell möglichen und stets fortschreitenden Analyse und Erklärung des noch nicht restlos Aufgegangenen.“  A.a.O., 17.  Diese Dimension des Dämonischen repräsentiert Goethes Faust in der geschichtsphilosophischen Konstruktion Löwenthals. „Denn der der Abstraktion übersatt gewordene Faust, der zur Selbstbesinnung erwacht [sc. also ein reflexives Bewusstsein entwickelt], erfährt den als ‚Ich‘ sich gebärdenden Trotz des ‚Es‘, das aller Hineinpressung in Zusammenhänge zuletzt doch Widerstand leistet und aller Harmonie und Ordnung seine höhnische Fratze zeigt.“ A.a.O., 21.  A.a.O., 22.

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und die nützliche Rolle des Dämonischen als des restlos Fragenden hat ausgespielt in einer letzten, alles umgreifenden Unio mystica, die alle Ruhe in Gott dem Herrn findet.⁸²

Mit dem Kommen des Messias verschwindet alle dämonische Zweideutigkeit, damit aber eben auch alle Reflexivität. Die Erlösung, die nicht von dieser Welt ist, überwindet den Riss zwischen Subjekt und Objekt, der zur alten Schöpfung gehört, so dass sich die Seele in ihren Objektivationen wiederfindet, also zu sich selbst kommt. Lukács’ geschichtsphilosophische Deutung des Romans als Ausdruck der zerrissenen Moderne wird von Löwenthal aufgenommen und zu einer geschichtsphilosophischen Deutung der entfremdeten und sinnentleerten Wirklichkeit erweitert. Das Dämonische steht für die ambige Wirklichkeit als solche, die der konkreten Existenz als Fraglichkeit entgegentritt und in deren Sinndeutungen nicht aufgeht. Eine Erlösung aus der dämonischen Wirklichkeit ist für Löwenthal nur durch das Wunder des Kommens des Messias möglich und nicht mehr, wie noch bei Lukács, durch die Seele selbst.⁸³

4 Zweideutige Wirklichkeit, oder: Das Dämonische bei Paul Tillich In der Mitte der 1920er Jahre publizierte Paul Tillich zwei Studien, die das Stichwort des Dämonischen bereits im Titel tragen. Zunächst erschien in der MaiAusgabe der Theologischen Blätter von 1926 der Aufsatz Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie und im November desselben Jahres die bereits genannte Studie Das Dämonische. ⁸⁴ In beiden Texten

 A.a.O., 25.  Auf diese Differenz weist auch Siegfried Kracauer in seinem Schreiben an Leo Löwenthal vom 4. Dezember 1921 hin. Vgl. Leo Löwenthal – Siegfried Kracauer. Briefwechsel, 31– 34, hier 32: „Aufrichtig gesagt: ich glaube nicht an die messianische Zeit (die ‚sinnerfüllte Zeit‘ von Lukács bedeutet ja etwas anderes).“ Kracauer hatte Lukács’ Die Theorie des Romans 1921 rezensiert.Vgl. S. Kracauer, Georg von Lukács’ Romantheorie, in: Neue Blätter für Kunst und Literatur 4 (1921), 1– 5. Jetzt in: ders., Schriften, Bd. 5,1: Aufsätze: 1915 – 1926, Frankfurt a. M. 1990, 117– 123.  Vgl. P. Tillich, Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie, in: Theologische Blätter 5 (1926), Sp. 32– 35. Der Beitrag ist aufgenommen im achten Band der Gesammelten Werke Tillichs (vgl. GW VIII, 285 – 291). Der ursprünglich vorgesehene Titel der zweiten Studie, dessen Manuskript-Eingang Oskar Siebeck am 18.10.1926 Tillich bestätigte, lautete Das Dämonische in der Geschichte. Vgl. Christophersen/Graf (Hg.), „Beweise einer unsichtbaren Beziehung“, 294. 281.

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fasste er Überlegungen zusammen, die im Kern auf eine Integration und Reformulierung seiner bereits vor dem Krieg ausgearbeiteten Fassung des Sündenbegriffs⁸⁵ in den Theorierahmen der seit 1918 ausgearbeiteten sinntheoretischen Geistphilosophie hinauslaufen. Beide Texte sind jedoch auch in einer Umbruchszeit entstanden, in der die sinntheoretische Geistphilosophie der frühen 1920er Jahre eine existential-anthropologische Umarbeitung erfährt.⁸⁶ Insofern repräsentieren sie schon eine Stufe der gedanklichen Durchdringung des Phänomens, auf der sich die systematischen Grundlagen zu verschieben beginnen. Das Wortfeld ‚dämonisch, das Dämonische‘ lässt sich in den Texten Tillichs seit 1919/20 nachweisen.⁸⁷ Die erste systematische Entfaltung des Phänomens des Dämonischen auf der Grundlage der Geistphilosophie bietet der Vortrag Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf, der 1923 in den Blättern für religiösen Sozialismus erschien.⁸⁸ In dem zeitgleich entstandenen System der Wissenschaften begegnet das Stichwort noch nicht, wohl aber in der im Oktober 1923 fertiggestellten, aber erst 1925 publizierten Religionsphilosophie. ⁸⁹ Den Begriff des Dämonischen verwendet Tillich wohl nicht zufällig seit Anfang der 1920er Jahre in seinen Schriften zum religiösen Sozialismus, also in einem

 Gemeint ist der in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Schellings gewonnene Gedanke, dass die Sünde in einem Widerspruch der Freiheit gegen sich selbst besteht. Vgl. EW IX, 166: „Freiheit ist die Macht, mit sich selbst uneins zu werden“. Schon diese Bestimmung der Sünde, die über die kantisch-fichtesche hinausgeht, hat eine universal-kosmologische Dimension. Vgl. hierzu C. Danz, Freiheit als Autonomie. Anmerkungen zur Fichte-Rezeption Paul Tillichs im Anschluss an Fritz Medicus, in: M. Hackl/ders. (Hg.), Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, Göttingen 2017, 217– 230.Vgl. hierzu auch den Beitrag von Folkart Wittekind in diesem Band.  Vgl. hierzu M. Fritz, Menschsein als Frage. Paul Tillichs Weg zur anthropologischen Fundierung der Theologie, Habilitationsschrift Neuendettelsau 2016.  Den Begriff das „Dämonische“ verwendet Tillich in seinem Entwurf Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung (I) von 1919. Vgl. EW X, 239 („Gegensatz von Dämonischem und Göttlichem“) und 241 („Es kann also vom Rechtfertigungsgedanken her keinen Gegensatz von Dämonischem und Göttlichem als realer Mächte geben.“).Vgl. auch EW X, 311– 227. Der Text stellt eine Art Vorfassung des Beitrags Grundlinien des religiösen Sozialismus dar, in dem der Begriff des Dämonischen systematisch entfaltet wird. Auch in dem am 14. November 1922 an der Deutschen Hochschule für Politik gehaltenen Vortrag Die Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte (vgl. EW XIII, 644– 657) gebraucht Tillich den Begriff.  Vgl. P. Tillich, Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf, in: ders., Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 84– 108.  Vgl. GW I, 297– 364, bes. 338 f. Dass Tillich das Manuskript seiner Religionsphilosophie im Oktober 1923 dem Verlag übergeben hat, bemerkt er in seiner Antwort auf die Kontroverse über seinen Kasseler Vortrag Grundlinien des Religiösen Sozialismus, die im Mai/Juni Heft des Jahres 1924 der Blätter für Religiösen Sozialismus abgedruckt wurde.Vgl. P. Tillich, Tillichs Antwort, in: Zu Tillichs Systematik, in: Blätter für Religiösen Sozialismus 5 (1924), Nr. 5/6, 17– 22, bes. 18.

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sozialphilosophischen Kontext.Vor dem Hintergrund von Simmels Diagnose einer Tragödie der Kultur avancierte, wie oben dargelegt, die Deutungskategorie bei Lukács und Löwenthal zu einem Topos der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft.⁹⁰ Das ist auch bei Tillich der Fall.⁹¹ Er arbeitet ähnlich wie Lukács und Löwenthal das Dämonische als eine geschichtsphilosophische Deutungskategorie aus,⁹² die als Folie für einen Ausweg aus der Tragödie der Moderne fungiert. Bei Tillich ist es der religiöse Sozialismus, der die Krise der Moderne überwinden soll.⁹³ Was versteht er unter dem Dämonischen, und welche systematische Funktion kommt diesem für die Explikation von Religion und Kultur zu?⁹⁴

 Tillich benutzt die Deutungskategorie zur Beschreibung der modernen Kultur, was nicht heißt, dass sein Gebrauch des Dämonischen von Lukács und Löwenthal direkt abhängig ist. In den bekannten Dokumenten und Quellen aus dieser Zeit gibt es m.W. keine Hinweise auf Tillichs Bekanntschaft mit Lukács’ Theorie des Romans oder Löwenthals Aufsatz über Das Dämonische. Auf Simmels Wiener Vortrag Die Krisis der Kultur, der 1917 erschien und wesentliche Aspekte seines Tragödien-Aufsatzes zusammenfasst, bezieht sich Tillich explizit in seiner Berliner Vorlesung Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie vom Wintersemester 1920/21 (vgl. EW XIII, 5). Ein Verweis auf Georg Lukács – wobei vermutlich dessen Schrift Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) gemeint ist – findet sich in Tillichs 1926 erschienener Studie Die religiöse Lage der Gegenwart (vgl. GW X, 45). Mit Leo Löwenthal verband ihn seit dem Ende der 1920er Jahre eine lebenslange Freundschaft. Vgl. hierzu F. W. Graf (Hg.), „Paul Tillich on Theories and Problems of Aging“. Ein Interview über das Älterwerden mit Marjorie Fiske Löwenthal aus dem Februar 1965, in: JHMTh/ZNThG 21 (2014), 250 – 270. Eine detaillierte Rekonstruktion des angedeuteten problemgeschichtlichen Kontextes ist ebenso wie die Simmel-Rezeption des jungen Tillich immer noch ein Desiderat der Forschung. Zu Tillich und Simmel vgl. E. Sturm, Selbstbewusstsein zwischen Dynamik und Selbst-Transzendenz des Lebens und unbedingter Realitätserfassung. Paul Tillichs kritische Rezeption der Religions- und Lebensphilosophie Georg Simmels, in: C. Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004, 23 – 47. Vgl. auch den Beitrag von Friedemann Voigt in diesem Band.  Vgl. nur Tillichs Beschreibung der modernen Arbeitsteilung in: EW X, 325: „Mit Entschwinden des Sinnes wird die Pflicht zur Bindung im Sinne des Zwangs: die Einordnung in die Maschine der Produktion, die keinen tieferen Sinn hat als die Produktion.“ Vgl. auch ders., Das Dämonische, 160.  Das kommt im Untertitel seiner Studie von 1926 deutlich zum Ausdruck.  Zu den geschichtsphilosophischen Implikationen des als Deutungskategorie fungierenden religiösen Sozialismus vgl. C. Danz, Die Krise der Subjektivität und ihre geschichtsphilosophische Überwindung. Überlegungen zu Paul Tillichs frühem religiösen Sozialismus, in: Krisen der Subjektivität. Problemfelder eines strittigen Paradigmas, hg.v. I. U. Dalferth/P. Stoellger, Tübingen 2005, 157– 174.  Der Prominenz der Konzeption des Dämonischen in Tillichs Schriften seit den 1920er Jahren ungeachtet, wurde dessen systematische Funktion und Konstruktion von der Tillich-Forschung bislang kaum auf eine wirklich befriedigende Weise analysiert. Wichtige Hinweise zur Kon-

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4.1 Die Einfügung des Dämonischen in die Geschichtsphilosophie der frühen 1920er Jahre In seine Überlegungen zum religiösen Sozialismus hat Tillich im Jahre 1922 die Deutungskategorie des Dämonischen in einem systematisch relevanten Sinne eingefügt. Das Stichwort begegnet sowohl in dem Vortrag Die Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte, den er am 14. November 1922 an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin gehalten hatte, als auch in dem wohl im selben Jahr entstandenen Entwurf Die religiöse Erneuerung des Sozialismus. Bei dem letzteren Text handelt es sich um eine Gliederungs- und Gedankenskizze, die eine Art Vorstufe zu den in den Blättern für Religiösen Sozialismus von August bis Oktober 1923 veröffentlichen Grundlinien des religiösen Sozialismus bildet. In dem Abschnitt C. Der Kampf des religiösen Sozialismus: Dämonie und Theokratie erörtert er das Stichwort, das hier als Dämonie bezeichnet wird.⁹⁵ Gleich eingangs heißt es: Der Gegensatz von Geschichtsunbewußtheit und Reflexion, in seiner Tiefe erfaßt, ist ein innerreligiöser Gegensatz, der zwischen Dämonie und Theokratie. Dämonie ist das religiöse Ergriffensein [!] von Mächten, die in ihrer Ungeformtheit zerstörerisch sind. Theokratie ist der Wille, diese Mächte im Namen des Heiligen der Form zu unterwerfen. (EW X, 317)

Diese Beschreibung der Dämonie ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Sie lässt nicht nur den geschichtsphilosophischen Horizont erkennen, in dem das Konzept steht, sondern sie erlaubt es auch, das systematische Problem zu rekonstruieren, welches mit ihm bearbeitet werden soll. Es sind vor allem zwei Aspekte, die für die werkgeschichtliche Genese des Dämonischen im Rahmen der Religions- und Geschichtstheorie von Relevanz sind, nämlich die geschichtsphilosophische Fassung der Autonomie und die Konstruktion des Offenbarungsbegriffs. In den Texten vom Anfang der 1920er Jahre, dem Kairos-Aufsatz von 1922 und der geschichtsphilosophischen Skizze am Ende von Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie vom selben Jahr, wird das Konzept des struktion des Konzepts finden sich bei F. Wittekind, ‚Sinndeutung der Geschichte‘. Zur Entwicklung und Bedeutung von Tillichs Geschichtsphilosophie, in: C. Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004, 135– 172, bes. 163 – 168. Vgl. auch C. Danz, Das Göttliche und das Dämonische. Paul Tillichs Deutung von Geschichte und Kultur, in: Interpretation of History. International Yearbook for Tillich Research, Vol. 8, Berlin/Boston 2013, 1– 14; Fritz, Menschsein als Frage.  Vgl. EW X, 317– 326.

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Dämonischen noch nicht verwendet. In den geschichtsphilosophischen Überlegungen des ersten Aufsatzes arbeitet Tillich das gegenwärtige Bewusstsein als Ort geschichtlicher Selbsterfassung aus und identifiziert dieses mit der als Kairos bestimmten Religion.⁹⁶ Das wahre Geschichtsbewusstsein wird unterschieden von geschichtsunbewusstem und geschichtsbewusstem Denken. In jenem sind der Unbedingtheitsbezug des Bewusstseins sowie der Bezug auf die Geschichte verbunden.⁹⁷ Die systematische Grundlage dieser geschichtsphilosophischen Skizze bildet die sinntheoretische Geistphilosophie, die Tillich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ausgearbeitet hat.⁹⁸ Das Selbstverhältnis des Bewusstseins ist Grund aller Bestimmungen. Aber der Geist ist zugleich unbedingt und bedingt.⁹⁹ Dieser, obwohl er Grund aller bestimmten Setzungen ist, ist nicht nur stets schon konkret geschichtlich bestimmt, er nimmt sich auch immer schon als Geist in Anspruch, setzt sich also selbst bereits voraus.¹⁰⁰ Der konkrete, sich verwirklichende, sich selbst setzende Geist, muss als eine Synthesis von Allgemeinem und Besonderem, als Gestalt verstanden werden. Da dieser sich nur an den konkreten und besonderen Formen, die er setzt, als sich selbst erfassen kann, diese Formen jedoch als solche zugleich Verfehlungen des Geistes sind, müssen die konkreten Formen nicht nur gesetzt, sondern auch wieder negiert werden. Die Beschreibung des Selbstverhältnisses als Unbedingtes, das zugleich Grund und Abgrund ist, ist Ausdruck der Dialektik, die der Geist ist. In diese universale Struktur des Geistes fügt Tillich die Religion als Reflexionsakt ein. Sie ist also kein Vermögen des Geistes. In der Religion wird der Geist  Vgl. P. Tillich, Kairos, in: ders., Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 43 – 62, hier 43: „Diese Worte sollen ein Aufruf sein zu geschichtsbewußtem Denken, zu einem Geschichtsbewußtsein, dessen Wurzeln herabreichen in die Tiefen des Unbedingten, dessen Begriffe geschöpft sind aus der Urbeziehung des menschlichen Geistes und dessen Ethos unbedingte Verantwortlichkeit für den gegenwärtigen Zeitmoment ist.“  Vgl. a.a.O., 47. Für die wahre Geschichtsphilosophie ergeben sich „zwei Forderungen: den Kairos universalgeschichtlich zu fassen und ihn nicht zu beschränken auf die Vergangenheit und Zukunft, sondern ihn zu einem allgemeinen und auch gegenwartsbedeutenden Prinzip der Geschichtsphilosophie zu erheben“.  Zu Tillichs sinntheoretischer Geistphilosophie vgl. C. Danz, Vom natura sua Gott setzenden Bewusstsein zum Meinen des Unbedingten. Überlegungen zu Paul Tillichs Religionsphilosophie, in: Evangelische Theologie und urbane Kultur. Tillich-Lectures Frankfurt 2010 – 2013, hg.v. G. Heimbrock, Leipzig 2014, 71– 103.  Vgl. nur die Bestimmung im System der Wissenschaften, GW I, 215: „Denn der Geist ist unendlich, und wirklich wird er immer nur im individuellen, ganz gleich, ob in einem einzelnen oder in der Menschheit oder in einem übergreifenden Geisterreich.“  Vgl. GW I, 217: „Es gibt keinen Anfang des Geistes; denn jede geistige Setzung setzt Geist voraus.“

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sich selbst vielmehr in seiner reflexiven Struktur inne und stellt seine eigene Durchsichtigkeit unter Aufnahme der von ihm selbst gesetzten kulturellen Formen dar.¹⁰¹ Damit ergeben sich zwei Grundformen im Selbstverhältnis des Bewusstseins, eine religiöse und eine kulturelle, die dem Kairos-Aufsatz zugrunde liegen. Die Religion, mit der die wahre Geschichtsphilosophie verknüpft ist, besteht im Meinen des Unbedingten durch die kulturellen Gehalte hindurch, die dadurch zu wandelbaren Medien der Darstellung des Unbedingten werden.¹⁰² Die Kultur, der als Bewusstsein ebenfalls strukturell das Unbedingte zugrunde liegt, unterscheidet sich dadurch von der Religion, dass in ihr das Bewusstsein auf die Formen und ihre Einheit, aber nicht durch diese hindurch auf das Unbedingte gerichtet ist. Die Geschichte resultiert aus diesem „Doppelverhältnis der Menschheit zum Unbedingten – dem unmittelbar-‚religiösen‘ und mittelbar‚kulturellen‘ – worauf die Sünde und die Schuld, die Größe und die Tragik der Menschheitsgeschichte beruht“.¹⁰³ Die Leitfrage, die in dem Kairos-Aufsatz traktiert wird, lautet: „Was bedeutet für einen geschichtlichen Zusammenhang Hinwendung bzw. Abwendung dem Unbedingten gegenüber, was bedeutet es, daß eine Zeit sich zum Organ des Unbedingten macht oder sich ihm verschließt?“¹⁰⁴ Tillich beantwortet diese Frage durch die Einführung der geschichtsphilosophischen Deutungskategorien Theonomie, Heteronomie und Autonomie. Das Movens der Geschichte ist in der Konzeption von 1922 die Autonomie und deren Dialektik, also die vom Geist gesetzten theoretischen und praktischen Formen. Die Theonomie, mit der Tillich die allgemeine strukturelle Grundlagenfunktion des Unbedingten für das Bewusstsein bezeichnet,¹⁰⁵ tritt gleichsam zurück, sodass sich die Autonomie erhebt. In diese  Vgl. Tillich, Kairos, 53: „Nicht im Bedingten an sich liegt der Grund, der zur absoluten Spannung treibt, sondern in der Richtung des Bedingten auf das Unbedingte.“  Diesen intentionalitätstheoretischen Religionsbegriff hat Tillich in dem 1919 entstandenen Entwurf Rechtfertigung und Zweifel eingeführt. Hier heißt es in der ersten Version des Entwurfs mit Bezug auf den „von der phänomenologischen Schule gebrauchten Begriff des ‚Meinens‘“: „Ein Begriff ‚meint‘ etwas, zielt auf etwas hin, und dieses Gemeinte ist etwas ganz anderes als die Vorstellung, durch die hindurch gemeint wird. So wird das Unbedingte gemeint in bedingten Vorstellungen.“ (EW X, 176). Die zweite Version von Rechtfertigung und Zweifel arbeitet ebenfalls mit diesem Religionsbegriff (vgl. a.a.O., 225). In dem im selben Jahre veröffentlichten Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur wird Religion hingegen noch als „Erfahrung des Unbedingten“ (P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: ders., Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 26 – 41, hier 30) bestimmt. Erst in der zweiten Auflage des Vortrags aus dem Jahre 1921 ersetzt Tillich diese Bestimmung der Religion durch die des Meinens des Unbedingten. Vgl. a.a.O., 41.  A.a.O., 59.  A.a.O., 53.  Vgl. Tillich, Kairos, 56: „Theonomie ist immer unmittelbar, ungewollt, substanzhaft“.

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Konstruktion fügt er als retardierendes Moment den Widerstand der Heteronomie ein, der in dem Festhalten und Bewahren konkreter Formen als religiöser besteht.¹⁰⁶ Aus der Dialektik von Kultur und Religion, der in diese eingelagerten Spannung von Heteronomie und Autonomie sowie der Durchsetzung der Formen und dem Zurücktreten der Grundlagenfunktion des Unbedingten resultiert die „Tragik der Autonomie“.¹⁰⁷ Da das Unbedingte, also die reflexive Erschlossenheit des Selbstverhältnisses, die Grundlage allen Bewusstseins darstellt, kann diese nicht durch die kulturellen Akte hergestellt werden. Die Formen sind damit nicht mehr Medium der Darstellung von Selbsterschlossenheit, sondern gleichsam leer. Das bezeichnet Tillich als Anomie, „als Selbstzerstörung der übergreifenden Form“.¹⁰⁸ Die Strukturierung der Geschichte ergibt sich in dem Kairos-Aufsatz aus dem Doppelverhältnis von Religion und Kultur bzw. von Theonomie und Autonomie. Das vorantreibende Moment der Geschichtskonstruktion ist die Autonomie. Deren Dialektik besteht darin, sowohl Abwendung von der Grundlagenfunktion des Unbedingten als auch Voraussetzung für die Hinwendung zu dieser zu sein. Im Kairos, der als übergeschichtlich gekennzeichnet wird,¹⁰⁹ kommt es zur Erfassung der Grundlagenfunktion des Unbedingten im Selbstverhältnis, also einem Reflexivwerden des autonomen kulturellen Selbstverhältnisses des Bewusstseins.¹¹⁰ In dem Abschnitt Die Dialektik der Autonomie, der den Vortrag Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie abschließt, hat Tillich seine geschichtsphilosophischen Überlegungen aufgenommen und ähnlich wie in dem

 Vgl. ebd. In dem Aufsatz von 1922 kritisiert Tillich an den von ihm absolut genannten Geschichtsphilosophien, diese würden das Absolute mit einem bestimmten Standpunkt identifizieren. „Ein unbedingt gesetztes Bedingtes, eine Einzelwirklichkeit, die mit göttlichen Prädikaten ausgestattet wird, ist widergöttlich, ist ‚Götze‘.“ (A.a.O., 48; vgl. 57). Das Unbedingte, so ist der Einwand zu verstehen, wird in diesen Formen der Geschichtsphilosophie nicht als Reflexionsakt verstanden, der dem Selbstverhältnis des Bewusstseins uneinholbar zugrunde liegt. Solche Formen der Geschichtsphilosophie, die das Unbedingte mit dem Bedingten identifizieren, werden hier als Heteronomie gefasst.  Ebd.  A.a.O., 56.  Vgl. a.a.O., 57. 59.  Vgl. a.a.O., 57: „Die Wendung zum Unbedingten enthält also immer zwei Momente; das autonome Bewußtsein der geschichtsbildenden Schöpferkraft und die Hingabe dieser autonomen Kraft zur Erfüllung mit dem unbedingten Gehalt. In der Erhebung der Autonomie liegt die Vorbereitung des Kairos, in dem Hereinbrechen der Theonomie seine Erfüllung. Zu überwinden aber sind immer Heteronomie und Autonomie.“

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Kairos-Aufsatz an den Leitbegriffen Theonomie und Autonomie orientiert.¹¹¹ Der Religionsbegriff erhält jedoch hier eine differenziertere Ausarbeitung, indem die Grundlagenfunktion des Bewusstseins nun als substantiell religiöses Bewusstsein beschrieben und von der aktuellen Religion, dem intentionalen Meinen des Unbedingten durch die Bewusstseinsfunktionen hindurch, unterschieden wird.¹¹² Für die Konstruktion der Geschichte hat die Neufassung des Religionsbegriffs jedoch noch keine Folgen, da die alte Strukturierung in einer Abfolge von Theonomie, Heteronomie und Autonomie beibehalten wird. Das Movens der Geschichte ist auch hier einerseits ein Nachlassen der Theonomie¹¹³ und andererseits die Dialektik der Autonomie,¹¹⁴ so dass die Frage, wie es zu einer Abwendung vom Unbedingten kommt, das als Grundlage jedes Bewusstseins – also auch des sich von diesem abwendenden – fungiert, offen bleibt.

4.2 Das Dämonische und die Offenbarung Es ist die hinter dem Schema von Theonomie und Autonomie stehende Fassung des Selbstverhältnisses des Bewusstseins, die durch die Einführung des Dämonischen eine komplexere Struktur erhält. Die systematische Schwierigkeit, mit der sich Tillichs geschichtsphilosophische Konstruktion konfrontiert sieht, die von dem Doppelverhältnis von Religion und Kultur ausgeht, besteht in einem Zweifachen: zunächst in der Frage, wie es im Selbstverhältnis des Bewusstseins zu einem Zurücktreten von dessen Unbedingtheitsdimension kommen kann, wenn diese doch jedem Bewusstsein zugrunde liegt. Sodann bleibt in den beiden Texten von 1922 undeutlich, wie sich die allgemeine Grundlagenfunktion des Unbe-

 Vgl. ebd. Vgl. P. Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, in: ders., Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 63 – 80, bes. 78 – 80.  Vgl. Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, 72. Vgl. hierzu F.Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung. Zur Ausformung der Christologie Tillichs in der Auseinandersetzung mit Karl Barth, in: Jesus of Nazareth and the New Being in History. International Yearbook for Tillich Research 6 (2011), 90 – 119, bes. 95 – 98.  Vgl. Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, 78: „Sobald eine Periode der Theonomie ihrem Ende zugeht, sucht sie die Formen, die einmal der adäquate Ausdruck ihres Gehaltes waren, zu konservieren; diese Formen aber sind leer geworden; werden sie mit Gewalt aufrecht erhalten, so entsteht Heteronomie.“  Vgl. a.a.O., 79: „Wo das Unbedingte in keiner anderen Weise erfaßt wird, als in der unbedingten Geltung der logischen oder ethischen oder ästhetischen Form, da tötet es das Leben; […] Die Autonomie bricht auseinander in Nomismus und Antinomismus.“

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dingten von der aktualen Religion unterscheidet.¹¹⁵ Beim ersten handelt es sich um eine Strukturbeschreibung des Selbstverhältnisses des Bewusstseins und beim zweiten um das kontingente und geschichtliche Innewerden der Struktur. Einen ersten Umgang mit den genannten Problemen bieten der Entwurf Die religiöse Erneuerung des Sozialismus sowie der Vortrag vom November 1922 über Die Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte. Die Skizze Die religiöse Erneuerung des Sozialismus markiert schon mit der Zuordnung der Dämonie zur Geschichtsunbewusstheit, der die Theokratie als Reflexion gegenübergestellt wird, den Problembestand aus den vorangegangenen Texten, an den die Neuformulierung anknüpft. An die Stelle des Gegensatzes von Theonomie und Autonomie tritt nun der von Theokratie und Dämonie. Letztere bestimmt Tillich als Ungeformtheit, also als Negation bzw. „dämonisch-anome[] Erhebung gegen die Form“ (EW X, 317). Mit Dämonie wird hier der Reflexionsakt im Selbstverhältnis bezeichnet, der zur Religion gehört und die im Bewusstsein gesetzte Form negiert, aber diese Negation gleichsam isoliert.¹¹⁶ Deshalb ist die Dämonie zerstörerisch und erscheint nach dem Weichen der religiösen Grundlagen in der modernen entzauberten Kultur als Anomie. Die dialektische Tragik der Autonomie aus dem Kairos-Aufsatz, die mit dem Zurücktreten der reflexiven Erschlossenheit des Selbstverhältnisses im kulturellen Bewusstsein in Anomie übergeht, wird hier als Dämonie bezeichnet. Die Aufgabe der Theonomie ist es demgegenüber, die Isolierung des Negationsakts an die Form wieder zurückzubinden.¹¹⁷ Der Reflexionsakt im konkreten, geschichtlich bestimmten Bewusst-

 Vgl. hierzu Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung, 95 – 98. Tillich selbst hat sowohl in seiner Antwort von 1924 als auch in seinem Aufsatz Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie auf die genannten Probleme aufmerksam gemacht, was jedoch von der Tillich-Forschung bislang nicht beachtet wurde. Vgl. GW VIII, 285 f.  Ganz ähnlich bestimmt Tillich das Dämonische in dem Vortrag vom November 1922: „Das Dämonische knüpft an dem negativen, alles Endliche verneinenden Element des Unbedingten an; sie deutet diese Negativität als Lebensvernichtung; sie identifiziert die lebenszerstörenden Mächte mit der göttlichen Negativität.“ (EW XIII, 646)  Vgl. EW X, 317: „Daraus der Kampf der Theonomie mit ihren theokratisch-autonomen Elementen gegen die Dämonie und Anomie, aber nicht, um sie zu vernichten, sondern um sie als schöpferische Elemente in die Theonomie aufzunehmen.“ Vgl. auch a.a.O., 315, wo Tillich davon spricht, dass der als Macht und Eros beschriebene irrationale Reflexionsakt der Formnegation, also die Dämonie, durch die Theonomie in „die Irrationalität von oben überführt“ wird. Vgl. auch EW XIII, 646: „Gegen das Dämonische reagiert das Göttliche, das Heilige im Sinne der Form. Diese Reaktion erweckt die Reflexion auf die Form und die große Übergangserscheinung von der Theonomie auf die Autonomie.“ In seiner Antwort auf die Kritik an seinem Kasseler Vortrag vom Oktober 1923, die 1924 in den Blättern für Religiösen Sozialismus erschien, erwähnt Tillich die Unterscheidung von „Gehalt von oben“ und „Gehalt von unten“ (Tillich, Antwort, 21), was die

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sein – von Tillich als Macht und Eros beschrieben –, der Träger des Göttlichen ist, wird in seiner Isolierung zur Dämonie. Damit löst die Dämonie die systematische Funktion der Autonomie und ihrer Dialektik aus dem Kairos-Aufsatz von 1922 ab. Das in Die religiöse Erneuerung des Sozialismus eingeführte Konzept der Dämonie hat in dem 1923 publizierten Text Grundlinien des religiösen Sozialismus eine weitere Neubestimmung erhalten. Das schlägt sich nicht nur terminologisch nieder. Tillich spricht nun von dem Dämonischen und nicht mehr von Dämonie.¹¹⁸ Hinter der terminologischen Verschiebung steht eine Neufassung der Konzeption des Dämonischen, die den zeitgleichen Ausführungen in der Religionsphilosophie entspricht und sich in einer veränderten Fassung des Themas der Geschichte niederschlägt. Deren Gegenstand ist jetzt nicht mehr die Dialektik der Autonomie oder der Kampf zwischen Dämonie und Theokratie, sondern der zwischen Göttlichem und Dämonischem.¹¹⁹ Das allgemeine Wesen des Dämonischen bestimmt Tillich in dem Aufsatz von 1923 als „Erhebung [!] des irrationalen Grundes aller individuellen schöpferischen Formverwirklichung im Widerspruch mit der unbedingten Form“.¹²⁰ Das Dämonische wird also nicht mehr, wie noch ein Jahr zuvor, lediglich als Akt verstanden, der die Form negiert und dessen dämonische Charakterisierung in einer Loslösung bzw. Isolierung von der Form gründet. Es wird hier als Reflexionsakt verstanden, in dem die unbedingte Form negiert wird, also die Forderung, unter der der Geist steht. Damit hat Tillich eine Fassung des Dämonischen erreicht, die es ihm erlaubt, in den Reflexionsakt, der die Religion ist, eine innere Antinomie einzuzeichnen, der zufolge die Religion selbst zugleich göttlich und dämonisch ist. Aber auch der Aufsatz von 1923 repräsentiert ebenso wie die zeitgleich entstandene und erst zwei Jahre später publizierte Religionsphilosophie noch eine Übergangsstufe.¹²¹ Das wird deutlich an dem Religionsbegriff, der in diesen Texten verwendet wird. Es ist nach wie vor das Modell des Meinens des Unbedingten aus dem Kairos-Aufsatz bzw. eines der Intention nach religiösen Bewusstseins, mit dem sowohl die Grundlagenfunktion des Unbedingten im BeVermutung nahelegt, dass seinem Vortrag die Fassung des Textes zugrunde lag, die im Nachlass unter dem Titel Die religiöse Erneuerung des Sozialismus entspricht.  Das ist bereits in dem Vortrag Die Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte vom November 1922 der Fall.  Vgl. Tillich, Grundlinien des Religiösen Sozialismus, 90; GW I, 338: „In der Sphäre des Heiligen selbst erhebt sich der Gegensatz von Göttlich und Dämonisch.“  Tillich, Grundlinien des Religiösen Sozialismus, 90.  In seiner Religionsphilosophie hat Tillich zwar das Dämonische als polaren Gegenbegriff zum Göttlichen in dem Abschnitt über Die Wesenselemente der Religion und ihre Relationen aufgenommen (vgl. GW I, 338 f.), aber die Konstruktion der Offenbarungsgeschichte (vgl. GW I, 353 – 356) folgt noch ganz dem alten Modell der Dialektik der Autonomie.

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wusstsein als auch die geschichtliche Verwirklichung der Religion beschrieben wird. Wie sich beide Formen unterscheiden, also die strukturelle Fassung des Selbstverhältnisses jedes Bewusstseins und das geschichtliche Innewerden dieser Struktur im Bewusstsein, wird nicht deutlich, jedenfalls nicht eigens herausgearbeitet. In beiden Fällen wird das Meinen des Unbedingten nicht inhaltlich bestimmt, sondern als Negation an den theoretischen und praktischen Funktionen des Bewusstseins. Tillich selbst hat auf diese Probleme in seiner Antwort von 1924 in den Blättern für religiösen Sozialismus aufmerksam gemacht, die auch seine bisherige Fassung des Dämonischen betreffen. Hier heißt es mit Bezug auf die Kritik von Alexander Rüstow an seinem Berliner Vortrag über Die Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte, das Dämonische wäre zu weit gefasst und dadurch „unklar“.¹²² Als weiterführend für die Fassung des Religionsbegriffs wird auf die Auseinandersetzung mit Karl Barth in den Theologischen Blättern verwiesen.¹²³ Die Andeutungen Tillichs beziehen sich auf den Offenbarungsbegriff, der in seiner bisherigen Fassung nicht ersichtlich werden lässt, wie ein konkretes religiöses Bewusstsein in der Geschichte entsteht, das sich von der allgemeinen Substanzbeziehung, die jedem Bewusstsein zugrunde liegt, unterscheidet.¹²⁴ Das sind die Fragen, die durch die Debatte mit Barth eine Klärung erfahren und zu einer Neufassung des Offenbarungsbegriffs führen.¹²⁵ Damit verbunden ist auch eine Neubestimmung des Dämonischen. In seinem Gießener Vortrag Rechtfertigung und Zweifel von 1924 liegt die angesprochene Klärung des Offenbarungsbegriffs vor.¹²⁶ Tillich unterscheidet hier zwischen Grund- und Heilsoffenbarung. Die reflexive Erschlossenheit des Selbstverhältnisses des Bewusstseins, also die strukturelle Grundlagenfunktion des Unbedingten, wird nun als Grundoffenbarung, „als Gegenwärtigkeit Gottes vor der Gotteserkenntnis“ bestimmt,¹²⁷ die als solche unbestimmt ist.¹²⁸ Gegen

 Tillich, Antwort, 19.  Vgl. a.a.O., 18.  Vgl. Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung, 97: „Zu verstehen gilt es mithin, wie explizites Meinen als ein intentionales Bewusstsein entsteht, wie der Unterschied zu religiösem Wissen und Bestimmen aufrecht gehalten werden kann, wie der Entstehungsprozess (also die Offenbarung) sich zu dem Gehalt (Paradoxie) verhält.“  Vgl. GW VII, 216 – 225.  Vgl. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, in: ders., Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 124– 137. Vgl. hierzu Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung, 98 – 114.  Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, 130.  Vgl. ebd.: „Der Moment des Durchbruchs ist in Bezug auf Inhalte völlig indifferent. Der Mensch hat kein Werk des Erkennens, keinen Gedankeninhalt vorzuweisen. Das Göttliche ist der

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Barths soteriologische Deutung des Protestantismus stellt Tillich eine universalkosmologische Konzeption, die jedoch inhaltlich nicht bestimmt ist, da die Grundoffenbarung ein Reflexivwerden des Selbstverhältnisses bezeichnet. Die autonomen Kulturfunktionen werden negiert, und das Unbedingte lässt sich lediglich als Negation der theoretischen und praktischen Vermögen darstellen. Dieser Reflexionsakt im Selbstverhältnis wird als zweideutig gefasst. Er ist sowohl göttlich als auch dämonisch. Überwunden wird die Zweideutigkeit der Grundoffenbarung in der Heilsoffenbarung, mit der nun die in der Geschichte sich verwirklichende Religion beschrieben wird. Diese ist nicht aus jener herleitbar, wohl aber auf die Grundoffenbarung bezogen. Um dieser Zweideutigkeit der Grundoffenbarung willen wird die Offenbarung des Göttlichen zur Heilsgeschichte, zur Überwindung des Dämonischen in der Menschheitsreligion. Die Überwindung aber des Dämonischen, die Vollendung der zweideutigen Grundoffenbarung zur eindeutigen göttlichen Heilsoffenbarung ist da erfolgt, wo Gott sich als Geist und Liebe zeigte, unbeschadet seiner Majestät und Verborgenheit.¹²⁹

Die Heilsoffenbarung bezieht sich auf die Religionsgeschichte. Auch jene ist wie die Grundoffenbarung nicht inhaltlich oder gegenständlich bestimmt. Die Christologie, für die die Heilsoffenbarung steht, bezeichnet allein die reflexive Struktur des religiösen Akts.¹³⁰ Er verwirklicht sich als Richtung auf das Unbedingte allein als Negation jeder gesetzten konkreten Bestimmung des Unbedingten. Das repräsentiert in der Religionsgeschichte als deren inneres Telos das Kreuz Christi.¹³¹ In der christologisch bestimmten Religion ist die dämonische Zweideutigkeit überwunden.

Sinnabgrund und -grund, das Ende und der Anfang jedes möglichen Inhaltes. Nichts anderes ist darüber zu sagen.“  A.a.O., 135.  Vgl. ebd.: „[…] denn jede wirkliche Offenbarung hat eine Form und einen Namen, und dieser Name gilt als heilvoller Name“. Vgl. hierzu auch Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung, 113.  Die 1925 in Marburg gehaltene Vorlesung über Prolegomena zur Dogmatik nimmt die Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung auf und führt sie weiter. Tillich verbindet die Christologie hier mit der vollkommenen Offenbarung, in der die Heilsoffenbarung selbst reflexiv wird. Vgl. EW XIV, 37– 55. „Die vollkommene Offenbarung ist diejenige, in der die Dämonisierung der Offenbarung in sich selbst unmöglich gemacht ist dadurch, daß jeder Anspruch des Offenbarungsweges auf Unbedingtheit ausgeschlossen ist. Dieses soll aber in den konkreten Heilsweg eingehen, d. h. das Konkrete und die Negation des Konkreten sollen im Heilsweg realisiert sein.“ (a.a.O., 49)

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4.3 Dämonische und göttliche Erschlossenheit des Bewusstseins Mit der Neufassung der Dialektik der Autonomie durch den Begriff des Dämonischen sowie der im Offenbarungsbegriff vorgenommenen Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung sind die systematischen Grundlagen von Tillichs Verständnis des Dämonischen herausgearbeitet, wie es seit 1924 in dem Aufsatz Rechtfertigung und Zweifel, dem Augustin-Aufsatz,¹³² der Dogmatik-Vorlesung und anderen Texten wie den beiden Studien zum Dämonischen von 1926 begegnet.¹³³ Dass sich seine abschließende Fassung dieser Konzeption den beiden rekonstruierten Aspekten verdankt, hat er selbst in dem Beitrag Der Begriff des Dämonischen benannt. Vor dem Hintergrund seiner Konstruktion des Verhältnisses von Religion und Kultur im Selbstverhältnis des Geistes, also der strukturellen Grundlagenfunktion des Unbedingten, „erhebt sich notwendigerweise die Frage, wie denn von hier aus der Widerspruch des Wirklichen gegen das tragende Heilige und seinen unbedingten Anspruch zu verstehen sei“. Im unmittelbaren Anschluss fährt Tillich fort: Die Kategorien profan, kulturell, autonom, humanistisch (mit denen z. B. Gogarten und Emil Brunner das Problem zu lösen suchen) genügen offenbar nicht, sobald erkannt ist, daß es neben dem uns angehenden keinen ‚Ort‘ geben kann, von dem aus wir ihm widersprechen können. (GW VIII, 286)¹³⁴

 Vgl. GW XII, 81– 96.  Grundlegend ist freilich die in Marburg und Dresden gehaltene Dogmatik-Vorlesung. Hier wird das Dämonische in einem systematischen Zusammenhang entfaltet, und zwar in den Prolegomena, der Gottes- und Sündenlehre und in der Christologie. Vgl. hierzu den Beitrag von Folkart Wittekind in diesem Band.  Georg Neugebauer ist in seiner Studie zu Tillichs frühe[r] Christologie bislang als einziger, so weit ich sehe, auf das systematische Problem eingegangen, was Tillich zur Einführung des Begriffs des Dämonischen veranlasst hat. Auch für Neugebauer ist es die 1926 in dem Aufsatz aus den Theologischen Blättern formulierte Frage, wie ein Widerspruch gegen das Absolute möglich ist, wenn dieses dem Selbstverhältnis zugrunde liegt. Er beantwortet diese Frage mit dem Bezug auf das Heilige. „Tillichs Auffassung nach muss der religiöse Gehalt als der formale Ausdruck für den Begriff des Heiligen oder Gottes in seiner inneren Dialektik durchschaut werden. Das Heilige ist nicht allein gründender Grund allen Seins, sondern immer auch zugleich Abgrund. Diese Dialektik spiegelt die Differenz von Göttlichem und Dämonischem wider.“ (G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 341) Allerdings liegen sowohl dem Göttlichen als auch dem Dämonischen das Doppelverhältnis von Grund und Abgrund zugrunde.

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Diese Kritik betrifft, wie dargestellt, auch die Konzeptionen in dem Kairos-Aufsatz sowie Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. Das alte Schema von Religion und Kultur bzw. von Gehalt und Form wird durch die Neuformulierung des Offenbarungsbegriffs in eine komplexere Konzeption überführt. Was besagt das nun für die Fassung des Dämonischen? In seine Konzeption des Dämonischen, wie sie in den Texten seit 1922/23 greifbar ist, hat Tillich seine frühe, schon vor dem Ersten Weltkrieg ausgearbeitete Sündenlehre aufgenommen und weiterbestimmt. Das Selbstverhältnis des Bewusstseins ist durch eine Antinomie ausgezeichnet, der zufolge jede Selbsterfassung des Bewusstseins zugleich dessen Verfehlung ist. Göttliches und Dämonisches stehen für zwei mögliche Weisen, in denen das Selbstverhältnis des Geistes seiner Struktur ansichtig wird. Besessenheit und Begnadetheit entsprechen sich, dämonisches und göttliches Überwältigtsein, Inspiriertsein, Durchbrochensein sind Korrelate. In beiden Erscheinungen sind es die schöpferischen Urkräfte, die formzersprengend in das Bewußtsein einbrechen. In beiden Fällen wird der Geist über seine autonome Isolierung hinausgehoben, in beiden Fällen einer Macht unterworfen, die nicht Naturmacht ist, sondern der tieferen Schicht des auch die Natur tragenden Abgrundes entstammt.¹³⁵

Es ist ein und derselbe Reflexionsakt, in dem das Selbstverhältnis des Bewusstseins sich in seiner reflexiven Struktur durchsichtig wird, der sowohl göttlich als auch dämonisch ist. Göttliches und Dämonisches sind beides Beschreibungen des Einbruchs von Reflexivität im Selbstverhältnis. Der Unterschied zwischen dem Dämonischen und dem Göttlichen resultiert aus der Stellung zur unbedingten Form. Im ersten Fall wird die unbedingte Form negiert und im zweiten wird sie bejaht.¹³⁶ Wie ist der Unterschied der genannten beiden Weisen der Selbsterfassung des Bewusstseins zu verstehen? Der Geist ist als Grund aller Bestimmungen zugleich unbedingt und bedingt. Alle Bestimmungen werden in dem sich selbst reflexiv erschlossenen Selbstverhältnis gesetzt, aber der Geist hat sich selbst für sich selbst nur als einen stets schon konkret geschichtlich bestimmten. Jene Erschlossenheit des Selbstverhältnisses der Grundoffenbarung ist sowohl göttlich als auch dämonisch. Die göttliche Erfülltheit des Bewusstseins meint, es erfasst sich selbst in dieser seiner Struktur. „Seinsgestalt und Seinsunerschöpflichkeit gehören zusammen. Ihre Einheit als Wesenstiefe schlechthin ist das Göttliche, ihr Auseinandertreten in der

 Tillich, Das Dämonische, 145.  Vgl. ebd.: „Der Unterschied ist nur der, daß die gleichen Kräfte als Gnade mit der höchsten Form geeint sind, als Besessenheit der höchsten Form widersprechen.“ (Hervorhebung C. D.)

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Existenz, das relativ selbstständige Hervortreten des ‚Abgrundes‘ in den Dingen, ist das Dämonische.“¹³⁷ Aber das Göttliche als Einheit von Grund und Abgrund tritt nicht in das Bewusstsein ein, es bleibt ihm transzendent, und auch in der dämonischen Ergriffenheit wird sich das Bewusstsein in seiner antinomischen Struktur inne.¹³⁸ Der Unterschied zur göttlichen Begnadetheit liegt allein darin, dass das Bewusstsein die konkrete Form, die es selbst gesetzt hat, nicht negiert, sondern gleichsam als seine eigene Bestimmung festhält.¹³⁹ Diese Bestimmung kann weder ein Versehen noch eine tragische Verwechslung, etwa des Bedingten mit dem Unbedingten sein, sie kann auch nicht als nichtreflexiver Akt verstanden werden, da sich dann – wie noch in der Gegenüberstellung in Die religiöse Erneuerung des Sozialismus – der Unterschied von Dämonischem und Göttlichem auf einen bloßen Reflexionsunterschied reduzieren würde. Die Bestimmung des Bewusstseins durch eine Form muss vielmehr als ein geistiger Akt aufgefasst werden.¹⁴⁰ Dadurch überführt jedoch das Bewusstsein im Akt seines Sich-Bestimmens seine eigene Bestimmtheit in seine Akte.¹⁴¹ Die Differenz von Bestimmtheit zur Selbstbestimmung und deren Vollzug wird also aufgehoben und in eine Aufgabe des Selbst transformiert. Darin, in der Fixierung des Akts, der das Selbstverhältnis als schöpferischer Grund aller Bestimmtheit ist, besteht das Zerstörerische dieser reflexiven Selbsterfassung. Sie manifestiert sich in den Extremen der Selbsterhaltung (Macht) und der Selbstvernichtung (Eros). Im einen Fall wird die Bestimmung des Göttlichen gegen alle anderen durchgesetzt und im anderen wird sie negiert, so dass die Formzerstörung jeweils eine Fixierung der schöpferischen Selbsttätigkeit voraussetzt.¹⁴²

 A.a.O., 143.  Vgl. ebd.: „Im Dämonischen dagegen ist immer noch das Göttliche, die Einheit von Grund und Abgrund, von Gestalt und Verzehr der Gestalt; darum kann das Dämonische zur Existenz kommen, freilich in der Spannung beider Elemente.“  Vgl. a.a.O., 145: „Die dämonische Inspiriertheit sieht zwar mehr als die rationale Nüchternheit [sc. da jene der Reflexionsakt ist, in dem sich das Bewusstsein in seiner eigenen Struktur, Grund und Abgrund aller schöpferischen Bestimmtheit zu sein, erfasst. Deshalb gilt:]; sie sieht das Göttliche; aber als das, vor dem sie Angst hat, das sie nicht lieben, mit dem sie sich nicht einen kann.“  Vgl. ebd.: „Denn hier, wo die Form nicht nur unmittelbar wächst, nicht nur dem Dasein aufgeprägt ist, sondern als Forderung dem Sein gegenübertritt, wo sie sich an die Freiheit und Selbstmächtigkeit des Seienden wendet, wird das Formzerstörerische zum geistigen Widerspruch, zur aktuellen Erhebung des Abgrundes gegen die Gestalt.“ Vgl. auch GW VIII, 286.  Vgl. hierzu Wittekind, ‚Sinndeutung der Geschichte‘, 167.  Damit überträgt Tillich die Bestimmung der Heteronomie aus dem Kairos-Aufsatz und Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie auf das Konzept des Dämonischen. Vgl. oben Anm. 106.

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Das Geschehen von reflexiver Erschlossenheit des Selbstverhältnisses, also das kontingente Innewerden des Unbedingten als Grundlage des Bewusstseins an dessen konkreten Formen, ist zweideutig, nämlich sowohl göttlich als auch dämonisch.¹⁴³ Diese Zweideutigkeit der Grundoffenbarung fungiert als Ausgangspunkt der Religionsgeschichte. „Das Dämonische ist die negative und positive Voraussetzung der Religionsgeschichte.“¹⁴⁴ Die Geschichte der Religion strukturiert Tillich als einen Kampf des Göttlichen gegen das Dämonische. Erst dadurch wird deren Tiefenstruktur zur Heilsgeschichte, also zur Überwindung der zweideutigen Darstellung des Göttlichen in einer reflexiven Fassung.¹⁴⁵ Der religionsgeschichtliche Widerstreit zwischen Göttlichem und Dämonischem, die zweideutige Grundoffenbarung, führt jedoch nicht von sich aus zum Übergang in die Heilsoffenbarung der wahren Religion bzw. zur Konstitution eines reflexiven religiösen Bewusstseins.¹⁴⁶ Ein Reflexivwerden des sich selbst erschlossenen Bewusstseins, das seine Selbsterschlossenheit in Gottesvorstellungen darstellt und diese einem permanenten Prozess der Kritik unterstellt, lässt sich aus der Geschichte nicht ableiten. Es ist ein eigener und unableitbarer Akt, ein ,Durchbruch in der Seeleʻ, in dem die geschichtlich eingebundene Religion selbst reflexiv wird. Ein solches gegenwärtiges [!] Bewusstsein, das aus dem Übergang von der zweideutigen Darstellung seiner Selbsterschlossenheit zu einem reflexiven Selbstverhältnis entsteht, ist durch das Wissen um die bleibende und uneinholbare Transzendenz Gottes ausgezeichnet. Darin, im Wissen um die Nichtdarstellbarkeit Gottes, also im Meinen des Unbedingten durch die konkreten Formen hindurch, erfüllt sich die Religionsgeschichte.¹⁴⁷ Die Heilsoffenbarung bzw. die  Das betont Tillich auch in der Dogmatik-Vorlesung. Vgl. EW XIV, 225: „Es ist also der gleiche Akt, der in der reinen Kreatürlichkeit das Seiende trägt und in der Wesenswidrigkeit zum Widerstreit gegen die göttliche Klarheit und damit zur Formzerstörung treibt. Diese Doppelseitigkeit, Zweideutigkeit nun, in Bezug auf das Unbedingt-Tragende gesehen, ist das Dämonische.“  Tillich, Das Dämonische, 151.  Vgl. a.a.O., 150: „Nur als Heilsgeschichte angeschaut hat die Geschichte unbedingten Sinn.“  Vgl. a.a.O., 154: „Die drei Wege der Überwindung des Dämonischen in der Religionsgeschichte kommen durch sich selbst, durch eigene Dialektik nicht zum Ziel. Sie haben eine innere Grenze, die nur durch einen ursprünglichen Akt in der Geschichte, einen Durchbruch des Unbedingten zu überwinden ist. Ein solcher Durchbruch aber ist nicht mehr mit dialektischen Betrachtungen der Religionsgeschichte zu erfassen.“  Vgl. a.a.O., 154 f.: „Ein solcher Durchbruch […] ist nur in einem ebenso ursprünglichen Akt, einem Durchbruch in der Seele zugänglich. Wird er aber so erfaßt, so ist es nachträglich [!] möglich und notwendig, aufzuzeigen, in welchem Sinne er die Erfüllung des in der Religionsgeschichte Erstrebten, also Besiegung des Dämonischen ist.“ Tillich macht hier von seiner Christologie Gebrauch, die auf die Konstitution der Geschichte („Mitte der Geschichte“) zugespitzt ist.Vgl. P. Tillich, Christologie und Geschichtsdeutung, in: ders., Ausgewählte Texte, hg.v. C. Danz/ W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 237– 260.

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vollkommene Offenbarung ist aus der Grundoffenbarung nicht ableitbar, obwohl sich jene auf diese bezieht und sie vollendet. Erst damit ist es Tillich gelungen, die geschichtlich kontingente Religion und deren Entstehung im Individuum verständlich zu machen und von dem im Interesse an der Universalität der Religion beibehaltenen Gedanken einer substantiellen Religion, die zur Struktur des Selbstverhältnisses des Bewusstseins gehört, zu unterscheiden. Religion als Meinen des Unbedingten bezeichnet jetzt die Überwindung zweideutiger Selbsterschlossenheit.¹⁴⁸ Die Einfügung des Dämonischen in die geschichtsphilosophische Religionstheorie hat somit auch die systematische Funktion, den Religionsbegriff genauer zu bestimmen.¹⁴⁹

5 Die Ambivalenz der modernen Kultur, oder: Zur Funktion einer Kategorie des Zweideutigen Tillich hat seine Konzeption des Dämonischen nicht nur auf die Religionsphilosophie angewandt, um den Religionsbegriff systematisch schärfer zu fassen und die Frage zu klären, wie Religion in der Geschichte entsteht, er hat das Konzept auch auf die Kultur übertragen. Die systematische Grundlage hierfür bot ihm seine sinntheoretische Geistphilosophie, in der Religion und Kultur miteinander verzahnt sind. Die Grundoffenbarung in ihrer Zweideutigkeit ist die Voraussetzung von Religions- und Kulturgeschichte. „Allen innerreligiösen Formen der Überwindung des Dämonischen steht gegenüber die Profanisierung. Auch sie ist eine Form der Überwindung des Dämonischen. Aber sie überwindet es, indem sie sich zugleich vom Göttlichen losreißt.“¹⁵⁰ Auch die Kulturgeschichte vollzieht sich als Überwindung der zweideutigen Selbsterschlossenheit des Bewusstseins. Die Kritik an dem Dämonischen ist hier an dem Kulturbewusstsein, also an der Form orientiert. Diese, die Kritik der rationalen Form, ist zunächst ebenfalls göttliche

 Diese ist zweideutig, was auch bedeutet, woran Tillich in seinen Texten dieser Zeit keinen Zweifel lässt, dass das Dämonische sowohl positiv als auch negativ ist. Vgl. GW VIII, 287.  An dieser Konstruktion hat Tillich, wie die Pneumatologie der Systematischen Theologie deutlich macht, die durchweg an der ,ambiguity of lifeʻ orientiert ist, bis hin zu seinem Spätwerk festgehalten. Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, hg.v. C. Danz, Berlin/Boston 2017, 580 – 585.Vgl. hierzu C. Danz, Die Gegenwart des göttlichen Geistes und die Zweideutigkeiten des Lebens, in: ders. (Hg.), Paul Tillichs ‚Systematische Theologieʻ. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar, Berlin/Boston 2017, 227– 256.  Tillich, Das Dämonische, 155.

