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German Pages 736 [740] Year 1988
ARBEITEN ZUR FRÜ H M I T T E L A L T E R F O R S C H U N G
ARBEITEN ZUR FRÜHMITTELALTERFORSCHUNG S c h r i f t e n r e i h e des Instituts f ü r F r ü h m i t t e l a l t e r f o r s c h u n g der Universität Münster
In Zusammenarbeit mit
Hans Belting, Hugo Borger, Dietrich Hofmann, Karl Josef Narr, Friedrich Ohly, Karl Schmid, Ruth Schmidt-Wiegand und Joachim Wollasch herausgegeben von
KARL
HAUCK
18. BAND
W DE
G
1989
WALTER DE GRUYTER • BERLIN · NEW YORK
DAS DICHTERGEBET IN DER DEUTSCHEN LITERATUR DES MITTELALTERS
von
CHRISTIAN THELEN
w DE
G 1989
WALTER D E GRUYTER
· BERLIN
· NEW YORK
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Thelen, Christian: Das Dichtergebet in der deutschen Literatur des Mittelalters / von Christian Thelen. — Berlin ; New York : de Gruyter 1989 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung ; Bd. 18) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1987 ISBN 3-11-011671-5 NE: GT
© Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., Berlin — Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Druck: W. Hildebrand, Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
Meinen Eltern und Cornelia
V O R W O R T
Die vorliegende Untersuchung wurde im Dezember 1987 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Für vielfache Förderung während meines Studiums und zahlreiche wichtige Anregungen bei der Abfassung dieser Arbeit gilt mein besonderer Dank Herrn Prof. Friedrich Ohly. Herrn Prof. Karl Hauck danke ich für die Aufnahme meiner Untersuchung in die "Arbeiten zur Frühmittelalterforschung". Danken möchte ich auch allen, die mich in der Zeit des Schreibens unterstützt haben, vor allem meinen Eltern, meiner Schwester und Dr. Cornelia Czach. Christian Thelen
INHALTSVERZEICHNIS
I. Einleitung
1
1. Gegenstand und Verfahren 2. Das Dichtergebet in der
1 literaturwissenschaft-
lichen Forschung
7
II. Das Dichtergebet in der althochdeutschen
Literatur:
Otfrids v o n Weißenburg Evangeliendichtung
23
1. Die Invoaatio
23
sariptoris
ad Deum
(I 2)
2. Zum Eingangsgebet vor Otfrid v o n W e i ß e n b u r g
67
3. Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
87
4. Die E i n g a n g s - und Schlußgebete der einzelnen Bücher
112
5. Die Kapiteleingangs- und - s c h l u ß g e b e t e
147
6. Die Gebete ohne Einleitungs- oder Schlußfunktion
164
7. Die Gebete in den Widmungen
170
8. Die Dichtergebete Otfrids v o n W e i ß e n b u r g
im
systematischen Uberblick III. Das Dichtergebet in der m i t t e l h o c h d e u t s c h e n
177 Literatur:
Eingangsgebete
214
1. Frühmittelhochdeutsche Dichtung
214
2. Geistliche Erzähldichtung der B l ü t e - u n d Spätzeit
245
a. "Rolandslied" und Veldekes "Servas"
247
b. Geistliche Erzähldichtung vor W o l f r a m
253
c. Wolframs "Willehalm"
259
d. Am "Willehalm" orientierte Eingangsgebete
284
e. Eingangsgebete ohne Einfluß des "Willehalm"
312
f. Mariendichtung
345
g. Systematischer Uberblick
368
3. Lehrdichtung
413
4. Chronik
426
5. Predigt
4 30
6. Weltliche Erzähldichtung
437
7. Spiel
482
χ
INHALTSVERZEICHNIS
IV. Das Dichtergebet in der mittelhochdeutschen Literatur: Schlußgebete 1. Frühmittelhochdeutsche Dichtung 2. Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit a. "Rolandslied" und Veldekes "Servas" b. Legende und Bibeldichtung nach 1180 c. Legendenzyklen d. Mariendichtung e. Systematischer Uberblick 3. Lehrdichtung 4. Chronik 5. Predigt 6. Weltliche Erzähldichtung 7. Spiel V. Das Dichtergebet im Werkinneren 1. Legende 2. Roman VI. Schlußüberlegungen
492 492 511 511 515 540 548 560 596 609 613 620 645 650 650 655 677
Stellenregister 1. Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch 2. Andere Quellen
681 681 683
Literaturverzeichnis
703
I. EINLEITUNG
1. Gegenstand und Verfahren Eine Untersuchung der alt- und mittelhochdeutschen Dichtergebete setzt die Klärung des Begriffs 'Gebet1 voraus, die komplizierter ist, als es den Anschein hat. Das Gebet ist sicher nicht durch eine bestimmte Sprachform definiert. Ein Blick in die Liturgie der Eucharistie oder des Stundengebets zeigt, daß das Gebet keineswegs an die Du-Anrede des Adressaten gebunden ist. Auch die mittelalterlichen Gebetstheorien bestimmen das Gebet nicht über die Anrede an Gott. Definitionen des Gebets allgemein sind im Mittelalter kaum zu finden. Die theoretischen Erörterungen gelten in der Regel der Differenzierung zwischen verschiedenen Unterformen des Gebets, so etwa bei Hugo von St. Viktor, wo nach dem Kriterium der Explizität drei Typen unterschieden sind: Während in der supplioatio das Anliegen nicht offen ausgesprochen zu sein braucht, sondern, etwa in der Anrede Gottes als adjutor Deus, impliziert sein darf, verlangt die postulatio (die wiederum in drei Varianten erscheinen kann) die Ausformulierung der Bitte. Noch zurückhaltender als die supplioatio spricht die insinuatio , die sich unter völligem Verzicht auf eine Anrede des Adressaten auf die Beschreibung der Notlage des Verfassers beschränkt und es dem Angerufenen überläßt, die Notwendigkeit der Hilfeleistung zu erkennen: Insinuatio solam narrationem,
voluntatis
est sine petitione
facta signifiaatio
per
.
Hugos Systematik der Gebetstypen ist insofern ungewöhnlich, als er nur eine der vier in 1 Tim 2,1 aufgezählten Gebetstypen übernimmt, im Unterschied etwa zu Bernhard von Clairvaux, der wie Hugo die postulatio, aber nicht die nicht paulinischen supplioatio und insinuatio nennt. Bezeichnend für die geringe Verbindlichkeit mittelalterlicher Gebetstheorien ist, daß Bernhard die postulatio ganz anders bestimmt als Hugo. Für ihn liegt das unterscheidende Merkmal der einzelnen Gebetstypen nicht in
1 Hugo von St. Viktor, De modo orandi, 979C. Hugos Definition der insinuatio belegt, daß auch im 12. Jahrhundert das Gebet nicht an die Du-Anrede des Adressaten gebunden war. - Die vollständigen bibliographischen Angaben zu den hier und im folgenden angeführten Werken sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen.
2
EINLEITUNG
der Direktheit der Formulierung des Anliegens, sondern in der Seelenhaltung, aus der das Gebet erwächst. Während die postulatio als höchste Form der Bitte amplo affeotu zu sprechen ist, genügt für die oratio in engerem Sinne
2
der purus affectus 3 und für die auf der untersten Stufe stehende obsecratio sogar der verecundus affectus. Die höchste Form der Hinwendung zu Gott ist das Dankgebet (gratiarum actio), das aus völliger Hingabe 4 (devoto affectu) erwachsen muß . Inhaltlich unterscheiden sich Bernhards Gebetstypen durch den Grad der Einbeziehung Dritter in die im Gebet entstehende Beziehung zwischen dem Gläubigen und Gott. Bedarf der Beter in der obsecratio eines vermittelnden Fürsprechers, so wagt er in den drei höheren Gebetsarten die Wendung an Gott selbst, wobei in der postulatio als höchster Stufe der Bitte neben das Gebet für den Beter die Fürbitte für den Nächsten tritt . Dieselben Termini wie Bernhard verwendet Wilhelm von St. Thierry, doch ordnet er ihnen ganz bestimmte Anliegen zu. Die Rangordnung der Gebetsarten stimmt nicht mit der bei Bernhard überein. Wilhelm gilt die postulatio als unterste, auf rein diesseitige Güter (temporalia et necessavia aliqua vitae) beschränkte Art des Gebets. Erst die obsecratio hat mit der Bitte um Gottes Nähe ein geistliches Anliegen. Wird Gottes Nähe dem Menschen in vollem Maße geschenkt, so ist er fähig zur oratio: Oratio vero est hominis Deo adhaerentis affectio, et familiaris quaedam et pia allocutio, et statio illuminatae mentis ad fruendum Deo quamdiu licet. Auch bei Wilhelm steht über den Bitten der Dank**. Die Rangordnung der Bitten ist analog der gleichfalls dreistufigen Hierarchie der Seelenzustände. Bittet der animalische Mensch ausschließlich um Stillung seiner existentiellen Bedürfnisse, so erhebt sich der Mensch im rationalen Seelenzustand in der obsecratio zur Bitte um geistige Gnade und Erkenntnis. Nur wenige Begnadete gelangen zur postulatio, die als zentrales Anliegen 7 die unmittelbare Erfahrung der Nähe Gottes erfleht . Wie Wilhelm von St. Thierry und Bernhard von Clairvaux greift Thomas von Aquin auf 1 Tim 2,1 zurück, doch versteht er postulatio, obsecratio, oratio und gratiarum actio nicht als Gebets-
2 oratio ist bei Bernhard zugleich Oberbegriff und Bezeichnung für eine spezielle Form des Betens. 3 Auch Hugo kennt den Begriff obsecratio, doch bezeichnet er bei ihm eine spezielle Variante der postulatio (980D). 4 Serrao de diversis 107. 5 733BD. '6 Lettre aux fr£res, S. 286-89. 7 Expose sur le Cantique des Cantiques, S. 86, 92, 98.
Gegenstand und Verfahren
3
Q typen, sondern als notwendige Komponenten jeden Gebets . Seinen knappen Ausführungen ist keine Systematik des Gebets zu entnehmen. Viel zurückhaltender als Hugo, Wilhelm und Bernhard unterscheidet er lediglich zwischen Individual- und Gemeindegebet und stellt fest, anders als das private Gebet dürfe das des Priesters kein stilles Gebet sein, denn nur das laut gesprochene Gebet gebe der Gemeinde, als deren Repräsentant 9 der Priester spreche, die Möglichkeit zum geistigen Mitvollzug . Die großen Abweichungen in der Auslegung der paulinischen Termini haben ihren Grund gleichermaßen in der Knappheit des biblischen Textes und in der Variationsbreite der Möglichkeiten der Hinwendung des Menschen zu Gott. Die Varianz des Phänomens Gebet ist auch heute noch nicht wirklich theoretisch bewältigt. Bezeichnend ist seine Behandlung in theologischen und religionswissenschaftlichen Standard- und Nachschlagewerken. Ähnlich wie die mittelalterlichen Autoren beschreiben auch sie entweder unter Verzicht auf eine allgemeine Definition lediglich Unterformen des Gebets, oder sie geben eine überaus weitgefaßte Begriffsbestimmung. "Beten u(nd) Gebet sind als Haltung u(nd) Handlung, als innerer Akt u(nd) als dessen Ausdrucksgestalt, eine allgemein menschliche Lebensäußerung (...) Wesenseigen ist allem Beten das Verlangen nach einem lebendigen Verkehr mit dem höheren Wesen", heißt es im "Reallexikon für Antike und Christentum"^. Das evangelisch-theologische Standardwerk "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" erklärt 'Gebet' als "Hinwendung zu einem irgendwie persönlich vorgestellten höheren Wesen" 11 , während das 12
katholische "Lexikon für Theologie und Kirche" sich einer Definition enthält. Selbst Friedrich Heilers umfassende religionswissenschaftliche Studie gelangt nach minutiöser und überaus materialreicher Darstellung des Betens in den verschiedensten Kulturen und Zeiten am Ende nur zu einer in ihrer Allgemeinheit fast resignativ anmutenden Formulierung: "Das Gebet ist also ein lebendiger Verkehr des Frommen mit dem persönlich gedachten und als gegenwärtig erlebten Gott, ein Verkehr, der die Formen der menschlichen Gesellschaftsbeziehungen widerspiegelt." 1 3
8 Summa theologiae, 2,2, q. 83, a. 17, S. 429f. 9 Q. 83, a. 12, S. 425. - Mit der detaillierten Gebetssystematik Wilhelms von Auvergne befaßt sich ausführlich LUTZ, Rhetorica, dazu s.u. S lOf. 10 Bd. 8, Gebet I, Sp. 1134f. 11 Bd. 2, Gebet, Sp. 1209. 12 Bd. 4, Gebet, Sp. 537-51. 13 HEILER, Das Gebet, S. 491.
4
EINLEITUNG
Es liegt auf der Hand, daß die mittelalterlichen Gebetstheorien mit ihrer terminologischen Unscharfe, ihrer Verwendung sich überschneidender oder inkompatibler Kategorien und ihren subtilen Differenzierungen hinsichtlich der kaum objektivierbaren Einstellung des Beters der literaturwissenschaftlichen Untersuchung kein Instrumentarium liefern können, um so weniger, als ungeklärt ist, inwieweit ihre meist auf biblischem und liturgischem Beten basierenden Bestimmungen überhaupt das Gebet im 14
nichtkultischen, zum Beispiel literarischen, Raum erfassen Andererseits wäre die Übernahme moderner Vorstellungen vom Beten ahistorisch, weil sie im historischen Phänomen immer nur Strukturen des modernen Bewußtseins wiederfinden könnte. Aus diesem Dilemma gibt es keinen unanfechtbaren Ausweg. Orientierung bietet Kuhns an die vor analogen Problemen stehende historische Gattungspoetik gerichtete Empfehlung, "so lange geduldig und genau das Uberlieferte anzuschauen, darauf zu hören, bis es seine geschichtlich wirkende Ordnung, sein 'natürliches System', seine geschichtliche Entfaltung preisgibt" zwar im Bewußtsein historischer und moderner Auffassungen vom zu untersuchenden Gegenstand, doch ohne sich an deren je spezifisch begrenzte Perspektive zu binden. Dieser Grundsatz erfordert es, das Verständnis von 'Gebet' gerade auch für solche Formen offenzuhalten, die, historisch obsolet, heute nicht mehr unmittelbar als Anrufungen erkennbar sind. Als Gebet werden deshalb im folgenden sämtliche Wendungen an ein höheres Wesen verstanden, gleich ob sie dieses explizit anreden oder nicht und gleich ob real geglaubte Mächte wie der christliche Gott, die Heiligen oder der Teufel oder ob fiktive Instanzen wie Frau Minne oder die Musen angerufen sind. Diese Begriffsbestimmung erlaubt es, auch die diffusen Ränder des Phänomens Gebet, etwa im Ubergang zu Segenswunsch oder rhetorischer Apostrophe, in die Untersuchung einzubeziehen und sie im je konkreten Fall auf ihren Gebetscharakter zu befragen. "Une histoire de la priere medievale qui voudrait embrasser cet immense sujet dans toute son ampleur devrait recourir ä 16
d'innombrables t£moignages." Aus dem Reichtum der Überlieferung greift diese Untersuchung mit dem Dichtergebet einen relativ kleinen Ausschnitt heraus. Der Begriff 'Dichtergebet' soll
14 Zu LUTZ' Versuch, volkssprachige Gebete nach den Kategorien einer mittelalterlichen Theorie des Gebets zu analysieren, s.u. S. 10-12. 15 KUHN, Dichtung und Welt, S. 46. 16 Dictionnaire de spiritualite asce'tique et mystique, Bd. 12, Priere, Sp. 2274.
Gegenstand und Verfahren
5
nicht etwa Gebete meinen, die von einem literarhistorisch traditionell so klassifizierten 'Dichter' verfaßt sind. Er soll auch nicht auf die Gebete verengt werden, die mit dem Dichtprozeß unmittelbar zu tun haben, indem sie seinen Verlauf, seine Voraussetzungen oder seine Resultate reflektieren. 'Dichtergebet1 meint jede Anrufung, die in einen übergreifenden (meist epischen) Kontext integriert ist und keiner fiktiven Figur angehört. Demzufolge wird nicht unterschieden zwischen Gebeten des historischen Autors und denen eines fiktiven Erzählers. Zwar führen selbstverständlich nicht die historischen Autoren, sondern fiktive Erzähler im Roman Gespräche mit Frau Minne und Frau Aventiure; ob aber die Existenz einer Erzählerfigur über diese Passagen hinausreicht, ist selten sicher zu sagen, und noch weniger ist ein Erzähler in den vielen Texten auszumachen, die solche eindeutigen Szenen nicht kennen. Alle Anrufungen, die keiner fiktiven Gestalt gehören, sollen also unter den Begriff 'Dichtergebet' fallen. Wie sich aus der Bedingung der Einbindung in einen übergreifenden Zusammenhang ergibt, bleibt die selbständige Gebetsdichtung ausgeschlossen. Als nicht an die Situation der Abfassung, des Vortrags oder der stillen Lektüre eines Werks gebundene Anrufung steht sie in völlig anderen Verwendungszusammenhängen. Vor allem fehlt ihr die Funktion als Kompositionselement in der Gesamtstruktur eines sie übergreifenden Kontextes. Die Untersuchung stützt sich auf mehr als 300 deutschsprachige Texte vom 9. bis ins 14. Jahrhundert (und punktuell darüber hinaus) aus allen Gattungen mit Ausnahme der Lyrik und des Spruchs. Ihre Durchsicht erbringt einen Bestand von gut 2500 Dichtergebeten im oben definierten Sinne. Diese Materialfülle macht eine weitere Beschränkung erforderlich. Daher legt die Untersuchung den Schwerpunkt auf die Gebetstypen, die mit dem Prozeß des Dichtens am engsten verbunden sind, weil sich in ihnen die Verfasser am ehesten über ihr Schreiben äußern: die Eingangs- und Schlußgebete, die mit etwa 1100 Belegen knapp die Hälfte des Gesamtmaterials ausmachen. Während sie ausführlich analysiert werden, beschränkt sich die Betrachtung der Dichtergebete im Werkinneren auf exemplarische Beispiele aus den Gattungen Legende und Roman. Sie sind so ausgewählt, daß die Umrisse des in Dichtergebeten im Werkinneren Möglichen sichtbar werden. Die Untersuchung gliedert sich in vier Großabschnitte, von denen der erste die althochdeutschen Dichtergebete darstellt, während der zweite und dritte die mittelhochdeutschen Eingangs- und Schlußgebete behandeln und der vierte relativ knapp auf die Dichtergebete im Werkinneren eingeht. Die Gebete werden für das Mit-
6
EINLEITUNG
17 telhochdeutsche nach Gattungen getrennt analysiert . Da bei aller Problematik der Gattungsbegriffe jede Gattung dem Verfasser eine bestimmte Perspektive auf den Stoff und eine spezifische Darstellungsintention vorgibt, liegt die Annahme nahe, daß sie auch sein Beten nicht unbeeinflußt läßt. Zudem bedarf Brinkmanns These von der Abhängigkeit des Eingangsgebets vom weltlichen oder 18 geistlichen Charakter einer Dichtung noch immer der eingehenden Prüfung. Selbstverständlich kann Kuhns Prinzip des geduldigen Betrachtens bei 1100 Gebeten nicht in der Weise realisiert werden, daß jedes Gebet einzeln ausführlich vorgestellt wird. Für die an Zahl relativ geringen althochdeutschen Gebete ist dies zwar möglich; im mittelhochdeutschen Bereich können jedoch nur exemplarische oder sonst besonderes Interesse fordernde Einzelfälle detailliert dargestellt werden. Da die Interpretation ausgewählter Beispiele keine verallgemeinernden Aussagen zuläßt, soll sich für die Eingangs- und Schlußgebete jeder Gattung an die exemplarischen Einzelinterpretationen ein 'Systematischer Uberblick1 anschließen, der (ohne in jedem Fall ein durch eine eigene Uberschrift ausgewiesenes eigenständiges Kapitel zu bilden) auf sämtliche Gebete der betreffenden Gattung zurückgreift und diese unter bestimmten Aspekten summarisch darstellt. So gehen mit Ausnahme der Gebete aus den Legenden- und Predigtzyklen, wo die relative Gleichförmigkeit der Anrufungen dies rechtfertigt, alle 1100 Eingangs- und Schlußgebete in die Untersuchung ein. Der zweifache Durchgang durch den Bestand ermöglicht es, sowohl ein Bild bedeutender individueller Gebete zu zeichnen als auch zu begründeten verallgemeinernden Aussagen über die Eingangs- oder Schlußgebete einer Gattung zu kommen. Die Aspekte, unter denen die 'Systematischen Überblicke' die Gebete untersuchen, ergeben sich zunächst aus den wesentlichen Komponenten der kommunikativen Situation Beten. Zu fragen ist nach dem Beter, dem Adressaten und dem Gebetsanliegen, sodann nach dem Wortschatz dieser Grundkonstituenten der Gebetssituation. Da das christliche Beten schon für die frühesten in den Blick tretenden Texte jahrhundertelange Tradition hat, ist ihr Verhältnis zu Liturgie und Bibel als den hauptsächlichen Vermittlern dieser Tradition zu erörtern. Aber auch mit der Möglichkeit der Entstehung volkssprachiger Gebetstraditionen ist zu
17 Für das Althochdeutsche ist eine Unterteilung nach Gattungen nicht sinnvoll, da beinahe nur bei Otfrid Dichtergebete begegnen und die wenigen anderen günstiger im Zusammenhang mit diesen darzustellen sind. 18 BRINKMANN, Prolog, S. 8.
Das Dichtergebet in der Forschung
7
rechnen; daher sind alle Gebete auch auf Orientierung an deutschen Vorbildern etwa in Thematik, Motivik oder Bauform zu befragen. Schließlich können Gebete Aufschluß geben über theologische Auffassungen und, insofern es sich um Dichtergebete handelt, über poetologische Positionen ihrer Verfasser; von der Analyse der Gebete her kann also Licht auf das Gesamtwerk fallen. Die 'Systematischen Überblicke' sichern, daß ein breites Spektrum von Aspekten des Betens berücksichtigt wird. Sie ergänzen die Einzeldarstellungen um dort nicht angesprochene Gesichtspunkte und machen die Ergebnisse der einzelnen Kapitel vergleichbar, indem sie sie nach einem einheitlichen Fragenkatalog strukturieren. Entbehrlich sind sie nur, wo die Materialbasis ungewöhnlich schmal ist oder wo die Gebete ungewöhnlich wenig vari19 ieren . Hier würden sie die Aussagen der Einzeldarstellungen lediglich verdoppeln 20
2. Das Dichtergebet in der literaturwissenschaftlichen Forschung Das Gebet als literarisches Phänomen, sei es als selbständiges Werk, also als Gebetsdichtung, oder als Teil eines größeren Werkkontextes, hat in der Forschung wenig Beachtung gefunden. Dies gilt sowohl für Theologie und Religionswissenschaft als auch für die Literaturwissenschaft und besonders die Mediävistik, deren geringes Interesse angesichts der Häufigkeit von Gebeten in der Literatur des Mittelalters erstaunlich ist. Auf dem Feld der Religionswissenschaft erwähnt die grundlegende Studie von Friedrich 21 Heiler das Gebet als literarische Erscheinung nicht. Dasselbe 22
gilt für die theologischen Lexika. Unter dem Stichwort 'Gebet' wird die literarische Anrufung nicht als besondere Möglichkeit des Betens erwogen, und auch in den Artikeln, 2die sich mit dem 3 Verhältnis von Dichtung und Religion befassen , bleibt das literarische Beten außer acht. Nicht viel besser steht es um die
19 Ohne 'Systematischen Überblick' bleiben daher die Kapitel über Chronik, Predigt und Spiel. 20 Einmal erweist es sich umgekehrt als sinnvoll, schon die Ergebnisse der Interpretation eines einzelnen Gebets in einem 'Systematischen Uberblick 1 zusammenzustellen. S.u. S. 59-66. 21 HEILER, Das Gebet. 22 Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Sp. 537-51; Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 8, Sp. 1134-258, 9, Sp. 1-36; Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Sp. 1209-34. 23 Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, Sp. 354-68 (Dichtung, christlichreligiöse) ; Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Sp. 181-89 (Dichtung und Religion).
8
EINLEITUNG
literaturwissenschaftliche Forschung. Es ist bezeichnend, daß man im "Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte" Artikel zum Gebet und zur Gebetsdichtung vergeblich sucht. Immerhin berührt eine Reihe mediävistischer Studien, deren Hauptinteresse anderen 24 Fragen gilt , Teilaspekte des dichterischen Betens, so vor allem die Prolog- und Epilogforschung. Die einzige ganz dem Gebet in der mittelalterlichen Dichtung gewidmete Untersuchung war lange Zeit die ungedruckte Marburger Dissertation Hedwig Müllers aus 25 dem Jahre 1924 . Sie ist jedoch wenig ergiebig. Dies liegt weniger an ihrer Beschränkung auf die mittelhochdeutsche erzählende Dichtung als an der rein positivistischen Vorgehensweise der Verfasserin, die über eine Zusammenstellung von Gebeten und Gebetselementen unter bestimmten Aspekten, die weitgehend ohne Auswertung bleibt, nicht hinauskommt. Wo sie eine Interpretation versucht - vor allem im einleitenden Teil der Arbeit -, besteht diese zu einem beträchtlichen Teil aus Zitaten aus der Sekundärliteratur, vor allem aus der Literaturgeschichte Ehrismanns 2 6 und Schwieterings Abhandlung über die Demutsformel mittelhochdeut27 scher Dichter . Die Verfasserin fällt hinter den bei Schwietering erreichten Forschungsstand zurück, wenn sie seine Untersuchung hauptsächlich als Materialquelle benutzt und die dort dargelegten Zusammenhänge kaum rezipiert. Versucht sie einmal eine eigenständige Darstellung, so sind ihre Ergebnisse vielfach trivial und zum Teil sehr anfechtbar. Das Gebet des Dichters handelt Müller recht kurz ab. Sie betrachtet es in einem ersten Hauptteil, der unterscheidet zwischen dem "Gebet im Munde des Dichters" (§§ 6-26) - mit nochmaliger Differenzierung nach Eingangsgebeten (§§ 6-13), Schlußgebeten (§§ 13-19) und Gebeten im Inneren der Gedichte (§§ 20-26) - und dem "Gebet im Munde der handelnden Personen" (§§ 27-63). Die Anrufungen werden nicht analysiert, sondern lediglich nach Anliegen geordnet aneinandergereiht. Die Verfasserin unternimmt keinen Versuch, die Gebete hinsichtlich der Gattungszugehörigkeit des Werks, dem sie angehören, zu interpretieren. Der umfangreichere zweite Hauptteil der unübersichtlich gegliederten Arbeit bietet unter der Uberschrift "Beschreibung der Gebete" eine Zusammenstellung von Wortschatz und Motivik, wobei wie im ersten Hauptteil auch hier auf eine Interpretation der Befunde sehr
24 Zum Beispiel EDELMANN-GINKEL, Loblied; NOWAK, Studien; besonders WYSS, Theorie, und LIVER, Nachwirkung. 25 MÜLLER, Gebet. 26 EHRISMANN, Geschichte. 27 SCHWIETERING, Demutsforme1.
Das Dichtergebet in der Forschung
9
weitgehend verzichtet ist. Die Wortschatz- und Motivliste untergliedert sich in "Anrufung" (§§ 162-294), "Kernstück des Gebets" (§§ 295-762), "Begründung" (§§ 763-833) und "Schluss der Gebete" (§§ 734-837), was zur Folge hat, daß so fundamentale Aspekte wie die Fragen, ob Christen oder Heiden, der Dichter oder eine Figur 28
der Dichtung beten, unbeachtet bleiben. Auch der Kontext eines Gebets und die Bedeutung der Anrufung im Werkzusammenhang werden völlig übersehen. Damit bietet die Untersuchung Müllers kaum mehr als eine mit gebührender Vorsicht zu benutzende Materialsammlung. Als angemessene Darstellung des Gebets und speziell des Dichtergebets in der mittelhochdeutschen Literatur kann sie nicht gel4. 29 ten Erst in neuester Zeit erschien mit der Dissertation von Eckart Conrad L u t z ^ eine zweite Untersuchung, die das mittelhochdeutsche Gebet - speziell das Eingangsgebet - als literarische Erscheinung analysiert. Sie leidet jedoch unter ihrer schmalen Materialbasis, denn sie stützt sich im wesentlichen auf die Eingangsgebete Wolframs und Rudolfs von Ems und wirft nur einige kurze Blicke auf die Eingangsgebete vor Wolfram; das Althochdeutsche und, was schwerer wiegt, die gesamte nachklassische Zeit, der die weitaus meisten Gebete entstammen, sind nicht berücksichtigt, wie auch die Eingangsgebete nichtgeistlicher Gattungen außer acht bleiben. Bei einer so kleinen Textgrundlage unterlaufen dem Verfasser Verallgemeinerungen, die sich bei der Analyse einer größeren Zahl von Gebeten nicht hätten halten lassen. Diese Schwäche können die Ausblicke auf die romanischen Li31 teraturen vom Altfranzösischen bis zum Kastilischen nicht wettmachen. Ziel von Lutz' Untersuchung ist es, die "bewußt oder unbewußt wirksamen Einflüsse rhetorischer, poetologischer, literarischer und theologischer Traditionen in ihrem Zusammenspiel zu erfassen" 32 . Der weitaus stärkste Akzent liegt dabei auf der Rheto28 Diese im ersten Hauptteil vorgenommene Unterscheidung ist hier wieder aufgegeben. Ihr Fehlen macht die Zusammenstellung der Gebete um "Stärkung des Herzens und der Sinne zur Aufnahme Gottes durch seinen Willen, seine Lehre und sein Gebot" (§§ 509-32) wertlos, weil dadurch so verschiedene Dinge wie die Bitte des Dichters um Inspiration und das Gebet einer Figur der Dichtung um ein gottgefälliges Leben oft ununterscheidbar sind. 29 Angeregt unter anderem durch die Dissertation MÜLLERs erschien 1951 ELISABETH LINKEs Aufsatz "Die Gebete in Morant und Galie". Er bietet einen Zeilenkommentar zu den Gebeten dieses Gedichts sowie eine Zusammenstellung seiner Gebetsformeln und -gesten. Auf Gebete des Dichters geht er praktisch nicht ein. 30 l u t z , Rhetorica. 31 S. 99-103. 32 S. 1.
10
EINLEITUNG
rik, während poetologische und literarische Einflüsse so gut wie gar nicht und 'theologische Traditionen' vorwiegend bei der Diskussion von Spezialfragen zu Wolfram und Rudolf aufgezeigt werden. Lutz untersucht zunächst in über das Gebet zum Teil weit hinausgreifenden Kapiteln die rhetorischen Grundlagen des mittelalterlichen Prologschreibens, die er in der Rezeption der antiken Rhetorik, in der darin wurzelnden mittelalterlichen Poetik, in der mit beiden in vielfältiger Beziehung stehenden Briefschreibe33 lehre sowie der ars praedicandi erblickt . Sodann erwägt er das praktische Vorbild antiker und mittellateinischer Prologe für die 34 Gestaltung volkssprachiger Werkeingänge . Auf der Grundlage der mittelalterlichen Rezeption der antiken Rhetorik und der Praxis spätantiker christlicher Dichtung entwickelt sich nach Lutz auch eine Rhetorik des Gebets, die ihren prägnantesten Ausdruck in 35 der "Rhetorica divina" Wilhelms von Auvergne (um 1240) findet Ihr zufolge gliedert sich das Gebet in Anlehnung an die antike Rhetorik und an die Briefschreibelehre in exordium aus invocatio und captatio benevolentiae, narratio (Sündenbekenntnis oder Aufzählung früherer Wohltaten Gottes), petitio, confirmatio
(Beru-
fung auf Zusagen Gottes, die zum Beten ermuntern) und conclusio, die das Gebet zusammenfaßt oder noch einmal die Bitte wieder36 holt . Wenngleich auf Lutz' Thesen nicht im einzelnen eingegan37 gen werden kann , ist doch anzumerken, daß er die Bedeutung der Rhetorik für das praktische Beten der Dichter überschätzt. Lutz muß daß sich der wiederfindet bei Wilhelm von angegebene 38 . Auvergne Bau einräumen, in nicht vielen Gebeten Häufig verschmelzen 39 captatio benevolentiae und narratio ; der Schluß hat oft nicht die Aufgabe, zu bekräftigen und zusammenzufassen, sondern führt eine neue Bitte ein und kann daher nicht als aonalusio bezeich40 net werden , und das Strukturelement confirmatio läßt Lutz stillschweigend ganz unter den Tisch fallen. Es ist äußerst fraglich, was die Gebetsgliederung Wilhelms von Auvergne für die Erklärung der mittelhochdeutschen Eingangsgebete leisten kann, wenn 33 34 35 36 37
S. 9-64, 69-75. S. 65-68, 78-83. S. 118-37. S. 131-37. LUTZ' Arbeit erschien zu einem Zeitpunkt, an dem die Analyse der Eingangsgebete in dieser Untersuchung abgeschlossen war. Da es ihr anders als LUTZ nicht um rhetorische Aspekte des Betens geht, ist eine Auseinandersetzung im Detail auch nicht erforderlich. 38 S. 155.
39 S. 158: Oft sei die "captatio benevolentiae (...) von einer narratio kaum zu unterscheiden (...) Diese beiden rhetorischen partes gehen nicht nur in Bittgebeten zuweilen völlig ineinander auf." 40 S. 159: "Die conclusio kann eine zweite, allgemeinere Bitte, auch eine neue Anrufung enthalten oder ganz fehlen."
11
Das Dichtergebet in der Forschung
sie nur mit so schwerwiegenden Modifikationen anwendbar ist. Unabhängig von seiner angeblichen rhetorischen Struktur soll das mittelhochdeutsche Eingangsgebet nach Lutz Einwirkungen mittellateinischer Legendeneingänge erkennen lassen. Insbesondere soll aus ihnen ein zweiteiliger Bau aus Gotteslob und Bitte, "das 41
Modell des lateinischen Schöpfungspreises mit Inspirationsbitte" 42
übernommen sein
. So plausibel diese These klingt, läßt sie sich
doch anhand der Eingangsgebete vor Wolfram, die Lutz zur Stützung seiner Ansicht kurz durchgeht,43 nicht untermauern, weil nicht alle Gotteslob und Bitte enthalten
. Wenn Lutz ersatzweise schon die
nur formale Zweiteiligkeit eines Werkeingangs
(nicht des Eingangs-
gebets!) als Indiz 4für den Einfluß des mittellateinischen Legen4 deneingangs anführt , beweist dies für das Eingangsgebet wenig. Offenbar sind die Eingangsgebete vor Wolfram in ihrem Bau nicht durchgängig von lateinischen Vorbildern geprägt. Zur rhetorischen Struktur nach Wilhelm von Auvergne und zur Zweigliedrigkeit aus Gotteslob und Bitte tritt schließlich als dritter Ansatz einer Systematisierung der Eingangsgebete die Einteilung anhand der Art und Weise der Begründung ihres Anliegens in
'Konfessionsgebe-
1 te ' - Gebete, zur demonstrieren Begründung den des Beters 45 festen durch eine Art die Credo - und 1 Glauben Paradigmengebete ,
die die Bitte durch den Hinweis auf frühere Gnadengewährungen 46
stützen
. Diese schon im Alten Testament nachweisbaren und ziem-
lich rein in der altfranzösischen Epik aufzufindenden Gebetstypen 47 haben aber in der deutschen Literatur, wie Lutz selbst bemerkt
,
keine wirkliche Entsprechung. Der Wert dieses Versuchs, die deutschen Eingangsgebete zu systematisieren, liegt darin, daß er vor Augen führt, wie vorläufig solche Einteilungen selbst bei einer relativ kleinen Zahl herangezogener Texte bleiben müssen, wie sie stets nur einen Teil der Gebete erfassen und wie sich die Vielfalt des dichterischen Betens der Klassifikation weitgehend entzieht. Selbstverständlich ist nicht jedes Gebet ganz individuell. Aber die Formkonstanten 41 S. 98. 42 S. 76-98, besonders z.B. S. 87 zu den frühmittelhochdeutschen Eingangsgebeten: "In allen besprochenen Beispielen läßt sich also der Einfluß des lateinischen Legendenprologs beobachten, dessen Gliederung mehr oder weniger deutlich übernommen worden oder zumindest - wie im 'Lob Salomons' - in nuce vorhanden ist." 43 Unter den frühmittelhochdeutschen Eingangsgebeten haben etwa die zu "Anegenge" und "Pilatus" kein Gotteslob (S. 86f.). 44 Ebd. 45 'Konfessionsgebet' heißt bei LUTZ also nicht 'Sündenbekenntnis'. 46 S. 140-49. 47 S. 152: "Zwar fehlen auch hier Berufungen auf Inhalte des Credos und Paradigmen nicht (...) sie kommen jedoch in der mittelhochdeutschen Epik nicht zur Entfaltung."
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EINLEITUNG
und die fast immer traditionellen Gebetsinhalte geben nur einen Rahmen vor, in dem formale und gedankliche Eigenständigkeit nicht nur möglich ist, sondern tatsächlich vielfach realisiert wird. Systematisierungen sind aus Gründen der Uberschaubarkeit des riesigen Bestands an Dichtergebeten, den das Mittelalter hinterlassen hat, unumgänglich. Aber sie sind mehr hermeneutische Hilfsmittel, die der Interpret an die Gebete heranträgt, als Auswirkungen einer verbindlichen 'Rhetorik des Betens'. Verpflichtende Regeln für das literarische Beten gab es im Mittelalter nicht. Deshalb kann eine Systematisierung immer nur mit Vorsicht vorgenommen werden. Sie kann nicht das eigentliche Ziel einer Untersuchung sein. Wichtiger ist es, festzustellen, was das jeweilige Gebet intendiert, an wen es sich wendet, in welcher Weise es den Gebetsadressaten anspricht oder wie es sein Anliegen gestaltet. Daß dabei auf Parallelen zu anderen Gebeten (derselben Zeit, der gleichen Gattung) und auf sich mehr oder weniger scharf abzeichnende Traditionen angemessen einzugehen ist, ist selbstverständlich. In einem zweiten Hauptteil befaßt sich Lutz nach einem Exkurs "Zur theologischen Bildung der Dichter am Beispiel Rudolfs von 48 Ems" mit einer eingehenden Analyse der Eingangsgebete Wolframs und Rudolfs sowie des ihnen in vieler Hinsicht ähnlichen Gebets 49 des Kaisers im "Guten Gerhard" . Diese ausführlichen und ertragreichen Interpretationen, in denen Lutz auf den Aufweis eines Baus gemäß den angeblichen Strukturmustern fast ganz verzichtet, sind neben der Aufhellung des rhetorischen Hintergrunds des mittelalterlichen Prologs der wichtigste Teil seiner Arbeit, während die Übertragung der anhand der rhetorischen Theorie gewonnenen Einsichten auf die Praxis des dichterischen Betens weniger gelingt . Sofern es eine Hinwendung des Dichters an eine im Gebet verehrte und angerufene Macht darstellt, steht das Dichtergebet außerhalb der eigentlichen Erzählsituation. Zahlreiche Dichtergebete finden sich daher an Orten, die es dem Verfasser gestatten, aus der Haltung des Erzählers herauszutreten und sein Werk und dessen Entstehungsbedingungen zu thematisieren, also im Eingang und im Schluß. Es liegt nahe, Analysen von Eingangs— und Schluß— gebeten auch in der Forschungsliteratur zum Prolog und Epilog zu suchen. 1877 unternimmt Weinhold in der Einleitung zu seiner Ausgabe des deutschen Pilatusgedichts aufgrund der bis dahin edierten 48 S. 161-85.
49 S. 187-367.
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Das Dichtergebet in der Forschung
Texte eine erste knappe Darstellung der Eingänge mittelhochdeutscher Epik"^. Er unterscheidet drei Gattungen - geistliche und halbgeistliche Werke, Spielmannsdichtung und höfische Epik - und stellt fest, daß im Eingang von Werken der ersten Gruppe die "bitte zu gott oder der heiligen jungfrau um ihren beistand" 51 häufig begegne, während sie in der Spielmannsdichtung und der 52
weltlichen sowie "mit geringen ausnahmen (Wolfram, Rudolf)" selbst in der geistlichen höfischen Epik fehle. Weinholds Versuch, die von ihm untersuchten Eingangsbitten systematisch zusammenzustellen, kann wegen der schmalen Textgrundlage nicht weit führen 5 3 ; er gelangt jedoch zu einer Unterscheidung möglicher 54
Adressaten von Eingangsgebeten und zu einer Aufstellung der für die Bitte um Weisheit genannten Gründe"'"'. Allerdings erlaubt die geringe Zahl der herangezogenen Texte keine gültige Systematisierung, ja kaum eine Gewichtung der Befunde"'*'. Trotz dieser Einschränkungen kommt Weinhold das Verdienst zu, schon früh auf die Einleitungen und besonders die Eingangsgebete als Forschungsgegenstand aufmerksam gemacht zu haben. Deutet sich bei Weinhold eine Untersuchung der Dichtungseingänge nach ihrer Gattungszugehörigkeit an, so ist dieser Ansatz in der ersten ausführlicheren Arbeit über die Einleitungen mit57 telhochdeutscher Dichtungen von Richard Ritter wieder aufgege58
ben . Ritter, der sich auf eine wesentlich größere Zahl von Werken stützt, betrachtet die Eingänge unter dem Aspekt des in ihnen ausgesprochenen Verhältnisses des Dichters zu Gott und zu seinem Publikum. Statt aber die einzelnen Eingänge im Zusammenhang zu interpretieren, isoliert er bestimmte mehr oder weniger 50 51 52 53
54 55
56 57 58
WEINHOLD, Pilatusgedicht, S. 254f. S. 254. S. 255. WEINHOLDs Feststellungen zur Gattungsbedingtheit der Eingangsbitte sind in dieser Form nicht zu halten: "Die spielleute haben selbst in den halblegendarischen gedichten diese anrufung nicht; ebenso nicht die höfischen epiker, Heinrich von Veldeke voran" (S. 255). Vgl. dazu Veldekes "Servas" 1-21. "Orendel" hat zwar keine "bitte um Weisheit" (ebd.), wohl aber ein Gebet um das ewige Leben (7-12). S. 254. Im einzelnen: die Schwäche des Dichters, der "ohne den höheren beistand nichts leisten" könne (bei Wolfram und Rudolf von Ems), das Motiv der geistlichen Dichtung als Buße für weltliches Schreiben (bei Konrad von Fußesbrunnen), der Zweifel an der Fähigkeit zur rechten Übersetzung der Vorlage ("Pilatus", "Altdeutsche Exodus") sowie die Schwierigkeit, die "rechten gedanken" zu finden und "die spräche richtig zu brauchen" (S. 255) Es findet sich kein Hinweis darauf, daß der "heilige Engel" sehr viel seltener angerufen wird als etwa Maria (S. 254). RITTER, Einleitungen. Zwar zeigt sich auch bei RITTER gelegentlich die Vermutung, zwischen Werkeingang und Gattung könne ein Zusammenhang bestehen, doch geht er dieser Frage nirgends nach.
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EINLEITUNG
häufig wiederkehrende Motive und Gedanken und stellt diese mitunter recht verschiedenen Werken entnommenen Zitate lediglich 59 nebeneinander . Dies ermöglicht einen Uberblick darüber, welche Gedanken und Motive der Dichtungseingänge immer wieder erscheinen; eine Reflexion auf den Werkeingang als ganzen oder auch nur auf das Eingangsgebet als Teil vieler Werkeingänge läßt dieses Verfahren aber gerade nicht zu. Die Eingänge und Eingangsgebete erscheinen aufgelöst in Einzelelemente, die, aus dem jeweiligen Zusammenhang herausgenommen und um ihrer selbst willen zusammengestellt, ihr Zusammenwirken nichtß 1mehr erkennen lassen^. 1935 bemüht sich Hans Schreiber um eine Darstellung der Geschichte des Werkeingangs bis zur mittelhochdeutschen Klassik auf der Basis von Einzelinterpretationen. Weil aber seine Analysen oberflächlich bleiben, gelangt er zu einem sehr fragwürdigen Ergebnis: In den Prologen6 2 der Blütezeit zeige sich Höhepunkt und Ziel einer Entwicklung , die schon im Althochdeutschen begonnen 63 habe . Immerhin führen Schreibers Bemühen um ein Verstehen des Werkeingangs als Ganzheit und sein Versuch, die historische Entwicklung des Prologs nachzuzeichnen, in der Aufgabenstellung über die Arbeit Ritters hinaus. Das Dichtergebet als Element 64 des Eingangs findet auch bei Schreiber nur geringe Beachtung 65 Für die Werkschlüsse hat Käthe Iwand den Versuch einer systematischen Zusammenstellung unternommen. Sie orientiert sich in ihrer Verfahrensweise stark an Ritter^ und teilt daher in gewissem Maße die Problematik seines Ansatzes. Da sie aber die Auflösung der Schlüsse in Einzelgedanken und -motive weniger weit treibt, geraten recht häufig umfangreichere Elemente des Schlusses als ganze in den Blick, darunter auch mehrfach Gebete 6 7. Ob59 Zum Beispiel werden als Belege für die Bitte um das ewige Heil kommentarlos nebeneinandergestellt Zitate aus Albers "Tnugdalus", Lamprechts von Regensburg "Sanct Francisken Leben" und "Tochter Syon", Albrechts von Scharfenberg "Jüngerem Titurel", Heinrichs von Hesler "Evangelium Nicodemi", der mitteldeutschen Makkabäerdichtung und Ulrich Boners "Edelstein" (S. 36f.). 60 Elemente der Eingangsgebete erscheinen in den Abschnitten über die Bitte um Hilfe im Dichten, den Gedanken der Unfähigkeit zum Dichten, die Bezeichnungen für Gott, Christus und den Heiligen Geist, über Maria und die Bitte um Erlösung (S. 9-39). 61 SCHREIBER, Studien. 62 S. 34. 63 Diese Vorstellung ist unangemessen. Zwar suggeriert die Gliederung der Arbeit in "Wege" und "Ziele" eine geradlinige Entwicklung, doch bleibt SCHREIBER deren Nachweis schuldig. 64 Otfrids umfangreiches Eingangsgebet bleibt unerwähnt, das des "Rolandslieds" wird nur kurz paraphrasiert, und ähnlich knapp sind die Hinweise auf Gebete in anderen Werkeingängen (S. 9f., 12, 18-20, 22). 65 IWAND, Schlüsse. 66 S. 7. 67 So etwa Ulrichs von Etzenbach Gebete zu Maria im Schluß des "Wilhelm von Wenden" (S. 51-53).
Das Dichtergebet in der Forschung
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gleich auch ihre Interpretationen nicht immer über die Paraphrase ihrer Gegenstände hinauskommen, stellt sie mehrfach weitergehende 68 Überlegungen an, so zu den Schreiberschlüssen oder zur Möglich69
keit der Beeinflussung eines Dichters durch einen Vorgänger Auch die Frage nach dem möglichen inneren Zusammenhang der Dichtergebete eines Werks klingt an'". Entsprechende Untersuchungen wurden auch für andere europäische Literaturen angestellt. Zum Altfranzösischen sind die Disserta71 72 tionen von Paul John Jones und Rubin Haipersohn zu nennen; 73
letztere ist in Aufbau und Verfahren der Ritters sehr ähnlich Für das Mittelenglische untersucht unter Berücksichtigung der altfranzösischen Vorlagen 74Parley Α. Christensen die Eingänge und Schlüsse der Versromanzen . Christensen begnügt sich nicht mit einer Zusammenstellung der wiederkehrenden Motive der Romanzeneingänge und -schlüsse, sondern versucht, sie aus der jeweiligen Erzählsituation heraus zu verstehen. Der Eingang der von Spielleuten (minstrels) vorgetragenen Versromanzen stehe im Dienste der Aufgabe, die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Diesem 75 Zweck diene auch das Eingangsgebet , mit dem der minstrel darüber hinaus ebenso wie mit dem Schlußgebet seinem Vortrag einen guasi-religiösen Charakter zu verleihen versuche, der ihn vor 76 der Kritik der Kirche an weltlicher Dichtung bewahren solle Da mit den bisher genannten, positivistisch orientierten Beiträgen zur Prolog- und Epilogforschung für das Verständnis der Eingänge und Schlüsse in der mittelalterlichen Epik nicht viel getan war, ist das sich seit Mitte der sechziger Jahre zeigende 68 Z.B. S. 18f., Aran. 12; mit speziellem Bezug auf Heinrichs von dem Türlln "Crone" S. 41, Anm. 27; für den Pleier S. 25-27. 69 Für das Eingangsgebet in Heinrichs von Neustadt "Von Gottes Zukunft" vermutet sie Beeinflussung durch das Schlußgebet in Rudolfs "Barlaam und Josaphat"; ein Psalmzitat im Schluß von Ulrichs von Etzenbach "Wilhelm von Wenden" führt sie auf das Vorbild Reinbots von Durne zurück (S. 46, Anm. 29, S. 51f., Anm. 31). 70 Bei Otfrid folge der "einführenden weltlichen Vorrede (...) ein Gebet im Anfang; ebenso geht dem weltlichen Schlüsse ein solches voran, und zwar entspricht dieses Schlußgebet nicht nur in seiner Stellung innerhalb des gesamten Werkes, sondern auch in manchen Gedanken dem Eingangsgebet" (S. 11). Siehe aber unten S. 87f. 71 JONES, Prologue, erwähnt Gebete als obligatorische Bestandteile von Legendeneingang und -schluß (S. 24, 61, 64f.), ohne sie weiter zu beachten. 72 HALPERSOHN, Einleitungen. 73 RITTERs Gliederung nach dem Verhältnis des Dichters zu Gott und zu seinem Publikum ist bei HALPERSOHN ergänzt durch die Aspekte "Stellung des Dichters zu seinem Beruf" und "Stellung des Dichters zu seinen Berufsgenossen". Auch HALPERSOHN versucht nicht, die einzelnen Elemente der Prologe in ihrem Zusammenhang zu sehen. 74 CHRISTENSEN, Beginnings. Für die Vermittlung dieser Arbeit danke ich Herrn Prof. Dr. Ostheeren. 75 S. 33. 76 S. 89, 160.
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EINLEITUNG
neue Interesse am Werkanfang und -ende nicht überraschend. Diese neuere Prolog- und Epilogforschung begnügt sich nicht mehr mit dem isolierenden Aufweisen einzelner Elemente, sondern bemüht sich um ein gründlicheres Verstehen ihres Gegenstandes. Auch in ihr findet der Werkeingang wegen seines größeren Umfangs und seines größeren Variantenreichtums mehr Beachtung als der Schluß. Dementsprechend ging die Anregung zur neueren Forschung von einem Aufsatz zum Werkeingang aus, Hennig Brinkmanns "Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung". Brinkmann versucht zum erstenmal, eine Theorie des mittelhochdeutschen Epenprologs zu entwickeln. Er unterscheidet prinzipiell zwischen den Eingängen höfischer Epen und denen religiöser Gedichte. Im höfischen Epos solle der Prolog in das Werk einführen und das Publikum günstig stimmen, wodurch sich eine formale Zweiteilung des Prologs ergebe, dessen erster Abschnitt das Gespräch mit den Hörern oder Lesern eröffne und ihr Wohlwollen zu gewinnen versuche, während der zweite Teil einen Uberblick über Inhalt und Intention des 77
Werks gebe . Dagegen ist einzuwenden, daß sich eine Zweiteilung nicht in allen von Brinkmann als Beleg herangezogenen Werkeingängen klar aufzeigen läßt. Sie kann auch nicht, wie Brinkmann möchte, mit den Poetiken Konrads von Hirsau und Johannes' von 78 Garlandia in Verbindung gebracht werden, denn wie Samuel Jaffe zeigt, beruht Brinkmanns Beziehung zentraler Begriffe Konrads und Johannes" auf die von ihm postulierte Zweiteiligkeit der höfischen Prologe auf einer inadäquaten Interpretation dieser Termini . Das Konzept der Erzählsituation als Gespräch des Autors mit dem Publikum soll nach Brinkmann nur auf weltliche Dichtung zu beziehen sein. In der geistlichen Dichtung herrsche eine völlig andersartige Situation: Es handle sich in ihr um die Antwort des Dichters auf die Offenbarung Gottes, also auf ein bereits eröffnetes Gespräch, in dem dem Sprechen des 79 Dichters immer schon die 'Anrede' durch Gott vorangegangen sei . Da der Dichter demnach nicht vor der Notwendigkeit stehe, ein Gespräch anzuknüpfen, entfalle auch die Aufgabe, den Gesprächspartner günstig zu stimmen; entsprechend sei in den Eingängen geistlicher Dichtungen das Proömium ersetzt durch die Bitte um den Beistand des Heiligen Geistes, der den Dichter zur angemessenen Antwort an Gott erst
77 S. 8: "Der erste Teil nimmt das Gespräch mit den Empfängern auf; der zweite Teil führt in das Werk ein." Siehe auch die Demonstration an mehreren altfranzösischen und mittelhochdeutschen Eingängen (S. 8-18). 78 JAFFE, Gottfried, S. 288-95. 79 BRINKMANN, Prolog, S. 18.
Das Dichtergebet in der Forschung
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80
befähige . Das Eingangsgebet hat für Brinkmann anders als der Eingang weltlicher Dichtungen keine erzähltechnischen Aspekte. Die Auffassung Brinkmanns ist bald auf Widerspruch gestoßen. 81
1969 gibt Kobbe eine Zusammenstellung der Prologe nachklassischer weltlicher Epen in dem zweifachen Interesse, zu einer Darstellung der Bauformen des Prologs zu gelangen und aufzuzeigen, wie sich im Prolog der Aufbau einer Erzählsituation vollzieht 82 Die Zusammenfassung des Materials in einer Ubersicht unter mehr als vierzig Gesichtspunkten 8 3 leistet wichtige Vorarbeiten für 84 die Erkenntnis der Strukturen des nachklassischen Prologs . Sein zweites Untersuchungsinteresse führt ihn unter anderem zu einer von der Deutung Brinkmanns völlig verschiedenen Einschätzung des Eingangsgebets. Zu Recht weist er Brinkmanns Auffassung zurück, in geistlicher Dichtung liege eine grundsätzlich andere Gesprächssituation vor als in weltlicher Literatur; vielmehr habe sich auch der Verfasser eines geistlichen Werks im Eingang um eine Verbindung mit seinem Publikum zu bemühen 8 5. Dies geschehe auch hier im ersten Teil des Eingangs, nämlich im Eingangsgebet, das 86
insofern dem Proömium weltlicher Prologe entspreche, als es wie dieses die Verbindung zwischen Verfasser und Publikum herstelle, indem es die Hörer und Leser auf 8 7die religiöse Bedeutungsebene des zu Erzählenden einstimme und, so ist Kobbes Ausführungen hinzuzufügen, indem es auf den Dichter und Publikum gemeinsamen Glauben verweist und damit ähnlich wie die Sentenz im Proömium weltlicher Dichtung durch den Hinweis auf eine allgemein akzeptierte Wahrheit eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen dem Dichter und den Rezipienten stiftet. Während in der Untersuchung von Olive Sayce über "Prolog und Epilog und das Problem des Erzählers" das Gebet nur am Rande im Zusammenhang mit der Frage relevant wird, ob die Werkeingänge und -schlüsse dem Autor oder einem Erzähler im Sinne der modernen Erzähltheorie zuzuschreiben sind 8 8 , findet es in den beiden 80 S. 19. Im Hinblick auf diese These interpretiert BRINKMANN die Eingangsgebete zu Veldekes "Servas", Wolframs "Willehalm" und Rudolfs "Barlaam und Josaphat" sowie den geistlichen Eingang von Hartmanns "Gregorius" (S. 19-21). 81 KOBBE, Funktion. 82 S. 409. 83 S. 434-55. 84 Statt aber diese Tabelle im Hinblick auf die Bauform des Prologs auszuwerten, beschränkt sich KOBBE auf einen Teilaspekt, nämlich die Art der Verknüpfung des Prologs mit der Erzählung selbst (S. 417f.). 85 S. 415. 86 KOBBE verwendet die Bezeichnung prologue praeter rem (S. 415). 87 Ebd. 88 SAYCE kommt zu dem Ergebnis, daß zahlreiche Äußerungen in Prolog und Epilog konventionell seien. Dies gelte auch für das Gebet, das, besonders als liturgische Formel, oft "überpersönlich" sei, was aber nicht ausschließe,
18
EINLEITUNG
Untersuchungen Naumanns zu Prolog und Epilog in der mittelalter89 liehen Epik größere Beachtung . Naumanns Interesse zielt hauptsächlich auf die Äußerungen des Verfassers über sich, sein Werk 90 und sein Publikum , wobei der erstgenannte Aspekt über die Frage nach den Lebensverhältnissen eines Autors rasch zur Frage nach seinem geistigen Hintergrund und damit nach seinen Quellen und Vorbildern führt. Für die als Verfasser der weitaus meisten frühmittelhochdeutschen Gedichte, die im Zentrum der Untersuchungen Naumanns stehen, allein in Frage kommenden Geistlichen liegt nach Naumann der Einfluß der Predigt nahe, die nicht 91 nur stilistische Gemeinsamkeiten mit den Gedichten aufweise , sondern auch in der Struktur ihres Eingangs verweist und Schlusses mit auf die92 . Naumann sen weitgehend übereinstimme besonders die Schlußgebete, denn die mehrere Dichtungen des 12. Jahrhun93 derts beschließende Formel Per omnia saecula saeculorum. Amen entstamme der Predigt, wo ihr wie in der Dichtung oft eine "Ermahnung an die Gemeinde und eine Bitte an Gott um Nutzanwen94 dung"
vorausgehe. Damit bildet das Schlußgebet in Naumanns Ar-
gumentation ein wichtiges Beweisstück für 95 den Zusammenhang von Dichtung und Predigt im 12. Jahrhundert Neben den Untersuchungen zu Eingang und Schluß als literarischen Formen standen in den letzten Jahrzehnten Arbeiten zu Einzelfragen von Prolog und Epilog. Unter den Arbeiten, die die Struktur der Anfänge und Schlüsse in Abhängigkeit von der Gattungszugehörigkeit des betreffenden Werks zum Thema haben, fin96 97 den sich bei nennen Eva Mason und Christoph Flügel der Überlegungen Gebet. Beide es als festen Bestandteil Prologe und zum
89 90 91 92
"daß es mit stark persönlichem Gehalt gefüllt und zur 'autobiographischen' Konfession werden" könne (Prolog, S. 68f.). NAUMANN, Vorstudien; Ein- und Ausgänge. Vorstudien, S. 23, Ein- und Ausgänge, S. 40. Ein- und Ausgänge, S. 46. NAUMANN, Vorstudien, S. 25: Die mittelalterliche Predigt zeige "vom Inhalt her die moralisierende Grundhaltung der meisten mhd. Prologe (...) u n d den methodischen Einstieg ins Thema ex intra, d.h. textvorgreifend, und ex extra, d.h. mit einer vom Text unabhängigen Einführung." Der predigtähnliche Charakter der frühmittelhochdeutschen Dichtung führt NAUMANN zur Zurückweisung der These BRINKMANNS (Prolog, S. 18f.), in geistlicher Literatur bestehe ausschließlich eine Gesprächssituation zwischen dem Dichter und Gott: Dichtung in christlich-didaktischer Absicht könne sich immer nur an die Gläubigen wenden (Ein- und Ausgänge, S. 57, Anm. 63).
93 Ein- und Ausgänge, S. 51. 94 Ein- und Ausgänge, S. 50. 95 Dagegen wird das Eingangsgebet nur einige Male am Rande erwähnt (S. 44, 50 u.ö.) . 96 MASON, Prolog. 97 FLÜGEL, Prolog.
Das Dichtergebet in der Forschung
Epiloge des Dramas
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98
und befragen es auf mögliche Vorbilder in 99 Predigt und Liturgie . Flügel versucht darüber hinaus, anhand der Ein- und Ausgänge zu entscheiden, ob bestimmte Werke des 12. und 13. Jahrhunderts zur Gattung Legende zu zählen seien oder nicht 1 0 0 und zieht dabei auch die Eingangs- und Schlußgebete hera n 1 0 1 . Unter den Forschungen zu einzelnen Elementen von Werkeingängen nimmt vor allem ein Aufsatz C. Stephen Jaegers über die geschichtlichen Wurzeln und die Bedeutung der besonders in geistlicher Dichtung häufigen Schöpferinvokation und Schöpfungsbe102 Schreibung auf das Gebet Bezug
. Für ein Element des Werk-
schlusses, die Schlußbitte Tu autem, domine, miserere nobis, gibt Friedrich Ohly eine durch Einbeziehung des liturgischen Kontexts und der Exegese dieser Formel gestützte Interpretation, von der aus Rückschlüsse auf die Verwendung der so beschlossenen Dichtungen möglich werden10"*. Die eingehendste Darstellung eines Motivs der Werkeingänge oder -schlüsse bildet noch immer Schwieterings Abhandlung 104 über "Die Demutsformel mittelhochdeutscher Dichter" (1921) . Die Demutsformel 105 des Dichters geht nach Schwietering auf Paulus zurück 10 ^. Ihre Begründung liege im Wissen des Dichters um seine 107 Sündigkeit, die ihn von Gott trennt und am Dichten hindert ; daraus ergebe sich für den Dichter zum einen die Notwendigkeit, 108
Gott im Gebet um die Gnade der Dichtkraft zu bitten ; zum anderen lege ihm das Bewußtsein seiner Sündigkeit nahe, mit der Demutsbeteuerung die Bitte um die Fürbitte der Hörer oder Leser zu 109 verbinden Ohne auf Schwieterings zentrale These, die Verankerung der Demutsformel in der im christlichen Menschenbild begründeten Vor98 MASON, Prolog, S. 24, 33f. , 72f.; FLÜGEL, Prolog, S. 73, 76, 80, 83. 99 MASON, Prolog, S. 101, 103, 128; FLÜGEL, Prolog, S. 88f., 109. 100 FLÜGELs Ergebnisse überzeugen nicht immer. Vor allem bleibt unklar, woher er die Kriterien bezieht, denen ein Legendeneingang und -schluß zu genügen hat. Die in seiner Zusammenfassung (S. 181) als legendentypisch aufgezählten Elemente werden keineswegs induktiv herausgearbeitet, sondern, ohne begründet zu werden, von Anfang an angewandt. 101 Beispiele: Eingangsgebete: Lamprecht von Regensburg, Tochter Syon (S. 111-16), Wolfram, Willehalm (S. 119-29), Ulrich von Türheim, Rennewart (S. 147-50). Schlußgebete: Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat (S. 136f.), Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden (S. 141-43). 102 JAEGER, Schöpfer. 103 OHLY.
Tu autem.
104 SCHWIETERING, Demutsforme1. 105 Der Begriff 'Demutsforme11 will nicht suggerieren, es existiere zum Ausdruck der Demutshaltung eine einzige unveränderliche Formulierung. SCHWIETERINGS Untersuchung zeigt, daß die Verfasser ihre Demut auf vielfältige Weise offenbaren. 106 S. 141. 108 S. 173. 107 S. 199. 109 S. 143.
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EINLEITUNG
Stellung der Unfähigkeit des sündigen Menschen zum geistlichen Dichten, einzugehen, wendet sich Curtius11^ gegen die Zurückführung der Demutsbekundung auf Paulus. Für ihn steht die Demutsbeteuerung wie auch das Bekenntnis der eigenen Unfähigkeit allein in der Tradition des antiken Topos der affektierten Bescheidenheit; es handele sich nicht um den Ausdruck eines religiösen Anliegens, sondern um die Befolgung einer Regel der Rhetorik Zudem seien die von Schwietering als Demutsbekenntnisse interpretierten Wendungen der Paulusbriefe 112 in Wahrheit "Formalien, 113 welche das Lehramt des Apostels bekräftigen sollen" , also ge114 radezu Unterstreichungen seines Autoritätsanspruches . Doch übersieht er, daß für die Interpretation mittelalterlicher Demutsbeteuerungen das Problem der Autorintention der Demutsformeln bei Paulus irrelevant ist gegenüber ihrer Deutung im Mittelalter. Dem Mittelalter aber galt, wie Schwietering in seiner Er11 widerung auf Curtius' Einwände feststellt ^, Paulus als Vorbild 116 größter Demut und Bußfertigkeit . Den Einwand, es handele sich bei der Demutsbekundung um das Bemühen um rhetorische Korrektheit, weist Schwietering mit dem Argument zurück, die Demutsbeteuerung christlicher Dichter habe zwar Elemente der Rhetorik aufgenommen, doch habe sich dabei der Stellenwert der Topoi verändert: Ihre Aufgabe bestehe nun nicht mehr in der Sicherung des Wohlwollens des Publikums, sondern im Bekenntnis der eigenen Unzulänglichkeit vor Gott, das zum Gebet oder zur Bitte um Fürbitte 117 führe . Curtius könne seine Auffassung nur durch die lateinische quantitierende Dichtung der Karolingerzeit, die sich anders als andere Gattungen sogar desselben Zeitraums streng an der 118 Rhetorik orientiere, stützen . Für die Interpretation der Unfähigkeitsbeteuerungen in der mittelhochdeutschen Literatur sind Curtius' Einwände, wie Schwietering zu Recht bemerkt, ohne Belang 119 . Curtius' Auffassung wird auch widerlegt durch eine Arbeit Gerhard Strunks 120 . Strunks Interesse richtet sich darauf, "wie sich die Christen mit den Vorschriften der Rhetorik und den Vorbildern der paganen Literatur auseinandersetzten" 121 . Seine Un-
110 111 112 113 114 115 116 117 118
CURTIUS, Europäische Literatur. CURTIUS, Europäische Literatur, S. 413f., Dichtung, S. 458. SCHWIETERING, Demutsformel, S. 141. CURTIUS, Europäische Literatur, S. 411. Ebd. SCHWIETERING, Origins. S. 440f. 119 S. 441f. S. 442f. 120 STRUNK, Kunst und Glaube. S. 441. 121 S. 7.
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Das Dichtergebet in der Forschung
tersuchung will die Geschichte der Herausbildung einer christlichen Dichtung aus der spätantiken Literatur kontinuierlich verfolgen, indem sie den dichtungstheoretischen Äußerungen in Legendeneingängen vom späten 4. bis ins 12. Jahrhundert nachgeht. Schon für den Beginn des 5. Jahrhunderts kann er feststellen: Indem die Legende dem vorliterarischen Raum entwächst, gelangt sie unter den Einfluß der hochentwickelten heidnischen Dichtung, zumal ihre ersten Vertreter im Vollbesitz der heidnischen Bildung waren. Doch darf man diesen Einfluß nicht überschätzen oder für dominierend halten (...) Nicht die Sprach- und Stiltradition der heidnischen Literatur geben der neuen Gattung das spezifisch Eigene, sondern die verwandelnde und umwertende Kraft des neuen Glaubens 122 . Die Demutsformel hänge zusammen mit der bereits von Augustinus erhobenen Forderung, der christliche Dichter habe in einer Haltung der humilitas 1 2 3 gegen Gott zu schreiben, die allein zu 124
rechtem Sprechen verhelfen könne
. Sie sei zwar von der heid-
nischen Rhetorik beeinflußt, doch seien die übernommenen Elemente mit neuer Bedeutung gefüllt worden. Die Analyse der lateinischen Legendeneingänge führt Strunk auch zu einer Darstellung der Eingangsgebete. Er unterscheidet die "schlichte Bitte um 125 126 göttlichen Beistand" , die "Anrufung des Heiligen Geistes" 127 und das "Preis- und Bittgebet" sowie als Formen der indirekten Bitte um Inspiration 128 die Bitte um Fürsprache eines Heili129 130 gen und um Fürbitte der Gläubigen Die Literatur zu den Prologen und Epilogen einzelner Werke oder Autoren ist für die Frage nach dem Eingangs- oder Schlußgebet nicht allzu ergiebig. Im Mittelpunkt stehen allgemein die 1 31
Eingänge zu Gottfrieds "Tristan" und zu Wolframs "Parzival" die beide kein Eingangsgebet aufweisen 1 32. Siegfried Grosses Aufsatz über Werkein- und -ausgänge bei Hartmann von Aue
,
ist
hauptsächlich am Bauplan der Prologe und Epiloge interessiert 134 ; 122 S. 13f. 123 S. 23 mit Berufung auf ERICH AUERBACH, Sermo humilis (Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, S. 25-53). 124 STRUNK, Kunst und Glaube, S. 24. 125 S. 85. 128 S. 105. 126 S. 88. 129 Ebd. 127 S. 93. 130 S. 110. 131 Zur ersten Information: RUPP, "Parzival"-Prolog, weitere Literatur dort (S. 369, Anm. 1) und bei BUMKE, Wolfram, S. 83; SCHÖNE, "Tristan"-Prolog, weitere Literatur bei WEBER - HOFMANN, Gottfried, S. 93. 132 Die kurzen Gebetswünsche in den Eingängen von "Parzival" (hg. von LACHMANN, 3, 3f.) und "Tristan" (hg. von RANKE, 54) sind keine Eingangsbete. 133 GROSSE, Beginn. 134 S. 174.
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EINLEITUNG
dabei fällt der Blick beiläufig auf die Schlußbitten des "Grego135 rius" und des "Armen Heinrich" , und nur das Schlußgebet des 136 "Iwein" erfährt eine ausführlichere Darstellung Mit den Eingängen geistlicher Dichtungen hat sich besonders Friedrich Ohly auseinandergesetzt. Seine Untersuchung zur Struktur des Prologs des "St. Trudperter Hohen Liedes" 137 , die den kunstvollen Bau dieses Eingangs herausarbeitet, geht auch auf das knappe Eingangsgebet (1,4-6) 138 kurz ein 139 . Von Ohly stammt auch die erste gründliche inhaltliche Analyse eines geistlichen Werkeingangs, nämlich des Gebets am Anfang von Wolframs "Wille140 halm" . Ohly betrachtet die zentrale Anrufung des Heiligen Geistes (2,16-27) 141 , die verschiedene, aber kaum überzeugende 1 42 Deutungen erfahren hatte , vor allem unter dem Aspekt der in diesen Versen in kunstvoller Verschlüsselung formulierten Vorstellung Wolframs vom Vorgang der Inspiration. Auf dem Hintergrund der theologischen Literatur und geistlichen Dichtung der Zeit sowie bestimmter Bibelstellen gelangt Ohly zu einer vertieften Deutung der Kernbegriffe dieses Gebets, von der aus Wolframs Bitte um Beistand im Dichten 143 erst eigentlich verstehbar wird. Dagegen versucht Ingrid Ochs eine Kommentierung des "Willehalm" -Eingangs im Horizont der ihm vorausgehenden mittelhochdeutschen Dichtung, während die lateinische Literatur weitgehend ausgeklammert bleibt. Wenngleich dieses Verfahren den Ausschluß fast der gesamten wissenschaftlichen theologischen Literatur der Zeit bedingt, die ein wirkliches Verständnis des Gebets erst 144 ermöglicht , bildet ihr Versuch, Wolframs Eingang in seinem Verhältnis zur deutschen Dichtung des 12. Jahrhunderts zu verstehen, einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einer Geschichte des Dichtergebets in der deutschen Literatur des Mittelalters.
135 136 137 138 139 140 141 142 143 144
S. 179, 185f. S. 188f. OHLY. Prolog. Das St. Trudperter Hohe Lied, hg. von MENHARDT. S. 199. OHLY, Wolframs Gebet. Wolfram, Willehalm, hg. von LEITZMANN. OHLY, Wolframs Gebet, S. 455f. OCHS, "Willehalm"-Eingang. OCHS ist sich bewußt, daß der Vergleich mit der Wolfram vorausgehenden deutschen Literatur "nur e i n Aspekt ist, daß der Vergleich mit lateinisch schreibenden mittelalterlichen Autoren auch unternommen werden muß, will man den gesamten geistesgeschichtlichen Hintergrund der Werke Wolframs erhellen" (S. 10).
II. DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR: OTFRIDS VON WEISSENBURG EVANGELIENDICHTUNG
1. Die Invocatio
scriptoris
ad. Deum
(I 2) 145
Otfrids große Invokation zu Beginn seiner Evangeliendichtung ist das älteste Eingangsgebet in deutscher Sprache. Die Bibeldichtung und -Übersetzung vor Otfrid146 kennt das Eingangsgebet nicht. Der althochdeutsche "Tatian" setzt nach der lateinischen Vorrede sogleich mit der Evangelienübertragung ein; die Überschrift der Handschrift, In nomine patris et filii et spiritus sancti 147 , die vom Schreiber stammen dürfte, ist kaum als 1 48 Eingangsgebet zu werten. Auch der "Heliand" beginnt nicht mit einem Gebet, sondern mit einem prologartigen Kapitel, dessen erster Teil (etwa die Verse 1-37) dem Beginn des Lukasevange149 liums nachgebildet ist . Damit stellt sich der Dichter des
145 146 147 148
149
Otfrids Tatian, Tatian, Heliand
Evangelienbuch, hg. von ERDMANN. hg. von SIEVERS. S. 3. und Genesis, hg. von BEHAGHEL.
Manega uuäron, the sia iro mod gespdn, that sia bigunnun reckean that girüni, that thie rtceo Crist undar mancunnea märi&a gifrumida mid uuordun endi mid uuercun. That uuolda tho uutsara filo liudo barno lobon, leva Cristes, helag uuord godas, endi mid ivo handon scrvban berehtlioo an buok, huo sia is gibodscip scotdin frummian, firiho barm. Than uuärun thoh sia fiori te thiu, under thera menigo, thia habdon maht godes, helpa fan himila, helagna aest, craft fan Criste,- sia uuraun gicorana te thio, that sie than iuangelium enan scoldun an buok scriban Matheus endi Marcus,- so uuärun thia man hetana Luca§ endi Iohannes; sia uuärun gode lieba, uuircJiga ti them giuuirkie. Vgl. Lc 1,1-4: Quoniam quidem multi conati sunt ordinäre narrationem, quae in nobis completae sunt rerum,. sicut tradiderunt nobis qui ab initio ipso viderunt, et ministri fuerunt sermonis; visum est et mihi assecuto omnia a principio diligenter ex ordine tibi scribere, optime Theophile, ut cognoscas eorum verborum, de quibus eruditus es, veritatem. - Den Lukasprolog als Beginn einer Evangeliendichtung fand der Helianddichter im "Tatian" (Prologus 1-4) bereits vor. Während dieser jedoch nur eine eng am Text bleibende Ubersetzung des Evangelientextes gibt, gestaltet der Helianddichter die Vorlage reich variierend aus. An die Worte des Lukasprologs erinnert auch der Eingang von Otfrid I 1
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
24
"Heliand" in die Nachfolge der vier Evangelisten
150
und ihres
vom Heiligen Geist inspirierten Schreibens, ohne doch für sich 151 ausdrücklich die Gnade der Inspiration zu erbitten . Das Fehlen eines Eingangsgebets ist kennzeichnend für das sich vorwiegend auf den Bericht des biblischen Geschehens
konzentrierende
Interesse des Helianddichters, der Exkurse vermeidet und nur einmal
(in der 44. Fitte) eine ausführliche Deutung des bibli-
schen Geschehens, nämlich der Heilung eines Blindgeborenen, in die Erzählung
einschiebt.
Generell ist das Eingangsgebet im Umkreis der
angelsächsischen
Bibeldichtung, in den auch der "Heliand" gehört, nicht üblich. Im Altenglischen besitzt zwar die Genesisdichtung nach der einleitenden Aussage, es sei angemessen, Gott zu preisen, ein Gotteslob (das allerdings von Gott in der Er-Form152spricht und damit keinen sehr deutlichen Gebetscharakter zeigt) ; üblicher ist jedoch der Beginn mit einer aus der germanischen Dichtung über• 153 kommenen Formel wie Gefraegn %c . Einen solchen Eingang zeigt
1 Was Uuto filu in flize, in managemo ägaleize, sie thaz in scrip gicleiptin, thaz sie ivo namon breittin; Si thes in io gilioho flizzun guallioho, in büaahon man gimeinti thio ivo ehuanheiti. Doch erscheint hier der Beginn mit einem Anklang an den Lukasprolog gleichsam säkularisiert: Nicht die Evangelisten sind gemeint, sondern die griechischen und römischen Dichter, und nicht primär die Evangeliendichtung soll durch diesen Beginn legitimiert werden, sondern Otfrids Lob der Franken in I 1, zu dem allerdings die Evangeliendichtung insofern beiträgt, als ihr Gelingen erweist, daß auch in fränkischer Sprache schönes Dichten möglich ist. 150 So auch WEHRLI, Geschichte, S. 69. 151 Den Anspruch, der "Heliand" stelle eine göttlich inspirierte Dichtung dar, erheben weit nachdrücklicher die nicht vom Helianddichter stammenden lateinischen Vorreden des Werks. Während nach der Prosavorrede der göttliche Auftrag zur Nachdichtung des Alten und Neuen Testaments an einen Mann erging, qui apud suos non ignobilis vates habebatur (S. 1), steigert der Versprolog die Größe der göttlichen Begnadung noch durch das der Caedmonlegende nachgebildete Motiv, bei dem Empfänger der Gnade habe es sich um einen einfachen Bauern gehandelt (20ff.). - Zur Caedmonlegende vgl. Beda, Historia Ecclesiastica, PL 95, 213AC. 152 Die ältere Genesis, hg. von HOLTHAUSEN: 1 Ks is riht micel, cet we rodera weard, wereda wuldorcuning wordum herigen, modum lufien: he is mcegna sped, heafod ealra heahgesceafta, frea almihtig. ('It is very fitting for us that we should praise in words, love in our Spirits, the Guardian of heavens, the Glory-King of hosts! He is the fullness of power, the head of all noble creations, the Lord Almighty.' MAC KILL, Critical Study, S. 25.) 153 So beginnen die altenglische Exodusdichtung (The Old English Exodus, hg. von IRVING), das Danielgedicht ("Daniel" and "Azarias", hg. von FARRELL) sowie der altenglische "Andreas" ("Andreas" and "The Fates of the
Die Invooatio soriptoris ad Deum
25
auch das wie der "Heliand" der angelsächsischen Bibelepik nahestehende "Wessobrunner Schöpfungsgedicht" ("Wessobrunner Ge1 54 bet")
; und in abgewandelter Form geht die Anfangsformel ein
in die christliche Endreimdichtung, wo sie im ersten Vers des Gedichts "Christus und die Samariterin" Lesen ther heilant
fartmuodi^^
uuir,
thaz
fuori
trotz des veränderten Wortlauts klar
zu erkennen ist. Weniger deutlich klingt die Formel nach im Eingangsvers des "Ludwigslieds", Einan
kuning
der Übersetzung des 138. Psalms Uellet guoton ,. ( 1 Λ) 157
uueiz
ih^^^,
ir gihoren
und in
Daviden
den
158 Zwei weitere althochdeutsche Gedichte, das "Petruslied" 159 das "Georgslied"
, weisen gar keinen gesonderten
und
Eingangsteil
auf. Bei beiden Liedern handelt es sich um Dichtungen, die im Rahmen der Liturgie oder bei einem verwandten Anlaß gesungen wurden; ihrem Vortrag wird daher eine der in der Liturgie vom Priester oder von einem Vorbeter gesprochenen meln
(wie Oremus)
üblichen,
Eingangsfor-
vorangegangen sein, so daß die Einleitung nicht
vom Anfang der Dichtung geleistet zu werden brauchte. Andererseits gibt es daneben Texte, die trotz ihrer liturgischen Verwendung einleitende Elemente besitzen, so etwa Ratperts
"Gallus-
160 lied"
, dessen erste Strophe das Thema des Lieds nennt und
dann die Gemeinde zum Mitvollzug des Gotteslobs auffordert: 1,4 Exultemus omnes, laudemus Christum pariles 161 Sanatos aduooantem et gtorifiaantem
154
155 156 157 158 159 160 161
Apostles", hg. von BROOKS). Die untersuchten Gedichte fallen in die Zeit vom 8. bis ins 10. Jahrhundert. Obwohl nicht das gesamte Material der angelsächsischen Bibeldichtung herangezogen wurde, ist die Tendenz zur Beibehaltung der herkömmlichen Eingangsformel eindeutig. Zum selben Ergebnis kommt KOZIOL (Invokationen, S. 9): "Das Fehlen einleitender Verbal-Invokationen in den Dichtungen der altenglischen Zeit steht wohl auch mit der Tatsache in Zusammenhang, daß man in der stark traditionellen altenglischen Dichtung an einem schon ganz üblichen Beginn, nämlich an Variationen von 'Ich habe gehört', festhielt." Viel häufiger sind Anrufungen, Segenswünsche oder Bitten um Fürbitte dagegen am Dichtungsschluß (Belege ebd. S. 9-15). Zum altenglischen Schlußgebet auch BZDYL, Prayer, S. 102-07. Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista (1). Althochdeutsches Lesebuch, hg. von BRAUNE - EBBINGHAUS, 15. Auflage, XXIX, S. 85. - Die Eingänge der ebenfalls hierher gehörigen "Altsächsischen Genesis" und des "Muspilli" sind verloren. Althochdeutsches Lesebuch, XXXIV, S. 136. Althochdeutsches Lesebuch, XXXVI, S. 136. Althochdeutsches Lesebuch, XXXVIII, S. 138. Althochdeutsches Lesebuch, XXXIII, S. 131. Althochdeutsches Lesebuch, XXXV, S. 132-35. Die neueste und gründlichste Edition bietet OSTERWALDER, Galluslied, hier S. 85. Dies ist der Wortlaut der Versionen Α (Codex Sangallensis 393) und C
26
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Diese Gebetsaufforderung geht auf das Vorbild der lateinischen 162
Hymnik zurück, in der eine gebetsartige Eröffnung üblich ist Das gemeinsame Lob Christi, zu dem diese Verse auffordern, besteht im Vortrag des Liedes durch den Chor und im andächtigen Hören durch die Gemeinde. Zwar steht ein Heiliger und nicht Christus im Zentrum des Lieds, doch ist das Gedicht wie jede Legende ebensosehr Gottes- wie Heiligenlob, denn im Leben des Heiligen erweisen sich Größe und Gnade Gottes: Gott wird gepriesen in 16 3 seinen Heiligen . Die Eingangsstrophe drückt diese Beziehung genau aus, wenn sie Christus bezeichnet als den, der die Heiligen erwählt und zur Herrlichkeit führt. Der tiefste Grund der Heiligkeit ist Gott; sie ist weniger Leistung des Menschen als Wirkung der göttlichen Gnade. Die zitierten Verse des "Galluslieds" bzw. des der Ubersetzung zugrundeliegenden volkssprachigen Originals sind der einzige Gebetseingang einer deutschen Dichtung des 9. Jahrhunderts neben Otfrid - Verse also, in denen der Dichter nicht für sich und sein Dichten betet, sondern im Dienste der liturgischen Verwendung seines Werks die Gemeinde zum Lob Gottes aufruft. Erst mehr als hundert Jahre nach Otfrid, am Ende des 10. Jahrhunderts, entsteht ein zweites Eingangsgebet, in dem nun zum erstenmal ein Dichter von Gott Hilfe für sein Tun erbittet, die erste Strophe des lateinisch-deutschen Mischgedichts De Heinrico 1 64: 1
Nunc
almus
benignus de
quodam
qui
cum
assis fautor
f i l i u s mihi,
duce, dignitate
thero thaz
themo thero
ig
heron Beiaro
euuigero cosan
thiernun muozi
Heinriche, riche
beuuarode.
Zum erstenmal wird hier der göttliche Beistand erfleht für eine weltliche Dichtung, die Verherrlichung des Baiernherzogs Heinrich. Das Eingangsgebet ist kein konventioneller Bestandteil des Fürstenpreises 165 ; wenn der Verfasser trotzdem seinem Ge-
162 163 164 165
(Codex Sangallensis 174). In der ebenfalls von Ekkehart IV stammenden Fassung Β (Codex Sangallensis 168) lautet der letzte Vers der Strophe Sanctos prgparantem et sanctificantem (ebd.). REICHERT, Hymne (Mittelalter) (Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 1) S. 737. Vgl. Ps 150,1: Laudate Dominum in sanctis eius. Althochdeutsches Lesebuch, XXXIX, S. 139. Unter den von GEORGI, Preisgedicht, betrachteten Werken befindet sich als einziger entfernt vergleichbarer Fall ein Gedicht des Sidonius (5. Jh.) auf den spätrömischen Kaiser Avitus, zu dessen Beginn Phoebus angesprochen wird (S. 34). In der althochdeutschen Dichtung hat das "Ludwigslied" kein Eingangsgebet, wohl aber Otfrids Widmung an König Ludwig, die deutliche Züge eines Lobgedichts trägt {Ad Lud. 5-8).
Die Invocatio scviptoris ad Deum
27
dicht eine Bitte zu Christus um Beistand vorausschickt, so zur höheren Ehre des Gepriesenen, dessen Verdienste mit menschlichen Kräften allein nicht angemessen zu feiern sind (ähnlich wie die Volkssprache zum Lob Heinrichs offensichtlich nicht genügt und der Verfasser zu einer kunstvollen Mischsprache greifen muß). Man darf sogar eine Parallele zur lateinischen Heiligenvita ziehen, in der Eingangsgebete seit den Anfängen christlicher Dichtung üblich sind. Durch das Zitat eines Strukturelements jedenfalls der lateinischen Legende rückt der Verfasser seinen Helden in die Nähe eines Legendenheiligen. Dieser Uberblick über die Eingänge althochdeutscher und altsächsischer Dichtungen läßt die exzeptionelle Stellung erkennen, die Otfrids Invocatio
scriptoris
ad Deum in der deutschsprachi-
gen Literatur seiner Zeit einnimmt. Sie erklärt sich aus zwei Faktoren. Während die beiden einzigen nach Umfang und Intention vergleichbaren deutschen Bibeldichtungen des 9. Jahrhunderts, der "Heliand" und die "Altsächsische Genesis", in einer Tradi166 tion stehen, die das Eingangsgebet kaum kennt , stellt sich Otfrid in die Nachfolge der lateinischen Bibelepik, in der das Eingangsgebet seit Jahrhunderten zum festen Formenbestand zähl167 te . Wichtiger als das Beispiel der Tradition jedoch ist zur Erklärung des langen Eingangsgebets in Otfrids Werk das deutliche Bewußtsein von der Größe seiner Aufgabe und den Schwierigkeiten, die sich ihrer Bewältigung entgegenstellen, das Otfrids programmatische Äußerungen im Schreiben an Liutbert und im Einleitungskapitel Cur scriptor
huno librum theotisoe
diotaverit
(I 1) erkennen lassen. Dabei erwähnt Otfrid die grundsätzliche Problematik jeder Bibeldichtung nicht einmal: Der Bibeldichter versucht, mit menschlichen Fähigkeiten die göttliche Offenbarung nicht nur zu begreifen, sondern darüber hinaus aus der Fülle des Offenbarten eine Auswahl zu treffen und das Ausgewählte in seine eigenen Worte zu bringen, ohne doch vom Wahrheitsgehalt des göttlichen Worts etwas zu verlieren. Dies ist eine Aufgabe, die menschliche Kräfte übersteigt. Und Otfrid steckt sich noch ein höheres Ziel: Um die heilbringende Kraft des göttlichen Worts in seinem Werk sinnlich erfahrbar werden zu lassen, weicht er von 166 Das Fehlen von Dichtergebeten in den beiden großen altsächsischen Bibeldichtungen hat wie ihre anonyme Überlieferung seinen Grund in einer Auffassung vom Dichten und vom Dichter, die den Autor hinter seinem Werk so sehr zurücktreten läßt, daß für persönliche Bemerkungen des Verfassers kein Platz ist. 167 Schon das äußere Erscheinungsbild des Werks (Bücher, Kapitel, Zwischenüberschriften, Marginalien, Inhaltsübersichten, Widmungen, Prologe und Epiloge, Akrosticha und Telesticha) weist in diesen Traditionszusammenhang. Hierzu KARTSCHOKE, Altdeutsche Bibeldichtung, S. 62f.
28
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
der durch die Evangelien vorgegebenen Vierzahl als Aufbauprinzip 168 ab und gliedert sein Werk in fünf Bücher , wodurch es ihm möglich wird, die entstehende Spannung zwischen der Vierzahl der Evangelien und der Fünfteilung seiner Dichtung auf die Läuterung der von der Sünde korrumpierten fünf Sinne des Menschen das Wort Gottes auszudeuten quinque quia
quamvis
eorum
quadrata
inaequalitatem aotuum, lestium. quimus, Visus
etiam
Quicquid in eorum
pravus
a pravitate
libri
aequalitas
ornat,
obscuretur
auditus sese
verum
(Ad Liutb.
evangeliorum
sancta
et superflua
cogitationum
visu,
nostrorum
vertunt taatu,
lectionis
memoria
inutilis,
inluminatus
constringant
sint,
in nobis
olfaotu,
non sit oordi
46-55): Hos,
quatuor
nostro
quinque non
solum cae-
verbis;
olfactus
duloedine
delin-
purgamus.
evangeliois
obnoxius;
sensuum
audituque ipsam
in
distinxi,
in elevationem
pravitatem
Christique
ut dixi,
iäeo
quaeque
gustu,
durch
et
gustus
jungant
(...)
Uber die Komposition einer Evangelienharmonie hinaus nimmt Otfrid damit zahlensymbolisch begründete strukturelle gen vor, die die Schwierigkeiten
Veränderun-
seines Unternehmens noch ver-
größern . Otfrids Begründung der Fünfgliederung seines Werks verweist auf ein weiteres Problem, vor das sich ein Bibeldichter
gestellt
sieht: die Aufgabe, das göttliche Wort in würdiger Form wiederzugeben. über die Eigenschaften einer der Offenbarung Gottes angemessenen Form gingen seit der Antike die Meinungen
auseinan-
der 169 . Otfrid entscheidet sich - wie der Dichter des "Heliand" -
168 Die Einteilung einer Evangeliendichtung in fünf Bücher hat in gewisser Weise einen Vorgänger im "Paschale carmen" des Sedulius (Sedulii Opera omnia, hg. von HUEMER, S. 14-154), bei dem allerdings Buch I das Alte Testament behandelt, so daß das eigentliche Evangelienwerk auch bei ihm vier Bücher umfaßt. Juvencus gliedert sein Werk in vier Teile. (Gai Vetti Aquilini Iuvenci Evangeliorum libri quattuor, hg. von HUEMER.) 169 Die in Abgrenzung von der heidnischen Dichtung sich ausbildende christliche Literatur bezog früh auch stilistisch eine Gegenposition zur antiken Rhetorik und verlangte vom christlichen Dichter die Beschränkung auf den sermo humilis. Hierbei traten mehrere Gründe zusammen: Anders als in der heidnischen Dichtung sei im Christentum die Wahrheit der Offenbarung ungleich wesentlicher als die Form, das Äußere dürfe nicht vom Gehalt ablenken; weiter ließ sich auf das Vorbild der Bibel, die weitgehend in schlichtem Stil abgefaßt sei, ebenso verweisen wie auf die Notwendigkeit, die göttliche Botschaft allen, auch den Ungebildeten, nahezubringen. Andererseits gab es schon seit dem 4. Jahrhundert Versuche, den rhetorischen Stil in den Dienst der Verkündigung des Christentums zu stellen (unter anderem Laktanz, Ambrosius, Isidor), meist im Blick auf eine postulierte größere Wirksamkeit rhetorisch geformter Texte, durch die die Verbreitung des christlichen Glaubens unter den Heiden gefördert werden könne. Diese Leistung der Rhetorik würdigen selbst Vertreter des sermo humilis (so Hieronymus und Augustin). Schließlich findet sich sogar die Auffassung, allein die rhetorisch schöne Sprache sei würdig, Gottes Wort zu verkünden (Hilarius von Poitiers). Insgesamt jedoch blieben die Befürworter einer rhetorischen Orientierung der christlichen Dichter-
Die Invooatio soriptoris ad Deum
29
für den Versuch, die Größe und Vollkommenheit Gottes durch eine möglichst weitgehende ästhetische und beziehungsreiche
Durchfor-
mung des Werks in der Dichtung selbst anzudeuten. Doch gerade hieraus ergibt sich eine neue Schwierigkeit: Wie nämlich
soll
eine nach Vollkommenheit strebende sprachliche Form in der Volkssprache verwirklicht werden, in einer Sprache also, die so rauh klingt, daß Otfrid sich scheut, auch nur einzelne ihrer Worte in seinem Schreiben an Liutbert zu zitieren, um nicht den Wohl170 klang seiner lateinischen Prosa zu stören ? Mag diese herabsetzende Beschreibung der Muttersprache auch in den Bereich der 171 , so zeigt doch Otfrids ausführ-
Bescheidenheitstopik gehören
liche Darstellung der Hindernisse, die das Fränkische dem Dichter in den Weg legt, daß auch nach seinen ästhetischen
Vorstel-
lungen die Volkssprache 172 an Schönheit hinter den klassischen Sprachen zurückbleibt . Zwar wußte Otfrid, daß er nicht als erster den Versuch unternahm, das Evangelium in deutscher
Spra-
sprache immer in der Minderheit. (Ausführliches bei STRUNK, Kunst und Glaube, S. 34-62 und 138-62, und bei KARTSCHOKE, Bibeldichtung, S. 23-29.) Wenn Otfrid für sein Werk eine keineswegs auf rhetorischen Schmuck verzichtende Sprachform wählt, so kann er sich dabei also nur auf eine vergleichsweise geringe Zahl von Vorgängern berufen. Doch kann, was für die lateinische Sprache gilt, nicht ohne weiteres auf die Volkssprache übertragen werden. Otfrid ist sehr deutlich bewußt, daß die fränkische Sprache nicht die Schönheit der lateinischen besitzt - der Vergleich, den Otfrid zwischen dem Lateinischen und dem Althochdeutschen anstellt {Ad Liutb. 101-05), fällt sehr zuungunsten seiner Muttersprache aus. Anders als die lateinische Sprache, der schon als unstilisierter Prosa eine prinzipielle Schönheit eignet, die sie würdig macht, das Wort Gottes wiederzugeben, bedarf das Fränkische, das in seiner schlichten Form dieser Schönheit entbehrt, eines gewissen Schmucks, um der Verkündigung des Evangeliums nicht unwürdig zu sein. Hier liegt der Grund für Otfrids Wahl einer Sprachform, die sich an vielen Stellen recht deutlich vom sermo hxmilis entfernt. 170 Ad Liutb. 101-05: Horum supra sariptorum omnium vitiorum exempla de hoc libro theotisoe ponerem, nisi inrisionem legentivm devitarem; nam dum agrestis linguae inoulta verba inseruntur latinitatis planitiae, aaohinnim legentibus prebent. 171 An anderer Stelle findet Otfrid anerkennende Worte für die Sprache der Franken (I l,35f.). 172 Entsprechend begründet Otfrid die Wahl der Volkssprache auch nicht mit ästhetischen, sondern mit pragmatischen Gesichtspunkten: I 1,119 Ist ther in iro lante iz älleswio nintstänte, in ander gizüngi fimeman iz ni künni: Hiar hör er ίο zi güate, waz got imo giblete, thaz wir imo hiar gisüngun in frenkisga züngun. Vgl. Ad Liutb. 5-13: Dum rerum quondam sonus inutilium pulsaret aures quorundam probatissimorum virorum eorumque sanotitatem laiaorum oantus inquietaret obsaenus, a quibusdam memoriae dignis fratribus rogatus, maximeque cujusdam venerandae matronae verbis nimium flagitantis, nomine Judith, partem evangeliorum eis theotisce consariberem, ut aliquantulum hujus oantus leationis ludum saeoularium vooum deleret, et in evangeliorum propria lingua ocaupati dulaedine, sonum inutilium rerum noverint declinare -.
30
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
che nachzudichten, doch mußte eine Bibeldichtung in einer anderen als den durch die Autorität der Bibel und der Kirchenväter legitimierten Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein noch immer als Wagnis erscheinen, weil die Unkultivierbarkeit der Volkssprache, die Otfrid in seinem Schreiben an Liutbert ausdrücklich beklagt1 , dem Dichter leicht den Vorwurf zuziehen konnte, die sprachliche Form sei dem Gegenstand unangemessen. Otfrids ausführliche Erläuterung der Probleme des Versbaus und der Schreibung der germanischen Sprache im lateinischen Alphabet (Ad Liutb. 58-101) ist unter diesem Aspekt als captatio benevolentiae zu verstehen, die den Vorwurf der leichtfertigen Wahl eines unangemessenen Mediums von vornherein entkräften soll. Otfrid demonstriert mit seinen Ausführungen zu Versbau und Orthographie, daß er die Entscheidung für die Volkssprache nicht 174 unüberlegt getroffen hat Damit steht Otfrid nicht nur wie jeder Bibeldichter vor der Aufgabe, die göttliche Offenbarung richtig und vollständig zu erfassen und unverfälscht in angemessener Form wiederzugeben, sondern ihm stellen sich auch formale und sprachliche Probleme, die die prinzipielle Notwendigkeit des göttlichen Beistands für das Gelingen christlich-religiöser Dichtung noch verschärfen. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Otfrid sich zu Beginn seines Werks der Hilfe Gottes in einer Invokation versichert, die für Jahrhunderte einzigartig bleibt. Otfrids große Invoaatio scriptoris ad Deum zeigt einen recht klaren Aufbau. Auf eine Anrufung Gottes in der ersten Strophe folgt in den Versen 3 und 4 die Bitte um Inspiration und dann, in engem Zusammenhang hiermit und noch innerhalb desselben Satzgefüges, als Begründung der Inspirationsbitte die kurze Darstellung des Vorhabens, zu dem Otfrid den göttlichen Beistand er173 Ad Liutb. 58-61: Hujus enim linguae barbaries ut est inoulta et iridis ciplinabilis atque insueta capi regulari freno grammatieae artis, sie etiam in multis dictis scriptio est propter literanan aut aongeriem aut incognitam sonoritatem diffieilis. 174 In I 1 gesteht Otfrid der fränkischen Sprache anders als im Schreiben an Liutbert trotz ihrer Regellosigkeit eine gewisse Schönheit zu:
I 1,35 Nist si so gisüngan, mit regulu bithuüngan: si häbet thoh thia rihti in sconeru slihti. Aber nicht die begrenzte rihti der fränkischen Sprache ist für Otfrid ausschlaggebend dafür, daß sie zum Medium einer Bibeldichtung werden kann, sondern die Tatsache, daß sie die Sprache der Franken ist, die sich, wie Otfrid ausführlich darlegt, durchaus mit Griechen und Römern messen können (I 1,59-112). Zwar ist die fränkische Sprache nicht durch ihre Schönheit legitimiert, das Wort Gottes zu verkünden, doch ihre mangelnde Kultiviertheit wird kompensiert durch das Ansehen des Volkes, das sie spricht.
Die Invooatio scriptoris ad Deian
31
fleht (5-18). Schon die letzten Teile dieses Satzkomplexes wenden sich einem neuen Aspekt zu: den vielfältigen Möglichkeiten des Scheiterns. Bedrohungen seines Vorhabens erblickt Otfrid in einem unzulänglichen Erfassen des Schriftsinns (15f·), der unangemessenen Dichtmotivation (17f.), der Gefährdung durch dumpheit (19-28) und schließlich in der Bedrohung durch den Teufel (29-32). Vor diesen Gefahren möge Gott, so betet Otfrid, den Dichter bewahren. Im Anschluß an diese Bitten um den Beistand Gottes im Dichtprozeß gibt Otfrid in den Versen 33-38 eine nochmalige Rechtfertigung seines Werks vor Gott, bevor dann die abschließenden Verse (39-58) den Blick umfassender auf Otfrids gesamte Existenz richten und um ein gelingendes Leben und das ewige Heil für den Dichter bitten 175 In den einleitenden Versen seiner Invokation, 1 Wola drühtin
min,
jä bin ih scäla
thiu arma müater min
thin,
eigan thiu ist si thin!
unternimmt Otfrid eine erste Beschreibung des Verhältnisses des Menschen, speziell des christlichen Dichters, zu Gott. Dabei entsteht zunächst der Eindruck einer Distanz zwischen dem Beter und dem Angerufenen. Nicht nur die Uberschrift Invocatio sariptoris ad Deum, die durch die Richtungspräposition ad (und vielleicht auch durch das Präfix in-) anzudeuten scheint, daß die Bitte des Dichters gleichsam einen Weg zurückzulegen hat, bevor sie Gott erreicht, ist am Zustandekommen dieses Eindrucks beteiligt; vielmehr gewinnt vor allem der erste Vers durch das Eingangswort des Gebets, die Interjektion wola, den Charakter eines Anrufs und evoziert so die Vorstellung eines Abstands, der durch einen Ruf zu überwinden ist. Diese Auffassung vom Verhältnis des Menschen
175 Diese inhaltliche Gliederung spiegelt sich nicht in der von KLEIBER (Otfrid von Weißenburg) untersuchten Einteilung des Werks in Strophengruppen, die die von Otfrid korrigierte Handschrift V mit Hilfe von Initialen vornimmt; das Kapitel I 2 ist in dieser Handschrift nicht untergliedert (S. 195). Dagegen entspricht die obige Aufbauskizze dem syntaktischen Bau des Kapitels. Nur einmal zerschneidet eine Sinnabschnittsgrenze ein Satzgefüge, nämlich zwischen den Versen 4 und 5, und gerade zwischen den Sinnabschnitten, zwischen denen diese Grenze liegt, besteht eine enge Beziehung, die durch den über die Sinngrenze fortlaufenden Satz deutlich fühlbar wird. - Zwischen den Versen 28 und 29 setzt EDWARD SCHRÖDER, auf den seit der zweiten Auflage von ERDMANNs OtfridAusgabe die Interpunktion zurückgeht, nur ein Semikolon; danach zertrennte also auch hier eine Sinnabschnittsgrenze syntaktisch Zusammengehöriges. Da SCHRÖDERS Interpunktion nicht die Zeichensetzung einer Handschrift wiedergibt (Otfrids Evangelienbuch, S. Xf.; vgl. KLEIBER, S. 31, zur Interpunktion ERDMANNs), darf eine Änderung vorgeschlagen werden. Weil Vers 29 einen neuen Gedanken einführt (die Bedrohung des
32
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
zu Gott ist begründet in Otfrids immer wieder aufscheinendem tiefen Bewußtsein der menschlichen Sündhaftigkeit. Wie er in Kapi17 6
tel II 5 darlegt
, hat der Mensch im Sündenfall durch die Nach-
stellungen des Teufels die Gnade Gottes177 verloren. Doch kann er seit dem freiwilligen Opfertod Christi , der den Teufel überwunden hat, die Gnade Gottes wiedererlangen, so daß er nun zwar durch die Erbschuld und seine eigenen Sünden noch immer von Gott getrennt ist, jedoch darauf hoffen darf, daß Gottes Gnade ihn dennoch errettet. Entsprechend ist die Trennung von Mensch und Gott auch nur die eine Seite des in der ersten Strophe der Invocatio gezeichneten Gott-Mensch-Verhältnisses. Denn das Wola (1) weist nicht nur auf eine Entfernung hin, sondern es beschreibt zugleich den Adressaten des Rufs als gut; die semantische Grundbedeutung von wola schwingt auch bei seiner Verwendung als Interjektion noch mit. So ist der Mensch zwar von Gott getrennt, trotzdem aber kann er ihn vertrauensvoll als gut anrufen. Dies spiegelt sich in den Begriffen, die Otfrid für Gott und sich selbst gebraucht. Wenn er sich selbst einen scalc und Gott seinen druhtin nennt, so ist dies zunächst eine Demutsgeste, die sich an biblische Vorbilder (vor allem Paulus und den Psalmi178
sten)
anlehnt und den Abstand zwischen Gott und seinem servus
fühlbar macht. Darüber hinaus aber hat der Begriff scalc bei Otfrid Konnotationen, durch die er auch die andere Seite der Gott-Mensch-Beziehung ausdrücken kann. Neben179 nur wenigen Anwendüngen auf Knechte im eigentlichen Wortsinn heißen scalc vor allem Figuren des Neuen Testaments, die an die Lehre Christi
Dichtens durch den Teufel), ist es sinnvoller, vor diesem Vers einen Punkt zu setzen und damit die Grenze zwischen zwei Sinnabschnitten deutlicher zu markieren. Auch unter motivischem Aspekt ist es einleuchtender, die Verse 25 bis 28 zu einem Satz zusammenzufassen, als mit Vers 27 einen neuen Satz beginnen zu lassen, der dann bis Vers 30 reichen soll. 176 Besonders II 5,5-10. 177 Die Selbstentäußerung Christi um der Menschen willen hebt Otfrid immer wieder hervor. IV 19,75f.: Thaz thült er in then stünton bi unseren sünton, / al io theso frävili thuruh thio ünsero ubili! iv 22,33f.:
Er thülta, so ih hiar fora quad, bi ünsih suslih üngimah'/ in siegin joh in wörton, bi ünsen suaren sünton! iv 27,11 f.: Er whs thar mit giwelti, th&h er sülih thülti; / bi ünsih er iz tholeta, so ih hiar fbra zelita. Vgl. RUPP, Leid und Sünde, PBB West 79, S. 364. 178 SCHWIETERING, Demutsformel, S. 141, verweist auf Rom 1,1 und Phil 1,1 (servus Jesu Christi) sowie auf Tit 1,1 (servus Dei). Alle drei Stellen sind exakte Parallelen zu Otfrids scälc thin. - Auch im Alten Testament unter anderem im Psalter - ist das Reden vom Knecht Gottes häufig. Die Liturgie kennt gleichfalls entsprechende Formulierungen. Besonders das Confiteor (ego indignus famulus tuus) steht otfrids Worten nahe (SCHWIETERING, Origins, S. 438). 179 III 2,26; III 3,6; IV 7,72.
Die Invooatio soriptoris ad Deum
33
glaubten und deshalb auf ihre Errettung durch Gott vertrauen durften: der Seher Simeon 5.7), Petrus
(I 15,14), Johannes der Täufer
(IV 11,22), der gute Schacher
(I 25,
(IV 31,19.22) und die
bei der Verklärung Christi anwesenden Jünger
(III 13,54). Noch
deutlicher wird die mit dem Begriff fast durchweg verbundene Konnotation
'Erlösung' dort, wo er auf die bereits erlösten Auf180 erstandenen angewandt wird (II 24,42; IV 34,10; V 23,28 u.ö.)
Mit soalc
verweist Otfrid also nicht nur in Demut auf seine
Niedrigkeit vor Gott, sondern er stellt sich zugleich in die Nachfolge derer, die, im Bewußtsein ihrer geistlichen 181 Unwürdigkeit, auf Gott vertrauten und von ihm erlöst wurden . Ähnlich wie Wola
zu Beginn des Verses zeigt auch Otfrids
nung als soalc
Selbstbezeich-
beide Aspekte seiner Auffassung vom Verhältnis
des Menschen zu Gott: sowohl die Niedrigkeit und Unwürdigkeit des Menschen, die ihn als Folge seiner Sünden von Gott trennt, als auch sein festes Vertrauen 182 auf Gottes Güte und seine Gnade, die den Menschen erretten kann
180 Demgegenüber findet sich scalc in religiösem Zusammenhang nur einmal mit negativer Konnotation, nämlich in IV 6,7 für die Juden. - Mit positiver religiöser Konnotation hat soalc eine Parallele in der "Altsächsischen Genesis", in der Abraham vor Gott bekennt ih biun thin egan soalo (757). 181 Mit diesem Sinn erscheint scalc häufig für die Gläubigen, besonders für Otfrid selbst und die in sein Gebet Eingeschlossenen, II 6,51; II 24,21; III 1,41; III 17,59.66; III 20,142; IV 5,19; IV 31,36. 182 Diese Beschreibung des Gott-Mensch-Verhältnisses entspricht der Auffassung der karolingischen Theologie, die letztlich auf Augustin basiert. (RUPP, Leid und Sünde, PBB West 79, 1957, S. 364.) Trotzdem ist es erstaunlich, wie sehr die Kennzeichnung der Beziehung Gottes zum Menschen in den ersten Versen der Invocatio im Kern ihrer Aussage übereinstimmt mit den ersten Kapiteln der "Confessiones" Augustins (I i-v, CCL 27, S. 1-3). Auch Augustin konfrontiert zu Beginn seines Werks in Gebetsform die überwältigende Größe Gottes - die er übrigens wie Otfrid in Worte des Psalters faßt (Conf. ι i,lf.: Magnus es, domine, et laudabilis ualde: magna uirtus tua et sapientiae tuae non est numerus. Vgl. Ps AT,2, 95,4, 144,3, 146,5) - mit der Niedrigkeit und Unwürdigkeit des sündigen Menschen, der Gott loben soll, ohne dies doch angemessen zu können: Et taudare te uult homo, aliqua portio oreaturae tuae, et homo ciroumferens mortalitatem suam, ciroumferens testimonium peocati sui ... (Conf. I i,2-4). Dieses Paradoxon wird bei Augustin viel schärfer formuliert als bei Otfrid und über mehrere Kapitel hinweg immer wieder neu umschrieben. Doch wie bei Otfrid ist die unermeßliche Überlegenheit Gottes über den sündigen Menschen nur die eine Seite der Gott-Mensch-Beziehung. Auch bei Augustin ist der Mensch trotz seiner Sündigkeit nicht verloren, sondern auf Gott hingeordnet, auf Gott hin geschaffen: Tu excitas, ut laudare te deleotet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donee requiesoat in te. (Conf. I i,6f.; Hervorheb. v. Vf.). Wie Augustinus den Abstand des Menschen von Gott viel eindringlicher ausmalt als Otfrid, findet er auch intensivere Worte für die Hinordnung des Menschen auf Gott, die für ihn schon durch seine bloße Existenz erwiesen ist, da ohne Bezug auf Gott nichts sein könne: Non ergo essem, deus meus, non omnino essem, nisi esses in me (Conf. I ii,10f.). Wo Augustin durch die mehrere Kapitel umfassende, immer neu variierende Ausmalung desselben Grundgedankens eine sehr eindringliche Darstellung
34
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Während der durch die Interjektion wola
geprägte RufCharakter
des ersten Verses sowie die Ambiguität der Selbstbezeichnung Otfrids als soala
jeweils gleichermaßen auf beide Komponenten der
Gott-Mensch-Beziehung verweisen, illustriert die Art, wie Otfrid die ersten sechs Verse syntaktisch und verstechnisch gestaltet, mehr die durch Christus wiedergewonnene Bezogenheit des Menschen auf Gott als die wegen der Sündigkeit des Menschen trotz der Erlösung weiterbestehende, wenn auch nicht mehr unüberwindliche Distanz. Denn mit Ausnahme von Vers 5 macht Otfrid in jedem der ersten sechs Verse mit Hilfe der Possessivpronomen min und
thin
eine Aussage über Gott und sich selbst, dergestalt, daß die Aussage über Gott (außer in Vers 2) jeweils den ersten, die über 183 Otfrid den zweiten Halbvers einnimmt und die Pronomina min und thin
in betonter Position am Ende der Kurzverse aufeinander
reimen, während ihnen die Nennung einer Eigenschaft Gottes bzw. des Dichters vorhergeht. Hinsichtlich der Reimwörter und des Versbaus besteht also zwischen An- und Abvers der Verse 1-4 und 6 eine auffallende Parallelität. Dieser formalen Gleichartigkeit entspricht eine inhaltliche Bezogenheit der beiden Halbverse eines Verses. Die Aussagen über Gott im jeweils ersten und die über den Dichter im jeweils zweiten Halbvers entsprechen sich und beziehen sich aufeinander. Lautet etwa der Anvers von Vers 1 Wola drühtin
min,
so nimmt der Abvers, jä
bin
ich
sctlc
thin,
die im ersten Halbvers getroffene Kennzeichnung Gottes als tin
drüh-
des Dichters auf, indem sich Otfrid an der entsprechenden
Versstelle als soala
Gottes bezeichnet, und sogar das einleiten-
de Wola findet im ersten Wort des Abverses, dem bekräftigenden, nicht weniger emotionsgeladenen ja,
eine Entsprechung. Ähnliches
läßt sich für die Verse 2-4 und 6 feststellen. Durch diese inhaltliche und formale Parallelität der Aussagen über Gott und über den Dichter, besonders aber durch den immer wiederkehrenden Reim der Pronomina, die Gott und den Dichter im Vers vertreten 1 84 erreicht, schließt Otfrid seine Aussage in eine einzige Strophe, ja in ein einziges Bild, und überläßt es dem Leser oder Hörer, das in diesem Bild Angedeutete auszulegen. - Zu Beginn des neunten Buches zitiert Augustin dieselbe Psalmstelle, mit der auch Otfrid sein Eingangsgebet eröffnet (Conf. IX i,lf.). Doch ist der Kontext ein anderer als bei Otfrid: Das Psalmzitat Augustins leitet den Dank für seine Errettung aus der Gottferne ein. 183 Auch Vers 5 Thaz ih lob thinaz si lütentaz macht eine Aussage sowohl über den Dichter - er will Gott loben - als auch über Gott - er soll gelobt werden doch ist die strenge Parallelität des Versbaus hier durchbrochen. 184 Otfrid äußert sich auch theoretisch zur Bedeutung des Reims als Mittel zur Heraushebung von Sinneinheiten in der volkssprachigen Dichtung {Ad Liutb. 84-90): Quaerit enim linguae hujus omatus ... a dictantibus
omeoteleuton
(...)
observare.
Sensus enim hio interdum ultra
duo υ el
Die Invoaatio scriptoris ad Devon
35
- unter den zwölf Reimwörtern der ersten sechs Verse befinden 185
sich elfmal min oder thin
-, stellt sich der Eindruck einer
sehr engen Beziehung, ja der Harmonie zwischen Gott und Mensch her. Andererseits scheint es nahezuliegen, in dem aufgezeigten inhaltlichen und formalen Baumuster der Verse 1-6 nicht nur die Nähe Gottes zum erlösten Menschen, sondern auch den trotz allem bestehenden Abstand symbolisiert zu sehen. Denn die Aussagen über Gott und den Dichter sind mit Konsequenz auf getrennte Halbverse verteilt, zwischen denen eine Zäsur liegt. Diese Polarität des Langverses, die die Parallelität der Halbverse zu überlagern scheint, wird jedoch konterkariert vom Satzbau, der in vier Versen (2, 3, 4 und 6) zwischen den Halbversen keinen deutlichen Einschnitt zuläßt. Der Satzbau schließt also die verstechnisch durch eine Zäsur getrennten Aussagen über Gott und den Dichter zusammen und verstärkt so die Bindungen, die schon durch den Parallelismus der beiden Langvershälften und den Reim entstanden waren. Nicht der Eindruck einer Polarität des Langverses entsteht also, sondern der der inhaltlichen und syntaktischen Zusammengehörigkeit der beiden Kurzverse und damit der Aussagen über Gott und den Dichter. Allein die trotzdem fühlbar bleibende Anstrengung, mit der ein Satzbau, der den ganzen Vers umspannt, die verstechnisch geforderte Zäsur unterdrückt, macht etwas von den Schwierigkeiten erahnbar, die einer ungestört harmonischen Beziehung zwischen Gott und Mensch nach Otfrids Auffassung immer noch im Wege stehen^®**. tres versus vel etiam quattuor in lectione debet esse suspensus, ut legentibus apertior fiat. Hierzu ERNST, Liber Evangeliorum, S. 444. 185 Die einzige Ausnahme bildet Vers 5b. 186 Auch an anderen Stellen des Evangelienbuchs finden sich die Pronomina min und thin als Reimwörter zweier Kurzverse, doch wird dieser Reim an keiner anderen Stelle über sechs Langverse hinweg durchgehalten. Häufig geht es an solchen Stellen um die Beziehung eines Menschen zu Gott, besonders im Zusammenhang mit Petrus, der etwa bittet, wäsg mih äl (...)
liobo drühtin min, theih io gimängolo thin! (iv 11,33.36), und der, ähnlich wie Otfrid, bekennt, ih bin sigan saätk thin, thu bist herero min (IV 11,22) oder Thü weist, druhtin (...) min, thaz ih minna haben thin (V 15,5), und über den Christus sagt, Gihalt mir saaf rninu (minu, nates thinu) (V 15,9; ähnlich V 15,21.35). Auf Christi Frage Petrus, avur zeli mir, bin ih Hob filu thir? (v 15,27) antwortet Petrus, thu weist thir selbo anan mir thia mina minna zi thir (V 15,32) , wobei hier Personalpronomina die Aufgabe übernehmen, die gewöhnlich Possessivpronomen erfüllen. - Auch in weiteren Gebeten Otfrids findet sich Entsprechendes, so etwa III 17,59, III 17,66 und IV 31,36. Ähnliche Vers- und Aussagestrukturen erscheinen, wenn Christus von seiner Beziehung zu Gottvater
spricht: thaz wir ein sautun sin,
ih inti fäter min (III 22,64; hier
ist sin zwar nicht Pronomen, doch erstrebt Otfrid wohl denselben Effekt wie durch den Reim zweier Pronomina); Th inti fäter min joh thiu
ewinigi sin (III 22,31); In hant, fäter, thina so gib ih sela mina; / bifiluhu thir ouh, so thu weist, then minan eiginan geist! (IV 33,24f.).
36
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Diese
Zweideutigkeit
beherrscht
des V e r h ä l t n i s s e s des M e n s c h e n
zu Gott
auch V e r s 2, der die A u s s a g e des E i n g a n g s v e r s e s
va-
riierend w i e d e r h o l t . Wie Otfrid sich als Knecht b e z e i c h n e t so nennt er hier seine M u t t e r eine Magd;
hat,
stellte er im ersten
Vers aber zugleich prononciert die Hinordnung dieses
Knechtes
auf Gott, seinen Herrn, heraus, so ist nun auch die M u t t e r
eine
Magd Gottes. Die W ü r d e , die die Mutter durch diese Stellung w i n n t , wird u n t e r s t r i c h e n dadurch, daß Otfrids Worte über anklingen an M a r i a s Antwort an Gabriel: Ih (I 5,65). Wie die Forschung diese Verse Psalm servus
tuus
filius
ancillae
der
et
anaillae
(...)
seit langem gesehen hat,
115,16: 0 Domine,
filius
bin
tuae
ge-
sie
gotes
thiu
zitieren
quia ego servus tuus, ego 187 . Seit A u g u s t i n w u r d e
tuae
auf den Gläubigen als 'Sohn' der Kirche, 188 'Magd' Gottes gedeutet . Mit diesem Zitat ordnet sich
Otfrid gleich gemeinschaft
zu B e g i n n des E i n g a n g s g e b e t s in die große Heils189 der Kirche ein , denn die a l l e g o r i s c h e n I m p l i k a -
tionen dieser Verse dürften vertrauten
ihm wie seinem mit dem Psalter
Publikum bewußt gewesen
sein. Otfrid deutet
wohl-
durch
diese A n s p i e l u n g auf die Kirche an, daß er sein V o r h a b e n
nicht
um seinetwillen,
Gläu-
sondern
zum Heil der Gemeinschaft
aller
bigen beginnt; sein Dichten wird zu einem 190 "Teil des sich in der 'ecclesia 1 v o l l z i e h e n d e n Heilswerkes" . A b e r nicht nur
Der Reim der Christus bzw. Gottvater repräsentierenden Possessivpronomen unterstreicht in diesen Fällen die Wesensgleichheit der göttlichen Personen. 187 So schon ERDMANN (Otfrids Evangelienbuch, Halle 1882, S. 16) und PIPER (Otfrids Evangelienbuch, Bd. 1, Freiburg-Tübingen 2 1882, S. 28). (VOLLMANN-PROFE, Kommentar, Bd. 1, S. 152.) - Eine Parallele bildet auch
Sap 9,5 (quoniam servus
tuus sum ego et filius
ancillae
tuae) , was vor
ERNST (Liber Evangeliorum, S. 49) schon SCHWIETERING bemerkt hat (Origins , S. 440). 188 Augustinus, Enarrationes in psalmos CXV 6, CCL 40, S. 1655f. 189 Vgl. HAUBRICHS, Ordo, S. 248f. - Gegen VOLLMANN-PROFE (Kommentar, S. 152) ist die Deutung auf die Kirche durchaus vereinbar mit dem Epitheton arma. Denn 'arm' ist die Kirche als eine Gemeinschaft von Sündern; als die von Christus gestiftete Gemeinschaft der Gläubigen ist sie gleichwohl Gottes Magd. ERNST ( L i b e r Evangeliorum, S. 50) weist zu Recht darauf hin, daß Otfrid hier die Kirche "weniger als 'communio sanctorum' denn als das im Erdenleben noch gefährdete und unvollkommene 'corpus Christi' begreift, dessen noch mit Sünde befleckte Glieder zur Ausführung des christlichen Verkündigungsauftrages der im Gebet erflehten Hilfe Gottes bedürfen". - Fraglich scheint, ob man darüber hinaus in diesen Versen eine Distanzierung Otfrids "von allen häretischen Lehren" sehen darf,wie HAUBRICHS (S. 249) möchte. Zwar besteht bei Augustin (In Psalmos, S. 1656) der filius ancillae tuae als Gläubiger in der Kirche im Gegensatz zu den Häretikern und falschen Märtyrern außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft, doch ist Otfrids Absicht kaum die Verteidigung der orthodoxen Lehre gegen eine Häresie; explizite Bezüge auf Irrlehrer wenigstens finden sich nirgends. 190 HAUBRICHS, Ordo, S. 248.
Die Invoaatio scriptoris ad Deum
37
der Inhalt des Psalmenzitats ist wesentlich, sondern bedeutungsvoll ist schon die Tatsache, daß Otfrid hier den Psalter zitiert, denn damit stellt er sich in die Nachfolge des Psalmisten David - des Dichters, der der göttlichen Inspiration in wohl größtem Maße teilhaftig war -, erinnert Gott an die David gewährte Begnadung und erbittet unausgesprochen den gleichen Bei191 stand auch für sich . Darüber hinaus entspricht die Eröffnung des Werks mit einem Bibelzitat exakt der Aufgabe, vor der Otfrid steht, und dem Ziel, das er sich gesetzt hat. Denn Gegenstand seiner Dichtung ist ja die Offenbarung Gottes - wie aber sollte diese angemessener wiedergegeben werden können als durch möglichst enge Anlehnung an das göttliche Wort der Bibel? So ist der Beginn mit einem Bibelzitat geradezu Programm: Otfrid will sich eng an die in der Bibel offenbarte Wahrheit halten und sein Dichten ganz in den Dienst ihrer Verkündigung stellen. Die ersten beiden Verse des Eingangsgebets demonstrieren gleichsam in praxi, daß Otfrid die Mahnungen der letzten Verse der Bibel, der göttlichen Wahrheit nichts hinzuzufügen und nichts von ihr weg192 zulassen , beherzigt und damit die Einstellung besitzt, die seinem großen Vorhaben allein angemessen ist. Die beiden folgenden Verse 3 Ftngar
thinan
dua anan münd
theni ouh hänt thina
minan,
in thia züngun mina -
bilden Otfrids eigentliche Bitte um Inspiration. Noch einmal zeigen sie das Paradoxon gleichzeitiger Gottferne und Gottnähe des Menschen: Gott berührt den Menschen in einer inspirierenden Geste liebender Hinwendung, aber er muß seine Hand strecken, um den Menschen zu erreichen. Das Bild, in das Otfrid seine Inspirationsbitte faßt, hat biblische und liturgische Quellen. Zunächst klingen seine Worte an an die Berufung des Jeremias 193 (Ier 1,9)
: Et misit Dominus manum
et dixit Dominus
suam, et tetigit
os meum,
ad me: Eoae dedi verba mea in ore tuo (...)
Wie er Gott durch ein Psalmenzitat zuvor an die David gewährte Begnadung erinnerte, beruft Otfrid sich hier auf ein weiteres biblisches Vorbild, in dessen Sprache er seine Bitte formuliert. 191 Die Berufung auf David im Zusammenhang einer Inspirationsbitte hat in der christlichen Literatur eine lange Tradition. Schon im 4. Jahrhundert verwendet sie Paulinus von Nola (Carmen VI, 20-24). (WITKE, Numen
litterarum, s. 75-77.) 192 Apoc 22,18f. 193 Auf die Berufung des Jeremias bezieht sich zu Beginn seiner Vita S. Galli auch Walahfrid Strabo. (HAUBRICHS, Ordo, S. 375, Anm. 92).
38
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Dieser Verzicht auf einen eigenen Anspruch, das sich Verbergen hinter würdigeren Vorbildern, ist schon an sich ein Akt der Demut, ganz besonders aber der Hinweis auf Jeremias, denn dieser Prophet, der seinem Amt zunächst aus Bescheidenheit ausweichen wollte, ist der Idealfall eines Dichters, der nicht um der persönlichen Ehre willen spricht, sondern im Dienste und zum Ruhme 1 94 Gottes seinen Verkündigungsauftrag erfüllt Otfrids Publikum mag beim Hören dieser Verse eher als an Jeremias an einen Psalmvers gedacht haben, der täglich zu Beginn der Matutin und nach der Benediktinerregel auch vor jeder Tischlesung 195 vom Vorleser zu sprechen war , Ps 50,17 Domine, labia mea aperies;
et os meum annuntiabit
laudem tuarn^^^. Bot sich die
Übernahme dieses liturgischen Inspirationsgebets als Inspirationsbitte einer Dichtung, die bei halbliturgischen Anlässen re1 97 zitiert wurde , schon an sich an, so wurde sie besonders nahegelegt durch den mit einem wesentlichen Aspekt des Eingangsgebets übereinstimmenden Inhalt des 50. Psalms, eines Bekenntnisund Bittgebets, das von einem nicht weniger tiefen Bewußtsein der menschlichen Sündhaftigkeit durchdrungen ist als Otfrids Werk 1 9 8 . Weder die Berufung des Jeremias noch den Vers aus dem 50. Psalm übernimmt Otfrid unverändert, sondern er modifiziert die biblischen Bilder für den Inspirationsvorgang leicht. Während Ier 1,9 von der Hand Gottes und dem Mund des Propheten spricht und Ps 50,17 die Lippen des Menschen erwähnt, die Handlung Gottes aber abstrakt beschreibt (aperies), vollzieht sich der Inspirationsakt bei Otfrid in der Berührung des Menschen durch den Finger Gottes. Sinn dieser Änderung ist die genauere Beschreibung des 194 ERNST, Liber Evangeliorum, S. 51, Anm. 168. 195 ERNST, Liber Evangeliorum, S. 342. 196 Ps 50,17 fand als Eingangsbitte geistlicher Literatur große Verbreitung. Nur zwei weit auseinander liegende Beispiele: BRINKMANN, Prolog, S. 19, zitiert die Eingangsbitte Marbods zu Beginn seiner Vita des Heiligen
Licinius: Vitam et actus beati Licinii ( ) explicare cupientes Dominum Deum, a quo omnis sapientia est (Eccl. 1,1), voluimus invocare, ut eodem sanoto interoedente ostium nobis sermonis aperiat (Ps 50,17). (PL 171, 1493). Und noch Luther zieht diesen Vers zur Begründung seines Schrei-
bens heran: Wie wol iah nu wol drey jar verbannet und ynn die acht
gethan hette sollen schweygen, wo ich menschen gepott mehr denn Gott geschewet hett (...) Aber weyl myr Gott den mund auff gethan hatt und mich heyssen reden (...) Darumb will ich reden (...) (An die Burgermeyster und Radherren, S. 27,6-8.12f.21). 197 OHLY, Tu autem, S. 28; ERNST, Liber Evangeliorum, S. 371 f.; JAMMERS, Epos, S. 181. 198 Vers 7 dieses Psalms bildet eine Parallele zum zweiten Vers des Eingangsgebets. Während sich Otfrid dort dem Wortlaut nach an Ps 115,16 orientiert, gibt Ps 50,7 gleichsam die Ausdeutung dieser Stelle: Ecce in
iniquitate conceptus sum, et in peccatis concepit me mater mea. Auch bei Otfrid läuft die Erwähnung der Mutter auf die Sündigkeit des Menschen hinaus.
Die Invoaatio
scriptoris
ad Deum
39
Inspirationsprozesses, denn der Finger Gottes galt in patristi199 scher und karolingischer Zeit als Symbol des Heiligen Geistes Die Abwandlung des biblischen Bildes dient also einer theologischen Präzisierung: Indem der Finger Gottes den Mund des Dichters berührt, wirkt der Heilige Geist als Vermittler der Inspiration. Die Verse 5-18, die syntaktisch noch von den Hauptsätzen der Verse 3 und 4 abhängig sind und so ihre enge inhaltliche Bezogenheit auf die Inspirationsbitte auch im Satzbau zu erkennen geben, begründen nun auch explizit die Notwendigkeit der Bitte um den Beistand Gottes. Dies geschieht in zweifacher Weise: zunächst durch die Charakterisierung des Vorhabens als Gotteslob und die Darlegung dessen, was Otfrid mit Hilfe der göttlichen Gnade schaffen will; danach durch den Hinweis auf mögliche Gründe des Mißlingens, vor denen Gott ihn bewahren möge. Der erste Schritt umfaßt die Verse 5-14: 5 Thaz
ih
lob
giburt Joh
ih
10
ih
joh Thaz
wio ih
wio
Joh wio ubar
si
thiu thiu
sünnun
er
deda
lioht
er
tho,
heili
joh
bigonda
zi
tho ubar ällan
worto;
wir
nu ist uns
bredigon,
sinero thes
fand,
ouh thänne
mines;
thero
gisoribe
er unsih
er fuar
wio
h&rto
selba
ouh hiar
firdän
lütentaz, drühtines
redinon,
giwar
zeichan
si
thines,
biginne
thaz Joh
thinaz
sünes
birun
nu so
wbrolti rehtemo er
selbo
himila thesan
fro,
gimeini; libe, tothes
ginand;
alle, woroltthiot
-
Otfrid begründet die Notwendigkeit des Inspirationsgebets zunächst durch die Charakterisierung seines Vorhabens als Gotteslob (5) und beschreibt zugleich, unter welchen Bedingungen das Gotteslob allein gelingen kann: nur dann nämlich, wenn der Dichter sich völlig passiv der Lenkung Gottes überläßt. Wenn Otfrid Gott darum bittet, im Gotteslob erklingen zu dürfen, so stellt sich sein Dichten dar nicht als Tun des Dichters, sondern als passives Rezipieren; alle Aktivität liegt auf Seiten Gottes, der durch seine Inspiration den Dichter zum Tönen bringt, als 199 ERNST, Liber Evangeliorum, S. 52 und Aran. 169. - Die Vorstellung bleibt wirksam über die Karolingerzeit hinaus. Im Predigtbuch des Priesters Konrad aus dem 12. Jahrhundert heißt es: diu niwe e diu enist aver niht
gesariben an deheinen stain, vinger, daz ist des heiligen
sunder diu ist gesoriben mit dem gots gaistes gäbe, an diu iwern rainen herzen.
(SCHÖNBACH 3, Nr. 62, S. 148,5-7.) Und wenig später: Von danne
zeiohent
ouoh der gots vinger die gnade unde die sibenvalten
SO
be-
gäbe des
40
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
wäre dieser ein Musikinstrument, das durch die Berührung mit dem Finger Gottes in Schwingungen versetzt wird^^. Treffender hätte Otfrid seinen Verzicht auf Dichten zu persönlichem Ruhm kaum formulieren können. Der Dichter tritt völlig hinter seinem Werk zurück; er muß dies auch, denn seine durch die Sünde korrumpierte Natur wäre gar nicht in der Lage, Gottes Wort ohne Verfälschungen wiederzugeben. Eben deshalb muß Otfrid in Vers 8 um das rechte Verständnis der Worte Christi bitten: Zu ihrem vollen Begreifen bedarf der sündige Mensch der Heilung durch die Gnade, die das Eingangsgebet herabruft. Die Darlegung der Vorgänge im inspirierten Dichtprozeß ist jedoch in den Versen 5-14 nur ein sehr untergeordneter Aspekt; sie wird nicht explizit vorgetragen, sondern lediglich in einem Bild angedeutet, das allerdings das Gemeinte treffend beschreibt. Dagegen besteht der Hauptzweck dieser Verse in einem gedrängten Uberblick über das, was Otfrid mit dem Beistand Gottes darstellen will, dergestalt, daß der Inhalt der einzelnen Bücher nacheinander kurz angesprochen wird, wobei die Bücher I, IV und V durch je ein markantes Ereignis repräsentiert werden, während die Charakterisierung im Falle der Bücher II und III, deren Inhalt pauschal als Lehren und Wunder Christi beschrieben wird, 201 unkonkret bleibt . Wählt Otfrid für die Bücher I und IV jeweils das beherrschende Geschehen des Buchs für seine Kurzcharakteristik aus - die Geburt bzw. den Tod Christi (6, 12) -, so kann dem Buch V vertretenden Geschehen, der Himmelfahrt (13f.), keine dominierende Stellung eingeräumt werden; sowohl der Beginn - die Auferstehung - als auch der Schluß des fünften Buches - die Kapitel über das Jüngste Gericht - erscheinen gewichtiger als die Himmelfahrt. Doch hat die Himmelfahrt in diesem Zusammenhang einen entscheidenden Vorzug: Sie markiert das Ende des Erdenlebens Christi. Otfrid spannt den Uberblick über sein Werk aus zwischen Christi Geburt (5) und seiner Auffahrt in den Himmel (13f.), um zu zeigen, daß seine Dichtung beansprucht, die Selbstentäußerung Gottes um der Erlösung der Menschen willen vollständig, von der Menschwerdung Christi bis zum Ende seines irdischen Lebens, zu umfassen. Entsprechend dieheiligen gaistes. (s. 150,1-3.) 200 Das scheinbar aus Reimnot gewählte Neutrum (lütentaz, S), das die Forschung beschäftigt hat (VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 152f.), erscheint von hieraus in neuem Licht. Otfrid scheint, indem er von sich im Neutrum spricht, seine Person in radikalster Weise aus dem Spiel zu nehmen, um sich um so klarer als passives Instrument der Inspiration darstellen zu können. 201 Zur Behandlung der einzelnen Bücher in diesen Versen im Vergleich zu ihrer Beschreibung im Brief an Liubert siehe ERNST, Liber Evangeliorum, S. 63-66.
Die Invoaatio soriptoris ad Devon
41
sem Gesichtspunkt wird die Auflistung der Inhalte der einzelnen Bücher mehrfach unterbrochen durch Einschübe, die die erlösende Kraft der jeweils berichteten göttlichen Tat reflektieren: über die von Christus gewirkten Wunder sind die Erlösten froh (9) - in welcher Hinsicht, wird Otfrid in den Auslegungskapiteln zu den Wundern darlegen, die durch allegorische Ausdeutung das biblische Geschehen aus seiner Historizität befreien und das im Wunder bewirkte Wohl der ganzen Christenheit (10) zugänglich ma202
chen
und der Tod Christi wird ausdrücklich als der Akt be-
schrieben, in dem Christus durch seine freiwillige Hingabe (tho er selbo toth.es ginand,
12) die Menschen erlöst hat und
dessen erinnernde und nachvollziehende Beschreibung dem Gläubigen heilbringend ist (uns ζi rkhtemo libe, 11). Steht so in der kurzen Auflistung des Inhalts der Bücher des Werks die Erlösungstat des menschgewordenen Gottes im Mittelpunkt, so erscheint doch in den letzten Versen des Abschnitts eine Andeutung der Größe und Herrlichkeit Christi, der bei der Himmelfahrt ällan thesan wöroltthiot (14), alle Himmel und die Sonne übersteigt - ein Bild, das die Selbstentäußerung Gottes in der Menschwerdung durch den Kontrast noch unterstreicht. Die anschließenden Verse 15-18 begründen die Notwendigkeit der Inspiration
durch den Verweis auf Ursachen eines möglichen Meß-
lingens der Dichtung, vor denen Gottes Hilfe Otfrid bewahren soll: 15 Thaz ih, drühtin,
thanne
nöh in themo wähen
in theru sägu ni
thiu wort ni
Thaz ih ni scribu thuruh ruam, thaz mir iz iowanne
zi wize
firspirne,
missifähen;
suntar bi thin lob duan, nirgange.
Otfrid spricht in Begriffen, deren Bedeutungsumfang nicht in allen Fällen auf den ersten Blick zu erkennen ist. Gleich vier Kernbegriffe, saga, firspirnan,
wahi und missifahan,
bedürfen
der Klärung, saga erscheint nur an dieser Stelle, seine genaue 203 Bedeutung ist deshalb schwer zu ermitteln. Kelle wie Erd204 mann verstehen es als 'Erzählung' und beziehen den Terminus auf die historische Wiedergabe des biblischen Geschehens. 202 Immer noch verwandelt sich dem, der vom Litteralsinn der Bibel zum geistigen Schriftsinn vordringt, das Wasser des bloß historischen Schriftverständnisses in den Wein der tieferen allegorischen Erkenntnis (II 9,67-70; II 10,9-12); immer noch wird ihm die harte Kruste des Buchstabensinns zum süßen Brosamen des geistlichen Verständnisses (III 7,75-80). 203 KELLE, Glossar, S. 497.
42
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
205 f%rspi.rnan
erscheint vor allem in drei Zusammenhängen
Vers II 4,60 steht es für das biblische offendere
in der Ver-
suchungsrede des Teufels in der Wüste (Mt 4,6): Si es,
mitte
davit
te
deorsum:
de te,
et
lapidem
pedem
II
Iz
4,57
tuam.
ist
scriptum
in manibus
est
enim:
tollent
te,
Quia
Filius
angelis
ne forte
. In Dei
suis
man-
offendas
ad
&ngila
mit
Otfrid übersetzt:
giscriban
fona
thir,
thaz
faren
thir, sie Sie
thih thin
thaz
bisctrmen giwaro
thin
allan
warten
füaz
joh joh
iow&nne
thih in
thih
ni
hart ο
steine
ni
lasen
f
allan;
halten, firspurne.
Diese Matthäusstelle, eigentlich ein Psalmzitat (Ps 90,12), interpretiert Hraban, dessen Matthäuskommentar Otfrid vertraut war - der von ihm verfaßte Weißenburger Marginalienkommentar zu 206 den Evangelien stützt sich für Matthäus ganz auf Hraban in engem Zusammenhang mit dem im Psalm unmittelbar folgenden Vers, der auf die Vernichtung des Teufels durch Christus ausgelegt wird, der die Natter und den Basilisken, Drachen und Löwen zertritt 207 . Den Fuß Christi hemmt also das Wirken des Teufels. Diese Deutung bestätigen die Verse I 23,27-30. Dort beschreibt 208 Otfrid im Anschluß an Beda den Heilsweg Christi ins Herz des Menschen. Er ist durch gute Werke zu bereiten, damit Christus auf dem Weg in das Herz auf kein Hindernis trifft, thaz zi
grünne
tharana
ni firspurne
er
iu
(I 23,30). Aus dem Kontrast zu
den den Weg ebnenden guten Werken (I 23,27f.) und der Androhung, ein Straucheln Christi geschehe dem Menschen zi
grünne
(I 23,30),
ist die Bedeutung der geistigen Strauchelsteine zu entnehmen: Sie stehen für die bösen Werke, die Sünden. Ähnliches gilt für den firspirnan-Belsg bei der Ubersetzung von Io 11,9f. 209:
204 Zitiert bei VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 154: "'saga· = Erzählung ... ist die einfache Wiedergabe der evangelischen Geschichten." 205 HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 141. 206 KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 137, 142. 207 Hraban, in Mt, PL 107, 783B: Male ergo interpretatur Soripturas diabolus.
Certe si vere de Salvatore scriptum noverat, debuerat et illud dicere, quod in eodem psalmo contra se sequitur: Super aspidem et basiliscum arribulabis, et conculcabis leonem et draconem. 208 Beda, In Lc I 2241-45 (CCL 120, S. 76). 209 Io 11,9f. Si quis ambulaverit in die, non
videt;
si autem ambulaverit
in nocte,
offendit, quia lucem huius mundi offendit, quia lux non est in eo.
Die Invocatio soriptoris ad Deum
III 23,35 So wer so däges gengit,
giwisso
want er sih mit then dugon Drof ni zuivolot
ir thes,
ni er blintilingon
Werne
43
er ni
fbrna mag biginnit joh sero
firspirnit, bisotwon;
er es nähtes, firspürne!
Otfrid deutet diese Stelle zwar nicht aus, doch war ihm sicher die Interpretation Alcuins bekannt, dessen Johanneskommentar eine der Quellen des Evangelienbuchs ist 210 . Alcuin paraphrasiert die 211 Johannesstelle mit Me sequemini,
si. non vultis
errare
. Das
Straucheln bedeutet für ihn demnach das Abweichen von der Lehre Christi, vom rechten Glauben. Otfrid verwendet firspirnan also immer dort, wo er Bibelstellen übersetzt, die in der karolingischen Theologie auf das Wirken des Teufels oder auf die Sündhaftigkeit des Menschen gedeutet werden. Im Hinblick auf sein Dichten meint firspirnan daher mehr als ein bloßes Abweichen von der Vorlage: ein Irren des Sünders, das dem Teufel Zugang zu einer Dichtung gewährt, die zum Heil der Gläubigen und zum Ruhme Gottes unternommen wird. Die Bitte um Schutz vor dem Straucheln bedeutet die Hoffnung, Gott möge dieses heilbringende Werk nicht durch den Einfluß des Teufels auf die menschliche Schwachheit verderben lassen. Zum Verständnis der dann folgenden Bitte (16) ist vor allem die Erläuterung der Formulierungen in themo wähen und
missifähen
notwendig. Für wahi lassen sich zwei Bedeutungsbereiche ermit212 teln : der des Feinen, Kunstvollen und der des Wunderbar-Göttlichen, dem Menschen deshalb Fremden und schwer zu Begreifenden. In dieser zweiten Bedeutung findet sich wahi mehrfach in Otfrids Werk. In Vers I 5,42 wird die Verkündigung an Maria bezeichnet als ärunti
gähaz
joh härto filu wähaz;
die Geburt Christi um-
geben zeiohan filu wahi (I 17,15); und das Reden der Propheten wird charakterisiert als of to wähaz
joh manag
seltsanaz
(I 27,30). Es liegt nahe, diese Bedeutung von wahi auch für den hier betrachteten Vers anzunehmen. Denn auch Otfrids Vorlage, das Evangelium, hat wie die gesamte Bibel eine Komponente, der das Attribut wahi in diesem Sinne zukommt, nämlich den über den Litteralsinn hinaus von Gott in ihr angelegten, schwer verständlichen geistigen Sinn, in themo wähen bedeutet deshalb nicht, wie man gemeint hat 213 , die "schöne Form" 214 der Dichtung, son210 211 212 213 214
HELLGARDT, Quellen, S. 142-208. Alcuin, In Io, PL 100, 898A. KELLE, Glossar, S. 654f. VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 154; KARTSCHOKE, Bibeldichtung, S. 290. VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 154.
44
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
215
dern die geistige Dimension des Darzustellenden terpretation fügt sich missifahen
. In diese In-
sinnvoll ein. missifahen
er-
scheint in Otfrids Werk noch einmal im Zusammenhang mit Text216
Verständnis und Textausdeutung
; dort meint es eindeutig ein
falsches Verständnis nicht des Buchstabensinns, sondern des 217
geistigen Sinns der Schrift
. Nichts spricht dagegen, diese
Bedeutung auch hier anzusetzen. Damit ist die Beschreibung der Aussage von Vers 16 möglich: Es geht um das rechte Verständnis (ni
missifähen)
des geistigen Sinns (in
themo
wähen)
des Evan-
gelienworts. Wie sich Otfrids vorhergehende Bitte (15) auf die rechte Wiedergabe des Litteralsinns (der saga)
bezog, so bittet
er hier um die Gnade, auch der schwierigeren geistigen Dimension des Evangeliums in seinem Werk gerecht werden zu dürfen. Die syntaktische Stellung des folgenden Verspaars (17f.) ist nicht ganz eindeutig. Während Vollmann-Profe es nicht mehr zu dem in Vers 3 beginnenden Satzgefüge zählen will, ist es doch durch seinen Inhalt, vor allem aber durch die Einleitungsworte Thaz
ih,
die mit den ersten Worten der Verse 5, 8, 11 und 15
identisch sind, so fest mit dem Vorhergehenden verbunden, daß es ungerechtfertigt erschiene, mit Vers 17 einen neuen Satz be218
ginnen zu lassen
. Die indikativische Verbform sar-ibu
(17)
verbietet es jedoch, diesen Vers in derselben Weise auf die einleitende Inspirationsbitte zu beziehen wie die vorhergehenden thaz-Sätze;
vielmehr steht er in Abhängigkeit von Vers 18, des219
sen Subjekt iz
er als Relativsatz näher bestimmt
. Faßt man
diese Verse so auf, dann bilden sie eine Bitte des Dichters um den Erlaß einer Strafe, die er unbewußt im Dichten auf sich 215 Ähnlich schon ERDMANN (zitiert bei KARTSCHOKE, Bibeldichtung, S. 290). 216 II 11,41f. HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 122.
217 II 11,41 Thaz wir ni missiftangin, ouh so ni missigiangin, rihta uns then sin hiar filu from therer gotes drütman; Er lerta unsih joh zeinta, thaz drühtin unser meinta (thaz wir ni kertin thanana üzl) thaz sines lichamen hits. Um ein missifahen der Worte Christi zu vermeiden, gibt der Evangelist (der drütman) hier selbst die Ausdeutung des Tempels auf den Leib Christi (Io 2,19-21). missifahen bezeichnet hier also eindeutig ein Mißverstehen des geistigen Schriftsinns. 218 VOLLMANN-PROFE schlägt vor, "nach Vers 16 stärker zu interpungieren, Vers 17 als Hauptsatz zu nehmen und Vers 18 als davon abhängigen Adverbialsatz (Absichtssatz) (...) Thaz (Vers 17) bedeutet in dieser Interpretation, ähnlich wie iz (Vers 21), 'das vorliegende Werk'. Die Verse 17-24 heben sich in dieser Interpretation als ein Block indikativischer Aussagen (mit einem Imperativ in Vers 20) von der Versgruppe 'gib, daß ...' (5-16) ab." (Kommentar, S. 155.) Neben den im Text angeführten Gründen spricht gegen diese Auffassung wohl auch die invertierte Wortstellung Thaz ih ni soribu thuruh rüam statt Thaz saribu ih ni thuruh ruam in Vers 17. 219 Auch VOLLMANN-PROFE (Kommentar, S. 155) erwägt diese Möglichkeit im An-
Die Invooatio script oris ad Deum
45
ziehen k ö n n t e . Denn w e n n er auch sein W e r k durch die
Hereinru-
fung des göttlichen B e i s t a n d s ganz in die Hände G o t t e s hat, Gott also als der e i g e n t l i c h e Autor
gelegt
zu b e t r a c h t e n
gehen Fehler und F e h l h a l t u n g e n d o c h zu Lasten des
ist, so 220 Menschen
Zwar beteuert Otfrid hier n o c h einmal a u s d r ü c k l i c h , w a s
seine
A n s p i e l u n g auf J e r e m i a s schon angedeutet hatte: daß er nicht der p e r s ö n l i c h e n Ehre w i l l e n , sondern (thaz
ih ni scribu
thuruh
rüam,
zum Lobe G o t t e s
suntar
doch gilt auch für ihn, w a s später die
bi thin
dichte
lob duan,
17),
hochmittelalterlichen
Deuter der L i t u r g i e für den Lektor und Prediger
feststellen:
Keine V e r k ü n d i g u n g des G o t t e s w o r t s könne frei sein von Spur von Schuld, da die Ehre, die g ö t t l i c h e B o t s c h a f t zu d ü r f e n , es u n m ö g l i c h m a c h e , völlig vom Geist der 221 unberührt zu bleiben Mit Vers
18 endet das mit der I n s p i r a t i o n s b i t t e
jeder verkünden
Uberhebung
in den
3 und 4 b e g i n n e n d e S a t z g e f ü g e . Der s y n t a k t i s c h e n G r e n z e
Versen ent-
spricht kein scharfer S i n n e i n s c h n i t t . A u c h in den folgenden sen spricht Otfrid über die S c h w i e r i g k e i t e n , vor die sein haben ihn stellt. Seine A u f m e r k s a m k e i t
um
richtet
Vor-
sich nun auf
G e f ä h r d u n g der angemessenen G e i s t e s h a l t u n g des D i c h t e r s
Ver-
die
durch
dumpheit: 19 Ob iz zi thiu thia
sünta,
thoh
gigiit
druhtin,
mino
thuruh
mina
gin&dlioho
dümpheit: 222 dtlo,
schluß an ERDMANN und PIPER, um sie dann jedoch als zu kompliziert zu verwerfen. 220 Ähnlich hat der die Tischlesung vortragende Mönch trotz seiner einleitenden Inspirationsbitte zu gewärtigen, von Gott für Ungebührliches in seinem Vortrag gestraft zu werden. Dies ist nach hochmittelalterlicher Interpretation der Grund, warum die Tischlesung durch die Formel Tu autem, domine, miserere nobis beschlossen wird (OHLY, TU autem, s. 42). 221 Ebd. OHLY bezieht sich besonders auf Aussagen Ruperts von Deutz und Sicardus' von Cremona. 222 Schon SCHÖNBACH (Otfridstudien II, S. 337) verweist auf den Anklang an Ps 50,11, dele orrmes iniquitates meas. Ps 50,3 bietet ebenfalls eine Parallele: dele iniquitatem meam (ERDMANN, zit. n. VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 156). Auch die Herzmetaphorik der Verse 23f. hat im 50. Psalm eine Entsprechung (Ps 50,12; SCHÖNBACH ebd.), und wie sich bereits zeigte, weisen Otfrids Verse 2-4 motivische Ähnlichkeit mit Versen dieses Psalms auf. Die Häufung dieser Bezüge ist auffällig, doch läßt sich ihr kein erkennbarer Grund unterstellen. Otfrids Eingangsgebet ist keineswegs eine Nachdichtung des 50. Psalms, denn es verändert die Abfolge der Psalmverse, und die Parallelen reichen nicht bis ins Detail. Otfrid entnimmt dem Psalm einige Wendungen und Motive und fügt sie gemäß seiner eigenen Intention dem Gebet ein. Ob dies freilich ein Zitieren im eigentlichen Sinne ist, ist zweifelhaft; Otfrid war mit dem Psalm, der zu seinen täglichen Gebeten gehört haben muß (SCHÖNBACH, ebd.), so vertraut, daß ihm die Übernahme einzelner Wendungen und Motive in sein Werk gar nicht bewußt gewesen zu sein braucht.
46
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Wanta
(ih
joh Then
z&llu
ih
iz
ouh
wan ζέΖΙ
thoh
iz
thir ih
büe
in
bimide bi
innan
wän)
iz
bi
niheinigemo
thäz,
thaz
mir,
ist
nist
bi
gidan;
nide.
herza harto
bälawe
wkist
thu
kündera
filu
bäz;
thir.
dumpheit meint auf dem Hintergrund der karolingischen Theologie mehr als nur intellektuelles Unvermögen. Wenn Otfrid später von der Menschheit vor ihrer Erlösung durch Christus sagt, IV
5,15
Wir
warun
so
thie
ümbitherbe sar
got
joh
harto
nirknaent,
filu ouh
dumbe,
imo
sih
ni
n&hent
-,
so zeigt sich, daß der Begriff der dumpheit bei ihm einen religiösen Sinn besitzt, 'dumm' sind Menschen, die Gott nicht erkennen und sich ihm nicht nähern. 'Dummheit' impliziert nicht nur das Nichterkennen Gottes, sondern auch die Weigerung, auf ihn zuzugehen. Der 'dumme' Mensch im Sinne Otfrids verschließt sich dem Wort Gottes - er ist unfähig, Gott zu erkennen, und darüber hinaus auch nicht bereit, nach Gotteserkenntnis zu streben. Nun wird deutlich, warum Otfrid um die Vergebung etwaiger durch dumpheit verursachter Mängel seiner Dichtung beten muß: 'Dumm1 heit ist als sich Verschließen gegen Gott eine Schuld, die der Vergebung durch die göttliche Gnade bedarf. Die Theorie der sündigen Dummheit ist in der karolingischen Theologie fest verankert. Hraban kennt eine der Bewertung Otfrids sehr ähnliche Beurteilung der stultitia, die allerdings insofern differenzierter ist, als er stulti, sed tarnen 223 unterscheidet von stulti et ignobiles . Während die
nobiles die Einfalt des damit eine Haltung, 224 die wird, symbolisieren , gen, die sich dem Anruf sunt
stulti
sequentes sunt
non
et
intelligunt
in
stulti
Christen in den Dingen dieser Welt und dem Gläubigen von Paulus anempfohlen stehen die stulti ignobiles für diejenides Gottesworts entziehen: At contra
ignobiles,
fugiunt,
nobiles
qui sua (...)
dum supernam
ignorantia et
stulti
sapientiam
(...)
id
sunt,
quia
ad quod veram
semetipsos eonditi sapientiam
223 Hraban, In epistolas Pauli libri IX, PL 112, 41CD.
224 Stulti namque dicuntur, sed esse ignobiles nequeunt, qui, oamis prudentiam contemnentes, profuturam sibi stultitiam appetunt, et ad nobilitatem internas prolis virtutis novitate sublevantur,m qui stultam sapientiam mundi despioiunt, et sapientem Dei stultitiam conoupiscunt; scriptum est quippe, Quod stultum est Dei sapientius est hominibus (I Cor. i); hanc nos stultitiam Paulus comprehendere admonet, dicens: Si quis videtur inter vos sapiens esse in hoc saeculo, stultus fiat, ut
sit
sapiens.