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Forderung, führt jedoch zum Zurücktreten des Göttlichen und Dämonischen hinter die autonome Kultur.¹⁵¹ In seiner geistphilosophischen Religions- und Kulturtheorie reformuliert Tillich den Verlust der Einheit der Kultur, wie er von Georg Simmel und Max Weber um 1900 analysiert wurde. Webers Verglühen des letzten Zentners des fossilen Brennstoffs wird in der Konzeption der Profanisierung aufgenommen, der die Kulturgeschichte unterliegt und die zu der von Simmel beschriebenen Tragödie der Kultur führt, dem Auseinandertreten von Seele und Kulturgütern in der Moderne. Die moderne, autonom gewordene Kultur ist zweideutig, und zwar sowohl auf der Subjekt- als auch auf der Objektseite. Mit dem Verlust der im Unbedingten fundierten Einheit der Kultur wird die Persönlichkeitsentwicklung ebenso ambivalent wie die der Kulturformen. Die Zweideutigkeit der modernen Kultur exemplifiziert auch Tillich am modernen Kapitalismus.¹⁵² Die autonome Wirtschaft ist mit Hilfe der Mittel, die ihr die Technik zur Verfügung stellt, die erfolgreichste Form der Güterbeschaffung, die je existiert hat. Der Mechanismus des freien Marktes ist die kunstvollste Maschine zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage, sowie zur ständigen Steigerung der Bedürfnisse und Bedürfnisbefriedigung, die sich für uns denken läßt. Es kann kein Zweifel sein, daß die kapitalistische Wirtschaftsform in höchstem Maße den tragenden, schöpferischen und umschaffenden Charakter hat, der zum Dämonischen gehört. Ebenso aber, daß diese ihre tragende Kraft verbunden ist mit einer zerstörenden von grauenhafter Gewalt.¹⁵³

Der Kapitalismus ist ambivalent. In der modernen Kultur unterliegt die Wirtschaft ausschließlich ihren eigenen Gesetzen, ohne durch eine übergeordnete Einheitsidee reguliert zu sein.¹⁵⁴ Das deutet Tillich mit dem Begriff des Dämonischen, also den zugleich schöpferischen und zerstörerischen Charakter der modernen

 Vgl. a.a.O., 157: „In der Profanität ist das Göttliche ohne die Tiefe des Dämonischen und das Dämonische ohne die Klarheit des Göttlichen.“  Der Kapitalismus ist aber lediglich ein Beispiel für die Ambivalenz, welche die gesamte Kultur, also die theoretische und die praktische Funktion des Geistes betrifft. In seinem Aufsatz Das Dämonische werden denn auch alle Geistesfunktionen thematisiert, das Erkennen und die Ästhetik sowie Wirtschaft und Nationalismus genannt. Vgl. a.a.O., 160 – 163.  A.a.O., 162.  Vgl. ebd.: „Es ist auch nicht möglich, mit religiös-moralischen Kategorien, wie Mammonismus das Dämonische der Wirtschaft auf das Niveau der allgemeinen Sündhaftigkeit herabzudrücken, um das Technische des Kapitalismus davon abzulösen.“

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Wirtschaft,¹⁵⁵ die unhintergehbar und deshalb ähnlich wie in Webers Diagnose unentrinnbar für den Einzelnen geworden ist. Seine religiöse Deutung der Kultur konzipiert auch Tillich vor dem Hintergrund von Simmels Deutung von deren Tragödie.¹⁵⁶ Allerdings konstruiert der Theologe die Seele, die in der modernen Kultur den Weg nicht mehr zu sich selbst findet, anders als Simmel. Tillich löst die Person in ihren Vollzug auf und geht nicht mehr von einem der Persönlichkeit zugrunde liegenden Seelen-Kern aus. Dadurch wird die Verwirklichung der Person ambivalent. Eben das, die Auflösung der substantiellen Persönlichkeitsvorstellung, die von Simmel noch beibehalten wird, verbindet Tillich mit Georg Lukács und Leo Löwenthal. Auch sie verstehen die Seele als konkretes Individuum und deuten dessen ambivalente Suche nach sich selbst in einer Kultur, die keine sie integrierende Einheit mehr hat, mit der zweideutigen Kategorie des Dämonischen. Der junge Lukács proklamierte mit Bezug auf die Werke Dostojewskijs eine Erlösung der Seele, welche die moderne Welt und ihre Funktionssysteme bestehen lässt. Für Löwenthal und Tillich ist die dämonische Zweideutigkeit allein im Ewigen überwunden, und nicht in der Geschichte, die ambivalent bleibt.¹⁵⁷ In dieser, an die der Mensch gebunden ist, besteht für den Theologen die Erlösung in dem unableitbaren Innewerden der zweideutigen Kultur.¹⁵⁸ Es ist ebenso wenig wie die wahre Religion der Heilsoffenbarung aus der Grundoffenbarung ableitbar, jedoch auf die Kultur bezogen. Tillich identifiziert ein solches reflexiv gewordenes Kulturbewusstsein, dem die Zweideutigkeit allen kulturellen Handelns durchsichtig geworden ist, mit dem religiös vertieften Sozialismus. Er steht indes nicht für einen Exodus aus den stahlharten Gehäusen der modernen Rationalität. Vielmehr repräsentiert er die

 Das „Sinnhafte und [das] Sinnwidrige“ sind in der modernen Wirtschaft „unlöslich verbunden“ (ebd.).  In seiner Berliner Vorlesung Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie vom Wintersemester 1920/21 wird der Simmel-Bezug im Hinblick auf das Kulturthema in der Einleitung ausdrücklich hervorgehoben. „Damit entsteht nun ein äußerst schwieriges Problem: Das Problem des Doppelsinnes der Form. Wir stehen damit in dem Centralproblem unserer gegenwärtigen Kulturphilosophie. Simmel sah es in seinem letzten Aufsatz über die Krisis der Kultur; er war damit auf der Schwelle des Neuen.“ (EW XIII, 5)  Vgl. Tillich, Das Dämonische, 163: „Nur im Hinblick auf das Ewige darf von der Überwindung des Dämonischen gesprochen werden, nicht im Hinblick auf irgendeine Zeit, eine Vergangenheit oder Zukunft.“  Vgl. a.a.O., 160: „Die Erkenntnis der Dialektik des Dämonischen führt über diesen Gegensatz hinaus, führt zur Anerkennung eines Gegenpositiven, das nicht durch Fortschritt, auch nicht durch bloße Revolution, sondern durch Schöpfung und Begnadung zu überwinden ist – und führt zugleich zur Erfassung der besonderen Dämonie jeder Gesellschaftslage und zu ihrer Kennzeichnung und Bekämpfung.“

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„Überwindung des Dämonischen“ – die allein im Ewigen ihren Ort hat – in der Kultur und weist den Einzelnen in diese als seine konkrete Aufgabe ein. Daß wir aber so auf das Ewige blicken können, daß wir nicht dem Dämon das gleiche Recht wie dem Göttlichen und damit das höhere, das einzige Recht zusprechen müssen, daß wir nicht im Angesicht der Welt dem Nein, dem Abgrund, der Sinnlosigkeit das letzte Wort geben müssen, das ist die Erlösung in der Zeit, die wieder und wieder Wirklichkeit wird, das ist das grundsätzliche Zerbrechen der Herrschaft des Dämonischen über die Welt.¹⁵⁹

 A.a.O., 163.

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Geld und Kultur bei Georg Simmel und Paul Tillich Georg Simmel hat aus Gründen, die wir noch genauer kennenlernen werden, von der „Feindseligkeit“ gesprochen, „mit der die religiöse und kirchliche Gesinnung oft dem Geldwesen gegenübersteht“.¹ Er hat damit im Jahr 1900 etwas zum Ausdruck gebracht, wovon sich der deutschsprachige Protestantismus bis in die Gegenwart nicht ganz freimachen konnte bzw. wollte. Geldkritik ist allerdings weder ein spezifisch christliches, noch ein spezifisch modernes Thema. Vielmehr ist Geldkritik, wie der katholische Wirtschaftsethiker Wilhelm Weber feststellt „schlechthin ubiquitär und perenn“.² Nicht die Kritik des Geldes, sondern vielmehr die akademische Rechtfertigung des Geldes bildet die Ausnahme. Sie ist begrenzt auf wenige Jahrhunderte und einen engen geographischen Raum, in denen in Westeuropa und Nordamerika die Nationalökonomie das Geld als wesentlichen Träger einer kapitalistischen Wirtschafts- und bürgerlichen Gesellschaftsform etabliert hat. Schon 1979 vermutete Weber, dass diese kurze Periode sich „ihrem Ende zuzuneigen scheint“.³ Diese Beschreibung macht deutlich, dass die Betrachtung und Bewertung des Geldes eng verknüpft ist mit der Betrachtung und Bewertung der soziokulturellen Umwelt. In dem Maße, in dem das wirtschaftliche Handeln über Geld vermittelt wird, wird das Geld auch zum Gestaltungsmittel menschlicher Handlungsmöglichkeiten. Denn das wirtschaftliche Handeln ist nun einmal, wie auch das politische Handeln, kein Handeln, das ebenso auch unterlassen werden könnte. Der Mensch braucht Mittel des Lebens und diese werden unter Bedingungen einer entwickelten Gesellschaft via Geld erworben. Oder wie Adam Smith schrieb: Geld ist „in allen zivilisierten Völkern zum unentbehrlichen Hilfsmittel im Handel geworden, das Kauf, Verkauf oder Tausch aller Waren vermittelt.“⁴ Adam Smith schrieb mit seinem Wohlstand der Nationen 1776 den Grundtext der modernen Nationalökonomie und steht am Anfang jener angesprochenen, Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft am 29. April 2017 in Frankfurt. Der Vortragscharakter wurde für die Publikation beibehalten.  G. Simmel, Philosophie des Geldes, Frankfurt a. M. 1989, 306.  W. Weber, Geld, Glaube, Gesellschaft, Opladen 1979, 39.  A.a.O., 40.  A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 41988, 27. https://doi.org/10.1515/9783110582994-008

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weltgeschichtlich kurzen Epoche einer akademischen Rechtfertigung des Geldes. Diese Studie ist dabei getragen von einer enormen Freiheitsemphase, bei der förmlich der Aufbruch in eine neue Gesellschaftsordnung zu spüren ist: Die Befreiung des Einzelnen zur wirtschaftlichen Selbständigkeit, die Chance, nun endlich das Eigeninteresse verfolgen zu können, statt nur den herrschaftlichen Vorgaben genügen zu müssen, die eigenen Talente in den gesellschaftlichen Verkehr einbringen zu dürfen und dadurch persönlichen Wohlstand zu erlangen und die gesellschaftliche Wohlfahrt zu befördern. Diese bei Smith über den Tausch, den Markt vermittelte Vergemeinschaftung freier Individuen über das wirtschaftliche Handeln hat im Geld ihr zentrales Medium. Adam Smith ist in unserem Zusammenhang zu nennen, weil schon bei ihm das Geld Ausdruck wie Medium eines bestimmten soziokulturellen Selbstverständnisses ist, das bestimmt ist von einer Vorstellung des guten Lebens von Individuum und Gemeinschaft, das auf persönlicher Freiheit und Sicherheit basiert. Smith ist aber auch zu nennen, weil sein Denken zugleich eine Neuorientierung markiert, welchen Beitrag die Wissenschaften zu diesem guten Leben leisten. Es sind eben nicht mehr die Philosophie und die Theologie, die hierfür zuständig sind. Die Nationalökonomie als moderne wissenschaftliche Darstellung und Durchdringung des ökonomischen Handelns dient bei ihm nicht mehr gleichsam instrumentell der Bestätigung einer kirchlichen Soziallehre als der vereinigenden Weltanschauung der ständischen Gesellschaft. Vielmehr löst sich die Nationalökonomie als empirische, auf Beobachtung beruhende Wissenschaft sui generis aus der kirchlichen Zweckbestimmung und beansprucht, mittels ihrer Leistungskraft für das zentrale menschliche Betätigungsfeld wirtschaftlichen Handelns, den Einzelnen wie die Nationen zum guten Leben zu führen. Diese Säkularisierung der Ethik lässt sich auch daran ablesen, dass der Wohlstand der Nationen aus Überlegungen resultiert, welche Smith im Rahmen seiner Vorlesungen als Professor für Moralphilosophie in Glasgow gehalten hatte. Er hatte dabei einen Vorlesungszyklus zu halten, der in vier Teilen von der Natürlichen Theologie über die Moralphilosophie im engeren Sinne (Theory of Moral Sentiments), die Rechtslehre bis hin eben zur Nationalökonomie führte.⁵ Der Wohlstand der Nationen wird daher nur angemessen begriffen, wenn er immer auch als eine Sozialphilosophie gelesen wird, in der die Konstitution und förderliche Entwicklung des Gemeinwesens auf einer neuen wissenschaftlichen Grundlage erörtert wird. Wenn wir daher sagten, dass bei Smith die über den Markt vermit-

 Vgl. W. Eckstein, Einleitung, in: A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, XV– LV, bes. XV.

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telte Vergemeinschaftung freier Individuen im Geld ihr zentrales Medium hat, ist es nur konsequent, dass die Geldtheorie in dem Wohlstand der Nationen einen breiten Raum einnimmt und das gesamte, voluminöse Werk durchzieht. Sie ist freilich nur ein Aspekt der Sozialtheorie Smith’s, für die auch zu nennen ist, dass sie im fünften Buch eben jenes klassisch altliberale „einfache System der Freiheit“ entwirft, das ein Maximum an individueller Freiheit bei einem Minimum an staatlichen Eingriffen fordert.⁶ Die Erinnerung an Adam Smith erfolgte hier, um zu zeigen, dass die neuartige Rechtfertigung des Geldes durch die Nationalökonomie im Rahmen sozialphilosophischer und ethischer Neuorientierung ihren Ort hat. Sie ist also keineswegs die moralische Entkernung der Kultur, sondern der Versuch der modernen Kultur ein neues, eigenes Ethos zu gewinnen. Wenn wir uns nun im Folgenden mit Georg Simmel und Paul Tillich beschäftigen, sehen wir, wie dieses Projekt schon ein gutes Jahrhundert später in die Krise gekommen ist. Wir werden sehen, worin Simmel und Tillich diese Krise bestimmen und welche Wege in und aus der Krise sie sehen. Der Berliner Philosoph Georg Simmel hat mit seiner Philosophie des Geldes eine Monographie von mehreren hundert Seiten zum Thema vorgelegt, dazu einige Aufsätze im Umfeld des Buches.⁷ Tillich hingegen hat dem Geld keine vergleichbar eindringliche Beschäftigung angedeihen lassen. Es kommt bei ihm eher illustrativ oder exemplarisch in den Blick als Symbol, welches das, was uns unbedingt angeht „götzenhaft“ repräsentiert.⁸ Das Geld ist also für Tillich damit durchaus ,religioidʻ, um das in einem Begriff Simmels zu sagen. Damit wird freilich auch der Zusammenhang von Kultur und Religion berührt, insofern nach Tillich die Erfassung der Kulturform des Geldes durch die Frage nach ihrem Gehalt ergänzt werden muss. Damit ist im Sinne Tillichs die spezifisch theologische, kulturtheologische Aufgabe gestellt. Nicht weniger emphatisch behauptet auch Georg Simmel die Notwendigkeit, die Beschäftigung mit dem Geld nicht allein der Nationalökonomie zu überlassen. Es ist für Simmel die Philosophie, die hier für die Rettung sorgt. Sie ist die Reflexionsdisziplin, welche der Ökonomisierung der modernen Kultur ihre tieferliegenden Gründe aufzeigt. Ich werde nun in einem ersten Teil Georg Simmels Theorie von Geld und Kultur, wie sie in seiner Philosophie des Geldes dargelegt ist, rekapitulieren. Im zweiten Teil werde ich dann Simmel mit Tillich ins Gespräch zu bringen suchen.

 Smith, Wohlstand der Nationen, 582.  Vgl. Simmel, Philosophie des Geldes.  GW VIII, 141.

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1 Georg Simmels Philosophie des Geldes im Kontext der zeitgenössischen Debatten Simmels Philosophie des Geldes, die in erster Auflage 1900, in zweiter, vermehrter Auflage 1907 erschien, enthält in der ,Vorredeʻ einige Bemerkungen, die Anlass sind, kurz etwas über die zeitgenössischen Kontexte zu sagen. Gleich zu Beginn des voluminösen Buches erfolgt die Erklärung, es sei die Absicht der Untersuchung, „dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen“.⁹ Er wolle einerseits darlegen, so Simmel, wie das wirtschaftliche Leben die geistige Kultur bedinge, andererseits, dass das Wirtschaften „das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen“¹⁰ sei. Diese Formulierung findet nicht von ungefähr ihr Echo in einer anderen berühmten Studie über das Verhältnis von moderner Wirtschaft und ihren psychologischen Bedingungen aus jener Epoche um 1900, nämlich Max Webers Die protestantische Ethik und der ‚Geistʻ des Kapitalismus, wenn es dort heißt, dass es nicht die Absicht sein könne, „an Stelle einer einseitig ‚materialistischenʻ eine ebenso einseitige spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen.“¹¹ Dass sowohl Simmel wie Weber gerade die Notwendigkeit einer solchen psychologischen oder ,spiritualistischenʻ Perspektive anführten und in ihren Untersuchungen zum eigentlichen Gegenstand machten, ist nur verständlich in Reaktion auf die damaligen Debatten über die Grundlagen der Nationalökonomie und der Kultur. Diese wissenschafts- und kulturtheoretischen Überlegungen konvergieren darin, den Kapitalismus in seiner das Leben prägenden Kraft zu deuten, die lebensbestimmend, aber auch lebensbedrohend geworden ist. Neben Weber und Simmel lassen sich zahlreiche andere eindrucksvolle und einflussreiche solcher Kennzeichnungen um 1900 finden, etwa bei den Nationalökonomen Eberhard Gothein und Werner Sombart, bei den Theologen Ernst Troeltsch und später dann natürlich auch Paul Tillich.¹² Sie alle fragen danach, ob und mit welchen Mitteln

 Simmel, Philosophie des Geldes, 13.  Ebd.  M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 91988, 205.  Dazu und zu den wechselseitigen Einflüssen vgl. F. Voigt, Vorbilder und Gegenbilder. Zur Konzeptualisierung der Kulturbedeutung der Religion bei Eberhard Gothein, Werner Sombart, Georg Simmel, Georg Jellinek, Max Weber und Ernst Troeltsch, in: W. Schluchter/F. W. Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, 155 – 184.

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eine Steuerung der modernen Kultur unter Bedingungen ihrer ökonomischen Bestimmtheit möglich ist. Simmel tritt mit der zitierten psychologischen Perspektive einer einseitigen materialistischen Betrachtungsweise entgegen, welche das Bewusstsein zum Epiphänomen ökonomischer Verhältnisse macht. Damit widerspricht er dem sozialistischen bzw. marxistischen Verständnis, dass in der Arbeit die fundamentale menschliche Verhaltensweise sieht und daher in den Produktionsverhältnissen den Schlüssel zur Gestaltung von Gesellschaft und Kultur. Eine solche reduktive, einseitige Erklärung der Vergesellschaftungsformen und der Kultur war für Simmel inakzeptabel. Nicht die Arbeit ist für Simmel das bestimmende Kennzeichen der modernen ökonomischen Ordnung, sondern der Tausch.¹³ Damit knüpft Simmel also an die von Adam Smith klassisch vertretene Grundannahme des Liberalismus an. Die Philosophie des Geldes trägt damit auch den Grundimpuls des Liberalismus in sich fort, dass die auf Tausch beruhende Wirtschaftsform als eine solche freier Individuen zu verstehen ist, die zugleich im Dienste individueller Freiheit steht. Wir werden sehen, wie sich dies im Laufe der Philosophie des Geldes entfaltet.

1.1 Die Wesensbestimmung des Geldes Mit seinem Anspruch einer philosophischen Wesensbestimmung positioniert sich Simmel offensiv gegenüber der Nationalökonomie, mit deren unterschiedlichen Wertlehren er sich im Zuge seiner Beschäftigung mit der Philosophie des Geldes auseinandersetzte. Die Zurückführung des Tauschwertes einer Ware auf die in ihm vereinte gesellschaftliche Arbeit ist die Grundlage der objektiven Wertlehre. Von ihr distanziert sich Simmel: Der Tausch als „soziologisches Gebilde sui generis“ ergibt sich eben nicht aus der „qualitativen und quantitativen Beschaffenheit der Dinge […] durch logische Konsequenz.“¹⁴ Der wirtschaftliche Wert entstehe vielmehr „erst unter Voraussetzung des Tausches“.¹⁵ Im Tausch nämlich vermittelt sich die individuelle Bedeutung eines Gegenstandes (im Sinne: seiner Bedeutung für das Individuum) mit seiner gesellschaftlichen Wertschätzung, also der Bedeutung, die es für andere Individuen hat. Der Tausch hebt damit die einzelne Sache aus der singulären Wertschätzung des Individuums, aber eben nicht im  Vgl. dazu auch K. Lichtblau, Georg Simmel, Frankfurt a. M./New York 1997, 39 – 52. Zu den ökonomischen Kontexten vgl. P. von Flotow, Geld, Wirtschaft und Gesellschaft. Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt a. M. 1995.  Simmel, Philosophie des Geldes, 89 f.  A.a.O., 90.

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Sinne der objektiven Wertlehre, indem er dieser Sache eine abstrakt-objektive Bemessung der in ihr enthaltenen Arbeit zukommen lässt, sondern, wie Simmel sagt, er hebt sie „in die Lebendigkeit der Wechselwirkung“.¹⁶ Diese Wechselwirkung entsteht aus den unterschiedlichen individuellen Wünschen, Begehrungen, welche den Tauschwert einer Sache ausmachen. Mit anderen Worten liegt der Wert einer Sache nicht in ihr selbst, sondern in ihrer Tauschrelation zu anderen Sachen, die wiederum in Relation zu anderen Sachen ihren Wert erhalten. Simmel stellt dies als den eigentlichen Entäußerungsprozess der Tauschwirtschaft dar: Der wirtschaftliche Wert, so sagt er, besteht „ausschließlich in dem Wechselverhältnis […], das sich aufgrund dieser Bestimmungen zwischen mehreren Gegenständen herstellt, jedes das andere bedingend und von ihm die Bedeutung zurückgebend, die es von ihm empfängt.“¹⁷ Hier sind wir auch schon an der Systemstelle von Simmels Denken, an der sich nationalökonomische Werttheorie, Philosophie des Geldes und Kulturtheorie verschränken. Wir halten fest: Der objektive Wert ist nach Simmel keine immanente Qualität einer Sache, sondern entsteht erst im Prozess des Tausches, der Wechselwirkung. Objektivität ist somit eine Kategorie der Sozialität. D. h. dieses Objekt hat für das Individuum als solches keinen Sinn, sondern nur, insofern das Individuum Teil von Sozialität ist und sich in ihr betätigt, etwa durch Tausch. Wirtschaftliches Handeln ist somit der exemplarische Fall des Objektiv-Werdens menschlicher Sozialität. In anderer Weise ausgedrückt, geht es hier also um objektiven Geist. Das Geld ist für Simmel „Gipfel und reinster Ausdruck“¹⁸ wirtschaftlichen Wertes und damit also objektiv gewordener Wechselwirkung. Und in der Tat liegt für Simmel hierin „die philosophische Bedeutung des Geldes: daß es innerhalb der praktischen Welt die entschiedenste Sichtbarkeit, die deutlichste Wirklichkeit der Formel des allgemeinen Seins ist, nach der die Dinge ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit der Verhältnisse, in denen sie schweben, ihr Sein und Sosein ausmacht.“¹⁹ Das Geld ist mithin das Symbol des modernen Relativismus. Diese philosophische Wesensbestimmung des Geldes erfordert nun aber die historische Besinnung auf ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen. Denn ganz offenbar sind diese psychologischen Voraussetzungen des Relativismus nicht zeitunabhängig. Es bedarf dafür vielmehr einer Gemeinschaft Besitzender, die über eigene Güter zum Tausch allererst verfügen. Weiterhin muss die Freiheit bestehen, die individuelle Wertschätzung einer Sache auch tatsächlich in An   

A.a.O., 91. A.a.O., 92. A.a.O., 93. A.a.O., 136.

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schlag bringen zu können, d. h. dabei keinen Wertvorgaben durch staatliche oder kirchliche Obrigkeit verpflichtet zu sein. Damit geht es erstens um die Frage nach den Entstehungsbedingungen individueller und sozialer Freiheit, welche Tauschbeziehungen ermöglichen. Hier richtet sich der Blick zurück in die Geschichte. Eine andere Blickrichtung ergibt sich dann zweitens mit der ebenso erkannten Bedrohung individueller und sozialer Freiheit durch eben dieses fortgeschrittene Wirtschaften im Zeichen von Tauschbeziehungen und Geldwirtschaft. Hier richtet sich der Blick in die Gegenwart und die Zukunft.

1.2 Die geschichts- und kulturphilosophische Analyse des Geldes Das Geld, so wurde gezeigt, ist bei Simmel der entschiedenste Ausdruck von Objektivierung, Versachlichung, Entäußerung. Es ist damit der Gipfel einer Entwicklung, in welcher der Mensch sich als Person von den Produkten seiner Tätigkeit unterscheidet – nicht die Person begibt sich in die wirtschaftliche Interaktion, sondern sie gibt ihre Arbeit, ihr Eigentum in diesen Prozess, zudem abermals anonymisiert in der Gestalt des Geldes. Es ist nun entscheidend zu erkennen, dass dieser Prozess der Versachlichung von Simmel erst einmal positiv bewertet wird: sie ist „Wendung zur Freiheit“,²⁰ so sagt er. Erst dadurch, dass der Mensch sich von seiner Arbeit zu unterscheiden in der Lage ist, gewinnt er persönliche Freiheit. Die totale Identifizierung von Person und Arbeitsprodukt ist nichts anderes als Sklaverei. Damit ist die für die Kulturphilosophie Simmels bestimmende Dichotomie von ,persönlicherʻ und ,sachlicherʻ Kultur angedeutet. Beide Begriffe sind relational zueinander zu betrachten, das heißt, jede historische Kulturformation ist durch Elemente persönlicher und sachlicher Kultur ausgezeichnet, freilich in unterschiedlichen Mischverhältnissen. Wenn nun die Versachlichung dadurch einen Freiheitsgewinn bietet, dass sie der Entfaltung der Person Raum verschafft, zeigt sich, dass Versachlichung eine notwendige Bedingung von persönlicher Freiheit ist. Hier zeichnet sich die erste Schwierigkeit der modernen Kultur ab: sie muss das rechte Verhältnis zwischen den Prinzipien der Sachlichkeit und der Persönlichkeit finden. Noch einmal ist zu vergegenwärtigen, dass es sich auch bei dieser schwierigen und – wie wir noch sehen werden – in die Tragödie der Kultur führenden Aufgabe um einen Freiheitsgewinn handelt. Nur unter Bedingungen einer Autoritätskultur stellt sich diese Herausforderung nicht, weil dann eine

 A.a.O., 377 f.

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substantielle Ordnung vorgegeben ist, die nur entsprechend erfüllt und ausgefüllt werden muss, was mit entsprechenden obrigkeitlichen Sanktionen zu erzwingen ist. Der Wert der Person bestimmt sich unter diesen Bedingungen durch ihren Ort in diesem ebenso wohlgeordneten wie starren System der Gesellschaft. Psychologisch honoriert wurde dies dadurch, dass ein jeder Mensch sich in diesem Ordnungssystem in die zweckhafte Ordnung der Welt eingebunden sehen konnte und daher mit dem Endzweck, dem Reiche Gottes und der Seligkeit verbunden war.²¹ Im Prozess der Modernisierung als Versachlichung wird diese Kultur und ihre Ausrichtung zerschlagen. Die Werteordnung der versachlichten Welt ist nicht mehr durch festgefügte teleologische Zweckreihen verbürgt, sondern konstituiert sich im dynamischen Geschehen lebendiger Wechselwirkung. So wird aber auch die individuelle Freiheit eine solche soziale „Korrelationserscheinung“:²² sie ist keine substantielle Beschaffenheit einer Einzelperson, sondern sie bezeichnet das Maß an Abhängigkeit und Unabhängigkeit des Individuums von anderen. Simmel hat dies als den ,quantitativen Individualismusʻ bezeichnet, welcher das 17. und 18. Jahrhundert bestimmte. Dieser wurde jedoch bald als ungenügend empfunden. In Simmels eigenen Worten: Nachdem die prinzipielle Lösung des Individuums von den verrosteten Ketten der Zunft, des Geburtsstandes, der Kirche vollbracht war, geht sie nun dahin weiter, daß die so verselbständigten Individuen sich auch von einander unterscheiden wollen; nicht mehr darauf, daß man überhaupt ein freier Einzelner ist, sondern daß man dieser Bestimmte und Unverwechselbare ist, kommt es an.²³

So entsteht der Gedanke des ,qualitativen Individualismusʻ, wie ihn Simmel im 19. Jahrhundert, vor allem bei Goethe und Nietzsche angelegt findet. Die Aufgabe der Gegenwart sieht Simmel darin, zwischen diesen beiden Typen des Individualismus so zu vermitteln, dass die in ihnen enthaltenen Werte der Gleichheit der Menschen (quantitativer Individualismus) und der Einzigartigkeit der Person (qualitativer Individualismus) gewahrt sind und zur normativen Grundlage für die Gestaltung der modernen Kultur werden. Sie sollen also die Leitideen sein, welche die Wechselwirkung der individuellen Interessen die Bahn vorgeben und so zu einer angemessenen Balance von sachlicher und persönlicher Kultur führen. Freilich – und damit kommen wir zu den kulturkritischen Aspekten – hat Simmel die Chancen für eine solche glückliche Versöhnung von sachlicher und persönlicher Kultur in seiner Zeit kaum noch gesehen. Die Gründe dafür sind teils  Vgl. a.a.O., 489 – 493.  Simmel, Philosophie des Geldes, 397.  Vgl. G. Simmel, Die beiden Formen des Individualismus, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901– 1908, Frankfurt a. M. 1995, 49 – 56, hier 52.

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soziologischer teils psychologischer Natur. Soziologisch gesehen verdichtet sich das Netz der „lebendige[n] Wechselwirksamkeit“²⁴ so sehr, dass die Lebendigkeit immer mehr entweicht. Die Strukturen der Interaktion verhärten so, dass sie und nicht mehr die individuellen Interessen die Regeln des Handelns vorgeben. Die Folge ist dann, dass die Versachlichung nicht mehr im Dienste des Individuums und seiner Freiheit steht, sondern umgekehrt diese individuelle Freiheit bedroht, weil nun nicht mehr der Einzelne aus Eigeninteresse an der wirtschaftlichen Interaktion partizipiert, sondern die wirtschaftliche Interaktion Ansprüche an den Einzelnen richtet, die von diesem als ,Kolonialisierung der Lebensweltʻ (Jürgen Habermas) erlebt werden. Das ist im Kern, was Simmel die „Tragödie der Kultur“ nennt: Die Kultur als „Weg der Seele zu sich selbst“²⁵ muss sich von den alten Bindungen befreien, damit die Seele ihren Weg nehmen kann, dabei werden aber wiederum objektive Strukturen geschaffen, welche die Seele in einen Irrgarten schicken. Simmels psychologische Überlegungen gehen aber noch darüber hinaus, was unsere Aufmerksamkeit verdient, weil es hier konzentriert um Geld und Gott geht: Wie schon erwähnt, hat nach Simmel die Religion, auch wenn sie in der Moderne keine bestimmende Lebensmacht mehr ist, in der Seele des Menschen tiefe Spuren hinterlassen. Das Christentum hat „durch das so lange andauernde Bewußtsein eines absoluten Endzwecks das Bedürfnis danach außerordentlich fest einwurzeln lassen, so daß es denjenigen Seelen, denen gegenüber es jetzt versagt, das leere Sehnen nach einem definitiven Zweck des ganzen Daseins als Erbschaft hinterlassen hat.“²⁶ Unter diesen psychologischen Bedingungen finden die Menschen nun im Geld Ersatzbefriedigung. Da das Geld absolutes Mittel, also ubiquitär einsetzbar ist, kann es „psychologisch“, wie Simmel ausdrücklich sagt, für die „meisten Menschen“ zum „absoluten Zweck“ werden.²⁷ Der Umgang mit dem Geld ist dann gleichsam Münze gewordene Eschatologie: Als absolutes Mittel ist es einerseits die Anwesenheit der Erfüllung, als Mittel aber zugleich immer auch Verweis auf die eigentliche Erlösung.²⁸ Die Erhebung des Geldes zu Gott ist freilich eine Schwundform der echten Religion. Sie ist der missglückte Versuch, eine moderne Gestalt an die Stelle der alten teleologischen Ontologie zu setzen.

 Vgl. G. Simmel, Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung, in: K. Gassen/M. Landmann (Hg.), Buch des Dankens an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Biographie, Berlin 21993, 9 f., hier 9.  Vgl. G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders., Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, Frankfurt a. M. 1996, 385 – 419, hier 385.  Simmel, Philosophie des Geldes, 491.  A.a.O., 298.  Vgl. a.a.O., 298 f.

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Wie wir später sehen werden, ist dies in Simmels Auffassung eigentlich eine psychologische Ausweichreaktion vieler Menschen darauf, dass es dem Christentum nicht gelungen ist, eine moderne Gestalt der Religion an die Stelle der überlebten societas christiana zu setzen. Aber weil dieses metaphysische Bedürfnis vorschnelle Befriedigung im Geld sucht, findet es dort keine Erlösung, sondern nur die Pathologien von Geldgier und Geiz, die gerade nicht Freiheit, sondern Selbstversklavung des modernen Menschen sind. Warum die christliche Religion diesen pathologischen Gestalten der Religion in Simmels Auffassung nichts entgegenzusetzen hat, wird uns im Folgenden noch beschäftigen.

2 Paul Tillich und Georg Simmel 2.1 Dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterbauen oder die Produktionsverhältnisse sind nicht die Substanz der Kultur Max Weber hat Simmel vorgeworfen, Geldwirtschaft und Kapitalismus gleichzusetzen. So würden das Streben nach Erwerb und nach Geld identifiziert. Wer das Spezifische des modernen Kapitalismus verstehen wolle, müsse ihn aber in diesem Streben nach Erwerb verstehen.²⁹ Es ist in der Tat nicht einfach zu unterscheiden, was bei Simmel philosophische Tiefenerkundung des Geldes ist und was Charakterisierung der spezifisch modernen Wirtschaftsform des Kapitalismus. Beides geht, wie gezeigt, ineinander über, weil die Philosophie Simmels immer auch Zeitdiagnose ist. Wie einleitend bemerkt wurde, stehen wir mit Simmel und Tillich in einer Epoche, in welcher die akademische Rechtfertigung des Geldes in den Hintergrund gerückt ist und einer Krisenbetrachtung des modernen Kapitalismus gewichen ist, die im Geld das Zentralsymbol dieser modernen Wirtschaftsform sieht (auch wenn mit Weber durchaus Zweifel an dieser Sichtweise möglich sind). In besonderer Weise stehen im 19. Jahrhundert die vielen Varianten des Sozialismus für eine solche Kritik der durch den Kapitalismus heraufgeführten Probleme in Gesellschaft und Kultur. Georg Simmel und Paul Tillich sind beide mit sozialistischen Gedanken groß geworden und sind ihnen zeitlebens auch verbunden geblieben. Gleichwohl bestehen erhebliche Unterschiede zwischen ihnen. Simmels Sozialismus-Affinität ist ungleich weniger wortreich und explizit als Tillichs. Er publizierte in jungen  Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze, 4 f.

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Jahren anonym im Vorwärts und wählte sozialdemokratisch.³⁰ Er war jedoch weit entfernt davon, den Sozialismus als Weltanschauung zu vertreten oder in ihm die glückliche Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft angebrochen zu sehen, wie es Tillich zumindest zeitweise tat.³¹ Simmels Philosophie des Geldes ist schon von Zeitgenossen als Sozialismuskritik verstanden worden.³² Die Gründe dafür wurden schon genannt: Mit der Absicht, dem historischen Materialismus ,ein Stockwerk unterzubauenʻ, trat Simmel einer einseitig materialistischen Deutung von Geschichte und Gesellschaft entgegen. Die Philosophie des Geldes ist letztlich eine Apologie des Geldes und des modernen Kapitalismus. Der Mensch, so Simmel, ist „das tauschende Tier“,³³ der Tausch die „reinste und gesteigertste Wechselwirkung, die ihrerseits das menschliche Leben ausmacht“.³⁴ Die Geldwirtschaft in Frage zu stellen ist nur um den Preis der Vergewaltigung des Menschen und den Verlust von Freiheit möglich. Eine hellsichtige Analyse am Beginn des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist Simmel in seinen Kulturanalysen ein höchst sensibler Beobachter der Fehlbildungen und Pathologien der modernen Geldwirtschaft. Hier sah er dann auch die relative Berechtigung und politische Bedeutung des Sozialismus. Dieser war für ihn eine Spielart des ,quantitativen Individualismusʻ, also des Versuchs, das Individuum auf der Basis einer grundsätzlichen Gleichheit der Menschen durch die Unterschiede seiner sozialen Beziehungen zu bestimmen. Simmel sah den Sozialismus daher als eine wichtige und angesichts der tatsächlichen sozialen Missstände auch berechtigte Kraft zur Korrektur von massiver Ungleichheit. Zugleich war ihm die sozialistische „Gleichmacherei“ aber auch ein Gräuel.³⁵ Der Sozialismus war für ihn daher lediglich eine Übergangserscheinung, ein „regulatives Prinzip und bloßes Instrument“³⁶ auf dem Weg zu einem auch die unvergleichliche Einzigartigkeit des Menschen würdigenden Individualismus. Zur politischen Konkretion dieser Aufgaben lassen sich bei Simmel freilich so gut wie keine Anhaltspunkte finden.

 Vgl. K. C. Köhnke, Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt a. M. 1996, 316.  Vgl. W. Schüßler/E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 22015, 95 – 113.  Vgl. D. Frisby, Georg Simmel, London/New York 2002, 132– 135.  Simmel, Philosophie des Geldes, 385.  A.a.O., 59.  Vgl. G. Simmel, Weibliche Kultur, in: ders., Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur, Frankfurt a. M. 1996, 417– 459, hier 456. Vgl. dazu Köhnke, Der junge Simmel, 316 f. Zur Deutung der Geschlechterrollen bei Simmel und Tillich vgl. I. Nord, Individualität, Geschlechterverhältnis und Liebe. Partnerschaft und ihre Lebensformen in der pluralen Gesellschaft, Gütersloh 2001.  Köhnke, Der junge Simmel, 316.

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Bei Paul Tillich liegt dies anders. Nun ist auch Tillichs religiöser Sozialismus kein dogmatischer Marxismus. Eben nicht die Produktionsverhältnisse, sondern die Religion soll die Substanz der Kultur sein, wie die berühmte Formulierung lautet.³⁷ Der höchst produktive und originelle Gedanke, die religiöse Unbedingtheitsdimension nicht in einem abgesonderten Bereich, sondern in den Formen der Kultur zu identifizieren, baut in ganz eigener Weise jeder monokausalen Bestimmung historischer Prozesse ‚ein Stockwerk unterʻ und unterwirft sie einer radikalen Ideologiekritik. Tillich hat den modernen Kapitalismus durchaus auch wegen seiner wirtschaftlichen Leistungskraft für die Daseinsvorsorge schätzen können. Seine Kritik der entwürdigenden und lebensbedrohlichen Folgen der modernen Arbeitswelt steigerte sich gleichwohl nicht selten zu klassenkämpferischen Aufrufen.³⁸ In unserem Zusammenhang bedeutend ist vor allem seine Kritik des Kapitalismus als Ausdruck eines total gewordenen Autonomiedenkens, das durch die prophetische Kraft des Evangeliums und mittels des revolutionären Proletariats korrigiert werden sollte.³⁹ Es gehört zur Individualität des Denkens Tillichs, dass er eine solche gesellschaftliche Veränderung zugleich im Verbund „mit dem Liberalismus und Demokratie“ erreichen wollte und im demokratischen Rechtsstaat Gestalt annehmen sah.⁴⁰ Wirtschaftspolitisch sympathisierte er mit dem Konzept einer sozialistischen Marktwirtschaft, in welcher die ökonomische Logik gesellschaftspolitischen Interessen untergeordnet sein sollte.⁴¹ Mit dieser Erfüllungsstellung der Ökonomie für einen religiösen Sozialismus bzw. bestimmte Gemeinwohlvorstellungen, ist Tillich allerdings, so ist kritisch zu bemerken, an dem eigenen Anspruch gescheitert, mittels einer Theologie der Kultur die autonome Kraft der modernen Wissenschaft, hier also der Nationalökonomie, durch Verpflichtung auf ihre Weltlichkeit allererst zur Geltung zu bringen. Die Theologie ist hier weniger Ideologiekritik, als dass sie selbst sich den anderen Wissenschaften der modernen Welt überordnet und diese auf religiössoziale Aufgaben verpflichtet. Die Folge ist, dass diese Vorstellungen des reli Vgl. GW IX.  Vgl. T. Jähnichen/N. Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus, in: H. Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – katholische Soziallehre – protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Essen 2000, 867– 1103, bes. 1014.  Vgl. GW II, 21– 34; GW II, 91– 120; MW III, 273 – 420.  Vgl. dazu A. von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 162; dort auch das Zitat aus GW II, 105. Vgl. A. von Scheliha, Die politische Ethik Paul Tillichs, in: International Yearbook for Tillich Research 10 (2015), 143 – 166.  Vgl. T. Jähnichen, Sozialer Protestantismus und moderne Wirtschaftskultur. Sozialethische Studien zu grundlegenden anthropologischen und institutionellen Bedingungen ökonomischen Handelns, Münster 1998, 29.

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giösen Sozialismus sich, nicht nur aufgrund der politischen Umstände, sondern auch wegen ihrer „wirtschaftstheoretischen Unzulänglichkeiten“ nicht durchsetzen konnten.⁴² Nun ist diese gescheiterte Konkretion von Tillichs kulturtheologischem Programm nicht zwangsläufig auch als Scheitern des Programms selbst zu werten – sofern man sich von den Befremdlichkeiten der politischen Vorstellungen Tillichs an dieser Stelle lösen kann. Die humanitären und sozialen Defizite des Kapitalismus durch eine Orientierung am Evangelium und im Geiste christlicher Liebe zu korrigieren und dabei die spezifische Funktion der Wirtschaft zu erhalten, das ist der Beitrag des Protestantismus zu einer Verbindung des ,Sachgerechtenʻ und des ,Menschengerechtenʻ.⁴³ Insofern können Tillichs Überlegungen auch so verstanden werden, dass bei dieser Aufgabe eine Fixierung auf den Individualismus (die freilich auch bei Simmel nicht vorliegt) nicht ausreicht, sondern auch sozialpolitische Rahmenbedingungen notwendig sind. Dass dies freilich nur unter dem Vorzeichen der Wahrung individueller Freiheit und durch die Verbindung mit einer freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung überhaupt gelingen kann, ist eine Einsicht, die bei Tillich wie im deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert langsam reifen musste.

2.2 Die Tragödie der geldbestimmten Kultur oder das Dämonische des Geldes Die unterschiedlichen Bewertungen des modernen Kapitalismus weisen auf noch tieferliegende Berührungspunkte und Differenzen im Denken Tillichs und Simmels hin. Für Simmel ist die moderne Kultur durch einen unhintergehbaren Relativismus gekennzeichnet. Das ist ihr Wesen und das Geld ist der entschiedenste Ausdruck dieses Relativismus. Simmel hat an dieser relativistischen Weltsicht mit großer Konsequenz festgehalten. Erwähnt werden muss allerdings, dass er zu Beginn des Ersten Weltkrieges für eine relativ kurze Zeit der Versuchung erlegen ist, den Krieg als die absolute Entscheidungssituation zu deuten, die aus dem modernen Relativismus und ,Mammonismusʻ herausführe.⁴⁴ Es ist die Anekdote überliefert, dass Ernst Bloch Simmel erbost vorgeworfen habe, er habe ein Leben

 Ebd. Vgl. E. Sturm, Die Kapitalismus-Kritik Tillichs und des Kairos-Kreises, in: M. Casper/K. Gabriel/H.-R. Reuter (Hg.), Kapitalismuskritik im Christentum. Positionen und Diskurse in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2016, 13 – 36, bes. 30.  So die klassische Formulierung von A. Rich, Wirtschaftsethik, 2 Bde., Gütersloh 1984/1990.  Vgl. G. Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze (1917), in: ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen [u. a.], Frankfurt a. M. 1999, 7– 58.

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lang eben eine solche Entscheidung vermieden und finde nun „das Absolute im Schützengraben“ – worauf Simmel ihm das Haus verbot.⁴⁵ Bei dieser Verabsolutierung des Krieges und der kulturpessimistischen Kennzeichnung der Gegenwart als Mammonismus handelte es sich allerdings um eine kurze, vorübergehende Episode in Simmels Denken.⁴⁶ Die „unmittelbare Richtung auf das Unbedingte“⁴⁷, von der Tillich sprach, ist in allen Sphären der Kultur für Simmel eben nicht mehr zu finden. Es ist gerade das Bedingte, die lebendige Wechselwirkung, welche die Kultur bestimmt. Und noch einmal: Für Simmel ist das ein Gewinn an Freiheit – trotz all der Kosten und Probleme der konkreten Gestaltung der modernen Welt. Geblieben ist lediglich, ich zitiere noch einmal, das „leere Sehnen nach einem definitiven Zweck des ganzen Daseins“.⁴⁸ Das Geld ist freilich ein Beispiel dafür, wie diese religiöse Sehnsucht in den modernen Wechselwirkungen Strukturmomente aufspürt, die auf diese Unbedingtheitsdimension des Lebens hinweisen. Simmel spricht in seiner Religionsschrift von „Beziehungswerte[n], die von ihrem sozialen Interesseninhalt gelöst und in die transzendente Dimension erhoben, Religion im engeren, selbständigen Sinne bedeuten. Unter mancherlei Verhüllungen und Verschiebungen der Oberflächen sind diese Zusammenhänge spürbar.“⁴⁹ Das sind die von Simmel so genannten „religioiden“⁵⁰ Züge der modernen Kultur. Hier liegt nun zweifellos ein Berührungspunkt zu Tillichs Überlegungen zum ,Dämonischenʻ vor. Daher ist erstens zu fragen, ob Simmels Beschreibungen der religioiden Züge des Geldes ein Äquivalent zu Tillichs Charakterisierungen der Dämonie des modernen Kapitalismus darstellen. Und zum zweiten ist zu überlegen, ob Simmels Charakterisierungen des modernen Relativismus nicht selbst ein Ausdruck des Dämonischen sind. Tillich hat den Begriff des Dämonischen in den 1920er Jahren in unterschiedlichen Kontexten verwendet. Einer dieser Kontexte ist der bereits angesprochene sozialethische oder wirtschaftsethische Bereich, in welchem das, was Simmel die ,Tragödie der Kulturʻ nennt, bei Tillich mit dem Begriff des Dämoni-

 Vgl. M. Landmann, Bausteine zur Biographie, in: ders./K. Gassen (Hg.), Buch des Dankens an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Biographie, Berlin 21993, 11– 33, hier 13.  Vgl. P. Watier, The War Writings of Georg Simmel, in: M. Featherstone (Hg.), Georg Simmel, London 1991, 219 – 233. Vgl. Lichtblau, Georg Simmel, 114– 127.  GW I, 228.  Simmel, Philosophie des Geldes, 491.  G. Simmel, Die Religion (1906/21912), in: ders., Die Religion [u. a.], Frankfurt a. M. 2006, 61.  Ebd.

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schen bezeichnet wird. Die „dämonische Autonomie der Wirtschaft“⁵¹ benennt Tillich, wenn er einerseits die Bedeutung der „technisch-rationalen Dingverwertung“⁵² würdigt, weil diese die Leistungskraft modernen Wirtschaftens verbürgt, andererseits die depersonifizierende⁵³ und gemeinschaftszerstörende⁵⁴ Kraft eben dieses Rationalismus anklagt. Auch die ,religioideʻ Struktur des Geldes, dass das Geld als absolutes Mittel dem Menschen zum Ersatz für den abhanden gekommenen Endzweck des Lebens wird, kann als Entsprechung zu Tillichs Definition des Dämonischen als „die Erhebung eines Bedingten zur Unbedingtheit“ identifiziert werden.⁵⁵ Finden sich so durchaus Gemeinsamkeiten von Simmel und Tillich, kommen die Differenzen bei der Frage des Umgangs mit dieser tragischen Dialektik der modernen Kultur zum Vorschein. Bei Simmel ist es die philosophische Kritik, welche es erlaubt die religioiden Phänomene von der Religion ,im selbständigen Sinnʻ zu unterscheiden. Sie verbürgt die sachgemäße Erfassung der einzelnen Lebenssphären und sichert damit ihre Funktionalität. Das ist für Simmel zugleich die notwendige Voraussetzung, einen nüchternen Blick auf die Defizite dieser Sphäre, also die depersonifizierenden Effekte der modernen Geldwirtschaft zu erlangen. Dies wiederum ist die Bedingung dafür, ihnen gegenüber einen angemessenen Individualismus in Anschlag zu bringen. Die Religion in ihrer Selbständigkeit zeichnet sich für Simmel gerade dadurch aus, dass sie in ihrer radikalen Abstellung auf die Einzigkeit des Einzelnen, als Ort der unverstellten Begegnung der Seele mit ihrem Gott, sich aller Objektivierungen und das heißt dann auch aller sozialer Realisierung enthält. Sie ist Refugium, vielleicht auch Sanatorium des Individuums in der modernen Kultur.⁵⁶ Für Tillich hingegen ist die Erkenntnis des dämonischen Charakters Bestandteil einer heilsgeschichtlichen Eschatologie, in welcher das Göttliche das Dämonische entzaubert. Dies könne nur dadurch geschehen, dass das Göttliche

 MW III, 120.  Ebd.  Vgl. ebd.  Vgl. a.a.O., 126 f.  GW VIII, 286. Zum Begriff des Dämonischen bei Tillich vgl. C. Danz, Das Göttliche und das Dämonische. Paul Tillichs Deutung von Geschichte und Kultur, in: International Yearbook for Tillich Research 8 (2013), 1– 14; W. Schüßler, Der Begriff des Dämonischen. Zu einer zentralen Kategorie von Paul Tillichs Denken, in: ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs, Münster 42015, 331– 344. Für Tillichs Charakterisierung des Kapitalismus als Erscheinungsform des ,Dämonischenʻ vgl. F. C.-W. Yip, Capitalism as Religion? A Study of Paul Tillich’s Interpretation of Modernity, Cambridge (Mass.), 2010.  Vgl. F. Voigt, „Die Tragödie des Reiches Gottes?“, Ernst Troeltsch als Leser von Georg Simmel, Gütersloh 1998, 147– 160; V. Krech, Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998.

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die Kultur durchklärt, in welcher das Dämonische sich gleichsam parasitär angesiedelt hat. Die Geschichte wird so zum Kampfplatz zwischen dem Dämonischen und dem Göttlichen. Dieser Kampf findet aber seinen Anfang in der jeweils personalen Ergriffenheit des Einzelnen, die in seiner Entscheidung für das Göttliche und gegen das Dämonische erfolgt und die sich dann im historisch-politischen Kampf fortsetzt und zur sozialen Aktion wird. Dabei lauert in jeder sozialen Umsetzung freilich wieder die Gefahr des Dämonischen, weil hier die lebendige Aktion zur festen und also lebensbedrohlichen Form zu werden droht. Deshalb waren für Tillich die Mystik und die Prophetie die beiden wichtigsten religiösen Strömungen, weil sie die Frömmigkeit selbst vor der Gefahr erstarrter Religion bewahrten. Hier ist Tillich erkennbar wieder ganz in die Nähe von Simmels Kritik der objektiven Religion gerückt. Mit dem Unterschied, dass Simmel ein typischer Vertreter der Mystik ist, der eben gerade die formlose Einzelheit der religiösen Erfahrung vertrat, was Tillich für unmöglich hielt. Er sah die Mystik an diesem Versuch scheitern und letztlich doch in der Form erstarren.⁵⁷ Er setzte stattdessen auf die Prophetie als „exklusiv-antidämonische“⁵⁸ Gestalt. Gegenüber der biblischen Prophetie bedeutet dies aber eine Sprengung der Exklusivität von Volk und Religion hin zur universalen Durchdringung der Kultur. Die ,Theologie der Kulturʻ bietet sich hier also als moderne Erbin an. Und ja, Simmels Philosophie des Geldes kann aus dieser Perspektive als eine Erscheinung des Dämonischen verstanden werden, sogar eine besonders trickreiche, weil sie die Mechanismen des Dämonischen selbst reflektiert, freilich ohne sie in letzter Konsequenz an sich selbst anzuwenden. Im Aufsatz Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die Systematische Theologie charakterisiert Tillich unter anderem die sozialethischen Gestalten des Dämonischen. Er kritisiert dort diejenige Weltsicht, „die die Mängel der sozialen Machtverhältnisse anerkennt, möglichst eingrenzt, ihnen aber keine entscheidende religiöse Bedeutung beimißt“.⁵⁹ Diese Auffassung sehe „mit Scharfblick die Tatbestände des Dämonischen […], aber sie erkennt sie nicht als dämonisch. Sie rechnet infolgedessen mit ihnen als profanen Tatsächlichkeiten, die man bedauern, benutzen, eindämmen kann, denen gegenüber aber die Hoffnung auf jenseitige Vollendung die einzige religiöse Haltung ist.“⁶⁰ Simmel muss aus dieser Perspektive geradezu als der Meisterschüler des Dämonischen erscheinen, denn er reflektiert in seiner ,Tragödie der modernen Kulturʻ genau diese dämonischen Verzerrungen und    

Vgl. Danz, Das Göttliche, 13. MW V, 153. GW VIII, 290. A.a.O., 290 f.

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bleibt dann gleichwohl bei einem gemäßigt sozialliberalen Reformprogramm einerseits und einem religiös-ästhetischen Eskapismus andererseits. Umgekehrt müsste für Simmel Tillichs Suche nach der in der modernen Welt eingelassenen Unbedingtheitsdimension als Ausdruck religiöser Sehnsucht erscheinen, die aber notwendig unbefriedigt bleiben muss. In ihrer Verweigerung, die unhintergehbare Bedingtheit der modernen Welt anzuerkennen, steigert sie dann eher das unglückliche Bewusstsein und schürt religioide Ersatzbefriedigungen aller Art, als welche etwa die wirtschaftspolitischen Pläne Tillichs anzusehen sein könnten. Tillich landet damit dann also selbst in einer dämonischen, nicht in der lebendigen Religion. Ich habe es am Anfang des Vortrags schon zitiert: In der Philosophie des Geldes weist Simmel darauf hin, dass die „Feindseligkeit, mit der die religiöse und kirchliche Gesinnung oft dem Geldwesen gegenübersteht“ auf den „Instinkt“ zurückzuführen sei, dass eine „psychologische Formähnlichkeit“ zwischen der höchsten religiösen und der wirtschaftlichen Einheit bestehe, aber auch „auf die erfahrene Gefährlichkeit der Konkurrenz, die gerade das Geldinteresse dem religiösen Interesse bereitet – eine Gefährlichkeit, die sich nicht nur, wo die Substanz des Lebens eine ökonomische, sondern auch wo sie eine religiöse ist, gezeigt hat.“⁶¹ Diese subtile Beobachtung Simmels ist gegenüber Tillich und der kapitalismuskritschen Tradition des deutschsprachigen Protestantismus in Anschlag gebracht von einiger Schärfe: Sind die Vorbehalte – Simmel spricht gar von ,Feindseligkeitenʻ – gegenüber dem Geld darin begründet, dass es dem menschlichen Freiheits- und Individualitätsbedürfnis ein besserer Partner ist als die theologischen und kirchlichen Sinnstiftungsangebote? Ist also die Feindseligkeit gegenüber dem Geldwesen ein Fetischismus, in dem der kirchliche Selbsthass auf das eigene Versagen sich ein Ventil schafft? Dem könnte mit Tillich sogar zugestimmt werden: Hierbei handelt es sich um ein defizitäres Modell der ,Kirchentheologieʻ⁶² demgegenüber sein Programm der Kulturtheologie eben gerade die ,lebendige Wechselwirksamkeitʻ⁶³ bewahren will, indem sie das Verständnis menschlicher Freiheit vor einem defizitären Autonomieverständnis und falschen Objektivierungen schützt. In diesem spekulativen Horizont verschmelzen die philosophische und theologische Kulturanalyse von Simmel und Tillich.

 Simmel, Philosophie des Geldes, 306.  Vgl. GW IX, 13 – 31, bes. 27– 31.  Vgl. Simmel, Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung, 9.

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The Abyss of Meaning Paul Tillich’s views of the Demonic and the Pathological in cultural historical Perspective In a short text on the theological significance of psychoanalysis and existentialism Paul Tillich argues that psychoanalysis has helped theology to remember again the “demonic structures” that determine man’s consciousness and behavior. Psychoanalysis has given theologians new insight in the unconscious motives and forces that reveal themselves through conscious acts of the will, and hence, psychoanalysis contributed significantly to the “rediscovery of the totality of the person” (GW VIII, 314). This remark is part of a larger theoretical discussion of psychoanalysis and existentialist philosophy as two different discourses revealing the depth dimensions of man’s existence. Both psychoanalysis and existentialist philosophies aim at the thorough depiction and analysis of the existential situation of humankind. This human existence is described by Tillich in terms of limitation in space and time, finality and estrangement from man’s essential nature, and also in terms of the experience of loss or lack of meaning, loneliness and the anxiety and despair relative to the danger of non-being and nothingness. But Tillich also points at the limitations of psychoanalysis. He does so, notably in his discussion of the difference between therapeutic process of healing and the theological thought on salvation. Psychoanalytic therapy is aimed at the treatment of the psychopathologies, but it does not deal with ʻhealingʼ the existential dimensions of human life, nor is it concerned with reconciling man’s existence and essence. Anxiety, estrangement, meaninglessness and guilt are universal experiences that belong to man’s existence. Without them man would cease to be human. From this very short introduction into Tillich’s ideas on the significance of psychoanalysis for theology, we can abstract a few associated issues, notably estrangement and existence, and the demonic and pathology. In this book chapter I will not further consider in detail the outline of Tillich’s theological thought. I will only elaborate on those aspects that are important to understand his ideas on the demonic and the pathological. Instead I will first focus on the associated concepts of estrangement, loss of meaning, the demonic and the pathological. My thesis is that Tillich’s approach of this complex of issues stands in a long tradition of mainly – but not exclusively – protestant thought on a fundamental theological and pastoral problem, namely how to interpret the experiences of estrangement and meaningless relative to the question of demonic possession and https://doi.org/10.1515/9783110582994-009

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mental illness. In order to explore this issue in further detail I will present a famous historical case as the starting point for a further exploration of the relation between loss of meaning, demonic possession and melancholia.