(Hraban, In epistolas Pauli libri IX, PL 112, 41 AB.)
Die Invoaatio
soriptoris
ad Deum
47
non intelligunt, et ignobiles quia nulla spiritus libertate re225 novantur. Wie die sündige Dununheit bei Otfrid ist die stultitia ignobilis bei Hraban eine Schuld des Menschen, der vor der 2 26
göttlichen Weisheit flieht
und sich damit freiwillig in die
Gottferne begibt, was für ihn katastrophale Folgen zeitigen wird. Denn die wahre Weisheit als Erkenntnis des göttlichen Willens, der sich am reinsten und ungebrochensten in der Bibel manifestiert, ist die Grundlage des christlichen Lebensvollzugs; nur der kann aus dem rechten Glauben heraus Werke der Liebe tun, der den göttlichen Willen kennt, also im Sinne der karolingisehen Theologie sapiens ist 227 . Deshalb kann Hraban sagen: s%ne hac sapientia
nemo fieri
beatus
potest 2 2 8
Obwohl Otfrid ein aktives sich Verschließen vor dem Wort Gottes sicher nicht vorzuwerfen ist, schwebt er in der Gefahr der dumpheit. So fest er entschlossen sein mag, die dumpheit zu meiden - sein Wille allein kann keine Gewähr dafür bieten, daß er die rechte Dichthaltung nicht verliert. Denn durch die Erbsünde ist der menschliche Wille grundsätzlich gebrochen und der Versuchung ausgesetzt, der er trotz aller Entschlossenheit zum Guten 22 9 unterliegen kann . Der christliche Dichter weiß seine rechte Dichthaltung immer gefährdet; sein Wille allein schützt ihn nicht davor, daß er, ohne es zu bemerken, etwa der persönlichen Eitelkeit an seiner Dichtmotivation Anteil gewährt, dadurch nicht mehr ausschließlich um die sapientia der rechten Erkenntnis und die Wiedergabe des Gottesworts bemüht ist und somit der dumpheit 230 verfällt . Das letzte Urteil über die Haltung, in der er dichtet, steht daher allein Gott zu, der das Herz des blickt (23f.); nur sein Beistand kann in als gratia sanansMenschen 2 31 die Gebrechlichkeit des menschlichen Willens heilen und muß deshalb vom Dichter immer wieder erfleht werden 232 225 Hraban, In epistolas Pauli libri IX, PL 112, 41CD. 226 Vgl. Otfrids Bild des sich Gott nicht nähernden Menschen (IV 5,16), das Hrabans Metapher vom vor der Verfolgung durch die göttliche Weisheit fliehenden stultus aufnimmt und mildert. 227 Hierzu und zur karolingischen Weisheitstheologie allgemein RATHOFER, Heliand, S. 272-80, bes. S. 276. 228 Hraban, De clericorum institutione ad Heistulphum archiepiscopum, 111,2 (PL 107, 379D; zit. n. RATHOFER, Heliand, S. 272). 229 RATHOFER, Heliand, S. 42; ERNST, Liber Evangeliorum, S. 58. 230 Unwillkürliches Verfallen in die dumpheit ist zwar keine bewußte Sünde; da der Mensch im Sündenfall die Korrumpierung seines Willens jedoch aktiv herbeigeführt hat, ist auch deren Konsequenz, die unwillkürliche dumpheit, ihm als Schuld zuzurechnen. 231 RATHOFER, Heliand, S. 42. 232 ERNST, Liber Evangeliorum, S. 58: "Wie der Dichter in jedem Augenblick die Weisheit verlieren und in Torheit verkehren kann, so ist auch seine 'bona voluntas' stets gefährdet (...) so daß der selbstverantwortlich fühlende und sein Gewissen erforschende Mönch bei aller Abwehr niederer Motive das
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Weil er weiß, daß die rechte Dichthaltung nie ungefährdet ist, weist Otfrid in der mit Vers 21 beginnenden Strophe sündige Motive seines Dichtens von sich, um zu demonstrieren, daß er, soweit es ihm seine menschliche Kraft erlaubt, sein Gewissen erforscht und alle Spuren einer sündigen Motivation getilgt hat. Die Beschreibung der Fehlhaltungen, die er zu vermeiden entschlossen ist, bleibt in dieser Strophe allgemeiner als zuvor; Otfrid spricht ganz undifferenziert von Bosheit und Gehässig2 33 keit ( b i bälawe, 21; bi ( . . . ) nide , 22). Wie sehr er sich jedoch der begrenzten Gültigkeit solcher Beteuerungen bewußt ist, zeigt die Tatsache, daß er in den Versen 23 und 24 die wahre Erkenntnis seiner Motive Gott anheimstellt. Denn wenn Otfrid davon spricht, daß das Herz des Menschen Gott unverborgen ist, so ist dies keineswegs gemeint als selbstgerechte Aufforderung eines vermeintlich Schuldlosen an Gott, sein Herz nur zu prüfen, sondern Ausdruck des Wissens darum, daß der Mensch sich über seine innersten Gefühlsregungen gar keine Klarheit verschaffen kann. Wie in den ersten Versen des Gebets steht der sündig gewordene Mensch vor dem ihm unermeßlich überlegenen Gott. Doch wird - auch darin entsprechen diese Verse dem Beginn des Gebets - die Polarität zwischen Mensch und Gott auch hier wieder gemildert und überdeckt durch eine trotz allem bestehende gegenseitige Bezogenheit Gottes und des Menschen aufeinander, die sich erneut in der Anordnung der Aussage im Vers, genauer ihrer Verteilung auf An- und Abvers, manifestiert: Zwar spricht sowohl in Vers 2 3 als auch in Vers 24 der Anvers vom Dichter, der Abvers von Gott, wodurch sich eine Polarität anzudeuten scheint, doch bilden andererseits die Aussagen über den Schöpfer und sein Geschöpf erst zusammen einen vollständigen Langvers. Vor allem aber sind deutlich in Vers 23, durch das Fehlen eines eigenen Subjekts im Abvers etwas weniger deutlich in Vers 2 4 - An- und Abverse beider Langverse, also die jeweiligen Aussagen über den Menschen und über Gott, syntaktisch parallel strukturiert. Die Ähnlichkeit des Satzbaus in den Aussagen über sie, noch dazu innerhalb desselben Verses, evoziert die Vorstellung einer engen Zusammengehörigkeit Gottes und des Menschen. Das Zusammenspiel von inhaltlicher Aussage und Wirkung der Form läßt erst die volle Bedeutung dieser Verse erkennen: Wo eine semantische Analyse leletzte Urteil über seine Gesinnung und über die Gründe seines Schreibens dem allwissenden Gott anheimstellt und aus dieser konstitutiven Unsicherheit heraus sich stets neu der göttlichen Gnade vergewissern muß." 233 nid bedeutet hier "die böse Grundhaltung wie lat. -iniqwitas 'Schlechtigkeit'" (VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 156 mit Berufung auf EBERHARD GOTTLIEB GRAFF, Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der alt-
Die Invooatio
soriptoris
ad Deum
49
diglich die Polarität zwischen sündigem Menschen und allmächtigem Gott ergibt, erweist die Untersuchung des formalen Baus, daß auch hier die die Distanz überbrückende Bezogenheit Gottes und des Menschen wirkt, die Otfrids Gottesbild kennzeichnet. Sie ist die Grundlage des Vertrauens, das Otfrid Gott entgegenbringt und das ihn zu der sehr persönlichen Formulierung der anschließenden Bitte führt, die das bisher Gesagte in ganz allgemeiner Weise zusammenfaßt: 25
Bi thiu hugi Hiar
thu
io,
in mir hügi
gizäwa
druhtin, mit
mines
krefti
wbrtes,
mo firlihe
ginado
fölliaho
thera thäz ginada
thinera thu
thin,
Obwohl die einleitenden Worte Bi thiu
iz
min, gisaefti!
harto
theiz
hältes, 234 thihe
diese Passage als Konse-
quenz der vorhergehenden Reflexion über die Schwierigkeit geistlichen Dichtens kennzeichnen, nehmen diese Bitten doch mehr als nur Otfrids Dichten in den Blick: Gottes Hilfe für sein Schreiben erbitten nur die Verse 27f.; dagegen geht es der ersten Strophe dieses Abschnitts (25f.) - zum erstenmal in diesem Gebet und vorerst nur vorübergehend - umfassender um Gottes Segen für seine ganze Existenz. Beide Bitten werden begründet mit der Geschaffenheit des Menschen, in der der Grund der gegenseitigen Bezogenheit Gottes und des Menschen liegt. Otfrid denkt bei diesen Bitten, wie die Pluralform thinera
gisaefti
(26) zeigt, nicht
nur an sich, sondern an alle Christen, denn wenn Gott sein Werk durch seine Hilfe zum Gelingen führt, ist dies nicht nur ein Gnadenerweis gegenüber dem Dichter, sondern auch gegenüber allen, die aus seinem Werk geistlichen Nutzen ziehen 235 hochdeutschen Sprache, Berlin 1834-46, II 1031f.). 234 Zur Interpunktion nach Vers 28 s.o. 31f., Anm. 175. 235 Zur Doppelfunktion der geistlichen Dichtung der Karolingerzeit als Gotteslob und Dienst am Heil der Gläubigen RATHOFER, Heliand, S. 287-300, besonders S. 287f.: "Diese über den rein ästhetischen Bereich hinausgehende Bedeutung der Form, ihre den M e n s c h e n betreffende religiös-ethische Relevanz, tritt naturgemäß dort noch stärker in den Vordergrund, wo diese Theologie sich nicht - wie im Hymnus - lobend und preisend in gebundener Rede direkt und in erster Linie an Gott wendet, sondern als Lehre von Gott und über Gott, also als Vermittlerin des Glaubenswissens und der Heilsgeheimnisse, sich unmittelbar an die Gläubigen richtet und sich dabei 'propter homines' der dichterischen Form bedient. In beiden Fällen haben wir es mit der charakteristischen Verknüpfung des hymnischen und pastoral-theologischen Grundzuges als den zwei wesentlichsten Elementen der karolingischen Theologie zu tun; nur daß entsprechend der jeweiligen Blickrichtung sich die Prävalenz ändert." - Schon Augustin begründet eine Bitte um Erleuchtung mit dem Nutzen für seine Mitchristen (Conf. I ii,12-14, CCL 27, S. 194): Domine
deus meus, intende
orationi
meae (...)
quoniam non mihi soli
aestuat,
50
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Mit der Begründung dieser Bitten durch die Geschaffenheit
des
Menschen klingt zum erstenmal in der deutschen Dichtung ein Motiv an, das in der lateinischen Literatur seit der christlichen Antike als Element des Werkeingangs Verbreitung fand und in mittelhochdeutscher Zeit in Eingängen geistlicher deutscher Dich236 tungen wiedererscheint . Nicht weniger Tradition hat die Meta-
sed usui uult esse fratemae caritati -. 236 Einen knappen Überblick über die Geschichte des Schöpfungsmotivs als Element des Werkeingangs in christlicher Dichtung bietet JAEGER, Schöpfer, S. 3-5. - Außerhalb des christlichen Bereichs gibt Philo von Alexandrien eine Begründung der Anrufung des Schöpfers zu Beginn eines in diesem Falle naturphilosophischen Werks. Anlaß der Schöpferinvokation ist für ihn die durch die Sünde entwertete Erkenntnisfähigkeit des Menschen, der aus eigener Kraft die Wahrheit nicht erkennen kann: 'Bei der Erörterung jedes unklaren und wichtigen Sachverhalts ist es recht, Gott anzurufen, weil er der gute Schöpfer ist (...) da er die genaueste Kenntnis aller Dinge besitzt (...) Wären wir nun geübt in den Lehren der Einsicht, Besonnenheit und jeder Tüchtigkeit und hätten wir uns gereinigt von den Makeln der Affekte und Laster, so hätte Gott es vielleicht nicht verschmäht, völlig gereinigten, strahlend lauteren Seelen die Kenntnis der himmlischen Dinge durch Träume, Orakel, Zeichen oder Wunder zu vermitteln. Da wir aber das Gepräge der Unvernunft, der Ungerechtigkeit und der übrigen Schlechtigkeiten tief in uns aufnahmen und es fast unauslöschlich an uns tragen, müssen wir zufrieden sein, wenn wir durch Wahrscheinlichkeitsvermutungen aus eigener Kraft irgendein Abbild der Wahrheit ausfindig machen.' (Philo von Alexandrien, über die Unvergänglichkeit der Welt, in: Werke, hg. von COHN - HEINEMANN - ADLER - THEILER, Bd. 7, S. 77f.) Die christliche Schöpferinvokation entsteht in Glaubensbekenntnissen und Gebetsformeln und wird in der frühchristlichen Theologie vor allem in Hexaemeron-Kommentaren ausgeformt (JAEGER, Schöpfer, S. 3). In der Dichtung der christlichen Antike ist der Gedanke an die Schöpfung als Eingangsmotiv verbreitet. Der Prolog des Evangelienwerks des Juvencus beginnt mit einem Überblick über die Schöpfung (1-5), wenn auch nur unter dem Aspekt ihrer Vergänglichkeit; die eigentliche Invokation freilich richtet Juvencus nicht an den Schöpfer, sondern an den Heiligen Geist (25-27). Sedulius leitet das Gebet im Prolog seines "Paschale carmen" ein mit einer ausführlichen Apostrophe des Schöpfergotts (I 60-69), doch ist ihm die Schöpfung vor allem Präfiguration der Wiedererschaffung der dem Verderben anheimgefallenen Menschheit am Kreuz und in der Taufe (I 70-78); im weiteren richtet sich sein Gebet deshalb zwar an Gott als den Beherrscher der Natur, doch weniger an den Schöpfer als an den die Schöpfung vollendenden, die unerlösten figurae der Zeit unter dem Gesetz in der Zeit der Gnade erfüllenden und so die Schöpfung neuschaffenden Gott (I 79-87, besonders I 85-87). Um 500 scheint das Schöpfungsmotiv bereits Element einer christlichen Exordialtopik geworden zu sein; in einem alle Register christlicher Rhetorik ziehenden Viteneingang bei Ennodius jedenfalls findet sich unter mehreren anderen gängigen Eingangsmotiven auch das Lob der Schöpfung Gottes (STRUNK, Kunst und Glaube, S. 41). Noch im 10. Jahrhundert beginnt etwa Flodoard von Reims die Invokation zu seinen "Opuscula metrica" mit einem Anruf des Schöpfergottes:
Lux immensa Deus, mundum fulgore serenans, AEtheraque aeternae collustrans lucis amoeno, Sidereo astriferum pingis qui lurnine ooe tum: Qui mare, qui terras diva ratione coerces, Aera piumigeris exponis, nautibus asquor; Graminibus silvisque virentia rura venustans, Diver si generis formceque animantibus imples: Queis hominis cunctoque orbi prasponis honorem,
Die Invoaatio scriptoris ad Deum phorik, in der Otfrid den Akt der Gnadengewährung beschreibt
51 237
Die Vorstellung, Gott erweise dem Menschen seine Gnade, indem er seiner gedenke, hat zahlreiche Vorbilder im Alten Testament 239 und war auch in der Karolingerzeit bekannt . Nur sehr selten
238
findet sich jedoch die in Otfrids Versen vorgenommene Verbindung des Gnadenerweises durch Erinnern mit dem Hinweis auf die Ge240 schaffenheit des Menschen . In der christlichen Literatur, für die die Geschichte des Erinnerungsmotivs bei weitem noch nicht 241 hinreichend untersucht ist , scheinen Reflexionen über einen Zusammenhang des gnadenvollen Erinnerns Gottes mit der menschlichen Geschaffenheit außer bei einigen Autoren der griechischen 242 243 Patristik erst im 12. Jahrhundert bei Hugo von St. Viktor 244 und Hildegard von Bingen aufzutreten. Ihre Gedanken wirken wie ein Kommentar zu dem in Otfrids Versen nur angedeuteten Be245 gründungsverhältnis von Schöpfung und erinnernder Gnade . Ob Otfrid diese Vorstellungen selbständig verbunden hat oder ob ihr Zusammenhang auf bislang unerforschtem Wege auf ihn überkommen ist, muß offenbleiben. Wie die Metapher des Erinnerns (huggen, 26f.) wirken auch die übrigen Verben, mit denen Otfrid hier den Gnadenerweis Gottes beschreibt (ginadon, 25; haltan, 27; firlihan, 28), eher statisch; sie geben einen Eindruck der unendlichen Größe und Überlegenheit Gottes, den das Eingreifen in das Weltgeschehen keine Mühe kostet. Dies deutet auch die Kennzeichnung des göttlichen Quem signare tui statuisti limine vultus, Inspirans animam ooe testis imagine aomptam Splendoris, superaeque infundens stemmata luais, Secernis sensu reliquis animalibus alto.
2 37 238 239
240
241
242 243 244 245
(Flodoardi canonici Remensis Opuscula Metrica, PL 135, 491A-492B). Zum Schöpfungsmotiv in den lateinischen Legendeneingängen vom 8. bis zum 12. Jahrhundert STRUNK, Kunst und Glaube, S. 93-104. Zur Metaphorik des Erinnerns und Vergessens zwischen Gott und dem Menschen MEIER, Vergessen. Eine umfangreiche Auflistung und Darstellung der Belege bei MEIER, Vergessen, S. 148f. MEIER (Vergessen, S. 153) verweist auf Hrabans Übernahme einer entsprechenden Auslegung aus der "Clavis" des Pseudo-Melito in "De universo" (PL 111, 19A). Unter den wenigen biblischen Belegen, die das Erinnern oder Vergessen mit der Schöpfung in Verbindung bringen (aufgeführt bei MEIER, Vergessen, S. 157, Anm. 84), spricht nur einer (Is 44,21) vom Erinnern Gottes. MEIER (Vergessen, S. 157, Anm. 83) konstatiert, "daß es für Vergessen und Erinnern bei anderen (als den von ihr behandelten) Autoren noch keine vollständigen Untersuchungen gibt". MEIER, Vergessen, S. 157, Anm. 84. Ebd. MEIER, Vergessen, S. 157, 167. So etwa die Gedanken Hildegards von Bingen, die MEIER wie folgt zusammenfaßt: "Als Schöpfung Gottes, sein Ebenbild, als durch das Wort Geschaffener, mit Gottes Hand aus Erde Gebildeter und mit Gottes Geist
52
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Gedankens als machtvoll an (mit krefti, 26). Daneben erwecken die Bilder des die Worte des Menschen haltenden und des den Menschen mit seinen Gedanken umfangenden Gottes die Vorstellung des Geborgenseins in Gott. Beide Vorstellungen bereiten vor auf die Bitte um Schutz vor dem Teufel, die das Anliegen der folgenden Verse bildet: 29 Ouh ther widarwerto
thin
ni quem er innan müat min,
thaz er mir hiar ni derre, Onkust rumo sinu,
ouh wiht mih ni
joh nah ginäda
irfirrit werde hälo sin,
gimerre!
thinu;
thu druhtin rihti wbrt min!
Das Winken des Teufels kann den Dichtprozeß in zweifacher Hinsicht verhängnisvoll beeinflussen. Wenn Otfrid ihn als den widarwerto (29), den Feind und Gegenspieler Gottes, bezeichnet, so deutet dies hin auf die augustinische Sicht der Geschichte 246 als Kampf der aivitas Dei und der oivitas diaboli
. Als Anta-
gonist Gottes ist der Teufel bemüht und grundsätzlich in der Lage, auf den Dichter Einfluß zu gewinnen und das Gelingen der Dichtung zu verhindern, die, über das Gotteslob hinaus, dem Heil der Gläubigen dienen und die oivitas Dei stärken will. Neben der heilsgeschichtlichen Dimension der Anfechtungen des Teufels steht die tropologische: Gäbe er den Einflüsterungen des Bösen nach, so würde das Schreiben des Dichters sündig und eine Gefahr für sein Seelenheil. Aus dieser doppelten Gefährdung erklärt sich die Intensität der Bitten um den Schutz der Dichtung vor dem Teufel. Die Verse 29 bis 32a variieren ohne Bedeutungsdifferenzierung dasselbe Anliegen; fünfmal (29, 30a, 30b, 31, 32a) in nur dreieinhalb Langversen wiederholt sich die Bitte um Beistand gegen die Anfechtungen des Bösen. Von Vers 31 an tritt neben das Stilmittel der häufenden Wiederholung das der Kontrastierung: Innerhalb desselben Langverses wird nun der Wunsch, Gott möge den Teufel vom Dichter fernhalten, verbunden mit der ausdrücklichen Bitte um die Nähe der göttlichen Gnade. Otfrid demonstriert, daß er die Vorspiegelungen des Teufels als Bosheit (b&lo, 32) und Hinterlist (Unkust, 31) durchschaut und zurückweist, und bekennt sich zudem durch die Anrufung des göttlichen Schutzes ausdrücklich zur civitas Dei, wobei seine Flucht vor dem Teufel und sein Streben nach Gottes Schutz durch die nahfern-Metaphorik (31) noch an Intensität gewinnen. Der Abschnitt Belebter erfährt der Mensch Gottes tätiges barmherziges Erinnern" 246 KRAUS, Gottesbürgerschaft, S. 9f. und passim.
(S. 167)
Die Invoaatio
soriptoris
ad Deum
53
gipfelt in der nochmaligen Bitte um die göttliche Inspiration (32b), hier gefaßt in das Bild der Lenkung der Worte des Dichters durch Gott, das den Verfasser erneut völlig hinter der inspirierenden Kraft Gottes zurücktreten läßt, um dem Teufel, der allein auf den menschlichen, nicht auf den göttlichen Anteil am 247 Werk einwirken kann , jede Möglichkeit der Beeinflussung zu entziehen. Dies ist der Grund, warum die Inspirationsbitte gerade im Zusammenhang mit dem Gedanken an den Teufel wiederholt wird Die Bitte um Schutz vor dem Teufel bildet den Höhepunkt der Beschäftigung Otfrids mit den Hemmnissen, die ihm bei seinem Vorhaben im Wege stehen und die er mit dem Beistand Gottes zu überwinden hofft. Es folgt ein neuer Gedanke: 33 Al
gizüngilo weltis
35
Mit
thaz thu.
thineru joh
Thaz j6h
thin sie
thes
thih
-
Hutes
giwelti
salida sie
ist
sie
in
gilüngun
io
gihögetin, irkn&tin
thu
drühtin joh
es
alles
dati
aZ
thiu in inti
ein
alles
bist;
wbroltthiotes. spriahenti,
wort
in
ewon
iamer
thionost
iro
thinaz
züngun; löbotin, dätin.
Obwohl der Schlußvers des vorigen Sinnabschnitts mit dem ersten Vers dieser Passage durch die Anapher ihrer Abverse - sowohl Vers 32b als auch Vers 33b beginnen mit den Worten thu drühtin verbunden ist, besteht kein deutlicher inhaltlicher Zusammen249 hang . Der Ubergang scheint sich assoziativ zu vollziehen: Die 247 Die letztliche Machtlosigkeit des Teufels gegen Gott ist der Kern von Otfrids Auslegung der Versuchung Christi:
II
5,5 Adaman then älton bisueih er mit then worton, ther jüngo joh ther guato gi^h inan gimitato. 11 Fiang er tho, so er then giw&n, mit thiu zi themo ändremo man; er bifänd, theiz was niwiht, ni zäweta imo es niawiht. Er wolta in themo ana wänk duan so samaliahan skränk; genan so bifält er, hiar wärd er filu saänter. 23 In selben worton er then man tho then eriston giwän, so ward er hiar (thes was not!) fon thesemo firdarrmot 248 Ähnlich ERNST. Liber Evangeliorum, S. 58. 249 ERNST ( L i b e r Evangeliorum, S. 180) sieht zwischen den Versen 32 und 33 "formal die Spiegelachse der gesamten Invocatio scriptoris ad Deum", da jenseits und diesseits dieser Achse "das zentrale und leitmotivische Wort 'druhtin' fünfmal (1, 15, 20, 25, 32; / 33, 40, 43, 52, 55) als Vokativ piaziert ist." Doch läßt sich weder formal noch inhaltlich von einer "Spiegelachse" sprechen. Die beiden von ERNST angesetzten Teile sind, von ihrem unterschiedlichen Umfang (32 bzw. 26 Verse) ganz abgesehen, ohne formale Entsprechungen, die über die gleiche Anzahl der druhtin-Belege hinausgingen. Inhaltlich weisen die beiden Teile ebenfalls keine Analogien auf, die in irgendeiner Weise als spiegelsymmetrisch bezeichnet werden könnten. Ein deutlicherer inhaltlicher Ein-
54
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Anrufung des Bezwingers des Teufels legt den Gedanken an Gottes Allmacht nahe. Sie manifestiert sich in der Erschaffung und Beherrschung aller Völker. Doch ist die göttliche Allmacht nicht der eigentliche Hauptgedanke dieser Verse, sondern nur das Zwischenglied, über das Otfrid vom Sieg über den Teufel zur zentralen Idee dieses Abschnitts gelangt, der Zurückführung aller Sprachen der Welt auf Gott: Gott hat die Sprachen geschaffen (33, 35), damit die Menschen ihn erkennen (38) und, indem sie im Lobpreis seiner gedenken (37) , seinen Dienst tun (38). Dies ist bei einigen Völkern bereits geschehen (36) und ihnen heilbringend (sälida, 36) gewesen. Wenn aber Gott alle Sprachen zu dem Zweck erschaffen hat, daß in ihnen sein Lob gesungen und sein Wort verbreitet werde, und wenn solches Dichten Heil bringt, dann ist damit auch Otfrids Vorhaben legitimiert. Otfrid nimmt hier ein Argument, das er schon in Kapitel I 1 verwendet hatte, in verwandelter Form wieder auf. Hatte dort das Vorbild anderer Völker dazu gedient, geistliches Dichten in fränkischer Sprache auf einer säkularen Argumentationsebene dadurch zu rechtfertigen, daß die Franken an Größe den anderen Völkern ebenbürtig 250 seien , so wendet Otfrid nun, wo es um die Apologie seines Tuns nicht vor den Menschen, sondern vor Gott geht, das Argument ins Geistliche, indem er das Reden über Gott zum gottgesetzten Zweck aller Sprachen erklärt. Als weiteres Legitimationsargument klingt die pragmatische Dimension seines Schreibens an, denn geistliches Dichten erscheint nicht nur als Gotteslob, sondern, da es zur geistlichen Erkenntnis führt (38a), auch als Belehrung. Wie zuvor
(11 Thaz ih ouh hiar gisaribe
li.be·, 26 hügi in mir mit krefti
uns zi rkhtemo
thera thinera
giscefti!)
wird
dieser Gedanke auch jetzt nur angedeutet; im Vordergrund steht hier wie dort die Intention des Gotteslobs. Mit der Legitimation seines Dichtens durch das geistliche Sprechen der gesamten Menschheit beschließt Otfrid den Teil seines Gebets, der sich mit seinem Werk befaßt. Die restlichen zwanzig Verse, also ein gutes Drittel der Invokation, bitten, allgemeiner, um die Gnade eines gottgefälligen Lebens in der Welt, durch das Gott den Dichter zum ewigen Leben führen möge. Insofern sein Dichten wesentlicher Bestandteil eines geistlich verdienstvollen Lebens ist, ist es implizit zwar auch Gegenstand schnitt liegt zwischen den Versen 38 und 39. Das überdurchschnittlich häufige Vorkommen der Anrede des druhtin im zweiten von ERNST angenommenen Abschnitt erklärt sich durch die im Vergleich zum größeren Teil des Eingangsgebets gesteigerte Emphase der Bitten von Vers 39 an. 250 I 1,31-34.58-112.
55
Die Invooatio scriptoris ad Devon
dieser Bitten, doch nun nur noch als ein Gegenstand unter anderen: 39 Sar thuzar
theru menigi
so laz mih, drühtin
saeithist
min,
mit dvuton
Joh theih thir hiar nu ziaro (ouh in äl gizungi,
thinen:
in thineru
bi thineru
Thu hilfis io mit krefti
Thaz ih ouh nu gisido
thaz,
Joh mir io hiar zi libe
min,
ist,
löbo thih,
thu io gin&diger
thaz mir queme alles
joh zi drüton
thinen
bist.
güates
füagi;
mit themo dröste megi
ih iamer frawo
fon ewon unz in ewon
gisoefti;
wiht alles io ni wolle-,
mit themo güate ih frawo thär Fon järe zi j&re
minen,
ginadu.
thaz mir es io mer si thiu baz,
thaz thin willo
drühtin
Hohe,
wiht alles io ni klibe,
Thih btttu ih mines müates, 55 Thaz ih iamer,
thiono
thaz ih thanne iamer
thinaz fülle,
in ewon ginuagi,
sin!
gisihti
theru thinera
dua hüldi thino ubar mih,
ni si, drühtin,
iamer
thaz nist bi werkon
suntar rehto in waru
theih thionost
thinen iamer
in mina zungun
thir, drühtin,
joh iamer frewe in rihti
50
githtgini:
in thtu thaz ih iz künni),
Thaz ih in himilriehe 45 Mit &ngilon
thin
sin,
mina d&ga inti ellu
jar,
th&re,
mit then säligen
selon!
Da die in diesen Versen formulierten Gedanken immer wieder ausgesprochen wurden und Allgemeingut waren, wäre es wenig
sinnvoll,
Einflüsse einzelner Autoren und Werke in diesem Abschnitt nach251 weisen zu wollen
. Dagegen kommt es darauf an, Otfrids indi-
viduelle Eigenart auch in der Übernahme traditionellen Gedankenguts sichtbar zu machen. Sie liegt in den Schlußversen der Invooatio
sariptoris
ad Deum vor allem in der stilistischen Ge-
staltung, die den letzten Teil des Gebets von seinem Mittelteil 252 deutlich absetzt und ihm gesteigerte Intensität verleiht Dagegen bleiben die inhaltlichen Aussagen dieser Passage wenig originell. Der Hauptgedanke des Schlußteils des Eingangsgebets besteht in dem Glaubenssatz, daß die ewige Seligkeit durch ein gottgefälliges Leben in der Zeit verdient werden muß, was nicht geschehen kann, ohne daß Gott dem Menschen die Gnade schenkt, 251 So auch VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 160. Sie wendet sich vor allem gegen die Versuche SCHÖNBACHs (Otfridstudien II, S. 338) und MAROLDS (Otfrids Bezüge, S. 390), die die Benediktinerregel und Sedulius als Parallelen heranziehen. 252 Zu knapp bleibt die Skizze der stilistischen Eigenart dieser Verse bei
56
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
die Prüfungen des Erdenlebens zu bestehen. Das Leben in der Welt erscheint ganz sub specie aeternitatis; es ist der Ort der Bewährung durch die Befolgung des göttlichen Gebots, durch gläubiges Sprechen über Gott in Dichtung und Liturgie und schließlich durch einen das gesamte Leben umfassenden Gottesdienst. Anders als in dem ebenfalls himmlisches und irdisches Leben gegenüberstellenden Kapitel V 23 ist die Welt im Schlußteil des Eingangsgebets nicht primär ein Ort der Unzulänglichkeiten und Mühen, sondern durchaus positiv gesehen als Durchgangsstation auf dem Weg zum ewigen Heil, dessen Gefahren zu meistern Gottes Gnade dem Menschen hilft. Das irdische Leben ist die notwendige Vorstufe der ewigen Freude, nur durch die vita aativa in der Welt führt der Weg zur himmlischen vita contemplativa, ein Ge253 danke, der auf Augustin zurückgeht . Entsprechend wird das ewige Leben ausschließlich beschrieben als Ort der seligen Ruhe? alle dafür herangezogenen Bilder sind statisch und zeigen die Erlösten in der Haltung ruhiger Freude: Otfrid spricht von der Seligkeit als Gemeinschaft mit den druton Gottes (40, 54), mit den erlösten Seelen (58) oder mit den Engeln (45); der gerettete Mensch genießt dort das Gute schlechthin (53, 56); seine Freude ist das Stehen vor Gottes Antlitz (44) , den die Erlösung des Menschen auch erfreut (43): auf das tätige, von den Nachstellungen des Teufels beunruhigte und deshalb der göttlichen Gnade bedürftige irdische Leben folgt als Lohn die Ruhe der Erlösten im Angesicht Gottes. Das Eingangsgebet als ganzes vollzieht diesen Weg des Christen in seinem Gedankengang nach, indem es von der Beschäftigung mit dem, wodurch Otfrid sich in der Welt geistige Verdienste erwerben will, und den dabei begegnenden Hindernissen fortschreitet zur Beschreibung des Lohns, den er dafür erhofft, des ewigen Lebens. Unter diesem Hauptgedanken stehen die zwei Gebetsanliegen im Schlußteil der Invocatio, die Gnade einer Gott wohlgefälligen Existenz in der Welt und die ewige Seligkeit. Es ist kaum zu trennen zwischen Sinnabschnitten, die sich mit dem Leben in der Welt, und Passagen, die sich mit der Ewigkeit befassen; beide Anliegen wechseln ständig ab. Im Aufbau des Schlußteils zeigt sich kein Bemühen, eine logische Reihenfolge - zunächst Bitten für die irdische Existenz, danach, als Konsequenz, um die ewige Freude - einzuhalten, sondern der Gedankengang springt ständig im ganzen viermal in zwanzig Versen - zwischen dem ewigen Heil und dem Leben in der Welt hin und her. Otfrid beginnt den SchlußVOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 160f. 253 KRAUS, Gottesbürgerschaft, S. 81 f.
Die
Invocatio
scriptoris
ad Deum
57
teil in Vers 39 sogleich mit dem Gedanken an das Jüngste Ge254 rieht, bei dem Gott ihn zu seinen dvuton (40) rechnen möge. An diese Bitte wird durch die Wendung Joh theih (41) der nächste Satz angeschlossen und damit eine enge Verbindung dieser Sätze vorgetäuscht, die weder syntaktisch - der thaz-Satz in Vers 41 hängt nicht von dem Hauptsatz in Vers 40 ab - noch inhaltlich besteht: denn nun geht es nicht mehr um das ewige Heil, sondern um ein gottgefälliges Leben in der Welt und besonders um die Verdienstlichkeit geistlichen Dichtens. Wenn Otfrid verspricht, Gott in seiner Muttersprache und darüber hinaus in allen ihm bekannten Sprachen zu dienen, so spielt er an auf den Gottesdienst im Dichten (in mtna zungun, 41b) und in der Liturgie, denn die anderen Otfrid bekannten Sprachen (äl gizungi, in thiu thaz ih iz kunni, 42) dürften das Lateinische und das Griechische 255 sein . Nach dieser Strophe über christliches Leben in der Welt geht Vers 4 3 sofort wieder über zur Bitte um die ewige Seligkeit, die dem Menschen als Lohn eines Gottes Gebot befolgenden Lebens in der Welt versprochen ist. Eine solche Akzentuierung der ewigen Seligkeit macht die Verwahrung gegen eine Fehlinterpretation notwendig, die die Verse 45b und 46 einnimmt; Otfrid erklärt, daß er nicht einer Werkgerechtigkeit das Wort redet, sondern daß den Bemühungen des Gläubigen um ein christliches Leben, die gleichwohl ihren Sinn besitzen, Gottes Gnade entgegenkommen muß. Dies gibt Otfrid Anlaß, dieselbe Gnade für sein Leben zu erbitten: Da Gott seinen Geschöpfen beisteht (47), kann auch er auf Gottes Hilfe in seiner irdischen Existenz vertrauen, die so zu einem ständigen Gottesdienst werden (50) und nur dem Willen Gottes folgen soll (52). Nachdem Otfrid damit von der Bitte um das ewige Leben (zuletzt in Vers 45a) wieder zu dem Gebetsanliegen der Hilfe in seiner irdischen Existenz gelangt ist, erheben sich die abschließenden Verse nochmals zur Evozierung der himmlischen Freude, die der Dichter in sich ständig steigernder Intensität und im an liturgische Formeln erinnernden Schluß geradezu feierlich für sich erfleht. Stilistisch unterscheidet sich der Schlußteil spürbar von den vorhergegangenen Abschnitten. War der Satzbau bisher trotz ge-
254 Für das althochdeutsche drut gibt es keine adäquate neuhochdeutsche Entsprechung, die die Nähe zu Gott, die der Begriff bei Otfrid impliziert und die zum wesentlichen Teil auf der Alliteration mit druhtin beruht, wiedergeben könnte. 255 Die Erwähnung verschiedener Sprachen verweist zurück auf die Überlegungen zu den Sprachen der Völker in den Versen 33-38 und bindet den Schlußteil des Gebets motivisch an das Vorhergehende an. Ähnlich klingt in Vers 47 thinera giscefti aus Vers 26 nach.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
legentlich recht langer Satzgefüge insgesamt klar und übersichtlich, so wird er nun undurchsichtig und verwickelt. Der bereits erwähnte nur vorgetäuschte syntaktische und inhaltliche Anschluß in Vers 41 ist hierfür typisch. Selbst wenn sich meist bei genauem Hinsehen die syntaktischen Bezüge ermitteln lassen, so ist die Struktur der Satzgefüge mit ihren zahlreichen thaz-Sätzen doch so kompliziert, daß der syntaktische Zusammenhang beim einmaligen Lesen kaum und beim einmaligen Hören wohl gar nicht zu erkennen ist. Dies gilt ganz besonders für die Verse 47 bis 52, in denen die rapide Abfolge von vier tTzas-Sätzen in zweieinhalb Versen (48b-50) den kurzen Hauptsatz (48a), aus dem sie hervorgehen, vergessen läßt; erreicht der Leser oder Hörer dann den mit Joh eingeleiteten Nebensatz in Vers 51, der immer noch zum selben Satzgefüge gehört, so ist ihm der weit zurückliegende kurze Hauptsatz längst nicht mehr gegenwärtig. Eine solche Häufung von thaz- und anderen Nebensätzen bewirkt mit dem Verlust eines erkennbaren Satzbogens den des inhaltlichen Zusammenhangs; die Bitten in den einzelnen Nebensätzen erscheinen voneinander isoliert, und für den Leser und noch mehr für den Hörer entsteht der Eindruck einer schnellen Abfolge von Unverbundenem. Solches Sprechen ist das höchsten emotionalen Engagements; es erweckt die Vorstellung von Impulsivität und Spontaneität. Otfrid demonstriert durch sein scheinbar impulsives und spontanes Sprechen die Aufrichtigkeit seines Gebets, seine tiefe emotionale Ergriffenheit . Zu dem intensiven Eindruck, den die Schlußverse hinterlassen, tragen auch andere Stilmittel bei, etwa die Häufung gleicher Anlaute, die im Vergleich zu den vorhergehenden Abschnitten nun wesentlich verstärkt auftritt, und der steigernde Bau besonders der letzten Verse, in denen Otfrid, um die Ewigkeit der himmlischen Freude wenigstens andeutungsweise erfahrbar zu machen, das Verb frawon mit immer größer werdenden Zeiträumen verbindet: zun ä c h s t m i t mina järe
(57) u n d
däga
inti
schließlich
etlu mit
j&r fon
(56), d a n n m i t ewon
unz
-in ewon
Fon
järe
(58) . E s
zi ist
kaum möglich, die Techniken, durch die Otfrid den letzten zwanzig Versen seines Eingangsgebets den Ton tiefster Ergriffenheit und stärkster innerer Anteilnahme verleiht, erschöpfend zu beschreiben. Die spezifische Form der Syntax, die Zusammenhänge eher auflöst als stiftet , die Häufung der Alliterationen und 256 Während die syntaktischen Zusammenhänge sich tendenziell auflösen, bleiben Strophe und Langvers als formale Bauelemente intakt. Es finden sich nur zwei Enjambements, von denen eines im Stropheninneren liegt (53f.) und nur das andere (44f.) eine Strophengrenze überschreitet. VOLLMANN-
Die Invooatio scriptoris ad Deum
59
der steigernde Bau mancher Passagen gehören ebenso wie die sich an keine logische Abfolge haltende, vorausgreifende und zurückspringende Bewegung der Gedanken zu den Mitteln, durch die der Eindruck intensivster emotionaler Beteiligung hervorgerufen wird. Erst dem genauen Hinsehen eröffnet sich die technische Bewußtheit, mit der Otfrid den Schlußteil des Eingangsgebets durchgebildet hat. Ähnlich wie der Eingang hat auch der Schlußteil seiner Invokation Otfrids besondere Aufmerksamkeit erfahren, während der Mittelteil mit einem eher moderaten Maß an Kunstfertigkeit ausgestaltet wurde. Im Vergleich mit den Eingangsversen zeigen die Schlußverse zwar einen völlig anderen Charakter: Sie besitzen keine ähnlich dichte und beziehungsreiche Bildlichkeit, auch fehlen biblische Anspielungen; die Bedeutungstiefe des Anfangs wird vom Schluß nicht erreicht. Doch ist sie hier auch nicht erstrebt. Der Schlußteil des Eingangsgebets will der festen Hoffnung Otfrids auf das ewige Heil in einer Form Ausdruck geben, die den Ernst seiner Uberzeugung offenbart und das eigentlich Unfaßbare, die Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen Ubersteigende dieser Hoffnung fühlbar macht. Vorbilder solchen Spre2 57 chens fanden sich nur in der lateinischen Literatur . Um so höher ist die Leistung Otfrids zu bewerten, der das ungewohnte Instrument der fränkischen Sprache im Schlußteil seines Eingangsgebets meisterhaft beherrscht. Wie die Interpretation erwies, handelt es sich bei Otfrids Eingangsgebet fast durchgängig um ein Bittgebet. Der Gedankengang folgt im großen dem logischen Zusammenhang der Gebetsanliegen: Auf die Bitte um die Gnade der Befähigung zum christlichen Dichten im allgemeinen folgt ihre Auffächerung in die einzelnen Aspekte des Dichtprozesses; an diese schließen sich die Bitten um das ewige Leben an, das der Dichter sich durch ein Gelingen seines Werks zu verdienen hofft. Einige darlegende Passagen stehen mit den Bitten meist in engstem Zusammenhang: Die Verse 5-14, der kurze Uberblick über den Inhalt des Werks, bilden als Darlegung dessen, was der Dichter unter dem Einfluß der göttlichen Gnade vollbringen will, eine Begründung der Inspirationsbitte, mit der sie auch syntaktisch zusammengehören, und PROFEs kurzer Beschreibung des Stils des Schlußteils ist daher zu widersprechen, wenn sie feststellt, daß Otfrids Stil hier "über alle Bindungen in strophische Einheiten hinweggeht" (Kommentar, S. 161). 257 Auch hier ist wieder an Augustin zu denken. Die Eingangskapitel der "Confessiones" zeigen - unter den ganz anderen Bedingungen der lateinischen Sprache - eine ähnlich suggestive Evozierung der Unfaßbarkeit und Unermeßlichkeit Gottes, an der wie bei Otfrid syntaktisch-stilistische Mittel wesentlich beteiligt sind (Conf. I i-iv, CCL 27, S. 1-3).
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DAS DICHTERGEBET I N DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Otfrids Beteuerungen der Reinheit seiner Absichten in den Versen 21-24 beziehen sich unmittelbar auf die vorhergehenden und folgenden Bitten um Sündenvergebung und die göttliche Huld, was durch die Konjunktionen Wanta (21) und Bi thiu
(25), die diese
Beteuerungen bzw. die an sie anschließenden Bitten einleiten, wirkungsvoll unterstrichen wird. Die einzige darlegende Passage, die auf die umgebenden Bitten nur locker bezogen ist, bilden die Verse über Gott als den Herrn aller Völker und Sprachen (33-38). Sie dienen der Legitimation des Unternehmens vor Gott, zugleich sind sie ein Lobpreis des Schöpfers. Doch bleibt das Gotteslob in Otfrids Invokation vereinzelt; vorherrschend ist bei weitem der Charakter eines Bittgebets. Die sprachliche Form der Invoaatio
soriptoris
ad Deum ist fast
ausschließlich die des Du-Gebets. Nur in der Bitte um Schutz vor dem Teufel formuliert Otfrid sein Anliegen in der optativischen Er-Form (29-32), um schon vor Abschluß dieses Sinnabschnitts wieder zur direkten Anrufung Gottes überzugehen, die durch die doppelte Anrede mit Personalpronomen und Namen (thu druhtin,
32b)
sogar besonders eindringlich wirkt und so in scharfem Kontrast zu der distanzierteren, weniger Vertrauen als Ehrfurcht suggerierenden optativischen Formulierung der Bitte steht, die unmittelbar vorausgeht. Im ganzen treten Formulierungen in der optativischen Er-Form völlig zurück hinter der Uberzahl der Fälle, in denen Gott mit seinem Namen oder als thu angesprochen wird: Allein zehnmal redet Otfrid Gott als druhtin an 258 ; hinzu kommen 259 neun Anrufungen als thu sowie weitere 31 Belege für thin, thiv u n d thih 260 ; v i e r m a l e r s c h e i n t d i e d o p p e l t e A n r e d e thu, 261 druhtin bzw. thir, drühtin . Wenn Otfrid in 58 Versen nicht weniger als sechsundvierzigmal Gott anredet und dabei in der großen Mehrzahl der Fälle das Nähe und Vertrautheit voraussetzende thu (in seinen verschiedenen Kasus) gebraucht, so ist dies Ausdruck des Vertrauens, das Otfrids Haltung zu Gott kennzeichnet. Reichten allein diese überaus zahlreichen vertrauten und vertrauensvollen Hinwendungen des Beters zu Gott aus, Otfrids Eingangsgebet einen sehr persönlichen und inständigen Ton zu verleihen, so wird dieser noch dadurch intensiviert, daß sich vielfach innerhalb desselben Verses, also auf engstem Raum nebeneinander, sowohl das Gott als auch das den Menschen vertretende Pronomen finden: zweiundzwanzigmal werden Gott und Mensch 258 B e l e g e b e i ERNST, Liber Evangeliorum, S. 180; s . o . S. 5 3 , Anm. 2 4 9 . 259 23, 2 5 , 2 7 , 260 1, 2 , 3 , 4 , 41, 43, 44, 261 25, 32, 33;
32, 33, 34, 39, 47, 52. 5, 6 , 17, 21, 24, 26, 28, 29, 31, 35, 4 5 , 4 6 , 4 7 , 48 ( 2 ) , 50, 52, 53, 54. 43.
37,
38
(2),
39,
40,
Die Invocatio
soriptoris
ad Deum
61
auf diese Weise aufeinander bezogen^^, d a V on neunmal im Reim26·^, womit zwischen den sprachlichen Repräsentanten Gottes und des Dichters der engste Bezug hergestellt ist, der in einer Reim264 dichtung möglich ist . Durch die ständig wiederkehrende, weitgehend von den Personalpronomina getragene und durch ihre Anordnung im Vers hergestellte Beziehung Gottes und des Dichters aufeinander erhält Otfrids Eingangsgebet eine persönliche Färbung, die es von vielen seiner Vorgänger abhebt und auch in der Folgezeit nur in Einzelfällen erreicht wird. Die Invoaatio
scriptoris
ad Deum erweist sich damit als aus-
geprägtes Beispiel eines persönlichen Gebeti des Dichters, der ganz aus der durch seine Aufgabe definierten Situation heraus betet, ohne in irgendeiner Weise stellvertretend für andere mitzusprechen. Er erbittet den Beistand Gottes nur für sich; selbst im Schlußteil über das ewige Leben, zu dem alle Menschen der göttlichen Gnade bedürfen, weitet sich Otfrids Anliegen nicht zum Gebet für seine Mitbrüder oder für Anreger und Förderer des Werks. Nur selten eröffnet sich der Blick auf die gesamte Christenheit, vor allem in den Versen 5-14 im Uberblick über das Erlösungswerk Christi, das zum Heil aller Menschen geschah, aber auch an diese einzige Stelle, an der Otfrid sich durch das Pro265 nomen 'wir' in eine Gemeinschaft einordnet , schließen sich keine Gebete für andere an, sondern Bitten für Otfrids Dichten. Die zweifache Nützlichkeit seines Werks auf dem Weg zum Heil - Otfrid schreibt nicht nur um der eigenen geistlichen Verdienste, sondern auch um des Heils seiner Mitchristen (vgl. z.B. uns
zi
r&htemo
libe,
11) willen - spiegelt sich in den Gegen-
ständen der Bitten des Eingangsgebets nicht. Otfrids Invokation bleibt allein dem Gebet des Dichters für sich und sein Werk vorbehalten . Adressat des Gebets ist durchgehend Gottvater. Obwohl die die Menschheit rettende freiwillige Selbstentäußerung Christi zentraler Gegenstand des Werks ist und sie in den Versen 5-14 ausdrücklich hervorgehoben wird, richtet sich keine Bitte an Chri-
262 1, 2, 3, 4, 5, 6, 17, 21, 23, 24, 25, 26, 27, 29, 32, 40, 41, 43, 45, 48, 50, 53. In drei weiteren Versen (15, 20, 55) ist das Personalpronomen für den Dichter nicht mit dem für Gott, sondern mit dem Gottesnamen druhtin verbunden. 263 1, 2, 3, 4, 6, 24, 29, 45, 48. - In einem weiteren Fall reimt min auf
druhtin
(25).
264 Zur Bedeutung des Reims in Otfrids Auffassung s.o. S. 34f., Anm. 184.
265 thes wir birun nu so fro (9); thiu selba heili nu ist worolti gimeini (10); wio firdän er unsih fand (12). in die Gemeinschaft der Völker aller Sprachen (33-38) gliedert Otfrid sich nicht ein; er spricht von ihnen als 'sie' (35, 37, 38).
62
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
stus. Auch die dritte Person der Trinität wird nicht angerufen; nur im Bild der Berührung des Menschen durch den Finger Gottes klingt auf dem Hintergrund patristischer und karolingischer Symbolik die Rolle des Heiligen Geistes als Vermittler der Inspira266 tion an . Das Verhältnis des Dichters zu Gott, wie es sich im Eingangsgebet äußert, ist geprägt durch eine Spannung: Einerseits zeigt Otfrid ein klares Bewußtsein der durch die Sünde bewirkten Trennung des Menschen von Gott; auf der anderen Seite aber steht ein nicht weniger starkes Vertrauen auf die erlösende Gnade. Beide Aspekte stehen im Eingangsgebet nebeneinander, ohne daß einer fühlbar überwöge. Otfrids Dichten ereignet sich in der Spannung von Sündenbewußtsein und Gnadenerwartung. Uber Einzelheiten der Theologie Otfrids ist aufgrund des Eingangsgebets naturgemäß nur dort etwas auszusagen, wo sie die Frage der Möglichkeit geistlichen Dichtens berühren. Hier werden fundamentale Auswirkungen des Sündenfalls sichtbar: Durch die Sünde sind der Wille und das Erkenntnisvermögen des Menschen geschwächt und bedürfen der heilenden Gnade Gottes, ohne die der Mensch der Gefahr der dumpheit, des schuldhaften Nichtverstehens des Gottesworts, ausgesetzt ist. Otfrid steht mit dieser Auffassung auf dem Boden der karolingischen Theologie. Im Sündenfall hat der Teufel auf den Menschen Einfluß gewonnen, so daß er auf die zum Lobe Gottes und zum Heil der Menschen unternommene Dichtung einwirken und ihr Gelingen vereiteln kann, eine Vorstellung, die auf dem augustinischen Antagonismus von aivitas Dei und aivitas diaboli basiert. Doch erscheint das irdische Leben in Otfrids Eingangsgebet primär nicht als Ort des Kampfes der augustinischen aivitates, sondern als eine zur Erlangung des ewigen Heils notwendige Phase der Prüfung und Bewährung. Ein Gelingen seines Werks betrachtet Otfrid deshalb als geistliches Verdienst, das ihn dem ewigen Leben näherbringt, ohne es ihm jedoch sichern zu können, denn aus eigener Kraft kann der sündige Mensch nicht zum Heil finden; er bedarf dazu trotz aller guten Werke der helfenden Gnade Gottes. In engem Zusammenhang mit Otfrids Haltung zu Gott stehen die dem Eingangsgebet impliziten Aussagen zur Dichtungstheorie. Sie betreffen zunächst den Gedanken der göttlichen Inspiration. Ohne sie wäre Otfrids Vorhaben unausführbar, denn der sündige Mensch kann das Wort Gottes nicht angemessen aufnehmen und wiedergeben. Der Inspirationsbitte geht keine Bitte um Sündenvergebung voraus, wohl aber ein Bekenntnis der Sündhaftigkeit, das Otfrid in der 266 ERNST, Libev
Evangeliorum,
S. 52 und Anm. 169.
Die Invooatio scriptoris ad Deum
63
der Bibel entstammenden Metapher des Knechts formuliert. Im Inspirationsvorgang liegt alle Aktivität bei Gott; die Rolle des Dichters ist die des Instruments, durch das Gott spricht, so daß Gott zum eigentlichen Urheber des Werks wird. Ein zweiter im Eingangsgebet aufscheinender Aspekt der Dichtungsauffassung Otfrids betrifft die Legitimation seines Unternehmens. Neben dem Verweis auf das geistliche Dichten anderer Völker (33-38) zieht Otfrid zur Rechtfertigung seines Werks dessen doppelte Intention als Gotteslob und Förderung des Heils der Gläubigen heran. Alle drei Legitimationsaspekte werden im Eingangsgebet nur angedeutet oder kurz angesprochen; zwei von ihnen wurden bereits in vorhergehenden Teilen des Werks mehr oder weniger ausführlich behandelt: der Gedanke der geistlichen Nützlichkeit im Schreiben 267 an Liutbert , die Begründung durch das Vorbild anderer Völker - in etwas verändertem Argumentationszusammenhang - im dem Evangelienwerk vorgeschalteten Kapitel I 1, Cur sariptor huna librum 268 theot-isce diataverit . Schließlich gibt Otfrids Eingangsgebet Aufschluß über die einer geistlichen Dichtung angemessene Motivation des Dichters: Der Dichter hat hinter seinem Verkündigungsauftrag völlig zurückzutreten; nicht persönliche Ruhmsucht und Eitelkeit dürfen ihn bestimmen, sondern allein die geistlichen Intentionen des Gotteslobs und der Förderung des Heils der Gläubigen. Unternähme er dagegen eine Evangeliendichtung in der Absicht, sich Ruhm zu erwerben, so fiele er in die Fehlhaltung der superbia; sein Dichten wäre Sünde. Obwohl die impliziten Aussagen Otfrids zu seiner Dichtungsauffassung und seiner theologischen Position den Kern des Werks berühren, unterstreicht er ihre Bedeutung nur teilweise durch eine gesteigerte Sprache. Zwar beruht die Prägnanz und Intensität der Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott in den Eingangsversen wesentlich auf ihrer sprachlichen Durchgestaltung, doch verwendet Otfrid ein so wichtiges rhetorisches Mittel wie die Bildersprache nur recht sparsam. Nur die Bedeutungsfelder der göttlichen Inspiration und des ewigen Lebens weisen eine ausgebildetere Metaphorik auf. Die Inspiration erscheint in einem alttestamentlichen Bild als Berührung des Mundes des 269 Dichters durch den Finger Gottes (3f.) oder, abstrakter, als Halten und Lenken der Worte des Dichters durch Gott (27, 32). Unter den Begriffen, die das ewige Leben beschreiben, erhält 267 Ad Liutb. 5-13. 268 S.o. S. 54. 269 Hier wie auch in der Schlußformel fon ewon unz in ewon gischer Einfluß vor.
(58) liegt litur-
64
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
durch sein dreimaliges Auftreten innerhalb weniger Verse besonders frawon (44, 56, 57) Gewicht. Die Freude der Erlösten liegt in der Gemeinschaft mit den Heiligen und Engeln (40, 54; 45) am Ort allen Gutes (53, 56) im Angesicht Gottes (44), dessen Lob die Seligen ohne Ende singen (48); die unendliche Dauer der himmlischen Freude wird evoziert durch die steigernde Kombination von frawon mit immer länger werdenden Zeiträumen (56-58) und durch die mehrfache Wiederholung des Zeitadverbs iamer (40, 43, 44, 48, 55, 57). Dagegen ist die Bildersprache aller anderen Bedeutungsfelder weniger ausgeprägt. Die biblischen Metaphern des Gottesknechts und des Sohns einer Magd Gottes (1f.) sind die einzigen Bilder für das Verhältnis des Menschen zu Gott. Sie beschreiben jedoch Otfrids Sicht der Gott-Mensch-Beziehung präzise und gewinnen durch ihre Stellung in der ersten Strophe des Gebets und durch die Verteilung der Aussage auf den Vers eine Intensität, die weiterwirkt und auch dann noch nachklingt, wenn der Dichter im weiteren Verlauf des Gebets nur noch unmetaphorisch von sich spricht. Auch über Gott wird, abgesehen von der eine entsprechende Position Gottes implizierenden Knechtsmetapher für den Dichter, nur unbildlich gesprochen. Er wird durchgehend angerufen als druhtin, also mit einem im Althochdeutschen üblichen Gottesnamen. Ähnlich sachlich bleiben die Bezeichnungen für Otfrids Beten (zellen, 21, 23; bitten, 53), die Sündenvergebung (thia sunta, druhtin, mino
ginädliaho
dilo, 20) und die gött-
liche Gnade allgemein: Neben den Abstrakta hüldi (48) und ginada (28, 31, 46; dazu ginädtiaho, 20; ginadon, 25; ginädig, 52), zwischen denen keine Bedeutungsdifferenzierung zu erkennen ist, steht als einzige Metapher das Gedenken Gottes als Begnadung des Menschen (26f.). Entsprechendes gilt für die Bezeichnungen für das Dichten: Otfrid spricht von redinon (7) und scriban bzw. gisoriban (17; 11). Metaphorisch ist allein die Vorstellung, daß Gott im Dichtprozeß den Dichter wie ein Instrument zum Tönen bringt, doch ist dieses Bild nur angedeutet (5). Wenn Otfrid sein Dichten als Gottesdienst bezeichnet (41), so ist dies nicht Metapher, sondern unbildliche Beschreibung der ihn lenkenden, dem Gegenstand allein angemessenen Intention. Verzichtet Otfrid also weitgehend auf eine bedeutungsintensivierende Bildersprache, so dienen ihm zwei andere Stilmittel, die Häufung gleicher Anlaute und der Reim (soweit sich mit ihm weitergehende Absichten verbinden als die obligatorische Befolgung eines Formgesetzes von Otfrids Werk) zur emphatischen Stei270 gerung bestimmter Passagen. Die Häufung gleicher Anlaute findet sich an zahlreichen Stellen des Eingangsgebets, in besonde-
Die Invoaatio scrn.ptoris ad Dewn
65
rer Konzentration jedoch im Schlußteil (39£.)r wo häufig in einem Vers mehrere verschiedene Anlautkorrespondenzen auftreten (z.B. 40 so laz mih, drühtin min, 41 Joh tlieih thir hiar nu ziaro thionost
thinaz fülle
mit druton
thinen iamer sin!·,
in mina zungun
wiht älles io ni wolle).
thiono;
50 theih
Wenn derselbe
Silbenlaut nicht nur in einem Vers, sondern darüber hinaus im nächsten und womöglich auch den folgenden Versen wiede.rkehrt, so entsteht ein Lautgeflecht, das, je nach seiner jeweiligen Dichte, die Verse überlagert und ihnen einen gemeinsamen Klang verleiht, der dann, wenn sich nicht nur eines, sondern mehrere Bänder gleicher Anlaute durch eine Versgruppe ziehen und sich ineinander verschränken, so in den Vordergrund treten kann, daß die verbale Aussage der Verse davon fast verdeckt wird. Ein solcher Fall liegt vor in der Häufung von "th"-Anlauten in den Versen 39-45, zu denen in den Versen 39-41 wiederkehrende Anlaute auf "m" und in den Versen 41 und 42 mehrere "z"-Anlaute treten. Indem sie dahin tendieren, bestehende Sinnzusammenhänge undeutlich werden zu lassen, unterstützen die Anlautkorrespondenzen die spezifische Syntax der Schlußverse des Eingangsgebets, die, wie gezeigt wurde, gleichfalls Sinnbezüge eher auflöst als stiftet. An anderer Stelle und sparsamer eingesetzt, kann die Wiederkehr des gleichen Anlauts auch dem Sinne nach Zusammengehöriges zusammenbinden
(z.B. 5: Thaz ih Ibb thinaz
si lütentaz) .
Häufiger jedoch übernimmt diese Funktion der Endreim, dem Otfrid 271 ausdrücklich sinngliedernde Bedeutung zuspricht . Er ist in besonderem Maße konstitutiv für die Geschlossenheit der Eingangsverse. Unter den zwölf Reimwörtern der ersten sechs Verse erscheinen elfmal die Gott und den Dichter bezeichnenden Personalpronomina min und thin. In den Versen 1f. schließt jeweils der Anvers mit min und der Abvers mit thin, während in den Versen 3f. jeweils der erste Halbvers auf thina(n), der zweite auf mina(n) endet. Die beiden Verse jeder Strophe sind also im Hinblick auf die Anordnung der reimenden Personalpronomina in den Halbversen parallel gebaut; zusammengenommen bilden die zwei Strophen dagegen eine chiastische Struktur. Der Parallelismus zwischen den beiden Versen jeder Strophe hinsichtlich des Reims setzt sich in den Versen 5f. - allerdings gestört durch das Reimwort lütentaz im Abvers von Vers 5 - fort, so daß sich folgende Struktur ergibt: 270 Da die Identität der Silbenanlaute bei Otfrid auch Schwachtonsilben faßt, sollte man nicht von Alliteration sprechen. 271 S.o. S. 34f., Anm. 184.
er-
66
Strophe 1 Strophe 2 Strophe 3
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Vers Vers Vers Vers Vers Vers
1 2 3 4 5 6
1. Halbvers min min thinan thina thinaz thines
2. Halbvers thin thin minan mina lütentaz mines
Durch den Gleichklang ihrer Reimwörter bilden die ersten sechs Verse des Eingangsgebets eine Einheit, deren Geschlossenheit noch dadurch unterstrichen wird, daß ihr letzter Halbvers (6b drühtines
mines)
den Anvers der ersten Zeile
(1a Vota
druhtin
min) nur leicht verändert wieder aufnimmt. Diesem deutlich in sich geschlossenen formalen Abschnitt scheint zunächst keine einheitliche inhaltliche Aussage zu entsprechen, denn er umfaßt die Anrede des Dichters an Gott (1f-) , die Inspirationsbitte (3f.) und den ersten Teil ihrer Begründung, die weit über den durch die min-thi-n-Reime gekennzeichneten Abschnitt hinausreicht. Doch zeigte die Analyse der Eingangsver272 se , daß sie auf einer weniger offensichtlichen Ebene, vor allem mit Hilfe der Metaphorik und der Personalpronomina, über ihre explizite Aussage hinaus auch die gegenseitige Bezogenheit Gottes und des Menschen aufeinander beschreiben. So ist die Zusammenfassung dieser Verse zu einer formalen Einheit durch den Endreim, die zunächst im Widerspruch zur Verschiedenheit ihrer Inhalte zu stehen scheint, doch sinnvoll: Sie unterstreicht das in den Versen gleichsam verdeckt angelegte, erst vom Leser oder Hörer durch die Interpretation der Metaphorik und der Anordnung der Personalpronomina zu aktivierende Bedeutungspotential, indem sie auf eine verborgene Zusammengehörigkeit der scheinbar verschiedenen Zwecken dienenden Verse hinweist und den Leser oder Hörer damit auffordert, die versteckte Bedeutung zu ermitteln. Dieser implizite Appell, sich nicht mit dem vordergründigen Wortsinn zufriedenzugeben, ist der angemessene Auftakt eines Werks, das immer wieder auf den verborgenen geistlichen Sinn des Evangeliums und damit der Dichtung hinweist.
272 S.o. S. 31-37.
Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
67
2. Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg Otfrid stellt sich durch seine Invokation in eine lange Tradition christlicher und darüber hinaus vorchristlich-antiker Dichtung. Eine zusammenhängende und umfassende Darstellung des Gebets am Werkbeginn in Antike und lateinischem Frühmittelalter fehlt noch und kann hier nicht versucht werden, doch sollen die Grundzüge dieses Traditionszusammenhangs kurz dargestellt und illustriert werden. In der griechischen Antike richtet sich die Bitte um dichterische Eingebung meist an die Muse, der etwa bei Homer kaum zu überschätzende Bedeutung für das Zustandekommen des Werks zugeschrieben wird. Wenn auch der Musenanruf selbst der Initiative des Dichters entspringt und der Dichter der Muse von sich aus einige Themenstichworte vorlegt, die den Gegenstand, über den 273 sie ihr Wissen kundtun soll, umreißen , so liegt doch im Dichtprozeß selbst die Aktivität in einem solchen Grade bei der Muse, daß das Epos geradezu als Antwort der angerufenen Gottheit auf die Frage oder Aufforderung des Dichters, also als wörtliche Rede der Muse, verstanden wird, während der Dichter lediglich das Medium ist, durch das sich das Sprechen der Muse dem Men274 sehen mitteilt . Der Musenanruf im Werkeingang vollzieht sich 275 bei Homer in drei Schritten: Nach der einleitenden Anrede an die Muse ('Ilias' 1,1; 'Odyssee' 1,1) umreißt der Autor durch einige Stichworte den Gegenstand des Werks ('Ilias' 1,1-7; 'Odyssee' 1,1-9) und beendet dann den Anruf mit einer Aufforderung ('Odyssee' 1,10) oder Frage ('Ilias' 1,8) an die Muse, die die Antwort der inspirierenden Gottheit, die eigentliche Dichtung, evoziert. Der Eingang der 'Ilias' lautet: 'Göttin, singe mir nun des Peleussohnes Achilleus Unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern Schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß Der Heroen, sie selbst zur Beute machte den Hunden und den Vögeln zum Fraß - Zeus' Ratschluß ging in Erfüllung -, Seit die beiden zuerst sich in Streit und Hader entzweiten, Atreus' Sohn, der Gebieter im Heer, und der edle Achilleus
273 BARMEYER, Musen, S. 97-99; LENZ, Proöm, S. 40. 274 Dies schließt eine gewisse Mitwirkung des Dichters im Dichtprozeß nicht unbedingt aus (KAMBYLIS, Dichterweihe, S. 14). Primär ist jedoch die Aktivität der begehenden Muse. 275 Homer, Ilias, Odyssee.
68
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
276 Welcher der Götter brachte die beiden im Streit aneinander?1 Ganz entsprechend beginnt die 'Odyssee': 'Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der vielfach wurde verschlagen, seit Trojas heilige Burg er zerstörte. Vieler Menschen Siedlungen sah er und lernte ihr Wesen Kennen und litt auf dem Meer viel Schmerzen in seinem Gemüte, Um sein Leben bemüht und die Heimkehr seiner Gefährten. Aber auch so hielt er sie nicht ab, wie sehr er es wünschte; Denn sie gingen durch eigene Freveltaten zugrunde, Toren, die des Hyperionsohnes, des Helios, Rinder Aßen; der aber nahm ihnen weg den Tag ihrer Heimkehr. Davon, Göttin, Tochter des Zeus, berichte auch uns nun.' 2 7 7 Die Bedeutung der Muse im Dichtprozeß ist zweifach: Sie aktiviert zunächst durch ihren Einfluß die potentiell im Dichter angelegte musische Fähigkeit im Akt der Begabung und versetzt ihn damit in den dichterischen Enthusiasmus, der ihm erst poetisches Sprechen gestattet 278 . Darüber hinaus ermöglicht erst die All279
wissenheit der Muse dem Dichter eine die Perspektive des Einzelnen übersteigende, alle Fakten und Einzelheiten zusammenschauende auktoriale Erzählweise. Aus diesem Grunde kann der Musenanruf vor Stellen, die die Kenntnis zahlreicher Details voraussetzen, wiederholt werden, wodurch sich einerseits die psychologische Glaubwürdigkeit des Erzählens erhöht und andererseits das Darzustellende die Aura des Bedeutenden, größten Ernst und höchste Gewissenhaftigkeit Fordernden erhält. So wiederholt Homer den Musenanruf vor dem großen Schiffskatalog im zweiten Gesang der 'Ilias': 'Kündet, Musen, mir nun, die ihr Häuser bewohnt im Olympos Göttinnen seid ihr ja, wißt alles, allgegenwärtig, Unser Wissen ist nichts, wir hören alleine die Kunde -, Welches die Führer der Danaer waren und ihre Gebieter. Freilich, die Menge könnt ich nicht künden und nicht benennen, Selbst wenn mir zehn Zungen und auch zehn Münder mir wären, Unverwüstlich die Stimme und ehern das Herz mir im Innern, Wenn ihr olympischen Musen, des Zeus, des Halters der Ägis, 276 277 278 279
Ilias 1,1-8. Odyssee 1,1-10. BARMEYER, Musen, S. 91. LENZ, Proöm, S. 35.
Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
Töchter, mich nicht daran mahntet, wie viele nach Ilion
69 k a m e n . ' ^ 8 0
Und dann noch einmal im selben Zusammenhang mit der deutlichen Absicht, den Höhepunkt der fast 300 Verse langen Aufzählung hervorzuheben: 'Wer von ihnen der Beste war, das sage mir, Muse, Von ihnen selbst und den Pferden, die folgten den Söhnen des .281 Atreus. Obwohl die Invokation ihrem Sinne nach ihren Ort im Werk- oder Kapiteleingang hat, steht sie in der griechischen Dichtung - besonders, aber nicht ausschließlich, in der Lyrik - nicht immer 282
unmittelbar am Werkbeginn . Sie richtet sich auch nicht ausnahmslos an die Musen, sondern neben den Museninvokationen stehen entsprechende Anrufungen Apolls 2 8 3 , was wegen seiner engen Beziehung zu den Musen in der griechischen Mythologie 284 naheliegt, und Gebete an Zeus
285
, in dessen Kult die Musen ursprüng286
lieh ebenfalls eine Rolle spielten . Auch bleibt der Musenanruf nicht auf Epos und Lyrik beschränkt. Da sich das Wissen der Musen auch auf Philosophie und Musik erstreckt 2 8 7 , können sie ebenso im Lehrgedicht angerufen werden. So erklärt sich die gro288
ße Bedeutung der Musen in der 'Theogonie' Hesiods , wo sie Gegenstand des gesamten 115 Verse umfassenden Eingangs sind. Allerdings bildet in diesem Werk nur der kleinere Schlußteil des Prologs die eigentliche Invokation (104-15), während zwei Hymnen 289 auf die Musen (1-21, 36-103) sowie ein dazwischen eingescho-
280 Ilias 2,484-92. Die Rolle von Muse und Dichter an dieser Stelle erörtert ACCAME, L'invoeazione, S. 266, 268. 281 Ilias 2,761f. - Weitere Musenanrufungen in der 'Ilias': 11,218-20; 14,508-10; 16,112f. Anders als die Invokationen zum Gesamtwerk und zum Schiffskatalog bleiben diese Anrufungen sehr knapp und zeigen einen sehr schematischen Bau. Sie alle beginnen mit einer festen Einleitungsformel ('Saget mir nun, ihr Musen, die Häuser ihr habt im Olympos 1 , 11,218; 'Sagt mir, ihr Musen, nun, die ihr wohnt in olympischen Häusern', 14,508; 'Kündet mir nun, ihr Musen, Bewohner olympischer Häuser', 16,112), der eine knappe, höchstens zwei Verse umfassende, sich jeweils auf eine konkrete Einzelheit richtende Frage folgt. 282 BARMEYER, Musen, S. 97, Anm. 8. 283 KLEINER, Inspiration, S. 50. 284 OTTO, Musen, S. 54. 285 CURTIUS, Europäische Literatur, S. 240. 286 CURTIUS, Europäische Literatur, S. 236. 287 Ebd. 288 Hesiod, Sämtliche Werke, deutsch von VON SCHEFFER. - Ausführliches zum Eingang der 'Theogonie' bei KAMBYLIS, Dichterweihe, S. 31-68, der die eigentliche Anrufung allerdings nur kurz behandelt (S. 35). 289 Ähnlich gliedert LENZ, Proöm, S. 128.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
bener Bericht von der Berufung des Dichters durch die Musen (22-35), der Erwählung des Schafhirten am Helikon, vorausgehen. Die Verleihung der dichterischen Kraft ist an die zweifache Aufgabe gebunden, sowohl 'zu künden von Künftigem und von Gewesnem (...) zu preisen die Sippe der ewigen, seligen Götter' 290 als auch vor allem die Musen selbst 'immer zuerst und zuletzt zu be291 singen' . Beides, preisende Darstellung der Geschichte der Götter und Lob der Musen, ist Gegenstand der 'Theogonie'. Während der Hauptteil des Werks die erste Aufgabe erfüllt, übernehmen den Auftrag des Musenlobs die beiden Hymnen im Eingang, die die Musen vor allem preisen als die Gottheiten, die ihrerseits das Lob der Götter singen (11-21, 36-51, 65-67). Daher steht jedes irdische Dichten, insbesondere der Lobpreis der Götter, unter ihrem Schutz, weshalb sie von jedem Dichter um Eingebung angerufen werden dürfen, mit ganz besonderem Recht aber vom Verfasser einer Theogonie, der die Geschichte der Götter zum Gegenstand seiner Dichtung macht und damit vor den Menschen vollbringt, was die Musen vor den Göttern tun: Sein Dichten ist die Übertragung des himmlischen Götterlobs in eine den Menschen faßbare Gestalt. Deshalb formuliert Hesiod sein Gebet um den Beistand der Musen als Bitte, ihre Preislieder vernehmen zu dürfen: 'Heil euch, Töchter des Zeus, beglückt mich mit lieblichen Liedern, Preiset die heilige Sippe der ewigen, seligen Götter, Die der Erde entsproßten und auch dem sternigen Himmel und der finsteren Nacht und die Kinder der salzigen Fluten. Kündet mir, wie zuerst die Götter und Erde entstanden, Ströme dazu, das endlose Meer und die brausende Brandung, Leuchtende Sterne und droben des Himmels unendliche Weite, Welche Götter daraus entstanden, die Spender des Guten, Wie sie die Macht verteilten und Ämter und Ehren erlosten Und auch wie sie zuerst die olympischen Schluchten bewohnten, Dies verkündet mir, Musen, Bewohner der himmlischen Häuser, 292 Alles von Anbeginn und was als erstes entstanden.'
290 Theogonie 32 f. 291 Theogonie 34. 292 Theogonie 104-15. - Wesentlich kürzer ist die Museninvokation zu Hesiods 'Werke und Tage'. Sie umfaßt nur die ersten beiden Verse des Eingangs; die restlichen acht Verse des Prologs nimmt ein Hymnus auf Zeus ein. Wie in der 'Theogonie' vollzieht sich auch hier der Inspirationsakt im Vernehmen der Preislieder der Musen, wie deren Anrufung zeigt: Ό pierische Musen, die Ruhm durch Lieder verleihen, Nahet nun, Zeus, euren Vater, mit Festgesängen zu preisen -'
Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
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Nicht in allen Gattungen kann das Eingangsgebet vom Dichter gesprochen werden. Auch die griechische Tragödie beginnt häufig 293
mit einem Gebet , das aber, da es keine Bitte des Dichters darstellt, naturgemäß nicht die dichterische Begabung zum Anliegen haben kann. Die Funktion solcher Gebetseingänge liegt vor allem darin, eine würdevolle Atmosphäre zu schaffen und im Publikum die entsprechende Rezeptionshaltung hervorzurufen; daneben leisten sie, da sie aus der Ausgangslage des Dramas erwachsen, eine Einführung in die Situation zu Beginn der Handlung. 294 Bei Aischylos sind derartige Eingangsgebete nicht selten . Sie können unterschiedlichen Sprechern zugewiesen sein: einer Figur, die keine andere Funktion im Drama2 9 hat als die, die einleitende 295 6 Anrufung zu sprechen , dem Chor oder auch einer der Hauptfiguren des Dramas, die dann ihren ersten Auftritt mit einem Gebet beginnt 2 9 7 . Dagegen haben nur wenige der Tragödien des Euripides ein Eingangsgebet 2 9 8 . Wenn das einleitende Gebet sich zu verselbständigen beginnt und den Bezug zum Drama zu verlieren droht, läuft es Gefahr, ein bloßes Stilmittel zur Steigerung des 299
Pathos zu werden . In dieser Funktion ist der Götteranruf schon bei Aristophanes Gegenstand der Parodie"^0. Die Invokationen der römischen Dichter nehmen die Entwicklungen, die in den griechischen Dichtergebeten angelegt waren, auf und führen sie fort. So ist etwa die Auffassung vom göttlichen Wahnsinn des Dichters, die letztlich auf 301 Plato zurückgeht, in der römischen Literatur vielfach bezeugt , und entsprechend 293 KLEINKNECHT, Gebetsparodie, S. 9. 294 Gebetseingänge zeigen 'Agamemnon', 'Weihgußträgerinnen', 'Eumeniden' und 'Die Schutzflehenden'. Aischylos, Tragödien und Fragmente, hg. und übersetzt von WERNER, S. 8f., 52f., 83f., 213-17. 295 In des Aischylos 'Agamemnon' spricht die Eingangsverse ein Wächter (1-39), in den 'Eumeniden' eine Seherin (1-63). Aischylos, S. 8f., 83f. 296 So in des Aischylos 'Die Schutzflehenden' (1-39). Aischylos, S. 213. 297 Die 'Weihgußträgerinnen' des Aischylos beginnen mit einem Gebet des Orestes zu Hermes (1-21). Aischylos, S. 52f. 298 In 'Telephos' folgt auf die Apostrophe des Landes der Väter im ersten Vers eine Anrede an Pan (2f.); 'Die Flehenden' beginnen mit einem Gebet der Aithra zu Demeter (etwa 1-4), das in die Darstellung der Ausgangslage des Dramas übergeht. (Euripides, Die Tragödien und Fragmente, bearbeitet und eingeleitet von FRANZ STOESSL, Bd. 1, S. 35; Bd. 2, S. 20). Häufiger sind in den Tragödieneingängen des Euripides Apostrophen, die sich nicht an Götter richten, so in 'Telephos' (1), 'Alkestis' (lf.), 'Andromache' (etwa 1-3), 'Elektra' (1-3) und 'Andromeda' (1-5) (Bd. 1, S. 35, 44, 222; Bd. 2, S. 149, 483.) - Vgl. KLEINKNECHT, Gebetsparodie, S. 93: "Vielfach suchte man in der Tragödie durch Anrufungen und Gebete einen gehobenen Einsatz zu erzielen, vor allem am Prologanfang (...) Bei Euripides ist dies dann besonders beliebt geworden (...)", wozu jedoch festzuhalten wäre, daß bei diesem Gebete als Prologbeginn wesentlich seltener sind als andere Apostrophen. 299 KLEINKNECHT, Gebetsparodie, S. 93. 300 KLEINKNECHT, Gebetsparodie, S. 94.
72
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
finden sich in nicht wenigen Werkeingängen Bitten um Begabung von oben. Doch müssen auch im römischen Bereich Bitten um den göttlichen Beistand nicht immer und nicht ausschließlich im Eingang stehen, sondern sie können - etwa bei Vergil - zur stilistischen Steigerung und zur Hervorhebung der Höhepunkte des Erzählten an anderen Stellen des Werks wieder aufgenommen werden 302 Als begabende Wesen erscheinen häufig die Musen (bzw. ihre römi303
sehen Entsprechungen, die Camenae ); wie im Griechischen können aber auch andere Gottheiten den dichterischen Enthusiasmus 304
spenden
. Wenigstens seit der klassischen Zeit der lateini-
schen Literatur besteht neben solchen traditionellen und vielleicht schon zur bloßen Konvention gewordenen Herleitungen der Dichtkraft aus dem Einfluß einer Gottheit die Tendenz, den göttlichen Ursprung der Dichtung in Frage zu stellen oder zu bestreiten. Ovid bezeichnet in den 'Metamorphosen' ausdrücklich seinen Geist als Quelle seiner Dichtmotivation; Lukan zitiert diese 305
Stelle
. Durch eine derartige Akzentuierung der Vorgange im
Dichtprozeß wird die Bedeutung der außermenschlichen Komponente deutlich geschmälert. Gänzlich bestritten wird der göttliche Einfluß auf den Dichter in den Parodien des Musenanrufs (etwa bei Horaz, Tibull , Properz und Ovid)
und schließlich in ra-
dikalster Form in der ausdrücklichen Zurückweisung der Musen, die als Prologmotiv bereits bei Persius erscheint
und spä-
ter - aus ganz anderen Gründen - in der christlich-lateinischen Dichtung weite Verbreitung erfährt. In der antiken christlichen Literatur gewinnt das Eingangsgebet eine neue, gesteigerte Bedeutung, die auf einem von dem der heidnischen Dichter gänzlich verschiedenen Selbstverständnis der christlichen Autoren beruht. Da die Literatur im Christentum zunächst stets geistliche Inhalte hat, also ausschließlich der Verkündigung der göttlichen Offenbarung und dem Lobpreis Gottes dient, stellt sie den Dichter vor Aufgaben, die die menschlichen Kräfte grundsätzlich übersteigen. Besonders gilt dies für die Bibel- und Legendendichtung, die die in der Heiligen Schrift niedergelegte Offenbarung Gottes und seine Weiter301 302 303 304
CURTIUS, Europäische Literatur, S. 467. CURTIUS, Europäische Literatur, S. 239. Zur Stellung der Camenae in der römischen Mythologie OTTO, Musen, S. 30f. CURTIUS, Europäische Literatur, S. 467. - Reiches Material zur Götterund Musenanrufung in der römischen Antike bieten die älteren Dissertationen von TODD (De musis) und KNICKENBERG (De deorum invocationibus); siehe zu dieser Arbeit aber die Kritik bei TODD, S. 4f. 305 CURTIUS, Europäische Literatur, S. 240. 306 CURTIUS, Europäische Literatur, S. 2 39. 307 CURTIUS, Europäische Literatur, S. 239f.
Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
Offenbarung in den Heiligen zum Gegenstand auf die Schwierigkeit von Otfrids Vorhaben hat hier im frühchristlichen Bereich seine chen Dichter stehen vor einem Problem, das
73
haben. Was im Hinblick festzustellen war, Wurzeln: Die christlizumindest diejenigen
heidnischen Autoren, deren Werke die religiöse Thematik nicht 30Β
berühren, gar nicht kannten . Von Anfang an erkennen die christlichen Dichter die Notwendigkeit eines zweifachen göttli309
chen Beistands : Nur wenn Gott ihm zunächst seine Sünden vergeben und ihn damit in den Stand der Gnade versetzt hat, ist der Dichter würdig, die Erleuchtung durch die göttliche Inspiration zu empfangen, die ihn erst befähigt, die Offenbarung Gottes in der Bibel und im Wirken der Heiligen zu begreifen und in Worte zu fassen. Nicht das Können des Dichters, sondern die von Gott geschenkte Gnade gewährleistet das Gelingen des Werks"^^. Eine so grundsätzliche Unabdingbarkeit des göttlichen Beistands kannte die nichtchristliche Antike nicht. Deshalb wäre es falsch, die Invokationen in den Eingängen christlicher Werke in zu enge Verbindung mit den heidnisch-antiken Eingangsgebeten zu bringen. Mögen auch manche christliche Eingangsgebete sich an heidnischen Vorbildern orientieren, indem sie Elemente aus ihnen aufnehmen, christlich modifizieren oder gänzlich umdeuten, so betrifft diese zweifellos vorhandene Verbindung zur heidnischen Literatur doch eher formale Teilaspekte und bleibt den Gebeten äußerlich, während weit wesentlicher für den Charakter der christlichen Invokation die völlig veränderte religiöse Grundhaltung ist, der 311
sie entspringt . Auch ohne das Vorbild der heidnischen Antike hätte die christliche Dichtung ein Gebet um den Beistand Gottes im Werkeingang entwickelt. Daß die christlichen Dichter zu den vorgefundenen Invokationen Stellung nehmen und sich in bestimmter Weise zu ihnen verhalten, ist natürlich, doch ist dieses 308 Es ist überhaupt fraglich, ob man von einer entsprechend 'religiösen' Dichtung im heidnischen Altertum sprechen kann. Nach STRUNK (Kunst und Glaube, S. 115) geht es dort ausschließlich um "weltimmanente Stoffe", da "auch die Götterwelt (...) nicht wie im Christentum durch einen absoluten Abstand vom Menschen getrennt, sondern in den Kosmos einbezogen" sei. 309 STRUNK, Kunst und Glaube, S. 85. 310 Die Eigenleistung des Dichters kann so weit in den Hintergrund treten, daß er, ähnlich wie bei Otfrid (s.o. S. 39f.), nur als völlig passives Instrument Gottes erscheint: Gregor der Große nennt den inspirierten Dichter (in diesem Falle den unbekannten Verfasser des Buches Hiob) die Schreibfeder Gottes. (KLOPSCH, Anonymität, S. 11.) 311 So auch ERNST, Liber Evangeliorum, S. 49. Für den Aspekt der Demutsformel als Motiv zahlreicher christlicher Eingangsgebete SCHWIETERING, Origins, S. 442f. Dagegen stellt CURTIUS die grundsätzlich von der heidnischen Literatur verschiedene Ausgangslage christlichen Dichtens nicht genügend in Rechnung, wenn er etwa das Eingangsgebet des Juvencus geradlinig aus heidnischen Invokationen hervorgehen sieht (Musen, 138f.; Euro-
74
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Verhältnis im Entscheidenden nicht das einer Nachahmung; eher könnte man im Sinne der seit Origenes im Christentum aufkommenden typologischen Deutungspraxis von einer Uberbietung der heidnisch-antiken Invokationen durch die Gebete der christlichen Dichter sprechen 1 2 . Aufschlußreich für die Haltung der christlichen Autoren zu ihren heidnischen Vorgängern ist der Prolog der Evangeliendich313 tung des Juvencus . Dieser recht kurze, nur 27 Verse umfassende Eingang beginnt mit einem Uberblick über den Kosmos als Schöpfung Gottes, wobei der Akzent nicht auf der sich in der Erschaffung der Welt zeigenden göttlichen Allmacht liegt, sondern auf der Vergänglichkeit alles Geschaffenen, dessen Ende von Anfang an durch Gott vorherbestimmt ist (1-5). Trotzdem gibt es in der Welt die Möglichkeit, zwar nicht unvergänglichen, aber doch langandauernden Ruhm zu gewinnen: durch die Dichter nämlich, die hervorragende Helden besingen und damit nicht nur diesen, sondern zugleich auch sich selbst Ehre bei ihren Zeitgenossen und bei der Nachwelt erwerben (6-14). Dies ist in der antiken Dichtung bereits geschehen. Wenn aber, so folgert Juvencus, schon nichtchristliches Dichten, dessen Gegenstand zumindest zum Teil fiktiv ist und daher von einem rigoristischen Standpunkt aus als Lüge bezeichnet werden kann, langen Nachruhm gewährleistet, so muß Dichtung, die aus der Offenbarung kommt, also nicht Fiktion, sondern Realität, nicht Lüge, sondern Wahrheit ist, dem Verfasser unvergänglichen, nämlich jenseitigen Lohn verdienen (15-20). Solche Dichtung ist von der Vernichtung der Welt am Jüngsten Tag, bei der mit der Zerstörung ihrer Werke auch das Nachleben der heidnischen Dichter ein Ende finden wird, nicht betroffen; vielmehr darf ihr Autor darauf vertrauen, wegen der Verdienstlichkeit seines Schaffens den Weltenbrand zu überleben (21-24). Aus dem Erweis der Überlegenheit der christlichen über die heidnische Dichtung ergibt sich das kurze Gebet zum Heiligen Geist um Beistand bei seinem Unternehmen, mit dem Juvencus seinen Prolog beschließt: 25 - sanatifiaus Spiritus,
adsit mihi carminis
et puro mentem
Dutais Iordanis,
auctor
riget amne
ut Christo digna
aanentis
loquamur.
päische Literatur, S. 241f.). 312 OHLY, Wolframs Gebet, S. 484f., Anm. 87, S. 496-98; Synagoge, S. 334. 313 Hg. von HUEMER.
Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
75
Die Kontrastierung von christlicher und heidnischer Literatur betrifft bei Juvencus Inhalt und Wesen der Dichtung ebenso wie ihre Wirkung. Ergebnis des Vergleichs ist, daß der heidnischen Dichtung keineswegs jedes Verdienst abzusprechen ist. Die heidnisch-antike Vorstellung des durch Dichtung zu erwerbenden Nach314 ruhms wird unbestritten übernommen, doch wird zugleich entschieden deutlich gemacht, daß die Dichtung des Christentums der literarischen Tradition notwendig überlegen ist: Während die heidnische Literatur über den innerweltlichen Bezirk nicht hinauskommt, hat christliche Dichtung als Sprechen über Gott eine die Welt transzendierende heilswirksame Komponente; sie verheißt nicht nur Nachruhm bis ans Ende der Zeit, sondern einen in alle Ewigkeit unvergänglichen Lohn. Auch hinsichtlich der Schönheit ihres Gegenstandes wird die heidnische Dichtung von der christlichen überboten, die nicht die Taten von Heroen (sublimia facta, 6), sondern das Erdenleben des menschgewordenen Gottessohns (Christi- uitalia gesta, 19) zum Thema hat - ganz abgesehen davon, daß Juvencus in heidnischer Dichtung immer Fakten mit Fiktionen (mendacia, 16) verwoben sieht, während die christliche Dichtung aus der Wahrheit des Glaubens (aerta fides, 17) entspringt und damit eine Relevanz für das Leben des Gläubigen gewinnt, die keine Fiktion erreichen kann. Auch die formale Anmut heidnischer Gedichte (ihre dulaedo, 10) sieht Juvencus durch die christliche Dichtung in gewisser Weise übertroffen, da ihr Verfasser als Lohn eine immerwährende, nicht wie die Schönheit heidnischer Dichtung der Vergänglichkeit anheimfallende Zierde (Immortale deous, 18) erwirbt. Juvencus spricht zwar den heidnischen Autoren ästhetische Qualität nicht ab, doch diese verblaßt vor der über die vergängliche Welt hinausreichenden Bedeutsamkeit christlichen Dichtens. Juvencus formuliert die Überlegenheit seines Schaffens über das der nichtchristlichen Antike nicht nur allgemein, sondern er bezieht sich in unauffälliger, aber erkennbarer Weise speziell auf einige seiner heidnischen Vorgänger, besonders auf 31 5 Vergil , und deutet damit an, daß die neue Qualität christlichen Dichtens selbst von einem der größten nichtchristlichen Epiker nicht erreicht werden konnte. Wenn Juvencus Vergils Inspiration aus dem seine Heimatstadt Mantua durchfließenden Fluß Mincius herleitet (10), um dann selbst um Benetzung mit dem Wasser des Jordan zu bitten (26f.), so in der Absicht, die überle314 KARTSCHOKE, Bibeldichtung, S. 57. 315 OHLY (Typologie, S. 379f.) erkennt außerdem Anspielungen auf Homer und Ovid. - Zur Bezugnahme auf Vergil auch KLOPSCH, Dichtungslehren, S. 22.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
genheit der von Gott begnadeten Dichtung über die heidnische durch die christliche Umformung eines traditionellen Bildes (der Wassermetapher für die Inspiration) deutlich zu machen. Der Eingang des Evangelienwerks des Juvencus, des ersten Bibelepos der christlichen Antike überhaupt, hat beträchtliche Wirkungen auf die ihm folgende christliche Dichtung ausgeübt. Juvencus gehörte noch im Mittelalter zur Schullektüre und war entsprechend 316
bekannt; auch Otfrid erwähnt ihn . Immer wieder begegnet in der christlichen Literatur die den Eingang seines Werks bestimmende Konfrontierung christlicher und heidnischer Dichtung mit dem von vornherein feststehenden Ergebnis der Überlegenheit des Christentums, und auch das Schöpfungsmotiv im Werkeingang steht im 4. Jahrhundert erst am Beginn einer langen Geschichte, die ohne sein Erscheinen im allgemein bekannten Prolog des Juvencus wohl anders verlaufen wäre. Ob dagegen auch die Häufigkeit des Gebets als Element des Werkeingangs der Förderung durch das Vorbild des Juvencus bedurfte 317 , muß bezweifelt werden; die Situation des geistlichen Dichters legt das Gebet um den göttlichen Beistand so nahe, daß es fraglos auch unabhängig von Mustern entwickelt 318
werden konnte . Ähnliches gilt für den Gedanken der Verdienstlichkeit geistlichen Dichtens, der zwar in der Folgezeit in zahlreichen Prologen erscheint, aber ebenfalls so naheliegend war, daß er nicht erst durch ein Vorbild angeregt zu werden brauchte. Während Juvencus gewisse beschränkte Verdienste heidnischer Literatur anerkennt, nehmen andere Dichter radikalere Positionen ein. Hierzu zählen die Autoren, die mit der expliziten Zurückweisung der Musen die weltliche Dichtung insgesamt verwerfen, ein Motiv, das zwar schon in der klassischen Antike nicht gänzlich fehlte, aber erst im Christentum weite Verbreitung 319 fand und dann bis ins 17. Jahrhundert weiterlebte . Auch wo 316 Ad Liutb. 17. - Zum Gebrauch christlich-lateinischer Autoren als Schullektüre in der Karolingerzeit generell GLAUCHE, Schullektüre, S. 10-16, 23-36, 39-61. 317 KLOPSCH, Dichtungslehren, S. 22: "Mit Iuvencus wird die Anrufung Gottes allgemein, einer göttlichen Person, meist Christi oder des Heiligen Geistes, oder der Trinität zum festen Bestandteil christlicher Exordialtopik." 318 S.o. S. 72f. 319 Zur Geschichte dieses Motivs im Christentum CURTIUS, Europäische Literatur, S. 241-47. Zurückweisungen der Musen oder tadelnde Anreden an sie belegt CURTIUS etwa für den Bereich der frühchristlichen Dichtung aus Prudentius, Paulinus von Nola und Paulinus von Pferigueux. Die Zurückweisung der Musen wird schnell topisch und darf nicht in jedem Fall für bare Münze genommen werden. Paulinus von Nola, der die Musen zurückweist und damit eigentlich weltlicher Dichtung abschwört (ebd. S. 242), steht gleichwohl in einem 'literarischen Briefwechsel1 mit Ausonius
Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
77
die Musen nicht ausdrücklich zurückgewiesen werden, kann das Urteil über die heidnischen Dichter härter ausfallen als bei Ju320 vencus, vor allem wenn, wie etwa bei Sedulius , der Aspekt des Glaubens bei ihrer Beurteilung so eindeutig dominiert, daß andere Gesichtspunkte gar nicht mehr wahrgenommen werden. Da die klassischen Dichtungen in nichtchristlichem Geist geschrieben sind, sind sie für Sedulius Lügenwerk (figmenta,
I 17) oder Denk-
mäler, die für Freveltaten errichtet wurden (I 21); die heidnischen Anschauungen, die ihnen zugrunde liegen, sind ein Gift (dootrina lum,
ueneni,
I 40) und eine tödliche Krankheit ( l e t a l e ma-
I 39): Die Verurteilung der heidnischen Dichter durch Se-
dulius ist weit schärfer als bei Juvencus, für den der Hauptmangel der klassischen Literatur ihre Vergänglichkeit war. Wie der Eingangsteil bei Sedulius insgesamt umfangreicher ist als bei Juvencus - der Anfang des ersten Buches, der zugleich den Eingang des Gesamtwerks darstellt, umfaßt 102 Verse, denen noch die 16 Verse der "Praefatio" vorangehen - und Sedulius allgemein größeren Wert auf rhetorische Gestaltung legt, so ist auch das wie bei Juvencus an den Schluß des Eingangs gestellte Gebet (I 60-102) wesentlich länger und rhetorisch weit stärker ausgeformt als bei dem früheren Dichter, bei dem die Vorstellung der Benetzung mit dem Wasser des Jordans das einzige Bild des Eingangsgebets war. Formte dieses Bild eine antike Metapher christlich um, so ist das Eingangsgebet des Sedulius bestimmt vom genuin christlichen Motiv des Schöpfergottes, das zwar auch Juvencus verwendet, aber nicht im Gebet und unter einem anderen Blickwinkel als Sedulius. Dieser beginnt sein Gebet mit einer Uberschau über die Schöpfung, in der Gott zunächst angerufen wird als der, der Himmel und Erde, Meer, Sonne und Mond, Tag, Nacht und die Sterne geschaffen und den Menschen aus Erde gebildet hat (I 60-69). Richten'sich diese Verse an den Schöpfer, wie er in der Genesis erscheint, so preist der folgende Ab(WITKE, Numen litterarwn, S. 3-74). Neben der Zurückweisung der Camenae findet sich auch die Konstruktion einer christlichen Muse, so bei Prudentius (Prudentius, with an English translation by. Η. J. THOMSON) im
L-iber Cathemerinon
(III, Hymnus ante aibum) :
26 - speme, Camena, leves hederas, cingere tempora quis soVita es, sertaque mystioa daatylico texere doata liga strophio, laude Dei- redimita comas. Vgl. auch Liber
Cathemerinon
IX 1-3.
320 Sedulius, Carmen paschale, hg. von HUEMER, besonders im Prolog I 17-26 und I 38-59. KARTSCHOKE, Bibeldichtung, S. 64.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
schnitt des Gebets (I 70-78) Gott als den Neuschöpfer, der die in der Sünde verlorenen Menschen erlöst hat, wobei die Erlösungstat typologisch auf den alttestamentlichen Schöpfungsbericht rückbezogen wird: Wie der Mensch durch den Genuß einer Speise verlorenging, so wird er wiedergewonnen durch die bessere Speise des Leibs Christi (meliore cibo potuque
saarati
/
Sanguinis,
I 71 f.), und wie in der Sintflut Tod über die sündigen Menschen kam, gewinnen sie alle neues Leben im Bad der Taufe (Totum namque lauans uno baptismate
mundum,
I 78). Entsprechend ist der Hin-
weis auf das Kreuzesholz zu verstehen (hoc praesule ligno, I 76), auch wenn der Bezug zum Paradiesesbaum nicht ausdrücklich hergestellt wird. Nach diesem zweifachen Lob des Schöpfers folgen die Bitten des Verfassers: I 79 Fände salutarem
paucos
quae duait in urbem
Angusto mihi calte uiam uerbique Da pedibus
lucere meis, ut semita
lucernam uitae
Ad caulas me ruris agat, qua seruat
amoenum
Pastor ouile bonus, qua uellere praeuius Virginis agnus ouis grexque Te duae difficilis
alba
omnis Candidus
intrat.
non est uia -
Sedulius bittet nicht um Beistand für sein Dichten, sondern für sein Leben allgemein, ohne sein Vorhaben im Zusammenhang mit seinen Bitten auch nur zu erwähnen. Drei biblische Vorstellungen fließen in dieser Passage in eigenartiger Weise ineinander: das 321 Bild vom engen Weg zum Heil , das Gleichnis von Christus als dem guten Hirten 322 und die Sonderung der Schafe von den Böcken 323 324 beim Jüngsten Gericht ; hinzu tritt ein Psalmzitat . Auf die Bitten folgen weitere Lobpreisungen der göttlichen Allmacht (I 87-95) , so daß das Gotteslob in diesem Gebet deutlich breiteren Raum einnimmt als die Bitten des Dichters. Schließlich beendet Sedulius sein Eingangsgebet mit einer kurzen Charakterisierung seiner Darstellungsabsicht (I 96-102), in der er bekennt, von den vielen Taten und Zeichen Gottes nur weniges berichten zu können (I 96-98), und versucht, die Unübertrefflichkeit der Größe Gottes zu evozieren durch die Beteuerung, es sei unmöglich, sie gebührend zu preisen (I 99-102). Beide Motive sind topisch,
321 Mt 7,13. 322 Io 10,1-16. 323 Mt 25,32f.
324 vgl. zu ι 80f. Ps 118,105: Lucema pedibus meis verbum tuum, et lumen semitis meis.
Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
79
aber nicht als bloße Befolgung antiker rhetorischer Konvention zu verstehen; zu genau entsprechen das Unüberbietbarkeitsmotiv und der Topos pauca ex multis der Situation des christlichen Dichters. Dies steht nicht im Gegensatz zu einer Auffassung, die das Erscheinen solcher Elemente - ein anderes Beispiel wäre das Schöpfungsmotiv - auf die allmähliche Herausbildung einer christ32 5 liehen Exordialtopik zurückführt , denn hätten diese Motive nicht dem Selbstverständnis der christlichen Dichter in besonderem Maße entsprochen, so hätte ihre Verwendung in der christlichen Literatur kaum solch traditionsbildende Kraft besitzen können. Die Evangeliendichtung des Sedulius gehörte 326 ebenfalls zum Lesestoff in mittelalterlichen Klosterschulen ; Otfrid hat sie daher, obwohl er sie nicht erwähnt, wahrscheinlich gekannt. Sicher ist dagegen seine Kenntnis der stark auf allegorische Deu327 tung abstellenden Nachdichtung der Apostelgeschichte durch 32 8
Arator . Auch Arator versichert sich zu Beginn seines Werks des höheren Beistands, doch könnte der Gegensatz zum Eingangsgebet des Sedulius nicht größer sein. Zeigte dessen Werkeingang ein langes, bewußt gestaltetes Gebet, so beschränkt sich Arator auf die sehr beiläufige, nicht einmal einen selbständigen Satz bildende Formulierung In nomine Patris Sanoti beato domino
Petro adiuvante
et Filii et
Spiritus
(S. 9). Dies ist eine äu-
ßerst zurückhaltende Bitte um Beistand; der Heilige wird nicht angerufen, sondern der Dichter zeigt sich davon überzeugt, daß das Werk nur gelingen könne saneto adiuvante, 'mit der Hilfe des Heiligen'. Natürlich impliziert diese Feststellung die Bitte um Beistand; man kann daher von einer indirekten Inspirationsbitte sprechen 329 325 Von christlicher Exordialtopik spricht z.B. KLOPSCH, Dichtungslehren, S. 20-22. 326 KARTSCHOKE, Bibeldichtung, S. 41. 327 KARTSCHOKE, Bibeldichtung, S. 53. 328 Ad Liutb. 17. - Aratoris Subdiaconi De actibus apostolorum, hg. von MAC KINLEY (CSEL 72). 329 OPELT (In Gottes Namen beginnen, S. 187) hält allerdings für möglich, daß die einleitende kurze Invokation nicht von Arator selbst, sondern erst von einem karolingischen Schreiber stammt. - An anderen Stellen des Werks finden sich bei Arator auch ausdrückliche Gebete um Inspiration. Wie schon zu Beginn der eigentliche Beistand zur Vollendung des im Namen der Dreifaltigkeit begonnenen Werks von Petrus kam, so ist dieser auch Adressat einer der weiteren Bitten um Inspiration, denn da ihm von Christus die Gewalt verliehen wurde, zu binden und zu lösen, kann er auch die Zunge des Dichters von ihren Fesseln befreien:
I 896 - Qui solvere nosti Exaute, Petre, meae retinaaula tarda loquelae Deque tuis expulis exhaustae porrige linguae.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Alle bisher betrachteten Formen des Gebetseingangs - die kurze Eingangsbitte, das rhetorisch ausgestaltete Gebet und die indirekte Bitte um Beistand - sind in allen Gattungen christlichlateinischer Literatur verbreitet 330 . Hier soll nur noch auf die Dichtungen des Prudentius eingegangen werden, weil Otfrid ihn kennt und neben Juvencus und Arator als Beispiel christlichen 331 Dichtens erwähnt , aber auch, weil sein Werk verschiedenen Gattungen angehört und vor Augen führt, in wie unterschiedlichen Zusammenhängen Eingangsgebete auftreten können. Unter den Dichtungen des Prudentius sind zwei Zyklen von Hymnen, der "Liber Cathemerinon" 332 , der Hymnen auf die Tageszeiten, auf bestimmte Zeiten des Kirchenjahres (Fasttage, Weihnachten, Epiphanie) und 333 auf das Begräbnis umfaßt, und der "Peristephanon Liber" , eine Sammlung von legendenartigen Märtyrerhymnen, deren Formenspektrum vom Kurzgedicht (Nr. VIII "De loco in quo martyres passi sunt nunc baptisterium est Calagurri", nur 17 Verse) bis zur epischen Darstellung (besonders deutlich Nr. X "Sancti Romani martyris contra gentiles dicta", 1140 Verse) reicht. Von den zwölf Hymnen des ersten Zyklus weisen fünf keine einleitende Anrufung Gottes oder Vergleichbares auf (Nr. I, II, IX, XI, XII); die übrigen zeigen in der Regel Eingangsgebete, in denen der Dichter, der stets eine Gemeinschaft von Betern vertritt - immer spricht er von 'uns' - Gottes Gnade erbittet, ihn preist oder auch nur anredet. Nur der "Hymnus post cibum" (IV) beginnt mit einer an die Zunge gerichteten Aufforderung zum Sprechen des Ge334 bets , ohne daß für die Ersetzung der Anrede Gottes durch die Aufforderung an sich selbst und die Hörer ein Grund erkennbar wäre. Nicht immer steht der Gebetseingang in deutlicher Beziehung zum Hauptteil des Gedichts. Manchmal gibt es kaum eine ersichtliche Verbindung zwischen den im Gebet genannten Eigenschaften Gottes und den folgenden Meditationen. So ruft etwa der "Hymnus ante somnum" (VI) die Trinität an:
Zwei andere Inspirationsbitten Arators (I 225-27; II 577-83) richten sich an den Heiligen Geist. 330 Zu den Eingangsgebeten der lateinischen Legendendichtung bis ins 12. Jahrhundert STRUNK, Kunst und Glaube, S. 85-114 u.ö.
331 Ad Liutb. 17f. 332 Prudentius, Bd. 1, S. 6-115. 333 Prudentius, Bd. 2, S. 98-345.
334 IV 1 Fastis visaeribus oiboque surnpto, (...)
3 laudem lingua Deo Patri rependat Trotz des Singulars lingua ist wohl eine Gemeinde mitgemeint, denn im weiteren Gang der Hymne erscheinen die Betenden immer im Plural.
Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
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Ades, Pater
supreme,
quem nemo vidit
umquam,
patrisque
Christe,
Sermo
et Spiritus
benigne,
ο Trinitatis vis una,
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huius
lumen unum,
deus ex Deo
perennis,
deus ex utroque
missus.
Der Hauptteil des Hymnus betrachtet seelische Vorgänge beim Schlaf, Träume und Visionen und gelangt schließlich zur Apokalypse, ohne daß deutlich würde, warum im Gebetseingang gerade die Trinität angerufen wird. In einigen anderen Fällen stellt sich dagegen eine engere Verbindung zwischen Eingangsgebet und Hauptteil her, so im "Hymnus post ieiunium" (VIII): 1 Christe, mollibus
servorum
regimen
tuorum,
qui nos moderans
habenis
leniter frenas,
faailique
ipse cum portans corporis
onus
duros tuleris
maior exemplis
famulos
saeptos
leges
coerces,
inpeditum labores, remisso
dogmate
palpas.
Die Anrufung Christi als milder Herrscher, der selbst Leiden auf sich genommen und seinem Volk ein leichtes Gesetz auferlegt hat, paßt gut in den Rahmen einer Hymne für das Ende eines Fasttags. Ähnlich enge Verbindungen bestehen innerhalb der Gedichte III ("Hymnus ante cibum"), V ("Hymnus ad incensum lucernae") und X ("Hymnus circa exequias defuncti"). In den Hymnen, denen ein Eingangsgebet fehlt, treten verschie335
dene andere Eingangselemente an seine Stelle . Ihnen ist zweierlei gemeinsam: Sie führen hin zum geistlichen Gehalt der Dichtung - ohne sich in jedem Fall schon spezifisch auf die Hauptgedanken des jeweiligen Hymnus zu beziehen -, und sie tun dies in einer Weise, die geeignet ist, das Interesse des Lesers zu 335 I ("Hymnus ad galli cantum") beginnt mit der Beschreibung des Hahnenschreis (1f.), II ("Hymnus matutinus") mit einer Apostrophe an Nacht, Finsternis und Wolken (lf.). Im "Hymnus omnis horae" (IX) bildet die Aufforderung des Dichters an seinen Diener, ihm sein Schreibzeug zu reichen, den Eingang (1); XI ("Hymnus VIII Kai. Ianuarias") setzt ein mit einer rhetorischen Frage nach der Bedeutung der Wintersonnenwende (lf.), und am Anfang von Nr. XII, dem "Hymnus Epiphaniae", wendet sich der Dichter an alle, die Christus suchen (lf.). Mehrfach folgt anschließend die Beziehung der Einleitung auf Christus, wobei der Akzent auf der Bedeutung Christi für das Leben jedes Menschen liegt.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
wecken. Wenn das Eingangsgebet demnach an einer Stelle steht, die in den gebetslosen Hymnen Elemente einnehmen, die die Leser in der genannten Weise auf das Werk einstimmen sollen, dann kommt auch dem Eingangsgebet eine solche Einstimmungsfunktion zu. Das Eingangsgebet im "Liber Cathemerinon" ist damit nicht allein eine Anrufung, sondern es besitzt darüber hinaus eine rezipientenorientierte pastorale Funktion, insofern es die Hörer oder Leser zum Gedicht hinführt und sie damit zum Mitvollzug der geistlichen Überlegungen des Hauptteils veranlaßt. Während im "Liber Cathemerinon" gut die Hälfte der Gedichte ein Eingangsgebet besitzt, beginnen im "Peristephanon Liber" nur vier von vierzehn Hymnen mit einer Anrufung. Jede richtet 336 sich an den Heiligen, dem der jeweilige Hymnus gewidmet ist In zwei Gebeten ist das Anliegen des Betenden ausschließlich der Lobpreis des Heiligen, doch gilt nur in der "Passio Sancti Vincenti martyris" (V) das Lob dem Heiligen allein (1-6); im "Hymnus in honorem beatissimorum martyrum Fructuosi episcopi ecclesiae Tarraconensis, et Augurii et Eulogii diaconorum" (VI) reden die ersten Verse zwar Fructuosus (stellvertretend für die beiden weiteren Heiligen) an, doch werden genau besehen nicht so sehr die Heiligen gepriesen als die Stadt Tarragona, deren Verdienst eben im Martyrium des Bischofs und der Diakone besteht: 1 Felix Tarraao, Fruatuose, vestris attotit caput ignibus oorusaum Levitis geminis prooul reluoens. In den beiden anderen Gedichten ist - einmal allein, einmal mit dem Heiligenlob verbunden - die Bitte um Inspiration Anliegen des Eingangsgebets. In der "Passio Cypriani" (XIII) ist sie nur sehr kurz und beschließt ein wesentlich längeres (7-14) Lob des Heiligen mit den Worten unde bonum subitum terris dederis, Pater, revela (15). Die Inspirationsbitte ist hier formuliert als Aufforderung, der der eigentliche Legendenbericht, der Hauptteil des Hymnus, nachkommt; dies entspricht der Form des heidnischen 337 Musenanrufs, der hier nachwirkt . Dabei ist nicht eindeutig, wer dem Dichter antworten, also die Inspiration gewähren und die Passio berichten soll, denn die Anrede Pater kann Gottvater meinen, sich aber auch auf den Kirchenvater beziehen, von dessen Martyrium der Hymnus handelt und an den sich die Verse 1-14
336 Mit der möglichen Ausnahme von XIII. 337 S.o. S. 67f.
Zum Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
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richten. In diesem zweiten, näherliegenden Fall - ein Wechsel des Adressaten im letzten Vers des Gebets käme sehr unvermittelt erschiene der Heilige, da er es wäre, der auf die Bitte des Dichters mit dem Legendenbericht antwortete, nicht als Vermittler, sondern als Gewährer der Inspiration. Diese Funktion hat der Heilige mit Sicherheit im Eingangsgebet des Gedichts "Sancti Romani martyris contra gentiles dicta" (Χ), des längsten im "Peristephanon Liber". Ansatzpunkt für den Gedanken der Spendung der Inspiration durch den Heiligen ist hier die Symbolkraft der Zunge. Da dem Heiligen im Verlauf seines Martyriums die Zunge aus dem Mund gerissen wurde, ohne daß ihn die Kraft, Gott zu bekennen, dadurch verlassen hätte, kann ihn der ihn preisende Dichter anrufen, der vor der Größe der Wunder verstummt und gleichsam selbst zungenlos wird: 1 Romane, elinguis
Christi fortis oris Organum
Zargire oomptum
fautor
aarmen
fao ut tuarum mira
adsertor
Dei,
move,
infantissimo,
taudum
ooncinam,
nam scis et ipse posse mutos
eloqui.
Wie die an den Heiligen gerichteten Imperative zeigen, geht der das Dichten erst ermöglichende Beistand hier eindeutig von dem Märtyrer aus. Andererseits vertraut Prudentius nur wenige Verse später darauf, daß durch seine Zunge Christus selbst sprechen werde: 21
sum mutus ipse, sed potens mea lingua Christus
luculente
faaundiae disseret.
Wie sich das Postulat der Lenkung der Zunge durch Christus zur Bitte um Inspiration durch den Heiligen verhält, wird nicht klar. Der naheliegende Gedanke, daß die Inspiration dem Dichter von Christus durch den Heiligen gewährt würde, dem Heiligen also eine Mittlerposition zwischen Gott und Mensch zukäme, ist aus dem Text weder zu stützen noch zu widerlegen. Prudentius kennt sowohl die Inspiration durch einen Heiligen als auch die durch Christus und empfindet sie so wenig als einander ausschließend oder gar widersprüchlich, daß er beide Vorstellungen im Eingang des RomanusGedichts problemlos nebeneinanderstellen kann. Aus der geringen Anzahl von Invokationen in den Eingängen des "Peristephanon Liber" scheint sich die Folgerung zu ergeben, daß der Dichter die Inspirationsbitte nur als ein Eingangselement
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
unter anderen verwendet, ohne daß dahinter ein gefühltes Bedürfnis der Hilfe des Heiligen oder Gottes im Dichten stünde. Doch ist zu bedenken, daß das jedenfalls von seiner Länge her die meiste Mühe und Aufmerksamkeit fordernde Gedicht, die RomanusPassion (X) eine recht lange, 15 Verse umfassende Bitte um Inspiration besitzt - vor seinem größten Vorhaben innerhalb des "Peristephanon Liber" also hat sich Prudentius des höheren Beistands versichert. Wenigstens für dieses Gebet ist vor einer vorschnellen Zurückführung auf eine entstehende oder bereits verfestigte literarische Konvention, etwa im Sinne einer christlichen Exordialtopik, zu warnen; das Eingangsgebet der Romanuslegende kann durchaus aus dem Bewußtsein der besonderen Schwierigkeit dieses Gedichts hervorgegangen sein. 338 Während die Epigramme des "Dittochaeon" keine Dichtergebete aufweisen, zeigen sämtliche episch-didaktischen Werke des Prudentius Eingangsgebete (in einem Fall eine Apostrophe an eine biblische Figur), die anders als manche Eingangsgebete der Hymnen eng auf den Inhalt des jeweiligen Werks bezogen sind. So hat die "Apotheosis" 339, die Irrlehren über die Dreifaltigkeit und die wahre Lehre der Kirche behandelt 340 , noch vor der Praefatzo 341 einen zwölf Verse umfassenden Hymnus auf die Trinität . Die 342 "Hamartigenia" , die sich gegen die Lehren des Marcion wendet 343 und diesen in der Praefatio mit Kain vergleicht , bringt in den ersten Versen des Hauptteils, unmittelbar im Anschluß an die Vorrede, eine Apostrophe344 Kains (1-3). An entsprechender Stelle zeigt die "Psychomachia" ein langes Gebet an Christus, den der Dichter auffordert, den Kampf der Tugenden und Laster zu berichten (1-11) - erneut erscheint hier die aus dem Musenanruf übernommene Vorstellung, das Werk sei die wörtliche Rede des angerufenen höheren Wesens -, und der gepriesen wird als Beistand des Gläubigen in diesem 345 Kampf (11-20). Die beiden Bücher "Contra orationem Symmachi" schließlich besitzen jeweils am Ende der Vorrede ein Gebet an Christus, wobei Prudentius in der Praefatio (80-89) um die Errettung des Symmachus aus seinem Irrtum bittet, während das Anliegen des Gebets im Vorwort von Buch II (44-66) im Beistand Gottes im Dichten besteht. Diese Bitte wird begrün338 339 340 341 342 343 344 345
Prudentius, Bd. 2, S. 346-71. Prudentius, Bd. 1, S. 116-99. KURFESS, Prudentius, Sp. 1055. Prudentius, Bd. 1, S. 116f. Prudentius, Bd. 1, s. 200-73. KURFESS, Prudentius, Sp. 1057. Prudentius, Bd. 1, S. 274-343. Prudentius, Bd. 1, S. 344-401; Bd. 2, S. 2-97.
Das Eingangsgebet vor Otfrid von Weißenburg
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det mit der überlegenen Beredsamkeit des Symmachus^^®, ihre Legitimität leitet der Dichter ab aus der Hilfe, die Christus dem im Wasser des Sees Tiberias versinkenden Petrus zuteil werden , . „347 ließ
Da für den in dieser Hinsicht besonders ergiebigen Bereich der lateinischen Legendeneingänge bereits die ausführliche Untersu348 chung Strunks vorliegt , braucht hier nicht der Versuch unternommen zu werden, die Geschichte des Eingangsgebets durch das lateinische Frühmittelalter bis zu Otfrid zu verfolgen. Nur die Grundlinien der weiteren Entwicklungen sollen kurz nachgezeichnet werden. Im gesamten von Strunk betrachteten Zeitraum (also bis ins 12. Jahrhundert) bleibt die Bitte um Inspiration in den Legendeneingängen üblich. Ihre Notwendigkeit wird stets zurück349 geführt auf die Sündigkeit des Menschen , wobei sich das Vertrauen der Dichter auf die350 Gewährung des göttlichen Beistands oft auf die Bibel gründet , besonders auf solche Stellen, die ein Gnadenversprechen Gottes enthalten 351 , von einem entsprechenden Gnadenerweis berichten 352 oder das Vertrauen eines bi353 blischen Sprechers auf Gottes Gnade zum Ausdruck bringen . Allerdings kann die Bitte um Inspiration als Anliegen der Legendeneingangsgebete zurücktreten hinter dem Preis der göttlichen 354 Allmacht und der Trinität , was nach Strunk zurückzuführen ist auf die liturgische und halbliturgische Verwendung der Legenden als Lesung bei den Mahlzeiten und besonders in der Matutin, die das Eindringen in der Liturgie gebräuchlicher Gebetselemente vor allem doxologischer Formeln - begünstigt habe^^. 346 Die Bescheidenheit ist hier nicht affektiert, denn Prudentius wendet sich gegen eine Schrift des Symmachus, die "als ein Meisterwerk der Rhetorik galt" (KURFESS, Prudentius, Sp. 1059). - Zur affektierten Bescheidenheit CURTIUS, Europäische Literatur, S. 93-95. 347 Mt 1 4 , 2 2 - 3 2 . - Zur Ausgestaltung dieser biblischen Anspielung WITKE, Numen litterarum, s . 1 2 5 - 2 7 . 348 STRUNK, Kunst und Glaube. Hinweise auch bei OHLY, Wolframs Gebet, S. 472f. 349 STRUNK, Kunst und Glaube, S. 80f.; dort zahlreiche Belege. 350 STRUNK, Kunst und Glaube, S. 85-88.
351 Ps 80,11 dilata os tuum et implebo illud; iac 1,5 Si quis autem vestwm indiget sapientia, postulet a Deo qui dat omnibus affluenter et non improperat, et dabitur ei. 352 Ex 17,6 (in der Wüste quillt Wasser aus einem Felsen) mit der Deutung auf den von Christus ausgehenden geistlichen Trank (potum spiritaZem) in 1 Cor 10,4; Num 22,28 (Bileams Eselin); Sap 10,21 quoniam sapientia
aperuit os mutorum, et lingua infantiwn fecit disertas. 353 Insbesondere auf die Gnade der Verleihung der Redegabe: Ps 50,17
Domine,
labia mea aperies; et os meum annuntiabit laudem tuam·, Ps 120,1 Levavi oaulos meos in montes, unde veniet auxilium mihi. - Belege für die Berufung auf die angeführten Bibelstellen bei STRUNK, Kunst und Glaube, S. 85-88. 354 STRUNK, Kunst und Glaube, S. 95. - Dieselbe Tendenz zeigt sich schon bei Sedulius und Prudentius. 355 Eine ausführliche Darstellung mit Belegen gibt STRUNK, Kunst und Glaube,
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Der Gedanke an die heidnischen Inspirationsspender verschwindet jedoch nicht völlig. Während sie etwa bei Venantius Fortunatus in der Paraphrase der Martinsvita des Sulpicius Severus noch an untergeordneter Stelle in einer Legendenpraefatio in Erscheinung treten (nämlich als Anspielung auf den Musenquell, die jedoch folgenlos bleibt - die Inspiration geht auch hier eindeutig von Christus aus) ^ ^ , ist typischer für das Verhältnis des Frühmittelalters zu den Musen und Apoll deren ausdrückliche Zurückwei357 sung, wie sie etwa im 7. Jahrhundert Aldhelm vertritt . Eine Ausnahme bilden vor allem die lateinischen Dichter der Karolingerzeit, unter ihnen Alcuin und Hraban, die in ihren weltlichen Dichtungen den Musenanruf 358 durchaus kennen, ihn in ihren geistlichen Werken aber ablehnen
. Die Zurückführung dieser dichteri-
schen Praxis allein auf unterschiedliche Gattungskonventionen ginge am Wesentlichen vorbei. Ihr liegt das Wissen darum zugrunde, daß der Gegenstand geistlicher Dichtung dem Menschen nicht in gleicher Weise verfügbar ist wie der weltlicher Literatur. Nur weltliche Themen können vom Menschen grundsätzlich in angemessener Weise behandelt werden, nur hier ist das Gebet um den Beistand Gottes daher entbehrlich, so daß seiner Ersetzung durch ein anderes Eingangselement nichts im Wege steht. Geistliche Dichtung jedoch, die die Offenbarung und Weiteroffenbarung Gottes zum Gegenstand hat, bedarf immer der göttlichen Hilfe; in ihr kann das Gebet um Inspiration nicht durch das Spiel mit dem antiken Eingangstopos Musenanruf ersetzt werden. Otfrid hat mit den betrachteten christlichen Dichtern kaum mehr als das Faktum der Bitte um den Beistand Gottes gemeinsam. Wie wenig seine Invokation mit denen bei Juvencus, Arator und Prudentius, die er selbst nennt (Ad Liutb.
17f.), und mit der
des Sedulius, die er ebenfalls gekannt haben wird, verbindet, dürfte klar geworden sein - bei Otfrid fehlt etwa die bei Juvencus und Sedulius wichtige Kontrastierung weltlichen und religiösen Dichtens; dagegen bedenkt er viel gründlicher als die lateinischen Autoren die Gefährdungen und Probleme seines Vorhabens. Selbstverständlich gehen auch in sein Eingangsgebet konventionelle Elemente ein, so das Motiv der Schöpferanrufung, das bei Sedulius begegnete, oder die Begründung der Bitte um Inspiration mit der Sündigkeit des Menschen. Doch reiht er nicht einfach traditionelle Motive aneinander, sondern er paßt das UberS. 93-104. 356 STRUNK, Kunst und Glaube, S. 43-45. 357 CURTIUS, Europäische Literatur, S. 243; ein Beleg aus dem 10. Jahrhundert bei STRUNK, Kunst und Glaube, S. 94. 358 CURTIUS, Europäische Literatur, S. 244.
Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
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nommene seinen Intentionen sorgfältig an - das Bekenntnis der Sündigkeit bindet er ein in die Beschreibung des Gott-MenschVerhältnisses, die ein wichtiges Anliegen seines Eingangsgebets ist, und aus dem Schöpfermotiv gewinnt er, indem er Gott anruft als den Schöpfer aller Sprachen, ein zusätzliches Legitimationsargument für sein Dichten. Diese Behandlung konventioneller Elemente ist kennzeichnend für Otfrids Eingangsgebet und sein Werk insgesamt. Otfrid stellt sich in eine Tradition, ohne sich ihr völlig zu verpflichten 359
3. Die Schlußgebete des Evangelienbuchs Während Otfrid dem Eingangsgebet zum Gesamtwerk ein selbständiges Kapitel widmet und dieses in der Uberschrift deutlich als Invokation charakterisiert, besitzt das Evangelienbuch kein ähnlich eindeutig vom Verfasser gekennzeichnetes Schlußgebet. In den letzten Kapiteln des Liber
Evangeliorum
tritt eine ganze Rei-
he von Gebeten auf: Gebete bilden die Refrains des großen Jenseitskapitels De qualitate terreni
caelestis
regni
et
inaequalitate
(V 23); das diesem folgende Kapitel (V 24) ist eine selb-
ständige, in der Uberschrift so bezeichnete Oratio·, ße Teile der Conolusio
voluminis
totius
und auch gro-
(V 25) zeigen Gebets-
charakter. Darüber hinaus enthält die an den Schluß des Werks gestellte Widmung an Hartmut und Werinbert zwei mäßig umfangreiche Gebete, und schließlich findet sich am Ende einer Handschrift ein weiteres kurzes Gebet in zwei Versionen, das jedoch mit Sicherheit nicht von Otfrid stammt und damit als Schlußgebet des Evangelienwerks von vornherein ausscheidet
360
. Unter den verblei-
359 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt RUPP (Otfrid, S. 129f., 133) für das gesamte Werk: "Otfrid hat eine den spätantiken christlichen Dichtungen ähnliche Bibeldichtung geschaffen, er hat sie wohl im Blick auf jene in Bücher und Kapitel eingeteilt, bietet in seinen Vorreden einige Gedanken, die sich auch bei den Dichtern dieser Werke finden. Er hat sich aber weder im Aufbau seines Werkes noch in der Auswahl des Stoffes und der Deutungen an sie angeschlossen, und seine Art der Darstellung unterscheidet sich erheblich von der dieser Dichter (... Trotzdem) macht (es) Otfrid keine Schwierigkeiten, sich in eine Tradition einzuordnen: es geschieht mit dem Hinweis auf Juvencus, Arator und Prudentius." Nicht untersucht werden kann hier, in welchem Verhältnis Otfrids Beten zur zeitgenössischen lateinischen geistlichen Literatur steht. Erst auf ihrem Hintergrund ließe sich entscheiden, wie viele Abweichungen von der bibelepischen Tradition einer eigenständigen Werk- und Gebetskonzeption Otfrids zuzuschreiben sind. 360 Es handelt sich um das sogenannte 'Gebet des Sigihart' (Althochdeutsches Lesebuch, XXXVII 2, S. 131):
Du himilisao trohtin, In din selbes riahe,
Ginade uns mit mahtin Soso dir giliohe.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
benden Gebeten ist die Entscheidung, welches von ihnen als Schlußgebet anzusprechen ist, nicht ganz leicht. Zu einfach macht es sich, wer, in spiegelsymmetrischer Umkehrung der Anordnung der Einleitungskapitel, in den Kapiteln V 24 ( O r a t i o ) und V 25 (Conolusio voluminis totius) eine Abfolge von geistlichem und weltli361 chem Schluß erkennen will , denn auch die Conolusio enthält ja Gebetselemente, ist also keineswegs rein weltlich. Der Fehlschluß von der Position eines Kapitels auf seine Funktion macht deutlich, daß rein formale Kriterien für die Bestimmung des Schlußgebets nicht ausreichen. Inhaltliche Faktoren müssen mitbedacht werden. Unter diesem Aspekt ist von einem Schlußgebet zu erwarten, daß es nicht in engem Zusammenhang mit einem Kapitel oder einer Kapitelgruppe steht, sondern den Blick auf das Gesamtwerk eröffnet und zurückschauend die Schwierigkeiten des Unternehmens sowie seine schließliche Vollendung zu seinem Gegenstand macht. Diese Erwartung ist um so berechtigter angesichts des überdeutlichen Bewußtseins Otfrids von der Problematik seines Unternehmens und von seiner Angewiesenheit auf den Beistand Gottes, wie es im Eingangsgebet zu beobachten war. Betrachtet man die Gebete in den letzten Kapiteln des Evangelienbuchs unter diesem Gesichtspunkt, so zeigt sich, daß weder die Refraingebete von V 23, die eng in das Kapitel eingebunden sind und sich inhaltlich nur auf dieses beziehen, noch die formal selbständige Oratio (V 24), die inhaltlich durch die Anknüpfung an die Schilderungen von Jüngstem Gericht und Ewigkeit nur Gedanken der vorangehenden Kapitel wiederaufnimmt, die an ein Schlußgebet zu richtenden Erwartungen erfüllen. Zwei andere Gebetskomplexe dagegen, die Gebete der Conolusio voluminis totius (vor allem 87-104) und der Eingang der Widmung an die St. Galler Mönche (Ad H. 1-16), sind deutlich im Hinblick auf den Abschluß des Gesamtwerks verfaßt. Wenngleich in ihnen die Vollendung des Werks nicht ebenso ausführlich bedacht wird wie das Wagnis seines Beginns im Eingangsgebet - eingehendere Gedanken über die Beendigung des Werks stehen vorwiegend in den nicht gebethaften Passagen der Conolusio voluminis totius -, so ist doch sowohl in den Gebeten der Conolusio als auch im Gebetsanfang der Widmung an Hartmut und Werinbert deutlich erkennAliter Trohtin Christ in himile, Mit dines fater segane Ginäde uns in euun, Das uuir niliden uuiuuün. Diese am Ende der Freisinger Otfrid-Handschrift überlieferten kurzen Bitten stellen zwei deutsche Versionen der Tu autem-Formel dar, die das Stundengebet und die Tischlesung beendete (OHLY, Tu autem, S. 28). 361 So etwa IWAND, Schlüsse, S. 11.
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Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
bar, daß das Gebetsanliegen an die Vollendung des Evangelien362 buchs anschließt . Beide Gebetskomplexe sind deshalb vom Inhalt her als Schlußgebete des Gesamtwerks aufzufassen. Schließlich kann auch der Bitte um Fürbitte und dem Gebet am Ende der Widmung an Hartmut und Werinbert (149-68) der Charakter eines Schlußgebets nicht ohne weiteres bestritten werden, denn dieser Gebetskomplex bildet die letzte Hinwendung des Dichters zu Gott bzw. einem Heiligen und beansprucht schon wegen seiner exponierten Stellung in den allerletzten Versen des Werks besondere Beachtung. Ob freilich seine Stellung am äußersten Schluß der Dichtung ausreicht, um diesem Gebetskomplex die Funktion eines Schlußgebets des Gesamtwerks zuzuerkennen, wird zu prüfen sein. In jedem Falle verteilen sich die Schlußgebete des Evangelienbuchs
auf
die
Conalusio
voluminis
totius
und
die
Widmung
an
die
St. Galler Mönche, also auf das letzte gezählte Kapitel und einen nicht zum engeren Werk gehörigen und deshalb in die Kapitelzählung nicht einbezogenen Teil der Dichtung. Anders als am Anfang des Werks verwischen sich an seinem Ende die Grenzen zwischen Evangelienbuch und Dedikationen. Die ersten Verse der Conalusio voluminis totius konstatieren den Abschluß des Evangelienbuchs und halten Rückblick auf den Anlaß des Unternehmens (1-22). Otfrid beschreibt die Vollendung des Werks als das Einholen der Segel am Ende einer Seefahrt (1-6), die ihn mit Gottes Hilfe ( S e l b e n Kristes stiuru joh sineva
ginädu,
1;
Bin
gote
hetphante
thevo
ärabeito
zi
ente, 7) in den heimatlichen Hafen geführt hat. Er nimmt damit eine Dichtmetapher auf, die bereits in der heidnischen Antike verbreitet ist und im Mittelalter in entsprechender Umdeutung und nun unter Verweis auf biblische Quellen ungebrochen Popularität behält 363 . Die Schiffahrt über das Meer, das der Bibel als 364 Sitz der Dämonen und Ort der größten denkbaren Gottferne gilt , kann sowohl den Lebensweg des Christen in seiner Gefährdung durch den Teufel als auch das Wagnis des christlichen Dichters, dessen Werk der Gefahr der Einwirkung des Bösen ebenso ausgesetzt ist, wirkungsvoll illustrieren, zumal, wenn wie in 362 Im Schluß der Conalusio voluminis totius verweist am deutlichsten die Wiederaufnahme des Schiffahrtsmotivs in Vers 98b (zi Stade mih bibrähta) auf die Vollendung des Gesamtwerks, die zuvor (1-6) im selben Bild ausgedrückt worden war. In der Widmung an Hartmut und Werinbert beziehen sich die Eingangsverse (lf.) ganz offensichtlich auf Otfrids Dichten. 363 CURTIUS, Europäische Literatur, S. 138f.; RAHNER, Symbole, S. 237-564. 364 Zahlreiche Belege bei RAHNER, Symbole, S. 287f. 365 Zur Schiffahrt als Bild christlicher Existenz neben RAHNER (Symbole) für das Spätmittelalter SCHMIDTKE, Geistliche Schiffahrt.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Otfrids Conclusio (und häufig noch darüber hinausgehend) das Bild der Schiffahrt im einzelnen entfaltet und ausgedeutet wird. Wenn Otfrid von seiner Ankunft im Heimathafen spricht, so meint dies den Abschluß, doch kaum das sichere Gelingen des Werks, denn ob ihm die Wiedergabe des göttlichen Worts gelungen ist, kann Otfrid nicht wissen. Ein solcher Anspruch würde auch schlecht zu dem Bewußtsein der prinzipiellen Begrenztheit menschlicher Kraft passen, das sich bereits im Eingangsgebet erwies und etwa auch die konjunktivische Formulierung Si fruma in thesen werkon
(25a)
bewirkt, die offenläßt, ob das Werk etwas Nützliches enthält. Diese Unsicherheit über den Erfolg des Unternehmens - ein altes 366
Epilogmotiv - ist Ausdruck des Bemühens, jeden Anschein von superbia zu vermeiden. In den anschließenden Versen (7-2 2) nennt Otfrid, auf die Anfänge seines Dichtens zurückblickend, als Anlaß seines Werks wie im Schreiben an Liutbert 36 7 Bitten seiner Freunde. Als leitendes Motiv für die Abfassung der Dichtung erscheint hier also die 368
Caritas, deren Bedeutung für seine Theologie Otfrid durch einen kurzen hymnischen Exkurs über ihr Wesen unterstreicht: IS Wanta si ist in war min ist furista Thes selben
innan hüses
thionostes
druhtines
drütin,
sines
thionostes.
giwält,
nist es wiht in thanke
thaz gengit
thuruh ira hant;
mit iru man iz ni wirke!
In ganz besonderer Weise verwirklicht sich die Caritas in der 369 bruederscaf (Ad H. 149), der fraternitas der Mönche . Indem Otfrid immer wieder betont, auf Bitten seiner Freunde zu schreiben"^^, stellt er sein Dichten in den Dienst der monastischen 371 Gemeinschaft . Die Begründung seines Unternehmens mit der Intention des Gotteslobs, die im Eingangsgebet im Vordergrund stand 372 , tritt dagegen nun völlig zurück. Darin liegt keine In366 Schon Prudentius ergeht sich im Epilog zu seinen gesammelten Werken (Bd. 2, S. 372-75) in Beteuerungen seiner Niedrigkeit und der Uninspiriertheit seines Dichtens.
367 Ad Liutb. 5-25. 368 Zur Stellung der Caritas in Otfrids Theologie und zu dichtungstheoretischen Konsequenzen ERNST, Liber EvangeZiorum, S. 11-22. 369 HAUBRICHS, Nekrologische Notizen, S. 51-53; OHLY, Memoria, S. 15f. 370 8f., 12, 14, 2lf. 371 Die Betonung der Caritas als Antrieb seines Schreibens mag auch zusammenhängen mit dem Gedanken der Verdienstlichkeit geistlichen Dichtens. Wenn, wie Vers 18 in Anspielung auf 1 Cor 13,1-3 formuliert, nur das aus dem Geist der Liebe Erwachsene geistlich verdienstvoll ist, so muß sich Otfrid bemühen, diese Motivation nachzuweisen. Zur Rezeption dieses Gedankens in der karolingischen Theologie SCHÖNBACH, Otfridstudien III, S. 398.
Die Schlußgebete des
Evangelienbuchs
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konsequenz, denn die Auffassungen des Evangelienbuchs als Werk der Caritas und als Dichtung zum Lobe Gottes schließen sich nicht aus. Wenn die an Gott gerichtete Invokation den Aspekt des Gotteslobs hervorhebt, während die mit Ausnahme ihrer Schlußverse sich fast ganz dem Leser zuwendende Conclusio voluminis totius die Caritas als Ursprung der Dichtung hervorhebt, so deshalb, weil Gedanken über die Bruderliebe in der an Menschen gerichteten Conolusio einen natürlicheren Platz haben als in einem Gott anredenden Gebet. In den folgenden Versen (2 3-36) bittet Otfrid alle gläubigen Leser seines Werks, das Gute und Nützliche, das in seiner Dichtung liegen mag, Gott zuzuschreiben, die Mängel und Fehler aber der menschlichen Schwachheit des Dichters zuzurechnen. Dieser Epilogtopos nimmt einen zentralen Gedanken des Eingangsgebets wieder auf: die Gefährdung des Werks durch die dumpheit. Deutlicher als in der Invocatio wird hier die in der dumpheit einbegriffene Komponente der Schuld. Die Eigenschaften übili, frävili (31) und ärgi (32), die Otfrid sich zuschreibt, sowie die Selbstbezichtigungen der Lüge (33) und des leichtfertigen Umgangs mit dem Wort Gottes
(thaz ih mir liaz so umbiruah
thio
mines
drühtines buah! 34) sprechen aus, was im Eingangsgebet nur angedeutet war: dumpheit ist ein Zustand der Sünde, den der Mensch vor Gott zu verantworten hat. Die Konsequenz ist - im Eingangs373 gebet ebenso wie hier - eine Bitte um Gottes Gnade: 35 Thero selbun missidato gin&da
thina in w&ra;
thig ih, druhtin, wes meg ih fergon
thräto mera?
In ihrer Kürze wirkt diese Bitte durch die verstärkenden Beteuerungen thräto (35) und in wära (36), durch die Anlautbindungen zwischen den beiden Versen der Strophe (Thero - thig - thräto 374 - thina; missidato - mig - mera) und durch die direkte Anrede Gottes als druhtin (35) durchaus intensiv. In für Otfrid typischer Weise verbindet sie das Bekenntnis der Sündigkeit mit dem 372 I 2,5.17. 373 I 2,19-22. 374 Diese Bindungen gehen über das bei Otfrid auch an vielen unbetonten Stellen Anzutreffende hinaus. Zwar sind Häufungen von "th"-Anlauten wegen der großen Zahl mit "th-" beginnender Wörter an sich nicht auffällig, doch binden sie im vorliegenden Fall mit Ausnahme von Thero (35) Begriffe aneinander, die den Sinn der Bitte wesentlich mittragen. Ä h n liches gilt für die Reihe der "m"-Anlaute. Weniger die Anzahl der durch gleichen Anlaut verbundenen Wörter als ihr semantischer Stellenwert innerhalb der Gesamtaussage der Strophe bewirkt den intensivierenden Effekt.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Vertrauen auf die Gnade Gottes, das die rhetorische Frage in der zweiten Hälfte von Vers 36 impliziert. Der Anfang des in Vers 37 beginnenden neuen Sinnabschnitts behält die syntaktische Form der Anrede an Gott zunächst noch bei (thin,
37), bevor Otfrid zur eindeutig darlegenden Erzählweise
zurückkehrt. Obwohl so der Ubergang zwischen dem kurzen Gebet und der ihm folgenden Versgruppe sprachlich kaum markiert ist, beginnt mit Vers 37 ein ganz neuer inhaltlicher Abschnitt: Otfrid befaßt sich nun mit den zu erwartenden Reaktionen auf sein Werk und lädt wohlmeinende Kritiker ein, seine Fehler zu korri375 gieren, während er die Anwürfe der Neider zurückweist . Durch die Korrekturen der wohlmeinenden Kritiker sollen in der
güati
der Verbesserer die missodati
(46) des Dichters aufgehoben wer-
den. Den Begriffen güati
missodati
und
kommt neben einer ästhe-
tischen auch eine moraltheologische Bedeutung zu, denn da die Fehler des Dichters Resultat seiner sündigen dumpheit
waren, ist
ihre Korrektur ein gutes Werk, das dem wohlmeinenden Verbesserer Ion
fon
drühtine
(47) einträgt. Ohne jedes geistliche Verdienst
ist dagegen das Verhalten des böswilligen Kritikers, dessen Tun mit denselben Ausdrücken belegt wird, die Otfrid zuvor gebrauchte, um die Sündhaftigkeit seiner dumpheit
zu unterstreichen, und
die demnach auch das Handeln des böswilligen Kritikers als Sünde kennzeichnen: Der böswillige Kritiker hat ein übil das ihn übilo
herza
(61; vgl. 31) macht; wegen seines avgan
(63; vgl. 32) ist sein Handeln frävili
(57), willon
(77; vgl. 31); und um das
Handeln des böswilligen Kritikers noch deutlicher als Sünde hinzustellen, werden einige dieser Charakterisierungen mehrfach wiederholt. Vor solcher Kritik bittet Otfrid in einem kurzen Gebetswunsch am Ende dieses Sinnabschnitts bewahrt zu bleiben ( g o t bisklrme
mih
er!
78). Damit wird die Auseinandersetzung mit den
erwarteten Stellungnahmen zu seinem Werk, die mit' einem Vers begann, der Gott anredete (37) , auch durch eine Hinwendung zu Gott beschlossen. Darüber hinaus wendet sich auch der erste Vers des Abschnitts über den Neider (Ih weiz ouh thaz thu irkennist, joh thih iz ünfarholan i s t , 55) 37 6 an Gott. Obwohl die An375 Die Einladung zur Verbesserung und die Abweisung der böswilligen Kritiker sind geläufige Epilogtopoi; man braucht zu ihrer Erklärung nicht
wie ERNST ( L i b e r Evangeliorum,
S. 44f.) an das augustinische Geschichts-
bild der kämpfenden aivitates zu denken. 376 thu und thir meinen hier Gott, wie der zweite Halbvers nahelegt, denn nur Gott ist das Herz der Menschen unverborgen (I 2,23 thaz herza Weist thu filu bäz), nur er also kann wissen, ob eine Stellungnahme zu Otfrids Werk wohlmeinend oder böswillig ist. Die Möglichkeit, daß Otfrid hier den Leser anredet, ist auszuschließen; eine Leseranrede findet sich in der Conolusio voluminis totius nur einmal, nämlich in einer füllversartigen,
Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
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reden an Gott in den Versen 37 und 55 keinen Gebetscharakter zeigen, deutet die insgesamt dreimalige sprachliche Hinwendung zu Gott im Abschnitt über die zu erwartende Kritik doch an, daß Otfrid sich und sein Werk hier in besonderer Weise unter den Schutz Gottes stellt. Dies gilt um so mehr, als Otfrid gerade in der Anrede Gottes zu Beginn der Passage (37) die Korrekturen der wohlwollenden Kritiker ausdrücklich erbittet, ihr gottgefälliges Wirken also unmittelbar Gott gegenüber gutheißt. Dieses sich Fügen in den Willen Gottes, das den Verzicht auf jeden Autorenstolz voraussetzt, erlaubt es Otfrid, Gott am Ende des Sinnabschnitts um so überzeugender um Hilfe gegen die Neider zu bitten (78), die diese Selbstverleugnung des Dichters mißbrauchen und seinem Werk gegen besseres Wissen jeden geistlichen Nutzen absprechen. Was Otfrid in den bisher behandelten vier Sinnabschnitten der Conalusio voluminis totius sagt, ist an sich keineswegs neu und gehört zum festen Bestand von Widmungen, Prologen und ähnlichen Äußerungen. Die Umschreibung der Beendigung des Werks in der 377 Schiffahrtsmetapher , der Verweis auf Bitten von Freunden als 378 Anlaß der Dichtung , die Zuschreibung des Gelungenen an Gott und des Mißratenen an den Dichter 379 und die vorweggenommene 380 Auseinandersetzung mit den Kritikern des Werks sind alle in der lateinischen Literatur vor und neben Otfrid so verbreitet, daß man in Otfrids Conalusio ein 381 Kapitel hat sehen können, das "fast nur aus formein besteht" . Dieses Verdikt geht am Kern der Sache vorbei. Otfrid reiht nicht Formeln aneinander, sondern nimmt traditionelles Gedankengut auf, entwickelt es mehr oder weniger ausführlich und macht es für seine Zwecke fruchtbar. Im Lichte seines Bewußtseins von der Größe und Schwierigkeit der Aufgabe erscheint die Conalusio voluminis totius nicht als nur rhetorische Veranstaltung in gedankenloser Befolgung einer Konvention, sondern als ernste Rückschau auf das Werk, in der das Wissen darum, daß die Vollendung nur mit der Hilfe Gottes gelingen konnte, feierlich zum Ausdruck gebracht werden soll. Dem Bemühen um feierlichen Ernst entspringt das Bild der Schiffahrt, das die Gefährdung des Menschen bei einem Unternehmen wie dem Otfrids, seine Angewiesenheit auf Gott, plastisch vor Augen ausgesprochen formelhaften Wendung (thaz sägen ih thir zi wävu, 22) . 377 S.o. S. 89. 378 Beispiele nennen CURTIUS, Europäische Literatur, S. 94f. , und SIMON, Widmungsbriefe (Archiv für Diplomatik 4) S. 59-65. 379 Parallelen von Augustinus und Hieronymus an stellt zusammen SCHÖNBACH, Otfridstudien III, S. 398-400. 380 Belege bei SIMON (Archiv für Diplomatik 4) S. 87-98, 112-36.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
zu führen vermag. Ähnlich fügen sich die anderen traditionellen Elemente in Otfrids Konzeption ein. Die Zuschreibung der Fehler an den Menschen, des Gelungenen aber an Gott ist Konsequenz des Wissens um die Sündigkeit des Menschen, das in Otfrids Werk wieder und wieder aufscheint; die Beteuerung, das Werk sei durch Freunde veranlaßt, gewinnt durch die Einbettung in die monastische fraternitas eine Bedeutung, die über das bloß Rhetorische hinausreicht; und die Auseinandersetzung mit den Kritikern schließlich geht in zweifacher Weise aus Otfrids Auffassung von seinem Dichten hervor: der Wunsch nach wohlmeinender Kritik resultiert aus der Demut eines Dichters, der weiß, daß er seinen Stoff aus eigener Kraft nur unvollkommen behandeln kann; andererseits gibt ihm seine gute Absicht das Recht, übelwollende Kritiker zurückzuweisen. Im übrigen ist die Auseinandersetzung mit möglicher Kritik in einem Werk, das - selbst nach dem Vorangang des "Heliand" - neue Wege beschreitet, sicher anders zu bewerten als in einer Dichtung, die sich an altbewährte und anerkannte Formen hält. Aus dem Auftreten ähnlicher Elemente in verschiedenen Gattungen und Sprachen ist keine fraglose Identität der Funktion abzuleiten. Was in der lateinischen Legende bloße Befolgung einer Regel der Rhetorik sein mag, kann in einer volkssprachigen Bibeldichtung mit individueller Bedeutung gefüllt sein. Während in den bisherigen Abschnitten der Conclusio voluminis totius Gebete und andere Anreden an Gott eine eher untergeordnete Rolle spielen, ist der letzte Teil des Kapitels ganz von ihnen bestimmt. Der Schlußabschnitt der Conclusio beginnt mit 382 Vers 87 , der mit einer Hinwendung des Dichters an sein Publikum eine Gebetsaufforderung, nämlich eine Bitte um Fürbitte für den Verfasser, einleitet, die an die Aussagen über die Kritiker anknüpft und sinnvoll aus diesen hervorgeht: 87 Nu bifllu allen Thäz
ih mih
götes
thie
theganon
selbun
mit worton
hiar
sm&hi
mih ginüagen
then beziron mit min
selben
allen
Kristes
in gihugti zi drühtine
in
war,
seganon;
muazin
iro
gifüagen
-
sin,
Da Voraussetzung eines Gebets für einen anderen das Wissen um seine geistliche Bedürftigkeit ist, bittet Otfrid seine Leser und Hörer als erstes darum, seine smähi in ihr Gedächtnis auf381 SCHÖNBACH, Otfridstudien III, S. 396. 382 Auch die Handschrift V markiert hier durch eine Strophengruppeninitiale einen Einschnitt (KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 210).
95
Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
zunehmen (89) , damit aus der Erinnerung an die Bitte des Dichters das Gebet für ihn erwachsen kann. Otfrid wendet sich zunächst an die wohlmeinenden Kritiker (die beziron, 87) und dann, über diesen Kreis hinaus, an alle Diener Gottes (88) , worunter vielleicht nicht nur die Gläubigen, sondern auch die Erlösten im 383
ewigen Leben und die Heiligen mitverstanden sind . Seine Bitte führt zu einer Nennung Gottes, an den sich alle Fürbitte und Fürsprache zu richten hat (90b), und von der Nennung des druhtin an geht die Bitte um Fürbitte über in ein Lob- und Dankgebet, das der Dichter direkt und ohne Vermittler an Christus richtet, wenn auch nicht in der persönlichen Du-Anrede, sondern in der feierlicheren Er-Form: 91 Io sär in themo friste zi wältanteru
zi wältantemo
henti
äna theheinig
Themo si güalliohi
thaz er min githähta, Thoh ih tharzua 100
hügge,
bin mir menthenti Si güallichi
in äbgrunte
joh männon
Ther mih hiar so gidrösta,
richi,
si diuri sin io
In erdu joh in himile, mit engilon
enti;
ubar ällaz sinaz
ubar alio wörolti 95
Kriste,
zi städe mih thoh saowon
thera ensti
lob ouh thera giwelti In erdu joh in himile, mit engilon joh männon
ouh hiar
in ewinigen
thero ärabeito
in stade
wönanti; nidere,
sängon!
irlästa,
bibrähta.
sio zi rügge,
stäntenti. thiu mir thes io äna theheinig in äbgrunte
gionsti,
enti
ouh hiar
in ewinigen
nidere,
sängon! Amen.
Die Syntax vollzieht die Akzentverschiebung in Vers 91 zunächst nicht mit. Dem Übergang von der Bitte um Fürbitte zum Gotteslob entspricht kein syntaktischer Einschnitt, sondern wenigstens die Verse 91 f. hängen grammatisch noch vom Vorhergehenden ab384 , mit dem sie inhaltlich in weit weniger engem Zusammenhang stehen als mit dem, was ihnen folgt 38S . Syntaktische und inhaltliche Glie383 Der genaue Bedeutungsumfang von thegan im geistlichen Bereich ist nicht eindeutig zu klären. KELLE (Glossar, S. 598f.) zählt an religiösen Bedeutungen auf: 'Jünger Christi', 'verschiedene Personen des alten und neuen Testamentes', 'Diener Gottes 1 (dabei sind, wie die Beispiele zeigen, mitunter 'im Paradies' befindliche Gläubige mitgemeint), 'Evangelisten', 'Kirchenlehrer' und schließlich 'Engel'. 384 EDWARD SCHRÖDER (Otfrids Evangelienbuch, hg. von ERDMANN, S. 265) läßt das in Vers 87 beginnende Satzgefüge sogar erst nach Vers 96 enden. 385 Vers 91 führt den Gedanken der Allmacht Gottes ein, der in der Bitte um Fürbitte keine Rolle spielte, im Schlußgebet des Dichters aber zentral wird.