1 Paul Tillich on the Demonic and the Pathological One of the most interesting aspects of Tillich’s work is his positive stand towards Freudian psychoanalysis. Given Freud’s critique of religion, notably in The Future of an Illusion from 1927, such positive attitude towards psychoanalysis is far from self-evident. After all, when looking at the reception of Freudian psychoanalysis in theology, one generally finds that his theories on religion are reviewed as positivist and reductionist interpretations that hopelessly fail to do justice to the complexity of religion and religious phenomena.¹ More concrete, many theologians have criticized the fact that Freud associates religion with the psychoneuroses, supposedly arguing that religion is something like a collective neurosis or, vice versa, that a neurosis can be seen as private religion. This critique focuses on the apparent problematic – reductionist – association of religion with the abnormal. Yet, here we have to raise the question what the abnormal is, and what exactly defines its relation to the normal? At this point, Tillich’s reading of Freudian psychoanalysis becomes interesting. In Tillich’s reading of Freud the abnormal and the normal, the pathological and the non-pathological, are not unbridgeable oppositions constituted by different psychological or physiological constitutions. Also, Tillich does not focus on a strong tendency in Freud’s later writings to relate the pathological to developmental distortions or inhibitions, thus creating a relatively strong distinction between pathological formations and the normal developmental processes. Instead, Tillich – more implicitly than explicitly – connects to another methodological stronghold in Freudian theory. This concerns the idea that the psychopathologies are merely exaggerations, intensifications and magnifications of normal, generally human psychic dynamics and complexes. The hysterical conversion

 On this issue see J. Scharfenberg, Sigmund Freud und seine Religionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben, Göttingen 1968; A. Vergote, Religion after the Critique of Psychoanalysis, in: id., Psychoanalysis, Phenomenological Anthropology and Religion, ed. by J. Corveleyn/D. Hutsebaut, Leuven 1998, 17– 37; H. Westerink, Controversy and Challenge. The Reception of Sigmund Freud’s Psychoanalysis in German and Dutch-speaking Theology and Religious Studies, Vienna/Berlin 2009.

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is for example merely a caricature of normal corporeal expressions originating from the (failure of the) repression of unpleasant representations und undesirable memories. More importantly, the study of hysteria provides us with insight in the building blocks of man’s sexuality – at least that is Freud’s claim in his Three Essays on the Theory of Sexuality from 1905.² The study of the psychoses gives us insight in the building blocks of the ego, and in particular highlight the importance of narcissism for the constitution of every human being as a person with an own identity.³ Obsessional neurosis reveals the complex associations of aggression, ambivalence, identification and guilt formation.⁴ In other words, the various psychopathologies provide us with valuable insight in general human psychic structures and dynamics. It is exactly this claim that made it possible for Freud to develop metapsychology and applied psychoanalysis from his clinical material. Freud thus proposes continuity between pathology and normality. This results in what has been called the ʻpatho-analysis of existenceʼ: Human life can best – and maybe only – be studied from the perspective of a certain group of pathologies, the psychoneuroses, i. e. from the perspective of the exaggerated and magnified variations of psychic life.⁵ Seen from this perspective, the interpretation of Freud’s analogies between the neuroses (notably obsessional neurosis) and religion becomes different than many of the traditional readings. The analogies are not so much reductionist, i. e. reducing normal phenomena to pathological ones or relating normal phenomena to developmental inhibitions and distortions, but they instead actually result from the patho-analytic perspective: it is through the study of the pathologies that we can understand human nature and its cultural products. Tillich’s reading of Freudian psychoanalysis connects to this patho-analytic perspective. Freud’s theories cannot be reduced to studies of the pathological per se, but instead have an anthropological (philosophical) scope when articu-

 Cf. O. Rank/H. Sachs, Entwicklung und Ansprüche der Psychoanalyse, in: Imago 1 (1912), 1– 16; P. Van Haute/H. Westerink, Hysterie, Sexualität und Psychiatrie. Eine Relektüre der ersten Ausgabe der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), ed. by C. Huber/P. Van Haute/H. Westerink, Vienna 2015, 9 – 56.  Cf. S. Freud, Zur Einführung des Narzißmus, in: Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a. M. 1975, 49.  On obsessional neurosis as the model for the study of religion and culture see H. Westerink, A Dark Trace. Sigmund Freud on the Sense of Guilt, Leuven 2009.  On this issue see P. Van Haute, Psychoanalysis and/as Philosophy. The Anthropological Significance of Pathology in Freud’s Three Essays on the Theory of Sexuality and in the Psychoanalytic Tradition, in: Natureza Humana 7 (2005), 359 – 374; Van Haute/Westerink, Hysterie, Sexualität und Psychiatrie.

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lating fundamental aspects of human nature such as the libido, anxiety, guilt and the death drive. The next step Tillich makes is a theological one. Exploring the concept of human nature he argues that the unavoidable universal and existential structures of human life actually describe human sin, that is to say, man in his estrangement from his own essence.⁶ The state of existence is the state of estrangement. When further elaborating the notion of estrangement, Tillich argues that estrangement cannot be reduced to a given state of affairs and man’s passive indifference towards this state. Sin and estrangement also point at an active attitude of resistance and recalcitrance, i. e., a destructive opposition towards one’s ultimate ground. This active resistance Tillich calls ʻdemonicʼ. It is a ʻmetaphysical perversionʼ rising against the essence of being and against meaning. It is the ʻdestructionʼ and rejection of man’s participation in a totality of meaning and being.⁷ The demonic, in short, is the most radical aspect of sin, manifesting itself in what is traditionally known as the phenomenon of demonic possession. Tillich writes the following on this issue: Der Tatbestand der Besessenheit im persönlichen Leben wird am besten verdeutlicht durch die extremen pathologischen Fälle der Ichzerspaltung oder der radikalen Komplexverhaftung […]. (GW VIII, 287)

According to Tillich, the demonic possession itself is not describing a ʻrealʼ possession by ʻevil spiritsʼ, but should be seen as the symbolic manifestation of something generally human, namely sin. The notion of possession is, so to speak, a symbolic magnification or intensification of a general human existential estrangement from the subjectum – the ontological ground ʻunderneathʼ (sub‐) all that is – of human existence. According to Tillich, this demonic possession has its analogy in the pathological process of ego splitting that in its own turn is a magnification of generally human ego splitting processes that are at the very heart of man’s estrangement. Tillich thus seems to argue the following here: just like pathological formations inform us about the depth dimensions of human nature in the state of sin, so do extreme and radical religious phenomena inform us about the same most fundamental dimensions of man’s existence, i. e., man’s estrangement from participation in the ultimate ground of being. This seems to imply a (structurally) very close relation between the pathological

 “[Sünde] ist die universale und tragische Entfremdung, die mit der Freiheit und dem Schicksal aller Menschen unlösbar verknüpft ist, und deshalb sollte das Wort niemals in der Mehrzahl gebraucht werden. Sünde ist Trennung und Entfremdung des Menschen von seinem essentiellen Sein” (GW VIII, 313).  Vgl. GW VIII, 285 – 291.

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and the demonic. Indeed, according to Tillich, the neuroses and demonic possession are two manifestations of the same sinful human nature, of the problem of estrangement and dealing with one’s limitations in space and time (one’s ʻnonbeingʼ). According to Tillich, the ʻnormalʼ affirmation of one’s limitations is the premise for the affirmation of being and the unquenchable search for ultimate ground – at this point, Tillich follows a Kierkegaardian train of thought, arguing that estrangement is constitutive of our human condition and of the faith in God.⁸ However, both – neurosis and demonic possession – ʻavoid beingʼ: neurosis by anxiously avoiding non-being and withdrawing in a limited and unrealistic self-affirmation;⁹ possession by affirming oneself and one’s existence in opposition to being. According to Tillich, it is only after the Fall of man that we exist in essential estrangement living our finite and limited lives. Becoming aware of this implies anxiety or even despair. Again, Tillich’s views connect to Kierkegaard’s views on the intensification of despair through the awareness of one’s alienated existence before God, and his views on ʻdemonic despairʼ as the most intense form of despair in willing to be oneself (i. e., stubbornly willing to continue the existence in estrangement) thus further alienating oneself from the grounding power (God) that established man’s existence.¹⁰ Tillich’s focus on the demonic, anxiety and despair in sin draw upon this train of thought. This determines Tillich’s reading of the Freudian interpretation of the neuroses. Tillich basically focuses on the element of anxiety that comes to the fore in the neuroses. It is particularly in the ʻpathological anxietyʼ and despair that we can witness in an exaggerated form the inescapable existential anxiety related to the awareness of one’s finitude and mortality (1), and subsequently, the awareness of estrangement and loss of ultimate meaning driving “the person toward the creation of certitude in systems of meaning, which are supported by tradition and authority” (2).¹¹ Tillich adds another dimension of existential anxiety:¹² the anxiety of guilt and condemnation – one may call it the moral dimension of anxiety, i. e., the problem of freedom and responsibility to relate oneself to one’s essence on the one hand, and finitude and limited capacities on the other hand (3). In the most ex-

 On this issue see R. Kralik, Key Philosophical-Theological Concepts of Søren Kierkegaard in the Work of Paul Tillich, in: European Journal of Science and Theology 11 (2015/4), 179 – 188.  Cf. P. Tillich, The Courage to Be, New Haven 1952, 66 and 68.  See S. Kierkegaard, The Sickness unto Death. A Christian Psychological Exposition for Upbuilding and Awakening, ed. by H. V. Hong/E. H. Hong, Princeton 1980.  Tillich, The Courage to Be, 76.  “The three types of anxiety are interwoven in such a way that one of them gives the predominant color but all of them participate in the coloring of the state of anxiety”. Op. cit., 54.

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treme cases this tension manifests itself in self-rejection and the feeling of being condemned.¹³ I will not further elaborate Tillich’s theological thought. Our short discussion has so far provided us with some interwoven aspects of his views on human nature and existence: the demonic and the pathological as the extreme manifestations of human sin (estrangement); anxiety and despair as constitutive aspects of human life and faith; the problem of loss of meaning and the creation of systems of meaning; and the feeling of condemnation. I have already pointed at the significance of Kierkegaard’s thought on the matter of despair and sin. But the roots of these aspects of Tillich’s thought are much older. In the next paragraph I will present a sixteenth-century case of despair which reveals the same interwoven aspects – a case that allows us to raise some further questions and develop some ideas on the broader context of modernity in which this case can be situated, and on how in that context the demonic and the pathological are interrelated.

2 The Tragic History of Francesco Spiera¹⁴ In May 1548 the about fifty-year-old civil lawyer Francesco Spiera travels from his home-city of Citadella near Padua to Venice in order to meet the inquisition.¹⁵ The inquisition had put him under severe pressure to renounce his conversion to Protestantism, threatening his career and the welfare of his family. Apparently, Spiera had been moved by the teachings of Luther some six years before, and he had fully embraced the faith “that we must wholly and only depend on the free and unchangeable love of God, in the death of Christ, as the only sure way of

 Cf. op. cit., 53.  The following paragraphs are partly composed of material discussed in my monograph Verlangen en vertwijfeling. Melancholie en predestinatie in de vroege moderniteit (Amsterdam 2014). In my discussion of Spiera’s history I will quote from a late and transscribed account originally composed and published by Nathaniel Bacon in 1637/1638 and later reorganized with added material on two other cases: A Relation of the Fearful Estate of Francesco Spiera, After he turned Apostate from the Protestant Church to Popery. As also the miserable Lives, and woful Deaths, of Mr. John Child, […], and, Mr. Geo. Edwards […], London 1770.  The original history was written in Latin but soon translated in various languages. Francisci Spierae, qui quod susceptam semel Evangelicae veritatis professionem abnegasset, damnasetque, in horrendam incidit desperationem historia, Basel 1550. On this history see M. MacDonald, The Fearful Estate of Francesco Spiera. Narrative, Identity, and Emotion in Early Modern England, in: Journal of British Studies 31 (1992/1), 32–61.

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salvation”.¹⁶ However, after having met the inquisition he decides to publicly renounce his protestant convictions and proclaims his renewed obedience to the church of Rome at St. Mark’s in Venice. The inquisition also demands a second public renunciation in his hometown, but on his way home he hears a voice – the voice of Christ – questioning his conscience: “Thou wicked wretch, thou hast denied me, thou hast renounced the covenant of obedience; thou hast broken thy vow, hence apostate, bear with thee, the sentence of thy eternal damnation”.¹⁷ From that moment onward, Spiera is convinced of being a reprobate, justly punished by a ʻcruel Godʼ. Spiera falls in lasting despair. In the months that follow, his friends – several of them eminent public figures such as Paul Vergerius, bishop of Capodistra, Matteo Gribaldi, a catholic civil lawyer and professor at Padua, and Martin Borrhaus, a Protestant professor in Old Testament studies – try to reason with him, taking pastoral care of him while debating his condition. That condition soon develops into a general suffering, including self-starvation, resulting in his death in November of the same year. After his death, these friends, being moved by the tragic events that – in the case of Vergerius – made them convert to Protestantism, will write down their accounts and interpretations of the events in a series of letters that together compose the history as it was first published in 1550 with a preface written by John Calvin. In the various eyewitness accounts the issues of the demonic and the pathological play an important role. Should Spiera’s despair be seen as an expression of melancholy? Are Spiera’s religious beliefs symptoms of a melancholic – physiological – disposition? Or was he perhaps possessed by the devil – the Trauergeist that Luther said makes one anxious, sad and desperate? Or should his spiritual suffering be interpreted as an expression of a deep religious conviction in which salvation, election and reprobation are central notions? Perhaps Spiera concluded correctly from his knowledge of the Bible and the doctrines – perhaps he was indeed really a reprobate… Or was it precisely the rigour with which he applied these doctrines on his own life that revealed something deeper and more hidden, namely the ‘sparks’ of grace and faith? Is there, beside the accusing voice of his conscience, another, more hidden voice to be discerned? So, was the devil perhaps actively involved in Francesco’s crisis? Was he possessed, and if so, in what way? According to his friends, the devil is God’s opponent, one who sows hatred and seduces people towards further alienation from God, while clinging to their egocentric way of life. In the background of this view we can detect Luther’s. For, despite Luther’s troubling accounts of his struggles

 A Relation of the Fearful Estate, 3.  Op. cit., 14.

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with the devil (fear of the nightly rattling in the cloisters; the temptations on the toilet; the many shouting matches), the battle between good and evil, God and the devil, was first and foremost an internal one of conscience and faith. This is also reflected in Luther’s views of possession, which according to him can take two forms: the one physical, the other spiritual. Possession of the body is manifest in all kinds of abnormal behaviour beyond a person’s self control. However, that does not necessarily mean that the devil has power over the human spirit. To the contrary, in this type of possession in principle the human spirit and hence the faith in God remain unaffected.¹⁸ The appearance of an exorcist at Spiera’s sick bed, and the exorcist’s fruitless interventions and absurd gestures convince his friends that Spiera is most certainly not bodily possessed by the devil.¹⁹ The second form of possession, according to Luther, has the devil taking ownership of man’s spirit. Possession in this instance describes nothing other than all the impulses that give way to a further conscious alienation from God. Possession thus describes an experiential dimension of unbelief. It is a way to describe what Luther called the Anfechtung (spiritual struggle). The demonic, in other words, pushes man’s alienation from God to the extreme. This explains why Spiera’s friends link his ʻpossessionʼ to spiritual struggle, which means that they direct their full attention to the complex issue of unbelief and belief. The question whether Spiera is mentally ill – melancholic – is settled along a similar line of reasoning. The appearance of two physicians on the scene is highly relevant in this respect. From their investigations the two men conclude that Spiera was not physically ill but suffers from an illness of the soul, “some grief or passion of the mind”, troubling his thoughts and shadowing his capacity of judgement.²⁰ The crucial point here is (again) the differentiation between primarily bodily and spiritual processes. In the first case a physiological disturbance in the humours has an effect on the mental state resulting in what sixteenth-century medicine would call ‘melancholia’. In the second case a spiritual issue – some grief or passion – stirs up the humours resulting in a troublesome mental state. But how can one discern one from the other? Here, things become more complicated and less clear, since the discernment depends on the interpretations of symptoms that, whatever their cause, are quite similar in appearance. For Spiera’s friends however the matter is relatively clear: “It is neither plasters nor drugs, that can help a fainting soul, cast down with the sense of sin,

 Cf. M. Luther, Tischreden, WA TR 1, Nr. 1170, 578 f.  Cf. A Relation of the Fearful Estate, 42 f.  Op. cit., 16.

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and wrath of God; it is only Christ that must be the physician, and the gospel the soul’s antidote”.²¹ So, how is Spiera’s despair further interpreted? Of what condition is the despair a manifestation? The references to demonic possession of the body and to melancholia are important, since they help to mark and interpret the subject of despair. And so, these are important references in the account of his tragic suffering. But his friends are most of all interested in the religious depth dimension of his despair. They do not agree with the interpretation given by Calvin in his 1550 preface. According to Calvin, Spiera is an example of divine justice. The poor lawyer with his propensity for speculative philosophising and opportunistic religiousness is indeed punished by God sending him to hell because of the apostasy of his Protestant faith. He is justly punished because of the sin against the Holy Spirit, which, as is written in the scripture, is unforgivable. The very fact that Spiera’s despair is so deep and that he is not in the least susceptible to the reasonable counter arguments of his friends clearly points to unbelief and thus to stubborn sinfulness. But his friends, most of all Vergerius, come to a very different conclusion. Notably because of the often repeated self-assessment – being an apostate and reprobate – he draws the conclusion that although Spiera at first sight appears to be a hopeless case, his investment in and engagement with his convictions actually points towards a deep concern about his spiritual state and a sincere longing to return to God.²² Also, Borrhaus for instance writes that he reserves a final judgement on Spiera because he seems to recognise signs of both unbelief and belief in him. For this reason he is reluctant to engage with the question of whether in this instance it concerns ʻgodless despairʼ or a despair in which ʻhidden sparks of faith twinkleʼ. He justifies his caution by arguing that both the elect and the reprobate can feel slain by God and forsaken by God. Both groan under the accusing conscience of their sins. But this says nothing about the actual judgement of a god whose divine will and motives are impenetrable and hidden from mankind. We also see this in all of Vergerius’ attempts to give Spiera hope and trust: “God occasionally brings us in danger and despair, saving and delivering us afterwards, if it so pleases him”.²³ God’s decisions and judgements are hidden, and this forms the point of departure in Vergerius’ attempts to change Spiera’s mind by going in search of signs of faith. When Spiera for example says an emotional Lord’s Prayer with some friends, Vergerius tells him that these emotions are most definitely no sign of reprobation but rather

 Op. cit., 17.  Cf. A Relation of the Fearful Estate, 32– 36.  Op. cit., 37 f.

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the expression of a deep desire for mercy. And is this desire for mercy not already a manifestation of mercy itself…? For Vergerius and other eyewitnesses there are two important reasons to still note sparks of faith and subsequently of election behind Spiera’s conviction of being reprobate. The first is the previously mentioned desire for mercy. It is a desire that is in principle not inherent in a sinner; it is one that has to be awakened by God himself. And that desire is clearly present, according to his friends. Spiera is, after all, not indifferent to his fate, he is – in fact – very concerned about his salvation, and it is this concern and this desire that indicate faith. That he desires mercy now goes to show that God secretly affects him, without him being conscious of it. A person’s pronounced convictions, then, do not have to correspond to the inner workings that happen without them being conscious. Or, to phrase it in terms of Luther’s revelatio sub contrario specie principle, God’s workings and revelation have taken the opposite form of what sinful human beings expect them to take.²⁴ Behind Spiera’s desperation we can detect God’s redeeming proximity. Behind his despair, the first steps to faith. Beyond the felt hatred of a cruel god, there is love and mercy. The second reason for highlighting the sparks of faith is the fact that Spiera, despite his apostasy, still in many regards powerfully testifies that he is a true Protestant: he is still convinced of Protestant doctrine, and he faultlessly explains the Bible to bystanders.

3 The Problem of Spiritual Abandonment It would be a mistake to interpret the history of Francesco Spiera as a tragic incident, a unique excess in the slip stream of Luther’s thought on Anfechtung, spiritual struggle. The reception of this case story clearly suggests otherwise. Notably in seventeenth-century English puritanism and the Dutch Calvinist Reformation. Further there is a lively interest in the story, as evidenced in an impressive series of editions and reprints of the story. These editions and reprints are part of a broader literature on an important pastoral topic in seventeenthcentury Calvinism and puritanism: the problem of spiritual abandonment relative to faith and the doctrine of predestination – a problem elaborated by eminent representatives of the mentioned confessional movements such as William  “But people who have the Spirit are helped by him. Hence, they do not despair but they remain confident when they feel that the opposite of what they have so sincerely prayed for happens. For God’s working must be hidden and we cannot understand its way. For it is concealed so that it appears to be contrary to what our minds can grasp” (M. Luther, Lectures on Romans. Luther’s Works Vol. 25, ed. by H. C. Oswald, Saint Louis 1972, 242).

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Perkins (1558 – 1602) and Gisbertus Voetius (1589 – 1676). Contrary to Calvin and Spiera himself, they rather elaborate on the friends’ positions arguing that Spiera is an example, a model, for the faithful. Although William Perkins indicates in the 1591 A Golden Chaine that apostasy is a clear sign of the reprobation that God had already predestined for the larger part of humankind before the world was created, he nevertheless interprets Spiera’s despair as a mental state through which every believer must pass. According to Perkins, this despair is a sign of the preparatory workings of divine mercy, which are reflected in the first stage of conversion, humiliation. Perkins therefore describes humiliation as a kind of “sacred desperation” in which there is despair over the question of predestination.²⁵ This despair, he writes, is a temporary condition in which there is a feeling of being deserted by and profoundly alienated from God. But it is ultimately from this situation of despair that one can with great longing attach oneself to the promise of Christ’s salvation, convinced now that there is no human capacity for one’s own salvation.²⁶ Perkins draws the conclusion that Spiera is not, as Calvin argued, an example of the miserable condition of an outcast from the evidence that Spiera in his desperation does not doubt the idea that God elects and saves people but only persists in the belief that this salvation is not applicable to himself. But that in itself does not mean that the poor man is reprobated.²⁷ His despair should therefore be seen as the appropriate affective reaction suited to the proper concern about oneself and the knowledge of one’s own spiritual standing before God. And this is exactly where the possibility of redemption begins. A similar train of thought can be found in Voetius’ and Hoornbeeck’s Spiritual Desertion [Geestelijke verlatingen] from 1646.²⁸ According to Voetius, Spiera and others, who voiced words of desperation from time to time, were not devoid of faith. Clearly one could detect the inner longing for a single drop of faith and for God.²⁹ And Hoornbeeck adds that readers should pass judgement on Spiera “more on the basis of appearances that we observe than on the words of a fright-

 W. Perkins, A Golden Chaine, or, The Description of Theologie, containing the order of the causes of Saluation and Damnation, according to Gods word. A view whereof is to be seene in the Table annexed, Cambridge 1600, 589.  Cf. K. Bruhn, ‘Sinne Unfoulded’: Time, Election, and Disbelief among the Godly in Late Sixteenth- and Early Seventeenth-Century England, in: Church History 77 (2008/3), 574– 595.  Cf. Perkins, A Golden Chaine, 582.  Voetius wrote the first part of Spiritual Desertion. The work was then continued by his student and later professor in Leiden Johannes Hoornbeeck (1617– 1666).  Cf. G. Voetius, Spiritual Desertion, Grand Rapids 2003, 52 f.

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ened judgement that in reference to itself, is often totally wrong”.³⁰ Spiera’s ʻheartfelt longing to find graceʼ and his deep aversion to sin were in fact signs of God’s grace working in him. Spiera’s longing for God’s mercy, for election, and for serving and obeying God is enough reason not to attach too much importance to his conscious self-assessment. Voetius and Hoornbeeck note that Spiera could not overcome his despair and never felt or experienced the forgiveness of his sins. But from this we cannot, according to Voetius, draw the conclusion that he was a reprobate. There is after all, firstly, a fundamental difference between visual and audible utterings (words, signs) and hidden inner workings and movements in the soul. Secondly, there can be a ʻresidential faithʼ that is hidden and of which one is not conscious. And thirdly, it cannot be concluded from the Bible that faith, consolation or assurance of election should immediately follow each moment of desperation or despair. Voetius and Hoornbeeck – in line with Vergerius’ and Perkins’ interpretations – thus emphasize the complex, layered relation between phenomena we can observe and underlying, hidden processes and workings. In this literature on the spiritual abandonment we can clearly detect the same points of reference: the demonic possession and – more eminently – melancholia. Voetius for example still mentions the possibility of despair resulting from demonic temptation which increases the alienation from God, but this discussion is only brief. His discussion of melancholia to the contrary is more extensive. There is a reason and a context for this. The reason lies in the fact that the manifestations, the symptoms, of religious despair and melancholic despair are very much alike, which makes it more eminent to discuss in more detail the (small) physiological and psychological differences between the two. An example: in melancholia we find delusional anxiety caused by the belief in objects that do not exist; in religious despair there is also anxiety, but this anxiety has a non-delusional cause, namely the concern with one’s very existence. Another example: melancholia can be tempered by everyday pleasures such as leisure and drinking wine; in religious despair such activities only increase the despair. Apart from such distinctions, the crucial difference between melancholia and religious despair is the increase in religious longing for salvation. For, moreover, it is this desire which is mostly unconscious that provides evidence of the nature of the despair. The more substantial discussion of the distinction between melancholia and religious despair is not simply the effect of Voetius’ scholasticism, but can be situated in a broader context: the emergence of modern medicine (psychiatry and

 Cf. J. Hoornbeeck, Spiritual Desertion, Grand Rapids 2003, 87– 89, 88.

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psychology) in an ongoing debate with the various religious confessions in their mutual rivalries. This emergence of modern psychological conceptualizations of mental illnesses in the sixteenth and seventeenth century in general, and melancholia and hysteria in particular, is inextricably related to theological thought and religious life in an era that saw a considerable rise in demonic possession in the Western European countries, both in catholic and protestant areas. An important factor in this ʻdemonization of the worldʼ and the rise of demonic possession can be found in the protestant associations of sin with madness and possession.³¹ The alienation from God was everywhere, and hence, so was the demonic making people desperate and melancholic. Another important factor in the emergence of a psychological conceptualization of melancholy was the protestant dismissal of the classical system of virtues and vices.³² Throughout the Middle Ages melancholy and the related despair was primarily seen as a physiological disturbance, and hence a subject of medicine and natural science. However, the issue of despair was also dealt with in the context of moral-theological discussions of certain vices, acedia (lethargy) and tristitia (sadness), and therefore it was associated with unbelief. Protestant views of man’s sinful nature made the vices redundant, but that didn’t mean that lethargy, lack of care, sadness or despair where not affective states involved in religious life. It was Luther who now relocated these affective states under the heading ʻmelancholyʼ. In this way, the concept of melancholy came to include moral-theological aspects that were formerly categorized under vices. As a result, melancholy came to include a psychological dimension. With the broadening of the concept of melancholy the question thus emerged how sadness, anxiety and despair should be interpreted. Were they the manifestations of physiological processes, or related to issues of sin and faith? It was in Calvinism, and especially in Puritanism, that despair associated with the contemplation of predestination became an important theological

 Cf. H. C. E. Midelfort, Catholic and Lutheran Reactions to Demon Possession in the Late Seventeenth Century. Two Case Stories, in: B. P. Levac (Ed.), Possession and Exorcism, New York/ London 1992, 135– 160; H. C. E. Midelfort, A History of Madness in Sixteenth-Century Germany, Stanford 1999; H. Westerink, Demonic Possession and the Making of Melancholy and Hysteria, in: History of Psychiatry 25 (2014/3), 335 – 349.  Cf. M. Theunissen, Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters, Berlin/New York 1996; A. Gowland, The Worlds of Renaissance Melancholy. Robert Burton in Context, Cambridge 2006; Id., The Problem of Early Modern Melancholy, in: Past & Present 191 (2006), 77– 120; J. Schmidt, Melancholy and the Care of the Soul. Religion, Moral Philosophy and Madness in Early Modern England, Aldershot 2007; M. Münkler, Melancholy and Despair. The ‘Historia von D. Johann Fausten’, in: A. Sieber/A. Wittstock (Eds.), Melancholie – zwischen Attitüde und Diskurs, Göttingen 2009, 75 – 94.

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and pastoral topic. From the second half of the sixteenth century onward Lutherans increasingly criticized Calvinism of inflaming melancholy through an excessive obsession with the issue of election and reprobation, and the related scrutinizing function of conscience. This led Calvinist divines and physicians to pay more attention to the proper distinction between despair as caused by physiological disturbances on the one hand, and despair as effect of an afflicted conscience and a sinner’s deep concern with the hidden signs of election and God’s mercy on the other hand. Perkins for example writes the following on this: The second passion is sadness and sorrow: commonly thought to be nothing else but melancholy; but betweene the twaine, there is great difference. Sorrow, that comes by melancholy, ariseth onely of that humour annoying the bodie; but this other sorrow ariseth of a mans sinnes, for which his conscience accuseth him.³³

However, despite these attempts at clear distinctions, it was the psychologisation of melancholy that almost inevitably led to another development, namely the interpretation of religious despair and spiritual desertion in terms of melancholy. In his famous Anatomy of Melancholy (1621) Robert Burton, an Anglican physician, argues that the study of melancholy cannot be limited to a medical perspective, but must also include philosophical and theological reflection. This leads Burton to include in his Anatomy a large section on religious melancholy. This type of melancholy is defined in strictly psychological terms, namely as the “defect of the love of God”.³⁴ According to Burton, the person obsessed with predestination, scrutinized by his conscience, and desperate about his state before the face of God, suffers from a mental illness. The case of Spiera bares evidence of this. In principle, Burton agrees with Perkins and others that one should try to make a proper distinction between the illness melancholy and religious despair, but the very fact that religious melancholy is defined in purely psychological terms already undermines this: religious melancholy is both a spiritual and a medical problem, a phenomenon in which a melancholic (physiological) disposition interacts with a spiritual awareness leading to pathological forms of despair.³⁵ This implies that one in fact needs a refined and subtle casuistry in order to determine what the various physical and psychological processes are that result in similar signs and symptom formations in religious life and pathology. It is discussions of the subject matter such as these that incite theologians

 Perkins, A Golden Chaine, 864.  R. Burton, The Anatomy of Melancholy III, New York 2001, 379.  Cf. op. cit., 406.

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such as Voetius to pay substantial attention to this problem of the various processes underlying despair. From this contextualization of the discussion of the case of Spiera and the literature on spiritual desertion, we can see how the problem of despair, demonic possession, spiritual abandonment and religious melancholy are interwoven. This problem gives us some hints about how to think the relation between early modern in-depth christianisation processes on the one hand and the emergence of modern psychological and psychiatric perspectives on man’s psychic life on the other hand. It gives us insight in the nature of secularisation processes. Secularisation is not simply the process of emancipation from outdated religious world views, institutions and practices, but much more it is the process of the appearance of parallel discourses that stimulate and rival with each other in their mutual interpretations of man’s inner life, the relation to his own body, his place in the world and his stand before God. Maybe without realizing this, Tillich’s view of psychoanalysis as an auxiliary science that provides insight in man’s sinful nature echoes the developments in early modernity in which the demonic, the pathological and the psychological first appeared as interrelated dimensions of the modern subject itself – not so much the Cartesian subject, but the subject without subjectum, the estranged and alienated modern subject that can only understand itself and know its place by engaging in the hidden motives that drive and move it. And does perhaps the Calvinist obsession with predestination illustrate Tillich’s idea that the awareness of estrangement and loss of ultimate meaning drives the person toward the creation of certitude in systems of meaning? Was this doctrine of predestination not meant to provide a firm and certain ground for the subject where this ground had actually just been lost? Is this not perfectly illustrated by Spiera, i. e., his firm belief in a doctrine that provides ground, order and meaning on the one hand, and his awareness of his fallen, alienated existence on the other hand? This brings us to a yet broader context in which the case of Spiera and the problem of religious despair must be situated: the emergence of modernity.

4 The Emergence of Modernity Tillich’s theology centers around establishing a new relation between the estranged existence of human beings on the one hand and essence as “the true and undistorted nature of things” that can be intuitively experienced in the “im-

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mediate awareness of something unconditional” on the other hand.³⁶ It is exactly because of this nucleus of his theology that Tillich’s theology is ʻmodernʼ and connects with the theological and spiritual problems from which modernity itself emerged. After all, the awareness of estrangement, the concern about ultimate ground and loss of meaning all point at the crises that define modernity itself. In short, we are dealing with the crisis in the relation between subjectum and subject – a subjectum that in the medieval via antique was defined in terms of God being esse and essentia. God was subjectum, the ultimate ground of all that is, i. e., of everything related as a totality in which human beings participate and know their place.³⁷ Modernity emerges from a crisis in this system in which the subjectum guaranteed coherence of meaning and order, and hence of man’s place in and relation to that order and meaning. Since the publication of classical studies on the origins of modernity such as Karl Löwith’s Meaning in History from 1949 and Hans Blumenberg’s Die Legitimität der Neuzeit from 1966, the role of nominalism and other theological and spiritual sources for the emergence of modernity has been a focal point in literature on that subject.³⁸ Michael Gillespie in The Theological Origins of Modernity, for example, called upon Blumenberg’s theses when arguing that modernity can be seen as resulting from the intellectual crisis evoked by the nominalist focus on God’s absolute and free omnipotence and will. In order to defend God’s absolute (i. e. ʻunboundʼ) free will nominalists argued that God’s will was not ʻboundʼ to the universal concepts, principles and laws that man conceives as rational and natural. In other words, God’s relation to mankind and the world is not based on rational principles, and hence, the everyday reality hardly gives us any clue about divine will and purpose. Even man’s virtuous moral acts no longer necessarily meet God’s will, for if God’s mercy and love would merely be proper responses to human moral acts, God would no longer be free. It is not difficult to see the moral-spiritual problems implicated in this train of thought: What is the proper Christian ethos when God elects and rejects as he pleases? Luther, Calvin and other reformers give an answer to this question by focussing on the importance of fides understood as fiducia. Gillespie stresses, that modernity should not be described in terms of emancipation from a theological and religious worldview, but as a “realization of the

 P. Tillich, Systematic Theology, Vol. I, Chicago 1967, 41.  Cf. M. De Kesel, Spirituality and the Social. Some reflections on the Basics. Lecture held at the conference ʻStudies in Spiritualityʼ in Nijmegen, 6 May 2016.  Cf. K. Löwith, Meaning in History, Chicago/London 1949; H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1996.

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metaphysical and theological possibilities left by the antecedent tradition”.³⁹ According to Gillespie, it was nominalism with its voluntaristic theology that set the agenda for a variety of modern attempts to develop new metaphysical structures that could serve as answers to the problematic implications of this voluntarism. In short, modernity originates from a crisis in metaphysics and theology – a crisis that basically consisted in the deconstruction of the scholastic thought on the universal order in which reality and man’s relation to reality are grounded in rational und thus comprehensible universal principles of meaning. In other words, from our everyday insight in and experience of nature and reality we can conclude nothing about a transcendent order of meaning. Human beings have the capacity to order and subsequently to relate to nature by means of their own rationality and categories, but knowledge of the deeper meaning and purpose of life is out of reach. Such knowledge can only be revealed in a particular moment of revelation. The fundamental question here is whether a primarily intellectual tradition such as nominalism is the decisive factor in the emergence of the modern era. The implicit claim in these theories is that modernity should be explained from intellectual problems. In his Passage to Modernity from 1993 Louis Dupré has underscored not only the significance of nominalism, but equally so that of renaissance and humanism. Modernity conceived as “an event that has transformed the relation between the cosmos, its transcendent source, and its human interpreter”,⁴⁰ can be seen as partly resulting from the nominalist body of thought on the separation of God and nature – which was based on William of Ockham’s conceptualization of the distinction between potentia absoluta and potentia ordinata – and on the collapse of the Platonic medieval systems of analogies. Partly modernity can also be understood as originating from the rediscovery of the classical era and man’s capacity to creatively design his own life – after all, the classic era of Greek and Roman thought shows that a civil moral virtuous attitude can be developed without the necessary support of a Christian world view of the transcendent. This rediscovery of the classics runs parallel to another ʻdiscoveryʼ, namely that of the New World as a continent inhabited not by bizarre human-like monsters, but by noble people (ʻthe noble savageʼ) that have virtues – hence morality – without having ever met Christian thought.⁴¹

 M. Gillespie, The Theological Origins of Modernity, Chicago 2008, 12.  L. Dupré, Passage to Modernity. An Essay in the Hermeneutics of Nature and Culture, New Haven 1993, 249.  On this issue see, H. Westerink, Michel de Montaigne and Jean de Léry’s Scenes of Cannibalism. The Savage Other and the Making of Confessional Identity, in: id. (Ed.), Critical Spirituality. Spirituality as Critical Practice in the Global Modern Age, Leuven 2017, 39 – 54.

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The importance of these experiences should not be overlooked: there is need to reconsider the relation between Christianity and morality. Maybe, one can be morally good, without being a Christian. Or, formulated differently, if morality does not depend on Christian faith, maybe faith has little to do with morality – maybe the nuclear core of faith is something that cannot be reduced to or described in terms of moral categories, nor be opposed to moral categories. It is here that we find a source for Luther’s critique of good works: faith is no longer opposed to vice, but to sin – a concept beyond a mere accumulation of moral mistakes, bad habits and acts. Sin here becomes to describe the fundamental alienation and estrangement from transcendence. There are still other sources. Johan Huizinga in his famous The Autumn of the Middle Ages from 1919 pointed at the impact of late medieval spiritual pessimism and societal discontent on the early modern era. Scholars such as Jean Delumeau in Sin and Fear – The Emergence of a Western Guilt Culture from 1983 have further elaborated on this issue in detail, showing that and how in a culture of uncertainty and discontent certain theological issues gain momentum, notably the obsession with guilt, the demonic and predestination.⁴² This uncertainty and discontent was only partly resulting from nominalist theological thought. More important were disruptive instabilities in the political and societal structures, such as the rise of a new civil middle class in the cities, but also the crises in political authority, notably in the course of the Great Schism that divided the church (Rome vs. Avignon). This schism discredited religious authority and unmasked church politics as an extension of contingent worldly politics (France vs. German empire). All these developments – moral, philosophical-theological, political, spiritual – affect the modern subject, says Dupré, in that this subject is now both ʻsource of meaningʼ and ʻmeaning-giving subjectʼ. According to him the modern subject is no longer situated in and no longer finds support in the medieval notion that all human concepts and interpretation frameworks are nothing but an innate or internalized divine reality and orientation. Instead the modern subject is characterized by the awareness that it must interpret, articulate and realize its own individuality and societal life without being able to connect with a given universal meaning system. On this issue Dupré writes: “Renaissance philosophers carried the difference further to a point where the person as an independ-

 Cf. J. Delumeau, Sin and Fear. The Emergence of a Western Guilt Culture. 13th–18th Centuries, New York 1990.

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ent power began to compete with nature or the Creator in constituting meaning and value”.⁴³ With Dupré we can say that the significance of nominalism for the understanding of the sources and origins of modernity has been rightly underscored, and this is important not only to understand certain intellectual movements, but, on a more fundamental level, also shows us that modernity should not be seen as a radical departure (i. e., liberation or emancipation) from the medieval world. There is continuity between medieval thought (nominalism) and certain trends in modern thought (e. g. voluntarist models in theology and philosophy). But this does not mean that we have cleared the significance of nominalism for modern thought, nor have we exactly located its significance. After all, nominalism is more than merely speculative intellectualism. Dupré has rightfully argued that nominalism can be seen as the philosophical and theological manifestation of a certain form of piety that we can identify as Franciscan spirituality. This thesis at first sight may seem counterintuitive – to relate nominalism to Franciscan spirituality is not a line of thought explored by many scholars, probably because of the usual focus on the importance of nominalism for the distinction between philosophy and theology. Nevertheless, if one understands nominalism to be a manifestation of the Franciscan spirituality in which the relation between God, man and world is fundamentally reconsidered and redefined, we can shift our attention from the metaphysical issues, problems and questions towards a broader scope on the influence of various – newly established – spiritual schools and their significance or further developments in early and later modernity. Louis Dupré is one of the few scholars who has indeed pointed at a highly significant aspect of Franciscan spirituality that will have an impact on later developments.⁴⁴ This concerns the redefinition of contemplation. The Franciscans no longer define contemplation in terms of knowledge of the transcendent reality and the presence of that reality in this world via analogia, but instead connect contemplation to the experience of the actual love of God for every individual creature, and consequently see contemplation as a locus for a loving response to this love. As regards contemplation, one can thus recognize the shift from knowledge (insight, wisdom) towards the individual love relationship. This shift connects to the later developments in early modernity: the subject as a free agent becomes responsible for its relation to the world and to God. In this context we can understand the late medieval and early modern focus on the imitatio Christi (for example in the Devotio moderna, but also in the sixteenth-cen-

 Dupré, Passage to Modernity, 113.  Cf. op. cit., 36 – 41.

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tury Catholic [Jesuit, Carmelite] and Protestant reform movements). This shift towards the particular religious experiences and responsibilities in the relation between man, world and God, also prepares ground for the later Calvinist obsession with the doctrine of predestination as a new way to connect the particular relation between man and God with a universal order that promises to serve as a new system of meaning – an ultimate ground in which every individual has its place, function and purpose (either as elect or as reprobate). What emerges from the late medieval period and constitutes modernity is the subject as both the meaning-giving subject and the source of meaning, that is to say, any meaning can only be established by the subject in the subject itself through a complex hermeneutics of the subject’s inner life – the various confessions and spiritual schools will all develop models for this. Michel de Certeau has made this the central argument in his study of modern mysticism – a mysticism that appears in history as a product of the in-depth Christianization processes in early modernity alongside the demonic possession as two variants of the same problem.⁴⁵ Certeau has coined the thesis in his writings on modern mysticism that central in the mystic’s experiences is the awareness of loss of meaning, loss of the subjectum, i. e. the divine order of being and meaning in which every person has its place and role, sparking the strong desire for the presence of the divine – a presence that can only be experienced in the subject’s own desire as the locus of revelation. The common denominator in modern mysticism is therefore a certain melancholy, an awareness of loss of transcendence and meaning – an awareness that mostly begins with intuitions about the shallowness of worldly affairs and pleasures. According to Certeau, the mystic discourse about the presence of God “emerges from a mourning, an unaccepted mourning that has become the malady of bereavement, perhaps akin to the ailment melancholia, which was already a hidden force in sixteenth-century thought”.⁴⁶ Reformation and Counter-Reformation mysticism, spirituality and piety evolve around this profound sense of lack of meaning and of presence of the divine, producing new sites of experience and new discourses, practices and institutions. Contrary to the medieval period in which

 Cf. M. Foucault, Abnormal. Lectures at the Collège de France 1974– 1975, New York 2003, Chapters 7– 9.  M. de Certeau, The Mystic Fable. Vol. 1. The Sixteenth and Seventeenth Centuries, Chicago 1992, 1. On Certeau see, D. Bogner, Gebrochene Gegenwart. Mystik und Politik bei Michel de Certeau, Mainz 2002; I. Bocken, Everyday Life as Divine Practice. Modernity and Transcendence in Michel de Certeau, in: Currents of Encounter 42 (2011), 173 – 194; M. De Kesel, A Drop of Water in the Sea. Reflections on Michel de Certeau’s ‘Christian’ Everyday Life Spirituality, in: I. Bocken (Ed.), Spiritual Spaces. History and Mysticism in Michel de Certeau, Leuven 2012, 1– 25.

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the word ʻmysticʼ refers to the presence of the divine in reality and the contemplation thereof, modern mysticism can be described as the subject’s inner experience – or better, lack of and desire for experience – of a transcendence that is no longer present in the outside reality. Mysticism becomes an attitude of desire, practices and utterings. Seen from this perspective the psychologisation of melancholy during the sixteenth century and Robert Burton’s invention of religious melancholy as a form of bereavement about loss, cannot be restricted to the debates between theology and medicine on some extreme and pathological cases such as for example Spiera’s. These developments are inherently part of the larger context of the modern loss of meaning and search for presence of the divine. The demonic, the pathological and also the mystic are – extreme – dimensions of the same general problem that defines modernity. The case Spiera is paradigmatic for this dynamics of loss of meaning and longing for experience of the presence of the divine. The relation between man and God is no longer founded in a human reality naturally oriented towards the divine, grounded in a reality that represents a divine order of meaning, or expressed in a life of moral religious habits and regulations. Instead this relation is now sought through a complex hermeneutics of the self (as Foucault calls it), focused on the often hidden traces of the both intimately present and inconceivable absent God. What we find here is the subject as the site of a complex dynamics of faith oscillating between the forces of disenchantment and in-depth Christianisation processes manifest in a variety of discourses that provide frameworks of interpretation – the various religious confessions, medicine, politics, et cetera. In the history of Spiera indeed various interpretation models exist and operate next to each other, while influencing each other in their actual interpretations. The loss of ultimate meaning is, so to speak, countered by the production of meaning in various competing discourses. There is loss and surplus of meaning at the same time. What these frames or discourses offer is a variety of options for self-interpretation and self-articulation relative to the techniques, practices, concepts and institutions imposed from the outside. It is in this context of the modern variety of interpretation models and frames that also the rediscovery of the classical ʻcare for the selfʼ in early modern religious discourse against indifference and lack of concern can be situated and has its significance – the ʻcare for the selfʼ is the starting point for the various frames and discourses to intervene in and articulate (religious) subjectivity.⁴⁷ In the case of Spiera, we can recognize the significance of care of the self and the desire for divine pres-

 Cf. M. Foucault, The Courage of Truth. Lectures at the Collège de France 1983 – 1984, New York 2011.

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Herman Westerink

ence in the context of a radical loss of meaning (reprobation): the care and desire point at the already hidden presence of God in the experience of despair about ʻnon-beingʼ.

5 Final Remarks The sixteenth and seventeenth century religious literature on despair is not a peripheral literature, though at first sight it might give that impression. From Luther’s notion of Anfechtung (that in its turn dates back to late medieval mystical literature) to Calvinist and Puritan literature on spiritual desertion, we find the experience of estrangement, loss meaning and despair (and anxiety) about one’s spiritual state before God in the center of modern religious subjectivity. The demonical possession and the psychological theories on pathologies emerge parallel to the subjective experiences that do not so much result from the application of doctrine in order to review one’s own life, but to the contrary, are actually the very starting point for theological reflection and new pastoral models for intervention. The demonic and the pathological are crucial points of reference in the interpretation and examination of these experiences, in order to establish the deeper motives and ʻmovementsʼ in the soul that point at the hidden presence of God and the first sparks of faith. Certeau has surely had a point when he identifies the melancholy as a hidden force in early modern mystic literature. It is the melancholy as defined by Burton as the awareness of loss of God’s love and the desperate psychological acts (desire, terror of conscience) that result from this. It was Kierkegaard who can be said to have rediscovered the significance of the issue of despair and anxiety in his existential-psychological writings on this issue.⁴⁸ Kierkegaard heavily influenced Tillich’s ideas on despair, anxiety and estrangement. This means that Kierkegaard and Tillich connect to and rearticulate central problems that constitute modernity as such (and continue to be significant for example in the contemporary emergent church theology⁴⁹). At this point, we have to mention a problem articulated by Tillich himself, and also by some of his critics. Is perhaps man’s ultimate ground nothing but the person’s own “creation of certitude in systems of meaning, which are supported by tradi-

 Alongside The Sickness unto Death we should also mention his text The Concept of Anxiety.  See on this issue K. S. Moody, Radical Theology and Emerging Christianity. Deconstruction, Materialism and Religious Practice, New York 2016.

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tion and authority”⁵⁰ in a – desperate – attempt to deal with the awareness of estrangement and loss of ultimate meaning. Antoine Vergote, a Belgian philosopher, theologian and psychologist of religion, has criticized Tillich exactly on this point arguing that the jump into the ultimate ground of being is nothing but an imaginary construct – a projection – that satisfies all human needs and demands.⁵¹ Vergote surely points at something important, namely the fact that Tillich clearly privileges a theological approach in which estrangement is overcome through the recognition of a primal ultimate ground of unity that is always already present behind every experience of separation.⁵² It is precisely this relation between the experience of estrangement and loss of meaning on the one hand and the search for and creation of ʻcertitude in meaning systemsʼ that we find in a paradigmatic way in the story of Spiera and in the debate on spiritual abandonment that draw upon Luther’s concept of Anfechtung in the life of a person who is at the same time sinner and justified, and thus in constant affirmation and negation of himself. Tillich’s discussion of the paradoxical character of faith in The Courage to Be connects to this problem – faith is the acceptance of both meaninglessness and meaning, estrangement and unity, absence and presence.⁵³ Like Spiera and his friends this means that after the process of discernment of the – human (bodily and spiritual), divine, demonic – ʻspiritsʼ (that is, the motives and ideas that struggle for dominance in the person’s inner life) one finds that together these spirits compose the paradoxical and complex phenomenon of faith. The demonic and the pathological are merely (intensified) dimensions of this faith.

   

Tillich, The Courage to Be, 76. Cf. A. Vergote, Interprétation du language religieux, Paris 1974, 15 – 17. Cf. M. C. Taylor, After God, Chicago 2007, 35 – 37. Cf. Tillich, The Courage to Be, 171– 178.

Lutz Müller

Die Dämonie der Seele Komplexe und Schattenseiten aus Sicht der Analytischen Psychologie C. G. Jungs Wenn der historische Prozeß der Weltentseelung, eben der Zurücknahme der Projektionen, so weiter geht wie bisher, dann muß alles, was draußen göttlichen oder dämonischen Charakter hat, zur Seele zurückkehren, in das Innere des unbekannten Menschen, von wo es anscheinend seinen Ausgang genommen hat. C. G. Jung¹

Paul Tillich bezieht sich in seinem Werk immer wieder auf C. G. Jung. In einer „Würdigung anläßlich seines Todes“ schreibt er: „Viele von Jungs Ideen sind außerordentlich fruchtbar für die Theologie und im besonderen für den Protestantismus geworden.“² Und er nennt hier u. a. dessen Lehre vom Selbst und von den polaren Spannungen in der Entwicklung der Persönlichkeit, seine Lehre von den Archetypen sowie seine Auffassung von der Beziehung zwischen dem Göttlichen und dem Dämonischen.³ Auch Jung war mit Tillichs Werk vertraut. In einem Brief an Prof. Murray schrieb er, dass es immer sein Wunsch gewesen sei, Prof. Tillich kennenzulernen, doch habe sich dafür nie eine Gelegenheit geboten.⁴ Umso erfreulicher ist es, dass beide Persönlichkeiten in diesem Band zumindest in Hinsicht auf ihre Ansätze zusammenkommen.

1 Dämonen aus naturwissenschaftlicher und psychologischer Perspektive Diejenigen Erfahrungen, die in allen Kulturen als von dunklen, bösen Mächten, von Hexen, Teufeln und Zauberern, Dämonen und Geistern bewirkt, angesehen wurden, werden heute meist nicht mehr überirdischen oder jenseitigen Einflüssen und Wesenheiten zugeschrieben, sondern, wenn sie auf inneren Auslösern be-

 C. G. Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, Olten 1988, § 141.  Vgl. P. Tillich, Begegnungen (GW XII), Stuttgart 1971, 316 – 319, hier 316.  Vgl. ebd.  Vgl. C. G. Jung, Brief an Prof. Henry A. Murray Boston (Mass.), August 1956, in: ders., Briefe 3, Olten 1973, 49. https://doi.org/10.1515/9783110582994-010

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ruhen, meist als körperliche und psychische Erkrankungen, Störungen und Konflikte verstanden. Aber sie werden als genauso bedrohlich und belastend erlebt wie seit jeher und nehmen oft, wenn sie verbildlicht oder symbolisiert auftreten, z. B. in Träumen, Fantasien, Computerspielen oder TV-Serien, durchaus die gleichen Formen und Gestaltungen an, wie sie in Mythen, Legenden und Märchen zu finden sind. Immer, wenn Menschen äußeren oder inneren Kräften hilflos ausgeliefert sind und sie diese nicht willentlich kontrollieren können, haben sie den Eindruck, unter der Macht fremder Kräfte zu stehen. In den meisten Fällen sind dies auch gar keine ,Einbildungenʻ, sondern durchaus begründete Annahmen und Erlebensweisen, wenn man z. B. nur an durch Bakterien und Viren verursachte Epidemien oder neurologische Erkrankungen und Hirnschädigungen denkt. Für diese kann man sich selbst keine unmittelbar wahrnehmbaren Gründe angeben, sie können so plötzlich und unvermutet auftreten und das körperliche und psychische Befinden schlagartig so verändern, als sei man vom tödlichen Pfeil eines hinterlistigen Zauberers oder von einer bösen Hexe vergiftet worden. Die folgende Liste gibt eine – nicht vollständige – Übersicht, welche Phänomene, die wir erst seit wenigen Jahrhunderten einigermaßen naturwissenschaftlich erklären können, bei früheren Menschen und Kulturen den Eindruck entstehen ließen, dämonischen Kräften unterworfen zu sein. – Lebensbedrohung durch Katastrophen, Naturgewalten, wie z. B. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Stürme, Überflutungen, Dürre, Kälte, Hungersnöte – Angriffe durch Schlangen, Spinnen, Insekten, Raubtiere,Viren und Bakterien, Epidemien – Traumata durch Krieg und Gewalt, Schockerlebnisse, Unfälle – Körperliche Erkrankungen, die mit stärkeren Bewusstseinsveränderungen einhergehen, wie z. B. Infektionen, Fieber, Vergiftungen, Verletzungen, Verhungern, Verdursten, Schmerzen, Todesnähe – Hirnerkrankungen wie z. B. Hirnerschütterung, Hirnblutung, Hirntumor, Epilepsie, Schlaganfall, Parkinson, Chorea Huntington (sog. ,Veitstanzʻ), Tourette-Syndrom, Tic-Störungen, Alzheimer, Demenz – Psychotische Symptome, wie z. B. Schizophrenie, Manie, Wahn, Fanatismus – Psychopathische, kriminelle, kalte, berechnende, hinterhältige, ausbeuterische, machtbesessene, gewalttätige, antisoziale Menschen – Psychische Störungen wie Ängste, Panikattacken, Zwänge, Hysterien, Depressionen, Autismus, Mutismus, Hypochondrie – Drogenwirkungen, Delirien, Räusche, Süchte – Veränderte Bewusstseinszustände, mystische und spirituelle Erfahrungen, die z. B. durch Fasten, Meditation, Atemübungen, Körperübungen, Tanz, Trance, Askese, Reizüberflutung, Reizdeprivation ausgelöst werden

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Träume, Albträume, Visionen, Fantasien Komplexreaktionen, Schreckreaktionen Schwer beherrschbare Triebe und Bedürfnisse Unkontrollierbare Affekte und Emotionen, Verliebtheit Unveränderbare Gewohnheiten und Abhängigkeiten Hartnäckige Gedanken, ,fixeʻ Ideen, ,heiligeʻ Überzeugungen, starre Meinungen Merkwürdige, unwahrscheinliche Ereignisse, negative wie positive Schicksalsfügungen („Das kann doch kein Zufall sein!“, „Da hast Du aber einen Schutzengel gehabt!“, „Da hatte Amor seine Hand im Spiel!“)

Wir wollen uns im Folgenden insbesondere mit den Komplexreaktionen – den kleineren und größeren ,Dämonenʻ im Alltag – beschäftigen, weil diese mit Erfahrungen verbunden sind, die den meisten Menschen auf die eine oder andere Weise zugänglich sind und fast noch – trotz ihrer manchmal irritierenden Wirkungen – zum Normalbereich unseres Erlebens gehören. Außerdem spielen sie in fast alle anderen psychischen Phänomene mit hinein.

2 Die Komplex-Struktur der Psyche Viele kennen eine der folgenden Erfahrungen: Bei einem Gespräch fällt ein bestimmtes Wort oder es klingt beiläufig ein bestimmtes Thema an und auf einmal ist man nicht mehr in der Lage, weiter konzentriert zuzuhören, man ,schaltet abʻ, ist abgelenkt und verfällt eigenen Gedanken, Fantasien und Gefühlen. Oder es werden in froher Runde Witze gemacht, man ist heiter und ausgelassen, aber bei einem bestimmten Thema ist einem plötzlich ,das Lachen vergangenʻ, man ist peinlich berührt, wird unsicher, verlegen und man kann seine Betroffenheit nur schlecht verbergen. Was ist da passiert? In diesen Fällen wird durch einen bestimmten Reiz – ein Wort, eine Anspielung, eine Situation – unbewusst ein ,wunderʻ Punkt oder ein heimliches Interesse angerührt, die vielleicht auf frühere angstvolle, schmerzhafte, schambesetzte Erfahrungen oder auf unterdrückte Emotionen, Triebe, Wünsche und Sehnsüchte zurückgehen. Dadurch wird die Aufmerksamkeit von der gegenwärtigen Situation abgezogen und es entsteht ein veränderter ,geistesabwesenderʻ Bewusstseinszustand, der je nach Art des ausgelösten Inhaltes als irritierend, erschreckend und blockierend oder als angenehm, lustvoll und faszinierend erlebt wird. Irgendetwas ,ist in uns gefahrenʻ, hält uns ,gefangenʻ oder ,besetztʻ und erst nach einer Weile kehren wir wieder in den Normalzustand zurück.