96
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
derung laufen hier nicht parallel, sondern der Satzbau verhakt zwei an sich unabhängige, wenn auch nicht sinnfremde Sinnabschnitte miteinander und schafft so einen fließenden Übergang von einem Gedanken zum nächsten. Das in dieser Weise an die Bitte um Fürbitte angeschlossene Gebet ist durch einen ausführlichen Verweis auf die Situation des Dichters am Abschluß seines Werks (97-100) als eines der Schlußgebete des Evangelienbuchs gekennzeichnet und nimmt am Ende des Epilogs den für ein Gebet dieser Art naheliegenden Ort ein. Sein Inhalt ist das Lob Christi, der jedoch nicht ausschließlich verherrlicht wird als Spender des Beistands bei der Abfassung der Dichtung, sondern zunächst und vor allem als allmächtiger und ewiger Herrscher über Himmel und Erde, ein Aspekt, den auch die kehrversartigen Teile des Gebets aufnehmen, so daß das Lob der göttlichen Allmacht die Rolle Christi als Spender des Beistands im Dichten fast in den Hintergrund drängt: neun der 14 Verse preisen Christi Ewigkeit und Allmacht (91-96, 102-04), und nur die restlichen zweieinhalb Strophen loben ihn als den, der den Dichter thero
ärabeito
irlösta
(97). In den
Versen, die sich mit der Bedeutung Gottes für den Dichtprozeß befassen, findet sich kein ausdrücklicher Dank für die gewährte Gnade; Otfrids Dank spricht sich allein in der Verherrlichung Gottes aus, die die Konsequenz seiner Dankbarkeit ist und diese impliziert. Daneben haben diese Verse vielleicht noch einen zweiten Sinn. Ihre zentralen Begriffe beziehen sich alle nicht ausschließlich auf die besondere Erfahrung des Dichters, sondern auch, allgemeiner, auf die christliche Existenz schlechthin. Für irlosen 386 und drost (gidrosta, 97) ist dies offensichtlich, arabeit steht bei Otfrid so oft für die Plagen des Erdenlebens, daß eine entsprechende Bedeutungsfärbung auch hier angenommen werden 387 kann , und die Schiffahrtsmetapher erscheint in der christlichen Tradition noch häufiger für 388 den Weg des Christen zum Heil denn als Bild für das Dichten . Daher liegt es nahe, diese Verse nicht nur auf Otfrids spezielle Situation, sondern außerdem auf den Lebensweg jedes Christen zu beziehen. Der Otfrid ge(Glossar, S. 78f., 176f., Artikel drost, ist für dieses Wortfeld eine beträchtliche religiöse Färbung anzunehmen. Insbesondere für gidrdstu nennt KELLE kaum einen Beleg, in dem von anderer als der von Gott gewährten Hilfe die Rede ist. 387 KELLE, Glossar, S. 19f. Otfrids Beschreibung des Zustandes der Menschheit nach der Vertreibung aus dem Paradies (I 18,23 ärabeiti mänego sint uns hiar Ίο g&rawo) ist ein typisches Beispiel. 388 RAHNER, Symbole.
386 Nach den Belegen bei KELLE
drSstolds,
drostu,
gidrostu)
Die Schlußgebete des
97
Evangelienbuchs
währte Beistand im Dichten stünde dann als Zeichen für die allen Menschen geschenkte Gnade der Erlösung, die Schiffahrt des Dichters zum glücklichen Abschluß seines Werks für den Lebensweg des Gläubigen zum Heil. Vor allem aber preist Otfrid Christus im Schlußgebet der Conalusio volum-Lnis totius als allmächtig und ewig. Die Art und
Weise, in der dabei der Begriff enti in Verbindung sowohl mit dem Dichter als auch mit Gott erscheint - zur Beschreibung der zu keinem Ende gelangenden Ewigkeit Gottes einerseits, der Beendigung des Werks durch den Dichter andererseits -, gestattet es, beides aufeinander zu beziehen. Wenn Christus herrscht äna theheinig
enti
(92), der Dichter aber thero ärabeito
zi ente
(7)
ist und duan nu enti (4) will, so hebt dies den Gegensatz zwischen der Unendlichkeit Gottes und der Begrenztheit des Menschen in besonderer Weise hervor. Auch an anderen Stellen neigt Otfrid dazu, Gott und Mensch einander gegenüberzustellen - erinnert sei nur an Inhalt und Bau der ersten Verse der Invocatio sariptoris 389 ad Deum . Wie dort, so liegt auch hier ein tieferer Sinn in dieser Konfrontation verborgen: Gerade indem der Mensch trotz des Wissens um seine Begrenztheit ein gottgefälliges Werk unternimmt, erwirbt er Anteil an der Unendlichkeit des göttlichen Heils und gelangt gerade durch die sinnvolle 390Verwendung seiner begrenzten Kräfte zur Unendlichkeit Gottes Unter formalem Aspekt zeigt das Schlußgebet der Conolusio voluminis totius eine prinzipiell zweigliedrige Struktur, deren zwei Bauelemente jedoch nicht ganz leicht gegeneinander abzugrenzen sind. Das Gebet besitzt zweifellos eine Art von Refrain, doch besteht keine Einigkeit 391 darüber, welche Verse hierzu zu zählen sind. Während Erdmann im Druckbild die Verse 9 3-96 und 101-04 vom fortlaufenden Text absetzt, weist Kleiber mit Recht darauf hin, daß "nur die letzte Strophe der Vierzeiler wirklich gleich ist, die zwei Anfangsverse 392 in beiden Refrains dagegen nur inhaltliche Responsion zeigen" . Trotzdem hat Erdmanns Vorgehen seine Berechtigung. Es sind nämlich nicht nur die ersten Halbverse der von ihm geschaffenen Gruppen sehr ähnlich (Themo si giiallichi, 93a; Si güalliohi thera ensti, 101a) 393 , sondern 389 S.o. S. 31-37, 65f. 390 Da Otfrid Derartiges nie unzweideutig formuliert, bleiben solche Überlegungen notwendig spekulativ. 391 Otfrids Evangelienbuch, S. 265. 392 KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 232. 393 Die Ähnlichkeit gerade der Eingangsverse dieser Versgruppen, die KLEIBER (Otfrid von Weißenburg, S. 232) nicht genügend beachtet, wird besonders beim Vortrag des Textes relevant. Für den Hörer stellt sich von Vers 101 aus ein Rückbezug zu Vers 93 her. Er wird daher die beiden refrainartigen
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
vor allem inhaltlich sind die von Erdmann hervorgehobenen Vierergruppen in sich einheitlich. Sie erfüllen beide dieselbe Funktion: Während die nicht kehrversartigen Strophen (91f., 97-100) jeweils den Aspekt nennen, unter dem Christus gepriesen wird, formulieren die refrainartigen zweimal vier Verse das eigentliche Gotteslob. Die alternierende Anordnung der Aussagen des Gebets (erster Aspekt - entsprechendes Lob - zweiter Aspekt - entsprechendes Lob) spiegelt sich also in einer formalen Alternation, die freilich mit dem modernen Begriff Kehrvers nur ungenau zu erfassen ist. Die in der jeweils ersten Hälfte der kehrversartigen Strophengruppen auftretenden Variationen dienen der engeren Verbindung mit dem Vorausgehenden. Da die Verse 91 f. von Christus sprechen als dem, der ewig und allmächtig herrscht, nimmt auch der erste Teil der zugehörigen refrainartigen Gruppe diesen Gedanken auf; entsprechend bezieht sich der erste Teil der zweiten kehrversartigen Gruppe auf den ihr vorhergehenden Preis Christi als Beistand im Leben und im Dichten. Der eigentliche Refrain im strengen Sinne, also die letzte, unverändert bleibende Strophe jeder kehrversartigen Gruppe (95f., 103f.), setzt dann das Gotteslob fort, indem er die Allgegenwart und ewige Dauer des himmlischen Lobgesangs beschwört. Die Vorstellung vom himmlischen Gesang schließt an die Beschreibung der ewigen Freude der Erlösten in 394 Kapitel V 23 an , so daß das Ende der Conclusio voluminis totius das im letzten Abschnitt des Evangelienberichts Geschilderte einholt. Indem das Ende des Dichtergebets am Schluß der Conclusio so den Blick freigibt auf die allen Christen gemeinsame Hoffnung auf die ewige Freude, und indem diese Öffnung sich gerade in Form eines kurzen Refrains vollzieht, der die Hörerschaft zum aktiven Mitsprechen, zum tätigen Mitvollzug einlädt, geht das Gebet über seinen Anlaß hinaus: Obwohl Otfrids Gebet am Ende der Conclusio
voluminis
totius von der Situation des
Dichters am Abschluß seines Werks ausgeht und von ihr spricht, bleibt es nicht bei sich selbst, sondern nimmt alle Gläubigen in die in ihm eröffnete Perspektive auf die ewige Freude mit hinein. Das Gebet zu Beginn der Widmung an Hartmut und Werinbert nimmt den Gedanken der Beendigung des Werks wieder auf. Während aber im Gebet am Ende der Conclusio voluminis totius der Schwerpunkt auf dem Gotteslob und dem dadurch implizierten Dank für die Versgruppen in ihrer Gesamtheit, nicht nur ihre identischen zweiten Teile, aufeinander beziehen. 394 V 23,175-204.
Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
99
Vollendung der Dichtung lag, stehen hier nun die Bitten Otfrids im Mittelpunkt: 1 Oba ih thero gikrümpti Thuruh
thero
Kristes
thuruh
5 Firdilo thaz Rihti
büaaho
sina
hiar
pedi
kruzi
thio
Drühtin,
düaz
thin gibot
30h,
thes
thar
sconi;
thuruh
evangäli
-ih hiar
thaz
wizi,
drühtin,
drühtin,
mir
thaz
bi thiu
fritho
F;
drühtin,
mit
R
ih thaz giwisso
thiu wirk
firdilo
15 Sar io nü giwaro ellu Uuanta
jär innan unser
thaz
minu
weiz
ni s
ih filu
thülta
thaz thes
lib seal
ih thes wirthig
ginäda, ih thir joh daga
wesan
thaz
drühtin,
thiono mines wir
thir
giz&mi,
ih
if mih;
thräto
manag Uueiz
T.
gileiti,
ih es wirdig
firdanan
thürf
thine,
in ewon,
thoh
meid,
mih
drüta
0:
thanne
in himilriches
düa mir
thih,
ih ofto
ther
dröf,
wisi,
missikerti,
quit
sin thie
gifrewi
joh mih io th&ra
iawiht
es ist mir,
däti
mine
In himilriches
thero
bimide
gibürt;
muat
hiar
redino
ih ni m&ngolo
joh minaz
10
güati
was ouh
lei
D.
so;
thin
U
zioro libe
S!
thionost
duen
io
thinaz, thaz
hüggen
thera
wünnu
mit Kristes
selbes
minn
u.
Das Gebet, das zunächst die Tilgung der im Dichten begangenen Sünden erstrebt, weitet sich mehr und mehr zur Bitte um Leitung auf dem Weg durch die Welt zum ewigen Leben, eine Gnade, die der Dichter, obwohl das Gebet Teil eines Widmungsschreibens ist, hier für sich allein erbittet - erst am Schluß der Widmung wird auch der St. Galler Mönche im Gebet gedacht. Dies zeigt, wie sehr dieses Gebet, obwohl es in einer Widmung steht, der persönlichen Situation des Dichters am Ende seines Werks verhaftet ist. Das Gebet im engeren Sinne umfaßt die Verse 1-16; die dann folgende Strophe ist trotz der Anrede an Gott nicht mehr gebethaft, sondern bildet eine sentenzhafte Überleitung zum knappen, predigthaften Uberblick über die Heilsgeschichte unter dem Aspekt des Schicksals der Gottesfürchtigen und der Gottlosen nach dem Tode. Demnach lassen sich in dem Gott anredenden Gebet in den ersten Versen der Widmung an Hartmut und Werinbert drei Sinnabschnitte unterscheiden: die Bitte um Vergebung der im Dichten begangenen Sünden, die Erweiterung des Aspekts zur Bitte um ein christliches Leben und die ewige Seligkeit, und schließ-
100
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
lieh eine zum Hauptteil der Widmung überleitende Strophe ohne wirklichen Gebetscharakter. Die Grenze zwischen dem ersten und dem zweiten Sinnabschnitt ist nicht scharf; sie dürfte am sinnvollsten nach der ersten Hälfte von Vers 5 anzusetzen sein, also vor der ersten Bitte um göttliche Führung auf dem Weg zum ewigen Leben. Die Metaphorik der ersten Verse, in denen es um mögliche Sünden Otfrids in seinem Dichten geht, deutet an, worin die Relevanz solcher Verfehlungen liegt. Eine Schlüsselstelle ist hier die Metapher der gekrümmten Rede (2), die zwar in Otfrids Dichtung nur an dieser einen Stelle vorkommt 395 , jedoch deutbar wird durch den Gegenbegriff slihti,
der bei Otfrid in dichtungstheo396 retischem Kontext - neben der 'Geradheit der Prosa' - die 397 'Schlichtheit des Buchstabensinns' bezeichnet. Die Verkrümmung des Evangelienworts bedeutet also die falsche Darstellung des biblischen Geschehens auf der historischen Ebene, die, da jede Allegorese vom sensus
lateralis
auszugehen hat, eine Fehl-
interpretation auf der Ebene des geistlichen Sinns nach sich zieht. Die Konsequenzen veranschaulicht das Verb (missikirti,
missikeren
1): Wenn Otfrid in der Darstellung des Bibelge-
schehens irrt, so ist sein Werk kein Wegweiser auf dem Weg zum Heil, sondern selbst ein Irrweg; dem Dichter kann ein fehlerhaftes Werk keinen geistlichen Lohn erwerben und ihn dem Heil nicht näherbringen. Wie Otfrid aus diesem Wissen heraus in der Invokation zu Beginn des Werks Gott im vornherein um die Vergebung aus dumpheit
begangener Verfälschungen hat, 398 so wiederholt er diese Bitte nun am Ende seiner Dichtung . Seine Hoffnung auf Vergebung beruft sich auf die Geburt und den Tod Christi und damit auf zwei Zentralereignisse der Heilsgeschichte, die die Selbstentäußerung Gottes um der Menschen willen am deutlichsten offenbaren und auf die Liebe Gottes verweisen, die es dem Dichter ermöglicht, trotz seiner Sünden die göttliche Gnade zu erflehen. Otfrid betont, daß er nicht aufgrund eigener Verdienste, sondern allein um der Erlösungstat Christi willen auf Gottes Erbarmen hofft, und läßt damit einmal mehr sein Bewußtsein von der Sündigkeit des Menschen erkennen.
395 KELLE, Glossar, S. 192. 396 HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 393 mit Verweis auf I 1,15.19f.30f. 397 HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 393 mit Bezug auf II 10,9, wo Otfrid vom historischen Sinn der Bibel als thero büahstabo slihti spricht. 398 Der Begriff dumpheit fällt hier zwar nicht, doch ist nur auf dem Hintergrund der Theorie der sündigen stultitia verständlich, warum Otfrid seine Irrtümer als Sünden begreift.
Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
101
Etwa von Vers 4 an ändert sich der Ton des Gebets; Otfrids Ausdrucksweise wird unmittelbarer und dringlicher. War seine erste Bitte optativisch formuliert, so geht er in der zweiten Hälfte von Vers 4 zur direkten Anrede an Gott über, die nun bis zum Ende des Gebets beibehalten wird. Mit dem Wechsel des Modus geht eine Häufung namentlicher Anrufungen Gottes als druhtin
ein-
her, die sich von nun an durch das gesamte Gebet ziehen (4, 5, 8, 11, 14). Der Änderung des Tonfalls entspricht etwa von der zweiten Hälfte von Vers 5 an eine Ausweitung des Gebetsanliegens, das für den Rest des Gebets nicht mehr allein in der Vergebung der beim Dichten begangenen Verfehlungen liegt, sondern in der Tilgung aller Sünden des Beters überhaupt und darüber hinaus in der Führung zum ewigen Leben. Beherrschend ist zunächst die Wegmetaphorik, die bereits im Bild des Irrwegs (1) anklang und nun an den mehrfachen, die Intensität des Gebets steigernden Variationen der Bitte um ein gottgefälliges Leben und die ewige Seligkeit maßgebend beteiligt ist (5-10). Auf diesen das Bild vom Weg des ewigen Heils ausmalenden Komplex von Bitten folgt eine umfassende Confessio
des Dichters (11b—13),
der sich als Sünder bekennt und das in der Welt zu ertragende Leid als Konsequenz der Sünde und als deren zeitliche Strafe interpretiert. Die Confessio
mündet schließlich in eine nochma-
lige Bitte um die Tilgung sämtlicher Sünden und um die Gnade, Gott in angemessener Weise das ganze Leben lang dienen zu dürfen (14-16). Otfrids Bittgebet in den ersten Versen der Widmung an Hartmut und Werinbert ist, abgesehen von dem Segenswunsch in der Überschrift des Schreibens an Liutbert, das einzige Gebet, in dem der Dichter seinen Namen nennt, und er tut es auch hier eher 399 versteckt . Der Anteil, den diese Gebetsstrophen an dem die gesamte Widmung umfassenden Akrostichon und Telestichon haben, bildet gerade den Namen OTFRIDUS^00.
Ein Grund für die Namens-
nennung mag, wie bei vielen Dichtern nicht nur der Karolingerzeit, die Absicht sein, dem Leser das namentliche Gebet für 401 den Dichter zu ermöglichen , doch legt eine solche Intention zwar die Namensnennung in einer Widmungsüberschrift oder im Zu399 Sonst nennt Otfrid sich nur außerhalb von Gebeten: in der Überschrift der Widmung an Hartmut und Werinbert und in Überschrift und Akroteleuton des Schreibens an Salomo. 400 Zum Akrostichon in der karolingischen Literatur ERNST, Liber Evangeliorum, S- 209f. 401 KLOPSCH, Dichtungslehren, S. 23; OHLY, Memoria, S. 18. Wie wichtig das namentliche Gedenken genommen wurde, zeigen die Libvi Memoriales und die Nekrologien, die in der Eucharistie und im Stundengebet verlesen wurden. Dazu OEXLE, Memoria.
102
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
sammenhang einer Bitte um Fürbitte nahe, erklärt aber nicht, warum Otfrid sich in verschlüsselter Form auch in seinem eigenen Bittgebet nennt, so daß sein Name zweifach in der Widmung erscheint, zum einen im Klartext in der Überschrift, zum anderen in verschlüsselter Form in den Strophenanfängen und -schlüssen. Dennoch ist die Namensnennung Otfrids in seinem Bittgebet sinnvoll. Wenn der Name des Dichters in Akrostichon und Telestichon Anfänge und Schlüsse der Gebetsstrophen bestimmt und überdies im Inneren der Strophen nochmals vorkommt - wegen des Reims bilden die letzten Buchstaben des dritten Halbverses jeder Strophe 402 ein Mesostichon -, so bekräftigt dies das im Gebet Gesagte; der Dichter, dessen Name die das Gebet bildenden Strophen von allen Seiten umschließt, gibt zu verstehen, daß er mit seiner ganzen Person hinter den Bekenntnissen und Bitten des Gebets steht. Diese Bekräftigung wendet sich nicht primär an den Hörer oder Leser, sondern an Gott. Sie ist deshalb unabhängig davon, ob ein menschlicher Rezipient sie wahrnimmt oder versteht. Gott, 403 der in das Herz des Menschen blickt , wird sie trotz ihrer Verschlüsselung nicht verborgen bleiben. Die Tatsache, daß in Vers 16 die durch Akrostichon und Telestichon mit dem Namen des Verfassers zusammengebundene Strophengruppe endet, weist ebenso wie die offensichtliche Funktion dieses Verses als bekräftigende Schlußwendung darauf hin, daß mit Vers 17 ein neuer Abschnitt der Widmung beginnt, wenngleich die sprachliche Form der Anrede an Gott zunächst noch beibehalten wird. Inhaltlich leiten die Verse 17f. vom Gebet des Dichters zum darlegenden Hauptteil der Dedikation über, denn sie nehmen zwar den Schlußgedanken des Gebets des Verfassers, die Vorstellung des das ganze Leben umfassenden Gottesdienstes, wieder auf, jedoch nicht mehr in Form einer Bitte, sondern als an die Lebensführung aller Gläubigen zu richtende Forderung. Dies bereitet vor auf die mit Vers 19 einsetzende Betrachtung ausgewählter Gestalten der Heilsgeschichte vor und nach der Erlösung durch Christus, an denen aufgezeigt wird, daß ein gottgefälliges Leben zum ewigen Heil, die Sünde404 aber zur Verdammnis führt (19-114, kurz rekapituliert 135-46) . Die Darstellung gipfelt in der Ermah402 ERNST, Libev Evangeliorum, s. 210f. 403 I 2,23f. 404 Zum augustinischen Ursprung dieser Interpretation der Heilsgeschichte KRAUS, Gottesbürgerschaft, S. 2-35. Der Akzent liegt bei Otfrid allerdings nicht auf den geschichtstheologischen Implikationen der Aufspaltung der Menschheit in eivitas Dei und civitas diaboli, sondern auf dem Pastoralen Aspekt: Die Vorführung repräsentativer Einzelfiguren aus der
civitas sanctorum und der civitas iniquorumi demonstriert, was der Gläubige zu tun hat, um zur Gemeinschaft der Heiligen zu gelangen.
(Ähnlich
103
Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
nung, sich die Guten zum Vorbild zu nehmen, von den Bösen aber fernzuhalten zur aaritas
(114-26), und in dem sich hieraus ergebenden Aufruf (127-34), die allein ein gelingendes Leben gewähr-
leisten könne, denn durch die Bruderliebe erwerbe sich der Mönch die Liebe Gottes:
129 Minna
thiu diura
brüaderscaf
(theist k&ritas
in wära),
(ih sägen thir ein) - thiu gileitit
Oha wir unsih minnon: joh minnot
so birun wir werd
unsih thr&to
selb druhtin
unsih
heiM.
mannon, unser güat
0 -
Wer dagegen nicht aus dem Geiste der Brüderlichkeit lebt, verfällt der ewigen Strafe
(133f.)·
Konsequent lädt Otfrid am Ende der Widmung die St. Galler Freunde zu einem gegenseitigen Werk der Bruderliebe ein, zu einer persönlichen Gebetsverbrüderung, die um so näher lag, als die Klöster St. Gallen und Weißenburg ohnehin in einer Gebetsgemeinschaft verbunden w a r e n ^ ^ :
149 Mit käritate
ih fergon
(so brüedersaaf
thi unsih saono, so gizäm, Ofono thio guati in gibete
Ci selben
thiu mines selbes
sanate Pätre,
In himilisgo soöwon Simbolon
in ewon,
wir muazin frewen 165
nidiri
(joh muazin
ζάΐ
A,
fr&wen
Joh allen io zi gamane thie däges joh nähtes
I,
iamer sines thanke güatan,
thiu ewiniga
themo beilegen thuruh not
thar
heili;
gisämane, sanote
Gallen
thionont!
auch KRAUS, S. 3). 405 HAUBRICHS, Weißenburger Mönchslisten; S. 16f.
H;
giwon;
joh Werinbrahtan
mit in si ouh mir gimeini
this!)
ouh iui
ziar
thes sint thie sine thar unsih thes
C;
seltsani
joh thio kwinigun
Krist halte Härtmuatan
unsih
joh thär gifrewe
thaz wir thaz
thar in wäri
N!
thoh ih ni si es wirthi
thara gileite mih sc6ni,
Galle
ther so giang in then se ,
tiöhi er uns thes himiles insperre,
thigget,
thaz ir bimidet
thaz er si uns ginathia, 160
0;
zi selben sanoti
in wara
M) :
gimuati
joh mir ginäda
mit minnon filu föllen, duat iu gihügt
na
iues selbes dät
Ni l&zet ni ir gihügget 155 Afur thära widiri
giwön,
fon selben sätanase
joh düat mir thaz
thrato
ist
'Studienfreunde 1 ; OHLY, Memoria,
S!
104
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Diese Versgruppe gliedert sich in vier Sinnabschnitte: Auf die Bitte Otfrids um das Gebet Hartmuts und Werinberts zum Heiligen Gallus (149-54) folgt sein Versprechen, für diese seinerseits beim Heiligen Petrus einzutreten (155-58), eine Ankündigung, die sich sogleich erfüllt und in das gelobte Bittgebet übergeht (159-64). Mit Vers 165 ändert sich der Adressat des Gebets. Die verbleibenden Verse richten sich an Christus und rufen seine Gnade auf Otfrid, die Empfänger des Widmungsschreibens und alle St. Galler Mönche herab. Otfrids Bitte um Fürbitte beruht ganz auf dem Bemühen um ein Leben im Geiste der Caritas, das in der Gebetsgemeinschaft mit den St. Galler Freunden praktisch werden soll; der Gedanke an mögliche Verfehlungen in seinem Dichten, von dem noch die Bitten in den ersten Versen der Widmung ausgegangen waren, spielt hier keine Rolle mehr. Die von Hartmut und Werinbert erhoffte Fürbitte soll sich nicht unmittelbar an Gott richten, sondern an den Patron ihres Klosters; ebenso verspricht Otfrid den Schutzpatron von Weißenburg anzurufen . Diesem wird eine Machtfülle zugesprochen, die über die gewöhnliche Rolle der Heiligen als Fürsprecher der Menschen vor Gott weit hinausgeht: Der Heilige Petrus besitzt die Gewalt, den Menschen nicht nur auf dem Weg zum Heil zu leiten, sondern ihm sogar das Himmelstor zu öffnen (158-61). Zur Unterstreichung der Macht des Heiligen Petrus 407 dient die kurze Erinnerung an Petrus' Gang über das Wasser Das ewige Leben, das Petrus dem Menschen eröffnen kann, wird in den Versen 159-64 in variierenden Ausdrücken immer neu beschrieben; Otfrid strebt offensichtlich danach, diese Vorstellung so intensiv wie nur möglich zu evozieren. Mit Vers 164 endet Otfrids Heiligenanrufung, und die Schlußstrophe dieses Gebets ist zugleich die letzte, die am Akrostichon und Telestichon beteiligt ist. In dem Abschnitt der Widmung, der die Gebetsverbrüderung zum Thema hat (149-64), zeigt sich eine ähnliche Kongruenz zwischen der Aussage des Akrostichons und dem Inhalt der entsprechenden Verse, wie sie schon am 406 Auch in St. Gallen hatte die Petrusverehrung Tradition. Spätestens 820 gab es dort einen Petrusaltar; schon vorher hatte eine Petruskapelle bestanden. (ZWÖLFER, Sankt Peter, S. 103.) 407 Mt 14,28-31. - Die besondere Verehrung des Heiligen Petrus ist für die gesamte karolingische Epoche kennzeichnend (VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 78). Sie geht letztlich zurück auf seine durch die Verleihung der Bindegewalt ausgezeichnete Stellung unter den Aposteln. Indem die Bibel die Verleihung dieser Macht an den Heiligen in das Bild der Übergabe der Himmelsschlüssel faßt (Mt 16,19 Et tibi dabo alaves vegni aaelorvm) , schafft sie die Grundlage für die Vorstellung von Petrus als Himmelspförtner. Zur Entstehung des Petruskults im Frankenreich ZWÖLFER, Sankt Peter, S. 64-151.
Die Schlußgebete des
105
Evangelienbuchs
Anfang des Schreibens an Hartmut und Werinbert zu beobachten war: Die Anfänge und Schlüsse der Verse, die die Einladung zur Gebetsgemeinschaft und Otfrids sofortige Einlösung des Gebetsversprechens beinhalten, bilden das Wort MONACHIS, das auf die Gemeinschaft von Verfasser und Empfängern des Widmungsschreibens hindeutet, die ja alle Mönche sind. Durch die versteckte Bezeichnung Otfrids, Hartmuts und Werinberts mit einem einzigen, gemeinsamen Begriff versinnbildlichen Akrostichon und Telestichon die durch die Gebetsverbrüderung entstehende geistliche Einheit, zu der Otfrid seine St. Galler Freunde einlädt. Die letzten vier Verse, die außerhalb von Akrostichon und Telestichon stehen und damit vom übrigen Teil der Widmung recht deutlich abgegrenzt sind, sind dem in Widmungsschreiben zwar nicht verbindlichen, aber nicht seltenen Schlußwunsch vergleichbar. Inhaltlich setzt sich hier die Bitte um das ewige Leben fort, die bereits das vorhergehende Gebet zum Heiligen Petrus bestimmte, doch ist der Adressat der Bitte nun Christus selbst. Im Unterschied zu den bisherigen Gebeten in der Widmung an Hartmut und Werinbert bleibt das Gebet nun nicht mehr auf den Dichter" und seine Freunde beschränkt, sondern die ewige Seligkeit wird auch erfleht für alle übrigen Mönche im Kloster St. Gallen. Die Ausweitung des Kreises derer, für die gebetet wird, ist Ausdruck der umfassenden Gebetsgemeinschaft, die zwischen deren Kloster und Weißenburg besteht. Wenn Otfrid das Leben der St. Galler Mönche charakterisiert als unablässiges Dienen in der Verehrung des Heiligen
(168 thie
däges
joh
nähtes
thuruh
not
thar
sanote Gallen thionont!), so klingt damit in der letzten Zeile der Widmung und im letzten Vers des Werks das von Otfrid zu Beginn des Schreibens an Hartmut und Werinbert (15-18) aufgestellte Ideal des christlichen Lebens als unaufhörlicher Gottesdienst noch einmal an.
Wie sich zeigte, ist die Entscheidung darüber, welche der sich in den letzten Kapiteln häufenden Gebete des Verfassers als Schlußgebete des Gesamtwerks anzusehen sind, nicht unproblema4 0 8 SIMON, Widmungsbriefe (Archiv für Diplomatik 5 / 6 ) S. 1 4 4 . - Ein Otfrid durch seinen Verfasser besonders nahestehendes Beispiel ist etwa die Schlußbitte des "Prologus ad Otgarium archiepiscopum Moguntinum" im Sapientia-Kommentar des Hrabanus Maurus. Wie bei Otfrid besteht der Schlußwunsch im wesentlichen aus einem Gebet für den Adressaten, in das sich anders als in den letzten vier Versen von Otfrids Evangelienbuch der Absender jedoch nicht einschließt. Statt dessen bittet er um das Gedenken - und das meint das Gebet - des Widmungsempfängers: Sanata Deus
Trinitas et indivisa unitas dileationem in a&ternam conservare dignetur, sancte 672c).
tuam itlassam et inoontanrinatam Pater, memor sis nostri. (PL 109,
106
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
tisch. Formale Kriterien reichen für diese Entscheidung nicht aus - durch eine vermeintliche formale Symmetrie zu den Eingangskapiteln des Werks war man etwa dazu gelangt, die Oratio im vorletzten gezählten Kapitel (V 24) als Schlußgebet der Dichtung, die Conclusio voluminis totius als ihren weltlichen Schluß zu 409 interpretieren . Dies erwies sich jedoch bei Betrachtung des Inhalts als irrig, denn die Oratio ist trotz ihrer formalen Selbständigkeit mit den vorhergehenden Kapiteln eng verbunden und nur auf diese bezogen; sie scheidet damit als Schlußgebet des Gesamtwerks aus. Andererseits ergab sich, daß unter dem Gesichtspunkt des Inhalts nicht nur die Gebete der Conclusio
volu-
minis totius, sondern auch die Bitten in den ersten Versen der Widmung an Hartmut und Werinbert als Schlußgebet zum Gesamtwerk aufzufassen sind, denn auch diese beziehen sich, wie es von einem Schlußgebet zum gesamten Evangelienbuch zu erwarten ist, auf die Situation des Dichters am Ende seines Werks. Da die nachgestellte Widmung hierdurch eng an die Conolusio voluminis
totius
angebunden wird, verwischt sich die Grenze zwischen Dichtung und Begleitschreiben. Auch die Schlußverse dieser Widmung mit der letzten Hinwendung des Verfassers an Gott mußten in die Betrachtung der Schlußgebete einbezogen werden. Ihr Stellenwert innerhalb der Schlußkapitel des Evangelienbuchs war zunächst noch offen geblieben. Er läßt sich auch jetzt nicht eindeutig klären. Gegen die Auffassung dieses Gebetskomplexes als Schlußgebet zum Gesamtwerk spricht, daß er sich nicht auf die gesamte Dichtung bezieht - der Gedanke an Otfrids Dichten kommt in ihm nicht mehr vor -, sondern nur auf die Widmung an Hartmut und Werinbert, aus deren Hauptteil, der Mahnung zum Leben aus dem Geiste der Caritas, er die Konsequenzen zieht. Andererseits nimmt Otfrid in diesen letzten Versen seines Evangelienbuchs mit der Bitte um Fürbitte eine Gebetsform auf, die in vielen Werken das Schlußgebet bildet. Von daher ist diesen Versen der Charakter eines Schlußgebets zum Gesamtwerk vielleicht doch nicht völlig abzusprechen. Selbst wenn man den Gebetskomplex am Ende der letzten Widmung nicht als Schlußgebet zum Gesamtwerk auffaßt, bleiben vier Gebete, die als Schlußgebete des Evangelienbuchs gelten müssen: zwei kurze Bitten in der Conolusio voluminis
totius
(35f., 78b),
ein längerer Gebetskomplex aus Bitte um Fürbitte und Gebet des Dichters am Ende der Conclusio
(87-104) und ein Gebet am Beginn
409 IWAND, Schlüsse, S. 11. - Ähnlich noch KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 292: "Die folgenden Kapitel V 24 Oratio und V 25 Conclusio voluminis totius sind persönlich gehalten und korrespondieren mit den beiden Einleitungskapiteln. "
Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
107
der Widmung an Hartmut und Werinbert (1-16) . Noch ungewöhnlicher als die Zahl der Schlußgebete ist jedoch die Tatsache, daß sie sich auf zwei Kapitel verteilen, von denen das eine durch seine Uberschrift als Begleitschreiben zum eigentlichen Werk gekennzeichnet ist. In einer dem Werk nachgestellten Dedikation wäre zwar die Bitte um das Gebet des Empfängers natürlich, ein Gebet des Dichters für sich selbst im Hinblick auf das nun vollendete Werk ohne Bezug auf den Adressaten des Schreibens jedoch kaum zu erwarten. Zur Erklärung könnte man unterstellen, Otfrid orientiere sich an der Gewohnheit, in Widmungen, die einem Werk vor410 ausgehen, Gott oder einen Heiligen um Inspiration anzurufen , und wandele diese einer nachgestellten Widmung nicht gemäße Bitte entsprechend der Stellung am Ende des Werkes in eine Bitte um Vergebung der im Dichten begangenen Verfehlungen um. Diese Erklärung befriedigt jedoch nicht. Das häufige Auftreten des Dichtergebets um Inspiration in Widmungen, die einem Werk vorausgehen, beruht darauf, daß diese Dedikationen in vielen Fällen zugleich die Funktion eines Prologs erfüllen und eine selbständige Vorrede des Dichters, in der ein solches Gebet einen sinnvolleren Platz finden könnte, fehlt. Bei Otfrid muß die nachgestellte Widmung jedoch nicht das epilogartige Schlußwort des Verfassers ersetzen. Die Übernahme eines Schlußgebets in das Schreiben an Hartmut und Werinbert muß deshalb andere Ursachen haben. Diese werden deutlich, wenn man den Charakter der einzelnen Schlußgebete des Evangelienbuchs betrachtet. Die ersten Gebete in der Conolus-io voluminis totius sind Bitten, doch bleiben sie sehr kurz und nehmen insgesamt nicht mehr als sechseinhalb Verse ein (35f., 78b, 87-90). Ihnen steht in den letzten Versen des Kapitels ein mehr als doppelt so langes Lobgebet auf die Größe und Herrlichkeit Gottes gegenüber, dessen Feierlichkeit noch dadurch gesteigert wird, daß die Kehrverse (95f., 103f.) die Gemeinde zum Mitsprechen einladen. So gipfelt die Conclusio, und mit ihr das Werk im engeren Sinne - denn die Conclusio ist das letzte gezählte Kapitel - in einem hymnischen Preis Gottes. Deshalb müssen die Bitten des Verfassers hier kurz bleiben; für sie ist das Kapitel, in dem die Evangeliendichtung mit einem großen Gotteslob ausklingen soll, nicht der richtige Ort. Doch gestattet Otfrids tiefes Bewußtsein von der Schwierigkeit geistlichen Dichtens und der Gefährdung der christlichen Existenz es ihm nicht, sich mit so kurzen Bitten zu begnügen. 410 SIMON, Widmungsbriefe
(Archiv für Diplomatie 4) s. 106-08.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Dies ist der Grund, warum er die Widmung an Hartmut und Werinbert mit einem entsprechenden Gebet eröffnet: Die Bitten, für die sich in der Conalusio kaum Platz fand, werden nun ausführlich nachgeholt. Sie weiten sich schon hier von der Bitte um Vergebung der im Dichten begangenen Verfehlungen zur Bitte um die Gnade, Gott im irdischen Leben ohne Unterlaß dienen zu können und so zum himmlischen Lohn zu gelangen. Dieses Anliegen beherrscht auch die Gebete Otfrids für sich und die Freunde am Ende der Widmung. Otfrids Bitten im Schlußteil des Werks schreiten fort vom Gedanken des Gottesdienstes im Dichten zum Ideal eines umfassenderen, das gesamte Leben des Menschen einschließenden Gottesdienstes, durch den Otfrid und seine St. Galler Brüder im Gebet das ewige Leben zu gewinnen hoffen.
Wie Eingangsgebete sind auch Gebete am Werkschluß in den übrigen althochdeutschen und altsächsischen Dichtungen rar. Der "Tatian" endet ohne Gebet; die Schlüsse von "Heliand" und "Altsächsischer Genesis" sind verloren, und es ist kaum zu vermuten, daß sie, die in einer anderen Tradition stehen, Gebetsschlüsse aufwiesen. Unter den kleineren althochdeutschen Bibelgedichten 411 ist allein mit dem "Wessobrunner Schöpfungsgedicht" ein Gebet überliefert, das sich als Schlußgebet dieser Dichtung auffassen läßt. Es schließt in der Handschrift unmittelbar an den mit der Erschaffung der Engel abbrechenden Bericht an (10-13): Cot almahtioo, du himil enti erda gauuorahtos, enti du mannun so manac coot forgapi, forgip mir in dino ganada rehta galaupa enti cotan uuilleon, uuistöm enti spahida enti craft, tiuflun za uuidarstautanne
enti are za piuuisanne enti dinan uuilleon
za gauurahanne. Für die befremdliche Tatsache, daß einem schon kurz nach dem Anfang abbrechenden Gedicht ein Gebet angefügt wird, bietet die Annahme Kartschokes eine Erklärung, es handle sich um die "Anfangszeilen eines nur mündlich verbreiteten längeren Gedichts (...) Die Aufzeichnung der Eingangsverse (habe) Memorialcharakter, während man sich den Wortlaut des gesamten Gedichts im Sinn der germanischen Dichtungspraxis als mündlich reproduziert vor412 stellte und zunächst nur so vorstellen konnte." Dabei käme dem mit dem Gedicht überlieferten Gebet ähnlich wie der Tu autem-
411 Althochdeutsches Lesebuch, XXIX, S. 85f. 412 KARTSCHOKE, Altdeutsche Bibeldichtung, S. 23.
Die Schlußgebete des
Evangelienbuchs
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Formel die Aufgabe zu, "den Schluß der Rezitation zu markie„413 ren Es ist nun zu fragen, ob dieses Gebet zum Abschluß beliebiger geistlicher Lesungen verwendet wurde und nur zufällig mit dem "Wessobrunner Schöpfungsgedicht" überliefert ist, oder ob es allein zur Beendigung der Rezitation dieses speziellen Gedichts gedacht war. Kartschoke scheint der ersten Auffassung zuzunei414 gen
. Doch spricht vieles für die entgegengesetzte Annahme. Es
ist auffällig, daß das Gebet deutlich auf das erste Kapitel der Genesis anspielt: Gott wird angerufen als Schöpfer des Himmels und der Erde, der den Menschen - wie den Menschen im Paradies viel Gutes geschenkt hat; und die Bitte um Glauben, guten Willen, Weisheit, Klugheit und Kraft zum Schutz vor dem Teufel nennt genau die Tugenden, die die ersten Menschen vermissen ließen, als sie den Verlockungen des Bösen nachgaben. Nimmt man an, daß das "Wessobrunner Schöpfungsgedicht" in seiner vollständigen Gestalt über die Erschaffung der Engel hinaus wenigstens bis zum Sündenfall und zur Vertreibung aus dem Paradies reichte, so weisen diese Bezüge der Gebetsanliegen zur Genesis zugleich auf das althochdeutsche Gedicht. Unter dieser Voraussetzung knüpfen sämtliche Anliegen des Gebets an das "Wessobrunner Schöpfungsgedicht" an. Es ist kaum glaublich, daß diese Ubereinstimmungen zufällig sind. Wahrscheinlicher ist, daß es sich bei dem mit dem "Wessobrunner Schöpfungsgedicht" überlieferten Gebet nicht um ein beliebiges Rezitationsschlußgebet handelt, sondern um ein Gebet, das eigens als Schluß dieses Gedichts konzipiert wurde. Indem das Gebet das Erzählte zum Ausgangspunkt seiner Bitten nimmt, aktualisiert es zugleich das im Schöpfungsgedicht Dargestellte für die Hörer, denen es bewußt macht, daß wie die Menschen im Paradies auch sie den Anfechtungen des Bösen ausgesetzt sind. Damit geht seine Leistung über die der Tu autem-Formel
(und ih-
rer althochdeutschen Übertragung in Form des Gebets des Sigihart) hinaus: Wie diese zeigt es das Ende des Vortrags an und erbittet Gottes Gnade für die Zuhörer; darüber hinaus aber bietet es eine Interpretation des vorgetragenen Gedichts, indem es die persönliche Betroffenheit jedes einzelnen Hörers bewußt werden läßt und aus dieser heraus die Bitten zu Gott formuliert. Während der Schluß des "Georgslieds" verloren ist, weisen die zwei anderen althochdeutschen Lieder legendenartigen Charakters 413 KARTSCHOKE, Altdeutsche Bibeldichtung, S. 23. 414 Er nennt das Gebet "zusammengesetzt aus geläufigen liturgischen Formeln (...) im Sinn des Programms geistlicher Dichtung seit je: die Bitte, im Glauben gestärkt und gegen das Böse bewaffnet zu werden" (ebd.), sieht also keinen engeren Zusammenhang zwischen Gebet und vorausgehendem Gedicht.
110
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Schlußbitten auf. Im
" P e t r u s l i e d " ^
^ nimmt eine Gebetsaufforde-
rung die gesamte letzte Strophe ein: 7 Pittemes den gotes trut daz er uns firtanen Kirie eleyson,
alia samant uparlut,
giuuerdo ginaden. Criste eleison.
Das ganze kurze Gedicht läuft auf diese Gebetsstrophe hin, denn die ersten zwei Strophen geben mit der Darstellung der rettenden Gewalt des Heiligen die Begründung dafür, daß Petrus in der dritten Strophe um seinen Beistand angerufen werden soll. Wie Otfrid im Gebet am Ende der letzten Widmung {Ad H. 160f.) ruft auch das "Petruslied" Petrus als Himmelspförtner an und leitet daraus die Vorstellung ab, er könne die, die er retten wolle, im Himmel versammeln (5 dar in mach er skerian
den er uuili
nerian) . Doch betont das "Petruslied" stärker als Otfrid, daß die Gewalt des Heiligen letztlich auf Christus zurückgeht (1 Unsar trohtin hat farsalt
sanate Petre giuualt). Zusätzlich
wird Petri Macht relativiert durch den Anruf Christi (3, 6, 9 Kyrie eleyson,
Criste eleison) , der jeder Strophe und auch
der Gebetsaufforderung folgt 416 Nur sehr kurz ist das Schlußgebet des "Galluslieds"
41 7 . Nach-
dem seine letzte Strophe die Wundertaten und die schützende Kraft des Heiligen erwähnt und von seiner Verherrlichung im Himmel gesprochen hat, folgt als Abschluß eine nur einen halben Vers umfassende Gebetsformel: 17,2 Uiuit, inquam, Gallus, Uiuit per miracula Iudex inter dextros In tremendo examine.
beatior iam nullus.
dans scutum ad obstaoula. sessurus in sinistros Gloria tibi, domine.
415 Althochdeutsches Lesebuch, XXXIII, S. 131. 416 Ähnlich folgte am Ende von Otfrids Widmung an die St. Galler Mönche auf ein Gebet zu Petrus eine Anrufung Christi. 417 OSTERWALDER, Galluslied, S. 101. Die zitierte Fassung Α gibt die Gerichtsszene etwas schärfer wieder als die Versionen Β und C, die im letzten Vers examine durch numine ersetzen. - Wie der Schluß des deutschen Originals im einzelnen aussah, ist nicht zu rekonstruieren. Die Interpretation beruht auf der Voraussetzung, daß Ekkehard IV in der Übersetzung Inhalt und Gewicht der Teile nicht zu sehr verändert hat. Dies ist keine besonders sichere Annahme, denn da Ekkehard IV das deutsche Gedicht ins Lateinische übertragen hat, um der schönen Melodie einen würdigen Text zu unterlegen, ist denkbar, daß er auch die Form der 'würdigeren' lateinischen Hymnik angenähert hat. (Anders WEHRLI, Geschichte, S. 98: "Diese lateinische Fassung (...) scheint Vers und Stil ziemlich genau wiederzugeben.")
111
Die Schlußgebete des Evangelienbuchs
Die Schlußbitte richtet sich also nicht an den machtvollen Heiligen, der mit den anderen Heiligen zu den Richtern neben Christus beim Jüngsten Gericht gehört, sondern an Christus selbst, der den Heiligen erst ihre Gewalt verleiht. Die bisher betrachteten kleinen althochdeutschen Gedichte sind für eine liturgische oder halbliturgische Verwendung bestimmt; ihre Schlußgebete sind deshalb nicht private Bitten eines einzelnen Gläubigen, sondern Gebete der gesamten Gemeinde. Dies ist besonders deutlich in der Gebetsaufforderung im "Petruslied", die schon durch die pluralische Verbform Pittemes
(7) eine Ge-
betsgemeinde schafft, gilt aber auch für die Schlußgebete des "Wessobrunner Schöpfungsgedichts" und des "Galluslieds". Auch das einzige Schlußgebet einer außerhalb der Liturgie stehenden 418 althochdeutschen Dichtung, das des "Ludwigslieds" , ist nicht das Gebet eines einzelnen: 55 Gilobot si thiu godes kraft: loh allen heiligon thana! Uuolar abur Hluduig,
Sin uuarth ther sigikamf.
Kuning unser salig!
So garo soser hio uuas, Gihalde inan truhtin
Hluduig uuarth sigihaft;
So uuar soses thurft uuas. Bi sinan ergrehtin.
Das Ludwigslied deutet ein profangeschichtliches Geschehen geistlich. Der König erscheint zwar nicht als Heiliger - zur Entstehungszeit des Gedichts lebte er noch -, doch stattet der Verfasser sein Bild mit einer Reihe von legendenhaften Zügen aus: Gott nimmt sich des jungen Ludwig an (4) und prüft ihn durch Leiden (9f.) , später empfängt der König Gottes Anweisungen (22-24) und zieht in seinem Auftrag in den Kampf (25-28, 44-47) . Der Sieg über die Heiden erweist das Charisma des Königs und den Segen, der damit auf dem Volk der Franken ruht. Weil der König das Instrument ist, durch das Gott dem Volk seine Gnade erweist, sind in den letzten Versen des Liedes Gottes- und Königspreis eng verbunden: Die Macht Gottes und der Heiligen ist zu rühmen, weil sie Ludwig und die Franken hat siegen lassen, Ludwig aber ist zu preisen, weil er sich als Werkzeug Gottes erwiesen hat. Da das Heil des Königs auch seinem Volke zugute kommt - der durch den Beistand Gottes ausgezeichnete König ist der stärkste Schutz gegen alle Feinde -, liegt die abschließende Bitte für ihn nahe. In ihr bittet der Verfasser stellvertretend für das ganze Volk, daß Gott dem König seine den Franken Heil bringende Gnade nicht entziehen möge. 418 Althochdeutsches Lesebuch, XXXVI, S. 136-38.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
4. Die Eingangs- und Schlußgebete der einzelnen Bücher In den bisherigen Kapiteln konnte gezeigt werden, in welcher Weise und mit welchen Intentionen Otfrid seine Evangelienharmonie mit Eingangs- und Schlußgebeten umgibt. Bewegte sich die Untersuchung dabei auf der Ebene des Werkganzen, so sollen im folgenden einzelne Bücher und Kapitel in den Blick genommen werden. Bereits eine flüchtige Lektüre des Evangelienbuchs zeigt, daß eine Reihe von Büchern und Kapiteln mit einem Gebet des Dichters beginnen oder schließen. Ihre Betrachtung als Kapitelund Bucheingangs- oder -schlußgebete ist gerade bei Otfrid im Vergleich zu vielen anderen Werken des Mittelalters besonders legitimiert, denn die Gliederung des Werks in Bücher und Kapitel geht aus den besten Handschriften eindeutig hervor und stammt nachweislich vom Verfasser. Doch ist dem Interpreten damit die Entscheidung, ob ein Gebet Teil des Eingangs bzw. des Schlusses eines Buches oder eines Kapitels ist, nicht abgenommen. Denn die von Otfrid vorgenommenen Einteilungen seines Werks geben lediglich Auskunft darüber, mit welchem Kapitel ein Buch beginnt und mit welchem es schließt, ohne jedoch festzulegen, wie viele dem ersten folgende Kapitel noch zum Bucheingang, wie viele dem letzten vorhergehende schon zum Buchschluß zu zählen sind. Selbst den Kapitelüberschriften, die die Eingänge und Schlüsse der Bücher eindeutig zu bestimmen scheinen, ist nicht unbedingt zu trauen, denn die Untersuchung der Schlußgebete zum Gesamtwerk zeigte, daß diese keineswegs alle ihren Platz in dem durch die Uberschrift Conolusio voluminis
totius ausdrücklich
als Nachrede gekennzeichneten Kapitel hatten. Da formale Gesichtspunkte allein nicht immer eine eindeutige Abgrenzung des Eingangs von den übrigen Teilen eines Buches erlauben, müssen erneut inhaltliche Bestimmungen hinzugezogen werden. Es erscheint sinnvoll, unter einem Bucheingang den Teil eines Buches zu verstehen, der in weitestem Sinne einführende Funktion hat, der die Themen nennt, die Gegenstand des Buches sein werden, in dem sich der Dichter über die Anforderungen äußert, die der nun zu beginnende Werkteil an ihn stellt, und so fort. Es wird sich zeigen, daß bei Otfrid nicht immer das erste Kapitel eines Buches diese einleitenden Funktionen übernimmt. Ein Vorgehen, das den Begriff Eingang eng auslegte und darunter nur das jeweils erste Kapitel eines Buches fassen wollte, würde der Struktur der Bücher des Evangelienwerks daher nicht in allen Fällen gerecht. Vielmehr kann es sogar sinnvoll sein, das erste Kapitel eines 419 Buchs gar nicht zu dessen Eingang zu zählen
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
113
Im folgenden sollen in einem ersten Schritt die Eingangs- und Schlußgebete auf der Ebene der Bücher behandelt werden. Zunächst ist jedes Gebet einzeln zu analysieren, bevor die Ergebnisse der Einzelinterpretationen überblicksartig zusammengestellt werden, um sichtbar zu machen, inwieweit Gebete, die hinsichtlich ihrer formalen Stellung im Werk gleichartig sind, sich auch in Aussage und Gestaltung entsprechen. Dieselbe Vorgehensweise ist dann in einem zweiten Schritt im folgenden Abschnitt dieser Untersuchung auf der Ebene der Kapiteleingänge und -schlüsse anzuwenden. Schon der Eingang des ersten Buches macht deutlich, daß die Trennlinie zwischen Bucheingang und Evangelienbericht nicht immer scharf markiert ist. Die Verhältnisse werden zusätzlich dadurch kompliziert, daß sich seine ersten beiden Kapitel, obwohl sie in die Kapitelzählung von Buch I integriert sind, nicht speziell auf diesen Werkteil beziehen, sondern auf das Evangelienwerk insgesamt: Das erste Kapitel hat die Uberschrift Cur soriptor huna librum theotisae diataverit; als zweites folgt die Invocatio scriptoris ad Deum, das Eingangsgebet zum Gesamtwerk. Wenn Otfrid dann im dritten Kapitel (Liber generationis Jesu Christi, filii David) dazu übergeht, die Abstammung Christi aus dem Hause David darzulegen, so scheint damit auf der Grundlage des ersten Kapitels des Matthäusevangeliums der biblische Bericht zu beginnen. Doch wird die Darstellung des Evangeliengeschehens am Ende des Kapitels noch einmal unterbrochen durch vier Strophen, in denen Otfrid die Themen nennt, die Gegenstand des ersten Buches sind:
43 Er ist giweltig filu främ wüntarliohen
thingon,
45 Thaz wilt ih hiar gizötlen so wir nu hiar biginnen,
joh hera in worolt zi uns quam, hera untar mennisgon. gidriwen sinen ätten, worton
Thoh sorib ih hiar nu zi erist,
frenkisgen.
so in evangetion iz ist,
419 Es ist natürlich zu fragen, ob es dann, wenn das erste Kapitel eines Buches nicht zum Bucheingang gerechnet werden soll, überhaupt noch vertretbar ist, von einem Eingang zu sprechen, statt einen anderen Begriff zu wählen. Doch ist zu bedenken, daß in einer Vielzahl von Werken die skizzierten, auf den Inhalt und den Gehalt hinführenden Funktionen vom Prolog oder Eingang geleistet werden. Infolgedessen verbindet sich mit dem Begriff Eingang nicht nur der Gedanke an den ersten Teil eines Werks, sondern auch die Erwartung gewisser Leistungen für das Gesamtwerk; er beschreibt also nicht nur die äußere Position, sondern auch die Funktion des betreffenden Werkteils. Weil der Begriff Eingang demnach wesentlich durch bestimmte Leistungen für das Gesamtwerk mitdefiniert ist, erscheint es ratsam, auch solche Teile mit diesem Begriff zu be-
114
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
wio giboran
ward ouh er
Ther tmo ingegin 50
garota,
Joh&nnes, thaz worolt
thie Wega riht er imo ubar &l,
thegan
siner,
missiworahta,
so man hereren
scat.
Erst nach der Paraphrase einer ersten Perikope wird mit der Ankündigung der Buchthemen ein Element des Bucheingangs nachgeholt, das in den Kapiteln I 1 und 1 2 , in denen es um das Evangelienwerk als ganzes ging, keinen Platz fand. Einführende und erzählende Teile gehen ohne scharfe Grenze ineinander über. Die Ankündigung der Themen ist nicht verbunden mit einem nochmaligen, nun auf das erste Buch speziell bezogenen Dichtergebet. Der Eingangsteil von Buch I enthält zwar die ausführlichste Anrufung Gottes im gesamten Werk, aber kein Gebet, das sich ausdrücklich auf das in diesem Buch zu Schildernde bezieht. Er nimmt damit zwischen Buchanfängen, die ein speziell auf das jeweilige Buch bezogenes Gebet aufweisen, und gebetslosen Eingängen eine Zwischenstellung ein. Während im ersten Buch die beiden ersten Kapitel ganz und das dritte noch zum Teil außerhalb des Evangelienberichts stehen, gibt es ein solches Heraustreten des Dichters aus der Erzählsituation zu Beginn des zweiten Buches nicht. Sein erstes Kapitel hebt sich zwar durch das Auftreten von Kehrversen von den folgenden Abschnitten ab; auch ist in ihm ein Wechsel der Quelle zu konstatieren, denn Otfrid geht vom im wesentlichen auf Lukas 420 und Matthäus beruhenden Bericht der Kindheitsgeschichte Jesu und des Wirkens Johannes des Täufers über zur Interpretation der Geburt Christi als Menschwerdung des421 Logos in Anlehnung an die ersten Verse des Johannesevangeliums , doch ist ihm dies nicht Anlaß zu einem Kommentar. Ganz im Gegensatz hierzu beginnt das dritte Buch mit einem Praefatio libri tertii überschriebenen Kapitel, das den Evangelienbericht unterbricht und vollständig der Ankündigung des im dritten Buch zu Erzählenden und einem umfang422 reichen Dichtergebet vorbehalten ist . Diese beiden Komponenten nehmen sehr unterschiedlichen Raum ein. Während die Ankündigung, das dritte Buch behandele eine Auswahl der Wundertaten Christi in einer von Otfrid getroffenen Abfolge, nur die ersten acht Verse umfaßt, bilden die restlichen 36 Verse (9-44) ein zeichnen, die zwar die genannten Aufgaben erfüllen, aber nicht unmittelbar am Anfang stehen. 420 Mt 1,1-3,17; Lc 1,1-3,22; im vorletzten Kapitel von Buch I (I 27) auch schon Io 1,19-27. 421 Io 1,1-5. 422 Der Bucheingang umfaßt nur dieses eine Kapitel; III 2 nimmt mit der Schilderung einer Wunderheilung den Evangelienbericht wieder auf.
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
großes Dichtergebet, so daß der Schwerpunkt dieser
115 Praefatio
ganz unverkennbar auf dem Gebet liegt, zumal die Ankündigung des Themas selbst noch einmal ein kurzes Dichtergebet enthält: Sie setzt ein mit den Worten Mit ih
hiar
selben
Kristes
segenon
will
nu vedinon
(1), die selbstverständlich eine Bitte des 423 Dichters um den Segen Christi implizieren . Otfrid stellt das dritte Buch seines Werks vom ersten Vers an unter den Schutz Gottes. Das umfangreiche Gebet, das den Hauptteil des Kapitels einnimmt, zeigt eine zweiteilige Großstruktur, die weniger von den Gebetsinhalten bestimmt ist als von den Motiven und Bildern, die zu deren Formulierung herangezogen werden. Im ersten Teil stehen die dem Evangelienbericht entlehnten Motive von Wunderheilung und Totenerweckung im Mittelpunkt, während der zweite Großabschnitt ein Bild ohne Rückgriff auf eine Quelle einführt und ausmalt. Die beiden Hauptteile verbindet eine kurze Überleitung; außerdem geht dem ersten Hauptteil ein kurzer einleitender Abschnitt voran, so daß sich der Bau des Gebets folgendermaßen darstellt: Einleitung 9-12 1. Hauptteil 13-26 Uberleitung 27-30 2. Hauptteil 31-44 Der Gliederung nach Motiven geht der inhaltliche Aufbau in gewisser Weise parallel, doch ist unter dem Gesichtspunkt des Inhalts die zweiteilige Struktur weniger deutlich zu erkennen. Denn die beiden Grundanliegen des Gebets, Sündenvergebung und Beistand im Dichten, sind nicht so auf das Gebet verteilt, daß in jedem Hauptteil ein Anliegen behandelt würde, sondern im ersten Hauptteil stehen beide Gebetsgegenstände eng verbunden nebeneinander, während sich der zweite auf ein einziges Anliegen beschränkt 424 423 Solche eher beiläufigen Bitten eines Dichters um die Hilfe Gottes zu Beginn eines Werks oder Werkabschnitts finden sich nicht selten in der christlich-lateinischen Literatur. Eines von vielen Beispielen ist die Bitte zu Beginn von Arators "De actibus apostolorum" In nomine Patris
et Spiritus
Sancti
beato domino Petro adiuvante
(S. 9).
424 Eine Gliederung des Gebets unter dem Aspekt der syntaktischen Form führt ebenfalls zu einer Zweiteilung, wobei allerdings die Grenze an einer anderen Stelle liegt, nämlich am Übergang vom optativischen Er-Gebet zur unmittelbaren Anrede Gottes in der Du-Form zwischen den Versen 18 und 19. Die Tatsache, daß die Strukturierung durch die syntaktische Form nicht mit der durch die Motivik vorgegebenen übereinstimmt, führt nicht zu einer Beeinträchtigung der Erkennbarkeit der durch die Bildlichkeit geprägten Grundstruktur des Gebets. Die Motive sind durch ihre Bildkraft und Bedeutungsfülle für den Charakter des Gebets so prägend, daß eine Strukturierung unter anderen Aspekten an seinem Bedeutungskern vorbei-
116
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Nachdem die ersten acht Verse des Kapitels die Wunder Christi als die zentralen Gegenstände des dritten Buches angekündigt haben, beginnt das Gebet mit einer Bitte um Beistand im Dichten: 9 Gin&da ih sina ftrgon
mit fdrahtlichen
er ouh in thesemo werke In thesen büachon wanne
suörgon,
zeichan sinaz wirke; ih äwiggon ni gange,
ih rehto joh hiar scono
giscribe däti frono.
Schon in dieser einleitenden Bitte wird das Gebetsanliegen ausschließlich metaphorisch formuliert. Wenn Otfrid Gott darum bittet, daß er ouh in thesemo werke
zeichan sinaz wirke
(10), und
damit eine Parallele zwischen seinem Schreiben und den Wundertaten Christi herstellt, so kann er dies tun, weil zwischen den Wundern und der dem Dichter gewährten Inspiration im Grunde kein Unterschied besteht: Wie Christus in den Wundern die irdischen Dinge mit seiner göttlichen Macht umgeben hat, so soll nun Gott durch seine Gnade die menschlich-unvollkommenen Fähigkeiten des Dichters stärken und über das Irdische erheben. Otfrid scheint durch die Parallelisierung seiner Dichtung mit den Wundertaten Christi seinem Werk eine besondere Dignität zu geben. Da die Funktion der im Evangelium berichteten Wunder darin liegt, die Göttlichkeit Christi zu erweisen, indem sie seine Erhabenheit über die Naturgesetze augenfällig machen, ist auch Otfrids Werk, sofern es ein ziichan Gottes ist (10), wenn es gelingt, ein Erweis für die Anwesenheit der göttlichen Gnade, ohne die das Werk nie hätte zum glücklichen Ende gebracht werden können. Die Akti425 vität des Dichters tritt wie im Werkeingangsgebet sehr zurück. Wie der Mensch zu den von Christus an ihm gewirkten Wundern nichts beitragen kann, so ist auch der Dichter kaum mehr als das passive Medium, an dem Gott seine Wunder tut: Wenn das Werk ein zeichan Gottes ist, so ist Gott sein eigentlicher Autor. Die vielfältigen, immer wieder neu vorgebrachten Bitten Otfrids um Vergebung beim Schreiben begangener Verfehlungen stehen zu dieser Auffassung inspirierten Dichtens wegen der grundsätzlichen Ungewißheit der Inspirationsgewährung nicht im Widerspruch. Die zweite Strophe setzt die Bitte um die göttliche Inspiration in einer anderen Metapher fort: Der Beistand Gottes
ginge. - Die Strophengruppengliederung der Handschrift V (KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 201) verzichtet darauf, den Beginn des Gebets in Vers 9 durch eine Initiale hervorzuheben und gliedert auch im weiteren Verlauf des Kapitels nicht nach einem erkennbaren Prinzip.
425 I 2,5 Thaz ih lob thinaz
si lütentaz; s.o. s. 39f.
117
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
soll verhindern, daß der Dichter auf Irrwege gerät, ein Bild, das wie in einem der Schlußgebete zum Gesamtwerk 426 auch hier das sündige Abirren vom Wege des rechten Schriftverständnisses 427 meint . Es bezieht sich auf das Begreifen des Schriftwortes sowohl im historischen (rehto, 12) als auch im geistigen Sinn (scono , 12)
So gewinnt die einleitende Bitte um Gottes Beistand im Dichten ihren Bedeutungsgehalt wesentlich aus ihrer Bildlichkeit. Dies deutet hin auf eine bewußte rhetorische Gestaltung dieser Verse, die sich auch in der Wahl der Begriffe zeigt, mit denen Otfrid sein Beten beschreibt. Statt bitten wählt er das intensivere fergon (9a); suorgon, das selbst schon emotional gefärbt ist, wird durch das beinahe pleonastische fdrahtlichen zusätzlich verstärkt (9b), und die beiden Halbverse, die jeder für sich schon die Angewiesenheit des Dichters auf die Gnade Gottes sehr eindringlich aussprechen, werden durch Anlautkorrespondenzen aneinander gebunden (fergon - fdrahtlichen) . Der Intensivierung dient auch die Inversion im ersten Halbvers des Gebets, die die Kernbegriffe Ginäda und fergon an den Anfang und das Ende, also die beiden starktonigen Stellen des Halbverses rückt. Mit Vers 12 ist der einleitende Teil des Gebets abgeschlossen. Die folgenden 14 Verse bilden den ersten Hauptteil des Gebets, der ganz von Motiven aus dem Teil des Evangeliums bestimmt ist, den das dritte Buch behandelt. Zunächst stehen drei Wunderheilungen im Mittelpunkt: 13 Er deta
thaz h&lze
er düe theih 15 Horngibruader fon eitere In in irhuggu riuzit Drühtin, 20
mih nim
mir
liafun
joh stumme
hiar ni hinke, heile:
thes
man ouh
senses
er mih ouh hiar
joh fon wünton: ih lewes thaz herza,
fon then stankon,
filu
(ni dua iz zi späti!),
wenke;
suaren
sünton!
seres;
thaz düat mir thaz muaz
ouh ni
gireine
fon minen
leides
riafun:
iro
ih ser
so Läzarum
smerza. biwankon, thu
däti!
426 Ad Η. 1. 427 Die Metaphern des Irregehens in Otfrids Werk betrachtet im Zusammenhang HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 167. 428 Den Nachweis dieser Bedeutung von rehto und scono führt HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 338f. Sie bezieht sich speziell auf die Deutungen der Wasser-Wein-Verwandlung in den Kapiteln II 9 und II 10, wo diese Begriffe geradezu den Charakter hermeneutischer Fachtermini gewinnen (II 9,91f.; II 10,9-12).
118
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Aus den in den Evangelien berichteten Wunderheilungen wählt Ot429 430 frid die Heilungen eines Gelähmten und eines Stummen sowie 431 eine Aussätzigenheilung aus. Sie werden nicht ausführlich berichtet, sondern dem Gebet eingeordnet als Exempel, aus deren tropologischen Deutungen auf die Situation des Dichters sich Otfrids Bitten ergeben. Ziel der Anbindung der Bitten an biblische Exempel ist es, den Anrufungen größeren Nachdruck zu verleihen durch den Verweis darauf, daß das Erbetene anderen bereits gewährt wurde, wenn auch im Litteralsinn, während Otfrid 432 für sich die entsprechenden Gnaden im geistigen Sinn erbittet Von den drei Wunderheilungen werden nur zwei - die Heilung des Gelähmten und die Aussätzigenheilung - gedeutet, während die Heilung des Stummen (13b) unerläutert bleibt. Auf dem Hintergrund des Gesamtwerks bedarf sie auch keiner Interpretation. Denn der Stumme befindet sich vor der Heilung durch Christus auf der Ebene des Litteralsinns in eben der Situation, in der sich der Dichter im geistigen Sinn zu Beginn seines Werks befunden hat: Wie Gott den Mund des Dichters auftun muß, damit er geistlich sprechen kann, so muß Christus 433 den Mund des Stummen berühren, um ihm die Sprache zu geben . Wegen dieser Parallele ist die Erwähnung der Heilung eines Stummen als implizite Inspirationsbitte aufzufassen. Einer Hörerschaft, die das Domine labia mea aperies täglich zu Beginn der Matutin vernahm, mußte diese Bedeutung der Öffnung des Mundes vertraut sein. Weniger deutlich zu erkennen ist eine zweite Bedeutung der Stummenheilung. In der karolingischen Theologie und bei Otfrid ist der Stumme ein Bild 4 34 für den, der sich dem rechten Glauben verschließt . Diese Aus429 430 431 432
Mt 9,1-8; Mc 2,1-12; Lc 5,17-26. Mt 9,32-34. Mt 8,14; Mc 1,40-45; Lc 5,12-16, 17,11-19. Die im Gebet aufgenommenen Wunderheilungen entstammen zwar dem Teil des Evangeliums, der die Vorlage des dritten Buchs bildet - Otfrid will dort
thiu seltsamen wuntar / (
) thiu er deta hiar in riche (2t.) berichten sie werden aber in Otfrids Wundererzählungen nicht ausführlich dargestellt, sondern entweder ganz kurz erwähnt (so die Heilung Aussätziger und eines Gelähmten in dem kurzgefaßten Überblick Brevis ammonitio de signis, III 14,63-66 und 71f., sowie die Aussätzigenheilung allein auch in der Conclusio libri seaundi,!! 24,9-16) oder vollständig ausgelassen (die Heilung des Stummen). Die Lazaruserzählung, an die die Verse 21-26 anknüpfen, wird dagegen breit wiedergegeben, wobei die zweite diesem Zusammenhang entnommene Episode, das Gastmahl in Bethanien, allerdings bereits dem vierten Buch angehört (III 23.24; IV 2). 433 Die Heilungswunder bewirken meist Berührungen durch Christus, so etwa die Heilung des Taubstummen Mc 7,33: Et apprehendens eum de turba seorsum, misit digitos suos in auriculas eius, et expuens tetigit linguam eius -. Vgl. I 2,3f. 434 HARTMANN (Allegorisches Wörterbuch, S. 421) führt Beispiele aus Hraban, Pseudo-Beda und Petrus Riga an. Über diese Belege hinaus ist hinzuweisen auf eine Stelle in Hrabans Matthäuskommentar, an der der Stumme als Volk
119
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
legung scheint zwar zunächst auf Otfrids Gebet nicht anwendbar zu sein, doch ist zu bedenken, daß der Mensch, gerade auch nach 435 Auffassung der karolingischen Theologie , immer in der Gefahr schwebt, der sündigen dumpheit
zu verfallen und sich so der gött-
lichen Botschaft zu verschließen. Da Otfrid in seiner Invokation zum Gesamtwerk436 ausdrücklich um Schutz vor den Folgen dieser Fehlhaltung bittet , ist die Vermutung naheliegend, daß auch die Anrufung Gottes als Heiler des Stummen eine entsprechende Bitte unausgesprochen mitenthält. Ein solcher Doppelsinn eines Bildes erscheint nur so lange als gesucht oder weit hergeholt, wie nicht bedacht wird, daß Otfrids Publikum über einen von theologischem und allegoretischem Denken stark geprägten geistigen Hintergrund verfügte, der kaum noch rekonstruiert werden kann, so daß heute gar nicht mehr zu ermessen ist, wie viele Assoziationen eine biblische Anspielung wachrief. Es ist damit zu rechnen, daß Otfrid sich solche Assoziationen seiner Hörer und Leser zunutze macht ^ . Während die Bedeutung der Heilung des Stummen vom Leser völlig selbständig erkannt werden muß, stellt für das zweite Exempel, die Heilung eines Gelähmten, der Dichter selbst eine Beziehung zwischen dem biblischen Geschehen und seiner Schreibsituation her. Zunächst wird das biblische Faktum Er deta
thaz
halze
Ivafun
(13a) in eine Bitte für den Dichter umgesetzt, die die durch die Bibel vorgegebene Situation als Bild für seine Situation aufnimmt (er
düe
theih
hiar
ni
hinke,
14a), und erst in einem dar-
auffolgenden zweiten Schritt wird diese Bitte in unmetaphorisches, nun von der biblischen Situation vollständig losgelöstes Sprechen übersetzt (thes
senses
ouh ni wenke , 14b). Damit ist
zugleich eine Deutung des Gelähmten gegeben: sein Hinken bezeichnet die Unsicherheit in der Auslegung der Schrift 4 38. Ähnder Heiden interpretiert wird, das nicht den wahren Glauben bekennt: Homo
iste gentilem populum signifioat, qui mutus erat, quia confessionem fidei in ore non habebat (PL 107, 885D-86A). in otfrids werk führt 435 436 437
438
verae
das Verschließen gegen Gott zur Stummheit, wenn Zacharias die Botschaft des Engels nicht annimmt (I 4,65-68; HARTMANN, ebd.). S.o. S. 45-47. I 2,19f. Andererseits ist die Gefahr der Überinterpretation, des Abgleitens ins nur Spekulative, prinzipiell gegeben. Sie bleibt jedoch beherrschbar, solange die Deutungen aus Otfrids Werk oder seinem geistigen Umfeld plausibel gemacht werden können. Generell scheint das Übersehen von Bedeutungsschichten für das Verständnis Otfrids abträglicher zu sein als eine eventuelle Überinterpretation durch das Erwägen von Bedeutungen, die nicht unmittelbar sichtbar sind. Während die Auslegung des Stummen auf den Zustand des Menschen vor dem Empfang der Inspiration schon vor Otfrid eine lange Tradition hat, scheint die Interpretation des Gelähmten im Hinblick auf ein unvollkommenes Verstehen der Heiligen Schrift erst von ihm vollzogen zu sein. (ERNST, Liber
120
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
lieh wie für die Stummenheilung ist jedoch auch hier eine zweite, unausgesprochen bleibende Bedeutung anzunehmen. Die lateinische Exegese dieser Zeit bezieht allgemein das Hinken "auf die Füh439 rung des Lebens und den Seelenzustand schlechthin" . In den Kommentaren Hrabans und Bedas zu den entsprechenden Stellen bei Lukas, Markus und Matthäus heißt es in fast wörtlicher Obereinstimmung: Curatio pavalytioi hujus animae post diuturnam illecebrae oarnalis inertiam ad Christum suspirantis, salvationem •Lndieat440 . Da Otfrid diese Kommentare mit Sicherheit gekannt 441 hat - sie bilden, wie Kleiber nachweist , die Quellen seines Marginalienkommentars zu den Evangelien in der Weißenburger Klosterbibliothek
(Codex Weiss. 26) -, ist schwer vorstellbar,
daß er nicht an die Auslegung des Gelähmten auf den Zustand der sündigen Gottferne und seiner Heilung auf die Erlösung des zu Christus flehenden Sünders gedacht haben sollte. Wegen ihrer allgemeinen Verbreitung konnte Otfrid sich mit einer Anspielung begnügen. Der Sinn der Anziehung der Heilung des Gelähmten liegt also in der Bitte um das rechte Verständnis der Schrift und, darüber hinaus, um den Schutz vor allen dem Dichter drohenden Sünden. Die an die Heilung des Gelähmten anknüpfende Bitte formuliert in variierender Wiederholung die Anliegen, die bereits die Anrufung Gottes als Spender der Sprache bestimmten. Die Grundanliegen - Bitte um Inspiration und Schutz vor der Sünde bleiben gleich, doch schwankt ihre konkrete Akzentuierung leicht: Ließ sich aus der Heilung des Stummen nur eine Bitte um Inspiration ganz allgemein ableiten, so gestattet es Otfrids Auslegung der Gelähmtenheilung, die Inspirationsbitte genauer als Bitte um rechtes Verstehen des sinses (14) zu fassen; implizierte das Bild des Stummen das Gebet um Schutz vor der speziellen Sünde der dumpheit, so ist aus der Metapher des Gelähmten allein das allgemeinere Anliegen der Bewahrung vor der Sünde im Dichten generell abzuleiten. Wegen dieser leichten Bedeutungsdifferenzen sind die den Exempeln impliziten Aussagen nicht tautologisch. Die Bedeutungen der als Bilder eingesetzten biblischen Beispiele sind nicht völlig deckungsgleich, sondern sie akzentuieren und schärfen sich gegenseitig. Ausführlicher als von den Heilungen des Stummen und des Gelähm442 , ten, nämlich fast drei Strophen lang (15-etwa 20a) , spricht Evangeliorum, s. 53f.) 439 HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 211. 440 Hraban, In Mt, PL 107, 870C. Beinahe wörtlich hiermit identisch sind: Beda, In Mc, CCL 120, S. 453,646-48; In Lc, CCL 120, S. 119,775-77. 441 KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 137. 442 Eine exaktere Angabe ist wegen des fließenden Ubergangs zum nächsten
121
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
Otfrid von der Wunderheilung des Aussätzigen. Der größere Umfang kommt nicht der Schilderung des biblischen Geschehens zugute, sondern die sich aus ihm ergebenden Bitten sind zahlreicher und ausführlicher als bei den früheren Exempeln. Sie verbleiben viel stärker als etwa im Falle der Gelähmtenheilung in der Bildlichkeit des Bibelgeschehens und sprechen die abstoßenden Details des Aussatzes in aller Kraßheit und mehrfach variierend aus. Die Zahl der Krankheitsmetaphern in diesen Versen ist beträchtlich: Otfrid nennt Eiter, Wunden und den Gestank des Aussatzes (16, 19) und evoziert so eine fast sinnlich erfahrbare Vorstellung, die das Bild des vor Schmerz weinenden Herzens (18) noch verschärft. Wenn Otfrid das durch Krankheitsmetaphern Ausgedrückte auf eine abstraktere Sprachebene hebt, tut er dies bezeichnenderweise in der Wendung leides filu sires (17), die nicht nur das in den Krankheitsmetaphern schon angelegte Moment des körperlichen Schmerzes ausspricht und durch die Doppelung unterstreicht, sondern darüber hinaus durch den Schmerzensschrei lewes (17), der ihr unmittelbar vorausgeht, zusätzlich Schärfe gewinnt. Das in diesen Versen gezeichnete Bild eines von Krankheit und Schmerz gepeinigten Menschen wird in sehr direkter Weise auf den Dichter bezogen. Denn keineswegs schildert Otfrid das biblische Geschehen zunächst in seinen schrecklichen Details, um erst in einem zweiten Schritt daraus Bitten für sich selbst abzuleiten. Schon durch die zwei Phasen, in die ein solches Vorgehen zerfiele, wäre eine gewisse Abstraktheit bedingt. Statt dessen verbindet er die Beschreibung des Aussatzes so eng mit seinen Bitten, daß Bitten und Detailschilderung untrennbar verknüpft sind und die Identifizierung des Dichters mit dem Aussätzigen in geistlichem Sinne noch weitergeht als die mit dem Gelähmten und dem Stummen. Die Verse über die Aussatzigenheilung sind auch insofern von den zuvor berichteten Heilungswundern unterschieden, als sie nur eine einzige Deutung zulassen. Aus der Tatsache, daß Otfrid sie ausschließlich auf die Vergebung der Sünden auslegt
(15f.),
wäre dies noch nicht mit hinreichender Sicherheit zu schließen, denn wie für die vorangegangenen zwei Exempel könnte auch hier eine zweite, unausgesprochen bleibende Bedeutung mitzudenken sein. Auf einen solchen Doppelsinn finden sich jedoch keinerlei Hinweise. Die Metaphorik bietet für eine zusätzliche Interpretation der Verse als Bitte um Inspiration keine Handhabe, und auch die Bibelkommentare der Karolingerzeit belegen nur die
Bild nicht möglich.
122
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Deutung des Aussatzes auf die Sünde, so daß es etwa bei Hraban in enger Anlehnung an Beda heißt: vero typioe vir iste pecaatis languidum genus designat humanuni, reote non solum leprosus, 443 sed et plenius lepra, juxta alium Evangelistam, desoribitur Im Aussätzigenbild erscheint der Gedanke an die göttliche Inspiration also nicht mehr; Otfrids Sündenbewußtsein ist für den Augenblick so beherrschend geworden, daß es das zweite Gebetsanliegen vorübergehend in den Hintergrund drängt. Auch die folgenden Bitten nehmen ihren Ausgang von einem Wunder aus dem Teil des Evangeliums, der Gegenstand des dritten Buches ist, aber nicht mehr von einem Heilungswunder, sondern von einer Totenerweckung: 20
mih nim (ni dua iz zi späti!), Fon tothe inan irquiatos,
irquioki in mir, theist mera, Theih hiar in libe irwizze, so er deta after thtu: 25 Thäz ih io mit rüaohon
so L&zarum thu däti!
then Uchamon
irwäatos:
thia mina muadun s&la,
zi thinemo disge ouh sizze, ih muazi thingen zi thiu;
zi goumon si in then büachon,
tharana hügge ouh föllon
thines selbes willon!
Das Verhältnis zwischen biblischem Faktum und daran anknüpfender Bitte ist dasselbe wie in den vorhergehenden Versen über die Heilungswunder: Was den biblischen Figuren im Buchstabensinn geschenkt wurde, soll Gott Otfrid im geistigen Sinn gewähren; aus der Auferweckung des Leibes in der Lazaruserzählung ergibt sich so die Erweckung der Seele des Dichters. Deutlicher als in den Versen über die Wunderheilungen wird hier, daß die Gnade, die Otfrid von Gott erbittet, größer ist als die, die den Kranken und dem toten Lazarus im Evangelium zuteil wurde? Otfrid spricht ausdrücklich davon, daß die Erkrankung der Seele 444 mera (22) 443 Hraban, In Mt, PL 107, 855D. Vgl. Beda, In Lc, CCL 120, S. 117f.,704f.? In Mc, CCL 120, S. 451f.,575f. Weitere Belege aus Hraban, Paulus Diaconus und anderen bei HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 216f. 444 Wenn ERNST (Liber Evangeliorum, S. 70) Otfrids Hinweis auf seine muadun sela (22) mit dem Ermüdungstopos in Zusammenhang bringt, so beruht dies auf einem Mißverständnis von rrruadi, das er vorschnell mit 'müde' übersetzt. Statt dessen ist hier von der Bedeutung 'elend, unglücklich, arm, armselig, bemitleidenswerth' (KELLE, Glossar, S. 408) auszugehen, muadi bezeichnet den beklagenswerten Zustand der Schwäche, in den die Seele durch die Krankheit der Sünde geraten ist. Otfrids Metapher ist also nicht das Echo des aus der Antike stammenden Schlußtopos der Ermüdung (dazu CURTIUS, Europäische Literatur, S. 100), sondern ein neues Bekenntnis seiner Sündigkeit, das hier in die den Bildbereichen Krankheit und Tod nahe verwandte Metapher des Elends gekleidet und somit gut in die Bildersprache dieses Teils des Gebets eingefügt ist. - Worin die Parallele zwischen der hier betrachteten Metapher und den letzten Worten des
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
123
sei als die Auferweckung des Leibes. Zwischen den im Evangelium berichteten Gnadenerweisen Gottes und den Gnaden, die Otfrid erbittet, besteht ein Verhältnis der Uberbietung: Was den Kranken und Lazarus am Leibe geschah, erbittet Otfrid für seine Seele. Otfrids Gebet in der Praefatio
libri
tertii
kann also nur in
einem sehr speziellen Sinne ein Exempelgebet genannt werden, denn er bittet nicht um dieselben Gnaden wie die Gestalten des Evangeliums, sondern um solche, die den in der Bibel berichteten Gnadenerweisen im geistigen Sinne entsprechen. Während Otfrid an den Wunderheilungen ausschließlich das Faktum der Heilung interessierte und alle das Geschehen umrahmenden Ereignisse außer acht blieben, wählt er aus der Geschichte des Lazarus zwei getrennte Begebenheiten aus: seine Erweckung vom To445 de und das Gastmahl in Bethanien, an dem Lazarus teilnimmt 446 und bei dem auch Christus zugegen ist . An beide Ereignisse schließt er je eine Bitte für sich an. Die erste Bitte, das Gebet um die Erweckung der erschöpften Seele in überbietender Analogie zur Erweckung des Lazarus, ist zu deuten auf die Rettung 44 7 vor dem Tod durch die Sünde . Mit dem Gastmahl tritt das zweite Anliegen des Gebets, das vorübergehend hinter der Bitte um Sündenvergebung zurückgetreten war, wieder in den Vordergrund. Nach Otfrids eigener Interpretation ist seine Bitte, wie Lazarus am Tische Christi sitzen zu dürfen (23), gleichbedeutend mit der Hoffnung, daß er zi
goumon
si
in
then
büachon
(25), zielt also
auf das rechte Verständnis der Schrift, wobei aus der Speisemetapher nicht eindeutig erkennbar wird, ob an das Begreifen des historischen oder des geistigen Sinns gedacht ist 448 . In jedem Johannesevangeliums, die ERNST (S. 70) außerdem erkennen will, bestehen soll, ist kaum zu vermuten. Auch die letzten Verse des Johannesevangeliums sind schwerlich im Lichte des Ermüdungstopos zu interpretieren; der Evangelist hört nicht aus Müdigkeit auf zu schreiben, sondern aus dem folgenden Grund: Sunt autem et alia multa quae fecit lesus; quae si
saribantur per singula, saribendi sunt, libros
nea ipsum arbitror
mundum oapere posse eos,
qui
(io 21,25).
445 Io 11,1-44. 446 Io 12,lf. 447 Belege für diese sehr alte und verbreitete Sündenmetapher aus Otfrids Umwelt bei HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 443f. Alcuins Johanneskommentar, den HELLGARDT, Quellen, als eine der Quellen des Evangelienbuchs nachweist, kennt die Auslegung des Todes auf die Sünde ebenfalls: Lazarus steht für die, qui post peacatorum mortem resuseitati ad justitiam sunt (In Io, PL 100, 907A). Eine knappe Skizze der Geschichte dieser Metapher in der Patristik, besonders bei Augustin, gibt ERNST (Liber
Evangeliorum,
S. 56).
448 HARTMANN (Allegorisches Wörterbuch, S. 181) nimmt die Bedeutung 'Erkenntnis des geistigen Sinns' im Kontext der Auslegungen der Verwandlung von Wasser in Wein (II 9) und der Brotvermehrung (III 7) an, legt sich aber für die hier betrachteten Verse nicht fest. Auch die von ihr angeführten Belege aus der Theologie der Karolingerzeit (S. 182) lassen keine eindeu-
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Fall läßt die Speisemetapher Assoziationen zu an das Evangelienwort Non in solo pane vivit homo, sed in omni verbo quod
prooedit
449 de ore Dei und verweist so darauf, daß das Verständnis des in der Heiligen Schrift niedergelegten göttlichen Wortes für das geistige Leben des Christen von ebenso fundamentaler Bedeutung ist wie die Speise für seine körperliche Existenz. Wenn Otfrid aus der Lazaruserzählung zunächst die Bitte um die Vergebung seiner Sünden und erst dann das Gebet um das rechte Verständnis des Gottesworts ableitet, so ist die Abfolge der Gebetsanliegen wohl kaum zufällig. Dem sündigen Menschen muß, bevor er die Offenbarung Gottes begreifen kann, zunächst seine Schuld vergeben werden; der Inspiration hat die Absolution vorauszugehen. Diese beiden prinzipiell getrennten Akte werden bei Otfrid nicht immer auseinandergehalten. Im Eingangsgebet zum Gesamtwerk etwa wird zwischen Sündenvergebung und Eröffnung des rechten Schriftverständnisses nicht unterschieden. Dort geht der 450 Inspiration zwar eine Confessio voraus , aber keine ausdrückliche Bitte um die Vergebung seiner Sündenschuld. Sündenvergebung und Inspiration fallen dort zusammen in der Berührung des Mundes des Dichters durch den Finger Gottes. Mit Vers 26 ist der erste Hauptteil des Gebets beendet. Es folgt eine Gruppe von vier Versen, die nicht mehr vom Motiv der neutestamentlichen Wunder, aber auch noch nicht von dem Bild, das die Schlußverse des Gebets beherrschen wird, bestimmt ist und so als äußerst bildarme Versgruppe zwischen den zwei größeren, von je einem geschlossenen Vorstellungsbereich dominierten Versblöcken eine Zwischenstellung einnimmt: 27 Joh thäz ih hiar nu zellu, thie wtzzi dua mir meron Ni rih sünta, druhtin,
thin gift ist iz mit ällu; zi thines selbes
mino in thlu,
eron;
suntar mir wizzi
lih zi thiu;
ni friwit wiht hiar unser müat
so thin äblazi
düat!
Zunächst wird die Angewiesenheit des Dichters auf den göttlichen Beistand noch einmal, diesmal ganz unmetaphorisch, formuliert (27) , und aus diesem Bekenntnis der Abhängigkeit von Gott, die die Unfähigkeit des Dichters zu einem Schaf-
tige Entscheidung zu. - Die Interpretation der gouma auf das ewige Leben, die an anderen Stellen des Evangelienbuchs angebracht ist (S. 181), verbietet sich hier wegen des Zusatzes in then büachon (25). 449 Mt 4,4; vgl. Lc 4,4; Deut 8,3. 450 I 2,lf.
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
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fen aus eigener Kraft einschließt, ergibt sich die Bitte um Stärkung der Einsicht des Dichters (28) . Ausdrücklich wird die Tatsache erwähnt, daß Otfrids Dichten im Dienste Gottes steht und in seinem Auftrag unternommen wird (28b), ein Aspekt, der in diesem Gebet bisher noch nicht angesprochen wurde, jedoch sowohl im Eingangsgebet als auch in den Schlußgebeten des Evangelien451 werks anzutreffen war . Indem Otfrid sein dichterisches Dienstethos auch hier wieder Gott gegenüber beteuert, verwahrt er sich zugleich gegen jeden Verdacht einer falschen Dichtmotivation: Weder erhebt er Anspruch auf Ruhm - sein Dichten ist ja vollständig eine Gabe Gottes (27b) —, noch verfaßt er sein Werk aus anderen Beweggründen als um der Ehre Gottes willen (28b). Obwohl die Inspirationsbitte in Vers 29b nochmals kurz wiederholt wird, steht im Zentrum der zweiten Strophe der überleitenden Versgruppe die Bitte um Sündenvergebung, und zwar, wie die Wendungen in thiu und ζi thiu (29) zeigen, speziell die Vergebung der im Dichten begangenen Verfehlungen. Auch diese Bitte ist unbildlich formuliert. Zum erstenmal in diesem Gebet ist das Anliegen der Sündenvergebung negativ gewendet als Verschonung von der Rache Gottes und als Erlaß der verdienten Strafe (29a, 30); gerade unter diesem Aspekt aber werden Sündenstrafe und Sündenvergebung im abschließenden zweiten Hauptteil des Gebets gesehen werden. Damit erfüllt diese Bitte auch eine erzähltechnische Funktion: Sie führt einen Aspekt ein, der im folgenden Bedeutung gewinnt, und vermeidet einen abrupten Bruch am Beginn des zweiten Hauptteils des Gebets. Dieser, der ebenso wie der erste Hauptteil 14 Verse umfaßt, besteht einzig in der breiten Ausmalung eines neuen Bildes für das Verhältnis des Menschen zu Gott in Form eines Gebets: 31 lindo,
liobo druhtin
min,
laz thia kestiga
gilöko mir thaz minaz müat, Thoh si iz sero fille,
ob iaman rämet es thar;
sar thes sinthes
ni mag giskhan
thes ira lieben
ira muat
thaz imo fiant
thoh düat er mo avur bitherbi Scirmi,
druhtin,
mir ouh so,
451 I 2,4lf.; Ad H. 15f.
kindes.
mit theru si iz mithont
Ther selbo fäter ouh so düat; 40
düat.
theiz iaman thoh ni wünto.
25 Thia hant duat si füri sar, Mit henti siu mo sairmit
kindiline
nist ni si ävur wolle
(süntar si imo münto), gihügit
so muater
sin;
fillit;
giduat.
thoh, er mo sere sinaz thaz sinaz
müat,
adalerbi.
theih si thin soälk
giwisso;
126
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
thin hänt mih ouh biwerre, Firlih
ouh mir githinges,
wis fiter
mir joh müater,
thaz fiant mir ni thes mines
derre!
heiminges;
thu bist min drühtin
guater!
Wurde im ersten Hauptteil die Realität der göttlichen Gnade durch biblische Exempel belegt und durch deren allegorische Deutung für den Dichter aktualisiert, bediente Otfrid sich dort also 'wissenschaftlicher' Argumentationsweisen, so zeichnet er hier ein Bild des Gott-Mensch-Verhältnisses, das auf einer rein affektiven Ebene angesiedelt und deshalb für die Rezipienten unmittelbar nachvollziehbar ist. Da die unmittelbare Nachvollziehbarkeit durch die Anlehnung an eine Quelle behindert würde - der dabei unvermeidliche implizite Rückverweis auf die Vorlage würde eine spontane und emotionale Reaktion unmöglich machen -, gibt Otfrid seine Anspielungen auf die Bibel auf. Daß alle Versuche, für diesen letzten Abschnitt eine Quelle nachzuweisen, ins Leere gehen, liegt nicht daran, daß Otfrid hier eine besonders abgelegene Schrift heranzöge, sondern ist die Folge einer Entscheidung über die Mittel, mit denen sich die angestrebte Unmittelbarkeit und Persönlichkeit der Gott-Mensch-Beziehung am besten ,. „ 452 evozieren ließe Die Bitten im zweiten Hauptteil verfolgen im einzelnen drei Anliegen: den Schutz vor den Anfechtungen des Teufels (41 f.) , die Aufnahme in das ewige Leben (4 3) und den Erlaß der Sündenstrafe. Auf dem dritten Anliegen liegt das meiste Gewicht; der ganze Eltern-Kind-Vergleich ist wesentlich abgestellt auf die Erläuterung dessen, was für Otfrid die Strafe bedeutet. Otfrid versteht die Strafe als Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen: Wie die Mutter ihr Kind zwar straft, es aber zugleich vor jeder Gefahr beschützt (33-38) , und wie der Vater ihm trotzdem sein Erbe bewahrt (39f.), so sind die Strafen Gottes nicht Zeichen seiner Abkehr von den Menschen, sondern ein Erweis seiner liebenden Zuwendung. Der Gedanke an die göttliche Gerechtigkeit
452 Da die Bibel nur spärliche Parallelen bietet, die der breiten Vergleichung bei Otfrid nur in Einzelmomenten entsprechen (ERNST, Liber EvangeHorum, S. 241, Anm. 308 nennt Ps 26,10; lob 5,17f.; Is 49,15, 66,13; Mt 10,37), hat man an Johannes-, Thomas- oder Petrusapokryphen gedacht (zuerst HAUBRICHS, Ordo, S. 214f. und Anm. 182, dann ERNST, S. 241 und Anm. 306f.). Während ERNST von vornherein auf den Versuch verzichtet, Otfrids Kenntnis dieser Texte wahrscheinlich zu machen, beruht HAUBRICHS" Theorie, nach der Otfrid hier apokryphen Petrusakten folgt, im wesentlichen auf der hochspekulativen Konstruktion einer tektonischen Verbindung zwischen den letzten Versen der Kapitel III 1 und III 12 (Verleihung der Bindegewalt an Petrus) und ist deshalb mit Skepsis zu betrachten.
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
127
spielt dagegen für die Rechtfertigung der Strafe keine
Rolle.
Die große Intensität, die die letzten Verse auszeichnet, b e ruht vor allen Dingen auf ihrer motivischen Geschlossenheit der unmittelbaren Wirksamkeit des Vergleichs der Liebe mit der Elternliebe, doch sind darüber hinaus auch Mittel, hauptsächlich
und
Gottes
sprachliche
solche der Wortwahl, des Versbaus und des
Reims, daran beteiligt, diesen Versen eine sehr persönlich ge4 53 färbte, gefühlvolle Ausstrahlung zu geben . Hier im Schlußteil ist Otfrids Bemühen um eine Intensivierung
des
Gebetscharakters
durch stilistische Mittel am offensichtlichsten. Aber auch in den übrigen Abschnitten
(mit Ausnahme der
Uberleitungsverse 454 27-30) spielen sprachliche Faktoren eine bedeutende Rolle
A m Beispiel dieses Gebets zeigt sich einmal mehr, daß Otfrid mit rhetorischen und stilistischen Mitteln umzugehen und sie zur Unterstreichung
seines Anliegens einzusetzen weiß. Darin muß in
Anbetracht der Tatsache, daß abgesehen von "Altsächsischer sis" und "Heliand", die sich an anderen Vorbildern
Gene-
orientieren,
vor Otfrid in deutscher Sprache nichts Vergleichbares
unternom-
men worden war, eine beträchtliche dichterische Leistung werden. Sie wird durch seine Kenntnis der lateinischen
gesehen
Literatur
nicht relativiert, denn das in ihr Vorgefundene konnte zwar A n regungen geben, aber nicht einfach auf die 455 sprachlichen nisse des Fränkischen übertragen werden
Verhält-
453 Einen Überblick über diese sprachlichen Mittel gibt ERNST (L-iber· EvangeZ-ioYvan, S. 241f.): "Die Gebetsstruktur, die sich klar in den zahlreichen Imperativen und Anreden an den 'druhtin' manifestiert, wird nicht nur durch stilistische Mittel wie Deminutivform und gemüthafte Adjektive verinnerlicht, sondern gewinnt auch metrisch durch identische Reime ("thiu"; 29), Reprise reiner und besonders klangkräftiger Gleichklänge und durch den sich fast ungestört durchhaltenden jambischen Rhythmus ein empfindsames Timbre. Die chiastische Disposition der Reimworte in den Versen 38f. ("muat" - "giduat" - "düat" - "müat") dient effektvoll dazu, die Strophengrenze zu überbrücken und selbst an dieser Einschnittstelle die fließende Bewegung der Verse zu garantieren. Typisch für diese eindrucksvolle Form einer vom religiösen Gefühl durchströmten Verssprache sind die Langzeilen 31 f., die durch vielfältige Assonanzen, Binnenreime, onomatopoietische Vokalfärbungen und schließlich auch durch das mehrfache Anlauten nasaler und liquider Konsonanten, welche die Versgrenze übergreifen und ein hohes Maß an klangästhetischer Sonorität freisetzen, einen lyrisch-sanften und zugleich beschwörend-eindringlichen Tenor gewinnen ." 454 Für die Einleitungsverse 9-12 wurde dies schon gezeigt. Im ersten Hauptteil (13-26) ist hinzuweisen auf die anaphorischen Bindungen der Verse 13a, 14a und 15b sowie 16a und 16b und natürlich ganz besonders auf die das abstrakte Gebetsanliegen ins Konkrete übersetzende, im Falle der Aussätzigenheilung bis in Einzelheiten ausgemalte Bildlichkeit. 455 Bei der Beurteilung der formalen Seite von Otfrids Werk wurde bisher der Aspekt der stilistisch-rhetorischen Ausgestaltung einer Passage im Dienste einer Idee meist nicht angemessen berücksichtigt. Noch das Urteil DE BOORs ist einseitig und tut Otfrid unrecht: "Er ist weitschweifig, lehrhaft und schwerfällig, seine Verse sind oft leer, seine Formeln
128
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Wie die Interpretation zeigte, beginnt Otfrid das dritte Buch mit einem sehr langen, motivisch und rhetorisch durchstrukturierten, sowohl auf affektiver als auch auf intellektueller Ebene argumentierenden Gebet um Inspiration und Sündenvergebung, das vier Fünftel des Kapitels einnimmt und eines der längsten Dichtergebete des Werks ist. Aus der Tatsache, daß hier zum erstenmal die in der Invocatio
scriptoris
ad Deum grundsätzlich und
für das gesamte Werk ausgesprochene Bitte um den Beistand Gottes im Dichten wiederholt wird, ist zu schließen, daß das dritte Buch Otfrid vor eine besondere Aufgabe stellt. Diese kann weder 456
auf dem Gebiet der formalen Gestaltung liegen noch kann die Nachdichtung des Evangeliums an sich, die in allen Teilen des Werks gleich schwierig ist, hierfür verantwortlich sein. Die besondere Problematik des dritten Buches liegt darin, daß in ihm eine relativ große Zahl geistlicher Interpretationen notwendig wird. In den vorhergehenden Büchern waren Auslegungen deutlich seltener. Sieben Deutungskapiteln in Buch III 457 stehen drei in 458
459
Buch I und vier in Buch II gegenüber; das dritte Buch allein erfordert also ebenso viele Interpretationskapitel wie die beiden vorhergehenden Bücher insgesamt. Die besondere Schwierigkeit des dritten Buches erklärt auch, warum Otfrid an seinem Beginn so ausführlich um Sündenvergebung bittet - die Gefahr, sich durch falsches Dichten zu verfehlen, ist in diesem Buch besonders groß. Ein zweiter Grund für die betonte Bitte um Sündenvergebung an dieser Stelle liegt möglicherweise in der Position des Gebets im^ggsamtwerk. Der von Otfrid zuletzt verfaßte Teil seiner Dichtung, die 'Mitte' , lag, wie man die 'Mitte' auch genau bestimmen will, jedenfalls im dritten Buch. Es ist daher nicht undenkbar, daß das Gebet in der Praefatio libri tevtii. die der Zeit nach spä-
nicht, wie in volkstümlicher und vorhöfischer Dichtung, Stilmittel, sondern Krücken der Reimnot. Er ist nicht Dichter von innerer Berufung, er ist der Gelehrte, der seine deutschen Verse auf dem Pergament macht, als wären es lateinische." (DE BOOR - NEWALD, Geschichte, Bd. 1, S. 84). Erst in den letzten Jahren entstanden Stiluntersuchungen, die zu differenzierteren Ergebnissen gelangen. Als Beispiele genannt seien neben der Darstellung bei ERNST (Libev EvangeHorum), die als einzige ästhetischen Gesichtspunkten größere Aufmerksamkeit widmet, SCHULZ, Variierender Stil, und HARTMANN, Sprachliche Form. 456 Die bisher eingehendste Untersuchung der Struktur des Evangelienbuchs will für das Gesamtwerk eine äußerst subtile zahlenkompositorische Durchgliederung erkennen, aus der sich das dritte Buch jedoch nicht durch eine besonders komplexe Binnenstruktur heraushebt (HAUBRICHS,
Ordo,
S. 210-32).
457 III 3.5.7.11.19.21.26. 458 I 18.26.28. Die beiden kein selbständiges Kapitel bildenden auslegenden Versgruppen I 11,55-62 und I 17,66-78 sind nicht mitgezählt; ihre Einbeziehung würde nur zu geringfügigen Verschiebungen führen. 459 II 5.6.9.10.
460 Ad Liutb.
32-36: In medio vevo
(...)
multa
(...)
quamvis
jam fessus
(hoc
129
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
teste Hinwendung des Dichters zu Gott darstellt. Freilich begibt man sich mit solchen Überlegungen auf das Gebiet der Spekulation - es genügt ja nicht, in Teilen des dritten Buches die zuletzt entstandene 'Mitte' des Werks zu erblicken, sondern es wäre die Zusatzannahme erforderlich, die Praefatio libri tertii sei Teil der 'Mitte' und vielleicht sogar, entgegen der Anordnung der Kapitel im dritten Buch, als letzter Abschnitt der 'Mitte' entstanden. Wenn diese Überlegungen hier trotz ihrer Unbeweisbarkeit angestellt werden, so darum, weil die Auffassung dieses Gebets als der Chronologie nach letztes Dichtergebet Otfrids für den besonderen Charakter der Schlußverse eine einleuchtende Erklärung böte. Wären diese Verse gleichsam das letzte Wort des Dichters, so erklärte dies die intensive Bitte um Sündenvergebung mit ihrer besonderen Akzentuierung als Bitte um Verschonung von der verdienten Strafe ebenso wie ihre Einbettung in die Gesamtbeschreibung der Gott-Mensch-Beziehung als Verhältnis sorgender Liebe in Analogie zur Liebe der Eltern zu ihrem Kind. Im zeitlich letzten Gebet seines Werks bäte der auf sein Dichten zurückschauende Verfasser in der demütigen Gewißheit, den Anforderungen des anspruchsvollen Stoffes nicht genügt haben zu können, Gott in intensivster Form darum, ihm die Strafe für die beim Schreiben begangenen Sünden zu erlassen, und erinnerte er Gott zugleich an seine Liebe zu den Menschen, auf die er seine Hoffnung setzt.
Der Eingang des vierten Buchs ist in seinem Bau dem von Buch III ausgesprochen ähnlich. In beiden Büchern besteht der Eingangsteil nur aus dem ersten, Praefatio
libri tertii oder Praefatio
libri
quarti übersehriebenen Kapitel, während bereits das zweite die Evangelienerzählung wieder aufnimmt, ohne noch irgendwelche einleitenden Funktionen zu erfüllen. Auch die Gebete des Verfassers sind in beiden Bucheingängen vergleichbar angeordnet: Beide Vorreden zeigen in ihren Anfangsversen ein sehr kurzes, nur einen Halbvers einnehmendes Gebet und in ihrem letzten Teil einen wesentlich ausgedehnteren Gebetskomplex. Keine Entsprechung besteht allerdings hinsichtlich des Gewichts, das den längeren Gebeten in den Eingangskapiteln der Bücher III und IV zukommt. Während das umfangreiche Gebet in der Praefatio libri tertii vier Fünftel des Kapitels einnimmt und damit das Hauptanliegen der Einleitung des dritten Buches bildet, ist die Stellung des entsprechenden Gebets im ersten Kapitel von Buch IV vergleichsweise bescheiden. Obgleich auch dieses Gebet ein Drittel des Kapitels umfaßt, ist es bei weitem nicht so dominierend wie sein Gegenstück in III 1: Neben dem Gebet ist Raum nicht nur für die recht ausführliche Nennung der im folgenden zu behandelnden Themen (5-22) und einen kurzen Rückblick auf das Ende von Buch III (1-4), sondern sogar für einen 14 Verse langen Kommentar zum dichterischen Verfahren (23-36) , nämlich für die Begründung der nicht nach Vollständigkeit strebenden, sondern stark auswählenden Anlage der Bücher III und IV. Nach einer kurzen Rekapitulation des in den letzten Kapiteln des vorhergehenden Buches Dargestellten (1-4; vgl. III 25.26) enim novissime edidi)
(...) pretermisi
(Hervorhebung vom Verfasser).
130
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
und unmittelbar zu Beginn der Ankündigung der Gegenstände von Buch IV erbittet Otfrid in Vers 5b zum erstenmal den Beistand Gottes: 5 Nu will ih soriban wio druhtin
främmort
(er selbo rihte mir thaz
silbo thaz biw&rb
er sines thankes
wört!),
bi ünsih starb -
Die stoßgebetartige Bitte ist parenthetisch in den ersten Satz der Themenankündigung eingebunden und läßt bereits durch ihre syntaktische Stellung die enge Beziehung auf das in diesem Satz Angekündigte erkennen: Otfrid erbittet die Inspiration zur angemessenen Behandlung der Gegenstände des vierten Buchs. Die Bitte ist ausgesprochen schlicht - nicht ganz so unauffällig zwar wie die kaum als Gebet erkennbare Formulierung Mit selben Kristes segenon im ersten Halbvers von Buch III, doch verhindert ihre Unterordnung unter eine übergreifende hypotaktische Satzstruktur, daß sie die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der besseren Einfügung in die Umgebung, der Unterordnung unter die laufende Hypotaxe, dient insbesondere die optativische Sprachform. Da in dem Satz, dessen Bestandteil sie ist, über Christus in der Er-Form gesprochen wird, soll diese Form auch in der Bitte beibehalten werden. Die direkte Anrede Gottes hätte die Bitte um Inspiration stärker aus ihrer Umgebung herausgehoben und ihr mehr Eigenwert gegeben. Ausführlicher ist die Bitte um Inspiration in dem Gebet am Ende des Kapitels: 37 Iz, drühtin,
ni bilibe
thaz ih es thoh
ni iz hiar in erdriohe Thaz ih giscribez 40
thinera
Ih hiar giscribe
ftllon
then thinan
thär wir ana l&gun Ni mohtun wir in wära Thaz was io ana wänk
joh mänagfalto
sünton, frävili,
joh hart es sein irthenken
thio
drühtin,
wagun. ginäda
bi ünsih
ällaz, druhtin,
allaz thin duam,
Iz zi thiu ni würti,
dati; krüai,
bi unseren
thia thü in thera noti, drühtin,
müatwillon,
thaz honlicha
wünton
45 Thuruh unser ubili
SO
gifti;
thaz thu ubar ünsih
Wio thu thultos wizi,
Hohe;
theiz thir io wese
fon thines selbes
thinaz gir&ti in managfalten
fora thinen öugon
hiar so fr&m,
krefti,
gisoribe,
thiner
thaz ewiniga
ni w&rin thino
dati; thank,
wisduam!
milti,
l6bosam,
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
at bi thinen mahtin Thes müazin frewen
joh hohen
niazan tamer
in girihti
131
eregrehtin;
joh midan süntino
in thineru gisihti!
sir,
Amen.
Ähnlich wie das längere Gebet in der Praefatio libri tertii behandelt auch dieses mehrere Themen. Die Bitte um den Beistand Gottes im Dichten bestimmt nur seinen ersten Teil und geht ohne syntaktisch markierte Grenze bei Vers 43 über in eine nochmalige Beschreibung des zentralen Gegenstands des vierten Buchs; diese führt zu einer Bitte um Bewahrung vor der Sünde und um das ewige Leben, mit der das Gebet schließt. Dem Wechsel der Themen entspricht keine Änderung der sprachlichen Form; das gesamte Gebet wendet sich in unmittelbarer Anrede an Gott, der viermal (37, 48-50) als drühtin namentlich angerufen wird; trotzdem sind die Bitten nicht Imperativisch, sondern optativisch formuliert. Die Notwendigkeit der Inspirationsbitte, mit der das Gebet beginnt, ergibt sich aus Otfrids Überlegungen über sein dichterisches Verfahren in den vorausgehenden Versen (2 3-36). Die dort beschriebene Methode des auswählenden Erzählens bringt die Gefahr mit sich, Wesentliches auszulassen und dadurch den Sinn der göttlichen Offenbarung zu verfälschen. Im Bewußtsein dieser Gefährdung bittet Otfrid darum, daß es ihm gelingen möge, Gottes Willen und Ratschluß vollständig (föllon, 41) wiederzugeben. Neben der rezipientenorientierten Auffassung seines Werks als Vermittlung der göttlichen Offenbarung steht als zweite Intention auch hier wieder das Gotteslob (39). Beide Ziele sind nur zu erreichen, wenn nicht eigentlich der Dichter, sondern Gott selbst das Werk verfaßt; entsprechend betrachtet Otfrid inspirierte Dichtung als Ausfluß der Kraft Gottes und als göttliche Gabe (40). Ganz ähnlich war im Eingangskapitel des dritten Buchs das Evangelienwerk, sofern es gelänge, als zäiehan (III 1,10) Gottes aufgefaßt worden. Wenn Otfrid im zweiten Sinnabschnitt dieses Gebets von Vers 4 3 an noch einmal das Thema des vierten Buches umreißt, so tut er damit für dieses Buch zunächst nichts anderes, als in der Invoaatio sariptoris ad Deum ^ für das Gesamtwerk geschah; auch dort war die Auflistung einiger Themenstichworte Bestandteil eines Eingangsgebets. Anders als dort aber nehmen die Stichworte zum Buchinhalt hier eine zentrale Stellung ein. Lag in der Invoaatio scriptoris ad Deum die Relevanz der Themenstichworte allein in der Begründung der vorhergehenden Inspirationsbitte durch die
461 I 2,6-14.
132
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN
LITERATUR
kurze Charakterisierung des dichterischen Unternehmens, so kommt 46 2 ihnen hier über diese Funktion hinaus auch die der Überleitung zu dem Gebetsanliegen zu, das den Schlußteil des Gebets bestimmt, so daß die Kurzbeschreibung des Buchthemas sowohl mit dem vorhergehenden als auch mit dem folgenden Teil des Gebets eng verbunden ist. Denn Otfrid interpretiert das Buchthema sogleich hinsichtlich seiner heilgeschichtlichen Bedeutung: Die Verse 43-52 machen die Relevanz der Passion für die Sünder deutlich und führen als Confessio
direkt hin zur abschließenden Bitte um Schutz vor
der Sünde und das ewige Leben. Hier liegt eine gewisse Parallele zu dem entsprechenden Gebet im Eingang von Buch III, wo gleichfalls die Buchthemen nicht nur genannt, sondern sofort aktualisiert werden. Doch hat sich der Akzent verschoben: Nicht mehr tropologische Bitten für den Dichter ergeben sich aus der Themennennung, sondern ein eindringliches Gebet für die ganze Menschheit. Otfrid bedient sich nun stärker als im ersten Teil des Gebets stilistischer Mittel. Indem er die Schuld der Menschen durch steigernd variierende, auf engem Raum wiederkehrende Begriffe (44b bi frävili·,
unseren
sünton;
45a unser
ubili;
schließlich, als Konsequenz, 48a in
mtnagfalto
45b thera
ndti)
be-
schreibt, bringt er seine Betroffenheit über die Sündigkeit des Menschen zum Ausdruck; dieser steht der ebenfalls durch variierende und steigernde Wiederholung erweckte Eindruck von der Gnade und Herrlichkeit Gottes gegenüber (50b thaz
ewiniga
duam; 51b thino
hohen
tin);
mitti·,
52
bi
thinen
mahtin
joh
wiseregreh-
und den Zustand der Gottferne in der Sünde macht die drei-
malige Wiederholung des Anrufs druhtin
innerhalb weniger Verse
(48-50) fühlbar. Das Bekenntnis der Sündigkeit aller Menschen bleibt nicht ein Privatgebet Otfrids. Wie die pluralischen Pronomina (44-48) deutlich zeigen, spricht er nun auch stellvertretend für sein Publikum. Dessen Möglichkeit zum aktiven Mitvollzug 463 bleibt allerdings beschränkt auf die Schlußformel Amen Nicht ganz leicht ist die Bestimmung des Bucheingangs in Buch V. Das letzte Buch schickt dem Evangelienbericht zwei reflektierende Kapitel und ein ihre Gedanken fortführendes, ein selbständiges Kapitel bildendes Gebet voraus, so daß man in dieser Kapi-
462 Wie in der Invoaatio scriptoris ad Deum wird auch hier die Verbindung zwischen Themennennung und Inspirationsbitte dadurch unterstrichen, daß zwischen ihnen kein syntaktischer Einschnitt liegt. 463 Die Mitwirkungsmöglichkeit der Hörerschaft ist hier geringer als in dem Kehrversgebet am Ende der Conclusio voluminis totius, das sich ebenfalls, wenngleich weniger offensichtlich, vom persönlichen Gebet Otfrids zum den Blick auf die gesamte Christenheit eröffnenden Gebet entwickelte; dort konnten die Kehrverse vom Publikum mitgesprochen werden.
133
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
telgruppe den Bucheingang sehen und das Gebetskapitel Signaculum crucis (V 3) als Eingangsgebet auffassen könnte. Doch spricht dagegen, daß keines dieser Kapitel wie die Eingangskapitel der Bücher III und IV und im Hinblick auf das Gesamtwerk auch die Invocatio scriptoris ad Deum Otfrids Dichten thematisiert oder die Gegenstände des Buches ankündigt. Statt auf das fünfte Buch vorauszuweisen, hängen die Kapitel V 1-3 eng mit dem Ende von Buch IV zusammen, denn sie interpretieren die in dessen letzten Kapiteln berichtete Kreuzigung: Das erste erklärt Cur dominus ignominiam
crucis et non aliam pro nobis mortem pertulerit,
wo-
bei besonderer Wert auf die Universalität der Erlösung durch Christi Tod am Kreuz gelegt wird; das zweite handelt De utilitate crucis im Hinblick auf den Einzelmenschen, und im dritten stellt sich der Dichter selbst unter den Schutz des Kreuzes, jedoch nicht speziell für das Abfassen des fünften Buchs, sondern für sein gesamtes Leben. Weil jeder Bezug zu seinem Dichten fehlt, sollte man dieses Gebetskapitel nicht als Eingangsgebet 464 zu Buch V auffassen . Da die ersten drei Kapitel dieses Buchs offenbar nicht voraus-, sondern auf das vorhergehende Buch zu465 rückweisen - sie holen die Auslegung der Kreuzigung nach -, liegt ein inhaltlicher Einschnitt nicht an der Buchgrenze, sondern erst zwischen den Kapiteln V 3 und V 4. Der thematische Neuansatz mit dem vierten Kapitel wird dadurch unterstrichen, daß seine ersten Verse den Charakter einer Einführung in einen neuen Sinnabschnitt zeigen. Sie zählen die Themen, über die im folgenden berichtet werden soll, kurz auf (2-4). Wenngleich dabei nicht alle wichtigen Ereignisse des Buches in den Blick geraten - Himmelfahrt, Jüngstes Gericht und ewiges Leben bleiben außer Betracht -, greift die Auflistung andererseits doch weit über den Gegenstand nur dieses Kapitels hinaus. Tendenziell ist das ganze Buch in den Blick genommen. Wenn man überhaupt von einem Eingang zu Buch V sprechen will, so liegt er in den ersten Versen seines vierten Kapitels. Mit der Ankündigung der Buchthemen verbunden ist eine kurze Bitte um Inspiration: 1 Thuruh
thes krüces
krifti
so quime mir främmort
joh selben Krlstes
nu in müat,
mahti
wi er fon themo
gräbe
irstuant;
464 Zur Interpretation dieses Gebets s.u. S. 164-67. 465 Das Moratiter-K&pi.tel, mit dem das vierte Buch endet (IV 37), legt nicht die Kreuzigung aus, sondern gibt eine tropologische Deutung des Verhaltens der Wächter am Grabe Christi.
134
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Joh wio
nan friuntilih
wio
er
h&rto
thie
gisäh, gifr&wita
ouh mit joh
then
güatilih
jüngoron in
sprah,
s&geta!
Mit den sehr knappen Inspirationsbitten in den ersten Versen der Praefatio
libri
tertii
und der Praefatio
libri
quarti
(III 1,1a;
IV 1,5b) verbinden diese Bitte ihr Anliegen und ihre Stellung zu Beginn der Einleitung in das Buch sowie der relativ geringe Umfang. Anders als in den Büchern III und IV folgt jedoch kein wei466 teres, längeres Eingangsgebet . Die Bitte nimmt die Gedanken der vorhergehenden Kapitel auf und erfleht den göttlichen Beistand im Namen des Kreuzes, dessen Kraft, wie Otfrid zuvor dargelegt hat, darauf beruht, daß Christus am Kreuz den Teufel über467 wunden hat . Theologisch korrekt erhofft er Beistand nicht vom Kreuz an sich, sondern vom Kreuz und der Macht Christi, und unterstreicht den Kausalzusammenhang zwischen Christi Gewalt und dem segenspendenden Kreuz durch die Alliteration, die beides zusammenbindet. Die Erwähnung sowohl des Kreuzes als auch der Macht Christi hat darüber hinaus erzähltechnische Bedeutung. Während die Nennung des Kreuzes auf Buch IV und die ersten Kapitel von Buch V zurückweist, deutet die Anrufung der Macht Christi voraus auf die Auferstehung, die seine Macht erweisenden Erscheinungen Christi unter den Jüngern und schließlich das Jüngste Gericht. Bis zu einem gewissen Grade wird dadurch der Einschnitt zwischen den Kapiteln V 3 und V 4 überbrückt. Die Bestimmung der Buchschlüsse gestaltet sich leichter als die Frage nach den Bucheingängen, denn sie umfassen nie mehr als ein einziges Kapitel, das mit einer Ausnahme immer zugleich das letzte Kapitel des jeweiligen Buches darstellt und außer in II vom vorhergehenden Teil des Buches dadurch klar abgesetzt ist, daß das vorhergehende Kapitel noch zum Evangelienbericht gehört, während das letzte reflektierenden Charakter hat. Allerdings kann der Begriff 'Schluß' hier nicht so streng gefaßt werden, wie es 46 8 für den Schluß des Gesamtwerks geschah . Würde man von einem Schluß erwarten, daß er rückblickend das gesamte Buch betrachtete, so könnte keines der letzten Kapitel als Buchschluß bezeichnet
466 Vielleicht aus diesem Grunde ist die Bitte hier etwas weniger knapp.
467 V 2,11
Nist fiant hiar in riahe nub kr hiar fora intwtohe, ther diufal selbo thuruh not, so ir tharana saowot! Mit thiu wurtun wir girbohan joh "kräft sin thuruhstbahan, mit thiu wärd er al biridinot, thaz iamer er ni irkdbarot; 15 Mit thiu ward filu h&rto selb ther widarwerto giwüntot joh firdämnot rumo in iwinigan not!
468 S.o. S. 88.
135
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
werden. Die Reflexionen dieser Kapitel beziehen sich nie auf ein ganzes Buch, sondern meist (in den Büchern I, III und IV) auf das unmittelbar zuvor Erzählte oder höchstens auf eine größere Kapitelgruppe im letzten Teil des Buches (so die Conclusio libri secundi, die an die Bergpredigt und damit an die Kapitel II 15-23 anschließt). Der Schluß von Buch V nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sein letztes Kapitel die auf das gesamte Werk zurückblickende Conclusio
voluminis
totius ist. Nicht sie, son-
dern die vorhergehende selbständige Oratio (V 24) bildet daher das Schlußgebet des fünften Buches. Ihr gedanklicher Bezug zum Buch entspricht dem des Schlußkapitels von Buch II; auch hier knüpfen die Reflexionen an die vorhergehende Kapitelgruppe an. Somit ergeben sich als Schlüsse der Einzelbücher die Kapitel I 28, II 24, III 26, IV 37 und V 24. Neben ihrer reflektierenden Haltung ist ihnen gemeinsam, daß sie ein Gebet enthalten (II 24, III 26, IV 37) oder ganz die Form eines Gebets haben (I 28, V 24). Regelmäßiger als die Eingänge also versieht Otfrid die Buchschlüsse mit Dichtergebeten. Das erste Buch endet mit einem zwanzig Verse langen Gebetskapitel: Spiritaliter Mit ällen unsen kr&ftin
bittemes
er ünsih uns zi Ikide
mit leidu ni
wir ünsih in then rluon
ni müazin
5 Thaz si uns thiu wintworfa iz ünsih mit giw<i
gisceide;
gisceiden,
io
bisoöwon;
in themo ürdeile
helfa,
thar ni brinnen
einen
then wewon
io so spriu,
bimiden;
Thaz hirta sine uns warten
inti ünsih io
gihälten
joh ünsih ouh nirwännon
uzar then gotes
kornon;
Wir ünsih muazin mit werkon
sämanon
bimiden
zen gotes
filu riohe
In hoho güalliohi,
theist avur thaz
theso grünni
then spihiri Thaz heilega
mit sinen unsih fästo Joh wir thar müazin
himilriahi;
thes himilriohes mit sälidon
wunni, nioton,
niazan,
thaz wir ni fären furdir frSwen
untar in
fon ewon unz in &won
himilriche,
thuruh thio ewinigon
iamer süazan
kornhus,
drüttheganon,
zi themo hohen
15 Joh müazin mit then drüton
20
ni
ni firw&e unz in enti;
Joh in fiure after thiu
10
drühtin,
fon then güaten
Thäz wir fon then bliden
wir mit ginädon
nu
thero
üz,
resto;
blide fora gote sin
mit then heilegon
selon!
Amen.
136
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Diese Anrufung enthält keine auf Otfrids Dichten sich beziehenden Bitten, sondern sie betet allein um das allen Menschen gemeinsame Anliegen des ewigen Lebens. Dieses wird einerseits als Vermeidung der Verdammnis und andererseits als Gemeinschaft mit den Erlösten im Angesicht Gottes beschrieben, wobei die negative Formulierung die erste Gebetshälfte bestimmt, während die positive Fassung in der zweiten Hälfte überwiegt. Wie das Gebet nur ein einziges Anliegen hat, so bildet es auch syntaktisch eine Einheit. Vom einzigen Hauptsatz, der nur den ersten Vers umfaßt und die Anrufung als Bittgebet definiert, hängt eine Reihe gleichartiger Finalsätze ab, die das ganze Gebet lang das eine Anliegen 469 variieren . Die ausgedehnte Variation wird möglich durch die Verschränkung einer abstrakt-begrifflichen mit einer metaphorisch-konkreten Sprachebene. Otfrid formuliert die Bitte um das ewige Leben abwechselnd in abstrakten Begriffen und biblischen Bildern, die alle einem Gleichnis aus einer nur von Lukas berichteten Rede Johannes des Täufers entstammen, die Otfrid am Ende des vorhergehenden Kapitels wiedergegeben hat: I 27,63
Habet
er
thaz 65 Sin
in
er filu
denni thaz
Thaz joh
hänton
thaz &r iz thiu
sina
kliino
gikerre, körn filu spr-tu
wintwanton, thaz
thiu seine, gärawo thanne
sin
spriu int in in
körn
reino;
thäna
werre,
iz sinu fiure
gäbissa gädum
ni
rine;
shmano, firbrinne.
Gerade diese Versgruppe muß Otfrid mit besonderer Bewußtheit verfaßt haben, denn sie verlangte einen Wechsel der Vorlage. Während er in I 27 sonst dem Johannesevangelium folgt, geht er in 470 den letzten Versen zu Lukas über . Es ist wahrscheinlich, daß dies im Hinblick auf das Schlußgebet I 28 geschah, denn durch die Einführung des Dreschergleichnisses gewinnt Otfrid die Möglichkeit, sein Buchschlußgebet mit einer kohärenten Bildlichkeit 471 auszustatten, indem er das anschauliche Gleichnis aufnimmt und es in Gebetsform ausdeutet. Die Auslegung betrifft mehr den im Gleichnis geschilderten Vorgang des Dreschens im ganzen als einzelne Details. Der Vorgang insgesamt steht für das Jüngste Gericht; die Bedeutung der im Gleichnis erwähnten Einzelheiten je469 Zum variierenden Stil dieses Kapitels SCHULZ, Varrierender Stil, S. 34-36. 470 ERDMANN, Otfrid, S. 50-52 (App.).
471 Lc 3, 17 Cuius ventilabrum in manu eius; et purgabit aream suam, et congregabit tritiaum in horreum suum, paleas autem comburet igni inextinguibiIi.
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
137
doch wird oft nicht scharf umrissen. Zwar wird der Getreidespeicher ausdrücklich auf den Himmel bezogen (15-17), und die Deutung des Feuers auf den Ort der Verdammnis konnte Otfrid ebenso als bekannt voraussetzen, wie die Bedeutungen von Spreu und Weizen einer Erläuterung nicht bedurften. Ungedeutet bleiben jedoch auch die Tenne, der Drescher, die Wurfschaufeln und der Wind. Dieses mehr das Bild insgesamt als seine Einzelelemente auslegende Verfahren unterscheidet Otfrid von den ihm bekannten Bibelkommentaren. Beda etwa gibt eine wesentlich detailliertere, auch 472 die Wurfschaufeln und die Tenne auslegende Interpretation Obwohl Otfrid das Gebet Spiritaliter überschreibt, bleiben seine Auslegungen relativ oberflächlich und gehen nicht ins Detail. Die Auslegung des Dreschergleichnisses ist freilich auch nicht der Hauptzweck des Kapitels I 28. Da die Gebetsintention primär ist, legt Otfrid das Gleichnis nur insoweit aus, wie die Auslegungen sich mit dem Gebetsanliegen decken. Alle Deutungen, die die Eindringlichkeit der im Gebet evozierten Vorstellung schmälern, läßt er aus - die der Tenne auf die Kirche, die das escha473 tologische Bild stören würde , ebenso wie die der Wurfschau474 fein auf die discretio iusti examinis Gottes, die einen Aspekt anspricht, den Otfrids Gebet nicht thematisiert, und daher die Geschlossenheit der Vorstellung beeinträchtigen würde. Anders als ein Evangelienkommentar fordert Otfrids Schlußgebet zum ersten Buch nicht den rationalen Nachvollzug einer Argumentation, sondern lädt, indem es dasselbe Anliegen in immer wieder variierten Bildern und Wendungen präsentiert, zur meditativen Versenkung ein. Doch läßt Otfrid die Bildlichkeit sich nicht verselbständigen, denn der Hörer oder Leser darf sich nicht in ihr verlieren und ihre Bedeutung vergessen. Deshalb wechseln ständig metaphorisch formulierte mit abstrakten Versgruppen: Abstrakt bleibt die Aussage der Verse 1-4, 8, 11-15 und 18-20, während in den Versen 5-7, 9f. sowie 16f. die auf das Dreschergleichnis zurückgreifende Bildersprache überwiegt. Neben der Gebetsintention verfolgt das Kapitel einen rezipientenorientierten Zweck, der ihm einen predigthaften Zug verleiht. Indem es die Glaubensrealität des Gerichts in variierender Breite vor Augen führt, ist es auch eine Mahnung zu einer Lebensführung, die Hoffnung gibt, der Verdammnis zu entgehen, und, da ein solches Leben keinem Menschen gelin472 Beda, In Lc, CCL 120, 81,2458f.: Per uentilabrum, id est palam, discretio iusti examinis per aream uero praesens ecclesia figuratur. Die relativ umfangreiche Deutung setzt sich fort bis 82,2509. - Zu Otfrids Kenntnis von Bedas Lukaskommentar KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 137. 473 Beda, In Lc, CCL 120, 81,2458f. 474 Beda, In Lc, CCL 120, 81,2458.
138
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
gen kann, zum Gebet um Gottes Gnade. Entsprechend ist es nicht als private Bitte des Dichters formuliert, sondern als gemeinsames Gebet einer Gemeinde. Nach der Aufforderung blttemes im ersten Vers, die das liturgische Oremus übersetzt, formuliert es stellvertretend Bitten, die das Publikum in betrachtender Versenkung nachvollzieht und am Ende durch ein gemeinsames Amen bekräftigt . Auch das zweite Buch endet mit einem recht umfangreichen Schlußgebet, das jedoch kein selbständiges Kapitel bildet, sondern die letzten zwei Drittel (dreißig von 46 Versen) der Conclusio l-ibr-i secund-i einnimmt. Auch hier spricht Otfrid im Namen einer Gemeinde, die seinen Bitten im abschließenden Amen zustimmt. Deshalb ist das Gebet in der Wir-Form gehalten. Wie das Schlußgebet von Buch I bezieht sich auch das zu Buch II nicht auf das gesamte Buch, sondern nur auf bestimmte, dem Gebet kurz vorhergehende Teile zurück. Anders als dort aber richtet sich der Rückblick hier auf zwei Gegenstände. Der erste Teil (17-26) knüpft an die in den Versen 7-16 der Conolusio
libri seoundi un-
mittelbar vor Beginn des Gebets erzählte Heilung eines Aussätzi475 gen und ihre Begründung an , während im zweiten Teil (27-46) noch einmal die Bergpredigt bedacht wird, die in den Kapiteln 476 II 15-2 3 wiedergegeben worden war. Der motivischen Zweiteilung entspricht nicht die Anordnung der beiden Anliegen. Sowohl die Bitte, die Lehren Christi beherzigen zu können und vor der Sünde bewahrt zu bleiben, als auch die erneut unter dem Doppelaspekt der Gemeinschaft mit den Erwählten und der Vermeidung der Strafe gefaßte Bitte um das ewige Leben werden in beiden motivischen Abschnitten des Gebets variierend und amplifizierend, jedoch in spiegelsymmetrischer Anordnung wiederholt. Gehen in der an die Aussätzigenheilung anknüpfenden Versgruppe (17-26) die (hier nicht sehr deutlich ausgeprägten) Bitten um das ewige Leben dem Anliegen der Sündenvergebung voraus, so bestimmt dieses im zweiten Teil (27-46) die ersten Strophen, während die Bitten um die
475 Mt 8,1-3. 476 Auch im Eingangsgebet zu Buch III hatte eine Untergliederung nach Motiven vorgenommen werden können, in der die Verwendung biblischer Ereignisse wesentlich wurde. Dort waren jedoch die einzelnen dem Evangelienbericht entstammenden Motive in den von ihnen geprägten Teilen des Gebets sehr viel beherrschender, als dies im Schlußgebet des zweiten Buches der Fall ist. - Die Einteilung dieses Kapitels in der Handschrift V ist nicht eindeutig zu erkennen. Sie übergeht mit Sicherheit das Einsetzen des Gebets in Vers 17 und versieht allein Vers 29 mit einer - nicht völlig gesicherten - Strophengruppeninitiale, die weder durch einen motivischen noch einen gedanklichen Einschnitt an dieser Stelle gestützt würde. (KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 200).
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Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
Seligkeit an das Ende rücken. Die motivische Zweiteilung und die rahmenförmige Anordnung der Gebetsanliegen werden überlagert von der kontinuierlichen Steigerung der Intensität des Gebets. Der größte Teil des Gebets spricht den druhtin
(17, 29, 40) Impera-
tivisch direkt an. Die Unmittelbarkeit der Anrede unterstreichen zahlreiche Imperative in extrem betonter Position am Strophenanfang (17, 21, 23, 25, 29, 33), wie schon der erste Abschnitt des Gebets erkennen läßt: 17 Dua druhtin
uns
bisoirmi Thäz 20
unsih
wir
fon
bifällen
selben
drüten
uns
mit
ginädono unsih
thaz 25 Bisoirmi fon
nüzze,
thes
ni
Gireino Hält
zi
thia
unsih egislichen
fon
fon
thinen
thinen,
ginühti
in
wir fon
fon
sühtin
gisoeides;
alten,
z&la birun
wir
bimtden!
thine
scälka,
sühti; widarmuatin,
then fon
sizze;
ni
liobon
allen
mit
wola
suntono
biwänkon thräti
iz
thinen
thia
githänka,
wir
uns
leides,
in notin
müazin
thaz
äbahen
alleru thines
githänkon! undati,
selbes
m&htin!
Mit diesen Versen stellt Otfrid sogleich die Verbindung zur zuvor erzählten Aussätzigenheilung her, doch zunächst (17-20) nicht zum Vorgang der Heilung selbst, sondern zu ihrem Zweck im Zusammenhang des Wirkens Christi in der Welt, der wie für Hra477 auch für ihn in der Festigung des Glaubens derer liegt,
ban
die als Zeugen des Heilungswunders Anhänger Christi geworden 478 sind und als kleine Gemeinde für die umfassende Gemeinschaft der Gläubigen in der Kirche stehen. Aus ihr bittet Otfrid stellvertretend für die in das Gebet Einbezogenen nie ausgeschlossen zu werden. Diese Bitte wird in den Versen 18-20 dreimal mit einer nur leichten Bedeutungsverschiebung variiert. Scheinen die Freunde und Anhänger Christi zu Beginn eher die Gläubigen im irdischen Leben, also die Kirche, zu bezeichnen, so liegt am Ende, wenn in der Trennung von ihnen eine z&la
(20b) gesehen wird, ihre
Auffassung als eschatologische Gemeinschaft der Erlösten in der 477 Hraban, in Mt, PL 107, 854B: Recte ergo praedicatione, atque doatrinam signi offertur ooaasio ut per virtutem atque miraaula praeteritus apud audientes sermo firmetur. 478 II 24,9 Er selbo tho gimeinta, thar horngibruader heilta mit sinen worton gahun, thar al thie Ituti iz sahun; Thaz sies wola lüsti, thiu lera in wari festi, thia se th&r innan th&s hortun mithontes; Thaz sie irw&ahetin früa joh hogtin h&rto tharazua, jäh iz wari fästi innan iro brüsti; 15 Thaz in thiu rrnat ni w&nkon, sin fästo in then githänkon, in hüge joh in miiate zi allemo änaguate.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
ewigen Freude näher. Mit der weitgehenden inhaltlichen Parallelität geht ein Parallelismus des Versbaus einher. Es entsprechen sich weitgehend die Aussagen der Halbverse 18a, 19a und 20b einerseits sowie die der Halbverse 18b, 19b und 20a andererseits, wobei der inhaltliche und verstechnische Gleichlauf im zweiten Fall durch deutliche anaphorische Bindungen unterstrichen wird. Nehmen die ersten vier Verse des Gebets die Begründung der Aussätzigenheilung auf, so richten die nun folgenden (21-26) den Blick auf die Tatsache der Heilung an sich. Wie im Eingangsgebet 479 zum dritten Buch wird die Krankenheilung tropologisch als Reinigung vom Aussatz der Sündigkeit gedeutet. Unter vorübergehender Aufgabe der Krankheitsmetaphorik wird auch diese Bitte variiert: die Bezeichnungen widarmuati
(23b) und undat (25b) sa-
gen kaum anderes als der Begriff sunta (22b) selbst. Eine geringfügige Bedeutungsverschiebung bringt zwar der Ubergang von der Heilungsmetapher zu den Vorstellungen des Gehalten- und Beschirmtseins (23a, 25a), die weniger die Vergebung bereits begangener als den Schutz vor zukünftigen Sünden meinen, und auch die Erwähnung der bösen Gedanken (24b) beinhaltet eine gewisse Spezifizierung, doch überwiegt der Eindruck nur leicht variierender Wiederholung, der erneut durch formale Parallelen zwischen den Versteilen, deren Aussagen sich entsprechen (einerseits 21a, 23a, 25a; andererseits 22b, 23b, 25b, 26a), verstärkt wird. Im zweiten Teil werden dieselben Gebetsanliegen im Gedanken an die Bergpredigt nochmals formuliert: 27 Thinu wärt hiar öbana,
thi uns zellent alla redina -
tharazüa firlih uns müates Firlih uns, druhtin, allen, 30
mit wtrkon io irfüllen
thaz wir thaz thin io wollen, thaz thinu wort uns zellen;
Thaz wir tharzua hüggen, wiht es ni firleiben
joh hüges filu güates;
in herzen uns iz l&ggen, ni wir iz thär gikleiben!
Firdrib fon uns in thräti
alio missodati,
thiz festino uns in müate,
theiz uns irge zi güate,
35 Thaz wir tharana wirkon
mit w&karen githänkon,
joh wir thaz io ähton
mit lüteren gidrahton!
Ther soädo fliehe in g&he, joh mit thiu giwerkon Thaz wir m&nahoubit 40
joh thiz sih uns io nähe, thaz thu uns es muazis th&nkon;
zi thinen sin gifüagit,
thie thionost thin hiar datun, Joh wir wesen blide
479 III 1,15f.; s.o. S. 121f.
so sie thih, druhtin, bätun;
in themo ewinigen
übe,
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Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
mit saalkon Mit ingilon
thinen
thinen;
in himilriohe zi
(wir ni geron wihtes
thaz wir then wSwon
in rihti
45 Fon ewon unz in ewon fon worolti
iamer
in thineru
mit then
w6rolti
mer),
miden,
gisihti;
drütselon,
sin thih iamer
löbonti!
Amen
Die Bitte um Schutz vor der Sünde erscheint als Gebet um den Willen und die Kraft, die Lehren der Bergpredigt beherzigen und in die Tat umsetzen zu können, und um Schutz vor allem, was ein gelingendes Leben gefährden könnte. Das ewige Leben ist ganz als Konsequenz einer solchen Existenz aus dem Geist der Bergpredigt aufgefaßt. Daraus folgt das Gebet um die ewige Seligkeit, um Gemeinschaft mit Gottes saalkon (42a) und drütselon (45b), die im irdischen Leben ihm gedinet (40) , seine Lehren befolgt und so das ewige Leben erlangt haben. Der Kausalzusammenhang zwischen den beiden Anliegen wird nur angedeutet. Auch hier besteht der Eindruck eines nicht argumentierenden Sprechens, sondern einer durch paraphrasierende Variationen der Kernaussagen von der Bedeutung ihres Gegenstandes überzeugenden Redeweise. Eine logische Abfolge ist kaum wahrnehmbar; selbst das Nacheinander von Bitten um Schutz vor der Sünde und um das ewige Leben wird dem Leser oder gar dem Hörer kaum bewußt. In kaskadenartiger Reihung folgen sich kurze Variationen desselben Anliegens mehr oder weniger unverbunden; gegen die Regeln der Syntax wird zwar nur im Anakoluth in Vers 27 offen verstoßen, doch führt die Vielzahl der Nebensätze, die durch die Konjunktionen thaz und joh oder durch konjunktionslosen Anschluß nur locker untereinander und mit den wenigen Hauptsätzen verbunden sind, dazu, daß ein syntaktischer Zusammenhang kaum noch wahrgenommen wird und in eine Vielzahl relativ selbständiger Einzelaussagen aufgelöst erscheint. Dies wird noch gefördert durch die Häufung von Anaphern (das viermalige Auftreten von Verben mit der Vorsilbe fir- in den Versen 28, 29, 32 und 33 sowie die große Anzahl mit thaz beginnender Verse und Halbverse) und von Alliterationen, die neue, der Satzstruktur gegenläufige Bindungen suggerieren. Erst von Vers 37 an beruhigt sich der emotionsgeladene Rhythmus mit dem Übergang von der Imperativischen zur optativischen Gebetsform, doch ist damit, wie die Beibehaltung der Anrede an Gott (40) zeigt, keine Verminderung der Unmittelbarkeit des Sprechens, so dern eine gesteigerte Feierlichkeit angestrebt. Zum erstenmal i diesem Gebet wird nun über mehrere Verse hinweg eine Vorstellur die der Freude der Erlösten in der Gemeinschaft der Heiligen u der Engel im Angesicht Gottes, in einheitlicher Motivik ausge-
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
staltet. Darauf beruht die Wirkung der Schlußverse, zumal die Seligkeit des ewigen Lebens auf dem Hintergrund der Leiden der Verdammten (4 3) um so heller erstrahlt und ihre ewige Dauer durch Formeln, die durch ihre in sich selbst zurückkehrende Struktur die Unendlichkeit andeuten (45 Fon ewon unz in ewon, 46 fon worolti zi worolti) , effektvoll unterstrichen wird. Auch am Ende des dritten Buches steht eine Beschreibung der Freude der Erlösten in der Seligkeit, die mit einem Gebet verbunden ist, doch ist die Schilderung hier in den dem Gebet vorhergehenden, noch an die Zuhörer gerichteten Teil des Kapitels verlegt. Das Schlußkapitel (III 26) geht aus von dem vorher berichteten Entschluß der Pharisäer und Hohenpriester, Christus zu töten, bedenkt die erlösende Kraft dieses Todes und gelangt in seinen letzten Versen zu einer Mahnung an alle Christen, die mit dem Tod Christi erkaufte Erlösung nicht durch ein sündiges Leben zu verwirken. Dieser Mahnung (61) folgt in den nächsten acht Versen eine Schilderung der Freuden des ewigen Lebens, deren Ende mit dem kurzen Gebetswunsch so siz ouh üns allen mit Kristes selbes willen! (70) den Segen Christi auf die Gemeinde herabruft, die mit Amen antwortet. Formal wie inhaltlich entspricht der letzte
Halbvers
des Schlußkapitels,
mit
Kristes
selbes
willen!
(70b) , fast exakt dem ersten Halbvers der Praefatio libri tertii (III
1 , 1 a Mit
selben
Kristes
segenon)
. Die Bitte
um den
Segen
Christi bildet so einen unauffälligen Rahmen um das dritte Buch. Auch im Schlußkapitel des vierten Buches (IV 37) bildet eine Auslegung des im vorletzten Kapitel berichteten biblischen Geschehens im Hinblick auf die Lebensführung jedes Einzelnen den Buchschluß. Während die Hohenpriester die Auferstehung Christi verheimlichen wollten (IV 36), hat jeder Christ den Auftrag, die Auferstehung zu verkünden, damit auch die, die noch nicht von ihr wissen, sie erfahren, an Christus glauben und mit den Verkündern zusammen am ewigen Leben Anteil haben können (25f.). Doch geht nun mit der Schilderung der himmlischen Freude kein Gebet um die Seligkeit einher . Trotzdem fehlt im Schlußkapitel des vierten Buches ein Gebet nicht völlig. In den Appell zur Verkündigung der Auferstehung fügt Otfrid eine sehr kurze Bitte an den Heiligen Geist ein:
thaz
due
uns
ther
guoto
willo!
(30b).
Auf
ihn verweist die Erwähnung des Willens, der in einer der Varianten der augustinischen Trinitätsformel ihm zugeordnet ist 481 , und 480 Das auch hier dem letzten Vers des Buches angefügte Amen mag dennoch vom Publikum mitgesprochen worden sein - zwar nicht zur Bekräftigung einer Bitte, aber als Bestätigung des gemeinsamen Glaubens an die Auferstehung und der Hoffnung auf das ewige Leben. 481 EGERT, Holy Spirit, S. 26f.
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
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auch die Eigenschaft der Güte wird unter den Personen der Dreifaltigkeit nicht erst seit Abaelard, sondern schon in der gleichfalls auf Augustinus zurückgehenden Appropriationenlehre dem Hei482 ligen Geist zugeordnet . Zweifellos denkt Otfrid an die Spendung des Heiligen Geistes an die Jünger bei ihrer Aussendung 483 durch Christus
· Wie diese sieht Otfrid sich und seine Mit-
christen beauftragt, den Glauben an die Auferstehung
weiterzuge-
ben. Deshalb bittet er für seine Hörer und wurde Leser484um die geistliche Stärkung, diesich auchsowie den Jüngern zuteil Wie gezeigt wurde, muß als Schlußgebet von Buch V sein vor485 letztes Kapitel, die Oratio (V 24), betrachtet werden :
Oratio 1 Giw&rdo
uns geban,
wir ünsih
muazin
Mit in wir muazin thesa 5 Erdun
drühtin,
selbun
bliden
inti männes
Wir birun,
drühtin,
selbes
thaz h&best
inti alles alle
drühtin thin;
mähtin,
thinen; thu uns
thia wir hiar saribun
inti himiles
f&hes
thlnes
mit h&ilegon
niazan,
wünna
mit
gihiizan,
fbrna!
fliazentes, bist es
alles.
ni laz queman
thaz io in müat
theih Giboran
hiar gidue
in riche
wir ni würtun
wiht
thes thir ni
er thino mähti
iz
min,
Hohe!
woltun;
482 RUH, Trinitarische Spekulation; EGERT, Holy Spirit, S. 28. 483 10 20,21f. 484 Der Beistand des Heiligen Geistes, den Otfrid hier für sich und sein Publikum erbittet, ist von der dichterischen Inspiration zu unterscheiden. Die hier erbetene geistliche Stärkung soll nicht speziell zum Dichten oder zum Verständnis inspirierter Dichtung befähigen, sondern Kraft geben zur Bezeugung der Auferstehung im christlichen Leben schlechthin. 485 Dagegen will HAUBRICHS (Ordo, S. 261) dieses Kapitel in Beziehung setzen zur Invooatio soriptoris ad Deum und es als Werkschlußgebet verstehen. Er überschätzt jedoch die Bedeutung der Tatsache, daß die Gebetskapitel I 2 und V 24 innerhalb des Gesamtwerks an vergleichbarer Stelle stehen (als zweites bzw. vorletztes gezähltes Kapitel sowie als Gebet unmittelbar vor bzw. nach dem Evangelienbericht) und berücksichtigt nicht hinreichend die in beiden Gebeten ganz unterschiedliche innere Verbindung zum Evangelienbuch: Während das Gebetskapitel I 2 die Inspiration für das Gesamtwerk erbittet, richtet die Oratio V 24 den Blick ausschließlich auf einen begrenzten Werkteil, nämlich die Darstellung des Jüngsten Gerichts und des ewigen Lebens im fünften Buch (V 19-23). Gebete, die der Ausrichtung der Invooatio soriptoris ad Deum auf das Gesamtwerk entsprechen, finden sich erst in der Conolusio voluminis totius und der Widmung an Hartmut und Werinbert. Die motivische Parallele, die HAUBRICHS zwischen den Kapiteln I 2 und V 24 feststellt, ist nicht tragfähig genug, um die Theorie einer umfassenden Analogie zu stützen. Zwar erscheint auch in der Invooatio soriptoris ad Deum der Gedanke der Herrschaft Gottes über den Menschen (I 2,33-36; vgl. V 24,5-14), doch ist er dort keineswegs so zentral wie in der Oratio.
144 10
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
steit ouh unser enti
in thines selbes
Ist uns in thir giwissi
ouh thaz
thaz unser stübbi fulaz Thu weltist rihtis
ouh ana this druhtin,
thes selben
älleswio
thin ist:
ni dua,
Wir thina geginwerti joh sin thih saman
iamer muazi
bi unsih so thu bist;
niazen mit
ni sin;
tharazua, bliden;
so man drühtinan
mit heilegon löbonti
ni mag.
thoh wir es wirdig
Theih thar thih lobo ubar al, allen kröftin minen
ginado
mih io füagi
thaz ih mih untar thinen 20
ürdeiles,
then man biwänkon
l&iti unsih in richi thin, Druhtin,
irst&ntnissi,
werde avur sülih soso iz was.
selbo thu then d&g
15 Nu iz ällaz,
hänti;
soäl
thinen;
giwurti,
alio wtrolt worolti!
Amen.
Wie die übrigen Buchschlußgebete bezieht sich auch dieses nicht auf das ganze Buch, sondern nur auf seinen letzten Teil. Die pluralische Redeweise zeigt, daß meist Dichter und Publikum gemeinsam beten; nur an einigen Stellen spricht Otfrid von sich allein. Das imperativisch formulierte Gebet redet Gott viermal bei seinem Namen druhtin an (1, 7, 15, 17). Inhaltlich ist es dreigeteilt: Nach der Bitte um das ewige Leben (1-4) geht Otfrid zu einer preisenden Darstellung der Allmacht Gottes über (5-14) , um mit einer erneuten, nun ausführlicher variierten Bitte um die 486 ewige Freude (15-22) zu schließen Der erste Sinnabschnitt (1-4), der explizit auf die zuvor berichteten Freuden der Erlösten zurückverweist (4), ist ein gemeinsames Gebet von Dichter und Publikum. Die leicht variierende Schilderung des ewigen Lebens greift auf das bekannte Motiv der unablässigen Freude in der Gemeinschaft der Heiligen zurück; neu ist der die Bitte begründende Appell an die Macht Gottes gleich im ersten Vers, der den Aspekt bezeichnet, unter dem Gott hauptsächlich gesehen wird. Obwohl der Gedanke an die Allmacht Gottes 487 auch in anderen Gebeten nicht fehlt , gewinnt er nirgends sonst so zentrale Bedeutung. Diese Akzentuierung des Gottesbilds entspricht der Darstellung Gottes in den eschatologischen Kapiteln V 19 bis V 23, auf die sich das Gebet bezieht. Noch deutlicher wird das veränderte Gottesbild im kurzen Schöpfungsüberblick zu Beginn des zweiten Sinnabschnitts, der Gott als Herrscher über Himmel, Erde und Wasser sowie über Tiere und Men486 Die Strophengruppeninitialen der Handschrift V markieren diese Sinnabschnitte nicht; das Kapitel ist dort ungegliedert (KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 210). 487 Vgl. etwa II 24,26; IV 31,27; V 4,1; V 23,27 u.ö.
Die Eingangs- und Schlußgebete der Bücher
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488 sehen preist . Satz- und Versbau sind hier besonders effektiv: Die fünf Genitive in den ersten drei Halbversen der Strophe 5f. erzeugen eine ungewöhnliche Spannung, deren Lösung die zweite Hälfte von Vers 6 bringen muß; in diesem Halbvers aber wird Gottes Herrschaft über die Welt formuliert. Der damit pointiert herausgestellte Aspekt der allumfassenden Gewalt Gottes bestimmt auch die folgenden Verse, die den Blick auf den Menschen zentrieren, denn aus der Feststellung, alle Menschen unterstünden Gottes Herrschaft (7a), ergibt sich die Bitte, er möge nicht zulassen, daß Otfrid im Leben etwas unternehme, das nicht sein Gefallen finde (7b-8b). Nach diesem kurzen persönlichen Einschub führt Otfrid die Darstellung der Gewalt Gottes über das Leben jedes Menschen fort, indem er aufzeigt, daß allein Gott den Heilsweg des Christen bestimmt. Geburt und Tod liegen in seiner Hand (9f.); er hat den Gerichtstag festgesetzt, dem kein Mensch entgeht (13f.). Er hat ihm aber auch die Auferstehung verheißen, ein Wunder, dessen Unfaßbarkeit Otfrid durch die paradoxe Vorstellung des zum Leben wiedererweckten verwesten Leichnams anschaulich zu machen sucht (11f.). Indem Gott das nach den Naturgesetzen Unmögliche bewirkt, erweist sich seine übernatürliche Macht. Mit Vers 15 beginnt der dritte Sinnabschnitt (15-22), der die Bitten um das ewige Leben ausführlicher wiederholt. Anders als in den entsprechenden Bitten früherer Buchschlüsse erscheint die Aufnahme in die ewige Freude hier als neuer Erweis der Allgewalt Gottes. Der das ganze Schlußgebet des fünften Buches dominierende Gedanke an Gottes Gewalt führt so zu einer Umakzentuierung der Bitte um das ewige Heil, die vorher eher an Gottes guati als 489 an seine Macht gerichtet war . Die Bitten münden in eine breite Schilderung der Seligkeit. Sie bleibt auch hier weitgehend in der bekannten Motivik. Neu tritt nur die im vorhergehenden Kapitel entwickelte Vorstellung des nie endenden Gotteslobs hinzu 490
488 HAUBRICHS (Ordo, S. 261) schlägt als Quelle dieser Passage zur Herrschaft Gottes über die Natur und die Menschen die Areopagrede des Paulus (Act 17,24-31) vor. Doch bleiben die Parallelen so ungenau, daß anzunehmen ist, daß Otfrid die Darstellung der Allmacht Gottes ohne biblische Vorlage verfaßt hat. Da es sich um eine Zusammenstellung fundamentaler Glaubenswahrheiten handelt, ist die Annahme einer Quelle unnötig. 489 Noch gegen Ende des vierten Buches interpretiert Otfrid die Erlösungsverheißung an den guten Schacher als Tat der göttlichen Güte (IV 31,28). 490 Das Motiv des ewigen Gotteslobs erschien bereits im Schlußvers des zweiten Buches (Ii 24,46), kam dort aber kaum zum Tragen. Seine vergleichsweise große Bedeutung im Schlußgebet von Buch V ist gleichfalls ein Indiz für die inzwischen vollzogene Umakzentuierung des Gottesbildes. - zu den biblischen Ursprüngen dieser Vorstellung vgl. etwa Ps 18,2 Caeli enarrant
gloriam Dei; 49,6 Et annuntiabunt caeli iustitiam eins; 88,6 Confitebuntur caeli nrirabilia tua, Domine, etenim veritatem tuam in ecolesia sanctorum.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Auch in diesem Sinnabschnitt tritt Otfrid einmal aus der Gebetsgemeinde heraus und formuliert eine Bitte nur für sich selbst (17-20). So ist das Schlußgebet von Buch V eine Mischung von persönlichem und Gemeindegebet, in der jedoch die gemeinsamen Bitten stärker ins Gewicht fallen als die privaten: In sechs der 22 Verse spricht Otfrid allein von und für sich; die übrigen Bitten, darunter auch die alles Gesagte noch einmal bekräftigende Schlußstrophe, sind das Gebet der Gemeinde aus Dichter und Publikum. Am Ende eines Kapitels über Bucheingangs- und -schlußgebete ist zu fragen, ob zwischen dem Gebet am Anfang und dem am Ende eines Buches Korrespondenzen bestehen. Auf die formale und inhaltliche Verwandtschaft der Bitten im ersten und letzten Halbvers von Buch III wurde schon hingewiesen. Eine ähnliche Beziehung zwischen der Schlußbitte dieses Buches und dem längeren Gebet in der Pvaefatio libvi tertii besteht dagegen nicht. Die ihnen gemeinsame Bitte um das ewige Leben teilen sie mit so vielen Gebeten, daß 491 sich durch sie keine besondere Verwandtschaft herstellt . Ähnlich wie in Buch III findet auch die kurze Schlußbitte des vierten Buches eine gewisse Entsprechung in der stoßgebetartigen Inspirationsbitte an seinem Beginn (IV 1,5b), doch ist die Parallele hier weniger genau: Es fehlen die exakt symmetrische Anordnung und der wörtliche Anklang; nur eine gewisse Ähnlichkeit ihrer Anliegen - die Lenkung der Worte Otfrids im Eingang, Beistand für jeden Christen zur Verkündigung des christlichen Glaubens im Schluß - verbindet die Bitten. Etwas konkreter sind die Parallelen zwischen dem Eingangs- und dem Schlußgebet des fünften Buches. Sie liegen in der Betonung der Allmacht Gottes, durch die sich in diesem Buch darüber hinaus die Verbindung zwischen Schlußgebet und Buchinnerem herstellt. Die beiden Gebete berühren sich damit gerade in dem Gedanken, der in dem Buch, das sie umschließen, zentral ist.
491 Eine engere motivische Parallele besteht dagegen zwischen dem Eingangsgebet des dritten und dem Schlußgebet des zweiten Buches, in dem gleichfalls die Aussätzigenheilung aufgenommen und auf die Vergebung der Sünden gedeutet wird (II 24,21f.; III l,15f.).
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Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete
5. Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete Kapiteleingangsgebete sind außerordentlich selten. Nur zwei Kapitel im dritten Buch beginnen mit einer Hinwendung zu Gott; beide legen ein zuvor erzähltes Wunder aus und bitten um die Fähigkeit zur korrekten Darlegung seines geistigen Sinns. Die erste Bitte leitet das Spiritaliter-Kapitel im Anschluß an die Darstellung der Brotvermehrung (III 7) ein. Warum gerade hier die Bitte um Beistand beim Auslegen der Schrift erneuert wird, ist nicht schlüssig zu beantworten. Zwar mißt Otfrid dem Speisungswunder große Bedeutung bei (III 6,2), doch läßt er unausgesprochen, worin diese genau liegt. Besondere Probleme der Deutung sind kaum Ursache des Gebets, denn es handelt sich weder um die erste Auslegung in Otfrids Werk noch um seine umfangreichste Allegorese. Die Interpretation ist auch nicht außergewöhnlich kompliziert. Sie erfordert zwar die Deutung zahlreicher Details (Zeitpunkt und Ort des Geschehens; Kruste und Krume des Brotes sowie das Brotbrechen; die Fische in der Tiefe des Sees; der Diener, der Brot und Fische bringt; das Aufsammeln der Brosamen in Körben; das Gras, auf dem das Volk lagert), doch ist die zwei Kapitel umfassende Allegorese der Verwandlung von Wasser in Wein (II 9f.) nicht einfacher, obwohl dort eine Bitte um rechtes Verständnis fehlt. Offensichtlich folgt die Verwendung von Inspirationsbitten am Kapiteleingang eher Otfrids subjektivem Eindruck von der Problematik der vorzunehmenden Ausdeutung als ihrem objektiven Schwierigkeitsgrad. Otfrids Gebet zur Allegorese der Brotvermehrung umfaßt die ersten zwei Strophen des Kapitels:
1 Drühtin min ther güato,
nu rihti mih
zi thisu mir then hügu dua Thaz ih hiar giz&ine mit geistlichen
gimüato,
joh thaz herza
waz thiu thin gouma
redinon
tharzua,
meine,
then thinen liobon
thegenon.
Die Imperativische Anrede Gottes und seine Anrufung als Drühtin (1a) stellen ein sehr direktes Verhältnis zwischen Beter und Gott her. Da der erste Halbvers Gott als gut beschreibt und der letzte von den Hörern als den liobon thegenon Gottes spricht, erwächst die Inspirationsbitte aus einer Bekräftigung des Vertrauens auf Gottes Zuwendung zu den Menschen, das hier anders als in allen längeren Inspirationsbitten nicht vom Gedanken an die Sünde gestört ist. Die Bitte ist zunächst gefaßt in die bei
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
492 Otfrid häufige Metapher der Lenkung durch Gott und dann variiert als Gebet um die Bereitung von hugu und herza. Beide Begriffe bezeichnen bei Otfrid 493 (neben anderem) das Organ der tiefen religiösen Hinwendung zu Gott ; ihre Doppelung unterstreicht die Ernsthaftigkeit des Anliegens. Darüber hinaus indiziert die bei aller Uberschneidung ihrer Bedeutungen unterschiedliche Akzentuierung der Begriffe als eher intellektuelle (hugu) und eher 494 gemüthafte (herza) Komponente des Menschen , daß der Beistand den gesamten Menschen mit seinen rationalen wie mit seinen emotionalen Aspekten ergreifen soll. Noch schlichter ist die einzige weitere Inspirationsbitte in einem Kapiteleingang. Sie steht am Anfang der Auslegung der Heilung eines Blindgeborenen (III 21): 1 Firlthe mir nu selbo Krist, thaz ih nu hiar gimeine, Ther blinter
er ther süntoloso
man
thes betalares
dugon,
liobo druhtin
wenan ther mhn
ward giböraner
S Er er zi thiu iz gifiarta,
ther unser
ist,
bizeine
joh wiht ni mohta sehan er,
thaz höro in thiu dugon mit hanton sinen thaz er sid mohti
giklan;
rüarta
scöwon.
Auch hier ist nicht ersichtlich, warum gerade dieses Auslegungskapitel eine eigene Bitte um Gottes Beistand verlangt. Die Deutung der Blindenheilung auf die Erlösung der Menschheit aus der 495 Sünde war Allgemeingut , und auch formale Aspekte geben zu einem Gebet keinen Anlaß, denn das Kapitel nimmt (wie auch der Abschnitt III 7) nach den bislang aufgezeigten Strukturplänen des dritten Buches keine herausragende Position in diesem Werk496 teil ein . Auch diese Bitte entspringt aus einem vertrauten Verhältnis zwischen dem Betenden und Gott. Sprachlich klingt sie teilweise eng an das Eingangsgebet von II 7 an (zu III 21,2 vgl. III 7,3), und auch der inhaltliche Bau ist sehr ähnlich. Auf eine kurze Bitte folgt die Angabe des Vorhabens, das zum Gelingen gebracht werden soll. Der die eigentliche Bitte formulierende Hauptsatz ist allerdings in III 21 noch kürzer als in III 7 und
492 Vgl. etwa I 2,32; IV 1,5; Ad H. 7. 493 Diese Bedeutung wird für hugu am deutlichsten, wenn Otfrid von Abel sagt, daß er hugu rihta sinan in selb drühtinaN! {Ad H. 28). Eine ebenso tiefgreifende Ausrichtung auf Gott hin ist gemeint, wenn Christus Petrus auffordert, das Gotteswort in herzen zu befestigen (V 15,38) oder die Jünger zum Gebet In herzen (II 21,17) anhält. Weiteres bei KELLE, Glossar, S. 275f. , 286. 494 HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 207. 495 Belege bei HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 56-58.
Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete
149
umfaßt allein den ersten Vers, so daß dieses Gebet besonders unauffällig wirkt. Diesen Eindruck stützen die optativische Formulierung des Anliegens und der Verzicht auf metaphorisches Spre497 chen. Anders als die Heilungen des Stummen und des Lahmen faßt Otfrid die des Blindgeborenen nicht als einen der Inspiration vergleichbaren Vorgang auf und aktualisiert sie nicht für seine Situation. Wie auf der Ebene der Bücher im Schluß regelmäßiger Gebete auftreten als im Eingang, finden sich auch in den Kapiteln mehr Gebete in den letzten als in den ersten Versen. Nur ein Kapitel, die Auslegung der Brotvermehrung (III 7), besitzt sowohl ein Eingangs- als auch ein eindeutig als solches erkennbares Schlußgebet. Das Schlußgebet ist noch kürzer als die Eingangsbitte: 89 Er werd hungere
unsih
gibliden
biwerien
io joh
ζ en göumon
ouh fon
töde
sinen, nerien!
Das unauffällige, durch seine optativische Er-Form kaum von der vorangehenden Darlegung abgesetzte Gebet erbittet anders als das Eingangsgebet des Kapitels Gnade für Dichter und Publikum gemeinsam. Die Bildlichkeit ist dem biblischen Bericht entnommen. Otfrid geht hier im kleinen ebenso vor, wie er es im Falle des 498 Schlußgebets zum ersten Buch in größerem Rahmen tut. Das historische Bibelgeschehen verbildlicht als Metapher seiner geistigen Bedeutung das Gebetsanliegen; durch die Rückübersetzung des Bildes, die in diesem Fall an die wenige Verse zuvor gegebenen Auslegungen anzuknüpfen hat, entschlüsselt sich sein Sinn und damit das Anliegen. Die Bitte um Teilhabe an den göumon (89b) Christi meint den Wunsch, zu einem vollen Verständnis der Schrift 499 zu gelangen . Ein zweiter Sinn tritt hinzu, denn neben dem rechten Schriftverständnis bezeichnet die Speisemetapher bei Otfrid grundsätzlich auch das ewige Leben"^^. Nicht jede Erwähnung der gouma muß beide Bedeutungen beinhalten, doch ist für dieses Schlußgebet anzunehmen, daß auch an den eschatologischen Aspekt gedacht ist, denn der Hinweis auf die lebenserhaltende Kraft der Speise legt den Gedanken an das ewige Leben nahe. Zwar sichert 496 HAUBRICHS, Ordo, 497 III l,13f. 498 I 28.
S. 210-32; KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 306-33.
499 Iii 7,45 Waz förasagon zellent joh uns thie selmi singent, ouh gibot thaz älta, er gkistlicho uns iz zälta; Thaz spintot er nu liutin mit gkistliahen dätin, mit g&istlieheru teru, thaz sägen ih thir zi wäru. Vgl. auch III 7,23-36.75-78. 500 HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 181.
150
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
der Kontrast von Speise und Tod allein noch nicht die Deutung der gouma auf das ewige Leben, denn er kann auch im Rahmen der zunächst angeführten Interpretation auf den Tod in der Sünde infolge eines Mangels an der Speise des rechten Schriftverständnisses 50 1 zielen . Die zusätzliche eschatologische Interpretation provoziert jedoch die Verbindung der Speisemetapher mit dem Verb gibliden (89a), einem Begriff, der zu Otfrids festem Wortschatz für die Evokation der Freuden des ewigen 502Lebens zählt und in kaum einer Beschreibung der Seligkeit fehlt , während er in anderen Zusammenhängen seltener auftritt. Eine seltsame Zwischenstellung zwischen Darlegung und Gebet nimmt der Schluß der Auslegung der Heilung eines Blindgeborenen (III 21) ein, die als einziges weiteres Kapitel auch ein Eingangsgebet aufweist: 29 Inliuht
er ünsih filu främ
thaz uns thiu sin guati Thäz wir thaz irkäntin p£din in girihti Joh wir nan muazin indänemo
ännuzze,
35 öfenemo müate,
joh er hera in wörolt thiu tugun
indäti;
wara wir gängan
zi sineru sotwon
quam,
saoltin,
eregrehti;
bffenen
öugon,
thaz uns iz wola
sizze;
theiz üns irge zi güate,
mit thes h&rzen ougon
muazin
lamer scöwon!
Amen.
Ähnlich wie in manchen Gebeten besteht diese Versgruppe aus einem kurzen Hauptsatz und mehreren von ihm abhängigen konjunktivischen Nebensätzen. Doch formuliert der Hauptsatz (29) keine Bitte, sondern eine Feststellung; die Nebensätze sind daher nicht Differenzierungen eines zunächst summarisch genannten Gebetsanliegens, sondern sie zählen in dem Wunderbericht entnommenen Bildern die heilbringenden Konsequenzen auf, die die im Hauptsatz festgestellte Erleuchtung der Menschen nach sich zog: Christus hat die Menschen von der Blindheit der Sünde geheilt, so daß sie nun durch das rechte Begreifen der Schrift den Weg zu Gott finden (31f.) und ihn schauen können (33a), zunächst mit offenen öugon (33b) und dann in immer weitergehender Öffnung für Gott mit indänemo
ännuzze
mit thes herzen ougon
(34a), Ofenemo muate
(35a) und schließlich
(36a) in vollkommener Offenheit, die, wie
ihre Beschreibung als immerwährend (36b) andeutet, erst im ewigen Leben erreicht sein wird. Obwohl es sich um eine Beschreibung 501 Vgl. III 1,21-26; s.o. S. 123f. 502 Vgl. etwa Ad S. 41; II 6,58; II 12,18; III 26,68; IV 37,36; V 23,216; V 24,2.18.
151
Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete
handelt, beendet Otfrid diese Strophengruppe mit dem Gebetsschluß Amen. Dies legt es nahe, die eindrucksvoll steigernde Nachzeichnung der fortschreitenden Öffnung des Menschen für Gott auf dem Weg zum Heil auch als Gebet um die Gnade zu verstehen, ihrer teilhaftig zu werden. Eine solche Auffassung kann sich darauf stützen, daß die von Vers 30 an durch sieben Verse fortgeführte Reihung von Nebensätzen den Leser und mehr noch den Hörer den kurzen Hauptsatz, der vorausgeht, vergessen läßt. Je mehr sich die Reihe abhängiger Sätze von der ihr zugrunde liegenden Feststellung löst, desto weniger steht der Auffassung dieser Versgruppe als Gebet im Wege, denn die Aneinanderreihung mehrerer durch thaz oder joh eingeleiteter konjunktivischer Finalsätze entspricht genau dem Bau zahlreicher Gebete Otfrids, in denen eine ganz ähnliche Reihe konjunktivischer thaz-Sätze das Anliegen variiert und ausdifferenziert. Derartige Strukturen 50 3 sind in Otfrids Anrufungen so häufig , daß ein mit seinem Werk vertrautes Publikum sie sogleich mit einem Gebet in Verbindung bringen mußte. Unter den weiteren Kapiteln, die mit einem Gebet schließen, befindet sich nur noch eine Auslegung, die Deutung der Krankenheilung am Teich Bethesda (III 5), deren letzte zwei Strophen eine Bitte des Dichters und seines Publikums bilden: 19 Giwerdo
ünsih,
joh uns gidua
druhtin,
heilen
thu si/azo
Hoben
drüton
thio unse thürfti
Thaz uns ni wese thaz zi suär, joh soöno untar männon
mit
thinen,
grozo;
wir ünsih io firdrägen
io emmizigen
hiar,
minnon!
Auch dieses Schlußgebet nimmt das biblische Geschehen als Bild für ein Gebetsanliegen auf: Christus möge die Seelen der Betenden und aller Mitchristen (19b) von der Krankheit der Sünde heilen. Die variierende Neuformulierung der Bitte im zweiten Vers bringt keinen neuen Akzent; die erbetene Wandlung der Not in Süße zielt ebenso auf heilende Erleichterung in der Krankheit 504 der Sünde wie der erste Vers . Neues kommt erst in der zweiten Strophe hinzu. Hier bittet Otfrid - einzigartig unter den bisher betrachteten Gebeten - um die Fähigkeit, die Mitchristen zu lieben^^. Der Gedanke der Caritas spielt in dem Kapitel, das die503 Vgl. I 2,5-18.41-45.48-51.53-58; I 28; II 24,38-46; III 1,23-28 u.a.m. - Ähnlichkeiten zwischen dem Stil dieser Passage und Otfrids Gebetsstil bemerkt auch ERNST (Liber Evangeliorum, S. 243), ohne daraus auf eine Gebetsintention dieser Verse zu schließen. 504 OHLY, Geistige Süße, S. 116. 505 Nur im Gebetskomplex am Ende der Widmung an Hartmut und Werinbert trat
152
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
ses Gebet beendet, keine Rolle; der dem Gebet unmittelbar vorangehende ausführliche Hinweis auf die Mißgunst der Juden (7f., 11-18) bietet aber genügend Anlaß, an das Gebot der Nächstenliebe zu erinnern. Auch wenn ein Schlußgebet am Ende eines nicht auslegenden, sondern berichtenden Kapitels steht, enthält es Rückverweise auf das jeweils erzählte biblische Geschehen, doch verhalten sich biblisches Ereignis und Anliegen dann nicht wie Litteralsinn und allegorische Bedeutung, sondern die Erzählung geht in anderer Weise in die Schlußbitte ein. Ein erstes Beispiel gibt die Reaapitulatio signorum
in nativitate
Christi
(II 3), die entgegen ihrem Ti-
tel nicht nur eine zusammenfassende Betrachtung der Ereignisse um Christi Geburt bietet, sondern in der Anspielung auf die Taufe im Jordan (45-54) den Bibelbericht fortführt. Dieses über die bloße Reaapitulatio hinausgehende Element liefert die zentrale Bildlichkeit für die Kapitelschlußbitte: 63 Bi thiu Hemes
ίο gigahon
er unse wega irwente 65 Er ünsih ni bisoufe joh iagitih Thes ginäda
zi then drühtines fon themo
äfter themo
biw&nke,
fiante; döufe,
thaz er nan ni
uns scirmen,
ther nan silbo ubarw&nt,
ginädon,
firsenke;
joh wir nan ouh
irbarmen,
so thu thir hiar nu lesan scalt.
Voraussetzung für die allegorische Deutung des Bibelgeschehens in den bisher behandelten Kapitelschlußgebeten war eine Parallele zwischen dem im Evangelium berichteten Ereignis und dem Anliegen der Schlußbitten. Die Gnade, von deren Gewährung im Buchstabensinn das Evangelium erzählte, sollte den Betenden in geistigem Sinn zuteil werden. Eine solche Parallelisierung verbietet sich in einem Gebet, das an die Taufe Christi anknüpft. Da diese nicht als Gnadenerweis angesehen werden kann, bietet sich keine tropologische Auslegung auf die Situation der Betenden an. So muß die innere Verbindung zwischen Schlußbitte und Bibelbericht hier lokkerer bleiben. Sie besteht nur darin, daß einzelne Elemente des biblischen Ereignisses als Metaphern im Gebet wiederkehren. Auch diese Schlußbitte ist ein Gemeindegebet. Der Dichter fordert im einleitenden Vers sein Publikum zum inneren Mitvollzug der Bitten auf, die er ihm vorformuliert. Die Hörer sind nicht aktiv beteiligt; das Gebet kennt nicht einmal ein gemeinsames
bislang der Gedanke der Caritas in Erscheinung. Dort war er jedoch nicht Anliegen, sondern Anlaß des Gebets.
153
Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete
Amen.
Der letzte Halbvers leitet bereits zum nächsten Kapitel
über. Als einziges berichtendes Kapitel im dritten Buch besitzt die Erzählung von der Begegnung Christi mit einer Ehebrecherin (III 17) gegen Ende ein Gebet: 59 Ginädo, bin
drühtin, suntig
Waz wari thuruh
thu
in
rächa
githankon minu,
thio
mino
H i l f , drühtin,
mir
thesemo 65 Thaz joh
ih ih
ouh min,
armen
joh ni wari
ubili in
nöti,
wlbe,
drühtin,
joh
suntig
min,
wirkon!
mänagfalto
thir
thin,
thinu, fr&vili?
hiar
nu
mir
ni
hüarlust zi
saälk
leidlichen
so thu
thaz io,
bin
gin&da
joh
ni missigänge si,
ih
io
ämmiziger
dati klibe;
thinge, soälk
thin!
Obwohl es nicht in den allerletzten Versen steht, ist dieses Gebet als Kapitelschlußbitte aufzufassen, denn es beendet die 66 von 70 Versen einnehmende Erzählung, auf die nur noch vier Verse mit einem neuen Thema folgen, das nur deshalb angefügt ist, weil Otfrid ihm bei seinem stark auswählenden und zusammenfassenden Erzählverfahren im dritten Buch
keine ausführlichere Darstel-
lung widmen wollte. Anders als die bisher betrachteten Schlußbitten ist das Gebet in III 17 eine persönliche Bitte Otfrids nur für sich. Während seine beiden ersten Strophen (59-62) ein eindringliches, von einer nur kurzen Bitte eingeleitetes Sündenbekenntnis darstellen, das sich deutlich am Confiteor und der Komplet orientiert^
0
der Messe
, formuliert die zweite Hälfte
(63-66) in enger Anlehnung an das Evangeliengeschehen die beiden Anliegen der Vergebung der Sündenschuld und des Schutzes vor weiteren Sünden. Eine Allegorese ist nicht erforderlich, denn Otfrid bittet im Litteralsinn um die Gnade, die der Ehebrecherin gewährt wurde (63a-64a). Seine Bitte um Schutz vor weiteren Sünden (64b-65b) geht über die der Ehebrecherin gewährte Gnade hinaus, doch bietet der Evangelienbericht hierfür einen Ausgangspunkt: Indem Christus die Ehebrecherin ermahnt, in Zukunft nicht mehr zu sündigen, eröffnet sich auch im Evangelium die Perspektive eines sündenfreien Lebens 508 . Bewahrung vor neuer Schuld,
506 Vgl. Ad Liutb. 32-37; III 1,1-6; III 14,65f .71-74. 507 Vgl. quia peocavi nimis aogitatione, verbo et oipere (Officio Divinum Parvum, S. 57). 508 In Otfrids Nachdichtung lauten die Worte Christi an die Ehebrecherin:
57 Noh ih (...) firmonen thih: nu garik thu främmort inti sih thaz thu bigoumes iamer thir, thaz thu ni süntos furdir.
154
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
um die Otfrid bittet, wird der Ehebrecherin allerdings nicht versprochen. Der Ton dieses privaten Gebets ist inständiger und intensiver als der der Kapitelschlußbitten, in denen der Dichter gemeinsam mit seinem Publikum betet. Die Imperativische Form, vor allem die zweimalige Stellung des das Flehen um Gottes Gnade ausdrükkenden Imperativs am Versanfang in Verbindung mit einer namentlichen Anrufung Gottes (59, 63), stellen ein sehr direktes Ver509 hältnis zwischen dem Beter und dem Angerufenen her . Otfrid verdeutlicht die Tiefe seines Sündenbewußtseins durch eine Häufung von Begriffen, die seine Schuld mit der der Ehebrecherin auf eine Stufe stellen. Die Sünde der hüarlust (64) wird zur Synekdoche seiner Verfehlungen. Aus dem Confiteor wählt er den die Sündigkeit des Menschen am umfassendsten ausdrückenden Satz für sein Gebet aus und verstärkt das liturgische Schuldbekenntnis noch durch das Attribut leidlichen (60b). Andererseits beteuert er aber auch sein Vertrauen auf Gottes Gnade (61 f.) intensiver als in vielen anderen Gebeten. An der Entstehung des dringlichen Tons der Bitten ist auch 510 die Form beteiligt: Ähnlich wie in der Invokation zum Gesamtwerk , in der ebenfalls Sündenbewußtsein und Gottvertrauen in enger Verbindung zu evozieren waren, nutzt Otfrid auch hier die Möglichkeiten des Versbaus. Wieder erscheinen die Aussagen über 511 den Menschen und über Gott in getrennten Teilen des Langverses , so daß der Versbau sowohl den durch die Sünde geschaffenen Abstand als auch (in der Zusammengehörigkeit der beiden Aussagen im selben Langvers und die teilweise - 63, 65 - geringe Fühlbarkeit der Zäsuren) die dennoch bestehende Verbindung unterstreicht; wieder wird die trotz allem gegebene enge Beziehung zusätzlich dadurch betont, daß die Pronomina für Gott und den Menschen aufeinander reimen (59 , 66 min - thin·, 61 minu - thinu) . Dasselbe
evoziert auch die Wiederaufnahme des ersten Verses des Gebets an seinem Ende mit einer einzigen Veränderung, denn wenn im Laufe des Gebets durch Gnade aus dem sündigen (59) ein emmiziger scälk
509 Nur im Schlußgebet der Auslegung der Krankenheilung am Teich Bethesda erschien eine ähnlich intensiv wirkende Verbindung von imperativischer Versform und Anrede Gottes (III 5,19) . Im Gebet am Ende der Erzählung von Christus und der Ehebrecherin wird jedoch durch die Wiederholung dieser Struktur eine noch größere Expressivität erzielt. 510 S.o. S. 31-37. 511 In den Versen 59 und 61 bezeichnet jeweils der eine Halbvers die Gnade Gottes, der andere die Sündigkeit des Menschen, und ohne daß sich derart exakte Entsprechungen feststellen ließen, sind auch in den Versen 63 und 65 die Aussagen über den Menschen und über Gott auf die beiden Halbverse verteilt.
Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete
155
(66) werden soll, so faßt dies die wichtigsten Aspekte der GottMensch-Beziehung zusammen: Selbst der Sünder ist nicht von Gott verlassen, sondern immer noch Gottes Knecht, und dieses Wissen gibt ihm Vertrauen auf Gottes Gnade, die aus dem sündigen einen Gott immer dienenden Knecht machen kann. Große Ähnlichkeit mit diesem Gebet weist die einzige Kapitelschlußbitte in Buch IV am Ende des Berichts von der Vergebung der Sünden des guten Schachers (IV 31) auf: 27 Thia ginada ouh, drühtin, thia thu in thina guati Ih bin, drühtin, ana wan 30
themo scäahere dati. filu h&rto firdan;
ih häben inan giäforot Minero missodato
dua in mir mit m&htin,
joh süntono ubarköborot.
ist üngimezzon thräto;
ginäda thin in wära
ist härto filu mera,
Thiu wola iz altaz ubarmäg, mih saäden si io intfüarta, 35 Dua, drühtin, nu in feste, zi wörotti io ginado min.
soso ih ofto sein wag; thes ih ofto füalta. ira fürdir mir ni breste; theih si emmiziger soalk thin!
Auch hier betet Otfrid nur für sich um Vergebung und um Schutz vor weiteren Verfehlungen. Der Anschluß an das biblische Geschehen vollzieht sich erneut ohne Allegorese: Otfrid erbittet eben die Gnade, die dem guten Schächer zuteil wurde. Gemeinsam ist den Schlußgebeten der Kapitel III 17 und IV 31 auch die Verbindung der Bitten mit einem Schuldbekenntnis und einer intensiven Beteuerung des Vertrauens auf Gottes Gnade. Wie das von III 17 beginnt auch das Schlußgebet von IV 31 mit einer Bitte um Sündenvergebung, die hier jedoch eine ganze Strophe (27f.) umfaßt und sich sogleich auf das biblische Vorbild beruft. Die anschließende Confessio nimmt mit sechs Versen mehr als die Hälfte des Gebets ein und bringt das Sündenbewußtsein des Betenden noch intensiver zum Ausdruck als das Gebet am Ende von III 17. Otfrid setzt seine Schuld nicht nur mit der des Schachers gleich, sondern bekennt in äußerster Selbsterniedrigung, dessen Sünden noch übertroffen zu haben (29-31). Gemäß dem Grundsatz nicht nur der karolingischen Theologie, daß aus dem alles Maß übersteigenden Vertrauen auf die Größe der Gnade die 512 Möglichkeit der Gnadengewährung erwächst , verbindet Otfrid mit dem Bekenntnis eine nicht weniger inständige Beteuerung seines Gottvertrauens (32-34). Die rettende Gnade ist ihm nicht nur 512 Belege bei HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 378.
156
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
eine Hoffnung, sondern er ist sicher, ihr Wirken vielfach erfah513 ren zu haben (33f.) . Der Confessvo der Sündigkeit und der Gnadenbedürftigkeit folgt die abschließende Bitte um Bewahrung vor neuer Schuld (35f.), die wie am Ende von III 17 in dem Wunsch gipfelt, Gottes emmiziger
scälk
(36b) werden zu dürfen.
Wenn das Schlußgebet von IV 31 noch inständiger wirkt als die Bitten am Ende von III 17, so nicht im selben Maße wie diese dank seiner Form. Zwar spricht auch dieses Gebet Imperativisch, und auch hier ist Gott dreimal (27, 29, 35) namentlich angerufen, aber der Versbau wird kaum zur Unterstreichung des Anliegens genutzt. Nur je einmal finden sich die bedeutungsvolle Verteilung der Aussagen über Gott und den Menschen auf die beiden Hälften eines Langverses (35) und der Reim der den Beter und den Angerufenen bezeichnenden Pronomina (36). Die Eindringlichkeit des Schlußgebets zu IV 31 beruht vor allem auf der über alles Vergleichbare in Otfrids Werk hinausgehenden Demut seines Schuldbekenntnisses und seinem nicht geringeren Vertrauen auf Gott. Die Ähnlichkeit der Schlußbitten der Kapitel III 17 und IV 31 ist eine Folge der Parallelität des in diesen Kapiteln Erzählten. In beiden Kapiteln legt der Bericht von der einem großen Sünder gewährten Vergebung ein Schuldbekenntnis und eine Bitte um Vergebung nahe. Demgegenüber hat das einzige Kapitel des fünften Buches, das mit einem Gebet endet (V 21), einen ganz anderen Gegenstand und dementsprechend eine andere Schlußbitte: Es malt in einer Art Predigt im Anschluß an die Schilderungen des Jüngsten Tages (V 19f.) die Strafe, die dem Sünder droht, noch einmal kraß aus. Auch die kurze Schlußbitte in der Wir-Form um die Bewahrung vor dem Schicksal der Verdammten hat einen predigthaften Nebensinn: 25 Bisoirmi, ouh unsih
druhtin, muadon
thänana alle
thie fori
thine
süliohemo
liebun
th&gena,
fälle!
Wenn Otfrid auch auf die, die wegen ihres heiligmäßigen Lebens als die liebun
thegena
(25) Gottes bezeichnet werden dürfen, die
Gnade herabrufen zu müssen glaubt, so soll dies denen, die sich
513 Nicht zufällig ist mit dem demütigsten Schuldbekenntnis im ganzen Evangelienbuch auch eine ins äußerste gesteigerte Bekundung des Vertrauens auf Gottes Gnade verbunden. Nur indem Otfrid dem einen Extrem das andere gegenüberstellt, kann er den Fehlhaltungen des sündigen, weil mit Gottes Gnade rechnenden Gottvertrauens ( p r a e s u m p t i o ) einerseits und der ebenso schuldhaften Verzweiflung über die eigene Schuld ( d e s p e r a t i o ) andererseits entgehen. Zur Behandlung dieses Problems in mittelalterlicher Dichtung und Theologie OHLY, Desperatio.
157
Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete
auf eine solche Lebensführung nicht berufen können und zu denen Otfrid auch sich und sein Publikum zählt (26a), das Ausmaß der Gefährdung eindringlich vor Augen führen. Der Schluß von den weniger schweren Sündern auf die tiefer in Schuld Verstrickten führt die Argumentationsstruktur des darlegenden Teils des Kapitels fort, in dem jeweils der erste Vers einer Strophe die für eine bestimmte Sünde angedrohte Strafe nennt, während der zweite Vers - oft in Gestalt einer rhetorischen Frage, die das Publikum zum aktiven Mitvollzug des Gedankengangs anhält - auf das noch schlimmere Schicksal derer schließt, deren Schuld die im ersten 514 Vers genannte noch übertrifft . Die Übernahme der rhetorisch effektvollen 'Wenn-dann'-Struktur bindet die kurze Schlußbitte eng in das Kapitel ein. Großenteils einen anderen Charakter als die bisher betrachteten Kapitelschlußgebete zeigen die Gebete am Kapitelende im ersten Buch. Sind in den Büchern II bis V alle Kapitelschlußgebete an Gott gerichtete Bitten, so handelt es sich in Buch I weder durchweg um Bittgebete noch ist ausschließlich Gott angerufen. Das einzige Gebet in Buch I, das (abgesehen von den in einen anderen Zusammenhang gehörenden Gebetskapiteln I 2 und I 28) eine Bitte zum Anliegen hat, steht am Ende des siebten Kapitels im Magnificat:
Anschluß an die Nachdichtung des 25 Nit fergomes thaz Johannes thäz
si
thia uns
alio
drühtines er uns
thiarnun,
sklbun
wörolti drut
firdänen
si wilit giwerdo
zi es
sancta iru
süne
Märiun, wegonti,
bithihan, gin&don.
Die Bitten der Gebetsgemeinde richten sich hier an zwei Heilige, Maria und Johannes den Täufer, die um Fürsprache bei Christus ersucht werden. Maria wird in der karolingischen Theologie stär515 ker als Fürsprecherin verstanden als zuvor . Die Anspielung auf das Paradoxon der Jungfrauengeburt (25 thia iru
süne)
thiarnun
- 26
zi
weist hin auf ihre besondere Begnadung, auf der ihre
Stellung als Gnadenmittlerin beruht. Dieselbe Fürsprecherrolle kommt auch Johannes zu. Zwar sind die ihm gewidmeten beiden Ver514 Einige Strophen des Kapitels seien als Beispiel zitiert:
5 Oha ther seal sin in beohe ther armen brot ni breche: waz ther inan ubar thaz ni liaz haben sinaz? Nu man wizinot then man ther armen selidono irbän: ist ferro irdriban fon himile üz ther anderemo nirnit sinaz Oba ouh ther bislipfit ther näahotan ni thek.it; 10 waz wanist themo irgange ther anderan roubot thanne? 515 LORENZ, Marienbild, S. 26.
hüs!
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
158
se
(27f.) nicht als B i t t e , sondern in einer F e s t s t e l l u n g als A u s -
druck des V e r t r a u e n s auf seine Fürsprache
formuliert, doch
ziert dies im K o n t e x t einer Gebetsaufforderung interoessio.
(27a) und damit
Ausschließlich betsaufforderung
IS Nu stngemes wola ja
kind kündt
er
zu e r w i r k e n .
zur Anrufung Johannes des Täufers lädt die G e -
männolih
diuri, diuri,
als
am Ende von I 6 ein:
alle
kind
seine
in der E i g e n s c h a f t , die es ihm
e r m ö g l i c h t , Gottes Gnade für die Beter
Wola
die Bitte um
J o h a n n e s erscheint nicht als Prophet, sondern
'Freund Christi'
impli-
forasago forasago
uns
thia
heili,
bi
bärne: märi!
märi! er
er
giboran
wari.
Diese Verse preisen Johannes als Propheten, als der er nicht 1
in diesem K a p i t e l ^ ^ , meist verstanden
sondern auch sonst
nur
in O t f r i d s D i c h t u n g ^ ^
ist.
Vor allem auf die Besonderheiten der Schlußgebete von I 6 und I 7 beruft sich Vollmann-Profe bei ihrem Versuch, nachzuweisen, daß diesen Kapiteln ursprünglich selbständige geistliche Lieddichtungen Otfrids zugrunde lägen, die in modifizierter Form in das Evangelienwerk übernommen worden seien5* . Sie stützt sich außer auf die Einzigartigkeit der Heiligenanrufungen am Ende dieser Kapitel vor allem auf formale Argumente, nach denen die Kapitel I 6 und I 7 und besonders ihre Schlußgebete anderen Bauprinzipien folgen als die übrigen Teile des Evangelienbuchs. Keines dieser Argumente kann jedoch ihre These nachhaltig untermauern. Die unterstellte stärkere Orientierung des Versbaus am Prinzip der Alternation in den Kapitelschlußversen ist ebensowenig zu erkennen wie die angebliche Häufung von Alliterationen über das auch an anderen Stellen zu Beobachtende h i n a u s 5 D i e Wiederholung eines Verses im Schlußgebet von I 6 (16f.)^2® ist zwar bei Otfrid ohne Parallele, erbringt aber für Vollmann-Profes These nichts, da die Verswiederholung nicht zum Formprinzip der erhaltenen althochdeutschen Lieder gehört. Da sie die Anfechtbarkeit ihrer formalen Argumente anscheinend selbst erkennt52*, mißt sie der Beobachtung größere Bedeutung bei, daß der letzte Vers von I 7, thäz er uns fird&nen giwerdo ginädon (28) , im letzten Vers des "Petruslieds" vor der abschließenden Wiederholung des Refrains eine exakte Entsprechung hat, womit sich eine klare Parallele zum althochdeutschen Heiligenlied herzustellen 522 scheint . Doch formuliert der übereinstimmende Vers einen Gedanken, der so allgemein ist, daß er vom selbständigen Gebet über die liedhafte und die epische geistliche Dichtung bis zur Predigt in allen Gattungen naheliegt. Eine Beziehung Otfrids zum althochdeutschen Heiligenlied müßten weitergehende Parallelen belegen. Ebenso scheitert der Versuch, zur Gebetsaufforderung, mit der das Schlußgebet von I 6 beginnt (15) , eine "nahe Entsprechung"52^ im "Gal516 Zum Beispiel im ausdrücklichen Hinweis darauf, daß er schon im Mutterleib das Kommen Christi verkündete: I 6,4 joh spilota in theru müater ther
ira sun
güater.
517 I 27,4lf.; II 2,7-10. 518 VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 213f. 519 "Ferner geht in 6,15-18 und 7,25-28 der Rhythmus stärker als sonst in die Richtung alternierender Vierheber und auch die Alliterationen sind ungewöhnlich häufig (7,25b; 7,26f.)." (VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 213). 520 Ebd. 522 Ebd. 521 VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 214. 523 Ebd.
Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete
159
luslied" festzustellen. Die Entsprechung ist durchaus nicht eng; lediglich das Faktum der Aufforderung zum Gebet stimmt überein, während ihr Wortlaut verschieden ist: Heißt es bei Otfrid flu singemes alle männolih bi bärne (I 6,15), so fordert Ratpert524 seine Gemeinde auf, Exultemus omnes, laudemus Christum pariles (1,4). Weder sind Exultemus und laudemus bei Otfrid wörtlich übersetzt, noch kann männolih bi bärne als "nahe Entsprechung" zu pariles gelten. Die Gebetsaufforderung als solche ist aber an keine Gattung gebunden; sie kann auf die Predigt oder die Liturgie ebensogut zurückgeführt werden wie auf das Heiligenlied. Doch wenngleich die meisten vorgebrachten Argumente ihr Ziel verfehlen, ist nicht zu übersehen, daß auch einiges für die Herkunft der Kapitel I 6 und I 7 aus selbständigen Dichtungen spricht. Das stärkste Argument für diese These ist die Tatsache, daß die Schlüsse dieser Kapitel hinsichtlich der Adressaten ihrer Gebete in Otfrids Werk ohne Beispiel sind 525 . Tatsächlich wäre die Anrufung Johannes des Täufers und Marias plausibler in einem kurzen geistlichen Lied etwa nur über den Besuch Marias bei Elisabeth, in dessen Mittelpunkt eindeutig Maria und Johannes stünden, als in einer Evangelienharmonie, in der jedes Kapitel die Offenbarung der erlösenden Gnade Gottes intendiert, so daß das Gebet zu Gott näherliegt als eine Heiligenanrufung. Außerdem stützen weitere, von Vollmann-Profe nicht genannte Gründe ihre Auffassung. Die Kapitel I 6 und I 7 sind kürzer und in sich geschlossener und demnach dem Heiligenlied in dieser Hinsicht ähnlicher als andere Abschnitte des Evangelienwerks. Wichtiger ist, daß die Aufforderung singemes (I 6,15) nur an dieser einen Stelle vorkommt. Zwar kann sich die Aufforderung zum Preisgesang theoretisch auch auf die gesangsartige Rezitation des Evangelienbuchs beziehen, doch scheint das nur einmalige Auftreten dieses Ausdrucks anzuzeigen, daß Otfrid hier an ein anderes Singen denkt, an einen Gesang vielleicht, der der Vortragsweise des "Petruslieds" nahekäme. Im Falle des Kapitels I 7 spricht für Vollmann-Profes These auch, daß das Magnificat nicht nur als liturgische Lesung, sondern auch als selbständiges Gebet im Leben der Gemeinde und des Klosters Verwendung finden konnte, so daß eine schon vor dem Evangelienbuch entstandene Übersetzung zumindest nicht unwahrscheinlich ist. Nimmt man alle Argumente zusammen, so erscheint es als denkbar, daß die Kapitel I 6 und I 7 auf kleinere selbständige geistliche Lieder zurückgehen. Zu beweisen ist diese Vermutung aber nicht.
Es bleiben noch zwei Gebete aus Kapitel I 11 zu betrachten. In diesem Kapitel über Christi Geburt folgt auf die Nachdichtung Evangelienberichts
(1-54) ein kurzer deutender
(55-62), der durch eine eigene Uberschrift
des
Schlußabschnitt
(Mystiae)
vom erzäh-
lenden Teil abgesetzt ist. Beide Abschnitte enden mit einem Gebet. Obwohl in strengem Sinne nur das Gebet in Vers 62 als Kapitelschlußgebet gelten kann, ist wegen der relativen
inhaltlichen
Unabhängigkeit der beiden Abschnitte auch das Gebet am Ende des darlegenden Teils am sinnvollsten unter die Kapitelschlußgebete einzureihen. Es handelt sich um ein recht umfangreiches Lobgebet:
39 Mola ward
thio brüsti,
joh müater
thiu nan quätta
Wola thiu nan tuzta scöno
thio Krist
nan insuebita
io
inti emmizigen
inti in ira barm inti bi iru nan
524 OSTERWALDER, Galluslied, S. 85. 525 VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 213.
giküsti, thägta;
sazta, gilegita!
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Sälig
thiu nan wätta
joh thiu in b&tte 45 Sälig
int inan Hgit
thiu nan werita,
ärma joh henti
Däg inan ni rinit,
Müater
ist si märu,
ther irzelle
diurit
ni
sia
ira
guati;
bisoinit, biginne!
gimüato,
thaz thu irrimen
joh thiarna
si bar uns thüruhnahtin
derita;
irsinge,
thäh er es
ist ira lob joh giwäht,
kinde;
hölsenti!
ouh sünna
ther iz ίο bibringe, Wanta ira sun guato
mit sülichemo
ther ira 16b
noh män io so gimüati
SO
inne
than imo fräst
inan
Er nist in erdringe
fändota,
ni mäht;
thoh zi wäru,
then himilisgon
drühtin.
Dieser Marienpreis steht auf dem Hintergrund eines gegenüber der 326 Patristik umakzentuierten Marienbildes . Das verstärkte Bemühen um ein tieferes Verständnis der Doppelnatur Christi als Gott und Mensch im Zusammenhang mit dem Adoptianismusstreit des 8. Jahrhunderts hatte auch eine intensivere Beschäftigung mit Maria zur Folge, die nicht mehr ausschließlich in ihrer Bedeutung für Dogmatik und Typologie gesehen wurde, sondern als Mutter Christi stärker persönliche Züge gewann. Dies führte einerseits zur Betonung der menschlich-mütterlichen Seite Marias vor allem in Dichtung und Frömmigkeitspraxis, andererseits zur Hervorhebung ihrer auf der Erwählung durch Gott beruhenden Würde in der wis527 senschaftlich-theologischen Literatur . In Otfrids Marienlob verbinden sich beide Aspekte. Anknüpfend an eine nur kurze Evangelienstelle, die nicht einmal im Zusammenhang der Weihnachtsge528 schichte steht , preist er Maria zunächst (39-46) als Mutter Jesu, wobei er ihr vertrautes Verhältnis zu ihrem Sohn in genrehaften Einzelheiten schildert. In der zweiten Hälfte des Gebets (47-54) preist Otfrid Maria dagegen in ihrer Heiligkeit und Verehrungswürdigkeit als Mutter des Gottessohnes in geradezu kosmischer Bildlichkeit: Die ganze Erde faßt das Lob Marias nicht, und niemand unter der Sonne könnte sie angemessen verherrlichen (47-50). Zugleich weicht der die hymnischen Seligpreisungen der 526 VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 193f. 527 Schon seit frühchristlicher Zeit bestand zwar ein gewisses Interesse an der Person Marias, wie etwa das apokryphe Pseudo-Matthäus-Evangelium belegt (HAUBRICHS, Ordo, S. 176), doch nimmt die Beschäftigung mit ihr in der Karolingerzeit deutlich zu. Sie geht allerdings noch keineswegs so weit wie im späteren Mittelalter - ein so wichtiges Element späterer Mariendichtung wie die Klage unter dem Kreuz kennt die karolingische Literatur noch nicht (VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 193f.).
528 Lc 11,27 quaedam mulier de turba dixit Uli: Beatus venter qui te portavit, et ubera quae suxisti.
161
Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete
ersten Hälfte zu großer Einheitlichkeit zusammenbindende Parallelismus von Satz-, Vers- und Strophenbau einer offeneren Form, die nicht wie das Baumuster der ersten Hälfte an der Evokation eines in sich geschlossenen, sinnlich vorstellbaren Bildes mitwirkt und damit dem Gegenstand des zweiten Teils entspricht. Das Lobgebet endet mit der dogmatisch korrekten Zurückführung der Verehrungswürdigkeit Marias auf ihre Erwähltheit (51) und das Wunder der Jungfrauengeburt (53) , durch die sie am Erlösungswerk teilhat (54). Das Interesse an Maria bleibt so eingebunden in den GesamtZusammenhang der Darstellung des Heilswirkens Got^ 529 tes Anders als im erzählenden Teil des Kapitels steht Maria in der ihm folgenden kurzen Deutung (55-62) nicht im Mittelpunkt. Christi Geburt erscheint hier als Folge des göttlichen Entschlusses zur Errettung der Menschen. Die Auslegung beschließt ein kurzes Lob des Erlösers, das den Dank der Beter für die Errettung impliziert : 61 Wir wärun in gibentin, thu uns helpha,
in widarwerten
druhtin,
d&ti
hentin;
ze thero öberostun
noti!
Wie der Durchgang durch die Kapiteleingangs- und -schlußgebete zeigte, beginnen oder enden nur wenige Kapitel mit einem Gebet. Schlußgebete sind häufiger als Eingangsgebete: Elf Anrufungen am Kapitelende stehen nur zwei im Eingang gegenüber. Die beiden Kapiteleingangsgebete sind sich in jeder Hinsicht ähnlich. Beide leiten ein Auslegungskapitel ein und erbitten Beistand für die geistliche Interpretation; beide zeichnen ein harmonisches Verhältnis zwischen dem Menschen und Gott, das anders als in Otfrids längeren Inspirationsbitten nicht vom Gedanken an die Sünde getrübt ist. Ähnlich sind auch Form und Sprache; beide Kapiteleingangsbitten sind recht kurz und verwenden teilweise fast identische Formulierungen.
529 Nach HAUBRICHS (Ordo, S. 261, Anm. 448) ist das hier betrachtete Lobgebet an der Herstellung einer symmetrischen Gesamtstruktur des Kapitels I 11 beteiligt, dergestalt, daß ein "achtzehnversiger Kern von dem tektonischen Rahmen der Augustusvorrede (18 Verse ...) und des Marienpreises (18 Verse ...) eingefaßt" werde. Damit sich diese Symmetrie ergibt, ist HAUBRICHS gezwungen, die Verse 37 und 38 bereits zum Marienlob zu zählen, da sonst eine Gliederung in 18, 20 und 16 Verse vorläge. Doch ist es offensichtlich ungerechtfertigt, die Verse 37 und 38 bereits dem Marienloh zuzurechnen: Inhaltlich gipfelt in ihnen die in Vers 31 einsetzende Beschreibung; formal und stilistisch ist deutlich zu erkennen, daß das hymnische Sprechen mit den Stilmerkmalen, die den ersten Teil des Marienlobs charakterisieren, erst mit Vers 39 einsetzt.
162
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Die Kapitelschlußgebete sind weniger einheitlich. Ihr Umfang schwankt zwischen zwei und 16 Versen, bleibt aber meist unter neun Versen 530 . Gebete können ganz verschiedene Kapitel be5 31 schließen, Deutungskapitel ebenso wie ganz oder partiell be5 32 richtende Kapitel oder (V 21) eine Art Verspredigt. Auch die sprachliche Form ist verschieden; es gibt Imperativische und optativische Bittgebete, Lobgebete (im Indikativ) und Gebetsaufforderungen, die die Hörer einladen, sich dem vorformulierten Gebet anzuschließen. Ein Sonderfall liegt in den letzten Versen von III 21 vor, die primär darlegenden Charakter haben, aber trotzdem die Funktion einer Schlußbitte erfüllen. Sehr viele Schlußgebete (und beide Eingangsbitten) richten sich an Christus, der in den Kapitelschlußgebeten stets druhtin heißt. Fast alle Gebete zu ihm sind Bitten; nur eine Stelle im ersten Buch (I 11,62) preist ihn in einem Lobgebet. Nur im ersten Buch steht neben der Bitte das Lobgebet, nur hier kann sich das Gebet an andere Adressaten als Gott wenden. Die Betenden sind meist Otfrid und sein Publikum, doch finden sich auch zwei äußerst persönliche Schlußbitten des Dichters für sich allein (III 17, IV 31). Zwei der drei Gebete am Ende von Deutungskapiteln (III 7, III 21) erbitten das rechte Schriftverständnis, jedoch anders als die Deutungseingangsgebete nicht allein für den Dichter, sondern für die ganze Gemeinde, der Gott ein tieferes Verständnis der Heiligen Schrift schenken soll. Zwei Schlußgebete von Deutungskapiteln verbinden mit der Bitte um das Erfassen des Schriftsinns die um das ewige Leben als Konsequenz einer am richtig verstandenen Gotteswort orientierten irdischen Existenz 533 . Auch die Sündenvergebung ist ein wesentliches Anliegen der Kapitelschluß534 gebete ; sie kann den Schutz vor weiteren Sünden einschlie535 ßen . Die intensivsten Bitten dieser Art finden sich, wo Otfrid nur für sich selbst betet und sie durch ein schonungsloses Sündenbekenntnis begründet. Confessio und Gebet um Sündenverge530 Länger sind nur die Gebete am Ende des Kapitels IV 31 (zehn Verse) und des erzählenden Teils des Weihnachtskapitels I 11 (16 Verse). 531 III 5, III 7, III 21 sowie der Mystice-Teil von I 11. 532 I 6, I 7, III 17, iv 31 sowie der darlegende Teil von I 11. Nicht ausschließlich berichtend ist Kapitel II 3, doch bezieht sich das Schlußgebet hier nicht auf die Rekapitulation des bereits Erzählten, sondern auf ein in diesem Kapitel neu berichtetes Ereignis. 533 Im Schlußgebet des Kapitels III 7 führt der Weg von den goumon des rechten Schriftverständnisses zu den goumon des ewigen Lebens; am Ende von III 21 gipfelt die immer weitergehende Öffnung der Augen für die Erkenntnis Gottes in der ewigen Gottesschau mit thes herzen ougon (III 21,36a). 534 II 3, III 5, III 17, IV 31, V 21. 535 So vor allem III 17, IV 31. 536 III 17, IV 31.
Die Kapiteleingangs- und -schlußgebete
163
bung gehen in Otfrids Privatgebeten einher mit der Bitte um Aufnahme in das ewige Leben, die sonst auch allein Gegenstand eines Kapitelschlußgebets sein kann (V 21). Nur je ein Kapitelschlußgebet betet um die Fähigkeit zur Nächstenliebe (III 5) und um die Fürsprache von Heiligen bei Christus (I 7). Drei Gebete im ersten Buch haben preisenden Charakter; das Lob richtet sich an Christus (I 11,62), Maria (I 11,39-54) und Johannes den Täufer (I 6). Zahlreiche Kapitelschlußgebete sprechen in hohem Maße metaphorisch, wobei sich die Bildlichkeit nach dem jeweiligen Kontext richtet. Das zuvor erzählte und gegebenenfalls gedeutete Evangeliengeschehen wird zum Ausdruck des Gebetsanliegens in das Schlußgebet hineingenommen, und zwar zum Teil so, daß erst eine alle537 gorische Deutung des Bildes das Anliegen erschließt , zum Teil so, daß Otfrid um eben die Gnade bittet, die einer biblischen Ge538 stalt gewährt wurde . Im einen wie im anderen Fall handelt es sich um eine Art Exempelgebet. Abgesehen von der aus dem Bibelgeschehen übernommenen Bildlichkeit 539 finden sich nur wenige bemerkenswerte Metaphern. Vier Gebete enthalten das Bild des Heilsweges. Otfrids persönliche Bitten um Sündenvergebung nehmen 540 seine Selbstbezeichnung als saalo Gottes aus den ersten Versen des Eingangsgebets zum Gesamtwerk wieder auf. In der Bildlichkeit im Marienlob des Kapitels I 11 kommen die beiden Seiten des karolingischen Marienbildes durch kosmische Metaphern einerseits und eine Fülle genrehafter Details andererseits zur Geltung. Wiederkehrende Bauformen lassen sich nicht feststellen. Am Zustandekommen übergreifender Strukturen sind die Kapiteleingangsund -schlußgebete selten beteiligt. Nur in den Deutungskapiteln III 7 und III 21 bilden ein Eingangs- und ein Schlußgebet einen Rahmen um ein Kapitel, doch ist der Gebetssinn der Schlußverse von III 21 gegenüber ihrer darstellenden Intention sekundär, so daß der Gebetsrahmen hier nicht einmal offen zutage liegt. Die Einbindung der Kapitelschlußgebete in ihren Kontext leistet zumeist die Aufnahme des Bibelgeschehens in die Bildlichkeit des Gebets. Einmal (im Schlußgebet von V 21) entsteht eine enge Be-
537 III 5, III 7, III 21. Die vorzunehmende Allegorese ist in III 5 und III 21 identisch mit der zuvor gegebenen Ausdeutung. Im Schlußgebet von III 7 dagegen reicht die im Deutungskapitel gegebene Interpretation der gowna auf das rechte Schriftverständnis nicht aus? vielmehr muß, hinausgehend über die von Otfrid an dieser Stelle geleistete Auslegung, die sich an anderer Stelle des Evangelienbuchs findende Deutung auf das ewige Leben (vgl. HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 180-82) zum vollen Verständnis des Schlußgebets herangezogen werden. 538 III 17, IV 31. 539 I 7,26; II 3,64; III 17,65; III 21,31f. 540 III 17,59.66; IV 31,36.
164
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Ziehung zum Vorhergehenden durch die Übernahme einer für dieses Kapitel bezeichnenden gedanklichen Struktur. Resümierenden Charakter haben die beiden Schlußgebete des erzählenden und des deutenden Teils des Weihnachtskapitels I 11, die in Preisgebeten auf Maria und Christus die Bedeutung des Geschehens noch einmal vor Augen führen. Nur einmal ist das Schlußgebet nicht nur an das vorher Gesagte, sondern auch über die Kapitelgrenze hinweg an das folgende Kapitel angebunden: Der letzte Halbvers des Schlußgebets des Abschnitts II 3 weist voraus auf den Gegenstand des nächsten Kapitels.
6. Die Gebete ohne Einleitungs- oder Schlußfunktion Nur drei Gebete, alle im fünften Buch, besitzen weder auf der Ebene des Werkganzen noch auf der der Bücher oder der Kapitel eröffnende oder beschließende Funktion. Zu ihnen gehört das selbständige Gebetskapitel Signaaulum oruais (V 3): 1 Gib, druhtin,
segan sinan
in liohamon
joh theiz io hiar in libe Si, drühtin,
minera
io ther segan sin
thaz fiant io zi wäre
Bisairmen
joh müate sino süazi
10
houbit joh thio henti, Bifangan
zi allemo
IS Mit thiu si ih io thuruh nöt
sinen säganon
Thaz mih mit sinu nide 20
joh mir hiar zi libe
thaz fiant mir ni derre! in fisti,
thanne ih in mir iz zeino,
in herzen joh in dätin,
bifolahan
füazi,
thie lidi al unz in enti; änahalba;
Thaz scirme mih in brüstin
Mit thiu si ih io bifangan
bifistit
änaguate;
gisegonot
in alla
thaz fiant sih ni minde,
min,
ni gif&re;
dugun joh thie
si ih mit reino,
sar io thia warba
klibe!
si ümbikirg
min herza ouh mir biwerre, Mit thtu. sin mino brüsti
sela
in allon änahalbon
min wärgin
5 Thaz ih mit th&mo thuruh Krist in liahamen
mlnan,
fon ärmaliahen
lüstin,
fon übilen
gith&htin!
al ümbizirg
biseganot,
er stät in mir io finde; joh fianton
ing&ngan,
joh allen gotes
theganon;
ther fiant io bimide, güatalih
io klibe!
Dieses Gebet ist Teil einer Kapitelgruppe über die geistige Bedeutung des Kreuzes. Nach der Deutung seiner in die Höhe und Tiefe ebenso wie, niedergelegt, in alle Himmelsrichtungen wei-
Die Gebete ohne Einleitungs- oder Schlußfunktion
165
senden Enden auf die Universalität der Erlösung in V 1 verengt sich die Perspektive in V 2 auf den Einzelmenschen, der sich durch die Segensgeste des Kreuzzeichens unter Christi Schutz stellen soll. Als Konsequenz dieser Aufforderung ruft Otfrid in Kapitel V 3 den Segen Christi im Zeichen des Kreuzes auf sich herab. Zugleich soll sein Gebet den Gebeten der Hörer und Leser ein Vorbild geben. Von den beiden Anliegen des Gebets ist nur eines, die Bitte um den Segen Christi gegen den Teufel, auf der Ebene des Wortsinns formuliert. Zwanzig Verse lang wird dieser Gedanke mit leichten Akzentverschiebungen variiert: Bestimmt im Anfangsteil eher der Gedanke an den Segen die Formulierung der Bitte, so in den letzten Versen mehr das Bewußtsein der vom Teufel ausgehenden Gefährdung; auch tritt neben die Bitte um Christi Segen gegen Ende (18) die Anempfehlung an alle Heiligen. Doch überwiegen bei weitem die Variationen, die ohne BedeutungsZuwachs das Anliegen ausmalen und zur betrachtenden Versenkung einladen. Das variierende Sprechen wird weitgehend dadurch ermöglicht, daß der zunächst auf den ganzen Menschen (1-7) herabgerufene Segen nach und nach, wie es die Gebärde des Kreuzzeichens nahelegt, für einzelne Körperteile erbeten wird. Diese Aufzählung einzelner Glieder eröffnet die zweite, erst durch eine Allegorese zu erschließende Bedeutungsebene. Denn es ist auffällig, daß Otfrid nicht nur die an der Geste des Kreuzzeichens mitwirkenden Glieder nennt, sondern neben Haupt, Händen (10) und Brust (9) auch Augen, Füße (7) und das Herz (8) aufzählt. Der Grund hierfür liegt in der geistigen Bedeutung dieser Körperteile. Das Herz ist für ihn ein Organ der Hinwendung zu Gott 541 , die Füße weisen 542 auf den Heilsweg zum ewigen Leben , die Augen stehen für die Möglichkeit, durch geistiges Sehen zu immer vollkommenerem Verständnis der Offenbarung und schließlich 543 zur immerwährenden Gottesschau in der Seligkeit zu gelangen . Die Bitte um Schutz auch für diese Glieder meint daher die Fähigkeit der Hinwendung zu Gott und das ewige Leben. Da dieses Gebet, obwohl Otfrid in ihm nur von sich selbst spricht, als Modell für das Beten der Hörer und Leser gedacht 541 S.o. S. 148. 542 Die Verbindung des Heilswegs mit dem Gedanken der immer tieferen Schau Gottes erscheint auch III 21,29-36. Zum Heilsweg HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 329f. 543 HARTMANN, Allegorisches Wörterbuch, S. 387-90, besonders S. 388: "Der Mensch, der in seinem irdischen Leben sich um die spirituelle Erkenntnis Gottes bemühte, soweit es seinem begrenzten menschlichen Verstand nur eben möglich war, erhält, der ewigen Seligkeit teilhaftig geworden, die Gnade der unmittelbaren Anschauung Gottes zurück."
166
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
ist, ist es viel weniger subjektiv gefärbt als etwa die Schluß544
gebete der Kapitel III 17 und IV 31
. Entsprechend dem Uber-
wiegen optativischer Formulierungen ist der Ton eher feierlich als dringlich. Unter dem Aspekt der Bildlichkeit ist neben der Motivik der Körperteile, die pars pro toto für den Körper stehen, der wiederum ein Bild für den Menschen mit Leib und Seele ist, nur die Vorstellung wichtig, daß Christi Segen den Menschen, wie das Kreuzzeichen andeutet, vollständig umfängt. Die Vorstellung des Umschlossenseins wird immer wieder evoziert 545 ; 546 bifangan wird geradezu zum Zentralbegriff . Sie bestimmt auch die Form des Gebets, das unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten eine Rahmenstruktur zeigt. Einen ersten Rahmen schaffen deutliche Anklänge des letzten an den zweiten Vers, während sich ein zweiter auf der Ebene der Motivik herstellt, denn die ersten und letzten sechs Verse sprechen nur vom Leib als ganzem, der Mittelteil dagegen vornehmlich (wenn auch nicht ganz ohne Ausnahme) von einzelnen Gliedern. Wie bereits gezeigt wurde, beschließt das Gebetskapitel eine Kapitelgruppe, die weit ins vierte Buch zurückreicht, während das folgende Kapitel einen thematischen Neuansatz bringt, der 547 auch durch eine kurze Inspirationsbitte markiert ist . Inhaltlich sind die Kapitel V 1 bis V 3 noch dem vierten Buch zuzurechnen, denn sie gehören noch zur Darstellung der Passion, die Otfrid mehrfach als Thema von Buch IV nennt, so im Schreiben an Liutbert (Quartus liber jam qualiter suae passioni propin54 8 quans pro nobis mortem sponte pertulerit dioit) und in der Praefatio libri quarti (IV 1,5f. Nu will ih soriban fr&mmort (...)/ wio druhtin selbo thaz biw&rb,
er sines thankes bi ünsih
st&rb). Dagegen ist in der Inhaltsbeschreibung des fünften Buches (Quintus ejus resurreotionem, cum disaipulis 549 suam postea aonloautionem, asaensionem et diem judieii memorat) von der Passion keine Rede mehr. Unter inhaltlichem Aspekt liegt die Grenze zwischen den Büchern IV und V erst zwischen den Kapiteln V 3 und 544 S.o. S. 153-56. 545 in allon änahalbon
min bifangan (IIa, 17a).
(3b);
in alla änahalba
(12b);
al wnbizirg
(15b),
546 Von hierher bekommt vielleicht die seltsame Strophengruppengliederung der Handschrift V (KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 208), die zu Beginn der Verse 11 und 17 jeweils eine Strophengruppeninitiale setzt und deshalb sicher nicht nach inhaltlichen oder motivischen Kriterien gliedert, einen Sinn. Denn die Strophengruppeninitialen heben gerade die Zeilen hervor, in deren erstem Halbvers der Begriff bifangan erscheint. Es ist denkbar, daß die Initialen auf die Metapher, die die im Gebet evozierte Vorstellung am reinsten ausdrückt, hinweisen sollen.
547 S.o. S. 132f.
548 Ad Liutb. 43f.
549 Ad Liutb. 44-46.
Die Gebete ohne Einleitungs- oder Schlußfunktion
167
V 4; die durch die Bucheinteilung markierte Trennlinie ist also nicht mit der durch den Inhalt gegebenen identisch. Die Erwägung, daß das Gebetskapitel V 3 als das eigentliche Schlußkapitel des vierten Buchs anzusprechen sei, liegt um so näher, als das letzte Kapitel von IV nur eine kurze Bitte enthält, die sich durch ihre Knappheit von den übrigen Buchschlußgebeten deutlich unterscheidet und nicht einmal in den letzten Versen des Kapitels steht^ 0 . Offenbar verwischt Otfrid die Grenzlinie zwischen dem vierten und dem fünften Buch. Eine Erklärung dieses seltsamen Phänomens scheint am ehesten möglich im Lichte seiner programmatischen Äußerungen zur Fünfgliederung des Werks und zur Vierzahl der 551 Evangelien im Approbationsschreiben an Liutbert . Dort begründet er die Anzahl der Bücher mit der Absicht, durch die Verteilung des Stoffs der vier Evangelien auf fünf Werkteile die Reinigung der inaequalitas der fünf Sinne durch die quadrata aequalitas sancta der vier Evangelien zum Ausdruck zu bringen. Im Dienste dieses Vorhabens könnte die Verwischung der Grenze zwischen dem vierten und fünften Buch stehen. Die Bücher IV und V fielen in einen großen Werkteil zusammen, womit die der Zahl der Sinne entsprechende äußere Fünfteilung des Werks in die heilige Vierzahl der Evangelien überginge. Die Verschmelzung zweier Bücher wäre genau analog dem Zusammenfall der zwei Sinne gustus und olfactus, durch den Otfrid nach seinen Worten im Schreiben an Liutbert 552 die Reduktion der Fünfzahl der Sinne auf die Vier553 zahl zu erreichen sucht Bei den beiden anderen Gebeten ohne Eingangs- oder Schlußfunktion handelt es sich um die Kehrverse des Kapitels V 23 De qualitate aaelestis
regni et de inaequalitate
terreni.
Dieses mit 298
Versen bei weitem umfangreichste Kapitel des Evangelienbuchs ist durch unregelmäßig wiederkehrende Refrains in Versblöcke gegliedert, die jeweils entweder die Unzulänglichkeiten des irdischen Daseins oder die Freuden des ewigen Lebens schildern, wobei die Mühen der irdischen Existenz nur in der ersten Hälfte des Kapitels vorkommen, während sich im zweiten Teil die Aufmerksamkeit ganz auf die immer intensivere Evozierung der Freuden der Erlösten richtet 554 . Entsprechend dem zweifachen Gegenstand der
550 S.o. S. 142f.
551 Ad Liutb. 46-57. 552 Ad Liutb. 54f. 553 Dabei verweisen die Ordnungszahlen der an diesem Prozeß beteiligten Bücher nochmals auf die Signifikanz der Vier und der Fünf. 554 Zu den augustinischen Ursprüngen insbesondere der Schilderung der Unvollkommenheiten des Diesseits KRAUS, Gottesbürgerschaft, S. 58f.
168
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Versblöcke hat das Kapitel zwei verschiedene Refrains, die als einzige Kehrverse im Werk Gebete sind. Beide umfassen je vier Verse und sind Bitten an den druhtin; ihr Anliegen ist dem Gegenstand der Versblöcke, auf die sie folgen, weitgehend angepaßt. Auf die Versgruppen mit dem Blick auf die Leiden des irdischen Daseins folgt stets eine Bitte um Erleichterung der diesseitigen Existenz: 11 Bisoirmi uns, druhtin güato, liahamon joh βέΐα, Thuruh thino guati
thero selbun ärabeito,
in thines selbes era; düa uns thaz gimüati,
wir mit ginädon thinen
thesa ärabeit bimiden
Von den Widmungen abgesehen, gibt Otfrid nur hier einem die Welt betreffenden Anliegen so große Bedeutung. Einen ganz anderen Hauptgedanken hat der Refrain der Versblöcke über das ewige Leben: 27 Thära leiti, drühtin, zi th&mo soonen libe Thaz wir thaz mämmunti niazen uns in müate
mit thines selbes mähtin thie holdun soälka thine, in thinera munti , . , 556 f zn ewon zi güate!
Wie es im ersten Refraingebet um Hilfe in den Mühen des Lebens in der Welt geht, so im zweiten um das ewige Heil. Seine Formulierungen unterscheiden sich wenig von denen anderer Gebete mit diesem Anliegen. Ungewöhnlich sind nur die Begriffe mämmunti und munti (29), die sonst nur sehr selten zur Bezeichnung des ewigen Glücks dienen. Sie erscheinen hier als Glieder einer Kette von 'm'-Anlauten, die sich durch das Gebet zieht und nur den zweiten Vers ausläßt (27 mit (...) mähtin; 29 mämmunti, munti; 30 müate). Ähnlich bindet ein Band von 'g'-Anlauten (wieder unter Auslassung des zweiten Verses) das erste Refraingebet 557 zusammen (11 güato·, 13 guati, gimüati ; 14 ginädon). Uber die Vortragsweise des Kapitels V 23 besteht keine Klarheit. Es ist denkbar, daß die Rezitation eines Vorlesers vom Gemeindegesang der Kehrverse unterbrochen wurde wie im "Petruslied", in dem auf die von einem Vorbeter vorgetragenen Strophen ein kurzer Antwortgesang der Gemeinde folgt. Doch während der 555 Außerdem: 79-82, 95-98, 105-08, 115-18, 145-48, 157-60. 556 Weiterhin: 57-60, 129-32, 171-74, 183-86, 193-96, 205-08, 219-22, 231-34, 241-44, 255-58, 269-72, 283-86, 295-98. 557 Zum Reim guati - gimüati in diesem Kapitel KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 294-96.
169
Die Gebete ohne Einleitungs- oder Schlußfunktion
Refrain
im "Petruslied"
aus einer nur einen Vers u m f a s s e n d e n
turgischen Formel b e s t e h t , die nach wiederkehrt,
jeder Strophe
unverändert
zählen Otfrids Refrains vier V e r s e , sind dem
kum von k e i n e m liturgischen G e b r a u c h her v e r t r a u t und in u n r e g e l m ä ß i g e r
wechseln
E v a n g e l i e n b u c h s am g r ü n d l i c h s t e n u n t e r s u c h t , beurteilt
hält er
Publi-
Folge ab. J a m m e r s , der die V o r t r a g s w e i s e
lichkeit der aktiven Beteiligung einer Gemeinde
li-
des
die M ö g -
skeptisch.
Zwar
1974 im N a c h t r a g
zu seiner U n t e r s u c h u n g von 1957 "eine 558 reichere m u s i k a l i s c h e Gestaltung" der K e h r v e r s e für v o r s t e l l -
bar - vorher hatte er von einem 559 "literarischen, n i c h t l i t u r g i sehen, n i c h t c h o r i s c h e n Kehrreim" g e s p r o c h e n - , doch legt er sich h i n s i c h t l i c h
des Charakters und der A u s f ü h r e n d e n der
lischen G e s t a l t u n g nicht
musika-
fest. So ist für das Kapitel V 23 mit
seinen relativ langen und unregelmäßig w e c h s e l n d e n R e f r a i n s M i t w i r k u n g der G e m e i n d e nicht a u s z u s c h l i e ß e n , aber auch sehr
eine
nicht
wahrscheinlich"'^.
Das Zusammenspiel zweier Refrains hat zu mehreren Versuchen Anlaß gegeben, in den durch die Kehrverse abgeteilten ungleich langen Abschnitten eine unter zahlensymbolischem oder zahlenkompositorischem Aspekt sinnvolle Struktur aufzudecken. Der erste Versuch dieser Art stammt von K l e i b e r ^ 1. seine Gliederung geht zwar nicht von den Kehrreimen, sondern von den Strophengruppeninitialen der Handschrift V aus, doch bezieht er die Refrains in die von ihm postulierte doppelte Rahmenstruktur des Kapitels ein. In einem äußeren und einem inneren Rahmen sowie im Zentrum stehen nach Kleiber je sieben Kehrverse^^^. Problematisch an seinem Ansatz ist weniger, daß er zwischen den beiden Kehrverstypen nicht unterscheidet, als daß seine Strukturierung in keine Beziehung zum Inhalt gesetzt werden kann, also schöne Form an sich bleibt: "Es ist festzustellen: Strenge inhaltliche Zäsuren an den Abschnitten sind nicht evident zu machen (...) Was die Bezüge der Bauteile untereinander anbetrifft, so entspricht der Rahmenstruktur keine direkte Parallelität des I n h a l t s " . Der Sinn der "monumentalen Konstruktion"^®^ bleibt unklar. ^^ Eher ein Übermaß an sinnvoller Strukturiertheit findet Haubrichs im zahlenmäßigen Aufbau von V 23. Zwischen der Gesamtverszahl der Refrains (84 = 4 x 2 1 ) und der Gesamtzahl der nicht can Kehrreimen beteiligten Verse (214) err-f. kennt er ein chiastisches Verhältnis das allerdings nur so lange besteht, wie man die Faktoren nicht vertauscht; warum aber gerade 4 x 2 1 und nicht 21 χ 4 zu schreiben ist, bleibt unerklärt. Die Gesamtverszahl der Abschnitte, die von jedem der beiden Refraintypen beendet werden, beläuft sich auf 142 und 72. Haubrichs will auch in der 142 eine "chiastische Bindung"^®^ an die 214 feststellen. Erstaunlicherweise verzichtet er darauf, die ominöse 214 zu interpretieren. Gedeutet werden dagegen die 142 und die 72: "142 ist (...) der halbe Zahlenwert des sakralen Gottesnamens 0EOC, 72 ist die Zahl, die das 558 JAMMERS, Epos, Nachtrag, S. 191. 559 JAMMERS, Epos, S. 151. 560 Anders liegen die Dinge im Gebet am Ende der Conclusio volumini-s totius (s.o. S. 97f.). Dort tritt nur ein einziger Refrain auf, der überdies nur halb so lang ist wie die Kehrversgebete des Kapitels V 23 und daher den Mitvollzug durch die Hörerschaft wesentlich leichter zuläßt als die Refrains des hier betrachteten Kapitels. 561 KLEIBER, Otfrid von Weißenburg, S. 292-97. 562 S. 294. 565 HAUBRICHS, Ordo, S. 26lf. 563 S. 297. 566 S. 262. 564 S. 293. 567 Ebd.
170
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Evangelium als Zahl der Schüler Christi aufweist; auch besitzt sie kosmologischen Sinn: 72 Sprachen und 72 Völker kennt die Welt nach der Anschauung des Mittelalters."568 ohne sich mit der Frage aufzuhalten, warum Otfrid den h a l b e n Zahlenwert des Gottesnamens verwendet und welche Rolle die 72 Schüler Christi spielen, die die Deutung im weiteren völlig vernachlässigt, kommt Haubrichs zu dem vorsichtig als Frage formulierten Schluß: "Will das Formengefüge Otfrids hier auf den Endzustand des Kosmos hinweisen, der in der absoluten, schauenden Einung mit Gott zur Vollgestalt und Erfüllung des Christusglaubens gelangt?"5®^ Auch Ernst ® versucht, eine bedeutsame Struktur des Kapitels V 23 nachzuweisen. Er geht aus von der Beobachtung, daß die Kehrverse einundzwanzigmal auftreten, und faßt diese Zahl auf als Produkt aus 3 und 7. Bei der Deutung dieses Befundes läßt er aber den Faktor 3 völlig außer acht und interpretiert allein die 7, zunächst (unter Berufung auf den "Liber numerorum" des Ps.-Isidor 571 ) als Hinweis auf das regnum aaeleste, dann auch auf die septiformis gratia des Heiligen Geistes57^, obgleich dieser im ganzen Kapitel nicht vorkommt und in Otfrids Werk eine geringe Rolle spielt5'3, so daß eine Anspielung auf ihn einer Begründung bedürfte. Diese fehlt jedoch. Da Ernst auch nicht klarlegt, warum er bei der Auslegung der 21 allein den Faktor 7 deutet, wirkt sein Vorgehen beliebig. Alle vorgeführten Versuche, im Kapitel V 23 mit Hilfe der Kehrversgebete eine unter zahlenkompositorischen oder -symbolischen Aspekten sinnvolle Struktur aufzudecken, verfahren mehr oder weniger willkürlich. Dies gilt besonders für Haubrichs und Ernst, die ermittelte Zahlen auf andere zurückführen, die im Text keine Grundlage haben, ohne dieses Vorgehen hinreichend abzusichern. Wenn zahlensymbolisch gedeutet werden soll - und Haubrichs legt uberzeugend dar, daß diese Interpretationsmethode in karolingischer Literatur grundsätzlich angebracht ist -, dann dürfen unbequeme Zahlen nicht ohne weiteres durch leichter deutbare Teile oder Vielfache ersetzt werden. Es geht nicht 575 an, ohne Begründung die Deutung der 284 auf die 142 zu übertragen oder von der 21 auf die 7 auszuweichen und den Divisor 3 außer acht zu lassen57^. Bei so beliebigem Vorgehen erstaunt es nicht, daß selbst für ein Kapitel wie V 23, das durch die Dichotomie seines Gegenstandes und die Verwendung von Kehrversen deutlicher gegliedert ist als die meisten anderen, verschiedene Interpretationen zu sehr unterschiedlichen Deutungen kommen, von denen wegen der Mängel des Verfahrens oder der fehlenden Beziehung der ermittelten Form zum gedanklichen Inhalt keine überzeugt. Dies ist kein grundsätzlicher Einwand gegen zahlensymbolische Interpretationen, mahnt aber zur Vorsicht vor Deutungen, die sich auf scheinbar naheliegende, tatsächlich aber aus dem Text nicht wahrscheinlich zu machende Operationen stützen.
7. Die Gebete in den Widmungen
Da Otfrid die Widmungen, wie ihr Ausschluß aus der Buch- und Kapitelzählung
zeigt, nicht als Teil des eigentlichen Werks auf-
faßt, dürfen auch ihre Gebete prinzipiell nicht mit denen der eigentlichen Dichtung zusammen betrachtet werden. Dennoch erwies es sich als sinnvoll, die Gebete der Widmung an Hartmut und We-
568 569 570 573
HAUBRICHS, Ordo, S. 262. Ebd. 571 S. 328 und Anm. 319. ERNST, Liber Evangeliorum, S. 328f. 572 Ebd. Zum Heiligen Geist bei Otfrid EGERT, Holy Spirit, S. 51-54, 242. Besonders S. 242: "The mystery of the Trinity, especially the Holy Spirit, is still very much in the background." 574 HAUBRICHS, Ordo, s . 9 - 1 6 0 . 576 ERNST, Liber Evangeliorum, 575 HAUBRICHS, Ordo, S. 262. S. 328.
171
Die Gebete in den Widmungen
rinbert im Zusammenhang der Schlußgebete des Gesamtwerks zu behandeln. So bleiben hier nur noch die Gebete der drei dem Werk vorangestellten Widmungen zu besprechen, also die der Dedikationen an König Ludwig den Deutschen, an Bischof Liutbert von Mainz und Bischof Salomo von Konstanz. Bereits die Uberschrift der Widmung an König Ludwig bildet ein kurzes Gebet, das als Akrostichon und Telestichon wiederkehrt: Ludouuioo
orientalium
regnorum
regi sit salus aeterna
(S. 1). Es
folgt den Regeln für den Widmungseingang, die für die Anrede an den Adressaten (salutatio) neben der Nennung des Empfängers (insoriptio) und des Verfassers (intitulatio) einen Gruß vorschreiben 577 , der zwar fehlen kann, seit dem 9. und 10. Jahrhun578 dert aber immer üblicher wird . Ungewöhnlich ist das Fehlen des Verfassernamens, den Otfrids Dedikationsschreiben sonst bringen. Es ist aufzufassen als Bescheidenheitsgeste gegenüber 579 dem hochgestellten Empfänger der Widmung Die als Uberschrift im offiziellen und feierlichen Latein verfaßte salutatio paraphrasiert Otfrid in den ersten Versen des Widmungsschreibens ausführlich in deutscher Sprache: 1 Lüdowig
ther snillo,
er ostarrichi Ubar Frankono
rihtit lant
thaz rihtit,
äl,
ellu sin
so ih thir zellu, joh s&lida
höhe mo thaz güat
Hohe mo gimüato er ällo stunta
io alio ziti frewe sih!
föllo,
so Fränkono
so gengit
5 Themo si iamer h&ili druhtin
thes wisduames
künig sea
L;
giwalt,
thiu sin giwalt
eil
U.
gimeini,
joh frewe mo emmizen
thaz
muaT;
guato, thes thigge
io m&nnogili
H!
Die breitere Übertragung der lateinischen salutatio ins Deutsche behält die Abfolge der lateinischen Vorlage bei. Der insoriptio entsprechen die ersten vier Verse, die Ludwig als ostfränkischen König bezeichnen und ihn mit den topischen Attributen der Tapferkeit und der Weisheit sowie der Königstugend der Gerechtigkeit ausstatten. Den Heilswunsch für den König, der auf die insoriptio folgt, übertragen die Verse 5-8. Gegenüber der knappen lateinischen Formulierung ergibt sich kaum ein Bedeutungsgewinn. Nur die Aufforderung zum allgemeinen Gebet für Ludwigs Heil (8b) führt 577 SIMON, Widmungsbriefe (Archiv für Diplomatik 5/6) S. 140. 578 SIMON, Widmungsbriefe (Archiv für Diplomatik 5/6) S. 142. 579 Zur Anonymität aus Bescheidenheit SIMON, Widmungsbriefe (Archiv für Diplomatik 4) S. 117f. ERNSTs Versuch, das Verschweigen des Namens durch das Fehlen einer persönlichen Beziehung zwischen Otfrid und Ludwig zu begrün-
den (Liber Evangeliorum, S. 31), ist auf dem Hintergrund der von SIMON gesammelten Gründe für die Anonymität von Widmungsschreiben abzulehnen.
172
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
über den lateinischen Heilswunsch hinaus. Das für den König erbetene Heil meint sowohl innerweltliches Glück als auch die ewige Freude, salus aeterna umschließt beides, und auch die deutschen Übersetzungen und Variationen erlauben den Bezug auf das irdische wie das ewige Leben. Wie zentral der Begriff in diesem Gebet ist, zeigt sich daran, daß Umschreibungen von salus und aeterna in je-
dem Langvers wenigstens einmal auftreten 580 Da die Verse 1-8 als Ubersetzung der salutatio im Grunde noch zur Widmungsüberschrift gehören 581 , ist das in ihnen enthaltene Gebet ein originärer Bestandteil der Dedikation. Seine Zurückführung auf die Topik des Preisgedichts 582 ist, so sehr die Wid583 mung panegyrischen Charakter hat, verfehlt . Dagegen ist ein Einfluß dieser Gattung mit Sicherheit im Auftreten eines Gebets im Widmungsinneren zu erblicken, denn Heilswünsche an anderen Stellen als im Eingang und Schluß erscheinen in Widmungen üblicherweise nicht 584 , während sie in Preisgedichten nicht selten
24
- druhtin In nötliohen
wirkon,
thes thänke
thes seal er göte
ouh sin githigini
Er uns ginädon
sinen riat,
then spar er nu zi libe Nu niazen 30
sines
wir thio güati
selbes
Thes männilih
nu gerno
fon got er müazi Alio
ziti güato
joh bimide 35 Längo,
al,
uns
I! gihialt; Ε!
ziti
ginada
f&rgo,
joh wesan
thanko
l&ngo gisun
N;
T!
gimüato,
thero ftanto min,
küning
wir göte
sina
nidir
io ζί Hab
thes sculun
so leb er io
liobo druhtin
süaz imo sin Hb
thaz süliohan
haben münt
io zala,
joh xinsu smahu
uns ällen
R
thankon;
joh fridosamo
werkon,
hälf imo sa
f&r
A!
läz imo thie däga so man güetemo
sea
sin, L!
580 salus·. 5 heili, sälida, 6 güat, frewe (...) πύαΤ-, l Höhe (...) gimuato (...) guato; 8 frewe. - aeterna·. 5 iamer-, 6 emmizen, 7 alio ziti·. 8 alio stunta. 581 Weniger eng ist die Beziehung der salutatio zu den ersten Versen der Widmung in der Dedikation an Salomo, doch auch dort hat der Anfang des deutschen Textes (1-4) inhaltlich den Charakter einer Widmungsuberschrift Aus dem Rahmen fällt lediglich die Widmung an die St. Galler Mönche, deren deutscher Text mit einem Gebet des Dichters für sich selbst beginnt (1-16) 582 Dies versucht VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 11. 583 Bezeichnenderweise nennt GEORGI (Preisgedicht, S. 56-62) unter den Parallelen, die die Widmung an Ludwig mit den zeitgenössischen Preisgedichten verbinden, den Heilswunsch der Verse 5-8 gerade nicht. 584 vgl. SIMONS Ausführungen zum inneren des Widmungsbriefs (Widmungsbriefe Archiv für Diplomatik 5/6, S. 143f.). ' 585 VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 11.
173
Die Gebete in den Widmungen
Diese Gruppe von Gebetsaufforderungen und Gebeten nimmt ihren Ausgang vom Gedanken des charismatischen Königs, der, wie zuvor dargelegt (19-25a), in Bedrängnis auf den Beistand Gottes vertrauen und so seinem Volk güati joh fridosamo ziti (29) sichern kann. Hieraus ergeben sich Dankgebete für die von Gott dem König erwiesene Gnade, zu denen Ludwig (25b), sein Gefolge einschließlich des sich hinter einer Bescheidenheitswendung verbergenden Dichters (26b) und schließlich noch einmal 'wir' schlechthin aufgefordert werden, aber auch Bitten für den König, die, zunächst kurz zwischen die Dankgebete eingeschoben (28), am Ende fünf Verse lang (32-36) alle Hörer zum Gebet für Ludwig aufrufen. Ein sehr starker Akzent liegt auf weltimmanenten Segenswünschen. Die Bitte um ein langes Leben für den König (32, 33, 35) kommt in Vers 35 durch Wortwahl und Verteilung der Aussage auf den Langvers, die an den Beginn des Schlußteils des Eingangsgebets zum 586 dritten Buch erinnern , zu etwas größerer sprachlicher Intensität. Das Gebet um das ewige Leben tritt demgegenüber zurück. Die Bitten um Gottes munt (32) und um Schutz vor dem Teufel haben weniger das Jenseits als das Charisma des Königs im Blick, das nur Bestand hat, solange Gott ihm beisteht. Ludwig ist im Mittelteil der Widmung nicht als Christ gesehen, der zum Erreichen des ewigen Lebens der Gebetshilfe der Mitchristen bedarf, sondern als charismatischer Herrscher, der die Sicherheit der Franken garantiert. Alle Bitten richten sich darauf, sein Königsheil zu sichern und den begnadeten König seinem Volk so lange wie möglich zu erhalten. Auch der Schlußteil der Widmung an Ludwig besteht weitgehend aus Gebeten: 73 Simbolon
bisperrit,
uns widarwert
siohor mügun sin wir thes; 75 Alio ziti thio the sin, bimide
ouh alio pina,
Lang sin daga sine
Uuänta thaz ist füntan,
got frewe sela sin
gimüato
Allen sinen kindon
U
guato;
ni breste in &won imo the
si riohiduam
L!
gisüntan,
mit frewi joh mit heil
586 Vgl. Iii 1,31 Lindo, liobo druhtin min und Anm. 454.
libe,
unz wir häben nan
joh eigun ziti
niaz er ouh mämmuntes,
A!
thaz wir sin sichor ubar ά
thaz leben wir, so ih meinu, Simbolon
S!
loko mo thaz müat sin;
zi themo ewinigen
bimide ouh zalono f&l, 80
Krist
ni merrit,
längo niaz er libe
mit
S!
minnon,
laz thia kestiga sin-, s.o. S. 127
174
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
si zi göte ouh mlnna 85 Ewiniga
drütsaaf
in himile
mit Lüdowige
ih thiz büah;
ödo er thaz giw&izit,
therero
büaahi
thaz nieze Lüdowig Niazan
müazi
thaz sin
thär ouh iamer, 95 Alto ziti güato inliuhte
thar
E!
thaz er sa lesan heizi mag hören
waz Krist in then gibiete Regula
A!
oba er häbet iro rüah,
Er htar in thesen rkdion 90
kuninginn
niazen se iamer, soso ih qu&d,
zi wäre
Themo dihton
thera selbun
io thar rnuat,
druhtin min, l&b er thar
imo io thar wunna,
evang&lion,
Fränkono
uns zeigot
T:
thtet
E.
himilrichi;
thiu äwinigun
gotes ja
io thaz ewiniga
guat;
läz mih mit imo si
R! N!
gimüato, thiu ewiniga
sünn
Al
587 Wie in der Widmung an Hartmut und Werinbert stimmen Akrostichon und gedanklicher Inhalt des Gebets überein: Die Anfangsund Endbuchstaben SALUS AETERNA fassen die Segenswünsche noch einmal zusammen. Gemäß der Buchstabenzahl des lateinischen Segenswunsches umfaßt der Schlußteil zwölf Strophen. Selbst wenn man berücksichtigt, daß auch die kurze Ubergabe des Werks an den König (87-90) keinen Gebetscharakter hat, sind die Schlußbitten immer noch ungleich588 ausführlicher als in vergleichbaren lateinisehen Dedikationen . Auch hier scheint sich Otfrid weniger lateinische Widmungen als Preisgedichte zum Vorbild genommen zu 589 haben . Die Bitte um das ewige Glück Ludwigs ist nun (vor allem in den letzten Versen, 91-96) stärker akzentuiert als im Mittelteil, wird aber auch jetzt nicht vorherrschend. In die Wünsche für Ludwig werden, wie es zur Topik des Preisgedichts ge590 hört , auch seine Gemahlin und seine Kinder einbezogen. Der Ton der Bitten um das ewige Heil ist zwar durch das mehrfache 'ewig' (92b, 93b, 96b) und die Lichtmetaphorik für das ewige Leben etwas intensiver als der der Bitten um weltliches Glück, doch klingt inständig nur die Bitte um die Seligkeit für sich selbst, die Otfrid in das Gebet für den König einschiebt (94). Nur sie geht von der feierlich-distanzierten optativischen zur direkteren Imperativischen Sprechweise über; nur sie spricht 587 S.o. S. 1 0 1 , 1 0 4 f . Auch zu Beginn der Widmung an Ludwig verweist die Form in ähnlicher Weise auf den Inhalt, wenn die ersten 18 Strophen, die die erste preisende Charakterisierung Ludwigs leisten, als Akrostichon und Telestichon gerade den Namen des Königs tragen. (Vgl. GEORGI, Preisgedicht, S. 6 0 ) . 5 8 8 SIMON, Widmungsbriefe (Archiv für Diplomatik 5 / 6 ) S. 1 4 4 . 5 8 9 GEORGI, Preisgedicht, S . 6 1 . 5 9 0 VOLLMANN-PROFE, Kommentar, S. 2 0 .
175
Die Gebete in den Widmungen
Gott vertrauensvoll bei seinem Namen und sogar als druhtin min (94a) an. Ganz anderen Charakter als die Widmung an Ludwig zeigt das Schreiben an Bischof Liutbert von Mainz, das das Exemplar des Evangelienwerks begleitete, das Otfrid ihm zur Erteilung der kirchlichen Approbation vorlegte. Als offizielles Schreiben ist dieser Brief in der Amtssprache Latein verfaßt. Seine Eingangsund Schlußwünsche gehen, seinem offiziellen Charakter gemäß, 591 nicht über das in lateinischen Prosawidmungen übliche hinaus Die Eingangsformel verbindet die in nicht ungewöhnlicher Weise durch Beifügungen erweiterte Nennung des Absenders und des Empfängers mit einem kurzen Segenswunsch für den Adressaten: Dignitatis oulmine
gratia
divina praeaelso
Liutberto
Mogontiaaensis
urbis arehiepisaopo Otfridus quamvis indignus tarnen devotione monaohus presbyterque exiguus aeternae vitae gaudium optat sem-
592 per in Christo . Die Angabe seines Namens, die Otfrid in der salutatio des Approbationsschreibens nicht umgehen konnte, wird kompensiert durch eine Reihe von Bescheidenheitsbeteuerungen bei gleichzeitigem Lob des Empfängers. Ähnlich kurz und konventionell ist der Schlußwunsch, der nun auch um den Segen Gottes für Liutberts Leben in der Welt bittet: Trinitas summa unitasque perfecta cunctorum
vos utilitati 593 multa tempora inoolomem
reataque
vita
manentem dignetur. Amen . Dies ist die einzige Anrufung der Trinität in Otfrids Werk. In der zweiten deutschsprachigen Widmung, dem Schreiben an Bischof Salomo von Konstanz, sind die Gebete des Verfassers ähnlich verteilt wie in der Dedikation an Ludwig. Von den drei Gebetskomplexen steht je einer am Anfang, im Inneren und am Ende. Insgesamt nehmen die Gebete mehr als den halben Umfang des Schreibens ein. Otfrid beginnt mit einem kurzen Segenswunsch: 1 Si salida gimuati ther bisaof
S&lomones
ist nu ediles
Alio güati gidiie thio sin, ther inan zi thiu gilädota
guati, Kdstinzero thio bisaofa in houbit
sedate er thar
S; häbetin,
sinaz zuivalt
A!
Wie der Heilswunsch zu Beginn des Schreibens an Ludwig stehen auch diese Verse der konventionellen lateinischen Widmungsüber594 schrift nahe. Sie ergänzen die in knappster Form nur Absender und Empfänger nennende Uberschrift Salomoni episoopo Otfridus 591 SIMON, Widmungsbriefe
(Archiv für Diplomatik 5/6) S. 140-42.
592 Ad Liutb. s. 4. 593 Ad Liutb. 134-36. 594 SIMON, Widmungsbriefe
(Archiv für Diplomatik 5/6) S. 140.
176
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
unter nochmaliger Angabe des Adressaten um einen allgemeinen
Se-
genswunsch. Hauptanliegen des Schreibens an den Konstanzer Bischof ist Otfrids Dank für die Erziehung durch Salomo, ohne die, wie er in höflicher Selbstverkleinerung feststellt (23-26), sein Werk nicht 59 5 möglich gewesen wäre . Der Dank äußert sich in ausgedehnten Gebeten für den Bischof. Im Mittelteil wünscht Otfrid ihm zum erstenmal ewigen Lohn: 17 Emmizen mit
nu ubar
ih druhtin
Ιδη er iu iz firgelte
Päradyses 20
äl
resti
ungilönot
gebe
mit geltes
Vor allem
aber
so werde
ginühti,
selbes
wizzode
Bitte
Ε;
klei
P.
iz iu zi löne
thaz ir mir datut
ist diese
wort
gilüsti;
ther gotes
In him-Llr-ieh.es soöne
seal,
joh sines
iu zi
ni bil&ip
firgon
Gegenstand
züht
I.
der letzten
zwanzig
Verse:
29 Petrus
ther rioho
themo
zi Romu
druhtin
Öbana fon himile s&lida
lono iu es
selbo
Krist
es gidär,
SS Thaz höh er iuo wirdi
Firlihe
iu sines
Rihte 40
tue pedi
unsih
45 Uuanta
es ni bristit
nirfrewe Silbo Krist wir iamer
thaz gotes
blidemo
er giböran
ward,
furdir
sih mit müatu ther guato
joh immizen
thuruh
Τ;
zi gote ria F;
tharazua,
ewiniga
jä
R,
bimiden;
thio sino guat
I!
müate! ther io thia sälida (thes gilöube
iamer firlihe
fro sin müates
güa
htmilriches,
thaz wizi wir
Düe uns thaz zi güate
0,
hüldi,
joh mih gifüage
bilden,
iz ouh äl,
thaz sinaz managfalta
thar
joh düe uns thaz gimüati
mit heilu
selbes
hiar io wiaf
frewen
0!
sina ferg
thes hohen
thara früa
thaz wir unsih In himile
mit sines
in thaz muat
bi thaz ther güato
gämane
gin&da
riches,
P;
ther güat
ni seal ih firläzan
nub ih ίο bi iuih gerno
joh iu festino
joh hüs inti hof ga
sent iu io zi
gimi/ato
Oba ih irbälden
gr&p
bltdlicho,
man
mir),
thar mit güat uns hiar
thes ewinigen
thar fan D,
U.
gimuato, guate
S!
595 Die topische Zuschreibung des Hauptverdienstes an den Widmungsempfänger (vgl. SIMON, Widmungsbriefe, Archiv für Diplomatik 5/6, S. 132f.) hat hier, da der Widmungsempfänger der Lehrer des Verfassers ist, also einen lebensgeschichtlichen Hintergrund.
Systematischer Überblick
177
In den letzten zehn Versen (ab 39b) tritt neben die Bitte um ewigen Lohn für Salomo die um das ewige Heil des Verfassers. Solche Gebete Otfrids für sich selbst stehen auch in den beiden anderen 596 deutschen Widmungen . Ihr jeweiliger Stellenwert hängt ab vom Rangunterschied zwischen dem Verfasser und dem Adressaten. Während die hohe Stellung König Ludwigs nur eine einen einzigen Vers umfassende Bitte für den Dichter gestattet (Ad Lud. 94), haben in der Widmung an die mit ihm ranggleichen St. Galler Mönche die Gedanken an das eigene Seelenheil ebensoviel Gewicht wie die Gebete für die Empfänger; Otfrid schließt sich in die Bitten für sie mit ein und bittet sie überdies um ihre Fürbitte beim Heiligen Gallus, während er für sie den Heiligen Petrus anzurufen ver• u .1-597 spricht Den Heiligen Petrus ruft Otfrid zu Beginn des Schlußgebets des Schreibens an Salomo auch für diesen an (29f.), wohl nicht nur, weil Petrus der Schutzpatron des Klosters Weißenburg war, sondern auch im Gedanken an Salomos Bischofsamt. Es folgen neun Strophen an Christus (31-48), die die Bitte um das ewige Leben immer wieder umformulieren. Die Variation erschöpft sich in einer Aufreihung der bei Otfrid für das ewige Leben gebräuchlichsten Wendungen. So bleiben diese Verse recht blaß. Uberhaupt fehlt den Gebeten in den Dedikationen an Salomo und Ludwig die eindrucksvolle Intensität, die sonst oft im Evangelienbuch und selbst noch in der Widmung an Hartmut und Werinbert zu beobachten ist. In den vorangestellten Widmungsschreiben findet Otfrid am wenigsten zu einer eindrucksvollen gedanklichen und sprachlichen Gestaltung seiner Gebete.
8. Die Dichtergebete Otfrids von Weißenburg im systematischen Uberblick Die V e r t e i l u n g der Dichtergebete auf Otfrids Werk ist ungleichmäßig. Von den insgesamt 41 Anrufungen stehen sechs in Buch I, zwei in Buch II, neun in Buch III, vier in Buch IV und noch einmal neun in Buch V; die Widmungen enthalten elf Gebete. Auffällig ist die geringe Zahl von Anrufungen im zweiten und im vierten Buch. Die Vermutung, Otfrid lege hier besonderen Wert auf einen ungestörten Fortgang der Erzählung, würde dadurch gestützt, daß in den Büchern II und IV nur je ein Gebet im Buch596 Das Fehlen von Bitten des Verfassers für sich selbst im lateinischen Schreiben an Liutbert hat seinen Grund wohl im offiziellen Charakter dieses Briefs. 597 Ad. H. 153-57.
178
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
inneren steht, während die übrigen zum Bucheingang oder -schluß gehören. Aber wenn es Otfrid in diesen Büchern um eine kontinuierliche Erzählung zu tun wäre, wäre zu erwarten, daß in ihnen auch Deutungskapitel fehlten oder zumindest selten wären. Doch enthalten das zweite und das vierte Buch mehrere auslegende Kapitel (II 5, II 6, II 9, II 10; IV 5, IV 25, IV 29), so daß ein 598 ungestörter Erzählbogen hier kaum angestrebt sein kann . Da hinter der Verteilung der Dichtergebe'te auf die Bücher auch kein anderer Sinn - etwa die von einer bestimmten Absicht geleitete Untergliederung des Werks - zu erkennen ist, scheint sie zufällig zu sein. Nur vier der 41 Gebete haben keine eröffnende oder beschließende Funktion für das Gesamtwerk, ein Buch oder ein Kapitel. Eingänge und Schlüsse sind also die bevorzugten Orte des Dichtergebets. Schlußgebete sind etwa doppelt so zahlreich wie Gebete im Eingang: Zwölf Gebeten in Eingängen stehen 25 in Schlüssen gegenüber. Im einzelnen bietet sich folgendes Bild: Werkeingang Werkschluß Buche ingänge Buchschlüsse
1 4 5 6
Gebet599 Gebete6 0 0 601 Gebete 602 Gebete
Kapiteleingänge Kapitelschlüsse Widmungseingänge Widmungsschlüsse
2 Gebete603 604 11 Gebete 605 4 Gebete 606 4 Gebete
Von den vier Gebeten, die nicht Teil eines Eingangs oder eines Schlusses sind, stehen zwei in den Widmungen*'^, die beiden üb608 rigen sind die Refraingebete des Kapitels V 23 Der U m f a n g der Gebete läßt sich wegen des manchmal fließenden Übergangs zum Kontext in einigen Fällen nur näherungsweise bestimmen. Er ist überaus unterschiedlich und reicht von einem Halbvers (III 1,1a; IV 1,5b; IV 37,30b; V 25,78b) bis zu 598 Die jeweils zwei Kapitel umfassenden auslegenden Einschübe des zweiten Buchs haben nicht weniger als 86 und 120 Verse. 599 I 2. 600 Ohne das Gebet am Schluß der Widmung an Hartmut und Werinbert, das nicht als Schlußgebet des Gesamtwerks zu betrachten ist: V 25,35f.; V 25,78; V 25,87-104; Ad H. 1-16. 601 III 1,1; III 1,9-44; IV 1,5; IV 1,37-54; V 4,lf. 602 Unter Einbeziehung des Gebetskapitels V 3: I 28, II 24,17-46; III 26,70; IV 37,30; V 3; V 24. 603 III 7,1-4; III 21,1-6. 604 I 6,15-18; I 7,25-28; I 11,39-54.62; II 3,63-68; III 5,19-22; III 7,89f.; III 17,59-66; III 21,29-36; IV 31,27-36; V 21,25f. 605 Ohne das Gebet am Anfang der Widmung an die St. Galler Mönche, das zu den Schlußgebeten des Gesamtwerks gezählt werden muß: Ad Lud. Überschrift,
5-8; Ad Liutb . Überschrift; Ad Sal. 1-4. 606 Ad Lud. 74b-96; Ad Liutb. 134-36; Ad Sal. 607 Ad Lud. 24b-36; Ad Sal. 17-22. 608 V 23,11-14 u.ö.; 27-30 u.ö.
29-48; Ad E. 149-68.
Systematischer
Überblick
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58 Langversen (I 2). Tendenziell sind die Gebete in den Eingängen und Schlüssen des Gesamtwerks und der Bücher länger als die übrigen Anrufungen: Das Werkeingangsgebet ist die ausgedehnteste Hinwendung des Dichters zu Gott überhaupt; die Werkschlußgebete umfassen aber doch bis zu 18 Versen
, und die Gebete in den 610 Buchschlüssen und -eingängen zählen bis zu 36 Versen . Die übrigen Anrufungen erreichen diesen Umfang nicht. Die Gebete in den Eingängen und Schlüssen der Kapitel sind in der Regel nicht län611 ger als acht Verse , und auch die Anrufungen im Kapitelinneren bleiben mit einer Länge von vier (die Refraingebete von V 23) bis zwölfeinhalb (Ad Lud. 24b-36) Versen knapper. Näher an den Kern des dichterischen Betens Otfrids heran führt die Bestimmung der Art und Weise, in der sich die Verbindung zwischen Beter und Adressat herstellt. Sie ergibt sich wesentlich aus dem M o d u s der Verben, die das Anliegen formulieren. Ein sehr direktes Verhältnis des Beters zum Angerufenen äußert sich in Imperativischen Gebeten, die die Du-Anrede verlangen. Weniger unmittelbar ist die Beziehung in optativischen Gebeten, zumal wenn, wie meist, der Adressat nicht angeredet ist, sondern der Beter von ihm in der Er-Form spricht, also einem Dritten mitteilt, mit welchen Anliegen er sich an den Adressaten wendet. Neben dem optativischen Gebet in der Er-Form ist auch die Anrufung in der optativischen Du-Form denkbar, die seltener und weniger eindeutig interpretierbar ist als das optativische Er-Gebet. Sie versucht, die Direktheit des Du-Gebets mit den Assoziationen der Ehrfurcht oder der Demut zu verbinden, die optativische Formulierungen begleiten. Hinsichtlich der Direktheit des Betens neutral ist die indikativische Gebetsform. Der Grad von Unmittelbarkeit und Intensität hängt hier davon ab, ob in der Du- oder in der Er-Form gesprochen wird. Die Zuordnung eines Gebets zu einer dieser Kategorien kann schwerfallen. Dies gilt besonders für die Unterscheidung imperativischer und optativischer Gebete. Gebete, in denen sämtliche Verben im Imperativ stehen, sind die Ausnahme. Häufiger hängt von einem Imperativ eine Folge von Nebensätzen ab, deren Prädikate im Konjunktiv stehen und damit dieselben Formen zeigen wie die Prädikate optativischer Gebete, so daß die Abgrenzung undeutlich 609 V 25,87-104. Ein weiteres der insgesamt vier Werkschlußgebete hat 16 Verse {Ad H. 1-16). 610 III 1,9-44; ein weiteres Bucheingangsgebet hat 18 Verse (IV 1,37-54). Von den sechs Buchschlußgebeten weisen vier zwanzig oder mehr Verse auf (I 28; II 24,17-46; V 3; V 24). 611 Über dieser Grenze liegen nur zwei Kapitelschlußgebete, von denen eines die Marke von acht Versen nur knapp übertrifft (IV 31,27-36) und nur das andere mit einem Umfang von 16 Versen ganz aus dem Rahmen fällt (I 11,39
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
wird. Die Betrachtung allein der Hauptsätze machte zwar eine klare Trennung in Imperativische und optativische Gebete möglich, doch würde sie dem Charakter mancher Gebete nicht gerecht, denn ein Gebet, in dem auf einen Imperativischen kurzen Hauptsatz eine lange konjunktivische Nebensatzreihe folgt, wäre dann als Imperativisch einzuordnen, während doch der von den zahlreichen konjunktivischen Formulierungen hervorgerufene Eindruck der Indirektheit der Gebetssituation bei weitem überwiegt. Andererseits könnte auch ein mechanisches Abzählen imperativischer und konjunktivischer Verben die Schwierigkeit nicht beheben, denn selbst wenn in einem Gebet Imperativische Prädikate seltener sind als konjunktivische, können sie seinen Charakter stärker prägen als die zahlenmäßig dominierenden indirekteren Formulierungen. Die Beschreibung des sprachlichen Modus eines Gebets erfordert daher oft ein sorgfältiges Abwägen. Die folgenden Ausführungen beanspruchen demnach mit ihren Zahlen keine absolute Gültigkeit; die sich abzeichnenden Tendenzen jedoch dürften das für Otfrids Gebete unter diesem Aspekt Charakteristische sichtbar machen. Die Gebetsform, die die unmittelbarste Hinwendung zum Adressaten gestattet, das Imperativische Gebet, ist relativ schwach vertreten: Nur sieben meist recht kurze Gebete -ihr Umfang liegt zwischen zwei und zehn Versen - haben Imperativischen Charakter 1 2 . Vier von ihnen sind Kapitelschlußbitten61 . Von den drei übrigen bildet eines die Inspirationsbitte zu Beginn des Ausle614 gungskapitels zur Speisung der Fünftausend , während die beiden restlichen die Refrains des großen Jenseitskapitels V 23 615 sind . Die entgegengesetzte Art der Anrufung, das optativische Er-Gebet, das am wenigsten eine enge Beziehung zwischen dem Beter und dem Adressaten stiftet, ist mit 15 Belegen mehr als doppelt so häufig vertreten**. Diese Form zeigen die kurzen Bucheingangsbitten 61 "7 (sofern ihnen nicht ein Prädikat ganz fehlt 618), die die Indirektheit der Anrufung noch dadurch unterstreichen können, daß der Adressat nicht einmal grammatisches Subjekt der optativischen Formulierung ist, sondern eine unpersönliche Konstruktion gewählt wird 61 . Auch die kurzen Bitten am Buch612 III 5,19-22; III 7,1-4; III 17,59-66; IV 31,27-36; V 21,25f.; V 23,11-14 u.ö., 27-30 u.ö. 613 III 5,19-22; III 17,59-66; IV 31,27-36; V 21,25f. 614 III 7,1-4. 615 ν 23,11-14 u.ö., 27-30 u.ö. 616 Ad Lud. Überschrift, 5-8; AdLiutb. 134-36; Ad Sal. 1-4, 17-22, 29-48; I 28; III 7,89f.; III 21,1-6; III 26,70; IV 1,5; IV 37,30; V 4,lf.; V 25,78; Ad H. 159-68. 617 IV 1,5; V 4,lf.
618 So i n 1,1 Mit selben Kristes segenon. 619 V 4,lf.
Systematischer Uberblick
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6 20 schluß zeigen diese Sprachform, während von den umfangreicheren Buchschlußgebeten nur das Gebetskapitel am Ende des ersten Buches - strenggenommen eine Gebetsaufforderung 621 - als rein optativisches Gebet anzusprechen ist. Weiterhin sind je ein Kapiteleingangs- und ein Kapitelschlußgebet in der optativischen 622 Er-Form abgefaßt · Zahlreiche Gebete dieser Form - mit sieben fast die Hälfte - stehen in den Widmungen. Das einzige Gebet, das trotz optativischer Formulierung seinen Adressaten als Du 62 3 anredet, ist das längere der beiden Eingangsgebete zu Buch IV Der Grund für die Seltenheit der Kombination von Optativ und DuAnrede dürfte in der Zwischenstellung liegen, die diese Sprechweise zwischen der unmittelbaren, das Du verlangenden Imperativischen Form und dem distanzierteren und deshalb 624 die Er-Form nahelegenden optativischen Sprechen einnimmt Wie bei den optativischen Gebeten ist auch bei den Anrufungen im Indikativ danach zu trennen, ob der Adressat als Er oder als Du erscheint. Auch hier haben die Anreden in der dritten Person ein zahlenmäßiges Ubergewicht, wobei allerdings die Gesamtzahl der indikativischen Anrufungen wesentlich geringer ist als 62 5 die der Gebete im Optativ: Von fünf indikativischen Gebeten zeigen drei die Er-Form. Ihr Umfang liegt zwischen dem einer Widmungsüberschrift^^^ und 16 Versen*'^. Zwei von ihnen sind Bit628 ten ; das dritte ist das längste Lobgebet des Werks, das Marienlob am Ende des erzählenden Teils des Weihnachtskapitels 1 1 1 629 . Die kurzen indikativischen Du-Gebete mit einem Umfang von einem und zwei Versen formulieren je ein Gotteslob^"^ und eine „•4.,. Bitte 631 6 32 In acht Gebeten gehen mehrere Sprechweisen eine Verbindung ein. Gerade diese Anrufungen sind durch ihre große Ausdehnung von besonderer Bedeutung. Ihr Umfang liegt zwischen zwölf und 58 Versen und damit im Durchschnitt deutlich über dem der bisher betrachteten Gebetsformen. Alle vier Gebete mit mehr als zwanzig Versen 6 33 wechseln in der Art der Anrede des Adressaten ab, wohl 620 III 26,70; IV 37,30. 622 III 21,1-6; III 7,89f. 621 Dazu s.u. S. 183. 623 IV 1,37-54. 624 In Verbindung mit anderen Formulierungen tritt das optativische Du-Gebet auch im Schlußgebet des zweiten Buches auf. 625 Ad Liutb. Überschrift; I 11,39-54.62; III 21,29-36; V 25,35f.
626 Ad Liutb. 627 628 629 630 631 632
I 11,39-54. Ad Liutb. Überschrift; III 21,29-36. I 11,39-54. I 11,62. V 25,35f. Ad Lud. 74b-96 (ohne 87-90); I 2; II 24,17-46; III 1,9-44; V 3; V 24; V 25,93-104; Ad H. 1-16. 633 I 2 (58 Verse); III 1,9-44; II 24,17-46; V 24 (22 Verse).
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
weniger um der stilistischen Variation willen als mit der Absicht, bestimmte Passagen zu unterstreichen. In sechs der acht Gebete handelt es sich um Kombinationen von imperativischem und optativischem Sprechen, wobei viermal die Imperativischen Teile länger sind als die optativischen. Am klarsten überwiegt der Imperativ im Eingangsgebet zum Gesamtwerk, von dessen 58 Versen lediglich die dreieinhalb Verse, die explizit den Schutz vor dem 6 34 Teufel erbitten, optativisch gefaßt sind , und im Gebet am Anfang der Widmung an die St. Galler 6Mönche, in dem nur das ein35 leitende Viertel den Optativ zeigt . Im Schlußgebet des zweiten und im längeren der beiden Eingangsgebete des dritten Buches sind die optativischen Teile etwas ausgedehnter - sie umfassen je etwa zehn Verse^^, die im Schlußgebet des zweiten Buches in der seltenen optativischen Du-Form stehen -, doch zeigt auch in diesen beiden Gebeten die größere Zahl der Verse den Imperativ. Die indirektere Sprachform überwiegt nur in der Oratio V 3 und im Gebetskomplex am Ende der Widmung an Ludwig, wo nur ein einzi6 37 ger Vers
Imperativisch
spricht
. Einmal nur
findet
sich
eine
Verbindung von imperativischem und indikativischem Beten; die beiden Modi spiegeln hier genau die Verteilung von Bitte und 6 38 Lob . Gleichfalls einmal kommt die Kombination von indikativischer und optativischer Sprachform vor^^. Insgesamt ist der seltenste Modus sicher der Indikativ. Optativisches und imperativisches Beten haben gleiches Gewicht, da die größere Zahl rein optativischer Gebete von dem Ubergewicht des Imperativs in den langen Gebeten, die mehrere Modi kombinieren, ausgeglichen wird. Es ist also keineswegs so, daß in Otfrids Beten der Modus überwöge, der die unmittelbarste Beziehung zwischen dem Beter und dem Angerufenen herstellt. Er herrscht allerdings vor, wo Otfrids persönliche Betroffenheit besonders fühlbar wird, wo er nur für sich betet, ohne die Gemeinde in sein Gebet hineinzunehmen. Die wohl intensivsten Beispiele solchen Betens sind das Eingangsgebet zum Gesamtwerk (I 2), das längere der beiden Eingangsgebete zum dritten Buch (III 1,9-44) sowie die Gebete um Sündenvergebung im Anschluß an die Erzählungen über die der Ehebrecherin und dem guten Schächer geschenkten 634 I 2,29-32a. Hinzu treten einige indikativische Formulierungen in den Teilen des Gebets, die Gott preisen. 635 Ad. H. 1-4. 636 II 24,37-46; III 1,9-16. 637 Ad Lud. 94; V 3,1. 638 V 24. Da die Anliegen zum Teil in thaz-Sätzen ausgedrückt werden (2-4, 18-22), die den Konjunktiv verlangen, klingt auch in diesem Gebet ein dem optativischen Beten ähnlicher Ton an. 639 V 25,93-104.
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Systematischer Überblick
Gnaden (III 17,59-66; IV 31,27-36). Hier tragen Imperativische Formulierungen wesentlich zum inständigen Ton bei. Außer Betracht blieben bisher die Auf f o r d e r u n g e n zum G e b e t , die Otfrid an seine Hörer und Leser richtet. Mit Ausnahme zweier Gebetsaufforderungen in der Conalusio voluminis totius und der Widmung an Hartmut und Werinbert, in denen der Dichter um das Gebet für sich selbst bittet64*^, schließt er sich immer dem Gebet, zu dem er aufruft, an. Die Gebetsaufforderungen nennen dem Publikum stets die Anliegen der Anrufung und formulieren ihm das Gebet manchmal sogar so vollständig vor, daß die Gebetsgemeinde das vom Dichter Vorgegebene nur geistig mitzuvollziehen oder durch ihr Amen zu bekräftigen braucht. Die Aufforderung zum Gebet steht häufig in der Wir-Form (gelegentlich 641 ist sie durch eine indikativische Formulierung umschrieben ) , während die Anliegen oft in einer Reihe von ihr abhängiger Nebensätze gefaßt sind, die als Modus den Konjunktiv zeigen und dadurch einen ähnlichen Charakter annehmen wie optativische Er-Gebete. Besonders wenn eine solche Aufzählung von Gebetsanliegen relativ umfangreich ist, kann es geschehen, daß die Nebensatzkette nicht mehr in ihrer syntaktischen Abhängigkeit von der Gebetsaufforderung wahrgenommen, sondern als optativisches Er-Gebet aufgefaßt wird. Ein besonders deutliches Beispiel für dieses Verfließen der Grenze zwischen Gebetsaufforderung und optativischem Er-Gebet bietet das Schlußgebet des ersten Buches, in dem auf die kurze Aufforderung Mit allen unsen kriftin
bittemes
nu
drühtin
(1) eine 19 Verse lange Kette abhängiger Nebensätze folgt, die vergessen läßt, daß ihr eine Gebetsaufforderung vorherging. Selten ist die Formulierung der im Zusammenhang mit einer Gebetsaufforderung genannten Gebetsanliegen in indikativischer Form 642 Nur einmal erscheint im Zusammenhang einer Gebetsaufforderung die 643 imperativische Formulierung des Anliegens . Doch fragt sich, ob da tatsächlich noch das Publikum zum Gebet aufgefordert wird oder ob Otfrid nicht schon wieder zum Dichtergebet (wenn auch stellvertretend für das Publikum) übergegangen ist, so daß eine Abfolge von Gebetsaufforderung und Dichtergebet vorläge. Kombinationen von Gebetsaufforderung und Dichtergebet erscheinen mehrfach, etwa in der Conalusio voluminis totius, in deren Schlußteil auf eine Bitte des Dichters um Fürbitte ein Gebet Otfrids 644 folgt
t
und ähnlich im Gebetskomplex, der die letzte Widmung des
Werks beschließt 645 . Zu nennen ist hier auch das Schlußgebet des 640 V 25,87-92; Ad H. 149-54. 641 So etwa V 25,87f.; Ad H. 149. 642 Ad Lud. 29f.; I 6,16-18; I 7,27.
643 Ad Lud. 35f. 644 V 25,87-104. 645 Ad H. 149-68.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
ersten Buches (I 28), wo sich, wie gezeigt wurde, aus der Gebetsaufforderung ein Dichtergebet entwickelt. Nicht immer sind Dichtergebet und Gebetsaufforderung so wenig auseinanderzuhalten wie hier, doch ist nicht selten schwer zu entscheiden, wo die Gebetsaufforderung endet und das Gebet allein des Dichters beginnt Da Dichtergebete als Gebete des Dichters definiert sind, scheint es überflüssig, nach dem B e t e r zu fragen. Doch schließt die Definition nicht aus, daß neben dem Dichter andere an dem Gebet Anteil haben. Ob und wie dies vorliegt, ist zu untersuchen. Weiter ist darauf zu achten, für wen die Dichtergebete beten. In Otfrids Werk treten sowohl Gebete auf, in denen nur der Dichter Gott oder Heilige anruft, als auch Anrufungen, an denen offensichtlich auch andere beteiligt sind. Beide Gruppen umfassen je etwa die Hälfte der Gebete. Von den Gebeten allein des Dichters erbittet die Mehrzahl eine Gnade nur für Otfrid. Sie gelten zum größten Teil seinem Dichten; ihre Anliegen sind daher oft die Inspiration für das Gesamtwerk oder Werkteile 647 , die Vergebung 648 im Dichten begangener Verfehlungen oder der Schutz vor böswil64 9 ligen Kritikern . Mit den dichterspezifischen können allgemeinere Anliegen verbunden sein, etwa die Bitte um das ewige Leben oder um Sündenvergebung und Bewahrung vor neuer Schuld . Diese Anliegen sind auch allein Gegenstand von Gebeten des Dichters für sich, etwa in den intensiven Bitten um Sündenvergebung im Anschluß an die Erzählungen von der Ehebrecherin und dem guten 651 652 Schacher und im Gebetskapitel Signaculum aruais . Doch überwiegen in Otfrids Gebeten für sich selbst bei weitem die Anliegen, die sein Dichten betreffen, insbesondere die Bitte um Inspiration. Dies hat zur Folge, daß Gebete Otfrids nur für sich häu653 fig im Werk-, Buch- und Kapiteleingang zu finden sind . - Nur in den Widmungen begegnen Gebete allein des Dichters, die Gnade nur Menschen für einen anderen Menschen 654 . Sieoder und für ihn einen selbst anderen erflehen richten sich auf das weltliche 646 Die Addition der für die jeweiligen Modi und die Gebetsaufforderungen genannten Zahlen führt nicht zu der oben mit 41 angegebenen Gesamtzahl der Dichtergebete, sondern zu einer etwas größeren Summe. Dies beruht darauf, daß einige Gebete unter dem Gesichtspunkt ihrer Sprachform in verschiedenen Zusammenhängen zu berücksichtigen waren. 647 I 2; III 1,1; III 1,9-44; III 7,1-4; III 21,1-6; IV 1,5; V 4,lf. 648 V 25 ,35f. ; Ad H. 1-16. 649 V 25,78. 650 I 2; III 1,9-44; Ad H. 1-16. 651 III 17,59-66; IV 31,27-36. 652 V 3. 653 I 2; III 1,1; III 1,9-44; III 7,1-4; III 21,1-6; IV 1,5; V 4,lf. 654 Bitten ausschließlich für den Empfänger der Widmung: Ad Lud. Überschrift; Ad Liutb. Überschrift, 134-36; Ad Sal. 1-4, 17-22. - Für den Empfänger und Otfrid selbst: Ad Lud. 74b-96; Ad Sal. 29-48; Ad H. 159-68.
Systematischer Überblick
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oder das ewige Heil der Widmungsempfänger sowie die Aufnahme des Dichters in das ewige Leben. Zu den Gebeten nur Otfrids zu rechnen ist vielleicht auch das Marienlob am Ende des erzählenden 655 Teils des Weihnachtskapitels . Es wäre unter den Gebeten allein des Dichters das einzige, das keine Bitte enthält. Wie bereits erwähnt, machen die Gebete allein des Dichters nur gut die Hälfte der Anrufungen in Otfrids Evangelienwerk aus. An den übrigen nimmt das Publikum, fast durchweg in der Wir-Form, mitvollziehend Anteil, indem es sich das vom Dichter stellvertretend Formulierte zu eigen macht und in einigen Gebeten durch sein Amen bekräftigt . Dichter und Publikum beten auch gemeinsam, wo Otfrid die Hörer zum Gebet auffordert und sich diesem Gebet dann 6 57 anschließt . Daneben gibt es einige Beispiele dafür, daß sich eine Anrufung allmählich vom persönlichen Gebet des Dichters zum Gemeindegebet oder zur Gebetsaufforderung®^ wandelt. Unter den Gebeten des Dichters mit seinem Publikum sind zunächst die näher zu betrachten, die nicht von einer Aufforderung zum Gebet eingeleitet werden. Ihr Gemeindecharakter geht meist aus der Wir-Form zweifelsfrei hervor. Sie stehen oft im Buch- und Kapitelschluß , am Ende der Conclusio voluminis totius einmal auch am Ende des Gesamtwerks. Das lange Lobgebet, das dieses Kapitel beschließt®®^, ist zwar der persönliche Dank des Dichters für die Vollendung seines Werks und dementsprechend in der Ich-Form gehalten, doch scheint der Refrain auf eine Mitwirkung der Hörerschaft hinzudeuten. Gemeinsam beten Dichter und Publikum viel66 2 leicht auch die Refrains des Jenseitskapitels V 23 . Anliegen solcher Gebete sind vor allem die Sündenvergebung, der Schutz vor weiteren Sünden und die Leitung zum ewigen Heil. Nur vereinzelt erscheinen Bitten um den Beistand des Heiligen Geistes für ein gelingendes christliches Leben ^ sowie um Glück in der Welt®® . Ein Gotteslob ist neben der genannten Stelle am Ende der Conclusio voluminis totius auch im letzten Vers des Mystioe-Teils von Kapitel I 11®®"^ Gegenstand eines derartigen Gebets. - Die Gebetsaufforderungen, die, soweit Otfrid sich dem durch seine Aufforderungen initiierten Beten anschließt, gleichfalls als gemeinsame 655 656 657 658 659 660 661 662 663
I 11,39-54. So in II 24,46; III 21,36; III 26,70; V 25,104. Ad Lud. 24b-36; I 6,15-18; I 7,25-28; I 28; II 3,63-68. So IV 1,37-54. Im Gebetskapitel V 24 sind in ein Gemeindegebet einige Bitten allein des Dichters nur für sich selbst eingeschoben. Ad Lud. 5-8. II 24,17-46; III 26,70; IV 37,30; V 24. - I 11,62; III 5,19-22; III 7,89f.; III 21,29-36; V 21,25f. V 25,93-104. V 23, 11-14 u.ö., 27-30 u.ö. 664 V 23,11-14 u.ö. IV 37,30. 665 I 11,62.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Gebete von Dichter und Publikum anzusehen sind, stehen ebenfalls 666 häufig am Buch- oder Kapitelschluß . Erbeten werden das ewige 66 7 668 Leben , Schutz vor dem Teufel , die Fürsprache Marias und Johannes des Täufers** ^ und Heil für König Ludwig einmal be671 gegnet ein Heiligenlob . In den einzigen Gebetsaufforderungen, in denen sich der Dichter dem Gebet nicht anschließt, bittet er 6 72 am Ende seines Werks um die Fürbitte des Publikums sowie, im Rahmen der Gebetsgemeinschaft der Klöster Weißenburg und St. 6 73 Gallen, um die der St. Galler Freunde A d r e s s a t
der Gebete ist meist Gott. Nicht immer ist
zu erkennen, ob sich das Gebet an eine bestimmte Person der Dreifaltigkeit richtet. Ist eine spezielle Hinwendung feststellbar, so meist zu Christus: 15 hinreichend sicher bestimmbaren Anrufungen Christi**7^ stehen 676 nur zwei Gebete zu Gottvater*'^ und eines zum Heiligen Geist gegenüber; ebenfalls nur ein Gebet wendet sich ausdrücklich an die Trinität^ 7 . Christus wird mehrfach im Anschluß an die Erzählung von einer durch ihn gewährten Gnade angerufen; Gebete zu ihm stehen daher nicht selten am Kapitelschluß und erbitten die Gnade, von der das Kapitel erzählt, 6 78im buchstäblichen oder geistigen Sinn für den oder die Beter . An Christus richten sich auch die meisten Inspirationsbitten. Alle Buch- und Kapiteleingangsgebete, die sämtlich die Inspiration zum Anliegen haben, rufen ihn an. Das Eingangsgebet zum Gesamtwerk allerdings erbittet die Gnade rechten geistlichen Dichtens von 6 79 Gottvater . Keine Inspirationsbitte wendet sich an den Heiligen Geist. Zwar deutet sich in der Invoaatio ad Deum seine Beteiligung am Inspirationsprozeß an 680 sariptoris , doch erscheint er nicht als Quelle, sondern nur als Vermittler der Begnadung. 681 Die einzige Anrufung des Geistes erbittet Kraft für ein 666 I 6,15-18; I 7,25-28; II 3,63-68. Ausnahmen sind zwei Aufforderungen zum Gebet für König Ludwig (Ad Lud. 5-8, 24b-36) sowie das selbständige Gebetskapitel I 28. 667 I 28. 668 II 3,63-68. 671 I 6,15-18. 669 I 7,25-28. 672 V 25,87-92. 670 Ad Lud. 5-8, 24b-36. 673 Ad H. 149-54. 674 Ad Sal. 31-48; I 11,62; I 28; III 1,1.9-44; III 5,19-22; III 7,l-4.89f.; III 17,59-66; III 21,1-6.29-36; III 26,70; IV 1,5.37-54; IV 31,29-36; V 4,If.; V 21,25f.; V 25,87-104; Ad H. 165-68. 675 I 2 (der Adressat wird beschrieben als Schöpfer aller Sprachen, 33-35; Christus ist sein Sohn, 6); V 24 (Gott als Schöpfer und Weltenherrscher) . 676 IV 37,30. 677 Ad Liutb. 134-36. 678 III 5,19-22; III 7,89f.; III 17,59-66; III 21,29-36; IV 31,27-36. 679 Vgl. I 2,6.33-35. 680 S.o. S. 39 zur Berührung des Mundes des Dichters durch den Finger Gottes. 681 IV 37,30.
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Systematischer Überblick
christliches Leben allgemein. In einigen Gebeten vor allem in den Widmungen rufen Otfrid oder sein Publikum Gott an, ohne an 682 eine bestimmte Person der Trinität zu denken. Diese Gebete weisen untereinander keine Gemeinsamkeiten auf. Heiligenanrufungen begegnen nur in den Widmungen und im ersten Buch. Es werden nur vier Heilige angerufen, nämlich Maria, Johannes der Täufer und Petrus als Gestalten des Evangeliums sowie Gallus als Schutzpatron des Klosters St. Gallen. Die Heiligengebete sind meist Bitten; daneben findet sich zweimal ein Heili683 6 84 genlob . Anliegen der Bitten sind Fürsprache bei Christus oder Aufnahme in das ewige Leben, die Petrus offenbar gewähren 685 kann . Um die Fürsprache aller Heiligen betet Otfrid vielleicht am Ende der Conalusio
voluminis
totius, wenn er sich allen gotes
theganon'^ anbefiehlt. Aus dem bisher Gesagten geht bereits hervor, daß Bitten die A n l
i e g e n
der weitaus meisten Dichtergebete bilden. Sie
lassen sich einteilen in solche, die aus Otfrids Stellung als Nachdichter der göttlichen Offenbarung erwachsen, und solche, die ihren Grund haben in der christlichen Existenz schlechthin. Zur ersten Gruppe gehören insbesondere die Gebete um Gottes Beistand beim Abfassen des Werks. Sie stehen ausnahmslos in den Anfängen des Gesamtwerks und der Werkteile, für die um Inspiration gebetet wird. Die Bitte um Inspiration kann den erwarteten Beistand unspezifisch als Segen beschreiben 687 , sie kann aber auch differenzieren zwischen dem rechten Verständnis des historischen 688 und dem Begreifen des geistigen Schriftsinns . Da seit dem Sündenfall der Teufel auf den durch die Sünde korrumpierten Geist des Menschen Einfluß gewinnen kann, äußert sich die Inspirationsbitte auch als Wunsch, Gott möge den muat des Dichters 689 vor dem Teufel
und besonders vor den Sünden der superbia
und
der dumpheit^^®, durch die der Teufel Zugriff auf sein Werk erlangte, bewahren. Der enge Zusammenhang zwischen der Sünde und der Notwendigkeit der Inspiration hat freilich weder in kurzen
682 Ad Lud. Überschrift, 5-8.24b-36.74b-96; Ad Liutb. Überschrift; Ad Sal. 1-4.17-22; II 3,63-68; II 24,17-46; V 3; V 23,11-14 u.ö., 27-30 u.ö.; V 25,35f.78; Ad H. 1-16. 683 I 6,15-18 (Preis Johannes des Täufers); I 11,39-54 (Marienlob). 684 So ganz deutlich in der Bitte zu Maria und Johannes (I 7,25-28); auch die Bitte um Fürbitte beim Heiligen Gallus (Ad H. 149-54) ist wohl so gemeint . 685 Vor allem Ad H. 159f.; dasselbe deutet wohl an Ad Sal. 29. 686 V 25,88. 687 III 1,1. 689 I 2,29-32. 688 I 2,15f.; III 1,11-26. 690 I 2,17-20.
188
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
noch in langen (I 2 6 9 1 , III 1 6 9 2 , IV 1 6 9 3 ) Inspirationsbitten zur Folge, daß der Bitte um Beistand im Dichten die um Sündenver694 gebung vorhergehen müßte . Zu den Bitten, die aus der speziellen Situation des Dichters erwachsen, zählen auch die Gebete um Vergebung möglicherweise im Dichten trotz allen Bemühens begangener Verfehlungen. Sie stehen 6 95prophylaktisch bereits in der Invooatto soriptoris ad Deum und werden in den Schlußgebeten zum Gesamtwerk wiederholt
. In diesen Zusammenhang gehört auch
die kurze Bitte um Schutz vor böswilligen Kritikern in der Conclusio voluminis totius Die Gebetsanliegen, die in der christlichen Existenz allgemein verwurzelt sind, richten sich auf die Vergebung der Sünden und den Schutz vor neuem Schuldigwerden, auf ein gottgefälliges irdisches Leben und die Aufnahme in Gottes Reich. Ihr häufiges gemeinsames Auftreten ergibt sich aus ihrem inneren Zusammenhang: Grundlage eines wahrhaft christlichen Lebens ist der Erlaß begangener und die Bewahrung vor künftigen Sünden; ein vor Gott gelingendes Leben wiederum ist die Voraussetzung für das ewige Heil. Dieser Zusammenhang darf nicht als Werkgerechtigkeit mißverstanden werden. Die zahlreichen Bitten um Sündenvergebung und Schutz vor neuer Schuld erweisen, daß nicht die Kraft des Menschen, sondern Gottes Gnade über das Erreichen des Ziels entscheidet. Die naheliegende Abfolge von Bitten zunächst um die Vergebung der Sünden und das Gelingen der irdischen Existenz und erst danach um das ewige Leben deutet sich manchmal an, wird aber nicht zum regelmäßig verwendeten Baumuster. Zwar läßt sich etwa im Eingangsgebet zum Gesamtwerk beobachten, daß Otfrid zunächst um das Gelingen der Evangeliendichtung, die als Teil seines das ganze Leben umspannenden Gottesdienstes verstanden ist, und erst dann um den ewigen Lohn betet, doch ist andererseits der Schlußteil dieses Gebets, der die Bitte um das ewige Leben thematisiert, durchzogen von weiteren Bitten um ein gelingendes Leben 698 in der Welt
, so daß zwar im Großaufbau, nicht aber in der
Feingliederung von einer Abfolge im Sinne des oben nachgezeichne691 Die Verse I 2,lf. schicken der Inspirationsbitte zwar eine Confessio, aber keine Bitte um Vergebung voraus. 692 III 1,11-26. Die biblischen Metaphern sind teilweise sowohl auf die Sündigkeit des Menschen als auch auf seine Angewiesenheit auf den inspirierenden Beistand Gottes im Dichten zu deuten. 693 IV 1,37-54. 694 Zwar enthalten alle umfangreichen Eingangsgebete auch Bitten um Sündenvergebung, doch gehen sie der Inspirationsbitte nie voraus und stehen mit den Bitten des Dichters um die Aufnahme in das ewige Leben in weit engerer Verbindung als mit seinen Bitten um Inspiration. 695 I 2,19-24. 697 V 25,78. 696 V 25,35f.; Ad H. l-5a. 698 I 2,41f.48-52.
Systematischer Überblick
189
ten Zusammenhangs gesprochen werden kann. Nicht einmal andeutungsweise zeigt sie das Schlußgebet von Buch II, wo Bitten um den ewigen Lohn 699 das Gebet um ein gelingendes Leben in der Welt 700 umrahmen. - Die Gebete um ein christliches Weltleben werden nur sehr selten weiter aufgefächert, etwa in Bitten um die Fähigkeit zur Nächstenliebe 701 und um wachsendes Verständnis des göttli702 chen Worts bis hin zur Gottesschau im ewigen Leben Nur vereinzelte Bitten beziehen sich auf rein innerweltliche Anliegen. Innerhalb der 703 eigentlichen Dichtung bietet das erste Refraingebet in V 23 das einzige Beispiel. Etwas stärker vertreten sind derartige Anliegen in den Widmungen, deren Empfänger 704 705 ein langes Leben oder ein weltimmanent akzentuiertes Heil gewünscht werden kann. Nie als einziger Gebetsinhalt, aber mehrfach im Zusammenhang mit Bitten um Sündenvergebung erscheint die ConfessicP®^. Sowohl als Teil eines größeren Gebetskomplexes als auch allein finden sich Lobgebete, die Heilige (Johannes den Täufer als Propheten der Menschwerdung Christi , Maria als Mutter und Gottesgebäre708 rin ) oder Gott preisen. Die Lobgebete auf Gott verherrlichen den druhtin als Retter der Menschen 709 oder loben ihn als den, 710 der den Dichter zur Vollendung seines Werks geführt hat ; andere preisen ihn als Weltenschöpfer und Herrn über Menschheit und 711 Kosmos . Einige Lobgebete, besonders die an Christus als den Erlöser der sündigen Menschheit und Beistand des Dichters, implizieren den Dank Otfrids und der Publikumsgemeinde für die gewährten Gnaden, doch spricht nur ein Gebet in der Widmung an Ludwig den Dank explizit aus: Es ruft den König und alle Rezipienten des Werks auf, Gott 712 für die Gnaden, die er dem Frankenkönig erwiesen hat, zu danken Neben ihrem Anliegen Lob, Dank oder Bitte verfolgen einige Anrufungen einen predigthaften Nebensinn. Er zeigt sich vor allem, 699 700 701 702 706
707 708 709 710
711 712
II 24,17-20.29-46. 703 V 23,11-14 u.ö. II 24,21-38. 704 Ad Liutb. 134-36. III 5 ,2lf. 705 Ad Lud. 28.32.35f.74b-86. III 7,89f.; III 21,29-36. III 17,59b-62; IV l,44b-48; IV 31,29-31; Ad H. llb-13. Als Confessio aufzufassen ist auch die der Inspirationsbitte zum Gesamtwerk vorangestellte metaphorische Bestimmung des Verhältnisses des Dichters zu Gott (I 2,lf.). - Zur Bedeutung der Confessio im karolingischen Beten ACHTEN, Gebetbuch, S. 9f. I 6,15-18. I 11,39-54. I 11,62; IV 1,47-52. V 25,93-104. Die Metaphorik der Verse 97 bis 100 erlaubt zugleich eine Interpretation als Lob Christi als Beistands der Gläubigen auf dem Weg zum Heil. I 2,33-38; V 24,5-14. Ad Lud. 25f.30 .
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
wo der Hauptgedanke eines Gebets in breiter Variation und eindrucksvoller Bildlichkeit oder sorgsamer rhetorischer Ausgestaltung vorgeführt wird, so daß die Leser oder Hörer zur betrachtenden Versenkung in das Gesagte eingeladen sind. Ein besonders deutliches Beispiel bietet das Schlußgebet des ersten Buchs, das sich mit seiner kohärenten und bildkräftigen Gestaltung nur durch die einleitende Gebetsaufforderung
von einer Verspredigt über
das Schicksal der Erwählten und der Verdammten beim Jüngsten Gericht unterscheidet. Daß auch wesentlich kürzere Gebete einen predigthaften Sinn haben können, wurde am Beispiel des nur zwei 714
Verse langen Schlußgebets von V 21 gezeigt Nach den Betern, den Adressaten und den Anliegen als den die Gebetssituation bestimmenden Faktoren ist Otfrids s c h a t z
W o r t -
für die genannten Komponenten sowie den Vorgang
des Betens selbst zusammenzustellen. Die Beter erscheinen oft, vor allem in den kürzeren Anrufungen, schlicht als 'ich' oder 'wir'. Seinen Namen nennt Otfrid nur selten. Im Gebet zu Beginn der Widmung an Hartmut und Werinbert erscheint der Verfassername als Akrostichon und Telestichon der Gebetsstrophen, und nur im Heilswunsch der Uberschrift der Widmung an Liutbert nennt Otfrid sich ohne Verschleierung, da er zur Erteilung der kirchlichen Approbation seinen Namen angeben muß. Er verbindet dies mit einem Segenswunsch für den Adressaten, um einen möglichen Verdacht, er nenne sich aus Stolz, abzuwehren. Die Personen, die mit ihm ge715 meinsam beten, werden nie namentlich genannt
. Wo die Bezeich-
nungen über den Namen und die Personalpronomina hinausgehen, dient dies zur Kennzeichnung des Verhältnisses zum Adressaten, meist im Sinne einer Demutsbekundung. So spricht Otfrid von der smähi min 7 1 6 oder von der Gebetsgemeinde als ünsu smahu nidirl 7 1 7 Oft sind die Betenden definiert durch ihre Vergehen gegen Gott. Sie nennen sich die firdänen
718
und verstehen sich als Gemein-
713 I 28,1. 714 S.o. S. 156f. 715 Eine Ausnahme machen auch nicht die am Schluß des Werks zum Gebet für Otfrid aufgerufenen St. Galler Mönche. Zwar werden sie apostrophiert
als die, thie däges joh n&htes thuruh not
thar sanate G&llen
thionont
(Ad H. 168) , und so wenigstens indirekt mit dem Namen ihres Klosters benannt, doch ist diese 'Namensnennung' nicht Teil eines Dichtergebets, denn die an die St. Galler Mönche gerichtete Bitte um Fürbitte ist eines der wenigen Beispiele für eine Gebetsaufforderung, in der sich der Dichter dem Gebet nicht anschließt.
716 v 25,89. vgl. Ad H. 155 mines selbes
nidiri.
717 Ad Lud. 26. Neben der Selbstverkleinerung vor Gott schwingt hier auch die höfliche Bescheidenheit dem Adressaten der Widmung gegenüber mit. 718 I 7,28. Selbst wenn diese Bezeichnung als Formel aufzufassen sein sollte - sie erscheint auch am Schluß des "Petruslieds" -, benennt sie doch treffend den Aspekt, unter dem die Beter in der Evangelienharmonie sich selbst vorwiegend betrachten.
191
Systematischer Überblick
719 schaft von Sündern, die ihre ubili joh mänagfalto fr&vili bekennen, eine Selbstbezichtigung, die sich fast wörtlich in ei720 nem persönlichen Gebet Otfrids wiederholt . Etwas anders zu beurteilen ist Otfrids Unwiirdigkeitsbekundung in der Anrede an Liutbert. Hier bezeichnet er sich als indignus (...) monaahus 721 presbyterque exiguus weniger aus Demut als zur Demonstration christlicher Bescheidenheit dem Adressaten der Widmung gegenüber, die als aaptatio benevolentiae den Bischof für das Werk einnehmen soll. Neben den zahlreichen Selbstbezichtigungen der Beter als Sünder bleiben andere Beschreibungen ihres Verhältnisses zu Gott vereinzelt. Einmal findet sich ihre Auffassung als Gottes Untertanen (V 24,7 Wir birun, drühtin,
alle thin), aus der die Hoffnung auf
722 Gnadengewährung und daher ein optimistischerer Aspekt des christlichen Menschenbildes spricht. Stärker auf die Sündenschuld und das Versagen vor Gott 72 3zielt wieder die Charakterisierung der Betenden als der muadon , die durch ihre Schwäche Gefahr laufen, der Verdammnis anheimzufallen. Als positives Gegenbild ste724 hen ihnen die liebun thkgena Gottes gegenüber. Nicht selten verwendet Otfrid zur Bezeichnung der Beter Metaphern, Bilder und Vergleiche. Besondere Beachtung verdient die häufige Knechtsmetapher. An den Eingangsversen der Invooatio soriptoris ad Deum wurde gezeigt, wie sie - besonders in Verbindung mit Versbau und Reim - den durch die Sünde entstandenen Abstand des Menschen von Gott und zugleich die Bezogenheit Gottes und des Gläubigen aufeinander ausdrückt, die trotz aller mensch725 liehen Schuld besteht und aus der die Gnadenhoffnung erwächst Beide Aspekte sind in der Knechtsmetapher stets angelegt, auch wo der die Knecht noch suntig so&lk druhtin der erst 726 . Die durch Gnade einein tmmiziger so&lk seines zu werden hofft ist, Be727 Zeichnung der Betenden als thie holdun so&lka
thine
akzentu-
iert durch das Adjektiv stärker die positive Seite des GottMensch-Verhältnisses, ohne den Gedanken der sündigen Unwürdigkeit auszulöschen. 719 IV 1,45.
720 Iii 17,62 thio mtno ubili
joh mänagfalto fr&vili.
721 Ad Liutb., Überschrift. 722 Erkennbar vor allem am kausalen Anschluß der in Vers 15 einsetzenden Bitte. 723 V 21,26. 724 V 21,25. 725 S.o. S. 32-35. 726 Diese Wandlung ist Anliegen des Gebets am Ende der Erzählung von Christus und der Ehebrecherin (III 17,59-66). Ein ämmiziger soalk zu sein ist auch im Schlußgebet des Berichts von der Gnadengewährung an den guten Schächer Ziel der geistlichen Läuterung, um die Otfrid bittet (IV 31,27-36). 727 V 23,28 u.ö.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Die Knechtsmetapher stammt - wie die sie einmal weiterführende Vorstellung, der Gott anrufende scalk sei Sohn einer sündigen Magd des Herrn 7 2 8 - aus der Bibel 7 2 9 , knüpft jedoch an keines der biblischen Geschehnisse an, die Otfrid in seiner Evangelienharmonie verarbeitet. Dies tun jedoch die meisten anderen auf die Beter angewandten Bilder und Vergleiche. Sie stellen, in historischem oder geistigem Sinn, eine Parallele her zwischen den Betern und einer Gestalt aus dem Evangelienabschnitt, in dessen Zusammenhang das Gebet steht. Als Bilder für die Betenden erscheinen durch Christus geheilte Kranke - ein Stummer, ein Lahmer und ein Aussätziger 7 3 0 , ein Blinder 7 3 1 sowie ein weiterer Kran732 733 ker - und der von den Toten erweckte Lazarus ; eine Paralle734 le zur Ehebrecherin wird gezogen , und die Schuld des guten 735
Schachers will Otfrid in extremer Demut noch übertroffen haben Nur wenige Bilder für die Betenden sind völlig ohne biblische Entsprechung. Zu ihnen gehört die in der christlichen Literatur 736 fest verwurzelte Vorstellung vom Dichter als Seefahrer und vor allem die von Otfrid eingeführte und ausgearbeitete Beschreibung des Gott-Mensch-Verhältnisses in der Metaphorik der Bezie737 hung der Eltern zu ihrem Kind Für die Adressaten seiner Gebete kennt Otfrid nur recht wenige Bezeichnungen. Der häufigste Gottesname ist druhtin·, er kann auf Gottvater 7 3 8 und Christus 7 3 9 angewandt werden, sich aber auch auf Gott allgemein beziehen, ohne eine Person der Trinität anzuspre740 chen . Im letztgenannten Sinn hat druhtin ein Synonym im selte-
728 I 2,lf. 729 Zum biblischen Ursprung der Knechtsmetapher (auch in Verbindung mit dem Magd Gottes-Motiv) s.o. S. 36. 730 III l,13-20a. 733 III l,20b-24. 731 III 21,29-36. 734 III 17,59-66. 732 III 5,19f. 735 IV 31,27-36. 736 V 25,97-100. Die Vorstellung von der Schiffahrt des christlichen Lebens, auf die diese Stelle ebenfalls zu beziehen ist, geht dagegen auf Biblisches zurück. Zu beiden Deutungsmöglichkeiten RAHNER, Symbole, S. 237-564. 737 III 1,31-44. 738 So in den Gebeten I 2 und V 24, wahrscheinlich auch im zweiten Refraingebet von V 23 (V 23,27 u.ö.), wo die dem druhtin zugeschriebene Macht auf die potentia zu verweisen scheint. - Einen Begriff, der allein Gottvater vorbehalten ist, kennen Otfrids Gebete nicht; f a t e r , das an anderen Stellen des Werks Gottvater bezeichnet (I 26,8; II 3,32; III 13,49; III 18,20.41; IV 11,7; IV 15,24; V 7,63; V 17,6), kommt in den Anrufungen nicht vor. 739 So immer dann, wenn die Anrufungen des druhtin an eine im Evangelienbericht erzählte Gnadengewährung durch Christus anknüpfen, also z.B. III 1,19; III 5,19; III 17,59.63 u.a.m. Christus ist ebenso gemeint, wo druhtin den Richter am Jüngsten Tag bezeichnet (I 28,1; V 21,25), und selbstverständlich auch, wenn druhtin mit der namentlichen Anrede Christi abwechselt (V 25,88-91). 740 Ad Lud. 6.94; Ad Sal. 17; II 24,17 u.ö.; V 23,11 u.ö.; V 25,35; Ad H. 4.5. 8.11.14.
193
Systematischer Überblick
ner auftretenden got^^ , ohne daß beide Begriffe austauschbar wären, denn wo es Otfrid darum zu tun ist, der Anrede Gottes einen persönlicheren Ton zu geben, erscheint ausschließlich druhtin. Nur druhtin wird mit einem emotionalen Adjektiv wie Hob verbunden, und auch Formulierungen wie 'mein Gott' oder 'unser Gott' sind nur mit druhtin möglich 7 4 2 . Heißt der Adressat got, so bleibt das Verhältnis distanzierter 7 4 3 . - Für Christus findet 744 sich neben druhtin Krist . Der Heilige Geist erscheint je einmal
als
ther
745 w i l l o 747
guoto
und
als
Finger
Gottes
746
748
Ob neben den heilegon auch die Schar der götes theganon die Gemeinschaft der Heiligen benennt, ist nicht mit Sicherheit 749 zu sagen . Einzelne Heilige werden bei ihrem Namen angerufen und mit individuellen Charakteristika versehen: Petrus kann dem Gläubigen 2i fer
Römu ist
den
druhtin der
Himmel
insperren
grhp
joh
f ö r a s a g o märi
750
; e r i s t ther rioho ( . . . ) themo 751 hüs i n t i höf gaP . Johannes der Täu752 753 , w e i l e r a l s kind diuri bereits
vor seiner Geburt Christi Menschwerdung verkündete, und der 754 druhtines drut in der Rolle des Fürsprechers. Maria nennt 755
Otfrid thia thiarnun (nicht ohne das Paradoxon der Jungfrauengeburt anklingen zu lassen, denn im folgenden Vers ist von Marias Sohn die Rede) und preist sie als Mutter Christi, wobei er ihrer menschlichen Mutterschaft durch eine Fülle von Details aus ihrem Umgang mit ihrem Kind 7 5 6 ebenso Rechnung trägt, wie er sie durch 741 Ad Lud. 76.84.92; V 25,78. 742 Besonders intensiv wirkt die Kombination von druhtin mit liobo und dem Possessivpronomen (so etwa Ad Lud. 35; III 1,31; III 21,1). 743 Dementsprechend richten sich die recht blassen Gebete Otfrids für den König und seine Familie am Schluß der Widmung an Ludwig an got (76, 84), während die in sie eingeschobene viel intensivere kurze Bitte des Dichters für sich selbst, die schon durch ihre Imperativische Form ein deutlich engeres Verhältnis zum Gebetsadressaten herstellt als die optativischen Bitten für die Königsfami1ie, den druhtin min (94) anruft. 744 Ad Sal. 32.47; III 1,1; III 21,1; V 3,5; V 4,1; V 25,88.91. 745 IV 37,30. 746 I 2,3. - Nicht in seinen Gebeten, sondern nur im darlegenden Text kennt Otfrid auch die Bezeichnung ther heilego geist (I 8,24; I 27,61 u.ö.). 747 V 24,2.20. 748 V 3,18; V 25,88. 749 Auch wenn man die Belege für thegan außerhalb der Gebete heranzieht, ist eine eindeutige Entscheidung nicht möglich. Als thegan im religiösen Sinne betrachtet Otfrid nicht erst den, der nach einem vorbildlichen Leben in der Welt als Heiliger verehrt wird (in diesem Sinne werden die Evangelisten als thegena bezeichnet, V 8,13), sondern bereits die vielen, die das ewige Leben gewinnen, ohne zum Gegenstand kultischer Verehrung zu werden (so etwa V 23,191, wo die in das Paradies aufgenommenen Gläubigen götes theganon heißen) und selbst Christen, die noch in der Bewährung des Weltlebens stehen (daher kann Otfrid von seinem Publikum als von Gottes liobon thegenon sprechen, i n 7,4) . 750 Ad H. 160. 751 Ad S a l . 29f. 754 I 7,27. 752 I 6,16f. 755 I 7,25. 753 Ebd. 756 I 11,39-46.
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DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
die Evokation ihrer alles menschliche Lob übersteigenden Würde als Gottesgebärerin verherrlicht
757
758 Häufigste Bezeichnung für das Beten ist fergon ; seine Synonyma thiggerP^ und, weniger dringlich, bittensind seltener. Nur einmal findet sich die Umschreibung 'zu den Gnaden des 76 1
druhtin eilen' t zellen, eine sehr seltene Bezeichnung für das Beten 7 6 2 , leitet ein Bekenntnis oder eine Beteuerung ein. 76Für 3 das fast vollständig fehlende Dankgebet steht nur thankon . Etwas kompliziertere Verhältnisse zeigen die Bezeichnungen für die Fürbitte. Im Gebetskomplex am Ende der Widmung an Hartmut und Werinbert wird sie aufgefaßt als Folge der Erinnerung an einen Menschen. Otfrid bittet die Freunde, sich seiner zu erinnern und, als Konsequenz dieses Erinnerns, für 7 6ihn zu beten: Ni läzet ni 4 ir gihügget
joh mir ginäda thigget
. Sind hier Erinnern und
Beten aufeinander folgende Handlungen, so zeigt wenige Verse später Otfrids Versprechen, auch seinerseits für die St. Galler Mönche zu beten, keine solche Abfolge mehr. In Otfrids Worten thiu mines selbes nidiri / duat thaz ir bimidet 7 6 Siu gihügt in wara zälA / Ci selben sancte Petre ist zwischen Gedenken und Beten nicht mehr zu trennen. Das Gedenken erwirbt die Gnade der Verschonung mit der zala und ist Bezeichnung für die Fürbitte: Jemandes vor Gott oder vor einem Heiligen gedenken heißt für ihn beten. - Als Umschreibung der Bitte um Fürbitte erscheint auch 'jemanden zi drühtine gifüagen'
. - singen für 'beten' findet
sich nur an einer Stelle, die möglicherweise einer ursprünglich selbständigen Lieddichtung angehört 767 . Die ebenfalls 7 6 ß nur einmal gebrauchten Verben irsingen, irzellen und irrimen
wendet Ot-
frid nicht auf sein eigenes Beten an, sondern auf ein Marienlob, das versucht, der Würde seines Gegenstands vollkommen gerecht zu werden. Die große Zahl verschiedener Begriffe, Wendungen und Bilder für die Gebetsanliegen kann nur summarisch vorgeführt werden. Für Gottes Beistand zum Dichten hat Otfrid keinen konstanten Begriff, sondern eine ganze Reihe von Wendungen, die jeweils nur einmal oder wenige Male vorkommen. Ihre Wahl richtet sich manchmal nach dem Kontext, so im umfangreicheren der beiden Eingangsgebete zum 76 9 dritten Buch. Weil dieser Werkteil thiu seltsanun wuntar Chri757 I 11,47-54. 758 Ad Lud. 31; Ad Sal. 17; I 7,25; III 1,9; V 25,36; Ad H. 149. 759 Ad Lud. 8; V 25,35; Ad H. 153. 760 I 2,53; I 28,1. 761 II 3,63. 762 I 2,21.23. 763 Ad Lud. 25f.30.