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Diese dynamischen Elemente der Psyche, die in uns solche Abweichungen unserer Ich-Bewusstseins-Kontinuität und solche veränderten Bewusstseinszustände hervorrufen, hat C. G. Jung ,Komplexeʻ genannt.⁵ Dieser Begriff ist in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen, wenn man beispielsweise sagt, dass dieser oder jener Mensch deutliche ,Komplexeʻ habe, womit meist Unsicherheiten und Hemmungen, Minderwertigkeits- und Versagenskomplexe gemeint sind. Solche oft angst- und schambesetzten Komplexreaktionen führen dazu, dass sich der unter ihnen Leidende sehr unfrei fühlt und nicht recht weiß, was er tun kann, um sich von ihrer Macht zu befreien. Er ist für einen Moment wie gelähmt, ,versteinertʻ, zeigt alle typischen Stress-Symptome wie Schwitzen, Erröten, Herzklopfen, möchte am liebsten ,in den Boden versinkenʻ, unsichtbar werden, oder sich tot stellen. Gleichzeitig möchte er natürlich, dass Andere ihm diese Reaktion nicht anmerken, weil er damit ja etwas offenbart, was er geheimhalten will. Er wird versuchen, rasch auf ein anderes Thema abzulenken oder die Situation mit einem guten Vorwand zu verlassen. Daraus könnte man ableiten, dass Komplexe hauptsächlich negative, störende und pathogene Strukturen sind, weil sie eher in unangenehmen Zusammenhängen auftreten. Aber es gibt durchaus auch positiv erlebte Komplexreaktionen, die mit Be-Geisterung, Faszination, Lust und Leidenschaft verbunden sind. Auch sie können für lange Zeit in ihren Bann ziehen, ,verzaubernʻ und das weitere Leben tiefgreifend bestimmen. Menschen können von einem anderen Menschen, einer Idee, ihrer Arbeit oder ihrer Leidenschaft wie ,besessenʻ sein oder von ihnen ,aufgefressenʻ werden und sind in diesen Phasen für ihre Mitmenschen kaum richtig erreichbar. Sie leben wie in einer ,anderen Weltʻ. Da diese belebenden Komplexreaktionen aber mit starken positiven Emotionen verbunden sind, werden sie häufig angestrebt und gerne wiederholt, was diese Komplexe naturgemäß weiter verstärkt. Deshalb können sie ,süchtigʻ machen und ihr Fehlen zu depressiven Entzugserscheinungen führen.

3 Woher kommen Komplexe? Wie Komplexe entstehen, lässt sich mit relativ einfachen lernpsychologischen Prinzipien erklären. Durch fördernde oder hemmende Reaktionen der Umwelt auf sein Verhalten lernt der Mensch, bestimmte Eigenschaften, Bedürfnisse, Verhal Vgl. dazu z. B. J. Jacobi, Komplex, Archetypus, Symbol in der Psychologie C. G. Jungs, Zürich 1957; C. G. Jung, Die Dynamik des Unbewussten, Olten 1991; A. Ribi, Was tun mit unseren Komplexen? Über die Dämonen des modernen Menschen, München 1989. Kostenloser Download bei www.opus-magnum.de.

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tensweisen und Situationen als angenehm oder unangenehm, als richtig oder falsch zu erfahren. Dementsprechend werden einige Aspekte der Persönlichkeit und der Welterfahrung positiv, andere negativ ,aufgeladenʻ und wiederum andere bleiben relativ neutral. Sie formieren sich zu positiven, negativen oder eher neutralen Komplexkonfigurationen, die nach und nach durch weitere Erlebnisse angereichert, verstärkt oder abgeschwächt werden. Experimentell lassen sich die Komplexe mit dem Assoziationsexperiment, mit dem C. G. Jung die Erforschung der Komplexstruktur der Psyche begonnen hat,⁶ nachweisen oder auch mit einem modernen Biofeedbackgerät (Lügendetektor). Hierbei werden einer Versuchsperson bestimmte Reizworte dargeboten, auf die sie reagieren soll. Aus der Art und der Störung der Reaktion auf das Reiz-Wort (z. B. verzögerte Reaktion, keine Reaktion, Stottern, Veränderung des elektrischen Hautwiderstandes, des Blutdrucks, der Atemfrequenz, der Augenbewegung, der Körperspannung etc.) lässt sich nachweisen, ob das Reizwort einen Komplex der Versuchsperson berührt hat oder nicht. Die Versuchsperson, wenn sie nicht besonders trainiert ist, hat dabei keine Möglichkeit, eine Komplexreaktion zu vermeiden, denn die auf diese Weise angesprochenen Komplexe sind mehr oder weniger unbewusst, relativ autonom und einer willensmäßigen Kontrolle kaum zugänglich. Komplexreaktionen sind keine seltenen Ausnahmen im psychodynamischen System. Im Gegenteil, sie sind zentrale, neuronal verschaltete Struktur- und Steuerungselemente, Automatismen, ,Sub-Programmeʻ oder auch ,Appsʻ, die das menschliche Erleben und Verhalten sowohl in normaler als auch in krankhafter Hinsicht in weitgehendem Maße bestimmen. Komplexe sind Muster und Schemata, die dazu führen, dass die Welt in bestimmter individueller Weise erfahren und auf sie in subjektiver Weise reagiert wird. Jeder, der beispielsweise durch eine Straße läuft, wird dabei anderes wahrnehmen und erleben, je nachdem, welche Komplexe bei ihm gerade aktiviert sind oder werden. Viele Komplexe entfalten ihren Einfluss nur auf äußerst subtile, unbewusste Weise. Sie lenken die Aufmerksamkeit und das Interesse einmal hier- und einmal dorthin, lassen Assoziationen, Gedanken, Einfälle auftauchen oder erzeugen unmerkliche Stimmungsveränderungen. Andere dagegen brechen mit elementarer Gewalt durch und rufen stärkste Affektionen, Kurzschlusshandlungen und schwere psychische Störungen hervor. Manche Komplexreaktionen treten nur kurzfristig und unmerklich auf, manche legen sich wie ein schwerer Schatten ein Leben lang auf die ganze Per-

 Vgl. C. G. Jung, Experimentelle Untersuchungen, Olten 1991; V. Kast, Das Assoziationsexperiment, Fellbach-Oeffingen 1980.

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sönlichkeit, z. B. ein tiefer Selbstzweifel, Minderwertigkeits- oder Schuldkomplex. Umgekehrt können aber auch Größen- und ,Gottesʻ-Allmachts-Komplexe lebensbestimmend sein, wie wir sie u. a. aus der Geschichte und von psychopathologischen Phänomenen kennen. Es lassen sich verschiedene Komplexebenen unterscheiden: Komplexe, die unserer individuellen Persönlichkeit und ganz persönlichen Lebensgeschichte entstammen, Komplexe, die für die Gruppe, Gesellschaft, Kultur und Religion, in der wir leben, charakteristisch sind und durch den Sozialisationsprozess vermittelt werden (z. B. Sexualkomplex, Leistungskomplex, Rivalitätskomplex, Versündigungskomplex) und Komplexe, die offenbar durch die Eigenart unserer psychosomatischen, genetischen Struktur bestimmt werden und allen Menschen mehr oder weniger gemeinsam sind. Diese allgemeinmenschlichen Komplexe gehen vermutlich aus der Grundstruktur unseres Organismus, seinen Grundbedürfnissen, Grundängsten und psychischen Grundverarbeitungsmöglichkeiten hervor. C. G. Jung nannte sie auch ,Archetypenʻ, das sind evolutionär entstandene Dispositionen und Muster des Erlebens und Verhaltens.⁷ Bei überwiegend magisch erlebenden Völkern fand sich häufig eine deutliche Unterscheidung zwischen Seelenteilen, die zum Menschen gehören und die den Menschen verlassen und ihm verloren gehen können und Göttern, Geistern und Dämonen, die unabhängig von den Menschen in einem Zwischenreich oder Jenseits wohnen. C. G. Jung vermutete, dass es sich bei den Seelenteilen um Komplexe des persönlichen Unbewussten handelt, während die Götter, Geister und Dämonen Ausdruck autonomer archetypischer Komplexreaktionen des kollektiven Unbewussten sind. Beide Komplexarten können seelische Störungen hervorrufen, bei den ersteren in Form von ,Seelenverlustʻ, bei den letzteren in Form von ,Besessenheitʻ. Die Analytische Psychologie fasst demnach die in verschiedenen Kulturen vorkommenden Erfahrungen mit fremdartigen Wesen aus dem ,Zwischenreichʻ oder ,höherer oder tieferer Weltenʻ (psychologisch: dem ,Unbewusstenʻ) als ein Erleben symbolischer, personifizierter psychischer Prozesse auf, die einen weitgehend autonomen Charakter haben. Jung nannte diese autonomen Komplexe auch ,Teil-Persönlichkeitenʻ, weil sie sich unter bestimmten Umständen (z. B. veränderte Bewusstseinsstände) eben aufführen, als wären es tatsächlich eigene Persönlichkeiten mit eigenem Willen, Fühlen und Denken (vgl. dazu auch das eigenartige Phänomen der so genannten ,multiplen Persönlichkeitenʻ).

 Vgl. C. G. Jung, Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, Olten 1992; L. Müller/A. Müller (Hg.), Wörterbuch der Analytischen Psychologie, Düsseldorf 2008.

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Diese Inhalte können umso selbstständiger erscheinen, je mehr sie von der Persönlichkeit abgewehrt werden müssen. Dies ist häufig dann der Fall, wenn traumatische Erfahrungen die Persönlichkeit so belasten, dass sie alles damit Verbundene verdrängen oder abspalten muss, um eine ausreichende psychische Stabilität aufrechtzuerhalten. Aber auch Gewissens-, Schuld-, Versündigungsund Bestrafungsängste können zu solchen Abspaltungen führen. Wenn dann ein solcher komplexbedingter Inhalt doch ,durchbrichtʻ, meist durch eine Schwächung der physischen oder psychischen Stabilität, […] so empfindet das Individuum diesen Inhalt als fremd, unheimlich und zugleich faszinierend; auf jeden Fall wird das Bewusstsein dadurch in beträchtlicher Weise beeinflusst, sei es, dass es den Komplex als krankhaft empfindet, sei es, dass es dadurch dem normalen Leben entfremdet wird. Es tritt […] ein Zustand von ,Entfremdungʻ ein, denn es mischt sich etwas in das individuelle Bewusstsein, das eigentlich unbewusst, das heißt vom Ich getrennt, bleiben sollte. Gelingt es, einen solchen Inhalt wieder aus dem Bewusstsein zu entfernen, so fühlt sich das Individuum erleichtert und normaler. Der Einbruch dieser fremden Inhalte findet sich als charakteristisches Symptom am Anfang vieler Geisteskrankheiten. Die Kranken werden von fremden und unerhörten Gedanken befallen, die Welt sieht verändert aus, die Menschen haben fremde, verzerrte Gesichter usw.⁸

Jung spricht hier eine typische Erscheinungsweise der Komplexe an. Je unbewusster sie sind und je höher ihre energetische Aufladung ist, desto mehr erscheinen sie dem Ich- Bewusstsein als fremd und autonom. In Fällen psychischer Störung, wie z. B. bei Phobien oder Zwangssymptomen, erlebt sie das Individuum zwar als unverständlich, aber doch noch zur eigenen Persönlichkeit gehörend. Sind sie noch stärker abgespalten, werden sie projiziert und können den Charakter eines von außen kommenden, häufig bedrohlichen Wesens annehmen oder als Halluzinationen und Wahnvorstellungen erscheinen. Sie haben dann die Neigung, in menschlicher oder tierhafter Gestalt aufzutreten, was mit der personifizierenden, bild- und symbolerzeugenden Wirkungsweise der Psyche zusammenhängt. Unser psychisches System hat über Jahrmillionen gelernt, in Reizen besonders rasch tierische oder menschliche Ausdrucksformen und Gestalten zu erkennen. Eine aufgerichtete bedrohliche Gestalt, eine verzerrte Grimasse, aggressiv blickende große Augen, ein aufgerissenes Maul, laute, aggressive, fremdartige Töne, huschende, schnelle Bewegungen etc. rufen bei uns rasch schreckhafte, instinktive Kampf- oder Fluchtreaktionen hervor. Wir können diese Muster-Erkennung gut bei Wolkenformationen, die wir anschauen, beobachten.

 Jung, Die Dynamik, § 590.

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Abb. 1 Die Versuchungen des heiligen Antonius (Félicien Rops, La Tentation de saint Antoine, 1878). Die Stärke der dämonischen Versuchungen und Peinigungen entsprechen nach tiefenpsychologischer Auffassung der Stärke der Unterdrückung und Verdrängung der entsprechenden Bedürfnisse. Immerhin wird Antonius oft mit einem Schwein dargestellt und Schweine, die mit ihrer triebhaften Natur auch in die Nähe zu Dämonen gebracht werden, stehen unter seinem besonderen Schutz. Hierin deutet sich von Ferne eine mögliche versöhnende Integration von Geist und Natur an. (Vgl. dazu R. Abt-Baechi, Der Heilige und das Schwein. Zur Versöhnung von Geist und Natur. Eine tiefenpsychologische Untersuchung am Beispiel der Figur des „SchweineAntoni“ oder des Hl. Antonius des Eremiten, Zürich 1983.)

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4 Der Schatten Auf einen dieser Teilaspekte oder Teilpersönlichkeiten, die als besonders dämonisch empfunden werden, sei hier besonders hingewiesen: den von der Analytischen Psychologie so genannten ,Schattenʻ. In allen Kulturen spielt die Auseinandersetzung mit dem Bösen, Dunklen und Triebhaften eine große Rolle. Auch heute noch bilden sie die Grundbestandteile jedes einigermaßen interessanten Romans und Films. Die meisten von uns finden Geschichten, die nicht mit einer gewissen Prise von ,Sex and Crimeʻ gewürzt sind, langweilig. Das scheint archetypisch zu sein, denn in allen Kulturen werden bestimmte ,böseʻ, ,egoistischeʻ und triebhafte, insbesondere sexuelle Seiten der Persönlichkeit mit Bann und Tabu belegt, so dass sie sich nur auf indirekte Weise befriedigen lassen, häufig also auf dem Weg der Projektion im Schauspiel, im Film, im Skandal oder Verbrechen, bei der der Andere das tut, was man selbst vielleicht gerne täte. Im bildhaften Begriff des Schattens sind alle ,negativenʻ Eigenschaften einer Persönlichkeit zusammengefasst, wie z. B. Egoismus, Aggressivität, Triebhaftigkeit, Neid, Habgier, Geiz etc., die unbewusst bleiben müssen, weil sie nicht mit dem eigenen Selbstbild übereinstimmen und im Widerspruch zu den Ideal- und Moralvorstellungen des Einzelnen und der Gesellschaft stehen. Je vollkommener sich jemand gebärdet, desto dunkler und hässlicher ist sein Schatten. Das muss so sein, weil die Wertvorstellungen einer Gesellschaft meist künstliche Ausschnitte des Allgemeinmenschlichen sind, die der Wirklichkeit und der Ganzheit des Menschen nicht gerecht werden. Dadurch, dass sich jemand mit diesem künstlichen Idealausschnitt des Menschlichen identifiziert, kann er den anderen Seiten des Allgemeinmenschlichen, dem ,archaischen Menschen in unsʻ nicht entgehen, im Gegenteil, er wird ihm hinterrücks auf die eine oder andere Weise umso mehr verfallen. Da er aber von dem Dunklen und Bösen in sich selbst nichts wissen will, wird es ihm draußen begegnen: in den eigenen Kindern, die nervös und aggressiv sind, dem Partner, der so wenig Verständnis zeigt, im neidischen und eitlen Nachbarn, im rücksichtslosen Kollegen, im Assozialen, im Kriminellen, in Minderheitsgruppen, im feindlichen, fremden Staat, in der bösen Welt. Projektionsobjekte, die als Sündenbock für das eigene Schattenhafte dienen, gibt es zur Genüge. Ich habe einmal die Bekanntschaft eines verehrungswürdigen Mannes gemacht – man könnte ihn ohne Schwierigkeit einen Heiligen nennen –, ich ging drei Tage lang um ihn herum und konnte nirgends die Unzulänglichkeit des Sterblichen an ihm entdecken. Mein Minderwertigkeitsgefühl wurde bedrohlich, und ich begann bereits ernstlich daran zu denken, mich zu bessern. Am vierten Tag aber konsultierte mich seine Frau. […] Seitdem ist

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Abb. 2 Die segnende Hand wirft einen teuflischen Schatten (Abbildung aus einem Manuskript des Okkultisten Eliphas Levi, 1810 – 1875). Eine bemerkenswerte Einsicht in die Polarität von Gut und Böse, von Persona und Schatten. mir nichts Ähnliches mehr passiert. Aber ich lernte daraus, daß jemand, der mit seiner Persona eins wird, alles Störende durch seine Frau darstellen lassen kann, ohne daß letztere es merkt, aber sie bezahlt ihre Selbstaufopferung mit einer schweren Neurose. Diese Identifikationen mit der sozialen Rolle sind überhaupt ergiebige Neurosenquellen. Der Mensch kann sich eben nicht ungestraft seiner selbst zugunsten einer künstlichen Persönlichkeit entledigen. Schon der Versuch dazu löst in allen gewöhnlichen Fällen unbewußte Reaktionen aus, Launen, Affekte, Ängste, Zwangsvorstellungen, Schwächen, Laster usw. Der sozial ,starke Mannʻ ist im ,Privatlebenʻ öfters ein Kind seinen eigenen Gefühlszuständen gegenüber, seine öffentliche Disziplin (die er ganz besonders von den andern verlangt) wird privat jämmerlich zuschanden. Seine ,Berufsfreudigkeitʻ hat zu Hause ein melancholisches Gesicht; seine ,fleckenloseʻ öffentliche Moral sieht hinter der Maske merkwürdig aus – wir wollen nicht von Taten sprechen, sondern bloß von Phantasien, auch wüßten die Frauen solcher Männer einiges zu erzählen; sein selbstloser Altruismus – seine Kinder haben andere Ansichten.⁹

5 Persona und Schatten Der Schatten steht in einem umgekehrten Verhältnis zur Persona, zur Fassade und ,Maskeʻ, die nach außen hin gezeigt wird: Je mehr versucht wird, sich einseitig

 C. G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Olten 1971, § 306 f.

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nach gesellschaftlichen oder religiösen Vollkommenheitsmaßstäben zu orientieren, desto dunkler kann der Schatten sein. Menschen, welche stark mit festgelegten Rollen und einer fassadenhaften Persona identifiziert sind, die wenig von ihrer wirklichen Persönlichkeit und ihrer menschlichen Ganzheit zum Ausdruck kommen lassen, müssen häufig in ganz besonderem Maße die vielen anderen, zur Persona nicht passenden Seiten in ihren unbewussten ,Schattenbereichʻ drängen und ängstlich darauf bedacht sein, sie nicht zum Vorschein kommen zu lassen. Aus dieser Angst vor dem Sichtbarwerden der Schattenseiten kann sich ein unheilvolles psychodynamisches Geschehen aufschaukeln. Gerade durch die ,Verteufelungʻ können normale, allgemeinmenschliche und relativ harmlose Seiten der Persönlichkeit wie blutrünstige Monster erscheinen. Und je mehr ein solch blutrünstiges Monster heimlich lauernd gespürt wird, desto größer werden Anspannung, Stress und Angst. Es entsteht Angst vor den eigenen Untiefen, Angst, dass andere Menschen einen durchschauen und entlarven könnten, dass sie diese Monster entdecken könnten. Diese dauernde Angst vor Entlarvung macht misstrauisch, und man bemüht sich, eine umso stabilere Fassade aufrechtzuerhalten, welche wiederum die Schattenseiten anwachsen lässt. Auf der symbolhaften Ebene des Imaginations- und Traumbewusstseins erscheint der eigene Schatten in all jenen Personifikationen, die Ausdruck des Bösen, Minderwertigen und Abzulehnenden, des inneren Feindes sind. Deshalb ist der Schatten auch keine einheitliche Figur, sondern ebenso gestalt- und facettenreich wie die bewusste Persönlichkeit. Darüber hinaus umfasst der Schatten auch das Ungelebte, Noch-nicht-Verwirklichte, nicht nur das verdrängte Böse (,heller Schattenʻ). Die Integration des Schattens kann somit zu einer durchaus positiven und kreativen Erweiterung der Persönlichkeit verhelfen.¹⁰ Durch die dauernde Abwehr unseres Schattens verbrauchen wir einen Großteil unserer seelischen Energie, die wir für unsere Kreativität und Lebendigkeit viel besser verwenden könnten. Weiterhin haben wir auch sehr viele Seiten in den Schattenbereich verdrängt, die ,an sichʻ nicht negativ sind, die uns aber in unserer Kindheit als schlecht, ungehörig, unverschämt und sündig dargestellt und mit negativen Aussagen verbunden wurden. Dazu gehören beispielsweise Neugier und Kreativität, („Sei doch nicht so neugierig!“, „Du mit Deinen verrückten Einfällen.“), Eigenständigkeit („Du Dickkopf!“), Selbstbehauptung („Sei doch nicht so egoistisch.“),

 Vgl. dazu u. a. V. Kast, Der Schatten in uns: die subversive Lebenskraft, Ostfildern 2016; L. Müller, Des Kaisers neue Kleider: sich mit dem eigenen Schatten anfreunden und zum wahren Selbst finden, Stuttgart 2011.

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Spontanität („Kannst Du dich nicht beherrschen?“), Fantasie („Sei doch nicht so ein Träumer!“) oder Sexualität („Männer denken doch immer nur an das Eine!“).

6 Der kollektive Schatten Neben dem persönlichen Schatten gibt es auch den kollektiven Schatten, das sind die Schattenseiten, die von einer Gesellschaft und Kultur gemeinsam unterdrückt und bekämpft werden. In der christlichen Kultur wird der kollektive SchattenKomplex ,Teufelʻ oder ,Satanʻ genannt. Er sieht schreckenerregend aus, verzieht sein Gesicht zu einem ,teuflischenʻ, sadistischen Lachen, trägt tierisches Fell, hat einen Bocksfuß, Hörner und ist häufig in Rot, der Farbe der Aggression und Leidenschaft, gekleidet. Er verkörpert das Böse schlechthin und verführt zu den ,Todsündenʻ. Wenn wir von jemandem sagen: „Der ist ja vom Teufel besessen“, dann meinen wir meist jemanden, der aggressiv, machthungrig, triebhaft und geldgierig ist. Der Teufel symbolisiert somit dunkle Seiten unserer Natur, die von einer Vielzahl von Menschen der christlichen Kultur abgespalten werden müssen, weil sie mit Höllenstrafen und ewiger Verdammnis belegt sind.

7 Satanskult und Hexensabbat Gerhard Zacharias vertritt die Auffassung, dass der Bereich des Teuflischen historisch, religions- und kulturgeschichtlich gesehen in einer unauflösbaren, komplementären Beziehung zum Christentum und seinen Einseitigkeiten steht.¹¹ Vor der hellenistischen Zeit in der Antike habe es keine dem Satan vergleichbare Gestalten gegeben, denn die chthonisch-dunklen Mächte seien in den Kosmos des Göttlichen miteingeschlossen gewesen. Im Mittelpunkt der Religion des minoischen Kreta habe die Große Göttin, deren Bezug zum Chthonisch-Dunklen einerseits durch ihre Verehrung in Erdhöhlen, andererseits durch ihre Schlangenattribute zum Ausdruck komme, gestanden. Die kretische Welt habe im Ganzen einen erdhaft-dionysischen Charakter gehabt. Dionysos mit seinem Gefolge repräsentiere jene Tiefe, die mit der lichten Sphäre der olympischen Gottheiten in einer umfassenden Beziehung stehe. Aber nicht nur Dionysos, der Gott des Weines, der Orgie, der Ekstase, des Rausches, des vegetativ-naturhaften Lebens ist ein Beispiel der noch ungespal-

 Vgl. G. Zacharias, Der dunkle Gott. Die Überwindung der Spaltung von Gut und Böse, Satanskult und Schwarze Messe, München 1982.

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tenen, hell-dunklen Ganzheit der griechischen Götterwelt. Auch andere Gottheiten wie z. B. Hermes, der Götterbote, Seelenführer und Betrüger, sein bocksbeiniger, phallischer Sohn Pan, der eine wilde, geile, vergewaltigende, erschreckende Triebhaftigkeit verkörperte, die Mondgöttin Hekate, die zugleich Totengöttin, Zauberin und Muttergottheit war und den Frauen im Kindbett half, oder auch Göttervater Zeus selbst hatten durchaus ambivalenten Charakter und waren menschlichen Schwächen, Trieben, Lüsten ausgeliefert. Das frühe Christentum aber dämonisierte die erdhaften, körperlichen, rauschhaften, sexuellen dunklen Seiten des Göttlichen, die zudem in enger Beziehung zu den Mythen und Kulten des Großen Weiblichen standen. Dadurch kam es zu einer ,Verteufelungʻ und Abspaltung eben dieser Bereiche des Erdhaften und des ,Unterenʻ, und das Prinzip des Himmels, des ,Oberenʻ, ,Lichtenʻ und ,Männlichenʻ wurde mit radikaler Ausschließlichkeit verabsolutiert. Nur zu Zeiten des Karneval – und inzwischen auch des ,Halloweenʻ – dürfen die Hexen, Teufel und Dämonen in uns hervorkommen und ihr verrücktes Spiel treiben. Erd-Entwertung, Erd-Feindschaft und Erd-Angst sind aber tiefenpsychologisch gesehen Ausdruck eines schwachen Ichbewusstseins, das sowohl die natürliche Außenwelt als auch die seelische, unbewusste Innenwelt als schreckenerregend, machtvoll und überwältigend erlebt. Es muss deshalb zu primitiven Abwehrmechanismen greifen, wie z. B. Projektion, um seine Angst zu kontrollieren und sich zu stabilisieren. Welche verheerenden Folgen diese Feindbildprojektionen mit ihren Vorurteilen, ihrem Aberglauben, ihrer Gewalttätigkeit und Dummheit haben, wird uns aus der Geschichte der Kreuzzüge, der Hexenverfolgungen und Teufelsaustreibungen oder all der ,heiligen Kriegeʻ mit ihrem missionarischen Tötungseifer in erschreckender Weise vor Augen geführt. Christus hat sich des Sünders angenommen und nicht verdammt. Die wahre Nachfolge Christi wird dasselbe tun, und da man dem andern nichts tun sollte, was man sich nicht selber täte, so wird man sich auch des Sünders annehmen, welcher man selber ist. Und sowenig man Christus anklagt, daß er mit dem Bösen fraternisiere, sowenig soll man sich den Vorwurf machen, daß die Liebe zum Sünder, der man selber ist, ein Freundschaftspakt mit dem Bösen sei. Durch Liebe bessert man, durch Haß verschlechtert man, auch sich selber.¹² Daß ich den Bettler bewirte, daß ich dem Beleidiger vergebe, daß ich den Feind sogar liebe im Namen Christi, ist unzweifelhaft hohe Tugend. Was ich dem Geringsten unter meinen Brüdern tue, das habe ich Christus getan. Wenn ich nun aber entdecken sollte, daß der Geringste von allen, der Ärmste aller Bettler, der Frechste aller Beleidiger, ja der Feind selber in mir ist, ja daß ich selber des Almosens meiner Güte bedarf, daß ich mir selber der zu liebende Feind bin, was dann?

 C. G. Jung, Psychologie und Alchemie, Olten 1990, § 37.

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[…] dann gibt es keine Liebe und Geduld mehr, dann sagen wir zum Bruder in uns ,Rakaʻ [ein aramäisches Wort, das etwa mit Idiot, Narr, Dummkopf übersetzt werden kann; L.M.], dann verurteilen wir und wüten gegen uns selbst. Nach außen verbergen wir es, wir leugnen es ab, diesem Geringsten in uns je begegnet zu sein, und sollte Gott selber es sein, der in solch verächtlicher Gestalt an uns herantritt, so hätten wir ihn tausendmal verleugnet, noch ehe überhaupt ein Hahn gekräht hätte.¹³

In diesem letzten Zitat deutet Jung an, was er als weiteren Kritikpunkt am Christentum – aber auch den anderen monotheistischen Religionen – ansieht. Es ist nicht nur die Unterdrückung und Bestrafung der körperlichen, erdhaften und archaischen Seiten in uns und die daraus resultierenden permanenten Angst- und Schuld-Komplexe, durch die das Leben unzähliger Menschen oft unerträglich belastet wurde, sondern es ist auch die die Abspaltung des ,Teuflischenʻ vom ,Göttlichenʻ. Der böse Dämon des christlichen Glaubens, der Teufel des Mittelalters, war nach der christlichen Mythologie selbst ein gefallener Engel und gottgleicher Natur. Es braucht nicht viel analytischen Scharfsinns, um zu erraten, dass Gott und Teufel ursprünglich identisch waren, eine einzige Gestalt, die später in zwei mit entgegengesetzten Eigenschaften zerlegt wurde. In den Urzeiten der Religionen trug Gott selbst noch alle die schreckenden Züge, die in der Folge zu einem Gegenstück von ihm vereinigt wurden. Es ist der uns wohl bekannte Vorgang der Zerlegung einer Vorstellung mit gegensinnigem – ambivalentem – Inhalt in zwei scharf kontrastierende Gegensätze.¹⁴

Jung hat sich insbesondere in seinem Werk Antwort auf Hiob ¹⁵ ausgiebig mit diesem doppelten Aspekt des Göttlichen auseinandergesetzt. Und er gelangte zu der Auffassung, dass diese Aufspaltung des ursprünglich ganzen hellen und dunklen Gottesbildes (der nur gute Gott auf der einen Seite und der mit einer Erbsünde und immer wieder dem Bösen verfallende Menschen auf der anderen Seite) überwunden werden müsse. Wenn das Christentum eine Zukunft haben wolle, dann nur, wenn ihm eine wirkliche Integration sowohl des teuflischen Schattens als auch des weiblichen Prinzips im eigenen Glaubenssystem und der eigenen Institution gelänge. Damit ist die Integration des Schattens, wie es die Analytische Psychologie im Individuationsprozess anstrebt, nicht nur ein Erfordernis zur Selbst-Verwirklichung des Individuums, sondern sie ist zugleich auch von weitreichender gesellschaftlicher und politischer Relevanz. Denn in dem Maße, in dem man sich mit sich selbst versöhnt, befriedet man auch seine Umwelt.

 Jung, Zur Psychologie, § 520.  S. Freud, Eine Teufelsneurose im Siebzehnten Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1940, 331.  Vgl. Jung, Zur Psychologie.

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Wenn man sich jemanden vorstellt, der tapfer genug ist, diese Projektionen allesamt zurückzuziehen, dann ergibt sich ein Individuum, das sich eines beträchtlichen Schattens bewußt ist. Ein solcher Mensch hat sich neue Probleme und Konflikte aufgeladen. Er ist sich selbst eine ernste Aufgabe geworden, da er jetzt nicht mehr sagen kann, daß die Anderen dies oder jenes tun, daß sie im Fehler sind, und daß man gegen sie kämpfen muß. […] Solch ein Mensch weiß, daß, was immer in der Welt verkehrt ist, auch in ihm selber ist, und wenn er nur lernt, mit seinem eigenen Schatten fertig zu werden, dann hat er etwas Wirkliches für die Welt getan. Es ist ihm dann gelungen, wenigstens einen allerkleinsten Teil der ungelösten riesenhaften Fragen unserer Tage zu beantworten.¹⁶ Damit tritt der Mensch hervor, wie er ist, und zeigt das, was zuvor unter der Maske der konventionellen Anpassung verborgen war, nämlich den Schatten. Dieser wird durch die Bewußtwerdung dem Ich integriert, wodurch sich eine Annäherung an die Ganzheit vollzieht. Die Ganzheit ist keine Vollkommenheit, sondern eine Vollständigkeit. Durch die Assimilation des Schattens wird der Mensch gewissermaßen körperhaft und damit tritt seine animalische Triebsphäre sowohl wie die primitive oder archaische Psyche in den Lichtkegel des Bewußtseins, woraus sie sich nicht mehr mit Hilfe von Fiktionen und Illusionen verdrängen läßt. Dadurch wird der Mensch zu dem schwierigen Problem, das er eben ist. […] Die heutige Fragestellung ist nicht mehr: Wie kann ich meinen Schatten loswerden? Denn dazu hat man genug gesehen vom Fluch der Halbseitigkeit. Vielmehr muß man sich fragen: Wie kann der Mensch mit seinem Schatten leben, ohne daß daraus eine Reihe von Unglücksfällen entsteht?¹⁷

8 Die Integration der inneren Dämonen Wie kann es nun zu einer Versöhnung mit dem Schatten und zu einer Integration problematischer Komplexe kommen? Sicher kann es nicht mehr um eine ,Austreibungʻ oder ,Bannungʻ der inneren Dämonen gehen. Es lassen sich vier Methoden unterscheiden, die alle mehr oder weniger sowohl in psychotherapeutischen, aber auch seelsorgerischen und spirituellen Kontexten angewendet werden können.

8.1 Annäherung: Rationale, philosophische und psychologische Betrachtung Die rationale, philosophische und psychologische Betrachtung ist die ,sichersteʻ Methode, sich dem komplexhaften Bereich des Unbewussten anzunähern, sie

 A.a.O., § 140.  C. G. Jung, Praxis der Psychotherapie. Beiträge zum Problem der Psychotherapie und zur Psychologie der Übertragung, Olten 1991, § 452.

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ermöglicht eine ausreichend distanzierte und sozial wenig tabuisierte Auseinandersetzung mit der jeweiligen Thematik, indem man darüber nachdenkt, nachliest, mit anderen Menschen spricht. Dies können Fragen sein wie: Wo und wie wurden Geister und Dämonen in der Menschheitsgeschichte, den Religionen, der Kunst etc. beschrieben? Welche Erscheinungsformen von Geistern und Dämonen gibt es? Um was kann es sich dabei alles handeln? Welche Funktion könnten Geister- und Dämonenglauben für eine Gesellschaft haben? Wie funktioniert die Psyche? Was sind die Urängste des Menschen und wie kann man sie bewältigen? Welche triebhaften Bedürfnisse hat er und wie sehen die unterschiedlichen Versuche des Menschen aus, mit ihnen zu leben oder sie zu unterdrücken? Was ist das Unbewusste? Was sind Abwehrmechanismen wie z. B. Verdrängung, Verleugnung, Projektion usw.? Was sind Komplexe? Wie entstehen Komplexe, wie wirken sie sich aus? Wie gehen Menschen mit ihren Komplexen um? Wie werden Komplexe bewältigt bzw. abgewehrt? Wie gehen die verschiedenen Kulturen mit dem Bösen, dem Schattenhaften, um? Welche Gefahren entstehen, wenn der Schatten nicht bewusst gemacht wird? Gibt es Möglichkeiten, schattenhafte Anteile zu leben, ohne sich und anderen Menschen zu schaden? Eine weitere einfache Methode, sich mit der eigenen wie der gesellschaftlichen Schattenproblematik vertraut zu machen, ist, sich damit zu beschäftigen, wie sie von außen durch die verschiedenen Medien an uns herantritt. Erlauben wir uns, den heimlichen Reiz von Märchen, Mythen und Romanen, von Horrorund Kriminalfilmen, Action-Thrillern, von Kriegsberichten und Katastrophen, von Un- und Todesfällen, von Mord, Diebstahl, Vergewaltigung und Missbrauch, von Sensationsenthüllungen, Skandalen, Klatsch, von Missgeschicken und Fehlleistungen zu spüren. Die viel und oft beklagte negative Berichterstattung in den Medien wird von den Publizisten häufig so erklärt, dass sie sich der Wahrheit und Realität verpflichtet fühlten und dass sie sich nicht einer ,Schönfärbereiʻ schuldig machen möchten. Dies ist zum großen Teil eine Rationalisierung, denn es geht nicht hauptsächlich um die ,Wahrheitʻ, sondern um die Auflagenhöhen und die Einschaltquoten. Menschen erwarten Skandale und Katastrophenmeldungen, in denen ihre Schattenseiten Genugtuung und Befriedigung finden können.

8.2 Selbsterkenntnis: Eigene Komplexe und Schattenanteile erkennen Der zweite Schritt, die Selbstkenntnis, ist schon schwieriger, denn jetzt geht es darum, sich der eigenen Komplexe und Schattenanteile bewusst zu werden. Das Direkteste wäre natürlich, sich hinzusetzen, in aller Zeit und Ruhe ganz offen und ehrlich über sich und sein Leben und seine Beziehung nachzudenken und die

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eigene Komplex- und Schattenlandschaft zu erkunden. Aber man hat meist wenig Lust und Ausdauer, sich den oft auch unangenehmen Gefühlen, die dann auftauchen, zu stellen und bei ihnen zu bleiben, ohne sie zu verharmlosen oder umzudeuten. Außerdem hat man natürlich auch diesbezüglich viele ,blinde Fleckeʻ, so dass einem die entscheidenden kritischen Stellen gar nicht auffallen. Eine weitere Möglichkeit wäre, sich entsprechende Feedbacks bei Partnern und Freunden einzuholen. Man bittet diese, ganz offen und ehrlich zu sagen, wo sie denn Schwierigkeiten mit uns haben, wo sie denn glauben, dass unsere Schattenseiten lägen und wo sie denn den Eindruck haben, dass wir uns nicht mehr recht unter Kontrolle hätten oder von irgendetwas ,wie besessenʻ wären. Aber das ist vermutlich auch recht schwierig, weil man sich vor anderen Menschen nicht gerne bloßstellt und man auch nie genau weiß, ob der andere, den man befragt, nicht seine Schattenseiten auf einen projiziert oder ob er vielleicht einige Seiten von uns verzerrt sieht oder übertreibt, um uns zu manipulieren. Wenn allerdings mehrere Menschen zu einem in etwa ähnlichen Ergebnis kommen, könnte es schon sein, dass sie damit nicht ganz Unrecht haben. Leichter ist es in der Regel, wenn man vom anderen ausgeht, wenn man beobachtet, was einem am anderen nicht gefällt. Der Schatten zeigt sich, wie gesagt, oft in unseren Projektionen auf andere Menschen, auf andere Völker und Kulturen, auf Außenseiter der Gesellschaft, auf Minderheiten. Listen wir deshalb auf, was wir an anderen Menschen, bei Freunden, Partnern und Kollegen unangenehm finden und nicht mögen. Aus dieser vermutlich recht langen Liste kreuzen wir dann an, welche von den dargestellten Eigenschaften wir ganz besonders hassenswert, verachtenswert, widerlich finden und absolut ,auf den Todʻ nicht ausstehen können. Das, was wir am wenigsten akzeptieren können, hat sehr wahrscheinlich in irgendeiner Weise mit unseren eigenen projizierten Eigenschaften zu tun. Je mehr man sich über Situationen und Menschen und deren unmögliches Verhalten aggressiv ereifert, desto mehr kann man davon ausgehen, dass man hier auch einen eigenen Schattenanteil zu bekämpfen versucht. Natürlich gibt es auch bei anderen Menschen eine Vielzahl von Gewalttätigkeiten, Ungerechtigkeiten und zerstörerischen Haltungen, die uns zurecht erbosen, wo wir zurecht und ohne eigene Schattenprojektion zutiefst empört und aggressiv reagieren können und auch sollten. Aber als Faustregel kann gelten: je stärker, unverhältnismäßiger und unangemessener unsere emotionale Reaktion auf andere Menschen oder gesellschaftliche Umstände ist, desto wahrscheinlicher handelt es sich dabei auch (aber vielleicht nicht nur) um eine Schattenprojektion. Der Schatten kommt darüber hinaus in Situationen zum Vorschein, die uns zum Lachen reizen (unser Lieblingswitz!) oder in vielfältigen kleineren oder größeren psychischen Störungen, wie z. B. bei Konzentrations- und Gedächtnis-

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schwierigkeiten, plötzlich abschweifenden Gedanken, heftiger Müdigkeit, psychosomatischen Reaktionen, ungewöhnlichen Verhaltensweisen und Fehlleistungen wie Versprechen, Verhören, Missgeschicke. Das Ausrutschen, Stolpern und Hinfallen von anderen Menschen gehört zu den Missgeschicken, die fast regelmäßig beträchtliche Schadenfreude bei uns hervorlocken. Vermutlich genießen wir es ziemlich, wenn so offensichtlich ist, dass der andere seine Haltung nicht mehr bewahren kann, seine Kontrolle und Beherrschung verliert, ,keine gute Figur machtʻ, ,auf die Nase fälltʻ.Wir freuen uns dabei weniger über den Schmerz, den der Betreffende dabei möglicherweise erleidet, sondern mehr über die mit dem Sturz erlittene, demütigende Peinlichkeit seiner ,Niederlageʻ, die uns einerseits einen gewissen Triumph über ihn gibt, andererseits wohl auch das beruhigende Gefühl, dass der andere auch nur ein normaler Mensch ist, der sich genauso dumm oder ungeschickt anstellen kann, wie wir selbst. Ein weiterer Spiegel zur Entdeckung unseres Schattenbereichs sind unsere nächtlichen Träume und täglichen Fantasien. Wenn man allein nur wirklich ehrlich wäre, sich ganz bewusst zu machen und ernst zu nehmen, was man so alles zusammenträumt und so alles über sich und andere Menschen denkt und fantasiert, dann bräuchte man sich keine unnötigen Illusionen mehr über seine dunklen Seiten zu machen. Wenn das alles nicht recht gelingen will und wir keine gemeinen und hinterlistigen Gedanken und Wünsche bei uns entdecken können, dann können wir uns systemisch beschäftigen mit den zehn christlichen Geboten und den sieben Todsünden Superbia (Hochmut, Stolz, Eitelkeit), Avaritia (Geiz, Habgier), Luxuria (Wollust, Ausschweifung, Genusssucht, Begehren), Ira (Jähzorn,Wut, Rachsucht), Gula (Völlerei, Gefräßigkeit, Maßlosigkeit, Selbstsucht), Invidia (Neid, Eifersucht, Missgunst) und Acedia (Faulheit, Feigheit, Ignoranz, Trägheit des Herzens). Wann hat uns zuletzt ein ,Dämonʻ aus den angesprochenen verbotenen Bereichen angefallen und wie sehr waren wir ihm ,verfallenʻ?

8.3 Konfrontation und Dialog: Tiefergehendes Einlassen und Auseinandersetzen mit diesen psychischen Inhalten Wenn man nun endlich gegen alle Widerstände einen Komplex- oder Schattenbereich bei sich identifiziert hat, dann bietet die moderne Psychotherapie eine Vielzahl von Methoden an, sich mit ihm tiefergehend auseinanderzusetzen. Dies kann beispielsweise durch das nicht-wertende, akzeptierende therapeutische Gespräch, kreatives Gestalten, durch Imagination, inneren Dialog, durch Körperbewegung und Tanz, durch psychodramatisches Inszenieren und Spielen ge-

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schehen. Auch verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen wie Entspannung und systematische Desensibilisierung bieten sich an. Auf diesen Wegen verlieren wir unsere Angst und Abwehr vor diesen Bereichen, gewöhnen uns an sie und können allmählich neue Umgangsweisen und Bewältigungsstrategien entwickeln.

8.4 Integration: Akzeptanz und Integration in die Persönlichkeit und ins Leben auf eine Weise, durch die man weder sich noch anderen Menschen schadet Wenn wir uns auf die eine oder andere Weise mit unseren inneren Dämonen vertraut gemacht und uns mit ihnen versöhnt haben, müssen wir also erfahren, dass wir zwar schon recht boshaft und gemein sein können. Es lässt sich aber in vielen Fällen entspannter und ungezwungener leben: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“ Durch ihre Integration müssen wir sie nicht mehr unbewusst ausleben oder blindlings auf andere Menschen projizieren, sondern sie finden in uns zu einem lebendigen Gleichgewicht mit anderen positiven Eigenschaften, die es natürlich auch gibt. Die Anerkennung unserer inneren Dämonen macht uns nicht böser oder schlechter, als wir ohnehin sind, sondern toleranter, menschlicher, kreativer, lebendiger, humorvoller, sie gibt uns mehr Freiheit, erschließt uns neue Lebens- und Handlungsspielräume. Nach Auffassung der Tiefenpsychologie beginnt deshalb alle wahrhafte Reifung der Persönlichkeit und die Entwicklung von Friedfertigkeit zuerst mit einer Versöhnung mit dem inneren Feind, dem eigenen Schatten. Jeder wirkliche Fortschritt im Individuationsprozess ist dabei immer auch ein Beitrag für die Gesellschaft. Durch die Auseinandersetzung und die Versöhnung mit dem eigenen Schatten übernehmen wir unseren Teil der Verantwortung für das Böse und Dunkle in der Menschheit. Was immer auch an Bösem, Schlechtem und Gewalttätigem in der Welt geschieht, erkennen wir als einen Aspekt und als eine Möglichkeit von uns selbst. Wenn wir das nun alles wahrnehmen, wovor wir bisher Angst hatten: unsere Fehler und Charakterschwächen, unsere Durchschnittlichkeit und Unterdurchschnittlichkeit, unsere Illusionen, unsere Dunkelheit und Hässlichkeit, unsere Gewalt, unseren Schmerz und unser Leid, unsere Gebrechlichkeit und Sterblichkeit und diese Dunkelheit aushalten, dann kann es passieren, dass wir uns auf einmal unendlich befreit, erleichtert und glücklich fühlen. Es tritt der fast paradox erscheinende Effekt ein, dass gerade und erst dadurch, dass wir das ,Böseʻ,

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,Minderwertigeʻ und ,Hässlicheʻ in uns zulassen, auch das ,Wahreʻ, ,Guteʻ und ,Schöneʻ in uns erfahrbar wird. Der Grund dafür liegt darin, dass wir durch die Annahme unserer Schattenseiten Frieden mit uns selbst schließen. Ein Großteil unserer jahrzehntelangen inneren Konflikte und unserer aussichtslosen Kämpfe, die wir gegen uns selbst führen, hören auf. Damit löst sich aber auch viel Angst und Verkrampftheit. Indem wir nicht mehr gegen uns selbst kämpfen, brauchen wir auch nicht mehr so viel gegen andere Menschen zu kämpfen. Wir müssen uns nicht mehr so viel verteidigen und rechtfertigen. Die Erfahrung unserer Gewöhnlichkeit und Endlichkeit relativiert unsere vermeintliche Wichtigkeit und Bedeutsamkeit. Wir können unser Ich vergessen und uns auf das Leben selbst konzentrieren. Die seelische Energie, die wir in die Abwehr des Schattens und der zwanghaften Aufrechterhaltung unserer Maskeraden investiert hatten, wird frei und kann nun unserer Lebensfreude und Kreativität zufließen.

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„Wer sich von seinen Teufeln trennt, verliert auch seine Engel“¹ Das Dämonische als Prinzip des Schöpferischen und Zerstörerischen bei Paul Tillich und Rollo May

1 Hinführung Im Jahr 1955 hat Paul Tillich am ‚Union Theological Seminary‘ an abgehende Studierende der Theologie eine Rede gehalten, die ein Wort aus Mt 10,8 aufgreift: ‚Heilet Kranke … treibet Dämonen aus‘ (RR III, 51– 57). Hier heißt es gegen Ende: Wenn Ihr mich fragen würdet: Können wir Dämonen austreiben, ohne selbst von dämonischen Mächten erlöst zu sein, würde ich antworten: Ja, Ihr könnt es. Solange Ihr Euch nicht der dämonischen Möglichkeiten in Euch selbst bewußt seid, könnt Ihr auch den Dämon im Anderen nicht erkennen und gegen ihn ankämpfen, indem Ihr ihn beim Namen nennt und ihn dadurch seiner Macht beraubt. Und solange Euer Leben schöpferisch bleibt und ‚healing power‘ besitzt, wird es in Eurem Leben keinen Zeitpunkt geben, in dem nicht Dämonen Eure Seele spalten und Zweifel in Euch erwecken werden über Euren Glauben, über Eure Berufung und über Euer ganzes Sein. (RR III, 56, mit leichter Korr. der Übers. durch uns!)

Tillich hat das nicht einfach so dahin gesagt, sondern ernst gemeint. Und als schöpferischer Mensch kannte er auch die Dämonen in seiner eigenen Brust. In seiner Schrift Liebe und Wille von 1969 bestätigt das der bekannte existentiell-humanistische Psychotherapeut Rollo May, wenn es hier heißt: Paul Tillich ist der zeitgenössische Denker, der in erster Linie dafür verantwortlich war, unsere Aufmerksamkeit heute auf das Dämonische zu richten. Das erklärt seine große Anziehung für Psychiater und Psychologen, die sich zu hunderten einstellten, um ihm zuzuhören, wann immer er sprach. Sie hörten nicht nur einem weisen und gelehrten Mann zu; sie

 Frei nach R. May, Love and Will [1969], New York/London 2007, 164; dt. Übers.: R. May, Liebe und Wille, Köln 1988, 160: „Rilke is then right: if he surrenders his devils, he will lose his angels too.“ Im Folgenden wird nach der engl. Ausgabe zitiert, wobei aber die entspr. Seitenzahl der dt. Ausgabe in Klammern angefügt wird. In der Regel erfährt die dt. Übers. durch uns eine leichte Korrektur. – Zu Love and Will liegt auch noch eine ältere deutsche Übersetzung vor: R. May, Der verdrängte Eros. Aus dem Amerik. übers. von J.Wagner, Hamburg 1970. Diese Übersetzung ist aber teilweise recht mangelhaft, und das Einleitungskapitel erscheint hier als ‚Nachwort‘. https://doi.org/10.1515/9783110582994-011

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hörten einem Menschen zu, der das Dämonische ‚einlud‘, so wie sie es in ihrer Arbeit einladen müssen. Ich wurde einmal von einer schizophrenen Frau konsultiert, die ein Jahr zuvor am Rande eines psychotischen Zusammenbruchs gestanden hatte. Sie hatte Paul Tillich aufgesucht und ihm die ‚Dämonen‘ geschildert, so wie sie sie erlebte. Unerschüttert hatte er bemerkt: ‚Jeden Morgen zwischen 7 und 10 Uhr lebe ich mit den Dämonen‘. Das hatte ihr sehr geholfen, und ich glaube, dem verdankte sie in erster Linie ihr Überleben. Tillich hatte mit seiner Bemerkung ausgedrückt, daß sie aufgrund ihrer Erlebnisse ‚kein Fremdkörper‘ der Menschheit sei. Sie hatte ein menschliches Problem, das sich nur graduell von den Problemen anderer unterschied.²

Rollo May ist Tillich ein erstes Mal 1934 am ‚Union Theological Seminary‘ in New York begegnet, wo er Theologie studierte, und Tillich war auch Mentor seiner Dissertation über die Bedeutung der Angst, mit der er 1949 an der Columbia Universität in New York als erster Kandidat in klinischer Seelsorge promoviert wurde. Tillichs bekannteste Schrift The Courage to Be ³ ist in gewisser Weise auch eine Antwort auf Mays The Meaning of Anxiety. ⁴ Zwischen beiden entwickelte sich schon bald eine tiefe Freundschaft, die über 30 Jahre halten sollte. May prägte die Psychologie seiner Zeit mit einem ganz eigenen Ansatz, den er sicherlich seinem breiten Interesse an Kultur, Literatur und Philosophie zu verdanken hat.⁵ Im Kontext der amerikanischen Psychologie der 1950er Jahre, die in ihrer Methodenzentriertheit lediglich auf eine Verhaltensänderung abzielte, kritisierte er eine zu kurz gedachte Vorgehensweise.⁶ Mays Ablehnung der scheinbaren Berechenbarkeit des Menschen, die Gegenstand der beiden führenden ideologischen Schulen, des wissenschaftlich positivistischen Behaviorismus und der Freudschen Psychoanalyse war,⁷ weist eine große Nähe zu dem Protest der existenziellen Denker gegen den Rationalismus der Neuzeit bzw. gegen Formen ,wissenschaftlicherʻ Philosophie im 20. Jahrhundert auf. May selbst schreibt dazu: Im Gegensatz zu Richtungen in der Psychologie, die in Theorien über Konditionierung, Verhaltensmechanismen oder instinktive Antriebe münden, behaupte ich, daß wir tiefer als

 May, Love and Will, 143 (139).  Vgl. P. Tillich, The Courage to Be, New Haven 1952. Vgl. GW XI, 13 – 139.  Vgl. R. May, The Meaning of Anxiety, New York 1950. Vgl. R. May, Paulus. Tillich as Spiritual Teacher, New York 21988, 23.  Vgl. J. Rattner, Klassiker der Tiefenpsychologie, München 1990, 769.  Vgl. K. J. Schneider, Rollo Reese May, in: G. Stumm et al. (Hg.), Personenlexikon der Psychotherapie, Wien/New York 2005, 316. Vgl. auch K. J. Schneider/J. Galvin/I. Serlin, Rollo May on Existential Psychotherapy, in: Journal of Humanistic Psychology 49/4 (2009), 419 – 434, bes. 419 f.  Vgl. I. D. Yalom, Existenzielle Psychotherapie, Bergisch Gladbach 52010, 31.

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diese Theorien gehen müssen und die Person, das menschliche Wesen entdecken müssen, mit dem all diese Dinge geschehen. ⁸

Diese Einsicht verdankt er nicht zuletzt einem mehrjährigen Aufenthalt in Europa und damit einhergehend der Auseinandersetzung mit europäischem Gedankengut. Vor diesem Hintergrund hat er die amerikanische Psychologie seiner Zeit als „naiv und simplifizierend“ charakterisiert, weil sie ihm zufolge nämlich genau das ausklammert, was das Leben eigentlich ausmacht: „Verzweiflung, Suizid, normale Angst“ und ihre „Gegenspieler: Mut, Freude und die Intensität zu leben“.⁹ Dies deckt sich auch mit Beobachtungen Tillichs, der bei seiner Ankunft in den USA eine fehlende Kenntnis und ein fehlendes Verständnis der existenziellen Strömung in Europa beklagt.¹⁰ Mit seinem zusammen mit Henri Ellenberger und Ernest Angel 1958 herausgegebenen Werk Existence: A New Dimension in Psychiatry and Psychology ¹¹ machte May Männer wie Ludwig Binswanger oder Viktor E. Frankl in den USA bekannt und führte die existentielle Psychologie dort ein.¹² Er selbst gilt heute – neben Viktor E. Frankl – als einer der bedeutendsten Vertreter der sog. „existenziell-humanistischen Therapie“.¹³ May hat u. a. an den Universitäten von Harvard, Yale und Princeton gelehrt¹⁴ und verschiedene bedeutende Ehrungen erhalten.¹⁵ Einer seiner bekanntesten Schüler ist Irvin Yalom. In seinen Büchern hat sich May mit verschiedenen Themen beschäftigt, die den Einfluss Tillichs deutlich erkennen lassen. Neben dem Begriff der Liebe sowie demjenigen des Dämonischen¹⁶ ist hier vornehmlich an das Problem der Gewalt,¹⁷

 R. May, Sich selbst entdecken. Seinserfahrung in den Grenzen der Welt, München 1990, 8. (Die engl. Ausgabe trägt den Titel: The Discovery of Being, New York 1983.)  May, Paulus, 2. – Übers. von uns! Vgl. auch das Interview von Jeffrey Mishlov mit Rollo May: https://www.youtube.com/watch?v=cT6qBtYJ-90 [abgerufen am 20.09. 2017].  Vgl. EW XVI, 2 f.; vgl. auch May, Sich selbst entdecken, 46.  Vgl. R. May/E. Angel/H. F. Ellenberger (Hg.), Existence: A New Dimension in Psychiatry and Psychology, New York 1958.  Vgl. Yalom, Existenzielle Psychotherapie, 31; vgl. auch Schneider, Rollo Reese May, 316.  A. Noyon/T. Heidenreich, Existenzielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung, Weinheim/Basel 2012, 48.  Vgl. R. B. Ewen, An Introduction to the Theories of Personality, New York/San Francisco/ London 1980, 382.  Vgl. R. J. de Carvalho, Rollo R. May (1909 – 1994): A Biographical Sketch, in: Journal of Humanistic Psychology 36/2 (1996), 14 f.; vgl. auch C. Reeves, The Psychology of Rollo May. A Study in Existential Theory and Psychotherapy, San Francisco/Washington/London 1977, 263.  Vgl. May, Love and Will.  Vgl. R. May, Power and Innocence. A Search for the Sources of Violence, New York 1972.

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die Polarität von Freiheit und Schicksal¹⁸ sowie an den Begriff des Mythos zu denken.¹⁹ Von seinem akademischen Lehrer Tillich war May so fasziniert, dass er über ihn eine sehr persönlich gefärbte Biographie verfasste mit dem Titel Paulus. Tillich as Spiritual Teacher. ²⁰ Was May an Tillich so faszinierte, erklärt er so: Der Grund für Tillichs Bedeutung als Lehrer lag darin, daß seine Vorlesungen stets eine ‚lifeand-death-significance‘ an sich trugen. Er hielt uns im Bann, weil jede Aussage von Bedeutung war […]. Wenn Tillich in seinem gebrochenen Englisch sprach, spürte jeder von uns Hörern, daß er lebendige Wahrheiten hörte; viele von uns erlebten das ein erstes Mal.²¹

Dass Tillich in den USA ganz besonders bei Psychiatern und Psychotherapeuten auf eine recht große Resonanz stieß, kommt nicht von ungefähr, rücken doch zu Beginn seiner dortigen Tätigkeit in wachsendem Maße auch die Tiefenpsychologie und deren innerer Bezug zur Religion in sein Blickfeld. So hat er in seinen Kollegs immer wieder betont, dass er die Tiefenpsychologie geradezu als einen Glücksfall für die Theologie ansehe – ähnlich wie Kant die Mathematik als Glücksfall für die Philosophie angesehen hat. Tillich hat die Tiefenpsychologie in sein theologisches Denken einbezogen und auf diese Weise mit Worten der Gegenwart alte theologische Begriffe erläutert. In seinen Autobiographischen Betrachtungen von 1952 heißt es dazu: Das Problem der Beziehung zwischen theologischem und psychotherapeutischem Verständnis des Menschen ist mehr und mehr in den Vordergrund meines Interesses getreten […]. Ich glaube nicht, daß es heute möglich ist, eine christliche Lehre vom Menschen zu entwickeln und besonders eine verbindliche christliche Lehre vom christlichen Menschen, ohne das ungeheure Material zu benutzen, das die Tiefenpsychologie ans Licht gebracht hat. (GW XII, 74)²²

2 Zum Begriff des Dämonischen bei Paul Tillich Tillich selbst war der Begriff des Dämonischen äußerst wichtig, hat er doch einmal gegenüber dem Kollegen und Freund Walter Braune geäußert, dass man,  Vgl. R. May, Freedom and Destiny, New York 1981.  Vgl. R. May, The Cry for Myth, New York/London 1991.  Vgl. May, Paulus.  A.a.O., 114, 116. – Übers. von uns!  Vgl. auch GW VIII, 304– 335. Die Beiträge Tillichs zum Thema Religion/Theologie und Tiefenpsychologie finden sich gesammelt in dem Band: P. Tillich, The Meaning of Health: Essays in Existentialism, Psychoanalysis, and Religion, hg.v. P. Le Fevre, Chicago 1984.