764 Ad H. 153. Dieselbe Abfolge von Gedenken und Fürbitte liegt vor V 25,89f. 765 Ad H. 155-57. 766 V 25,90. 767 I 6,15. 768 I 11,47.48.52. 769 III 1,2.
Systematischer Überblick
195
sti zum Gegenstand hat, formuliert Otfrid seine Inspirationsbitte hier teilweise in Anlehnung an neutestamentliche Wunderheilun770 gen und bittet außerdem, Christus möge ouh in th&semo werke 771 772 z&ichan sinaz wirken . Die Speisemetapher im selben Gebet knüpft an das Gastmahl von Bethanien an. Es wird zwar erst in Buch IV erzählt 773 , ist jedoch durch Lazarus, dessen Erweckung 774 das dritte Buch berichtet , mit diesem Werkteil, also mit dem Kontext der Inspirationsbitte, verbunden. Ein drittes Beispiel für die kontextbezogene Wahl der Inspirationsmetaphorik ist die Herabrufung des göttlichen Beistands auf den Dichter im Namen 775 des Kreuzes zu Beginn von V 4 , nachdem die vorhergehenden drei Kapitel die heilswirksame Kraft des Kreuzes erläuterten. Gelegentlich verwendet Otfrid für den Inspirationsvorgang nicht vom Kontext nahegelegte Metaphern. Am konkretesten ist die biblische Vorstellung, die Begnadung vollziehe sich in der 776 Berührung des Mundes des Dichters durch den Finger Gottes . Mit einer Körperteilmetapher betet er auch darum, daß Gott ihm hügu 777 und herza für die Auslegung eines erzählten Bibelgeschehens bereiten möge, doch ist die durch die Metapher evozierte Vorstellung hier weniger konkret. In noch geringerem Grade wird ein sinnlicher Eindruck vermittelt, wenn Otfrid inspiriertes778 Dichten als Gehaltensein oder Gelenktwerden durch Gott versteht . Einmal findet sich die Vorstellung, die dichterische Inspiration 779 geschehe, indem Gott des Menschen gedenke . Das gnadenvolle Gedenken Gottes entspricht dem fürbittenden Erinnern des Gläubigen an einen anderen Menschen. Neben bildlichen Wendungen begegnen für die Inspiration auch abstrakte Begriffe. Sie kann als Gottes Segen bezeichnet sein 780 oder aufgefaßt werden als wizzi des Dichters 781 , als Verleihung der Fähigkeit, das Evangelium rehto Sinn) und scöno
(korrekt im historischen 782 (geistlich richtig) nachzudichten . Zu den ab-
strakteren Formulierungen gehört auch der Wunsch, Gott möge das 770 III 1,13f.
772 III
1,23 25 773 iv 2.
771 III 1,10.
Theih hiar in libe irwizze, zi thinemo disge ouh sizze Thäz ih io mit rüachon zi göumon si in then büaohon -
-
774 III 24. 776 I 2,3f. 775 V 4,1. 777 III 7,2. 778 Die Vorstellung des Gehaltenseins durch Gott erscheint nur einmal (I 2,27); dagegen ist der Gedanke, daß Gott den Dichter oder seine Worte lenkt, häufiger. Beispiele bieten die Verse I 2,32 [thu drühtin rihti wbrt min!), Iii 7,1 ( r i h t i mih gimuato) oder iv 1,5 {er selbo rihte mir thaz wbrt).
779 I 2,26
hügi in mir mit krefti Hiar Mtgi mines Wortes,
780 i n 1,1. 781 III 1,28f. 782 III 1,12.
thera thinera giscefti! thaz thu iz harto haltes -
196
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
700 Wort des Dichters gedeihen lassen'0 . Inspiriertes Dichten ist keine Leistung des Menschen, sondern 784
als Gottes g^ft^ ganz eine Wirkung der Macht und Kraft Gottes 785 . Seine eigene Beteiligung am Entstehen des Werks spielt Otfrid in christlicher Demut herunter. Im Wunsch, Thaz ih lob thi786 naz si lütentaz , vergleicht er sich mit einem Musikinstrument, das, selbst passiv, durch die Berührung mit dem Finger „ ^ Gottes 7 8 7 ertont. Die Bitte um Gottes Beistand im Dichten konkretisiert sich auch als Gebet um Bewahrung vor Fehlern und Irrtümern. Ein Abirren vom Weg der Wahrheit Ouh ther
788
widarwerto
bewirkt der Teufel, so daß Otfrid beten muß: 789 thin ni quem er innan miiat min . Seine
Einwirkung führt zu Mißverstehen und falscher Wiedergabe beider Ebenen der Schrift. Otfrid betet darum, vor Fehlern in beiden Bereichen bewahrt zu bleiben, am deutlichsten 7 9 0 im Eingangsgebet zum Gesamtwerk: in theru sägu ni firspirneη meint die Bitte um Bewahrung vor dem Mißverstehen des Buchstabensinns, während der 7 91
Wunsch, er möge %n themo
wähen
thiu
wort
ni missifähen
,
sich auf die Interpretation des geistigen Schriftsinns bezieht. Durch die Einwirkung des Teufels 7 9 2 droht ferner die Gefahr der sündigen dumpheit (stultitia) , die einmal durch den Zustand 793
der Stummheit symbolisiert wird
. Wenn Otfrid am Ende des Werks
um die Vergebung dennoch unterlaufener Fehler bittet, so erscheint die Wegmetapher: Otfrid7 9 4fürchtet, daß er thero büaoho güati hiar iawiht missikerti . Der Anklang an das Weg und Wahrheit 795
gleichsetzende Ego sum via
et
Veritas
et
vita
weist auf die
heilsgefährdenden Konsequenzen des Abweichens vom Sinn des Evangeliums. Weniger aussagekräftig 796 ist die Vorstellung von der durch solche Fehler gekrümmten Rede . Die Vergebung seiner Verfehlun797 gen im Dichten nennt Otfrid Firdilon . Seine Bitte um Bewahrung vor mißgünstigen Kritikern greift auf das allgemeine, auch in an798
deren Zusammenhängen vorkommende biscirmen
zurück
Auch in den Gebeten, die sich nicht aus Otfrids Situation als Nachdichter des Evangeliums ergeben, spielt das Anliegen der Sündenvergebung - hier bezogen auf die menschliche Schuld 783 I 2,28 gizhwa mo firlihe
ginada thin,
784 IV 1,40. 785 So etwa in den Versen IV 1,40 und V 4,1.
788 Iii 1,11 In thesen büaahon wanne
theiz
thihe
-.
786 I 2,5. 787 I 2,3f.
ih awiggon ni gange.
789 I 2,29.
795 Io 14,6.
790 ι 2,15. 791 ι 2,16.
796 Ad E. 2 gikriwqpti redino. 797 Ad H. 5.
792 I 2,19. 793 III 1,13. 794 Ad H. 1.
798 V 25,78.
thero
Systematischer Überblick
197
schlechthin - eine wichtige Rolle. Zur Bezeichnung der Sünde kennen die Gebete neben suntcP^ 02
ubili^
und fravili^^^;
die Begriffe balo^®®,
auch widarmuatiund
nicfi®^ ,
undat^'^~>
kommen
vor. Bildlich spricht von der menschlichen Schuld die Metapher 806 der Krankheit. Otfrid beklagt die süntono sühti und bezieht in Einklang mit der Exegese der karolingischen Zeit die Stummheit, Lahmheit und den Aussatz aus dem Evangelium auf die Schuld gegen Gott 807 . Letzte Konsequenz der Krankheit der Sünde ist der 808 Tod der Seele, auf den er das Schicksal des Lazarus auslegt Entsprechend erscheint die Sündenvergebung als Krankenheilung®^^ 810 (im Zusammenhang mit dem Aussatz auch als Reinigung ) und als 811 Erweckung vom Tode . In der Vergebung verzichtet Gott auf Ra— 812 che und Strafe . Unbildlich heißt der Erlaß der Schuld dilon oder
firdilon^^^.
Mit dem Anliegen der Sündenvergebung steht die Bitte um Bewahrung vor neuer Schuld in enger inhaltlicher Verbindung. Im längeren Eingangsgebet zum dritten Buch ist sie Teil des ElternKind-Bildes (III 1,34-42). Nur hier wird das Gebet um Schutz vor dem drohenden Schuldigwerden über mehrere Verse hinweg in einheitlicher Bildlichkeit ausgebreitet. Kurze Bitten mit diesem Anliegen häufig Bestandteil Gottes 814 ;Gebete. schützendesind Kraft äußert sich als ausgedehnterer (bi)sairmen an anderer Stel815 le bittet Otfrid, Gott möge den Menschen 'halten' . Damit der 816 Sünde der Zugang zur Seele verwehrt bleibt , soll Gott die Gefahr vertreiben
817
, so daß sie flieht
818
, und 'helfen', daß keine
Versuchung dem Menschen so nahekommt, daß sie an ihm haftet 819 799 800 801 802 806
811 812 815 816
I 2,20; II 24,22; III 1,29; IV 1,44.53. I 2,21. 803 Ebd. I 2,22. 804 II 24,23. III 17,62; IV 1,45. 805 II 24,25. II 24,22; vgl. II 24,26. Verwandt sind das Bild des süntino ser (IV 1,53) und die Vorstellung der Verletzung durch die Sünde (III 1,34). III 1,13-20. III 1,20-22. III 1,13-20. III l,15f.; ohne ausdrückliche Nennung des Aussatzes auch II 24,21f.: Gireino uns thia githänka (...) fon süntono sühti. Die begriffliche Trennung zwischen der Reinigung vom Aussatz und der Heilung von einer anderen Krankheit ist bereits biblisch. Vgl. etwa Mt 8,2f. mundare mit Mt 8,8 sanabitur; entsprechend Lc 5,12f.7,7. III 1,20-22. 813 I 2,20; Ad H. 5. III 1,29.31. 814 Etwa III 1,41, II 24,25. II 24,23 Hält unsih in nbtin fon allen widarmuatin. ν 3,16 thaz fiant (...) ni (...) stät in mir io finde; V 24,7f. ni las
817 818 819
queman thaz in rnCiat min, / theih Mar gidue in riche wiht thes ni Hohe. Ii 24,33 Firdrib fon uns in thräti alio missod&ti. II 24,37 Ther soädo fliehe in g&he. III 17,63f. Hilf, drühtin mir in nöti (...) thaz hüarlust mir ni
807 808 809 810
ähnlich auch I 2,5lf.
thir
kltbe·,
198
DAS DICHTERGEBET IN DER ALTHOCHDEUTSCHEN LITERATUR
Die drohende Gefahr wird personifiziert, wenn Otfrid die Gemeinde auffordert, Gott zu bitten, ihre Wege vom Teufel fernzuhal820
ten
und zu verhindern, daß der Teufel die Christen trotz der 821
Taufe ertränke . Am deutlichsten unterstellt sich der Beter Gottes Schutz mit dem Kreuzzeichen. Die Körperteilmetaphorik und der Wunsch, vom Segen Gottes umfangen zu sein, bestimmen die Bitte um Schutz in dem Gebet, das 8 2auf die Darlegung der heilsamen Kraft des Kreuzzeichens folgt 2 Die Bitte um ein gelingendes Weltleben kann nicht nur negativ als Bitte um Schutz vor neuer Schuld, sondern auch positiv als Gebet um Beistand zu einer gottgefälligen Lebensführung formuliert werden. Gern kleidet Otfrid dieses Anliegen in die Weg823
metapher . Recht häufig beten Otfrid und die Gebetsgemeinde auch um bestimmte geistig-seelische Qualitäten wie Festigkeit im Glauben, guten Willen oder Hoffnung, die ihnen helfen sollen, zum ewigen Leben zu gelangen®^. Otfrids Aussagen über die Beschaffenheit eines gelingenden christlichen Lebens in seinen Gebeten sind unter dem Gesichtspunkt des Wortschatzes und der Metaphorik recht unergiebig. Die zentrale Idee liegt in der Auffassung des Weltlebens als unablässigen Gottesdienstes. Obwohl diese Vorstellung Otfrids Sicht der irdischen Existenz weitgehend bestimmt, wird sie kaum je durch metaphorisches Sprechen ausgezeichnet. Zwar beschreibt Otfrid einmal eine Voraussetzung des Lebens für Gott in einem Bild - die Gläubigen müssen Gottes Wort in ihr Herz aufnehmen 825 und es dort befestigen -, doch für die gottesdienstliche Lebensführung selbst kennen die Gebete keine Bilders Gott dienen heißt an ihn denken 826 , 'seinen Dienst tun' 8 2 7 oder 'seinen Dienst erfüllen' wiht
ist
alles 829
io
828
. Die Bitte theih
n-L wolle
(...)
ni
si,
thionost drühtin,
thinaz thaz
fülle, thin
wlllo
ist typisch für die geringe Metaphorizität der Beschrei-
820 II 3,64. 821 II 3 ,65f. 822 V 3. - Die Vorstellung, daß der Kreuzessegen den ganzen Körper in all seinen Teilen schützend umfängt, stammt aus den in irischer Tradition wurzelnden Schildgebeten (Loriaae). (ACHTEN, Gebetbuch, S. 25f.). 823 Das Bild der Führung durch Gott erscheint besonders konzentriert im Gebet zu Beginn der Widmung an Hartmut und Werinbert: drühtin, mih
gilkiti
(5); Rihti
ρέ E r ersetzt die Inspirationsbitte durch eine Beschreibung der Bedingungen, unter denen sein Dichten gelingen könnte: ...
1 0 ware
ο suze
rmnne,
woild.es du mir bit dinen mir dtne
vure suze
S (der suzer enboven
ze lyhte
sinne
enzunden, künden,
suze
alle
s$ woilde
dy
suzicheit
suze
geit)
ich bit der helfen bringen,
ein wolkenlßsen
mohte morgeroit
it
din sin,
-
Es ist klar, daß die Formulierung der Bedingungen des Gelingens, zumal in Form der Anrede an Gott, die Bitte um ihre Herbeiführung impliziert. Den kleinen und einfachen Eingangsgebeten stehen natürlich auch in nachklassischer Zeit und bis weit ins 14. Jahrhundert hinein ausführliche Anrufungen gegenüber, die mehrere Gedanken nacheinander abhandeln oder eine Zentralidee in variierender Wiederholung bedenken, die Raum haben für die Begründung ihrer Anliegen innerhalb des Gebets und sich an mehrere Adressaten richten können. In der Zeit zwischen dem "Willehalm" und der Wende zum 14. Jahrhundert zeigen viele von ihnen starke und zum Teil sehr star-
1229 Karl der Große von dem Stricker, hg. von BARTSCH. 1230 Bruder Hermanns Leben der Gräfin Iolande von Vianden, hg. von MEIER.
320
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
ke Einwirkungen von Wolframs Beten. Daneben gibt es jedoch auch längere Gebetseingänge, die den "Willehalm" nicht rezipieren. Sie sind zunächst ziemlich selten, werden aber gegen Ende des Jahrhunderts häufiger. Besonders die Deutschordensdichtung der Jahrzehnte um 1300 bringt umfangreiche Eingangsgebete hervor, die vom "Willehalm" unabhängig sind. Ein frühes Beispiel für ein von Wolfram unbeeinflußtes ausführliches Eingangsgebet bietet Ebernands von Erfurt wohl kurz nach dem "Willehalm" (etwa 1220) entstandene Legende "Heinrich und Kunegunde". Ebernand widmet etwa 87 der 136 Verse seiner ersten zwei Kapitel Gebeten. Sie sind auf zwei Komplexe aufgeteilt, von denen einer ungefähr die erste Hälfte des ersten Kapitels umfaßt (5-etwa 56), während der zweite beinahe das gesamte zweite Kapitel einnimmt (97-131). Die dazwischen liegenden Verse führen das heilige Kaiserpaar ein. Der Bau des Eingangs ist planvoll; den zwei getrennten Gebetskomplexen entsprechen zwei verschiedene Gebetsinhalte. Der erste Komplex enthält Bitten an Gott sowie eine Aufforderung an die Hörer, bei Gott für den Dichter einzutreten; sein Anliegen ist durchweg die dichterische Begabung. Damit verbunden ist ein wiederholtes Bekenntnis der Unfähigkeit zum geistlichen Dichten (20-22, 38f.) sowie eine kurze Confessio (37). Das Schuldbewußtsein des Verfassers spiegelt sich im sprach liehen Gestus des Gebets, das Gott nirgends direkt als Du anzureden wagt. Es beginnt als bloßer Wunsch: 5 hete
ich nü von gote
daz er mir gunde unt tihtens
wie rehte
gunst,
solcher
solche
daz ü daz mohte
die
kunst
fuoge,
genuoge:
liep mirz
were!
Auch später wird es nur wenig direkter: 24 got selbe unt setze die mir
sol michz rede
leren
in minen
von kunsten
daz mir die wort
sint
munt, unkunt,
zuovliezen.
Von Vers 29 an gedenkt Ebernand auch der Wirksamkeit der Fürsprache Marias und aller Heiligen. Ebernand bittet Gott, ihm seine Gnade auch um ihretwillen zu erweisen:
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
28 er
laze
miah
der SO die
321
Spätzeit
geniesen
himelkuniginnen, kint
maget
solde
wesende
darnach himelischer
al
gewinnen reine,
gemeine hSrsahaft!
Gott steht auch noch im Mittelpunkt des letzten Teils dieses ersten Gebetskomplexes, der Bitte um die Fürbitte der Hörer (43— etwa 56), denn von ihr verspricht sich Ebernand eine um so gewisJ 12 31 sere Begnadung Ist der erste Gebetskomplex demnach ganz von der Hoffnung auf Gottes Beistand im Dichten beherrscht, so der zweite vom Gedanken an die Hilfe, die die Legendenheiligen dem Dichter gewähren können. Ebernand bekennt nochmals und nun viel nachdrücklicher 12 32 seine Sünden und läßt daraus eine Aufreihung dessen hervorgehen, was Heinrich und Kunegunde für ihn bei Gott bewirken sollen: zunächst die Vergebung seiner Schuld (109-13), danach den Sieg über das Fleisch (114-16) und schließlich das Gelingen des Bußwerks (117-20), die glückliche Vollendung seiner Dichtung. Die Bitte um die Fürsprache der Heiligen, die wie das Gebet zu Gott in demütig indirekter Sprechweise abgefaßt ist, begründet Ebernand mit der Beteuerung, ihm sei viel von ihrer Gnadenwirksamkeit berichtet worden (125-31). Der Eingang endet mit einer ermunternden Anrede an die eigene Seele, nun im Vertrauen auf die Gnade der Heiligen deren Leben zu berichten (132-36). Ebernands Anrufungen zeigen alle Merkmale eines ausführlichen Eingangsgebets ohne den Einfluß Wolframs: Sie handeln mehrere Gedanken nacheinander ab (Bitte um Gottes Beistand im Dichten, 1231 Auf die Hilfe durch das Gebet der Hörer legt Ebernand besonderen druck :
Nach-
48 das ist ir edeln gebets Um, der bindet unde Wset ouch: ez get üf als ein wtrouah gebet, das der gerehte tuot. Ebernand dichtet nicht nur für eine Gemeinde, sondern auch in einer Gemeinde, von der er sich spirituell gehalten weiß.
1232 97 Biten muoz iah sie ze fromen, das sie mir ze helfe komen: des ist mir weizgot sere not, 100 wand iah bin wunt biz in den t8t von engestltahen vunden. des muoz iah miah gefrunden ze sweme iah maa und swar iah kan; iöh tuon als ein gevangen man, 105 der gerne ledia were, des hän iah dize mere ze tihtenne gevangen ane -
322
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Sündigkeit des Verfassers, Erhörung um Marias und aller Heiligen willen, Nützlichkeit der Fürbitte der Hörer, Gebet um die Fürsprache Heinrichs und Kunegundes, Beweis ihrer Wirksamkeit), und zwar zum Teil (Sündenbekenntnis, Unfähigkeitsbeteuerung) in variierender Wiederholung, die die Anliegen ausführlich begründet. Die Begründung geschieht einerseits vom Menschen her mit der menschlichen Schwachheit, andererseits von den Gebetsadressaten 1233 her durch die Macht Gottes, Sünden zu vergeben , und die durch Berichte dokumentierte Wirksamkeit der Fürsprache des heiligen Kaiserpaares (125-30). Ebernands Gebet richtet sich an verschiedene Adressaten, wobei die ausführliche Bitte um die intercessio seiner Legendenheiligen besonders bemerkenswert ist, weil sie vor Ebernand nur bei Veldeke und eben bei Wolfram zu finden ist. Hier dient sie der Propagierung des Kults zweier noch nicht überall populärer Heiliger. Mit Wolframs Beten verbindet Ebernand nichts. An den Stellen, die eine thematische Berührung erwarten ließen, etwa im Inspirationsgebet oder in der Bitte an die Heiligen, gehen Wolfram und Ebernand verschiedene Wege, argumentativ wie motivisch. Wo Wolfram die Bitte um Hilfe im Dichten aus einem Abriß der Weltenherrschaft Gottes herleitet, beruft sich Ebernand in bei Wolfram fehlenden Inspirationsmetaphern wie dem Schaffell Gideons (16f-; lud 6,3640) oder der durch Gott zum Reden befähigten Zunge (20f.) auf biblische Exempel, wo Wolfram seine Heiligenanrufung aus Willehalms Stellung als Fürst 'hier und dort' begründet, verzichtet Ebernand darauf, den Gedanken der identischen Stellung seiner Heiligen im Himmel und in der Welt für sein Beten zu verwenden; die Eigenschaften, die er Heinrich und Kunegunde zuschreibt, sind ganz unspezifisch und treffen auf viele Heilige zu 1234 . Ebernands 1233
16 got mac wol mtne herzen vaz mit stme geiste erfuhten unt mtnen sin erlühten mit stner wtsunge, 20 daz mtn unredende zunge alsd gespriche werden mac, dä iah niht wol ze redene phlac, deich daz mac wribe keren. 1234 117 die suozen 121 sie sint gote so heimelich, sie mugen vil wol erlösen mich Den naheliegenden Gedanken der gleichen Stellung vor Gott wie vor den Menschen verwendet Ebernand nur außerhalb der Gebete:
59 sie daz vil die
hän verdienet schdne himelrtche frdne: gewaldic sie dar sint, vil gehSren gotes hint
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
323
Eingangsgebete belegen so, daß der "Willehalm"-Eingang trotz der von ihm ausgehenden vielfältigen Wirkungen nie unangefochtene Autorität besaß. Schon unmittelbar nach ihm ist ein langer Gebetseingang möglich, der von ihm völlig unabhängig ist. Ebenso deutlich wie das frühe Beispiel Ebernand zeigen sich manche Anfänge von Deutschordensdichtungen von Wolframs Einwirkung unberührt, so der der Danielauslegung, die ein Ordensritter in den dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts verfaßte. Ihr Eingang enthält vier Gebetskomplexe, die 62 der 104 Verse umfassen. Der erste (1-37) bringt vor allem die zweiteilige, an Christus gerichtete Inspirationsbitte (1-8, 17-29), die von einem kurzen, auch als Christuslob gemeinten Glaubensbekenntnis der wichtigsten christologischen Heilstatsachen (Menschwerdung, Passion) unterbrochen wird (8-16) und schließlich übergeht in einen Lobpreis Christi als eigentlichen Autors des Werks (30-32); zu seinem Ruhm, aber auch zur Ehre des Deutschen Ordens, sei das Werk verfaßt (30, 33-37). Daß eine geistliche Dichtung nicht nur dem Ruhme Gottes, sondern auch dem Ansehen der Gemeinschaft, aus der sie erwächst, zu dienen hat, ist ein erst von der Deutschordensdichtung entwickelter Gedanke; ein solches Selbstbewußtsein war den Gebetsgemeinschaften früherer Eingangsgebete, die sich als Gemeinschaft von Sündern verstanden und die Dichtung als Bußwerk betrachteten, fremd. Auch der "Daniel"-Dichter verzichtet nicht auf eine Bitte für die Ordensritter, aber sie ist nicht sonderlich demütig. Sie bildet den zweiten Gebetskomplex: 46 Von deme dutsahe Nennet Herre
man sie Got,
Und gib SO Vertrib
In
eigenliah.
du zu en
en ewic der
Von en hie Laz sie
huse
dort
himelriche
Eine Confessio
sich
wesin!
sunden uf
vesen
der mit
erden! den
werden
leben! fehlt, wie auch nicht um Vergebung begangener Sün-
den, sondern um Schutz vor zukünftiger Schuld gebetet wird. Die Möglichkeit des Schuldigwerdens wird zwar anerkannt, aber die in wären vil geltahe hie niden üf ertrtohe 65 an daz hdste zil gestigen
-
Dieses Motiv ist kein Indiz für einen Einfluß Wolframs; es bietet sich so offensichtlich an, daß es kein Vorbild braucht.
324
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
früheren Eingangsgebeten so oft festzustellende demütige Gewißheit der Sündigkeit wird nicht explizit ausgesprochen. Die ersten zwei Gebetskomplexe behandeln also zwei verschiedene Anliegen: die Inspiration und Gottes Gnade für den Orden, von denen eines, die Inspirationsbitte, variierend formuliert und aus12 35 führlich begründet ist . Das dritte Gebet (64-69) nimmt das erste Anliegen wieder auf und ist insofern dessen variierende Wiederholung, doch richtet sich die Bitte nun an Maria. Bleiben der zweite und der dritte Gebetskomplex ziemlich kurz, so steht am Ende des Eingangs nochmals ein längeres Gebet (81-104). In ihm empfiehlt der Verfasser sein Werk ein weiteres Mal der Gnade der göttlichen Weisheit (81-84) , bittet für sein Dichten um das Gebet der Hörer zu Maria (85-96), ruft selbst die Gnade der Gottesmutter auf die Ordensritter herab (97-102) und läßt den Eingang schließlich mit einem gemeinsam zu sprechenden Amen enden (103f.) So bildet der den Eingang beschließende Gebetskomplex eine Synthese aus den drei vorhergegangenen Gebeten, indem er deren zwei Anliegen nochmals den beiden Adressaten vorträgt. Einflüsse Wolframs sind nicht erkennbar. Gerade die Zentralgedanken des "Willehalm"-Eingangs
(zum Beispiel Trinität, Gottes-
verwandtschaft, Schöpferpreis, Reflexionen über das Wesen der Inspiration) interessieren den "Daniel"-Dichter nicht, und auch in seinen Formulierungen ist er von Wolfram unabhängig. Damit steht er im Deutschen Orden nicht allein; auch andere Ordens1236 dichtungen wie etwa Tilos von Kulm "Von siben Ingesigeln" 12 37 (1331) oder die "Hester" (Anfang des 14. Jahrhunderts) beginnen mit umfangreichen Gebeten, die nicht vom "Willehalm" beeinflußt sind. Dies ist um so bemerkenswerter, als der Orden den "Willehalm" durchaus rezipierte, denn an dem in ihm niedergelegten Idealbild des christlichen Ritters mußte er interessiert 1235 Als Begründung seiner Inspirationsbitte dient dem Verfasser das Christuslob:
14 Wand du hast des vater zovn Hin geleit in grozer list Mit der martyr mittewist, Des tobe wir in sinnen Dich, herre, uz und innen, Daz du uns so meisterlich 20 Kanst leren. Durch Wand (14) und den Anschluß mit Des (17) stellt der Verfasser eine Kausalbeziehung zwischen der Passion und der Belehrung durch Christus her. Die inspirierende Gnade ist eine Folge der durch Christi Tod den Menschen wiedergewonnenen Liebe Gottes. 1236 Von den 122 Eingangsversen sind die Verse 30-41, 54-70, 92 und 113-22 Gebete . 1237 Hester, hg. von SCHRÖDER. Das Eingangsgebet umfaßt die Verse 8-36.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
325
sein. Trotzdem hat sich hier Wolframs Beten als Vorbild nicht durchgesetzt. Nur das innerhalb der Ordensliteratur relativ frühe Eingangsgebet des "Alten Passional" und, wohl im Anschluß an dieses, der Anfang der "Apokalypse" Heinrichs von Hesler lassen sei12 38 nen Einfluß erkennen, der vielleicht sogar nur vermittelt ist Nur wenige Eingangsgebete geistlicher Dichtungen dürften allein von der Intention der Anrufung bestimmt sein; meist wird der Verfasser auch an die Einstimmung seiner Hörer auf den religiösen Stoff gedacht haben. Gelegentlich, besonders in sehr ausführlichen Gebeten, können solche publikumsorientierten Nebenabsichten sich so sehr verselbständigen, daß sie zur Hauptsache werden und die eigentliche Intention, das Beten, dahinter zumindest zeitweise zurücktritt oder verschwindet. Das Dichtergebet nimmt dann starke didaktische oder predigthafte Züge an. Dies läßt sich am Beispiel einiger Passagen aus den Eingangsgebeten zu Hugos von Langenstein "Martina" (1293) verdeutlichen. Hugo beruft sich im Zusammenhang mit seiner Inspirationsbitte (1,35-72) wie andere geistliche Dichter unter anderem auf das Beispiel des Zacharias. Doch statt dessen Geschichte stringent auf seine Situation zu beziehen, läßt er sich durch die naheliegende Assoziation Zacharias - Johannes zu einem Exkurs über die heilsgeschichtliche Bedeutung des Täufers (1,44-52) verleiten, der nur noch durch die sprachliche Form der Anrede an Gott, gedanklich aber überhaupt nicht in das Gebet um Inspiration integriert ist: 1,39 Der den Siner
hohin
spräche
wissagen hiez
gedagen
Den reinen
Zacharias
Daz er niht
wol gelovbic
Der vil hohin
botschaft
Und der gotlichin
craft
1,45 Div im von gabrielis Dur vnsir
svn
mannis
libe nie wart
lovfer
was
Der selbe
ihesu
Daz
wir
lazin
1238 S.o. S. 308f.
kvnt
Johannes
hohirs
Von wibis 1,50 Ein vor
munt
heil was worden
Von sinem Daz doch
was
geborn
erkorn
christo
nv wesin
so
326
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Vom Ende seines Exkurses über Johannes findet Hugo keinen Rückweg mehr zur Inspirationsbitte; um an sie Anschluß zu gewinnen, muß er zu einer dispositionellen Formel greifen (1,52). Dabei fällt die eigentliche Pointe der Zacharias-Geschichte, die schließliche Öffnung seines Mundes durch Gott, die ihn erst dem geistlichen Dichter vergleichbar macht, dem Exkurs zum Opfer. Die Funktion des Rückverweises auf Zacharias als Begründung der Inspirationsbitte und damit seine Einordnung in das Gebet geht in dem Maße verloren, wie Hugo sein Wissen über die heilsgeschichtliche Stellung Johannes des Täufers ausbreitet. Sein Exkurs soll das Publikum an eine bestimmte Heilstatsache erinnern und hat so didaktische Intention. Ähnliches unterläuft Hugo auch in seinem langen Preis Gottes als Schöpfer und Weltenherrscher (1,78-2,82). Daß nur sein Beginn ein Gebet ist, zeigt der Ubergang vom Gott anredenden Du (zuletzt 1,80) zum Sprechen über Gott in der dritten Person (zuerst 1,83). Mit dem Wechsel vom Du zum Er vollzieht sich zugleich ein Ubergang vom Gebet zur Darlegung, von an Gott gewandter Verherrlichung zu publikumsgerichteter Beschreibung, hier wohl weniger in didaktischer Absicht - über den fundamentalen Glaubenssatz der Schöpfung braucht kein Christ eine Belehrung -, als mit dem Ziel, 1239 bei den Hörern und Lesern die Haltung ehrfürchtiger Demut zu 1240 evozieren . Dafür daß Hugo die Verschiebung der Intention der Passage vom Gebet auf eine rezipientenorientierte Absicht nicht völlig bewußt ist, spricht, daß er erneut den Exkurs nicht organisch in den Kontext einfügen kann; an seinem Ende muß er wieder 1239 Besonders klar wird dies in der abschließenden Wendung des Schöpferpreises ins Moralische (2,63-82):
2,67 Diz allis hat dem menschen got In sin gewa.lt vnd sin gebot Gegebin vnd in zeinem voget 2,70 Dar vbir gesät swie die erbroget Gein im der kranke stovp Der vil lihtir danne ein lovp Gen sinen hohin creftin wiget Diese Verse führen den Lesern und Hörern die Diskrepanz zwischen der Liebe Gottes und dem Undank der Menschen kraß vor Augen. 1240 Eine andere Interpretation des langen Schöpferlobs gibt JAEGER (Schöpfer, S. 10). Es ist einer seiner Kronzeugen für die These, daß der Sinn der Schöpfungsüberblicke in mittelalterlichen geistlichen Werken darin liege, daß Gott in ihnen seine Schöpfung gleichsam wiederhole und so die Beteuerung der Dichter unterstreiche, Gott sei der eigentliche Urheber ihrer Werke. Diese Deutung ist um so verlockender, als Hugo für den Schöpferpreis eigens um Inspiration bittet (1,73-77) und sich damit für diesen Abschnitt des Werks ganz besonders entschieden zum bloßen Werkzeug des wahren Autors Gott macht. Doch ist dies nur der eine Aspekt dieser Passage. Auf der anderen Seite dient sie als Aufruf zur Demut vor Gott, ja unausgesprochen wohl sogar zu Umkehr und Buße.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
abbrechen
und
neu
ansetzen:
Dv
dirre
rede
si
genuoo
327 (2,83).
Gegen Ende des Eingangs gerät Hugo noch ein drittes Mal auf ähnliche Abwege. Aus der Bitte, der Beistand Martinas möge den Widerstreit zwischen Leib und Seele des Dichters schlichten, erwächst ihm unter der Hand ein theoretisierender Exkurs über diesen Kampf: 3,20
Nv
ruoah
Dez
libis
Der
groz
Wan
der
Alliz 3,25
Dar So
gestillen
der
sele
geginherti lip
er
strebt der
mir
vnd
zvo vz
Zvo Do
3,30
an
der
der ovoh div
git
zivhit
erde
gemachit sele
guldin
zallir
ist frist
hierusalem Dyadem
Gotis
kenphin
ist
Lieht
als
sunne
div
nider
nider
himelsohen
menic
strit
bereit och
riahez
cleit
Obwohl diesmal die Rückkehr zur Gebetsintention besser gelingt (3,31-33), ist doch offensichtlich, daß die Digression selbst keine Gebetsabsicht verfolgt. Wieder scheint Hugo seinen Assoziationen freien Lauf zu lassen. Wie er, anscheinend unwillkürlich, von Zacharias auf Johannes und vom Schöpferlob zu einer ausführlichen Schöpfungsbeschreibung kam, so kann er hier an dem uralten Predigtthema Leib und Seele nicht vorbeigehen, ohne einen predigthaften, klar auf die Belehrung des Publikums gerichteten Exkurs einzuflechten. Die Gebetsintention geht dabei vorübergehend völlig verloren. Vielleicht noch deutlicher als den Beginn der "Martina" bestimmen rezipientenorientierte Intentionen den Eingang und die Eingangsgebete der Franziskuslegende Lamprechts von Regensburg (um 1240). Ihr Eingang besteht fast ganz aus einer Verspredigt (11241 350) über die trügerischen Verlockungen der Welt, das alte vanitas mundi-Thema. Homiletisch ist auch der Stil; seine charakteristischen Merkmale - Wir-Form, rhetorische Fragen mit selbstgegebener Antwort 1242 , intensivierende Wiederholung zur Verstär1241 So auch WYSS, Theorie, S. 104. Dagegen verkennt FLÜGEL (Prolog, S. 118) den Charakter von Lamprechts Eingang völlig, wenn er urteilt: "Lamprecht kennt einige Elemente des Legendenprologs und -epilogs, weiss sie aber noch nicht richtig einzusetzen." Was Lamprechts Eingang von dem anderer Legenden abhebt, ist nicht ein geringeres Geschick in der Handhabung vorgegebener Elemente, sondern eine unterschiedliche Konzeption; eine Verspredigt als Beginn kommt in keiner anderen Legende vor. 1242 Z.B. 31-38.
328
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
124 3 kung der Wirkung des Gesagten , leicht verständliche, konkrete 1244 Bildlichkeit - sind die der Predigt. Entsprechend zeigen auch die recht zahlreichen über den ganzen Eingang verstreuten Gebete Lamprechts predigthafte Intentionen. Bezeichnend für diesen auf die Wirkung auf das Publikum bedachten Einsatz der Gebete ist es, daß Lamprecht seinen Eingang nicht mit einer Anrufung eröffnet, sondern ein Gebet erst an einer Stelle bringt, an der es die Feststellungen des Anfangsteils wirkungsvoll unterstreicht: 59 daz si dir
herregot
daz so vil diner durh
die werlt
unde
däran
kristenheit
von dir
niht
waz du durh
gekleit,
gedenket,
uns hast
und Wethen
Ion die
65 die die werlt
wenket
getan enphän,
durh
dioh
lant
und dt er lere näohgänt
-
Die Klage des Dichters über die Lauheit der Christen verfolgt nicht in erster Linie eine Gebetsintention, sondern sie soll die vorgebliche Ergriffenheit des Predigers dem Publikum mitteilen. Auch das noch im selben Zusammenhang stehende Gebet Lamprechts für sich selbst hat zumindest eine starke publikumsgerichtete Komponente: 74 durh
in
(den Heiligen Franziskus), herre,
mit dines
geistes
daz iah mich mit riuwe die min und
bekere missetät,
lip begangen
hat,
e niht
80 e daz iah müeze diner
gnaden
umb alle sant durah
sterben,
erwerben
hulde
mine
Francisk
mir
lere,
von der
läz mich
hilf
schulde, iah bite
die grozen
85 die got an diah
hat
daz du got bites
umbe
daz er min
k§re
leben
dioh
heilekeit, geleit, mich, an
sich.
1243 Z.B. 28-30, 41f. 1244 Z.B. das Bild von der werlde süeze als Köder an der Angel des Teufels (39-58).
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
Spätzeit
329
So persönlich diese Bitten durch die Ich-Form auch klingen - sie sind doch im Kontext der Predigt, zu der sie gehören, primär im Hinblick auf die Hörer und Leser konzipiert: Indem der Verfasser um die Gnade der Umkehr betet, versetzt er sich in die Lage der laxen Christen, an die sich die Predigt wendet, und führt ihnen modellhaft vor, wie ihr Gebet um Kraft zur Besserung auszusehen hat. Im weiteren Verlauf der Verspredigt folgen von Zeit zu Zeit kurze Gebete, die gleichfalls darauf abgestellt sind, das Publikum emotional vom Anliegen der Predigt zu überzeugen. Zweimal sollen kurze klagende Ausrufe des Dichters an Gott als vorgeblich spontane Äußerungen seiner Verzweiflung über den Zustand der Welt den Hörern und Lesern den Ernst des Gesagten nahebringen: 121 milter
got,
des bistu
daz duz
barmherz
190 owt herregot, sin wir
arme
sit unserm
ltdes, unde
guot!
wes Hute
leben
fro, ist
also?
Einem ähnlichen Zweck dient ein kurzes Gebet um Bewahrung vor dem Fegefeuer: 152 daz vegefiur got müez
ist
angestlioh,
uns davor
so wir von dirre
bewarn,
werlde
varn.
Gegen Ende des Eingangs folgt dann noch einmal ein längerer Gebetskomplex (325-50), in dem Lamprecht nur für sich bittet: um das Gebet der Hörer (325-31), um die Gnade der Umkehr und der Erlösung, die Christus ihm gewähren möge (332-43), um die Fürsprache des Heiligen Franziskus (344-48) und schließlich noch einmal ganz allgemein um Gottes Erbarmen (349f.). Aber auch diese scheinbar so persönlichen Bitten haben einen rezipientengerichteten Beisinn, denn wieder schlüpft Lamprecht in die Rolle des Sünders, den seine Verspredigt bessern soll - kurz zuvor hat er sich ausdrücklich vorgestellt als einer, der den Verlockungen der Welt nachgejagt sei (311-24) -, und wieder gibt er durch sein eigenes Gebet ein Vorbild, wie der reuige Sünder beten soll. Der 1245 emotionale, überaus dringliche Ton dieses Gebets ist sicher 1245 Die Intensität dieses Gebets, seine allmähliche Steigerung und seine langsame Beruhigung entziehen sich der skizzenhaften Nachzeichnung. Es
330
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
wenigstens ebensosehr wie Spiegelung einer tiefen Erschütterung des Verfassers ein rhetorisches Mittel, das den Rezipienten am Ende der Predigt noch einmal das Ausmaß ihrer Gefährdung vermitteln will. Aus der Intensität des Gebets um Gnade sollen sie auf den Ernst der Situation dessen schließen, der sich den Aufforderungen zu Buße und Rückzug aus der Welt verweigert^^. Der Beginn von Lamprechts Franziskusleben ist zugleich ein Beispiel dafür, daß das Eingangsgebet nicht notwendig am äußersten Werkanfang stehen muß. Dies ließ sich schon bei den frühen geistlichen Epikern Iuvencus und Sedulius beobachten, bei denen das Gebet nicht den Einsatz des Eingangs, sondern eher dessen Zielpunkt bildete, und galt seitdem in allen Epochen christlicher Dichtung; erinnert sei nur an Otfrid, die "Altdeutsche Exodus"
sei deshalb vollständig zitiert:
325 nu bitt er iuch gemeinltche daz ir umb in bitet got, swa er wider sin gebot gelebet habe und widerz reht, daz er im daz durh stnen kneht 330 Sant Francisken vergebe, er st tot oder lebe, st daz er lebe, Jesu Christ! so tth im dieses Itbes frist, daz er vor stnes todes tage 336 stner Sünden sich beklage, also daz er stn genieze, so sich diu sele entslieze von des Itbes meistersohaft. des hilf rrrtt dtns geistes kraft 340 herre! und st er aber tot, st dan stn sele in keiner not, da loese in genaedecltche und stete in in daz himelrtahe! Sant Franaisk, nu bite um in, 345 er st noch hie oder dorthin, daz got durh dtnen willen sieh über den sündigen armen genasdecltche ruoche erbarmen! barmherzer got, erbarme dich 350 über in und über mich! 1246 Daß in einem als Verspredigt konzipierten Eingang kein Platz für eine Bitte um Inspiration für die geplante Heiligenlegende ist, leuchtet ein: dadurch würde der Blick zu sehr auf die besondere Situation des Dichters gelenkt, die Hörer wären für einen Moment aus dem Bedenken ihrer geistlichen Gefährdung entlassen, und die Wirkung der Predigt wäre in Frage gestellt. Trotzdem verzichtet auch Lamprecht nicht ganz auf ein Inspirationsgebet . Es folgt am Ende des der Verspredigt nachgeschalteten Berichts über die Quelle des Werks und ist ziemlich indirekt:
386 herre got, wan du wol weist, vater sun heiliger geist, daz än dich niht guot werden kan, in den drin namen hebe ich an.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
331
1247 oder Albert von Augsburg . In der mittelhochdeutschen nachklassischen geistlichen Dichtung erfaßt diese Erscheinung nur Ge bete, die nicht in der vom "Willehalm" ausgehenden Tradition ste hen, während die Eingänge, die sich deutlich an Wolfram orientie ren, mit Ausnahme von Reinbots "Georg" gleich im ersten Vers ein Gebet beginnen. Selbst die Eingangsgebete, die nur punktuell der Einwirkung des "Willehalm" unterliegen, stehen meist gleich in den allerersten Versen, so in der "Judith" von 1254, im "Alexius F", im "Alten Passional", in Heinrichs von Hesler "Apokalypse" und in Heinrichs von Neustadt "Von Gottes Zukunft". Der Einfluß des "Willehalm" erstreckt sich also nicht nur auf den ge danklichen Gehalt, die Formulierung und die strukturelle Disposition vieler späterer Eingangsgebete, sondern auf den Bau der betreffenden Werkeingänge insgesamt. Das Ausmaß, in dem ein Gebet vom "Willehalm" beeinflußt ist, korreliert stärker als jede andere Eigenschaft mit seiner Stellung innerhalb des Eingangs. Das Anliegen des Gebets hat damit nichts zu tun, selbst Inspirationsbitten können am Ende des Eingangs stehen12^®, ein Zeichen dafür, daß der Eingang eher als Vorspann denn schon als Teil des eigentlichen, die Inspiration erfordernden Werkes aufgefaßt wurde. Wenn am Ende des Eingangs ein Gebet steht, das sich nicht auf das unternommene Vorhaben be zieht, so meist eines, das aus der vorhergehenden Ankündigung de Themas oder der Vorstellung des Legendenheiligen die Konsequenz für den Dichter und sein Publikum zieht, etwa wie im "Alexius 124 9 A" als Bitte um die Gnade, dem Heiligen ähnlicher zu werden (11f.), oder wie in Wetzeis "Margareta" 1250 (vor 1235) als Gebet um dessen Fürsprache: 94
wünsahent der raine
1247
1248
1249 1250
ouoh
maget
dz uwer
botte
süsse
Der ruhige, fast beiläufige Ton dieser Verse sticht ab vom hochemotionalen Charakter des Gebets am Ende der Verspredigt. Daß Lamprecht um sein ureigenstes Anliegen als Dichter mit solcher Beherrschung beten kann, ist ein zusätzliches Indiz dafür, daß die Intensität der Gebete in der Verspredigt weniger einem persönlichen Bedürfnis Lamprechts als wirkungs theoretischen Überlegungen entspringt. In der "Altdeutschen Exodus" geht dem Gebet eine kurze Ankündigung des Themas voraus ( 1 - 1 0 ) , während Albert von Augsburg mit einer Belehrung über das Wesen Gottes beginnt ( 1 - 2 4 ) . So zum Beispiel in einer späten Barbaralegende (Barbaren Passie, Geistliche Gedichte vom Niederrhein, S. 3 2 4 - 7 0 ) , die der Bitte um die Hilfe Christi zur Abfassung der Dichtung ( 2 3 - 3 7 ) nicht nur eine Themenankündigung, sondern sogar den Beginn der Legende selbst vorausschickt, oder auch in den "Historien der alden §", wo das Gebet um Marias Hilfe den Schluß des Eingangs bildet (etwa 4 5 - 5 0 ) . Hg. von EIS. Wetzeis Margareta (VAN DEN ANDEL, Margaretalegende, S. 1 2 5 - 5 6 ) .
332
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
ze gott der
Wesen
lebn ich h-Le künden ze recht
won derselben 100
müsse,
hatt mit die sy durch
vncz
an ir endes
rainen
gottes
zil.
maget
ir martter
dz sy ze himel
wil
hie be jaget,
huld
laid,
dü crone
trait.
Wetzel hat das Eingangsgebet also über 90 Verse hinausgeschoben. Noch viel später erscheint es in Heinrichs von Hesler "Evangelium Nicodemi", wo ihm eine 290 Verse lange, teilweise in Form eines Lehrgesprächs abgefaßte Abhandlung über den Sinn der Verführbarkeit Adams und des Sündenfalls vorausgeht. Die große Verzögerung ist aber nicht Ausdruck einer Haltung, die die Anrufung Gottes am Werkbeginn für überflüssig erachtet und sie, nur um einer Konvention zu genügen, spät und beiläufig abtut. Dazu ist Heinrichs Gebet zu lang und im Ton zu ernsthaft - es umfaßt nicht weniger als 78 Verse (291-368) und besteht vor allem aus einer sehr intensiven Bitte um den Beistand des Heiligen Geistes im Dichten, die durch den vielfachen anspielenden Verweis auf seine Kraft immer wieder variiert und ausführlich begründet wird. Das späte Erscheinen des Eingangsgebets hat seinen Grund hier in einer Vergrößerung des Werkeingangs insgesamt: Der Aufbau aus Darlegung und Gebet, der sich auch für andere geistliche Eingänge feststellen läßt, ist auch hier durchaus gegeben, nur eben gegenüber den üblichen Ausmaßen stark erweitert, und diese Erweiterung bedingt sowohl den großen Umfang des Gebets als auch seinen späten Beginn. Daß dem Eingangsgebet ein dermaßen langer Abschnitt des Werks vorhergeht, ist selten; immerhin zeigt Gundackers von Ju1251 denburg "Christi Hort" (um 1300) ein ähnlich stark 'verzögertes' Eingangsgebet. Bei ihm liegen die Dinge anders als im "Evangelium Nicodemi", aber in sonderbarer Weise doch auch wieder parallel zu diesem. Gundacker beginnt nicht mit einem Eingang, sondern er setzt sogleich mit dem Thema, der Heilsgeschichte, ein. Da sie unter stark christologischem Aspekt gesehen ist, gibt er für das Alte Testament nur einen gerafften, nur Schöpfung, Sündenfall und Erlösungsbeschluß erfassenden Uberblick und geht rasch zum ungleich längeren neutestamentlichen Teil über. An der Nahtstelle zwischen dem Abriß der Genesis und dem Bericht vom Erlösungswerk Christi nun schiebt er einen längeren Exkurs ein (171-250), der wie ein nachgeholter Werkeingang wirkt und neben 1251 Gundackers von Judenburg Christi Hort, hg. von JAKSCHE.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
333
einer selbstbewußten Zurückweisung der Kritiker (190-226) zwei Gebetskomplexe enthält, die die Bitte um Inspiration (237-50) als Eingangsgebet der Dichtung ausweist. Das späte Erscheinen des Eingangsgebets hat hier offenbar andere Gründe als in Heinrichs von Hesler "Evangelium Nicodemi"; es beruht nicht auf einer Vergrößerung des Werkeingangs, sondern auf der Absicht, die Grenze zwischen der Zeit unter dem Gesetz und der Zeit der Gnade im Bau der Dichtung deutlich sichtbar zu machen. Zur Abgrenzung nutzt Gundacker die Gedanken und Gebete,die andere Dichter an den Werkanfang stellen. Hier liegt nun doch eine gewisse Parallele zu Heinrich von Hesler: Wie Gundacker setzt auch er das Eingangsgebet an den Ubergang vom Alten zum Neuen Testament - im "Evangelium Nicodemi" geht dem Gebet ja eine Abhandlung über den Sündenfall voraus, während ihm eine neutestamentliche Erzählung folgt. Anders als für Gundacker ist der alttestamentliche Stoff für Heinrich aber noch nicht Thema der Erzählung, sondern Material für eine belehrende Abhandlung im Eingang, nicht Teil des eigentlichen Werkes, sondern noch Vorspann. Doch trotz dieser verschiedenen Verarbeitungsweise der alttestamentlichen Thematik in den beiden . Werken ist es verblüffend, daß zwei Dichter, die mit derselben Darstellungsabsicht schreiben - einen Altes und Neues Testament übergreifenden Stoff so zu organisieren, daß der eindeutige Schwerpunkt auf das Neue Testament fällt -, anscheinend unabhängig voneinander darauf verfallen sind, das Eingangsgebet als abgrenzen1252 des Gliederungselement einzusetzen Markiert in vielen Gedichten ein Gebet den Abschluß des Werkeingangs, so ist es in anderen in das Innere des Eingangs verlegt. Gebete im Inneren eines Dichtungseingangs begegnen zunächst dort, wo das Eingangsgebet in mehrere Gebetskomplexe zerfällt, die jeweils von darlegenden Passagen umgeben sind, so etwa in Lamprechts Franziskusleben oder in Tilos von Kulm "Von siben Inge — sigeln" 1253 . Aber auch wenn ein Eingang nur einen einzigen Ge1252 Bei Gundacker fällt außerdem auf, daß der alttestamentliche Teil seiner Dichtung kein Gebet enthält, während der Evangelienbericht weithin als Anrede an Christus, also in Gebetsform, verfaßt ist, wodurch sich die durch Christi Erlösungstat wiedererlangte Gottnähe der Menschen auch im sprachlichen Gestus ausdrückt. Auch dies dürfte bei der Verschiebung des Eingangsgebets an den Anfang des Evangelienberichts eine Rolle gespielt haben. 1253 Tilos Eingang ist ganz von Gebeten durchzogen, wie die folgende Skizze zeigt (Gebete sind kursiv gesetzt): 1- 29 Gedanken über die Notwendigkeit, Gott vor Beginn jedes Unternehmens um Hilfe anzurufen;
30- 41 Gebet um den Beistand des Heiligen Geistes und Christi im Dichten und um die Fürsprache Marias-, 42- 53 nicht gebethafte Demuts- und Unfähigkeitsbeteuerungen;
54- 70 Anrufung Marias um Leitung in Dichten;
334
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
betskomplex enthält, kann dieser ins Innere gerückt sein, womit im Vergleich zur Anfangs- und Endstellung oft eine Einbuße an Emphase verbunden ist. Meist ist der Grund für die Stellung des Gebets im Eingangsinneren nicht anzugeben. Für den Beginn des "Leben der Heiligen Elisabeth" scheint dies ausnahmsweise möglich; in seinem Eingang bestimmt die Logik des Gedankengangs den Ort der Bitte um die Fürbitte des Publikums; Der Verfasser bringt zunächst Gedanken über die Nützlichkeit geistlichen Dichtens vor (1-25) und beteuert dann das eigene dichterische Unvermögen (2645), woraus sich logisch die Bitte um das Gebet der Hörer oder Leser für sein Vorhaben (46-53) ergibt; an diese schließt sich ebenso natürlich die Bitte um Nachsicht für den Fall an, daß das Werk dennoch mißlingen sollte (54-70). Insgesamt gesehen ist die Zahl mittelhochdeutscher geistlicher Gedichte, deren Eingangsgebet nicht in den ersten oder letzten Versen des Eingangs steht, 1254 ziemlich gering
; Anfang und Ende des Eingangs sind eindeutig
bevorzugte Orte des Dichtergebets. Wo der Eingang einer geistlichen Dichtung nicht mit einem Gebet beginnt, formulieren die ersten Verse gern eine religiöse Wahrheit in sentenzhafter Form. Lamprechts Legende fängt an mit der Feststellung, 1 Swer
w-tsheit
der
sol
sie
der
diu
wäre
hät
unde
wenden wisheit
sin,
an
in, ist
-,
und der Dichter der "Heiligen Elisabeth" spricht in seinem ersten Verspaar eine ähnliche Weisheit aus:
71-112 Widmung des Werks an den Deutschen Orden, besonders an dessen Hochmeister Luder von Braunschweig; kurze Themenangabe;
113-122 nochmaliges
Gebet um Gottes
Beistand.
Als implizites Gebet um Lebenszeit, das Werk zu vollenden, dürfte überdies Vers 91 (Ab Got mich let genesen) aufzufassen sein. 1254 Weiterhin zu nennen sind eine Dorotheenlegende (BUSSE, Die Legende der heiligen Dorothea, III, S. 30-41) und die Makkabäerdichtung aus dem Deutschen Orden (hg. von HELM), die aber einen Sonderfall bildet· Der Eingang der "Maccabäer" besteht aus vier Teilen: einer Quellenangabe (1-44), der Übersetzung einer Vorrede Hrabans (45-264), einer eigenen Einleitung des Dichters (265-356), die ein Gebet enthält (337-56), und der Übertragung einer Vorrede des Hieronymus (357-86); die Einleitung des Verfassers ist also zwischen die Vorreden zweier Autoritäten eingeschoben. Sein Eingangsgebet steht, betrachtet man den Eingang insgesamt, im Eingangsinneren; richtet man den Blick jedoch nur auf die Einleitung des Verfassers, so steht es an ihrem Schluß. Hinsichtlich seines Orts innerhalb des Eingangs ist es also nicht eindeutig zu bestimmen. - Zugleich bietet es ein weiteres Beispiel für ein 'verzögertes1 Eingangsgebet .
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
1 Gude Ist
aventure gar
wol
3$
335
sagene
zu verdragene
-
Neben solchen Beteuerungen der Verdienstlichkeit geistlichen Dichtens schlechthin stehen andere Sentenzen, die sich mehr auf den Dichtprozeß beziehen. So beginnen der "Hester"-Dichter und Tilo von Kulm mit der Feststellung, alle guten Werke müßten im Namen Gottes begonnen werden: Hester
1 In J§sü
Christi
dem
minneoltohen
sal
man
swaz
gar
man
Tilo
1
Erst
namen,
beginnen
wil
were
so enkan
süzen
lobesamen,
in güten
S volbrengen ez stn
dem
sinnen
hie
oder
ez nimmer
uf ein
Den
eaheppher
Sal
man
gut
dort,
missegän. gelinge
allir
denoliah
und
wort,
dinge
rufen
an!
Aus derartigen geistlichen Sentenzen kann das Gebet unmittelbar als persönliche Konsequenz des Dichters aus dem allgemeinen Satz hervorgehen, so in der "Hester", deren Verfasser die vorangestellte Weisheit so wörtlich beherzigt, daß er sein Gebet mit dem Namen Jesu beginnt: 8 Jisü
getrüwer
swer
dich
stete dem
leitesman,
zü geleite
an aller
wirt
ein
stner
güt
ende
hät tät,
1255
Häufiger aber ist die Sentenz Anlaß zu längeren Ausführungen über das von ihr angeschlagene Thema, am deutlichsten wohl in Lamprechts Franziskuslegende, wo sich aus ihr die lange Predigt entwickelt, die den größten Teil des Werkeingangs einnimmt (1-350). 1255 Ebenso geht schon am Ende des 12. Jahrhunderts Albert von Augsburg vor. Auch er eröffnet seinen Eingang mit der Feststellung, nichts könne gelingen, was nicht mit Gottes Hilfe angefangen sei: 1 Alles des man beginnen sol daz enkan sieh niht virenden wol ez engebe got der helfe schin von der lieben rnilte sin um dann sein Gebet mit dem Namen Gottes zu beginnen: Ihesu Vater aller $ite (25).
336
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Zu den nicht vom "Willehalm" beeinflußten Eingangsgebeten zählen mit Ausnahme der Anfänge des "Alten Passional" und des "Väterbuchs", die wohl vom selben Verfasser stammen, auch die Eingangsgebete zu den mittelhochdeutschen Legendensammlungen. Die Legendarien bilden als Erzählungssammlungen eine von den anderen mittelhochdeutschen Dichtungen scharf abgesetzte Gruppe. Alle sind dichterische Großunternehmen; das "Passional" ist mit über 100 000 Versen die umfangreichste deutsche Reimdichtung überhaupt, und die übrigen Zyklen werden im Umfang nur von wenigen mittelhochdeutschen Gedichten übertroffen. Die Deutlichkeit, mit der sich die Legendensammlungen zu einer Gruppe zusammenschließen, hat aber keine Ähnlichkeit ihrer Eingangsgebete zur Folge. Selbst die naheliegende Erwartung, daß Vorhaben solchen Umfangs und solcher Bedeutungsschwere - keine andere Gattung strebt ein so umfassendes Bild vom Weiterwirken Gottes in den Taten der Heiligen an - besonders ausgedehnte und intensive Eingangsgebete erfordern, bewahrheitet sich nur für das "Passional", das mit 1256 über 270 Versen das längste Eingangsgebet aller mittelhochdeutschen geistlichen Dichtungen besitzt. In den anderen Sammlungen bleibt das Eingangsgebet im auch sonst üblichen Rahmen und 1257 kann sogar wie im "Märterbuch" vollständig fehlen. Wie die besondere Schwierigkeit des unternommenen Vorhabens bleibt auch der spezifische Inhalt der jeweiligen Sammlung in den Eingangsgebeten von Legendenzyklen weitgehend unreflektiert. Im Eingangsgebet des "Passional" liegt ein schwacher Bezug zum Werkthema wenigstens darin, daß Gott unter anderem auch gepriesen wird als der, der dem Menschen die Liebe zu Gott eingibt (2,73-87), der also, wie wohl mitzudenken ist, die Heiligen erst zur Heiligkeit führt. Eine angedeutete Verbindung zum ersten Buch des Werks, einem Marien- und Christusleben, mag man überdies in einem kurzen Stoßgebet zur Gottesmutter erblicken (4,66). Alle anderen Elemente des Gebets sind im Hinblick auf die Schwierigkeiten des Werks und die Werkintention uncharakteristisch; der "Passional"-Dichter bringt, was auch in anderen Eingangsgebeten begegnet, nur eben in ungewöhnlicher Ausführlichkeit: ein Lob Gottes als dreieiniger machtvoller Weltenschöpfer und -herrscher, mehrfache Bitten um seinen Beistand im Dichten und um die Gnade, vor dem Schreiben aus Ehrsucht bewahrt zu bleiben (3,85-90), und auch eine Confessio mit dem Gelöbnis der Besserung (3,91-4,2) fehlt nicht.
1256 1,1-4,2; etwa 4,63-66; 5,1-12. 1257 Das Märterbuch, hg. von GIERACH.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
Spätzeit
337
Zeigt sich das Eingangsgebet des "Alten Passional" zumindest noch in seiner Ausdehnung und in wenigen Motiven vom Werkcharakter beeinflußt, so besteht im "Väterbuch" gar keine Färbung der Gebete im Eingang durch den Charakter des Werks. Es finden sich nur gängige Motive, die auch sonst in Eingangsgebeten vorkommen: ein ausführlicher Preis des Schöpfergotts (etwa 1-12) und vor allem Bitten um Beistand im Dichten, zunächst implizit: 91 Ist daz nu Got, Durah
der herre
die grozen
truwe
sin,
Der an im ist mer danne Erluhten
mir daz herze
95 Als iah im sal So wil Alhie
min,
vil, wil,
getruwen,
iah uf in daz wera
buwen
-,
dann aber auch offen ausgesprochen: 105
Ey, herreGot, An dirre Han
vart,
nu leite
die iah durch
hie begonst
und wil
Wie hie vor in vil Manges 110 Durch
reines dich,
Der werlde Des bite
du hoster hört wol
iah,
getruwer
dich
sagen
tagen
menschen
mut vrouden
über
gut,
trat:
als iah izu
Daz du mit mir sist Ihesu,
mich
dar
bat,
an,
leitesman
-
Ganz am Ende des Eingangs werden diese Bitten noch einmal kurz wiederholt (238-40). Weiter findet sich eine mit der Deklaration des dichterischen Vorhabens zum Bußwerk verbundene Confessio (149-60). Insgesamt unterscheiden sich die Eingangsgebete des "Väterbuchs" nach Umfang und Gedankengang nicht von denen anderer geistlicher Dichtungen ähnlicher Länge. Nur eine einzige Legendensammlung, die dem 14. Jahrhundert an1 258 gehörende Dichtung "Der maget krone" , stellt eine enge gedankliche Verbindung zwischen dem Eingangsgebet und ihrer besonderen Thematik her. Das Werk, das ein Marienleben und zehn Legenden heiliger Jungfrauen versammelt, hat im Eingang ein langes Gebet zu Maria: 1258 Bisher nur teilweise ediert
(ZINGERLE, Der maget kröne).
338
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
25 mein ein
grüß
sey dir
künigin
der
unser
geding
du seist
eilend
Sven
kind
weinen,
hie
in
Eiä
dar
die
barmherczig
heschem
diesem
die
den zeig 40 hie
umb, bald
her
sun
δ Martä
dir
sal
tal. fogttn,
Sgen
dtn
zu
uns,
Jhesus, Crist,
fruoht uns
zu
3ne
unser
deines
leibes
ist,
behend
näah diesem
δ senfti,
wir
zäher
den gesegnoten der
sein
seuffzend
mit
und deinen
gesuost,
gegruost!
30 und schreiend,
kir
barmherazikait.
und leben
Martä,
35 die
gesait,
δ
eilend, milti,
süssi! 1259
Diese Nachdichtung des Salve
Regina
ist nicht nur sinnvoll
auf das Marienleben zu beziehen, sondern auch auf die Jungfrauenlegenden, die ja alle in gewisser Weise eine imitatio
Marias the-
matisieren. - Jede Spur einer Beziehung zum Inhalt des Werks fehlt dagegen der kurzen Gebetsaufforderung
in der Vorrede zur
Legenden Sammlung Hermanns von F r i t z l a r ^ ^ ^ , der sich auf die knappe Bitte Bitet
got
vor
mich
in
Kristo
(4,17) beschränkt. Für
die Kürze dürfte hier die Prosaform verantwortlich
sein.
Da die Legendare zum halbliturgischen Vortrag gedacht waren, zu dem ohnehin eine Bitte um Vergebung möglicher Fehler beim Vorlesen gehörte, ist es nicht erstaunlich, daß nur wenige Einzellegenden aus Legendenzyklen mit einem Gebet beginnen. Wo ein Eingangsgebet begegnet, enthält es nicht wie in vielen
selbständigen
geistlichen Gedichten eine Bitte für das Gelingen des Werks, sondern es verfolgt andere Ziele. Fast alle Beispiele stammen aus dem "Alten Passional", dessen schon für sein Eingangsgebet
zum
1259 Vgl. zu 25-28 Salve, Regina miserioordiae, zu 29 exules f i l i i Hevae, zu 30 Ad Te suspiramus gementes, zu31f. et flentes In hac lacrimarum valle, zu 33 Eia ergo advoaata nostra, zu 34f. Illae tuos misericordes oculos ad nos converte, zu 36-38 Et Iesum, benediction fructum ventrie tui, zu 39-40 Nobis post hoc exilium ostende, zu 41f. 0 alemens, ο pia, 0 dulcis Virgo Maria. (Zit. n. Encyclopedia Cattolica, Bd. 10, S. 1719). Der Verfasser des deutschen Gebets hat die im 14. Jahrhundert vorgenommene Er-
weiterung zu Salve, Regina,
Mater
misericordiae
noch nicht ge-
kannt. Zur Textgeschichte EISENHOFER, Handbuch der katholischen Liturgik, Bd. 2, S. 553f. 1260 Das Heiligenleben von Hermann von Pritslar, hg. von FRANZ PFEIFFER.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
339
Gesamtwerk gezeigte Ausnahmestellung hinsichtlich des Betens seines Verfassers sich damit bestätigt. Aber auch im "Passional" sind Legendeneingangsgebete keineswegs die Regel; von seinen vielen Einzelstücken - allein das dritte Buch zählt an die achtzig Legenden - beginnen nur sieben mit einer Anrufung. Das primäre Anliegen der meisten Legendeneingangsgebete im "Alten Passional" ist das Lob des Legendenheiligen. Solche Lobgebete können sehr umfangreich werden; die beiden längsten erreichen 1261 mehr als hundert Verse , und das nächstkürzere steht ihnen mit 1262 68 Versen wenig nach. Doch ist das Heiligenlob nie die einzige Intention des Gebets. Stets will der Verfasser durch sein Vorbild zugleich den Hörern den Kult des durch eine ausführliche Anrufung ausgezeichneten Heiligen ans Herz legen. Darüber hinaus bieten einige Eingangsgebete eine vorweggenommene Interpretation des dann Erzählten und geben damit eine Verständnishilfe, so in der Augustinuslegende, deren Eingang ganz aus einer Kette von Ausrufen besteht, die den 126 3Heiligen als begnadeten Interpreten der Schrift vorstellen . Eine weitere Leistung der Eingangsgebete im "Passional" kann in der eindringlichen Ermahnung der Hörer zur Nachahmung des Legendenhelden liegen. Dies wird in der Franziskuslegende besonders deutlich. Ihre einleitende Anrufung preist Franziskus vor allem wegen der in dem von ihm gegründeten Orden praktizierten Armut, die das beste Fundament einer geistlichen Gemeinschaft^^ und überdies das geeignetste sei, 1 pc c Sünden von dieser Gemeinde fernzuhalten . DiesesMittel ausführliche 1261 136 und 112 Verse haben die Anrufungen zu Beginn der Legenden des Evangelisten Johannes (II, 226,77-228,25) und des Heiligen Franziskus (Das Passional, hg. von RÖPKE, III, Nr. 61, 514,1-515,60). 1262 Passional, hg. von RÖPKE, III, Nr. 75, 667,1-68 (Katharina). 1263 III, Nr. 49, 414,1-415,9. 1264 Z.B.:
514,42 swer mit tugentlicher ρflicht wil machen starken vullemunt, der lege ot nicht in den grünt, 45 daz ist war armute 50 ο Francisce, gotes knecht, wol dich des vullemundes und ouch des edeln vundes 515, 1 an deme nuwen ordene, da man pflit zu mordene und vortreten so hin dan den alden sundigen man, 5 der wirt da volleclich gequelt und erquicket ein nuwe helt, secundum deum creatus. 1265 515,42 sus wil ez in dem orden sin; entstet do lichte ein iteVkeit, die wirt drate hingeleit. 45 des kleides sac, des gurtels knote
340
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Lob der Besitzlosigkeit ist gleichzeitig eine unausgesprochene Kritik an der Realität des Deutschen Ordens, für den das "Passional" geschrieben wurde, ein Aufruf zur konsequenteren Verwirklichung des Armutsideals. Im Eingangsgebet zur Katharinenlegende ist die Erzeugung aufmerksamkeitssteigernder Spannung eine weitere Absicht, denn die Anrufung spielt bereits andeutend auf Ereignisse an, die erst in der Legende selbst berichtet und erklärt 1266 werden . All diese sich mit der Intention des Heiligenlobs überlagernden und es teilweise sogar in den Hintergrund rückenden sekundären Gebetsabsichten finden sich auch in Eingangsgebeten selbständiger geistlicher Dichtungen; kennzeichnend für die Anrufungen am Beginn von Legenden aus Legendaren ist jedoch, daß sie nie mit einer Bitte für das Gelingen der Dichtung verbunden sind. Zwei der Heiligen, die der "Passional"-Dichter durch ein Eingangsgebet auszeichnet, Augustinus und der Evangelist Johannes, stehen ihm durch die ihnen in besonderem Grad zuteil gewordene Gabe der Inspiration besonders nahe. Aber obgleich sie beide in immer wieder neu ansetzenden Lobsprüchen als von Gott Erleuchtete gepriesen werden, richtet sich an sie keine Bitte um Fürsprache für den Dichter, der derselben göttlichen Hilfe bedarf. Der besondere Bezug zur Situation des Dichters kann auch hier die predigthafte Tendenz nicht verdrängen. Johannes wird nicht nur gelobt für seine inspirierte Niederschrift des Evangeliums, sondern auch und mit kaum geringerem Gewicht für seine Keuschheit, die ihm erst die besondere Liebe Christi und die Gnade der Erleuch1267 tung erworben hat . Indem es so auch über die geistliche Verdienstlichkeit eines keuschen Lebens handelt, ist das Eingangsgebet zur Legende des Evangelisten Johannes eine Mahnung an die Ordensritter, dieses Prinzip ihrer geistlichen Gemeinschaft zu beherzigen. Ganz anders als viele Autoren selbständiger geistlicher Werke nutzt der "Passional"-Dichter die Gelegenheit, die die Evangelistenlegende zur Reflexion auf seine eigene Situation und zur Bitte für sein Unternehmen bietet, also nicht. Persönlichen Anliegen gibt er außerhalb der Gebete, die sich auf die ganze Sammlung beziehen, keinen Raum. Er ordnet sich völlig in die Hörergemeinde ein, der er einige Gebete formuliert, ohne aus ihr mit Bitten, die nur ihn selbst betreffen, herauszutreten. nach maniger tugende geböte han daz sahiere hin vertreten 1266 Das Eingangsgebet erwähnt zwar kurz das Martyrium Katharinas als Tatsache (667,50-52), verschweigt aber noch dessen nähere Umstände und Katharinas Weg zur Heiligkeit; darüber wird vorerst nur in wenig konkreten Metaphern und Andeutungen gesprochen (667,35-49.53-58). 1267 II, 227,9-34, 228,19-25.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
341
Einmal gilt der Lobpreis nicht einem Heiligen, sondern dem Kreuz Christi: III 265,1
0 crux,
heiligez
zeichen,
wol
im, swer
mac
der hohgelobeten
die du mit 5 hast
icht
erreichen vrucht,
seliger
uf der erden
ο und wer mac
sucht hie
vollen
in der bekentnisse wie
tief,
si dines
wie
wolden
ganc,
gewaldes
wie
lanc
ummetrit?
an dir
zerren
und durch
uns des
ο du hohgelobeter der alle
breit,
gelit,
daz in entgienc
266,1
iagen
ho, wie
10 ο die heiligen die sich
getragen!
selde
sperren, liebes
doum!
boum,
uns hast
getragen!
Grund der Hervorhebung der Kreuzauffindungslegende durch ein Eingangsgebet ist wohl ihre christusbezogene Thematik, durch die sie aus den Heiligenlegenden des dritten Buchs herausragt. Da das Kreuz als Instrument der Erlösungstat Christi gepriesen wird, ist das Kreuzeslob eigentlich ein Gottespreis. Hierauf deuten auch klare Anklänge an den Lobpreis des allmächtigen Gottes im Eingangsgebet zum Gesamtwerk hin (265,6-9). Ein einziges Legendeneingangsgebet im "Passional" enthält auch eine Bitte. Aber in ihr geht es nicht um Hilfe im Dichten: II 367, 75 got herre
gib vns
so daz wir mit vmbe
unser
steticheit
sundiges
ein ruich
leben
vnde
darinne
also
80 in minnendes zv dir amen durch
leit
alhie
des hilf
tragen
iagen
herzen
herre
alle
andacht
gir
hin zv dir vns ihu
die true
crist
die du
bist.
Anläßlich der Erzählung von der vorbildlichen Büßerin Maria Magdalena bittet der Verfasser um die Gnade der Reue, auch hier jedoch nicht speziell für sich, sondern für die ganze Publikumsgemeinde. Selbstverständlich fehlt auch in diesem Eingangsgebet
342
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
der Lobpreis nicht; er geht der Bitte voraus und preist nicht die Büßerin, sondern, da die Umkehr nicht Leistung des Menschen, sondern eine Gnade Gottes ist, die göttliche Barmherzigkeit: 367,67
gelobet
sistu
guter
got
daz din
barmherzicheit
vnz armen
ist also
70 mit veterlicher
wol vns der edelen die vns vz der
in kurzer sunden
hat uf hohe
gereit
true rue stunde
gründe
tugende
bracht
12 6 8
-
Die anderen gereimten Legendare, das "Väterbuch", das "Märterbuch" und, soweit bisher ediert, "Der maget krone", besitzen keine Gebetseingänge in Einzellegenden. In der Prosasammlung Hermanns von Fritzlar findet sich ein einziges Mal, in der Blasiuslegende, eine einleitende Gebetsaufforderung: Ir sullit daz her üwer
hüte
ane rufen
gedenke
den heiligen
vor deme
almechtigen
werterer gote
sanctum
Bläsium,
1269
Eine so schlichte, formelhafte Mahnung zum Gebet, die nicht mehr ist als der Einleitungssatz zu einer Predigt am Festtag des Heiligen, konnte von jedem Vortragenden leicht ad hoc formuliert werden; ihre schriftliche Fixierung war daher nicht notwendig. Sie dürfte in der Blasiuslegende nur zufällig mitüberliefert sein. Die zum Teil überaus ausführlichen Legendeneingangsgebete im "Alten Passional" bieten das beste Beispiel für das Gewicht, das Heiligenanrufungen in einem Dichtungseingang gewinnen können. In ihnen erreicht eine Entwicklung ihren Höhepunkt, die hundert Jahre zuvor beginnt und durch die sich das Beten der geistlichen Dichtung der Blüte- und Spätzeit von dem der frühmittelhochdeutschen Literatur absetzt. Denn während diese allein Anrufungen Marias zuließ, die überdies sehr rar blieben, wird von der Blütezeit an auch den Titelheiligen von Legenden die Ehre eines an sie gerichteten Gebets im Werkeingang zuteil, zunächst noch ziemlich selten - den Anrufungen Willehalms und Servas' steht noch eine Uberzahl
1268 Ebd. Außer den erwähnten sechs Legenden (Maria Magdalena, Johannes Evangelist, Kreuzauffindung, Augustinus, Franziskus, Katharina), die Eingangsgebete haben, beginnt das Stück für Allerseelen (Nr. 69) mit einer Aufforderung, an diesem Tag für die Seelen im Fegefeuer zu beten (582,6-11). 1269 S. 83, Z. 36f.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
343
von Legenden gegenüber, die nicht mit einem Heiligengebet beginnen -, dann aber immer häufiger. Zur Regel wird die Anrufung des Heiligen im Legendeneingang jedoch nie; in etwa der Hälfte der Legenden richtet sich wie im Frühmittelhochdeutschen auch in späterer Zeit das Eingangsgebet an Gott. Anderen Legenden fehlt es ganz. Heiligenanrufungen begegnen in Eingängen nicht nur von Legenden, sondern zeitweise auch von Bibeldichtungen und anderen geistlichen Gedichten. Sie sind von Anfang an recht umfangreich - Veldeke widmet seinem Heiligen 29 Eingangsverse (170—98), Wolfram ruft Willehalm 17 Verse lang an (4,3-19), Ebernand wendet sich in 35 Versen (97-131) an das heilige Kaiserpaar, und in derselben Größenordnung liegen, obwohl kurze Anrufungen zu keiner Zeit ganz fehlen, auch die meisten Heiligengebete in späteren Werken. Die überlangen Gebete aus den erwähnten Legendeneingängen im "Passional" sind allerdings Extremfälle, die außerhalb dieses Zyklus keine Parallelen haben. Die meisten Heiligengebete aus Dichtungsanfängen sind für die Jahrzehnte von 1270 bis 1340 überliefert; nur in dieser Zeit erscheinen sie auch in nicht hagiographischen Texten. Mit dem Ausklang der Deutschordensdichtung werden sie seltener und kürzer. Ob und in welcher Form ein Dichter ein Heiligengebet an den Anfang eines geistlichen Werks setzt, steht weitgehend in seinem Ermessen. Ob der Heilige wie in den meisten Legenden das gedankliche Zentrum des Werks bildet oder ob seine Geschichte eher nur den Aufhänger für die enzyklopädische Ausbreitung von geistlichem Wissen liefert ("Martina"), ist unerheblich; in beiden Fällen kann dem Werk ein Gebet zum Heiligen vorhergehen. Erstaunlicherweise hat auch die bewußte Wolfram-Nachfolge mancher Werkeingänge kaum Einfluß auf die Existenz einer Heiligenanrufung in ihnen. Obwohl zur Entstehungszeit des "Willehalm" das Gebet zum Legendenheiligen am Werkbeginn durchaus noch nicht üblich ist und somit unter den Zeitgenossen besonderer Beachtung sicher war, ist Wolframs Anrufung seines Helden nur durch Reinbot und Ulrich von Etzenbach nachgebildet worden, während Werke, die so deutlich die Tradition des "Willehalm"-Eingangs fortsetzen wie die Ulrichs von Türheim und Ulrichs von dem Türlin oder wie Rudolfs "Barlaam", auf eine einleitende Heiligenanrufung verzichten. Nicht ausschlaggebend für die Existenz eines Heiligengebets ist auch der kultische Status des Angerufenen. Heilige wie Afra, Pantaleon, Stephanus oder Silvester, die kirchliche Verehrung genossen, werden nie im Eingang angerufen, während andererseits kaum bekannten Heiligen ein Eingangsgebet gewidmet sein kann, so bei Hugo von Langenstein der Heiligen Martina, deren Verehrung in Deutschland wenig
344
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
verbreitet war. Besitzt ein Eingang eine Heiligenanrufung, so wendet sich der Dichter natürlich in den allermeisten Fällen an den Heiligen, von dem seine Legende erzählt. Ein anderer Heiliger wird nur im Ein1270
gangsgebet zur "Marter der heiligen Margareta" angerufen . Gelegentlich tritt jedoch zur Anrufung des Helden ein Gebet zu Ma1271
ria hinzu
. Die Gottesmutter kann als einzige Heilige auch in
anderen Werken als Legenden angerufen werden. Vor allem im Deutschen Orden, der ihre Verehrung besonders förderte, fehlt die Hinwendung zu Maria kaum je. Maria kann selbst dort, wo es sich nicht um eine eigentliche Mariendichtung handelt, die einzige Adressatin des Eingangsgebets sein, also etwa in "Der maget krone" oder in den "Historien der alden
. Insgesamt ist die
ausschließliche Anrufung von Heiligen die große Ausnahme; fast 1272 immer ist mit ihr im Werkeingang ein Gebet zu Gott verbunden Die Anliegen der Heiligenanrufungen sind die in Eingangsgebeten naheliegenden und traditionellen: Fürsprache bei Gott für den Dichter und sein Publikum, für das Gelingen des Werks und des ganzen Lebens. Nur Maria kann mitunter über die
intercessio
hinausgehende Hilfe gewähren. Im dichterischen Beten ist so möglich, was theologisch eigentlich ausgeschlossen ist: daß die Gottesmutter nicht durch ihr Eintreten bei ihrem Sohn, sondern selbständig aus eigener Machtfülle dem1273 Beter beisteht. Noch deutlieher als bei Hugo von Langenstein
wird dies bei Tilo von
Kulm: 56 Mait
Maria,
Gütlicher
Da ich
sinne
rechte
60 Daz iah
vrucht,
Gotes
Mir mine Uf di
edele
straze
kume uf di
schenke, lenke
blumen
dan,
den vinde
plan -
1270 Der Dichter ruft Maria und, sollten die beiden Schlußverse des Gebets echt sein, Elisabeth von Thüringen, aber nicht die Heilige Margareta an (75-84) . 1271 In der "Martina" (2,101-3,13) und in Kunz Kisteners "Jakobsbrüdern" (66f.). 1272 Es fehlt jedoch in sämtlichen Einzellegenden aus dem "Passional". 1273 Martina 3,8 Nv gip mir frovwe dinen rat
Und hilf mir erkirnen Daz lob diner dime η Vnd diner himilschen gespiln
-
Von Gott ist im Zusammenhang dieser Bitte gar nicht die Rede.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
345
Die Lenkung des Dichters ist hier eine Gnade, die Maria nicht vermittelt, sondern spendet. - Ein selteneres Anliegen ist das Heiligenlob; es trägt nur in den Eingangsgebeten zu den entsprechenden Legenden im "Passional" das Hauptgewicht. Hier liegt eine weitere Facette der Originalität des "Passional"-Verfassers. f. Mariendichtung Die Mariendichtung bildet in der geistlichen Literatur des Mittelalters einen eigenen, fest umrissenen Zweig, gleich weit entfernt von Evangeliendichtung und Heiligenlegende. Von den Evangelienbearbeitungen unterscheidet sie nicht so sehr der Rückgriff auf Quellen außerhalb des biblischen Kanons, vor allem das Pseu1274
do-Matthäusevangelium - solche Quellen verwendet, wie etwa das "Evangelium Nicodemi" zeigt, auch die Bibelparaphrase -, sondern vor allem die eigene Perspektive auf das Heilsgeschehen. Sie richtet sich nicht in erster Linie auf die Selbstentäußerung Gottes, der seinen Sohn Mensch werden läßt, um die Welt zu erlösen, sondern, obwohl kaum eine Marienvita auf einen Evangelienabriß verzichtet, auf den Anteil Marias am Heilsplan. Dies bedingt einen von dem der Evangeliendichtung verschiedenen stofflichen Horizont der Marienleben. Sie erweitern das Evangelium, das nur relativ spärliche Angaben über Maria bietet, um eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte, die Marias Geburt, ja sogar das Schicksal ihrer Eltern, Kindheit und Jugend sowie ihr Leben nach 1274 Die etwas dubiose Qualität ihrer Hauptquellen ist wenigstens manchen Dichtern bewußt. Der Verfasser der "Vita Beate Virginis Marie et salvatoris rhythmica" (hg. von VÖGTLIN) verteidigt sich:
33 Si quis ut apoarifum hoc velit reprobare, Caveat, ne veritatem presumat condempnare. Die deutschen Fassungen scheinen den Gedanken der UnZuverlässigkeit ihrer Quellen entschiedener zurückzuweisen. Etwas unklar formuliert Walther von Rheinau (hg. von PERJUS):
162 Swer aber zwtvel funde, Dar umbe sol ein wiser man Dis rede nit für velsohe han was wohl als Aufforderung zu verstehen ist, Walthers Darstellung auch in ihren der menschlichen Erfahrung zuwiderlaufenden Passagen zu folgen. Deutlicher wird der Schweizer Wernher (hg. von PÄPKE - HÜBNER):
49 Des Umb Und Mit Und Wer
ist mit warhait vil da bi, das es volkomen sig niemen widersprechen rnüge warhait und mit rechten zügen, er sich selber triege sprichet das er (der buche maister, 44) liege.
346
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
der Passion und Auferstehung Christi und ihre Aufnahme in den Himmel berichten. Der charakteristische Blickwinkel der Mariendichtung bedingt auch eine typische Einstellung von Verfasser und Publikum zum Stoff, denn Maria als wenn auch in unübertrefflichem Maße begnadeter Mensch ist ihnen vertrauter als Christus, so daß sich lange Zeit, bis das Spätmittelalter die Menschheit Christi in den Mittelpunkt der Darstellung rückt und seine Gottheit nur noch allusiv realisiert, die Mariendichtung stärker als andere Gattungen zu versenkender und einfühlender Betrachtung und zu vertrauensvoller Anrufung anbietet. Als Erzählung von einem besonders begnadeten Menschen hat die Mariendichtung andererseits eine Affinität zur Heiligenlegende. Von ihr hebt sie jedoch das beispiellose Ausmaß der Maria zuteil gewordenen Gnade ab, durch die sie eine Vorrangstellung unter allen Heiligen genießt. Als Gottesmutter ist sie die Himmelskönigin und thront in der himmlischen Hierarchie noch über den Engelchören unmittelbar neben ihrem Sohn Christus. Deshalb ist Maria eine besonders einflußreiche Vermittlerin der Gebete der Menschen. Ihr bittendes Wort hat besonderes Gewicht, sie besitzt eine Macht, die die aller anderen Heiligen übersteigt. Innerhalb der epischen Mariendichtung, die hier ausschließlich betrachtet werden soll, sind drei Untergattungen zu unterscheiden. Was über die Abgrenzung von der Evangelienparaphrase gesagt wurde, gilt vor allem für die Marienleben, die die Geschichte der Gottesmutter in allen Einzelheiten entfalten; sie sind vom späten 13. Jahrhundert an weit verbreitet. Nach Stoff und Form klar von ihnen geschieden sind die nicht weniger populären Marienmirakel. Sie erzählen vom Weiterwirken der vermittelnden Gnade Marias nach ihrem Tod und bis in die Gegenwart von Verfasser und Publikum. Eine dritte Gruppe bilden schließlich die preisenden Mariengedichte. Sie stehen auf der Grenze zur Lyrik, stellen sich aber durch ihre Breite und ihre unstrophische Form - der Paarreim der Epik ist weitgehend durchgehalten, der Umfang übertrifft den aller Lyrik bei weitem - mehr zu den Marienviten und -wundererzählungen als zu den Lobliedern auf die Gottesmutter. Das früheste deutschsprachige Marienleben, die 1172 von einem Priester Wernher wohl in Augsburg verfaßten "Driu liet (d.h. 3 Bücher) von der maget", beginnt mit einem sehr langen, von zahlreichen Gebeten durchzogenen Eingang, der anfänglich eine klare Gliederung anzustreben scheint (in den ersten etwa 2 9 Versen ist ein Bau nach dem Prinzip 'Gebet des Dichters - Themenankündigung - Aufforderung zum Gemeindegebet' zu erkennen), dann aber zunehmend assoziativ und ungeordnet wird. Der Versuch, seine Gebete
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
347
im Rahmen einer Nachzeichnung seines Gedankengangs zu interpretieren, wäre deshalb wenig sinnvoll. Statt dessen bietet es sich an, sie aus ihrem Kontext herauszugreifen und unter inhaltlichen Aspekten zusammenzusehen. Textgrundlage hierfür soll nicht Wesles sehr hypothetischer Versuch einer Rekonstruktion des originalen Wortlauts des nur in jüngeren Bearbeitungen überlieferten Ge1275 dichts sein , sondern die Version der Handschrift D, die, noch dem 12. Jahrhundert angehörig, im ersten Drittel des Werks der 1276 Urfassung nahesteht . In dieser Fassung hat der Eingang 222 Verse, die nicht weniger als neun mehr oder weniger deutlich ausgeprägte, unterschiedlich klar vom Kontext abgesetzte Gebete ent1277 halten . Die meisten lassen sich unter zwei Aspekten versammeln: Fast stets geht es entweder um Maria und den Dichter oder um Maria und die Menschheit. Die Eingangsgebete des Priesters Wernher sind also überaus stark marianisch geprägt. Gleich zu Beginn ruft der Verfasser Marias Beistand in sein Werk hinein: D
1
Eines
Itedes
ich
beginne
in sente
Marien
minne,
der ewigen
ahuniginne:
div gerüche
och min
5 vnd mine uor aller
brüste
sinne
erreinen
slahte
maeile,
daz ich nu muze
scriben
uon ir div allen
wiben
die itewtze
hat
benomen,
10 daz der tot was
bechomen
uon dem ersten
wibe
in die
Werlte.
Wie andere Dichter im Namen Gottes beginnen, so setzt der Priester Wernher an den Anfang die Liebe Marias. Nicht nur hierin ist Maria an die Stelle Gottes getreten. An sie wendet sich auch die sonst an Gott gerichtete Bitte um die Bereitung von Herz und Sinn zum geistlichen Dichten (D 4-7). Die Reinigung des Dichters - und sie kann kaum anders verstanden werden denn als Tilgung oder Fernhaltung sündiger Gedanken - ist allein ein Werk Marias, nicht erst Resultat ihrer Fürsprache bei Gott; die Gottesmutter selbst
1275 "(...) die Synopse der Wesleschen Ausgabe täuscht eine falsche Sicherheit vor" (PRETZEL, Werner, Pfaffe, Sp. 907). 1276 PRETZEL, Werner, Pfaffe, Sp. 903. 1277 D 1-etwa 11, 23-etwa 29, 44, 45-76, 122-24, 136-etwa 140, 174, 184-86, 200.
348
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
soll hier Sündenvergebung und Bewahrung vor neuer Schuld
gewäh-
ren. Zu dieser machtvollen Stellung Marias paßt, daß die einzige Benennung, die sie in diesem Zusammenhang erfährt, die der ewigen Himmelskönigin ist
(D 3). Auch in diesem Ehrentitel
verwi-
schen sich die Unterschiede zwischen Maria und Gott. Wenn Wernher
später weitere Bitten für sein Werk folgen
wird noch deutlicher, in welchem Maße Maria im an die Stelle Gottes
D 45
frowe,
geistlichem
begiuz
töwe
den minen
gedanch,
das ich din lob vnd din , ., ο ein teil gemeren muzze, 50 unt
hilf mir
daz unreht wan
daz ich
ich gezwiuelot
la mich
gnade
55 vnt
la mich
"och
begie,
nie
an dir noh an dinem des
chinde: vinden
gentezzen
verlteze
deheinen
irdisken
man
der dich
ze uoget
wolte
du bist 60 aller
liehter
tugende
flivzet
denne
wäz
uz diner
nu bedenahe, waz
gesanch
gebuzze
daz ich ie
daz du nie
han!
der
unt
schozze. grozze,
dir der engel
brahte,
do got an dir
bedahte
mennisken
not
unt dir die mandunge
enbot
in ditze
tal,
chlageliche
daz er dich im selben
ze etnem
wolte
70 wie maehtestu guter
rede
dv bist nach daz
oberiste
anhefte
gnade daz
liste?
magenahrefte:
liet ich
dv bist
uerzihen
vnt guter
gotes
75 vf dine
sal
wihen.
mir
div
tach:
smach
froe
65 aller
Inspirationsakt
tritt:
Himelischiv mit
läßt,
uolle:
tov in Gedeonis
wolle.
Nicht nur die den Dichter zum Empfang der Inspiration
vorberei-
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
Spätzeit
349
tende Läuterung ist also eine Gnade Marias, sondern auch die dichterische Begabung selbst geht von Maria aus. Mit der Inspirationsmetapher des auf Gideons Schaffell gefallenen Taus (D 4547) überträgt Wernher ein sonst für die von Gott ausgehende In1278 spiration gebräuchliches Bild auf Maria . Man könnte in dieser ungewöhnlichen Umprägung eine bewußt über Vorgegebenes hinausgreifende Erhöhung Marias sehen, wenn nicht andere Formulierungen im selben Kontext vor einer solchen Deutung warnten. Zurückhaltender als am Anfang mag Wernher Maria nun die Kraft zur Sündenvergebung nicht mehr ausdrücklich zuschreiben, sondern er bittet sie unverfänglicher nur um Hilfe zur Buße (D 50f.). Sein Beten schwankt zwischen hingebungsvoller Marienfrömmigkeit und dem Wissen um das, was theologisch zulässig ist. Wie stark sich aber trotz gelegentlicher Zurücknahmen das marianische Element in den Vordergrund drängt, zeigt die Formulierung von Wernhers Credo (D 52f.): Er hat an Marias Gottesmutterschaft nie gezweifelt. Sodann folgt eine ausführliche Begründung der Gnade Marias, zunächst durch den Verweis auf ihre vielfache Bewährung (D 55-58), dann vor allem durch die Erinnerung an die ihr selbst zuteil gewordene, unausdenkbar 1279große Gnade, die sie zur Weitergäbe verpflichtet (D 62-71) . Der Lobpreis Marias, zu dem dieser Teil des Gebets sich steigert, gipfelt in ihrer Anrufung als div obevtste
/ nach
gotes
magenchrefte
(D 72f.). Die Ein-
schränkung wirkt wie ein Nachgedanke, wie ein der theologischen Exaktheit halber gemachtes Zugeständnis, das wie ein Fremdkörper in diesem Marienpreis steht. Mit Vers D 76 sind dann die Bitten um Marias Hilfe beim Schreiben fast abgeschlossen, eine spätere kurze, sehr indirekt formulierte Bitte (D 136-etwa 140) bringt nichts Neues und klingt eher beiläufig; vielleicht geht es nun speziell um die besondere Schwierigkeit des Ubersetzens. Wie viele andere Dichter legt auch Wernher in seinen Eingangsgebeten das Hauptgewicht auf das Anliegen der Hilfe beim Schreiben. Das zweite Anliegen, das sich durch den ganzen Eingang zieht, das Gebet um Marias Gnade für alle, die sie anrufen, steht im Schatten dieses Zentralgedankens. Prinzipiell sind Wernhers Anrufungen daher als persönliche Gebete eines Dichters am Beginn seines Werks zu betrachten, und nur gelegentlich, wenn 1278 Da der Tau auf dem Schaffell auch auf die Gottesmutterschaft Marias gedeutet werden konnte - Wernher selbst verwendet das Bild in diesem Sinn in Vers D 76 -, lag die Übertragung gerade dieser Inspirationsmetapher auf Maria nahe. 1279 Die Mariologie des 12. Jahrhunderts kennt die Auffassung, die Maria geschehene Gnade verpflichte sie zur Hilfe. Sie findet sich zuerst bei Eadmer (+ 1124), einem Schüler Anselms von Canterbury (GRAEF, Maria, S. 200).
350
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
er sich von seinem didaktischen Temperament zur genauen Darlegung der Stoffgeschichte (D 77-119) oder zur gelehrten Erklärung der heilsgeschichtlichen Stellung Marias (D 28-44, mit stärkerem Akzent auf ihrem Sohn auch D 146-79) hat hinreißen lassen, erscheinen auch kurze Gebete, die das Publikum einbeziehen, Aufforderungen an die Hörergemeinde, zu Maria zu beten. An solchen Stellen spricht Wernher als Prediger, der seine Hörer zum Gebet ermahnt: D
23 nu schulen wände 25 daz mege unt
wir
44 wir
D 120
getruen, tode
büwen,
eilenden
wider uns
ir
in dem
si uns
zu dem
Ό
wir
heim
geruche vr$nen
gesenden wisen
paradise
-
schulen
sie
anrufen
got
geschuf
uns
uon
der
ist
unser
nv bittet
vater
sine
uns
hie
ν
flegen.
niehte, guter,
muter
daz
sie
behüte
mit
ir tvsentvaltiger
gvte.
Die Kürze dieser Gebetsaufforderungen ist ein Indiz dafür, daß sie nur homiletisches Beiwerk sind, das das zentrale Anliegen der Eingangsgebete, die Bitte um Marias Inspiration, nicht beeinträchtigen kann. Die zuletzt zitierte Gebetsaufforderung bietet zugleich noch einmal ein aufschlußreiches Beispiel dafür, aus wie radikal marianischer Perspektive hier gebetet wird: Die Verse D 120-24 vertreten das in vielen frühmittelhochdeutschen Eingangsgebeten übliche Schöpferlob; hier ist es nicht nur aufs äußerste gekürzt, sondern außerdem in charakteristischer Weise umgedeutet - der Schöpfer wird gesehen als Kind Marias, und nicht zu seinem Lob werden die Hörer aufgefordert, sondern zur Anrufung seiner Mutter. Insgesamt tritt Gott als Gebetsadressat in Wernhers Eingang völlig zurück. Wo er angerufen ist, bleibt das Gebet sehr kurz (D 174 des loben wir den heilant) oder ganz indirekt wie die wohl als Pflichtübung aufzufassende, auch syntaktisch unselbständige und daher wenig gewichtige Bitte um die Hilfe des Heiligen Geistes (D 184-86). Auf den Gebeten zu Gott liegt ein kaum stärkerer Akzent als auf der kurzen, ganz aus dem Rahmen fallenden Anrufung des Matthäus, Wernhers heiligen Ge-
351
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
währsmannes, der den Dichter an böswilligen Kritikern rächen soll (D 200) 1 2 8 0 . Hundert Jahre nach dem Priester Wernher, um 1270, hat sich längst ein Gebetseingang herausgebildet, der dem Dichter die Möglichkeit bietet, Gott und den Heiligen anzurufen, ohne daß der eine Adressat auf Kosten des anderen hervorgehoben werden müßte. So kann der Verfasser des zweiten deutschen Marienlebens, Walther von Rheinau, am Beginn seines Werks viel ausgewogener Gott und Maria um Hilfe bitten als der Priester Wernher. Er gibt beiden ihr Recht, das heißt er wahrt die Priorität Gottes, indem er an ihn seine hauptsächlichsten Bitten richtet, und wendet sich in zweiter Linie an die Gottesmutter als eine besonders verehrungswürdige, aber nicht wie beim Priester Wernher fast gottgleiche Heilige. Dies kommt sowohl in der Anordnung der Gebete als auch in ihren Anliegen zum Ausdruck. Walther, der wie der ältere Dichter in seinem 180 Verse langen, die ersten zwei Kapitel des Werks einnehmenden Eingang mehrere Gebete hat, beginnt mit einer Hinwendung zu Gott, speziell zu Christus, den er als mächtigen und unbegreiflichen Schöpfer und Beherrscher der Welt preist (6-11) und von dem er die Vergebung seiner Sünden sowie die Sendung des Heiligen Geistes erhofft (5,12-etwa 22). Erst danach spricht er Maria an, und zwar vorerst nicht mit einer Bitte, sondern mit der Widmung des Werks an die Gottesmutter (24-31). Aber wenn die Dichtung auch ihr zeiner
sunderire
(30)
verfaßt ist, so ist sie doch nicht nur Maria, sondern ebenso ihrem Sohn zugeeignet (23) . Hier zeigt sich, daß ganz anders als beim Priester Wernher Walthers Marienverehrung stets an seine Jesusfrömmigkeit gebunden bleibt; Walther verliert nie aus den Augen, daß Maria ihre Heiligkeit von Gott als Gnade geschenkt ist. Dementsprechend erwartet er von ihr auch nicht dieselbe Hilfe wie von Christus. Zwar bittet er auch sie um Beistand beim Schreiben:
1280 Die erst dem mittleren oder späten 13. Jahrhundert entstammende Fassung A, die sich in den Eingangsgebeten sonst wenig von D unterscheidet, hat als Schluß des Eingangs zudem ein Gebet zu Hieronymus:
A 186 des vns wol sol genvgen an sant Jeronimi teere! der ger&ohe wenden vnser in dem gotes namen 190 daz geschehe, amen.
saere.
Der späte Bearbeiter empfand das Ende des Eingangs ohne nochmalige Bitte offenbar als unschön. Er hat den glücklicherweise im vorletzten Vers von D (D 221) vorkommenden Namen dankbar aufgegriffen und ihm ein völlig unindividuelles und nichtssagendes Gebet angehängt, allein um der runderen Form willen.
352
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
80 Himels Sende
küniginne, mir die
Daz din
helfe
Zop diu
Gespreche
also,
Si lobelich
din,
zunge
min
daz ez dir
und nütze
mir!
Aber da er die Gottgegebenheit der Macht Marias stark akzentuiert - gleich im ersten Eingangskapitel legt er ausführlich dar, wie Gott an Maria handelt (37-58) -, verbietet es sich, unter der erbetenen helfe (81) eine von ihr selbständig gespendete Inspiration zu verstehen. Maria wirkt an der Aussendung der dichterischen Begnadung nur mit. Wie ihre Beteiligung genau zu denken ist, wird nicht deutlich; vielleicht stellt Walther sich die Gottesmutter als Vermittlerin der Inspiration dar. Wie beim Priester Wernher fehlen auch bei Walther Bezug auf sein Dichten nicht. Auch bei ihm sind sie ordneter Bedeutung, worauf formal ihre Verschiebung te der beiden Eingangskapitel hinweist. Wieder ruft nur gemeinsam mit Christus an: 122 Nu bitte
ich dich,
Und Jesum
din vil
vil süeziu liebez
Daz ir mir genaedec 125 Und von des Mich
entstricken.
Wan du vol genäden Von sünden
Der
Krist, bist,
mich
bekere
muoter
ere,
himelschen
kint,
stricken
Und du, gnaedigoster
130 Dur diner
meit,
sint
tiuvels
ruochet
Bitten ohne von untergeauf das zweiWalther Maria
künigin
-
Auch hier spielt Maria zwar eine wichtige Rolle, doch kann sie allein die Rettung vor den Nachstellungen des Teufels nicht gewähren; es bedarf dabei entscheidend der von Jesus gespendeten Gnaden. Walther von Rheinau hat sich also in der Frage, an wen er seine Eingangsgebete richten soll, anders und orthodoxer entschieden als hundert Jahre zuvor der Priester Wernher. Maria kann für ihn nur in Verbindung mit Christus helfen, an den sich ebenso intensive Gebete richten wie an seine Mutter. Vielleicht darf man hierin eine erste Auswirkung einer sich anbahnenden Veränderung des Gottesbilds erblicken, die die menschliche Seite Christi stärker akzentuiert und nun auch an Christus gerichtete ver-
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
353
traute Gebete möglich werden läßt, die vorher, seit der Vermenschlichung des Marienbildes im 12. Jahrhundert, vorwiegend Maria vorbehalten waren. Die neue Perspektive auf Christus deutet sich in Walthers Eingangsgebeten allerdings erst eben an. Der vertraute Ton der Anrufung ist zwar schon da (123 vil liebez kint, 127 gnaedigdster Krist), aber Jesus heißt zugleich auch heiliger Krist (5) und wird als machtvoller und letztlich unbegreiflicher Weltenherrscher gepriesen (6-11). Das bei Walther von Rheinau erreichte Gleichgewicht zwischen den Gebeten zu Gott und den Anrufungen Marias gewinnt trotz seiner inneren Logik keine Verbindlichkeit. In dem einige Jahrzehnte 1281 jüngeren Marienleben des Kartäuserbruders Philipp , das weiteste Verbreitung fand, ist es schon wieder verloren. Philipp ruft im Eingang ausschließlich Maria an und erwähnt Gott kaum, was um so bemerkenswerter ist, als sein Werk einen so umfangreichen Evangelienabriß enthält, 1282 daß es nicht weniger ein Christusleben als eine Marienvita ist . Der Verzicht auf ein Gebet zu Gott im Eingang hat seinen Grund nicht in einer Scheu des Verfassers, Gott mit seinen Sorgen zu behelligen, denn das Gottesbild, das an der einzigen Stelle des Gebets, die Gott nennt, aufscheint, ist nicht das des allmächtigen und ehrfurchtgebietenden Gottes, sondern das für das späte Mittelalter charakteristische, primär die menschliche Seite Jesu auffassende Bild Christi, der Marias Kind genannt wird (7). Aus dieser einzigen Erwähnung Gottes im ganzen Gebet ergibt sich nicht eine Bitte zu ihm, sondern lediglich die Hoffnung, durch das unternommene Werk seine Liebe zu verdienen. Im Mittelpunkt des Gebets steht als einziger Adressat eindeutig Maria. Vor allem ihre heilsgeschichtliche Bedeutung und ihre große Macht werden akzentuiert. Philipp schreibt ihr über das theologisch Akzeptierte sehr hinausgehende Verdienste zu: Ihr, nicht Christus, verleiht er den Ehrentitel Erlöserin der Menschheit (al der werlde loesaerinne, 2), und allein von ihr sieht er die dichterische Inspiration ausgehen, ohne daß Gott am Akt der Begnadung des Dichters in irgendeiner Form beteiligt wäre. Das eigentlich zu erwartende Verhältnis Marias und Gottes ist auf den Kopf gestellt: Mit Jesus assoziiert Philipp minne (7), also das sonst eher Maria zugeordnete mitleidige Erbarmen mit dem sündigen Menschen, während sich mit der Gottesmutter die Eigenschaften überirdischen Königtums (1 küneginne), 1281 Bruder Philipps des Carthäusers Marienleben, hg. von RÜCKERT. 1282 Die traditionelle Zuordnung dieses Werks zu den Marienleben gründet sich darauf, daß der Dichter selbst es als büecheltn / von der lieben vrouwen mtn (10078f.) bezeichnet.
354
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
der Weisheit
(8 wtsiu
meisterinne),
der
Heiligkeit
(11
von
dtner
grdzen heilikeit) und der Gnadenspendung (3, 15-22) verbinden. Diese soll sich nicht nur in der Aussendung der Inspiration, sondern auch in der Sündenvergebung realisieren, denn auch sie erwartet Philipp allein von Maria. Ähnlich wie fast anderthalb Jahrhunderte zuvor beim Priester Wernher überschreitet die Marienverehrung Philipps klar die Grenzen des kirchlich sanktio1283
nierten Marienkults Die bereits für die Eingangsgebete anderer geistlicher Dichtungen bemerkte Neigung zu größerer Kürze vom Beginn des 14. Jahrhunderts an zeigt sich im Marienleben des Bruders Philipp auch in der Mariendichtung. Sein Eingangsgebet ist zwar im Vergleich zu vielen Gebetseingängen von Heiligenlegenden dieser Zeit immer noch recht lang, gegenüber den einleitenden Anrufungen beim Priester Wernher und bei Walther von Rheinau mit nur 22 Versen, die einen einzigen Gebetskomplex bilden, jedoch durchaus kompakt. Den Ernst des Gebets, den seine Vorgänger durch variierende Ausgestaltung oder Wiederholung ihrer Anliegen vermittelten, deutet Philipp durch einen besonderen formalen Schmuck der ersten acht Verse seines Gebets an, die alle auf denselben Reim enden. Noch weiter als bei Philipp geht die Reduktion des Gebetsumfangs im Eingang des spätesten deutschen Marienlebens, der erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verfaßten Marienvita des Schweizers Wernher. Das Gebet umfaßt hier nur neun Verses 1
Der So
5
den
hymel
wunneklich
Mit
dem
Und
iegliahes
florieret,
gestirne
Uff
einen
Das
es
Der
wide
priset wiset
weg
nacht
verirren ooh
Zedern besten Uff
zieret,
sinen
weg
und
nüt
und min den
tag,
enmag,
richte gedichte rechten
ker
-
1283 Ähnlich große Macht wie Philipp gesteht Maria nur eine Minderheit von Theologen zu. Den extremsten Standpunkt nimmt Richard von Saint Laurent (+ nach 1245) ein, der sogar von der Allmacht der Gottesmutter spricht (GRAEF, S. 245). Etwas verbreiteter ist eine gemäßigtere Auffassung, die Maria mütterliche Autorität über Christus zuerkennt (Guibert de Nogent, + 1124; Gottfried von VendÖme, + 1132; Konrad von Sachsen, + 1279; GRAEF, S. 207, 263). Hingegen sehen die einflußreichsten Theologen - Anselm von Canterbury (+ 1109), Albertus Magnus (+ 1280) und Duns Scotus (+ 1308) Maria als Fürsprecherin, die aus eigener Macht keine Sünden vergeben kann. Duns Scotus lehnt zudem den Gedanken, Maria könne ihrem Sohn kraft ihrer mütterlichen Autorität einen Gnadenerweis 'befehlen' , ausdrücklich ab (GRAEF, S. 195, 251, 273).
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
355
Diese Anrufung bildet den genauen Gegenpol zu denen Priester Wernhers und Bruder Philipps. Jeder marianische Bezug fehlt vollständig. Der Schweizer Wernher greift auf das seit Wolfram in das Eingangsgebet wiedereingeführte Motiv des Schöpferpreises zurück und richtet seine Inspirationsbitte an den Lenker der Welt, ohne Maria auch nur zu nennen. Wie anderen geistlichen Werken können auch Mariendichtungen Eingangsgebete fehlen. Das in einer Grazer Handschrift überlie1284 ferte Marienleben (um 1250) besitzt ebensowenig eine einleitende Anrufung wie die drei in Königsberg gefundenen, zusammen eine Marienvita bildenden Gedichte 1 2 β 5 , die wohl ebenfalls um die Mitte des 13. Jahrhunderts verfaßt sind. Während für das unmit1286 telbar mit der Erzählung einsetzende Grazer Marienleben denkbar ist, daß seinem Vortrag einige frei formulierte Eingangsworte vorausgeschickt wurden, die auch ein Gebet enthalten haben mögen, wie es vor geistlichen Rezitationen im halbliturgischen Raum üblich war, besteht für die Marienvita aus Königsberg diese Möglichkeit kaum, denn sie beginnt mit einer kurzen Ermahnung des 1287 Publikums zu aufmerksamem Zuhören ; daß dieser Bitte um Ruhe ein Gebet vorhergegangen sein sollte, ist schwer vorstellbar. Wenn der gebetslose Eingang überhaupt einer Erklärung bedarf - er ist ja durchaus eine gebräuchliche Möglichkeit, eine geistliche Dichtung zu beginnen -, so ist auf das Vorbild der "Vita rhythmica" zu verweisen, deren Verfasser zwar zu Beginn 1288 die Anwesenheit des Heiligen Geistes in seinem Werk beteuert , jedoch weder ihn noch Gott noch Maria in einem Eingangsgebet anruft. Die "Vita rhythmica" erklärt jedoch nicht den gebetslosen Einsatz mehrerer Marienlegenden, die als Bericht von Ausschnitten aus dem Leben der Gottesmutter oder als Mirakelerzählungen nicht mit der "Vita rhythmica" vergleichbar sind. Unter ihnen haben im 1289 13. Jahrhundert die Himmelfahrtslegende Konrads von Heimesfurt , die un12 90 ter dem Namen "Thomas von Kandelberg" gehende Erzählung von 1284 Grazer Marienleben, hg. von SCHÖNBACH. 1285 Das Marienleben der Königsberger Hs. 905, hg. von HINDERER.
1286 1 Ez was hie vor ein edel man, der gote was gerltoh undertän und gar gehorsam stme geböte. 1287 1 Nu weset ein lutzel stille und vernemet dat iah uah wille an disen boke duden 1288 ZI Que pro laude virginis Marie oompilavi, Et per donum spiritus sancti aonsumavi. 1289 Mariae Himmelfahrt von Konrad von Heimesfurt, hg. von PFEIFFER. Allenfalls aus Konrads demütiger Selbstverkleinerung (20-26) und der intensi-
ven Beteuerung seiner Hoffnung, daz got des armen willen hat / für eines rtahen argen tat (29f.) könnte man die implizite Bitte um gnädige Aufnahme des Gedichts herauslesen. 1290 SCHOLL, Thomas von Kandelberg.
356
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
EINGANGSGEBETE
einem Marienwunder und ein "Büchlein von der Himmelfahrt Ma1291 riae" , im 14. Jahrhundert etwa der "Frauentrost" Siegfrieds 1292 des Dorfers kein Eingangsgebet. Äußerst selten sind Eingangsbitten auch in Marienlegenden in Sammlungen.1293 Im "Alten Passional" zeigt nur die Legende "Maria im Turnier" einen kurzen einleitenden Anruf zum Gebet: 1
Marien, sul wir vil
der vrouwen
in rechter
lobes
stete
gut,
demut
mezzen!
Dies ist jedoch wohl eher eine Mahnung, die Verehrung der Gottesmutter nicht zu vernachlässigen, als eine Aufforderung, vor der Lektüre oder dem Hören des Gedichts ein stilles Gebet zu Maria zu schicken. Nur etwa die Hälfte aller Marienlegenden beginnt mit einer Anrufung. Sie ist meist im Einklang mit dem relativ geringen Umfang der Gedichte ziemlich kurz. Oft erbittet der Verfasser Ma1 294 rias Hilfe im Dichten, so der der Bonuslegende : 6 da soltu
mtnen
daz ich dich 12 mtn
zungen
und süeze sues
sin zuo
lob nach
mir den
strecken, dtnem
rehte.
-
geleite liuten
ich in dtnem
15 du himelischiu
mtne
lobe
stimme,
beginne,
küniginne.
Während hier Maria selbst die Inspiration gewährt, besteht die 12 95 Hilfe im Dichten, die im Eingang des "Jüdel" erbeten wird, in ihrem Eintreten für den Dichter bei Gott, wobei zwischen ihrer Bitte an Gott(vater) und ihrem Gebot an ihren Sohn unterschieden wird: 15 Nv gedinge
ich helfe
20 wan daz iah waeiz Datze
himel
si gebivtet Daz bediu
an sei. -
daz si
bet vnt
hat.
gebot,
ir sun vnt bitet helfen
mit
got.
darzu.
1 2 9 1 Büchlein von der Himmelfahrt Mariae (Altdeutsche Texte aus Breslau, hg. von KLEPPER). 1 2 9 2 Frauentrost von Siegfried dem Dorfer, hg. von PFEIFFER. 1 2 9 3 Marienlegenden aus dem Alten Passional, hg. von RICHERT, S. 2 6 - 2 9 . 1 2 9 4 Bonus, h g . von HAUPT. 1 2 9 5 Daz Jüdel (MEYER-BENFEY, Mittelhochdeutsche Übungsstücke, S. 8 4 - 9 6 ) .
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
das ich der werlt 25 Ein genade
die
ahunt
si
357
getu.
begie.
Zu den Bitten zu Maria treten in der Regel preisende Elemente hinzu, entweder in Form hymnischer Umschreibungen ihres Namens (so im "Bonus", wo Maria küniginne
aller
magene , 4, und du
himelischiu küniginne, 15, heißt) oder als längeres, von den Bitten abgesetztes Marienlob wie im "Jüdel", wo der Lobpreis dem Bittgebet vorhergeht: 5 Muter
vnt maget
genaden
wider
dv got werden
muter
gedachte.
Daz inder vnt sich
des weis wste nicht
trovt.
vnt sein
des wtundes
gelaeite
haeil.
brachte,
ir sun vnt ir
10 si gotes Stern
maeil.
vol daz erste
Oer werlde
Bediv
ane
mer. losen
irre wan
brovt.
hers.
vert. ir genaden
nert.
Obwohl im "Jüdel" und im "Bonus" das Marienlob eng mit dem Bittgebet zusammenhängt, wird die Gottesmutter nicht ausschließlich für die Gnade gepriesen, die sie den Menschen erweisen kann, sondern ein mindestens ebenso starker Akzent liegt auf ihrer himmlischen Herrlichkeit. Nicht in jeder Marienlegende ruft das Eingangsgebet Maria an. Heinrich Cluzenere wendet sich mit seiner Bitte um sinne und kunst an den allmächtigen Weltenherrscher (1-7), und die Himmelfahrtslegende hat zwar im Eingang ein längeres Marienlob (114-29), richtet aber ihre Bitten (denen es nicht nur um die Inspiration, sondern auch um das ewige Leben geht, so daß sie das Publikum teilweise einbeziehen) ausschließlich an Gott. Zwar bleibt Maria in diesem Zusammenhang nicht ganz außer acht; Gott soll die Menschen dvrch
die maget
lieht
gevar
(201) erretten, und das ganze
Werk ist überhaupt um Marias willen unternommen worden (203-06), aber insgesamt liegt viel größeres Gewicht als auf Maria auf dem Heilswirken ihres Sohnes, und zwar, in Anlehnung an den "Willehalm"-Eingang, vor allem auf der Gotteskindschaft der Christen und ihrer Namensgleichheit mit Christus, also keineswegs auf den
1296 Marienlegende von Heinrich Cluzenere BARTSCH).
(Mitteldeutsche Gedichte, hg. von
358
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
EINGANGSGEBETE
marianischen Aspekten der Erlösung. Auch in Marienlegenden wird das Eingangsgebet zur Gottesmutter nicht zur unumstößlichen Regel; wie in den Marienleben kann es durch eine Anrufung Gottes 1297 ersetzt werden , oder das Gebet im Eingang fehlt ganz. Neben den Marienleben und -legenden stehen im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert drei große nicht erzählende Werke über die Gottesmutter: das "Rheinische Marienlob" 12 98 (um 1220), die 12 99 "Goldene Schmiede" Konrads von Würzburg (1275/77) und, im niederdeutschen Sprachraum, Könemanns "Wurzgarten Mariens"1 (1304). Alle drei verstehen sich als Lobgedichte und bemühen sich, Marias Herrlichkeit und Würde auch in der sprachlichen Gestaltung anzudeuten. Im Vergleich zu den Marienleben, mit denen sich der "Wurzgarten" und das "Rheinische Marienlob" vom Umfang her durchaus messen können, erhöht sich die Schwierigkeit des Unternehmens damit um eine Dimension, denn es geht nun nicht mehr nur um inhaltliche Richtigkeit, sondern auch um größtmögliche sprachliche Schönheit. Vor dem Hintergrund dieser gesteigerten Anforderungen an das Gestaltungsvermögen der Dichter ist es nicht erstaunlich, daß alle drei ihrem Werk ein umfangreiches Eingangsgebet vorausschicken. Jede der drei großen Lobdichtungen findet für ihr Eingangsgebet zu einer eigenen Form und einem eigenen Ton. Am kompliziertesten
1297 Umgekehrt kann auch eine Legende, in der Maria keine Rolle spielt, von einem Gebet eingeleitet werden, das sehr starke marianische Elemente besitzt. Am krassesten ist dies wohl im Mirakel "Mönch Felix" (MEYER-BENFEY, Mittelhochdeutsche Übungsstücke, S. 96-108) der Fall, das von einem von Gott gewirkten Wunder erzählt und in dem sich Inspirationsbitte und Lobgebet im Eingang trotzdem an Maria richten:
1 Aller meide gimme Svze wort vnde stimme Gerüche mir vrowe zv geben Daz iah eines mvnahes leben 5 Mvze also beschriben Daz iah ane svnde belibe Iah meine dich marie Du bist ein mait vrie Geborn von kuniklicher art 10 Isn wirt noch enwart Nimmer mait dir gelich Dv bist ein vrcwe in himelriah Des la mich geniezzen Wen ich denk entsliezzen IS Ein red die beslossen waz Das gelegentliche Übergreifen von Marienanrufungen auf Gedichte ganz anderen Inhalts ist ein Indiz für die Popularität, die die Verehrung der Gottesmutter im 13. Jahrhundert gewinnt. 1298 Das Rheinische Marienlob, hg. von BACH. 1299 Die Goldene Schmiede des Konrad von Würzburg, hg. von EDWARD SCHRÖDER. 1300 Der Wurzgarten Mariens (Die Dichtungen Könemanns, hg. von WOLFF, S. 125-306).
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
359
ist das des "Rheinischen Marienlobs", dessen ganz von Gebeten gebildeter Eingang aus 16 vierversigen, jeweils durch identischen Reim konstituierten Strophen besteht, die in strenger Symmetrie so zu drei Sinnabschnitten vereinigt sind, daß ein sechsstrophiges Gebet des Verfassers zu Christus (21-44) von zwei jeweils fünf Strophen langen Anrufungen Marias (1-20, 45-64) umgeben ist, von denen der Dichter nur die zweite selbst zu sprechen vorgibt, während in der ersten sein Werk sich in einer 'Rede des Buches' selbst der Gottesmutter unterstellt. Die Strophenanfänge des zweiten und dritten Gebets, also der Gebete, die der Dichter spricht, bilden jeweils ein Akrostichon des Namens des Adressaten, JHESWS (Str. 6-11) und MARIA (Str. 12-16). In dieser dreigliedrigen Struktur des Eingangs fällt durch ihre Zentralstellung und ihren größeren Umfang auf die Anrufung Jesu etwas mehr Gewicht als auf die Gebete zu Maria. Die Form des Eingangs deutet an, daß auch in einem Marienlob Gott die eigentliche Hauptrolle zukommt, denn nicht durch eigenes Verdienst, sondern durch göttliche Erwählung hat Maria ihre Heiligkeit erlangt. Im Bau des Eingangs spiegelt sich das Marienbild, das das ganze Gedicht bestimmt: Marias Heiligkeit ist nicht ihr Verdienst, sondern eine Gnade, die ihr in so reichem Maße zuteil geworden ist, daß ihre Gottbezogenheit nun die aller Heiligen und selbst der Engel übersteigt. Erst durch Gottes Handeln an ihr ist sie "die Gott beispielhaft liebende, strahlende Himmelkönigin" geworden, als die das "Rheinische Marienlob" sie preist. Das drückt sich im Eingang auch in der Anordnung der Gebete aus: Nachdem der Dichter sein Werk hat sprechen lassen, wendet er sich zunächst Christus und erst danach Maria zu. Wie nicht anders zu erwarten, verbinden sich in den Eingangsgebeten des "Rheinischen Marienlobs" Lob und Bitte. Die erste Anrufung, das Gebet des Buches (1-20), zerfällt in zwei Teile, deren einer Maria preist, während der andere ihre Gnade auf den Dichter und sein Werk herabruft. Bei genauem Hinsehen erweist sich die Symmetrie als nicht ganz exakt: Die Bitten umfassen mit 11 Versen (10-20) zwei Zeilen mehr als das Lob (1-9). Dies ist eine bescheidene Andeutung, wie nötig der Verfasser die Gnade Marias zu haben glaubt, ein Ausweis seiner Demut, die sich natürlich auch darin zeigt, daß er den Eingang nicht mit einem Auftritt in eigener Person beginnt, sondern sich zunächst hinter seinem Werk verbirgt^" 2 . Indem er zuerst sein Buch für ihn bitten läßt, deutet 1301 LORENZ, Marienbild, S. 148. 1302 Vom Inhalt des Gebets des Buches her wäre seine Stellung am Werkanfang eher unlogisch, denn es handelt sich nicht um Inspirationsbitten, sondern um Bitten für das fernere Schicksal des Buchs und seines Verfassers, die
360
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
er jedoch andererseits zugleich an, daß sein Werk das Mittel ist, durch das er Gnade zu gewinnen hofft. Bei aller Demut vertraut er auf das durch sein Gedicht erworbene geistliche Verdienst. Tatsächlich sind die Bitten des Buches an Maria nicht bescheiden, erhoffen sie doch neben ihrem Schutz gegen die Schmähungen böser Zungen und die 'Bisse' der 'Zähne' der Neider die ewige Dauer des Buchs (11 Hilp mir, dat iah blive eweliah) und das ewige Leben (20) für den Verfasser, seinen Vater (17). Getreu der das Werk bestimmenden Auffassung Marias als in unübertrefflichem Grade auf Gott Bezogene und von ihm Geheiligte hebt die Rede des Buches in ihrem lobenden Teil nicht Marias Rolle als Fürsprecherin hervor, sondern die ihr durch Gottes Erwählung zukommende Herrlichkeit. Der Verfasser läßt sein Buch stellvertretend für ihn selbst Maria preisen als vom Heiligen Geist Begnadete (3), als Gottesmutter (8), als Mutter und Jungfrau (12) und dann nochmals als Gebärerin des leidenden und des verklärten Christus
(16 Müder
's roden
Jhesu
ind
des
wizen^^^)
. Obwohl
Ma-
ria so gewissermaßen in theologisch-abstrakter Ferne verbleibt, kennzeichnet die Bitten des Buches doch der hochemotionale Ton der Marienmystik: 9
Heiige
Maria,
Löfsame,
17
Hilp
mir, müder
min
dinen
an
in
im
diah!
minne
iah
ind
in,
Entfeng Zu
dat
kneaht,
Beken
loven
minsame,
Mild
Din
iah
blive
maget
vader, si
sin
der
vröuden
mich! ewelich, süverliah!
si
dir
nam
reiner geruah
bevolen,
verholen! minnen in
kolen,
geholen!
Als in vorbildlicher Weise Gott Liebende und von ihm Wiedergeliebte liebt Maria auch die Menschen, die sie und ihren Sohn verehren (10). Indem ihre Liebe sich dem Verfasser mitteilen soll (19), soll sie die Brücke schlagen zwischen seiner sündigen Unvoll komme nhe it und der Freude des Himmels, in dem Maria als Königin über allen Heiligen und Engeln thront. den Abschluß des Gedichts voraussetzen und deshalb natürlicher im Schluß stünden. Daß der Verfasser dennoch mit ihnen beginnt, zeigt, daß er um jeden Preis vermeiden will, im allerersten Teil des Werks selbst in Erscheinung zu treten. Daß er seinen Namen verschweigt, deutet in dieselbe Richtung - eine Selbstnennung könnte als sündiger Dichterstolz ausgelegt werden, und vor Maria ist seine Identität ohnehin unverborgen (18). 1303 Zur Deutung der Farben BACH, Einleitung (Das Rheinische Marienloh) S. XLV.
361
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
Wie Maria in der Rede des Buches ausschließlich im Hinblick auf ihre göttliche Erwähltheit gepriesen wird, so hat andererseits das Christuslob in der folgenden Anrufung Jesu (21-44), in der der Dichter die Fiktion der Buchrede aufgibt, eine starke marianische Komponente. Gleich im ersten Vers (21) preist der Beter Jesus als der reinster müder kint·, später erbittet er seine Hilfe durch diner müder ere (25) und stellt ausdrücklich fest, daß Christus ein Edel kint van beiden halven
(29) sei, daß also nicht nur
seiner göttlichen Natur, sondern auch seiner aus Maria angenommenen Menschheit das Prädikat der Edelheit zukommt. Auch die Formulierung des Gebetsanliegens in der Anrufung Christi ist deutlich marianisch beeinflußt: Der Verfasser nennt sich nochmals einen Knecht Marias (35, vgl. 17) und spielt metaphorisch auf die apokryphe Erzählung von der Erwählung Josephs zum Mann Marias an (31f. Geruch min dürre herze salven, / Dat ich ouch entgrun in allen halven !) . Die Bitten des Dichters an Christus richten sich ausschließlich auf die von ihm ausgehende Inspiration. Sie wird verstanden als Wirkung seiner Weisheit (23, 27, 37), die den Beter belehren (36), und seiner Liebe (24, 43), die das Eisherz des Dichters zum Schmelzen bringen soll (39). Wie zuvor zu Maria stellt sich nun auch zu Christus eine Beziehung gegenseitiger Liebe her; wie seine Mutter ist auch Christus in seiner Herrlichkeit dem Sünder zwar fern, aber nicht unerreichbar, wenn er ihn um die Kraft der Liebe bittet. So ist der Ton seiner Bitten zu Christus genauso inständig und vertrauensvoll wie vorher der der Bitten des Buches zu Maria. Der trotz allem bestehende Rangunterschied zwischen Christus und der Gottesmutter deutet sich nur unauffällig an vor allem im Formalen (Zentralstellung und größerer Umfang des Christusgebets), aber auch darin, daß der Dichter mit Bitten um das ewige Leben, also für seine eigene Person, nur vor Maria zu treten wagt (20), während er zu Christus ausschließlich um das Gelingen des Werks und damit der Verherrlichung Gottes und der Gottesmutter betet. Im dritten Eingangsgebet
(45-64) bittet der Dichter dann auch
Maria um Hilfe für sein Schreiben. Dieses Anliegen war in der Rede des Buches ausgespart geblieben. Etwas stärker als zuvor erscheint Maria nun auch in ihrer Funktion als Beistand der Menschen, so gleich im ersten Vers und also stark betont als Mutter der Barmherzigkeit
(45) . Aber dieser erste Vers ist nur scheinbar
programmatisch, denn wie in den vorhergehenden zwei Gebeten ist auch hier wieder Marias fast gottgleiche Herrlichkeit reinst an got aleine, 60 Atlergeweldigst
keiserinne,
(49 Aller61 Aller-
362
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
schönst van himelriehe) viel stärker akzentuiert, wobei nun sehr deutlich ausgesprochen wird, daß sie ihre Würde nicht eigenem Verdienst, sondern der Gnade Gottes verdankt (50 Oes gud dich hat gemacht so reine). Aus dem Wissen, daß Maria auch die Menschen liebt, leitet der Beter die Bitte ab, sie möge das um ihrer Liebe willen unternommene Werk mit ihrer Liebe begnaden und als Mariendienst minnencliche (63) annehmen. Diese Gnade soll sich manifestieren in der Läuterung des Herzens des Dichters: 52 Reinich
min
herz
Dv am herzen
anegin
Gif mim herzen Dat it ze dim
van aller
al
bosheit,
entfeit! reinicheit,
love si
bereit!
und sodann in der Lenkung der sinne geleide!
59 Nim in dine
hant al mine
(46 Kum, sinne).
suze,
seif wirt
Beide Gnaden
min
spendet
Maria selbst, ihre Rolle ist also nicht nur auf die Gnadenvermittlung beschränkt. Dennoch sollen, wie die erste Strophe zeigt, Christus und Maria im Inspirationsakt und in der vorherigen Reinigung von allen Sünden zusammenwirken (47 Din sun ind du, geleit mich beide). Aber der Dichter denkt nicht an die Weitergabe einer von Christus ausgehenden Gnade durch Maria, sondern er scheint sich zwei parallel verlaufende Gnadenströme vorzustellen. Diese sind jedoch nicht voneinander unabhängig; die Beziehung Marias auf Christus ist im "Rheinischen Marienlob" so eng, daß die Gottesmutter nur da Gnaden gewährt, wo ihr Sohn gleichfalls seinen Beistand spendet, und daß umgekehrt überall dort wo Maria helfend eingreift die Gnade Christi nicht fehlen kann. Der Gebetseingang des "Rheinischen Marienlobs" ist sicher einer der am bewußtesten gestalteten im deutschen Mittelalter überhaupt Seine Komplexität erweist etwa sein Umgang mit dem Demutsmotiv: Um nicht am Werkbeginn von sich selbst reden zu müssen, läßt der Autor sein Buch das erste Gebet sprechen; schon dies ist ein in der deutschen Dichtung des Mittelalters einmaliger Kunstgriff. Dieser Demutsgeste scheint die selbstbewußte Bitte um ewige Dauer für das Werk (11) zu widersprechen, doch ist der Widerspruch nur scheinbar, denn es geht dem Verfasser ja nicht um Ruhm für sich selbst, sondern für die in seinem Werk verherrlichte Gottesmutter. Das Argumentationsmuster ist hochparadox: Ein seine Bescheidenheit so augenfällig wie wenige andere demonstrierender Autor entpuppt sich als durchaus selbstbewußt und schließlich doch als demütig. Nicht weniger subtil ist die Art und Weise, in der der Verfasser im Eingang sein Marien- und Christusbild zeichnet.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
363
Hierbei wirken Inhalt und Form in wiederum paradoxer Weise zusammen. Denn während in jedem der drei Gebete nur ein Adressat angerufen wird und sich kein Gebet an Jesus und Maria gemeinsam richtet, entspricht dieser formalen Trennung keine gedankliche, sondern im Gegenteil ein reales Miteinander, denn Maria und Christus werden kaum je allein, ohne Bezug auf den anderen, gedacht: Christus wird stets gepriesen als Kind Marias und soll seinen Beistand um seiner Mutter willen gewähren; Maria wird gelobt als von Gott für ihre Mitwirkung am Erlösungswerk Christi Geheiligte (womit der Zentralgedanke des Werks bereits für seinen Eingang bestimmend ist). Die paradoxe Struktur, die wie für das Nebenmotiv der Demutsbeteuerung also mit der Widerlegung der Form durch den Inhalt auch für einen Zentralgedanken des Eingangs nachgewiesen werden kann, ist sicher gemeint als Hinweis auf die alles dem Menschen Faßbare übersteigende Gnade, die Gott Maria hat zuteil werden lassen und die Thema des ganzen Werks ist. In ihrem Vertrauen auf die Aussagekraft rhetorischer Gestaltung ist dem "Rheinischen Marienlob" die "Goldene Schmiede" Konrads von Würzburg an die Seite zu stellen. Diese 1000 Reimverspaare lange hymnische Kette erlesener Bilder für Maria stellt im Rahmen einer Untersuchung von Eingangsgebeten zunächst das Problem, aus der ganz in Form der Anrede an Maria abgefaßten Dichtung ein Eingangsgebet auszugrenzen. Die zwei hierfür entscheidenden Hinweise gibt der Autor selbst, indem er in den Versen 137 und 138 feststellt, erst nun mit dem eigentlichen Marienlob zu beginnen , und außerdem zwischen diesen Versen die sonst fast ausnahmslos durchgehaltene Reimbrechung aussetzen läßt 1 3 0 5 . Die ersten 138 Verse sind also als Eingangsgebet zu interpretieren. Dieses Eingangsgebet läßt sich seinem Gedankengang nach in zwei Teile gliedern, die sich ihrerseits wieder aus jeweils drei Unterabschnitten aufbauen. Der Autor hat diese Gliederung nicht durch formale Hinweise unterstrichen, im Gegenteil, Konrad strebt gerade danach, die Sinnabschnittsgrenzen durch unablässige Reimbrechung zu überspielen. Von den beiden Großabschnitten behandelt der erste (1-105) die Unmöglichkeit, Maria angemessen zu preisen, während der zweite (106-38) daraus in Gestalt eines Gebets um Marias Beistand im Dichten die persönlichen Folgerungen für den Verfasser ableitet. Die Unmöglichkeit eines seinem Gegenstand gemäßen Marienlobs wird zunächst beleuchtet von der Individualität
1304 137 so hebe iah din top mit 1305 Zur Deutung des GANZ, "Nur eine
künsteloser man reinem willen an. Aussetzens der Reimbrechung als Gliederungsmittel schöne Kunstfigur", S. 29.
364
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
des Autors her, dessen Kunstfertigkeit dieser Aufgabe nicht gewachsen sei (1-15) ; danach weitet sich die Perspektive ins Theologisch-Prinzipielle mit der grundsätzlichen Feststellung, es könne überhaupt kein von einem Menschen verfaßtes Lob Marias Herrlichkeit gerecht werden (16-73); und als Abschluß des ersten Eingangsteils kehrt Konrad nochmals zur Beteuerung seiner unzulänglichen persönlichen Fähigkeiten zurück (74-105). Sodann beginnt das Gebet um Beistand im Dichten mit der Bitte um die Erlaubnis, sich trotzdem an einem Marienlob versuchen zu dürfen (106-15)
;
es folgt konsequent das Gebet um Nachsicht für den Fall des Scheiterns und um die Hilfe der Gottesmutter für den kühnen Versuch (116-27); und der Eingang endet schließlich mit der Begründung, warum der Dichter Maria preisen wolle, obwohl er nur ein
tore
(130) sei (128-38). So läßt sich jeder Abschnitt des Eingangsgebets leicht in diskursives Sprechen, in eine ihrem Gehalt nach nicht einmal originelle Aussage übersetzen, ohne daß dabei irgendwelche Nuancen des Sinnes verlorengehen. Wovon die diskursive Übertragung abstrahiert, ist lediglich die unermüdliche, nie unterbrochene metaphorische Variation 130 ^, die im Eingang und im ganzen Werk das eigentliche Wesen des Gedichts ausmacht. Ihre Absicht ist nicht das möglichst vollständige Erfassen der Gestalt der Gottesmutter von allen Seiten her; es ist nicht so, daß jedes Bild einen spezifischen Aspekt Marias bezeichnete, die alle zusammen erst die ganze Wahrheit ergäben. Vielmehr sagen alle Bilder nur immer wieder dasselbe: Maria als hohiu
himelkeiserin
(6)
ist in ihrer Herrlichkeit über alle Maßen und über jedes Lob hinaus preiswürdig. Einen Eindruck von Konrads Realisierung dieses Glaubenssatzes in poetischer Sprache kann nur ein längeres Zitat geben:
24 so min gedano uf
ze dime
wil
gahen
werden
lobe,
so sweimet reht
als
ez dem himel ein
flüokez
obe vederspil:
1306 Am überraschendsten gefaßt im folgenden Bild:
108 la mich, an witzen ein getwero, loufen uf der Sprüche wisen, da der vil hohen künste risen din lap nu breahent alle. 1307 Neben der lange bemerkten Orientierung an Gottfried sind in Konrads Sprache auch - vielleicht vermittelte - Einflüsse Wolframs zu erkennen: Die Metaphorik der Höhe und Tiefe in den Versen 16-33 und die ganze anschließende kosmische Bildlichkeit (34-53) geht letztlich auf den "Willehalm"-Eingang zurück. Konrad handhabt das dort Vorgefundene -aber viel freier als die meisten anderen Entlehner dieser Motive.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
swenn
aber
ich hieniden
mit gedanken SO so reiahet
siner
für allez sin ende grüeb
tiefe
fünde,
und daz
halmen
mit
tiefer
mit
eime
eime
Wirde
mit Worten
e den
niht
e man din
din
sin
versiudet geslehte,
lop ze
rehte erkirne,
gestirne
und der sunnen
50 und allen
griez
durnehtealiahen
und allez hat
din pris
siner
glas
übergiudet.
so man nu daz
so wirt
adamas
ein dünnez
ere
biz an den grünt
gerechent
ort
stehelin),
hohen
daz mer man e 45 und allez
ein
vinde.
sieget
e man die
durbort,
linde
man
40 (und briahet
dillestein. helfenbein
e
rede
blie
durohgrebt
nach
mez
iah biz uf den
e daz man diner
mit
ez,
iah niemer
mit
wil
abgründe;
der marmel 35 wirt
suoehen
365
ganzen
stoup, loup
gezelt,
alrerst
besahelt
Wirde.
Schon in den ersten vier zitierten Versen ist die Aussage des ganzen langen Abschnitts enthalten, die 26 folgenden fügen ihr nichts hinzu. Man kann das rhetorischen Leerlauf nennen und die bloß ornamentale Funktion der Bildlichkeit bedauern. Aber damit geht man am wesentlichen vorbei. Denn der übergroße Reichtum des Bilderschmucks, mit dem Maria umgeben wird, ist, jenseits der pleonastischen Identität der Aussagen der Einzelbilder, selbst wieder durchaus aussagekräftig: Er illustriert, welch äußerste Anstrengung seiner Kunst der Autor für notwendig hält, um Maria zu verherrlichen. Daß er selbst dann noch hinter seiner Aufgabe zurückbleiben muß, ist der praktische Erweis der jedes Lob übersteigenden Herrlichkeit der Gottesmutter. Die Tatsache, daß das Eingangsgebet ebensogut wie der Hauptteil des Gedichts an der Demonstration der Richtigkeit dieses theologischen Satzes im poetischen Vollzug beteiligt ist, gibt ihm einen anderen Stellenwert als in anderen Dichtungen: Weniger als sonst ist es Vorspann,
366
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
viel stärker integraler Bestandteil des Werks. Mit dem Marienleben Walthers von Rheinau und dem "Rheinischen Marienlob" begegneten bereits zweimal große Mariendichtungen, die bei aller Intensität der Marienverehrung in ihren Eingangsgebeten nicht vergaßen, daß die Macht der Gottesmutter auf der ihr von Gott geschenkten Gnade beruht. Ein drittes Beispiel hierfür bietet Könemanns "Wurzgarten Mariens". Dadurch daß das Marienlob im "Wurzgarten" eingebettet ist in den übergreifenden Zusammenhang eines Uberblicks über die ganze Heilsgeschichte, erhält sein Eingangsgebet einen starken christologischen Akzent. Anders als im "Rheinischen Marienlob" oder in der "Goldenen Schmiede" zielt das Eingangsgebet Könemanns nicht auf das emotionale Engagement der Hörer oder Leser. Es erhebt sich nicht zu hymnischem Uberschwang, sondern wägt rational ab, wann Maria zu preisen ist (nämlich erst an zweiter Stelle nach Christus, 18f.) , und worum sie gebeten werden darf. Das hat Konsequenzen für die Struktur des Gebets: Da der Dichter sich stets bewußt bleibt, daß Marias Macht von ihrem Sohn ausgeht, steht am Anfang des ziemlich langen Eingangsgebets 1308 ein Lob- und Bittgebet zu Christus 1 30 9 (1-17), und erst danach folgt eine Anrufung der Gottesmutter (18-41). Ganz entsprechend klingt der Eingang auch nicht mit einem Mariengebet, sondern mit einem Lob- und Bittgebet zu Christus aus (66-94) , der so Anfang und Ende des Eingangs beherrscht. Maria erscheint durchweg in christologischer Perspektive. Nicht nur wird sie ausschließlich im Hinblick auf ihre Rolle im Erlösungswerk Christi gepriesen (19 Dyner Ghebarest,
moder
moder
unde
Marien,
maget!),
64f. De dar
kynt
sunder
man /
sondern das Eingangsgebet stellt
darüber hinaus ganz explizit fest, daß Marienlob immer auch Christuslob sei: 27 Dat ik
hijr
myt
Dyn unde
syn
Dat also
lyt
30 Swat
man dir
Dat ys
syn
dyohte
loff
berichte,
voreynet: loves sunder
saheynet, wan.
1308 Von den 75 Versen der vorrede (75) gehören 56 (1-41, 60-74) zu Gebeten. 1309 In den Anreden Christi wird mehrfach auf die ganze Trinität angespielt, indem dem Sohn die Appropriationen des Vaters und des Geistes als Eigenschaften zugeschrieben werden. Christus, die wysheyt (1, 67), besitzt
auch
Sterke
(7) und macht
(11); er ist nicht nur wys
(71), wie es ihm
nach dem Appropriationenschema zukäme, sondern ebenso gheweldich und mylde (71). Einmal wird Christus sogar mit der Trinität in eins ge-
setzt; die Dreifaltigkeitsformel Vader, 17 eindeutig den Sohn Marias.
sone,
hilge
geyst
meint in Vers
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
367
Entsprechend der Betonung ihrer Einbindung in den Heilsplan Gottes ruft Könemann Maria als Fürsprecherin an, die nicht selbst Gnaden gewähren kann: 22
Eya
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Help By 25
hemmelkonyngynne,
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gnade
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vinde kinde!
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Synen
willen
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keren
-
Die rigide Beschränkung ihrer Gewalt wird allerdings vielleicht doch nicht ganz konsequent durchgehalten. Auf seine späteren Bitten um einen guten Tod (35-40) und um Hilfe für sein Dichten (60-65) scheint Könemann als Antwort einen unmittelbaren Gnadenerweis Marias zu erhoffen, ohne daß an dieser Stelle noch von einer nur vermittelnden Rolle der Gottesmutter gesprochen wird. Vielleicht ist sie, nachdem sie vorher so deutlich ausgesprochen wurde, hier stillschweigend mitzuverstehen. Die Anliegen der Bitten Könemanns unterscheiden sich kaum von denen anderer Eingangsgebete in Mariendichtungen, wenn man berücksichtigt, daß hier stärker als in vielen Mariengedichten mit Christus ein zweiter Adressat hinzutritt. Hauptanliegen ist die Inspiration, die Könemann vor allem von Christus erhofft (1-17, 66-74); Maria soll seine Bitten mit ihrer Fürsprache unterstützen (22-34; ohne ausdrückliche Erwähnung ihrer Fürsprecherrolle auch 60-65). Nur der Gottesmutter trägt der Dichter seine Bitten um einen guten Tod und das ewige Leben vor (35-40), das er - an sich in einem Mariengedicht nicht unangemessen, aber wegen der Akzentuierung der gesamten Heilsgeschichte hier doch etwas unerwartet - als seligen Zustand unablässigen Marienlobs faßt (38-40) . Insgesamt bilden die Eingangsgebete von Mariendichtungen eine relativ homogene Gruppe, deren großes gemeinsames Merkmal die Anrufung der Gottesmutter ist. Der Anfang mit einem Gebet zu Maria ist jedoch nicht absolut verbindlich; sowohl ein großes wie auch eine Reihe kleiner Gedichte zeigen einen gebetslosen Beginn oder ein an Gott gerichtetes Eingangsgebet. Wo das Eingangsgebet Maria anruft, enthält es zumeist Lob und Bitte. Uber die Maria zuzuschreibende Gewalt sind die Gebete verschiedener Ansicht; während einige Dichter ihr fast gottgleiche Eigenschaften zutrauen, unterscheiden andere vorsichtiger zwischen den Anliegen ihrer Bitten an Maria und dem, was nur Gott gewähren kann, jedoch meist, ohne Maria streng auf die Fürsprecherrolle zu beschränken. Ein solcher
368
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Rigorismus wäre in einer Zeit, in der selbst unter den Theologen keine Einigkeit über die exakte Stellung Marias besteht, von der volkssprachigen Dichtung, die weithin aus der wenig dogmatischen populären Frömmigkeit schöpft, auch kaum zu erwarten. Während sich die Mariendichtung als Gattung aber trotz der notwendigen Einschränkungen durch eine charakteristische Ausprägung des Eingangsgebets wenigstens relativ scharf aus der geistlichen Literatur heraushebt, grenzen sich ihre Unterformen - große Marienleben, kleine Marienlegenden oder -mirakel, nicht erzählende Mariengedichte - nicht durch eine je spezifische Art des Gebetseingangs gegeneinander ab. Stets geht es im Eingang um Marias Beistand im Leben und ihre Hilfe im Dichten (je nach der Position des Verfassers in der mariologischen Auseinandersetzung oder nach dem Grad seiner Marienfrömmigkeit verstanden als von Maria selbständig erwiesene Gnade oder als nur von ihr vermittelter Beistand Christi), oft findet sich außerdem ein Marienlob. Auch hinsichtlich der Form bestehen keine scharfen Unterschiede. Tendenziell haben zwar längere Gedichte, also die Marienleben und die großen Preisdichtungen, auch umfangreichere Eingangsgebete, aber nicht einmal diese auf der Hand liegende Unterscheidung trifft in allen Fällen zu. Die je verschiedene Thematik der drei Untergattungen der Mariendichtungen wirkt sich auf ihre Eingangsgebete nicht prägend aus. g. Systematischer Uberblick In den vorhergehenden Kapiteln konnte nur ein Teil der vorliegenden Texte besprochen werden, wobei für verschiedene Gebete durchaus unterschiedliche Gesichtspunkte im Mittelpunkt standen. Um die Darstellung zu ergänzen und zu einem Uberblick über die Gesamtheit der Eingangsgebete geistlicher Dichtungen der Blüte- und Spätzeit zu gelangen, ist nun abschließend das ganze Material unter einheitlichen Aspekten zusammenschauend zu sichten. Begonnen werden soll mit dem Gesichtspunkt des U m f a η g s , der bereits mehr als bloß formale Eigenschaften erfaßt, denn mit der Wahl einer bestimmten Ausdehnung fällt eine wichtige Vorentscheidung über die in diesem Gebet mögliche gedankliche Differenziertheit. Wenig kann die bloße Angabe des Gebetsumfangs, also seine Länge in Versen, jedoch darüber aussagen, wie wichtig ein Dichter das Eingangsgebet nimmt, denn es liegt auf der Hand, daß ein Gebet einer bestimmten Verszahl in einem umfangreichen Werkeingang anders zu bewerten ist als in einem kurzen Werkbeginn. Das G e w i c h t des Gebets, das heißt sein Anteil am Eingang, ist hier aussagekräftiger.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
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Für das Frühmittelhochdeutsche war eine Entwicklung vom kurzen und sehr kurzen zum längeren Eingangsgebet festgestellt worden, wobei die knappen Gebete allerdings nie ganz verschwanden und die längeren nur in Ausnahmefällen den Umfang von 25 Versen überschritten. Diese Tendenz setzt sich zwischen dem Ende der frühmittelhochdeutschen Zeit und dem "Willehalm"-Eingang fort. Die kurzen und vor allem die sehr kurzen Eingangsgebete nehmen weiter ab - nur noch ein Gebet, die Bitte um Fürbitte im Eingang des "Armen Heinrich", hat weniger als zehn Verse -, während die ausgedehnteren Gebete zahlreicher und gleichzeitig länger werden. Vereinzelt tauchen bei Konrad von Fußesbrunnen und Otte, die Gebeten mehr als achtzig Verse ihrer Eingänge widmen, bereits sehr 1310 ausführliche Anrufungen auf . Da die Erweiterung des Gebetsumfangs nicht von einer entsprechenden Vergrößerung des Werkeingangs insgesamt begleitet ist, nimmt der relative Anteil der Gebete am Eingang deutlich zu: Die Gebete nehmen in dieser Zeit oft zwischen der Hälfte und drei Vierteln der Eingangsverse ein. Liegen die Verhältnisse für die Zeit zwischen 1170 und dem "Willehalm" also recht eindeutig, so bietet der Zeitraum von etwa 1220 bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts ein sehr uneinheitliches Bild. Vom kurzen, nicht einmal zehn Verse umfassenden Gebet bis zur sehr ausführlichen Anrufung von mehr als 75 Versen ist praktisch jeder Umfang vertreten, ohne daß eine bestimmte Länge bevorzugt wird. Dasselbe gilt für das Gewicht des Gebets innerhalb des Eingangs. Die langen, die Eingänge dominierenden Gebete der Zeit vor dem "Willehalm" verlieren ihr statistisches Ubergewicht, so daß nun weniger dominante Gebete ebenso häufig sind. Die sich um 1200 herausbildende Regel, ein geistliches Gedicht mit einem recht langen, den Eingang beherrschenden Gebet einzuleiten, verliert nach der Blütezeit merklich an Verbindlichkeit. Um 1250 ändert sich das Bild erneut. Von nun an bis zum etwa mit den "Historien der alden β" um 1345 anzusetzenden Ende der geistlichen Deutschordensdichtung überwiegt unzweideutig das lange und sehr lange Gebet. Die umfangreichsten Eingangsgebete, die die deutsche Literatur kennt, entstammen dieser Periode. Das längste überhaupt, das Gebet im Eingang zum "Alten Passional", umfaßt nicht weniger als 274 Verse, und wenn diese extreme Ausdehnung auch ein Einzelfall bleibt, so liegt doch eine beträchtliche Zahl von Eingangsgebeten zum Teil deutlich über hundert
1310 Diesen Umfang erreicht im Frühmittelhochdeutschen nur der absolute Ausnahmefall "Pilatus".
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DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
1311 Versen . Da sich gleichzeitig aber auch der Werkeingang insgesamt ausdehnt, führt die vergrößerte Länge der Gebete nicht automatisch zu einem besonders großen Gewicht innerhalb des Dichtungsbeginns, sondern wie in der vorhergehenden Phase sind alle denkbaren Anteile des Gebets am Eingang in etwa gleicher Häufigkeit zu finden. Mit dem Ausklingen der Deutschordensdichtung nimmt der Umfang der Eingangsgebete dann fast plötzlich äußerst signifikant ab. Die meisten Anrufungen umfassen nun nicht einmal mehr zehn Verse, also nur noch einen Bruchteil des in der vorhergehenden Periode üblichen. Da die Gesamtlänge der Werkeingänge nicht in gleicher Weise zurückgeht, ist nun das Gewicht der Anrufung im Eingang so gering wie nie zuvor; nur sehr wenige Gebete kommen noch über ein Viertel der Eingangsverse hinaus. So durchläuft das Eingangsgebet in der geistlichen Dichtung der Blüte- und Spätzeit vier klar voneinander zu scheidende, recht genau datierbare Phasen. Sein Weg führt aber nicht linear vom kurzen zum langen, vom untergeordneten zum dominierenden Gebet. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Perioden sind nicht immer plausibel zu erklären. Entspricht die Erweiterung des Eingangsgebets um 1170 der allgemeinen Neigung dieser Zeit zu ausführlicherem Erzählen als im Frühmittelhochdeutschen, so ist schon das Nebeneinander einer Vielzahl von Längen und Gewichten zwischen 1220 und 1250 kaum zu deuten. Daß nach der Mitte des 13. Jahrhunderts die Anrufungen im Werkbeginn extreme Ausmaße erreichen, hängt mit der Vorliebe für breites Erzählen zusammen, die diese Zeit kennzeichnet, doch bleibt auch hier ein unerklärter Rest, denn es ist keineswegs so, daß ein langes Gebet stets auch ein langes Gedicht einleiten müßte: die klarsten Gegenbeispiele sind die Legenden des Franziskus und des Evangelisten Johannes aus dem "Alten Passional". Nur als Ausdruck eines verlorengehenden Bewußtseins von der Bedeutung des Eingangsgebets zu interpretieren ist seine Reduktion von der Mitte des 14. Jahrhunderts an. Mit der Vorliebe des späten Mittelalters für eher kürzere geistliche Gedichte ist sie höchstens teilweise erklärt, denn die Verkleinerung der Eingangsgebete geht viel weiter als die Verknappung der Werkeingänge insgesamt.
1 3 1 1 Johannes von Frankenstein, Kreuziger, 1 0 6 w . ; Franziskuslegende aus dem Alten Passional, 1 1 2 w . ; Ulrich von dem Türlin, Willehalm, 1 1 5 vv. ; Ulrich von Türheim, Rennewart, 1 2 7 vv.; Die mitteldeutsche poetische Paraphrase des Buches Hiob, hg. von KARSTEN, 1 3 0 vv.; Legende des Evangelisten Johannes aus dem Alten Passional, 1 3 6 w . ; Heinrich von Hesler, Apokalypse, 1 5 9 vv.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
Spätzeit
371
Zu allen Zeiten gleich selten sind Werkeingänge, die ganz aus Gebeten bestehen. Fast gleichmäßig in jeder Periode zeigt ein Zehntel der geistlichen Gedichte, die überhaupt ein Eingangsgebet haben, einen solchen Beginn. Recht häufig sind dagegen Anrufungen durch darlegende Passagen unterbrochen, so daß bis zu neun über 1312 den Eingang verteilte Gebetskomplexe entstehen . Besonders beliebte Orte des Gebets sind Anfang und Ende des Eingangs, doch können der ersten Anrufung auch einige nicht gebethafte Verse vorhergehen und der letzten noch darlegende Bemerkungen fol1313 gen . Wo ein Eingang mehrere Gebetskomplexe enthält, liegt oft auf dem ersten ein besonderer Akzent, während die folgenden in der Regel kürzer bleiben, wie es unter vielen anderen etwa der "Willehalm"-Eingang (Gebete von etwa 63 und 17 Versen) und deutlicher noch der Beginn von Rudolfs "Barlaam" (124 und fünf Verse) demonstrieren. Kennzeichnend für die A d r e s s a t e n der Eingangsgebete der Blüte- und Spätzeit ist, daß die das Frühmittelhochdeutsche charakterisierende weitgehende Beschränkung auf Anrufungen Gottes fallengelassen wird, so daß sich nun auch an Heilige, besonders an die Titelheiligen von Legenden, Gebete im Eingang richten können. Da mit ihnen jedoch meist Anrufungen Gottes einhergehen, bleibt Gott auch nach dem Ende der frühmittelhochdeutschen Periode der weitaus häufigste Adressat. Das Gottesbild erreicht ganz verschiedene Grade von Differenziertheit. In einigen kurzen Gebeten heißt der Adressat schlicht 1314 got , aber in der Mehrzahl der Anrufungen - und in den langen Eingangsgebeten ausnahmslos - entsteht ein viel aspektenreicheres
1312 Neun Gebete enthält der Eingang des Priesters Wernher, Lamprechts "Francisken Leben" bringt es auf sechs Gebetskomplexe, und hinzu kommen viele Eingänge, die zwei oder drei Gebetskomplexe enthalten. Insgesamt zeigt über ein Drittel der Eingänge mehr als eine Anrufung. 1313 Doch scheint die Beendigung des Eingangs durch ein Gebet oder eine Gebetsaufforderung wenigstens im 13. Jahrhundert als das Normale empfunden worden zu sein, wie die vom Verfasser der Bearbeitung Α der "Driu liet von der maget" angefügte Bitte zu Hieronymus in den letzten Eingangsversen belegt. - Nicht mit einem Gebet enden selbstverständlich zahlreiche kürzere Eingänge, die nur eine einzige Anrufung enthalten; in ihnen folgen einem einleitenden Gebet oft direkt auf das Thema des Gedichts hinführende darlegende Bemerkungen, etwa eine stichwortartige Inhaltsangabe oder die Vorstellung des Legendenheiligen. 1314 Solche undifferenzierten Nennungen Gottes erscheinen in allen Phasen des hier betrachteten Zeitraums: Hartmann von Aue, Armer Heinrich 25; Konrad von Heimesfurt, Mariae Himmelfahrt 29; Sanct Christopherus 52; Wetzeis Margareta 96; Heinrich Cluzenere, Marienlegende 1; Alexius A, Grätzer Fassung 11; Alexius C, Überschrift; Esdras und Neemyas 60, 63 (hier ist got durch das ebenso allgemeine Herre ersetzt); Ursula, hg. von SCHADE (Geistliche Gedichte vom Niederrhein, S. 161-202) 6.
372
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Bild Gottes. Eine große Zahl von Eingangsgebeten zeigt sich beherrscht oder mitbestimmt vom Gedanken an den Schöpfergott und seine Herrschaft über den Kosmos, der auch in frühmittelhochdeutscher Zeit schon einige Gebete am Werkeingang prägte. Doch verläuft von den frühmittelhochdeutschen zu den späteren Schöpferanrufungen keine ununterbrochen Traditionslinie. Mit dem Ende der frühmittelhochdeutschen Dichtung nimmt die Beliebtheit des Gebets zum Schöpfer- und Herrschergott zunächst deutlich ab; in vielen Eingängen fehlt es nun ganz, und wo es noch vorkommt, ist es nicht mehr als ein Nebengedanke, dem selten mehr als ein einziger Vers 1315
gewidmet ist . Neue Bedeutung gewinnt die Anrufung des Schöpfer- und Herrschergotts erst im "Willehalm"-Eingang, und von Wolframs Behandlung dieses Motivs geht eine neue Tradition aus, die sich, ohne sich des Rückbezugs auf den "Willehalm11 immer bewußt zu sein, bis ins späte Mittelalter fortsetzt. Dies hat zur Folge, daß die ausführlichen Gebete zum Schöpfer und Weltenherrscher alle in Eingängen stehen, die sich, direkt oder vermittelt, mehr oder weniger stark am "Willehalm" orientieren. Nur in Einzelfällen erfaßt die Gewohnheit, den Schöpfer anzurufen, auch vom "Willehalm" sonst unbeeinflußte Werkeingänge, die dann zwar das Strukturelement Schöpfergebet übernehmen, aber nicht die es bei Wolfram und seinen Nachfolgern prägenden Einzelgedanken. Beispiele für solche Schöpferanrufungen außerhalb der "Willehalm"Tradition, die stets kurz bleiben, geben die Eingänge zu Konrads 1316 von Würzburg "Alexius" und zu Könemanns "Wurzgarten Mariens" Die Orientierung der Schöpfergebete am Vorbild Wolframs schließt nicht aus, daß sie im einzelnen einige individuelle Züge besitzen. So ist zum Beispiel die Zuordnung von Gottes Schöpfer- und Herrschertum zu einer Person der Trinität nicht festgelegt. Es kann gedeutet werden als Ausdruck der potentia und damit als Wirken Gottvaters oder, wie bei Wolfram selbst, als Manifestation der göttlichen Weisheit, also Christi. Auch setzen bei aller Ähnlichkeit der Einzelgedanken keine zwei Gebete ihre Schwerpunkte genau gleich. Heinrich von Neustadt etwa zeigt sich besonders an den geheimnisvollen Bewegungen des Sternenhimmels interessiert und sieht in ihnen die gültigsten Symbole für Gottes Un-
1315 Die zwei ersten Verse des "Rolandslieds" sind der umfangreichste Beleg aus allen Eingangsgebeten der Zeit um 1200. Nur einen einzigen Vers umfaßt das Schöpfermotiv im Eingang des "Oberdeutschen Servatius" (59 Rex Christe, factor omnium), und ebenso kurz ist die einzige weitere Stelle, die sich hier anführen läßt, ein vielleicht unechter Vers (121) aus Veldekes "Servas". 1316 Konrad beschränkt seine Anrufung des Schöpfers auf den ersten Vers, während Könemann ihr mit drei Versen (4-6) etwas mehr Raum gewährt.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
b e g r e i f l i c h k e i t ^ 1 7 ,
373
während Heinrich von Hesler dasselbe lieber
an dem Gedanken, Gott als Ursprung und Ziel aller Dinge sei doch 1318
selbst ohne Anfang und Ende, illustriert . Da sich die Eigenständigkeit der Nachfolger jedoch fast ganz auf solche das Gottesbild nicht beeinflussenden Varianten beschränkt, nennenswerte Ergänzungen oder Veränderungen des vom "Willehalm"-Eingang vorgegebenen Motivrepertoires aber nicht vorkommen, heben sich die Schöpfergebete letztlich doch nur wenig voneinander ab. Wie sehr sich die späteren Gebete an das von Wolfram Vorgegebene halten, zeigt sich, wenn man die Rezeptionsgeschichte der Einzelelemente des Schöpferlobs aus dem "Willehalm" verfolgt. Jedes - Anfang und Ende; die Dimensionen; die Bewegungen des Firmaments, der Sonne und der Sterne; die Elemente; Tiere und Pflanzen; Tag und Nacht - findet sich in mehreren späteren Eingangsgebeten 1319 wieder. Am häufigsten werden die Thematik von Anfang und Ende , der Gedanke an die Bewegungen der Himmelskörper1321 und die Auffassung Gottes als Beherrscher der vier Elemente wiederaufgenommen. Aber auch die anderen Komponenten von Wolframs Schöpferlob sind 1 322
bei den späteren Dichtern sämtlich mehrfach wiederzufinden Die wenigen Gedanken, die die Nachfolger neu hinzufügen, entwikkeln dagegen keine traditionsbildende Kraft. Dies zeigt etwa das Beispiel der Erweiterung des Katalogs der von Gott beherrschten Naturerscheinungen durch Rudolf von Der Gedanke, daß Gott 132 Ems: 3 auch kelte,
regen,
hitze
und t u f t
Heinrich von Hesler ein Echo
regiert, findet nur bei
1324
1317 Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 3-12. 1318 Heinrich von Hesler, Apokalypse 1-5, 10-22. 1319 Rudolf, Barlaam 1-19; Ulrich von dem Türlin, Willehalm I 1; Altes Passional 1,9-11; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden 1, 25; Heinrich von Hesler, Apokalypse 1-5, 10-22; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 59-61; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft lf.; Hiob 14. 1320 Rudolf, Barlaam 37-41, 45-49; Ulrich von dem Türlin, Willehalm II 3-11; Altes Passional 1,49-56; Heinrich von Hesler, Apokalypse 60-62; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 31-34; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 3-12; Hiob 77-81. 1321 Rudolf, Barlaam 33; Ulrich von dem Türlin, Willehalm II 2; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden 15; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 11, 14. 1322 Tiere und Pflanzen: Rudolf, Barlaam 30-32; Ulrich von dem Türlin, Willehalm I 26f.; Altes Passional 1,33-44; Heinrich von Freiberg, Legende vom heiligen Kreuz 18-21; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 37-39, 41, 43; nur Tiere: Heinrich von Hesler, Apokalypse 72f. - Dimensionen: Ulrich von dem Türlin, Willehalm II 15.20-22; Altes Passional 1,12-17.5964; Heinrich von Hesler, Apokalypse 94f.; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 4. - Tag und Nacht: Ulrich von dem Türlin, Willehalm II 3; Altes Passional 1,28-30; Heinrich von Hesler, Apokalypse 68f., 88f. 132 3 Rudolf, Barlaam 34.
1324 Bei ihm (Apokalypse) erscheinen mit sne, und dem Blitz (Daz Vuer uz phänomene als bei Rudolf.
den
Wolken,
wint,
vrost,
hagel,
regen
(85)
84) allerdings andere Witterungs-
374
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Nicht weniger oft als dem Schöpfer- und Herrschergott wenden sich die Eingangsgebete der Blüte- und Spätzeit der Dreifaltigkeit zu. Hier ist zu trennen zwischen Gebeten, die ohne Reflexion auf das Trinitätswunder die drei göttlichen Personen als einzelne anrufen, und Hinwendungen an die Trinität, die ganz bewußt das Paradoxon der Einheit der drei Personen als Ausdruck der wunderbaren Unbegreiflichkeit Gottes zu ihrem Gegenstand machen. Wie für das Schöpfermotiv bedeutet auch hier das Beten Wolframs einen wichtigen Einschnitt: Vor Wolfram gibt es zwar Gebete, die alle ι 325 drei göttlichen Personen anrufen , doch thematisieren diese die Einheit der Trinität noch nicht; selbst wenn sie sich, wie es schon frühmittelhochdeutsch gelegentlich vorkommt, bemühen, das Zusammenwirken der göttlichen Personen etwa im Inspirationsakt anzudeuten, fehlt ihnen doch noch die Zusammenfassung von Vater, Sohn und Geist im Begriff der Trinität, die es erst erlaubt, das Wunder der Einheit der Dreiheit als augenfälligen Ausdruck der Wunderbarkeit Gottes zu erfassen. Dies gelingt erst Wolfram, und sein Gebet, das die Einheit des dreifaltigen Gottes betont, ohne darüber die Eigennatur jeder der trinitarischen Personen zu vergessen 1326 , bewirkt einen Umschwung, denn nach ihm nennen nur noch wenige Gebete Vater, Sohn und Geist, ohne zugleich auch das Wunder ihrer Einheit zu bedenken 1327 . Natürlich erfaßt diese von Wolfram ausgehende Erscheinung besonders Gebete, die sich den "Willehalm"-Eingang auch in anderer Hinsicht zum Vorbild neh1328 men . Hier fehlt die Trinitätsanrufung in kauern einem Gebet. Außerhalb der Wolfram-Tradition erscheint sie in einer Dorotheenlegende aus dem 14. Jahrhundert: 22 Sint
ahein
Ane helfe Die sieh
gut
were
mac dev also
gedriet
vollkumen trinität, hat
1325 Vor Wolfram rufen etwa der Verfasser des "Oberdeutschen Servatius" (1, 59, 61), Konrad von Fußesbrunnen (1, 12, 28), Otte (1, 40-50, 71) und, wenn got im ersten Vers Gottvater meint, auch Veldeke (Servas 1, 8, 21) in dieser Weise die drei göttlichen Personen an. Die trinitarische Einheit bedenken diese Gebete nirgends. 1326 Wolfram spricht zwar nacheinander zu den oder über die einzelnen Personen der Dreifaltigkeit (kraft, 1,4; wtsheit, 1,27; geist, 2,17), aber indem er die Grenzen zwischen den dem Vater, dem Sohn und dem Geist gewidmeten Abschnitten verwischt und überdies die Anrufung der Trinität als Einheit prononciert an den Gebetsbeginn stellt (1,2 dü drt und doch einer), wahrt er die Balance zwischen der Eigenexistenz der Personen und ihrer Einheit als trinitarischer Gott. 1327 Die Marter der Heiligen Margareta lf.; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 387; Könemann, Wurzgarten Mariens 17. 1328 Rudolf, Barlaam 24; Ulrich von Türheim, Rennewart 1-3; Judith von 1254 8, 21-24; Ulrich von dem Türlin, Willehalm I 7.9; Brun von Schonebeck, Hohes Lied 46, 61; Altes Passional 2,32-34; Heinrich von Freiberg, Le-
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
25 In goteticher So rufe
Swaz
wisheit
Und swaz 30 Von dem
einvalt,
ich an den
Oes eigentich
375
gewal%,
der vater an dem
sune
rechter
guete
heiligen
geiste
pfligt, tigt,
erpluete.
Allerdings bleibt eine Trinitätsanrufung außerhalb der WolframTradition die Ausnahme. Für die Benennung der trinitarischen Personen können, wie es gelegentlich auch schon im Frühmittelhochdeutschen geschah, neben ihren Namen auch ihre Appropriationen potentia, sapientia und bonitas oder amor herangezogen werden, wobei allerdings in keinem einzigen Gebet alle drei Personen ausschließlich durch die Appropriationsbegriffe benannt werden. Selbst Wolfram, der dieses bloß andeutende Bezeichnungsverfahren am konsequentesten durchführt, nennt neben kraft (1,4) und wtsheit
(1,27) als Appropria-
tionen Gottvaters und Christi den Geist unverschlüsselt
(2,17).
Dagegen ist es durchaus möglich, die Personen der Trinität nur durch ihre Namen zu benennen und die Appropriationen völlig außer acht zu lassen. Diese Methode ist vor Wolfram recht beliebt; das Eingangsgebet zu Veldekes "Servas" wendet sie ebenso an wie das 132 9 zum "Oberdeutschen Servatius" und das Ottes . Nach dem "Willehalm" benennt dagegen kaum mehr ein Gebet die göttlichen Personen allein durch ihre Namen. Auch hinsichtlich der Art und Weise der Bezeichnung der Gebetsadressaten bedeutet das Eingangsgebet des "Willehalm" also einen Wendepunkt, indem es eine weitgehend unbeachtete Möglichkeit der Bezeichnung entdeckt und sie durch seine große Nachwirkung popularisiert. Viele Eingangsgebete in der "Willehalm"-Nachfolge äußern sich recht ausführlich zum Trinitätswunder. Wolframs lakonische Konstatierung der Einheit der drei Personen (1,2) weicht bald wortreicheren Formulierungen, die dem Leser oder Hörer das Paradoxon der Dreieinigkeit um so eindringlicher und klarer vor Augen führen sollen. Keine von ihnen erreicht jedoch die präzise Schärfe der das Unbegreifliche auf den Begriff bringenden und seine letztliche Unfaßbarkeit doch unmißverständlich anzeigenden Formel Wolframs. Rudolf von Ems sagt mit größerem Aufwand kaum mehr: gende vom heiligen Kreuze 36; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden 6-8, 19-22; Hiob-Paraphrase 9f., 15, 24-27. 1329 Für Otte ist insofern eine Einschränkung zu machen, als der Name Christi bei ihm nicht fällt. Er wird jedoch nicht durch 'Weisheit' umschrieben, sondern Christus heißt der, der die Sünder zu seinem Vater führt (4050) .
376
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
20 din got
gewalt,
dtn
vater
geist,
mensche
gewaltes
dtn
unde
kint,
ungescheiden
als
ie
än anegenge
dtn
einic
wort,
sint, was
drivalt
unitas.
Uber Wolfram hinaus führt hier nur die in der Folgezeit beliebte Verbindung des Trinitätsgeheimnisses mit dem Paradoxon der Doppelnatur Christi als Gott und Mensch. Untrennbar verbunden sind diese beiden Wunder für Ulrich von dem Türlin: I
4 so gedenke, das
süezer
du mensch
und sünde
doch
ein
got
got
und mensch
iezuo 10 wä wart
mit
uns
kint,
waere
verbaere!
und doch
drt,
megde
dr-tvalt!
mit
gewalt!
nü wan einer
wandelunge
ie
reiner?
Dieselbe enge Verbindung sieht auch Ulrich von Etzenbach (16-22), für den die Trinität der erste Glaubensartikel seines Credos ist (5-8). Einige Dichter setzen sich in ihren Eingangsgebeten auf gelehrte Weise mit dem Problem der Dreieinigkeit auseinander. Zwei Autoren finden eine biblische Verankerung des Trinitätswunders in einem Vers der Genesis und in einer Episode der Geschichte Abrahams: Heinrich von Freiberg schließt aus der Pluralform von Gen 1,26 (Faciamus hominem)
auf die Existenz mehrerer göttlicher Per-
sonen und weiter auf die Trinität (27-38), und der Verfasser der "Judith" sieht in den drei Männern, in denen Jahwe Abraham erschien und die dieser als einen einzigen grüßte^"^0, eine genaue Präfiguration des einen Gottes in drei Personen (13-24) 1331 . Be1330 Gen 18,1-3. 1331 Auf ähnliche Weise scheint Ulrich von Türheim den Besuch der Drei Könige in Bethlehem mit der Trinität in Verbindung bringen zu wollen:
8 ein kunc der braht dir mirren, die zwen wirauch und galt; 10 sie warn dinr geburte holt, die rehten warheit du weist: ez was ein reiner volleist; dise driu die dri brahten drin: sus kan din ein gedriet sin Inwiefern die Dreizahl der Könige und die Dreizahl ihrer Gaben mit den drei Personen des einen Gottes korrespondieren (13f.), wird allerdings nicht recht klar.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
377
dient sich der "Judith"-Dichter der alten Methode der typologischen Schriftauslegung, so referieren andere die Erkenntnisse der modernen Scholastik. Selbst die Fachtermini behält der "Passional"-Dichter bei, der doziert, Gott sei 2,32
driueldich vnde
einueldiah
driueldich
personalis
einueIdiah
essentialis
-,
während der Autor der "Hiob-Paraphrase", der mehr am Zusammenwirken der göttlichen Personen interessiert ist, darlegt, wie der Sohn vom Vater und der Geist vom Vater und dem Sohn ausgeht (15-27) . Unter den Benennungen, mit denen die Eingangsgebete der Blüteund Spätzeit die göttlichen Personen anreden, ist besonders die Anrufung des Sohnes bei seinem Namen 'Jesus' bemerkenswert. Sie erscheint frühmittelhochdeutsch noch nicht und begegnet zum er1332 stenmal bei Albert von Augsburg (25) . In der Folgezeit bildet sich eine recht klare Bedeutungsdifferenzierung zwischen den Gottesnamen 'Christus' und 'Jesus' heraus: Während
'Christus'
eher die göttliche Seite des Gottessohnes meint, legt der Name 'Jesus' mehr Gewicht auf seine Menschennatur. Er erscheint deshalb oft im Kontext des Menschwerdungswunders: Walther von Rheinau richtet sein Gebet außer an Maria auch an Jesum din (das heißt Marias) vil liebez kint (38), und ganz ähnlich nennt das Eingangsgebet zu "Der maget krone" Marias Sohn Jhisus
(36). Den
Gottessohn in seiner Menschheit meint auch Heinrich von Freiberg, wenn er den Gekreuzigten als hirre Jesus zart
(88) anredet. Da
die Menschwerdung das engste Band zwischen Gott und den Menschen stiftet, erscheint der die Menschennatur des Erlösers akzentuierende Name 'Jesus' auch in Gebeten, die ein sehr inniges und vertrautes Bild der Gott-Mensch-Beziehung zeichnen: im "Rheinischen Marienlob"
(28 Getrü vrunt Jhesu ind gude lerere) nicht
anders als in der "Judith" (67 Jhesu, min einer im "Väterbuch"
(114, 239 Ihesu, getruwer
vreudentrost),
leitesman) oder in der
exakt die gleiche Formulierung verwendenden "Hester"
(8). Auch
der früheste 'Jesus 1 -Beleg, Alberts von Augsburg Bitte Ihesu vater aller gute / vor lugen mich behüte
(25), spricht aus die-
ser Perspektive.
1332 Eine Art Vorläufer ist Veldeke, der den Namen Jesu in die Verse vor dem Beginn eines Gebets setzt (Servas 22) und sich im Gebet selbst (26-34) nur durch Personalpronomen auf ihn bezieht.
378
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
EINGANGSGEBETE
Die Reservierung des Gottesnamen 'Jesus' für den menschgewordenen und den Menschen in Liebe und Treue zugewandten Erlösergott legt die Vermutung nahe, mit der Doppelformel 'Jesus Christus', die in vielen Gebeten erscheint, könne zugleich mit dem genannten auch der andere Aspekt des christlichen Gottesbildes, der verklärte Christus in seiner himmlischen Allmacht, angesprochen sein. Manche Belege bestätigen dies, besonders deutlich einige Verse aus dem Eingangsgebet des "Alten Passional", die 'Jesus Christus' ganz explizit auf die Doppelnatur des Erlösers beziehen s 3,18
Gotes
sun
das
du
war
des
geloube
ihesu
got iah
vnd
arist mensche
bist
vnzvbrochen
Gottheit und Menschheit sind auch in der "Judith" in der Anrede Jesu
Christi
angesprochen
(31f.
Jhesu
Crist,
/ Oer
Gotes
einbor-
ner bist) . Andererseits steht diesen Stellen eine Vielzahl von Belegen gegenüber, in denen mit 'Jesus Christus' diese spezielle 1333 zweifache Sicht des Gottessohns nicht verbunden ist . Offensichtlich haben die wenigsten Dichter die Möglichkeit, durch die Doppelformel die zweifache Natur Christi anzudeuten, erkannt. Für die große Mehrzahl ist 'Jesus Christus' einfach ein selbstverständlicher Name für die zweite Person der Trinität, mit dem sich kein spezieller Sinn verbindet. Mit der Einführung des neuen Namens 'Jesus' für den Gottessohn geht in den Eingangsgebeten der Blüte- und Spätzeit eine Zunahme der an ihn gerichteten Anrufungen einher, die im Frühmittelhochdeutschen noch eher selten waren. Vielleicht noch größer als im Frühmittelhochdeutschen wird durch die zahlreichen Trinitätsgebete auch die Bedeutung des Heiligen Geistes. Nach wie vor wird er jedoch so gut wie nie allein, sondern 1 334 fast stets zusammen mit dem Vater und dem Sohn angerufen Eine besondere Vorliebe zeigen die Eingangsgebete der Blüteund Spätzeit dafür, Gott mit fremden Sprachen entlehnten Namen zu bezeichnen. Gelegentlich kam dies schon im Frühmittelhochdeutschen vor, doch sind nun fremdsprachige Namen Gottes viel häufiger und entstammen nicht mehr wie in den frühmittelhoch1333 Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 332; Alexius F 1; Legende von Maria Magdalena im Alten Passional 367,82; Marien Himmelfahrt 200; Der Saelden Hort, hg. von ADRIAN, 127; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 75; Gundacker von Judenburg, Christi Hort 227; Barbara 23, 32. 1334 Das einzige Beispiel für die Anrufung allein des Geistes ist das Eingangsgebet zu Konrads von Heimesfurt "Urstende", doch könnte selbst hier auf die beiden anderen Personen angespielt sein.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
379
1 335 deutschen Gebeten beinahe ausschließlich dem Lateinischen , sondern meist dem Griechischen und Hebräischen. Besonders oft eröffnen sie ein Eingangsgebet und geben damit der Anrufung und dem gesamten Werk einen betont feierlichen Auftakt: Die Verfasser des "Oberdeutschen Servatius" und des "Väterbuchs" rufen Gott im ersten Vers als Adonaei an, der Dichter des "Alexius F" wendet sich an der enget keiser Sabaot, und einige Gebete bringen in ihren Anfangsversen sogar mehrere hebräische, griechische und lateinische Gottesnamen unter, zuerst das Eingangsgebet zu Rudolfs "Barlaam" (Alphä et 0, künec SäbäSt) und später die zur "Judith" (0 araft
gewaldiges
Passional"
Eloy,
/ Von Salem
kunio
(Emanuel mit vnz got / kuonina
Adonay) , zum "Alten
des riches
sabbaoth)
oder zu Heinrichs von Neustadt "Von Gottes Zukunft" (Olpha et o! deus Sabaoth!). Um die Wende zum 14. Jahrhundert kann die Vorliebe für diese gelehrten Namen Gottes zur Manier werden, so vor allem bei Heinrich von Neustadt, der in den 48 Versen der zwei Eingangsgebete seines geistlichen Gedichts (1-36, 77-88) nicht weniger als acht verschiedene exotische Bezeichnungen für Gott anbringt: neben den bereits genannten aus dem Eingangsvers Eloe (9), Deus
(17), Tetragramaton
und schließlich Pater
(18), Messyas
et filius
et spiritus
(22), Adonay sanotus
(32)
(88), das
die Anrufungen beendet und ihrem Abschluß dieselbe feierliche Würde verleihen soll wie die griechisch-hebräisch-lateinische Anrede im ersten Vers ihrem Beginn. Ein gewisser Spielcharakter ist nicht zu verkennen. Das gilt auch für Johannes von Frankenstein, in dessen Eingangsgebet sich fremdsprachige Gottesnamen ganz ähnlich häufen. Er preist Gott kurz nacheinander als alpha et ο (60), altissimus
der beste
(62) und starker
got Adonai
(68)
und ruft ihn gegen Ende des Eingangs außerdem als Trostbernder heilia
Sabaot,
/ almeahtio
immerwernder
Eli
(126f.) an. Andere
Autoren schmücken ihre Gebete zurückhaltender mit exotischen Gottesnamen, und nicht wenige Anrufungen verzichten auf sie ganz. Aber alles in allem sind sie von der zweiten Hälfte des 14. Jahr1336 hunderte bis nach der Jahrhundertwende doch recht verbreitet Viel größer als im Frühmittelhochdeutschen ist in den Eingangsgebeten der Blüte- und Spätzeit die Bedeutung der Heiligen. Während zuvor als einzige Heilige Maria angerufen werden konnte und selbst von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch gemacht wurde, 1335 In frühmittelhochdeutschen Eingangsgebeten erscheinen etwa der lateinische Name des Heiligen Geistes (z.B. Priester Arnold, Siebenzahl 1,1-3)
oder Anreden wie Inolita lux mundi (Lob Salomos 1), Lux deus in tenebris (Von den zehn Geboten 21,1) und 0 lux in tenebris (Ezzos Gesang V 27). 1336 Weiter anzuführen sind zwei Stellen aus Ulrichs von Türheim Gebeten am
Anfang des "Rennewart" {Tetragramaton, 110; herre Adonay, 125) und ein Vers aus Tilo von Kulm (Ely, heilig Sabaoth,
116).
380
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
erscheinen von Veldekes "Servas" an Gebete zum Titelheiligen in Legenden allmählich öfter, ohne jedoch je zur unumstößlichen Regel zu werden; auch im 13. und 14. Jahrhundert gibt es nicht wenige Legenden, die auf eine Heiligenanrufung im Eingang verzichten. Heiligenanrufungen können jeden denkbaren Umfang annehmen. Das Gebet zu Maria bleibt nicht auf Mariendichtungen beschränkt, 1337 sondern dringt in andere geistliche Dichtungen ein . In Mariendichtungen richten sich besonders intensive Gebete an die Gottesmutter, aber andererseits kann in ihnen das Mariengebet 1338 durchaus durch eine Anrufung Gottes ersetzt werden
. Die Ge-
walt der Heiligen sehen die Gebete weitgehend auf die Fürsprache für den Beter bei Gott beschränkt, nur Maria kann darüber hinausgehenden Beistand gewähren. Unter den Bezeichnungen für die Heiligen sind zunächst die zu nennen, die die Heiligkeit der Angerufenen feststellen. Dies sind 1339 1340 vor allem die Titel 'Sankt' 1341 und 'Heiliger' , aber auch die Anrede als frouwe oder herre und schließlich die Titulierung 1 342 als Fürst . Auf den Weg des Heiligen zur Heiligkeit weisen die Bezeichnungen hin, die ihn für sein heiligmäßiges Erdenleben preisen. Sie sind recht selten; zu ihnen gehören die Anrede der Heiligen Katharina als Zweig am Baum der Tugend im Eingangsgebet ihrer Legende im "Alten Passional" und die Anrufung Augustins im selben Werk, die ihn im Blick auf seine begnadete Auslegung der Schrift, durch die sich das Heil den vielen durch sie Belehrten mitteilt, preist als Gefäß, das von Gnaden überfließt (414,1-3), und als Rose in Gottes Garten, deren Duft vielen Weisheit schenkt (415,8f.). Ein besonderer Aspekt der Heiligkeit ist die Nähe der Heiligen zu Gott. Wenn er im Vordergrund steht, heißt der Heilige Gottes Freund 1343 oder Gottes Knecht 1344 , und mit derselben Ab1337 Dies ist besonders in Deutschordensdichtungen der Fall: Daniel 64-69, 85-104; Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln 33-41, 54-70; Historien der alden § 45-47. Außerhalb des Ordens widmet Brun von Schonebeck im Eingang sein Werk der Gottesmutter (54-59), und der Verfasser von "Der Saelden Hort" bittet sein Publikum, für ihn zu Maria zu beten (67-85) . Auch der Dichter des "Mönch Felix" richtet ein Eingangsgebet an Maria (1-15). 1338 So beim Schweizer Wernher. 1339 Veldeke, Servas 178, 192; Wolfram, Willehalm 4,13; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 68, 83, 330, 344; St. Galler Gebet (eine Dorotheenlegende aus dem 15. Jahrhundert; hg. von BUSSE, IV, S. 42-45) 5, 20. 1340 Wolfram, Willehalm 4,15; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 67; Reinbot von Durne, Georg 86. 1341 Wolfram, Willehalm 4,13; Marter der Heiligen Margareta 83; Hugo von Langenstein, Martina 3,15; iunakfrowe rich·. St. Galler Gebet, hg. von BUSSE, 1. 1342 sie ist eine Neuprägung Wolframs (4,10f.: daz du Vürste WCBre / hie en erde: als bist ouch dort) und wird von Reinbot, der das Konzept des Ritterheiligen übernimmt, entlehnt (75) . 1343 Veldeke, Servas: godes drut (170).
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
381
Spätzeit
sieht sagt Ebernand von Erfurt von seinen Heiligen Heinrich und 1345 Kunegunde, sie seien gote (...) heimelich . Aufgrund seiner Gottnähe ist jeder Heilige ein wirksamer Beistand der ihn Anrufenden, deshalb kann er auch Bote 1 3 4 ^, Fürsprecher 13 fer
134
® und sogar Beschirmer
134
7
, Hel-
^ des Menschen genannt werden.
All diese Bezeichnungen können auch auf Maria angewandt werden, doch steht für das Gebet zu ihr seit jeher eine große Zahl weiterer Ehrentitel zur Verfügung, die keinem anderen Heiligen zukommen. In der mittelhochdeutschen Blüte- und Spätzeit ist das Repertoire der Namen und Symbole für Maria voll ausgebildet. Sie lassen sich zu drei Gruppen ordnen, deren jede die Gottesmutter aus einer anderen Perspektive zeigt. Wohl am häufigsten preisen die Eingangsgebete Maria in ihrer himmlischen Herrlichkeit. Fast in jedem Mariengebet wird sie verherrlicht als Himmelskönigin 1 3 ^, zwei Anrufungen versuchen dieses Bild durch die Vorstellung einer Himmelskaiserin Maria noch zu überbieten 1351 . Marias himmlische 1 352 Würde kann sich konkretisieren als Herrschaft über die Engel , aber auch nur angedeutet werden durch den Titel Himelischiv 135 3 frouwe . Noch etwas zurückhaltender ist die beliebte Anrede 1 354 der Gottesmutter nur als frouwe , wobei nicht übersehen werden darf, daß frouwe
auch ohne Beiwort ein Ehrentitel ist. Gelegent-
lich wird ausdrücklich die große Gewalt konstatiert, die ihr diese Stellung verleiht, am deutlichsten beim Priester Wernher, der Maria div
oberiste
/ nach
gotes
magenahrefte
ähnlich in ihrer Anrufung als Allergeweldigst
(D 72f.) nennt, und keiser-inne
im drit-
ten Eingangsgebet zum "Rheinischen Marienlob" (60) . Marias himmlische Herrlichkeit kann auch durch ihre Reinheit und Schönheit versinnbildlicht werden. Das "Rheinische Marienlob" beschreibt
1344 1345 1346 1347 1348 1349
Veldeke, Servas 186; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 329. Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 121. Veldeke, Servas 190; Wetzeis Margareta 94. dingare (...) te gode·. Veldeke, Servas 189. Wolfram, Willehalm 4,4.7. Wolframs Hoffnung, Willehalm könne ihn bevogeten (4,18), findet ein Echo bei Reinbot (95), der Georg als schermcere der Ritterschaft anruft. 1350 Priester Wernher, Driu liet D 3; Bonus 4, 15; Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 29; Marter der Heiligen Margareta 13f.; Walther von Rheinau, Marienleben 80; Mönch Felix 9; Hugo von Langenstein, Martina 2,101; Der Saelden Hort 80f.; Bruder Philipp, Marienleben 1; Könemann, Wurzgarten 22.
1351 1352 1353 1354
Rheinisches Marienlob 60; Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede 6. Bonus 26. Walther von Rheinau nennt Maria ähnlich Aller engel Wunne (34). Priester Wernher, Driu liet D 45. Rheinisches Marienlob 1; Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede 74, 81, 101, 106, 116, 124; Hugo von Langenstein, Martina 3,5.8; Mönch Felix 3, 12; Bruder Philipp, Marienleben 3, 16; Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln 69.
382
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
sie als schönste von Gott erblickte Frau und als Allerreinste außer Gott (1f., 49); im Eingang zu den "Driu liet von der maget" heißt sie die, die heller strahlt als der Tag (D 59), während der Dichter des "Mönch Felix" sie als Aller
meide
gimme
(1)
preist. Ganz besonders betont ihre Reinheit Bruder Philipp, der sie in seinem nicht einmal ungewöhnlich langen Eingangsgebet dreimal unter diesem Aspekt anredet (9, 19, 22). Zu außergewöhnlichen Bildern greift Tilo von Kulm: Maria ist für ihn die, Di gar
vil
dir
gelfen
/ Glanczer
bezeichnet er sie als suzez
blume himel
varwe aleit
treit
so
(34f.); außerdem
(36).
Uberaus häufig sind Anreden Marias als Jungfrau, meist verbunden mit dem Gedanken an ihre wunderbare Gottesmutterschaft. Dies führt auf einen zweiten Aspekt des Marienbilds der Eingangsgebete: ihre Mitwirkung an der Erlösung und an der Wiedererlangung des Heils. Anrufungen als Mutter Jesu finden sich in beinahe jedem Mariengebet. Allein im ersten Eingangsgebet zum "Rheinischen Marienlob" wird Maria dreimal als Gottesmutter angerufen: zunächst einfach als Gods müder
(8), dann genauer als Mutter und
Jungfrau (12), und schließlich, schon im Blick auf das andere Zentralereignis des Erlösungswerks, als Mutter des leidenden und des auferstandenen Christus (16). Auf die heilsgeschichtliche Stellung der Gottesmutter zielen die typologischen Konfrontatio1355 nen mit den Menschen im Paradies . Maria kann aufgrund solcher Vorstellungen sogar Erlöserin genannt werden
, ein Titel, der
ihr in theologisch exaktem Sinn nicht zukommt. Auch sonst sieht man Maria im Alten Testament präfiguriert. Der 1Priester Wernher 357 bezieht das Gideon erwiesene Tauwunder auf sie , während der Verfasser des "Jüdel" Marias Hilfe für die sie anrufenden Christen mit der Führung der Israeliten durch die Wüste parallelisiert (12-14). Aus der im 12. Jahrhundert einsetzenden marianischen Hohelied-Interpretation stammt ihre Auffassung als Braut 1358 1359 Christi und als Taube ohne Galle . Vom Hohen Lied ist vielleicht auch der Dichter des "Rheinischen Marienlobs" angeregt, wenn er Maria als höchste Liebende anruft (58), die ihre Liebe sowohl Gott als auch den Menschen zufließen läßt.
1355 Priester Wernher, Driu liet D 8-11. Ohne Nennung Evas auch im "Jüdel"
(5-7: Αiuter vnt maget ane mceil. / genaden vol daz erste hx.il. / Oer werlde wider brachte) und bei Hugo von Langenstein (Martina 2,107-09: Du hast vor mengen stunden / Die grozin genade funden / Die vnsir vordirn verlurn). Der saelden Hort: user sunden suenerin (82).
1356 1357 Priester Wernher, Driu liet D 76. 1358 Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln 65. 1359 Walther von Rheinau, Marienleben 27.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
383
Mit der von Maria den Menschen erwiesenen Liebe ist bereits der dritte und letzte Gesichtspunkt angesprochen, unter dem die Eingangsgebete Maria anrufen: Sie hat nicht nur bei der Erlösung der Menschheit mitgewirkt, sondern sie hilft auch heute noch als Fürsprecherin und Gnadenspenderin. Die Formulierungen hierfür sind vielfältig: Müder der barmherzicheide Marienlob"
nennt Maria das "Rheinische
(45) ; Konrad von Würzburg ist sie aller saelden
sahatz und alles guotes überguot
houbet-
. Der Verfasser des "Saelden
Hort" ruft sie als Königin des Erbarmens an (80f.), und mit diesem Titel preist sie auch das Eingangsgebet zu "Der maget kröne" (26). Maria ist als Leiterin der Verirrten der Stern des wtundes 1361 mer und speziell dem Dichter, der ihr Lob verkündet, Führe1362 rin . Für alle Menschen ist sie Hoffnung, Leben und unser 1363 fogtzn Die drei Aspekte, unter denen die Eingangsgebete der geistlichen Gedichte der Blüte- und Spätzeit zu Maria beten, lassen sich nicht in eine zeitliche Abfolge bringen. Alle drei sind schon am Beginn dieser Periode da und bleiben bis zum Ende des Mittelalters und darüber hinaus. Unter welchem Gesichtspunkt ein Eingangsgebet Maria hauptsächlich sieht, hängt von der persönlichen Frömmigkeit seines Verfassers ab, nicht aber von der Zeit, in der er schreibt, und auch nicht von der Gattung, der sein Werk angehört . Auch in der Zeit der mittelhochdeutschen Klassik und danach bleibt das wichtigste
A n l i e g e n
der Eingangsgebete
geistlicher Dichtungen Gottes Beistand für den Verfasser. Die Bitte um Inspiration fehlt fast nur in einigen kürzeren Gebet e n 1 3 ^ 4 und besonders in Gebetsaufforderungen^ 3 ^, worin eine gewisse Logik liegt, denn die Einladung an das Publikum zu gemeinsamem Gebet setzt die Rezeption des Werks und damit seine Vollendung schon voraus; für ein abgeschlossenes Werk aber wäre es wenig sinnvoll, noch um Inspiration zu beten. Weiter fehlt die Bitte um göttlichen Beistand auch in manchen kurzen formelhaften
1360 1361 1362 1363 1364
Goldene Schmiede 74 f. Jüdel 12. Rheinisches Marienlob 46. Der maget krSne 33. Alexius A llf.; Alexius C Überschrift (Schreibergebet?); Helwigs Märe vom heiligen Kreuz, hg. von HEYMANN, 1-3; Kunz Kistener, Jakobsbrüder 1, 66f.; Ursula 6-8. Das einzige längere Beispiel ist das Gebet im Eingang zu "Der maget kröne" (15-42). 1365 Hartmann, Armer Heinrich 18-25; Wetzeis Margareta 94-98; Hermann von Fritzlar, Der Heiligen Leben Vorrede 4,17, Blasius 83,36; Lutwin, Adam und Eva 54-59, 64-71; Kunz Kistener, Jakobsbrüder 19-22.
384
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
1366 Anrufungen und schließlich in den Eingangsgebeten zu Einzellegenden in Sammlungen. Diese wurden nicht als selbständige Einzelwerke aufgefaßt; die Gnade, die etwa zu Beginn des "Passionals" so ausführlich für den gesamten Zyklus erfleht worden war, sah man auch in jeder Einzellegende wirksam. Für die meisten Dichter, die überhaupt im Eingang beten, bleibt jedoch das Gebet um Inspiration für den Verfasser unabdingbare Voraussetzung des Gelingens. Dagegen ist der Gedanke, daß auch für das Publikum um Erleuchtung gebetet werden muß, äußerst selten. Das Bewußtsein hiervon, das sich im Frühmittelhochdeutschen immerhin gelegentlich nachweisen ließ, verschwindet nach 1170 praktisch vollständig. Veldeke hat es noch und schließt in seine erste Inspirationsbitte ("Servas" 1-12) das Publikum ein. Nach ihm bittet nur noch ein einziges Gebet, das im Eingang der "Makkabäer" aus dem Deutschen Orden (337-39), in der Wir-Form um Inspiration, doch fragt sich, ob das 'wir' der ziemlich kurzen Inspirationsbitte dem Verfasser nicht unbedacht aus der Feder geflossen ist, denn auch der übrige, viel längere Teil des Gebets, in dem es um allgemeinere Anliegen geht, ist als Gemeindegebet verfaßt. Als Zeugnis für ein Fortleben der Uberzeugung von der Notwendigkeit der Erleuchtung auch der Rezipienten stünden diese Verse nach Veldeke jedenfalls allein. Seltener als im Frühmittelhochdeutschen, aber noch immer in beträchtlicher Zahl zu finden, sind Gebete, die die Bitte um Inspiration mit einem Gebet um Sündenvergebung verbinden und den Erlaß der Sündenschuld als Voraussetzung der Inspiration begreifen, weil durch ihn der Geist des Menschen erst in die Lage versetzt 1367 werde, Gottes Wirken in der Welt zu verstehen . Diese Ansicht bestimmt etwa die Anordnung der Bitten im Eingang des "Oberdeutschen Servatius" (1-9), dessen Verfasser der Inspirationsbitte ein Gebet um Sündenvergebung vorausschickt. Andere Dichter tun ihr Wissen um diesen Zusammenhang statt durch die Anordnung der Gebetsanliegen durch einen expliziten Kommentar kund, so der Verfasser des "Rheinischen Marienlobs" (55f.), der Reinheit des Herzens ausdrücklich als Voraussetzung für das Gelingen des Lobgedichts nennt, Ulrich von Etzenbach (58-67), für den erst nach der Befreiung von der Sünde wahres Erkennen möglich wird, oder der Autor von "Esdras und Neemyas" (59-66), der vor dem Dichten um die Befreiung seiner Seele von den Sünden seiner Lippen und seiner Zunge betet. In anderen Gebeten ist der Kausalzusammen-
1366 Z.B. Alexius A llf.; Alexius C Überschrift (Schreibergebet?). 1367 Hierzu grundlegend SCHWIETERING, Demutsformel, besonders S. 199f.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
385
hang von Sünde und beeinträchtigtem Erkenntnisvermögen weniger scharf gesehen. So bekennt Otte (16-29) zwar, witze
und sin
zum Ruhme Gottes eingesetzt zu haben, aber diese Confessio
nicht dient
ihm nicht als Begründung seiner Bitte um den Heiligen Geist. Ähnlich beteuert Ebernand von Erfurt zwar seine Sündigkeit (37-39) und bittet um Vergebung (97-105), stellt aber gleichfalls kein Begründungsverhältnis zwischen Schuld und Notwendigkeit der Inspirationsbitte her. Etwas deutlicher erkennt Walther von Rheinau (5, 12-16), daß die Sünde den göttlichen Gnadenstrom zum Versiegen bringen kann, doch bezieht er diese Befürchtung nicht präzise auf die Inspiration, sondern auf alle Gnaden. Auf einen ganz anderen Zusammenhang von Sünde und geistlichem Dichten weisen die Verfasser des "Mönch Felix" und des "Alten Passional" hin: Da der Sünder sich seiner Motivation im letzten nicht sicher sein kann, ist es durchaus möglich, daß er trotz subjektiv guter Absicht tatsächlich aus Eitelkeit und Ruhmsucht sein Werk beginnt. Der "Passional"-Dichter bittet Gott für diesen Fall um die radikale Vernichtung des menschlichen Anteils am Werk (3,85-90), und dieselbe Gebetsintention steht hinter der Bitte des Verfassers des "Mönch Felix" (3-6), Maria möge ihm helfen, das Gedicht zu vollenden, ohne dabei sündig zu werden. Kaum weniger verbreitet als der Gedanke, die Inspiration setze die Sündenvergebung schon voraus, ist die entgegengesetzte Auffassung, auch der Sünder sei zum geistlichen Dichten und also zur Aufnahme der göttlichen Inspiration durchaus fähig, ja durch das Bußwerk geistlichen Dichtens erwerbe er sich erst die Gnade der Sündenvergebung. Aus dieser Uberzeugung betet der Priester Wernher hilf
mir
daz
iah
gebuzze
/ daz
unreht
daz
iah
ie
begie
(D 50f.). Der Verfasser des "Väterbuchs" formuliert spezifischer und will nicht ganz allgemein die Vergebung seiner Sünden, sondern vor allem Gnade für seine 'Eitelkeit', die er gar nicht aus1368 drücklich genug bekennen kann , durch das Bußwerk des großen 1368 Der Verfasser gibt sich alle Mühe, den Verdacht, seine eine rhetorische Übung, zurückzuweisen:
Confessio
sei nur
149 0 we ioh rrtuz bekennen, Von warheit benennen, Daz iah der iteln einer bin! Daz spriahe iah nicht uf den sin Der demut, nein iah, werliah An warer schult begrife iah mich, 155 Daz ich bin uz der iteln rote. Wenigstens den Dichtern des späteren 13. Jahrhunderts war die Confessio also auch als sinnentleertes rhetorisches Element verfügbar. Die Worte, mit denen der "Väterbuch"-Dichter den Verdacht bloßer Rhetorik zurückweist, sind, wie SCHWIETERING (Demutsformel, S. 203) nachweist, selbst
386
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Legendenzyklus erlangen. Meint die 'Eitelkeit' des Dichters hier vielleicht unausgesprochen auch das Interesse an weltlicher Literatur, so versteht Ulrich von Türheim seinen "Rennewart" ganz explizit als Wiedergutmachung für weltliches Dichten (117-23). Dieser Gedanke kommt auch in anderen Werkeingängen v o r ^ ^ , findet jedoch nur bei Ulrich von Türheim Aufnahme in ein Gebet. Sehr häufig - und wenn eine Begründung der Inspirationsbitte topisch wird, so ist es diese - begründen die Dichter die Notwendigkeit des Gebets um Gottes Hilfe mit ihren geringen dichterischen Fähigkeiten. Die Beliebtheit dieses Motivs hat eine zweifache Ursache. Einerseits demonstriert der Dichter, der es einsetzt, daß er von allem Autorenstolz frei ist und daß, was an seinem Werk gelingen mag, nicht seiner Kunst, sondern Gottes Gnade zu verdanken ist, und zeigt so die seinem Vorhaben angemessene Haltung der Demut vor Gott. Andererseits nimmt der Verfasser durch das offene Eingeständnis seiner Kunstlosigkeit möglicher Kritik von vornherein die Spitze und appelliert zugleich an die Rezipienten, mit seinem gutgemeinten Werk nicht zu streng ins Gericht zu gehen. Für bare Münze ist eine solche Aussage nur selten zu nehmen. Selbst die größten Sprachkünstler unter den mittelhochdeutschen geistlichen Dichtern halten sie nicht für unangemessen. Nicht einmal Konrad von Würzburg verzichtet darauf, in der "Goldenen Schmiede" ausführlich sein dichterisches Unvermögen zu bekennen - in Bildern und Formulierungen, deren Pracht und Eleganz seine Beteuerungen aufs krasseste (10-33, 78-111) widerlegen. Unfähigkeitsbeteuerungen gibt es in jeder Periode der mittelhochdeutschen Epoche; eines der frühesten Gebete, das im Eingang zum "Servas" (183-85), kennt sie ebenso wie eines der spätesten 1370 und auch die frühmittelhochdeutschen Gedichte. Die meisten Unfähigkeitsbeteuerungen in den Eingangsgebeten - außerhalb der Gebete finden sich zahlreiche weitere Belege sind in ihren Aussagen wenig detailliert. Auf einzelne Aspekte des Dichtprozesses zielen sie nicht. Typisch ist Ebernands von Erfurt ganz allgemeine, auf Einzelprobleme nicht eingehende Formulierung
iah bin
(...) der sahrift unkundea,
/ tihten ist mir
unbekant (37-39). Ähnlich unbestimmt bleiben unter vielen anderen 1371 die Eingangsgebete zum "Oberdeutschen Servatius" , zu Rudolfs "Barlaam" (89f. , 109), Heinrichs von Freiberg Kreuzesholzlegennicht ohne Vorbild in der lateinischen Literatur. 1369 Zuerst im "Gregorius" (35-42). Daneben dürfte auch die entsprechende Stelle aus Rudolfs weit verbreiteter Barlaamlegende zur Beliebtheit dieses Motivs beigetragen haben (150-61). 1370 Barbara 33-35.
1371 53 meine unahunst.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
de1372
und
Spätzeit
387
Könemanns "Wurzgarten"1373_ während nur einige wenige
Dichter mit der mangelnden Weisheit einen zumindest etwas präzi1374 seren Aspekt ihrer Unfähigkeit benennen , sind andere noch vager als die angeführten Autoren und sprechen schlicht von ihrer 1375 dumpheit , beziehen sich also nicht einmal speziell auf ihr Dichten, sondern auf ihre gesamte Existenz. Wo spezifischer von der Dichtkraft die Rede ist, wird vielfach das geringe Maß beklagt, in dem sie dem Beter eigen ist. beliebteste Begriff zur Bezeichnung dieses Sachverhalts istDer krano 1 3 7 6 . Nur wenige Gebete kleiden das Unfähigkeitsmotiv in eine Metapher. Walther 1377 von Rheinau nennt sich einen kleiner künste knabe (19) , und der Verfasser der Hiob-Paraphrase sieht sich als Marias getwerge (116), ein Bild, das der "Goldenen Schmiede" entlehnt ist, dem einzigen Gedicht, das in seinem Eingangsgebet das Unfähigkeitsmotiv intensiv metaphorisch behandelt. Nur selten wird der Grund des dichterischen Unvermögens genannt; wo dies geschieht, liegt 1378 er stets in der Sünde . Einmalig bleibt Wolframs ("Willehalm" 2,19-22) Wendung des Motivs, nach der alle zu erlernende Kunstfertigkeit wertlos ist gegenüber der wahren Kunst, die dem Dichter unmittelbar von Gott kommt; kein erlernbares Wissen zu besitzen ist daher kein Mangel, für den man vor Gott und den Menschen um Nachsicht bitten müßte, sondern beinahe ein Verdienst als Zeichen der völligen Hinordnung der Kunst des Beters auf Gott 1 3 7 9 . Begründen die Argumente der Sündigkeit und des dichterischen Unvermögens die Notwendigkeit der Inspiration vom Menschen her,
1372 92 ich künsteWser von Vrtberc. 1373 32 ik kunstelose man. 1374 Konrad von Heimesfurt, Urstende 4f. niht so redhaft. / Noch sinnes also weise; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 310f. niht envollen wise
(...) / zu sprechene dine tougen. 1375 Rheinisches Marienlob 27; Stricker, Karl 88; Judith von 1254 40. 1376 Jüdel 18; Rudolf, Barlaam 109; Judith von 1254 13; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 77; Lutwin, Adam und Eva 62. 1377 An anderer Stelle sagt er dasselbe im Bild vom gebiursehen munt (120). 1378 Auf welche Weise die Sünde am geistlichen Dichten hindert, beschreibt Konrad von Fußesbrunnen:
68 luge, sahimph unde spot, dar üf stuont aller min gedano. 73 swie gerne iah nü wider cherte unt im sin lop gemerte, 75 so irret mich diu gewonheit, want ich ouch an der uppicheit mich unz her von chinde fleiz 1379 Weitere Unfähigkeitsbeteuerungen in Eingangsgebeten: Marien Himmelfahrt 216-19; Der Saelden Hort 122f.; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 2, 77; Gundacker von Judenburg, Christi Hort 244; Barbara 33-35.
388
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
so ist auch ihre Herleitung aus dem Wesen Gottes möglich: Man kann um Inspiration bitten, weil Gott sie zu gewähren bereit ist, wie viele vor allem in der Bibel niedergelegte Präzedenzfalle zeigen. Auf diese beruft man sich besonders in der Zeit um 1200. Später kommt die biblische Begründung ziemlich außer Mode, ohne ganz in Vergessenheit zu geraten. Zu dieser Entwicklung mag beigetragen haben, daß Wolframs so einflußreiches Eingangsgebet zum "Willehalm" auf die Untermauerung seiner Bitte durch ein biblisches Vorbildgeschehen verzichtet. Das beliebteste Exempel ist die Geschichte von Bileams Eselin^®^; aus der Verleihung der Redegabe an ein Tier folgert man, dem Menschen, dem Gott soviel mehr Liebe zugewandt habe, könne dieselbe Gnade nicht vorenthalten bleiben 1381 . Sonst beruft man sich gern auf Sünder, die trotz ihrer Schuld Werkzeuge der Verkündung der göttlichen Wahrheit waren, so auf den Hohepriester Kaiphas, der wider Willen Christi Gottheit 1 382 aussprach , oder auf Zacharias, der Gottes Gebot mißachtete und doch für würdig befunden wurde, Gott als erster für die Er1383 füllung seines Erlösungsversprechens zu preisen . Ein noch stärkeres Argument ist der Verweis darauf, daß Gott sogar Heiden die Gnade erwiesen hat, sein Heil verkünden zu dürfen. Konrad von Fußesbrunnen beruft sich deshalb auf die aus den heidnischen Sibyllenbüchern herauszuinterpretierenden christlichen Heilswahrheiten^
. Der Schluß vom Gnadenerweis an unwürdige Geschöpfe
auf die deshalb zu erhoffende Erleuchtung auch des Beters kann auch der Berufung auf die Aussendung der Jünger zugrunde1385 liegen. Gott, der arme vischaere / daz ewige haeil hiez ahünden , kann ebensogut den Dichter trotz seiner geistigen Armut begnaden, denn Armut war ja bei den Jüngern kein Hindernis. Aber so genaue Parallelen zwischen dem Dichter und dem herangezogenen Exempel brauchen gar nicht zu bestehen. Da vor Gott alle Menschen gleich sind in ihrer Unwürdigkeit, kann der Dichter des "Oberdeutschen Servatius" ebensogut wie die 'armen' Jünger die mit keinem Unwürdig-
1380 Num 22,28-30. - Oberdeutscher Servatius 46f.; Stricker, Karl 92-96; Hugo von Langenstein, Martina 1,57-61; Von sente Brandan (hg. von SCHRÖDER) 6-16. 1381 Dieser Gedankengang ist den Betern so selbstverständlich, daß er nie ausformuliert wird. Am deutlichsten wird seine Logik noch beim Stricker:
90
1382 1383 1384 1385
got sd gencedeo ist, daz ich mich helfe versihe. er hilfet doch eime vihe: daz schein an einer eseltn -
Mt 26,63f. - Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu 38. Lc 1,11-25.57-79. - Hugo von Langenstein, Martina 1,39-46. Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu 36. Oberdeutscher Servatius 50f.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
389
keitsprädikat bedachten Propheten als seine Vorgänger nennen 1 3 8 6 und kann sich Hugo von Langenstein auf die Verleihung der Rede1 387 gäbe an die Jünger beziehen , ohne die Unverdientheit dieser Gnade eigens hervorzuheben. Die weitaus meisten Inspirationsbitten der mittelhochdeutschen Blüte- und Spätzeit richten sich an Gott. Dabei ist oft die Mitwirkung des Heiligen Geistes mitbedacht, doch der Gebetsadressat ist er fast nie. Die einzigen Beispiele bieten Heinrich von Hesler, die "Judith" 1 TRft, Konrad von Heimesfurt ("Urstende" 1f. Chum herre
haeiliger
geist.
/ zehelfe)
und der Priester Wern-
1389
her . Wenn sich ein Dichter mit der Bitte um Erleuchtung an einen Heiligen wendet, so fast ausnahmslos an Maria. Besonders 1390 häufig ist dies naturgemäß in der Mariendichtung . Außerhalb der Mariengedichte richten fast nur Dichter aus dem Deutschen Orden, dessen intensive Marienfrömmigkeit sich hier bemerkbar macht, Bitten um die Erleuchtung des Dichters an die Gottesmut1391
ter
; hier kann Maria auch als Vermittlerin der Inspiration 1392 erscheinen . Ganz auf die Vermittlerrolle beschränkt bleiben die in Gebeten um Erleuchtung sehr selten angerufenen anderen Heiligen. Veldekes Servas kann 139 nur3,bei um dieerwartet Begnadung des ihn anrufenden Dichters bitten und Gott Ähnliches wohl auch die Hilfsbitte an Dorothea zu Beginn der St. Galler Doro1394 theenlegende . Um die Spendung der Inspiration bittet einen anderen Heiligen als Maria als einziger in der langen mittelalterlichen Geschichte des Dichtergebets Reinbot von Durne, ohne freilich darüber Auskunft zu geben, warum er Georg diese ungewöhnliche Macht zuschreibt. Wahrscheinlich ist hierfür nicht eine unorthodoxe Auffassung von der Macht der Heiligen verantwortlich, sondern vielmehr die problematische Gesamtkonzeption seines
1386 Oberdeutscher Servatius 48f. 1387 1,62-69. - Act 2,1-4. 1388 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 301-43; Judith 37-44.
1389 D 185 mit der helfe des heiligen
vnde uolleiste geistes.
1390 Priester Wernher, Driu liet D 1-11, D 45-76, D 136-40; Jüdel 15-18; Rheinisches Marienlob 45-64; Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede 10638; Bruder Philipp, Marienleben 1-8, 19-22. Nicht in allen angeführten Inspirationsbitten ist Maria der einzige Adressat. 1391 Hugo von Langenstein 3,8-14; Daniel 64-69; Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln 56-59. Alle richten auch Inspirationsbitten an Gott. Außerdem wohl außerhalb des Ordens - erfleht der Verfasser des "Mönch Felix" (1-16) die dichterische Begnadung von Maria. 1392 Daniel 90-96; Hiob 117-23. Vielleicht deutet die Bitte, Maria möge dem Dichter Durch Cristes ufirstende beistehen (Historien der alden § 48) , das gleiche an. 1393 Veldeke, Servas 170-98. 1394 St. Galler Gebet, hg. von BUSSE, 1-8.
390
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
L e g e n d e n e i n g a n g s 1 395# Zur B e z e i c h n u n g der Inspiration kennen die E i n g a n g s g e b e t e B l ü t e - und Spätzeit eine beträchtliche B i l d e r n . Sie lassen Gruppen e i n t e i l e n :
sich ihrem A u s s a g e s c h w e r p u n k t zunächst
nach in drei
sodann in B e z e i c h n u n g e n
spiration als V o r g a n g , und schließlich die das I n s p i r a t i o n s g e s c h e h e n
für die
in M e t a p h e r n und
In-
Begriffe,
vom M e n s c h e n her sehen und die Art
ihrer A u f n a h m e durch den Dichter
Daß die Grenzen
und
in Begriffe und B i l d e r , die das W e s e n
der Inspiration b e s c h r e i b e n ,
und Weise
Zahl von Begriffen
der
zu erfassen
zwischen diesen Gruppen v e r f l i e ß e n ,
versuchen.
liegt auf
der
Hand. Die B e z e i c h n u n g e n , die auf das Wesen der d i c h t e r i s c h e n dung
zielen, bleiben oft sehr allgemein.
schreiben die I n s p i r a t i o n ganz u n d i f f e r e n z i e r t Gnade
1 397
griffe
Begna-
Zahlreiche Gebete
be-
als Hilfe''^^
oder
G o t t e s oder M a r i a s ; seltener sind die ebenso vagen B e 1398 1399 1400 J , 'Gunst' und 'Erbarmen' . Etwas genauer,
'Huld'
weil auf die spezifische Aufgabe des D i c h t e r s b e z o g e n , ist die Bitte um die V e r l e i h u n g von
und noch präziser
formu-
1402
liert das Gebet um W i s s e n oder Belehrung b e s t i m m t e n Teilaspekt
, das auf einen
des D i c h t a k t s , die k o g n i t i v e
des Stoffs, abhebt. N e g a t i v gewendet erscheint
ganz
Bewältigung
das Gebet um B e -
lehrung als Bitte, vor Irrtümern und daraus folgenden
Unwahrhei-
1395 S.o. S. 302-04. 1396 Hilfe Gottes (auch spezieller der einzelnen göttlichen Personen oder der Trinität): Veldeke, Servas 176; Priester Wernher, Driu liet D 185f.; Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu 80f.; Jüdel 23; Stricker, Karl 90f.; Judith von 1254 35; Ulrich von dem Türlin, Willehalm III 19.25, V 23; Alexius F 21; Konrad von Würzburg, Alexius 4, 17; Brun von Schonebeck, Hohes Lied 60; Passional 3,53; Hugo von Langenstein, Martina 1,20; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 305; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 86; Könemann, Wurzgarten 67; Makkabäer, hg. von HELM, 337; Friedrich von Saarburg, Antichrist-Rede Μ 3; Barbara 25, 32, 36. - Hilfe Marias: Priester Wernher, Driu liet D 50f.; Jüdel 15; Walther von Rheinau, Marienleben 81; Bruder Philipp, Marienleben 8, 22; Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede 136; Passional 4,66; Hugo von Langenstein, Martina, 3,9.12; Historien der alden § 47. 1397 Gnade Gottes oder der einzelnen Personen: Veldeke, Servas 4f., 8f., 177; Alexius F 7; Könemann, Wurzgarten 23, 74; Bruder Hermann, Iolande 27; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 81; Hiob 96; Makkabäer, hg. von SCHADE, 2. - Gnade Marias: Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede 118f. 1398 Alexius F 7. 1399 Ulrich von dem Türlin, Willehalm II 18f.; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 69. 1400 Hiob 981401 Oberdeutscher Servatius 5; Rudolf, Barlaam 78; Alexius F 10. 1402 Belehrung durch Gott: Pfaffe Konrad, Rolandslied 4; Heinrich Cluzenere, Marienlegende 4; Heinrich von Freiberg, Legende vom heiligen Kreuz 94; Passional 5,7f.; Daniel 24f.; durch Christus: Rheinisches Marienlob 27, 36; Rudolf, Barlaam 107; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 78; durch den Heiligen Geist: Otte, Eraclius 66-71; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 336f.; durch Maria: Bruder Philipp, Marienleben 20.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
391
ten bewahrt zu bleiben 1403 , ein Anliegen, das bei der grundlegenden Gefährdung des menschlichen Geistes ansetzt und das Wesen der Inspiration in der Behebung dieses Gebrechens erblickt. Natürlich erscheint auch in der Blüte- und Spätzeit der Terminus sin. Er ist zwar immer noch sehr beliebt, aber doch nicht mehr so dominant wie in den frühmittelhochdeutschen Eingangsgebeten; deutlich häufiger sind nun die unpräzisen Beschreibungen der Inspiration als Hilfe oder Gnade. Zwischen den frühmittelhochdeutschen und den späteren Gebeten um den sin besteht keine ununterbrochene Kontinuität. Die Eingangsgebete, die unmittelbar auf das Frühmittelhochdeutsche folgen, kennen den Begriff zur Bezeichnung der dichterischen Begnadung nicht. Seine Verbreitung im 13. und 14. Jahrhundert nimmt ihren Ausgang erst von Wolframs Bitte um den un1404 losen sin so wise . Deshalb erscheint sin in dieser Bedeutung zunächst nur in Gebeten, die sich mehr oder weniger stark am "Willehalm" orientieren: zuerst in Rudolfs "Barlaam"1 (72) und dann bei Ulrich von dem Türlin, Heinrich von Freiberg, Ulrich von Etzenbach und Heinrich von N e u s t a d t 1 . Erst vom Ende des 13. Jahrhunderts an geht der Begriff auch in Gebete ganz außerhalb der "Willehalm"-Tradition ein 1 4 0 7 . Einige Dichter formulieren das Inspirationsgebet, wie es auch frühmittelhochdeutsch schon möglich war, als Bitte um den Heiligen Geist. Auch hier führt keine ununterbrochene Traditionslinie vom Frühmittelhochdeutschen in die spätere Zeit, denn nach dem Ende der frühmittelhochdeutschen Dichtung verschwindet diese Variante des Invokationsgebets zunächst ganz und erscheint erst wieder in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts140®. Gebete um den Heiligen Geist meinen nicht in jedem Fall die dichterische Begabung; sie können auch umfassender die Gnade eines gelingenden 1409 Lebens erbitten . Nur ein einziger Dichter spezifiziert die Bitte um den Heiligen Geist als Gebet um dessen sieben Gaben1 1 0 . 1403 Pfaffe Konrad, Rolandslied 7f.; Albert von Augsburg, Ulrichslegende 26; Judith von 1254 26-30. 1404 Willehalm 2,25. 1405 Bei Rudolf bezeichnet sin allerdings Umfassenderes als die dichterische Begnadung. 1406 Ulrich von dem Türlin, Willehalm III 22f.; Heinrich von Freiberg, Legende vom heiligen Kreuz 72; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden 65, 77; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 84. 1407 Heinrich Cluzenere, Marienlegende 5; Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln 38f.; Dorothea, hg. von BUSSE, III, 31-33. 1408 Hugo von Langenstein, Martina 1,62-64; Heinrich von Hesler, Apokalypse 136f.; Walther von Rheinau, Marienleben 15f. - Wolframs diu h e l f e diner güete (Willehalm, 2,23) ist nicht die Gabe, sondern ihr Spender. 1409 Ulrich von Türheim, Rennewart 94-96.
1410 Judith 37-44. - Um des laam 106) .
beilegen
geistes
minne
betet Rudolf von Ems (Bar-
392
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Metaphern für das Wesen der Inspiration sind relativ selten. Hierher gehören neben Tilos von Kulm Umschreibung der Begnadung als Anfang, Mitte und Ende für sein Werk 1411 wohl nur die Formu1412 lierungen der Verfasser des "Bonus" und des "Mönch Felix" , die pars
pro
toto
um eine angenehme Stimme beten.
Unter den Bezeichnungen für die Inspiration 1413 als Vorgang steht das sehr unkonkrete senden an vorderer Stelle . Nicht weniger beliebt ist die Vorstellung, die dichterische Begnadung aktualisiere sich als Leitung 1414 des Verfassers durch Gott, Christus oder den Heiligen Geist . Beschreibt dieses Bild die prinzipielle Unfähigkeit des Menschen zu geistlicher Dichtung aus eigener Kraft implizit als Gefahr sündigen Abirrens, so wird die grundlegende Beschränktheit des Zugangs des Menschen zur göttlichen Offenbarung von anderen Dichtern eher als Notlage empfunden, aus der die Inspiration sie befreien soll: Der Verfasser des "Rheinischen Marienlobs" bittet, Christus möge ihn mit den ougen
der
barmherzioheide
(34) betrachten, Heinrich von Hesler betet um 1415 Tröstung des Trostlosen , und der Dichter der Elisabethlegende hofft, daß Gott seine werren
/ Mit
siner
gnade
buze
(48f.). Neben
den Bezeichnungen des Inspirationsvorgangs als 'senden', als Leitung und als Befreiung aus Bedrängnis bleibt vieles andere vereinzelt und erscheint in jeweils nur einem G e b e t ^ ^ . An den Formulierungen der Inspirationsbitte, die den Aspekt ihrer Aufnahme durch den Dichter in den Mittelpunkt rücken, verdient besondere Beachtung, welchem Organ des Menschen die Fähig1411 Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln 40f. 1412 Bonus 13; Mönch Felix 2. 1413 Pfaffe Konrad, Rolandslied 5; Wolfram, Willehalm 2,24; Hugo von Langenstein, Martina 1,62; Heinrich von Hesler, Apokalypse 136; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 80. 1414 Oberdeutscher Servatius 61; Otte, Eraclius 66; Heinrich von Freiberg, Legende vom heiligen Kreuz 82, 90; Väterbuch 105, 114, 238f.; Passional 5,4; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 308; Schweizer Wernher, Marienleben 7-9. 1415 Evangelium Nicodemi 329. 1416 Solche seltenen Bezeichnungen für den Inspirationsvorgang sind meist ziemlich abstrakt. Veldeke (Servas 174) bittet, Gott möge ihn nicht verschmähen; der Priester Wernher (D 54) hofft, Gott werde ihn Gnade finden lassen; Gundacker von Judenburg (248) betet, Gott möge ihm Gnade erzeigen, und der Bruder Hermann (Iolande 2-4) versteht die Inspiration als Offenbarwerden der Süße Gottes. Nur selten weist das nur einmalige Auftreten einer Inspirationsmetapher darauf hin, daß sie vom Verfasser eigens für dieses Gebet geprägt wurde. Dies mag für Konrads von Würzburg Bitte gelten, Maria möge ihm ihr Sieb reichen, damit seine Rede nicht zu grob werde (Goldene Schmiede 124-27), und in gewissem Sinne auch noch für seinen Wunsch, die Himmelskönigin möge ihn uf der Sprüche wisen (108) zu ihrer Ehre laufen lassen, denn dieses Bild hat er zwar nicht.neu erfunden, aber doch sehr frei ausgestaltet (108-15). Es gilt aber wohl kaum für die Formulierung des "Passional"-Verfassers (3,61f.), Christus möge ihm der mildiaheide sohrein aufschließen, obwohl dieses Bild in den Eingangsgebeten der geistlichen mittelhochdeutschen Gedichte ohne Parallele ist.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
393
keit zum Empfang der dichterischen Begnadung zugeschrieben wird. Ein Teil der Beter lokalisiert den Inspirationsempfang in der mentalen Dimension des Menschen, während andere die Inspiration als Einwirkung der Gnade Gottes auf bestimmte Organe des menschlichen Körpers beschreiben. Unter den geistigen Komponenten des Menschen wird am häufigsten sein sin genannt, und zwar auch schon 1417 vor Wolfram . Allerdings zeigen die s-in-Stellen vor dem "Willehalm" kein Bewußtsein der bedeutungsvollen Ambivalenz des zugleich eine Gnade Gottes und eine Komponente des menschlichen Geistes bezeichnenden Begriffs. Das schon frühmittelhochdeutsch vorhandene Wissen hierum geht vorübergehend verloren und wird erst bei Wolfram wieder für das Inspirationsgebet fruchtbar. Von ihm angeregt, wird die Doppeldeutigkeit von sin in der Folgezeit von manchem Eingangsgebet aufgenommen - noch nicht bei Rudolf von Ems, der den sin zwar als menschliches Vermögen kennt, aber die von Gott erbetene Gnade nicht mit dieser Bezeichnung belegt^ 1419 1420 jedoch bei Ulrich von dem Türlin , Tilo von Kulm oder Walther von Rheinau. Walther versteht die Inspiration als besinnen seiner sinne durch den Heiligen Geist, eine Formulierung, die die beiden Bedeutungen von sin überdeutlich aufeinander bezieht (15-18). Unkonventionellen Gebrauch von Gedanken der zwei sinne macht das Eingangsgebet zum "Evangelium Nicodemi" Heinrichs von Hesler. Heinrich versteht die Existenz eines göttlichen und eines menschlichen sin nicht als Ausdruck einer vorgegebenen Hinordnung der sinne aufeinander. Dies hängt zusammen mit seiner eigenwilligen Interpretation der beiden sinne. Heinrich betet: 291
0 meister dine Wer
295
alter
urteil mao
wisheit
sint
erkennen
Du
gewunne
da
wir
da
unfundia. dinen
schult
und
der
zu
tufel
sin?
gewin,
vorliesen
die
stria
gedahten, sunden wände
brahten, gewinnen.
1417 Priester Wernher, Driu liet D 4-6; Bonus 6. 1418 Rudolf, Barlaam. Rudolfs Verengung von Wolframs srn-Begriff auf dessen menschliche Dimension ist innerhalb seiner Bearbeitung des "Willehalm"Eingangsgebets stimmig. Da es ihm nicht darum geht, den Menschen in eine überaus enge und harmonische Beziehung zu Gott zu setzen, kann er an der Korrespondenz zwischen einem menschlichen und einem göttlichen sin, die Wolfram unaufdringlich, aber unübersehbar, herstellt, kein Interesse haben. 1419 III 22 (sin als von Gott verliehene Erkenntnis zum Dichten), V 22 (sin als vom Heiligen Geist zu lenkendes Dichtvermögen des Menschen). 1420 Tilo bittet einerseits um materje und sin (39) und andererseits um Lenkung seiner sinne (58), unterscheidet also zwischen dem sin als Inspiration (39) und als Organ ihrer Aufnahme (58).
394
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Du zubreche von du dir
sin mit lob und
sinnen ere
300 noch mer den immer
mere.
Gottes sin (293) ist hier nicht eine von ihm ausgehende Begnadung, sondern der Begriff, der eher mit 'Absicht' zu übersetzen wäre, bezeichnet Gottes Heilsplan. Auch der menschliche sin erfährt eine Bedeutungsverschiebung. Er meint nicht wie sonst das Organ der Inspirationsaufnahme, sondern den menschlichen Verstand Obwohl so zwischen menschlichem und göttlichem sin keine wesenhafte Korrespondenz besteht, stellt Heinrich zwischen ihnen doch einen Zusammenhang her. Die Interaktion der sinne verläuft jedoch keineswegs ungebrochen harmonisch, sondern sie ist grundsätzlich gestört. Der sin des Menschen kann Gottes sinne, seinen Heilsplan, nicht erfassen und glaubt sich nach dem Sündenfall schon verloren (295). Indem Gott den Menschen dennoch erlöst, wird der menschliche sin an den sinnen Gottes zuschanden; dies meint der bewußt dunkle, pointierte Vers Du zubreche sin mit sinnen (298) . Nicht harmonisches Zusammenwirken kennzeichnet hier das Verhältnis der beiden sinne, sondern das staunende Nichtbegreifen des Menschen vor Gott. Dabei zielt die Opposition 1sin Gottes - sin des Menschen' nicht auf die Problematik geistlichen Dichtens, sondern sie steht in dem viel größeren Zusammenhang von Sündenfall und Erlösung. Trotzdem kommt wenig später der poetologische Gesichtspunkt ins Spiel, wenn Heinrich bittet Nu gib mir din geleite
/ unde wise
minen
sin
(308f.). Als sein Verstand ist der
sin des Menschen eben auch Subjekt des geistlichen Dichtens, und da er dessen Gegenstand, die Offenbarung Gottes, nicht von sich aus begreifen kann, bedarf er der Leitung durch Gott. Letztlich ist also auch hier der sin des Menschen das Organ der Aufnahme der Inspiration; der sin Gottes ist jedoch anders als sonst nicht die dem Dichter zuteil werdende Begnadung, sondern im Gegenteil das dem Menschen grundsätzlich Verschlossene, erst durch die Inspiration (die bei Heinrich nicht sin heißt) Zugängliche. Das Bild der Leitung, mit dem Heinrich die Inspiration umschreibt, ist eine beliebte Metapher für Gottes Handeln am sin des Menschen. Johannes von Frankenstein führt sie über mehrere Verse hinweg aus: Die von Gott begnadeten sinne sind, gemeinsam mit der kunste
gerte,
seine wegewtsen
(...) in got üf dem
sweren
geverte des geistlichen Dichtens (122-25). Daneben kommen zahlreiche andere Vorstellungen vor: Der sin des Menschen wird durch die Inspiration gereinigt 1421 , vom Feuer des Heiligen Geistes 1421 Priester Wernher, Driu liet D 4-6.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
395
Spätzeit
entzündet ^ ^ o d e r erleuchtet ^ ^ ; er wird g e k r ä f t i g t ^ ^ , befeuchtet 1425 und aufs äußerste angespannt 1426 . Wie radikal der svn sich unter der Inspiration auf Gott hin orientiert, zeigt die Bitte des "Daniel"-Dichters Min sinne werltlichen
sacken
mir
verdrume
/ In
den
(22f.): Die Aufmerksamkeit für weltliche Din-
ge soll gänzlich zerstört werden. Neben dem sin
können auch andere geistige Komponenten des Men-
schen als Ort der Aufnahme der Inspiration in Erscheinung treten. Bei Wolfram stehen synonym zu sin
in dieser Bedeutung
gemüete
("Willehalm" 2,24), und derselbe Begriff findet sich bei Gundacker von Judenburg, Brun von Schonebeck und in einer Brandanlegende. Die Wirkung der Inspiration auf das gemüete
beschreiben diese Dichter als Stärkung, Spendung von Weisheit oder Lenkung 1427 1428 1429 Weiterhin erscheinen gedanch , witze oder, mit ihnen gegenüber leicht verschobener Bedeutung, rede^^^ . Noch häufiger als die Lokalisierung des Inspirationsempfangs in einer Komponente des menschlichen Geistes ist seine Verlegung in ein bestimmtes Organ des menschlichen Körpers. Meist wird hier das Herz genannt. Wie der sin kann auch das Herz im Inspirationsakt mit dem Feuer des Heiligen Geistes durchglüht werden 14 31 14 32 Noch beliebter ist die Wassermetapher . Eine besonders enge Beziehung zwischen Gott und Mensch entsteht, wenn Gott im Inspirationsakt das Herz des Menschen berührt. Diese Vorstellung formuliert besonders intensiv der "Hiob"-Dichter 14 33:
Bruder Hermann, Iolande 2t. Gundacker von Judenburg, Christi Hort 243. Rudolf, Barlaam 109 (implizit). Oberdeutscher Servatius 55 (implizit). Bonus 6. Gundacker von Judenburg, Christi Hort 238; Brun von Schonebeck, Hohes Lied 45; von sente Brandan 5. 1428 Priester Wernher, Driu liet D 46f. mit geistlichem towe / begiuz den
1422 1423 1424 1425 1426 1427
minen gedanah. 1429 1430 1431 1432
Oberdeutscher Servatius 62-64. Johannes von Frankenstein, Kreuziger 83. Oberdeutscher Servatius 45. Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 18f. got mac wol mins herzen vaz / mit stme geiste erfuhten; Passional 3,63-65 (wo das Herz durch das Befeuchten erleuchtet werden soll); Hester 14f.; besonders schön in einer Dorotheenlegende aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (hg. von BUSSE, III), deren Verfasser bittet,
31
daz ein ader Durch mines herzen quader Uz sinnes Oluzze werde gericht, Daz deste süzer daz geticht 35 Werde in menschen oren. 1433 Beiläufig erscheint die Berührung des Herzens als auch bei Konrad von Fußesbrunnen (83f.).
Inspirationsmetapher
396
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
102 Den vinger La mynes Anruren 105 Werde,
diner
herzen das
ich
trost,
rechten
hant
zunder munder
von diner
kumft
-
Im "Rheinischen Marienlob" soll Christus das Herz des Dichters mit seiner Weisheit umwinden und mit seiner Liebe fesseln, so daß das Eisherz des Beters unter seinen liebenden Blicken schmilzt (23, 24, 39f.). Hier erreicht die Herzmetaphorik der 1434 Inspiration mystische Qualität Auf dem Hintergrund des Wissens darum, daß geistliches Dichten das Erkennen der göttlichen Wahrheit voraussetzt, lag es nahe, den Akt der Verleihung der Inspiration als Öffnung der Augen oder 1435 der Ohren zu beschreiben. Verwandt sind die Umschreibungen der dichterischen Begabung als Verleihung der Redegabe in den Ο "7 Λ A
C
Λ Α
Bildern der Öffnung des Mundes oder der Lenkung der Zunge Inspirationsmetaphern, die die göttliche Gnade nicht als Wirkung auf eine geistige Komponente oder ein körperliches Organ beschreiben, sondern den Menschen als ganzen von ihr erfaßt sehen, sind selten. Fast alle gehören zu Bildbereichen, die bereits angesprochen wurden: Johannes von Frankenstein bittet, in gerndes willen
brunst
/ üf disem
werke
enzundet
zu w e r d e n ^ ^ ® , während
Heinrich von Hesler die Wassermetapher zur Bitte um den Trunk der 1439 Minne des Heiligen Geistes abwandelt und der "Daniel"-Dichter um Aufnahme in die Schule des Meisters Christus bittet (19-21). Neu ist nur die Auffassung der Inspiration als Erweckung bei Hugo 4. · 1440 von Langenstein Fast in jedem Gebet stehen mehrere und manchmal zahlreiche Umschreibungen der dichterischen Begnadung nebeneinander. Dies ist möglich, weil es den Gebeten nicht um eine systematische Darstellung des Inspirationsgeschehens zu tun ist, die die Beschränkung auf einen das Gemeinte besonders prägnant zum Ausdruck bringenden 1434 Hinzu kommt noch eine Verbindung von Herz-, Heilungs- und Wassermetapher: Christus muß als Arzt das Herz des Dichters salben, damit es (wie sonst in der Wassermetapher) im geistlichen Dichten ergrünt (31f.). 1435 Öffnung der Augen: Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 312; Von sente Brandan 4; der Ohren: Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 334. 1436 Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 25; Hugo von Langenstein, Martina 1,36; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 335; Von sente Brandan 14. 1437 Bonus 12; Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu 84f.; Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 20f.; Hugo von Langenstein, Martina 1,36; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 82f. Ungewöhnlich ist die Bitte um Öffnung von Rachen und Gaumen bei Hugo von Langenstein (1,54-56). 1438 Johannes von Frankenstein, Kreuziger 70f. 1439 Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 330f. 1440 Hugo von Langenstein, Martina 1,53.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
397
Bildbereich erfordern könnte. Die Gebete sind ja keine poetologischen Abhandlungen. Was sie anstreben, ist eine möglichst nachdrückliche Formulierung der Inspirationsbitte, und zu diesem Zweck greifen sie zum Mittel der variierenden Häufung vieler Bezeichnungen und Metaphern. Die einzelnen Bilder entstammen kaum je einem homogenen Feld von Bildspendern. Nicht vom Durchhalten einer motivischen Vorstellung erhoffen die meisten Gebete Eindringlichkeit, sondern von der vielfachen Wiederholung derselben Bitte in immer neuen Worten und Vorstellungen. Das nach dem Beistand im Dichten wichtigste Anliegen in den Eingangsgebeten der geistlichen Gedichte der Blüte- und Spätzeit ist die Sündenvergebung oder die Bewahrung vor neuer Schuld. Auf die Bedeutung, die der Reinigung von der Sünde nach Auffassung mancher Dichter für die Inspirationsspendung zukommt, wurde be144 1
reits hingewiesen . Aber auch wo ihre Relevanz für den Dichtprozeß nicht gesehen wird, können die Sündenvergebung oder der Schutz 1vor 4 4 2 neuen Verfehlungen zum Anliegen des Eingangsgebets werden . Da ihnen dann der Bezug auf die spezielle Situation des Dichters fehlt, können diese Gebete das Publikum miteinbeziehen 1und 4 4 3 auch für die Hörer und Leser um die erhofften Gnaden bitten . Mit der Betroffenheit aller Christen von den um die Sünde kreisenden Gebetsanliegen hängt wohl auch zusammen, daß in diesen Gebeten öfter als in den Inspirationsbitten der Dichter das Publikum in einer Gebetsaufforderung zum Mitvollzug der Anru1 444
fung anhält Größer als in den Bitten um Beistand im Dichten ist in den Gebeten um Befreiung von der Sünde die Rolle der Heiligen. Meist 1445 treten sie als Fürsprecher auf ; Maria aber nimmt wie hinsichtlich der Spendung der Inspiration auch hier eine Sonderstellung ein. Sie kann als einzige Heilige nicht nur um ihr Eintreten 1441 S.o. S.384. 1442 Sündenvergebung: Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 97-124; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 325-31, 344-50; Walther von Rheinau, Marienleben 1-14; Gundacker von Judenburg, Christi Hort 171-89. - Bewahrung vor neuen Sünden: Priester Wernher, Driu liet D 12224; Wolfram, Willehalm 4,3-19; Marter der Heiligen Margareta 75-78; Marien Himmelfahrt 194-202; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 34458; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 1-16; Helwig, Märe vom heiligen Kreuz 1-5. - Verwandt ist das Gebet um Reue und Buße: Lamprecht, Sanct Francisken Leben 74-87, 332-39; Walther von Rheinau, Marienleben 122-31; Helwig, Märe vom heiligen Kreuz 6-8. 1443 Priester Wernher, Driu liet D 122-24; Marter der Heiligen Margareta 75-84; Helwig, Märe vom heiligen Kreuz 1-13. Lamprechts Gebete (Sanct Francisken Leben 74-87, 325-39, 344-50) sprechen zwar nur vom Dichter selbst, doch sind sie als Modelle für das Beten des Publikums gemeint, das sich mit ihnen identifizieren soll. 1444 Priester Wernher, Driu liet D 122-24; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 325-31; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 1-16.
398
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
für die Beter bei Gott, sondern darüber hinaus um eigenständige 1446 Spendung der erhofften Gnade gebeten werden Die für die Bitte um Sündenvergebung gewählten Bilder
bleiben
im Bereich des üblichen. Das alte Bild der Sünde als Wunde und 1447 Krankheit begegnet ebenso wie die gleichfalls traditionelle Vorstellung von der Gefangenschaft des Sünders in den Stricken 1448 des Teufels . Hinter diesen beiden Bildern treten alle anderen in den Hintergrund, so der vom "Willehalm" ausgehende
Gedanke,
Gott lasse sich voll Erbarmen die Sünden des Menschen 'leid 1449 sein' , und die recht naheliegenden Auffassungen der Sündenvergebung als Reinigung des H e r z e n s ^ 5 " und als Verzicht Gottes auf Strafe 1451 . Nur selten reiht ein Gebet mehrere Umschreibungen der Sündenvergebung aneinander. Die einzigen Beispiele bieten 1452 Ebernand von Erfurt, der konkrete Bilder bevorzugt , und 1453 Gundacker von Judenburg, der viel theoretischer formuliert Ähnlich schwach ausgeprägt wie die Bildlichkeit der
Sündenverge-
bung ist die für die Bewahrung vor künftiger Schuld. Die Bitte um Schutz ist etwa beim Priester Wernher kaum als Bild aufzufas1454 sen
. Wolfram und im Anschluß an ihn Ulrich von Etzenbach
ver-
stehen das angestrebte sündenfreie Leben als Antwort des erlö1445 Marter der Heiligen Margareta 75-84; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 83-87, 344-48; Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 97-124. Auch Wolframs Anrufung Willehalms (4,3-19) dürfte als Bitte um Vermittlung bei Gott zu verstehen sein. Der Heilige heißt zwar nicht ausdrücklich Fürsprecher, doch schließt die nachdrückliche Zurückführung seiner Heiligkeit und damit seiner Macht auf den Beistand Gottes eine nur von Willehalm ausgehende Begnadung des Menschen wohl aus. 1446 Als Gewährerin der erbetenen Gnade fassen Maria offensichtlich der Priester Wernher (Driu liet D 122-24) und Walther von Rheinau (Marienleben 122-26) auf. Der Verfasser der "Marter der Heiligen Margareta" (75-81) sieht Maria dagegen als Fürsprecherin. 1447 Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde lOOf.; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden 56-59; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 354f.; Gundacker von Judenburg, Christi Hort 174f. 1448 Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 104f., 122-24; Waither von Rheinau, Marienleben 125f.; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden 62. 1449 Der Gedanke erscheint außer bei Wolfram (Willehalm 1,10-12) nur noch bei Ulrich von Türheim (Rennewart 90f.). 1450 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 172. 1451 Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 112f. 1452 Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde lOOf. (Wunde), 104f. (Gefangenschaft) , 112f. (Verzicht auf Rache), 122-24 (Gefangenschaft). 1453 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 171-89. Hier haben die anschaulichen Bilder (Heilung, Reinigung, Annäherung des Dichters an Gott) weniger Gewicht als die abstrakten Formulierungen ('erneuere in mir deinen Geist' 'verwirf mich nicht vor deinem leuchtenden Antlitz', 'laß mir deinen Geist nicht fremd werden', 'gib mir die Freude deines Heils', 'beende meine Trauer über meine Sünden', 'erbarme dich meiner'). 1454 Seine Formulierung, Maria möge uns hie beh%te(n) / mit iv tvsentvaltiger gvte (Driu liet D 123f.), bleibt sehr blaß. Wolframs Ruf an Willehalm bevogete ouch mich vor schänden (4,18) ist durch den Begriff bevogeten allerdings bildkräftiger.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
399
sten Menschen auf das ihm geschehene Heil und bitten daher um die Gnade, sich der göttlichen Heilstat bewußt zu werden oder zu κ-, -u 1455 bleiben Eng verwandt mit den Bitten um Befreiung von der Sünde ist das Gebet um eine gelingende Gestaltung des Lebens aus dem Glauben. Es begegnet seltener als die nur mit der Sünde befaßten Anliegen. Insgesamt gibt es nur sieben Belege, die sich mit einer Ausnahme auf die Zeit von der Mitte des 13. Jahrhunderts an konzentrieren. Manchmal hat die Bitte um ein christliches Leben im Eingang beträchtliches Gewicht; Ulrich von Türheim1
5
etwa widmet ihr gut
zwanzig Verse. Wie die Bitte um Sündenvergebung bezieht auch sie die Rezipienten relativ stark mit ein: Bei Veldeke, Lutwin und 1457 Kunz Kistener beten Dichter und Publikum gemeinsam um eine Gnade, die allen zugute kommen soll, und bei Brun von Schöneb e c k 1 ^ ® sind die Hörer oder Leser wenigstens noch als Beter beteiligt, wenngleich das erhoffte Heil allein den Dichter betrifft. Umgekehrt ruft im entsprechenden Gebet im "Daniel"-Eingang der Dichter die Hilfe Gottes für das Leben in der Welt nur auf sein Publikum, die Ordensritter, herab, ohne sich selbst einzuschließen (50f.). Nur bei Ulrich von Türheim und Hugo von Lan1459 genstein betet der Dichter allein und nur für sich. Die meisten Bitten um ein gelingendes Weltleben sind an Gott gerichtet, doch können prinzipiell auch Heilige angerufen werden, wie Hugo und Kunz Kistener es tun. Im Vergleich zu den Formulierungen der Gebete um Sündenvergebung und Schutz vor weiterer Schuld zeigen die der Bitten um eine christliche Existenz ein größeres Spektrum von Varianten. Veldeke legt alles Gewicht auf die für ein Leben aus dem Glauben heraus erforderliche Kraft und bittet in zweifachem Ansetzen um Gnade te
allen
getemen
guden
werken
und um sulike
macht
/ di
te
einen
dinste
("Servas", 28, 30f.). Ulrichs von Türheim Gebet um den
Heiligen Geist als Führer auf dem Weg zum Paradies ist ganz gefangen im Gedanken an die Begrenztheit der dem Menschen für Buße und Umkehr gegebenen Zeit1
und Hugo von Langenstein erblickt
1455 Wolfram, Willehalm 1,13-15; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden 63f. 1456 Ulrich von Türheim, Rennewart 87-107. 1457 Veldeke, Servas 26-34; Lutwin, Adam und Eva 64-71; Kunz Kistener, Jakobsbrüder 19-22. 1458 Brun von Schonebeck, Hohes Lied 29-32. 1459 Ulrich von Türheim, Rennewart 87-107; Hugo von Langenstein, Martina 3,15-35. Hugos Gebet besteht zum kleinsten Teil aus Bitten; viel größeren Raum nimmt eine längere Belehrung über die Psychomachia ein.
1460 94 dinen geist mir, herre, sende, der mich, des weges \iri.se der da get zum paradyse! der ist leider mir noch zu enge, got herre, des nit verhenge
400
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
das Hauptproblem christlichen Lebens im Widerstreit von Leib und Seele, den er die Heilige Martina zu schlichten b i t t e t ^ ^ . Sonderbare Formulierungen wählen Kunz Kistener und Brun von Schonebeck. Kunz betet: 19 swem
ez
ze
hoeren
der
spreche
daz
sant
Jacop
mir
hie
unde
dort
si daz
in
gemacht, beste
nach,
mache
rieh,
eweclich.
Bei Brun heißt es: 29 ir
guten
mir
hin
werfet obir
bitet
daz
muze
leben
nuwen mine
ich gar
Brun sundir
segen
hecke: von
Schonebecke klage.
Ob der von Kunz schon für das Diesseits erbetene Reichtum und das von Brun erhoffte leben gar sundir klage Metaphern für ein Leben in Gott sind, ist kaum zu sagen. Vielleicht dringen hier weltliche Anliegen in die Eingangsgebete ein. Sie gewinnen jedoch keine Eigenständigkeit, sondern bleiben stets mit geistlichen Anliegen verknüpft, ganz deutlich bei Kunz Kistener, der im selben Atemzug um den Reichtum des ewigen Lebens bittet, erkennbar aber auch bei Brun von Schonebeck, wo sich ein langes Gebet um das Gelingen seines geistlichen Gedichts unmittelbar anschließt (33-61) Viele Eingangsgebete richten den Blick über die Umstände der diesseitigen Existenz hinaus auf das Schicksal des Beters nach dem Tode und bitten um das ewige Leben . Da die Dichter dieses Anliegen mit allen Christen teilen, sind auch hier die Rezipienten oft in die Bitten einbezogen, wenn nicht als mit dem Dichter gemeinsam Betende, so doch zumindest als in sein Gebet Eingedaz mir der Up ersterbe 100 e ich din hulde erwerbe und gar von sunden sheide! ie für eine tageweide ich gein dem tode rite, nu heiz den tot daz er bite 105 untz ich mich baz berihte, herre, gein den gerihte daz über al die weit gatl 1461 3,20f. Nv ruoch an mir gestillen
/ Dez libis
und der sele
strit.
1462 Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu 1-11; Rheinisches Marienlob 20; Wetzeis Margareta 92f.; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 152-56, 340-43; Ulrich von Türheim, Rennewart 108-13; Hugo von Langenstein, Martina 1,30-34; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 362-67, Apokalypse 100-35; Daniel 52f.; Makkabäer, hg. von HELM, 340-56; Der maget kröne 36-40; Kunz Kistener, Jakobsbrüder 66-70.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
401
schlossene^^^. Die weitaus meisten Gebete mit diesem Anliegen 1464
rufen Gott an, aber auch an Heilige, insbesondere an Maria , können sich Bitten um die Seligkeit wenden. In ihrer sprachlichen Gestaltung sind die Gebete um das ewige Leben zumeist wenig originell; wenn sie bildlich sprechen, begegnen vor allem die von den biblischen Schilderungen des Jüngsten Gerichts ausgehenden Vorstellungen, die das erhoffte Heil sowohl positiv als Aufnahme in die Seligkeit als auch negativ als Bewahrung vor der Hölle ,. 1465 formulieren Mit den Bitten um Beistand im Dichten, um Befreiung von der Sünde, um eine gelingende Existenz und um das ewige Leben sind die Hauptanliegen der Eingangsgebete geistlicher Gedichte der Blüte- und Spätzeit erfaßt. Bitten anderen Inhalts begegnen praktisch nicht. Dagegen finden sich in vielen Gebeten längere oder kürzere preisende Passagen. Sie dienen manchmal zur Begründung der Bitten: Weil Gott die Heilstaten, für die das Gebet ihn preist, vollbracht hat, darf auch der Dichter auf Erhörung seines Gebets hoffen. Dieser Kausalzusammenhang kann durch entsprechende Bemerkungen des Dichters unterstrichen werden. Wenn solche expliziten Querverbindungen zwischen Bitte und Lob fehlen oder nur schwach ausgeprägt sind, löst sich das Lob - vor allem, wenn es einen längeren, in sich geschlossenen Abschnitt bildet - bis zu einem gewissen Grad aus der logischen Unterordnung unter die Bitte; es ist dann nicht mehr hauptsächlich als deren Begründung rezipierbar, sondern erscheint primär als eigenständiges Lobgebet. Ausführliche lobende Passagen enthalten, bedingt durch die Übernahme des Schöpfer- und Herrschermotivs, vor allem viele Gebete 1463 Gebete des Dichters allein für sich finden sich nur bei Lamprecht von Regensburg (St. Francisken Leben 3 4 0 - 4 3 ) , der aber an anderer Stelle im Eingang auch für sein Publikum betet ( 1 5 2 - 5 6 ) , und bei Ulrich von Türheim (Rennewart 1 0 8 - 1 3 ) . 1464 Gebete an Maria: Rheinisches Marienlob 2 0 ; Kunz Kistener, Jakobsbrüder 6 6 - 7 0 . - An eine andere Heilige: Hugo von Langenstein, Martina 1 , 3 0 - 3 4 . 1465 Aufnahme in die Seligkeit: Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu 4 - 7 ; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 3 4 3 ; Ulrich von Türheim, Rennewart 1 1 2 ; Heinrich von Hesler, Apokalypse lOOf., 1 0 5 - 0 7 , 1 1 1 , 1 3 0 f . , 1 3 3 - 1 3 5 ; Daniel 5 2 f . ; Makkabäer, hg. von HELM, 3 4 1 f . Kunz Kistener, Jakobsbrüder 7 0 . - Bewahrung vor der Hölle: Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu 8 - 1 1 ; Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben 1 5 2 - 5 6 , 3 4 0 - 4 2 ; Hugo von Langenstein, Martina 1 , 3 2 - 3 4 ; Heinrich von Hesler, Apokalypse 1 0 9 , 1 2 3 - 2 5 . - Andere Vorstellungen sind viel seltener. Marianisch formulieren die Bitte um das ewige Leben das "Rheinische Marienloh", das die Seligkeit als Ort der Freuden Marias versteht (20) und "Der maget kröne", deren Verfasser bittet, durch Marias Vermittlung nach dem Tode ihren Sohn schauen zu dürfen ( 3 6 - 4 0 ) . Zu ausgefallenen Prägungen ist durch den über fast 30 Verse durchgehaltenen identischen Reim am Ende seiner Vorrede der Verfasser der von HELM edierten Makkabäerdichtung gezwungen; er beschreibt das Himmelreich unter anderem als der waren ruwe
402
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
der "Willehalm"-Tradition. In ihnen ist nur selten das Lob eng auf die Bitten bezogen. Wolframs Bemühen um die gegenseitige Durchdringung von Lob und Bitte wenigstens im ersten Teil seines G o t t e s l o b s h a t also wenig Nachfolge gefunden. Nur Ulrich von dem Türlin läßt Lob und Bitte im Eingangsgebet wechseln^ ^ . Alle anderen Gebete, die sich an Wolfram orientieren und preisende Passagen enthalten, trennen formal klar zwischen lobenden und bittenden Abschnitten So starke Impulse Wolframs Ausgestaltung des Gotteslobs durch das Motiv des Schöpfergotts der Entwicklung des Lobgebets im Eingang gegeben hat, neu eingeführt hat er den Gottespreis am Werkbeginn nicht. Auch vor Wolfram finden sich schon Lobgebete in Eingängen, so bei Otte^ ^ und besonders ausgeprägt bei Albert von Augsburg, der sein Gedicht mit einem 24 Verse langen Gottespreis beginnen l ä ß t ^ ^ . Der von Wolfram an so wichtige Schöpfungsgedanke spielt in diesen beiden Gebeten noch keine Rolle. In der Mariendichtung kann im Eingangsgebet ein Lob der Gottes1471 mutter erscheinen . Lobgebete auf andere Heilige finden sich nur in den Eingängen einer kleinen Zahl von Einzellegenden aus dem "Alten Passional". Sie bilden zugleich die einzigen 1472 Belege für Lobgebete, die nicht mit Bitten verbunden sind Als B e t e r tritt in den Eingangsgebeten der geistlichen Gedichte nach 1170 das Publikum stärker in Erscheinung als zuvor. Zwar überwiegen auch jetzt noch die Gebete allein des Dichters, aber wo es um allgemeinere, nicht an die Situation des Dichters gebundene Anliegen geht, sind die Hörer und Leser nicht selten aufgefordert, sich dem Gebet des Autors anzuschließen, ja in einigen wenigen Eingängen lädt der Verfasser das Publikum zu einer banc (343) und der vreuden sahrano (354). 1466 Die Verse 1 , 1 0 - 1 5 unterbrechen den Gottespreis durch eine nicht einmal kurze Bitte. 1467 Ulrich von dem Türlin, Willehalm. Bitten sind die Verse I 1 - 6 , II 1 2 - 3 1 und III 1 6 - 2 5 ; die dazwischen liegenden Abschnitte tragen preisenden Charakter . 1468 Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat; Väterbuch; Passional; Marien Himmelfahrt; Heinrich von Freiberg, Legende vom heiligen Kreuz; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi, Apokalypse; Johannes von Frankenstein, Kreuziger; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft; Hiob-Paraphrase. Außerhalb der "Willehalm"-Nachfolge steht das Gotteslob im Eingangsgebet der "Marter der Heiligen Margareta" ( 7 - 2 6 ) . Sein Hauptgedanke ist die Menschwerdung Gottes aus Maria als Beginn der Erlösung; das Schöpfermotiv fehlt. 1469 Eraclius 5 1 - 6 3 . 1470 Ulrichslegende 1 - 2 4 . 1471 Priester Wernher, Driu liet D 5 9 - 7 6 ; Jüdel 5 - 1 4 ; Rheinisches Marienlob 1 10; Walther von Rheinau, Marienleben 2 9 - 5 8 ; Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede. Bei Bruder Philipp ( 9 - 1 2 ) ist das Marienloh weniger ausgeprägt; die Eingänge Könemanns und des Schweizers Wernher kennen es gar nicht. 1472 Johannes Evangelist; Augustinus; Franziskus; Katharina.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
Bitte ein, ohne selbst mitzubeten
1 473
403
. Dagegen bleiben die Gebete
um das Gelingen des Werks Sache des Dichters selbst. Nur in A u s 1474 nahmefällen ist das Publikum an ihnen beteiligt Autobiographische Aussagen darf man in den
Eingangsgebeten
nicht suchen. Das Bild, das die Beter von sich zeichnen, ist meist stark vom Bewußtsein der Sündigkeit 1475 aller Menschen und ihrer Gnadenbedürftigkeit her stilisiert . Die meisten Aussagen der Beter über sich selbst sind entweder Bekenntnisse der dichterischen Unfähigkeit oder Beteuerungen ihrer Schuld vor Gott. Oft bleiben sie kurz und unpräzise und bekennen keine 1
spezifische
7
Sünde, sondern eine allgemeine Schuld ^ **, 1477 ja manchmal sogar nur die prinzipielle Sündigkeit der Menschheit . Solche Beteuerungen sind meist ganz unmetaphorisch formuliert in Begriffen wie 'Sünde',
'Unrecht',
'Missetat'. Andere, vor allem längere Be-
kenntnisse bedienen sich einer ausgeprägteren Bildlichkeit. wirkt eher zufällig bei Ebernand von Erfurt, der nur
Sie
konventio-
1473 Z.B. Wetzeis Margareta 89-102; Brun von Schonebeck, Hohes Lied 29-32. 1474 Veldeke, Servas 1-12, 170-98; Albert von Augsburg, Ulrichslegende 45-50; Ulrich von dem Türlin, Willehalm V 6-15; Makkabäer, hg. von HELM, 337-39. Bei Albert entspricht der Einbezug des Publikums in das Gebet um Inspiration der Einbettung des Werks in eine geistliche Gemeinschaft. 1475 In welchem Maße für die Ausgestaltung dieser an sich überindividuellen Elemente die persönliche Frömmigkeit des Dichters verantwortlich ist, ist nie mit Sicherheit zu sagen. Am ehesten läßt vielleicht der Bericht des "Passional"-Dichters über die Vorgeschichte seines Unternehmens Autobiographisches durchscheinen: 3,41 min herze lange mir gebot daz ich mich druf bedechte vnde zuo dute breohte ein teil diner heiligen leben 45 do wart min wille wiederstreben wand ich die Vernunft wol saoh in mir zuo dunkel vnd zuo swach gegen so grozer arbeit zu iungest bin iah doch, beweit 50 nach vier iaren in den sin daz ich griffe an das begin Aber selbst hier ist Vorsicht angebracht. Die so persönlich klingenden Aussagen über den widerstrebenden Willen und die unerleuchtete Vernunft gehören zum Repertoire der Demutsbeteuerungen geistlicher Dichter, und die geschilderte Situation scheint nach den biblischen Vorbildern Jeremias und Jonas stilisiert, die sich wie der Beter zunächst dem großen Auftrag der Verkündigung entzogen (Ier 1,6; Ion 1,3). Für einen autobiographischen Gehalt dieser Passage spricht demnach kaum mehr als die exakte Zeitangabe von vier Jahren (3,50) und die vielleicht zu moderne Bereitschaft, dem Verfasser eines solchen Riesenwerks ein jahrelanges Zurückweichen vor der Aufgabe gern zu glauben. 1476 Veldeke, Servas 175, 183, 196; Priester Wernher, Driu liet D 51; Bonus 8; Oberdeutscher Servatius 44; Walther von Rheinau, Marienleben 12f. , 129; Passional 3,91-93; Heinrich von Freiberg, Legende vom heiligen Kreuz 93. 1477 Ulrich von dem Türlin, Willehalm I 12 swie gar wir szn versündet; Der
404
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
EINGANGSGEBETE
nelle Sündenmetaphern reiht 1 ^®, erreicht aber große Geschlossenheit bei Konrad von Fußesbrunnen und Otte, die ihre Schuldbeteuerungen in die Metaphorik neutestamentlicher Gleichnisse kleiden. Konrad geht aus vom Gleichnis des königlichen Hochzeitsmahls, zu 1479 dem ihm das Festkleid der rrnnne fehle , während Otte gesteht, wie der Knecht im Gleichnis mit den ihm anvertrauten Pfunden witze
und sin
nicht gewuchert zu haben^®^. Aber das sind Ausnah-
men; viel häufiger sind unmetaphorische, nur mit einzelnen Bildern geschmückte Bekenntnisse. Aus der Confessio
geht das Gebet um Sündenvergebung meist ganz
selbstverständlich hervor. Nur zwei Dichter, Otte und Ulrich von E t z e n b a c h ^ 1 , meinen begründen zu müssen, warum sie sich trotz ihrer Schuld mit einer Bitte vor Gott wagen. Beide berufen sich auf dasselbe Bibelwort, das dem reuigen Sünder Erbarmen verheißt^4®^. Die ihnen genau entgegengesetzte Position vertritt Wolfram, für den Gottes Erbarmen mit dem Büßer so außer Frage steht, daß die Vergebung geradezu zum Wesen Gottes gehört: Gott erweist sich erst dadurch als Vater der Menschen, daß er ihnen ihre Schuld erläßt ("Willehalm" 1,6-8). Ottes Geständnis, witze und sin nicht in den Dienst Gottes gestellt zu haben, ist zugleich ein Beispiel für eine präzisere Formulierung der Confessio, die nicht nur die allgemein menschliche Sündigkeit, sondern exakter ein Versagen als geistlicher Dichter bezeichnet. Noch eindeutiger auf die spezielle Situation des Dichters bezogen ist die von Hartmann ausgehende, seit Konrad von Fußesbrunnen in geistlichen Werkeingängen gelegentlich innerhalb der Gebete^ zu findende Revokation früherer weltlicher Werke als Jugendsünden. Wie verfehlt es wäre, sie autobiographisch zu nehmen, zeigt das Beispiel Rudolfs, dessen weltliche Gedichte beide erst nach der Revokation im "Barlaam"-Ein1484 gang entstanden. Die Zurückweisung weltlicher Dichtung ist ein rhetorisches Mittel, mit dem der Beter die unvergleichlich größere, weil heilswirksame Relevanz geistlichen Dichtens durch die Abwertung des Gegenteils unterstreicht.
eVlend Even kind sein wir. in den tot / von engestltehen vunden-, 104f. ein gevangen man, / der gerne tedic were·, 123 des tüvels
maget kröne 29 1478 lOOf. wunt biz 1479 1480 1481 1482 1483
banden.
51-67. Vgl. Mt 22,1-14; Lc 14,16-24. 1-37. Vgl. Mt 25,14-30; Lc 19,11-27. Eraclius 38-50; Wilhelm von Wenden 50-55. Ez 33,11. Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu 66-75; Ulrich von Türheim, Rennewart 114-23, Ulrich von dem Türlin, Willehalm III 27-29. 1484 150-56. Rudolfs Revokation steht also außerhalb des Gebets.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
405
Das Eingangsgebet ist auch ein beliebter Ort für die Namensnennung des Dichters, denn die Verbindung der Selbstnennung mit einem Gebet ist am ehesten geeignet, den Verdacht des dem geistlichen Werk unangemessenen Dichterstolzes abzuwehren^®^. Besonders effektiv gelingt dies, wenn der Dichter seinen Namen in einer Bitte um Fürbitte n e n n t d e n n
das Publikum muß wissen, für
wen es beten soll. Aber auch die Namensnennung in einem Gebet des Dichters selbst^
7
kann der Unterstellung egozentrischer Motive
den Boden entziehen, denn sie ist Ausdruck der völligen Identifizierung des Dichters mit dem Gotteslob, den Bekenntnissen und den Bitten seines Eingangsgebets, die alle nur aus einer Haltung der Demut erwachsen sein können. Weit davon entfernt, Ausdruck dichterischen Selbstbewußtseins zu sein, ist die Namensnennung des Verfassers im Gebet eine Bekräftigung seiner Demut vor Gott. Die Bezeichnungen für das
B e t e n
sind in der Blüte- und
Spätzeit recht vielfältig; bildliche Umschreibungen begegnen jedoch relativ selten. Für alle Anrufungen Gottes kann beten
stehen,
ein Ausdruck, der gelegentlich durch Wendungen wie 'sein Gebet 1485 Wie sehr die Dichter mit diesem Verdacht rechnen mußten, illustriert ein Abschnitt aus dem Eingang der "Apokalypse" Heinrichs von Hesler. Heinrich schwankt lange, ob er seinen Namen nennen soll, und tut es schließlich gegen schwere Bedenken nur, um dem Publikum das namentliche Gebet für ihn zu ermöglichen:
136 Seliger vater, sende Mir dinen heiligen geist! Ich weiz wol daz du wol weist Vor minen narrten ungenant. 140 Oer werlde bin iah unbekant; Sal mich die bekennen, Der muz ich mich nennen. Vorswige ich. mich, wer weiz mich dan? Nen ich mich ouch, so wenet man 145 Daz ichz tu durch minen rum, Als ich sal haben wistion. Wistumes han ich wenic, Doch bin ichz nicht al enic; Swas ich aber wistumes habe, 150 Da muz ich Wucher geben abe Gote, der mir gab di kunst, Und der werlde durch ir gunst, Daz mir di werden nicht engramen. Heinrich heiz ich mins rechten narrten, 155 Hesler ist min hus genant. Bi Gates guten sit gemant Daz ir mir wünschet heiles Uwer ieslich sines teiles. 1486 Wetzeis Margareta 90; Brun von Schonebeck, Hohes Lied 31; Lutwin, Adam und Eva 59; Heinrich von Hesler, Apokalypse 154-58. 1487 Wolfram, Willehalm 4,19; Ulrich von dem Türlin, Willehalm III 26; Heinrich von Freiberg, Legende vom heiligen Kreuz 92f.; Gundacker von Judenburg, Christi Hort 188f.; Helwig, Märe vom heiligen Kreuz 4f.; Schweizer Wernher, Marienleben 10, also an der Grenze von Gebet und Darlegung. Albert von Augsburg nennt seinen Namen verschlüsselt im Akrostichon des ersten Teils seines Eingangsgebets (Ulrichslegende 1-24).
406
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
tun'^®® oder
1
sprechen' 14 89 umschrieben wird. Synonym zu beten
steht, besonders in Aufforderungen zur Fürbitte, auch 'wünHäufigster Begriff für das Beten in Bittgebeten ist selbstver149 ständlich bitten. Intensiver wirken das recht seltene 'flehen1 und vor allem die beinahe schon metaphorischen Umschreibungen als 'anrufen' 1492 oder 'um Hilfe schreien' 1493 , die sich bis zu hochemotionalen Formulierungen steigern können 1494 . Dagegen sind die meisten anderen um den Begriff der Hilfe kreisenden Bitten mode1495 rater - die Beteuerung der Hoffnung auf rat und helfe genauso wie die Wendungen 1497 iah mich
helfe versiheoder
des nim iah mir
got zv hzlfe . Vielleicht am bildkräftigsten sind die Ausdrükke, die das Bittgebet als Uberbrückung einer räumlichen Distanz zwischen dem Beter und Gott beschreiben: Ich armer zu dir vlihe, betet der "Daniel"-Dichter (5), während Rudolf der Huld Gottes 1498 'nachjagt' und der Verfasser der "Judith" Gott in sein Gebet 'lädt' (9, 21, 25, 31, 37). Selten drücken die Beter die Demut ihrer Bitte durch die Gebetsgesten des Verneigens und des Niederkniens aus 1499 . Synonym zu bitten kann auch manen stehen 1500 , doch kann dieser Begriff auch die speziellere Funktion haben, Gott an sein Heilsversprechen zu erinnern . - Im Lobgebet ist natürlich loben der häufigste Begriff für das Beten. Er kann durch eine ganze Reihe von Wendungen umschrieben werden, die aber alle kaum neue Aspekte einbringen^®^. Für die seltenen Anliegen Dank und Klage begegnen keine Umschreibungen^. 1488 Daniel 86. 1489 Veldeke, Servas 3; Kunz Kistener, Jakobsbrüder 20. 1490 Marter der Heiligen Margareta 84; Wetzeis Margareta 92, 94; Heinrich von Hesler, Apokalypse 157; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 6; Lutwin, Adam und Eva 54; Helwig, Märe vom heiligen Kreuz 4. 1491 Ulrich von dem Türlin, Willehalm V 7; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 129; Daniel 90. 1492 Veldeke, Servas 171; Reinbot von Durne, Georg 76f., 94; Hermann von Fritzlar, Blasiuslegende 83,36; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi 345; Esdras und Neemyas 59f. ; Hiob 7. 1493 Wolfram, Willehalm 4,15; Passional 4,66; Esdras und Neemyas 62. 1494 Z.B. Der maget kröne 30-32: schreiend, seuffzend zu dir / mit weinen,
heschem ane zal / hie in diesem zäher tal. 1495 1496 1497 1498 1499 1500 1501 1502
1503
Priester Wernher, Driu liet D 136f. Stricker, Karl 91. Esdras und Neemyas 97. Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat 102. Gundacker von Judenburg, Christi Hort 171 ich ntge dir; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 128 Vur dich btge ich mtne kn£. Veldeke, Servas 172; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 63. Ulrich von Türheim, Rennewart 88; Marien Himmelfahrt 164. In ähnlicher Bedeutung an einen Heiligen gewandt: Reinbot von Durne, Georg 75. 'Lob sagen': Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat 91f.; ze lobe bringen·. Ulrich von dem Türlin, Willehalm II 19; 'Lob mehren': Priester Wernher, Driu liet D 48f.; vil lobes (...) mezzen·. Maria im Turnier 3; 'Ehre geben': Daniel 30. 'danken': Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln 54; 'klagen': Lamprecht
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
Spätzeit
407
Die Bezeichnungen für die Fürbitte des Publikums und die Fürsprache der Heiligen sind weitgehend dieselben wie die für das Beten des Dichters selbst; auch hier begegnen häufig bitten und 1504 'wünschen' . Die Vermittlung der Heiligen stellt man sich als Botendienst v o r ^ ^ . Marias Fürsprache wird besondere Wirksamkeit zugeschrieben. Sie kann Gott nicht nur bitten, sondern ihrem Sohn Jesus kraft ihrer mütterlichen Autorität sogar befehlen^ Eine für alle Eingangsgebete verbindliche Β a u f ο r m gibt es nicht. Zwar zeichnen sich Tendenzen zu bestimmten Bauplänen ab, doch erfassen diese stets nur einen Teil der Anrufungen und lassen selbst den Gebeten, denen sie zugrunde liegen, viel Freiheit zu individueller Ausgestaltung. Eine Tendenz geht dahin, in Gebeten, die Lob und Bitte beinhalten, das Preisgebet den Bitten voranzuschicken. Nicht wenige Anrufungen zeigen diese Anordnung ihrer A n l i e g e n ^ ^ , doch reichen die Übereinstimmungen nicht ins Detail. Die Gebete können Lob und Bitte ganz unterschiedlich gewichten, sie können beide in einen zusammenhängenden Gebetskomplex fassen oder sie durch eine eingeschobene darlegende Passage trennen, oder der Bauplan Lob-Bitte kann durch zusätzliche Elemente erweitert und variiert werden. Dies tun Ulrich von Etzenbach, der dem Lobgebet eine Bitte für die Gönner voranstellt^"®, oder Johannes von Frankenstein, der mit einer längeren Bitte um Fürbitte beginnt (1-16), so daß die Abfolge von Preis- und Bittgebet nur das Beten des Dichters selbst be.. .1509 stimmt Wie für die genannten Gebetsanliegen läßt sich auch für die Wendung an verschiedene Adressaten die Neigung zu einer bestimmten Anordnung feststellen. Wenn ein Dichter im Werkeingang sowohl Gott als auch einen Heiligen anruft, so beginnt er gern mit dem Gebet zu G o t t 1 5 ^ und deutet damit die Priorität Gottes, von dem dem Heiligen seine Heiligkeit als Gnade geschenkt ist, in der von Regensburg, Sanct Francisken Leben 59. 1504 Vereinzelt bleiben die naheliegenden Wendungen ze gote ^egen (Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde 53) und gedenken / zu Gotte (der Saelden Hort 70f.), natürlich auch Bruns ausgefallener Wunsch, das Publikum möge ihm seinen Segen hin obir sine hedke werfen (30). 1505 Z.B. Veldeke, Servas 189-91; Marter der Heiligen Margareta 75. 1506 Jüdel 21f. 1507 Albert von Augsburg, Ulrichslegende; Rudolf, Barlaam; Ulrich von Türheini, Rennewart; Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede; Heinrich von Freiberg, Legende vom heiligen Kreuz; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden; Heinrich von Hesler, Evangelium Nicodemi, Apokalypse; Johannes von Frankenstein, Kreuziger; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft. 1508 Wilhelm von Wenden 1-4. 1509 Als Variation des Lob-Bitte-Schemas kann man auch Wolframs "Willehalm"Eingang auffassen, der diese Bauform nicht streng durchführt, sondern schon in den langen Gottespreis eine Bitte einfügt (1,10-15). 1510 Veldeke, Servas; Wolfram, Willehalm; Ebernand von Erfurt, Heinrich und
408
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Anordnung der Anrufungen an. Aber auch das ist keine feste Regel; schon vom späten 12. Jahrhundert an findet sich eine geringe Zahl 1511 von Gebeten, die mit einer Heiligenanrufung einsetzen , und in den langen Gebetseingängen der Spätzeit, die teilweise mehrfach zwischen den Gebetsadressaten wechseln, kann ein Gebet 1512 zu Gott durchaus hinter eine Heiligenanrufung zu stehen kommen Die Untersuchung der Bauformen der Gebete führt auf die verwandte Frage, ob die Gebete an der Strukturierung des Werkeingangs beteiligt sind. In vielen Gedichtanfängen ist ein darlegender Mittelteil von Gebeten umgeben, so daß ein Gebetsrahmen entsteht. Dieser Bauplan ist zwar manchmal durch eine zusätzliche darlegende Passage am Schluß des Eingangs verunklart, doch auch in diesen Fällen ist noch von einem Gebetsrahmen zu sprechen, denn wo die darlegenden Schlußverse mehr sind als nur ein knappes und formelhaftes Anhängsel, tragen sie bereits den Charakter einer Überleitung zur Erzählung, während der Gedankengang des Eingangs mit dem zweiten Gebet abgeschlossen ist. Der Gebetsrahmen um den Eingang begegnet frühmittelhochdeutsch noch nicht; Velde1513 kes "Servas" kennt ihn in Ansätzen , und deutlich prägen ihn 1514 dann Albert von Augsburg und vor allem Wolfram aus, dessen Gebete im "Willehalm"-Eingang auch in dieser formalen Hinsicht dem Beten der Folgezeit starke Impulse gegeben haben. Viele spätere Eingänge übernehmen von Wolfram nicht nur die Umrahmung eines darlegenden Teils durch Gebete, sondern auch seine Gewichtung der beiden Anrufungen und manchmal sogar ihre Zuordnung zu verschiedenen Adressaten: Oft ist das erste Gebet deutlich umfangreicher als das zweite - so bei Rudolf, Bruder Hermann, Ulrich von Etzenbach, Johannes von Frankenstein, Heinrich von Neustadt, Könemann und im "Passional" 1515 , und gelegentlich richtet sich
Kunegunde; Marter der Heiligen Margareta; Wetzeis Margareta. 1511 Priester Wernher, Driu liet: Maria - Gott - Matthäus; Rheinisches Marienlob: Maria - Christus - Maria. 1512 Passional: Gott - Maria - Gott; Hugo von Langenstein, Martina: Gott Martina - Gott - Maria - Martina; Könemann, Wurzgarten: Gott - Maria Maria - Gott; Daniel: Gott - Maria - Gott - Maria; Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln: Gott - Maria - Gott; Kunz Kistener, Jakobsbrüder: Gott - Jakob - Maria - Gott. 1513 Veldekes Eingang beginnt und endet zwar mit einem Gebet (1-12, 170-98), doch ist, selbst wenn man die vielleicht unechten Partien unberücksichtigt läßt, die strenge Rahmenform durch ein weiteres Gebet im Eingangsinneren (26-34) durchbrochen. 1514 Bauplan: 1-30 Gebet, 31-44 Darlegung, 45-50 Gebet, 51f. kurze Schlußbemerkung. 1515 Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat 1-124, 157-61; Passional 1,1-4,2, 5,1-12 (hier ist zwar in den darlegenden Mittelteil ein weiteres Gebet eingeschoben - 4,64-66 -, doch wird es durch Kürze und syntaktische Integration in den darlegenden Kontext eng eingebunden); Bruder Hermann, Iolande von Vianden 1-ca. 6, 27; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
409
genau wie bei Wolfram der erste Gebetskomplex an Gott und der zweite an einen Heiligen, wofür Ebernand von Erfurt und wiederum 1516
Ulrich von Etzenbach Beispiele bieten . Die Einwirkung des "Willehalm"-Eingangs auf den Bauplan erfaßt vorwiegend Werkeingänge, die sich auch gedanklich an ihm orientieren. Insgesamt bilden die durch Eingangsgebete 1rahmenförmig strukturierten Werk517 eingange eine starke Minderheit . Nur in zwei Gedichten zeichnen sich Rahmenkonstruktionen innerhalb der Eingangsgebete selbst ab: nicht ganz klar in der "Judith" und deutlicher in Könemanns "Wurzgarten Mariens" 1518 . Etwas häufiger als im Frühmittelhochdeutschen scheint in der Blüte- und Spätzeit das Maß der Eingänge und Eingangsgebete zahlenkompositorisch begründet zu1 5 1sein. Mehrfach begegnet die 34, 9 die Zahl der Lebensjahre Jesu , als Kompositionszahl. Das erste Eingangsgebet in der "Marter der Heiligen Margareta" hat ebenso diesen Umfang wie Reinbots Anrufung Georgs (71-104), während in anderen Gedichten die Gesamtverszahl des Eingangs von der 34 her bestimmt sein könnte, ohne daß die Gebete durch besondere Maßzahlen ausgezeichnet wären. So umfassen die beiden Einleitungskapitel Ebernands genau 4 χ 34 Verse 15 und der Eingang des "Daniel" ist, wenn man entgegen dem Herausgeber die Uberschrift, die durchaus von einem Schreiber stammen kann, nicht in die Verszählung einschließt, 3 χ 34 = 102 Verse lang. Andererseits wäre auch ein 104-Verse-Eingang sinnvoll und bedeutungsträchtig, denn 5-79, 91-102; Johannes von Frankenstein, Kreuziger 19-92 (oder 1-92, wenn man die vorgeschaltete Bitte um Fürbitte einbezieht), 119-34; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 1-36, 77, 88; Könemann, Wurzgarten 1-41, 60-74. Ulrich von dem Türlin überbietet Wolframs Rahmenstruktur durch Erweiterung: Statt der Abfolge Gebet - Darlegung - Gebet (- Darlegung) ergibt sich bei ihm Gebet (I l-III 31) - Darlegung - Gebet (V 6-28) - Darlegung - Gebet (VI 24-26) - kurze Darlegung. Theoretisch wäre denkbar, daß Ulrich diese Form aus Veldekes "Servas" entlehnt hätte, der ihm dann ohne die vielleicht unechten Verse vorgelegen haben müßte. Aber die überdeutliche gedankliche Bezugnahme auf den "Willehalm" schließt diese Interpretation aus. 1516 Reinbot von Durne wandelt das "Willehalm"-Schema insofern ab, als er das lange Gotteslob im ersten Teil des Eingangs durch einen Preis der Auftraggeber ersetzt, so daß sich die Abfolge Fürstenlob statt Gotteslob Darlegung - Gebet zum Heiligen ergibt. 1517 Ohne gliedernden Sinn über den Eingang verteilt sind die Gebete zum Beispiel in den folgenden Werken: Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben; Walther von Rheinau, Marienleben; Väterbuch; Hugo von Langenstein, Martina; Der Saelden Hort; Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln. 1518 Im Eingangsgebet der "Judith" sind Anrufungen der einzelnen göttlichen Personen (25-44) von Anreden der Trinität umrahmt (1-24, 45-65), doch wird die klare Struktur verundeutlicht von einer abschließenden Hinwendung allein zu Jesus (66-70). Konsequenter verfährt Könemann, der im ersten der beiden Eingangsgebete zum "Wurzgarten Mariens" zunächst Gott und dann Maria anruft und im zweiten Eingangsgebet die Reihenfolge umkehrt. 1519 Zur Symbol- und Kompositionszahl 34 TSCHIRCH, Spiegelungen, S. 167-87. 1520 Die Auflösung der 136 in 4 χ 34 nimmt SCHRÖPFER vor ("Heinrich und Kuni-
410
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
er könnte als Summe der 34 und der nicht weniger inhaltsschweren Symbolzahl siebzig entstanden gedacht werden. Hier zeigt sich die grundlegende Schwierigkeit zahlensymbolischer Betrachtungen: Vor allem größere Zahlen lassen sich oft fast beliebig aufspalten, so daß je nach Verfahren beinahe jede gewünschte 'Symbolzahl1 herausdividiert werden kann. Die Texte selbst geben meist keine Hinweise auf die angemessene Deutung. Ob der "Daniel"-Dichter die Uberschrift, wenn sie überhaupt von ihm herrührt, mitgezählt wissen wollte, ist nirgendwo ersichtlich, und ob er an eine 3 χ 34- oder eine 34 + 70-Struktur gedacht hat, ist dem Text nicht zu entnehmen - Korrespondenzen zwischen den Versen 36, 70 und 104 (also zwischen dem nach Ausschluß der Uberschrift vierunddreißigsten, achtundsechzigsten und hundertzweiten Vers) sind ebensowenig zu erkennen wie zwischen den Versen 34 und 104. Hinzu käme im Falle der 3 χ 34-Deutung natürlich noch das Problem, zu ermitteln, ob der Dichter unter den vielen Bedeutungen der Drei an eine spezielle dachte, oder ob er in der Drei nur eine vage bedeutungsvolle 'heilige' Zahl sah, die ebensogut durch die gleichfalls auf eine Fülle symbolischer Inhalte verweisenden Fak1521 toren zwei oder vier hätte ersetzt werden können Neben der 34 scheint die Sieben in den Eingängen die beliebteste sinnhaltige Kompositionszahl zu sein. In der "Judith" darf man mit einiger Sicherheit von Zahlensymbolik sprechen, denn die 10 χ 7 Verse des Eingangsgebets entsprechen der Siebenzahl der Gaben des Heiligen Geistes, um die der Dichter ausführlich bittet. Siebzig Verse umfaßt auch der Eingang Kunz Kisteners (ohne daß die darin enthaltenen Gebete durch besondere Verszahlen auffielen) , doch stellt sich bei ihm kein Bezug zum Inhalt her. Dieser besteht wohl bei Bruder Hermann, der in einem Eingang von insgesamt 28 Versen um den Beistand des Heiligen Geistes bittet. Die Sieben bestimmt schließlich auch den Bau des Eingangs von "Der maget kröne", von dessen 6 x 7 Versen 4 x 7 dem Gebet zu Maria vorbehalten sind. Auf die Bedeutung der Bezüge auf B i b l i s c h e s in Inspirationsbitten als die Bitte unterstützende Verweise auf Präze1522 denzfälle wurde bereits eingegangen . Im Umkreis der Reflexionen der Gebete über das Dichten können sie darüber hinaus Formulierungen bereitstellen, die bestimmte Aspekte des Dichtprozesses gunde", S. 165), ohne den Faktor vier zu interpretieren. 1521 Während also für den "Daniel" alles unentschieden bleibt, denkt Reinbot bei der Abfassung seines gleichfalls 104 Verse langen Eingangs wohl an die Zerlegung in siebzig und 34, denn er gliedert deutlich in siebzig Verse Fürstenpreis und Vorbericht zum Werk sowie 34 Verse Gebet. 1522 S.o. S. 388f.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
411
ins Licht rücken. So steht hinter Wolframs bedeutungsvoller Beteuerung seiner Ungelehrtheit die exegetische Tradition von Ps 70,15, aus der heraus seine Worte erst als dichtungstheoretische 152 3 Position verstehbar werden . Dem Dichter der "Judith" liefert das Buch Daniel ein Bild für die Passivität des Menschen im 1524 geistlichen Dichten, in dem alle Aktion bei Gott liegt , während Konrad von Würzburg in der "Goldenen Schmiede" eine Bibelstelle in eine Beteuerung seiner geringen Kunstfertigkeit um1525 münzt . In Sündenbekenntnissen und Gebeten um Befreiung von der Sünde sind Verweise auf die Bibel ebenfalls nicht selten. Auch hier wurde auf das Wichtigste - die Begründung der Hoffnung auf Vergebung durch ein Prophetenwort und die Formulierung der Confessio in der Bildlichkeit neutestamentlicher Gleichnisse 1526 schon hingewiesen . Auch sonst ist die Bitte um Sündenvergebung manchmal ganz oder teilweise in biblischen Motiven formuliert, die sehr unterschiedlichen Stellenwert haben können. Gundacker von Judenburg zitiert in seinem langen Gebet um Rettung von der Sünde in deutscher Übersetzung einen einzigen Psalm152 7 vers ; am anderen Ende der Skala steht ein 21 Verse langes Gebet im vielleicht unechten Teil des "Servas"-Eingangs, das ganz von der von einer Stelle des Matthäusevangeliums ausgehenden1528 Bildlichkeit geistlichen Schlafens und Wachens bestimmt ist Zwischen diesen Extremen liegt eine weitere Bibelberufung des Verfassers der "Judith", der in einem Gebet verwandten Anliegens einen Psalmvers nicht nur ins Deutsche überträgt, sondern darüber hinaus lateinisch zitiert und überdies vor und nach dem Zitat paraphrasiert, ohne daß er jedoch für die Motivik des Gebets so bestimmend würde wie das Bibelzitat an der erwähnten "Servas"-Stel1523 Willehalm 2,19-22; dazu OHLY, Wolframs Gebet, S. 462-70. 1524 So dürfte das schwierige Bild der Verse 50-52 (Dichten ist buWen uf den berc / Da von ane hant gehouwen wart / Hie vor der stein in Gotes art·, vgl. Dan 2,34) am ehesten zu verstehen sein. 1525 104f.: ich muoz der türteltuben huon / zeim opher bringen ane golt. Die Anregung zu diesem Bild geht aus von Lc 2,24. 1526 S.o. S. 403f. 1527 Gundacker von Judenburg, Christi Hort 172; vgl. Ps 50,12. 1528 Veldeke, Servas 120-40; vgl. Mt 26,40f. 1529 S3 Ouch under deme daahe Buwe ieh ez der vitaahe SS Da von hie vor David sprach. Als iahz in im gesohriben saoh: 'In tegmine alarum tuarum sperabo'. Daz lutet zu dute also: 'Iah hoffe in diner vitchen dach'. 60 0 welch wunnencliah gemach In dir, herre, buwen ist Wand vullemunt und dach du bist! Das zitierte Bibelwort stammt aus Ps 35,8.
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DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
In ganz anderem Zusammenhang stehen Bibelzitate, wenn sie theologische Sätze bekräftigen sollen. Da die Darlegung von Glaubenswahrheiten nur eine Nebenabsicht eines Gebets sein kann, haben nicht viele Bibelverweise diesen Zweck. Heinrich von Freiberg und wiederum der Autor der "Judith" weisen ausdrücklich darauf hin, daß das Wunder der Trinität bereits im Alten Testament angedeutet sei^^®. Eher selten ist auch die Anführung von Bibelzitaten mit dem Ziel, typologische Präfigurationen Marias im Alten Testament 1531 nachzuweisen Von den starken
l i t u r g i s c h e n
Einflüssen, denen
ihre frühmittelhochdeutschen Vorgänger zum großen Teil unterlagen, lösen sich die Eingangsgebete der geistlichen Gedichte nach 1170 schnell. Die Einflüsse der Liturgie beschränken sich nun auf relativ seltene Zitate aus Meß- und Breviergebeten. Immer noch begegnen gelegentlich 1532 Formulierungen, die auf den Eingangsvers der Matutin zurückgehen
, aber sie stehen nicht mehr an so heraus-
gehobener Stelle wie im "Anegenge" (1) und werden auch nicht im lateinischen Original zitiert wie dort oder beim Armen Hartmann (3,3), so daß nun der Bezug auf die Liturgie kaum mehr auffällt. Gewichtiger, weil in den Eingangs- und Schlußversen piaziert, sind das Zitat des Titelverses des Veni
creator
spiritus
in der
"Urstende" Konrads von Heimesfurt (1), der 1533Bezug auf eine Pfingstsequenz des Notker Balbulus bei Veldeke und das Sanotus-Zitat Osanna
in
exaelsis
als Abschluß des Eingangsgebets in der "Ju-
dith" (70). Aber solche Stellen stehen in zweifacher Hinsicht isoliert: zum einen im jeweiligen Gebet selbst, denn kein einziges Eingangsgebet ist ganz die Nachbildung einer liturgischen Vorlage, sondern es zeigen stets nur einzelne Verse liturgischen Einfluß; zum anderen auch im Gesamtkorpus der Eingangsgebete der Blüte- und Spätzeit, denn eine Tradition der Formulierung des Eingangsgebets in liturgischen Begriffen entsteht nicht. 1530 Die "Judith" (13-20) bezieht sich auf Gen 18,2f. (Abraham erblickt drei Männer und spricht sie wie einen einzigen an), Heinrich (30-38) auf
Gen 1,26 (Faoiamus hominem). 1531 Dieser Gedanke liegt letztlich allen Metaphern für die Gottesmutter zugrunde, die aus dem Bereich des Alten Testaments stammen, denn alttestamentliche Bilder und Ereignisse konnten nur auf Maria angewandt werden, weil man in ihnen eine Vorausdeutung auf das Heilsgeschehen des Neuen Testaments und auf Marias Beteiligung an ihm erblickte. So stellt der Priester Werner (76) fest, Maria sei daz tov in Gedeonis wolle, und auf Gideons Tauwunder bezieht sich vielleicht auch das "Rheinische Marienloh" mit dem vers Df godes geist so Wold bedowen (3), obwohl hier auch an Is 45,8 (Borate caeli desuper, et nubes pluant iustum) gedacht sein könnte. Eine andere Beziehung Marias zum Alten Testament stellt der "Jüdel"-Dichter her, der ihre Hilfe für die Christen in der Leitung der Israeliten durch die Wüste Sinai präfiguriert sieht und die Gottesmutter preist als ge-
Ic&ite des weis losen hers. / Das inder wste irre vert (12f.) . 1532 Am deutlichsten bei Hugo von Langenstein
(1,35); entferntere Anklänge an
Lehrdichtung
413
Vielleicht am häufigsten sind noch Bezüge auf liturgische Gebete, die um Maria kreisen. Sie begegnen nicht nur in der Mariendichtung, wo die Eingangsgebete zu Könemanns "Wurzgarten" und "Der maget kröne" über mehrere Verse hinweg eine mariansiche An1534 tiphon und das Salve Regina übersetzen , sondern gehen auch in andere Gedichte ein: Der Verfasser des "Daniel" zitiert zwei Ver1535 se aus dem Ave Maria , und der Dichter des "Saelden Hort" beendet seine Gebetsaufforderung mit Worten, die an den Schluß des Salve Regina deutlich anklingen (82-84). Überdies soll die erbetene Fürbitte des Publikums im Sprechen eines oder zweier Ave 1536 Maria bestehen . Hierin deutet sich eine Gegentendenz zur Entwicklung der Gebete des Dichters selbst an: Während in ihnen der liturgische Einfluß abnimmt, zeigt sich im Beten des Publikums für den Dichter eine Neigung, der frei formulierten Bitte das liturgische Gebet vorzuziehen. 3. Lehrdichtung Die Lehrdichtung entzieht sich stärker als andere Gattungen der mittelalterlichen Literatur exakter Definition. Die didaktische Intention grenzt sie nicht scharf von anderen Feldern der Dichtung ab, denn im Mittelalter weiß sich alle Literatur, letztlich in der Tradition der spätantiken Theorien zur Legitimation von Dichtung im Christentum, mehr oder minder stark dem prodesse verpflichtet. Besonders eng sind die Beziehungen zur geistlichen erzählenden Epik, die, prinzipiell nicht anders als die religiöse Lehrdichtung, stets auf die Vermittlung von Glaubensinhalten oder Regeln und Vorbildern für ein christliches Leben zielt und sich von der geistlichen Didaxe nur durch die bevorzugte Vermittlungsform Erzählung unterscheidet, die nicht einmal durchweg dominieren muß, sondern vielfach von theoretisierenden Exkursen und Auslegungen unterbrochen oder, wie in Hugos von Langenstein "Martina", von ihnen sogar verdrängt sein kann. Kaum weniger stark geht Lehrhaftes, besonders in der nachhöfischen Zeit, auch in die weltliche Dichtung ein. Schon die großen höfischen Romane sind lehrhaft mindestens insofern sie ein bestimmtes Menschenbild proden Matutinvers s.o. S. 396, Anm. 1436. 1533 S.o. S. 251, Anm. 1053. 1534 Könemann zitiert, wie der Herausgeber feststellt, in den ersten zehn Versen "die 1. Strophe eines Weihnachtsresponsoriums" (S. 335), während der Schluß des Eingangsgebets zu "Der maget kr3ne" das Salve Regina überträgt (s.o. S. 338 und Anm. 1259). 1535 98f.: Du bist plena graaia, / Geseint vor allen vrawen. 1536 Ebd. 84f.; Daniel 85-90.
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DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
pagieren und es zum Teil in Exkursen auf den Begriff bringen; viel mehr noch aber viele Romane der nachklassischen Periode, die sich manchmal wie Rudolfs "Willehalm von Orlens" als ins Bild gesetzte Fürstenspiegel lesen und überdies oft ausführliche Belehrungen enthalten, die, als Unterrichtung einer Figur durch eine andere oberflächlich episiert, in das Romangeschehen nur notdürftig eingebunden sind. Solche nur schwach fiktionalisierten Belehrungen finden auch in geistliche Gedichte Eingang, besonders in die Disputationslegenden, für die der "Silvester"und der "Barlaam"-Stoff die besten Beispiele geben. Die Abgrenzung der Lehrdichtung von der erzählenden Literatur kann sich also auf keine qualitativen Aspekte beziehen, sondern sie ist eine Frage der Quantität, des Gewichts, das den didaktischen Elementen in einem Werk zukommt. Außer in die geistliche und die weltliche erzählende Epik geht die Lehrdichtung ohne klare Trennlinie auch in die Fachliteratur über. Die Grenze ist dort überschritten, wo sich der Autor nicht mehr an ein breites Publikum - alle Gläubigen, alle einem gemeinsamen Ideal Verpflichteten, einen bestimmten Stand - wendet, sondern nur für Spezialisten schreibt; außerdem auch dann, wenn sich der Verfasser ausschließlich zu einem sehr speziellen Thema äußert. Demgemäß ist ein Ritterspiegel noch zur lehrhaften Dichtung zu zählen, während Werke wie der "Gart der Gesundheit" 1537 , 1538 aber auch der "Sachenspiegel" oder ein nicht auf Breitenwirkung bedachter theologischer Traktat kaum noch zu ihr gehören. Vor noch größeren Problemen als die Definition der Lehrdichtung als Gattung steht der Versuch, sie selbst in Untergattungen zu gliedern. Zwar lassen sich innerhalb der Lehrdichtung bestimmte Themenbereiche und Darbietungsformen beschreiben. Sowinskis (sehr weit gefaßter) Begriff der Lehrdichtung gliedert sich auf in "Bibeldichtungen" , "Geistliche Lehrgedichte", "Verhaltenslehren", "Spruchgedichte", "Minnelehren", "Fabel und Tierepik", "Rätsel", "Chronikdichtung", "Nichtreligiöse Wissenslehren", "Reisebeschrei1539 bungen u. ä." und "Didaktische Gelegenheitsdichtungen" -, doch entziehen sich zahlreiche Werke der eindeutigen Zuordnung zu einer dieser Kategorien - nicht nur, weil Sowinski inhaltliche und formale Aspekte vermischt (ein 'geistliches Lehrgedicht' kann durchaus Spruchform haben, ist also in seinen Katalog nicht klar einzuordnen), sondern vor allem, weil viele Lehrgedichte sich 1537 (Johann von Cube:) Hortus sanitatis / Deutsch gedruckt von Peter Schöffer / Mainz 1485. 1538 (Eike von Repgow): Sachsenspiegel, hg. von ECKHARDT. 1539 SOWINSKI, Lehrhafte Dichtung.
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Lehrdichtung
nicht auf ein einziges Thema beschränken, sondern mehrere, teilweise nicht einmal benachbarte Gegenstände behändeIn^ ^. Erweist sich damit eine stark differenzierende Untergliederung der Gattung Lehrdichtung als dem Gegenstand unangemessen, so ist immerhin die viel gröbere Einteilung in weltliche und religiöse Didaxe durchführbar, obwohl sich auch hier gelegentlich Überschneidungen ergeben. Diese sind aber nicht so schwerwiegend oder häufig, daß die Aufgliederung der Lehrdichtung nach säkularen und religiösen Thematiken generell unmöglich würde. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen sind an die Eingangsgebete von Lehrdichtungen vor allem zwei Fragen zu stellen. Einerseits ist zu untersuchen, ob sie gemeinsame Züge aufweisen, die sie von den Eingangsgebeten anderer Gattungen unterscheiden. Zum anderen ist zu fragen, ob der grundlegenden Zweiteilung in religiöse und weltliche Lehrdichtung auch eine unterschiedliche Verwendung und Gestaltung des Eingangsgebets entspricht. Es liegt nahe, gattungstypische Besonderheiten der Eingangsgebete von Lehrdichtungen zunächst dort zu suchen, wo sich die Anrufungen zu Wesen und Absicht des Werks äußern: in der Formulierung des Gebetsanliegens und seiner Begründung. Tatsächlich ist in einigen Gebeten die Formulierung des Anliegens vom lehrhaften Charakter des Gedichts bestimmt. Die Inspiration, die Jo1541
hannes Rothe für sein "Lob der Keuschheit" Befähigung zur Belehrung: 41
Diah durah
45
bete
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kusche
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reinen, sy
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vormanet sollen
herre,
zu
gesahribe
kusohin dar
dar
erhofft, ist die
nu
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uff
disser
erden.
1540 Ähnlich SOWINSKI S. 27f. Wohl aus diesem Grunde gliedert er seine Monographie nicht nach den aufgezählten Untergattungen, sondern unterscheidet nur nach den größeren Bereichen "Bibelepik", "Dogmatische Lehrdichtung", "Moralische Ermahnungen und Verhaltenslehren in poetischer Form", "Lehrhafte Spruchformen" und "Gereimte Minnelehren". Aber auch hier ergeben sich noch viele Überschneidungen, vor allem zwischen dogmatischer und moralischer Lehrdichtung sowie den Spruchgedichten und allen anderen Bereichen. - Gegen SOWINSKI werden im folgenden Bibelepik und Chronik nicht als Formen der Lehrdichtung aufgefaßt. 1541 Johannes Rothe, Das Lob der Keuschheit, hg. von NEUMANN.
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DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Ähnlich rechnet Heinrich von Beringen auf den Beistand Gottes, 1542 weil sein Schachgedicht der l&re sahuol für den rehte 1543 gerenden (18f.) sei. Versteckter spielt Hugos von Trimberg Inspirationsbitte auf die lehrhafte Absicht seiner Dichtung an. Sein Wunsch, die Rezipienten mögen durch die Lektüre des "Renner" leides frt (35) werden, setzt voraus, daß das Werk Aufschluß gibt über die Vermeidung der Höllenstrafe, daß es also über den Weg zum Heil belehren kann. 1544 Deutlicher wird wieder Ulrich Boner im Eingang des "Edelstein" : 17
Wunderlicher Verliah
21 -
uns,
das -
wir erkennen
Die din
hant
Die du uns,
hat,
hast
das wir
uf den
hochen
gegeben
unser
pfat:
creature,
gut oder
Das man dich,
leben
grat
und der eren
lert alle
Si si denne
getat,
geschaffen
Der tugenden, Wan uns
dü
herre,
Zern spiegel, 25 Richten
got,
herre,
sure, minnen
sol.
Die Bitte, alle Geschöpfe in ihrer geistlichen Zeichenhaftigkeit erkennen zu dürfen, paßt genau zum Charakter einer Fabelsammlung, die im Gewand von Tiergeschichten über das rechte Leben belehren will. Auch hier ist also die Formulierung der Inspirationsbitte vom Werkcharakter geprägt. Betrifft bei Johannes Rothe, Heinrich von Beringen, Hugo von Trimberg und Ulrich Boner der Einfluß der Gattungszugehörigkeit auf das Eingangsgebet die Auffassung des Dichters von seinem 1545 Werk, so prägt er im "Lucidarius" die Auffassung von der inspirierenden Gnade. Die Autoren erbitten Belehrung durch den Heiligen Geist und die ewige Wahrheit: 28 Der helic
geist
ist der
Der sol uns an daz ende 30 Daz wir die erbeith Unbe alle
die
bringen,
uberwinden,
dinc,
Die an den buchen
1542 1543 1544 1545
lerer,
verborgen
sint.
Das Schachgedicht Heinrichs von Beringen, hg. von ZIMMERMANN. Der Renner von Hugo von Trimberg, hg. von EHRISMANN - SCHWEIKLE. Der Edel Stein getichtet von Bonerius, hg. von BENECKE. Lucidarius, hg. von HEIDLAUF.
Lehrdichtung
Dez helfe uns die ewige Die ane aller slathe 35 Alle diwelt
hat
417
wizheit,
arbeit
gezierth,
Unde uns den wistum
hat
geleret.
So wenig die Inspirationsmetapher der Belehrung auf die Eingangsgebete von Lehrgedichten beschränkt ist, so sinnvoll ist sie in deren Kontext, denn sie erfüllt dort zwei wichtige Funktionen: Zum einen ist sie eine Demutsbekundung vor Gott, insofern sie klarstellt, daß den Verfassern ihr Wissen von Gott geschenkt ist; zum anderen aber unterstreicht sie unübersehbar den Autoritätsanspruch des Werks, dessen Lehren sie auf Gott zurückführt, der sich der Autoren nur als Werkzeuge bedient. In manchen Lehrgedichten wird das Eingangsgebet schon der didaktischen Intention dienstbar gemacht. Solche Gebete enthalten lehrhafte Exkurse, die gleichberechtigt neben den eigentlichen Gebetselementen stehen oder diese sogar in den Hintergrund drängen wie zum Beispiel im Eingang zu des Strickers Gedicht "Vom heiligen Geist" 1 WIR suln loben den heiligen der unzaelliohen
geist
volleist,
diu uns von sinen gnaden
ahumt
und uns an mangen dingen
frumt,
5 und dioher, und furbaz,
denne wir uns
verstan,
denne wir ohunde
sin ohunst, diu ist manger
han.
slaht;
sin tugent, die sint uz der aht; sin gnade, diu ist 10 sin gäbe ist immer wir suln in bitten,
maneavalt; ungezalt. daz er uns ohum
und uns so hei fliehen daz wir an allen
sunden
und an aller tievel 15 gewinnen
gantze
frum, schunden
signunft.
Die lange Auflistung von Eigenschaften des Heiligen Geistes (2-10) ist, obwohl sie gedanklich und teilweise auch syntaktisch von der Aufforderung zum Lobgebet im ersten Vers abhängt, doch selbst kein Gebet, sondern eine erste, thesenartige Formulierung der Lehren, die im weiteren Verlauf des Gedichts ausgefaltet werden. 1546 Vom heiligen Geist Bd. 2 , S . 1 0 - 4 9 ) .
(Die Kleindichtung des Strickers, hg. von MOELLEKEN,
418
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Erst mit Vers 11 kehrt der Stricker mit der Mahnung zum Bittgebet zur Anrufung zurück. Von den ersten 15 Versen dieses Gedichts sind nur sechs wirklich als Gebet aufzufassen (1, 11-15); die restlichen neun verfolgen trotz ihrer gedanklichen und sprachlichen Anbindung an die erste Gebetsaufforderung nicht gebethafte, sondern belehrende Intention. Die durch das Eingangsgebet vermittelten Belehrungen brauchen nicht in enger Beziehung zum Werkthema zu stehen. Heinrich von 1 547 Kröllwitz stellt selbst fest, wie wenig sein rund 36 Verse langer didaktischer Exkurs im Eingangsgebet mit dem Thema des Werks zu tun hat: 49 Diz stn vremede
sache,
dar abe man mochte
mache
gute mire unde rede wen daz ez ist ein
lanah, anevanch
der rede, der ich beginne
wil.