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wenn man alle seine Schriften verbrennen wolle, doch wenigstens die über das Dämonische und über Rechtfertigung und Zweifel übrig lassen solle.²³ Er war sich auch selbst der Originalität seines entsprechenden Konzeptes sehr wohl bewusst, wenn er in seinen Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens schreibt: Als religiöse Sozialisten […] versuchten [wir], mit Hilfe gewisser Grundbegriffe eine Lösung zu finden. Der erste derartige Begriff war der des Dämonischen, der uns dazu verhalf, die dämonischen Strukturen des Bösen in Individuen und Gesellschaftsgruppen aufzudecken. In den zwanziger Jahren, als wir zuerst mit diesem Begriff arbeiteten, war er in dem Sinn, in dem wir ihn gebrauchten, noch unbekannt; nur im Zusammenhang mit dem Glauben an Geister war er im Umlauf. Wir gebrauchten den Begriff jedoch, um mit ihm Strukturen der Zerstörung zu beschreiben, die das Übergewicht über die schöpferischen Elemente haben. (EW II, 197, Herv. von uns!)²⁴

Der Begriff des Dämonischen selbst taucht im Werk Tillichs erst ab 1919 auf.²⁵ In den frühen Schriften von 1906 – 1915²⁶ und in den frühen Predigten von 1909 – 1918²⁷ ist er noch nicht nachweisbar. 1926 hat Tillich bekanntlich zwei Beiträge zu diesem Thema vorgelegt. Der erste mit dem Titel Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte wurde in der Reihe Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte als Nr. 119 im Verlag Mohr in Tübingen als eigene Schrift veröffentlicht,²⁸ der zweite erschien unter dem Titel Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie im fünften Jahrgang der Theologischen Blätter. ²⁹ Der erstgenannte Beitrag von 1926 ist in einer englischen Übersetzung auch in Tillichs

 Mündliche Äußerung von Walter Braune auf der Tagung der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft in Hofgeismar im Jahre 1983 Werner Schüßler gegenüber. Vgl. auch ders., Paul Tillich. Ein Gedenkvortrag, Berlin 1966, 16. Den „Wert des Zweifels“ (the value of doubt) im Denken Tillichs, und damit zusammenhängend denjenigen des Mutes, betont auch May, Paulus, 121 f. Vgl. auch P. H. John, Tillich: The Words I Recorded, the Man I Knew, in: Newsletter of the North American Paul Tillich Society XXIX/1 (Winter 2003), 4– 11, hier 5: „Tillich remarked that he might be remembered for a few things, like Rechtfertigung und Zweifel, Das Dämonische, and The Courage to Be.“  Vgl. W. u. M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Bd. 1: Leben, Stuttgart 1978, 118: „Später bewertete er ihn [sc. den Beitrag Das Dämonische von 1926] als einen der wenigen wirklich originalen Beiträge, die er seinem Empfinden nach zustande gebracht hatte.“ Vgl. auch W. M. Zucker, The Demonic: From Aeschylus to Tillich, in: Theology Today 26 (1969), 34– 50, hier 48: „A theology, or perhaps the theology of the demonic, has been presented by Paul Tillich.“  Vgl. EW X, 239 u.ö.; vgl. EW XII, 90 u. ö.  Vgl. EW IX.  Vgl. EW VII.  Vgl. GW VI, 42– 71.  Vgl. GW VIII, 285 – 291.

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erste selbständige Veröffentlichung in der Emigration The Interpretation of History von 1936 eingegangen, die eine Sammlung von Aufsätzen aus der Zeit vor 1933 umfasst.³⁰ Es ist davon auszugehen, dass Rollo May diesen Text gekannt hat. In einem Dialog mit Carl Rogers, den Tillich nur wenige Monate vor seinem Tod geführt hat³¹ – es handelt sich hierbei um einen seiner letzten öffentlichen Auftritte –, macht er ausdrücklich darauf aufmerksam, dass er der Tiefenpsychologie und der marxistischen Gesellschaftsanalyse wichtige Anregungen für die Entwicklung der Kategorie des Dämonischen zu verdanken habe. In diesem Zusammenhang heißt es dann u. a.: Im Jahre 1926 […] schrieb ich einen kleinen Artikel mit dem Titel ‚Das Dämonische‘, und der Grund, nicht vom ‚gefallenen‘ oder ‚sündigen Menschen‘ oder einer ähnlichen Wendung zu sprechen, lag darin, dass ich von zwei Gesichtspunkten aus Strukturen sah, die stärker sind als der gute Wille des Individuums, und eine dieser Strukturen war die neurotisch-psychotische. Nach dem Ersten Weltkrieg, so ungefähr um das Jahr 1920, kam ich mit der psychoanalytischen Bewegung in Kontakt, die zu jener Zeit von Freud herkam und die das Klima des ganzen Jahrhunderts bereits damals in Europa verwandelte. Die andere war die Analyse der gesellschaftlichen Konflikte durch die sozialistische Bewegung, vor allem durch die frühen Schriften von Karl Marx. In beiden Fällen stieß ich auf ein Phänomen, für das diese traditionellen Ausdrücke wie ‚gefallener Mensch‘ oder ‚sündiger Mensch‘ nicht hinreichend sind. Der einzig hinreichende Begriff, den ich fand, war der aus dem Neuen Testament stammende Begriff des ‚Dämonischen‘, der in den Geschichten von Jesus vorkommt, und er ist dem Begriff der Besessenheit verwandt. Damit ist eine Macht gemeint, die stärker ist als der individuelle gute Wille. Und deshalb habe ich diesen Begriff gebraucht. Ich betonte natürlich ausdrücklich, dass ich ihn nicht im mythologischen Sinne verstanden wissen will – im Sinne von kleinen Dämonen oder Satans als personalem Wesen, der auf der Welt herumspaziert –, sondern ich verstehe ihn im Sinne zweideutiger (ambiguous) Strukturen, die zwar bis zu einem gewissen Grade schöpferisch, aber letztlich doch zerstörerisch sind. Aus diesem Grunde führte ich diesen Begriff ein. Anstatt einfach nur von der entfremdeten Menschheit zu sprechen und so irgendwie die alte Begrifflichkeit zu vermeiden, musste ich einen Begriff finden, der die überpersonale Macht (trans-personal power) mitumfasst, welche den Menschen und die Gesellschaft ergreift. [Ein Beispiel hierfür sind] Menschen im Zustand der Trunksucht, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, diese zu überwinden. [Ein weiteres Beispiel ist] die Schaffung einer Gesellschaft, in der entweder Klassenkonflikte herrschen oder – wie heute in der ganzen Welt – Konflikte der großen Ideologien, der großen politischen Glaubenssysteme, die miteinander kämpfen, und jeder Schritt, diese Konflikte zu überwinden, hat gewöhnlich zur Folge, die Menschen noch tiefer in sie hineinzutreiben. Genau das ist es, was ich mit dem [Begriff des] Dämonischen zum Ausdruck bringen wollte.³²

 Vgl. P. Tillich, The Demonic. A Contribution to the Interpretation of History, in: ders., The Interpretation of History, New York/London 1936, 77– 122.  Vgl. P. Tillich/C. Rogers, A Dialogue, in: Tillich, The Meaning of Health, 194– 202. Der Dialog fand am 7. März 1965 am State College in San Diego statt.  A.a.O., 196 f. – Übers. von uns!

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In Bezug auf den Begriff des Dämonischen ist es ähnlich wie auch hinsichtlich anderer zentraler Begriffe seines Denkens: Tillich assimiliert zwar immer auch Elemente aus der Tradition und dem Denken von Zeitgenossen, aber seine eigene Konzeption ist nie auf eine dieser Positionen reduzierbar – sei dies nun im Blick auf den Begriff des Dämonischen bei Platon, Goethe, Kierkegaard, Schelling, Freud oder C. G. Jung, um nur einige Namen zu nennen. Der Begriff des Dämonischen gehört bei Tillich ohne Zweifel zu denjenigen Begriffen, die zu einer bleibenden Kategorie nicht nur seines religionsphilosophischen und theologischen Denkens wurden, sondern ebenso seinen geschichtsphilosophischen und zeitdiagnostischen Analysen zugrunde liegen. Wenn auch Tillichs Denken keine Brüche aufweist, so sind doch werkgeschichtliche Verschiebungen zu konstatieren, wobei dadurch auch die zentralen Begriffe in neuen Deutungshorizonten erscheinen.³³ In Bezug auf den Begriff des Dämonischen bedeutet dies, dass die frühen geistphilosophischen Grundlagen des Dämonischen³⁴ zwar nicht verlassen werden, aber in seinem Spätwerk in den Hintergrund treten und einer lebensphilosophischen Interpretation Raum geben.³⁵ Aber bei allen werkgeschichtlichen Verschiebungen kann doch festgehalten werden, dass Tillich erstens das Dämonische als metaphysische Perversion und nicht als ethischen Mangel versteht und dass er zweitens das Dämonische nicht in Gott selbst verankert wissen möchte.³⁶

 Vgl. dazu W. Schüßler, Der Mensch und die Philosophie. Zur existenzphilosophischen und anthropologischen Wende Paul Tillichs in seiner Frankfurter Zeit, in: G. Schreiber/H. Schulz (Hg.), Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt (1929 – 1933), Berlin/Boston 2015, 215 – 249; ders., Tillichs ,existentialistic turnʻ. Seine Wende von der Transzendentalphilosophie zur Existenzphilosophie in der Zeit des Übergangs von Deutschland in die USA, in: C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Paul Tillich im Exil, Berlin/Boston 2017, 323 – 345.  Vgl. C. Danz, Das Göttliche und das Dämonische. Paul Tillichs Deutung von Geschichte und Kultur, in: International Yearbook for Tillich Research 8, Berlin/Boston 2013, 1– 14, bes. 4– 7.  Vgl. dazu W. Schüßler, „Form der Form-Widrigkeit.“ Zu Paul Tillichs Begriff des Dämonischen, in: ders./C. Görgen, Gott und die Frage nach dem Bösen. Philosophische Spurensuche: Augustin – Scheler – Jaspers – Jonas – Tillich – Frankl, Berlin 2011, 116 – 134, bes. 128 – 132.  Tillich ist weit entfernt von einem metaphysischen Dualismus, was in der Literatur so manches Mal falsch gesehen wird. So z. B. bei Pauck, Paul Tillich, 118: „In Schellings Denken war er [sc. Tillich] zuerst auf die Idee des Dämonischen als einer irrationalen Möglichkeit in Gott selbst gestoßen, und dieser Schellingschen Interpretation blieb er treu.“ Auch V. R. Mallow, The Demonic. A Selected Theological Study. An Examination into the Theology of Edwin Lewis, Karl Barth, and Paul Tillich, Washington 1983, X u. 149 f. scheint das Dämonische bei Tillich in Gott selbst verankern zu wollen. Vgl. ebenso G. Sauter, Tiefenpsychologie und Alte – Neue Ethik. Ethik im Spannungsfeld von Paul Tillich, Carl Gustav Jung und Erich Neumann, in: M.Viertel (Hg.), Gott und das Böse, Hofgeismar 1996, 45 – 62, bes. 59 f. – Der christliche Existenzphilosoph Peter Wust kommt schon 1927 in einem kleinen Beitrag mit dem Titel Das Dämonische auf Tillichs gleich-

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Ein Aspekt soll auch nicht unerwähnt bleiben, der für Tillichs Entwicklung der Kategorie des Dämonischen mit ausschlaggebend war, und das ist die Begegnung mit der Kunst. Das wird sowohl in dem Beitrag Das Dämonische von 1926 als auch in einem Vortrag mit dem Titel The Demonic in Art von 1956 deutlich.³⁷ Der Beitrag von 1926 beginnt nämlich mit einem Abschnitt über die Kunst der Primitiven und Asiaten ³⁸, und in diesem Zusammenhang verweist Tillich auf Götterbilder, Fetische und Tanzmasken, an denen er das Wesen des Dämonischen in einem ersten Schritt anschaulich deutlich zu machen sucht, werden doch hier organische Formen durchbrochen, was aber wiederum zu neuen, ausdrucksvollen künstlerischen Formen führt. Von daher wäre es nach Tillich hier verfehlt, von „Gestaltungsmangel“ zu sprechen: „Es sind die vitalen Kräfte, die die lebendige Form tragen, die aber, wenn sie übermächtig werden und sich der Einordnung in die übergreifende organische Form entziehen, die Prinzipien des Zerstörerischen sind.“ (GW VI, 43) Diese Plastiken und Masken machen somit deutlich, dass es „ein positives Formwidriges [gibt], das in eine künstlerische Form einzugehen imstande ist. Es gibt nicht nur einen Form-Mangel, sondern auch eine Form der Form-Widrigkeit, es gibt nicht nur ein Minder-Positives, sondern auch ein GegenPositives.“ (GW VI, 43 f.) Mit anderen Worten: „Die menschheitliche Kunst [offenbart uns] die Tatsache des positiv Formwidrigen, des Dämonischen“ (GW VI, 44). Angeregt wurde Tillich zu dieser Deutung des Dämonischen ohne Zweifel durch eine kleine Schrift seines Freundes Eckhart von Sydow über Exotische Kunst. Afrika und Ozeanien aus dem Jahre 1921.³⁹ Am Ende dieser Schrift finden sich auch eine ganze Reihe photographischer Abbildungen von Fetischen, TanzMasken, Totenfest- und Ahnenfiguren, Götzenfiguren u. ä., die das Formwidrige des Dämonischen im Sinne Tillichs plastisch vor Augen führen. In dem genannten Beitrag von 1926 geht es Tillich sodann in einem zweiten Schritt um eine ontologische bzw. metaphysische Erfassung des Dämonischen. Jedes Ding ist getragen vom „Seinsgrund“ oder der „Tiefe der Dinge“, dem Gött-

namige Schrift zu sprechen (in: Kölnische Volkszeitung 68 [1927], Nr. 126 vom 17.02.1927; Lit. Blätter Nr. 81). Aber auch er missversteht hier Tillichs Darlegungen in einem dualistischen Sinne.  Vgl. P. Tillich, On Art and Architecture, ed. by J. and J. Dillenberger, New York 1987, 102– 113. Siehe dazu auch den Beitrag von Angela M. Opel in diesem Band.  Vgl. GW VI, 42– 44.  Vgl. E. von Sydow, Exotische Kunst. Afrika und Ozeanien, Leipzig 1921. Auf 30 Seiten beschäftigt sich von Sydow hier mit folgenden Themen: 1. Die heutige Einstellung; 2. Eine historische Parallele; 3. Das Welt-Bewusstsein der Primitiven; 4. Die Kunst der Primitiven; 5. Afrikanische und Ozeanische Kunst; 6. Primitive und archaische Kunst; 7. Primitiver und moderner Expressionismus.

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lichen. Dieses Göttliche ist aber nach Tillich nicht nur „Grund“, sondern immer auch „Abgrund“, d. h. es ist unerschöpflich. (GW VI, 46) Alles Endliche hat somit nicht nur teil am Seinsgrund, sondern immer auch an der „Unerschöpflichkeit des Seins“. „Seinsgestalt“ und „Seinsunerschöpflichkeit“ gehören somit zusammen, und sie bilden im Göttlichen eine Einheit. Im Endlichen ist die Einheit dieser beiden partizipativen Aspekte aber notwendig fragmentarischer und fragiler Natur. In diesem Sinne versteht Tillich das Dämonische als „das relative Hervorbrechen des ‚Abgrundes‘ in den Dingen“. Mit anderen Worten: Das Dämonische ist „der Wille, die aktive Unendlichkeit des Seins in sich als einzelnem zu verwirklichen, der Trieb zur Durchbrechung der eigenen, begrenzten Gestalt, die Sehnsucht, den Abgrund in sich zu verwirklichen“. „Dämonie ist gestaltwidriges Hervorbrechen des schöpferischen Grundes in den Dingen.“ (GW VI, 47) Diese Darlegungen sind terminologisch schwierig, und aus diesem Grunde greifen wir zur Verdeutlichung auf einen Text aus dem Spätwerk zurück, in dem Tillich den Begriff des Dämonischen im Rahmen seiner Philosophie des Lebens darzulegen sucht. Es handelt sich dabei um die Vorlesung Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse, die Tillich im Sommersemester 1952 an der Freien Universität Berlin gehalten hat.⁴⁰ In der 15. Vorlesung kommt er hier auf zwei Polaritäten zu sprechen, nämlich zum einen auf die Polarität von Größe und Tragik des Lebens, zum anderen auf diejenige von der Heiligkeit und dem dämonischen Charakter von Leben. Hier heißt es u. a.: Die Heiligkeit eines Lebensprozesses besteht darin, dass er transparent ist für den göttlichen Grund, zugleich aber ist jeder Lebensprozess dämonisch verzerrt, sofern er die Heiligkeit des Grundes mit seiner eigenen Heiligkeit vermischt, sofern er dasjenige, was transparent sein soll, untransparent macht und sich selbst verabsolutiert. (EW XVI, 319)

Das „Wesen des Dämonischen“ besteht also darin, dass „ein Fragment […] vergöttlicht“ wird. (EW XVI, 321) Wenn auch hier die Terminologie eine ganz andere ist als in dem Beitrag von 1926, so wird doch sachlich das gleiche ausgesagt. Schließlich geht Tillich in dem Beitrag von 1926 in einem dritten Schritt der Frage nach dem „Ort des Dämonischen“ nach, und hier lautet der entscheidende Satz: „In der geistigen Persönlichkeit kommt das Dämonische zur Erfüllung, und darum ist die geistige Persönlichkeit das vornehmste Objekt der dämonischen Zerstörung.“ (GW VI, 48) Warum ist das so? Weil allein die geistige Persönlichkeit das Sein ist, das seiner selbst mächtig ist.Wird nun die geistige Persönlichkeit von der Macht das Dämonischen „ergriffen“, dann wird sie „in sich selbst zwiespältig“:  Vgl. EW XVI, 169 – 334.

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Dämonie ist nicht Rückfall auf die vorgeistige Seinsstufe. Der Geist bleibt Geist. Er bleibt der Natur gegenüber seiner selbst mächtig. Etwas anderes aber ergreift Besitz von ihm. Dieses andere hat die vitalen Mächtigkeiten in sich; zugleich aber ist es geistig und – geistverzerrend. Es ist der Zustand der ‚Besessenheit‘, durch den sich die Dämonie im Persönlichen verwirklicht. Besessenheit aber ist Zerspaltung des Persönlichen. Die Freiheit, die Selbstmächtigkeit des Persönlichen ist begründet in ihrer Einheit, in dem synthetischen Charakter des Bewußtseins. Die Besessenheit ist der Angriff auf die Einheit und Freiheit, auf das Zentrum des Persönlichen. Bewußtseinsspaltung hat von jeher als Zeichen der Besessenheit gegolten. (GW VI, 49)

Hierbei geht es Tillich zufolge aber nicht um einen „organischen Zerfall“, ist dieser doch gerade „das Gegenteil von dämonischer Mächtigkeit“: „Nur da ist das Dämonische anschaubar, wo die Ichzerspaltung ekstatischen, in aller Zerstörung schöpferischen Charakter hat.“ (Ebd.) Tillich spricht von „schöpferischen Urkräften“, „die formzersprengend in das Bewußtsein einbrechen“ (ebd.). Woher aber stammen diese ‚Urkräfte‘? Sie entstammen Tillich zufolge „der tieferen Schicht des auch die Natur tragenden Abgrundes“. (Ebd.) Diese Antwort ist noch recht dunkel. Einen Abschnitt weiter heißt es dann konkreter: „Der seelische Ort, aus dem es [sc. das Dämonische] hervorbricht, ist das Unbewußte.“ (GW VI, 50) Näherhin erheben sich nach Tillich in der Besessenheit „Elemente des Unbewußten […], die der Persönlichkeit zwar ständig ihren vitalen Impuls, ihre unmittelbare Seinsfülle geben, die aber nicht als eigene Gestalten in das bewußte Leben eintreten dürfen.“ (Ebd.) Und hier ist an erster Stelle „an die beiden polaren und doch verbundenen Kräfte des Unbewußten“ (ebd.) zu denken, nämlich an den Machttrieb (Nietzsche) einerseits und an den Erostrieb bzw. die Libido (Freud) andererseits. Diese „vitalen Kräfte des Unbewußten“ bewirken zwar zum einen, dass der Geist schöpferisch ist, sie können aber zum anderen auch gleichzeitig „die geistige Form hemmen und zerstören“. (Ebd.) Tillich spricht in diesem Zusammenhang von der „Dialektik des Vitalen und Geistigen“: Zu dämonischer Kraft erhebt sich das Unbewußte da, wo es sich das Bewußtsein unterwirft, aber so unterwirft, daß das Bewußtseins über sich hinausgehoben wird zu schöpferischzerstörerischen, schließlich nur zerstörerischen Ausbrüchen. (GW VI, 50 f.)

Doch ist diese Charakterisierung des Dämonischen als „Hervorbrechen des Unbewußten und seiner vitalen Kräfte“ nach Tillich noch nicht ausreichend, fehlt ihr doch die „eigentümliche Qualität des ‚Abgrundes‘, des Ekstatischen, Überwältigenden, Schöpferischen, die Persönlichkeitsgrenzen Sprengenden“. (GW VI, 51) Das heißt, die Erhebung des Macht- und des Erostriebes ist nicht schon als solche

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Dämonie, sondern allein „ihr ekstatisches, geistgetragenes, geistzwingendes und geistzerstörendes Hervorbrechen“. (Ebd.) Im weiteren Verlauf des Beitrages von 1926 geht es um das Verhältnis von Dämonie und Sünde,⁴¹ um das Dämonische in der Geistesgeschichte⁴² sowie um die Dämonien der Gegenwart.⁴³ Für den Psychologen und Psychotherapeuten sind diese Darlegungen aber kaum von Interesse. Aus diesem Grunde brechen wir an dieser Stelle die Darstellung Tillichs ab und wenden uns Mays Verständnis des Dämonischen zu.

3 Zum Begriff des Dämonischen bei Rollo May ‚Eros ist ein Dämon.‘ So simpel und direkt informiert Plato uns und seine tafelnden Freunde im Symposion über die Tiefendimension der Liebe. Diese Identifizierung von Eros mit dem Dämonischen, die den Griechen so natürlich erschien, ist der Stolperstein, über den praktisch alle zeitgenössischen Theorien der Liebe stürzen. Es ist sicher nicht überraschend, daß der heutige Mensch die ganze Sphäre des Dämonischen zu umgehen, wenn nicht offen zu leugnen und zu verdrängen sucht. Aber das bedeutet, Eros zu ‚kastrieren‘ – uns selbst gerade der Quellen von Fruchtbarkeit und Produktivität in der Liebe zu berauben. Denn das genaue Gegenteil des Dämonischen ist nicht rationale Sicherheit und stilles Glück, sondern die ‚Rückkehr zum Unbelebten‘ – in Freuds Begriffen, der Todestrieb. Der Antidämon ist die Apathie.⁴⁴

Mit diesen Worten leitet May das fünfte Kapitel seiner Schrift Liebe und Wille von 1969 ein, das den Titel trägt Die Liebe und das Dämonische. Hinter diesen Überlegungen Mays steht seine zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Beobachtung, der zufolge sich der gegenwärtige Mensch in einer Umbruchsituation befindet, die mit der zunehmenden Technisierung und der Machtlosigkeit hinsichtlich einer atomaren Bedrohung zu tun hat. In solchen Zeiten des Umbruchs werden nach May auch die Grundlagen der Liebe erschüttert oder gar zerstört, indem diese zuweilen nur noch zu einem Mittel der Beherrschung oder sogar zum „Deckmantel für Gewalt“⁴⁵ gemacht werden.⁴⁶ Den Menschen seiner Zeit charakterisiert May darum mit dem Adjektiv „schizoid“, und er erläutert dazu: „Der schizoide Mensch ist das natürliche Produkt einer tech-

     

Vgl. GW VI, 52– 54. Vgl. a.a.O., 55 – 67. Vgl. a.a.O., 67– 71. May, Love and Will, 122 f. (119). A.a.O., 15 (13). Vgl. a.a.O., 13 – 18 (11– 16).

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nisierten Gesellschaft.“⁴⁷ Dabei definiert er „schizoid“ als „berührungslos; enge Beziehungen vermeidend; das Unvermögen, zu fühlen“.⁴⁸ Damit stellt er seinen Betrachtungen über das Dämonische das Bild eines Menschen voran, der, auf sich selbst zurückgeworfen, die Bedeutung seiner selbst im gesellschaftlichen Geschehen nicht mehr fassen kann. Die letzte Konsequenz einer solchen Leere, so die Befürchtung Mays, ist die Apathie, die völlige Gleichgültigkeit, und schließlich Gewalt.⁴⁹ Es ist seine Überzeugung, dass der Mensch in Zeiten des Umbruchs den bis dahin gesellschaftlich etablierten Mechanismen zur Kompensation wesenhafter Züge wie der Angst und dem Dämonischen beraubt ist, die für die menschliche Existenz zwar höchst schöpferisch sind, die aber ohne eine Integration ins Selbst auch zerstörerisch sein können.⁵⁰ Diese Dialektik von schöpferisch und zerstörerisch ist für Mays Verständnis des Dämonischen von entscheidender Bedeutung. Dabei gilt es, diese Dialektik zu unterscheiden von derjenigen von gut und böse, was aber bei May nicht immer ganz deutlich wird.⁵¹ May unterscheidet im Englischen drei mögliche Schreibweisen von ,dämonischʻ: (1) demonic als umgangssprachliche Form, (2) daemonic als mittelalterliche Form, die heute noch oft von Dichtern verwendet wird, sowie (3) daimonic als Ableitung von dem altgriechischen Wort ,daimonʻ, das die Dialektik von schöpferisch und zerstörerisch zum Ausdruck bringt.⁵² Nicht zuletzt aufgrund des dialektischen Moments, das in Mays denkerischer Auseinandersetzung mit dem Dämonischen entscheidend ist und das auch in den Überlegungen Tillichs eine große Rolle spielt, benutzt May in Liebe und Wille die zuletzt genannte Schreibweise.Werkgeschichtlich macht Clement Reeves darauf aufmerksam, dass frühere Werke Mays die beiden anderen Schreibweisen des Adjektivs ,dämonischʻ aufweisen und hier eine ausschließlich negative Konnotation vorliegt.⁵³ Erst als es ihm darum geht, die Dialektik von schöpferisch und zerstörerisch zum Ausdruck zu bringen, greift er auf die dritte Schreibweise (,daimonic / dämonischʻ bzw. substantiviert: ,the daimonic / das Dämonischeʻ) zurück.⁵⁴ May zufolge liegt die Quelle des Dämonischen „dort, wo das Selbst in natürlichen Kräften wurzelt, die über das Selbst hinausgehen und die wir als Zugriff des Schicksals auf uns empfinden. Das Dämonische erhebt sich aus dem Seins-

       

A.a.O., 17 (14). A.a.O., 16 (14). Vgl. a.a.O., 14 (11). Vgl. a.a.O., 13 u. 130 (11 u. 127). Vgl. a.a.O., 123 f. (121). Vgl. a.a.O., 123 Anm. * (337 Anm. 126). Vgl. Reeves, The Psychology of Rollo May, 135. Vgl. a.a.O., 305.

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grund und nicht aus dem Selbst als solchem.“⁵⁵ Was May hier mit ‚Seinsgrund‘ meint, wird nicht ganz klar.Wenn er das Dämonische aber an einer anderen Stelle als eine „elementare Kraft“⁵⁶ bezeichnet, die immer ihre „biologische Basis“ hat,⁵⁷ dann wird deutlich, dass mit dem Begriff ,Seinsgrundʻ hier nicht Gott gemeint sein kann. Wenn May an den platonischen Erosgedanken anknüpft, dann geht es ihm nicht nur um eine historische Reminiszenz, sondern es geht ihm – wie auch bei seinen anderen ,historischen Erkundungenʻ⁵⁸ – wesentlich darum, diesen Gedanken für die Gegenwart fruchtbar zu machen.⁵⁹ Der Rückgriff auf Verstehensversuche des Menschen durch die Geschichte hindurch und die Anlehnung an Mythologien stellt ein grundlegendes Moment in Mays psychologischem Denken und Wirken dar. Seine Überzeugung, dass der Therapeut die Geschichte des Menschen und dessen etablierte Mechanismen zur Problembewältigung kennen muss, prägt sein therapeutisches und lehrendes Wirken.⁶⁰

3.1 Das Dämonische und die Psychotherapie „Im Dämonischen“, so May, „liegt unsere Vitalität, unsere Fähigkeit, uns der Macht des Eros zu öffnen.“⁶¹ Damit ist jene Macht der Liebe gemeint, die über das rein Körperliche hinausgeht, die dem Menschen Quelle höchster Kreativität und tiefster Besessenheit und Verdammnis zugleich sein kann. Es ist das dem Dämonischen innewohnende Paradoxon von schöpferisch und zerstörerisch, das dieses Konzept für den Psychologen May so interessant macht. „So viel, wie ich mich kenne, scheint mir sicher, dass, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe […].“⁶² Diese Aussage Rilkes, die der Lyriker im Rahmen seiner Psychotherapie machte, als ihm die Ziele der Therapie bewusst wurden,⁶³

 May, Love and Will, 124 (121).  A.a.O., 146 (143).  A.a.O., 126 (123).  Vgl. a.aO., 135 – 145 (131– 141).  Vgl. a.a.O., 126 (122).  Vgl. Schneider/Galvin/Serlin, Rollo May on Existential Psychotherapy, 421.Vgl. auch P. Post/B. Montiegel, Remembering Rollo May: A Phone Call of Lifetime, in: Journal of Humanistic Psychology 36/2 (1996), 23 – 24, bes. 24.  May, Love and Will, 126 (122).  Rilke in einem Brief vom 24.01.1912 an Emil Freiherrn von Gebsattel (zit. n.: May, Der verdrängte Eros, 107).  Vgl. May, Love and Will, 122 (119).

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und die May als Motto seinem fünften Kapitel von Liebe und Wille vorangestellt hat, fasst pointiert das Paradox des Dämonischen im Verständnis Tillichs und Mays zusammen und macht gleichzeitig auch deutlich, wo die Aufgabe und die Grenzen der Psychotherapie mit Blick auf das Dämonische liegen. Anders als einige seiner zeitgenössischen Kollegen sieht May eine Chance und eine Notwendigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Dämonischen,⁶⁴ versteht man wie er das Ziel der Psychotherapie darin, unbewusste Vorgänge bewusst zu machen, um dadurch dem Patienten einen größeren Erfahrungsraum zu eröffnen, um sich besser entfalten zu können.⁶⁵ Dabei lassen die bisherigen Ausführungen ein Zweifaches erkennen: Zum einen findet das Dämonische mit seiner Verortung im ‚Seinsgrund‘ dahingehend eine Aufwertung, dass es eine Daseinsberechtigung erhält. Zum anderen warnt das dem Dämonischen eigene schöpferische Moment davor, dem Einzelnen die Möglichkeit zur Formschöpfung und damit die Kreativität, auch mit Blick auf die Gestaltung seines Lebens, zu nehmen. Es kann also nach May nicht darum gehen, das Dämonische ,wegzutherapierenʻ – dazu wäre der Therapeut letztlich auch nicht in der Lage –, sondern es geht immer nur um das Bewusstmachen dämonischer Züge im Menschen, d. h. um die Integration des Dämonischen ins Selbst, um so seine Kanalisierung und Beherrschung zu ermöglichen⁶⁶ – wobei May diese Einsicht der ,primitiven Psychotherapieʻ von Naturvölkern verdankt, bei der es darum geht, sich mit dem Dämon zu identifizieren, um eine Integration in das Selbst zu erreichen.⁶⁷

3.2 Stadien des Dämonischen Mit Blick auf das Ziel, das Dämonische in das Selbst zu integrieren, unterscheidet May drei Stadien. Das erste Stadium des Dämonischen, das, wie es May definitorisch seinen gesamten Ausführungen voranstellt, eine natürliche Funktion darstellt, die die Kraft hat, von der ganzen Person Besitz zu ergreifen,⁶⁸ geht mit dem Zusammenbruch des zentrierten Selbst einher – gewissermaßen des Aktzentrums der Person, jenem Bereich, aus dem heraus der Mensch bewusst und in Freiheit sein Handeln entscheidet.⁶⁹ Blinde und formzerstörende Selbstbehauptung kennzeichnet das Dämonische in diesem anfänglichen unpersönlichen

     

Vgl. Reeves, The Psychology of Rollo May, 305. Vgl. Schneider/Galvin/Serlin, Rollo May on Existential Psychotherapy, 420. Vgl. May, Love and Will, 163 (159). Vgl. a.a.O., 131– 134 (127– 131). Vgl. a.a.O., 123 (119). Vgl. GW XVI, 75; ST I, 217.

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Stadium.⁷⁰ Im Kontext von Liebe und Wille ist es die unpersönlich gewordene Liebe, die der Psychologe in den Verwirrungen in Zeiten des Umbruchs um sich greifen sieht, die das dämonische Moment offen legt. Liebe, die der Selbstbehauptung dient und nur noch den neuesten Forschungen, Statistiken und technischen Hilfsmitteln im sexuellen Bereich folgt,⁷¹ ist ,un-persönlichʻ geworden, das heißt, sie ist nicht mehr angelegt auf die Selbstwerdung der eigenen Person sowie des Gegenübers, sondern sie wirkt vielmehr zerstörerisch;⁷² es ist der Zustand unpersönlicher Besessenheit. Hier setzt für May die Aufgabe der Psychotherapie an, deren Ziel und Zweck die Integration und Personalisierung des Dämonischen ist; ein Akt, den er dem Bewusstsein zuschreibt.⁷³ Um von dem Stadium unpersönlicher Besessenheit zu einem zweiten Stadium des Dämonischen zu gelangen, in dem dieses in das Selbst integriert wird, greift May auf eine alte, nicht nur der Psychologie eigenen Methode zurück: das Benennen. Dieses impliziert einerseits die Fähigkeit, Beziehung zu stiften, andererseits aber auch, Macht zu gewinnen, was ebenfalls ein Beziehungsmoment darstellt.⁷⁴ Und es ist auch gleichzeitig das Moment, das das Dämonische und damit die Person aus dem Status des Anonymen herausführt. Denn: „Das Dämonische ist Anonymität“, so Paul Ricœur in einem persönlichen Gespräch mit Rollo May.⁷⁵ In der Anonymität des ‚man‘ der Gesellschaft wird die eigene Verantwortung der größeren Gruppe übertragen, und damit tritt das Dämonische der eigenen Person hinter das Tun der Vielen zurück. Aber auf diese Weise werden nach May die dämonischen Kräfte gleichzeitig auch unverfügbar gemacht für eine eigene Integration. „Der Preis, den die Person dafür bezahlt, ist das Verwirken der Chance, das eigene Potenzial für den eigenen einzigartigen Weg zu entdecken.“⁷⁶ Das heißt, dass der Zustand der Anonymität nach May letztlich „eine tiefe depersonalisierende Tragödie“⁷⁷ bedeutet. Nach May bedarf es einer „Vertiefung und Erweiterung des Bewusstseins“,⁷⁸ die dadurch zu erreichen ist, dass Unbewusstes konfrontiert und benannt und damit in das Selbst integriert wird. Ein solches integriertes Selbst bezeichnet die Psychologie als „Wahrnehmung der Geschlossenheit, Konsistenz, Kohärenz und

        

Vgl. May, Love and Will, 159 (156). Vgl. a.a.O., 15 (12). Vgl. a.a.O., 123 (120). Vgl. a.a.O., 126 (123). Vgl. a.a.O., 167 f. (164). A.a.O., 161 (157). A.a.O., 161 (158). A.a.O., 162 (158). A.a.O., 177 (173).

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Einmaligkeit des eigenen Verhaltens und Erlebens“.⁷⁹ Das Individuum muss sich als Ganzes erfahren, nicht aber als zerrissen und von einer Besessenheit übermannt; es gilt wieder, Herr über triebhafte Tendenzen zu werden und sich aufgrund der dem Menschen eigenen Fähigkeit zur Selbstdistanzierung von diesen zu befreien. Dabei muss beachtet werden, worauf auch Tillich hinweist, dass nämlich der Zustand der Besessenheit keinen Rückfall auf eine vorgeistige Seinsstufe bedeutet, unterscheidet sich dieser doch von einem rein triebhaften Verhalten des Tieres darin, dass er ,ekstatischʻ und ,schöpferischʻ ist, d. h. die Persönlichkeitsgrenzen sprengend.⁸⁰ In einem dritten und letzten Stadium kann uns das Dämonische nach May sogar zum Logos treiben. Erinnernd an die Anfänge des dialogischen Prinzips bei Sokrates bis hin zu Martin Buber, der in der Ich-Du-Begegnung die entscheidende Möglichkeit der Selbstwerdung sieht, stellt sich May in den Kontext dieser Denker, die im Dialog ein wesentliches Moment der Selbsterkenntnis und Selbstwerdung sehen.⁸¹ Etymologisch weist May hier auf das Wortelement logos in dem aus dem Griechischen kommenden Wort ,Dialogʻ hin, und er versteht diesen dabei als die bedeutungsgebende Struktur der Wirklichkeit: „Wenn wir bedeutungsvoll über das Dämonische sprechen können“, so May, „sind wir schon in dem Prozess, das Dämonische in die Strukturen unseres Lebens zu integrieren.“⁸²

4 Resümee Die Ausführungen machen deutlich, wo Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen den Konzeptionen von Tillich und May liegen. Beide Denker sehen im Dämonischen eine Kategorie, die sowohl das Schöpferische als auch das Zerstörerische umfasst.Während aber Tillich mehr auf den zerstörerischen Aspekt des Dämonischen verweist, betont May stärker dessen schöpferisches oder kreatives Moment.⁸³ In diesem Zusammenhang betont May, dass gerade Künstler und Schriftsteller aus ihren Problemen heraus kreativ werden.⁸⁴ Mit C. G. Jung ist er davon überzeugt, dass mit der Größe eines Menschen auch dessen Schatten

 U. Schönpflug, Art.: Selbst, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, hg.v. J. Ritter/ K. Gründer, Darmstadt 1995, 305.  Vgl. GW VI, 49, 51.  Vgl. May, Love and Will, 155 f. (152 f.).  A.a.O., 156 (153).  Vgl. a.a.O., 124– 129 (121– 125); vgl. Reeves, The Psychology of Rollo May, 253.  Vgl. a.a.O., 170 (167).

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wächst, d. h. seine dämonischen Tendenzen.⁸⁵ Hier ist dann auch eine gewisse Nähe zu Goethes Konzeption des Dämonischen festzustellen, für den dieses zum einen eine böse Widermacht ist, zum anderen aber auch eine positive Kraft des genialen Menschen.⁸⁶ Wenn May das Dämonische mit der Vitalität, die er am Erosbegriff fest macht, in Verbindung bringt⁸⁷ – wobei diese Vitalität sowohl die Quelle höchster Kreativität als auch tiefster Besessenheit sein kann –, dann zeigt seine Konzeption eine recht große Nähe zum griechischen Denken.⁸⁸ Tillich greift in diesem Zusammenhang stärker auf den Machttrieb (Nietzsche) und auf den Erostrieb bzw. die Libido (Freud) zurück, um deutlich zu machen, wo das Dämonische letztlich seinen ‚Ort‘ hat. Wenn auch innerhalb der Existenzontologie des Spätwerks Tillichs die Polarität von Vitalität und Intentionalität eine wichtige Rolle spielt,⁸⁹ so macht er diese doch nicht für die Deutung des Dämonischen fruchtbar. Ein entscheidender Unterschied zwischen Tillichs und Mays Verständnis des Dämonischen besteht schließlich darin, dass Ersterer das Dämonische in Beziehung setzt zum Göttlichen, was aber für den Psychologen bzw. Psychotherapeuten weniger von Interesse ist, geht es ihm doch primär um die seelische Gesundheit des Menschen, die mit einer Integration des Dämonischen in das Selbst zu erreichen ist. Das, was Tillich und May begrifflich zum Ausdruck zu bringen suchen, wird in einer 1988 erschienenen aufschlussreichen Picasso-Biographie von Arianna Stassinopoulos Huffington deutlich, die den Titel Picasso: Creator and Destroyer trägt.⁹⁰ Der schöpferischen Seite Picassos korrespondiert nach Huffington notwendig eine zerstörerische, und beide Seiten zeigen sich mit aller Deutlichkeit im Inneren dieses bedeutendsten Künstlers des 20. Jahrhunderts. Huffington spricht mit Blick auf Picasso von einem „Kampf zwischen dem Drang, etwas zu schaffen, und dem Drang, zu zerstören“;⁹¹ und wer dem zerstörerischen Element seiner Persönlichkeit zu nahe kam, wurde nicht selten zum „Opfer“.⁹² Huffington sieht

 Vgl. R. May, Answer to Ken Wilber and John Rowan, in: Journal of Humanistic Psychology 29/2 (1989), 244– 248, bes. 246.  Vgl. R. Siegel, Goethes Begriff des Dämonischen, in: Goethe-Blätter. Schriftenreihe der Goethe-Gesellschaft Siegburg 2 (2002), 51– 76, bes. 73.  Vgl. May, Love and Will, 126 (123).  Vgl. M. Friedman, Comment on the Rogers-May Discussion of Evil, in: Journal of Humanistic Psychology 22/4 (1982), 93 – 96, bes. 94.  Vgl. EW XVI, 65 – 67; vgl. ST I, 212– 214.  Vgl. A. S. Huffington, Picasso: Creator and Destroyer, New York 1988. Die deutsche Ausgabe trägt den neutraleren Titel: Picasso. Ein Leben, o.O. [Focus Edition] 2006.  Huffington, Picasso. Ein Leben, 9; vgl. a.a.O., 312.  A.a.O., 10.

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diese zerstörerische Kraft Picassos letztlich verwurzelt in dessen Unfähigkeit zu lieben.⁹³ Damit wird Picasso geradezu zum Prototyp eines ,schizoiden Menschenʻ, wie ihn May als typisch für seine Zeit beschrieben hat.

 Vgl. a.a.O., 9.

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,Christus auf der Drachenschaukelʻ Paul Tillich und das Dämonische als Thema der Kunst Im philosophisch-theologischen Werk Paul Tillichs spielt der Begriff des Dämonischen eine wichtige Rolle. 1926 hat er dazu zwei Beiträge veröffentlicht¹ und damit diesen Begriff wieder in die religionsphilosophische und theologische Diskussion eingeführt. In dem Beitrag Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte sucht Tillich anhand von Götterbildern, Fetischen und Tanzmasken in Bezug auf die ‚Kunst der Primitiven und Asiaten‘² deutlich zu machen, dass es sich beim Dämonischen um ein ‚positiv Formwidriges‘³ handelt. Im Rahmen seiner ‚Kulturtheologie‘ hat sich Tillich dann besonders wieder in seiner amerikanischen Zeit intensiv mit der Kunst auseinandergesetzt und diese zur Verdeutlichung seiner religionsphilosophischen und theologischen Thesen herangezogen.⁴ In diesem Zusammenhang findet sich auch ein Beitrag Tillichs, der sich explizit mit dem Dämonischen in der Kunst beschäftigt; er trägt den Titel The Demonic in Art und geht auf einen Vortrag zurück, den Tillich 1956 im Rahmen eines Seminars am ‚Drew Theological Seminary‘ in Madison, NJ, gehalten und den John Dillenberger posthum veröffentlicht hat.⁵ Im Folgenden geht es in einem ersten Teil um den Versuch einer Definition des Dämonischen sowie um das Dämonische in der Kultur-, Religions- und Kunstgeschichte, bevor in einem zweiten Teil Tillichs Auseinandersetzung mit dem Dämonischen in der Kunst, wie sie sich in dem genannten Artikel von 1956 dokumentiert, entfaltet wird.

 Vgl. GW VI, 42– 71; sowie GW VIII, 285 – 291.  Vgl. GW VI, 42– 44.  Vgl. GW VI, 43 f. Vgl. dazu auch den Beitrag von Werner Schüßler und Christina Saal in diesem Band.  Vgl. dazu J. u. J. Dillenberger (Hg.), Paul Tillich. On Art and Architecture, New York 1987.  Vgl. P. Tillich, The Demonic in Art, in: Dillenberger (Hg.), Paul Tillich, 102– 113; Diskussion: 113 – 118. https://doi.org/10.1515/9783110582994-012

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1 Das Dämonische als Thema der Kunst 1.1 Der Dämon und das Dämonische – Versuch einer Begriffsklärung Der Begriff ‚Dämon‘ (griech. ‚δαίμων‘ [daimon] bzw. ‚δαιμόνιον‘ [daimonion] – Geistwesen, Schicksal) leitet sich etymologisch vom griechischen Wort ‚δαίομαιʻ (daiomai) bzw. ‚δαίεσθαι‘ (daiestai) ab, was soviel wie ‚teilen‘, ‚zerteilen‘, ‚zuteilen‘ bedeutet. Dem liegt die Vorstellung vom Zerteilen der Leiber der Verstorbenen durch den Totengott bzw. vom Zuteilen des Guten und Bösen durch die Geister an die Menschen zugrunde. Der Begriff ‚Dämon‘ hat zunächst drei verschiedene Bedeutungen: er kann Götter bezeichnen (z. B. bei Heraklit; Homer, Ilias, Odyssee),⁶ aber ebenso auch einen Vermittler zwischen Gott/Göttern, Satan und den Menschen⁷ oder einen Verursacher von Besessenheit und Krankheit. Er umfasst eine Spanne vom guten Geist bis – v. a. unter christlichem Einfluss – Teufel, Satan, Luzifer. Dämonen sind personifizierte außermenschliche Kräfte und „Elementaraussagen aller Religionen“, in denen Mächte und Kräfte Name und Gestalt bekommen. „In allen Naturerscheinungen kann sich das Göttliche wie auch das Dämonische offenbaren.“⁸ Der Symbolforscher Manfred Lurker verweist darauf, dass jedes Gottesbild – und damit auch jedes Dämonenbild – Züge einer „Selbstprojektion des Menschen“⁹ enthalte. Es spiegle sich im Bild des Göttlichen gleichwie des Dämonischen die „Entwicklungsstufe der Denkstruktur und das Selbstverständnis“ der jeweiligen Gesellschaft und Kultur.¹⁰ In einer antithetischen Struktur braucht das Ideal (Gott) auch das Horrorbild (Dämon). Im Prozess der Ausdefinierung dieser Vorstellungen entwickelt jede Religion ihre eigenen Symbole und Konventionen, um diese höheren Wesen darzustellen. Ebenso können Gott und Dämon in den einzelnen Religionen unterschiedliche Bedeutungen haben, manchmal sogar mit

 Vgl.W. Pötscher, Art.: Δαίμων, in: Der Kleine Pauly – Lexikon der Antike, 5 Bde., hg.v. K. Ziegler u. W. Sontheimer, München 1979, Bd. 1, Sp. 1361– 62.  Auf diesem Verständnis beruht auch die abendländische Magietheorie, die davon ausgeht, dass der zauberische Akt durch Kommunikation oder den stillschweigenden oder ausdrücklichen Pakt ermöglicht wird. Vgl. W. Kirchschläger u. a., Art.: Dämon, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, Freiburg 31993, Sp. 1– 6, bes. Sp. 1 u. 5.  M. Lurker, Lexikon der Götter und Dämonen: Namen, Funktionen, Symbole/Attribute, Stuttgart 1984, VIII.  Ebd.  Ebd.

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fließenden Übergängen zwischen ihnen.¹¹ Je nach Kontext können Dämonen in ihren definierten Aufgaben und Wirkungen durchaus ambivalent sein. Die Vorstellungen des Dämonischen wandeln sich über die Jahrtausende, Veränderungen erkennt man vor allem zwischen den antiken, frühmittelalterlichen und modernen Dämonendefinitionen. In der Antike besteht eine Gleichsetzung des Dämonischen mit dem Göttlichen als gute oder böse geistige Kräfte, „die die des Menschen übersteigen“;¹² sie sind das menschliche Schicksal bestimmende Mächte. Der Wandel hin zu den nur negativ konnotierten, dem Menschen nur Übles wollenden Dämonen vollzieht sich in der Spätantike unter dem Einfluss römischer und altorientalischer Vorstellungen. Dies wurde auch prägend für die Entwicklung des christlichen Dämonenbegriffs.¹³ Im Frühmittelalter werden die Gott feindlich gesinnten Kräfte als dämonisch definiert. „Ein Dämon ist ein Engel, der sich gegen Gott entschieden hat, d. h. ein Teufel.“¹⁴ Bei allen Auseinandersetzungen des Guten mit dem Bösen ist aber klar, dass das Gute und Göttliche siegen wird. In der Moderne werden vor allem die das Leben des Menschen bedrohenden unbekannten und im Menschen Angst erzeugenden Mächte als dämonisch empfunden. Kulturgeschichtlich betrachtet ist Dämonenglaube als Lebenswirklichkeit ein vor-aufklärerisches Phänomen. In der Zeit nach der Aufklärung werden viele Dämonenmotive trivialisiert und in Mythen- bzw. Märchenmotive transformiert.¹⁵ Grundmuster beim gelehrten wie auch populären Dämonenglauben ist, dass unerklärliche Ereignisse (Naturkatastrophen, Unglück, Krankheit, Tod, Glücksfälle) auf reale Verursacher zurückgeführt werden, vor denen man sich durch ein Gott- oder Götter-gefälliges Leben schützen konnte. Zu Schutz, Abwehr und Bannung gab es materielle Hilfsmittel wie Amulette und Kreuzzeichen oder immaterielle wie Gebete und Dämonenbannungsrituale, deren Aufwand das erhebliche Angstpotential des Dämonenglaubens deutlich macht. Waren Menschen von Dämonen besessen oder Feld, Haus oder Vieh von Dämonen infestiert, so konnten Exorzismen angewandt werden.¹⁶

 Vgl. ebd.  H. Schade, Dämonen und Monstren – Gestaltungen des Bösen in der Kunst des frühen Mittelalters, Regensburg 1962, 24.  Vgl. W. Metternich, Teufel, Geister und Dämonen: Das Unheimliche in der Kunst des Mittelalters, Darmstadt 2011, 43.  Schade, Dämonen und Monstren, 24.  Im Kontext der Reformation hält z. B. Luther am Dämonenglauben fest.  Vgl. z. B. die Merseburger Zaubersprüche aus dem 9. oder 10. Jahrhundert (Domstiftsbibliothek Merseburg, Codex 136, f. 85r) oder die Clavicula Salomonis aus dem 17. Jahrhundert. Vgl. Kirchschläger, Dämon, Sp. 4.

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Die umfangreiche und vielfältige Welt der Dämonen wurde nach kosmologischen, geologischen, funktionalen, physikalischen und morphologischen Gesichtspunkten systematisiert: Man unterschied unterirdische und oberirdische Dämonen, Berg-, Wald-, Natur-, Luft- und Wassergeister. Im Volksglauben und in den Märchen der Zeit nach der Aufklärung wurden sie zu Bergmännlein,Wichteln, Wassernixen, Zwergen etc.¹⁷

1.2 Historische Entwicklungen: Mythos, Religion, Kultur, Kunst 1.2.1 Antike Religionsgeschichtlich sind früheste Dämonenvorstellungen aus dem sumerischen, iranisch-persischen und babylonisch-assyrischen Bereich abzuleiten.¹⁸ In diesen religiösen Kontexten steht einer guten Götter- und Geisterwelt eine böse und vernichtende Dämonenwelt gegenüber.¹⁹ In der griechischen Mythologie sind sie Wesen zwischen Göttern und Menschen. Hier setzt v. a. im Volksglauben aber bereits eine Tendenz zur Negativierung der auch guten Dämonen (vgl. ‚Agathodaimon‘) ein. Die antike griechische Kultur und Kunst ist in ihren Dämonenmotiven beeinflusst von altägyptischen und altorientalischen Quellen.²⁰ Karl Schefold beschrieb es als Leistung der griechischen Kultur, „auf den Menschen einwirkende, unsichtbare und unheimliche Kräfte in klar umrissenen Dämonengestalten konkretisiert zu haben und damit begreifbar gemacht zu haben“.²¹ Antike Wurzeln hat die Vorstellung von der Sichtbarkeit der Dämonen für den Menschen und die Vorstellung, dass sie anthropomorphe (z. B. Erinnyen) oder theriomorphe (z. B. Basilisk, Drache) Formen annehmen konnten.²² Archäologisch bzw. kunstwis-

 „In seiner reduzierten Endform findet sich das so tradierte System in den seit dem 19. Jahrhundert als Märchen und Sagen gesammelten Erzählungen.“ Kirchschläger, Dämon, Sp. 5.  Vgl. a.a.O., Sp. 1.  Dämonenglaube ist ebenfalls in vielen Stammesreligionen verankert.  Für den altorientalischen Bereich vgl z. B. A. E. Farkas/P. O. Harper/E. B. Harrison, Monsters and Demons in the Ancient and Medieval Worlds: Papers Presented in Honor of Edith Porada, Mainz 1987.  Vgl. I. Krauskopf, Dämonenbilder in der antiken Kunst – Einige Beobachtungen, in: H. J. Horn (Hg.), Jakobs Traum. Dämonen, Engel. Zur Bedeutung der „Zwischenwelt“ in der Tradition des Platonismus, Kolloquium Mannheim 1999, St. Katharinen 2002, 57– 64, hier 57.  Ebenfalls gab es die Vorstellung, dass ihre Körper aus Faulstoffen bestanden, daher ihr Schwefelgestank.

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senschaftlich wird unterschieden zwischen Dämon und Monster. Der Dämon ist ein tierköpfiges Mischwesen (z. B. die Chimäre), mindestens aber mit menschengestaltigen Beinen ausgestattet. Bei den Monstern unterscheidet man Mischwesen mit Tierkörpern und Tierköpfen phantastischer Art (z. B. Greif, Drache) oder Tierkörper mit menschlichen Köpfen (z. B. Sphinx, Mantikor, Zentauer). Die griechische Kunst übernahm aus dem altorientalischen und ägyptischen Bereich besonders Mischwesen wie z. B. geflügelte Löwen mit Menschenköpfen (Phix oder Sphinx) oder die Vogel-Mensch-Wesen, die die Griechen als ‚Sirene‘ bezeichneten. Es scheint hier eine Form-Inhalt-Zuordnung stattgefunden zu haben: einem orientalischen Mischwesenmotiv wurde der Name bzw. die Vorstellung von einem griechischen Dämon zugeordnet.²³ Die zugrundeliegende Idee bei der ‚Dämonengenese‘ war es, bedrohliche Mächte bildlich mit den Zügen bedrohlicher Tiere zu verbinden. Ihre Über-Menschlichkeit wird dadurch dargestellt, dass sie Tier- und Menschenzüge in sich vereinen. Ein wichtiges Motiv zur Verdeutlichung der Gefährlichkeit insbesondere geflügelter Dämonen waren ihre Flügel, da diese ihnen Schnelligkeit und Überwindung des Raumes jenseits menschlichen Vermögens ermöglichten.²⁴ Eines der ‚jüngsten‘ antiken Dämonenmotive sind die Erinnyen, die zwar keine tierischen Körperelemente aufweisen, ursprünglich aber „wohl als Schlangen gedacht werden konnten“.²⁵ Ihre Schrecklichkeit wurde u. a. über ihre schwarze Hautfarbe betont, ebenso wie bei dem Totengott Thanatos. Schlangengestaltige Dämonen, die wahrscheinlich auch aus dem ägyptischen Kontext kamen, wurden in der Antike zwar als gefährlich verstanden, waren aber bei weitem noch nicht im Ausmaß der späteren christlichen Interpretation negativ konnotiert oder der Unterwelt zugeordnet. Der Glück bringende Agathodaimon (agathos, griech. – gut, ‚guter Dämon‘) mit Schlangenleib und Menschenkopf fand nur begrenzte Verbreitung, da Positives zu stark mit der Menschengestalt und den anthropomorphen Göttern verbunden war.²⁶ Während des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. fand eine Tendenz zur Vermenschlichung bereits existenter Mischwesen-Dämonen statt, was bei den Gorgonen und Geras dazu führte, dass man den vormaligen Aspekt tierischer Ge-

 Homer und Hesiod (Theogonie) erwähnen bereits die in ihrer Zeit (zweite Hälfte 8. Jahrhundert v.Chr.) wahrscheinlich noch neuen Personifikationen abstrakter Begriffe und die aus altem Sagenmaterial stammenden Ungeheuer. Bildlich fassbar werden die Personifikationen erst Mitte des 6. Jahrhunderts.  Zu den Ungeheuern mit antiken Wurzeln gehören die Chimäre und der Zentauer, der v. a. in seiner mittelalterlichen Rezeption Brutalität symbolisierte.  Krauskopf, Dämonenbilder in der antiken Kunst, 61.  Vgl. a.a.O., 63.