Des enwil ich hie von iht zu vil 55 sagen, wende es ist
genuch.
Weil sich die angesprochene Thematik besser zum Gegenstand einer selbständigen Abhandlung eignet als zum Beginn einer VaterunserAuslegung, so sind diese Verse wohl zu verstehen, bricht Heinrich ihre Erörterung ab. Ganz im Gegensatz hierzu nimmt das gleichfalls stark theoretisierend-lehrhafte Eingangsgebet zu Heinrichs von Mügeln "Der meide k r ä n z " m i t seiner ausführlichen Reflexion über Gottes Wesen und speziell über die Beziehung zwischen Gott und Natur wichtige Themen des Werks vorweg: 10 naturen
hant dich nie
begreif
das sie dir, sohepfer, kein sin erspüren
wie ader wo din wesen das ist verborgen
gebe stat.
mak din pfat, ist:
aller
list.
15 Natura wenet doch, wie du in osten,
here, wonest
nu,
sint dem das erste wegn sich nam, davon geburt den tiren quam, nicht das du sist nach bunde da: 20 kein maß der zit dich mißet naturen bundes bistu
gra.
fri,
1547 Heinrich's von Krolewiz üz Missen Vater Unser, hg. von LISCH. 1548 Heinrich von Mügeln, Der meide kränz, hg. von JAHR.
Lehrdichtung
ouch
stürt
du bist wie
kein
ouch
formen
dink
aller
orden
din
419
edeli.
formen
an,
uß dir ran -
Der zitierte Ausschnitt aus Heinrichs weit längerem Gebet (5-50) zeigt, daß die sein Dichten prägende Orientierung an Frauenlob und der übrigen spätmittelalterlichen Spruchdichtung auch sein 1549 Beten bestimmt . Seine abstrakt-didaktische Eigenart ist anders als beim Stricker und bei Heinrich von Kröllwitz also nicht durch den lehrhaften Charakter des Werks bestimmt, sondern sie resultiert aus der Tradition der Denk- und Sprechweisen, in die Heinrich von Mügeln sich stellt. Nicht immer nehmen die lehrhaften Elemente einen so großen Anteil des Gebets ein wie beim Stricker, bei Heinrich von Kröllwitz und Heinrich von Mügeln. In anderen Anrufungen bleiben sie kurze, anscheinend spontan und assoziativ eingefügte Einschübe. Den Verfasser von "Aristotilis H e i m l i c h k e i t " e t w a bringt die Dreizahl seiner Gebetsanliegen auf einige Gedanken über die besondere Kraft dieser Zahl: 29 den bite
ich im zu
um drier
leie
lobe
gobe:
wen wer
iaht
der muz
han der drier
die an der
gutes
machen
sal
zal,
drivaltekeit
lit in gotes 35 die almaaht
einekeit. des vatirs
ist,
so hat die wisheit
Jesus
Crist,
gutwillio
ist der
heilegeist:
der drier
ger ich volleist
-
Da der besondere Charakter der Drei auf die Dreifaltigkeit zurückgeführt wird und am Ende des Exkurses der Verfasser tatsächlich die Trinität anruft, ist hier der lehrhafte Einschub relativ fest in den gebethaften Kontext eingebunden. Es wurde bereits gezeigt, daß auch die Eingangsgebete erzählender geistlicher Dichtungen lehrhafte Elemente durchaus kennen. In der Lehrdichtung ist die Neigung, das Eingangsgebet der didaktischen Intention zu unterwerfen, jedoch größer als in der erzählenden geistlichen Dichtung. Zur Regel wird die Didaktisierung 1549 Zu Eigenart und Herkunft der Denkformen und Sprechweisen Heinrichs von
Mügeln KiBELKA, der ware meister. 1550 Aristotilis Heimlichkeit, hg. von TOISCHER.
420
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
des Eingangsgebets aber auch in Lehrgedichten nicht; auch in ihnen sind Eingangsgebete, die stärker eine lehrhafte als eine Gebetsintention verfolgen, relativ selten. Mit der Unterordnung der Gebetsintention unter die didaktische Absicht, mit der Auffassung des Werks als Lehre und der Inspiration als Belehrung sind die drei Aspekte genannt, unter denen der Gattungscharakter von Lehrdichtungen auf die Eingangsgebete einwirken kann. Die Beziehung zwischen Gattung und Eingangsgebet ist nicht so stark, daß ein klar umrissener Typus von Eingangsgebet entstünde, der nur in der Lehrdichtung und nirgends sonst begegnete. Im Gegenteil - die Auffassung der Inspiration als Belehrung und die lehrhafte Absicht des Eingangsgebets begegnen auch in der erzählenden geistlichen Epik, und umgekehrt setzt eine ganze Reihe von Lehrdichtungen mit Gebeten ein, denen jeder Hinweis auf den didaktischen Charakter des Werks fehlt, so etwa der "Wälsche Gast" Thomasins von Zirklaere 1 5 5 1 , die Pseudo-Ari1552
stotelischen "Secreta Secretorum" (Fassung D) , die Bearbeitung des Schachbuchs Konrads von Ammenhausen durch Jakob Mennel und auch fachwissenschaftliche 1 5 5 4 Werke wie Hans Ramingers Gedicht "Von der natur des chinds" oder der große "Gart der Gesundheit". Offen ist bisher noch die Frage, ob sich weltliche und geistliche Lehrgedichte in der Verwendung von Eingangsgebeten unterschei den. Die naheliegende Erwartung, daß Gedichte, die über den Weg zum Heil belehren wollen, eher zu diesem Eingangselement greifen als solche, die über innerweltliche Dinge Auskunft geben, bestätigt sich nicht. Eingangsgebete sind in geistlichen Lehrgedichten nicht häufiger als in weltlichen. Zwar besitzen manche größeren geistlichen Lehrdichtungen ein Eingangsgebet (der "Lucidarius", Heinrichs von Kröllwitz Vaterunserauslegung, "Diu vrone botschaft 1555 ze der Christenheit" ), aber ihnen stehen mit Heinrichs von Neustadt "Visio Philiberti" 1556 und Konrads von Helmsdorf "Spie1551 Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. von RÜCKERT. 1552 TOISCHER, Die altdeutschen Bearbeitungen der Pseudo-Aristotelischen Secreta-Secretorum. Das Gebet sei wegen der abgelegenen Erseheinungsstelle zitiert: 1
1553 1554 1555 1556
Des höchsten sinns der maister edel, hilf aomponieren mir ain zedel, dar in iah wort besleusse der iah gen dir geneusse 5 und der weide gunst damit bejag. Abgedruckt in den Fußnoten zu Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen, hg. von VETTER, S. 6. Hans Raminger, Von der natur des chinds (Liederbuch der Clara Hätzlerin, hg. von HALTAUS, S. 287-90). Diu vr6ne botschaft ze der Christenheit, hg. von PRIEBSCH. Heinrich von Neustadt, Visio Philiberti.
Lehrdichtung
421
1557 gel des menschlichen Heils"
recht umfangreiche Werke gegen-
über, die die einleitende Anrufung nicht kennen. Unter den kurzen geistlichen Lehrgedichten etwa des Strickers und des Teichners bilden die, die mit einem Gebet einsetzen, eine verschwindende 1558 Minderheit . Entsprechend fehlt zwar einigen weltlichen didaktischen Gedichten - besonders solchen in Spruchform sowie Minne1559 lehren
- das einleitende Gebet, doch haben auch hier die mei-
sten größeren Dichtungen am Werkbeginn eine Hinwendung
zu
Gott^^.
Bei den kleineren Gedichten weltlicher Thematik ergibt sich ein ähnliches Bild wie im geistlichen Bereich; in ihnen ist das Eingangsgebet die Ausnahme^
. Stärker als vom geistlichen
oder
weltlichen Gegenstand des Werks hängt die Existenz eines Eingangsgebets in der Lehrdichtung also vom Werkumfang ab: Unabhän1557 Konrad von Helmsdorf, Der Spiegel des menschlichen Heils, hg. von LINDQVIST. 1558 Nur jeweils ein geistliches Gedicht des Strickers ("Vom heiligen Geist") und des Teichners (Nr. 281, "Von gotes marter", 1-11, Die Gedichte Heinrichs des Teichners, hg. von NIEWÖHNER, Bd. 1) weisen ein Eingangsgebet auf. 1559 Von den in Spruchform abgefaßten weltlichen Lehrgedichten haben der "Winsbecke" (Winsbeckische Gedichte nebst Tirol und Fridebant, hg. von LEITZMANN - REIFFENSTEIN) und Freidanks "Bescheidenheit" (hg. von SANDVOSS) kein Eingangsgebet. Unter den Minnelehren verzichten die meisten auf eine einleitende Anrufung: Hadamars von Laber "Jagd" (hg. von STEJSKAL), die "Minneburg" (hg. von PYRITZ), Eberhards von Cersne "Der Minne Regel" (hg. von WÖBER) sowie Egens von Bamberg "Klage der Minne" (MORDHORST, Egen von Bamberg und die geblümte Rede). Es ist bemerkenswert, daß trotz des Verzichts auf ein Eingangsgebet zwei Minnelehren, die "Minneburg" und die "Klage der Minne", mit einem geistlichen Eingang beginnen und die Liebe zwischen den Menschen aus der Menschenliebe Gottes herzuleiten versuchen (Minneburg, Lyrischer Prolog I l-II 2; Klage 1-22). Dahinter steht das Bedürfnis, die rein weltliche Thematik geistlich zu verankern, um vor dem Vorwurf sündiger Befassung mit einem unnützen, weil nicht zu Gott führenden Gegenstand bewahrt zu bleiben. Ein einziges Mal, in Johanns von Konstanz "Minnelehre" (hg. von SWEET), führt dieses Bemühen um eine geistliche Grundlage zu einem Eingangsgebet (12-19). Dieses ist jedoch ganz indirekt formuliert und läßt mit seiner Scheu, Gott direkt anzureden, noch das Bewußtsein durchscheinen, daß der rein weltlichen Minnedichtung eine Bitte um Gottes Beistand wenig angemessen ist. 1560 Thomasin von Zirklaere, Wälscher Gast 102, 139; Sachsenspiegel, Verseingang 8, 110-12, 230-48, 256-58, Prosaprolog 1-4; Seifried Helbling, hg. von SEEMÜLLER, I 1-14; Heinrich von Beringen, Schachgedicht 11-22; Aristotilis Heimlichkeit 1-44; Pseudo-Aristotelische Secreta secretorum D 1-5; Hugo von Trimberg, Renner 19-24, 30-36; Johann von Konstanz, Minnelehre 12-19; Konrad von Ammenhausen, Schachzabelbuch 1-24, 54-93, 230-37, 626f., 668-77, 798; Jakob Mennel 5-10; Des Teufels Netz, hg. von BARACK, 40, 56, 72f. ; Ulrich Boner, Edelstein 1-29; Johannes Rothe, Lob der Keuschheit 24, 41-48, 96; Hans Vintler, Die pluemen der tugent, hg. von VON ZINGERLE, 9-79; Heinrich von Mügeln, Der meide kränz 5-62; Gart der Gesundheit, Vorrede des Druckers; Johann von Morszheim, Spiegel des Regiments, hg. von GOEDEKE, 65-67. 1561 Die weltlich-didaktischen Gedichte des Teichners und des Strickers setzen sämtlich ohne Gebet ein. Nur ausnahmsweise beginnt ein kurzes weltliches Lehrgedicht mit einer Anrufung, so Hans Ramingers "Von der natur des chinds" (1-6, 14-18).
422
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
gig vom Inhalt neigen größere Dichtungen stärker zum Beginn mit einer Anrufung als kleinere.
Der abschließende
zusammenfassende Uberblick über die Eingangs-
gebete der Lehrdichtungen kann wegen ihrer Verwandtschaft nicht didaktischen geistlichen Gedichten kurz bleiben;
vieles,
was für diese gesagt wurde, gilt auch hier. Insbesondere weitgehend auf Wortschatzuntersuchungen
Der
kann
verzichtet werden, denn
die Eingangsgebete von Lehrdichtungen fügen dem bisher gestellten wenig
zu
Zusammen-
hinzu.
U m f a n g
der Eingangsgebete
in Lehrdichtungen
ist,
ebenso wie ihr Anteil am Gesamteingang, uneinheitlich. Er korre1562 liert weder mit dem Gesamtumfang des Werks noch mit seinem geistlichen oder weltlichen Charakter.
B e t e r
ist meist
allein der Dichter. Nur gelegentlich schließt sich das Publikum 1563 - in der Regel nur in Teilen der Anrufung - seinem Gebet an Selbst wenn das Publikum an der Anrufung beteiligt ist, wird meist für den Dichter allein gebetet, während Bitten auch für die Hörer sehr selten b l e i b e n ' ' u n d
über den Umfang von
zwei
Versen nicht hinauskommen. Der weitaus häufigste
A d r e s s a t
ist erneut Gott, der
in den allermeisten Gebeten unter den auch sonst in der geistlichen Dichtung üblichen Namen des ewigen Schöpfers und Herrscher s ^ ^ ^ , der Trinität oder einer einzelnen göttlichen son^
® oder schlechthin als
Andere Akzentuierungen
'Gott' und
'Herr'^^
Per-
angerufen
ist.
sind äußerst rar. Ein Gedicht des Teich-
1562 Es können durchaus kurze Gedichte lange und umfangreiche Werke kleine Eingangsgebete besitzen, wie die Beispiele des kleinen Stricker-Gedichts "Vom heiligen Geist", dessen Eingangsgebet 15 Verse lang ist (1-15), und andererseits der großen Lehrdichtung "Des Teufels Netz", die nur auf vier Gebetsverse kommt (40, 56, 12t.), zeigen. 1563 Vröne botschaft 39-41; Heinrich von Kröllwitz, Vaterunser 138f.; Hugo von Trimberg, Renner 19-24, 36; Johannes Rothe, Lob der Keuschheit 96. Nur beim Stricker (Vom heiligen Geist) und bei Ulrich Boner (Edelstein) ist die gesamte Anrufung gemeinsames Gebet von Dichter und Publikum. 1564 Des Teufels Netz 40; Konrad von Ammenhausen, Schachzabelbuch 626f. 1565 Lucidarius 19, 33-35; Heinrich von Kröllwitz, Vaterunser 1-2; Seifried Helbling 1; Ulrich Boner, Edelstein 1-17; Heinrich von Mügeln, Der meide kränz 5-50; Gart der Gesundheit, Vorrede des Druckers. 1566 Lucidarius 28-36; Stricker, Vom heiligen Geist 1-15; Vröne botschaft lf.; Sachsenspiegel, Prosaprolog lf.; Seifried Helbling 1-3; Aristotilis Heimlichkeit 1, 33-38; Konrad von Ammenhausen, Schachzabelbuch 674; Johannes Rothe, Lob der Keuschheit 41; Hans Vintler, Pluemen der tugent 30, 34; Hans Raminger, Von der natur ... 1-6. 1567 Vröne botschaft 28f., 39-42; Thomasin von Zirklaere, Wälscher Gast 102, 139; Sachsenspiegel, Versvorrede 8, 110, 238, 256; Seifried Helbling 9; Hugo von Trimberg, Renner 30; Johann von Konstanz, Minnelehre 17; Konrad von Ammenhausen, Schachzabelbuch 1, 57, 71, 77, 89 u. ö.; Mennel 5, 10; Des Teufels Netz 40, 56; Johannes Rothe, Lob der Keuschheit 24; Hans
Lehrdichtung
423
1568
ners über die Passion ruft im Eingang den suezzeη lieben got (1) an, der sich in seiner gruntlozeη lieb (17) kreuzigen ließ. Heinrich von Kröllwitz fasziniert der Gedanke vom Wohnen Gottes im Menschen, der ihn liebt (13-48), während Heinrich von Beringen Gott als 'Feind der Sünde' anruft (13). - Mehrfach erscheint als Adressatin Maria, doch stets nur in dem Gebet zu Gott klar untergeordneten Anrufungen^ . An andere Heilige wenden sich die Eingangsgebete von Lehrdichtungen so gut wie nicht. Die Bedeutung Marias und der Heiligen ist noch deutlich geringer als in den Eingangsgebeten nicht lehrhafter geistlicher Dichtungen. Für das B e t e n begegnen die geläufigen Begriffe 'bitten', 'flehen', 'mahnen', auch 'anrufen' und 'nach Gnade schreien'; nur der Ausdruck 'von Gott begehren' kommt neu h i n z u ^ ^ . Häufigstes A n l i e g e n ist die Spendung der Inspiration, die fast 1571
stets nur für den Autor erbeten wird . Motivisch bleibt die Inspirationsbitte im Rahmen des bereits Bekannten, und auch gedanklich findet sich in ihrem Umkreis wenig Neues. Zu erwähnen ist nur die besondere Gewissenhaftigkeit Konrads von Ammenhausen, der, da das Gebet eines Unwürdigen nicht erhört werde, die Inspirationsbitte mit dem Gebet darum verbindet, so leben zu dürfen, daß er der Erhörung seiner Bitten würdig sei (73-84). Weiter beten einige Lehrdichter um ein gelingendes Leben in der Welt 1572 1573 und um das ewige Heil , wobei sie nur selten das Publikum einschließen. Diese Bitten sind nie die einzigen Anliegen eines Gebets, sondern stets einer anderen Gebetsintention untergeordnet. Ihre motivische und gedankliche Ausgestaltung bietet nichts Bemerkenswertes. Eine ganze Reihe von Eingangsgebeten enthält ein Vintler, Pluemen der tugent 9, 23, 63, 76. 1568 Von gotes marter. 1569 Heinrich von Beringen, Schachgedicht 20-22; Aristotilis Heimlichkeit 8f.; Heinrich von Mügeln, Der meide kränz 59-62; Hans Raminger, Von der natur ... 14-18. 1570 Thomasin von Zirklaere, Wälscher Gast 139; Aristotilis Heimlichkeit 20, 38. 1571 Lucidarius 19-21, 29-36; Vröne botschaft 1-3, 39-42; Thomasin von Zirklaere, Wälscher Gast 139; Sachsenspiegel, Versvorrede 5-8, 110-12, Prosaprolog 1-4; Secreta secretorum D 1-5; Aristotilis Heimlichkeit 6, 9f., 17-19, 2lf. , 29f. , 38-44; Seifried Helbling 1-14; Heinrich von Beringen, Schachgedicht 12-22; Hugo von Trimberg, Renner 30-36; Johann von Konstanz, Minnelehre 12-19; Konrad von Ammenhausen, Schachzabelbuch 1-24, 85-93, 230-37, 668-77; Des Teufels Netz 56, 72; Ulrich Boner, Edelstein 21-29; Heinrich von Mügeln, Der meide kränz 51-62; Johannes Rothe, Lob der Keuschheit 43f.; Hans Vintler, Pluemen der tugent 9-38, 60-79; Hans Raminger, Von der natur ... 1-6, 14-18. Nur bei Boner ist das Publikum in die Bitte um Erkenntnis eingeschlossen. 1572 Stricker, Vom heiligen Geist 12-15; Konrad von Ammenhausen, Schachzabelbuch 54-84, 626f.; Des Teufels Netz 40; Ulrich Boner, Edelstein 17-20. 1573 Heinrich von Kröllwitz, Vaterunser 138f.; Aristotilis Heimlichkeit 1-4, 13-15; Hugo von Trimberg, Renner 19-24; Johannes Rothe, Lob der Keuschheit 24, 96; Hans Vintler, Pluemen der tugent 23f.
424
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
G o t t e s l o b ^ 7 4
_ Zweimal begegnen Verwünschungen: Im Eingangsgebet
der "Vronen botschaft" richtet sich eine kurze Verfluchung gegen alle, die das Sonntagsgebot mißachten (28f.), und Eike von Repgow verwünscht, wesentlich nachdrücklicher, die Verfälscher seines Werks (Versvorrede 230-48, 256-58). Nicht zu übersehen ist, daß, wie bereits dargestellt, nicht wenige Eingangsgebete von Lehrdichtungen neben der Gebetsintention eine didaktische Absicht verfolgen. Auch in den Lehrgedichten begründen manche, und zwar nur lange, Eingangsgebete ihre Anliegen b i b l i s c h . Sie beziehen sich fast immer auf abgelegenere Schriftstellen, die in den Eingangsgebeten nicht lehrhafter geistlicher Dichtung nicht begegnen. Vielleicht soll die sich darin äußernde Vertrautheit mit der Bibel über das allgemein Geläufige hinaus die Gelehrtheit des Verfassers demonstrieren und seinen Autoritätsanspruch unterstreichen. Eike von Repgow untermauert die Verfluchung der Verfälscher seines Werks, denen er den Aussatz wünscht, mit der wenig bekannten alttestamentlichen Erzählung von Eliseus, Naaman und 1575 Giezi . Hans Vintler verweist zur Begründung seiner Inspirationsbitte zwar auf die populäre Geschichte von der Berufung des Jeremias, doch nicht auf die Berührung der Zunge des Propheten durch die Hand Gottes (Ier 1,9), sondern auf den sonst nie zitierten Vers Ier 1,6 Et dixi: Α α α, Domine Deus, ecce nesoio loqui, quia puer ego sum 1576 ; außerdem zieht er die Verleihung der Redegewalt an Moses 1577 und ein Lob der Weisheit aus dem Buch 1578 Sapientia
heran (Sap 7,7-11)
. Weniger demonstrativ ist der
Bibelbezug bei Konrad von Ammenhausen, dessen Gedanken darüber, wer der Erhöhung seiner Bitten würdig sei, von einem bekannten Evangelienwort ihren Ausgang nehmen^ Einige Gebete zeigen Einwirkungen der Gebetsformeln des Strickers WIR suln bitten
L i t u r g i e
loben
und wir
suln
. Die (...)
sind Ubersetzungen liturgischer Vorbilder wie oremus
Die (verkürzte) Kreuzzeichenformel In
nomine
patris
et
.
filit
eröffnet das Eingangsgebet der "Vr6nen botschaft" (1), während 1574 Stricker, Vom heiligen Geist 1-10; Heinrich von Kröllwitz, Vaterunser 1-48; Teichner, Von gotes marter 1-11; Des Teufels Netz 73; Ulrich Boner, Edelstein 1-17; Heinrich von Mügeln, Der meide kränz 5-50. 1575 Sachsenspiegel, Versvorrede 234-37, vgl. 4 Reg 5,8-27. 1576 Pluemen der tugent 60-66 mit wörtlichem Zitat dieser Stelle in deutscher Übersetzung (62-66). 1577 Vintler (Pluemen der tugent 66-74) paraphrasiert erweiternd Ex 4,12 Perge
igitur,
et ego ero in ore tuo; doaeboque te quid
loquaris.
1578 Vintlers Verse 18-22 zitieren zusammenfassend Sap 7,7-11. 1579 Zu Konrad 61 swer dich bitet, der wirt gewert vgl. Lc 11,10
qui petit
aoaipit.
1580 Stricker, Vom heiligen Geist 1, 11.
omnis enim
Lehrdichtung
425
Heinrich von Kröllwitz seine Bitte um Fürbitte und damit den gesamten Eingang mit den Worten Amen in
nomine
domini
(140). Hugos von Trimberg Bitte um Schutz An Worten, und an sinnen
(31) klingt an das Confiteor
beschließt an
werken
an. Wichtiger als
solche vereinzelten liturgischen Versatzstücke ist die Abfassung des Eingangsgebets nach dem Vorbild einer liturgischen Gebetsform durch den Dichter von "Aristotilis Heimlichkeit", der die Form der Litanei übernimmt und nach einer einleitenden Anrufung Gottes (1-7) als einzelne Heilige und Heiligengruppen nacheinander Maria (8-10), die Engel (11f.), die Patriarchen (13-16) und Apostel (17-20) und schließlich Bekenner (21f.) und Jungfrauen (23f.) um Hilfe bittet. Bestimmte
B a u f o r m e n
lassen die Eingangsgebete von
Lehrdichtungen kaum je erkennen. Nur in der "Vrönen botschaft" 1581 und bei Heinrich von Kröllwitz legt sich ein Gebetsrahmen um den Gedichteingang. Auch Symbolzahlen begegnen selten. Das Eingangsgebet des "Seifried Helbling" (I 1-14) scheint als einziges eine bedeutungsvolle Verszahl zu besitzen. Es umfaßt genau 14 Verse und dürfte damit auch in der Form auf den Heiligen Geist verweisen, um dessen Hilfe der Dichter betet. Ein Eingangsgebet zeigt sich vom Beten
H a r t m a n n s
beeinflußt: Wenn Hugo von Trimberg seinen Hörern und Lesern das Gebet für sich ans Herz legt, unterstreicht er diese Bitte um Fürbitte wie Hartmann im Eingang des "Armen Heinrich" mit dem Hinweis, wer für das Seelenheil eines anderen bete, erlöse damit zugleich sich selbst, und zitiert Hartmanns Verse sogar wört1 582 lieh . Weit größer als die Wirkung Hartmanns ist aber auch in den Eingangsgebeten der Lehrgedichte der Einfluß r a m s
W o l f -
. Abgesehen vom noch dem 12. Jahrhundert angehörenden
"Lucidarius" beziehen alle Schöpferpreise ihre Motive letztlich, 1583 , aus Wolfram. Dagegen zeigt
wenn auch meist wohl vermittelt
sich nur ein Gebet von Wolframs Inspirationsbitte beeinflußt: In 1581 VrSne botschaft 1-3, 39-43; Heinrich von Kröllwitz, Vaterunser 1-48, 138-40. 1582 Hugo von Trimberg, Renner 22f.:
Swer vür eins andern schulde bite, Sin selbes sile leese er dä mite Vgl. Hartmann, Armer Heinrich 26-28:
man giht, er s£ s€n selbes bote und erlasse sich dä mite, swer vür des andern schulde bite. 1583 Für Ulrich Boner ist der Vermittlungsweg bekannt: Er hat das Material zu seinem Schöpferlob aus einer Strophe Friedrichs von Sonnenburg (BEHAGHEL, Eine Vorlage Boners, S. 137).
426
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
der einleitenden Anrufung des "Seifried Helbling" erscheint nicht nur Wolframs Reim von güete
auf gemüete
wieder, sondern in den
unmittelbar folgenden Versen sind mit den Wörtern sin
und
unwise
unüberhörbar Kernbegriffe der Inspirationsbitte im "Willehalm" , 1584 angesprochen
4. Chronik Aus der Fülle der im späteren Mittelalter ungeheuer anschwellenden Geschichtsschreibung in deutscher Sprache wurden zwölf Werke des 12. bis 14. Jahrhunderts herangezogen, die alle Untergattun1585
gen und Formen der Chronik stichprobenartig erfassen
. Auf-
grund dieses Materials ergibt sich ein eindeutiges Bild: Die Chronik beginnt üblicherweise mit einem Gebet zu Gott. Nur die "Österreichische Reimchronik" verzichtet auf eine Anrufung im Eingang. In den anderen Werken findet sie sich immer, wenngleich sie sehr indirekt, ja nur angedeutet sein kann wie in der "Kaiserchronik" , die damit der frühmittelhochdeutschen Neigung zum kurzen Eingangsgebet folgt^
bei Eberhard von Gandersheim,
der, statt explizit zu beten, sein Gottvertrauen beteuert (10514), in der vom Ende des 14. Jahrhunderts stammenden österreichischen "Chronik von den 95 Herrschaften", wo die Prosaform für die Indirektheit der einleitenden Hinwendung zu Gott verantwortlieh ist 1 5 8 7 , und schließlich auch in der "Livländischen Reim1588
chronik"
. Die anderen sieben Chroniken haben sämtlich Gott
direkt anredende, zum Teil lange Eingangsgebete. Die spezielle Thematik des jeweiligen Werks spielt keine Rolle; Welt- wie Stadtgeschichten, Landes-, Fürsten- und Klosterchroniken wenden 1584 Seifried Helbling I 3-6; vgl. Wolfram, Willehalm 2,23-25. 1585 Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von EDWARD SCHRÖDER; Eberhards Reimchronik von Gandersheim, hg. von WEILAND; Sächsische Weltchronik, hg. von WEILAND; Rudolfs von Ems Weltchronik, hg. von EHRISMANN; Anfang der Weltchronik "Crist herre keiser" (Der keiser und der kunige buoch oder die sogenannte Kaiserchronik, hg. von MASSMANN, 3. Theil, S. 118-50); Des Meisters Godefrit Hagen, der Zeit Stadtschreibers, Reimchronik der Stadt Cöln aus dem dreizehnten Jahrhundert, hg. von VON GROOTE; Jansen Enikel, Weltchronik (Werke, hg. von STRAUCH); Livländische Reimchronik, hg. von MEYER; Braunschweigische Reimchronik, hg. von WEILAND; Ottokars österreichische Reimchronik, hg. von SEEMÜLLER; Nicolaus von Jeroschin, Die Deutschordenschronik, hg. von PFEIFFER; Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften, hg. von SEEMÜLLER. 1586 Kaiserchronik lf. In des almähtigen gotes minnen / so wit iah des liedes
beginnen. 1587 Der Verfasser erklärt lediglich, im Namen der Dreifaltigkeit zu schreiben (3,9). Hat dagegen eine Prosachronik eine Reimvorrede, kann sie durchaus explizite Gebete enthalten, wie die "Sächsische Weltchronik" zeigt (48-51, 71-76). 1588 Der Eingang endet mit dem Vers in gotes namen hebe ich an (126).
Chronik
427
sich gleichermaßen zu Beginn an Gott. Die Anrufungen am Chronikbeginn haben als Anliegen meist einen Lobpreis des allmächtigen und unbegreiflichen dreifaltigen Schöpfer- und Herrschergottes und eine Bitte um Beistand zum unternommenen Werk. Meist geht das Gotteslob der Inspirationsbitte voraus und ist deutlich umfangreicher als diese. Die besondere Betonung des Schöpfer- und Herrscherpreises hat in der Chronik einen besonderen Sinn, denn Gottes Herrschaft über die Welt von der Schöpfung bis zum gegenwärtigen Stand der Geschichte ist ja gerade der Gegenstand eines Geschichtswerks. Weil die Chronik stärker als andere Gattungen eine geschichtliche Dimension besitzt, kann in ihr, wie Rudolf von Ems 15 es tut, Gott auch als Schöpfer der Zeit gepriesen werden: 19 mit den din gotlichü vinstir,
lieht,
gesaheidin
maht
tac unde
hat und uf
mit der momente
ir
geleit
undirscheit;
du allin stundin
alle zit
zil, undirsaheit
und maze
25 als ez du. witzebernde dinir
gotliahin
naht
git,
kraft
meistirsahaft
alrest
von nihte
tihte,
gesahuf
und gar
berihte.
Allerdings zieht unter den Chronikdichtern Rudolf allein aus der Geschichtlichkeit der Gattung die Konsequenz, auch die spezifische Dimension der Geschichte, die Zeit, auf Gott zurückzuführen. Die anderen Schöpfer- und Herrscherpreise im Chronikeingang trennt wenig von denen zu Beginn anderer geistlicher Dichtungen. Besondere Erwähnung verdient, obwohl sie gleichfalls nicht auf Chronikeingangsgebete beschränkt ist, die Anrufung Gottes als Anfang und Ende aller D i n g e ^ ^ , denn sie korrespondiert mit dem in einigen Chronikvorreden sich manifestierenden Wissen, daß das Werk, da die Geschichte noch nicht abgeschlossen ist, notwendig unvollendet bleiben muß, so daß erst Gott, indem er die Geschichte vollendet, auch der Chronik einen Abschluß gibt 1591 1589 Eine eingehende Interpretation dieses Gebets gibt LUTZ (Rhetoriaa, S. 289-309). 1590 Rudolf, Weltchronik 9-18, 54f., 61-65; Nicolaus von Jeroschin, Deutschordenschronik 19f., 27-30. 1591 Jansen Enikel, Weltchronik 5f., 9f., 43f.; Sächsische Weltchronik:
78 diz buch ne wirt nimmer volleribracht, de wile diu werlt stat:
428
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Der Aufbau aus den Hauptbestandteilen Gotteslob und Inspirationsbitte findet sich vor allem in sehr ausführlichen Chronikeingangsgebeten, in denen der Lobpreis durchaus über mehr als 1 592 fünfzig Verse ausgedehnt werden kann . Aber auch bescheidenere Eingänge behalten diesen Bau manchmal bei, wie die Eingangsgebete Gottfried Hagens illustrieren: 1 Dich
ewige
dynen mit
sun,
9
eweliahe
ind
ir
dry
vermogit
zo
eyme
Nu
en
dat
boiche
-
byn
iah
van
alle
die
Coelne dry
ich
dat
Hilgen
ir
myr
so
ind
schade
haint
Got
en
helpen
doit
also
neit,
volmaiahen den
saiahen,
gedain,
wilt by
volleist
kunstiah
möge
dingen
ir
geist,
alremeist,
leider
boioh
den
eyn
vrre
dynen
iah,
dat
mit
de
hemelrich,
is,
bidde
ir
van
dyr
want 5 So
Got
myr
bestain
-
Hier sind Lobpreis (1-4) und Bitten (5f., 13f.) auf wenige Verse beschränkt. In der Reduzierung der Eingangsgebete wie des Eingangs insgesamt etwa im Vergleich zu Rudolf von Ems oder zur "Christherre-Chronik" spiegelt sich die Verkleinerung des Werkgegenstands: Wie Gottfried Hagens Kölner Stadtchronik aus dem großen Feld der Universalgeschichte einen lokal und zeitlich eng begrenzten, kleinen Ausschnitt herausnimmt, so bleiben auch sein Eingang und seine Eingangsgebete, ohne den üblichen Bau des Chronikeingangs aufzugeben, um eine Dimension kleiner. Ähnlich paßt die ebenfalls nur einen kleinen Teil des Weltgeschehens erfassende "Braunschweigische Reimchronik" den Umfang ihrer Eingangsgebete ihrem Gegenstand an 1593 . Andererseits bleiben aber auch die
80 so vile wirt kunstiger dat. des n&z diu rede nu bliven. ich ne kan nicht scriven daz noch gescen sol Die beiden Autoren, die Gott als Anfang und Ende preisen, formulieren den Gedanken der prinzipiellen Unvollendbarkeit der Chronik zwar nicht, doch schließt das nicht aus, daß auch ihnen diese Problematik bewußt war. 1592 Rudolf, Weltchronik 1-60; Christherre-Chronik 1-52; Nicolaus von Jeroschin, Deutschordenschronik 1-53; Vorrede zur zweiten Fortsetzung der Kaiserchronik 1-32. Kürzere Lobpreise begegnen bei Gottfried Hagen (1-4), Jansen Enikel (1, 129-37) und in der "Braunschweigischen Reimchronik" (1-4) . 1593 1-4, 94, 102-07 (11 Verse).
Chronik
429
Eingangsgebete der "Sächsischen Weltchronik", eines Werks von 1 594 universalgeschichtlichem Anspruch, kurz , so daß die Proportionalität von Werkgegenstand und Umfang des Eingangsgebets nicht als allgemeines Baugesetz des Chronikeingangs aufgefaßt werden kann. Den Inspirationsbitten ist kaum je anzusehen, daß sie Gottes Segen für die Abfassung eines Geschichtswerks erbitten; sie formulieren in Bildern und Wendungen, die auch außerhalb dieser Gattung gängig sind. Ihre Zugehörigkeit zu einer Weltchronik nicht verleugnen kann nur Rudolfs Bitte um Beistand (61-146), denn sie besteht zum größten Teil (72-146) aus einem noch in Anrede an Gott verfaßten Uberblick über die biblischen Teile des Werks, der die Bitte um Inspiration begründet. Nur gelegentlich treten zu Gotteslob und Inspirationsbitte weitere Anliegen hinzu, besonders gern Gebete oder 1595 Aufforderungen zum Gebet für Auftraggeber oder Stoffvermittler . Sehr selten sind Bitten, die sich nicht auf das Dichten oder seine Anregung beziehen. Ganz auf den Dichtprozeß nicht berührende Anliegen beschränkt sich nur der Verfasser der "Sächsischen Weltchronik" 1596 , der um Leitung durch das Weltleben betet. Eine ähnlich klingende Bitte in der "Braunschweigischen Reimchronik" meint 1597 dagegen zugleich Hilfe im Dichten wie im Leben überhaupt . Auf die Rezeption des Werks zielt Jansen Enikels ungewöhnlich vehemente Verfluchung der ungerechten Spötter im Namen Christi, die neben Gotteslob und Inspirationsbitte das dritte Thema seiner Gebete
1594 48-51, 71-76 (10 Verse). 1595 Für einen Stoffvermittler betet der Verfasser der "Braunschweigischen Reimchronik" (94) , für seine zwei Auftraggeber Nicolaus von Jeroschin (173-76, 186) . 1596 48-51, 7 l-76.
1597 102 nu helphe uns al sunder wanoh und gebe uns hulphe und rat, an dhem al tugent orsprinah hat, 105 an dhes helphe wir nicht thon mögen, daz tzo disser redhe togen dhe tumpheyt unser sinne. 1598 110 st ieman der ηύ spotte min, daz ich daz buoch getihtet han, der st des tievels kappel&n und müez stn der helle hint, an den ougen werd er blint. 115 an handen, an füezen werd er lam, an armen, an beinen alsam. hab er iht, daz im st liep, daz müez im stein ein diep. den liuten werd er widerzcem 120 und stnen mägen ungencem. des helfe mir der süeze Krist, der himel und erd gewaltic ist.
430
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Nur im Deutschen Orden tritt neben das Gebet zu Gott die Anrufung Marias. Von den hier betrachteten Werken ist das Nicolaus' von Jeroschin das einzige, in dessen Eingang auch die Gottesmutter um Beistand gebeten wird: zunächst nur kurz und gemeinsam mit Gott, dann aber am Ende des Eingangs 16 Verse lang mit großer Intensität (315-30). Ob die Eingangsgebete der Chroniken voneinander beeinflußt sind, ist schwer zu entscheiden. Motivische Parallelen - vor allem solche, die letztlich auf Wolfram zurückführen - sind häufig, doch verbinden sie die Chroniken nicht nur untereinander, sondern ebenso mit vielen anderen geistlichen Gedichten. So lassen sich unter den Chronikeingangsgebeten kaum Querverbindungen herstellen. Immerhin scheint Nicolaus von Jeroschin die "Christherre-Chronik" gekannt zu haben, mit deren Inspirationsbitte sein Gebet das Bild vom Beugen der Knie des Herzens gemeinsam hat 1599
5. Predigt Wie bei den Chroniken kann auch für die Predigt nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Gesamtmaterial bearbeitet werden. Die Grundlage bilden fünf Sammlungen des hohen und späten Mittelalters: das deutsche Speculum ecclesiae aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts; die drei von Schönbach edierten Predigtwerke, also aus dem späten 12. Jahrhundert die Predigten des Priesters Konrad1 f das Leipziger Predigtwerk aus dem 12. und 13. Jahrhun1 1 d e r t ^ sowie die dem 13. und 14. Jahrhundert angehörende Oberaltaicher Sammlung1 ^ ; und die Predigten Bertholds von Regensburg 1f ^^ aus den Jahren zwischen 1240 und 1272. Nur relativ selten sind mit Predigten Eingangsgebete überliefert. In allen 64 Nummern der Oberaltaicher Sammlung erscheint kein einziges, ebenso fehlt die einleitende Anrufung fast durchweg im Speculum eoclesiae und bei Berthold von Regensburg. Dennnoch ist nicht anzunehmen, daß in all diesen Fällen der Predigtvortrag ohne Gebet begann. Die zeitgenössische homiletische Theorie legt der Anrufung am Predigtbeginn sogar große Bedeutung bei: Für Guibert von Nogent (1053-um 1124) ist das Gebet das "Erste und Nothwendigste vor der Predigt" überhaupt, denn "nur das bringt
1599 1600 1601 1602 1603
Christherre-Chronik 54; Nicolaus von Jeroschin, Deutschordenschronik 60. Altdeutsche Predigten, hg. von SCHÖNBACH, Bd. 3. Altdeutsche Predigten, hg. von SCHÖNBACH, Bd. 1. Altdeutsche Predigten, hg. von SCHÖNBACH, Bd. 2. Berthold von Regensburg, hg. von PFEIFFER - STROBL.
431
Predigt
Wärme und Begeisterung in das Herz und aus dem Herzen auch in den Mund, in die Worte des Predigers"^® 4 , und noch Mitte des 14. Jahrhunderts verlangt Martin von Amberg, der Prediger solle sich durch ein Gebet auf jede Predigt vorbereiten^® 5 . Wenn trotzdem die meisten Predigten ohne Eingangsgebet überliefert sind, so deshalb, weil die einleitende Anrufung in der Predigt meist so stereotyp ist, daß sie vom Prediger leicht ad hoc formuliert werden konnte; sollte aber einmal ein längeres Eingangsgebet gesprochen werden, so standen Gebetstexte zur Verfügung, die sich für jede Predigt eigneten, so daß nicht mit jeder einzelnen Predigt ein eigenes Gebet aufgezeichnet werden mußte. Ein solches einer beliebigen Predigt voranzustellendes Gebet überliefert das Speculum
Dignare
ecclesiae'.
domine Iesu Christe intueri
obliuiscere
peocata
mea mei indigni
tum et bene sonantem spectu tuo, et emitte tius malitiß
spiritum
et laerimis ueram eonfessionem aeeipiant
sanctum,
tui et
cor meum to—
tibi accusem,
ut a te conpuncta
tibi fatiant,
α te, redemptor, quia tua gratuita 1 η · cum patre ^ 1606 peeeatores saluare. Qm
rec-
uerba mea in con-
qui purget
ut sie memet
istam sic doceam,
poputi
serui tui et da sermonem
in os meum, ut placeant
sorde infectum,
ueniam et plebem
desiderium
ut ueram pietate
consequar
uoee,
corde
indulgentiar uenisti
Anliegen dieses Gebets ist die Inspiration des Predigers. Stark herausgestrichen ist die soziale Verpflichtung dieser Inspiration, die sich nicht nur im Gelingen der Rede bewährt, sondern letztlich erst im Leben der Gläubigen, für deren Leitung der Prediger mit seinen Lehren verantwortlich ist. Besonders das Leipziger Predigtwerk enthält zahlreiche deutschsprachige Bitten um Inspiration. Sie müssen nicht am äußersten Predigtbeginn stehen; gern geht ihnen eine längere oder kürzere Einführung in das Predigtthema sowie die Verlesung und Verdeutschung des zugrunde liegenden Bibeltexts voraus^"^. Das Eingangsgebet kann sogar erst den Schluß eines prothema bilden, eines längeren, oft einen eigenen Gegenstand behandelnden ersten 1604 LINSENMAYER, Geschichte der Predigt, S. 87. 1605 LINSENMAYER, Geschichte der Predigt, S. 103. - Nur ausnahmsweise wendet sich eine Predigttheorie gegen das Eingangsgebet, so Humbertus de Romanis, der eine kurze Anrufung nur für angebracht hält, "wenn die Predigt besonders feierlich zu halten oder wenn die Zuhörerschaft noch nicht ganz versammelt sei" (LINSENMAYER, S. 100). 1606 Nr. 4, S. 17,25-18,3. 1607 Z.B. SCHÖNBACH 1, Nr. 12, S. 52,36-53,7, 53,31-54,2, 54,15-28; Nr. 20, S. 76,1-18.
432
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGÄNGSGEBETE 1608
Teils der Predigt
; es markiert dann den Beginn des Haupt-
9
t e i l s ^ ^ . Der Gedankengang der deutschen Inspirationsbitten ist dem des soeben zitierten lateinischen Gebets oft sehr ähnlich; auch in ihnen dient die Erleuchtung des Predigers zur Belehrung und Besserung der Gläubigen. Die Formulierung ist jedoch viel straffer. Typisch ist die folgende Gebetsaufforderung aus dem Leipziger Predigtwerk: nu bittet unsern herren got daz er mir von der genaden des heiligen geistes ettewaz geruche verlihen zu sprechen daz dirre heiligen hoohziht gezeme und des ir gebezert wertet Selbst die längsten Beispiele erreichen kaum die Ausführlichkeit des lateinischen Gebets: nu bittet die himelisohen
kunigin, unser vrowe sante Maria, daz
si bite ir libes kint, unsern herrn Jesum Christum, der da ist daz war licht, der al di werlt erluchtet mit siner gotlichen
ge-
naden, daz er ouch unser aller herze erluchte und erquicke, daz ich uch etewaz von dirre heiligen hohzit siner liben muter
himel-
vart muze gesagen daz ir gezeme und si des gelobt und geeret si und dez ir gebezzert
werdet an lib und sele - 1611
Der Gedanke, daß die Inspiration des Verfassers letztlich zum Heil des Publikums erbeten wird, grenzt die Predigteingangsgebete scharf von denen anderer geistlicher Werke ab. Die Sorge um den geistlichen Gewinn, den die Hörer aus der Predigt ziehen, kann den Prediger sogar zu einem Gebet um Inspiration des Publikums führen, so in einer Predigt aus dem Speculum
ecclesiae:
Nv svlt aver ir die kvrzen rede mit der krefte des heiligen stes merken, daz si iv ze bezzerunge
kome libes vnde
gei-
seJe.^^
Ein so kurzer Gebetswunsch um die Kraft des Heiligen Geistes für die Hörer konnte vom Prediger an passenden Stellen leicht spontan eingefügt werden; daß er kaum je überliefert ist, heißt daher nicht, daß nur selten um die Inspiration auch des Publikums gebetet wurde. Ganz ausführlich und mit besonderer Feierlichkeit for1608 Zum prothema LINSENMAYER, Geschichte der Predigt, S. 99f. 1609 Z.B. SCHÖNBACH 1, Nr. 1, wo dem Eingangsgebet (S. 4,11-14) das über eine Seite lange prothema vorausgeht, weiter Nr. 4 (S. 22,16-19) und 11 (S. 48,38-49,2) . 1610 SCHÖNBACH 1, Nr. 12, S. 53,4-6. 1611 SCHÖNBACH 1, Nr. 12, S. 54,21-27.
1612 Speculum ecclesiae, Nr. 6, S. 20,10f.
Predigt
433
muliert dieses Anliegen eine Osterpredigt aus dem Leipziger Predigtwerk : Die genade des heiligen Christus und die minne des almechtign gotes und die minne des heiligen geistes die muze hute und immer mit uns allen sin und muze uwer herze und uwer sinne alsuliah gemachen, daz ir die heiligen wort die ich uch hute gedenche zu sagene von den genaten und von der uferstantunge des heiligen Cristes, daz ir die also vornemen muzet, das si uoh vrumen zu diseme ι -u undJ zum ο ewigen . .,1613 Ivbe hebe Daß der Gedanke an das Publikum die Eingangsgebete der Predigten viel stärker beherrscht als die jeder anderen Gattung, hat auch zur Folge, daß sich die Hörer aktiver als sonst am Gebet beteiligen, denn sie sollen auf die Gebetsaufforderung des Predigers mit einem laut gesprochenen Gebet - meist dem Paternoster oder dem Ave Maria - antworten. In der Leipziger Sammlung bezieht fast jedes Eingangsgebet, das um Inspiration des Predigers bittet, die Hörer mit einer Aufforderung wie uffe daz daz gesohe, so sprech uwer igelioh ein pater noster und ein Ave Mariaaktiv
ein.
Nur ganz selten ist die gesprochene Antwort durch ein stilles, frei formuliertes Gebet der Hörer für den Prediger ersetzt, der sein Publikum dann etwa bittet, spreche uwer igelich mir zu helfe ο , got, tn . uwer ο ι ,1615 swaz uoh herze gesende Die erbetene Inspiration heißt 'Gnade' oder 1minne des Heiligen 1616 Geistes' ; außerdem begegnen geläufige Metaphern wie das Bild der Erleuchtung oder das des himmlischen T a u s 1 ^ ^ . Spender dieser Gnaden und der Adressat der entsprechenden Anrufungen ist in aller Regel Gott. Nur an hohen Heiligenfesten (Mariä Himmelfahrt, Peter und Paul, Fest des Erzengels Michael) richten sich die Inspirationsbitten an die Tagesheiligen, 1618 die dann durch ihre Fürspräche Gottes Gnade vermitteln sollen
. Manchmal meint die
Bitte um den Heiligen Geist über das begnadete Textverständnis hinaus die Leitung des Heiligen Geistes im ganzen L e b e n ^ ^ . Dann kann das Anliegen der Inspiration in den Hintergrund treten und sogar wegfallen, so daß der Heilige Geist dann ausschließlich um 1613 SCHÖNBACH 1, Nr. 9, S. 42,30-37. 1614 SCHÖNBACH 1, Nr. 9, S. 42,37f. Vgl. Nr. 1, S. 4,14; Nr. 12, S. 53,7, 54,2.12f.28. Auch bei Berthold: 1, Nr. XX, S. 289,13: Unde dar umbe
spreche iuwer iegltchez ein pater noster. 1615 1616 1617 1618 1619
SCHÖNBACH SCHÖNBACH SCHÖNBACH SCHÖNBACH SCHÖNBACH
1, 1, 1, 1, 1,
Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.
20, S. 76,17f. 9, S. 42,30-32; Nr. 12, S. 53,4f. 12, S. 54,9f.24f. 12, S. 54,5-13.21-28; Nr. 20, S. 76,12-18. 145, S. 238,30-36.
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
434
die Kraft, der Versuchung zu w i d e r s t e h e n ^ ^ , oder das ewige Leu ben 1621
, t gebeten xst.
Spielen die Heiligen in den Inspirationsbitten nur eine untergeordnete Rolle, so werden sie mit anderen Anliegen häufiger angerufen. Besonders gern beginnt der Priester Konrad mit einem Heiligengebet, während es im Leipziger Predigtwerk viel seltener ist und bei Berthold gar nicht vorkommt, obwohl er häufig am Anfang der Predigt eine Heiligenlegende erzählt. Ein typisches Beispiel für ein Heiligengebet des Priesters Konrad bietet der Beginn der Predigt am Tag des Heiligen Matthäus: Den guoten sant Matheum, den heiligen gotes boten, des tac iv hiut beget, den suit iv hiut loben unde even unde suit in vil lieben gotes tvut hiut ane vufen, wan zwave er ist dev hevven ainev, dev ain nothelfaeve unde ain vatev ist dev avmen sun,
dceve
1622
Konrads Heiligengebete sind in 'erster Linie Aufforderungen zum Lob und erst danach Bitten um Fürsprache. Ihre Anliegen sind interaessio und Hilfe für ein christliches Leben. Prinzipiell kann in den Predigten des Priesters Konrad jeder Heilige durch ein Eingangsgebet geehrt werden, doch stehen nur für eine kleine Zahl von neutestamentlichen oder vielverehrten Heiligen (Matthäus, Johannes der Evangelist, die Unschuldigen Kinder, Maria, Johannes der Täufer, die Apostel Andreas und Tho1623
mas
; Laurentius, Augustinus, Magnus, Martin, Erzengel Mi-
chael, alle Engel g e m e i n s a m ^ ^ ) speziell für sie formulierte Anliegen zur Verfügung. Für alle anderen gibt Konrad nur ziemlich stereotype Gebete, die das geistliche Verdienst einer ganzen Heiligengruppe beschreiben und in die der Name jedes beliebigen Heiligen aus dieser Gruppe eingesetzt werden kann. So zum Bei1620 1621 1622 1623
SCHÖNBACH 1, Nr. 153, S. 243,9-12. Berthold 1, Nr. XXII, S. 339,1-5; 2, Nr. L, S. 137,1-6. SCHÖNBACH 3, Nr. 98, S. 224,38-225,2. SCHÖNBACH 3, Nr. 6, S. 17,8-20; Nr. 7, S. 20,25-27; Nr. 88, S. 203,24-28; Nr. 91, S. 209,28-33; Nr. 93, S. 213,32-37; Nr. 104, S. 241,28-32; Nr. 105, S. 244,14-18. Ähnlich, aber ohne Aufforderung zum Lob, ruft das Leipziger Predigtwerk den Heiligen Paulus an: SCHÖNBACH 1, Nr. 180, S. 281,11-13. 1624 SCHÖNBACH 3, Nr. 87, S. 201,15-18; Nr. 90, S. 207,32-38; Nr. 92, S. 211,2933; Nr. 100, S. 229,4-7; Nr. 101, S. 231,4-8; Nr. 103, S. 239,20-24. Am Fest der Kreuzerhöhung richtet sich eine preisende Anrufung an das Kreuz (Nr. 95, S. 217,35-218,2); vergleichbar ist das Gebet zu Christus an Lichtmeß (Nr. 11, S. 26,8-15). - Selten finden sich auch im Leipziger Predigtwerk solche Anrufungen nichtbiblischer Heiliger: SCHÖNBACH 1, Nr. 177, S. 279,18-21 (Fabian und Sebastian); Nr. 178, S. 280,4-6 (Agnes); Nr. 181, S. 281,25-282,2 (Agathe). Wieder beschränkt sich das Leipziger Predigt-
Predigt
435
spiel für ein Apostelfest: Die heiligen
gots poten,
den guoten sant Ν., der taa ir hiut he-
get, die suit ir hiut lohen unde eren unde suit si vil gots poten
hiut an ruofen,
unde die geweitigen
lieben
wan zware daz sint die heren
furstrite
unsers
herren,
amptliute
des heiligen
Chri-
saelichait
suit ir
Oder in einer feierlicheren Version: Durah iwer selber
hail unde durch iwer selber
die heiligen
loben und eren, die unser herre selbe hat ge-
alle
hailiget unde gert, unde suit aver die heiligen
gots boten,
guten sant N., der taa ir hiut beget, sunderliohen unde eren, also si unser herre selbe vor andern hat geheiliget
also
sinen
den
loben
heiligen
unde gert, wan er hat si also gert, daz si ob an-
dern sinen heiligen
sint fursten
unde
herren^^^^.
Ähnliche Gebetsformulare bietet der Priester Konrad für Predigten zu Märtyrerfesten sowie zu den Tagen heiliger Bischöfe und Jung1627 frauen
. Sogar für einen Heiligen, der in keine dieser Kate-
gorien paßt, liefert er ein Gebet, in dem der Hinweis auf das Imitabile
des Heiligen freilich allgemein bleiben muß:
Den heiligen
gots trut, den guoten sant N., des taa ir hiut be-
get, den suit ir hiut loben unde eren unde suit in vil gots trut hiut an rufen, wan zware er hat daz verdient manigen
guoten
tugenden,
ligen ohristenhait,
lieben mit
vil
daz er got liep ist unde aller der
wan durah sine vil manige
unser herre also geheiliget
guotaete
unde gert, daz er iu, vil
herre, vor sinen genaden wol gehelfen
mac baidiu
hei-
hat in lieber
ze libe unde ze
Die Heiligenanrufungen des Priesters Konrad bestehen meist aus der einfachen Abfolge von Gebetsaufforderung, Nennung des Namens und des Titels des Heiligen sowie Begründung der Gebetsmahnung durch den Hinweis auf das Verdienst des Heiligen und die Kraft
werk auf die Aufforderung zur Bitte. 1625 SCHÖNBACH 3, Nr. 106, S. 246,5-9. 1626 SCHÖNBACH 3, Nr. 107, S. 248,7-13. 1627 SCHÖNBACH 3, Nr. 108, S. 250,7-10; Nr. 109, S. 252,3-6; Nr. Ill, S. 256, 22-26; Nr. 112, S. 258,27-34; Nr. 113, S. 260,33-35. 1628 SCHÖNBACH 3, Nr. 110, S. 254,15-21.
436
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
1CTQ seiner Fürsprache . Im Leipziger Predigtwerk sind sie oft noch knapper und verzichten nicht nur auf die Aufforderung zum Lobpreis des Heiligen, sondern auch auf die Erwähnung des Grunds seiner Heiligkeit: 1
Mine
vil
lieben,
uf das wir die gotis
sende wir zu boten umme die heilige 4. · nute τ. + begen -u 1630 taanτ. wvr
genade
vrowe
gewinnen
sente
muzen,
Angneten,
da
der
Beim Priester Konrad wird der Titel des Heiligen, seine Zuordnung zu einer bestimmten Heiligengruppe, durchaus auch wiederholt. Der Grund seiner Verehrung wird den Hörern dadurch gleich zu Beginn der Predigt eindringlich ins Gedächtnis gerufen, und das Gebet gewinnt so auch eine lehrhafte Funktion: Den heiligen beget,
gots
den suit
gots poten
hiut
boten,
ir hiut
den guoten loben
an rufen,
liep, daz er iu vor j ze sele 7 1631 unde
sinen
wan
unde
eren
zware
genaden
sant
Andream, unde
des
tao ir
hiut
suit
in vil
lieben
er ist unserm
herren
also
wol gehelfen
mao baidiu
ze libe
Zweimal in einem einzigen Satz wird der Heilige Andreas hier als Apostel bezeichnet - zunächst gleich am Anfang und dann noch einmal in der Mahnung zur Anrufung. Ganz entsprechend schärfen viele andere Gebete des Priesters Konrad den Hörern den Grund der Hei16 32 ligkeit des Angerufenen ein Das herausragende Merkmal der Predigteingangsgebete ist zweifellos ihre Schlichtheit. Sie ist die Folge eines Selbstverständnisses, das die Predigt von allen anderen Gattungen unterscheidet. Weniger als irgendeine andere Gattung, weniger selbst noch als Didaxe oder Chronik, versteht sie sich als Kunstübung, sondern sie geht auf in ihrem praktischen Zweck: der Verkündigung der christlichen Lehre und der Förderung des Seelenheils der Gläubigen. Der Gedanke, Gott durch eine prachtvoll ausgestaltete einleitende Anrufung zu ehren, liegt ihr ganz fern.
1629 Sehr deutlich zu erkennen zum Beispiel in Predigt 103 (SCHÖNBACH 3, S. 239,20-24). 1630 SCHÖNBACH 1, Nr. 178, S. 280,4-6. 1631 SCHÖNBACH 3, Nr. 104, S. 241,28-32. 1632 Z.B. SCHÖNBACH 3, Nr. 105, Ξ. 244,14-18; Nr. 106, S. 246,5-9; Nr. 108, S. 250,7-10.
Weltliche Erzähldichtung 6. Weltliche
437
Erzähldichtung
Bereits die Untersuchung der Eingänge von Lehrdichtungen
zeigte,
daß der Beginn mit einem Gebet kein auf geistliche Gedichte beschränktes Phänomen ist, denn er fand sich nicht selten auch in didaktischen Werken durchaus weltlicher Prägung. Entsprechend begegnet das Eingangsgebet auch in der weltlichen erzählenden Epik. Im Vergleich zur Bibel- und Legendendichtung tritt es hier jedoch signifikant seltener in Erscheinung. Während in der religiösen Dichtung eine klare Mehrheit von Werken mit einem Gebet beginnt, ist es im weltlichen Bereich umgekehrt. Die Zahl der mit einer Anrufung einsetzenden weltlichen Gedichte ist aber nicht so klein, daß sie vernachlässigt werden dürfte und man mit Brinkmann den Gebetseingang eindeutig und ausschließlich der geistli16 33 chen Literatur zuordnen könnte . Brinkmanns These von der streng gattungsmäßigen Bindung des Eingangsgebets gilt höchstens für einzelne Autoren, aber sicher nicht für die mittelhochdeutsche Dichtung insgesamt. Sie trifft am ehesten zu für Hartmann, Wolfram, Rudolf von Ems, Ulrich von Türheim, Heinrich von Freiberg und Heinrich von Neustadt, die geistliche Gedichte mit einem Gebet, weltliche Werke aber mit einem gebetlosen Prolog beginnen lassen^^.
Ihnen stehen jedoch andererseits Autoren wie Konrad
von Würzburg und Ulrich von Etzenbach gegenüber, die eine
solche
Unterscheidung nicht machen
1633 BRINKMANN, Prolog, S. 18-21. 1634 Hartmann hat im Eingang des "Armen Heinrich" ein Gebet, nicht aber am Beginn des "iwein" und allerdings auch nicht am Anfang des "Gregorius". Bei Wolfram beginnt nur der "Willehalm" mit einem Gebet. Rudolf von Ems ruft Gott um Hilfe an im "Barlaam" (und außerdem in der Weltchronik), aber nicht im "Willehalm von Orlens" (hg. von JUNK) oder im "Alexander" (hg. von JUNK); eine Ausnahme von der Regel bildet bei ihm der "Gute Gerhard" (hg. von ASHER), der trotz seines starken legendenhaften Einschlags nicht mit einem Dichtergebet einsetzt. Ulrich von Türheim kennt das Eingangsgebet in seiner "Willehalm"-Fortsetzung, meidet es aber in seiner Fortführung des "Tristan" (hg. von KERTH), wie auch Heinrich von Freiberg seiner Version des "Tristan"-Schlusses (hg. von BECHSTEIN) kein Gebet voranstellt, während er seine Kreuzesholzlegende mit einer langen Anrufung beginnen läßt. Ähnlich beginnt Heinrich von Neustadt zwar seine Dichtung von der Wiederkunft Christi mit einem Gebet ("Von Gottes Zukunft") , nicht aber seinen Apollonius-Roman (hg. von SINGER) und auch nicht seine "Visio Philiberti". Gerade die 'Unregelmäßigkeiten' bei Hartmann, Rudolf und Heinrich von Neustadt zeigen, wie wenig verbindlich die von BRINKMANN benannte Gesetzmäßigkeit ist. 1635 Ulrich von Etzenbach hat unterschiedslos an allen Werkeingängen Gebete, während Konrad von Würzburg das Gebet als Eingangselement nur gelegentlich verwendet, dann jedoch ohne Rücksicht auf den geistlichen oder weltlichen Charakter des Werks: Eingangsgebete besitzen zwar der "Alexius" und der "Trojanerkrieg", nicht aber "Partonopier und Meliur" (hg. von BARTH - PFEIFFER - ROTH) und auch nicht die Legenden "Silvester" und
438
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Die Eingangsgebete in weltlichen Gedichten sind auf die einzelnen Phasen der mittelhochdeutschen Epoche ungleichmäßig verteilt. In vorklassischer Zeit - zu denken ist hier fast nur an Veldekes 16 36 "163*7 "Eneide" , da Lamprechts "Alexander" geistlich gemeint und 16 38
der Beginn des "Graf Rudolf" verloren ist - und in der Blütezeit erscheint in kaum einem Eingang ein Gebet, und die wenigen Ausnahmen deuten ihren Gebetscharakter nur an oder bleiben äußerst knapp. Erst vom Ende der höfischen Klassik an wird das Eingangsgebet beliebter, wenngleich es auch jetzt auf eine relativ kleine Zahl von weltlichen Gedichten beschränkt bleibt und, von zwei völlig aus dem Rahmen fallenden Ausnahmen abgesehen, nie den Umfang von zehn bis zwölf Versen überschreitet. In der ausgesprochenen Spätzeit nimmt die Häufigkeit von Eingangsgebeten dann wieder stark ab; sie sind nun meist kurz und indirekt und nur bei Ulrich Füetrer länger als zwölf Verse. Einleitende Anrufungen kommen fast nur in Romanen und Erzählungen vor; sie erscheinen 16 39 überhaupt nicht in der Heldendichtung und fast nie in der Spielmannsepik, was wegen der geistlichen Färbung mancher ihrer Stoffe erstaunt; einzige Ausnahme ist hier ein kurzes Gebet im ziemlich konfusen Eingang des "Orendel"1 ^ ^ . Wie wenig selbstverständlich aber auch in Roman und Erzählung das Eingangsgebet ist, demonstriert die Tatsache, daß bis zum Ende der höfischen Klassik nur zwei Werke eine Anrufung im Eingang zeigen, die überdies in beiden Gedichten äußerst knapp ist und ohne große Betonung ganz beiläufig in den Eingang eingeschoben wird. Der frühere der beiden Belege stammt aus Ulrichs von Zatzikhoven "Lanzelet" 1641 : 14 es ist mtn bete und ouah mtn rät, daz hübsche
Hute
mich
den top und Sre wol der hulde ich wil und wil hie fürder
vernemen,
gezemen.
behalten schalten
"Pantaleon" (hg. von GEREKE bzw. GEREKE - WOESLER). 1636 Henric van Veldeken, Eneide, hg. von SCHIEB - FRINGS, Bd. 1. 1637 Pfaffe Lamprecht, Alexander (Religiöse Dichtungen, Bd. 2, S. 517-21, 536-66). 1638 Graf Rudolf, hg. von GANZ. 1639 Erst wenn die Heldenepen im Spätmittelalter zu 'Heldenbüchern' verbunden werden, können diesen Sammelwerken Vorreden beigegeben sein, die Gebete enthalten, so in der um 1483 gedruckten Sammlung (hg. von HEINZLE). Sie umfaßt die Epen "Ortnit", "Wolfdietrich D", "Rosengarten" und "Laurin" sowie einen längeren Reimeingang, der mehrere zum Teil längere Anrufungen Gottes und Marias einschließt (fol. 8 r v ) . In die Anfänge der einzelnen Epen hat der Kompilator dagegen keine Gebete eingefügt. 1640 Orendel, hg. von BERGER, 7-9. 1641 Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, hg. von HAHN.
Weltliche Erzähldichtung
die boesen 20 den fremde
439
ntdaere : got ditz maere,
des ich hie wil
beginnen.
Hauptabsicht dieses Abschnitts ist die Herbeizitierung eines wohlgesonnenen Publikums und damit die Sicherung des Erfolgs des Romans. Das nur einen Vers umfassende Gebet (20) steht ganz im Dienste dieser Intention. Von den Gedanken, die die Eingangsgebete geistlicher Gedichte derselben Zeit bewegen, zeigt es sich völlig unberührt. Die Gattungsdifferenz zwischen weltlicher und geistlicher erzählender Dichtung äußert sich so um 1200 nicht nur in Umfang und Häufigkeit der Eingangsgebete, sondern ganz wesentlich auch in den Gebetsanliegen. Verfolgen die Eingangsgebete im religiösen Bereich geistliche Absichten (Sündenvergebung, Gottes Hilfe zum Leben in der Welt und zur ewigen Seligkeit, Inspiration zur Mitarbeit an der Verkündigung des göttlichen Heils), so geht es Ulrich ausschließlich um Diesseitiges: die günstige Aufnahme seines Werks durch das Publikum. Ähnliche Ausrichtung und fast dieselbe Kürze zeigt das einzige andere Eingangsgebet zu Wirnts "Wigalois" ^ ^ : 36 leider, nü geswichent beidiu
mir
zunge und ouch der sin,
daz ich der rede niht meister die ich ze sprechen
willen
bin
hän,
40 wan daz ichz dar üf hän getan daz ich mtnen willen gerne erzeicte
hie
- wesse
daz ez die wtsen dühte
ich wie guot.
got gebe mir sin und in den muot 46 daz si mirz vervähen
wol.
Aus der Unfähigkeitsbeteuerung der Verse 36-43 erwächst nur ein knappes Gebet (44f.). Zwar ist sein Anliegen anders als bei Ulrich von Zatzikhoven die Inspiration - und sogar eine zweifache für Dichter (sin) und Publikum (muot) -, aber dieses Anliegen ist genau wie das Ulrichs ganz dem Streben nach Publikumserfolg untergeordnet; nur um eine wohlwollende Rezeption des Werks sicherzustellen, wird Gott überhaupt angerufen. Durch den Kunstgriff der Bitte um Inspiration auch für das Publikum schiebt Wirnt einen Teil seiner dichterischen Verantwortung auf die Rezipienten
1642 Wirnt von Gravenberg, Wigalois, hg. von KAPTEYN.
440
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
ab: Wenn der "Wigalois" mißfällt, ist das noch kein Erweis der geringen Meisterschaft seines Verfassers, sondern es kann ebensogut durch einen Mangel des Publikums bedingt sein, dem der rechte muot für die Aufnahme des Werks versagt blieb. Wirnt nimmt durch sein Gebet für das Publikum möglicher Kritik im voraus die Spitze und führt ein Patt zwischen sich und den Kritikern herbei, das seinem Werk zwar keine Garantie für allgemeine Anerkennung bieten kann, es aber doch gegen Kritik weitgehend absichert. Wie groß der gedankliche Abstand zu den Inspirationsbitten der gleichzeitigen geistlichen Gedichte ist, braucht kaum hervorgehoben zu werden. In ihnen wird die Bitte um Gottes Hilfe zum Dichten gerade nicht innerweltlichen Zielen unterstellt, sondern sie begründet sich rein geistlich durch die Absicht, an der Weiteroffenbarung Gottes mitzuwirken, was dem Menschen ohne göttlichen Beistand nicht gelingen kann. Nur bei Ulrich von Zatzikhoven und Wirnt von Gravenberg spricht sich in der Blütezeit im Eingang eines weltlichen Werks eine Gebetsintention offen aus. Ein einziger weiterer Werkeingang, der zu Herborts von Fritzlar Trojaroman^ \
enthält eine Stelle, die
als Gebet interpretiert werden könnte: 37 Getiohtes des wil iah nv phlegen Also hart iah seiden ganzen regen Ez mvz mir einzeln tropfen in Daz mir weichen sol den sin Zunächst sind diese Verse ein Bekenntnis der Schwierigkeiten des Dichters mit seiner Aufgabe und als solche eine aaptatio
benevo-
lentiae; die investierten Mühen sollen mögliche ästhetische Mängel kompensieren. Auf dem Hintergrund der verbreiteten Wassermetapher für die göttliche Inspiration liegt es aber nahe, Herborts Beteuerung speziell auf den göttlichen Beistand zu beziehen, der ihm nicht als 'Regen', sondern nur in Form Tropfen
1
'einzelner
zufließt. Im bedauernden Bekenntnis der Unzulänglichkeit
seiner Inspiration ist der Wunsch um ihr reichlicheres Strömen schon angelegt; daher sind diese Verse vielleicht auch als unausgesprochene Bitte um größere dichterische Begnadung zu verstehen. Damit wäre die Unauffälligkeit, die auch die Gebete in den Eingängen des "Lanzelet" und des "Wigalois" auszeichnete, hier auf die Spitze getrieben; das Gebet wäre so verklausuliert, daß der Anrufungscharakter hinter der vordergründig darlegenden Intention
1643 Herbert's von Fritslär liet von Troye, hg. von FROMMANN.
441
Weltliche Erzähldichtung 1644
der Passage nur erraten werden könnte Äußerst kurze Eingangsgebete wie die Ulrichs und Wirnts bleiben, wenn auch nicht mehr als einzige Form, auch nach der Blütezeit möglich. Sie zeigen an, daß der Verfasser auf das Gebet im Eingang nicht ganz verzichten will, daß er ihm aber im Verhältnis zu den anderen Gedanken seines Eingangs kein allzu großes Gewicht beimißt. Die Frage, warum das in seinem Gewicht so reduzierte Gebet nicht ganz fallengelassen wird, beantworten die Werkeingänge nicht explizit, denn das kleine Eingangsgebet ist nirgends so ernstgenommen, daß seine Kürze eigens begründet würde. Man wird es jedoch mit Äußerungen mittelhochdeutscher Dichter wie Tilos von Kulm, Konrads von Ammenhausen und anderer in Verbindung bringen dürfen, die die alte, auf Augustinus zurückgehende christliche Regel, jedes Unternehmen im Namen Gottes zu beginnen, für gültig auch für ihr Dichten erklären. Stellvertretend sei Konrad von Ammenhausen zitiert 1 In
gotes
wan
namen
nieman
än
stne
es
ist
heb
niht
helf
:
ich
an,
geschaffen
und
kan
stnen
gunst.
kein wtsheit noch kein & β 5 wan du von ime vlusset gar. allu
ding
wan du mit
sint ime
heiles
bar,
anevänt
-
kunst,
Wenn es vor allem darum geht, den Namen Gottes im Eingang zu nennen, dann ist es gleichgültig, in welchem Zusammenhang das geschieht. Es muß nicht notwendig in einer Inspirationsbitte sein wie bei Wirnt oder bei Ruprecht von Würzburg 1 6 4 6 sine
helfe
sende,
/
das
ich
diz
mcere
volende),
(23t. got
mir sondern der Name
1644 Eine ähnlich zwischen Darlegung und Gebet schillernde Stelle findet sich einige Jahrzehnte später im Prolog zu Rudolfs von Ems "Alexander":
29 Nü was ich, als ich eht noch bin, als gemuot das ich den sin ie dar üf arbeite das Got zuo geleite geruochte vüegen miner kunst saslde und edeler herzen gunst Hier ist die Bitte ersetzt durch die Beteuerung des Dichters, stets nach Gottes scelde für sein Dichten zu streben, was wohl einschließt, daß er um diese Gnade betet. Das Beten des Dichters wird aber nicht zitiert, sondern es wird darauf angespielt. 1645 Vgl. auch Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln 1-6; Hiob-Paraphrase 1-6. Zur Herkunft dieses Gedankens von Augustinus JAEGER, Schöpfer, S. 5, Anm. 19. 1646 Ruprecht von Würzburg, Von zwein koufmannen. ha- von (ΊΤΙΓΚΗΤΊ-ΗΤ·
442
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Gottes kann gerade in der weltlichen Dichtung, für die die göttliche Inspiration nicht als unabdingbar galt, auch bei ganz anderer Gelegenheit eingeflochten werden, wie das Gebet aus dem "Lanzelet" zeigt und in nachklassischer Zeit Berthold von Holle illustriert, der im "Crcine" Gott im Zusammenhang mit einem Lobpreis seines Gönners kurz anspricht16 ^. Wenn sich gar keine andere Möglichkeit bietet, kann der Name Gottes sogar ganz ohne Zusammenhang mit dem Kontext an den Anfang gestellt werden, selbst wenn sich dadurch ein Bruch im Sinn ergibt. So im "Friedrich von Schwaben" 1648 : 1 Got her',
in seinem
So traohtent Wie das Ain
beginn
die meinen
iah verbringen
sinn müg
tob das da tug
5 Von ainem Hainriah
fürsten
wol
so was der
erkannt: genannt.
Warum die ersten zwei Worte Gott anreden, ist anders gar nicht zu erklären; Gebetsintention verfolgt diese Passage nicht (und übrigens auch kein anderer Abschnitt des Eingangs). Derselben unintegrierten Nennung Gottes, nun erweitert um die aller Bewohner des Himmels, begegnet man auch in den ersten Versen von Witten., „_. „1649 weilers Ring : 1,1 Der obresten Marien, Dar
trivaltiohäyt,
muoter,
zuo allem
räynen hymelschen
Ze lob, se dienst δ Den guoten Den bösen Sült
zlieb, zläyd,
es hörren
Eyn puoah,
mayt,
so
her
und auch ze fröden ze hertzen
ze er, sahein, pein
zehant
daz ist der Ring
genant
-
Der Satz macht eigentlich keinen Sinn. Wieso das Hören des Werks der Trinität, Maria und allen Heiligen zur Ehre geschieht, ist nicht einzusehen; der "Ring" ist kein Gottes- und Heiligenlob. Hier geht es offensichtlich nur darum, die heiligen Namen an den 1647 Berthold von Holle, hg. von BARTSCH.
Crane 33 des mote der li-p wol gevarn und die sele dort got bewarn. 1648 Friedrich von Schwaben, hg. von JELLINEK. 1649 Der Ring von Heinrich Wittenweiler, hg. von BECHSTEIN.
443
Weltliche Erzähldichtung
Beginn des Werks zu stellen. Ihre Einbindung in den Kontext bleibt notdürftig; sie wird nur über die Syntax, aber nicht über den Inhalt versucht. Nicht immer liegt so offen zutage wie im "Ring" oder im "Friedrich von Schwaben", daß das Hauptmotiv der Anrufung Gottes im Eingang die Befolgung der augustinischen Regel vom Beginn im Namen Gottes ist. Es trifft aber auch auf die anderen sehr knappen oder nur angedeuteten Eingangsgebete weltlicher Dichtungen zu. Sie dienen als Mittel, um die Nennung Gottes, die sonst isoliert im Eingang dastünde, gedanklich zu i n t e g r i e r e n ^ ^
. Dahinter
steht
die Uberzeugung, daß das mit Gott begonnene Werk besser gelingen müsse. Daß die kleinen Gebete etwa bei Wirnt, Ulrich von Zatzikhoven, Berthold von Holle oder Ruprecht von Würzburg daneben auch eine Gebetsabsicht verfolgen, ist nicht zu bestreiten; sie ist aber nicht wichtiger als ihr Bestreben, den Namen Gottes im Ein1651
gang des Werks zu haben
. Gerade die äußerste Kürze der Gebete
untermauert diese These. Sie zeigt, wie wenig wichtig die Dichter ihr vordergründiges Gebetsanliegen nehmen. Neben die sehr kurzen und die nur angedeuteten Anrufungen treten vom Ende der Blütezeit an als zweiter Typ Gebete, die sich
1650 Selbstverständlich ist das Gebet nicht die einzige Möglichkeit, eine Nennung Gottes in den Kontext einzubinden. Auch ein darlegender, nicht an Gott gewandter Satz kann diese Integrationsfunktion übernehmen. Da es sich bei solchen Konstruktionen nicht um Gebete handelt, können sie hier nicht weiterverfolgt werden. Doch soll zumindest auf die Eingänge einiger Erzählungen Heinrich Kaufringers (Werke, hg. von SAPPLER, Bd. 1, Tübingen 1972) hingewiesen werden, die mustergültig vorführen, wie eine solche Einbindung geschieht. Sie beginnen alle mit dem Wort 'Gott* (verraten also besonders deutlich das Bestreben, den Namen Gottes als Anfang zu nehmen), lassen daraus aber kein Gebet hervorgehen, sondern eine Aussage ü b e r Gott:
Nr.
1,1 Gotes wunder ist als vil, das sein ieman waiß kain zil Nr. 14,1 Got lat den gerechten menschen nicht auß seiner väterlichen pflicht. Nr. 27,1 Gott der vatter in ewigkait hat solich lieb zuo der menschait, die grundlos ist oun endes zil, das er das nicht maint noch wil, 5 das der mensch in Sünden sterb -
(S. 1) (s. 154)
(s. 252)
In einem anderen Eingang erscheint der Name Gottes zwar nicht im ersten, doch zweimal im zweiten und dritten Vers:
Nr.
5,1 Es ist gar ain sölich man, dem got sölig eren gan, das im von got beschaffen ist ain frommes weib on argen list -
(S. 53)
1651 Zum Teil sind darüber hinaus, wie für Ulrich von Zatzikhoven und Wirnt gezeigt wurde, noch andere Absichten ausschlaggebender als die Gebetsintention .
444
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
durch ihren etwas größeren, meist zwischen vier und acht Versen liegenden Umfang deutlicher von ihrer darlegenden Umgebung absetzen, dadurch klarer als Gebet wahrnehmbar sind und deshalb im Eingang größeres Gewicht besitzen. Das beste Beispiel bietet das 1652 Eingangsgebet zu "Mai und Beaflor" , das längste dieser Gruppe : 3, 3 Got herre, stt daz alsö ist, s3 hilf mir, helfecltcher 5 und gip die gen&de
Krist,
mir,
daz ich ze lobe und ziren dir allez daz gesprechen daz dtnen Sren wol
müge, getüge,
und daz mit wSrheit 10 des iah ze tihtene
werde
volbräht
hän gedäht -
Das Gebet hat Raum für eine zweifache Anrede Gottes (3,3f.), eine allgemeine (3,4 hilf mir) und eine präzisere Formulierung seines Anliegens (3,5-7 gip die genäde mir / daz iah (... / ...) gesprechen müge) sowie eine immerhin vier Verse umfassende Begründung des Gebetsanliegens (3,6.8-10). Durch seinen Umfang wie auch durch seine von der der Umgebung klar unterschiedene sprachliche Form, die durchgehende Du-Anrede an Gott, besitzt es ein Eigengewicht innerhalb des Eingangs, das den sehr kurzen oder indirekten Eingangsgebeten nie zukommt. Ähnliches gilt für das Eingangsgebet zu Ulrichs von Lichtenstein "Frauenbuch"1^^3. Sein Gewicht im Eingang beruht weniger auf Umfang und sprachlicher Form (mit nur vier Versen bleibt es kürzer, zudem ist es optativisch formuliert) als auf seiner exponierten Position am äußersten Prologbeginn und der anaphorischen Bindung dreier seiner Verse durch den Namen Gottes, die es scharf von seiner Umgebung abhebt: 594,1 Got müeze wtbes eren daz ist min staeter
phlegen, morgensegen,
got müez ir s£l und Itp bewarn, got läz si nimmer
missevarn.
Ulrichs Gebet entspringt trotz der dreimaligen Nennung Gottes am Versbeginn kaum dem Wunsch, den Namen Gottes am Anfang des Werks 1652 Mai und Beaflor, hg. von VOLLMER, Leipzig 1848. 1653 Ulrich von Lichtenstein, Der vrouwen buoch (U. v. L., hg. von LACHMANN VON KARAJAN, S. 594-660).
Weltliche Erzähldichtung
445
zu haben, damit das Werk besser gelingt. Denn Gottes Gnade, die in anderen Gedichten an analoger Stelle auf den Dichter herabgerufen wird, wird hier an das Publikum weitergegeben; der Dichter tritt zurück und empfiehlt statt seines Werks die als Rezipienten erhofften Damen der Gnade Gottes. In diesem ritterlich-galanten Umgang mit dem Dichtergebet spiegelt sich die Intention des "Frauenbuchs", denn durch ihn demonstriert Ulrich gerade die als Frauendienst verstandene höfische Lebensform, die sein Gedicht einfordert. Hier ist - ganz anders als in "Mai und Beaflor", dessen Eingangsgebet jedem beliebigen Werk vorangestellt werden könnte - die einleitende Anrufung dem Werkcharakter genau ange.1654 paßt Auf der Grenze zwischen den zwei bisher behandelten Typen des Eingangsgebets weltlicher Gedichte stehen die Bitten um Gottes Beistand im Prolog des "Trojanerkriegs" Konrads von W ü r z b u r g ^ ^ . Einerseits sind sie mit insgesamt fünf Versen klar länger als die sehr kurzen, hauptsächlich um der Erwähnung des Namen Gottes willen aufgenommenen Gebete, und die dreimalige Einfügung einer Anrufung in den Prolog (258f., 281, 308f.) bedeutet ein gewisses Insistieren auf dem Gedanken der göttlichen Hilfe. Aber andererseits verschwinden die fünf Gebetsverse, die überdies in drei Gebete zu ein bis zwei Versen aufgesplittert sind, völlig hinter den über dreihundert nicht gebethaften Versen des Prologs. Zudem setzen sie sich nie durch ihre sprachliche Form, etwa eine DuAnrede an Gott, vom Kontext ab, sondern sie sind ihm als die Bitte nur implizierende Paraphrasen des Musters 'wenn Gott mir hilft, will ich dichten' fest eingebunden und als Konditionalsätze syntaktisch stets untergeordnet. So wirken sie zweideutig, so als könne sich Konrad nicht entscheiden: Er will die Inspirationsbitte zwar nicht weglassen, denn ihm liegt an der sich bescheiden gebenden Relativierung des eigenen Könnens durch den Verweis auf 1656 die Notwendigkeit der göttlichen Gnade , aber er vermeidet es 1654 Im "Frauendienst" (U. v. L. , S. 3-593), dessen Eingangsgebet ebenfalls in diese Gruppe gehört, stellt Ulrich noch' kaum eine Beziehung zwischen Gebet und Werkcharakter her. Das Gebet besteht hier vor allem aus der Erklärung, in Gottes Namen zu beginnen, und einer Bitte um die rechte Rezeptionshaltung für das Publikum (2,31-3,2, also vier Verse), die beide auch ein anderes weltliches Gedicht einleiten könnten. Eine Verbindung zum Werkgehalt hat nur der in das einleitende lange Frauenlob eingebaute, von den anderen Gebetsversen räumlich und gedanklich isolierte Ausruf zu Gott über die guoten wtp, her, waz sie tugent doch begänt! (1,4). 1655 Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg, hg. von VON KELLER. 1656 Die impliziten Gebete stehen alle in Passagen, die sehr selbstbewußt von Konrads Können sprechen: zunächst in einer Anpreisung des Prologs als nütze, frum und lehrreich für ein tugendhaftes Leben (260-65), dann im Anschluß an ein selbsterteiltes Lob für seine elegante Bearbeitung des alten Stoffes (266-79), und schließlich nach der Bekanntgabe seines ausgedehnten fremdsprachigen Quellenstudiums (302-07).
446
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
auch sorgfältig, ihr zuviel Gewicht beizumessen, die eigene Kunstfertigkeit zu sehr zu schmälern, denn alles in allem bleiben die Gebete um Gottes Hilfe hinter dem selbstbewußten Lob seines Könnens weit zurück. An die Notwendigkeit der Invokation des göttlichen Beistands glaubt Konrad nicht wirklich; er verwendet die Inspirationsbitte als Alibi, das den Vorwurf des Dichterstolzes von ihm abwenden soll^"^. Aus der Masse der Eingangsgebete, die nicht einmal zehn Verse umfassen, ragen am Ende des 13. Jahrhunderts zwei Anrufungen heraus, die diesen Umfang um ein Vielfaches übersteigen und Ausmaße annehmen, die auch in der religiösen Dichtung kaum Parallelen haben: die Eingangsgebete zu Ulrichs von Etzenbach "Alexander" und 1658
zum "Jüngeren Titurel" . Ulrich widmet dem Gebet nicht weniger als 154 Verse seines Prologs, und Albrecht bringt es, zählt man der Vergleichbarkeit wegen in Kurzversen, am Anfang des "Jüngeren Titurel" auf fast exakt dieselbe Verszahl. Voraussetzung einer so ausführlichen Wendung zu Gott am Beginn eines weltlichen Werks ist offensichtlich eine gewisse Monumentalität des Vorhabens sowohl der "Alexander" als auch der "Jüngere Titurel" rechnen zu den umfangreichsten Dichtungen des Mittelalters -, doch fordert andererseits im weltlichen Bereich der große Umfang nicht notwendig auch ein langes Eingangsgebet, denn Werken wie der "Crone", "Partonopier und Meliur", "Apollonius von Tyrlant", dem "Göttweiger Trojanerkrieg" oder auch dem "Prosa-Lancelot" fehlt es ganz^"^. Wegen ihrer eklatanten Ausnahmeposition verdienen die 1657 Ähnliche Alibifunktion hat auch die im Prolog entwickelte Dichtungstheorie (68-101), in der Konrad die Kunst des Dichters unter völliger Abwertung alles Erlernbaren ausschließlich auf Gottes Begnadung zurückführt: 74
sine fuoge und sine kunst nach volleclichen §ren mac nieman in geleren, wan gotes gunst aleine. 94 im gap sin götelioh gebot als edellzche zuoversiht, daz er bedürfe rates niht, noch helfe zuo der künste sin, wan daz -im unser trehtin sinn unde rnundes günne, 100 dä mite er schöne künne gedenken unde reden wol. Diese Theorie widerspricht nicht nur den selbstbewußten Äußerungen Konrads über sein Werk, in denen Gott nur sehr am Rande vorkommt, sondern auch seinem poetischen Verfahren, das gerade auf prinzipiell erlernbare technische Fertigkeit setzt. 1658 Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, hg. von WOLF; für den von WOLF nicht mehr edierten Schlußteil bietet nur die Ausgabe von HAHN (1842) einen Text. 1659 Diu Crone von Heinrich von dem Türlln, hg. von SCHOLL; Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur; Heinrich von Neustadt, "Apollonius von
447
Weltliche Erzähldichtung
Eingangsgebete zum "Alexander" und zum "Jüngeren Titurel" eine eingehendere Betrachtung. Ulrichs "Alexander"-Prolog läßt einen zweiteiligen Bau klar erkennen. Einem ersten, weitaus längeren Teil (1-152), der ganz aus einem Gebet besteht, folgen zwanzig Schlußverse, die im wesentlichen Bemerkungen zum Werkthema sowie zur Stoffgeschichte bringen und nur in zwei sehr unscheinbaren, kaum als Gebet zu erkennenden Versen (163f-) nochmals zur Anrufung zurückkehren. So interessiert hier vor allem der erste Teil des Prologs. Wie in vielen längeren Eingangsgebeten sind auch seine Hauptgedanken Gotteslob und Bitte. Ulrich beginnt mit einer kurzen preisenden Anrede des ewigen künic Säbäot (If.), der sogleich die Bitte folgt, Gott möge durch seine Güte die ganze Christenheit stets vor aller engestltcher not bewahren (3-6). Daran schließt sich ein zweites, nun ausführlicheres Gotteslob (7-48), das zunächst die Feststellung, niemand könne die Wunder Gottes angemessen preisen, am Beispiel der Propheten exemplifiziert. Sogar Isaias, Jeremias und Daniel, David und selbst Salomon konnten nur etewaz (24) davon sagen, und auch das nur, weil Gottes Gnade ihnen beistand, weil wtsheit von dir in des verjach (16). Die Erwähnung Daniels bringt Ulrich auf einen Exkurs über Daniels Traum von den vier Tieren 1 6 ^, deren eines traditionell auf Alexander gedeutet wurde (27-34), doch führt dies nicht auf eine Ankündigung des Werkthemas, sondern Ulrich kehrt zum Gotteslob zurück, um den allmächtigen Gott nun als Erlöser der Sünder zu preisen (44-46 ouah
h&t dtn gotltche
maht
/ uns cristen
trostes
vil gegeben,
/
da von wir hoffenlzchen leben) . Hieran kann er leicht seine zweite Bitte anschließen:
49 süezer
got der meide
waz wir gegen
suon,
dir Sünden
da hilf uns nach dfner ich meine
dich
tuon,
bermde
Tetragamaton
von:
-
Mit Vers 55 beginnt der dritte Gottespreis: Ulrich zeichnet Gott als Herrscher über den Kosmos (55-74, 84-94), bringt aber beiläufig auch anderes zur Sprache, das Gottes unbegreifliche Allmacht verdeutlicht, so den Trinitätsgedanken (und speziell den Aspekt, daß Gott Vater und Sohn zugleich sei; 76f. , 79f.) oder das Paradoxon der Jungfrauengeburt (94) ; auch nur Gelehrtes erTyrlant"; Der Göttweiger Trojanerkrieg, hg. von KOPPITZ; Lancelot, hg. von KLUGE. 1660 Dan 7,1-27.
448
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
scheint, das den Zusammenhang eher stört, etwa die Umschreibung Christi durch die Symbole der Evangelisten (70) oder die Deutung 1661 von 'Jesus Christus' . An das Lob schließt Ulrich erneut eine Bitte, die diesmal um eine Confessio 95 Mtn
herze
mit
ob daz durah von
dir
daz sott üf dtne
mtnen
ist
du äne genäde
zürnen ez
lä miahs
Zige in Sünden
verwunt.
unwerden
iht gespreahen
100 dar umbe iah
Sünden
erweitert ist:
munt
kan,
län.
geschiht, engelten begraben
niht, tief.
Diese dritte Bitte ist das erste Gebet Ulrichs für sich allein; zuvor war immer die ganze Christenheit mitbedacht. Die Bitte um Gnade für sein notwendig unvollkommenes Reden über Gott kann sich nicht auf die profane Alexanderhandlung beziehen, sondern nur auf den Gebetseingang, der in weiten Teilen als Gottespreis ein Sprechen über Gott ist. Ulrich treibt die Demut des Dichters vor Gottes Unfaßbarkeit zum äußersten; daß selbst noch das staunende, sich auf die bloße Aufzählung der göttlichen Wunder beschränkende und auf jeden Versuch, sie zu begreifen, verzichtende Lobgebet mißlingen könnte, hat kein anderer Dichter erwogen. Noch einmal kehrt Ulrich nun zum Preisgebet zurück, in dessen Zentrum jetzt eindeutig der Erlösergott steht (102-20). Nochmals preist er das Wunder der jungfräulichen Geburt (102-13) und gedenkt sodann der dadurch entstandenen Namensverwandtschaft der Christen mit Christus (115f.) sowie der weiteren Heilstatsachen Kreuzigung und Taufe (117f.). Der Gedanke an Gottes große Liebe zu den Menschen, die sich in seinem Heilswerk manifestiert, ermutigt Ulrich zu seiner persönlichsten, gleichwohl sehr knappen Bitte: 121 an sinnen mich
armen
h§rre
rtohe
Uolrtche,
1661 81 näoh helfe Jhesus du genennet bist, von diner demuot heist du Crist. Ulrichs Deutung von 'Jesus' auf die in der Erlösung den Menschen zuteil gewordene Hilfe fußt auf Mt 1,21 Pariet autem filium, et vooabis nomen eius Iesum; ipse enim salvim faaiet populum suum a pecoatis eorum. Dagegen steht hinter der Auslegung von 'Christus' auf Gottes demütige Selbstentäußerung Wolframs Gedanke der Namensgleichheit des Erlösers mit den erretteten Sündern. Ulrich stellt die Verbindung zwischen 'Christus' und 'Christen' nicht ausdrücklich her, sondern spielt nur darauf an. Er setzt zum Verständnis dieser Verse die Kenntnis des "Willehalm"-Eingangsgebets voraus.
Weltliche Erzähldichtung
ich bin genant
von
449
Eschenbach.
Der Grund für die auffällige Kürze der Bitte um Hilfe im Dichten dürfte im profanen Charakter des Alexanderstoffes zu suchen sein. Daß das Gebet um sinne tatsächlich die dichterische Begabung meint und nicht allgemeiner die Kraft zu einem christlichen Leben, geht aus den unmittelbar anschließenden Worten über Wolfram hervor: 124 waz her Wolfram
ie
daz ist von guotem
gesprach sinne
des müezen wir im alle leien munt gesprach
geschehen,
jehen,
nie baz.
von guotem sinne bezeichnet fraglos Wolframs dichterisches Vermögen . Nach diesem etwas unvermittelten, vielleicht durch den Ortsnamen Eschenbach in der Angabe seiner Herkunft (123) ausgelösten Lob Wolframs nimmt Ulrich sein Bittgebet wieder auf (129-52). Nun, am Ende des Eingangsgebets, erfleht er das Heil wieder für die ganze Christenheit. Durch die schnelle Abfolge zahlreicher 1662 kurzer imperativischer Bitten, die oft parallel gebaut und durch gleiche oder sehr ähnliche Versanfänge anaphorisch gebunden sind^^^, wirkt der Schlußteil intensiver als alle anderen Passagen. Es ist bemerkenswert, daß Ulrich durch Schlußstellung und besondere rhetorische Intensität nicht das Gebet für sich selbst und schon gar nicht das dichterspezifische Anliegen der Inspiration heraushebt, sondern das Gebet für das Heil aller Gläubigen. Mit der sehr weitgehenden Einordnung in eine Gemeinde - bezeichnenderweise sind lange Passagen des Gebets in der Wir-Form verfaßt - unterscheidet sich Ulrichs Anrufung scharf von den meisten anderen langen Eingangsgebeten sowohl im weltlichen als auch im geistlichen Bereich. Das Aufgehen des Dichters in der Gemeinde hat zur Folge, daß das Gebet mit döm Werk selbst ziemlich unvermittelt bleibt. Die Inspirationsbitte, die eine enge Verbindung schaffen könnte, tritt ganz hinter den anderen Gedanken zurück. Das Gebet ist hier nicht als Hereinrufung des göttlichen Beistands wichtige Voraussetzung des Gelingens, dazu behandelt Ulrich die Inspirationsbitte viel zu beiläufig. Es ist nur eine Andacht, die der Dichter vor der Lektüre mit seinem Publikum abhält, zwar aus
1662 1 3 1 f . ; 1663 1 3 1 f . ,
134, 132,
1 3 8 - 4 0 , 1 4 2 f . , 146, 134, 141, 145.
150;
132f.,
150-52.
450
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Anlaß des "Alexander", aber nicht, weil das Werk zu seinem Verständnis geistliche Einstimmung erforderte oder Ulrich an die Unabdingbarkeit von Gottes Beistand für sein Schreiben
glaubte.
Der kurze Seitenblick auf die Inspirationsthematik wirkt wie ein Aufhänger, der ein so langes Gebet am Eingang eines weltlichen Gedichts vordergründig rechtfertigen Unübersehbar
soll1^6^.
spielt Ulrichs Eingangsgebet an vielen Stellen auf
den "Willehalm"-Eingang an. Die Reminiszenzen liegen jedoch nur auf der Ebene der Motivik; der Bau des Gebets folgt Wolfram nicht. Die Gliederung nach den Personen der Trinität hat Ulrich nicht übernommen. Die Dreifaltigkeit erwähnt er nur als eines unter vielen Wundern Gottes. Gedanklich mit dem Gebet im
"Wille-
halm"-Eingang verwandt ist vor allem der Gottespreis; hier kommen praktisch alle Motive, die Wolfram bringt, wieder vor,
freilich
oft variiert und um andere, zum Teil wie das Motiv der
Jungfrauen-
geburt erst im Lauf des 13. Jahrhunderts populär gewordene
Gedan-
ken erweitert^*'"'. Ähnlich wie bei Wolfram nehmen auch in Ulrichs
1664 Wie wenig es Ulrich um göttliche Inspiration für sein Dichten geht, zeigt auch sein Umgang mit dem Motiv der Propheten (10-34). Hier hätte eine Parallelisierung der Schreibsituation des Dichters mit der der alttestamentlichen Weisen im Sinne eines Exempelgebets des Musters "Diesen hast du geholfen, darum hilf nun auch mir' sehr nahegelegen. Statt dessen nimmt Ulrich in hartem, von überleitenden Versen (35-37) nur notdürftig kaschiertem Neuansatz das Lob des allmächtigen Schöpfer- und Herrschergotts wieder auf. - Möglicherweise ist diese mühsam verdeckte argumentative Bruchstelle die Spur einer Änderung der Konzeption des Prologs. Die Deutung des Traums Daniels in den letzten Versen des Prophetenabschnitts (10-34), die Alexander, ohne seinen Namen zu nennen, schon erwähnt (33f.), scheint zunächst auf eine Charakterisierung des Werkthemas hingeführt zu haben, wie sie in vielen Gedichten vom Eingangsgebet zur Erzählung überleitet. Die zwei Verse, die die Traumdeutung eigens ankündigen (27f.), wirken nicht wie die Einleitung eines nur sechs Verse langen Abschnittes, sondern scheinen sich auf Gewichtigeres zu beziehen. Sie könnten durchaus bereits das Alexanderepos selbst meinen, das dann nach einem ursprünglichen Plan aus der Interpretation des Stiers in der Daniel-Vision hätte entwickelt werden sollen. Dem Werk wäre dann ursprünglich nur ein kürzeres , mit dem Gedanken an Gottes Wirken in den Propheten endendes Gebet vorausgegangen, das sich im Umfang nicht allzu sehr von denen anderer weltlicher Werke des 13. Jahrhunderts ("Mai und Beaflor", Ulrichs "Herzog Ernst D") unterschieden hätte. Es hätte keine Bitten Ulrichs für sein Dichten enthalten. (Herzog Ernst, Deutsche Gedichte des Mittelalters, Bd. 1, 1-12). 1665 Vor allem berühren sich die folgenden Verse mit dem "Willehalm": 1 Got herre, an anegenge Got - Wh. 1,4; 41 In drin persdnen wärer got - wh. 1,2; 55 Mtn sin dich kreftia merket - wörtliches Zitat von wh 2,18, jedoch umgedeutet: gemeint ist nicht wie bei Wolfram die Erfahrung der göttlichen Inspiration im Dichten, sondern die Erkenntnis der göttlichen Kraft in seiner Herrschaft über die Welt ('Mein sin nimmt Deine Stärke wahr'); 62-69, 71-73, 84-92 Kosmosüberblick - Wh. 1,29-2,15; 74-80 Trinität - Wh. 1,2; 81f., 141-45 Deutung des Namens Jesus Christus, Namensgleichheitsmotiv - Wh. 1,25-28. Auf den nicht mehr gebethaften Schluß des "Willehalm"-Eingangs bezieht sich deutlich die in Ulrichs Gebet eingeschobene Würdigung Wolframs, vor allem Vers 124 waz her Wolfram ie gesprach klingt an an Wolframs Worte swaz ioh von Parziväl gesprach (Wh.
Weltliche Erzähldichtung
451
Gebet die Bitten den kleineren Teil der Verse ein. Ihr Hauptanliegen ist jedoch nicht wie in Wolframs Anrufung der Trinität die Hilfe zum Dichten, sondern die bei Wolfram nur recht kurz (1,6f.10-12) angesprochene Bewahrung vor der Sünde, während die Inspirationsbitte, die in Wolframs Gebet den gedanklichen Kern bildet, überaus beiläufig abgetan wird. Entsprechend seinen kaum dichterspezifischen Anliegen ist Ulrichs Anrufung über weite Strecken ein Wir-Gebet; Wolfram dagegen betet ausschließlich allein und nur für sich selbst. Ulrichs Rückbezüge auf den "Willehalm" sind ein Ausdruck epigonalen Bewußtseins, der Verehrung des großen Vorgängers, der auch in seinem Beten vorbildlich war und einen gewissen motivischen Kanon setzte. Die Verpflichtung auf das Vorbild geht aber nicht bis zum Verzicht auf eine eigene Konzeption; die unterschiedliche Akzentuierung mancher Gedanken wie auch stilistische und strukturelle Änderungen sowie motivische Ergänzungen zeugen von Ulrichs Entschlossenheit, sich neben dem unerreichbaren Vorbild als eigenständiger Dichter zu behaupten . Trotz dieser Änderungen, deren wichtigste die Reduzierung des Inspirationsgebets ist, bleibt es erstaunlich, daß der "Alexander" mit einem so umfangreichen Gebet beginnt. Eine geistliche Intention hat Ulrichs Epos nicht; zwar beginnt in der Regel jedes neue Buch des Werks mit einer geistlichen Betrachtung, aber diese ist ohne Bezug zur Handlung, und wo im Buchinneren geistliche Bemerkungen erscheinen, bleiben sie allgemein und dienen als Mittel 1666
zur Überleitung von einem Abschnitt zum nächsten . Ulrich beabsichtigt sicher nicht, Gottes Wirken in der Geschichte am Beispiel der Feldzüge Alexanders darzustellen; als Werkzeug Gottes scheint er seine Hauptfigur erst in den letzten Büchern zu inter1667
pretieren . Viele Episoden, die Ulrich berichtet und die er, wie etwa die Zeugungsgeschichte, zum Teil auch kaum weglassen konnte, sperren sich überdies von vornherein gegen eine stringent christliche Deutung. Das lange Eingangsgebet kann also nicht in einer geistlichen Erzählintention begründet sein.
4,20). Ohne Vorbild bei Wolfram - aber zum großen Teil mit Parallelen in anderen Eingangsgebeten des 13. Jahrhunderts - sind der ganze Abschnitt über die Propheten (10-34), weiter das Paradoxon, daß Gott zugleich Vater und sein eigenes Kind ist (76) , die relativ lange Darlegung der Heilstatsachen der Erlösung (107-20), die Thematisierung Marias und der Jungfrauengeburt (49, 94, 102-04) sowie Einzelnes auch im Schöpfungsüberblick (Gott gibt und nimmt das Laub des Waldes 56-58, ernährt alle Lebewesen durch die Früchte der Erde 59-61). 1666 HÜHNE, Alexanderepen, S. 49f. 1667 HÜHNE, Alexanderepen, S. 50, 119.
452
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Aber auch damit, daß der "Alexander" als sein längstes Werk Ulrich vor die schwerste künstlerische Aufgabe stellt, dürfte das Eingangsgebet kaum zu tun haben, denn die Bitten um Hilfe im Dichten bleiben extrem kurz. Auch die zeitgenössische politische Relevanz des "Alexander" kann die ausgedehnten Anrufungen nicht erklären. Alle Werke Ulrichs propagieren mehr oder weniger direkt die politischen Pläne der böhmischen Könige und bemühen sich, deren Expansionsstreben durch historische Parallelen zu rechtfertigen, doch ist der "Alexander" hieran eher weniger intensiv beteiligt als der "Wilhelm von Wenden", der ein deutlich kürzeres 1 668
Eingangsgebet hat . Wenn der besondere Charakter des Stoffs für die Länge des einleitenden Gebets verantwortlich ist, dann eher als durch seine akute Relevanz durch die Dimensionen der darzubietenden Handlung, die schließlich nicht weniger als die Geschichte eines Weltkriegs ist. Dieser heroische Stoff verlangt eine besondere Darbietungsform, eine ernsthafte und feierliche Behandlung, deren eindrucksvoller, dem Publikum eine entsprechende Rezeptionshaltung suggerierender Auftakt das Eingangsgebet darstellt. Das Werk selbst hält den feierlichen Ton dann allerdings nicht durch. Durch die weltgeschichtlichen Dimensionen der Handlung wird der AlexanderStoff mit dem gleichfalls den Krieg zwischen zwei Weltreichen thematisierenden "Willehalm" verwandt, woraus sich für die Wolfram-Reminiszenzen im Eingangsgebet ein triftigerer Grund ableitet als nur die Ausrichtung an einem großen Vorbild. (Ulrich ignoriert allerdings, daß die stoffliche Parallele zum "Willehalm", in dem es ja nicht um einen Machtkampf, sondern um den Kampf zweier Welten unterschiedlicher Ethik und verschiedener transzendenter Orientierung geht, nur begrenzt tragfähig ist.) Wenn Ulrichs Gebet die Intention verfolgt, die weltgeschichtlichen Implikationen seines Stoffs durch einen feierlichen Eingang anzuzeigen, so wird ihm das Gebet ganz zum erzähltechnischen Mittel; es ist nicht mehr Vorbedingung des Werkgelingens, sondern nur Indikator einer ernsten Handlung und Signal der angemessenen Rezeptionsweise. Von daher ist es konsequent, daß Ulrich die Bitte um Inspiration so reduziert. Auch im Eingang zu Albrechts (von Scharfenberg?) "Jüngerem Titurel" spielen Gebete eine große Rolle. Sie bilden nicht wie die Ulrichs im wesentlichen eine große zusammenhängende Anrufung, sondern sind in nicht weniger als sieben Komplexe^** ganz verschiedener Länge aufgespalten, zwischen denen darlegende Passagen 1668 Hierzu KOHLMEYER, Formkunst, besonders S. 359-62, 369-75. 1669 Die Siebenzahl der Gebetskomplexe ergänzt die länger bekannte, zuletzt von HAHN (Kosmologie, S. 239f.) dargestellte Siebenergliederung des Prologs insgesamt.
Weltliche Erzähldichtung
453
liegen, die teils die Gedanken der Gebete fortsetzen, teils neue Gesichtspunkte einführen, aus denen dann vielleicht neue Gebete hervorgehen. Diese Struktur macht es erforderlich, die Anrufungen im Eingang des "Jüngeren Titurel" auf dem Hintergrund ihres nicht gebethaften Kontexts zu betrachten. Albrechts 85 Strophen langer Eingang gliedert sich in sieben große Sinnabschnitte. Sein erster Teil (Strophe 1-18) gibt das geistliche Programm des Werks und legt den theologischen Rahmen dar, auf den sich seine Handlung bezieht. Er beginnt mit einem teils in Anrede an Gott, teils in darlegender Form verfaßten Lob Gottes als Schöpfer (1-7) und bestimmt dann den Sinn der Schöpfung und besonders der Erschaffung der Menschen und Engel, den Albrecht in ihrer Bewährung zwischen Himmel und Hölle, Gut und Böse erblickt. Engel und Menschen sind geschaffen, um sich frei für die Tugend zu entscheiden
(10,3 got der geschuf
durch tugent
mensch
und enget), wodurch sie Anteil am Wesen Gottes gewinnen, denn got selb ist alle tugende (10,2). Die Engel haben ihre Wahl bereits getroffen; Luzifer, der an tugenden hete menget (10,4), muß die Qualen der Gottferne leiden (11,1); dagegen schauen die treuen Engel, die ihre Tugend bewahrt haben, nach wie vor die Herrlichkeit Gottes und sind mit der künftigen Unverlierbarkeit ihrer Gottnähe belohnt (12,3-13,3). Ist das Schicksal der Engel endgültig entschieden, so sieht sich der Mensch je individuell sein Leben lang in die Entscheidung zwischen Gut und Böse hineingestellt: 8,2 noch mer der jar mit wile
der mensche
lebt in vrouden
ewich
erkennet &
·
oder in noten ewich da di wil der mensch
zerhelle.
ist lebende,
got git im wal zu nemen, welchz
er welle.
Die offene, von jedem neu zur Entscheidung zu bringende Situation des Menschen gibt Albrecht Anlaß zu1 einer Mahnung (mit dem Kernsatz so firmet uch mit tugenden, 14,4), aber auch zu einer tröstlichen Präzisierung seiner Auffassung von der Situation des Menschen. Anders als die abgefallenen Engel kann noch der sündige Mensch durch Reue Rettung erlangen: 17,1 Ob menschen
sunden riwe
zu recht mit ganzer
triwe
ist an dem herzen
clebende
unz an di wile, daz er vrid ist gebende
got und der sei nach tod vor allen
sunden:
454
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
durch
cheiner
wunden
schulde
darf
in
genoz
der
Voraussetzung ist freilich, daß er der Hauptsünde entgeht (18,2 vor toufes
nazzen).
allen
sunden
schadende
ist
der
helle
nieman künden.
desperatio zwivel
allen
Mit dieser Feststellung endet der erste Teil des
Eingangs; ein Gebet um Gottes Beistand für den Menschen in der existentiellen Entscheidung fehlt. Abrupt setzt in Strophe 19 der zweite Sinnabschnitt ein, eine nur zwei Strophen lange Verteidigung Wolframs gegen Kritik am "Parzival" 1670 . Sie ist als Antwort Wolframs selbst an die Kritiker formuliert; von hier nimmt also Albrechts Wolfram-Fiktion ihren Ausgang. Vor allem nimmt Albrecht den "Parzival" gegen den Vorwurf elitärer Hermetik in Schutz. Seine Verteidigungsstrategie besteht in der Abqualifizierung der Kritiker als unverständig und geistig schwerfällig; sie nimmt damit die Taktik auf, mit der Wolfram schon im Prolog zum "Parzival" entsprechenden Vorwürfen 1671 den Boden zu entziehen versuchte . Doch obwohl er die Anschuldigungen nicht akzeptiert, will Albrecht - als Wolfram - doch den Sinn des "Parzival" in seinem neuen Werk, gleichsam einer interpretierenden Überarbeitung, verdeutlichen, weil er befürchtet, daß die Mißverständnisse, zu denen sein Werk den Unverständigen Anlaß geben mag, ihm als Sünde angerechnet werden könnten (20,2). Die Gegenattacke gegen die Kritiker erleichtert Albrecht die Begründung seines Unternehmens sehr: Er kann die Neubearbeitung eines längst klassisch gewordenen Werks legitimieren, ohne dabei der Urfassung Schwächen anlasten zu müssen. Konsequent beginnt dann (Str. 21) der angebliche Wolfram im dritten Teil des Eingangs mit einer erläuternden Paraphrase des "Parzival"-Prologs. Entsprechend der Absicht, die Unverständigen vor irreganc
(20,2) zu schützen, ist ihr Tenor stark lehrhaft.
Wie Albrecht Wolframs Bilder und Sentenzen im einzelnen deutet, 1670 Die Wolfram-Verteidigung ist nur über die Erwähnung des "Parzival" im letzten Vers des ersten Teils (18,4) überaus lose und nur assoziativ angebunden. 1671 Parzival 1,15 diz vliegende btspel
ist tumben Hüten gar ze snel, sine mugens niht erdenken: wand ez kan vor in wenken rehte alsam ein schellec hase. (Wolfram von Eschenbach, 6. Ausgabe von LACHMANN). Vgl. Jüngerer Titurel:
19,1 Di trazgen (man da merket) und witze di tunkel sehende mich zihent, ich hab verterket ein pfat, vil wit daz lig der diet unspehende, da zu hab ich in sahif und bruk enpfuret, straz unde pfat verirret, immer all ir verte ungeruret.
Weltliche
Erzähldichtung
455 1672
braucht hier nicht nachgezeichnet zu werden
. Wichtig ist be-
sonders seine Interpretation des Wolframschen Zentralbegriffs zwtvel. Albrecht versteht zwtvel nicht als Schwanken zwischen staete und unstaete , das als Zustand noch vor der endgültigen Entscheidung die Möglichkeit der Rettung offenhält, sondern als unmittelbar zur Hölle weisende desperatio.
'sauer' ist der Seele
des (Ver-)Zweifelnden nicht wie für Wolfram das Schwanken zwischen Glauben und Unglauben, sondern die ewige Höllenstrafe als Folge der Abkehr von Gott in der desperatio: Ist zwivel naahgebure
dem herzen -iaht die lenge, / daz muz der sele sure
wer-
den ewiclich in jamers strenge (22,1f.). Wie Wolfram gelangt Albrecht zu einer Warnung vor unstaete, die er in dieselbe Farbensymbolik kleidet wie dieser: Schwarz steht für den unstaeten (di selben sint geverwet
vinster var und ewialioh
gehellet,
25,4), während den staeten die weiße Farbe bezeichnet: So habent sich die blanken gedanken
mit varwe nach der sunne, / die staeten mit
(26,1f.).
An dieser Stelle schiebt Albrecht als vierten Teil des Eingangs einen umfangreichen Exkurs ein (27-48), der im "Parzival"-Prolog kein Vorbild hat. Er entwickelt sich aus dem Symbol der weißen Farbe. Albrecht bringt das Weiß der staeten nicht wie Wolfram primär mit dem Gefieder der Elster in Verbindung, sondern er versteht es vor allem als Ergebnis einer geistlichen Reinigung, eines Bades im Quell der göttlichen Gnade. Von hieraus kommt er, mehr assoziativ als in Verfolgung eines stringenten Gedanken167 3 gangs , zu einer längeren Abhandlung über die wunderbaren physikalischen, einen geistigen Sinn bergenden Eigenschaften des Wassers und über die Rolle des Wassers in Gottes Heilswirken. Das Wasser ist ein Bild für den dreieinigen Gott, da Quelle, Fluß und Mündungssee dem Vater, dem Sohn und dem Geist entsprechen (27)
; weiter ein Zeichen für die Errettung des Menschen, des-
sen Schuld Gott mit dem Wasser der Taufe abwäscht (30-34); und schließlich ein Hinweis auf die Wunderbarkeit des Schöpfers schlechthin, der dem Wasser so paradoxe Qualitäten verliehen hat wie flüssig und fest oder feucht und feurig (im Kristall, der aus Wasser entsteht und in dem doch ein Funke glänzt) und der den Stein Enidorium geschaffen hat, aus dem ständig Wasser entspringt, ohne daß erkennbar ist, was diese Quelle speist (35-42, 45). 1675 Die physikalischen Paradoxa werden zum Teil allegorisch gedeutet
1672 1673 1674 1675
Hierzu KERN, Kommentar; RAGOTZKY, Studien, S. 102-07. Genaueres bei KERN, Kommentar, S. 198f. Zur Tradition des Symbols KERN, Kommentar, S. 186 und Anm. 11. Z.B. der Wasser und Feuer vereinigende Kristall (39f.).
456
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Am Ende des Exkurses wendet sich Albrecht wieder ganz dem geistlichen Aspekt des Wassers zu und erwähnt seine Beteiligung an den meisten Sakramenten (43f.) und das den Menschen errettende, vom Herzen zu den Augen aufwärts strömende Wasser der Reuetränen (46f.) . Strophe 49 nimmt dann die deutende Paraphrase des "Parzival"Prologs wieder auf und beginnt damit den fünften Sinnabschnitt des Eingangs (49-58) . Er besteht im wesentlichen aus interpretierenden Zitaten der eigenwilligen Bilder des zweiten Teils von Wolframs Prolog. Das Bild vom aufgescheuchten Hasen, das bei Wolfram für die Eigenart des "Parzival" steht, sich konventionellen Rezeptionsgewohnheiten zu entziehen ("Parzival" 1,15-19), wird umgebogen zu einem Symbol für das durch Albrecht interpretierte und nun leicht verstehbar gewordene Werk: Durch seine Neubearbeitung wird es so zugänglich, daß es sich nun gerade leichter fangen läßt als ein aufgeschreckter Hase: 50,2
Ο durch daz muz ich hie worticlich iz tat sich sanfter
danne hasen
ich mein, di sint erschellet
β beduten,
vahen,
-
Das Hasengleichnis steht nicht mehr für die Schwierigkeit des Werks, sondern ganz im Gegenteil für die Offensichtlichkeit des darin angelegten Sinnes. In die Bedeutung der nächsten Bilder aus dem "Parzival"-Prolog greift Albrecht weniger ein; sowohl das Bild vom Spiegelglas als auch das vom Traum des Blinden deutet er ähnlich wie Wolfram, wenngleich viel expliziter, auf die Unzuverlässigkeit der Erkenntnis der unverständigen Kritiker (51-53). Doch fügt er eine für ihn typische Wendung ins Lehrhaft-Moralisierende an: Ursache der korrumpierten Optik der Kritiker und letzter Grund ihrer Dummheit ist die Hingabe an der werlde suze (53,3). Hieraus entwickelt sich eine längere Predigt zur Warnung vor den Verlockungen der Welt (55-58), auf deren Hintergrund Albrecht eine eindeutige Interpretation des rätselhaften Bildes vom Haar in der Handfläche möglich wird: staete vreude ist in der Welt ebensowenig zu finden wie im Handteller ein Haar (55). Im sechsten Teil (59-65) gibt Albrecht Auskunft über den Sinn seiner Dichtung. Auch dies hat ein Vorbild im "Parzival"-Prolog, der an der entsprechenden Stelle (2,5-3,24) von der guoten lere (2,8) des Werks spricht. Während Wolfram sehr spezifische Angaben macht und die Warnung vor valsch gesellecltchem muot (2,17) und die Propagierung der weiblichen Tugenden als Ziele seines Unternehmens nennt, bleibt Albrecht, der wohl fühlt, daß sich der Sinn
457
Weltliche Erzähldichtung
des "Parzival" auf solche Formeln nicht bringen läßt, und der zudem in seiner Neubearbeitung über Umfassenderes, nämlich buchstäblich über Gott und die Welt, belehren will, viel allgemeiner und nennt als Absicht seines Schreibens nur die Vermittlung sinnericher lere (59,4). Es folgen dann noch ein affektiertes Zurückweichen vor der großen Aufgabe (60-62), die ihm angeblich drei Fürsten entgegen seinen Bitten auferlegen (64,1), und die nochmalige Beteuerung, sein Werk sei ganz und gar eine Tugendlehre (65). Der siebte Teil des Eingangs (66-85) schließlich, der wie die ersten Strophen wieder ganz dem Gedanken an Gott gewidmet ist, besteht fast völlig aus Gebeten. In den skizzierten Gedankengang sind sieben Gebete ganz unterschiedlicher Länge eingefügt. Sie sind nicht gleichmäßig auf die sieben Sinnabschnitte verteilt, sondern bilden Schwerpunkte in den Passagen, in denen Albrecht sich vom "Parzival"-Prolog löst, während sie in den diesen paraphrasierenden Teilen des Eingangs fast ganz fehlen. Besonders intensive, überdurchschnittlich lange Gebetskomplexe stellt Albrecht an den Beginn und den Schluß des Eingangs. Reich an Gebeten ist weiterhin der Exkurs über das Wasser. Mit der Anrufung in den ersten drei Strophen des Eingangs stellt Albrecht wie viele andere Autoren ein Lob des Schöpfergotts an den Anfang seines Werks, wobei er manche Motive und Gedanken aus dem "Willehalm"-Eingang übernimmt, aber auch auf die alte Formel 'Kaiser aller Könige' zurückgreift (2,4). Er preist Gott zunächst als ewig und unendlich in den Dimensionen Zeit und Raum: 1,1 An anegeng din kraft
und an letze an under
bistu,
setze
himel
got,
ewia
und erde
lebende. helt enpor
uf
swebende. din ie, din immer
ist gar
sam wirt
nimmer,
din hohe
ungepfehtet. breite,
lenge,
tiefe
din
getrehtet.
Dann tragen die Strophen 2 und 3 den Gedanken der Allherrschaft nach (2,3f.). Vor allem aber setzen sie Gottes Schöpferkraft mit dem menschlichen Geist in Beziehung, anfänglich noch als Kontrast nimmer
(Swie doch
dar genahent,
gedanke
gahent
daz si dinen
snel vor allen gewalt
mugen
dingen,
/ di
erswingen,
2,1f. - kein Gedanke kann den Schöpfungsgedanken Gottes nachvollziehen, so sehr das Denken sich auch über alle materielle Gebundenheit erhebt), dann aber, vorsichtig und doch unüberseh-
458
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
bar, als Parallele: 3,1
Zeprisen
und
sit
du reine
den
himel
di erden
mit mit
zu rumen blumen der
ist himel
enget
-immer din und
sohar
gezierden,
erde
getiahte, kündest
wol
von
niohte,
geheret,
da von
din
Zop in himet
wirt
gemeret.
Auch die Schöpfung ist ein Gedicht, so daß Gott dem Dichter, wie überlegen auch immer, wesensverwandt ist. Der Gedanke einer auf der Menschwerdung Christi beruhenden Verwandtschaft des Menschen mit Gott ist ersetzt durch eine speziellere Verwandtschaft Gottes 1676 mit dem Dichter . Das ist zugleich selbstbewußter, weil es die begrenzte Schöpfung des Dichters mit dem umfassenden Dichtwerk Gottes vergleichbar macht, und demütiger, denn es reklamiert nicht von vornherein die Früchte der Selbstentäußerung Gottes für den Beter. Albrecht rechnet, wie auch seine insistierenden Mahnungen vor zwivel und unstaete und seine breite Behandlung des Engelsturzes zeigen, stärker als Wolfram mit der Möglichkeit eines endgültigen Abfalls, einer dauernden Trennung des Menschen von Gott durch die Sünde. Die Parallelisierung von Gott und Dichter ist als Legitimation des Vorhabens, als seine Autorisierung quasi aus dem Wesen Gottes heraus, der selbst ein Dichter ist, die Pointe des einleitenden Lobgebets. Konsequenterweise bildet sie den Schluß der ersten Anrufung. Nach ihr geht Albrecht, obwohl die Strophen 4-7 wie die drei ersten die Größe und Herrlichkeit des Schöpfers bewundern, deshalb vom Du zum Er über, vom Reden zu Gott zum Sprechen über Gott. Der hymnische Ton des Lobgebets weicht nun einer stark lehrhaften Redeweise. In der predigthaften Apostrophe an die Hörer und Leser in der siebten Strophe (7,1) wird der veränderte Ton unüberhörbar. Der Rest des ersten Sinnabschnitts sowie der zweite Teil des Prologs enthalten keine Gebete, und auch der dritte Abschnitt, die Erläuterung des ersten Teils des "Parzival"-Prologs, besitzt nur in seiner Anfangsstrophe, noch vor dem Einsatz der WolframZitate, eine Anrufung: 21,1
Wie Parzifal mit
tugende
an hebende lere
gebende.
si,
des
dar
habet hie merke, ο e zu geb uns der höhst
mit
1676 Das gilt allerdings nur für das Gebet am Beginn des Eingangs; ganz hat sich Albrecht das Vater-Kind-Motiv keineswegs entgehen lassen (72-75, 76,4, 79,2).
459
Weltliche Erzähldichtung
siner daz wir gevolgen
aller
daz wir gebenediet
guten
sterke,
lere,
noch mit
got haben
zeswen
halp
di
ohere!
Die Interpretation des Wolfram-Textes selbst ist dagegen von Unterbrechungen durch Anrufungen frei. Die Bitte, die Lehren des Werks beherzigen und so zum ewigen Leben gelangen zu dürfen, ist ein Wir-Gebet des Dichters und des Publikums gemeinsam. Damit ordnet sie sich ein in die didaktische Ausrichtung des Gesamtwerks und speziell des Prologs, denen es weithin darum geht, das Publikum durch gute lere (21,3) auf dem Weg zum ewigen Heil zu leiten. Stark mit Gebeten durchsetzt ist dann der vierte Teil, der Exkurs über das W a s s e r ^ ^ , in dem Albrecht nicht durch eine Vorlage gebunden ist. Die vier Gebete, die dieser gänzlich didaktische Abschnitt aufweist, sind überall da eingestreut, wo es sich anbot, die Belehrungen durch ein Gebet zu verstärken. Meist bittet der Autor stellvertretend auch für seine Hörer und Leser Gott um die Gnade, die zuvor formulierten Lehren in die Tat umsetzen zu können. Am deutlichsten wird das in Strophe 47, die aus einer Belehrung über die rettende Macht der Reue (46) ein Gebet erwachsen läßt: 46,1 Mit wazzer swie
viel
daz wazzer ich mein,
wirt
bealaret
der mensch
er hab gevaret
sunden
in da zu den wenden daz uz den ougen
noch
meiles,
ander in dem
wise: paradise
bringet,
mit warer
riwe
von dem
herze dringet.
47,1 Der wazzer und iz mit
in di lüfte kalter
tufte
wider
berges
uf erde
keret
nider
in blanker
varwe reret,
der muz
uns wider
von herzen
berge
uz den ougen,
wazzer
ziehen
da mit wir
aller
vinsternus enp fliehen.
Ähnlich eng schließt das Gebet 28,2-4 an die vorhergehende Strophe an, indem es der Entwicklung des Wasserbilds für die Trinität ein Gebet zur Dreifaltigkeit folgen läßt und dabei die bereits in der Entfaltung des Wassersymbols genannten Appropriationen gewalt,
1677 Eine ausführliche Deutung und Einordnung der Wassermetapher in ihren geistesgeschichtlichen Kontext bietet HAHN, Kosmologie, S. 232-36.
460
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
wisheit
und gute zitiert:
27,1 Ein brunn, der so die lenge mit staet an anegenge,
gewalticlich
entspringet
des vluz mit wisheit
voller
sazlden der suzen miltioheit
gar über
stet wit ein se gevlozzen,
olinget
flutet e e des gute allez gut hat über gutet.
28,1 Der brunn, der vluz gesewet,
der magen kraft sich
pflichtet,
an anegeng
immer geewet,
got vater, din gewalt mach uns vorrichtet
der wisheit, heiliger
so daz wir dich, sun, erkennen. e e ß din gute muz uns bewarn vor böser
·
geist,
geiste
brennen!
Die didaktische Absicht kann im vierten Sinnabschnitt des Eingangs auch das Beten selbst ergreifen. So verfolgt die Gebetsstrophe 32, ein Gotteslob, primär die Absicht, dem Publikum die Tatsache seiner Erlösung durch Christi Tod eindringlich vor Augen zu führen: 32,1 Ein got, din nam gedriet, din tot sus tut gefriet
und doch, ein got den menschen
aleine!
gar vor allen
sunden reine.
durch daz so leret uns diu schrift mit daz wir gar ungemeilet
behalten
flize,
wol di selben wat so wize.
Der Wechsel von der Darlegung zur Anrede an Gott dient vorwiegend der Intensivierung; er ist ein rhetorisches Mittel neben anderen (etwa der scheinbaren Spontaneität des Ausrufs im ersten Vers), die die Rezipienten von der Ergriffenheit des Autors überzeugen und dadurch ihre Aufmerksamkeit für eine wichtige Aussage sichern wollen. Ähnliches gilt für den kurzen Ausruf vater, sun, heiliger geist,
ein got, du macht noch grozer kraft bescheinen
(29,4).
Auch hier ist die Anrede an Gott mehr rhetorisches Mittel als wirkliches Gebet. Der fünfte und sechste Sinnabschnitt, also die Fortsetzung der Erläuterung des "Parzival"-Prologs sowie die Bemerkungen über Wesen und Entstehungsumstände des Werks, weisen keine Anrufungen auf. Dagegen besteht der lange Schlußteil des Eingangs (66-85) fast vollständig aus Gebeten. Die Anrede an Gott ist nur einmal
461
Weltliche Erzähldichtung
für zwei Strophen unterbrochen (70f.) und wird erst in den drei letzten Strophen aufgegeben (83-85). Anliegen der Anrufungen ist zunächst (66-69) Gottes Beistand im Dichten. Die Bitte wird begründet durch die Beteuerung des Autors, seine Fähigkeiten seien für das große Vorhaben zu gering, und schließlich erweitert zu einem Gebet um das ewige Leben für den Dichter (69,4). In diesem Zusammenhang begegnet Albrechts einzige Bitte um Fürbitte im Eingang: 66,1
Nu wünschet, mit
triwen
si,
daz
also
daz
reine
vrowen,
unverhowen,
ich edel
die
daz
aventur
ich
mein,
in
mir
Altissimus
tugent di
lebende scelde
gebende
geleite,
tugende
da von di
verre
wachse
und ouch
di
breite. Die Bitte um das Gebet der reinen rams Wendung an guotiu
vrowen
ist ein Echo von Wolf1678 wtp am Schluß des "Parzival" , diese
ist hier jedoch ins Geistliche gekehrt und auf das Dichten bezogen. Der Beistand, den die Frauen und dann (67,4) auch Albrecht selbst von Gott für das Werk erbitten, bezieht sich nicht auf das Erfassen des Sinns der zu erzählenden Geschichte, sondern lediglich auf ihre technische Bewältigung ( d a z iah geleite,
d^e
aventur
66,3), die angesichts der Ausdehnung des Stoffs zum Pro-
blem wird (67,2) - der Vergleich des Dichters mit David im Kampf gegen Goliath (67,2f.) ist treffend. Um die Fähigkeit, dem Stoff einen Sinn zu geben, braucht Albrecht nicht zu beten, denn der Sinngehalt des Geschehens ist durch die unbezweifelbare Bedeutungsfülle der Dichtungen Wolframs von vornherein verbürgt. Ein Gebet um das rechte Verständnis des "Parzival" und des "Titurel" wäre überdies mit seiner Wolfram-Maske, die er erst viel später ablegt, unvereinbar 1 ^ 7 ^. Auch ohne ein Gebet um Erleuchtung vermag der dichterische sin Welt zu erfassen: min
sin
nach Albrecht den Bedeutungsgehalt der wol
merket:
/ din
kraft
fur
aller
kref-
1678 Parzival:
827,25 guotiu wtp, hänt deste werder ich op mir deoheiniu stt ich diz mcer
die sin, in bin, guotes gan, volsproahen hftn.
1679 Daß ein Dichter um das Verstehen des eigenen inspirierten Werks beten müßte, wäre zwar theoretisch denkbar, vertrüge sich aber keinesfalls mit dem Wolfram-Bild der nachklassischen Autoren, die in ihm gerade nicht das passive Werkzeug der göttlichen Inspiration sehen, sondern ganz im Gegenteil von der Bewußtheit seines Dichtens, von seinen ständigen Reflexionen auf das Werk in Exkursen, Aventiure-Gesprächen, Vorwegnahmen erwarteter Einwände, Antworten an Kritiker und ähnlichem fasziniert sind.
462 te
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
wunder
zeichet
(68,2f.). Die Interpretation der Welt als Spie-
gel der wunderbaren Allmacht des Schöpfergotts ist dem Dichter intuitiv möglich. Gelehrtheit ist dazu gleichfalls nicht erforderlich (kunstlos,
an meisterschefte
bin
iah
der
sahrifte,
68,2). Wie im "Willehalm"-Eingang, dessen einschlägige Verse Albrecht relativ treu paraphrasiert, kommt das wirklich relevante Wissen nicht aus den Büchern. Die Bitten der Strophen 68 und 69 haben zugleich auch preisenden Charakter, da sie Gott als Allmächtigen anrufen und seine Wunderbarkeit evozieren. In den Strophen 70 und 71 wird diese bis dahin untergründige Intention offensichtlich, doch geht Albrecht zugleich von der Anrede an Gott zu diskursivem Sprechen über. Als neuen Aspekt der göttlichen Allgewalt führen diese Strophen die unbeschränkte Freiheit seines Willens ein. Hieraus leitet sich das erste Anliegen der mit Strophe 72 wieder einsetzenden Bitten ab: 72.1
Din wille
genaden
riche
an uns
erfüllet
werde!
Dann spricht Albrecht - weiterhin in Gebetsform - über die VaterKind-Beziehung zwischen Gott und den Menschen (72,2-75). Dies ist zweifellos eine "Willehalm"-Reminiszenz, doch stellt Albrecht das Vater-Kind-Motiv nicht wie Wolfram in einen christologischen Zusammenhang, sondern bezieht es auf die Allmacht der potential
göttlichen 72.2
wir
sprechen
tegeliche:
'got
vater,
herre,
in
himel
und
uf
erde ' , alda
wir
almehtic
dich aller
in
pater
sterke
noster
nennen.
so machtu
wol
zu kinden
uns
erkennen.
Indem Gott die Menschen zu seinen Kindern macht, erweist sich nicht seine Liebe, sondern seine Allgewalt. Deshalb käme Albrecht Wolframs kühner Gedanke, aus der Vaterschaft Gottes einen An16 80 spruch auf Beistand abzuleiten , nie in den Sinn. Weniger die Elternliebe kennzeichnet Gottes Vaterschaft als die elterliche Gewalt; Gott kann, aber er muß seinen immer wieder schuldig wer1680 Willehalm:
1,6 ob diu (din stcetiu kraft, 1,4,) von mir gedanke, die gar vlüstea sint, sö bistü vater und ich kint -
vertribet
Erst indem Gott sündige Gedanken vom Gläubigen fernhält, erweist er sich als Vater; wenn Gott der Vater des Gläubigen ist, muß er ihn vor Sünden bewahren.
Weltliche Erzähldichtung
463
denden Kindern nicht beistehen. Darum muß seine Gnade von den Sündern immer neu erfleht werden; sein Beistand kann verlorengehen : 73,1 Swaz dinen kinden wirret, ob uns niht anders
daz mahtu wol
irret,
erwenden,
so kan uns nieman
diner
helfe
ρfenden, dann ob wir dich mit brodioheit din helf diu helfe riche
vortriben.
laz uns bi veterlicher
sune beliben!
Die Notwendigkeit der Bewährung in der Welt bleibt von der Gotteskindschaft der Gläubigen unberührt. Daß auch ihnen das Scheitern in der Sünde mit der Konsequenz ewiger Strafe droht, kann Albrecht gar nicht genug unterstreichen: 75.1 Swer nu an dir bekennet, di hie da werdent
got vater,
benennet,
disiu
und dannoch
wunder
kintlich
triwe von
dir so daz er dich mit argen sunden iz wirt an im gerochen,
sunder,
smaehet,
ob er darumbe
riwe nicht
enphaehet.
Wolframs großes Vertrauen auf Gottes Liebe zu den Menschen nimmt Albrecht völlig zurück - die Gläubigen sind zwar Kinder Gottes, aber auch ihnen ist die Erlösung nicht von vornherein sicher. Indem die Gebetsstrophen 72-75 diese wichtige Heilstatsache den Rezipienten einschärfen, haben sie auch didaktische Funktion. Unabhängig vom Vater-Kind-Gedanken exemplifizieren danach die Strophen 76-79,1 - weiterhin in Form der Anrede an Gott - an den Beispielen des Untergangs des ägyptischen Heeres im Roten Meer 1681 und der Errettung der Jünglinge im Feuerofen , wie Gott die Bösen vernichtet und die Guten errettet. Diese Strophen sind ebensosehr wie Gebet predigthafte Mahnung. Erst mit Vers 79,2 schlägt der Ton wieder um: 79.2 got herre, ob ich nicht ensi
din kint, so tu du,
vater,
des ich dich hilf mir, daz ich den sunden mit riwe, bichte,
buze,
1681 Ex 1 4 , 2 4 - 2 8 ; Dan 3 , 8 - 3 0 .
sus
bitte:
enpfliehe
daz mich zu veterlichem
erbe
ziehe!
464 80,1
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Und da ζ mich
gar vermiden
daz ewiclich
kan sniden
und all,
muz fiure Lucifern
die υaeter liehe ζ erbe
und varwe
alar
der sunnen
daz vil
und sine
groze,
hus
genoze
vliesent
werfent
hin und
vinsternusse kiesent.
1682 Dieses eindringliche Bittgebet formuliert zum erstenmal ein nicht dichterspezifisches, allen Gläubigen gemeinsames Anliegen unter Ausschluß der Rezipienten als Ich-Gebet; es ist Albrechts persönlichste Bitte um Führung zum ewigen Leben im ganzen Eingang. In ihrer Intensität hätten sich diese Verse gut als Schlußpunkt des Eingangs geeignet, dessen Zentralthema, der Mensch in seinem Schwanken zwischen Himmel und Hölle, sie noch einmal formulieren. Tatsächlich folgen aber noch fünf Strophen. Sie wirken seltsam zusammenhanglos und unstrukturiert. Zunächst (81 f.) werden, noch in Form einer Anrede an Gott, weitere Beispiele für Gottes Allmacht nachgetragen, speziell für die schon im Zusammenhang mit dem Untergang des Pharao und der Rettung der Jünglinge im Feuerofen angesprochenen Herrschaft Gottes über die Elemente. Als letztes Gebet des Eingangs ist diese Passage bemerkenswert blaß. Die nächsten zwei Strophen (83f.) befassen sich in darlegender Form mit Gottes Gewalt, Lebende in den Himmel aufzunehmen und Tote zu erwecken, ohne daß der Zusammenhang mit dem Vorhergehenden klar wird; ihr Ton ist lehrhaft und trocken. Gegenüber der eindringlichen Bitte der Strophen 79 und 80 bedeuten sie sicherlich keine Steigerung. Sie wirken wie ein Nachtrag, wie eine vom Dichter oder einem sehr frühen Bearbeiter angehängte Ergänzung 168 3 zum vor dem letzten Bittgebet des Dichters Gesagten . Von Albrecht selbst herrühren und dem ursprünglichen Eingang bereits angehört haben dürfte dagegen mit Sicherheit die (auch unmittelbar im Anschluß an Strophe 80 denkbare) letzte Strophe des Eingangs : 85,1 Iedoch da nach
swie wir als wir
ersterben, hie werben.
doch
muz wir
solche
maere
leben kund
immer ich vol
enden
nimmer. ein ander
werk
ob ich selb
han ich hie under
niunde
were,
handen:
ich vorcht,
is wurde
uns
ser
allen enblanden.
1682 Abgesehen von der kurzen Bitte 69,4. 1683 Die Strophen 81 und 82 fehlen in der Handschrift B, deren Schreiber wohl ihre Entbehrlichkeit empfunden hat.
Weltliche Erzähldichtung
465
Die Anspielung auf einen Vers aus dem Ende des "Parzival"-Prologs (4,2 nu lät mtn eines wesen drt) weist diese Strophe fast sicher als Eigentum Albrechts und Bestandteil schon einer ursprünglichen Fassung des Eingangs aus. Überblickt man vom Ende her noch einmal die Gebete des ganzen Eingangs, so läßt sich sagen, daß die üblichen Anliegen längerer Gebetseingänge - Lobpreis, Bitten um Führung zum ewigen Leben und um Beistand beim Dichten, persönliches (nicht autobiographisch zu nehmendes) Bekenntnis - zur Sprache kommen. Die Abfolge der Anliegen folgt über die Tatsache hinaus, daß im ersten Gebet das Lob überwiegt, während am Schluß (abgesehen von den fragwürdigen Strophen 81 und 82) Bitten dominieren, keinem festen Plan. Zu den genannten Gebetsanliegen gesellt sich nicht selten eine didaktische Intention, die die Anrede an Gott manchmal fast zur bloßen Fassade machen kann. Strukturierende Bedeutung für den Bau des Eingangs kommt den Gebeten nicht zu; in der vorliegenden Fassung ist nicht einmal der Schluß durch ein Gebet markiert. Gliederungsaspekte sind für Albrechts Gebrauch der Gebete irrelevant; er setzt sie, anscheinend spontan, ein, wo sie seinen Absichten mit Gott oder dem Publikum entgegenkommen. Zweifellos stehen Albrechts Anrufungen in der vom "Willehalm" ausgehenden Tradition; Wolframs Gebet ist über weite Strecken für Albrechts Beten bestimmend. Trotzdem sind direkte wörtliche Zitate oder nahe motivische Anklänge nicht häufig. Albrecht übernimmt zu Beginn des Eingangs das Motiv vom Gott ohne Anfang und Ende, das er wie Wolfram auf die göttliche potentia bezieht (Wh. 1,4f.; J. T. 1,1f.); sodann die Vorstellung, daß Gott den Himmel und die Erde hält (Wh. 2,2-6; J. T. 1,2); und weiter den Gedanken an die unermeßliche Ausdehnung Gottes (Wh. 1,29-2,1; J. T. 1,4, außerdem 69,1). Erst gegen Ende treten mit Albrechts Ungelehrtheitsbeteuerung (68,2), seiner Feststellung über seinen sin (68,2f.) und dem Vater-Kind-Motiv (72-75, 79,2) weitere "Willehalm"-Bezüge auf (Wh. 2,19f.; 2,18; 1,8.20-22). Doch trotz ihrer relativ kleinen Zahl geben die Bezüge auf den "Willehalm" dem Beten Albrechts weithin Richtung und Charakter. Denn sowohl am Anfang wie gegen Ende des Eingangs schlägt Albrecht in an Wolfram anklingenden Worten Themen an, die er dann in eigenen Formulierungen über viele Verse weg frei variiert. Eine solche 'Meditation über Motive aus dem "Willehalm"' bilden die einleitenden Strophen über Gottes Allmacht. Die Wolfram-Reminiszenzen beschränken sich hier auf die erste Strophe, doch behalten die Strophen 2 und 3 (und über das Ende des Gebets hinaus noch vier weitere Strophen) das von dem Wolfram-Zitat vorgegebene Thema bei.
466
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
Ähnliches gilt für die Variationen über das Vater-Kind-Motiv in den Strophen 72-75. Aus dem "Willehalm" stammt hier nur dieses eine Bild, aber es wird bei andauernder leichter gedanklicher Abwandlung ständig präsent gehalten, so daß der Bezug auf Wolfram in allen vier Strophen gewahrt bleibt. Weil die Bindung an Wolfram nicht so rigide ist, daß sie Albrecht auf eine identische Bedeutung verpflichtete, sind Umakzentuierungen der "Willehalm"Motive durchaus möglich, wie es sich für das Vater-Kind-Bild zeigen ließ. Der Bau der Gebete Albrechts zeigt keine Parallelen zu denen im "Willehalm"; auch ihr Gedankengang ist anders. Dies ist Folge der Notwendigkeit, den "Parzival"-Prolog in den Eingang einzubauen, vor allem aber eine Konsequenz von Albrechts theologischem Programm. Seine Auffassung der Situation des Menschen ist nicht wie die Wolframs von unerschütterlicher Gnadenhoffnung geprägt, sondern im Gegenteil dadurch gekennzeichnet, daß sie das Schicksal jedes einzelnen Menschen noch nicht endgültig entschieden sieht, daß trotz aller göttlichen Gnade die Erlösung noch nicht gesichert ist. Warum aber beziehen sich Albrechts Gebete gerade auf den "Willehalm"? Der "Willehalm"-Stoff geht in den "Jüngeren Titurel" ja nicht ein. Doch bietet der "Willehalm" Wolframs einziges Eingangsgebet; wenn Albrecht also mit einem Gebet beginnen und gleichzeitig seine Wolfram-Rolle überzeugend etablieren wollte, konnte er nur auf den "Willehalm" zurückgreifen. Die eigentliche Frage lautet darum: Warum besitzt der "Jüngere Titurel", der als "Parzival"- und "Titurel"-Bearbeitung weltliche Stoffe als Vorlage nimmt, überhaupt so umfangreiche Anrufungen im Eingang? Vor allem dürfte hierfür ausschlaggebend sein, daß Albrechts Bearbeitung den "Parzival" und den "Titurel" sozusagen ins Geistliche transponiert, indem sie die ritterlichen Ideale der Artuswelt mit den christlichen Prinzipien der Gralssphäre zur Deckung kommen läßt. Da Albrecht seine Vorlagen im Sinne einer illustrierten christlichen Ritterlehre uminterpretiert16®^, ist der "Jüngere Titurel" fast ein geistliches Werk. Besonders stark ist die religiöse Ausrichtung im Prolog, der sich vor allem im Exkurs über das Wasser und in seiner Bestimmung der theologischen Situation des Menschen sehr der Predigt nähert. Einem solchen Werk und einem solchen Eingang sind Eingangsgebete angemessen. Ein zweiter Grund für die umfangreichen Eingangsgebete ergibt sich aus der Geschichte der Wolfram-Rezeption im 13. Jahrhundert. Schon Gott-
1684 Den Nachweis führt RAGOTZKY, Studien, S. 108-13.
Weltliche Erzähldichtung
467
fried hatte Wolfram polemisch des Schöpfens aus illegitimen Quellen (den swarzen buochen 1685 ) bezichtigt, und dieser Vorwurf muß, wie Klingsors Angriffe im "Wartburgkrieg" bezeugen, eine gewisse 1 686
Tradition gebildet haben . Indem Albrecht in der Rolle Wolframs der Überarbeitung des "Parzival" und des "Titurel" einen so langen geistlichen Eingang mit so ausgedehnten Gebetselementen voranstellt, widerlegt er diese Anschuldigungen und demonstriert er Wolframs Rechtgläubigkeit. Schließlich ist für manche der Gebete Albrechts eine didaktische Absicht verantwortlich. Albrecht bekräftigt seine Lehren, indem er sie im Gebet zu Gott praktisch werden läßt und dem Publikum ihren Ernst dadurch besonders intensiv vor Augen führt. Nach 1300 verliert das Eingangsgebet in der weltlichen erzählenden Dichtung rasch an Bedeutung. 1687 Wo es nicht wie in den meisten Gedichten ganz fortbleibt
, ist es auf eine oft
indirek-
1688 te, stets kurze Hinwendung zu Gott reduziert . Nur noch einmal, ganz am Ende des Mittelalters, nimmt ein weltlicher Dichter das Eingangsgebet in größerem Umfang wieder auf: Ulrich Füetrer, der um die Mitte des 15. Jahrhunderts in seinem "Buch der Abenteuer" die klassischen Erzählstoffe von der Geschichte des Grals über die Artusepik bis hin zu den ritterlichen Erzählungen des späteren 13. Jahrhunderts zu einem großen Zyklus vereint. Füetrers Bemühen um Anschluß an eine eigentlich schon obsolet gewordene Tradition führt ihn zur Rückkehr zum Versroman - in einer Zeit, in der sonst die alten Versdichtungen in Prosa aufgelöst werden - und zur Nachahmung bestimmter formaler und narrativer Techniken, die als typisch für die besten Vertreter der Epik des 13. Jahrhunderts und insbesondere für Wolfram galten, wobei das Wolfram-Bild durch den für sein Werk angesehenen, fast als einziger Versroman ungebrochen populären "Jüngeren Titurel" wesentlich mitgeprägt war. Zu diesen Techniken zählt neben der Titurel-Strophe und den Minne- oder Aventiure-Gesprächen auch das Eingangsgebet in der besonderen Motivik, mit der Wolfram es ausgestaltet hat. Füetrers nicht vollständig edierte Großdichtung besteht aus mehreren lose verbundenen Einzelromanen, die jeweils einen eige1685 Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von RANKE, 4690. 1686 Hierzu RAGOTZKY, Studien, S. 52-54. - Der Wartburgkrieg, hg. von ROMPEL-
MAN. 1687 Kein Eingangsgebet haben zum Beispiel: Reinfrid von Braunschweig, hg. von BARTSCH; Heinrichs von Neustadt Apollonius; Göttweiger Trojanerkrieg; Peter von Staufenberg (Zwei altdeutsche Rittermaeren, hg. von SCHRÖDER); Parzifal von Claus Wisse und Philipp Colin, hg. von SCHORBACH; Reinolt von Montelban, hg. von PFAFF. 1688 So im "Friedrich von Schwaben" oder in Wittenweilers "Ring".
468
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
nen Eingang besitzen. Eingangsgebete finden sich außer am Anfang der "Gralsepen"^
9
, die, über den Titurel- und Parzivalstoff
hinaus wesentlich erweitert, zu einem einzigen Roman verbunden 1690
sind, in den Ritterepen "Iban" "Persibein"
1692
, "Poytislier"
1693
, "Seifrid de Ardemont" und "Wigoleis"
1694
1691
,
, während sie
in anderen fehlen oder durch eine Wendung an Frau Minne und Frau Aventiure ersetzt sind^ 9 "'. Das Eingangsgebet ist bei Füetrer also nicht verbindlich. Es umfaßt mit Ausnahme einer sehr kurzen Anrufung im "Wigoleis" stets zwei bis fünf Strophen; das längste steht am Anfang der "Gralsepen" und damit am Beginn des ganzen "Buchs der Abenteuer". Wie die Autoren des 13. Jahrhunderts demonstriert auch Füetrer seine Wolfram-Nachfolge auf dem Feld des Eingangsgebets vor allem durch an den "Willehalm" anklingende Lobgebete, die in der Regel die Anrufung eröffnen und nur im "Poytislier" und im "Wigoleis" fehlen. Praktisch ihre gesamte Motivik stammt aus dem "Willehalm" oder seinen Nachfolgegebeten. Fast stets ruft Füetrer die Trinität an - nur nicht im "Persibein" -, und wenn er sich dabei nicht wörtlich auf Wolframs du drt und dooh einer ("Willehalm" 1,2) be1696 zieht ("Gralsepen" 1,2 ), so läßt doch die Formulierung stets ihren Ausgangspunkt bei Wolfram deutlich erkennen: Iban
1,1 Got, mit triuallt
genennet,
vater, sun vnd auch gaist, dooh ainig got erkennet Seifrid
1,1 Vater, sun, geist
gewaltig,
ain got, ain ymmer wesen, inn der person
driualtig,
doch ainig got Dasselbe gilt für den Gedanken der zeitlichen Unendlichkeit Gottes ("Gralsepen" 2,1, 3,1f.; "Seifrid" 1,5; "Persibein" 3,1f.) und für die Evozierung seiner unendlichen Schöpfer- und Herrschermacht. Immer geht die Bildlichkeit auf den "Willehalm" zurück, wenn1689 Die Gralsepen in Ulrich Füetrers Bearbeitung (Buch der Abenteuer), hg. von NYHOLM. 1690 ALICE CARLSON, Ulrich Füetrer und sein Iban. 1691 Merlin und Seifrid de Ardemont von Albrecht von Scharfenberg. In der Bearbeitung Ulrich Füetrers. Hg. von PANZER. 1692 Ulrich Füetrer, Persibein, hg. von MÜNZ. 1693 Poytislier aus dem Buch der Abenteuer von Ulrich Füetrer, hg. von WEBER. 1694 Ulrich Füetrer, Wigoleis, hg. von HILGERS. 1695 Merlin 5, 7, 9. 1696 Die Verszählung wird von den jeweiligen Herausgebern übernommen; in den "Gralsepen" sind also Langzeilen, in den anderen Werken Kurzverse gezählt.
Weltliche Erzähldichtung
469
gleich einige Details den Einfluß auch seiner Nachahmer verraten. Gott lenkt die Sphären des Himmels, die Planeten und den Tierkreis; er hält Himmel und Erde, Elemente und Lebewesen; er herrscht über die Engelchöre und durchmißt unendliche Räume: Gralsepen 1,2
der himel hoch und alle element, planeten siben an der hymel etrassen, die lauffen hin ir richte,
alls sy dein
göttlich ahraft hat angelassenn. 3,2
alle ho che, weytte, tieff unnd leng, daz hat durch messen als dein gothaitt frone: sodiacus mit zaychen zwelff,
dy chore neün
unnd auch der himel throne. Als weiteres wichtiges Thema übernimmt Füetrer aus dem Gotteslob des "Willehalm" den Lobpreis der göttlichen Weisheit ("Willehalm" 1,27), besonders ausführlich im "Persibein", wo er die gesamte erste Strophe umfaßt, und kürzer im "Seifrid": Seifrid 1,5 du anegenng, ee alle ding ye wurden, du auf quelender prunnen, aller weishait tregstu gar ain dy purden. Neben dem Gotteslob ist das zweite bedeutende, nur im "Iban" fehlende Element der Eingangsgebete Füetrers analog zum "Willehalm" die Inspirationsbitte. Sie steht meist am Ende des Eingangsgebets; nur wenn ein Gebet zwei Inspirationsbitten enthält wie in den "Gralsepen" und im "Seifrid", rückt eine ins Innere der Anrufung. Motivisch knüpft Füetrer hier nicht an Wolfram an, sondern die gern um die Wassermetapher kreisenden Formulierungen 1697 erinnern an Gottfrieds Bild vom Musenquell : lass deiner gnaden runst her zue mir sincken! (...) lass mich auss kleinsten pach ain tropflein trincken lautet die Bitte in den "Gralsepen"
(4,3f.),
und im "Seifrid" (2,3f.) wie im "Persibein" (4,5) bittet der Dichter um Befeuchtung mit dem Tau der Kunst. Das Wasserbild für die Inspiration könnte zwar auch aus der geistlichen Dichtung stammen, doch ist die Anlehnung an einen der großen klassischen Dichter für Füetrer plausibler als der Rückgriff auf die Legendenepik des 13. Jahrhunderts. In eine Feuermetapher kleidet Füetrer die Inspirationsbitte im "Poytislier"
(3,5f. so pitt ich,
herr, das du mir wellst anzünnden / mein synn mit künsten flam1697 Gottfried, Tristan 4867-88.