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fährlichkeit durch menschliche Hässlichkeit als wirkendes und wirksames Schreckmoment ersetzte. Hier wird die Kalokagathie als ein Grundmuster für die Ausgestaltung des Dämonischen deutlich, nämlich die Vorstellung, dass das innere/moralische Gute im äußeren Schönen erkennbar ist. In der christlichen Kunst wird sich dies später in der Auffassung äußern, dass sich im menschlichen Antlitz das göttliche Abbild spiegelt. In den Motiven des Bösen und Dämonischen visualisierte man daher die Verkehrung dieses Ideals über die ent-menschlichte Darstellung als Mischwesen und Monster. Im 4. Jahrhundert v.Chr. entwickelten sich neue Dämonentypen, die als Personifikationen schädlicher psychischer Affekte auftreten: z. B. Apate (Täuschung, Betrug) oder Mania (Wahnsinn, Wut, Raserei). Sie sind allgegenwärtig und sollen die Menschen nicht mehr nur für begangene Frevel strafen wie die Erinnyen, sondern sind den Menschen intentional schädlich. Eine der wenigen positiven Personifikationen ist die Nike (in der römischen Antike: ‚Viktoria‘), der als einer der wenigen Dämonen, Personifikationen und Götter nicht die Flügel im Zuge der Anthropomorphisierung des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. verloren gegangen waren. Die antike römische Kunst übernahm mit wenigen Ergänzungen und Varianten griechische und etruskische (Vor‐)Bilder von Dämonen. Die Viktorien, die ebenso wie Amor/Cupido den Anthropomorphisierungstendenzen des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. widerstanden und ihre Flügel behalten hatten, wurden in der frühchristlichen Zeit zum Vorbild der Engel, den ebenfalls einer Zwischenwelt angehörenden Wesen, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln. Im Alten Testament haben Dämonen eine eher untergeordnete Bedeutung. Nur Gott/Jahwe ist hier Macht über sie gegeben.²⁷ Die Genesis berichtet von den Gottessöhnen (gefallenen Engeln), die sich mit den Menschentöchtern verbanden und mit ihnen Riesen zeugten. Der Topos des Riesen ist in verschiedenen Religionen und Mythologien negativ besetzt. Diese ‚Gottessöhne‘ wurden zu Dämonen und Teufeln.²⁸ In der Nach-Exilszeit werden Dämonen als Gehilfen Satans gesehen und im Buch Tobit (6,8; 8,3) wird die in der Folgezeit einflussreich werdende Vorstellung vom antithetischen Wesen von Engeln und Dämonen als Helfern und Schädigern der Menschen greifbar.

 Vgl. Kirchschläger, Dämon, Sp. 2.  Ein ähnliches Motiv findet sich in der griechischen Mythologie, wo Zeus die Titanen als Dämonen in die Unterwelt verbannt.

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1.2.2 Neues Testament und frühes Christentum Im Neuen Testament wird diese negative Zuordnung dann deutlicher und ausgeprägter: Dämonen sind Verursacher von Krankheit, Besessenheit und vielfältiger Not der Menschen. Sie werden bezeichnet als unreiner, böser, stummer oder tauber Geist.²⁹ Satan ist der Fürst der Dämonen. Ihr dämonisches Potential liegt dabei begründet in ihrer Unfähigkeit, Jesus als den Messias zu bekennen. Die Dämonen und ihr unheilbringendes Wirken sind die Kontrastfolie für das heilbringende und erlösende Wirken Christi und die befreiende Wirkung seiner Botschaft.³⁰ Christus hat Macht über die bösen Geister, und er heilt die von ihnen Besessenen (vgl. Mt 9,32– 34; Mk 5,1– 17). Die Vorstellungswelt des Göttlichen und Dämonischen bezeichnet einen Raum der Auseinandersetzung des Menschen mit Gut und Böse. Um diese Auseinandersetzung führen zu können, muss man die Kenntnis zur Unterscheidung dieser Dämonen und Geistwesen besitzen. Die Definitionen dieser Unterscheidungsregeln stammten aus dem Alten und Neuen Testament und wurden von Antonius Eremita († 356) und Augustinus (354– 430) bis zu Thomas von Aquin (1225 – 1274) und Ignatius von Loyola (1491– 1556; ‚Unterscheidung der Geister‘ in den Exerzitien) niedergelegt und interpretiert.³¹ Dämonenbeschreibungen und -erzählungen sind in der theologischen Literatur der Spätantike und des Mittelalters reich vorhanden,³² ebenso wie ihre bildlichen Darstellungen in meist größeren und komplexen Zusammenhängen, besonders in der Bauplastik von Kirchen, in Fresken und in der Buchmalerei. Theologisch ist, basierend auf der Grundannahme der Entscheidungsfreiheit des Menschen, das dämonische Wirken mit Gottes Erlaubnis Teil des Heilsplans. Bereits Augustinus entwickelte die Grundlagen der christlichen Dämonologie, aufbauend auf der Vorstellung der zwei Reiche ‚Civitas Dei‘ und ‚Civitas Diaboli‘. Nach Augustinus wurden die gefallenen Engel zu Dämonen. In seinem Werk De Divinatione Daemonum charakterisiert er sie als Wesen mit luftigen, feinstofflichen Körpern, die durch diese Beschaffenheit eine bessere Sinneswahrnehmung hätten, über die sie aber auch Krankheiten in sich aufnehmen und an die Men-

 Vgl. Kirchschläger, Dämon, Sp. 2.  Vgl. a.a.O., Sp. 3.  Historisch-theologisch werden die Dämonen von den Kirchenvätern und anderen frühen christlichen Schriftstellern als die gefallenen, ehemals göttlichen Engel definiert. Augustinus situiert den Engelssturz – die Bestrafung der unbotmäßigen Engel und ihre Verbannung auf die Erde bzw. in die Hölle – in der Schöpfungsgeschichte bei der Scheidung von Licht und Finsternis. Vgl. ebd.  Vgl. Schade, Dämonen und Monstren, 20.

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schen wieder abgeben könnten. Als zeitüberdauernde Existenzen mit mehr Erfahrung als die Menschen seien sie in der Lage, menschliche Gemütsverfassungen und Gedanken zu lesen und die Zukunft vorherzusagen. Das frühe Christentum ‚dämonisiert‘ zunächst viele der heidnischen Götter und wertet sie zu Dämonen ab, heidnische Dämonen werden zu Teufeln degradiert (z. B. Pan). Eine Begründung liefert Augustinus in seiner Dämonologie in De Civitate Dei (413 – 26): Alle heidnischen Götter seien Dämonen, da sie eigentlich verstorbene Menschen gewesen seien, die wie Götter verehrt wurden und daher Götzen, ergo Dämonen seien. Als Verkörperungen des Unglaubens und damit des Bösen an sich wurden sie zu Dämonen und Teufeln. Mit dieser strategischen Federstrichdefinition war jede heidnische Gottheit potentiell ein Dämon. Eine der wenigen Ausnahmen blieb Sol Invictus, der zunächst in der spätrömischen Zeit im Kaiserkult mit dem römischen Cäsar und dann mit der Figur des auferstandenen Christus verschmolz. Es gab aber durchaus auch die gegenläufige Entwicklung heidnische Götter oder Dämonen zu Heiligen aufzuwerten. Brigit (Brigid, Brig), Tochter des irischkeltischen Gottes Dagda, wurde als Schutzherrin der Dichter, Ärzte und Schmiede verehrt. Ihr zugeordnet waren der Frühling, die Heilkunst und das Ritual des Reinigungsfeuers. In christlicher Zeit verschmolz sie mit der Hl. Brigid of Kildare, die mit ihren neunzehn Nonnen ein heiliges Feuer gehütet haben soll.³³ Bildliche Darstellungen des Dämonischen sind nicht zu allen Zeiten gleichbleibend häufig anzutreffen. Eine umfangreichere Darstellungspraxis setzt erst mit dem frühen Mittelalter ein. In frühchristlicher Zeit gab es zunächst nur wenige Dämonenbilder. Ab dem spätantiken 5. Jahrhundert tauchen Darstellungen des triumphierenden Christus über der Aspis-Schlange, manchmal zusammen mit Basilisk, Löwe und Drache auf. Die vier Tiere symbolisieren hier Sünde, Tod, Antichrist und Teufel.³⁴ Dämonen wurden in der Regel dargestellt als tierischmenschliche Mischwesen beiderlei Geschlechts.

 Vgl. Lurker, Art.: Brigit, in: ders., Lexikon der Götter und Dämonen, 60.  Vgl. z. B. die Elfenbeinplatte eines Buchdeckels aus Genoels-Elderen, 8. Jahrhundert, Brüssel, Bibliotheque Royal, Abb. in RDK I, 1147– 1152, Abb. 1; www.rdklabor.de/wiki/Aspis. Diese Zuordnungen können aber auch variiert werden, vgl. z. B. Löwe, Basilisk, Drache und Schlange mit den sie bekämpfenden Putti an der Mariensäule, Marienplatz, München, 1638. Hier stehen sie – in der Zeit des 30-jährigen Krieges – für Krieg, Pest, Hunger, Unglaube. Das beigegebene Zitat „Super aspidem et basiliscum ambulabis et leonem et draconem conculcabis“ („Über die Schlange und den Basilisken wirst Du schreiten und den Löwen und den Drachen wirst Du zertreten“) bezieht sich auf Psalm 91,13.

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1.2.3 Mittelalter Das christliche Mittelalter weist eine sehr hohe Dämonendichte auf, die auch durch frühe Missionierungspraktiken bedingt ist, bei denen Familien, Clans oder ganze Stämme oft en bloc auf Geheiß ihrer jeweiligen Clanoberhäupter oder Fürsten getauft wurden. Es ist zu vermuten, dass diese Übertritte zur neuen Religion zunächst wenig christlichen Effekt auf die Neuchristen gehabt haben dürften. Bei diesen Christianisierungsprozessen hat man oftmals auch das alte religiöse/mythische Personal in die neue Religion mitgenommen und leicht abgewandelt neben den Protagonisten der neuen Religion bestehen lassen oder auch teilweise mit ihnen verschmolzen (siehe z. B. Hl. Brigid of Kildare). Dadurch kommt es, dass viele Aspekte heidnischer Religionen im Mittelalter immer noch mehr oder minder offen und/oder bewusst präsent sind. Da, wo die Übernahme in den christlichen Kontext aber nicht gänzlich vollzogen wurde, blieb ein latent dämonisches ‚Personal‘ neben den christlichen Protagonisten bestehen. Die Zahl der Dämonen und Teufel wurde schon im 13. Jahrhundert vom Kardinalbischof von Tusculum auf 133.306.668 beziffert. Diese ungeheure Zahl, die in der Moderne noch erweitert wurde,³⁵ sollte dem mittelalterlichen Menschen die Gefährlichkeit und Allpräsenz des Gegners deutlich machen. In der mittelalterlichen Vorstellung besaß Satan einen Hofstaat bzw. Helfershelfer in Gestalt von Teufeln und Dämonen, die den Menschen zusetzten, sie peinigten und sie zur Sünde verführen sollten. Bildlicher Ausweis des Dämonischen waren in der Regel, wie auch schon in früheren Epochen, tierische Körperteile oder ihre Darstellung ganz als Tiere. Motivisch ausgedrückt wird das Dämonische im Frühmittelalter in Bildern des Teufels, in Tieren und Symbolen als Zeichen des Teufels, ebenso wie in den als teuflisch interpretierten Lastern. Eine erste Blütezeit in der Darstellung dämonischer Motive in der christlichen Kunst findet sich in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Architekturplastik, Buchmalerei, Paramente, Gefäße). In den mittelalterlichen Kirchen finden sich Dämonendarstellungen meist an bevorzugter, sichtbarer oder die Architektur strukturierender Stelle: Sockel, Gesims, Portal, Tympanon, Dachränder (First, Traufe, Ortgang), Fensterbänke und vor allem Kapitelle. Ebenso tauchen sie an den Bestienpfeilern auf, oft als Trumeaupfeiler³⁶ am Portal, wo sie vergleichbar den Löwen, die unter den Portalsäulen kauernd vor dem Bösen warnen, es ab Corrado Balducci (1923 – 2008): 1.758.640.176 Dämonen und Teufel. Vgl. Metternich, Teufel, Geister und Dämonen, 44.  Trumeau (frz., Mittelpfosten), mittlerer Steinpfeiler, v. a. bei Portalen gotischer Kirchen. Der Trumeau trägt mit den Portalgewänden das Tympanon. Oft wird vor den Trumeaupfeiler eine Figur des Kirchenpatrons oder eine Christus- oder Marienfigur gesetzt.

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wehren und die eintretenden Menschen an Tod und Weltgericht erinnern sollen (St. Pierre, Moissac, Portal).³⁷ In selteneren Fällen finden sich Bestienpfeiler auch in den Krypten (Dom Freising, Krypta). Dämonenbilder finden sich aber auch am Portal, meist im Tympanon oder den Portalgewänden (St. Pierre, Moissac; St. Pierre, Beaulieu) und in der Vorhalle (Narthex,³⁸ Paradies, Galiläa³⁹). Wie viele ihrer heidnischen Vorgänger-Sakralbauten so haben auch die christlichen Kirchen bevorzugt eine Ost-West-Ausrichtung, da Christus im Osten thront, während aus dem Westen die Dämonen kommen. Um diese zu bannen, hatten Westwerke oft Kapellen, die dem Hl. Erzengel Michael als dem Kämpfer gegen Satan/Drache/ Dämon geweiht waren. Viele Portale wurden als Gerichtsportale mit komplexen Bildprogrammen zum Jüngsten Gericht ausgestattet. Im Osten wurde auch das Paradies verortet, daher interpretierte man den Eingangsbereich, der ja der westlichste Bereich einer geosteten Kirche war, als den ersten Teil des Ostens für die eintretenden Gläubigen. Daher ist die Bezeichnung der Vorhallen als ‚Paradies‘ zu verstehen, allerdings als ein verlorenes Paradies, auf das das eigentliche Paradies des Kircheninneren folgte. Die dienstbare Einbindung der Dämonenbilder in die kirchliche Praxis findet sich bei liturgischen Gefäßen (als Henkelappliken), als Trägerfiguren der Taufbecken, als Wasserspeier oder bei den Miserikordien der Chorgestühle. In der Buchmalerei finden sich Dämonen, Schlangen und Monster meist an den Rändern von Initialen oder Darstellungen, ebenso an den Rändern von Kanontafeln: denn der Leviathan (ein biblisch-mythologisches Seeungeheuer) bildet den Rand der Welt, unter dem Kreuz werden Drachen und im Abgrund die Schlangen dargestellt.

1.2.3.1 Der Ort des Dämonischen Die Verortung des Dämonischen in der Welthierarchie wird in den mittelalterlichen Enzyklopädien beschrieben, wo sie „immer an bestimmten Stellen des Gesamtwerkes“⁴⁰ auftreten. Rabanus Maurus (780 – 856) ordnet sie in seiner Enzyklopädie De Universo in Buch XV, dem Kapitel VI über die Götter der Heiden zu, zwischen den Kapiteln zum Tod und den Tieren, wo auch der Teufel erwähnt wird, den Maurus dann später auch dem ‚Abyssus‘ zuordnet. Der Ort des Dämonischen ist das ‚Profundum‘, ein ,ferner Grundʻ, den man sowohl als den Abgrund des  Die Löwen können gleichzeitig aber auch negativ konnotiert sein.  Eingeschossige Vorhalle bei altchristlichen (Lateranbasilika) oder byzantinischen Kirchen.  Im mittelalterlichen Kirchenbau des Westens wird diese Vorhalle meist mit dem Begriff Paradies oder Galiläa bezeichnet.  Schade, Dämonen und Monstren, 34.

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Meeres, den Schoß der Erde als auch als das menschliche Herz (das zum Ort böser Geister wird) interpretierte und der wie die Flüsse Kokytus oder Styx als „in der Nähe der Unterwelt“⁴¹ zu deuten ist. Meer/Abyssus/Profundum als eine Randzone der bekannten Welt, die das (sichtbare) Firmament vom obersten Himmel/Jenseits abgrenzt, ist eine schon antike Vorstellung. In diesen Vorstellungen der Randzonen als Ort der Dämonen klingt die Vorstellung von Grenzen als Orte der Gefahr, als Schnittstellen zwischen Innen und Außen, Bekanntem und Unbekanntem an. Daher ist die Gestaltung der Dämonen als Mischwesen von Bekanntem und Unbekanntem/Phantastischem bzw. Menschlichem und Tierischem oder Erfundenem eine logische bildliche Übersetzung. Dämonisches hat im frühen Mittelalter durchaus qualitative Unterschiede, vom Erschreckenden über Ungeheuer zu fremden Göttern und dem Teufel selbst. Dies wiederum spiegelt die Tatsache, dass auch der Raum als solcher (und als Ort des Dämonischen) nicht als einheitlich verstanden wird. So wie der Ort der Teufel die Hölle ist, so beherrschen die Dämonen das Chaos. Motiv für das Chaos war das Meer, das als ungeordnet und unheimlich galt, für Gefahr und den Verlust der Orientierung stand und den Rand der bekannten Welt bildete. Motive dieses chaotischen Raumes sind z. B. Fischreiter, die noch auf keltischen Ursprung zurückgehen, fremde Völker, die wie die heidnischen Götter und Göttinnen auch potentielle Dämoniekandidaten wurden und die dämonischen Ungeheuer und Mischwesen.

1.2.3.2 Fremde Völker und Mischwesen In der Vorstellung des Mittelalters sind Monster und Mischwesen nicht den Ungeheuern gleichzusetzen: als ,Monstraʻ verstand man Missgeburten die in der Vorstellung der Zeit etwas Kommendes zeigten, darauf hinwiesen (‚monstrare‘ – ‚zeigen‘). Ausnahme sind heilige Mischwesen wie der christliche Tetramorph, die Evangelistensymbole, die zu einem Wesen verbunden wurden. Seit der Antike und während des gesamten Mittelalters gab es Beschreibungen von fremden Völkern – angeblich am Rand der Welt lebend –, die als absonderlich in Aussehen (oft als Mischwesen beschrieben) und Verhalten charakterisiert wurden und damit schon als tendenziell dämonisch klassifiziert wurden (z. B. Skiapoden,⁴² Kynekophalen). Zu den positiv konnotierten Mischwesen gehören die hundsköpfigen Kynekophalen, die man als sprachunfähiges,  Ebd.  Skiapode, griech., Schattenfüßler, Fabelwesen menschlicher Gestalt mit nur einem Bein mit übergroßem Fuß, mit dem sie ungewöhnlich schnell laufen können und den sie im Liegen als Schattenspender über sich halten.

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aber friedfertiges indisches Volk ansah. Die zeitgenössischen Diskussionen um die Kynekophalen spiegeln eine grundsätzliche Frage: Wie definiert man das Menschsein? Geht man bei der Entscheidung vom Äußeren aus (Hundekopf, menschlicher Körper, Bellen) oder von dem Vermögen, menschliche, soziale, intellektuelle und kulturelle Leistungen zu erbringen?⁴³ Da die Kynekophalen am Rand der Welt lebten und als Menschen angesehen wurden, standen sie auch für die entferntesten und extremsten Möglichkeiten der Bekehrung der Heiden. Die Sirene,⁴⁴ Mischwesen aus Frauenkopf und (meist) Vogelleib, steht für das Verführerische, ist plötzlicher Angreifer und Todesdämon. Darstellungen zeigen sie singend, Flöte oder Leier spielend. Mittelalterliche Schriftsteller interpretieren ihre Krallen und Flügel als Verweise auf das Wesen der Liebe: verwundend und flüchtig. Eine zweite Variante mit Fisch- oder Schlangenschwanz verdeutlicht ihre Beziehung zum Wasser und verweist auf ihre Beziehung zu Venus, der (Meer‐) Schaumgeborenen. Im Bild der Sirene verbinden sich das Liebliche, die Musik, die Wellen des Meeres mit dem plötzlichen Schrecken und der Angst vor dem Tod. Im Apsisfresko von St. Jakob in Kastelaz bei Tramin (Südtirol/Italien, um 1250) finden sich Darstellungen von solchen Vogelfrauen, aber auch von Zentauren, Fischreitern u. ä.⁴⁵

1.2.3.3 Elemente Verschiedene Elemente werden mit unterschiedlichen dämonischen Wirkungen assoziiert. Die Härte des Steins steht für Unbelehrbarkeit, Eisen für die Nachstellungen des Teufels. Die vier Elemente Erde, Feuer, Wasser, Luft sind ambivalent. Erde als Geschöpf Gottes kann auch als Abgrund Abyssus und Teufel sein. Feuer steht für Hölle und Verdammnis. Wasser als Symbol der Taufe ist aber auch das Meer mit Drachen und Ungeheuern und Symbol des Weltrandes. Wind – vor allem der Nordwind – kann als gottlos interpretiert werden.

 „Kleidung, Sitte, Scham und Kultur“ (Schade, Dämonen und Monstren, 52). Ratramnus von Corbie († um 868) plädierte in der Epistola de Cynocephalis dafür, sie als Menschen anzusehen; vgl. auch seinen Brief an Rimbertus. Vgl. a.a.O., 51.  Die Sirenen stammen evt. von den Harpiyen als Totenvögeln ab.  Vgl. U. Düriegl, Die Fabelwesen von St. Jakob in Kastelaz bei Tramin. Romanische Bilderwelt antiken und vorantiken Ursprungs,Wien 2003. Fischreiter finden sich auch auf der Holzdecke von St Martin in Zills, Graubünden/Schweiz.

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1.2.3.4 Pflanzen Die Ambivalenz vieler Dämonenmotive setzt sich auch bei den Pflanzen fort. Der Baum ist zum einen der paradiesische Baum der Unterscheidung der Geister, aber auch der Baum mit der verbotenen Frucht, er kann Lebensbaum und Kreuzesholz sein. Dämonische Pflanzen, manche aus antiker Tradition, sind Moly, Mandragorawurzeln, die auf den Wiesen des Hades wachsen und Agnos, unter dessen Zweigen der Leviathan geschlafen haben soll. Auch sie sind ambivalent, je nachdem wie man sie anwendet. Moly ist ein – bis heute unbekanntes – aber schon bei Homer erwähntes Zauberkraut, mit dem Hermes den Zauber der Circe bannte.⁴⁶ Die Mandragorawurzel (Alraune), ein Nachtschattengewächs (Solanaceae), wurde im Altertum bereits als Aphrodisiakum, als Schlafmittel oder Narkotikum genutzt. Um die anthropomorphe Form der Wurzeln entwickelte sich im Mittelalter die Sage von ihrem dämonischen Potential und ihrer ritualisierten Ernte: wurden sie ausgegraben, stießen sie einen ohrenbetäubenden Schrei aus, der einen Menschen töten konnte, daher sollte man die noch nicht ganz ausgegrabene Wurzel einem schwarzen Hund an den Schwanz binden, der sie dann ganz ausriss. Sie gedieh angeblich besonders gut unter Galgen, wo sie aus dem Urin und Sperma Gehenkter wuchs. Hildegard von Bingen (1098 – 1179) situierte in Causa et curae den Teufel in der Pflanze, die aber durchaus nicht nur zum Schlechten, sondern auch zum Guten (gegen Begehrlichkeit und Schwermütigkeit) zu nutzen sei. Agnos (Vitex agnus castus/Mönchspfeffer) ist in der Antike Symbol der keuschen Ehe und wurde schon von Dioskurides als Anaphrodisiakum beschrieben, weshalb es in vielen Klostergärten des Mittelalters vorhanden war. Das Überwältigende und Orientierungslose des dunklen, weglosen Waldes (Augustinus: Silva Daemonum) hatte ebenfalls dämonisches Potential, das oft ausgedrückt wurde durch Rankenmotive, die alles überwuchern und umschlingen.

1.2.3.5 Tiere Ambivalent in ihrer Charakterisierung und Symbolisierung sind auch viele Tiere. Der Löwe ist Königssymbol und apotropäisches Zeichen an den Portalen der Kirchen, aber auch Symbol schrecklicher, gottfeindlicher Mächte (Daniel in der  Man weiß bis heute nicht, welches Gewächs damit gemeint ist, was Konrat Ziegler zu der für das Lexikon der Antike ungewohnt sarkastischen Bemerkung brachte, es sei ein „prinzipiell ebenso aussichtsloses Beginnen, wie wenn man das Haus der sieben Zwerge lokalisieren wollte“. Ders., Art.: Moly, in: Der Kleine Pauly, Bd. 3, Sp. 1403.

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Löwengrube), der Stadt Babylon, die die Unschuldigen tötet und Gegenbild zur Kirche ist. Die Motive von Löwenkampf wie Drachenkampf sind zu verstehen als bildliche Spiegelungen der Daseinskämpfe des mittelalterlichen Gläubigen.⁴⁷ Der Fisch steht für den Tod (Jona und der Wal) und den Teufel (siehe Fischreiter).⁴⁸ Vögel können böse Geister darstellen, die Früchte oder Trauben (Verweis auf Wein, Symbol für Christi Blut) fressen und damit das Verschlungenwerden durch das Böse andeuten. Besonders ambivalent ist die Schlange, die als sich in den Schwanz beißendes Tier Uroboros Symbol des vollendeten Werkes ist und für die Einheit der Materie und die Ewigkeit steht. Vor allem im Christentum wird sie aber stark mit dem Teuflischen und Dämonischen verbunden (siehe Sündenfall, Apokalyptisches Weib). Die Dämonie der wilden Tiere konnte in antiker Vorstellung allein Orpheus durch sein Spiel in eine kosmische Harmonie verwandeln; im Christentum übernahm Christus diese Rolle.

1.2.3.6 Der Mensch Auch der Mensch wird mit tierischen Zügen dämonisiert, oder einzelne Personen werden als dämonisch gedeutet, z. B. Alexander der Große, dessen Himmelfahrt/ Apotheose im Christentum als menschliche Überheblichkeit gedeutet wird, oder Nimrod, erster König der Welt und wilder Jäger, der in Dantes Divina Comedia (um 1320) als einer der Riesen, die den Höllengrund bewachen, dargestellt wird. Simon Magus als von Dämonen besessener Mensch gilt als erster Häretiker der Kirchengeschichte. Sein Sturz findet sich z. B. auf einem Kapitell (1. Hälfte des 12. Jh.) in der Kirche von St. Lazare in Autun dargestellt.⁴⁹

Exkurs: „Das Weib verhält sich zum Mann wie das Unvollkommene und Defekte zum Vollkommenen“ (Thomas von Aquin): Dämon Frau – Eva – Lilith Zum Kreis der prominenten menschlichen Dämonen gehörte im Mittelalter auch die Frau. Grundlage war die theologische Interpretation, dass es Eva war, die mit dem Sündenfall die Sünde in die Welt gebracht hatte und die in Genesis 1,27 grund-

 Ebenso ambivalent sind auch Tiger, Panther, Stier, Bär, Affe und Schwein.  In stilisierter Form steht der Fisch aber auch für das Christussymbol ICHTHYS.  Abbildung: http://www.akg-images.de/archive/-2UMDHUNSCSCS.html.

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gelegte Vorstellung von der Ungleichheit der Geschlechter.⁵⁰ Misogyne Tendenzen in Verbindung mit lückenhafter Bildung bei kirchlichen Würdenträgern führten zu stellenweise abstrusen Vorstellungen. Auf der Synode von Macon 585 wurde unter anderem auch die Frage eines Bischofs diskutiert, „ob Frauen bei der Wiederauferstehung des Fleisches nicht erst in Männer verwandelt werden müßten, bevor sie das Paradies betreten könnten“.⁵¹ Diese Frage, die auf der Übersetzung und dem Gebrauch des Begriffes ‚homo‘ als nur ‚Mann‘, und nicht auch ‚Mensch‘, bedeutend beruhte, wurde von der Synode schließlich verneint.⁵² In der theologischen Interpretation war es Eva, die mit einer zweifachen Sünde und Schwäche die Erbsünde in die Welt gebracht hatte: sie hatte sich verführen lassen (von der Schlange) und hatte ihrerseits wieder verführt (Adam). Die Dämonie Evas wurde von den meisten Theologen der Zeit auf die Frau an sich übertragen. In der Ikonographie des Sündenfalls wird dies ausgedrückt, indem zunehmend nicht mehr die Schlange als Akteur gezeigt wird, sondern Eva, und zwar nicht mehr in Menschengestalt, sondern als Wesen aus menschlichem Oberkörper und Vogelkörper, also als Sirene, ergo als Dämon. Eva wird zur Schlange. Der Hl. Petrus Damiani, Kardinalbischof von Ostia (1006 – 1072), bezeichnete Frauen in einem Brief an Bischof Kunibert von Turin (1046 – 1082) als „Lockspeise des Satans, Auswurf des Paradieses, Gift der Geister, Schwert der Seelen, Wolfsmilch für die Trinkenden, Gift für die Essenden, Quelle der Sünde, Anlaß des Verderbens, Eulen, Nachtkäuze, Wölfinnen, Blutegel, Metzen, Buhlerinnen, Lustdirnen und Suhlplätze fetter Säue.“⁵³ Heinrich Kramers Hexenhammer (Malleus maleficarum) von 1486 schließlich definierte die Frau als Verkörperung des Bösen. „Klein ist jede Bosheit gegen die Bosheit des Weibes“ und: „Ihr Name ist der Tod. Denn mag auch der Teufel Eva zur Sünde verführt haben, so hat doch Eva Adam verleitet. Und wie die Sünde der Eva uns weder leiblichen noch seelischen Tod gebracht hätte, wenn nicht in Adam die Schuld gefolgt wäre, wozu Eva und nicht der Teufel ihn verleitete, deshalb ist sie bitterer als der Tod.“⁵⁴ Damit ist die theologische Grundlage gelegt für die Darstellung der Eva als Sirenen-Dämon, denn nicht der Teufel brachte nach der Interpretation des Hexenhammers die Erbsünde in die Welt, sondern Eva.

    

„Als Abbild Gottes schuf er ihn. / Als Mann und Frau schuf er sie.“ Gen 1,27. Vgl. Metternich, Teufel, Geister und Dämonen, 94. Gregor von Tours, Historiae, VIII, 20. Metternich, Teufel, Geister und Dämonen, 94. A.a.O., 95.

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Es ist aber nicht nur Eva, die dämonisiert wurde, sondern auch die mythische erste Frau Adams, Lilith,⁵⁵ die nicht aus seiner Rippe geschaffen wurde, sondern als gleichberechtigte Partnerin aus derselben Erde. Da Lilith sich Adam aber nicht unterordnen wollte, entstand in der Folge eine Konkurrenz, vor allem in der Sexualität, da beide darauf bestanden, bei der Vereinigung oben zu liegen. Weil keiner nachgeben wollte, verließ Lilith das Paradies. Dabei beging sie einen Tabubruch, indem sie den geheimen Namen Gottes aussprach. Dieser war aber offenbar dennoch von ihr beeindruckt, denn er schickte Engel aus, die sie zur Umkehr bewegen sollten. Lilith ließ sich jedoch nicht umstimmen und wurde schließlich zur Herrscherin über die Nacht. In einer anderen Version brachte Lilith Gott dazu, ihr seinen heiligen Namen zu verraten. Der Name verlieh ihr unbegrenzte Macht. Lilith verlangte von Gott Flügel und flog davon.⁵⁶ Die Motive der Zuordnung zur Nacht und die Flügel machen ihre Dämonisierung motivisch fassbar.⁵⁷ In der christlichen Kunst wird Lilith als Mischwesen von Frau und Schlange dargestellt und verschmilzt zunehmend mit der Schlange im Paradies; siehe z. B. die Darstellung des Sündenfalls (‚Das irdische Paradies‘) in den Très Riches Heures der Gebrüder Limburg für Jean de France, Duc de Berry, 1410 – 16, fol. 25.⁵⁸ Beim Motiv des Sündenfalls stehen Adam und Eva zunächst für zwei „Grundkräfte der Seele“,⁵⁹ die Vernunft (Adam) und das sinnliche Strebevermögen (Eva). „Die Vernunft kann durch eine Versuchung nicht unmittelbar angegriffen werden, sondern nur durch das sinnliche Strebevermögen“,⁶⁰ das wiederum auf die Einflüsterung der Versuchung reagiert. Daher nimmt Adam die Frucht aus der Hand Evas, weil er nicht direkt vom Teufel versucht werden kann, aber durch Eva; Eva reagiert auf die ‚suggestio‘ der Schlange und reicht Adam die

 Lilith, Li-Li-Th hebräisch für: ‚die Nächtliche‘. Die Figur der Lilith ist zunächst als sumerische Göttin fassbar. In der mittelalterlich-jüdischen Theologie wird sie dann als böser Dämon interpretiert.  Die heutige jüdisch-feministische Theologie interpretiert ihre Darstellung im Midrasch als eine Frau, die sich nicht Gottes, sondern Adams Herrschaft entzieht und im Gegensatz zu Eva resistent gegen den Teufel ist. Sie symbolisiert positiv die gelehrte, starke Frau.  In der Astronomie bezeichnet ‚Lilit‘ den leeren, zweiten Brennpunkt der elliptischen Mondbahn, den sog. dunklen oder schwarzen Mond. Der andere Brennpunkt ist die Erde. Als Schwarzmond wird auch der Neumond bezeichnet. ‚Schwarzmond‘ verkörpert die andere Seite der Weiblichkeit, die unsichtbar, eben dunkel bleibt, die ungebunden, urtümlich ist. Sie gibt nicht nur Leben, sondern ist auch Todesbringerin, Trägerin von Schmerz und Entbehrung. Vgl. I. Goldstein-Jacobson, The Dark Moon – Lilith in Astrology, Pasadena, CA 1961.  Musée Condé, Chantilly.  Schade, Dämonen und Monstren, 64.  Ebd.

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Frucht. Nach Rabanus Maurus setzt sich die Sünde aus drei Schritten zusammen: der Einflüsterung (Schlange), der sinnlichen Lust (Eva) und der Zustimmung des Verstandes (Adam).

1.2.3.7 Masken Masken als die eigentliche Identität verschleiernde und andere Identitäten vorspiegelnde Gesichtsabdeckungen sind Motive, die aus der antiken Kunst übernommen, im Mittelalter für so verschiedene Dinge stehen wie Winde, Seelen oder Dämonen. Das Maskenmotiv symbolisiert die Doppelbödigkeit des Daseins. Hinter der Maske beginnt die Unterwelt, Masken mit weit aufgerissenen Mäulern bilden die Pforte zur Hölle, die leere Maske kann der Teufel selber sein.

1.2.3.8 Farben des Dämonischen Den Dämonen und Satan sind auch Symbolfarben zugeordnet.⁶¹ Schwarz ist eine farbliche Zuweisung für Gegengötter/Antigötter, die sich durch viele Kulturen und Religionen zieht, und so ist Satan auch Schwarz zugeordnet. Satan, der sich von Gott, dem Licht, abgewandt hat, wird Gegenteil des Lichtes, nämlich die Finsternis, die schwarz ist. Ebenso sind seine Diener, die Dämonen, schwarz. Schon in der griechischen Mythologie ist Schwarz die Farbe der Unterwelt (Charon, der schwarze Mann). Sie ist Symbolfarbe des Schrecklichen, Bösen, Lasterhaften, Gefährlichen, des Neides, der Lüge. Im sog. Barnabas-Brief (1. oder 2. Jahrhundert n.Chr.) steht Schwarz synonym für das Böse. Ab ca. 1000 wurde Schwarz als Unterwelt-, Dämonen- und Teufelsfarbe zunehmend um dunkle Farben bereichert, v. a. Rotbraun und Schwarzbraun. Aber auch Dunkelblau oder Blaugrau sind Dämonenfarben, denn sie verweisen auf Dämmerung und Nacht ohne Mond und ohne Licht, auf das Nichts und auf Verwesung. Blau war in der Antike die Farbe der Luft und galt als dem Schwarz benachbarte Farbe. Vor allem Paulus’ Aussage vom Satan als Fürst des Luftraumes⁶² sorgte für die Übernahme des ‚Dämonenblau‘ in die christliche Ikonographie. In Byzanz wurde das Dämonenblau der Luft und der Nacht oft abgewandelt in ein dunkles Violett.

 Vgl. A. Rosenberg, Engel und Dämonen. Gestaltwandel eines Urbildes, München 1986, 186 – 188.  Vgl. Eph 2,2.

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Grün, eigentlich eine positive und mit Leben und Wachstum konnotierte Farbe, kann auch negativ als Dämonenfarbe definiert sein, wenn es ein Giftgrün (wie Grünspan) ist und damit Verwesung andeutet.⁶³

1.2.3.9 Versuchung – Kampf – Sturz Grundlegende Bildmotive des Dämonischen als Teil einer mittelalterlichen Lebensrealität sind Kampfmotive bzw. den Sieg des Guten ausdrückende Sturz- (des Dämonischen und Bösen) und Versuchungsmotive. Sie spiegeln die menschliche (und auch göttliche) Lebensrealität des Versucht-Werdens, die Auseinandersetzung damit im Kampf und das erhoffte Ideal des Sieges und damit verbunden die Vertreibung, Verstoßung bzw. den Sturz des Dämonischen und Bösen in einen abgegrenzten (gesicherten?) Bereich. Mit dem Begriff des Höllensturzes werden mitunter drei verschiedene Einzelmotive bezeichnet: der Engelssturz, der Sieg über den Drachen in der Apokalypse und der Höllensturz der Verdammten beim Jüngsten Gericht. Am Anfang steht mit dem ‚Engelsturz‘ der Sieg über die gefallenen Engel, ihre Vertreibung aus dem Himmel und ihr Sturz in die Hölle. Dargestellt werden die gefallenen Engel in der Regel als ins Schreckliche oder Phantastische mutierende (Engels‐)Gestalten, als Teufel und im Falle von Luzifer auch in der Gestalt eines Drachen. Diese werden vom Hl. Erzengel Michael und den himmlischen Engelsscharen bekämpft und besiegt (z. B. Raffael, ‚Michael im Kampf mit dem Drachen‘, um 1505, Florenz Uffizien; Albrecht Dürer, ‚Höllensturz‘, Holzschnitt, um 1497/98; siehe auch Gustave Dorè, ‚Der Sturz Luzifers‘ [nach John Miltons Paradise Lost] 1866). In der Offenbarung des Johannes wird die ‚Apokalyptische Frau‘ beschrieben, die vor einem siebenköpfigen Drachen in die Wüste flieht, um ihr Kind zu gebären. Gegen diesen Drachen kämpft der Hl. Erzengel Michael mit seinen Engelsscharen. Der Drache steht für Luzifer, die Frau wird zunächst als Symbol der Kirche verstanden, bevor sie im Mittelalter mit der Madonna identifiziert wird und in der Renaissance zur Immaculata (Mondsichelmadonna) wird (Jean Fouquet, ‚Kampf des Erzengels Michael mit dem Drachen‘).⁶⁴ Drittes Motiv ist der Höllensturz der Verdammten in Darstellungen des Jüngsten Gerichts, in denen die Teufel und Dämonen mitunter auch zu drachenartigen Ungeheuern mutieren können. Auch hier tritt der Hl. Erzengel Mi-

 Joris-Karl Huysmans beschrieb dieses Grün als Zeichen des moralischen Abstiegs, der Verzweiflung. Vgl. Rosenberg, Engel und Dämonen, 188.  Jean Fouquet, Kampf des Erzengels Michael mit dem Drachen, Miniatur, Stundenbuch des Etienne Chevalier, um 1450, Sammlung Lord Bearsted, Upton House, London.

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chael in seiner Rolle als Seelenwäger und/oder Bekämpfer der Teufel und Drachen auf (Hans Memling, ‚Das Jüngste Gericht‘, um 1470). In vielen der bildlichen Umsetzungen dieser drei Topoi findet sich also eines der universalsten dämonischen Motive wieder: der Drachenkampf. Der Drache als Mischwesen aus Schlange, Echse, Vogel, Löwe etc. ist in vielen Mythen Symbol von „gottfeindlichen Ur-Mächten“,⁶⁵ die überwunden werden müssen. Drachenkampfmotive kennen die meisten Kulturen: Indra kämpft mit Vritra, Herkules mit der Hydra, Zeus mit Typhon, Siegfried mit dem Lindwurm, der Hl. Georg oder der Hl. Erzengel Michael mit dem Drachen/Luzifer. Im Alten Testament steht er für das Chaos, das die Schöpfung bedroht, in der Apokalypse ist er Symbol des Satans, der die Frau/Kirche verfolgt. Er bewohnt das Weltmeer bzw. bildet den Rand der Welt (Leviathan, Midgardschlange). In der mittelalterlichen Malerei und der Graphik werden neben Motiven wie Engelssturz und Jüngstem Gericht auch Höllenszenen häufiger dargestellt, meistens als Teil dieser Motive, seltener als singuläre Bildmotive. Jüngstes Gericht und Hölle sind auf religiöser und mythischer Ebene als Orte zu verstehen, die die geschichtlichen als auch menschlich-individuellen Erfahrungen des Bösen verorten bzw. einen notwendigen Akt der Scheidung des Guten vom Bösen thematisieren und auf die Unvereinbarkeit von Gut und Böse verweisen. Höllendarstellungen sind in der Regel als visionär und in Analogien ausgedrückte Bilder zu verstehen (Tympanon, St. Pierre, Beaulieu). Auf vielen frühmittelalterlichen Darstellungen wird die Hölle mittels übernommener antiker Motive ‚ausgestattet‘. Darstellungen von Höllenhunden gehen auf den antiken Cerberus zurück, ebenso werden Typhon, die Hydra und der Greif als höllische Ungeheuer ‚weiterverarbeitet‘. ‚Hölle‘ wird auch durch ihr Charakteristikum ‚Feuer‘ dargestellt – in der Architekturskulptur oft durch ein ornamentales (Blatt‐)Rad, als Symbol des Feuers und damit Gegenbild zum Lichtsymbol der mittelalterlichen Fensterrosen.⁶⁶ Die Versuchung durch Dämonen, die Sünde, die Laster oder den Teufel ist ein analogisch zu lesendes Motiv: so wie Christus sie besiegt hat, so müssen auch die Menschen oder die Heiligen (z. B. der Hl. Antonius) sie besiegen. Grundlegender Akt der Befreiung vom Dämonischen ist die Taufe. Dennoch muss sich der Mensch lebenslang gegen die Sünden und Laster wehren. Im Kontext der Versuchung Christi durch den Teufel (Mt 4,1– 11) taucht im Mittelalter ein neues Motiv auf, das zum einen die Erzählung verdeutlicht, dass Christus vom Versucher an verschiedene Orte gebracht/getragen wurde (Wüste, Berg, Zinne des Tempels) und

 U. Becker, Art.: Drache, in: ders., Lexikon der Symbole, Freiburg 1992, 57 f.  Vgl. Schade, Dämonen und Monstren, 76.

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dass der Zustand des Versucht-Werdens das Sein des Menschen/Christi auch labil und schwankend macht: die Drachenschaukel. Auf einem Kapitell in der Kirche St. Martin de Plaimpied (Ende 11./Anfang 12. Jahrhundert) sitzt Christus auf einer Schaukel, die zwei Drachen mit ihren Schwänzen gebildet haben, während sich ihm zwei Teufel von beiden Seiten nähern. Die ausgebreiteten Arme, mit dem Segensgestus der einen und einem Buch in der anderen Hand erinnern eher an ein Bemühen um Gleichgewicht als an die Pose des Pantokrators. Das Buch, nach Rabanus Maurus als die Gegenwart Gottes zu deuten, ist das, was der Versuchung entgegengesetzt wird.⁶⁷

1.2.4 Spätmittelalter und Renaissance Bedeutende Dämonen-Darstellungen finden sich wieder im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Hier ist es aber nicht eine allgemeine Entwicklung, ein zeitgebundenes Kunstphänomen, sondern eher eine individuelle thematische Ausrichtung im Werk weniger Künstler, vor allem bei Hieronymus Bosch und Pieter Breughel d.Ä. Um 1500 tritt mit verschiedenen Versuchungsmotiven vermehrt das Thema der freien Willensentscheidung des Menschen zwischen Gut und Böse auf. Häufig findet sich die Darstellung der Versuchung des Hl. Antonius. Antonius Eremita († 356), ein in der ägyptischen Wüste lebender asketischer Heiliger, wurde vom Satan durch Trugbilder versucht, die ihm entgangene Lebensfreuden wie familiäre Geborgenheit, Erotik und Sexualität, Reichtum vorgaukelten, und von Dämonen gepeinigt, die ihn auf das Unerträglichste quälten, verprügelten, verletzten.⁶⁸ In der bildlichen Darstellung z. B. in der Version von Hieronymus Bosch⁶⁹ tauchen neben den lasziven und bedrohlichen Frauengestalten und den furchteinflößenden Dämonen aber auch ihn bedrängende seltsame Mischwesen auf, die Wirklichkeit und Alp- oder Wunschtraum in einer ruinösen Kulisse zu einem bizarren Wechselspiel von Schein und Sein werden lassen. Antonius gilt als Überwinder dieser Versuchungen. Die Versuchung des Heiligen durch Schönheit und Reichtum ist ein aktuelles Thema geblieben – für den Künstler als Zeichen für die auf ihn einstürmenden Intuitionen und für den modernen Menschen als Symbol der Auseinandersetzung mit seinen eigenen Ansprüchen und der Wirklichkeit. In  Vgl. a.a.O., 69. Vgl. auch: N. Stratford, Le Chapiteau de la Tentation du Christ à Plaimpied revisité, in: Bulletin monumentale, 173 – 4 (2015), 307– 331.  Vgl. Athanasios von Alexandria, Vita Antonii, ca. 360.  Triptychon 1505/10, Lissabon, Museu de Arte Antiga. Vgl. auch Matthias Grünewald, Versuchung des Hl. Antonius, Isenheimer Altar, 1506 – 15, Colmar, Musée Unterlinden.

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den Arbeiten von Hieronymus Bosch (1450 – 1516) bekommt der dämonische Mischwesencharakter eine geradezu surreale Qualität – hier wird auf das Augenfälligste die göttliche Ordnung in Frage gestellt. Seine ‚Versuchung des Hl. Antonius‘ oder ‚Der Garten der Lüste‘ (um 1500, Prado, Madrid) konfrontiert den Betrachter mit Auflösung und Verkehrung aller verlässlichen Wahrheiten und Realitäten.

1.2.5 Manierismus und Barock In der Phase des Manierismus in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts tauchen wieder vermehrt Dämonenmotive in der Kunst auf. Im Barock sind sie Teil der v. a. gegenreformatorisch geprägten Bildprogramme; Kampf- und Gerichtsmotive (Engelssturz, Höllensturz der Verdammten, Jüngstes Gericht) unterstützen bildgewaltig die katholische Doktrin. Im Werk Peter Paul Rubens (1577– 1640) finden sich beispielsweise ‚Großes Jüngstes Gericht‘ (1617), der ‚Engelssturz‘ (1621), ‚Das apokalyptische Weib‘ (1621) oder der ‚Höllensturz der Verdammten‘ (1621).⁷⁰

1.2.6 Spätes 18. und frühes 19. Jahrhundert: (Schwarze) Romantik Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts werden die dämonischen Motive – im Zuge einer Subjektivierung der Kunst – wieder Thema v. a. bei Francisco de Goya, William Hogarth, William Blake, Giovanni Piranesi und Johann Heinrich Füssli. Die ‚Schwarze Romantik‘ als Geisteshaltung thematisiert individuelle Ängste aus Träumen und politischer und sozialer Zeiterfahrung. Auffällig ist, dass sich zunächst die Charakterisierungen von Engel und Teufel verändern. Literarisch grundgelegt in John Miltons Paradise Lost (London 1667) wird im 19. Jahrhundert der gestürzte Engel/Satan zu einer offensichtlich faszinierenden Gestalt: in seinen Verbildlichungen wird er häufig heroisch und mit einer erhalten gebliebenen Engelsschönheit dargestellt. Bereits im späten 18. Jahrhundert wurde Miltons Satan von vielen verstanden als „Vorbild und Verherrlichung der revolutionären Gesinnung und des revolutionären Handelns […]. So wandelt sich allmählich die Gestalt Satans zum Archetypus des von Tyrannen unterdrückten freien Menschen, als Rechtfertigung des am Ende des 18. Jahrhunderts so beliebten Typus des großherzigen Banditen und des edlen

 Alle: Alte Pinakothek, München.

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Verbrechers.“⁷¹ In der Tradition Miltons gestaltet William Blake (1757– 1827) in seiner Radierfolge ‚The Marriage of Heaven and Hell‘ (1790) die Figur Satans als moralischen und politischen Befreier.⁷² Gleichzeitig verändert sich die Charakterisierung der Engel in der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts mit dem Bedeutungszuwachs des Traumes als Ausdruck einer vom Verstand unbeeinflussten Poesie und Mythologie. Der Engel wurde vom Mittler zwischen Gott und den Menschen zu einer „Gestalt der Innerlichkeit, (zu einem) Mischwesen aus Traum und Mythos“.⁷³ Johann Heinrich Füssli (1741– 1825) gehörte ebenfalls zu den Künstlern, die von Miltons Charakterisierung beeinflußt waren (siehe z. B. seine ‚Milton-Galerie‘, 1791– 1800). Er zeigte die Figuren von Satan nie entmachtet und die von Jesus nie als Überwinder des Satans. Füssli stellte Satan ambivalent dar als „Genius der Freiheit und schöpferischen Kraft“, aber auch als „Urheber des Leidens und der Verderbnis“⁷⁴ (siehe ‚Satan und Tod, von der Sünde getrennt‘, 1792/1802, Neue Pinakothek, München). In Francisco de Goyas (1746 – 1828) ‚Caprichos‘ (1793 – 1799)⁷⁵ wird der Dämon zu einem Produkt einer im Traum entfesselten menschlichen Phantasie, die ihre eigene Bösartigkeit in die Figur des Dämons projiziert. Goya stellt hier das (Alp‐) Traumhafte dar, die Zeit, wenn die Vernunft schläft⁷⁶ und in den Träumen die Dämonen freies Feld haben. Es ist in der Essenz eine Anklage des Menschen und seines Verhaltens, gegen seine Mitmenschen, gegen Unmenschlichkeit, Dummheit, Triebhaftigkeit, Eitelkeit etc. In der späten Romantik wird das Dämonische trivialisiert und die Dämonen mutieren zu ‚geheimnisvoll-freundlichen‘ Märchenwesen (z. B. Rübezahl als Berggeist des Riesengebirges) oder aber verbildlichen in z.T. neuen Formen angstbesetzte Themen des Menschen wie Träume, Visionen oder Ängste.

 Rosenberg, Engel und Dämonen, 280.  In Blakes Interpretation ist der Aufstand Satans gegen Gott gerechtfertigt, weil er sich in diesem Gott gegen den tyrannischen Usurpator Elohim wendet und nicht gegen den guten UrGott, dem Elohim die Schöpfung weggenommen hat, um sie mit dem System seiner erbarmungslosen Gesetze zu fesseln. Vgl. Rosenberg, Engel und Dämonen, 282.  A.a.O., 287.  A.a.O., 283.  Goya wollte diese Serie ursprünglich als ‚Suenos‘ – ‚Träume‘ bezeichnen, was zum einen ihren traumhaften Charakter bezeichnen kann, sich aber auch auf Francisco Gómez de Quevedo y Villegas Suenos (1627) beziehen kann, eine 1606 verfasste Sammlung von Satiren, die aber erst 1627 veröffentlicht wurden. Diese Suenos wurden z. B. von Leonaert Braemer illustriert.  Vgl. Francisco de Goya, Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, Los Caprichos, 1793 – 1799, Radierung, 80 Blätter, Blatt Nr. 43.

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Der Symbolismus des späten 19. Jahrhunderts thematisiert wieder vermehrt das Dämonische. Objekte der realen Welt versteht er zunehmend als Spiegelungen einer höheren, geheimnisvollen Wirklichkeit. Bevorzugte Motive wurden Symbole oder mythische Narrative. Das Motiv der verhängnisvollen Frau (‚Femme fatale‘) taucht im 19. Jahrhundert in verschiedenster Form auf: literarisch z. B. in Heinrich Heines Lore-Ley (1824), Oscar Wildes Salome (1891) oder Frank Wedekinds Lulu (1913). In der Musik begegnet sie in Georges Bizets Oper ‚Carmen‘ (1875) oder Richard Strauss’ Oper ‚Salome‘ (1905). Neben Gustave Moreaus Engelsdarstellungen, die stille, poetisch-traumhafte, verklärte Wesen zeigen, die scheinbar ohne Auftrag in Schönheit und Reglosigkeit verharren, finden sich auch Varianten der bösen und dämonischen Frau wie die moderne Femme fatale, aber auch alte Motive wie Dalila, Helena, Circe und die Sphinx. Die Femme fatale, die Alain Chartrier und dann John Keats als ‚Belle dame sans merci‘⁷⁷ umschrieben haben, ist ambivalent, sie vereint Verführerisches mit Magisch-Dämonischem, sie verspricht dem Mann Liebeserfüllung, untergräbt aber gleichzeitig seine Moral; sie ist manipulativ und verweist in ihrer Ausdeutung als ‚Vamp‘ auf ihre Verwandtschaft zur Vampirmythologie. Der belgische Maler und Graphiker James Ensor (1860 – 1949) gilt heute als Vorläufer des Expressionismus und Surrealismus im 20. Jahrhundert. Ensor stellte häufig bizarre und tendenziell unheimliche Sujets dar, wie Skelette, die um einen Gehängten kämpfen (‚Skelette kämpfen um einen Gehängten‘, 1891). Wiederkehrende Topoi sind Puppen, Karnevalsmotive und v. a. Masken. Ab den 1890er Jahren wandte sich Ensor – obwohl Atheist – religiösen Themen zu, mit denen er seinen Abscheu über die Unmenschlichkeit in der Welt transportierte. Dämonenmotive resultierten häufig aus seinen unheimlichen Kindheitserfahrungen.⁷⁸ Motive des Phantastischen, Exotischen und Karnevalesken wurden wahrscheinlich angeregt durch die Karnevalsartikel, die seine Mutter in einem eigenen Laden verkaufte, sowie durch die vielen, für ein Kind wundersamen Gegenstände wie Muscheln oder exotische Masken auf dem Speicher seines Großvaters. Im Werk Ensors belebt sich das Dämonische während das Menschliche erstarrt. Seine Angst vor dem Zugriff des Bösen auf das Individuum drückte er in zahlreichen Gemälden und Graphiken aus. Die Übermacht des Grotesken und Dämonischen wird in seinem aufwändigsten Bild ‚Christi Einzug in Brüssel 1889‘ als auch in Radierungen wie ‚Die Teufel verprügeln die Engel und Erzengel‘ deutlich. Hier

 Vgl. J. Keats, La belle dame sans merci, 1819.  Als er als Kleinkind nachts in seiner Wiege lag, sei einmal ein großer Seevogel, vom Licht im Zimmer angelockt, in sein Zimmer geflogen und habe an die Wiege gestoßen. Vgl. Rosenberg, Engel und Dämonen, 304.

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siegen die Dämonen, stellenweise in all ihrer grotesken Trivialität, über die himmlischen Mächte.

1.2.7 Das 20. Jahrhundert In der Kunst des späten 19. und 20. Jahrhunderts verändert sich die qualitative Wertigkeit der Darstellung. Das Dämonische wird häufig allein, ohne seine positive, polare Entsprechung dargestellt, d. h. es geht oftmals nicht mehr um das Motiv von Kampf oder Balance, sondern das Dämonische und/oder Böse wird eigenständiges Thema. Manchmal fokussieren die Darstellungen das Schillernde, Unheimliche, Erschreckende, Aufgewühlte, manchmal geht es bis zum Abgründigen, Dunklen und Perversen. Das Unbewusste, Unheimliche, Halluzinatorische, Phantastische und Dämonische sind grundlegende Motivfelder des Surrealismus,⁷⁹ einer Kunstrichtung und Lebenshaltung, die ab ca. 1921 in Paris entstand und davon ausging, dass es keine objektive Wirklichkeit geben kann. Surrealistische Kunst versucht – im Unterschied zu Jahrhunderten europäischer Kunstentwicklung –, das ‚NichtWirkliche‘ darzustellen im Rekurs auf Traum, Halluzination, Psychoanalyse. Ziel war auch die (eigentlich unmögliche) Ausschaltung des menschlichen Verstandes bei der kreativen Produktion (siehe ‚ecriture automatique‘). Dämonenmotive in moderner Interpretation finden sich z. B. in Max Ernsts (1891– 1976) ‚Der Hausengel‘, 1937 (Pinakothek der Moderne, München), wo ein chimärenartiger Dämon als Symbol des spanischen Faschismus über eine leere Erde (Spanien) tobt. Dämonisches taucht aber auch im Werk einzelner Künstlerpersönlichkeiten auf wie z. B. bei Pablo Picasso (1881– 1973), der v. a. viele antike Dämonengestalten neu belebt hat – wie Kentauer, Sphinx, Faun und Sirene. Wahrscheinlich unter dem Einfluss des Spanischen Bürgerkriegs tauchen in den 1930er Jahren viele Motive des Dämonischen und Monsterhaften in seinem Werk auf. Die bekannteste seiner Dämonengestalten ist der Minotaurus, der als archaischer Dämon der verschlingenden Finsternis hier zu einer Teufelsgestalt und einem Sinnbild des Dämonischen in seiner Zeit mutiert. Ebenso findet sich die Figur des Minotaurus aber auch im Kontext von Darstellungen des Rausch- und Triebhaften bzw. dort, wo Picasso sich mit der Ambivalenz der menschlichen Existenz und ihren Sehnsüchten auseinandersetzt (‚La Minotauromachie‘, 1935).

 Vgl. Schade, Dämonen und Monstren, 82.

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Im Werk des Graphikers Alfred Kubin (1877– 1959), v. a. in der frühen mystisch-dämonischen Phase um 1900 – 1905, werden die Einflüsse der Künstler spürbar, die sich während 500 Jahren mit dämonischen Motiven auseinandergesetzt haben: der Bogen reicht von Pieter Breughel d. Ä., Albrecht Dürer, Hieronymus Bosch über Francisco de Goya und Johann Heinrich Füssli zu James Ensor, Egon Schiele, Edvard Munch und Max Beckmann (Abb. 1).⁸⁰

1.3 Fazit Die Funktionen der Verbildlichung der Dämonen sind vielfältig: sie können sakral, exorzistisch, apotropäisch, symbolisch, episch, pädagogisch, satirisch oder humoristisch sein. „Dämonenbilder und -sagen stehen im Zusammenhang mit der sozialen Realität ihrer Zeit“.⁸¹ Sie können als Chiffrierungen bestimmter menschlicher Situationen gelesen werden oder thematisieren Normabweichungen. Lutz Röhrich sieht in den Dämonenfiguren auch „Wahrer von bestimmten Verhaltensnormen einer noch unaufgeklärten Gesellschaft“.⁸² Mythische Bilder und Narrative sind zu verstehen als Synthetisierung von Erfahrungen aus religiösen Offenbarungen und realer Lebenswirklichkeit in einem anschaulichen und anschaubaren (ikonographischen) System. Strukturell betrachtet sind Dämonenbilder entweder Kunstwerke mit ästhetischen Qualitäten, religiöse Symbole, Bildschöpfungen nach patristischen Quellen, Mythenmotive, morphologische Entitäten oder Darstellungen von Archetypen der Seele. Sie ermöglichen die Darstellung des Imaginären. Die bildliche Darstellung des abstrakten Konzepts des Dämonischen hat seit der Antike eine überaus umfangreiche und differenzierte Ikonographie hervorgebracht, die in verschiedenen historischen, gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Kontexten die Narrative und Motive den aktuellen Anforderungen und Bedürfnissen entsprechend variiert und anpasst.

 Graphische Werke all dieser Künstler befanden sich in Kubins eigner Graphik-Sammlung. 1909 schrieb Kubin den phantastischen Roman Die andere Seite.  Vgl. L. Röhrich, Art.: Dämon, in: K. Ranke u. a. (Hg.), Enzyklopädie des Märchens – Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Berlin 1977– 2015, 15 Bde., Bd. 3, Sp. 223 – 237, hier Sp. 230.  Ebd. – „Zahlreiche ‚Warn- und Schreckmärchen‘ thematisieren das Gefressen-,Verschlungenund Vernichtetwerden durch Dämonen (‚Rotkäppchen‘, ‚Blaubart‘ u. a.) und werden als imaginatives Verarbeitungsmaterial von Ablöse- und Entwicklungskonflikten der Kindheit benutzt.“ Kirchschläger, Dämon, Sp. 6.

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Abb. 1 Alfred Kubin (1877 – 1959), Mein Dämon, 1899, Feder, schwarze Tusche, Staatliche Graphische Sammlung München, Inv-Nr. 46460 Z

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2 Paul Tillichs Auseinandersetzung mit dem Dämonischen in der Kunst In dem genannten Vortrag The Demonic in Art von 1956 versucht Tillich, in vier Kapiteln (Begriff, Ontologie, Psychologie und Theologie des Dämonischen) anhand von Beispielen der Malerei vom 15. bis zum 20. Jahrhundert seine Thesen zu Erscheinungsformen und Wirkweisen des Dämonischen zu erklären bzw. zu untermauern. Tillich bezeichnet seinen Vortrag selbst als „more conceptual than visual“,⁸³ deutet damit also primär illustrative Qualitäten der von ihm zitierten Kunstwerke an.⁸⁴

2.1 Zum Begriff des Dämonischen Tillich definiert das Dämonische als „metaphysische Perversion und nicht als ethischen Mangel“ und verankert „das Dämonische nicht in Gott selbst“.⁸⁵ Er beschreibt das Dämonische als ambivalent, als schöpferisch und zerstörerisch.⁸⁶ Grundlegend für die Auseinandersetzung mit dem Dämonischen ist für ihn zunächst die Unterscheidung zwischen Mythos und Konzept‚ wobei ‚Mythos/Mythe‘ für ihn die Vorstellung der durch die Luft fliegenden (realpräsenten) Dämonen ist. Die Unterscheidung sei notwendig durch die große Ausdruckskraft der bildlichen Darstellungen des Mythos. Zum einen seien Mythen nicht wortwörtlich zu verstehen, zum anderen seien sie aber wichtig aufgrund ihrer singulären Ausdruckskraft. Für Tillich kommt die eigentliche Ausdruckskraft des Dämonischen aus der mythologischen Bildsprache und Symbolik. Damit deutet er schon einen notwendigen – auch sozialpsychologischen – Handlungsmodus der Kultur an, nämlich die notwendige Übersetzung abstrakter und abstrakt erscheinender Konzepte in narrative (literarische oder bildliche) Formen. Den Bildkünsten weist

 Tillich, The Demonic in Art, 104.  Zu Tillichs Inkorporierung von Kunst in sein Konzept einer Theologie der Kunst und Kultur vgl. A. M. Opel, „Stil“ ist nicht gleich „Stil“: Das Unbehagen der Kunstwissenschaft mit Paul Tillichs ,Theologie der Kunstʻ, in: International Yearbook for Tillich Research, Bd. 9, Berlin 2014, 193 – 208; vgl. auch R. Re Manning, Theology at the end of culture: Paul Tillich’s theology of culture and art, Leuven 2005.  Vgl. W. Schüßler, „Form der Form-Widrigkeit“: Zu Paul Tillichs Begriff des Dämonischen, in: ders./C. Görgen, Gott und die Frage nach dem Bösen. Philosophische Spurensuche: Augustin – Scheler – Jaspers – Jonas – Tillich – Frankl, Münster 2011, 119 – 134, hier 121.  Vgl. dazu den Beitrag von Werner Schüßler und Christina Saal in diesem Band.

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Tillich die Verbildlichung des abstrakten Konzepts des Dämonischen in einer greifbaren und vom Menschen begreifbaren Form zu, die sich aus der menschlichen Lebenswirklichkeit speist: die fliegenden Monster, die sich aus Formen der realen Welt (Mensch, Tier etc.) zusammensetzen. Mit dem Verweis auf die Drei-Reiche-Theorie des Mythos (Himmel – Erde – Hölle, als Schauplätze der Auseinandersetzung von Gut und Böse bzw. dem Dämonischen) beschreibt er den Ort seiner folgenden Erörterungen. Diese drei Reiche seien konzeptuell betrachtet ein Reich, in dem die Mächte des Himmlischen und Dämonischen gegeneinander kämpfen; in mythischer Sicht und künstlerischer Umsetzung spiele sich der Kampf aber nur in zwei Bereichen ab – Himmel und Hölle. Die von ihm herangezogenen Bildbeispiele betrachtet er unter dem Aspekt, ob und wie sich in ihnen die Idee der drei Zonen/Reiche des Universums spiegele: Himmel/Gott – Erde (Mensch) – Dämonisches. Er sieht diese DreiSphären-Konstellation auf eine, nämlich den Menschen auf der Erde, verkürzt. Hier finde der Kampf des Göttlichen mit dem Dämonischen statt. Eine zentrale These Tillichs ist der Rückgriff in der bildlichen Darstellung auf den menschlichen Körper als Grundform sowohl für die Darstellung des Göttlichen als auch des Dämonischen. In Michelangelos Fresko des ,Jüngsten Gerichtsʻ in der Capella Sistina⁸⁷ konstatiert Tillich mehr als in anderen Darstellungen den (bildnerischen) Ausdruck einer Realitäts-Einheit(lichkeit): ausgehend von der Form des menschlichen Körpers sähen Menschen und Dämonen fast gleich aus, die dämonischen Kräfte wären kaum von den Menschen unterscheidbar. Darüber hinaus hält er Michelangelos Figur Christi für problematisch. Er argumentiert hier ähnlich wie andere Theologen, z. B. Eugen Biser. Es sei ein antiker Gott ohne Agape, ohne göttliche Liebe, nicht Richter über das Dämonische, sondern selber dämonisch, nicht der Christus, der am Kreuz für die Erlösung der Welt gestorben sei, sondern allein ein Richter-Gott, ähnlich vergleichbaren (heidnischen) Konzepten im Alten Ägypten oder im antiken Griechenland.⁸⁸ Michelangelo positioniert vor dem kontrastiven blauen Hintergrund des irrealen Universum-Raumes einen antikisch-heroischen Christus als Weltenherr-

 Vgl. Michelangelo Buonarotti, Jüngstes Gericht, ca. 1534– 41, Fresko, Capella Sistina, Apostolischer Palast, Vatikan-Stadt. Abbildung: https://de.wikipedia.org/wiki/Sixtinische_Kapelle#/ media/File:Michelangelo_Buonarroti_-_Il_Giudizio_Universale.jpg  Auch Eugen Biser argumentiert ähnlich, indem er Michelangelos Christus als Exponenten der am Übergang von Mittelalter zu Früher Neuzeit raumgreifenden Dies-Ira-Interpretation des Weltgerichtes charakterisiert. Biser bezeichnet sie als „eine grandiose Karikatur des Weltenrichters. […] Weiter als in dieser Schreckensfigur und ihrem Äquivalent in den Dies-Irae-Vertonungen von Berlioz und Verdi hat sich die Kunst wohl nie vom Geist des Evangeliums entfernt.“ E. Biser, Glaubensbekenntnis und Vaterunser – Eine Neuauslegung, Düsseldorf 2003, 109 f.

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scher im Mittelpunkt eines bewegten Kreisens, Steigens und Fallens von Figuren: Engeln, Heiligen, Auferstandenen, Verdammten, Dämonen. Im Unterschied zu anderen Weltgerichtsdarstellungen ist das Thronen seines Christus sehr dynamisiert, erinnert fast an ein Stehen oder Aufstehen vom Thron, was den offensiven Grundmodus der Darstellung unterstreicht. In heroisch-antikischer Nacktheit gegeben, vollzieht er kraftvoll den Gestus der erhobenen Rechten (für die Seite der Seligen) und gesenkten Linken (für die Seite der Verdammten). Die MichelangeloForschung begründet dies mit dem religionshistorischen Entstehungskontext des Werkes, das „sichtlich beeinflußt von der Behauptung der richterlichen Gewalt der katholischen Kirche“⁸⁹ sei. Michelangelos Interpretation ist die Öffnung der Auftraggebervorstellungen⁹⁰ ins „Allgemeinmenschliche, Überzeitliche und Utopische“.⁹¹ Da Tillich in seiner ‚Theologie der Kunst‘ die Kunst der Renaissance als eine der am wenigsten christlich-religiösen Kunstentwicklungen klassifiziert, passt diese Darstellung gut in seine Argumentation. Seine These, dass die dämonischen Kräfte durch ihre Menschenkörperlichkeit kaum noch von den Menschen zu unterscheiden seien, muss insofern eingeschränkt werden, als Michelangelo hier im System dämonischer Darstellungen seiner Zeit bleibt, indem er durch Mischwesenaspekte (gehörnte Köpfe, Tierschnauzen, etc.), Flügel oder dunkle Hautfarbe Dämonisches klar als solches kenntlich macht und darstellt. Jan van Eycks Diptychon der ‚Kreuzigung und des Jüngsten Gerichts‘⁹² reiht Tillich in diese These ein, da hier eine dritte Sphäre nicht zum Ausdruck komme, es sei ein Kampf zwischen oben und unten mit Menschen, die steigen oder fallen. Für Tillich kann die Bildende Kunst mit solchen Beispielen zeigen, dass auch die Hölle nur möglich ist durch die Schöpferkraft, die auch den Menschen und den menschlichen Körper geschaffen habe. Tillich beschreibt aber auch Grenzen des Darstellbaren. Die Bewohner in Darstellungen des Paradieses seien immer als überlegen, in einem Zustand ohne Leben oder Spannungen und daher ohne Dynamik charakterisiert, daher wirke das Paradies immer langweiliger als die Hölle. Kunst sei nicht in der Lage, in der Darstellung des christlichen Himmels/Paradieses die Erfüllung darzustellen, weil sie nicht bildlich transportieren könne, dass Erfüllung auch immer einen Teil

 Vgl. Art.: Michelangelo, in: L. Alscher u. a. (Hg.), Lexikon der Kunst, 5 Bde., Berlin 1983, Bd. 3, 306 – 308, hier 307.  Papst Clemens VII. (1478 – 1534), Papst Paul III. (1468 – 1549).  Alscher (Hg.), Lexikon der Kunst, 307.  Vgl. Jan van Eyck, Kreuzigung und Jüngstes Gericht, um 1430, Diptychon, New York, Metropolitan Museum. Abbildungen linker Flügel: http://www.zeno.org/nid/20004008936.

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Abb. 2 Francisco de Goya (1746 – 1828), Los desastros de la Guerra, 1810 – 14, Radierung, 82 Blätter, Blatt Nr. 15 ,Y no hai remedioʻ (,Und es gibt kein Heilmittelʻ), 1863 (Erstveröffentlichung), Staatliche Graphische Sammlung München, Inv.-Nr. 178827 – 18 D

Nicht-Erfüllung, also die Möglichkeit ihres Gegensatzes beinhalten muss, entweder als Erinnerung oder als Wirklichkeit. Diese Kritik Tillichs trifft sicher einen Nerv des modernen Menschen, lässt aber auch außer Acht, dass in Mittelalter und früher Neuzeit, die (Kirchen‐)Kunst weniger dialektisch als vielmehr didaktisch argumentieren wollte: in solchen Themen wie Weltgericht oder Engelssturz werden klar Ziel und Anti-Ziel formuliert, Himmel und Hölle, mit ihren entsprechenden klaren Zuweisungen. Schmerzen und Qualen geistiger und körperlicher Natur sind dem Menschen bekannt und darstellbar, ewige Seligkeit ist ein dem Menschen nicht bekanntes Abstraktum, dessen inhaltliche Ausgestaltung selbst die christlichen Autoren nur mit wenigen Merkmalen umreißen: Verehrung der Hl. Dreifaltigkeit mit Gebet und Gesang, ein Zustand jenseits jeglichen Verlangens, Licht, Frieden etc. Die bildnerische Darstellung muss bei solchen Motiven innerhalb der narrativen Grundstruktur über Abstrahierungen, die über Symbolisierungen darge-

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stellt werden, argumentieren, so wie es auch der von Tillich zitierte Fra Angelico in seinem Gemälde ‚Jüngstes Gericht‘ (1432– 35) versucht. Tillich beschreibt die Elemente oder Wirkweisen des Dämonischen nicht als einzelne Wesen, sondern als „Strukturen des Dämonischen“,⁹³ etwas, das die Kunst individualistisch ausdrückt in Form und Bildmotiv. Folgend beschreibt er verschiedene Motive dämonischer Strukturen, u. a. Krieg als Massenphänomen und Angst. Bildbeispiele nimmt er aus Francisco de Goyas Serie ‚Los Desastros de la guerra‘ (1810 – 14, Erstveröffentlichung 1863), z. B. Blatt Nr. 15 ,Y no hai remedioʻ (dt. ,Und es gibt kein Heilmittelʻ)⁹⁴ (Abb. 2). In Goyas ‚Caprichos‘ (1793 – 99) findet er in Blatt 24 ‚Nohubo remedio‘ (‚Es gab keine Hilfe‘)⁹⁵ ein Beispiel der dämonischen Struktur Angst verbildlicht, die von der Verurteilten (Hexe) auf die Masse übergehe (Abb. 3).

2.2 Zur Ontologie des Dämonischen Das Dämonische ist abhängig vom Schöpferischen, vom Göttlichen. Dies zeigt sich für Tillich beispielhaft in Frans Floris’ ,Sturz der rebellierenden Engelʻ (1554):⁹⁶ hier werde der menschliche Körper als Vollendung der göttlichen Schöpfung und als Abbild Gottes auch als Grundform der Darstellung der Dämonen und gefallenen Engel eingesetzt, ergänzt durch tierische oder fantastische Elemente. Wo früher zoomorphe Darstellungselemente auch das Göttliche verbildlichen konnten, stehe es nun allein für das Dämonische. Daher müsse der Künstler, wenn er das Dämonische bildlich ausdrücken wolle, zunächst das Menschliche verbildlichen, um dann über zoomorphe Verfremdungen das Dämonische als Verfremdung des Erschaffenen und seiner Güte/Tugend darstellen zu können. Dies ist für Tillich Beleg für die selbstzerstörerischen Qualitäten des Dämonischen.

 Tillich, The Demonic in Art, 107.  Vgl. Francisco de Goya, Los Desastros de la Guerra, 1810 – 14, Erstveröffentlichung 1863, Radierung, 82 Blätter, Blatt Nr. 15: ,Y no hai remedioʻ (,Und es gibt kein Heilmittelʻ), Staatliche Graphische Sammlung München. Abbildung gesamte Serie: https://commons.wikimedia.org/wi ki/Los_desastres_de_la_guerra.  Vgl. Francisco de Goya, Los Caprichos, 1793 – 99, Radierung, 80 Blätter, Blatt 24: ,Nohubo remedioʻ (,Es gab keine Hilfe/Nichts zu machenʻ), Staatliche Graphische Sammlung München. Abbildung gesamte Serie: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/76/Goya_-_Capri chos_(24).jpg.  Vgl. Frans Floris, Engelssturz, 1554, Altar der Schermersgilde, Antwerpen, Liebfrauen-Kirche. Abbildung: https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/kultur/vertiefung/tafelma lerei/vorbildersturm.html.

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Abb. 3 Francisco de Goya (1746 – 1828), Los Caprichos, 1793 – 99, Radierung, 80 Blätter, Blatt Nr. 24 ‚Nohubo remedio‘ (‚Es gab keine Hilfe/Nichts zu machen‘), Staatliche Graphische Sammlung München, Inv.-Nr. 191776 – 24 D

Ebenso reiht er den ‚Sturz der rebellierenden Engel‘ (1562) von Pieter Breughel d.Ä.⁹⁷ seiner Ambivalenz- und Verfremdungs-These ein. Die gefallenen Engel, ehemals eine menschliche Wirklichkeit, sind Dämonen in vielfacher tierischer und fantastischer Verfremdung. Hier wird nicht klar, ob Tillich wirklich zwischen den im Bild dargestellten Engeln und Dämonen als zwei verschiedene Wesen

 Vgl. Pieter Breughel d. Ä., Sturz der rebellierenden Engel, 1562, Bruxelles, Musée Royaux des Beaux Arts. Abbildung: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Sturz_der_rebellierenden_Engel#/me dia/File:Pieter_Bruegel_the_Elder_-_The_Fall_of_the_Rebel_Angels_-_Google_Art_Project.jpg.

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unterscheidet. Ebenfalls einer zeit- und kunsthistorischen Korrektur bedarf seine Beschreibung des fast untätigen („does not do anything“)⁹⁸ Erzengels Michael: Die Bildkonvention der Zeit lässt den ‚Kampf‘ Michaels nicht als eine schweißtreibende Aktion erscheinen, weil das Göttliche ja als dem Dämonischen überlegen zu denken ist (und aus theologisch-didaktischer Sicht auch sein muss). Michaels Gestus des erhobenen Schwertes ist Zeichen der Wehrhaftigkeit und verhindert, dass das Böse aufsteigen kann in die himmlische Sphäre: der Gestus symbolisiert die Aktion. Ein weiteres Motiv für Tillich ist der künstlerische Ausdruck des Dämonischen als Sieg des Positiven über das Negative. In Georges Rouaults ‚Verspottung Christi durch die Soldaten‘ (1932)⁹⁹ empfindet er die Darstellung des Christus als nicht ausdrucksstark genug, die Hässlichkeit der verspottenden Soldaten mache aber das Bild durch ihre Ausdruckskraft wieder ‚schön‘ – wobei dieser Ausdruck wohl nicht in ästhetischen, sondern qualitativen Kategorien im Sinne eines religiösen Ausdrucks zu verstehen ist. Tillich springt hier zwischen ästhetisch bezeichneten, aber qualitativ gemeinten Kategorien, die stark mit seiner eigenen Definition des Expressionismus als religiösestem Kunststil zu tun haben, und den Motivdefinitionen. Ebenfalls mit den Begriffen des Hässlichen und Schönen beschreibt er Pablo Picassos ‚Guernica‘ (1937).¹⁰⁰

2.3 Zur Psychologie des Dämonischen Im Abschnitt zur Psychologie des Dämonischen beschäftigt sich Tillich zunächst mit drei Motiven: der Versuchung, der Faszination des Dämonischen und kehrt noch einmal zum Motiv der Angst zurück. Odilon Redons Lithographie der ‚Versuchung des Hl. Antonius‘ von 1896¹⁰¹ ist für ihn Beispiel dafür, das Dämonische der Versuchung nicht über Schreckensbilder, sondern über eine äußere Schönheit auszudrücken, da etwas sichtbar Dämonisches kein versucherisches Potenzial haben könne. Die Faszination des Dämonischen drückt sich für Tillich auch in

 Tillich, The Demonic in Art, 109.  Vgl. Georges Rouault,Verspottung Christi, 1932, New York, Museum of Modern Art. Abbildung: http://de.wahooart.com/A55 A04/w.nsf/Buy?Open&RA=BRUE-8LJ2GP  Vgl. Pablo Picasso, Guernica, 1937, Madrid, Museo Reina Sofia. Abbildung: http://www.artchi ve.com/artchive/p/picasso/guernica.jpg  Vgl. Odilon Redon, Die Versuchung des Hl. Antonius, 1896, Lithographie, New York, Museum of Modern Art. Abbildung: https://www.moma.org/collection/works/71010?locale=en.

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einer der Vorstudien zu Picassos ‚Guernica‘ aus, der 1937 gemalten ‚Weeping Woman with Handkerchief‘.¹⁰² Faszination ist für Tillich Anzeichen für das, was im Leben fehlt; die Faszination des Dämonischen charakterisiert er als eine Gegenreaktion auf die Langeweile einer nur oberflächlichen Güte und Moral. Das Dämonische erzeuge sowohl individuelle als auch kollektive Angst, ausgedrückt in dem schon erwähnten Blatt aus Goyas ‚Caprichios‘ (Abb. 3), aber auch in Edvard Munchs Lithographie ,Angstʻ von 1894,¹⁰³ die die angstbesetzte Vorahnung des Dämonischen ausdrücke, oder James Ensors Graphik ‚Selfportrait with Demons‘, 1898.¹⁰⁴

2.4 Zur Theologie des Dämonischen In Tillichs Interpretation des Dämonischen hat es keine eigenschöpferische Qualität, sondern kann nur über Deformation und Verfälschung des Positiven oder Göttlichen wirken. Dazu gehört auch die Imitation des Göttlichen durch das Dämonische. Aspekte sind z. B. schwarze Messen u. Ä. Die Grenzen künstlerischer Darstellung im Ausdruck abstrakter Konzepte wie ewige Glückseligkeit verdeutlicht Tillich am Beispiel von Fra Angelicos ‚Jüngstem Gericht‘ (1432– 35).¹⁰⁵ Fra Angelicos Verwendung von Gold (als ,Farbeʻ der Transzendenz) und die Palette vor allem erdiger Farben (d. h. modischer Farben der Entstehungszeit des Gemäldes) sei der Versuch des Künstlers, diese ewige Glückseligkeit motivisch – in diesem Falle farblich – auszudrücken; etwas, das Tillichs Auffassung nach aber zu kurz greift. Sein logisches Fazit ist, dass die Menschen durch die Bildenden Künste immer nur den Zustand des Kampfes zwischen Göttlichem und Dämonischem ausdrücken können, aber nicht die Zustände der menschlichen Seele in ewiger Glückseligkeit oder ewiger Verdammnis.

 Vgl. Pablo Picasso, Weeping Woman with Handkerchief (Study for Guernica), 1937, Los Angeles, Los Angeles County Museum of Art. Abbildung: http://collections.lacma.org/node/231784. – Da Tillich sich nicht weiter dazu äußert, ist nicht nachzuvollziehen, was hier die Faszination für das Dämonische beinhalten soll: die Frau selbst, ihr ausgedrückter Schmerz, das, was sie sieht? Im Umfeld der Entstehung von ,Guernicaʻ malt Picasso immer wieder Bilder der ,Schreienden/ Weinenden Frauʻ. In den 1930er Jahren steht dieses Motiv innerhalb seines Werks für die Verzweiflung einer Epoche.  Vgl. Edvard Munch, Angst, 1896, Lithographie, Privatsammlung Courtesy Gelleri K, Oslo. Abbildung: https://artinwords.de/edvard-munch-das-unheimliche-und-die-frau/.  Vgl. James Ensor, Self Portrait with Demons, 1898, Ausstellungsplakat, New York, The Museum of Modern Art. Abbildung: https://www.moma.org/collection/works/62145?locale=en.  Vgl. Fra Angelico, Jüngstes Gericht, 1432– 35, Florenz, Museo di San Marco. Abbildung: http://www.art-drawing.ru/gallery/539-fra-angelico/detail/3378-fra-angelico7.

,Christus auf der Drachenschaukelʻ

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2.5 Fazit Tillich beschreibt ein Grundcharakteristikum von Kunst. Es gibt kein absolutes Bild, nur Annäherungen, denn im Unterschied zur Religion, die das GöttlichAbsolute formuliert, formuliert die Kunst keine absoluten Wahrheiten/nicht das Absolute. Tillichs Auseinandersetzung mit dem Dämonischen in den künstlerischen Darstellungen baut auf einer selektiven Auswahl verschiedenster Bildbeispiele aus unterschiedlichen Epochen auf, anhand derer er verschiedene Motive herausgreift, die in seinem Dämonie-Konzept grundlegend sind und die er auch in den Beispielen der Kunst wiederfindet. Aus dem Bereich der Alten Kunst sind es das Thema des Engelssturzes, also der Erzählung von der Entstehung des Dämonischen im christlichen Kontext (Floris, Breughel) und das Jüngste Gericht mit dem Höllensturz der Verdammten. Damit umfasst er bildmotivisch Beginn und Ende dämonischen Herrschens (Michelangelo, van Eyck). Danach entfernt sich Tillich zunächst aus dem Bereich der christlichen Ikonographie und thematisiert über ein Beispiel der Kriegsfolgen-/ Kriegsgräuel-Ikonographie das Dämonische im Kontext politischer und kriegerischer Auseinandersetzung am Übergang vom Ancien Regime zum 19. Jahrhundert (Goya, ‚Desastros de la guerra‘). Das Beispiel aus Goyas ‚Caprichos‘ verweist auf das massenpsychotische Phänomen des Dämonenglaubens und die daraus resultierende Angst. Die Beispiele aus dem 20. Jahrhundert zeigen noch einmal christliche Ikonographie in den Passionsszenen auf (Rouault), stellen aber auch abstrakte Konzepte wie die Angst dar (Munch); sie greifen noch einmal die Thematik der Kriegsgräuel auf (Picasso) und thematisieren schließlich den selbstreflexiven Ansatz des Künstlers in der Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche, aber auch der eigenen Kreativität (Ensor). Wie auch bei seiner umfassenderen Auseinandersetzung mit Kunst in seiner Theologie der Kunst ist sein Ansatz auch hier mitunter de-kontextualisierend und a-historisch: Beispiel ist seine Interpretation des ‚untätigen‘ Erzengels Michael (Breughel). Was Tillich als Anthropomorphisierungstendenz der Dämonen in Michelangelos ‚Jüngstem Gericht‘ beschreibt, findet sich genauso im fast zeitgleichen ‚Engelssturz‘ von Frans Floris: menschliche Körper mit tierischen bzw. monströsen Köpfen. Die Verbindung von Menschenkörper und tierischer oder phantastischer Verfremdung ist – wie schon dargestellt – eines der Grundmuster der Verbildlichung des Dämons, es macht die Perversion, also Verfälschung und Verkehrung des Göttlichen durch das Dämonische im Menschlichen augenfällig. Auch scheint in Tillichs Auswahl und Beurteilung der Kunstwerke manches Mal seine eigene Kategorisierung von Kunst als mehr oder weniger religiös, je nachdem wie expressiv sie ist, durch (Rouault, Picasso, Munch). Verschiedene Entwicklungen benennt er zwar, aber ohne die zeitlichen Bezüge herzustellen, so

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z. B. das Faszinosum des Bösen und seine Ästhetisierung in der Kunst der Schwarzen Romantik (Redon). Wiewohl er schließlich folgert, dass die Bildenden Künste nicht die Mittel hätten, das Ewige auszudrücken, sondern nur den Kampf zwischen Gutem und Dämonischem bildlich ausdrücken könnten, so sieht er doch in der „versöhnenden Kraft“¹⁰⁶ ‚großer‘ Kunst die Möglichkeit gegeben, das Dämonische in etwas Schöpferisches zu verwandeln. Ohne Zweifel ist Paul Tillich einer der ersten Theologen, der in umfänglicher Art und Weise versucht hat, die Werke der Kunst zur unterstützenden Erklärung seiner theologischen Konzepte heranzuziehen. So ist es folgerichtig, dass er auch versucht, das komplexe Problem des Dämonischen über die Kunst erweiternd zu interpretieren. Da er aber mitunter (aus kunstwissenschaftlicher Perspektive) selektiv vorgeht und Kontexte nicht immer einbezieht, entsteht mit Tillichs Kunstbetrachtung ein eigenes System (oder Narrativ), das sich zwischen Theologie, Philosophie und Kunstwissenschaften bewegt. Wie die an den Vortrag Tillichs angeschlossene Diskussionsrunde aber belegt, hat er damals für seine Zuhörer realisieren können, was George Bernard Shaw so umschrieben hat: „You use glass mirrors to see your face; you use works of art to see your soul.“¹⁰⁷

 Tillich, The Demonic in Art, 110.  G. B. Shaw, Back to Methuselah, in: ders., The Complete Plays of George Bernard Shaw, Oxford 2012, 871.

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Quand les expériences religieuses contemporaines rencontrent la notion tillichienne du démonique La violence inouïe dont font preuve les radicaux et fanatiques religieux de tout acabit, violence « religieusement » diffusée par les médias, entrainant ces tempsci des flots de réfugiés en Occident, et en perdant une part de ces fuyants lors de traversées insensées des déserts et des mers, n’est malheureusement qu’un faible écho des violences subies depuis toujours dans certains pays, qu’ils soient dits en guerre ou non. La complexité des enjeux de ces conflits ethno-politico-religieux ne peut pas être simplement réduite au facteur religieux, mais concédons que ce dernier facteur fait partie de la donne. Sert-il d’idéologie à la fermeture et à l’exclusion? Favorise-t-il l’incompréhension et le mépris? Galvanise-t-il la révolte et la violence entre les familles et les sociétés humaines? Il semble souvent servir de combustible pour allumer la folie, comme en témoigne Waijdi Mouawad dans la pièce de théâtre «Incendies ».¹ Plusieurs peuvent ressentir une grande impuissance devant la violence làbas, un là-bas qui se fait de plus en plus proche de nous, violence causée au nom de la religion ou de Dieu. Ayant personnellement toujours compris la religion comme profondément libératrice, je me suis toujours servi de ce critère de discernement (est-elle libératrice ou non?) pour interroger la manière dont elle était comprise par ceux et celles qui la vivent de manière sectaire, haineuse et destructrice. Les religions ne sont-elles pas finalement qu’humaines, reflétant des ambiguïtés entre paix et violence, justice et exploitation ou encore entre libération et aliénation? Mais les religions ne sont-elles pas aussi (ou ne devraientelles pas être) témoin d’ambivalences fragmentairement dépassées, témoin d’une saisie radicale et transformatrice par Dieu? Jetant un œil sur notre propre histoire, et même si on a souvent tendance à polariser le côté sombre et le côté lumineux du religieux, l’histoire ne rappelle-telle pas froidement les ambiguïtés contenues dans nos traditions et expériences religieuses: anathèmes conciliaires, croisades, inquisitions et bûchers, massacres de civilisations autochtones, abus sexuels, misogynies systémiques … Notre réflexion sera théologique; elle ne s’arrêtera pas sur la dimension descriptive plus médiatique ou encore socio-politique (d’autres collègues peu-

 W. Mouawad, Incendies, Arles 2003. https://doi.org/10.1515/9783110582994-013

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vent mieux faire que moi en ce domaine). Notre propos émerge toutefois d’une indignation (anthropologique et éthique) devant les œuvres barbares de décapitation des hommes et des femmes, mais aussi des cultures et des sociétés au sens littéral et au sens figuré; il émerge d’une résistance (prophétique et théologale) face à la défiguration et à la réduction de la religion, de ses textes sacrés, de ses rituels, de ses traditions et expériences religieuses et spirituelles. La religion n’est pas que violences et destructions, guerres et horreurs; elle est aussi signe d’espérance au cœur du monde, témoin d’un possible autre monde, plus ouvert et en dialogue, plus harmonieux et plus intégré, afin de permettre une mise en route vers un horizon plus vivifiant, solidaire du cosmos, du divin et des humains, un horizon plus respectueux des différences et profondément plus interconnecté entre la création, les humains et la Transcendance. Et la réflexion théologique a le souci de critiquer les contextes mortifères et de traquer le théologal dans les divers contextes et cultures.² L’hypothèse mise ici de l’avant repose sur une exploration de la notion du démonique chez Paul Tillich : la notion du démonique et sa constellation devraient nous permettre de discerner ce qui dérape religieusement dans les processus de radicalisation entraînant la destruction et la violence sur son passage. Nous procéderons en quatre temps. (1) Alors que l’expérience spirituelle est souvent mise en vitrine dans nos sociétés actuelles, qu’est-ce qu’une expérience religieuse aujourd’hui et comment peut-on la distinguer des diverses spiritualités actuelles? (2) Comment Tillich a-t-il lui aussi proposé jadis une réflexion sur la notion d’expérience religieuse, intégrant des clarifications tant conceptuelles que phénoménologiques, entre une expérience religieuse positive et une expérience religieuse négative, destructrice, voire démonique? (3) La constellation du démonique sera par la suite exposée. (4) Nous tenterons en conclusion de mettre en jeu cette réflexion comme une éventuelle contribution théologique au débat touchant la radicalisation contemporaine.

 Voir M. Dumas, « Faire théologie avec le religieux contemporain», in: Pratiques émergentes en théologie. Des « printemps théologiques ? », E. Pouliot/A. Fortin/E. Champagne (dir.), Terra Nova 2, Leuven 2016, 33 – 42. M. Dumas, «L’expérience de la théologie: corrélation, interruption et recontextualisation», in: Théologiques, 14/1– 2, 2006, 117– 126.

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1 Des expériences contemporaines religieuses et/ou spirituelles Charles Taylor initie L’Âge séculier ³ en réfléchissant la situation suivante : « le changement que je veux définir et tracer est celui qui nous mène d’une société dans laquelle il était virtuellement impossible de ne pas croire en Dieu, à une société où la foi, y compris pour le croyant le plus inébranlable, est une possibilité parmi d’autres. »⁴ Comment se fait-il donc que nous soyons passés d’un monde, où Dieu était pour la majorité incontournable, à un monde, où Dieu semble de moins en moins important pour cette majorité? Taylor s’échine à décrire cette transformation et ce bouleversement au sujet de la croyance en Dieu opérés en cinq cent ans en Occident. Il soutient surtout que, dans un monde séculier, il demeure encore et toujours possible de croire en Dieu. Pour lui, l’option n’est pas exclue; elle demeure disponible, même si elle est, dans les faits, fortement mise au défi par un double processus. D’une part, les représentations associées à la croyance en Dieu semblent s’effriter et s’être énormément diversifiées, de sorte que les croyants en Dieu peuvent associer Dieu à la Transcendance, mais aussi à une force intérieure, une énergie cosmique, au destin, etc.⁵ La res est devenue non seulement problématique, mais aussi symptomatique d’un autre temps. Le second processus, connu à travers l’expression « Spiritual, but not religious »,⁶ insiste plus sur les grandes valeurs spirituelles de réalisation ou d’accomplissement de soi, valeurs permettant une meilleure qualité globale de vie ayant des effets thérapeutiques, etc. Ce processus se réalise aux dépens du religieux et de la religion, qui sont associés à l’institution, à la morale et à la doctrine. Rejeté en bloc, le contemporain utilise, voire instrumentalise le spirituel pour son mieux-être et le souci du divin ou de la transcendance n’est pas nécessairement une priorité. L’Age séculier développe comment nous sommes passés d’un cadre transcendant à un cadre immanent et comment ce cadre devrait non se fermer à la transcendance, mais plutôt se garder ouvert à celle-ci.⁷

 C. Taylor, L’Âge séculier, Montréal/Paris 2011.  Loc. cit., 15 – 16.  Voir par exemple F. Lenoir, Les métamorphoses de Dieu. Des intégrismes aux nouvelles spiritualités, Paris 2005, particulièrement 367– 396.  Voir par exemple la recherche terrain effectuée aux États-Unis par L. A. Mercadante, Belief without Borders. Inside the Minds of the Spiritual but not Religious, New York 2014.  Voir C. Taylor, le chapitre 15 sur le cadre immanent in L’Âge séculier, 915 – 1007.

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La lecture taylorienne de l’âge séculier nous conduit au seuil d’une réflexion théologique sur les expériences religieuses. Elle décrit le contexte contemporain et invite à prendre en compte les grandes avenues empruntées par une majorité et les petits sentiers encore possible aujourd’hui. Non que ces sentiers soient élitistes; ils sont ouverts à toutes et à tous, mais les conditions de possibilité du croire contemporain semblent marginaliser l’expérience de Dieu ou encore favoriser d’autres horizons ou options épistémologiques que celles issues de l’expérience de Dieu … Illustrons notre propos en analysant ce qui pourrait ou devrait être au cœur de l’expérience religieuse : l’expérience mystique.

1.1 L’expérience mystique démystifiée Depuis quelques années, on recourt régulièrement en philosophie, en littérature ou dans d’autres horizons culturels contemporains à des termes tirés directement de l’univers de la mystique. Certains philosophes réinvestissent ce vocabulaire pour lui donner un tout autre sens. La transcendance semble réduite à l’horizon de l’immanence; le langage semble maintenant capable de dire l’indicible. Ce phénomène fascine, car s’il remet en circulation un vocabulaire et renvoie à des expériences marquantes de la tradition spirituelle, on peut se demander s’il s’agit d’une simple instrumentalisation des richesses de la tradition mystique ou s’il s’agit de l’émergence d’un autre mode du dire Dieu pour aujourd’hui. Une dérégulation du vocabulaire mystique traditionnel implique-telle une sécularisation de la chose ou permet-elle une réhabilitation de la mystique pour aujourd’hui? Les explorations philosophiques ou linguistiques n’enferment-elles pas l’indicible dans des horizons immanents? N’est-il pas opportun de percevoir ces travaux comme de belles ouvertures, alors que l’institution est en crise et en perte de crédibilité? Je voudrais souligner les enjeux de ce type de travail et leurs incidences sur notre compréhension de la mystique et par là bien mettre en évidence la distinction entre l’expérience religieuse et l’expérience spirituelle. Aborder l’expérience mystique ne peut-il pas prêter à ambiguïté et nous écarter de notre réflexion sur le démonique? Comme nous le verrons, le traitement de ce propos laisse déjà voir en filigrane les traces d’irruption tordue du sacré, de démonisation (ou de profanisation) de l’ébranlement mystique, bref de manifestation du démonique. Déjà les critiques philosophiques des Lumières et particulièrement celles du dix-neuvième siècle attribuaient à la mystique une

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pléthore de qualificatifs plus ou moins envieux.⁸ Kant disqualifiait la mystique en la comprenant comme un saut tragique des concepts vers l’impensable : la mystique est fanatique, mortelle pour la raison, une divagation excessive. Et même si les romantiques du dix-neuvième siècle tentent de la réhabiliter, son emploi péjoratif et les reproches qu’on lui fait se poursuivent de plus belle : la mystique est ténébreuse, inquiétante, confuse, subjective, antirationnelle, mystérieuse, rustre, arrière-mondaine au sens de Nietzsche, absorbée en elle-même, malade, dégénérée, décadente. Derrière ces attributs peu envieux, se cristallise en fait une critique importante autour des éléments suivants : les expériences mystiques n’ont pas l’objectivité avec laquelle nous pourrions les ressaisir rationnellement; allant par conséquent à l’encontre des Lumières, elles sont nonphilosophiques et apparaissent comme un symptôme de décadence de la pensée philosophique, c’est-à-dire de la pensée et de la vie en général. Schopenhauer, Feuerbach, Marx et Nietzsche ont entre autres bien alimenté cette critique contre la mystique et ont par conséquent bien contribué à sa démystification. Ce n’est qu’au siècle dernier que des philosophes, des historiens de la religion et des théologiens ont peu à peu situé la mystique en écart de cette critique dévastatrice. Ainsi, le concept de mystique associé auparavant au nébuleux, à l’irrationnel, au non-scientifique, devient le lieu de l’expérience religieuse primordiale, le lieu de la rencontre directe de Dieu, la réaction et le dépassement de la division du sujet et de l’objet ou encore du rationalisme de la société; la mystique est une expérience vécue essentielle, une attitude face à l’existence et à la vie. Gershom Scholem, pour ne prendre qu’un exemple, définit le mystique comme quelqu’un à qui a été donnée une expérience immédiate du divin, de la réalité ultime, ou qui cherche de façon consciente à l’atteindre par une illumination soudaine ou encore par une longue préparation. La mystique exerce une fonction critique pour une tradition religieuse souvent endormie ou sclérosée, car elle ramène à la conscience de cette religion des éléments archaïques, vivifiants, dynamisants, voire enthousiasmants de cette tradition.⁹ Ce bref rappel de la difficile histoire de la mystique au cours des derniers siècles veut illustrer comment la démystification de la mystique l’a habituellement conduite plus à sa perte qu’à sa réhabilitation. De fait, ce sont moins les raisons de cette démystification que les fins de cette opération qui m’intéressent ici. Car dans l’horizon contemporain, la mystique a parfois retrouvé ses lettres de

 Pour ce paragraphe, voir P. Heidrich/H.-U. Lessing, « Mystik, mystisch », in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp. 268 – 279.  Voir loc. cit., Sp. 278.

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noblesse,¹⁰ mais elle semble le plus souvent devenir ce qu’elle n’est pas : un grand frisson émotif, une expérience de phénomènes parapsychiques extraordinaires, un saut dans l’irrationnel, une fuite de la responsabilité, etc. Entreprendre aujourd’hui une démystification de la mystique est-il pour éviter certains dérapages démoniques? Dit autrement, pour quoi réalise-t-on cet exercice de démystification? Que saisit-on sous cette expression de démystification? Si la mystique concerne le muein – le mystère, ce qui se dit à voix basse ou encore les yeux mi-clos – pourquoi alors désirer déplacer cet horizon ailleurs, là où il risquerait de se perdre, d’être dilué, de s’évanouir dans la critique destructrice ou dans l’indifférence profane? Si la mystique est de l’ordre de l’Erlebnis, du vécu et si elle garde ouvert la marche de celui ou de celle qui est saisi par Dieu, comme Michel de Certeau l’évoque, a-t-elle un warum et un wozu, a-t-elle un fondement autre que la pure gratuité de la rencontre amoureuse avec Dieu et une finalité autre que de rayonner au quotidien dans la communauté? La mystique est sans warum et sans wozu. Sa démystification devient alors le risque d’un déplacement, le risque d’une prise de parole qui peut soit l’instrumentaliser, parce que peu ou pas sensible au mystère lui-même et à sa présence, soit l’entendre, le voir, le goûter ailleurs, là où on ne s’y attend pas, là où il surprend, là où il laisse les traces de sa présence. Quelles paroles écartent-elles de la mystique, pour la démystifier comme les philosophes du dix-neuvième l’ont fait? Quelles paroles écartent-elles au point de tordre ou de disloquer le rapport du médium à ce qu’il devrait médiatiser, au point de prendre sa place? Mais y a-t-il aussi des paroles qui écartent la mystique, au sens de lui donner dans ce jeu d’écart un espace propre et neuf, pour que nous la vivions encore aujourd’hui, pour que le muein puisse se dire dans un autre contexte que ceux des ancêtres dans la foi? Il y a la parole des scientifiques qui peut s’intéresser à mesurer et à saisir les conditions de possibilité de ces expériences. Certes, l’expérimentation a des limites; elle est soumise aux critères d’objectivité, de vérifiabilité et de reproductibilité dans le temps et l’espace. Cette parole scientifique s’applique depuis quelques temps dans le champ des neurosciences qui se trouve à la frontière de la matière et de la conscience et qui pourrait peut-être loger la conscience mystique ou la conscience de Dieu quelque part dans le cerveau.¹¹ Il y a aussi la parole des spécialistes du religieux qui s’affaire à décrire, avec des critères  Les travaux d’un Michel de Certeau ont par exemple fortement contribué à cette réhabilitation.  Il y a aussi certains scientifiques qui osent s’exprimer sous le mode de l’aparté, de la glose pour témoigner autrement de ce qu’ils entendent par la mystique, mais on comprendra que cela sort des balises proprement dites de la recherche scientifique.

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souvent extérieurs à la chose, le phénomène de la mystique proprement dit. Éclairant sur les conditionnements préalables, internes et externes, psychologiques, historiques ou encore sociologiques, cette parole rate souvent la cible du théologal; là n’est pas son intérêt premier. Il y a aussi d’autres paroles, dont celles des philosophes. Ces derniers usent souvent de référents religieux, mais les réemploient habituellement en décalage par rapport aux traditions qui les ont vus naître. Ce travail de réutilisation du matériel religieux a l’avantage de permettre leur circulation, mais le désavantage de les couper de leurs sources religieuses et par conséquent de recevoir un sens tout à fait différent du contexte original.¹² La production philosophique contemporaine réduit-elle aussi ou ouvre-t-elle à une différence qualitative qui conduit aux champs sémantiques et aux réalités évoquées dans et par la mystique? Permet-elle l’ouverture d’un autre espace que celui habituellement borné des techno-sciences et de la consommation, espace malheureusement trop horizontal, espace débarrassé de toute verticalité du monde? Et il en va de même avec les sciences du langage qui font une gymnastique importante avec le matériel produit par les représentants de la mystique, leurs récits, leurs poèmes, leurs biographies, leurs sermons et leurs textes en général. Ces marcheurs de Dieu et leurs traces scripturaires sont-ils un simple matériel disponible à côté des autres ou sont-ils pour les spécialistes du langage des lieux du théologal, des matières qui dépassent les codes, les dynamiques formelles de l’objet langagier? Ces différentes paroles explicatives, sécurisantes, fascinantes, ou encore embêtantes, peuvent être parfois transgressives et permettre ce que j’appellerais avec Schillebeeckx un intensif de la foi, moins en ses contenus qu’en son acte de rencontre avec Dieu qui interpelle et qui, dans cette saisie, bouleverse, transforme et engage, bref convoque à une responsabilité; tantôt aussi les paroles sont réductrices et se bornent à considérer la mystique comme un simple matériau utile pour la science, tantôt les paroles dérapent et s’absolutisent, tantôt les paroles gardent ouvert le chemin pour un recadrage, une reprise dans un contexte neuf et une surprise théologale.¹³ Dans ce qui suit, prenons un exemple pour indiquer comment certaines paroles démystifient la mystique de manière péjorative, alors que d’autres gardent ouvert l’humain à une rencontre mystique

 Voir L. Boeve, God interrupts history: theology in a time of upheaval, London 2007. Si le septième art emprunte par exemple au champ de l’apocalyptique biblique pour réaliser ses films de peur et de fin du monde, il a foncièrement mis de côté les thèmes chrétiens de transformation du monde et d’espérance qui se révèlent comme une bonne nouvelle dans l’apocalyptique chrétienne.  Voir M. Dumas, «La spiritualité aujourd’hui. Entre un intensif de l’humain et un intensif de la foi», in: Théologiques 18/2, 2010, 199 – 211.

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au cœur de son existence et de sa réalité. Cela devrait nous permettre de saisir les enjeux de ces travaux et leurs incidences sur notre compréhension de la mystique et par conséquent de l’expérience religieuse.

1.2 Une spiritualité sans Dieu? Ma relecture est construite à partir du livre d’André Comte-Sponville, intitulé : L’Esprit de l’athéisme. Introduction à une spiritualité sans Dieu. ¹⁴ L’auteur désire mettre son travail philosophique à la portée du plus grand nombre possible de lecteurs. Son texte est en effet très abordable; le matériel technique réduit au minimum et les objectifs sont précis. Dans cet ouvrage, il explore trois questions (Peut-on se passer de religion? Dieu existe-t-il? Quelle spiritualité pour les athées?), et il y répond tout en respectant l’esprit des Lumières et son gain principal, celui de la laïcité qui préserve la liberté et la tolérance des dérives du fanatisme et du nihilisme. Son projet est donc tout d’abord de s’interroger sur la possibilité de vivre sans religion, tout en demeurant un athée fidèle à l’héritage culturel de la foi chrétienne qui a imprégné la culture occidentale et par conséquent la vie de l’auteur. Puis, la seconde partie développe six raisons de ne pas croire en Dieu et par conséquent de demeurer athée. Enfin, en dernière partie, Comte-Sponville s’intéresse à la spiritualité car, dit-il, même un athée peut s’intéresser à l’esprit et par conséquent avoir une vie spirituelle. Mais peuton avoir une vie spirituelle sans Dieu? Il explique que l’esprit est la puissance de penser et que la spiritualité qui se déploie en une vie intérieure a un rapport d’ouverture avec l’éternité, l’infini et l’absolu. La vie de l’esprit dépasse la totalité, le fini et le relatif. Dans ce contexte les quelques pages sur la mystique et le mystère sont éclairantes et reviendront au fil de notre actuel développement. Mais qu’entend-il par mystique, mystère et par expérience mystique? Comte-Sponville renvoie au mystère de l’être, au mystère de l’immanence, au fait que le monde soit. Ce mystère de l’être est expérimenté à travers l’immanence; il est la sensation de ce mystère derrière l’illusion des explications et des récupérations religieuses. Pour lui, il ne s’agit pas d’une expérience de transcendance, puisque nous faisons cette expérience au beau milieu de l’immanence. Cette expérience est celle du sentiment océanique que Freud reprend de Romain Rolland ou encore celle décrite dans La mystique sauvage de Michel Hulin. Elle n’a pas besoin de la religion ou n’est pas à proprement dit religieuse.

 A. Comte-Sponville, L’esprit de l’athéisme. Introduction à une spiritualité sans Dieu, Paris 2006.

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Il décrit sa propre expérience spirituelle et la caractérise comme soudaine, pleine, joyeuse, silencieuse, comme présence éternelle avec le sentiment que tout est là. Cette expérience de modification de la conscience est aussi caractérisée par l’auteur en terme de suspensions ou de mises entre parenthèses : le familier est suspendu au profit du singulier, du neuf, de l’étonnant, les interrogations et les problèmes ne se posent plus au profit de l’évidence, etc. C’est de cette expérience immanente que l’humain croyant ou athée peut vivre et s’ouvrir à la vie hic et nunc, à la vérité et à l’amour. Cet exemple est interpellant, moins par la description de l’expérience proprement dite, que par son herméneutique. En effet, plusieurs récits de spirituels contemporains rappellent cette expérience sommet ou de sentiment océanique et représentent souvent pour des croyants le début de leur expérience religieuse, ou mieux, la confirmation de ce qu’ils avaient reçu dans leur horizon familial ou social. Bede Griffiths,¹⁵ Wolfhart Pannenberg¹⁶ et plus récemment Éric-Emmanuel Schmitt¹⁷ témoignent de cette plongée au cœur de l’immanence, de cette expérience d’unité, de simplicité et de plénitude qui brisent les frontières habituelles du temps et de l’espace. Pour eux cependant, elles ont conduit à une recherche philosophique et à une lecture des grands textes religieux avant de prendre sens à la lecture de l’Évangile. Il est certes possible de concevoir cette expérience sommet au cœur de l’immanence comme point de départ d’un cheminement religieux ou d’une expérience spirituelle et de la comprendre comme une expérience de transcendance, mais il est aussi possible, à l’instar de ComteSponville, de ne pas se déplacer dans l’horizon de la transcendance et de ne la saisir que dans celui de l’immanence. La tension entre ces deux interprétations est réelle et la démystification comte-sponvillienne offre un espace pour dépasser l’immanence grossière, si je puis dire, un espace qui peut parfois aboutir à un recadrage dans l’horizon religieux et parfois demeurer au seuil de cette possibilité. Cet exemple permet de saisir un premier enjeu concernant l’expérience spirituelle. On ne peut aujourd’hui simplement plaquer le récit d’expérience des uns et des autres sur notre propre cadre interprétatif; il faut aussi prendre en compte l’horizon herméneutique de ceux et de celles qui racontent ces récits d’expérience spirituelle. Notre compréhension de la mystique sera affectée par

 Charles Taylor cite le récit de Griffiths in L’Âge séculier, 19.  Voir M. Dumas, «Expérience religieuse et foi chrétienne chez Wolfhart Pannenberg», in: Revue de Théologie et de Philosophie 135, 2003, 313 – 327.  Voir É.-E. Schmitt, La nuit de feu, Paris 2015. Dans ce récit, l’auteur raconte son expérience de saisie par Dieu lors d’une expédition au Hoggar, saisie qui a transformé sa vie d’homme et d’écrivain.

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ces cadres interprétatifs, tantôt pour la ressaisir dans un horizon acheminant à l’expérience de Dieu de nos ancêtres dans la foi, tantôt dans un horizon acheminant à l’expérience religieuse d’une autre tradition religieuse. Ici, pour ComteSponville, l’horizon demeure simplement immanent, certes d’une immanence ouverte à la réalisation et à l’action de l’humain, mais pas ouverte à une présence de Dieu au cœur du monde. Un second enjeu concerne la compréhension de la mystique proprement dite. Pour Comte-Sponville, elle se caractérise par le plein, l’unité, etc. Pour de Certeau par exemple, l’expérience spirituelle dont fait écho la mystique est tiraillée par le manque, elle est une marche indéfinie, elle est extase, sortie de soi, mais pas au même sens que chez le philosophe de l’immanence. Le repli sur cette dimension ne laisse aucun espace pour un appel, une révélation ou encore une Parole adressée à l’humain. La mystique est un mouvement initié par une rencontre de l’Autre dans un cas; dans l’autre cas, elle est une façon de caractériser une expérience d’union avec l’immanence. La différence importe et montre encore une fois les différentes valences de la mystique.¹⁸ Résumons-nous avant de faire un nouveau pas. Nous avons évoqué la lecture de Taylor pour mettre en évidence comment l’âge séculier, même s’il se définit par le passage d’un cadre transcendant à un cadre immanent, demeure toujours ouvert à l’expérience de transcendance, à l’expérience de Dieu. Cette possibilité s’inscrit toutefois dans un horizon spirituel ambigu, où il n’est pas toujours manifeste de savoir si l’expérience spirituelle est en lien ou non avec l’expérience de Dieu. L’expérience mystique me sert ici de repoussoir pour illustrer ce caractère ambigu et le bouquin d’André Comte-Sponville portant sur L’Esprit de l’athéisme illustre de manière éloquente la nécessité d’une herméneutique de l’expérience spirituelle aujourd’hui : tantôt prélude à une actualisation de soi, tantôt saisie mystique, bouleversante et transformatrice, expérience de Dieu. L’expérience religieuse contemporaine se distingue de certaines expériences spirituelles, dans la mesure où elle témoigne d’un caractère relationnel avec Dieu. Elle est rencontre de Dieu, une rencontre du divin éprouvée et interprétée comme expérience de Dieu, expérience intime de l’Ultime, rencontre transformatrice de l’existence et initiant un cheminement et un engagement dans le monde. Cette expérience est profondément spirituelle, dans la mesure où elle est  Pour M. de Certeau, voir «l’expérience religieuse, ‘connaissance vécue’ dans l’Église», in: Recherches de science religieuse, vol. 76, no 2, 1988, [1956], 187– 211 ; «Expérience chrétienne et langage de la foi», in: Christus, vol. 12, no 46, 1965, 147– 163 ; « L’expérience spirituelle», in: Christus, vol. 17, no 68, 1970, 488 – 498 ; «L’énonciation mystique», in: Recherches de science religieuse, vol. 64, no 2, 1976, 183 – 215.

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une relation avec une altérité radicale, avec une hétérogénéité absolue, que certaines traditions appellent Dieu. Mais comment est-il possible que, comme nous l’avons évoqué en introduction, cette expérience de Dieu conduise à la haine, la violence et la mort? Comment est-il possible qu’au-delà de l’ambiguïté de l’horizon spirituel, une ambiguïté religieuse, celle du démonique, conduise à la destruction et à l’horreur? Nous pensons que les travaux de Paul Tillich peuvent ici être éclairants. Explorons maintenant en deuxième partie sa réflexion sur l’expérience religieuse au sein de sa théologie de la culture.

2 La scène religieuse (et théologique) de Tillich Il m’importe tout d’abord de situer la scène sur laquelle la constellation de ̔l’expérience religieuse démonique ̓ va émerger chez Tillich, donc de circonscrire la religion ou l’expérience religieuse, d’en souligner par la suite l’ambivalence à travers la distinction apportée par l’introduction de la révélation fondamentale et de la révélation de salut. Ceci permettra de dégager ensuite, en troisième partie, sa compréhension du démonique et son dépassement, mais aussi d’identifier selon Tillich des manifestations concrètes du démonique à dénoncer et à combattre. Si j’insiste sur la période des années vingt, c’est que la notion du démonique, comprise comme une irruption tordue du sacré qui détruit la forme, est plus intéressante pour notre réflexion sur l’expérience religieuse contemporaine que sa compréhension plus tardive où le démonique est plutôt associé à l’idolâtrie ou encore au fait qu’un élément conditionné soit élevé à l’inconditionné.¹⁹ Au sortir de la Première Guerre mondiale, Tillich est bien conscient de la tension invivable entre la culture et la religion. Cette dernière ne peut plus conserver sous tutelle la première; une telle juxtaposition ne convient en fait ni à l’une, ni à l’autre. D’une part, la culture devenue autonome ne peut plus souffrir une religion qui la garderait à nouveau en situation d’hétéronomie. D’autre part, une religion située à côté ou même au-dessus de la culture perd sa conscience de l’absolu. Une telle religion ne témoignerait plus de sa teneur absolue à travers les formes culturelles. Elle doit être critiquée pour la dualité qu’elle produit et la menace de ne pas respecter l’autonomie de la culture. La célèbre conférence programme de 1919 intitulée Sur l’idée d’une théologie de la culture engage Tillich  Voir P. Tillich, «Idée de la révélation» (1927), in: Écrits théologiques allemands (1919 – 1931), M. Dumas (dir.), Québec 2012, 161– 173, 173 : « L’élévation d’un conditionné à l’inconditionnalité est un démonisme et le démonisme religieux n’est pas meilleur, mais pire que tout autre.» Cette conception plus idolâtrique est aussi présente et prépondérante dans sa période américaine.

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dans un chantier fascinant qui lui permet de proposer de nouveaux rapports entre la culture et la religion, des rapports où les fonctions de la culture médiatisent la religion. Comme nous le verrons, la médiation devient la clé de notre réflexion et les textes des années vingt témoignent du déploiement de cette théologie de la culture, qui offre non seulement une définition de la religion, utile pour mieux comprendre l’expérience religieuse au cœur des situations spirituelles de son époque, mais aussi un outil critique pour éviter la profanisation ou la démonisation de l’expérience religieuse.

2.1 La religion, une expérience de l’inconditionnée En 1919, dans sa conférence programme, Tillich écrit : La religion est l’expérience de l’inconditionné, c’est-à-dire l’expérience de la réalité absolue sur la base de l’expérience du néant absolu. Celle-ci est l’expérience du néant de ce qui existe, du néant des valeurs, du néant de la vie personnelle. Là où cette expérience a conduit au non absolu, radical, elle se retourne subitement en une expérience aussi absolue de la réalité, en un oui radical. Il ne s’agit pas d’une réalité nouvelle, à côté ou audessus des choses : ce serait seulement alors une chose d’un ordre supérieur qui tomberait sous le non. Mais à travers les choses cette réalité s’impose à nous, laquelle est en même temps le non et le oui aux choses. Ce n’est pas un être, ce n’est pas la substance, ce n’est pas la totalité de ce qui est. C’est, pour employer une formule mystique, l’au-delà de l’être, lequel est en même temps le rien absolu et le quelque chose absolu. Mais le prédicat «est» voile le fait qu’il ne s’agit pas d’une réalité d’être, mais bien d’une réalité de sens et, de plus, du sens ultime, le plus profond, qui ébranle tout et édifie tout à nouveau.²⁰

L’inconditionné est-il ici une autre manière de parler de Dieu, les images de Dieu ayant volé en éclats durant la Première Guerre? Dieu alors dénudé et a-personnel demeure au fondement de tout malgré tout. Tillich insiste pour souligner la nonappartenance de l’inconditionné au monde du conditionné : il est « au-delà », « transcendance même », « tout étranger ». Cette réalité, fondement des réalités, donne à la réalité «enracinement et soutien, sens et stabilité ».²¹ Pour contrecarrer le Dieu en dessous de Dieu, ce Dieu relativisé et soumis au doute, ce Dieu qui a perdu son caractère absolu et sacré, Tillich propose de parler de l’incon-

 P. Tillich, « Sur l’idée d’une théologie de la culture», in: La dimension religieuse de la culture, J. Richard (dir.), Paris/Genève/Québec 1990, 35 – 36.  P. Tillich, « Über die Idee einer Theologie der Kultur », in: Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe, Berlin 21921, 36.

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ditionné comme de «Dieu au-delà de Dieu ».²² Sens ab-solu, il exprime l’existence du sens, l’existence d’une sphère du sens et que le sens repose sur cette sphère inconditionné du sens. L’inconditionné, comme fondement et abime du sens, « se tient au-delà de la lumière et des ténèbres, de la nature et de la personnalité, du divin et du démonique ».²³ Rappelons qu’en 1948 dans la version américaine du texte « Kairos», une remarque soutient notre compréhension.²⁴ Tillich affirme que l’inconditionné met en évidence l’élément de l’expérience, qui rend possible de comprendre une expérience comme une expérience religieuse, comme une expérience sacrée, qui nous préoccupe de manière ultime. C’est une qualité que nous pouvons expérimenter aux frontières de la réalité. Comprendre la religion comme expérience de l’inconditionné, c’est insister sur le caractère paradoxal d’une expérience de transcendance à travers l’immanence, sans que celle-ci ne la maintienne. Au contraire, elle n’est pas soumise aux contingences mondaines, mais les ébranle dans leur repli sur soi, les bouleverse en montrant le néant de toute réalité et elle les métamorphose en renversant ou en montrant la réalité absolue, réalité positive et salvatrice. Comme expérience de l’inconditionné, cette dépossession, ce vertige absolu devient subitement affirmation du fondement absolu. Les motifs de la métamorphose nous échappent. Cette expérience unique paradoxale est l’expérience d’une réalité qui se manifeste à travers le monde. Le monde est à la fois nié et affirmé; cette expérience de la source sacrée est une réalité qui « ébranle tout et édifie tout à nouveau».²⁵ Dieu apparaît comme un feu dévorant, pour reprendre la lettre aux Hébreux; l’expression du feu dévorant est aussi reprise chez Tillich pour d’autres termes : la religion,²⁶ le sacré,²⁷ ou encore la vérité,²⁸ toujours en lien avec l’inconditionné. Tous ces termes expriment d’une part la dynamique entre le conditionné et l’inconditionné; ce dernier fonde et transcende le premier de manière absolue. D’autre part, il invite à réfléchir autrement cette réalité absolue, car si le feu réchauffe et permet la vie, il peut aussi être incontrôlable, destructeur, anéan-

 P. Tillich, «Justification et doute » (1919), in: Écrits théologiques allemands, 42; «Église et culture», in: La dimension religieuse, 103.  P. Tillich, «Justification et doute» (1924), in: Écrits théologiques allemands, 132.  P. Tillich, « Kairos I » (1922), in: Christianisme et socialisme. Écrits socialistes allemands 1919 – 1931, Paris/Genève/Québec 1992, 115.  P. Tillich, «Sur l’idée d’une théologie de la culture», in : La dimension religieuse, 36.  P. Tillich, «Le dépassement du concept de religion en philosophie de la religion », in: La dimension religieuse, 67.  P. Tillich, «La catégorie du ‘sacré’ chez Rudolf Otto», in: La dimension religieuse, 97.  Tillich, «Justification et doute » (1924), in: Écrits théologiques allemands, 130.

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tissant, voire dévorant. En 1924, dans le texte intitulé Église et culture, Tillich affirme que [c]ependant, le sens inconditionné, vers lequel s’oriente tout acte de sens posé tacitement par la foi, et qui porte le tout en le protégeant de la chute dans le néant de la vacuité du sens, comporte en lui-même un double aspect. Il porte le sens de chaque sens particulier aussi bien que le sens du tout; cela signifie que le sens inconditionné est le fondement du sens. Mais il n’est jamais saisissable comme tel dans un acte quelconque de sens. Il transcende chaque sens particulier. C’est pourquoi nous pouvons parler de l’inconditionné en même temps comme fondement et comme profondeur abyssale du sens.²⁹

2.2 Révélation fondamentale et révélation parfaite (ou de salut)³⁰ C’est principalement dans le texte Justification et doute de 1924 que Tillich développe la distinction entre la révélation fondamentale et la révélation de salut. Quel est le sens de la justification lorsque la situation spirituelle met radicalement en doute les certitudes de Dieu, de la vérité et du sens? On ne peut évoquer le Christ comme révélation de salut dans une telle situation spirituelle. Sans révélation fondamentale, un Christ isolé serait ̔ incapable ̓ de dépasser le doute radical ou l’autonomie profane. Le problème de l’irruption christologique qui présuppose un ébranlement préparatoire devient ici l’enjeu des discussions, surtout pour mettre en évidence comment, à travers la distinction entre ces deux types de révélation, la première est préparatoire et la seconde est accomplissement, de l’ordre de la réalisation finale ou parfaite. Devant la perte de l’immédiateté divine qui entraîne avec elle le doute et qui met en évidence comment les essais humains échouent dans leurs efforts de dépasser le doute et de rétablir l’immédiateté, l’irruption de la révélation fondamentale rend possible une renaissance, permet au caractère inconditionné de dépasser le doute. Cette irruption de la révélation fondamentale est comme un pharmacon, qui rend possible un retour à la source, une redécouverte de la dimension de profondeur perdue à cause de l’autonomie. Ce n’est donc pas le christocentrisme qui dépasse le doute radical et ce n’est pas la révélation fondamentale seule qui atteint la plénitude de la révélation. Les deux sont complémentaires, selon Tillich.  Tillich, «Église et culture», in: La dimension religieuse, 102– 103.  Cette section est une reprise synthétique de la section 6.1 de ma thèse doctorale: Die theologische Deutung der Erfahrung des Nichts im deutschen Werk Paul Tillichs (1919 – 1930), Frankfurt a. M. 1993, 190 – 195.

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La nécessité d’un chemin de la justification du doute jusque dans sa présupposition repose selon Tillich sur le fait qu’une « tension interne à la religion »,³¹ le rapport de l’irruption jusqu’à la réalisation, n’est plus accueilli. Dans cette tension, on comprend la justification comme un correctif. L’immédiateté de « l’irruption décisive de la grâce»³² rend possible un processus de vie, dans lequel cette tension peut exister. Malheureusement, cette tension une fois sclérosée entraîne dans l’horizon de la foi une perte de l’immédiateté et une montée de la conscience autonome. C’est ainsi que le doute obtient une signification historico-religieuse. « Il devient le centre, il devient l’expression d’une immédiateté déchirée du religieux, de la suppression totale du principe mystique ou catholique».³³ Le douteur ne perd pas seulement sa conscience immédiate de Dieu; il doute aussi de la vérité et du sens de la vie. Dans cette situation difficile, le douteur ne peut demeurer passif; il «reste aux prises avec l’exigence de trouver sens, vérité et Dieu ».³⁴ Mais son incapacité l’entraine dans le désespoir. « Le douteur se trouve donc dans la situation de celui qui désespère de son salut, sauf que pour lui la perdition ne vient pas du jugement condamnatoire de Dieu, mais de l’abîme du vide de sens.»³⁵ C’est dans cette situation radicale que se produit l’irruption de la révélation fondamentale. Elle est irruption de Dieu, du sens et de la vérité. C’est le remède inconditionné contre la maladie de l’autonomie. C’est une renaissance, la découverte d’un présupposé, d’une dimension de profondeur. Ce qui avait été rejeté apparait avec une force extraordinaire. Cela rend la religion possible, c’est-à-dire la réalisation en tension avec l’irruption : cette force a le caractère de l’inconditionnalité et dépasse le désespoir, une conséquence du doute. La révélation fondamentale est une révélation du fondement; elle révèle la présupposition fondamentale, le divin inépuisable et fondant, le fondement et l’abime du divin. Comme les autres irruptions, cela ne dépend de rien. Elle ne porte aucun nom et n’a aucune forme; elle est indéfinie. Définie, formée et nommée, elle le sera dans son rapport à la révélation de salut. La dernière complète la première. En 1924, on a l’impression de deux révélations différentes, mais cela est plus comme un processus de vie, dans laquelle la première est début et la seconde est but. La révélation libère du désespoir du doute et du vide de sens et elle libère du désespoir de la contradiction et de l’éloignement de     

Voir Tillich, «Justification et doute» (1924), in: Écrits théologiques allemands, 124– 125. Loc. cit., 126. Loc. cit., 128. Loc. cit., 129. Ibid.

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Dieu. La révélation fondamentale séparée, celle-ci prend un caractère ambigu et doit être dépassé : « À cause de cette ambiguïté de la révélation fondamentale, la révélation du divin devient histoire du salut ; elle devient dépassement du démonique dans la religion humaine.»³⁶ Là où Dieu se révèle comme esprit et amour, la révélation fondamentale est complétée; là elle devient révélation de salut. L’humain touché par cette révélation reçoit quelque chose de neuf dans sa vie; il contient la possibilité de créer à partir du centre de la vie et ainsi d’exister. Résumons les principales caractéristiques de la révélation fondamentale. 1) Elle est présupposée pour accueillir Dieu, le sens et la vérité. Elle fait face à l’absence de Dieu, à l’absurde et à la non-vérité. Elle rend possible cette résistance pour ainsi dire. 2) En dépit de l’absence de Dieu, de l’absence de vérité et de l’absence de sens, la révélation fondamentale fait irruption. La situation du douteur est une situation où Dieu ne semble plus joignable, où il est oublié depuis longtemps, où les conséquences épuisantes de l’autonomie apparaissent, où l’humain s’enfonce dans le vide du sens. 3) Là où les conséquences de cet enlisement apparaissent, là où il devient incapable d’atteindre le salut, là où la tension est devenue radicale, elle devient comme révélation fondamentale un antidote à l’autonomie. Elle est sans condition. Comme irruption du divin, elle est inconditionnelle, clin d’œil et inidentifiable. Elle est le fondement abyssal, qui rend possible une mise en scène. Le retour à la source rend possible la renaissance de la religion, la reprise de la tension entre l’irruption et la réalisation. 4) Un rapport étroit existe entre les deux révélations. La révélation de salut conduit la révélation fondamentale à son accomplissement, dans la mesure où elle lui enlève son caractère ambigu. La révélation fondamentale recrée une tension avec la profanisation, dans la mesure où cette dernière est bouleversée par la première. Dans l’expérience du désespoir, le douteur est saisi et il lui est redonné le présupposé d’une réalisation, le sol de la religion lui est préparé, la religion est un fait humain, dans lequel l’homme s’oriente vers l’inconditionné, dans lequel il peut donner une réponse à la révélation fondamentale divine, dans laquelle il peut être touché par la révélation en Christ. La révélation est l’affirmation du sens et de la vérité en dépit de la possibilité toujours présente de la démonisation. Contre cette possibilité de démonisation la révélation fondamentale a besoin d’une révélation de salut.

 Loc. cit., 140.

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N’affirme-t-on pas ici que la profanisation est possiblement dépassable? Ces possibilités nous sont offertes. Elles font irruption au milieu de l’expérience du désespoir, des situations limites et nous offrent un retournement, un terrain libérateur, où l’homme peut croire en Dieu, en la vérité et au sens, où il peut accueillir l’être apparu en Jésus-Christ. La révélation fondamentale divine et par là la religion humaine semblent être les présupposés pour pouvoir accueillir la révélation en Christ. Au milieu de l’expérience du néant, l’homme rencontre le divin. Cela est possible sur la base du retournement, sur la base d’une participation dans la révélation finale. Nous voilà maintenant prêt à explorer la constellation du démonique. L’expérience religieuse contient une dynamique ambiguë, tiraillée entre la profanisation et la démonisation, et le déploiement du couple révélation fondamentale et révélation finale a illustré comment l’ambiguïté inscrite dans le processus d’irruption peut être dépassée.

3 La constellation du démonique³⁷ On connaît bien l’article de Tillich paru en 1926 sous le titre «Le démonique. Un apport à l’interprétation de l’histoire».³⁸ Rappelons qu’un autre écrit de la même année porte aussi sur le même thème : « Le concept du démonique et sa signification pour la théologie systématique ».³⁹ Dans ces deux textes, Tillich analyse la tension entre le démonique et le divin à l’intérieur du sacré et il en montre les manifestations dans l’existence. Mais l’idée même du démonique remonte aux tout premiers écrits de l’enseignement allemand; déjà implicitement en 1919 et explicitement à partir de 1923.⁴⁰ Mais dès cette époque, le terme démonique reçoit une double signification : une première plus profonde et radicale, une seconde plus phénoménale et sensible. En effet, le démonique s’oppose d’abord au divin. Il constitue la puissance de l’anti-divin, de la non-vérité et de l’injuste, qui agresse les formes  Une version antérieure à cette section fut publiée par l’auteur. «Le divin et le démonique d’après la Dogmatique de 1925», in: Études sur la Dogmatique (1925) de Paul Tillich, J. Richard/ A. Gounelle/R. P. Scharlemann (dir.), Québec/Paris 1999, 261– 272.  Tillich, La dimension religieuse, 121– 151.  Loc. cit., 153– 161.  En 1919, Tillich emploie l’expression « pire hétéronomie» pour souligner un contenu sans forme, qui entrerait en contradiction avec une forme autonome, en voulant former de suite une nouvelle forme. In: « Sur l’idée d’une théologie de la culture», 37; voir aussi l’expression « Idole, un inconditionné affublé de prédicats divins et anti-divins», in: « Kairos», 126. Enfin dans la discussion de Tillich avec Barth, Tillich parle dans Paradoxe critique et paradoxe positif (1923) de «réalisme démonique» (73), de «démonie» (74), et de « démonique» (75).

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pour les vider et les détruire. Par la suite, le démonique désigne une forme conditionnée qui prétend à l’inconditionnalité. Dans ce dernier cas, on oppose le démonique au profane, plus précisément à la profanisation, alors que dans le premier contexte, on le rapporterait au divin. En 1924, 1925 et 1926, nous retrouvons les développements les plus significatifs et les plus profonds de ce double emploi du démonique. Et dans les écrits postérieurs à 1926, le thème semble péricliter. S’estompent alors les distinctions précises et nuancées, de telle sorte que la signification fondamentale du démonique comme irruption tordue du divin destructrice de la forme disparaît au profit d’une notion plus superficielle, selon laquelle un conditionné est perçu et posé comme inconditionné. Deux exemples de la fin de années vingt illustrent bien cette tendance qui, selon Yorick Spiegel, se poursuivra aux États-Unis. Chez le Tillich américain, la profondeur du démonique n’apparaît plus; seule demeure une attitude démonique, le fait de poser comme inconditionné quelque chose de conditionné.⁴¹ Le premier texte de 1927 aborde le thème du démon de la révélation : Là où cette puissance fait défaut, le démon s’empare de la révélation, le démon qui met une réalité finie, conditionnée, fût-ce le christianisme, la Bible ou l’Église, à la place de ce qui ne cesse jamais d’être l’inconditionnellement caché. L’élévation d’un conditionné à l’inconditionnalité est un démonisme et le démonisme religieux n’est pas meilleur, mais pire que tout autre. […] La démonisation de la révélation est l’une des deux voies par lesquelles le conditionné tente d’échapper à la révélation. L’autre est la profanisation ; elle domine notre situation spirituelle.⁴²

Le second texte de 1930 est un article sur la révélation paru dans le RGG. Tillich reprend les thèmes de la révélation démonisée et du principe démonique. La révélation démonique est celle où «le porteur de la révélation prétend lui-même à l’inconditionnalité». ⁴³ Ce que Tillich explique comme suit : « car le principe du démonique est l’élévation d’une réalité conditionnée à l’inconditionnalité, à la dignité de l’inconditionnellement-caché ».⁴⁴ Or nous verrons dans les textes de 1926, que le principe du démonique est beaucoup plus radical.

 Voir Y. Spiegel, « Der Dämon, der kein Satan ist. Paul Tillich und die Ambivalenz des Bösen », in: Religion Heute 1 (1989), 11– 13.  Tillich, «L’idée de la révélation» (1927), in: Écrits théologiques allemands, 173.  Tillich, «Révélation» (1930), in: Écrits théologiques allemands, 282.  Ibid.

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3.1 La profondeur du démonique et son irruption⁴⁵ La comparaison des descriptions du divin et du démonique montre qu’ils sont constitués par des éléments identiques. La polarité Grund-Abgrund est employée autant pour évoquer le divin (par ex. Église et culture, 1924) que le démonique (par ex. Le démonique, 1926). Notons en effet que le caractère abyssal n’est pas simplement compris comme une négativité destructrice. Il exprime plutôt le caractère inépuisable et actif; il est «comme l’infinité productive et intrinsèque de l’être, comme le feu dévorant qui pour toute forme devient l’abîme effectif.»⁴⁶ Mais comment distinguer le divin et le démonique s’ils sont constitués des mêmes éléments? Poser cette question, c’est chercher la différence entre la possession démonique et le saisissement de la grâce. En effet, «dans l’un et l’autre phénomène, ce sont les forces originelles et créatrices qui, brisant la forme, pénètrent dans la conscience. Dans les deux cas, l’esprit est élevé audessus de son isolement autonome : dans les deux cas, il est assujetti à une puissance qui n’est pas une puissance naturelle, mais qui provient de la profondeur abyssale, laquelle supporte aussi la nature. »⁴⁷ Soulignons que la préparation pour accueillir la révélation finale en Christ se réalise dans la révélation fondamentale. Les figures d’irruption obtiennent ainsi un sens à l’intérieur du cercle de la foi, mais aussi à l’extérieur de celui-ci. En période de réalisation, l’irruption intègre la profanisation externe, aussi longtemps que la situation spirituelle est profane … Le caractère abyssal de l’inconditionné renvoie à son caractère inépuisable. Pareil à une source jaillissante infinie, l’inconditionné a une profondeur abyssale. Encore une fois, si l’inconditionné était saisissable par un élément ou encore par la totalité du conditionné, le fondement serait menacé de mise à plat et d’épuisement. Le fondement porteur du sens et aussi exigeant un accomplissement du sens sont deux moments essentiels du sacré. Le couple abîme et fondement de l’être s’explicite dans cette image du feu dévorant inépuisable. La définition de la religion ne serait-elle pas ici une première ébauche d’une révélation fondamentale, révélation qui illustrera l’irruption d’un divin ambigu dans la réalité qui corrige par la suite dans la révélation de salut ou parfaite? La

 J’utilise consciemment le terme «irruption» pour souligner le caractère analogue entre l’irruption du divin et celle du démonique. Cependant, en lien avec le démonique, Tillich luimême parle plutôt d’une apparition ou d’un surgissement (Hervorbrechen), d’une effraction (Einbrechen), d’une rupture (Zerbrechen) que d’une irruption, marquant ainsi la différence entre l’irruption du démonique et du divin.  Tillich, «Le démonique», in: La dimension religieuse, 129.  Loc. cit., 131.

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seconde édition de l’article de 1919 pointe dans cette direction quand elle souligne que l’inconditionné donne enracinement, teneur, sens et stabilité.⁴⁸ La différence entre le divin et le démonique ne se situe donc pas au plan des éléments fondamentaux, mais à celui de leur relation, lorsqu’ils se manifestent dans une forme. Le divin qui fait irruption conduit à une transformation, à une conversion, à une affirmation de la forme. À la suite d’une irruption divine se produit une élévation de l’être, une création, une forme renouvelée. Une nouvelle qualité d’être issue des profondeurs transforme la réalité. Nous pourrions définir le démonique comme l’enfant terrible du divin. Le caractère abyssal de la profondeur de l’être s’emballe et pénètre violemment dans la forme sans la respecter.⁴⁹ La manifestation démonique est d’une part créatrice, car c’est l’inépuisabilité de l’être qui jaillit. Elle est d’autre part destructrice, car ce jaillissement outrepasse la mesure propre au fondement. Les forces créatrices primordiales se manifestent ainsi, parce qu’elles échappent à l’ordre de la forme. Le démonique constitue un mode d’irruption tordu. À l’inverse de l’irruption divine, il déforme; à la limite, il anéantit. Les conséquences de la manifestation démonique sont la perte de l’être, la division, la décomposition.⁵⁰ Une telle manifestation démonique est donc beaucoup plus radicale que l’idolâtrie. Dans le démonique, les éléments divins entretiennent un rapport anormal avec la forme et cette anomalie est provoquée par la tendance interne à réaliser l’inépuisabilité de l’être dans une forme.

3.2 La démonisation de Dieu Pouvons-nous parler d’une démonisation de Dieu? Tillich refuse explicitement de concevoir un Dieu démonique : « face à Dieu, il apparaît avec évidence que le démonique ne se trouve pas en Dieu mais en l’homme et qu’à cause de cela, l’homme ne peut que prendre et non donner ».⁵¹ Si nous percevons Dieu comme

 Voir P. Tillich, «Ueber die Idee einer Theologie der Kultur », in: Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe, Berlin 21921, 36.  Voir Tillich, «Le démonique», in: La dimension religieuse, 125 – 126.  Voir loc. cit., 130 – 132.  Voir Tillich, «Justification et doute» (1924), in: Écrits théologiques allemands, 140. MW VI, 95. À ce propos, voir aussi la position de Werner Schüßler, qui va dans ce sens. «Form der FormWidrigkeit. Zu Paul Tillichs Begriff des Dämonischen », in: W. Schüßler/G. Görgen, Gott und die Frage nach dem Bösen. Philosophische Spurensuche: Augustinus, Scheler, Jaspers, Jonas, Til-

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démonique, c’est que nous avons perdu sa volonté salvifique et que nous ne regardons que le jugement et la colère de Dieu. Ainsi, l’image faite de Dieu ne correspond aucunement au ̔ Dieu au-delà de Dieu ̓. Soulignons que la manifestation du démonique, comme perversion de la forme, se situe au niveau de la réalité existante. Affirmer un Dieu démonique supposerait que Dieu prend forme et qu’il existe. Il serait alors réduit à l’état d’être conditionné à côté des autres êtres; ce ne serait plus l’inconditionné qui porte et sauve la réalité. Résumons nos trois remarques sur le divin et le démonique. Nous avons tout d’abord souligné deux significations distinctes du démonique. Nous nous sommes ensuite attardés à la constellation du démonique qui semblait être la plus originale et la plus significative. Il nous est finalement apparu que le démonique ne peut affecter que la forme des choses existantes, non pas la divinité elle-même. Un excursus dans la Dogmatique de 1925 soutiendrait nos propos concernant notre compréhension du démonique. Dans cette théologie ecclésiale, retenons tout d’abord la thèse 9 qui porte sur la révélation: Une révélation devient démonique lorsqu’elle s’attache à elle-même en tant que révélation et cesse de renvoyer à l’inconditionné qui fait irruption en elle. Une révélation devient profane lorsqu’elle ne renvoie qu’à son propre caractère d’événement fini et lorsqu’elle fait s’estomper l’ébranlement de l’irruption.⁵²

Que la qualité de salut présente dans la révélation puisse se pervertir et devenir démonique demande ici quelques explications. Un retour sur les différents moments de la révélation peut être utile. La révélation fait irruption dans une forme : elle emprunte une voie particulière et concrète de salut. Cette voie est requise pour que la révélation nous atteigne, mais cette voie peut être chargée d’ambiguïtés, lorsqu’elle ne réussit pas à s’oublier elle-même pour laisser place à la révélation. Celle-ci devient alors démonique. Par ailleurs, le médium peut aussi refuser ce rôle de médiation en ne s’ouvrant pas à l’irruption. La révélation se perd alors, elle devient profane. Une réalité concrète sera donc démonique lorsqu’elle parle d’elle-même alors que s’est exprimé en elle l’ébranlement de la révélation. Le caractère pervers de la démonisation, c’est d’accepter de devenir voie de salut par l’ébranlement et de ne pas aller au bout de soi-même pour témoigner de l’irruption. Cette retenue démonique a de graves conséquences, parce qu’elle permet à une réalité finie de prétendre à l’inconditionnalité. Seule

lich, Frankl, Berlin 2011, 120 – 134. Voir aussi J. Richard, « Le démonique comme perversion du divin d’après Paul Tillich», in: Théologiques 5/1 (1997), 89 – 113.  P. Tillich, Dogmatique, J. Richard (dir.), Paris/Genève/Québec 1997, 42– 43.

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Marc Dumas

une nouvelle irruption, dans laquelle la voie de salut réalise parfaitement son rôle de médium, viendra à bout de la démonisation et de la profanisation. La thèse 40a revient sur le concept de démonique et elle souligne le caractère concret du démonique. Présent dans la nature et l’esprit, il lie les éléments créateurs et la contrariété de l’essence. Mais pour parler du démonique, le rapport entretenu avec le porteur de l’inconditionné doit être présent. En affirmant ce rapport à l’inconditionné, nous insinuons déjà la possibilité de son dépassement, nous anticipons son dépassement par l’irruption de la grâce. En christianisme, le Christ est la révélation parfaite du Créateur. Il est l’image d’un être en relation non contradictoire avec son créateur. Sa relation est à ce point dominé par la présence de Dieu qu’il réalise dans l’histoire une existence dans laquelle le démonique est dépassé : « Dans l’image qu’il présente, on ne voit nulle trace de démonisation de l’étant-inconditionnellement et donc nul trait du désir ou de la présomption caractéristiques de l’amour de soi, sans pour autant que ne soit détruite sa vérité humaine historique. »⁵³ Le Christ est cet être réel qui vit un rapport essentiel avec Dieu. Et cette solidarité du Christ avec le Créateur ouvre un nouvel horizon pour la créature et rend possible un autre destin. Cette solidarité avec le divin rend possible un nouveau rapport avec Dieu, avec le monde et avec soi-même, un rapport réconcilié en participant à la grâce du Christ …

4 Conclusion Notre propre situation spirituelle, si elle est marquée par des démonies, est aussi frappée par l’autonomie et l’indifférence face au religieux et à ses irruptions. La notion de révélation parfaite dépassant l’idolâtrie et la démonisation chez Tillich, dépasse-t-elle la crise des fondements et l’indifférence? Et pour dépasser une certaine ambiguïté dans la conceptualisation tillichienne de la constellation du démonique, je proposerais de distinguer ici trois perspectives. 1) La démonisation comme irruption tordue du divin, comme irruption de l’abîme contre son fondement; 2) La démonisation comme conséquence de cette irruption démonisée. Tillich mentionne dans la Dogmatique la division des polarités essentielles, leur séparation, leur absolutisation, c’est-à-dire leurs efforts pour s’approprier l’inconditionnalité. Cela devrait conduire à la destruction totale, à l’anéantissement. On aboutirait ainsi à la satanisation. Si cela ne se produit pas,

 Tillich, Dogmatique, 317.

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c’est grâce à l’anticipation de la victoire de la révélation parfaite sur le démonique. 3) D’où une troisième perspective sur la démonisation qui, dans le concret, n’est possible que parce que le démonique est perçu à la lumière de la révélation parfaite. La démonisation comporte alors un double aspect, créateur et destructeur. Elle devient le moteur de l’histoire. Si les représentations historiques du démonique peuvent être soit idolâtriques (lorsque se trouve absolutisé quelque chose qui n’est pas la voie de salut), soit démoniques, (lorsque sont absolutisés des éléments ébranlés de la voie de salut), c’est parce que la différence entre l’idolâtrie et le démonique réside dans la situation de l’objet. Si la réalité conditionnée est ébranlée et qu’elle s’élève pour elle-même, elle devient démonique. Si elle repose en elle-même et s’absolutise, elle devient idolâtrique. Tillich n’a peut-être pas proposé cette distinction, mais elle peut s’avérer utile pour éviter un abus du terme démonique.⁵⁴ Mais en quoi ce parcours sur la notion de démonique peut-il nous être utile pour mieux saisir certains aspects destructeurs des expériences religieuses contemporaines? Nos distinctions de départ entre expérience spirituelle et expérience religieuse à travers la notion d’expérience mystique permettent d’insister sur la saisie bouleversante par une altérité d’une existence humaine, saisie qui offre un recadrage majeur et met en marche vers une quête de vie et d’accomplissement. Cette expérience est d’après les narratifs de conversion une saisie bouleversante, transformatrice et radicale. Mais il arrive que cette saisie dérape … Et la notion de démonique chez Paul Tillich illustre assez bien comment la réalité ébranlée peut oublier sa fonction médiatrice de l’inconditionné et devenir un mélange de création et de destruction, un mélange de divin et de démonique. Tillich à son époque a fait allusion à des réalités qui étaient à la fois créatrices et destructrices. On peut penser aux démonismes politiques ou encore à ceux du pouvoir. On pourrait analyser certains dérapages actuels auprès de jeunes, qui embrassent de manière absolue une cause toute relative, en en oubliant précisément le caractère relatif. Au niveau religieux, le processus de radicalisation semble offrir une vérité, un sens et un Dieu à un engagement, mais ce moment où l’éternel entre dans le temporel, ce moment où l’ébranlement se produit, doit laisser tout l’espace à un retournement au plus profond de l’exis N’oublions pas non plus la clarification sémantique pour distinguer le principe démonique, du processus et du résultat historiques concernant cette constellation. En différenciant le démonique comme principe, la démonisation comme processus et la démonie comme résultat, nous aurions l’avantage de mieux situer les niveaux de réalité rencontrée par la constellation et ses différents moments.

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tence humaine et non seulement à une exacerbation du moment d’ébranlement. Sinon, l’irruption tordue du divin détruit la forme et la vie. Les notions tillichiennes de préparation, d’ébranlement et de révélation fondamentale n’illustrent-elles pas d’une certaine manière la nécessaire tension ou polarité entre ce qui fait irruption dans la réalité et son nécessaire correctif? Dans les années de la théologie de la culture, le théologien allemand s’outille de notions théologiques qui lui permettront de lire quelques années plus tard la réalité politique nazie et de la critiquer sans ménagement. Devant la montée des fondamentalismes, des intégrismes et des radicalismes à tous crins, ne devonsnous pas mieux comprendre les mécanismes ambigus (et démoniques) des expériences religieuses dont se réclament les fidèles de la violence et de l’horreur? Un discours théologique développant la notion du démonique ose intégrer ce dont ces religieux se réclament tout en exerçant un regard critique sur leur expérience.

Autorenverzeichnis Dr. Christian Danz Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Österreich Dr. Marc Dumas Professor für Théologie fondamentale an der Université de Sherbrooke, Kanada Dr. Lutz Müller Professor für Angewandte Psychologie an der IB-Hochschule Berlin, Studienzentrum Stuttgart Dr. Angela M. Opel Lehrbeauftragte für Design- und Kunstgeschichte sowie Bildwissenschaft an der Hochschule Augsburg Dr. Jan Rohls Professor em. für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München Dipl.-Theol. Christina Saal Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät Trier Dr. Dr. Werner Schüßler Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier Dr. Peter Schüz Akademischer Rat am Lehrstuhl für Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumene der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München Dr. Philipp Schwab Juniorprofessor am Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Dr. Friedemann Voigt Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Marburg Dr. Herman Westerink Assistant Professor für Fundamental Philosophy an der Radboud-University in Nijmegen und Extraordinary Guest Professor an der KU Leuven, Niederlande Dr. Folkart Wittekind Professor für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Universität Duisburg-Essen

https://doi.org/10.1515/9783110582994-014

Personenregister Dupré, Louis 219 – 221 Dürer, Albrecht 138, 282, 289

Alexander der Große 278 Angel, Ernest 249 Anti-Climacus 37 f. Antonius Eremita 271, 283 f. Aristoteles 54, 131 Augustinus 12, 271 f.

Ellenberger, Henri 249 Ensor, James 287, 289, 298 f. Ernst, Max 288 Eyck, Jan van 293, 299

Barth, Karl 8, 114, 120, 132, 175 f. Beckmann, Max 289 Biedermann, Alois Emanuel 78 – 86, 100 Bingen, Hildegard von 277 Binswanger, Ludwig 249 Biser, Eugen 292 Bizet, Georges 287 Blake, William 285 f. Bloch, Ernst 161, 197 Blumenberg, Hans 218 Böhme, Jakob 12, 59, 130 Borrhaus, Martin 209, 211 Bosch, Hieronymus 284 f., 289 Braune, Walter 250 Brecht, Bertolt 126 Breughel d. Ä., Pieter 284, 289, 296, 299 Brunner, Emil 7, 177 Buber, Martin 262 Burton, Robert 216, 223 f. Calvin, Jean 209, 211, 213, 218 Certeau, Michel de 222, 224, 306, 310 Chartrier, Alain 287 Climacus, Johannes 32 Comte-Sponville, André 308 – 310 Dante Alighieri 141, 278 Darwin, Charles Robert 53 Delumeau, Jean 220 Dewey, John 125 Dillenberger, John 265 Dorè, Gustave 282 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch 134, 160, 183 Duhm, Bernhard 43 – 50, 59

132,

https://doi.org/10.1515/9783110582994-015

Feuerbach, Ludwig 305 Floris, Frans 295, 299 Fouquet, Jean 282 Fra Angelico 295, 298 Frankl, Viktor Emil 249 Freud, Sigmund 130, 204 f., 252 f., 256, 263, 308 Fries, Jakob Friedrich 54 f. Füssli, Johann Heinrich 285 f., 289 Georgii, Eberhard Friedrich von 22 Gillespie, Michael 218 f. Goethe, Johann Wolfgang von 2 f., 41 f., 48 f., 52 – 57, 61 – 63, 66 f., 131, 147 – 149, 192, 253, 263 Gogarten, Friedrich 7, 177 Goldberg, Oskar 141 Gothein, Eberhard 188 Goya, Francisco de 285 f., 289, 295, 298 f. Graf, Friedrich Wilhelm 70 Gribaldi, Matteo 209 Griffiths, Bede 309 Habermas, Jürgen 193 Hackmann, Heinrich 43 – 45 Harnack, Adolf von 52, 129 Haufniensis, Vigilius 32 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 89, 99, 119 Heidegger, Martin 11, 135 Heraklit 266 Herrmann, Wilhelm 106 Hirsch, Emanuel 110 f., 134 Hogarth, William 285 Homer 3, 266, 277

72, 74, 77,

328

Personenregister

Hoornbeeck, Johannes 213 f. Huffington, Arianna 263 Huizinga, Johan 220 Hulin, Michel 308 Husserl, Edmund 163 Ignatius von Loyola

Michelangelo 141, 145, 292 f., 299 Milton, John 282, 285 f. Moreau, Gustave 287 Mozart, Wolfgang Amadeus 27, 139 Müller, Julius 87 Munch, Edvard 289, 298 f.

271

Jaspers, Karl 161 – 163 Jung, Carl Gustav 227, 230 – 233, 240, 253, 262 Kaftan, Julius 89 – 95, 104 Kähler, Martin 129, 136 Kant, Immanuel 71, 75, 78, 129, 131, 157, 250, 305 Keats, John 287 Kerner, Justinus von 22 Kierkegaard, Søren 4, 11 – 14, 22 – 27, 32 f., 38 f., 72, 78, 130, 138 f., 163, 207 f., 224, 253 Klages, Ludwig 135 Kramer, Heinrich 279 Kubin, Alfred 289 Kunibert von Turin 279 Lagarde, Paul de 43 f. Lessing, Theodor 135 Löwenthal, Leo 6, 151, 160 – 165, 167, 183 Löwith, Karl 218 Lukács, Georg 5 f., 151, 156 – 162, 164 f., 167, 183 Lurker, Manfred 266 Luther, Martin 8, 49 f., 59, 65, 106, 131, 137 f., 208 – 210, 212, 215, 218, 220, 224 f. Mann, Erika 126 Mann, Klaus 128 Mann, Thomas 125 – 129, 134 – 139, 141 – 144, 147 Marcuse, Ludwig 125 Marx, Karl 130, 163, 252, 305 Maupassant, Henry René Albert Guy de 128 May, Rollo 9, 247 – 250, 252, 257 – 264 Memling, Hans 283 Meyerhof, Otto 54

Niebuhr, Reinhold 125 – 127, 130 Nietzsche, Friedrich 11 – 13, 128 – 130, 135, 144, 192, 256, 263, 305 Nobel, Nehemia Anton 160 Ockham, William von 219 Otto, Rudolf 4, 41 – 45, 47 – 67, 70 Overbeck, Franz 144 Pannenberg, Wolfhart 309 Perkins, William 212 – 214, 216 Petrus Damiani 279 Picasso, Pablo 263 f., 288, 297 – 299 Piranesi, Giovanni 285 Platon 14, 54, 219, 253, 257 Rabanus Maurus 274, 281, 284 Redon, Odilon 297, 300 Reeves, Clement 258 Ricœur, Paul 261 Rilke, Rainer Maria 259 Ritschl, Albrecht 43, 48, 64, 86 – 92, 94, 105, 129 Ritter, Gerhard 65 Rogers, Carl 252 Röhrich, Lutz 289 Rolland, Romain 308 Rothe, Richard 75 – 79 Rouault, Georges 297, 299 Rubens, Peter Paul 285 Rüstow, Alexander 175 Sartre, Jean-Paul Charles 11 Schefold, Karl 268 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 24 f., 30, 38, 72 f., 130, 253 Schiele, Egon 289 Schillebeeckx, Edward 307 Schiller, Friedrich von 80 Schlegel, Friedrich 27

11 – 22,

Personenregister

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 50, 55, 75 f., 78, 87, 136 Schmitt, Éric-Emmanuel 309 Schneider, Johann Gottlob 16 Scholem, Gershom 305 Schopenhauer, Arthur 13, 305 Schultz, Hermann 44 Scotus, Duns 12 Shaw, George Bernard 300 Simmel, Georg 5, 147, 150 – 157, 161 f., 164, 167, 182 f., 185, 187 – 195, 197 – 201 Simon Magus 278 Smend, Rudolf 44 f. Smith, Adam 185 – 187, 189 Sokrates 14, 25 – 29, 31 – 33, 35, 262 Sombart, Werner 156, 188 Spiegel, Yorick 318 Spiera, Francesco 208 – 214, 216 f., 223, 225 Strauß, David Friedrich 73 – 75, 78 Strauss, Richard 287 Sydow, Eckhart von 254 Taylor, Charles 303, 310 Thomas von Aquin 271

Troeltsch, Ernst 156, 188

329

46, 87, 93 – 96, 99, 129,

Vergerius, Paul 209, 211 f., 214 Vergote, Antoon 225 Voetius, Gisbertus 213 f., 217 Volz, Paul 64 Weber, Max 148 – 150, 154, 156, 161, 182 f., 188, 194 Weber, Wilhelm 185 Wedekind, Frank 287 Weinel, Heinrich 41 f. Wellhausen, Julius 45 Wiesengrund Adorno, Theodor 139, 141 – 143 Wilde, Oscar 287 Wolf, Hugo 128 Wundt, Wilhelm 55 – 58, 60 Yalom, Irvin

249

Zacharias, Gerhard 238 Zuckmayer, Carl 126

Sachregister abandonment, spiritual (engl.) 212 Abraham-Erlebnis, das 48 Absoluten, Theorie des 111 Absolutheitslehre, die 112 Altes Testament, das 64 ambiguïté (frz.) 301, 304, 311, 317, 322 Anfechtung, die 210 Angst, die 34, 237 Anomie, die 171, 173 Anonymität, die 261 Anthropologie, die 82, 90, 94 f., 114 Antihumanismus, der 141 anxiety (engl.) 207 – existential (engl.) 207 – pathological (engl.) 207 Apathie, die 258 Apollinische, das 129 apostasy (engl.) 213 Arbeit, die 189, 191 – Arbeitsteilung 155 Archetyp, der 232 Ästhetizismus, der 132 f. Atheismus, der 100 Aufklärung, Anthropologie der 80 – Aufklärungskritik 73, 80, 135 – Aufklärungstheologie 81 Autonomie, die 107, 170 – 173 – Tragik der 171 Bedingte, das 131, 198 Behaviorismus, positivistischer 248 Besessenheit, die 232, 256, 262 Bewusstsein, das 110, 172, 178 – 181, 256 – menschliches 79, 82 – religiöses 86, 172 – Selbstverhältnis des 178 Böse, das 15, 18 – 21, 30, 34, 80, 88, 91, 96, 137, 245, 270 – radikales 95 Calvinismus, der

130

https://doi.org/10.1515/9783110582994-016

Christologie, die 81, 84, 86, 103, 105, 114 f., 176 – objektive 78 Christonomie, die 107 Council for a Democratic Germany, der 125 f. croire (frz.) 303 – 304, 308 Daimonion, das 3, 26 Dämon, der 14, 17, 26, 29, 46 f., 56, 59, 63, 133, 158, 184, 247, 257, 266 – 272, 275, 281, 286, 289 – Antidämon 257 – Ort der Dämonen 275 – Dämonenglaube 267 Dämonie, die 168, 173 f., 255 – 257 Dämonische, das 1 f., 4 f., 7, 9, 12 – 15, 17 – 31, 33 – 38, 45 – 48, 52 – 54, 58 – 67, 70 f., 104, 112 f., 115 f., 119, 121 f., 128 – 134, 136, 147 – 151, 155, 157 – 159, 161 – 167, 174 f., 178 – 180, 182 – 184, 198 – 200, 251 – 263, 265 – 267, 270, 272 – 275, 287 f., 291 f., 295, 297 – 300 – Faszination des 297 f. – Ort des 255 f., 263, 274 – Psychologie des 297 – Quelle des 258 – Überwindung des 181 – Wesen des 255 – dämonischer Moment 261 – dämonisches Element 46 – 50 demonic (engl.) 206, 215, 223 – 225 démonique (frz.) 301 f., 304, 311, 313, 317 – 323 démonisation (frz.) 304, 312, 316 – 318, 320 – 323 Denken, das 98 despair (engl.) 207, 213, 215 – demonic (engl.) 207 – melancholic (engl.) 214 – religious (engl.) 214, 216 Deszendenzlehre, die 53 Dialog, der 262 dieu (frz.) 301, 303 – 313, 316 f., 320 – 323

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Sachregister

Dionysische, das 129 discontent (engl.) 220 Divination, die 54 Drache, der 283 Ekklesiologie, die 86 Ekstatische, das 130 Endlichkeit, die 74 Engel, der 270 f., 282, 286 – Engelsturz 282 Entfremdung, die 233 Epos, das 157 f. Erhaltung, die 117 – Erhaltungslehre 117 Erlösung, die 76, 78 – Erlösungslehre 76 f. Eros, der 256 f., 259, 263 Eschatologie, die 76 Essentifikation, die 20, 22 estrangement (engl.) 206 f., 218, 225 Ethik, die 100, 103 f., 106 f. – calvinistische 148 – puritanische 148 – religiöse 45 – Säkularisierung der 186 Ewigkeit, die 37 existence, patho-analysis of (engl.) 205 Existentialismus, der 11 Existenzphilosophie, die 135 expérience (frz.) 301 – 306, 308 – 313, 316 f., 323 f. faith (engl.) 220, 225 Fall, der 79 f. Formwidrige, das 254, 265 Freiheit, die 35, 75 – 77, 83 – 85, 91, 93, 95, 97 – 101, 104, 106 – 109, 119, 122 f. – Bewusstsein wahrer 106 – individuelle 191 – menschliche 118 – soziale 191 – System der 187 – Freiheitsbegriff 107 – Freiheitsbewusstsein 75, 85 – Freiheitsbewusstsein, humanes 86 – Freiheitsgeschichte 108

Ganzheit, die 241 Gebot, das 80 Gehorsam, der 85 Geist, der 152, 169, 178, 256 – Bewusstsein des 81 – göttlicher 82 – Lehre vom 82 – menschlicher 82 – objektiver 153, 190 – Geistphilosophie 169, 181 Geistige, das 15 – 17, 21 f., 29 Geld, das 185 – 187, 190 f., 193, 197 – 199 – Geldkritik 185 Geschichte, die 77, 170 – Geschichtsbewusstsein, wahres 169 – Geschichtsphilosophie 122 – Geschichtstheologie 78, 122 – Geschichtsunbewusstheit 173 – Kirchengeschichte 106 – Realgeschichte 78 Gesetzlichkeit, die 100 Gewissen, das 83 Glaube, der 90, 107 Gnade, die 84 f., 89 – Gnadenempfang 89 Godʼs will (engl.) 218 Gott 49, 81, 89, 93 f., 101 – 104, 109 f., 114, 240 – Gottes Liebe 102 – Gottes Wille 91, 106, 109 – Gottesebenbildlichkeit 84, 101 – Gottesidee 48 – Gotteslehre 111 f., 117 – Wesen Gottes 92 f. Göttliche, das 11, 132, 178 – 181, 184, 199 f., 240, 255, 263, 266 f., 292, 295, 298 Gute, das 15, 18 f., 21, 34, 88 f., 137, 246 Gutheit, die 74 Heil, das 102 – 104 Heilige, das 66, 131 Heteronomie, die 171 f. Hoffnung, die 143 Höllensturz, der 282 humiliation (engl.) 213 hysteria (engl.) 205, 215

333

Sachregister

inconditionné (frz.) 311 – 322 Individualismus, der 192 – qualitativer 192 – quantitativer 192, 195 Innerlichkeit, verschlossene 26 Inspiration, die 77 Intellektualismus, der 132 f. Intuition, die 98 Ironie, die 26 Irrationale, das 12, 44, 62 – das religiöse 43 f. – Irrationalismus 135 irruption (frz.) 304, 311, 314 – 322, 324 Kairos, der 134 Kapitalismus, der 130, 133, 155, 182, 188, 194, 196, 198 Kirche, die 108 Komplex, der 230 f., 233 Kreaturgefühl, das 48, 50 Kultur, die 7 f., 46, 83, 100, 108, 110, 115, 129, 131, 152 – 154, 156 f., 170 – 172, 177, 181, 183, 188, 196, 198 – entzauberte 173 – Kulturethik 108 – Kulturgeschichte 109, 181 f. – Kulturgüter 153 – Kulturprotestantismus 129 – Kulturtheologie 131, 201, 265 – moderne 151, 182, 187, 189, 192, 197 – objektive 154, 191 f. – persönliche 154, 191 f. – Sachkultur 153, 155 – Selbstreflexion der 150 – subjektive 154 – Theologie der 200 – Tragödie der 152, 154 f., 161, 163, 182, 193, 198, 200 – Verlust der Einheit der 149, 158, 182 Kunst, die 108, 254, 293 – 295, 299 f. – Theologie der 293, 299 Langeweile, die 26, 30 f. Lebensprozess, der 255 Leib, der 19 Leibliche, das 20 Leiden, das 37

Liberalismus, der 189 Liebe, unpersönlich gewordene Luthertum, das 130

261

Manifestation, die 77 Marxismus, der 133 meaning (engl.) 222 – loss of (engl.) 223, 225 – production of (engl.) 223 melancholia (engl.) 210, 214 f. melancholy (engl.) 216, 222, 224 – religious (engl.) 216, 223 Mensch, der 79, 100 f., 195 – Lehre vom 84 – schizoider 257 f., 264 Moderne, Tragödie der 162 modernity (engl.) 218 f., 221 f. Monster, das 269, 275 morality (engl.) 220 Morphologie, die 53 Musik, die 28, 139 f. mysterium tremendum 48, 56 f. mysticism, modern (engl.) 223 Mystik, die 100, 200 mystique (frz.) 304 – 310 Mythos, der 291 narcissism (engl.) 205 Nationalismus, der 130 f., 133 Nationalökonomie, die 186, 188 Natur, die 74, 81 f. – Naturmysik 130 – Natur-Sinn 79 Negativität, die 28 Neukantianismus, der 163 neurosis (engl.) 204, 207 nominalism (engl.) 219, 221 Numen, das 56 Numinose, das 53, 57 – 59, 63, 66 – numinoser Absenker 66 Obdachlosigkeit, transzendentale 158 Offenbarung, die 70, 77, 80 f., 83, 100 – Gnadenoffenbarung 80 – Grundoffenbarung 8, 175 f., 178, 180 f., 183 – Heilsoffenbarung 8, 175 f., 180, 183

334

Sachregister

– Offenbarungsbegriff 175 – Offenbarungsgeschichte 109 – Offenbarungslehre 77, 114 – Offenbarwerden 37 – vollkommene 111 Pandämonismus, der 30 Pantheismus, der 30 – dämonischer 31 Paradoxe, das 130 – religiöses 143 Persona, die 236 f. Plötzliche, das 36 possession (engl.) 206, 210 – demonic (engl.) 207 – physical (engl.) 210 – spiritual (engl.) 210 Prädestination, die 76 f. – Prädestinationslehre 76 predestination (engl.) 217 profanisation (frz.) 304, 312, 316 – 219 Profanisierung, die 181 f. Prophetie, die 200 – biblische 200 Psychoanalyse, die 248 psychoanalysis (engl.) 203 f., 217 Psychologie, die 232, 249 – amerikanische 249 – analytische 232 – Tiefenpsychologie 250 psychopathologies (engl.) 204 Psychotherapie, die 260 f. radicalisation (frz.) 302, 323 Rechtfertigung, die 101, 104 – 106 – Rechtfertigungsbegriff 105 redemption (engl.) 213 reductio ad essentiam 20 Reflexion, die 110 religion (engl.) 204 religion (frz.) 301 – 303, 308, 311 f., 315 – 317, 319 Religion, die 7 f., 45 – 47, 55 f., 60, 63, 67, 75, 77, 83, 87, 90 f., 99 – 104, 106, 109, 115, 123, 132, 169 – 172, 174, 176 f., 181, 193, 196, 199, 299 – dämonistische 47, 201

– geschichtlich eingebundene 180 f. – lebendige 201 – ursprüngliche 141 – wahre 183 – Wesen der 54 – Religionsbegriff 172, 174 f. – Religionslehre 79 Religionsgeschichte, die 65, 77, 85 f., 100, 109, 132, 176, 180 – vorchristliche 86 – Religionsgeschichtliche Schule 44 f. Religionsphilosophie, die 115, 181 – negative 163 Religionspsychologie, die 46 Religiosität, die 138 – überkonfessionelle 144 révélation (frz.) 310 f., 314 – 319, 321 – 323 Ritschlianismus, der 129 Roman, der 157 f. Satan, der 132, 137, 273, 281, 285 f. Satanische, das 132 Schatten, der 235 – 237, 241, 243, 245 – Integration des 237, 240 – kollektiver 238 – persönlicher 238 Scheu, dämonische 42, 48, 56 – 60, 63, 67 Schicksal, das 119 f. – Schicksalsbegriff 120 – Schicksalsgedanke 119 – Schicksalslehre 119 Schlange, die 278 f. Schöpfung, die 79, 82, 94, 96, 101 f., 113 f. – Schöpfungsakt 76 – Schöpfungslehre 71 f., 84, 100, 102, 112 f., 115 f., 120 – 122 Schriftlehre, die 77 Schuld, die 90 f., 96, 102 f. secularization (engl.) 217 Seele, die 17, 152 – 154, 158, 164, 183 – Seelenteil 232 – Seelenverlust 232 Sein, das 116 – Stufen des 116 – Seinsgrund 259 – Seinslehre 116 Selbst, integriertes 261

Sachregister

Selbsterhaltung, die 179 Selbstvernichtung, die 179 sin (engl.) 206 Sinnlichkeit, die 27 – 29, 74, 92 Soteriologie, die 86, 109, 114 Sozialismus, der 194 f. – religiöser 130, 167, 183, 196 spiritualité (frz.) 302 f., 307 f. Standpunkt, der 111 – der Intuition 111 – der Reflexion 111 – theologischer 111 subject (engl.) 218, 222 – modern (engl.) 220 – subjectivity (engl.) 223 – subjectum (engl.) 218, 222 Sünde, die 34, 72, 74 – 81, 83 – 92, 96 f., 99 – 103, 106, 110, 113 f., 116, 122 f., 140, 281 – Erbsünde 88 – Rechtfertigung der 104, 110 – Reich der 87, 89 f., 93 f. – Sinn der 109 – Überwindung der 105, 109 – Sündenbegriff 71, 78 – Sündenbewusstsein 78, 87 – Wesen der 95, 113 Sündenfall, der 74 f., 80, 92, 122, 280 – transzendenter 102 Sündenlehre, die 69, 71 f., 74 f., 78 f., 86, 91, 94, 101 – 103, 109, 112 f., 119, 122 – anthropologische 84 Sündhaftigkeit, die 104 Surrealismus, der 288 Tausch, der 189 f., 195 Technik, die 108 Teil-Persönlichkeit, die 232 Teufel, der 140, 240 Teuflische, das 240 Theokratie, die 168, 173 théologal (frz.) 302, 307 Theologie, die 102, 108, 120, 196 – Dialektische Theologie 64, 130 – Kirchentheologie 201 – liberale 129 f., 134, 136, 140

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– orthodox-lutherische 137 – spekulative 78 – Vermittlungstheologie 129 f. Theonomie, die 107, 170 – 173 Tillich-Comité, das 125 Tod, der 19 f., 22 transcendance (frz.) 302, 308 – 310, 312 f. Trinität, die 74, 101 Trotz, der 37 – dämonischer 38 Unbedingte, das 131, 175 – 177, 180, 198 – Unbedingtheitsdimension 201 Unbewusste, das 256 uncertainty (engl.) 220 Unfreiheit, die 35, 100 – selbstverschuldete 35 Ungehorsam, der 85 Ungesetzlichkeit, die 100 Urantithese, die 98 Urkräfte, schöpferische 256 Urphänomen, das 67 Urstand, der 73 f., 79 f. Versachlichung, die 191 f. Verschlossenheit, die 33, 35 – 37 Versöhnung, die 74 – Versöhnungsbewusstsein 87 Versuchung, die 283 f. Verzweiflung, die 37 Vorsehung, die 101, 118 – Vorsehungsglaube 117 f. – Vorsehungslehre 117 Wahrheit, die 74, 97 f. Welt, die 158 – Weltgeschichte 106, 108 – Weltprozess 79, 109 – Wesen der 92 Wert, der 190 – objektiver 190 – Wertlehre 189 Wesen, höchst wirkliches 22 Wunder, das 105, 121, 143 – Wunderlehre 120