470
men)
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
und, in fast identischen Worten, im "Wigoleis"
(2,7). Gele-
gentlich soll auch Maria im Dichten helfen:
Seifrid 4,1 Μανία
auf dein
gedingen
wil ich es vahen
an.
dein güet geb mir vnd well
zu disen
gelingen dingen
mir gestan
-
Kürzere Inspirationsbitten an Maria zeigen die "Gralsepen" und der "Wigoleis"
(9,4)
(2,5).
Zu Gotteslob und Inspirationsbitte, die den Grundbestand der Gebete Füetrers bilden, treten fakultativ einige weitere Anliegen hinzu. Zunächst die Bitte um Schutz vor den Nachstellungen des Teufels, die vor allem im Eingang des "Iban" gewichtig wird:
Iban 2,1 Darumb
iah, herre,
züe dein durah
genaden
dein,
tieffen
hr', namen
das du erhörst, 5 In disem wo vnns
schreye
dreye,
Vmb das wir züe dir
zäher
tal hie so
ellennde,
lag legt der helle
den var dein gothait
rüeffen.
wirt,
väterleich
vnns
wennde.
Sie hat einen Ansatzpunkt in Wolframs Bitte, Gott möge die gar vlüsteo
sint
gedanke,
("Willehalm" 1,7), von ihm fernhalten, ist
hier aber in ein Gemeindegebet verwandelt und durch eine typisch spätmittelalterliche Klage über die Falschheit der Welt, speziell über die Verfälschung von Geschriebenem
(3), erweitert. Verwandt
ist die Bitte um Gnade beim Jüngsten Gericht, der Füetrer im "Poytislier" und im "Seifrid" je eine eigene Strophe von besonderer Bildkraft widmet:
Poytislier 2,1 Nw hilff
vnns,
das vnns zw dein segen ich main
herre,
Josaphat dortt
nicht
dy Straß,
5 0 süesser vergrab
got vnnd
verre,
dy zw deim reiche
got, dy hais vnns mit dir
vnns dortt
der sünnder
so sein sei vnd leib hails
Seifrid
3,1 Doch rüeff
ich an dy
maget,
die nye in kainer
not
dem sunnder
uersaget,
gnad
gat. ziehen,
pan,
wir nicht
dy
sahiechen.
Weltliche Erzähldichtung
V
dem
rewer
si ye hei flieh
5 ο ke&sahe, wenn
wier
so prich
gnade
pot:
deck
vnns
mit
deim
dortt
sten
zu
Josephat,
Sathan
entzway
seins
471
besoh&tzes
gewaltes
fl⋛
zugel.
Die vielen Anknüpfungen an den "Willehalm" und daneben an den "Tristan" schließen es aus, daß Ulrich Füetrers Gebete allzu große Originalität besitzen. Füetrer strebt nicht nach möglichst großer Eigenständigkeit, sondern sein Ziel ist der Anschluß an die klassische mittelhochdeutsche Erzähltradition, die Erneuerung des Romans durch ganz bewußt enge Orientierung an seinen vorbildlichen Realisationen, nicht die originelle Gestaltung eines neu gefundenen Stoffes. Daß Füetrers Gebete wie sein Gesamtwerk nicht an seine größten Vorbilder heranreichen, kann man ihm auf dem Hintergrund seiner ganz anderen historischen Situation, für die die Probleme des höfischen Romans ihre Brisanz fast ganz verloren haben, nicht zum Vorwurf machen. Sein ziemlich einsamer Versuch, die fast verschüttete Gattung ritterlicher Versroman noch einmal zum Leben zu erwecken und sie auf ihre Leistung unter ganz veränderten Bedingungen zu befragen, verdient Respekt, auch wenn er wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Nur in Johanns von Würzburg "Wilhelm von Ö s t e r r e i c h " 1 ( b e e n det 1314) findet sich im Eingang eine Anrufung allegorischer Gestalten : 162 des iah
wirt welle
zu den 165
aber
wisen
so min
in gut
getan,
urlaubes
zu Aventur, daz
niht
guten, zu
tumbe
han daz
m&ten
Mznne; sinne
verstanden,
dar
umme
des
wil
iah
in genade
170 wan
iah
mag
niht
iah muz von • e e%n aventur
si ez iht
anden, sagen;
verdagen,
gesahihten getihten.
Die Einmaligkeit dieser Anrufung selbst im späten Mittelalter ist erstaunlich. Das Gebet zu Gott ist für den Romaneingang ja nicht verbindlich, und auf dem Hintergrund des Zeitgeschmacks, der Auseinandersetzungen mit Frau Minne, Frau Ehre, Frau Aven-
1698 Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich, hg. von REGEL.
472
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
tiure und ähnlichen Figuren liebte, ist sein Ersatz durch die Anrufung einer Allegorie nur logisch. Das Gebet ist dann vollends zum rhetorischen Mittel säkularisiert. Es hat in Johanns Eingang fast nur noch dekorative Bedeutung, denn zur Aussage trägt es nichts Wesentliches bei. Die Bitte um Gnade für das beschränkte Dichtvermögen des Beters ist, da sie sich an eine Fiktion richtet, allenfalls als Unfähigkeitsbeteuerung und publikumsorientierte aaptatio
benevolentiae
zu werten, aber selbst damit sagt
sie nichts Neues, denn seine geringe dichterische Kraft hat Johann schon zuvor beklagt (152-55). Als Vorbild für seine Anrufung schwebt ihm, wie mehrere leise Anklänge im Gebet und in den ihm vorhergehenden Versen vermuten lassen, Gottfrieds Musenanruf v o r ^ ^ , doch fehlt ihm dessen Klimax, die Anrufung des 'wahren Helikon', des christlichen Gottes^ 0 0 . Daß er diesen im Eingang so außer acht läßt, steht in seltsamem Widerspruch zu den vielen Gebeten zu Gott, die er über die Handlung verstreut. Offensichtlich ist die Anrufung für Johann eine beliebig einsetzbare narrative Technik; eigentliche Gebetsintention ist ihr höchstens noch in Ausnahmefällen zuzuschreiben. Ein einziger Dichter hat dem Eingangsgebet komische Züge abgewonnen: 60,
6 Got der
obrest
Vatter
sün
Der in
seiner
Hymel
hat
und der
und hailiger und erd
mäist, gäist,
magenohraft gesahaft,
1699 Die Anspielungen auf Gottfried sind fast stets vage und oft auf Details beschränkt. So erinnert Johanns Vers 162 des wirt aber niht getan außer durch ein an sich nicht charakteristisches Reimwort nur durch seinen schwer genau faßbaren Rhythmus und durch seine Stellung am Beginn eines
neuen Sinnabschnitts an Gottfrieds Nu diz
tat
aVLez
sin
getan
(4908).
Ebenso entfernt klingen die folgenden Verse an:
Johann 163 iah welle Urlaubes muten zu den wisen guten, zu Aventur, zu MinneGottfried
4863 die wil ich erste senden mit herzen und mit henden hin wider Eliaone -
Parallel ist hier vor allem die Richtungsmetapher für das Beten sowie die durch sie bewirkte Organisation der Aussage: in beiden Versgruppen nennt der erste Vers den Beter, der dritte den Adressaten. - Deutlichere Allusionen sind der Ausruf Ahy (Johann 131, Gottfried 4622), die Verwendung von slihte mit poetologischem Sinn (Johann 155, Gottfried 4886) und besonders der - bei Johann auf eine unproblematische Tugendhaftigkeit umgedeutete - Begriff edel hertze (Johann 3, 12, Tristan-Prolog). 1700 Hierzu KOLB, Der ware Eliaon.
Weltliche Erzähldichtung
10 Wasser, Vogel,
luft und auch visoh
mit
Vieh und dar Umb anders 61,14
Auf
niahti,
erd sein
Der muoss
seiner
taub und
Daz der mensch
mit leben
euch,
daz
feur, steur,
gras,
dann
umb daz -
zuht
und er
hie
liebes
Mit
seinen
sayligen
Mit
syben
hailikait!
473
verzer, lieb,
siben
bgnaden
gaben,
Was hier wie der Beginn eines religiösen Epos oder wenigstens eines geistlichen Schreibens mit einer feierlichen Schöpferanrufung samt der traditionellen Motivik (Himmel und Erde, Elemente, Geschöpfe) und gewichtigen Segenswünschen daherkommt, leitet in Wirklichkeit, was ohne die Anrede liebes lieb (61,16) nicht zu vermuten wäre, einen Liebesbrief ein, genauer die Parodie eines Liebesbriefs, nämlich den, den in Wittenweilers "Ring" der Dorfschreiber im Auftrag des grotesk dummen Bauernmädchens Mäczli an den ebenso tölpelhaften Bertschi schreibt. Die komische Diskrepanz zwischen der unendlich naiven Absenderin und dem hohen Gebetsstil entspricht der Grundanlage des Werks, das vorgeblich über das rechte und vornehme Leben in der Welt mit all seinen Teilbereichen von der Tischzucht bis zur Kriegskunst ausgerechnet am Beispiel zweier Bauerndörfer belehren will und deshalb ständig die Bauerntölpel mit Verhaltensregeln aus der bürgerlichen und der höfischen Sphäre konfrontiert. Die Verwendung des Gebets zur Erzeugung von Komik ist nur möglich, weil die einleitende Anrufung in der nachklassischen Zeit nicht immer primär eine Gebetsfunktion wahrnimmt, sondern als rhetorisches Mittel fungieren kann, das feierlichen Ernst suggerieren soll. Nur deshalb kann der DorfSchreiber überhaupt auf den Gedanken kommen, Bertschi gerade mit einem Eingangsgebet imponieren zu wollen. Mäczlis Eingangsgebet ist vielleicht über den bloßen komischen Effekt hinaus als Stellungnahme g^gen die nur oder vorwiegend rhetorische Verwendung der einleitenden Anrufung in der Art Ulrichs von Etzenbach oder Johanns von Würzburg aufzufassen. Der abschließende Uberblick über die Eingangsgebete weltlicher Gedichte braucht auf ihren U m f a n g nicht mehr näher einzugehen; er schwankt in der beschriebenen W e i s e ^ ^ zwischen einem halben und mehr als 150 Versen. B e t e r ist meist nur
1701 S . o .
S.
438.
474
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
EINGANGSGEBETE
der Dichter. Gemeindegebete begegnen mit Sicherheit nur am Beginn von Ulrichs von Etzenbach "Alexander" und am Anfang des "Orendel", darüber hinaus vielleicht auch in manchen Passagen im Eingang des "Jüngeren Titurel" ; selbst wo es um allgemeine Anliegen wie ein christliches Leben und Gnade beim Jüngsten Gericht geht, betet der Autor meist allein. In diesen Fällen erfleht er aber die erhoffte Gnade nicht selten auch für sein Publikum oder sogar für 1 702 alle Christen . An einem Gebet um dichterische Begnadung ist das Publikum nur ein einziges Mal bei Albrecht beteiligt, der die als Rezipienten erhofften reinen vrowen um diesen Gebetslohn bittet (66,1). Dies ist die einzige Bitte um Fürbitte, die in den Eingangsgebeten weltlicher Werke überhaupt begegnet. A d r e s s a t der meisten Anrufungen ist Gott. In vielen kurzen und sehr kurzen Gebeten heißt er einfach got oder her1 ^ , während ein differenzierteres Gottesbild praktisch nur die zwei sehr langen Gebete Albrechts und Ulrichs von Etzenbach sowie die Anrufungen Füetrers erkennen lassen. Das insgesamt geringe Bemühen, den Gebetsadressaten spezifischer zu beschreiben, unterscheidet die Eingangsgebete weltlicher von denen geistlicher Gedichte. Wo zwischen verschiedenen Aspekten Gottes differenziert wird, ist wie in der religiösen Epik auch hier Gott vorwiegend als allmächtiger Schöpfer und Herrscher ohne Grenzen in Raum und Zeit gesehen. Die Motivik geht fast ganz auf den "Willehalm" und Eingangsgebete geistlicher Gedichte in seiner Tradition zurück, so daß individuellen Akzentuierungen wenig Spielraum bleibt. Ihn nutzt Albrecht zu einer Kontrastierung und Parallelisierung der Schöpferkraft Gottes mit dem Geist des Menschen - der Mensch kann Gottes Schöpfung nicht begreifen, aber die Hervorbringungen seines Geistes sind ihr verwandt, weil der Schöpfergott ein Dichter ist (2f.) -, während Füetrer im "Iban" Gottes Allmacht nicht an seiner Weltenherrschaft, sondern an seiner Fähigkeit illustriert, in den Herzen aller Menschen zu lesen (1). - Wo Gott als wunderbar gepriesen ist, wird gelegentlich auch die paradoxe Einheit der drei trinitarischen Personen angeführt, jedoch stets nur als ein Wunder unter mehreren und insgesamt weniger als in Eingangsgebeten geistlicher Gedichte1 .
1702 Z.B. Albrecht, Jüngerer Titurel 21,.2b-4, 28,2b-4, 47, 72f. ; Füetrer, Iban 2, Seifrid 3, Poytislier 2. 1703 Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet 20; Wirnt von Gravenberg, Wigalois 44; Ulrich von Lichtenstein, Frauenbuch 1, 3f.; Ruprecht von Würzburg, Von zwein koufmannen 23; Friedrich von Schwaben 1. 1704 Albrecht, Jüngerer Titurel 28,2-29,4, 32,1; Ulrich von Etzenbach, Alexander 41,76-80; Füetrer, Gralsepen 1,2, 4,1, Iban 1,1-3, 2,3, Seifrid 1,1-3.
Weltliche
475
Erzähldichtung
Eine zweite Gruppe von Gottesbezeichnungen beschreibt Gott als Beistand der Menschen. Hierher gehört Albrechts Vater-Kind-Bild (72-75, 76,4, 79,2), das sich motivisch an Wolfram orientiert, jedoch das dort von vertrauensvoller Liebe gekennzeichnete VaterKind-Verhältnis in Richtung auf einen die Menschen zwar liebenden, ihre Vergehen aber gleichwohl streng ahndenden Vatergott modifiziert. Gott als Beistand der Menschen ist auch gemeint, wo sich Bitten an den Erlöser richten, und besonders, wo er mit dem Namen Jesus bezeichnet ist - Ulrich von Etzenbach bringt den Gottesnamen Jesus sogar etymologisch mit helfe
in Verbindung ("Ale-
xander" 1). Nur in diesem Gebet und in "Mai und Beaflor" findet sich eine ausführlichere Wendung an den G o t t e s s o h n ^ ^ . Insgesamt sind Anrufungen Christi eher selten. Insbesondere der seine Menschheit betonende Name Jesus ist rar. Nur in der volkstümlichinnigen Eingangsbitte des "Orendel"
ist er der einzige Gottes-
name, sonst erscheint er stets gemeinsam mit anderen Anreden Gottes, auf denen in der Regel größeres Gewicht liegt. Gelegentlich finden sich trinitarische Formeln, die dann natürlich - beim Namen, bei seiner Appropriation oder durch eine Metapher - auch Christus erwähnen und ebenso den Heiligen Geist, der nie größere Bedeutung gewinnt. Gott als Beistand der Menschen meinen auch die Anrufungen, die auf biblische Beispiele für gewährte Hilfe verweisen, so vor allem eine Passage aus dem Eingangsgebet zum "Jüngeren Titurel" (67, 76-78, 81f.). Speziell für den Beistand, den Gott den Dichtern gewährt, bringt Ulrich von Etzenbach mit der Inspiration der Propheten ein Beispiel ("Alexander" 13-24). Ohne Verweis auf einen Präzedenzfall bezieht sich Konrad von Würzburg auf die Hilfe Gottes für die Dichter, wenn er ihn als den aller
künste
meister
("Trojanerkrieg" 259) in sein Werk hineinruft. Die
im Gegenteil Gottes Fremdheit betonenden, in geistlichen Dichtungen eine Zeitlang recht verbreiteten fremdsprachigen Gottesnamen erscheinen in Eingangsgebeten weltlicher Werke nur selten^ ® . Heilige kommen in den Eingangsgebeten weltlicher Gedichte lange Zeit überhaupt nicht vor. Erst um 1400 setzt sich auch hier die gesteigerte Marienfrömmigkeit des späten Mittelalters d u r c h ^ ^ . Maria erscheint meist als Mutter und Jungfrau 1709 und kann als 1705 81f. , 102-20; Mai und Beaflor 3,3-10. 1706 Orendel 7. Weitere beiläufigere Erwähnungen oder Anreden Christi im Gebet: Füetrer, Wigoleis 2,6; Heldenbuch 8 v b . 1707 Albrecht, Jüngerer Titurel 66,2 Altissimus; Ulrich von Etzenbach, Alexander 2 künia Säbäot, 52 TetragamatSn-, Füetrer, Gralsepen 1,1 Alpha et 0
(...)
Emanuel.
1708 Wittenweiler, Ring 1,2; Füetrer, Seifrid 3f., Wigoleis 2,5f.,- Heldenbuch
8 vb . 1709 Wittenweiler, Ring 1,2; Füetrer, Seifrid 3,1
(nur als
maget) ,
Wigoleis
476
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
1710 Gottesgebärerin sogar Erlöserin heißen . In ihrer himmlischen 1711 Majestät heißt sie Königin . Andere Heilige werden nur in einem einzigen Gebet ganz beiläufig als 'himmlisches Heer' er... ,1712 wahnt Für das B e t e n finden sich neben blassen Bezeichnungen wie 'bitten', 'wünschen' oder 'anrufen' an intensiveren Wendungen 1713 beinahe nur Füetrers 'um Hilfe schreien' und die ungewöhnliche Vorstellung im "Heldenbuch", Beten heiße, Christus und Maria das Leiden des Beters am heillosen Zustand der Welt 'zum Opfer zu 1714 bringen' . An eine ganz bestimmte Art des Gebets denkt Ulrich von Lichtenstein, wenn er seine Bitten für die Ehre der Frauen zu Beginn des "Frauenbuchs" als mtn staeter
morgensegen
(594,2)
bezeichnet. Häufigstes
A n l i e g e n
auch der Eingangsgebete weltli-
cher Gedichte ist die Inspiration. Die entsprechenden Bitten richten sich 1715 naturgemäß fast stets an Gott, bei Füetrer aber auch an Maria . Zwischen den einzelnen göttlichen Personen wird nicht unterschieden. Inspirationsbitten begegnen in weltlichen Werken aller Phasen, doch enthält keineswegs jedes Eingangsgebet auch eine Inspirationsbitte. Derselbe Autor kann in einem Werk ein Gebet um Beistand 1716 im Schreiben formulieren und es in einem anderen fortlassen . Zur Begründung der Bitte um Inspiration beteuern die meisten Dichter - allerdings häufig außerhalb des Gebets - in oft sehr konventionellen Formulierungen ihre vorgebliche Unfähigkeit. Diese Selbstbezichtigungen sind vielfach so beiläufig und widersprechen zum Teil (etwa bei Konrad von Würzburg) so eklatant dem Können der Autoren und dem dichterischen Selbstbewußtsein, das sie an anderer Stelle äußern, daß sie in einem weltlichen Werk, das den Autor nicht mit einer prinzipiell die Fassungskraft des menschlichen Geistes übersteigenden Aufgabe konfrontiert, kaum wörtlich genommen werden dürfen. Typisch sind die schlagwortartigen Selbstbezichtigungen des Verfassers von "Mai und Beaflor", der sich unwitzig 1710 1711 1712 1713 1714
und unkünstio
nennt (3,22f.),
2,5 (dgl.); Heldenbuch 8 v b . Heldenbuch 8 v b . Heldenbuch 8 V a . Wittenweiler, Ring 1,3. Füetrer, Gralsepen 4,2. 8 :
Laß dir mein leid geopfert sein in die pein des kindes dein 1715 Füetrer, Gralsepen 9,4, Seifrid 4, Wigoleis 2,5-7. 1716 Zum Beispiel hat Füetrer Inspirationsbitten in allen Eingängen außer dem des "Iban"; Ulrich von Etzenbach betet im "Alexander" um Beistand, aber nicht im "Herzog Ernst D". (Siehe aber zum Gewicht der Inspirationsbitte im "Alexander" oben S. 449f.)
Weltliche
oder die Wirnts (nü geswtchent sin
(...)
ich
bin
noch
von Würzburg {rmn tumbe sind als captatio
ganzer
477
Erzähldichtung
mir sinne 1717
sinne)
benevolentiae
/ beidiu hol·,
zunge
und ouch
der
36f., 46) und Johanns
. Solche Selbstverkleinerungen aufzufassen. Mehr ernsthafte Be-
sorgnis steht dagegen hinter den Selbstzweifeln Ulrichs von Etzenbach ("Alexander" 95f., 101), der um die Angemessenheit seines Redens über Gott im Werkeingang fürchtet, das ihm aus eigener Kraft nicht gelingen kann, und hinter Albrechts (67f.) Sorgen, der vor den riesigen Dimensionen seines Stoffs verzagt und überdies einen Gegenstand mit ausgeprägter geistlicher Komponente behandeln muß. Ulrich von Etzenbach und außerhalb des Gebets (53) auch Albrecht bringen den Gedanken der Korrumpierung des menschlichen Geistes durch die Sünde ins Spiel. Eine überraschende Begründung seiner Inspirationsbitte gibt Füetrer im "Poytislier": Er bittet Gott um Hilfe zum Dichten, weil Gott die Tugendhaften nicht vergißt (3) - die Inspirationsbitte, die sonst Ausdruck eines geistigen und geistlichen Mangels ist, hat hier umgekehrt einen besonderen Vorzug des Dichters zur Voraussetzung, der zu den Tugendhaften gehören muß, denn sonst könnte er nicht auf Erhörung hoffen. Die in Eingangsgebeten geistlicher Dichtungen beliebte Berufung auf biblische begnadete Dichter begegnet im weltlichen Bereich nicht; Albrecht bezieht sich zwar auf David, aber nicht auf den inspirierten Dichter, sondern auf den Sieger über Goliath (67,2f.), und wenn Ulrich von Etzenbach (8-24) auf die Inspiration der Propheten verweist, so nicht zur Untermauerung seiner Hoffnung auf dichterische Begnadung, sondern um die Wunderbarkeit Gottes zu unterstreichen, die so groß ist, daß über ihn ohne besondere Gnade kein Mensch angemessen sprechen kann. Wie die Bezeichnungen für Gott in den meisten Eingangsgebeten weltlicher Dichtungen sehr allgemein sind, bleiben auch die Begriffe für die Inspiration in vielen Anrufungen und ihrem nicht gebethaften Kontext abstrakt. Häufig erscheinen saelde , 'Hilfe' 1718 oder 'Gnade' , und selbstverständlich findet sich auch der Aus-
1717 166. Außerhalb des Eingangsgebets hat Johann eine weitere, ausführlichere Unfähigkeitsbeteuerung, die er so gesucht metaphorisch formuliert, daß die sprachliche Form die Aussage widerlegt:
1718
152 nu sint die sinne mir ze fru geflogen von dem neste: kunstlose gebreste 155 machet mir die slihte crump! saalde ·. Rudolf von Ems, Alexander
34; Albrecht, Jüngerer Titurel 66,2. 'Hilfe': Ulrich von Etzenbach, Alexander 164; Konrad von Würzburg, Trojanerkrieg 258, 281; Ruprecht von Würzburg, Von zwein koufmannen 23; Füetrer, Gralsepen 4,2. - 'Gnade': Füetrer, Wigoleis 2,5. - 'Gnade und Hilfe': Mai und Beaflor 3,4f.
478
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
druck sin, allerdings nicht mehr nach dem Ende des 13. Jahrhunderts. sin kann auch in der weltlichen Dichtung sowohl die von Gott geschenkte Befähigung zum Dichten als auch ihr Korrelat im Menschen, also das Organ zur Aufnahme der Inspiration und zur 1719 Realisierung des Werks, bedeuten . Nur bei Wirnt erscheinen beide Bedeutungen (37, 44, 46, 51), aber er nutzt die Ambiguität des Begriffs nicht zur Evozierung einer besonderen Hingeordnetheit des menschlichen Dichtvermögens auf die von Gott kommende Begnadung. In der weltlichen Dichtung wäre das auch nicht sehr sinnvoll. Konkrete Bilder für die Inspiration verwendet fast nur Füetrer, der als Dichter des spätesten Mittelalters nach Intensität des Ausdrucks und emotionalem Nachvollzug durch 1720die Rezipienten strebt. Er liebt besonders die Taumetapher und überhaupt die Bildlichkeit des Wassers ("Gralsepen" 4,3f., 9,2f.), die bei ihm von Gottfried herzukommen scheint. (Aber auch schon vor dem "Tristan" begegnet einmal, bei Herbort (37-46), das Bild vom Wasser der Inspiration.) Weiter benutzt Füetrer die Bilder des Entzündens des dichterischen sins^^^^ , des Erleuchtens^^ 1 723 und des Aussäens des Samens der Kunst im Herzen des Dichters Mit den Inspirationsbitten eng verwandt sind die Gebete, die darum bitten, für ein Mißlingen des Werks nicht bestraft zu werden. Um diese Gnade betet Ulrich von Etzenbach im Hinblick auf sein Reden über Gott sowie, säkularisiert zur Bitte an Minne und Aventiure und deshalb als aaptatio benevolentiae an das Publikum 1724 zu verstehen, Johann von Würzburg . Nicht eigentlich die Absicht, um Inspiration zu beten, sondern der Wunsch, Gott am Anfang des Werks zu haben, weil nur gelingt, was in seinem Namen begonnen ist, steht hinter den vielen kurzen Gebeten zu Gott und den Nennungen seines Namens am Werkanfang, die oft nur notdürftig in den Kontext integriert sind. Hier ist die Gnadenerwartung unkonkreter als in den expliziten Inspirationsbitten. Gelegentlich 1725 betet ein Dichter auch um eine Inspiration des Publikums Dieses Anliegen ist stets der Bitte um günstige Aufnahme des 1719 sin als Begnadung: Wirnt von Gravenberg, Wigalois 44; Ulrich von Etzenbach, Alexander 121. si~n als Organ zur Aufnahme der Inspiration und zu ihrer Umsetzung in Dichtung: Herbort von Fritzlar, Liet von Troye 40; Wirnt, Wigalois 37, 46, 51; Rudolf von Ems, Alexander 40 (sin steht hier auch für das Streben des Dichters nach Gottes Gnade für sein Tun, 29-34); Albrecht, Jüngerer Titurel 68, 2b-4. 1720 Füetrer, Persibein 4,5, Seifrid 2,3f. 1721 Füetrer, Poytislier 3,5f., Wigoleis 2,7. 1722 Füetrer, Gralsepen 9,4. 1723 Füetrer, Gralsepen 9,2. 1724 Ulrich von Etzenbach, Alexander 98, 100; Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich 162-69. 1725 Wirnt von Gravenberg, Wigalois 44f.; Ulrich von Lichtenstein, Frauendienst 2,31-3,2.
Weltliche
479
Erzähldichtung
Werks durch die Rezipienten eingeordnet, die sich zum Beispiel 1726 als Gebet um Fernhaltung der Neider realisieren kann . Solche Bitten verschwinden nach der Mitte des 13. Jahrhunderts. Gebete um andere Anliegen als die Inspiration und verwandte Gnaden sind seltener. Relativ zahlreich sind unter ihnen noch die Bitten um Sündenvergebung, um ein gelingendes Leben in der Welt und um Vergebung beim Jüngsten Gericht. Zunächst treten sie nur zusammen mit Inspirationsbitten auf, im späten Mittelalter (Füetrer, "Heldenbuch"; "Orendel", dessen Eingangsgebet seinem volkstümlich-innerlichen Ton nach der Spätzeit anzugehören scheint) aber auch als einzige Anliegen von Eingangsgebeten. Sehr häufig werden diese Gnaden für das Publikum oder für alle Christen mit erbeten. Von Füetrer an kann auch Maria in solcher Absicht ange1727 rufen werden . Die Bitten um diese Anliegen sind oft ganz pauschal formuliert - typisch sind Ulrichs von Etzenbach Gebete um 1728 Schutz vor des ttvels
listen
und der
helle
not
- , zum Teil
aber auch in recht ausgefallene Wendungen gefaßt, so etwa bei Füetrer, der bittet, Maria möge beim Jüngsten Gericht die Gläubigen mit dem Flügel ihres Schutzes beschirmen ("Seifrid" 3,5). Solche individuellen Bilder können der Bildlichkeit des jeweiligen Gebets genau eingepaßt sein. Albrecht zum Beispiel faßt die Bitte um Reue im Wasserexkurs des "Jüngeren Titurel" in das Bild der vom Herzen zu den Augen aufsteigenden Reuetränen (47) . Bitten noch anderen Inhalts erscheinen nur in sehr wenigen Anrufungen. Ulrich von Lichtenstein betet zu Beginn des "Frauenbuchs" ausschließlich für die Ehre der Frauen (594,1-4), Berthold von Holle bittet im Eingang des "Cräne" nur für seinen Gönner (28-34) , und Füetrer im "Iban" (3,8f.) sowie der Verfasser der Vorrede zum "Heldenbuch" (8ra-8vl:)) rufen Gott oder Maria um Hilfe an gegen den beklagenswerten Zustand der Welt. Vor allem an den längeren Gebeten ist das Gotteslob stark beteiligt. Im Mittelpunkt der Lobgebete steht stets der Schöpferund Herrschergott. Besonders im Eingang des "Jüngeren Titurel" haben manche Gebete als weitere Intention die Absicht zu belehren. Weiter kann das Eingangsgebet auch rhetorischen Sinn haben als feierlicher Auftakt, der die Gewichtigkeit des zu Berichten1726 Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet 19f. 1727 Füetrer, Seifrid 3; Heldenbuch 8 v a b . 1728 Ulrich von Etzenbach, Alexander 146, 138. Weitere recht blasse Bilder sind die Verminderung der Sündenlast (134) und der Platz zur Rechten Christi beim Jüngsten Gericht (Albrecht, Jüngerer Titurel, 21,4). Dagegen gestalten Albrecht (Jüngerer Titurel, 80) und Füetrer (Poytislier, 2,4f.) die an sich gleichfalls recht konventionellen Vorstellungen vom Höllenfeuer und von der Leitung auf der Straße zum ewigen Leben zu eindrucksvollen Bildern aus.
480
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
den fühlbar macht. Diese Absicht führt zu dem sehr langen Eingangsgebet zu Ulrichs von Etzenbach "Alexander". Auch im "Jüngeren Titurel" mag diese Intention mitspielen; dort wie auch in manchen Werken Füetrers soll das ostentativ an den "Willehalm" angelehnte Eingangsgebet aber wohl primär das Bemühen um Anschluß an die Dichtung der mittelhochdeutschen Klassik demonstrieren. Nur wenige Eingangsgebete weltlicher Dichtung argumentieren b i b l i s c h . Nennenswerte Bibelberufungen kommen überhaupt nur in den ungewöhnlich ausführlichen Gebeten in Ulrichs "Alexander" und im "Jüngeren Titurel" vor. Albrecht faßt seine Schwierigkeiten mit seinem Werk, seine Hilfsbedürftigkeit, aber auch seine Gnadenhoffnung, in den Vergleich mit David im Kampf gegen Goliath (67,3) und illustriert Gottes Macht über die Elemente an den biblischen Geschichten vom Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer (76f.), von der Errettung der Jünglinge im Feuerofen 172 9 (78f.) und von der Strafe Dathans und Abirons . Ulrich von Etzenbach verweist zur Erläuterung der Wunderbarkeit Gottes auf die Inspiration der Propheten Isaias, Jeremias und Daniel sowie Davids und Salomos^ Verstreut finden sich einige wenige weitere Bibelzitate: die Vaterunserverse im Gebet zu Gott als Vater der Menschen im "Jüngeren Titurel" (72,1f.), der Gottesname Sabaoth im "Alexander" (2) und die 1731 Angabe des Tales Josaphat als Ort des Weltgerichts bei Füetrer . Insgesamt unterliegen die Eingangsgebete weltlicher Gedichte viel geringerem biblischem Einfluß als die geistlicher Werke. Gar nicht begegnen, sieht man von den erwähnten Paternosterbitten bei Albrecht ab, Zitate aus der L i t u r g i e . An bestimmte B a u f o r m e n halten sich die Eingangsgebete weltlicher Gedichte nicht. Nur jeweils wenige Anrufungen zeigen strukturelle Gemeinsamkeiten. Vom Lob zum Bittgebet führen die Eingänge zu Füetrers "Gralsepen", "Iban" und "Persibein", und im großen und ganzen scheint dieser Bau auch den Prolog des "Jüngeren Titurel" zu bestimmen, doch besitzen dort die abschließenden Gebete auch lobende Elemente und im Mittelteil wechseln Lob und Bitte in ungeregelter Folge ab, so daß das Lobpreis-BitteSchema bei Albrecht nicht deutlich hervortritt. Eine regelmäßige
1729 Jüngerer Titurel 81. Dathan und Abiron sind Frevler gegen Jahwe, die die
Erde verschlingt: Confestim igztur ut cessavit loqui, dirupta est terra sub pedibus eorum, et aperiens os suum devoravit illos cum tabemaaulis suis et universa substantia eorum; desoenderuntque vivi in infernum operti humo, et perierunt de medio multitudinis (Num 16,31-33). 1730 Ulrich von Etzenbach, Alexander 15, 17, 19, 21, 23. 1731 Füetrer, Poytislier 2,2, Seifrid 3,6. Biblische Grundlage ist Ioel 3,2:
oongregabo omnes gentes et deduaam eas in vallem Iosaphat.
Weltliche Erzähldichtung
481
Alternation von Lob und Bitte kennzeichnet das Eingangsgebet zu Ulrichs "Alexander". Bevorzugte Orte des Eingangs sind sein Anfang 1 7 3 2 und sein Schluß 1 7 3 3 , aber nur sehr wenige Eingänge haben Anrufungen im ersten und im letzten Teil und zeigen somit einen Gebetsrahmen: der zu Füetrers "Gralsepen" und vielleicht in einer ursprünglichen Fassung der zum "Jüngeren Titurel". Zahlenkompositorische oder gar zahlensymbolische Bauprinzipien sind in keinem Gebet zu erkennen. Auf die Einflüsse, die das Beten W o l f r a m s auf die Anrufungen auch in weltlichen Gedichten ausübt, ist bereits bei den Einzelinterpretationen hingewiesen worden. Da aus dem "Willehalm" -Eingang am stärksten das Gotteslob traditionsbildend wirkt, entfaltet sich Wolframs Einfluß in den längeren Gebeten, die Raum für einen ausführlichen Lobpreis haben, also im "Jüngeren Titurel" und in Ulrichs "Alexander" sowie in manchen Werken Füetrers. Es kommt jedoch nie zu uneigenständigen Nachbildungen. Vor allem die Gebete Ulrichs und Albrechts lassen ein Bemühen um produktive Verarbeitung der Wolframschen Vorgaben deutlich erkennen, indem sie das übernommene einem eigenen Gedankengang einordnen, es durch Zufügungen variieren und ergänzen, es neu gewichten und (zum kleineren Teil) uminterpretieren, wobei sich die Neufassung bei Albrecht als Selbstdeutung Wolframs ausgibt. Die Inspirationsbitten sind dagegen kaum von Wolfram beeinflußt. Nur Albrechts Beteuerung seiner vorgeblichen Ungelehrtheit paraphrasiert ziemlich eng die entsprechenden "Willehalm"-Verse (68,2f.). Von den anderen Dichtern der mittelhochdeutschen Klassik hat allein G o t t f r i e d eine schwache Wirkung gehabt. Sie manifestiert sich noch am vergleichsweise kräftigsten im Gebet Johanns von Würzburg zu Minne und Aventiure, ist aber selbst hier nur sehr genauem Hinsehen erkennbar. Ganz vereinzelt erscheinen Einflüsse Gottfrieds bei Füetrer, der mehrfach Inspirationsbitten in an den Musenanruf im "Tristan" erinnernde Bilder faßt.
1732 Ulrich von Lichtenstein, Frauenbuch 594,1-4; Albrecht, Jüngerer Titurel 1-3; Ulrich von Etzenbach, Alexander 1-152, Herzog Ernst D 1-12; Friedrich von Schwaben 1-5; Wittenweiler, Ring 1,1-8; Füetrer, Gralsepen 1-4, Iban 1-3, Persibein 1-4. 1733 Ulrich von Lichtenstein, Frauendienst 2,31-3,2 (es folgen allerdings noch zwei darlegende Verse); Berthold von Holle, Crane 33f.; Ruprecht von Würzburg, Von zwein koufmannen 23f.; Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich 162-72; Füetrer, Gralsepen 9, Poytislier 2f.; über einen möglichen Gebetsschluß des Eingangs zum "Jüngeren Titurel" s.o. S. 464.
482
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
7. Spiel Alle geistlichen Spiele in deutscher Sprache beginnen mit einem 1 734 meist längeren Prolog, der als feste Bestandteile eine einleitende Begrüßung des Publikums, eine in der Regel wiederholte Mahnung zu Ruhe und Aufmerksamkeit sowie eine Inhaltsangabe des Spiels enthält. Nicht selten tritt außerdem ein Gebet hinzu, das aber (wie ausnahmslos in den weltlichen Spielen) auch fehlen 1 735 kann . Die Anrufung im Spieleingang ist kein eigentliches Dichtergebet, denn der Autor tritt in der Inszenierung nicht in Erscheinung. Doch gibt es im mittelalterlichen Spiel eine Figur, die dem Erzähler in der Epik entspricht, die das Spiel leitet, die einzelnen Spieltage durch Reden eröffnet und beschließt und mitunter auch den Spielverlauf kommentiert. Dieser Proolamator, Precursor oder Expositor ludi spricht auch das Eingangsgebet, das in seiner Stellung noch außerhalb des Spielgeschehens dem Dichtergebet am Anfang epischer Werke entspricht. Hauptaufgabe des Prologs ist es, der Aufführung als Voraussetzung des Gelingens ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu sichern. Besonders in den späteren Spielen, die unter freiem Himmel mitten in der Stadt aufgeführt wurden und viele Stunden dauerten, war die Konzentration des Publikums ständig gefährdet, so daß eine besonders effektive Einstimmung erforderlich war. Die Techniken, die die Aufmerksamkeit des Publikums sichern sollen, sind Mahnungen zu Stille und Konzentration, Verheißung von ewigem Lohn für den andächtigen Mitvollzug des Spiels und Drohung mit dem Verlust der Seligkeit für die Unaufmerksamen, ausnahmsweise auch ein Hinweis auf weltliche Sanktionen. Vor allem aber dient der Einstimmung des Publikums die Schaffung einer feierlichen Atmosphäre durch Requisiten und Kostüme, den viele Spiele einleitenden lateinischen Engelsgesang und das ernste Auftreten des Spielleiters mit den vielfachen Hinweisen auf die geistliche Sphäre, in der 1734 Hierzu MASON, Prolog, S. 23; STADLER, Prolog (Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, S. 266). 1735 Man kann das Gebet also gegen MASON und STADLER nicht dem normalen Inventar des geistlichen Spieleingangs zuschlagen. Gebetlos beginnen etwa die folgenden Spiele: Admonter Passionsspiel, hg. von POLHEIM; Benediktbeurer Passionsspiel, hg. von HARTL; Egerer Fronleichnamsspiel, hg. von MILCHSACK (nur Tag 1); alle Erlauer Spiele, hg. von KUMMER; alle Spiele der Haller Passion (Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, hg. von WACKERNELL, S. 277-349); Redentiner Osterspiel, hg. von SCHOTTMANN; Rheinisches Osterspiel, hg. von RUEFF; St. Galler Passionsspiel (siehe Benediktbeurer Passionsspiel); Osterspiel von Trier (Das Drama des Mittelalters, hg. von HARTL, Bd. 2, S. 45-58); Tiroler Passion (Altdeutsche Passionsspiele, S. 1276) (nur Tag 1); Wiener Passionsspiel (Das Drama des Mittelalters, hg. von FRONING, Bd. 1, S. 302-24). Die Aufstellung ist keineswegs erschöpfend.
483
Spiel
sich das Spiel bewegt. Nicht zuletzt wirkt auch das Gebet hierbei mit. Wenn es den Prolog eröffnet und ganz unmittelbar mit der Alltagswelt der Zuschauer konfrontiert ist, hat es die Hauptlast 1736 der Einstimmung zu tragen, so im "Dorotheaspiel" , das mit einer 18 Verse langen, von einem als Primus bezeichneten Vorredner gesprochenen Anrufung beginnt. Der Primus bittet nach einer sehr kurzen Mahnung zur Aufmerksamkeit zunächst ganz pauschal um Gottes Hilfe (2), womit der geistliche Ton gesetzt ist. Dieser intensiviert sich in den folgenden Versen über die Notwendigkeit, alles im Namen Gottes zu beginnen, und steigert sich bald zu einem eindringlichen Bittgebet: 9 dez helfe
vnz got sau disin
da vnz athi
muze
vn dy heytege
wol
dingin,
gelingin,
iuncvrov
daz vnz der
hülfe
werde
Vn dy guode
dez heyligen
dorothe, me, geyst.
Das Gebet des Primus signalisiert dem Publikum, daß es sich bei der Aufführung nicht um ein bloß unterhaltendes Spektakel handeln wird, und fordert die angemessene Rezeptionshaltung ein. Zur weiteren Verdichtung der geistlichen Atmosphäre fordert der Vorredner das Publikum zum Gesang eines geistlichen Liedes auf: 14 nu singe
wir
Nu bitte et aantat
alle
dysen
leys:
wir den heyligen
omnis
geyst
etc.
populus.
Spätestens jetzt dürften die Zuschauer ganz in die halbliturgische Atmosphäre hineingezogen und zum andächtigen Mitvollzug des Legendenspiels bereit sein. Trotzdem versucht der Primus noch ein weiteres Mal, diese Bereitschaft zu verstärken: 15 Um den zana, do gebe
den ir hot
volbrocht,
vch vme got craft
Czu sen vn zcu Got der muse
vn
macht
halden;
vnsir
spilles
walden
-
Durch die Bitte um die Fähigkeit, das Geschehen als geistliche Belehrung für das eigene Leben zu begreifen (die Zuschauer sollen das Vorgeführte 'halten', das heißt in der Nachfolge der Heiligen
1736 SCHACHNER, Das Dorotheaspiel.
484
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
in die Tat umsetzen), wird der religiöse Charakter des Spiels nochmals unterstrichen. Die Einstimmung des Publikums durch Gebete gelingt in diesem Spiel so gut, daß der Primus im weiteren Verlauf seiner Vorrede auf die in anderen Spieleingängen üblichen Wiederholungen der Mahnung zur Ruhe praktisch verzichten kann 1737 1738 Auch das Palmsonntagsvorspiel zur "Tiroler Passion" setzt unmittelbar mit einem Gebet des Spielleiters, der hier Precursor heißt, ein: "In nomine
dei patris
et fily
et spiritus
Sancti."
Amen.
Et
dicit
incipiens.
1 In dem Namen Des ainigen Got vater,
der heiligen gotes
sun,
sun in der
heyliger
Von dem wir werden 5 In allen Anheben
dem, sein
Unnd unnser Dar durch 10 Erlanngen Durch Darumb
sein
lob
missetat arme
dort vill
stunnd! erdeucht verczeicht;
cristenheit
die ewig heyligstn
so sprecht
Hic fit
Geist,
yetzunndt
in diser
wir
ewigkhait,
unnderweist
das wir
Von im Eer unnd
Drivaltigkhait,
alle:
freydt namen; "Amen!"
pausa.
Die zeremoniell umständliche und lange (überdies vielleicht zu1739 nächst in liturgischem Latein gehaltene) Anrede an Gott (1-3) schafft von Anfang an eine geistlich-feierliche Stimmung, die durch die Erklärung, das Spiel gehe unmittelbar auf göttliche Unterweisung zurück (4-6) , sehr verstärkt wird. Auch der anschließende Ausblick auf das ewige Leben (7-11) macht fühlbar, daß es um mehr geht als nur um Zeitvertreib. Wie im "Dorotheaspiel" soll das Publikum die Anrufung aktiv bekräftigen, hier durch die liturgische Formel Amen (12). Nach dem Gebet ordnet der Verfasser eine Pause an, die der Anrufung erlaubt, ungestört nachzuwirken. 1737 Es begegnet nur eine einzige Mahnung zur Aufmerksamkeit gleich nach Ende des Gebets (19), die aber an dieser Stelle kaum durch Unruhe im Publikum veranlaßt ist, sondern vielmehr als rhetorischer Hinweis auf die Wichtigkeit des im folgenden Gesagten gemeint ist. 1738 Vorspiel (Altdeutsche Passionsspiele, fe. 433-72). Zitiert ist stets die vom Herausgeber in die Anmerkungen verwiesene Fassung Vigil Rabers, die 1514 in Bozen aufgeführt wurde. 1739 Der lateinische Eingang fehlt in der bei WACKERNELL, Altdeutsche Passionsspiele, als Haupttext gedruckten Version der Sterzinger Mischhandschrift.
485
Spiel
Der weitere Verlauf des Eingangs bringt predigthafte Mahnungen zu einem christlichen Leben und zur Versenkung in die Heilstatsachen, insbesondere in die Passion. Ihnen folgen Aufforderungen zu Andacht und Reue und schließlich am Ende des Prologs zur Festigung des Publikums in dieser Haltung ein weiteres Gebet. Sein Anliegen ist in erster Linie der andächtige Mitvollzug des Passionsgeschehens : 140
Das wier
im mit andaaht
Unnd die
heillig
Durah
rew und
Und mit 146
leiden
149 α Durch
marter
seinen
leben
schmerazen. kann^
lat ligen
, an:
selign
die ewig
heiligen all mit
versienn
seinen
got in disser
dism
b Nun sprecht
im
nit geschehen
Das geb unns
dienen
herozen,
tragen
Dan der im sein
nach
zeit mit
laid von
Da wierdigers
Unnd
mügen
zeit
freyd.
namen innikait
eurer
herczen
amen.
Durch ihre Stellung am Anfang und am Ende des Prologs und durch die zweimalige aktive Beteiligung des Publikums wirken die Gebete in diesem Eingang ganz wesentlich an der Herausbildung der erwünschten Rezeptionshaltung mit. Sie sind das wichtigste Mittel zur Herstellung der geeigneten Spielatmosphäre. Einen ganz besonders festlichen, fast gottesdienstlichen Rahmen für das Spiel schaffen die liturgischen Gesänge zu Beginn des 1741 "Heidelberger Passionsspiels" : Zcum
erstenn
erliahenn
cher an seinen genn
die
Et tui amoris
Gentes
sesse
sancte
tuorum
Qui per
die personn
procession
des spiels
vff das gerüste
gesetzt.
Als dan hebtt
herlichenn
gefürtt
MENLICHE
vnnd
vnnd
itzli-
an zcu
sin-
antieffen:
I. Veni (Reple
werdenn
in einer
spiritus
corda
fidelium,
in eis ignem
diversitatem in unitate
Alleluia, Darnach
etc.
accende:
linguarum
fidei
cunctarum
congregasti.
Alleluia!) singent
ZWENN
ENGELL
denn
verß:
1740 Die Verse 144 und 145 der Mischhandschrift haben in der Fassung Rabers keine Entsprechung. 1741 Heidelberger Passionsspiel, hg. von MILCHSACK.
486
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
II. Emitte faciem
spiritum
terre.
S%t gloria
In dem so gent heller
tuum
zwenn
etc.
(et creabuntur,
domino engell
in secuta. vonn
et
Alleluia!)
dem geruste
renovabis
1742
vnd singent
mit
stym.
Trotz der Feierlichkeit und ihrer großen Nähe zum Gottesdienst scheinen die Gesänge nicht ausgereicht zu haben, um das Publikum ganz in das Spiel hineinzuziehen, denn die anschließende Rede des Regierers enthält mehrere Aufforderungen zu schweigen. Ähnliches läßt sich auch in anderen Spielen beobachten. Neben der rezipientenorientierten Einstimmungsfunktion haben die Gebete in den Eingängen geistlicher Spiele die Aufgabe, den Segen Gottes auf die Aufführung, die Darsteller und die Zuschauer herabzurufen. Dieses Anliegen kann wie im "Dorotheaspiel" oder im "Heidelberger Passionsspiel" im Gesang des Veni sancte spiritus
zum Ausdruck kommen, es kann aber auch wie im Tiroler Palmsonntagsspiel frei formuliert sein. Besonders eindringlich wirkt die 1743 entsprechende Bitte im Prolog des "Alsfelder Passionsspiels" Sie gibt überdies Auskunft über die Intentionen des geistlichen Spiels, denn sie erbittet Gottes Beistand zu dem Zweck, Gott zu ehren und die Sünder zu bekehren: 76 got gebe,
das mer das spiel
das mer got damidde und alle
sunder
die disße 80 das dicz
und sunderyn
hören alßo
das helffe
und
herre
triben,
sich
bekeren,
sehen!
gescheen,
uns der meyde
der do besiezet unßer
ßo
eren
son,
des hymmels
Jhesu
thronn,
Crist,
der vor uns gestorben
ist!
Auch das Alsfelder Spiel verzichtet nicht auf den Gesang des Veni sanate
spiritus
(nach Vers
106).
Nicht selten stehen neben den direkt aufführungsbezogenen über das Spiel hinausweisende Anliegen. Besonders oft begegnet der Gedanke an das ewige Leben, das häufig als Lohn für aufmerksames Betrachten der Aufführung verheißen wird und dadurch disziplinierende Funktion hat:
1742 Die eingeklammerten Ergänzungen stammen vom Herausgeber. 1743 Alsfelder Passionsspiel (FRONING, Bd. 2/3, S. 547-864).
Spiel
Darumb Durah
pit
ich euch
die pitter
Die Jhesus
marter
leit durah
Das ir sizet Das euch
und
weit
In seinem
reich
und
ist,
aller
meist 1744 geist
mole sehalle:
uch gegeben
zu
lone
die ewige
das unß das gesche daß helff
Crist,
lone
heiliger
alazu
in dem himmel
stillen,
krone.
sün,
swiget
willen,
Jhesus
geb zu
lod von werem
so wirt
unsern
mir und euch
Got vatter,
schwere,
ein troster
Die himelischen Des helff
sere,
schweiget
der suesse
Der aller
darumb
alle
487
crone!
allirmeist,
uns der heiige
geist
1745
!
Mehr auf ein gelingendes Leben in der Welt zielen die Bitten "Donaueschinger
1. Tag
Passionsspiel".
28 verlieh
vns wishait,
krafft
schick
vns des hailigen
enzind
in vns diner
die des begeren,
2. Tag
im
1731 Ewiger
got,
mit diner
vns
stür, für,
flamen:
sprechent
heiigen
das wir dich
gaistes
liebe
verlieh
vnd
amen!
krafft
ritterschafft,
teglich
als vns din gütlichen
mögent
eren,
bot das
leren -
Ungewöhnlich ist das Anliegen des Gebets im Eingang zum dritten Tag des "Egerer Fronleichnamsspiels", wo der Precursor
von der
Feststellung, das Spiel ende mit dem dritten Tag, assoziativ
zu
einer Bitte um ein seliges Ende für Darsteller und Zuschauer
ge-
langt
(5725).
Wenn die Eingangsgebete nicht die Hauptrolle bei der Einstimmung der Zuschauer übernehmen, sind sie meist nicht länger als acht Verse.
(Dagegen haben die Gebete im "Dorotheaspiel"
den Gemeindegesang - und im Tiroler Palmsonntagsspiel mit
- ohne 17 und
1744 Egerer Fronleichnamsspiel, 2. Tag, 2841-50. Das Spiel wurde tatsächlich zu Ostern aufgeführt. 1745 Hessisches Weihnachtsspiel (FRONING, Bd. 3, S. 902-39) 13-18. 1746 Donaueschinger Passionsspiel (HARTL, Bd. 4).
488
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
18 Versen gut das Doppelte dieses Umfangs.) Viele knappe Gebete bemühen sich trotzdem um aktive Einbeziehung des Publikums, weil dadurch das emotionale Engagement der Zuschauer am ehesten gesichert werden kann. Meist beschränkt sich die Teilnahme des Pub1747 likums auf ein bekräftigendes Amen , aber in einigen Prologen stimmen Zuschauer und Darsteller, wie schon zu beobachten war, einen gemeinsamen Gesang an, wodurch die Zuschauer besonders effektiv an das Spiel gebunden werden. Neben der deutschen Fassung des
Veni
sanate
spiritusbegegnet
als Gemeindelied
das
Crist
1749 ist erstanden . Fraglich ist die Beteiligung des Publikums im "Alsfelder Passionsspiel". Hier endet die Rede des Regens mit den Worten: 103
des
woln
mer
und
bidden
das
hie
und
alzyt
singen
den
uns
frolichem
heiligen
Geist
gnade
vorlyhe
syn
uns
mit
weße
sehall
all,
bye!
Die Formulierung mer (...) all scheint das Publikum zum gemeinsamen Gesang aufzufordern. Dem steht jedoch die lateinische Formulierung des Liedanfangs entgegen: Et
sie Veni
regens sanate
inaipit spiritus
canere: -
(nach 106) Der Mehrzahl der Zuschauer dürfte der lateinische Wortlaut des Lieds trotz seiner liturgischen Verwendung nicht geläufig gewesen sein. Entweder hat der Schreiber die Anfangsverse des Gesangs in der 'offiziellen' liturgischen Fassung notiert, obgleich er tatsächlich volkssprachig gesungen wurde, oder es handelt sich um einen Chorgesang nur der Darsteller, ähnlich wie im "Heidelberger Passionsspiel" ein Teil der Spieler den einleitenden lateinischen Choral anstimmt (vor 1). Lateinkundige Zuschauer könnten sich angeschlossen haben. Als Adressat der Eingangsgebete begegnet oft - besonders im Lied - der Heilige Geist 1 ^^ . Auch die Trinität wird relativ häu1747 Donaueschinger Passionsspiel 3 1 ; Vorspiel zur Tiroler Passion 12; Tiroler Passion, 2 . Tag (Altdeutsche Passionsspiele, S . 7 5 - 1 7 6 ) 1 2 8 8 . 1748 Dorotheaspiel, nach 1 4 . 1749 Osterspiel der Tiroler Passion, Pfarrkirchener Fassung (Altdeutsche Passionsspiele, S . 1 7 9 - 2 5 3 ) 2 8 9 3 . 1750 Alsfelder Passionsspiel 103-nach 106; Dorotheaspiel 13-nach 14; Frankfurter Passionsspiel von 1493 (FRONING, Bd. 2 , S . 3 7 5 - 5 4 6 ) vor 1; Heidelberger Passionsspiel, vor 1; Hessisches Weihnachtsspiel 1 8 .
Spiel
489
fig angerufen, sei es als Dreifaltigkeit oder in ihren Hyposta1751 sen . In solchem Zusammenhang kann auch ein kurzer Schöpfungs1752 überblick begegnen . Christus ist selten Adressat eines Gebets. Nur im Pfarrkirchener Osterspiel der "Tiroler Passion" (2892-nach 2893) ist er allein angerufen; sonst wird er nur im Kontext von Trinitätsgebeten genannt. Für die Anrufung von Heiligen in Legendenspielen bietet das "Dorotheaspiel" einen Beleg (11) .
Das geistliche Spiel endet nicht mit der Reformation. Es setzt sich in den unreformierten Gebieten fort im katholischen Spiel zu den alten Anlässen, das nun aber manchmal seine Existenz zu 1753 rechtfertigen hat , und es beeinflußt andererseits das Reformationsdrama, obwohl hier andere Traditionen - Fastnachtsspiel, humanistische Dialogliteratur, das beginnende Schuldrama - gleichermaßen einwirken. Die Einflüsse des geistlichen Spiels auf das Drama der Reformation erstrecken sich weit mehr auf die Form als auf den Gegenstand. Nur langsam setzt sich die vor allem an Terenz orientierte antikisierende Form durch, so daß die lockere Struktur des mittelalterlichen geistlichen Spiels recht lange er1 754 halten bleibt . Hinsichtlich des Stoffs besteht keine entsprechende Kontinuität. Zwar ist auch das Reformationsdrama zum bedeutenden Teil Bibelspiel, aber es bevorzugt andere Teile der Bibel, besonders das Alte Testament. Passionsdarstellungen begegnen kaum. Luther lehnt sie ausdrücklich ab, da sie nur geeignet seien, folgenloses Mitleid zu erregen, aber die Zuschauer nicht zur 1755 Erkenntnis ihrer Sündigkeit führen könnten . Ziel des reformierten Dramas ist nicht der andächtig sich einfühlende Nachvollzug eines Heilsgeschehens, sondern die Propagierung der protestantischen Lehre, die naturgemäß oft mit polemischen Ausfällen gegen den Katholizismus einhergeht. Das Reformationsdrama ist vor allem didaktisch-argumentativ orientiert. Daher behandelt es gern biblische Gleichnisse, die zugleich mit der Vorführung des Bibelgeschehens seine lehrhafte Auslegung gestatten. Ein ziemlich frühes Beispiel hierfür bietet die Dramatisierung des Gleichnisses vom 1751 Donaueschinger Passionsspiel 28-30; Egerer Fronleichnamsspiel, 2. Tag, 2849f.; Vorspiel zur Tiroler Passion 1-3 und Anmerkung. 1752 Donaueschinger Passionsspiel 26f. 1753 Zum Beispiel ist im Eingang des "Admonter Passionsspiels" (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) die ausdrückliche Nennung der Intention zur Rechtfertigung der Aufführung erforderlich: Wie auch religiöse Gemälde und Skulpturen soll das Spiel Inbristige betraohtung, vnd danakhbarkhait, / Oes Leiden Ckristj (1lf.) bewirken und dadurch den Glauben vertiefen (1-16). 1754 ROLOFF, Reformationsliteratur (Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, S. 365-403)/S. 392. 1755 ROLOFF, Reformationsliteratur, S. 389.
490
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN EINGANGSGEBETE
1756 verlorenen Sohn durch Burkhard Waldis , wo das Geschehen von einem Kommentator begleitet wird, der es bis in seine Einzelheiten im Sinne der reformierten Lehre interpretiert. Auch Waldis' Drama beginnt mit einem religiösen Prolog. Er enthält ein ausführliches Gebet, das sich von den Eingangsgebeten mittelalterlicher Spiele durch einen deutlichen rational-argumentativen Zug unterscheidet. Zwar wirkt die einleitende Anrufung der Trinität (1-14) noch recht mittelalterlich, aber schon im anschließenden Schöpferpreis und Schöpfungsüberblick ist der neue Ton zu spüren, wenn einzelne Geschöpfe nicht nur als Erweis der göttlichen Allmacht angeführt, sondern auch auf ihre Vorbildlichkeit für das Leben jedes Christen befragt werden: Die Fische sind beispielhaft in ihrem Vertrauen auf Gott (33-36), und wie die Vögel soll jeder Christ Gott loben voller Zuversicht, daß er ihn nicht verlorengehen läßt (37-40). Viel deutlicher wird dieser Grundzug dann im zweiten, mit dem Schöpfungsüberblick durch einen Abriß der Heilsgeschichte (52-80) verbundenen Abschnitt. Hier (81176) wird das Gebet zu einer vehementen Attacke gegen den Katholizismus, seine Glaubenssätze (vor allem den Gedanken der Rechtfertigung durch gute Werke), Institutionen (Papst, Klöster, kirchliche Hierarchie) und Praktiken (Ablaß), denen Waldis die lutherische Rechtfertigungslehre, die das Heil nur von der Gnade Gottes erhofft, entgegenstellt. Waldis' Polemik ist nur der Form nach ein Gebet; hauptsächlich will sie die neue Lehre verteidigen und die gegnerischen Auffassungen widerlegen. Den auf emotionale Einstimmung bedachten Eingängen der geistlichen Spiele des Mittelalters lag nichts ferner als eine argumentative Intention. Daß jedoch im Anschluß an das Gebet das Evangelium vom verlorenen S o h n ^ ^ verlesen wird und am Schluß der Vorrede der Gesang des Nu bidden wy den Hilgen geyst steht (219), nähert Waldis' Eingang doch wieder den mittelalterlichen Spielen an, denn dadurch erhält sein Drama einen quasiliturgischen Rahmen - überdies 1758 war es zur Aufführung in einer Kirche bestimmt -, der auch den mittelalterlichen Spielen zu eigen war. Auch in nicht wenigen Motiven (Trinität; Schöpfer und Schöpfung in der seit dem "Willehalm" traditionellen Motivik), im abschließenden Lied zum Heiligen Geist, das die mittelalterlichen Spiele unmittelbar zitiert, und überhaupt im großen Anteil von Gebeten am Eingang scheint die mittelalterliche Tradition noch deutlich durch. Aber die noch 1756 Der verlorene Sohn, ein Fastnachtspiel von Burkard Waldis (1527), hg. von MILCHSACK. 1757 Lc 15,11-32. 1758 Zur Fastnacht 1527 in Riga. ROLOFF, Reformationsliteratur, S. 390.
491
Spiel
mittelalterlichen Elemente sind neuen Zwecken unterworfen. Sie dienen nicht mehr primär der gefühlsmäßigen Einstimmung des Publikums, sondern dem argumentierenden Beweis der Richtigkeit der neuen Lehre durch eine mehr den Verstand als das Gefühl ansprechende ausdeutende Darstellung eines gleichnishaften Bibelgeschehens . Anders als das mittelalterliche Spiel sind die Spiele der Reformation auch Lesedramen. In der Buchausgabe gibt Waldis seinem Stück ein Vorwort bei, das ein Dichtergebet im engeren Sinne, 1759
ein wirkliches Gebet des Verfassers, enthält . Ganz im Sinne des Tenors des Spiels bittet es um die Bekehrung der Katholiken.
1759 S .
5.
IV. DAS DICHTERGEBET IN DER MITTELHOCHDEUTSCHEN LITERATUR: SCHLUSSGEBETE
1. Frühmittelhochdeutsche Dichtung Da in Otfrids von Weißenburg Evangelienwerk der Schlußteil nicht scharf vom Hauptteil abgesetzt war, mußten dort zur Bestimmung der Schlußgebete inhaltliche Kriterien herangezogen werden^^^. In mittelhochdeutschen Texten ist dies nicht nötig, denn der Schluß ist fast immer klar vom Hauptteil getrennt. Nachdem das Thema des Werks durchgeführt ist, legt der Autor die Erzählerrolle ab und spricht über sich selbst und die Umstände der Werkentstehung. Alle Gebete des Dichters nach seinem Heraustreten aus der Erzählsituation werden im folgenden als Schlußgebete verstanden. Der Begriff 1Schlußgebet1 ist nun also weiter gefaßt als zuvor . Von den 45 mit ihrem Schluß überlieferten frühmittelhochdeutschen Gedichten, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, besitzen 31 ein Schlußgebet, während sich ein Eingangsgebet nur in gut der Hälfte der Gedichte fand. Andererseits fehlt wegen des liturgischen oder halbliturgischen Gebrauchs der meisten frühmittelhochdeutschen Dichtungen in einem Drittel der Werke die Anrufung im Schluß. Da sowohl in der Liturgie als auch im Refektorium die Lesungen durch ein kurzes Gebet beendet wurden, war ein zusätzliches Schlußgebet in ihnen entbehrlich. Wo es erscheint, ersetzt es meist das übliche Gebet zum Abschluß der Leatio Die die Tischlesung beschließende Bitte Tu autem, domine, miserere nobis^^^ deckt sich mit einem Hauptanliegen der frühmittelhochdeutschen Schlußgebete. 1762
Mit nur vier Ausnahmen
lassen sich alle frühmittelhochdeut-
schen Schlußgebete drei Umfangstypen zuordnen. Deutlich zu unterscheiden sind eine Gruppe sehr kurzer Gebete mit nicht mehr als 1760 S.o. S. 87f. 1761 Zu diesem formelhaften Schlußgebet der Leotio OHLY, Tu autem. 1762 Nämlich die Schlußgebete zu Adelbrechts "Johannes Baptista" (drei Langverse; Religiöse Dichtungen, Bd. 2, S. 328-41), zur Verspredigt des Wilden Mannes über die girheit (fünf Kurzverse; Religiöse Dichtungen, Bd. 3, S. 550-77), zur "Altdeutschen Exodus" (20 Kurzverse) und zu Heinrichs von Melk Von des todes gehugde (14 Kurzverse; Bd. 3, S. 328-59).
Frühmittelhochdeutsche
Dichtung
493
zwei Lang- oder vier Kurzversen (I), eine mittlere Gruppe mit etwa fünf Lang- oder zehn Kurzversen (II) und ein dritter Typ, dessen Umfang zwischen vierzig und hundert Kurzversen (oder der entsprechenden Zahl von Langversen) schwankt (III). Anders als bei den Eingangsgebeten zeigen einzelne Phasen der frühmittelhochdeutschen Zeit keine besondere Neigung zu einem speziellen Umfangstyp. Vor 1100 findet sich für jeden Typ - sofern man das lange Gebet am Ende von "Ezzos Gesang" (Str. 31-34) bereits der Urfassung zuschreibt - genau ein Beispiel. Nach 1100 sind stets die sehr kurzen Anrufungen am häufigsten, die längsten am sel176 3 tensten . Der Umfang des Schlußgebets hängt nicht von der Gesamtlänge des Gedichts ab. Recht ausgedehnte Dichtungen wie "Wiener Genesis" und "Anegenge" können Schlußgebete von nur einem Langvers und zwei Kurzversen haben, während umgekehrt das nur mäßig lange "Ezzolied" fünfzig Gebetsverse zeigt. Auch zur Länge des Eingangsgebets besteht keine generelle Korrelation. Zwar haben einige Werke mit langem Schlußgebet auch ein ausgedehntes Gebet im Eingang^*''*, aber andererseits bedingt ein kurzes Eingangsgebet keineswegs ein sehr knappes Schlußgebet. Die sehr kurzen Gebete des ersten Typs sind im Extremfall auf eine bloße Schlußformel reduziert, so im "St. Trudperter Hohen Lied" (148,5f. AMEN, herre) und in Avas Gedicht über den Heiligen Geist (221,10 nu sprechen wir: amen). In der Regel aber nennen auch sehr knappe Gebete wie die nur einen halben Langvers einnehmende Schlußbitte zur "Deutung der Meßgebräuche" (41,12b) ein Anliegen. Meist ist sogar der größte Teil des knappen Raums der Formulierung des Anliegens gewidmet, so in der "Auslegung des Va1763 Die genaue zeitliche Verteilung der drei Schlußgebetstypen zeigt die folgende Tabelle: Typ
I II III zwischen I und II zwischen II und III
vor 1100
1100-1150
nach 1150
5-8 2-4
6-9 3 0-1
15 8 4
0
0
2
2
0
1-2
0-1
2
1 1 0-1
4
Gesamtzahl pro Typ
Wegen der bekannten Datierungsschwierigkeiten sind nicht immer exakte Angaben möglich. 1764 Ezzos Gesang: 35 Kurzverse Eingangsgebet (Vers V 12, Str. 4, 6, 7), 50 Kurzverse Schlußgebet (Str. 31-34); Priester Arnold, Von der Siebenzahl/Loblied auf den Heiligen Geist: 37 Kurzverse Eingangsgebet (1,123,18), 103 Kurzverse Schlußgebet (53-58a, 59a,16-22); Armer Hartmann, Rede vom Glauben: 15 Langverse Eingangsgebet (3-4), 46 Langverse Schlußgebet (196-202).
494
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
terunsers" 1765 , im "Scoph von dem löne" 1766 und im hier als Bei17 6 7 spiel zitierten "Trierer Ägidius" : 1750 nv helfe uns der gotis trüt mit stme heiligen
gedinge
, . , . .7 daz wvv daz ew%ge ττοηε
.
gewvnnen
1768
Mehrere Gebete des Typs I enden mit einigen lateinischen Worten und erreichen so eine gewisse Feierlichkeit: pater et filius / et spiritus sanctus heißt es am Ende der "Christenlehre" des Wilden Mannes 1769 , der Schlußvers des "Melker Marienlieds" 1770 ruft Sancta Mav%a an 1771 , und die "Vorauer Sündenklage" 1772 und das "Anegenge" (3242) zitieren die Qui vivis et regrrcas-Formel der Liturgie. Eine Variation des Anliegens gestattet sich nur ein Gebet des Typs I: Der Wilde Mann variiert in seiner Veronicalegende (29,17-20) die Bitte um das ewige Leben durch die Hoffnung, beim Jüngsten Gericht zu den Gerechten gezählt zu werden. Einigen wenigen Gebeten gelingt es, über ein Anliegen und die Schlußwendung hinaus noch ein weiteres Strukturelement in die wenigen zur Verfügung stehenden Verse einzugliedern. Der Autor 1773 des "Millstätter Reimphysiologus" faßt in einen einzigen Vers außer Bitte und doppeltem Amen auch noch ein Gotteslob. Wernhers 1774 vom Niederrhein Gebet am Ende der "Vier schiven" hat zwar nur ein Anliegen, beruft sich jedoch zusätzlich auf die Fürsprache Marias (und ersetzt die Schlußformel durch die Nennung1775 des Verfassers). Das Gebet am Ende des Gedichts "Vom Rechte" fügt zu Bitte und Schlußformel eine kurze Begründung hinzu. Diese Gebete nutzen die Kapazität des Typs I vollständig aus. Mehr als drei
1765 Die Auslegung des Vaterunsers (Kleinere deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 6885) 24lf. 1766 Scoph von dem 13ne (Religiöse Dichtungen, Bd. 2, S. 260-77) 27,8. 1767 Der Trierer Ägidius, hg. von BARTSCH. 1768 Weiter gehört hierher das Schlußgebet zur "Wiener Genesis" (3036). 1769 Der Wilde Mann, Von christlicher Lehre (Religiöse Dichtungen, Bd. 3, S. 578-93) 11,27f. 1770 Melker Marienlied (Kleinere deutsche Gedichte, Bd. 2, S. 232-38) 98. 1771 Das ganze Lied ist in Anrede an Maria verfaßt. Aber während die Verse 1-95 Maria preisen, gehen die drei Schlußverse zur Bitte über. Dieser Wechsel zu einem Anliegen, das sich mit dem fast aller anderen frühmittelhochdeutschen Schlußgebete deckt, rechtfertigt es, sie als Schlußgebet aufzufassen. 1772 846. Auch die "Vorauer Sündenklage" ist als ganze ein Gebet, doch erlaubt auch hier ein deutlicher Wechsel des Anliegens ab Vers 844 die Isolierung der letzten Verse als Schlußgebet. 1773 Milstätter Reimphysiologus (Religiöse Dichtungen, Bd. 1, S. 169-245) 180,4. 1774 Die "Vier schiven" des Wernher vom Niederrhein (Religiöse Dichtungen, Bd. 3, S. 435-83) 32,10-12.
495
Frühmittelhochdeutsche Dichtung
1776 Strukturelemente kann er nicht fassen Die Gebete des zweiten Typs, deren kürzeste doppelt so lang sind wie die längsten der ersten Gruppe, zwingen nicht zu einer so strengen Konzentration auf das Wesentliche. Doch wird der größere Raum nur im vier Langverse umfassenden Gebet am Ende des Memento 1 777
mori zu einer Vermehrung der Strukturelemente benutzt. Es besteht aus zwei Bitten, einer Begründung und einer Verfassernennung. Der größere Raum wird gefüllt durch die detailliertere Behandlung nur einer der vier Komponenten, nämlich der ersten Bitte: 19,1 Trohtin,
chunic
tu muozist
here,
uns gebin
nobis ten sin
miserere! tie ahurzun
wila,
so wir
hie
sin, daz wir
die seta
bewarn
-
Die drei übrigen Strukturelemente werden sehr knapp behandelt (19,3f.). Nur drei Komponenten, eine Bitte um Bewahrung vor der Hölle (1080-85), ihre Begründung (1086-88) und eine Schlußformel (1089), 1778 bilden das Gebet am Ende der "Hochzeit" : 1080 Nu beschirme vor der
1085
uns got
siechen
unde
versperre
unde
mache
helle uns vor der
uns an der sele
daz er unsir
vatir
in dem
unde
himil
wan wir
wir
in der
war!
munt
gesunt,
erde.
ahinden
in sin rieh
von im haben
daz werde
helle
werde
Sit er uns ze sinen daz ouch
alle
den
hat
genomen,
muozzen
chomen,
atem.
amen.
Die breite Variation führt das Anliegen besonders eindringlich vor Augen. Sie hat ein Vorbild in der liturgischen Gebetsgattung der Litanei und ist somit als Strukturprinzip eines Gebets legitimiert. Die anschaulichen Metaphern für Verdammnis und Erlösung vermeiden die Gefahr der Eintönigkeit, in der ein ausführlich 1775 vom Rechte (Kleinere deutsche Gedichte, Bd. 2, S. 112-31) 546-49. 1776 Nicht als selbständiges Strukturelement zu zählen ist die Anrede oder (in optativischen Gebeten) die Nennung des Adressaten, denn sie bleibt stets kurz und ist eng in die Formulierung des Anliegens eingebunden. 1777 Memento mori (Religiöse Dichtungen, Bd. 1, S. 249-59). 1778 Die Hochzeit (Kleinere deutsche Gedichte, Bd. 2, S. 132-70).
496
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
variierender Text prinzipiell immer schwebt. Nur zu Dehnung und Leerlauf führt die Beschränkung auf wenige 1779 Strukturelemente im Schlußgebet des "Linzer Antichrist" , das aus nur zwei Komponenten, einem Anliegen und einer Schlußformel, aufgebaut ist: 68,12
nu bite hiute das
15 uns daz
unt
got
mit
unser mit
daz
hiute, vurdermal,
ane
gebe
ze dem
20 daz
wir
alle
daz
twal
gemuote,
rehter seibin
demuote degedinge
iegelicher
rehter edit wir
bringe
anedaete gewaete
in den
nu spreahin
doufin
alle
namen.
AMEN.
Hier beruht der Umfang nicht auf Variation, sondern der Verfasser formuliert so umständlich, daß er zehn der elf Verse braucht, um sein Anliegen überhaupt auszusprechen (68,12-21). Die stilistischen Mittel, ein Gebet von elf Versen über ein einziges Anliegen eindringlich zu gestalten, stehen ihm nicht zu Gebote. Er spricht vornehmlich in abstrakten Begriffen (das Bild des Taufkleids ist die einzige Metapher); überdies behindert die unübersichtliche Syntax den Mitvollzug des Gedankengangs. Kaum geschickter nutzt Ava die vier Langverse ihrer Bitte um Fürbitte am Ende des "Jüngsten Gericht": 35,4
nu bitte swer
dize
umbe
den
iah
iuah
buoah
gemeine,
lese,
miehel
daz
er siner
Sohnes) sele einen,
der
noch
unde
lebet
(d.h. des
gnaden unde
chleine, verstorbenen
wunskende
er in den
wese. arbeiten
strebet, dem
wunsket
gnaden
und
der
muoter,
daz
ist
AVA.
Die Bestimmung der Fürbitter (4a-5a) bleibt formelhaft und wirkt zum Teil (4b) füllversartig. Unbeholfen ist auch die Trennung der Bitten für den verstorbenen und für den lebenden Sohn, da beide auf die Formulierung 'Gnade wünschen1 (5b, 7a) hinzielen
1779 Von den letzten Dingen (Linzer Antichrist) (Religiöse Dichtungen, Bd. 3, S. 361-427).
Frühmittelhochdeutsche Dichtung
497
und der Wiederholung dieser Wendung keine stilistische oder rhetorische Funktion zukommt, denn sie wird nicht durch eine
syntak-
tische oder formale Parallele unterstrichen. Vielleicht ist es nicht zufällig, daß gerade hier Avas dichterisches Vermögen nicht zur Geltung kommt. Die vorsichtige, sich an Formelhaftes und Gängiges haltende Sprache kann Folge des Bemühens sein, über sich und ihre Söhne zu reden, ohne das Gebot der Demut, das sich am Schluß eines Werks über das Heilswirken Gottes besonders
scharf
stellt, durch eine zu selbstbewußte Sprache zu verletzen. Avas Vorsicht wäre um so verständlicher, als vor ihr kein deutschsprachiger Dichter ähnlich persönlich über sich und seine Angehörigen gesprochen hat 1 ^®^ 1 . Aus nur zwei Strukturelementen, einer Bitte um die Gnade rechten Betens und ihrer Begründung, besteht das Schlußgebet des anonymen Gedichts "Von der Siebenzahl"
83 Nu biten
wir den vater
daz er unser 85 der Petre
ruoah
zem erist
daz er vergeben herre,
ze
sibenzeo
not
sibenvalten gewise
in des arefte ze verlazen
stunt,
gaist,
gerise.
so ist der
die sunde
der di riwegen
siben
waist,
sent uns dinen
daz dir
gnaden,
ahunt,
der unser muot 90 ze bittene
:
gnaden,
tete
soolt
du der unser
der
1781
gewalt
maniohfalt,
Marien
tröste,
dor sie von den siben
tiufelen
loiste
1 782
Der Begründung des Anliegens dienen, auch wenn dies nicht sprochen wird, die beiden auf Christi hinweisenden Heptaden
ausge-
Vergebungsbereitschaft
(85f., 93f.).
1780 Ein weiteres kurzes Gebet Avas beschließt den Hauptteil des Gedichts:
34,7 in der selben ruowe,
nu weset vil wot gesunde dar muozet ir chomen. Amen.
Angesichts der Kürze dieses Gebets für das Publikum ist Avas relativ ausgedehnte Bitte um Fürbitte für sich und ihre Kinder um so gewagter. 1781 Von der Siebenzahl (Kleinere deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 86-91). 1782 Die Verse 91-94 sind, obwohl in ihnen keine Anrede Gottes mehr erscheint und die Herausgeber sie als selbständigen Satz auffassen, zweifellos noch Teil des Gebets, denn sie schließen an die zweite Formulierung der Bitte (87-90) in derselben Weise an wie die Verse 85f. an die erste Version (83f.). Wegen dieser strukturellen Parallele wäre es sinnvoller, nach 90 statt eines Punktes nur ein Komma zu setzen.
498
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
Ein einziges Gebet des zweiten Typs, das am Ende der Summa 1783 theologiae , ist ganz dem Gotteslob gewidmet: 315 herro, di dir dinint, wi mugin wir dir
der von sundin was du dir wesin woltis unsir burdin
nu hastu,
richi:
gilonin?
du dir nidir ginigi
320 dragint
ist daz
uf si hevini den man, givallin, unsir
ginoz,
so groz,
herre, dinin miltin
allin dinin holdin zi vrowidi
rat bracht,
daz dih, unsir irlosceri , alliz daz lobi, swaz dir ist undir deme himili jooh dar obi.
Ein einziges Strukturelement, der Lobpreis, bestimmt alle zehn Verse. Mit seinen ausdrucksstarken Bildern (317f-, 320, 321 f., 324) setzt das Gebet dem Werk einen feierlichen Schlußpunkt. Daneben schwingt in den letzten vier Versen deutlicher als zuvor eine didaktische Absicht mit: Da Gott die Erlösung vollbracht hat, damit (daz, 32 3) die ganze Schöpfung ihn preist, ist auch das Publikum zum Gotteslob aufgerufen. Wie sich zeigte, weisen die Schlußgebete des Typs II keine größere Zahl inhaltlicher Komponenten auf als die der ersten Gruppe^®^, sondern sie behandeln dieselben Gedanken ausführlicher, indem sie begründen, variieren oder auch nur unbeholfen 1785
formulieren . Erst im sehr langen dritten Typ nimmt die Zahl der Strukturelemente zu. Zugleich erhöht sich die Bedeutung des Gotteslobs. Drei der vier Gebete der dritten Gruppe, die Schlußgebete zu "Ezzos Gesang", zur "Siebenzahl" des Priesters Arnold und zur "Rede vom Glauben" des Armen Hartmann, haben lange preisende Passagen; nur in Albers "Tnugdalus" fehlt der Lobpreis. In "Ezzos Gesang" nimmt das Lob die Hälfte des langen Schlußgebets (Str. 31-34) ein. Nachdem der Heilsbericht mit dem Kreuzestod Christi (Str. 29) und der Vergegenwärtigung seiner Bedeutung für die Kirche (Str. 30) auf den Höhepunkt geführt ist, beginnt das Gebet mit einem Preis des Kreuzes:
1783 Kleinere deutsche Gedichte, Bd. 1, S. 27-42. 1784 Auch die Gebete des Typs II überschreiten kaum je die Zahl von drei Strukture lementen. 1785 Zum Typ II gehören ferner die Schlußgebete zum "Lob Salomos" (251-58) und zu dem Gedicht "Von den fünfzehenn zaichen vor dem iungesten tag" (hg. von EGGERS, 302, 319-24). Hinsichtlich der Zahl ihrer Baukomponenten unterscheiden sie sich nicht von den behandelten Gebeten.
Frühmittelhochdeutsche Dichtung
31
371 0 crux aller
benedicta, holze
besziste,
an dir wart
375
gevangen
der gir
Leviathan.
lip sint
dine
den
499
este,
lip irnereten
ja truogen
din
di bürde an dich
an
wir
dir.
este
himelisce. floz
380 din wuocher
daz frone ist suzze
da der mite manchun
wante
irloset
allez
pluot. unte
guot,
ist
daz der
ist.
Die nächste Strophe lobt steigernd Christus selbst für sein heilbringendes Leiden. Erst in ihren letzten Versen (390-94) ergibt sich aus dem Lobpreis eine vergleichsweise sehr kurze Bitte. Mit der dann folgenden Strophe ändert sich der Ton leicht: 33 395 0 crux
salvatoris,
du unser disiu min
segelgerte
bist,
werlt
elliu
ist daz
trehtin
segel
unte
diu rehten
werch
400 diu rihtent der segel
der vuoret 405 himelriche da sculen
unser
segelseil,
atem unsih
geloube,
wole.
ist der
wint,
an den rehten
ist unser wir
heim.
der ware
uns der zuo
der heilige
vere,
uns di vart
deist
der hilfet
meri,
lenten,
sint.
heimuot, gote
lob.
Trotz der einleitenden preisenden Apostrophe wirkt diese Ausbreitung theologischen Wissens mehr wie ein Credo als wie ein Lobgebet. Die tropologische Deutung des gekreuzigten Christus auf den Beistand, den der Gläubige im Leben erfährt, demonstriert das feste Vertrauen des Beters auf das am Kreuz wiedergewonnene Heil. Auch die nächste Strophe, die letzte des Gedichts, hat den Charakter eines Bekenntnisses. In ihr zeigt der Beter seine Vertrautheit mit dem schwer zu fassenden Trinitätsgeheimnis. Mit dem Schlußgebet aus Lobpreis und Credo rundet sich die Form des Werks. Thematisiert der Hauptteil Gottes Heilsangebot an die Menschen, so bildet das Schlußgebet die exemplarische Antwort eines Gläubigen auf das Geschenk der Erlösung. Stellvertre-
500
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
tend auch für sein Publikum zeigt der Beter, daß er die christliche Lehre kennt und sie in seinem Leben zu befolgen bemüht ist. Die Heilsgewißheit ist so groß, daß die Möglichkeit einer Gefährdung gar nicht in den Blick tritt. Bitten sind deshalb beinahe entbehrlich. Zwar verzichtet der Beter nicht völlig auf ein Gebet um Leitung zum ewigen Leben (390-94; die kurzen Bitten 414 und 420 bleiben ganz formelhaft), aber es richtet den Blick ganz auf die schließliche Vereinigung mit Gott und erwähnt die Möglichkeit des Fehlgehens mit keinem Wort. Noch eindeutiger dominiert der Lobpreis am Ende von des Priesters Arnold "Siebenzahl", wo von 103 Gebetsversen 96 (Str. 521786 58a ), dem Preisgebet gewidmet sind. Arnold beschreibt zunächst den täglichen Gottespreis der Mönche (Str. 52). Dann schildert er, wie die gesamte Schöpfung von den Engeln bis hinab zu Hölzern und Steinen Gott lobt (Str. 53-57), und preist schließlich den Heiligen Geist für sein lebenerhaltendes und lebenspendendes Wirken im Menschen (Str. 58-58a). Arnolds Gotteslob beeindruckt durch sein Streben nach Vollständigkeit; ausgehend vom Menschen und wieder zu ihm zurückkehrend, bezeichnet er die Stelle jedes Geschöpfes im kosmischen Hymnus. Die rhetorische Durchformung unterstreicht die eindrucksvolle Geschlossenheit des Gebets: 53,
1 Nu loben dich, sol et
der sunne
jouoh
die Sternen 5 unte
trehtin,
holz unte loben diah,
diu
sa
manin,
loben diah unter
loben dich,
trehtin,
in.
über
al
steine trehtin,
eine
unte al daz uf der erde 10 laudate
aver
luna,
dominum
in
ist.
excelsis!
Wie in dieser macht in allen Strophen über den Lobgesang der Schöpfung die vielfache Reihung zweigliedriger, also in sich selbst noch einmal aufzählender Elemente die unendliche Zahl der Gott preisenden Geschöpfe ahnbar. Der sich aus der Reihung ergebende syntaktische Parallelismus evoziert, wie alle Kreaturen 1786 In den Strophen 58 und 58a spricht Arnold vorübergehend in der Er-Form über Gott. Aber da er am Ende von 58a, ohne daß ein inhaltlicher Einschnitt vorherginge, wieder zum Du übergeht (58a,16), sind diese Strophen als Preisgebet in der Er-Form und nicht als Darlegung ohne Gebetscharakter aufzufassen.
Frühmittelhochdeutsche Dichtung
501
ohne Unterschied Gottes Lob singen. Parallelismen der
Strophen-
eingänge und -schlüsse treten hinzu. Die Strophen 52-57 beginnen (mit geringen Abweichungen in 52 und 56) alle mit dem Vers Nu loben
dich,
trehtin,
aver
sa. Die Schlüsse wechseln
zwischen den feierlich-ernsten te dominum exaelsis
de celis
regelmäßig
lateinischen Aufforderungen
(52,20, 54,10, 56,8) und laudate
lauda-
dominum
(53,10, 55,10). Die Geschlossenheit dieser
in
Komposition
betont die Universalität des Preisgesangs; es gibt kein Außerhalb, das an ihm nicht beteiligt wäre. In den Strophen, die Gott für sein Wirken im Menschen (58, 58a), setzt Arnold zunächst auf einen anderen
58, 6 sine über
gnade
ist manigeve
unsioh
mennisaen
von ime so pir wir
slahte arme:
varwe, marwe,
von ime so pir wir
gruone,
von ime so pir wir
ohuone,
von ime so pir wir
scone
in hüte
jouch
in
Parallelismus:
warme,
von ime so habe wir 10 von ime so pir wir
preisen
hare.
Er läßt die gänzliche Ergriffenheit des Gläubigen von- Gott deutlich werden. In der nächsten Strophe kehrt Arnold dann wieder Verkettung zweigliedriger Elemente
58a,
5 von ime das wir sehen
unte
stinohen
ruoren,
unte
smaohen,
unte
wachen,
loufen
unte
springen,
10 sagen
unte
singen,
liken
unte
leinen,
suften
unte
weinen,
sizzen
unte
stanten.
mit fluozen
joch
libe jouch
so lobe wir
zurück:
gehören,
slaven
15 mit
zur
mit
mit
hanten,
sele
den dinen
geist
trehtin
herre!
Arnolds feierliches, überlegt gebautes und rhetorisch
effektives
Schlußgebet, das im Frühmittelhochdeutschen ohne Parallele
ist,
wirkt als Ende dieses Werks inadäquat. Denn entgegen dem von Maurer im Anschluß an Mohr, de Boor und schon Diemer
gewählten
502
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
SCHLUSSGEBETE
Titel "Loblied auf den Heiligen Geist" ist Arnolds trockene Anhäufung von Fakten über das Wirken Gottes - nicht durchweg des 1787 Heiligen Geistes - kaum als Preislied aufzufassen. Der gehobene Ton eines Lobpreises fehlt ihm völlig. Es verfolgt wohl eher didaktische Absichten. Auch stilistisch besteht zwischen Hauptteil und Schlußgebet ein Widerspruch, denn der Hauptteil zählt beinahe chaotisch beliebige, nur assoziativ miteinander verbundene Details des göttlichen Wirkens auf und ist von rhetorischer oder stilistischer Formung, wie sie das Schlußgebet auszeichnet, weit entfernt. Dadurch wirken die Lobstrophen, als wäre ein ursprünglich selbständiges Gedicht dem Werk nachträglich angefügt worden. Für eine ursprüngliche Selbständigkeit des Gotteslobs spricht auch, daß die zwei ihm noch folgenden Strophen nicht aus ihm hervorgehen, sondern hart anschließen. Die erste (Str. 59) nennt den Namen des Verfassers und klagt über die mangelnde Glaubensfestigkeit der Christen. Die zweite spricht über das Jüngste Gericht und schließt daran die Bitte, der Verfasser möge mitsamt den Rezipienten am Jüngsten Tag in die Seligkeit aufgenommen werden (59a,16-22). Anders als in "Ezzos Gesang" und in Arnolds "Siebenzahl" ist das Verhältnis von Lob und Bitten am Ende der "Rede vom Glauben" des Armen Hartmann ausgeglichen: 19 Langversen Gotteslob (Str. 200-02) stehen 17 Langverse Bitten gegenüber (Str. 196-97). Da Hartmanns Gedicht einen starken Akzent auf die Gefährdung des Heils durch die Sünde legt, ist der relativ große Anteil von Bitten natürlich. Darin, daß diese die Rezipienten nicht miteinbeziehen, liegt eine Bescheidenheitsgeste gegenüber dem Publikum, das Hartmann nicht geradezu als Versammlung von Sündern charakterisieren will. Große Teile des Gebets (die ganze Strophe 196) sind aber trotz der Ich-Form so allgemein formuliert, daß sich jeder Hörer oder Leser mit den Bitten um das ewige Heil identifizieren kann. Auch Hartmanns Lobgebet setzt in der Ich-Form ein, und wieder sind die Anliegen dennoch so allgemein, daß sich jeder Rezipient ihnen anschließen kann. In der zweiten Strophe (Str. 201) geht der Lobpreis dann ganz explizit zum Gemeindegebet über, das schließlich im gemeinsamen Gebetsruf deo dioamus gratias (202,6b), dem letzten Vers des Werks, gipfelt. Neben seinen Gebetsintentionen verfolgt Hartmanns Schlußgebet eine rezipientenorientierte Nebenabsicht. Sie ist für den großen Umfang verantwortlich:
1787 Und auch nur teilweise anhand der Auslegung von Heptaden; der Titel "Von der Siebenzahl" ist also ebenso unglücklich wie MAURERS Bezeichnung.
503
Frühmittelhochdeutsche Dichtung
196,
1 Gnaedic
herre,
heilige
Crist,
du da aller
di siah
gnaden
so dir versehent
unde
der trost
in dinen
namen
bist, vaste
jehent. diner
gnaden
bit iah dich,
das du mir gebis 5 mit
dinen
di dich
lieben
begonden
di ir geloubin di dir wole di dich
10 den ir sunde von dinen
daz heil,
haben
teil
wolden;
minnen
mit allen
sinnen,
vorhten
gnaden
daz ich muze
mich!
die dir dienen
an dich
wart
der gewere
holden
habetin,
getruwetin,
herre
herre
gute
vergeben, hant
ir note
ir sunde unde
besessen,
iren
sich dinc
dir
geruwetin, worhten;
di den ewigen herre,
clagetin;
leben
du geruch min
nit
ouch vergessen!
Die aufeinanderfolgenden Bitten um Gottesliebe (6), Glauben (7) , Gottvertrauen in der Not (Ii.), Reue (8), Gottesfurcht (9) und Kraft zu guten Taten (9) als Voraussetzung der Vergebung und des ewigen Lebens (10f.) fassen die wichtigsten Aussagen des Hauptteils noch einmal zusammen. Im Lobgebet greifen ganz ähnlich mehrere Verse die Erlösung der Gläubigen durch Christi Leiden und Tod, eine weitere wesentliche Aussage des Hauptteils, wieder auf (200,4f., 201,1.4, 202,3). Hartmann nutzt das Schlußgebet, um an einem Ort großer Aufmerksamkeit die wichtigsten Lehren seines Werks noch einmal vorzutragen. Bedingt durch diese didaktische Nebenabsicht ist der Ton rational, fast argumentativ. Stilistische Mittel zur emotionalen Intensivierung fehlen. Einziger Schmuck sind einige lateinische Verse (199,5f., 200,2, 202,6). Ganz aus Bitten besteht das Schlußgebet zu Albers "Tnugdalus". In diesem Gedicht, das das Schicksal des in Sünde Sterbenden in den grellsten Farben schildert, ist der Gedanke der Gefährdung des Heils so dominierend, daß die Erlösungshoffnung nicht durchdringt. Alber betet um Kraft zur Abkehr von der Welt und tut mit seiner zweifachen Confessio (66,32f.43f.) einen ersten Schritt zur Umkehr. Die Rezipienten sind, da alle Menschen der Gefährdung durch die Sünde ausgesetzt sind, ausdrücklich in das Gebet einbezogen. Schon am Ende des Hauptteils betet Alber in zwei stoßgebetartigen Ausrufen für sie um Bewahrung vor der Höllenstrafe (65,80) und um Führung zum ewigen Leben (65,84). Im Schluß erbittet er zunächst diese Gnade für den Veranlasser des Werks, den Windberger Mönch Konrad, und fordert dann das Publikum zur Fürbitte auf (66,23-31.37-42), um dieses Werk der Nächstenliebe sogleich mit einem Gebet für die Fürbitter zu beantworten (66, 46-51) .
504
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
Die Gebete des dritten Typs bauen sich aus vier bis sechs 1788 Strukturelementen auf . Sie besitzen also zwar mehr Komponenten als die der beiden kleineren Typen, jedoch nicht so viele, wie man aufgrund ihres beträchtlichen Umfangs erwarten könnte. Was für die Gebete des zweiten im Verhältnis zu denen des ersten Typs gesagt wurde, gilt ähnlich für die der dritten Gruppe im Vergleich zu den Gruppen I und II: Der viel größere Umfang beruht mehr als auf einer Zunahme der Anzahl der Strukturelemente auf ihrer eingehenderen Ausgestaltung in Reflexion, Begründung und intensivierender Variation. In vielen frühmittelhochdeutschen Schlußgebeten ist nicht erkennbar, ob allein der Dichter der
B e t e r
ist oder ob das
Publikum sich am Gebet beteiligt. Die Schlußverse der "Wiener Genesis" etwa, stn sele ist gote Zieh. / daz muozze si sin in ewin
nü unt
(3035f.), lassen hinsichtlich der Beter alles offen. Zwar
ist der Verzicht auf die genauere Bezeichnung des Beters im Typ I 1789 besonders häufig, doch kommt er auch in längeren Gebeten vor Gelegentlich gestatten die Anliegen Rückschlüsse auf die Beter. Wenn ein Anliegen so allgemein ist, daß es für alle Christen Geltung besitzt, dürften sich die Hörer dem Gebet selbst dann angeschlossen haben, wenn kein sprachlicher Hinweis hierauf deutet, vor allem, wenn 'wir alle' als Empfänger der erbetenen Gnade genannt sind. Die Beteiligung des Publikums ist offensichtlich, wo ein Gebet in der Wir-Form verfaßt ist. Wir-Gebete sind zahlreicher als Gebete des Dichters allein, denn die didaktische Intention der frühmittelhochdeutschen Gedichte drängt darauf, die geistliche Belehrung in einem abschließenden Gebet auch der Belehrten konkret werden zu lassen. Betet einmal nur der Dichter, so wird Gnade oft genug auch auf das Publikum herabgerufen wie in der "Vorauer Sündenklage" und im "Melker Marienlied". Dies gilt selbst, wenn ein Gebet so tief in den privaten Verhältnissen des Beters verwurzelt ist wie Avas Bitte am Ende ihres Gesamtwerks ("Jüngstes Gericht" 34,8). Ava betet allerdings außerdem auch 1788 Vier Strukturelemente: Ezzo (Lob, Credo, Bitte, Schlußformel); Arnolds Siebenzahl (Gotteslob durch die Mönche, Gotteslob durch die Schöpfung, Lob Gottes für sein Wirken im Menschen, Bitte). - Fünf Elemente: Armer Hartmann (Bitte, eingeschobener Abriß wichtiger Lehren, Übergangsteil, Gotteslob, extendierte Schlußformel). - Sechs Elemente: Alber (Gebet für die Rezipienten am Ende des Hauptteils, Bitte für den Auftraggeber, Confessio, Bitte um Fürbitte, Gebet für die Fürbitter, Schlußformel). 1789 Vor allem Lobgebete lassen, auch wenn sie länger sind, den oder die Beter manchmal nicht erkennen (Ezzos Gesang; Summa theologiae).
505
Frühmittelhochdeutsche Dichtung
für ganz spezielle Gebetsempfänger: ihre Söhne, von denen einer bereits verstorben ist. Ähnlich bittet Heinrich von Melk für den Abt Erchenfrid, Alber für den Windberger Mönch Konrad als den Anreger seines Gedichts 1790 . Nur selten, so im "Scoph von dem 1791 löne" und der "Rede vom Glauben" , betet ein Dichter ausschließlich für sich. Gelegentlich sind die Rezipienten zur Fürbitte aufgefordert. Nähere Bezeichnungen für Dichter und Publikum finden sich nicht 1792 oft. Die Beter erscheinen als Sünder , die dennoch Kinder Got1793 tes sind ; so sieht das Schlußgebet des "Linzer Antichrist" die Beter als Getaufte, aber noch nicht endgültig Errettete (68,14-21). vom Der Wilde beschreibt den Menschen als Motiv noch der 1794 . Mehrfach heimgesucht 'bösenMann Willen' steht das 1795 Gottferne des Diesseits (eilende) im Vordergrund . Ein positives Bild des Menschen zeichnet außer dem die Gefährdung durch die Sünde beinahe ganz überspielenden Schlußgebet Ezzos (31-34), das die Beter Gottes dinestman Summa theologiae als Gottes holdin
(393) nennt, nur der Dichter der
(32), der von den Gläubigen als schon Erlösten, (322), spricht.
Nur durch Selbstbezichtigungen glauben sich die Verfasser von den übrigen Christen absetzen zu dürfen. Heinrich von Melk bezeichnet sich als armen
chneht^^^^,
und auch in der "Rede vom
Glauben" steht die Armutsmetapher: ich
arme Hartmann
(197,4). Das
pejorative Attribut soll die Nennung des Verfassernamens kompensieren und die Dichter vor der Todsünde der superbia
bewahren.
Alber stellt zu diesem Zweck eine regelrechte Confessio
der An-
gabe seines Namens voran (66,43-45). Außer Heinrich, Hartmann und Alber gibt nur Ava ihren Namen an. Meist ist die Nennung an eine Bitte um Fürbitte gebunden, nur bei Heinrich von Melk steht 1 797 sie in einem Gebet des Dichters selbst Weitaus wichtigster
A d r e s s a t
ist erneut Gott. Das
Heiligengebet ist in frühmittelhochdeutscher Zeit selbst in Heiligenlegenden noch nicht üblich. Nur vier Schlußgebete erwähnen Heilige: Adelbrecht bittet Johannes den Täufer, im Leben 1790 1791 1792 1793 1794 1795 1796
unser
Von des todes gehugde 29,33; Tnugdalus 66,10f. Scoph von dem 18ne 27,8; Armer Hartmann, Rede vom Glauben. Von der Siebenzahl 87, 92. Hochzeit 1083, 1086. Van der girheit 15,1-5. Altdeutsche Exodus 3299; 15 Zeichen 321.. Von des todes gehugde 29,32. Ganz analog nennt sich der Verfasser der "Altdeutschen Exodus" einen sündigen man (3305). 1797 Auch die Namensnennung außerhalb des Gebets ist frühmittelhochdeutsch schon möglich, so bei Adelbrecht: ein priester hiez Adelbreht, er ist saalch unde ohneht / des heiligen mannes, sanati Johannes (18,3f.). Auch hier ist die Angabe des Namens von einer Demutsbekundung begleitet.
506
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
helfare und am Jüngsten Tag unser voget zu sein (18,8.10). Mit derselben Bitte wendet sich der Verfasser des "Trierer Ägidius" an seinen Titelheiligen (1750-52). Heinrich von Melk bittet Gott, um aller Heiligen und besonders um Marias willen sein Gebet zu 1798 erhören . Wie das ganze Gedicht bilden auch die letzten Verse des "Melker Marienlieds" eine Anrufung der Gottesmutter; sie soll beim Jüngsten Gericht für die Gläubigen eintreten (96-98). Das Gottesbild bleibt in zahlreichen Gebeten undeutlich. Viele 1799 nennen Gott nur pauschal got, herre oder trehtin . Wird Gott unter einem bestimmten Aspekt angerufen, so steht oft seine Güte im Mittelpunkt. Sie wird nicht im Sinne der Appropriationenlehre vorwiegend mit dem Geist in Verbindung gebracht, sondern gern als Eigenschaft Gottvaters gesehen, der etwa in der anonymen "Siebenzahl" vater der gnaden (83) heißt und dem in den "15 Zeichen" veterltche güete (320) zugeschrieben ist; entsprechend wendet sich die "Auslegung des Vaterunsers" an unseren
suozen vater
(242) . Der
Priester Arnold dagegen preist Gottvater vor allem als Herrscher über den Kosmos. Das Motiv der Weltenherrschaft verbindet sich nicht oft mit dem Gedanken an eine bestimmte trinitarische Per1800 son . Wenn dies geschieht, so ist in der Regel eher als Gottvater Christus angeredet: Mit großer Feierlichkeit in der "Vorauer Sündenklage" (845f.), beiläufiger in "Ezzos Gesang" und mit ganz besonderer Emphase beim Armen Hartmann, der Christus vierfach apostrophiert als rex regum ninge,
et dominus dominancium,
herre allir tuginde
/ keiser allir ku-
200,2f.).
Christus rufen die Schlußgebete häufiger an als die Eingangsgebete. Außer als Weltenherrscher erscheint er als Sohn Gottes^ ^ und vor allem als Erlöser. Sehr intensiv wenden sich.die 1802 1803 Summa theologiae und das "Ezzolied" an Christus, vor allem aber der Arme Hartmann, der den Gottessohn außer an der schon zitierten Stelle noch dreimal anruft: gleich im ersten 1798 Von des t o d e s gehugde 2 9 , 3 0 f . 1799 Wiener Genesis 3 0 3 5 ; Ava, Sieben Gaben 2 2 1 , 9 ; St. Trudperter Hohes Lied 1 4 8 , 6 ; Millstätter Reimphysiologus 1 8 0 , 5 ; Scoph von dem 16ne 2 7 , 6 ; Wernher vom Niederrhein, Vier schiven 3 2 , 4 . 6 ; Wilder Mann, Veronica 2 9 , 1 9 . Unter den mittellangen Gebeten beschränkt sich das Schlußgebet des "Linzer Antichrist" auf die ganz allgemeine Anrede Gottes {got, 6 8 , 1 4 ) . Und selbst eines der längsten Gebete spricht Gott nur in dieser ganz undifferenzierten Weise an: das am Ende von Albers "Tnugdalus" (got 6 6 , 1 6 . 2 9 . 4 7 . 4 9 ) . 1800 Nicht an eine bestimmte Person der Trinität geknüpfte Anrufungen des Weltenherrschers finden sich im Memento mori ( 1 9 , 1 ) , im "Lob Salomos" (251) und i n d e r "Rede vom Glauben" ( 1 9 8 , 3 ) . 1801 Anegenge 3 2 4 1 . 1802 323 unsir irlosceri. Das ganze Gebet wendet sich an Christus, der die Schuld der Menschen getragen und die Sünder erlöst hat. 1803 An Christus richtet sich die zweite der vier abschließenden Gebetsstrophen (Str. 32 = 3 8 3 - 9 4 ) . Zwei weitere Strophen apostrophieren das Kreuz (371-82, 395-406).
Frühmittelhochdeutsche Dichtung
Gebetsvers als Gnaedic
herre,
heilige
Crist
und trost
507 der Menschen
(196,1) später als herre Crist (200,1) und schließlich als ware got herre (201,5). An den Heiligen Geist richtet nur der Verfasser der "Altdeutschen Exodus" (3303-12) sein Gebet; einige andere Anrufungen erwähnen ihn 1 ®® 4 ; ein Beter erbittet seine A u s s e n d u n g 1 . Die Bezeichnungen für den Geist halten sich an die gängigen Übersetzungen der theologischen Fachtermini: Er heißt stets 'Heiliger Geist1, 'Gottes Geist' oder heiliger atem. Die übliche Bezeichnung für die gesamte Trinität lautet di namen dri 1 ®® 6 . Während viele Autoren im Werkeingang um Leitung durch Gottes Inspiration beten, hat nur das Schlußgebet der "Altdeutschen Exodus" den Dank für ihre Gewährung zum Anliegen: 3303 Iah sagen deme
gnäde
meiste
himeliskem
3305 der mich
geiste,
sundigen
in disen
stunden
der mich
des
des ich zime
gerte,
tütiskeme 1)
die urode an disem
stner tage
uernam,
gewerte,
daz ich mohte 3310 mit
man
chunden munde Hute hiute.
Daß gerade dieser Dichter für den glücklichen Abschluß des Werks dankt, kann angesichts der Intensität seiner Inspirationsbitte nicht überraschen. Sein Dankgebet besteht hauptsächlich aus Paraphrasen der Feststellung, das Werk sei nun mit Gottes Hilfe zu Ende geführt. Offenbar wollte er dem Dank durch eine gewisse Länge größeres Gewicht geben, hatte aber Mühe, die Verse gedanklich zu füllen. Das einzige weitere Dankgebet steht in der "Rede vom Glauben". Es ist wesentlich kürzer (202,4-6) und dankt nicht für die Werkvollendung, sondern für die Erlösung der Sünder. Beliebter als das Dankgebet ist das Gotteslob, das vor allem in langen Gebeten erscheint und von einem halben Langvers bis zu mehreren
1804 Wilder Mann, Christliche Lehre 11,28; Heinrich von Melk, Todes gehugde, 29,40; Ezzos Gesang 413; Priester Arnold, Siebenzahl 52,2, 58a,16; Armer Hartmann, Rede vom Glauben 201,6. 1805 von der Siebenzahl 88. 1806 Wilder Mann, Van der girheit 15,1; Ezzos Gesang 415; Priester Arnold, Siebenzahl· 52,3. Abweichende Formulierungen kennt der Arme Hartmann, der die lateinische Wendung trinus et unus benutzt (199,6) und von den göttlichen Personen als herren allirbeste spricht (201,6).
508
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
langen Strophen jeden Umfang annehmen kann^®^7. Sein Anlaß ist nie der im Dichten erfahrene Beistand, sondern immer Gottes Heilswirken an den Menschen. Die weitaus meisten Anrufungen im Schluß sind jedoch Bittgebete. Sie konzentrieren sich auf die Anliegen der gelingenden Existenz im Diesseits und der Aufnahme in das ewige Leben. Nur wenige Gebete begründen diese Bitten. Der Verfasser der anonymen "Siebenzahl" erinnert daran, daß Christus Petrus auftrug, siebenmal siebzigmal zu vergeben (83-86), und leitet daraus unausgesprochen ab, Gott müsse den Menschen wenigstens ebenso große Langmut entgegenbringen. Weiter beruft er sich darauf, daß der Heilige Geist 1808 Maria Magdalena von sieben Teufeln befreit habe . Der Dichter der "Hochzeit" führt an, daß Gott die Menschen als Kinder angenommen habe (1086). Deuten diese beiden Gebete nur an, daß der Mensch einen Anspruch auf Gottes Gnade habe, so sieht Ezzo Gott zur Hilfe verpflichtet: 32 383 Trehtin,
du uns
das du war
gehieze
verlizze.
385 du gewerdotest
uns vore
sagen,
swen du, herre, wurdest
irhaben
von der erde an daz oruoe, du unsiah
zugest zuo ze dir.
din martere
ist
irvollet:
390 nu teste, herre, diniu nu ziuah du, ohuniah
wort;
himeliso,
unser heroe dar da du bist, daz wir, dine
dinestman,
von dir nesin
gesceiden.
Aus Christi Versprechen, durch sein Leiden die Gläubigen zu er1 809 lösen , leitet Ezzo ganz explizit eine Verpflichtung Gottes zur Errettung ab. Christus soll sein den Menschen gegebenes Wort einlösen (390). Ezzo akzentuiert das biblische Heilsversprechen als im Gebet einklagbares Recht, als wäre über das Schicksal des Menschen bereits ein für allemal entschieden. Die Ausblendung der Gefährdung durch die Sünde trägt zur euphorischen Heilsgewißheit der Schlußstrophen maßgeblich bei. 1807 Millstätter Reimphysiologus 1 8 0 , 5 ; Anegenge 3 2 4 1 f . ; Summa theologiae 3 1 5 - 2 4 ; Ezzos Gesang 3 7 1 - 8 9 ; Priester Arnold, Siebenzahl 5 2 , l - 5 8 a , 1 6 ; Armer Hartmann, Rede vom Glauben 2 0 0 , 1 - 2 0 2 , 3 . 1808 9 3 f . Lc 8 , 2 . - Eine kurze nichtbiblische Begründung begegnet im Gedicht "Vom Rechte", wo die Gnadenhoffnung sich aus der Taufe herleitet ( 5 4 6 - 4 8 ) . 1809 I o 1 2 , 3 2 .
509
Frühmittelhochdeutsche Dichtung
Der Wortschatz für das ewige Leben bleibt weitgehend im Bereich gängiger Vorstellungen. Einige Gebete fassen die Seligkeit abstrakt als Gemeinschaft mit Gott^®^. Andere versuchen, die himmlische Herrlichkeit anschaulich zu machen, und sprechen über das 1811 nie erlöschende Himmelslicht, den Gesang der Engelchöre 1812 und die Speisung der Seligen , zeichnen die Seligkeit als Ort 1813 der Ruhe oder fassen die Details im Begriff 'ewige Schönheit'^®^ zusammen. Andere Anrufungen Dort wollen die im 1815 Kontrast mit dem Diesseits beschreiben: gibt es Ewigkeit keinen Tod , 1816 sondern ewiges Leben ; der Eingang in die Seligkeit bedeutet die Heimkehr aus der Fremde 1817 oder den Lohn für die Mühen der irdischen Existenz 1818 . Auch aus dem Gegensatz zum Schicksal der Verdammten können Evokationen des ewigen Lebens sich herlei1819 ten . Mehrfach begegnet schließlich die Bezeichnung 'Himmlisches Jerusalem'
.
Für das Leben im Diesseits bitten die Schlußgebete um Behebung 1821 der Unbeständigkeit der menschlichen Natur , um Erfüllung der 1822 Vaterunserbitten und um Aufnahme in die Gemeinschaft der Glaubenden 182 3. Etwas stärker bildlich sprechen die Bitten um BeWährung der Seele 1 8 2 4 , um Gotteskindschaft 1825 oder um ein gutes 1826 Ende in der Fremde der weltlichen Existenz . Die suggestivsten Bilder haben Ezzo (391f. nu ziuch herce
dar
da du bist)
du,
chuniah
himeliso,
/
unser
und der Autor des "Linzer Antichrist"
(68,12-22), der das Weltleben als Reise versteht, auf der das in der Taufe übergebene Kleid des Glaubens unversehrt bleiben muß. Die negative Formulierung der Bitte um ein gelingendes Weltleben 1810 Wernher vom Niederrhein, Vier schiven 32,8; Lob Salomos 254; Heinrich von Melk, Todes gehugde 29,36. Verwandt sind die Formulierungen 'Gott jetzt und in Ewigkeit lieb sein' (Wiener Genesis 3035) und 'von Gott in seinem Reich empfangen werden' (Scoph von dem löne 27,6) . 1811 vom Rechte 544. - Priester Arnold, Siebenzahl 59a,20-22. 1812 Wernher vom Niederrhein, vier schiven 32,9 da sal unsich der engile spisi
gisadin. 1813 1814 1815 1816 1817 1818
Ava, Jüngstes Gericht 34,8; Alber, Tnugdalus 66,20.40. Alber, Tnugdalus 66,21. Vom Rechte 543. Wilder Mann, Christliche Lehre 11,22. Altdeutsche Exodus 3298-301. Ezzos Gesang 418; Wilder Mann, Christliche Lehre 11,21; Alber, Tnugdalus
66,22. 1819 Vorauer Sündenklage 841-46; Alber, Tnugdalus 66,17-19. 1820 Deutung der Meßgebräuche 41,11; Lob Salomos 258; Altdeutsche Exodus 3301. 1821 Wilder Mann, Van der girheit 15,2-4. Ähnlich hofft Alber, daß seiner svnden galle. / Hie (...) zebreste (66,38f.). 1822 Auslegung des Vaterunsers 231-42. 1823 Wilder Mann, Veronica 29,17; Armer Hartmann, Rede vom Glauben 196,4f.
lOf. 1824 Memento mori 19,3. 1825 Hochzeit 1084. 1826 15 Zeichen 321f.
510
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
ist selten: Der Arme Hartmann bittet kurz, Gott möge ihn nicht vergessen (196,11b), und der Autor der "Hochzeit" hofft, Gott werde den Schlund der Hölle vor 'uns' versperren (1080-82). Wenig bemerkenswert ist der Wortschatz für das
B e t e n
.
'bitten', 'loben', 'danken' oder 'Dank sagen' und 'Amen sprechen' sind allgemein verbreitet. Die einzige Gebetsmetapher, 'singen' in der "Altdeutschen Exodus", ist durch den Kontext bestimmt, denn das Schlußgebet knüpft an an den Bericht vom Lobgesang des Moses und setzt sich dazu analog (3289-97). Das Gebet für einen anderen heißt 'ihm Gnade wünschen' 182 7 oder 'in jemandes gedingen . ,1828 sein'
An
F o r m e l n
begegnen neben dem beinahe selbstverständ-
lichen Gebetsschluß Amen manche weitere der
L i t u r g i e
entstammende Wendungen, die nicht selten lateinisch zitiert werden, um einer Strophe, dem Gebet oder dem ganzen Werk einen feierlichen Abschluß zu geben. Hierfür werden vor allem solche Ausdrücke benutzt, die auch in der Liturgie beschließende Funktion haben, besonders die Konklusion qui vivis et regnas per omnia 182 9 secuta seculorum oder ihre Teile . Liturgisch sind auch deo dioamus ritus date
gratias^^^, die Trinitätsformel pater et filius et spi1831 sanotus und die Strophenschlüsse Priester Arnolds, lau1832 dominum de celis und laudate dominum in exaelsis . Latei-
nische Einschiebsel, die nicht der Liturgie entstammen, finden 1 Ü-JT sich kaum . Ezzo und der Arme Hartmann fügen ihrem Gotteslob lateinische Lobverse e i n 1 8 3 4 . Ezzo verwendet überdies einen weiteren lateinischen Vers, um den Credo-Charakter seiner letzten Strophe durch einen Anklang an das Glaubensbekenntnis der lateinischen Messe zu unterstreichen 1835 . Nur im Memento mori dient 18 36 ein lateinischer Vers zur Eröffnung eines Schlußgebets über die Funktion von
B i b e l
berufungen zur Begründung
von Bitten wurde bereits gesprochen. In der Summa theologiae
be-
1827 Ava, Jüngstes Gericht 35,5.7. 1828 Armer Hartmann, Rede vom Glauben 197,1. 1829 Vorauer Sündenklage 846; Anegenge 3242; Heinrich von Melk, Todes gehugde 29,42; Ärmer Hartmann, Rede vom Glauben 199,5. 1830 Armer Hartmann, Rede vom Glauben 202,6. 1831 Wilder Mann, Christliche Lehre ll,27f. 1832 Priester Arnold, Siebenzahl 52,20, 54,10, 56,8; 53,10, 55,10, 57,8. 1833 Adelbrecht, Johannes Baptista 18,10 Johannes muoz unser voget sin in iudicio domine; Altdeutsche Exodus 3315f. des sol er iemmer haben gewis /
uon mir gloriam
laudis.
1834 Ezzos Gesang 371 0 arux benedicta, Rede vom Glauben 199,5f. suffioit
regnas / trinus
et unus
rex
395 0 crux salvatoris; Armer tibi bona voluntas qui vivis benediatus.
1835 Ezzos Gesang 410 pro nobis
crucifixion.
Trohtin,
chunic here
1836 Memento mori 19,1
nobis
miserere!
Hartmann,
et
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
511
steht das Gotteslob in einer Kurzrekapitulation der wichtigsten Heilstatsachen (315-24). Biblisch begründet ferner der Priester Arnold das Gotteslob im Stundengebet, indem er es auf David zurückführt 1837 . Feste B a u m u s t e r und zahlenkompositorische Strukturen fallen nicht ins Auge. Wo ein Gebet Bitte und Lob enthält, geht nicht selten die Bitte dem Lob voraus, doch sind auch andere 1838 Anordnungen möglich . Auch die Abfolge der Gebete des Dichters für sich und für andere Personen liegt nicht fest. Während Ava zuerst für ihr Publikum, dann für ihre Söhne (und zwar zuerst für den verstorbenen) und zuletzt für sich selbst betet, bittet Heinrich von Melk umgekehrt zuerst für sich, dann für den ihm persönlieh verbundenen Erchenfrid und erst danach für 'uns alle' 1839
2. Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit a. "Rolandslied" und Veldekes "Servas" Der 78 Verse lange Schluß des "Rolandslieds" enthält mindestens vier Gebetskomplexe mit zusammen 21 Versen; über den Gebetscharakter von fünf weiteren Versen ist nichts Eindeutiges auszusagen. Das erste Gebet steht gleich zu Beginn des Schlusses: 9017 Nu wnschen
wir alle
dem Herzogin daz im got
geliche
Hainriche lone.
Hier betet Konrad nur für seinen Auftraggeber, Heinrich den Löwen. Obwohl das Publikum sich anschließen soll, wird für Hörer oder Leser ebensowenig gebetet wie für den Dichter. Die folgenden Verse (9020-25) nennen die Verdienste, durch die Heinrich Gebetslohn erworben hat. Konrad macht ihn nicht nur für die Vermittlung des Stoffes, sondern auch für die darin angelegte geistige Süße1 sein Heilspotential, verantwortlich. Da auch die Herzogin bei der Vermittlung mitgewirkt hat, folgt ein Lobpreis des Fürstenpaares: 1837 Siebenzahl 52,10-12. 1838 Die Reihenfolge Bitte-Lob befolgen der Verfasser der "Altdeutschen Exodus" - der zusätzlich ein Dankgebet einschaltet, das den eigentlichen Hauptteil seines Gebets bildet - und der Arme Hartmann. Dagegen sind bei Ezzo die Bitten vom Lob bzw. Credo umgeben, eine Zweiteilung in einen bittenden und einen preisenden Teil läßt sich bei ihm nicht durchführen. 1839 Ava, Jüngstes Gericht 34,8, 35,4-7; Heinrich von Melk, Todes gehugde 29, 29-42. 1840 OHLY, Karl und Roland, S. 310.
512
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
9026 mit
den
nach
Hechten
werltlichen
werdent 9030
himil
si
unter
allen
da si
di
wizen
scaren
arbaiten gelaitet,
erweiten
ewigen
gotes
mandunge
kinden uinden.
Dieser Abschnitt schillert zwischen positiver Aussage und Bittgebet. Von seinem Inhalt her scheint er den Konjunktiv zu verlangen, denn sicher sein kann sich Konrad des ewigen Lohns für das Fürstenpaar nicht. Trotzdem spricht er im Indikativ, als sei über Heinrichs und seiner Gemahlin Aufnahme in das ewige Leben schon endgültig entschieden
^.
Danach entfaltet Konrad den Fürstenpreis über rund vierzig Verse im Detail. Heinrich hat sich für das Wohl des Reiches eingesetzt (9034) , er ist getriwe
unt
geware
(9038) , befolgt die
christliche Lehre (9055f.), besitzt sämtliche Tugenden und, als deren Konsequenz, ere
(9063). überdies ist er bereit, alles für
Gott hinzugeben (9066f.). Mit Gottes Hilfe besiegt er die Heiden und zwingt sie, sich zum Christentum zu bekehren (9045-49); damit 1842 macht er seine Sündenschuld schon im Diesseits gut . Der ausführliche Herrscherpreis mündet in ein Gebet: 9070
ze geriohte
er
im nu
an dem iungistin da got daz 9075
sin
er in
geriahte
er in
zu den
ewigin
dar
habe,
ze geriahte
sundir
umbe rufe
stat:
tage nine
uordere,
ordine gnaden, wir
alle
AMEN!
Nur theoretisch ist die Entscheidung über Heinrichs Schicksal nach dem Tode noch offen. Was ihm gebührt, ist tatsächlich nicht zweifelhaft. Die Gebetsgemeinde besiegelt Heinrichs Aufnahme in den Himmel durch ihr Amen und erkennt damit das im Fürstenpreis Gesagte als wahr an. Sind die ersten sechzig Verse des Schlusses dem Herzog gewidmet, so befassen sich die dann noch folgenden 18 mit dem Gedicht, 1841 In weniger an ein Gebet anklingender Form wird die Heilsgewißheit für Heinrich einige Verse später nochmals formuliert:
1842
9050 in sinem houe newirdet niemzr nacht, ich maine daz ewige licht: daz nezerinnit im nicht. Daß ze gerihte stan (9070) die Wiedergutmachung
der durch Sünde gegen Gott begangenen Schuld meint, zeigt OHLY, Beiträge, S. 120-22.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
513
seinem Verfasser und seinem Publikum. Dieser zweite Teil beginnt mit einer Bitte um Fürbitte für den Dichter: 9077
Ob iu daz
liet
so gedenoket ich haize
geualle,
ir min
alle:
der phaffe
Chunrat.
Aus Bescheidenheit spricht Konrad die Bitte um Fürbitte nicht offen aus, sondern impliziert sie nur im Wunsch nach 'Gedenken'. Nach einigen Bemerkungen über seine Arbeitsweise fordert er in den allerletzten Versen des Gedichts noch einmal zum Gebet auf: 9086
swer
iz iemir
der saol
zehelue
gesagen,
in der waren
ain pater
9090
hove
noster
minem
ze tröste
minne
singe
Herren,
allen
daz unsich
gotes
geloubigin
got an rechtem
daz uns an guten
werken
unt mahe
uns sin riche
tu autem
domine
seien, geloubin
nine
mache
ueste,
gebreste,
gewis.
miserere
nobis!
Die gesonderte Erwähnung Heinrichs (9089) erlaubt es, ihn aus dem Gebet um rechten Glauben und gute Werke 'für uns alle1 auszunehmen. Solche Bitten sind Heinrich, der alle christlichen Tugenden besitzt, unangemessen. Wie Gott Heinrich beisteht, darüber hat Konrad im Fürstenpreis gesprochen: Er ist sein Beistand im Kampf gegen die Heiden (9043f. , 9049). Nur darauf bezieht sich die Hilfsbitte für ihn. Die exakte Länge des Schlusses von Veldekes "Servas" ist unsicher. Läßt man alles Uberlieferte gelten, so umfaßt er 79 Verse, von denen 48 zu Gebeten gehören. Scheidet man alles aus, was Frings und Schieb wahrscheinlich zu Recht für unecht halten, bleiben 27 Verse, die ausschließlich dem Gebet gewidmet sind. Der Schluß setzt ein mit einer zweifellos echten ersten Anrufung des Heiligen: 6148 nu bidden dore
sine
wir den godes grote
61S0 dat he uns nine dore
einege
ende
uns sine
te godes
unse
genaden
drut
genade versmade crancheit, gerechtecheit brenge,
514
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
ende he uns 6155 ane unsen
gedinge
here Jesum
dat 'er uns
he'ne
te einen
Kirste,
gevirste
dat wir gebeteren want
SCHLUSSGEBETE
unse
der werelt
Zeven, hadde
gegeven
predekare
6160 ende te einen
dingare,
dat 'r unse bede
also
dat et uns in Staden ten ewegen
entfa sta
live
ende uns te tröste
blive.
Veldekes wichtigstes Anliegen ist die Bitte um Besserung aller Gläubigen, damit alle Christen (6158) zum Heil gelangen. Servas soll als Fürsprecher die erhoffte Gnade vermitteln. Er darf um diese Gnade gebeten werden, weil die vielen Wunder, die Gott durch ihn gewirkt hat, seine Helferrolle belegen, vor allem aber, weil ihm seine Heiligkeit gerade darum geschenkt wurde, daß er für die Sünder eintritt (6158-60). Nach einem wohl unechten Abschnitt (6165-96) folgt ein weiteres Gebet: 6197 Henria
de dit
berichte
ende in dutsahen ende alle di's 6200 ende helpe
dichte
heme
dar tu
baden
daden
ende alle den et lif was, di mute
der gude sente
ertosen
ende
alse si dit
entbinden, leven
6205 dat hen got mute vroude
Servas
ende eweah
enden, geven leven.
Amen.
Trotz der Namensnennung (6197) bleibt der Verfasser in die sich schrittweise erweiternde Gemeinschaft der Beter eingebunden. Anders als im "Rolandslied" spielen die Auftraggeber keine besondere Rolle. Sie werden nicht einmal namentlich erwähnt. Auch dieses Gebet ruft Servas als Gnadenvermittler an. Seine Fürsprecherrolle ist nun durch einen Appell an seine priesterliche Gewalt konkreter akzentuiert. Als Bischof kann er Sünden vergeben (6203) und damit eine Voraussetzung dafür schaffen, daß Gott den Betern das ewige Leben schenkt. Nur in einer Handschrift schließt sich
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
515
an dieses Gebet eine lange, wohl unechte Bitte des Verfassers um Fürbitte bei Servas und Gott an, die auch eine konventionelle Confeseio enthält Von den frühmittelhochdeutschen Schlußgebeten unterscheidet sich das des "Servas" durch die ausführlichere Anrufung des Heiligen. Im Frühmittelhochdeutschen blieb, selbst wenn sich wie im "Trierer Ägidius", in Adelbrechts "Johannes Baptista" oder im 1844 "Melker Marienlied" alle Hoffnung auf den Heiligen richtete, seine Anrufung relativ kurz. Allerdings setzt sich das Schlußgebet des "Servas" nicht so deutlich von den frühmittelhochdeutschen Gedichten ab wie die Anrufungen in seinem Eingang, wo die Stellung des Heiligen und vor allem die individuelle Inspirationsauffassung Veldekes entscheidend waren. Lag dort ein Unterschied der gedanklichen Substanz vor, so trennt die Schlußgebete nur die Intensität, mit der derselbe Gedanke gestaltet ist. Ähnliches gilt für das "Rolandslied". Unterschied sich sein Eingangsgebet von denen frühmittelhochdeutscher Werke durch seinen engen Bezug zum Hauptteil, so liegt der Unterschied der Schlußgebete im Grad der Intensität des Gebets für den Veranlasser, denn auch frühmittelhochdeutsche Dichter beten am Werkende mitunter für den Auftraggeber, jedoch bei weitem nicht so insistierend wie Konrad. Sowohl im "Rolandslied" als auch im "Servas" sind die Eingangsgebete in höherem Grade innovativ als die Schlußgebete . b. Legende und Bibeldichtung nach 1180 Die 76 Schlußgebete der Legenden- und Bibeldichtung nach 1180, deren Umfang relativ sicher bestimmbar ist, lassen sich mit einer Ausnahme vier Umfangstypen zuordnen: Typ I
unter 10 Versen
36 Gebete
(31 mit bis zu 6 Versen)
Typ II
11-20 Verse
18 Gebete
(11 mit 13-20 Versen)
Typ III
21-40 Verse
14 Gebete
( 9 mit 25-35 Versen)
über 50 Verse
8 Gebete
Typ IV
Das einzige keiner Gruppe einzuordnende Gebet - das am Ende von Heinrichs von Neustadt "Von Gottes Zukunft" 1845 - liegt mit 46 Versen fast genau mitten in der auffälligen Lücke zwischen den Typen III und IV. Am häufigsten ist mit knapp der Hälfte der Be1843 S. 216 (Handschriftliches 6206-26). 1844 Trierer Ägidius 1750-52; Adelbrechts Johannes Baptista 18,8-10; Melker Marienlied 96-98. 1845 Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft 8062-91, 8102-17.
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
516
lege der erste Typ; mit zunehmendem Umfang nimmt die Zahl der Gebete kontinuierlich
ab.
Betrachtet man die Mindest- und Höchstverszahl der Werke, die von Gebeten der einzelnen Typen beendet werden, so scheint
zwi-
schen Werkumfang und Länge des Schlußgebets keine Korrelation zu bestehen:
Werke zwischen
Typ II
Werke zwischen 401 und 16164 Versen*®^ 1848 Werke zwischen 762 und 36518 Versen 1849 Werke zwischen 390 und 12719 Versen
Typ III Typ IV
90 und 12406 Versen
1846
Typ I
Untersucht man dagegen die durchschnittlichen Werklängen, so ergibt sich doch eine gewisse Beziehung^
Typ I
:
durchschnittliche Gesamtverszahl des Werks
2000
Typ II
"
"
"
"
3000
Typ III
"
"
"
"
12000
Typ IV
"
"
"
"
4000
Wegen der großen Zahl herangezogener Gedichte ist diese Tabelle repräsentativ. Offenbar beschließen längere Gebete doch eher längere Gedichte als kürzere. Die umfangreichsten Werke neigen aber nicht zum längsten Gebetstyp, sondern viel stärker zum Typ III. Die drei abgesehen von den Legendenzyklen Werke - Ulrichs von Türheim "Rennewart" Langenstein
"Martina" 1851
(16704 Verse)
ausgedehntesten
(36518 Verse), Hugos von
(32682 Verse) und der "Laubacher
Barlaam"
- enden mit Gebeten dieses Typs. Deshalb und
wegen der nicht wenigen Ausnahmen, in denen kurze Gebete Gedichte beschließen und umgekehrt, muß die Beziehung
lange
zwischen
Werkumfang und Länge des Schlußgebets als nicht allzu scharf be1846 90 Verse: Gebetsbiographie der Heiligen Barbara (Geistliche Gedichte, S. 34-37), Schlußgebet 87-90; 12206 Verse: Stricker, Karl der Große, Schlußgebet 12204-06. 1847 401 Verse: Michel Schrade, In der prieff weyß ein legent der jünckfraw (BUSSE, S. 48-58), Schlußgebet 386-401; 16164 Verse: Rudolf von Ems, Barlaam und Josaphat, Schlußgebet 16144-64. 1848 762 Verse: Marter der Heiligen Margareta, Schlußgebet 739-62; 36518 Verse: Ulrich von Türheim, Rennewart, Schlußgebet 36488-518. 1849 390 Verse: St. Galler Gebet (BUSSE IV, S. 41-46), Schlußgebet 301-90; 12719 Verse: Brun von Schonebeck, Hohes Lied, Schlußgebete 12480-94, 12503-21, 12613-24, 12635-42, 12710-17. 1850 Legendenzyklen, die durch ihre extreme Länge das Ergebnis verfälscht hätten, sind in die Berechnung nicht einbezogen. 1851 Ulrich von Türheim, Rennewart, Schlußgebet 36488-518; Hugo von Langenstein, Martina, Schlußgebete 292,31-37.55-64.78-88; Bischof Otto II von Freising, Der Laubacher Barlaam, hg. von PERDISCH, Schlußgebet 16592-
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
zeichnet
517
werden.
Nur scheinbar eindeutiger ist das Verhältnis zwischen dem Umfang des Schlußgebets und dem des Eingangsgebets desselben Werks. Von den Gedichten, die ein über dreißig Verse langes
Eingangs-
gebet haben und ein Schlußgebet besitzen, weisen mehr als vier 1852 Fünftel auch im Schluß etwa dreißig oder mehr Gebetsverse auf , und analog zeigen 80% der Werke mit einem Eingangsgebet von weniger als zehn Versen im Schluß,1853 sofern sie ein Schlußgebet haben, weniger als zwölf Gebetsverse . Doch verstoßen einige Werke eklatant gegen diese Regel. Reinbots "Georg" hat im Eingang
35
Gebetsverse, im Schluß aber nur drei, und in der Kreuzesholzlegende Heinrichs von Freiberg lautet das Verhältnis sogar Vor allem aber existiert eine beträchtliche
Zahl von
die nur im Eingang oder nur im Schluß eine Anrufung
94:4.
Gedichten, besitzen^®^.
Daß ein geistliches erzählendes Gedicht weder Eingangsnoch 1855 Schlußgebet hat, kommt dagegen nur ganz selten vor Für die Klärung der Frage eines möglichen
Zusammenhangs
zwi-
schen Umfangstyp und Entstehungszeit bietet es sich an, die mittelhochdeutsche
Zeit in drei Phasen einzuteilen, die von
1180-
1300, von 1300-1400 und von 1400 bis zum Ende des Mittelalters reichen. Diese Periodisierung
schafft nicht nur
vergleichbare
Zeiträume, sondern sie ist auch literarhistorisch begründbar: Um 1300 haben die sich als Nachahmer der Klassiker verstehenden
1852
1853
1854
1855
Dich-
626. - Die Legendenzyklen sind in einem eigenen Kapitel zu behandeln (s.u. S. 540-48) . Albert von Augsburg, Leben des heiligen Ulrich; Brun von Schonebeck, Hohes Lied; Daniel; Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde; Gundacker von Judenburg, Christi Hort; Heinrich von Neustadt, Von Gottes Zukunft; Hugo von Langenstein, Martina; Johannes von Frankenstein, Kreuziger; Lamprecht von Regensburg, St. Francisken Leben; Marter der Heiligen Margareta; Tilo von Kulm, Von siben Ingesigeln; Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden; Ulrich von Türheim, Rennewart. Alexius A; Alexius C (Sanct Alexius Leben, hg. von MASSMANN, S. 77-85); Von dem hilgen sunte Brandan; Heilige Elisabeth; Esdras und Neemyas; Friedrich von Saarburg, Antichrist-Rede; Udo von Magdeburg; Ursula (Geistliche Gedichte, S. 183-97). Ein teilweise sogar langes Eingangsgebet, aber kein Schlußgebet haben zum Beispiel Heinrichs von Hesler "Apokalypse", Bruder Hermanns "Iolande von Vianden", Konrads von Fußesbrunnen "Kindheit Jesu", Ottes "Eraclius" oder Ulrichs von dem Türlin "Willehalm". Umgekehrt kein Eingangsgebet, wohl aber ein (manchmal auch längeres) Gebet im Schluß zeigen etwa "Sant Cecilia", Hartmanns "Gregorius", Konrads von Würzburg "Pantaleon" und "Silvester" sowie Rudolfs von Ems "Guter Gerhard". Diese Erscheinung findet sich frühmittelhochdeutsch im "Annolied" (hg. von NELLMANN) und im "Vespasian" des Wilden Mannes (Religiöse Dichtungen, Bd. 3, S. 532-50). In der Blüte- und Spätzeit verzichten die folgenden geistlichen Gedichte sowohl auf ein Eingangs- als auch auf ein Schlußgebet: Alexius Η (Sanct Alexius Leben, hg. von MASSMANN, S. 147-56); Das Marienleben der Königsberger Hs. 905 (hg. von HINDERER); Das Märterbuch (die einzelnen Legenden dieses Zyklus haben dagegen häufig Schlußgebete); Waldbruder (CLOSS, Weltlohn, Teufelsbeichte, Waldbruder, S. 106-19); Des
518
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
SCHLÜSSGEBETE
ter (Rudolf, Konrad, Ulrich von dem Türlin, Ulrich von Türheim, Ulrich von Etzenbach und andere) ihr Werk abgeschlossen; die Deutschordensdichtung, die die geistliche Literatur des 14. Jahrhunderts maßgeblich prägt, beginnt dagegen erst. Um 1400 ist auch die Ordensdichtung ausgelaufen; was danach noch an geistlicher 1856
Erzähldichtung produziert wird, hält sich an kleine Formen Nach dieser Periodisierung ergibt sich die folgende Aufstellung: 1180-1300
14. Jahrhundert
15. Jahrhundert
Typ ι
11
11
mindestens 5
Typ II
8
7
mindestens 1
Typ III
7
6
Typ IV
5
2
Für das 14. und 15. Jahrhundert können wegen der problematischen Datierung mancher kleiner Gedichte keine genaueren Zahlen genannt werden. Dennoch ergibt sich ein eindeutiges Bild. Es würde sich bei einer anderen Auswahl der Stichjahre (etwa 1350 statt 1400, wodurch das Gewicht der Ordensdichtung genauer faßbar würde) nur in den absoluten Zahlen, aber nicht im Verhältnis der Typen zueinander verschieben. Stets sind die kürzesten Gebete am häufigsten und die sehr langen am seltensten, während die mittleren Längen mäßige Beliebtheit besitzen, wobei Typ II immer etwas häufiger ist als Typ III. Bemerkenswert ist das Verschwinden des dritten Typs 1857
im 14. Jahrhundert; der letzte Beleg stammt von 1365 . Hiervon abgesehen hat der Umfang der Schlußgebete mit ihrer Entstehungszeit nicht viel zu tun. Ebensowenig wie ihre absolute Länge zeigt der Anteil der Gebete am Werkschluß signifikante zeitliche Änderungen. Insgesamt nehmen drei Fünftel mehr als die Hälfte des Schlusses ein, und in 30% der Fälle besteht der Werkschluß ganz aus Anrufungen. Dies ist besonders bei Gebeten der Typen I und IV der Fall. Gebete des Typs I sind dann wohl oft Verlegenheitslösungen: Wer am Werkende nichts mehr zu sagen weiß, rettet sich in ein kurzes Gebet. von Wirtemberk pueh, Fassung I (Des von Wirtemberk pueh, hg. von KELLER, S. 7-19). 1856 Natürlich sind auch andere Einteilungen denkbar. Ein Einschnitt beim Jahr 1220 hätte nahegelegen, doch hätte die kleine Zahl der bis dahin entstandenen Schlußgebete - nur vier - eine sinnvolle Interpretation des Befundes unmöglich gemacht. Angeboten hätte sich ferner die Mitte des 14. Jahrhunderts, die Zeit, zu der die Ordensdichtung ausläuft. Dadurch wären aber die einzelnen Phasen sehr unterschiedlich lang und schwieriger vergleichbar geworden. 1857 Kunz Kistener, Jakobsbrüder 1191-1202, 1209-30.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
519
Die weitaus häufigste Erscheinungsform des ersten Schlußgebetstyps ist das äußerst knappe, oft geradezu stereotype Gebet. Im Extremfall umfaßt es nur den einen Vers Got geb uns Amen.
seinen
segen!
Für diesen Gebetsruf vom Ende von Havichs Stephanuslegende
(5245) ist unentscheidbar, ob er vom Dichter oder von einem Schreiber herrührt. Das Gebet ist hier nur eine Pflichtübung; das Werk muß einen Schluß haben, und der Dichter oder Kopist greift zur einfachsten Lösung. Ähnlich verfahren viele andere Autoren: got gutes
vns
sinen
end.
hailigen
segen
send
/ vnd
verlieh
vns
allen
ain
Amen schließt die Legende "Die Sultanstochter im Blu-
mengarten" (399f.) ; ähnlich stereotyp heißt es im "Sibillen Buch" des
gunne
uns
got
alle
samen.
/ nu sprechent
mit
mir
in
godes
1858
namen amen helfe
got
oder noch einfacher in der "Teufelsbeichte" Daz uns
allen
glich
Amen1
Vom 15. Jahrhundert an been-
den solche Schlüsse auch die Prosalegenden und Prosaauflösungen von Versiegenden1®6^. Auch wenn der Werkschluß insgesamt recht lang ist, kann anscheinend das Gebet des Dichters bis zur Andeutung reduziert sein. An der Nahtstelle zwischen Hauptteil und Schluß heißt es in der "Guten Frau" 1 8 6 1 : S048
in
gotes
Des bite
namen ich
ämen. sündaere.
nu hän ich
ditze
vollebräht
an die
maere stat
-
Vers 3048 beendet den Hauptteil 'in Gottes Namen'. Im folgenden Vers beginnt der immerhin zehn Zeilen lange Schluß mit einer Bitte, die in ihrer äußersten Kürze sogar auf die Nennung des Anliegens verzichtet. Man könnte an eine Abkürzung denken, die der Leser oder Vortragende sinngemäß mit geläufigen Schlußgebetsmotiven zu
1858 Sibillen boich (Geistliche Gedichte, S. 291-332) 1039f. 1859 Teufelsbeichte (CLOSS, Weltlohn, Teufelsbeichte, Waldbruder, S. 92-106) 237. 1860 So heißt es ganz knapp am Schluß einer Prosa-Crescentia: Alzo Vordynten
alle
unses hern gotes hulde.
Dy vorlye
uns der heylige
geyst.
Amen. (Alt-
deutsche Blätter, hg. von HAUPT - HOFFMANN, Bd. 1, S. 308). Nur wenig ausführlicher schließt das Volksbuch von Sankt Brandan mit den Wünschen Nun süllen wir in (Brandan) bitten, das er auch got für uns pit, daz unser
leben zuo einem guotten end pracht werde. Das helf uns der vatter der sun und der heilig geist. (Von sand Brandon ein hübsch lieblich lesen . .. , Sanct Brandan, hg. von SCHRÖDER, S. 161-96, hier S. 192,25-27). Johannes' von Hildesheim Verslegende über die Drei Könige hat nach einem einversigen Schlußgebet für die Stadt Köln (3522 De stat van Collen moit got bewaren) eine lange Prosa-Apostrophe an diese Stadt, die mit einem Gebetswunsch in Prosa schließt: dat dir dat / möge gescheyn Vnd de heilige
drijvaldicheit anseyn mit / volkomende seylicheit, des verleyn vns der vader vnd / der sun vnd der heylige geist. / AMEN (3540-44).
allen Alle die-
520
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
ergänzen hätte. Doch so kann der Vers nicht gemeint sein, sonst könnte er nicht auf die folgende Zeile reimen. Eine Erklärung für den seltsam fragmentarischen Charakter dieser Bitte böte die 1862 Annahme, daß zwischen 3048 und 3049 ein Vers ausgefallen ist So wie sie überliefert ist, bildet die Bitte den seltsamen Fall eines bis zur Unverständlichkeit verkürzten Gebets. Mit seinen über 3000 Versen belegt das Gedicht von der "Guten Frau" zugleich, daß sich extrem knappe Schlußgebete nicht nur in ganz kurzen Werken finden. Noch viel deutlicher wird dies im "Karlslied" des Strickers, von dessen über 12000 Versen nur drei dem Schlußgebet angehören: 12204
nu
helfe
uns
daz
wir
wie
sante
got
durch
ewecltche Karle
stne
mtiezen st
tugent,
sehen,
geschehen.
Hier zeigt sich auch, daß selbst kürzeste Gebete einen didaktischen Nebensinn verfolgen können. Denn der Schlußvers hat auch das Ziel, den Rezipienten die Heiligkeit Karls durch das Beiwort sant im betonten letzten Vers noch einmal einzuschärfen. Selbst wenn das Karlslied anläßlich der Wiederaufnahme des Karlskults in Aachen 1215 oder seiner Begründung in Zürich 12 33 entstanden 186 3 ist , sollte es doch über diesen Verwendungskreis hinauswirken. Zwar läßt sich der Stricker die Gelegenheit entgehen, die Heiligkeit des Kaisers durch ein Gebet zu ihm zu demonstrieren. Aber seine Beweisführung ist trotzdem effektiv: Im ewigen Leben werden sich auch die Zweifler mit eigenen Augen von Karls Heiligkeit überzeugen können. Auch der anonyme Verfasser des Gedichts "Der Wirtemberger"^ nimmt die Gelegenheit wahr, am besonders aufmerksamkeitsträchtigen Werkschluß auf den Kern der Erzählung zurückzukommen: 628
Got
überheb
Als
dem
Do
aller
uns
freulein sein
sulch was
leijp
schwaer, bekant, brantl
se Prosagebete sind ganz konventionell und austauschbar. 1861 Die gute Frau, hg. von SOMMER. 1862 Theoretisch denkbar wäre, daß das Oes am Anfang des Gebetsverses auf etwas am Schluß der Erzählung Berichtetes zurückverwiese, etwa die Aufnahme der Heldin ins ewige Leben, die dann der Beter auch für sich erflehte. Aber die letzten Verse des Hauptteils erzählen nichts, was Gegenstand eines Gebets sein könnte. 1863 WEHRLI, Geschichte, S. 467. 1864 Der Wirtemberger (Des von Wirtemberk pueh, S. 20-36).
521
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
Die Bitte nutzt dieser Autor geschickt zum Zitieren des im Mittelpunkt der Erzählung stehenden und ihre homiletische Effektivität gewährleistenden Bildes für die Furchtbarkeit der Höllenstrafe . Wie im "Karlslied" steht auch in Reinbots "Georg" ein kurzes Gebet am Ende eines mehrere tausend Verse langen Gedichts: 6132 von himel
richer
herre
du sott
ir
beider
und gip
in
AbrahSmes
got,
sampt
pflegen,
segen.
Die Auftraggeber, deren Heil das ausschließliche Anliegen dieser Bitte ist und die auch in den nicht gebethaften Schlußversen im Mittelpunkt stehen, bildeten schon das Hauptthema des Eingangs. Wie der Werkbeginn will sie auch der Schluß besonders ehren. Die Bitte ist hieran maßgeblich beteiligt, denn der völlige Verzicht Reinbots auf ein Gebet für sich selbst läßt das Herzogspaar als alleinige Gebetsempfänger um so heller erstrahlen. Um seine Auftraggeber auch durch die Sprache zu ehren, bemüht sich Reinbot um Individualität sowohl in der Anrede Gottes als auch in der Formulierung der Anliegen, die genau auf das Herzogspaar zugeschnitten sind: Das Gebet um Gottes Hilfe für sie beide betont ihre Gemeinschaft, während die Bitte um 'Abrahams Segen' ihnen Kinderreichtum und damit den Fortbestand des Herzogshauses 1865 wünscht . An der Konzentration der Segenswünsche auf das Herzogspaar stieß sich offenbar der Schreiber der Handschrift 1866W, der das Gebet um eine Bitte für alle Gläubigen ergänzte . Die genaue Abstimmung der Anliegen auf die Auftraggeber hat dieser Schreiber nicht erkannt, sonst hätte er die Bitte um 'Abrahams Segen' nicht einfach auf alle Gläubigen ausdehnen können. Außer Reinbot betet nur Konrad von Würzburg im Schluß allein für den Auftraggeber, so im "Pantaleon": 2150 die
diz
getihte
haeren,
und swer die
marter
sin
verneme,
die
wünschen
heiles
alle
deme
der
diz
wera gefrumet
hät.
1865 Gen 12,2 Faciamque te in gentem magnam, et benedicam tibi
-
1866 S. 231. Der Schreiber fügt nach dem letzten Vers Reinbots die folgenden
Zeilen zu: Vnd den di dir getrauen wol. / Wan du pist
tugent und tre-
uen vol. Inhaltlich wie sprachlich stellen sich diese Verse zu den blassesten Gebeten des Typs I und damit in Gegensatz zu Reinbots Schlußbitte.
522
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
SCHLUSSGEBETE
Diese Gebetsaufforderung wirkt seltsam unbeteiligt. Zwei der vier Verse wendet Konrad für die tautologische Bezeichnung der Hörer auf, so daß nur die letzten zwei für die Bitte bleiben. Ganz anders als Reinbot zeigt Konrad kein Bemühen um eine besondere Sprache. Auffällig ist, daß er selbst nicht mitbetet. Ihm liegt das Heil seines Stoffvermittlers, des Baseler Bürgers Johannes von Arguel, nicht sehr am Herzen, ganz im Gegensatz zu Reinbot, der sich geradezu als 'Dichter des Herzogspaars' (6130) versteht. Erwächst Reinbots Werk seiner Darstellung der Beauftragungssituation nach (19-70) aus einer persönlichen Bindung von Dichter und Mäzen im Dienste einer gemeinsamen heilverheißenden Unternehmung, so entspringt Konrads Legende ganz anderen Interessen. Sie erklären, warum die Bitte für den Auftraggeber so blaß und distanziert bleibt. Die reale Grundlage des "Pantaleon" ist ein Geschäft. Für sein Geld, das so unverblümt wie in keinem anderen Eingang oder Schluß beim Namen genannt wird (2144 stner miete Ιδηβ) , kann der Auftraggeber verlangen, durch Bekanntgabe seines Namens geehrt zu werden - Konrad tut das penibel (2140f.) -, seine Verdienste um das Werk gewürdigt zu sehen (2142-49) und ein Gebet zu erhalten. Bei Reinbot mögen die materiellen Verhältnisse nicht viel anders liegen, doch erhält er den Anschein einer idealistischen Verbindung von Dichter und Mäzen aufrecht. Konrad unterstellt seinem Auftraggeber zwar gleichfalls eine ideale Absicht (2147-49), aber so kurz und stereotyp, daß sie den religiösen Anspruch Johannes' von Arguel nicht glaubhaft machen kann. Der Auftraggeber bezahlt für die Ehre, als Veranlasser im Gedicht 1867 aufzutreten . Indem Konrad zum Gebet für ihn aufruft, erfüllt er eine vertragliche Verpflichtung. Reinbots Mäzen dürfte ebensowenig selbstlos gehandelt haben. Aber es ist erstaunlich, wie mit dem Obergang der Mäzen-Autor-Konstellation in den bürgerlichen Bereich die Maske fällt 1 ft fi ft . 1867 Zum selben Ergebnis wie die Textinterpretation führt eine Analyse des politischen Handelns Johannes' von Arguel: "Für den aufstrebenden, in das öffentlich-politische Leben der Stadt Basel immer wieder aktiv eingreifenden, wohl auch, gerade aufgrund seiner exponierten Stellung, um Popularität bemühten Bürger war dieser Auftrag wohl vorrangig eine Frage des Prestiges beziehungsweise des Prestigegewinns." (LEIPOLD, Auftraggeber, S. 96) . 1868 Aber auch im bürgerlichen Bereich liegen die materiellen Gründe einer Auftragserteilung selten so offen zutage wie hier. Es sieht beinahe so aus, als wolle Konrad Johannes von Arguel bewußt desavouieren. - Zu den sehr handfesten Interessen des Auftraggebers am Werk paßt gut die Art und Weise, wie die letzten Verse des Gedichts den Heiligen anpreisen:
2154 und wizzent daz helfe unde rät der reine martercere tuot in allen die getrivwen muot ze herzen tragent wider in:
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und
Spätzeit
523
Die bisher behandelten Gebete gehörten mit höchstens vier Versen selbst innerhalb des Typs I zu den kürzesten. Die etwas längeren sind in der Regel kaum individueller, so das acht Verse 1869 umfassende Gebet am Ende des "Alexius Β" , das nur aus einer Bitte um die Fürsprache des Heiligen bei Gott zum ewigen Leben und der abschließenden Bekräftigung besteht und seinen Umfang nur durch Füllverse (512, 518) und einen umständlichen Satzbau (514) erreicht. Eines der wenigen etwas längeren Gebete, das bewußteren Gebrauch vom vergrößerten Raum macht, beschließt die Erzählung "Von dem hilgen sunte Brandan": 1158 Nü saule dat
we bidden
he vor
uns
unde dat
hilligen
bidde,
1160 de himmelsohen des
den
dat
helpe
uns
Marien
sin
moder
uns,
entfän
sone
Märiä.
we de Swigen help
ome
ordne.
vroude
de nummer vorgenklik 1165 des
we mit
man,
hire
besitten
htrnä
ist. Jesu
Crist.
Die drei Bitten mit zwei verschiedenen Anliegen (Fürsprache, ewiges Leben) richten sich nacheinander an drei verschiedene Adressaten (Brandan, Christus und Maria, Christus allein). Ähnlich effektiv geht sonst nur noch die Anrufung am Ende des "Mönch Felix" mit dem Raum um, den Typ I bieten kann. Sie bringt in sieben Versen die Anrede zweier Adressaten, zwei Anliegen und die Auf1ft7 Ω
forderung zum abschließenden Amen unter Trotz ihrer Kürze bilden nicht alle Schlußgebete des ersten Typs eine geschlossene Versgruppe. Am Ende von "Esdras und Neemyas" ist in das Gotteslob eine Auskunft des Dichters über sein Vorgehen bei der Bearbeitung seiner Vorlage eingeschoben (3195-
er stceret
leides
ungewin.
Wie sich für den Auftraggeber die Investition in ein Gedicht durch eine besondere Ehrung auszuzahlen hat, so muß sich auch die Verehrung des Heiligen ganz unmittelbar lohnen. 1869 BLAU, Zur Alexiuslegende II, 511-18. 1870 Das Gebet hat folgenden Wortlaut:
382 Mit siner helfe svl wir treten In daz ewige himelriahe Daz wir vroliche 385 Mvsen mit sinen engelen sin Des hilf vns libe kvunigin Die ditz mere vernemen Die sprechen alle ameN
524
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN SCHLUSSGEBETE
1871
99). Eine späte Dreikönigslegende verteilt ihre neun Gebetsverse auf drei Anrufungen (578, 580, 586-92). Doch ist die Aufspaltung des Gebets in Typ I insgesamt naturgemäß selten. Oft verzichten die Dichter völlig darauf, ihre Anrufungen an den Hauptteil anzubinden. Sonst wird eine Verbindung gern durch 1872 die Anrufung oder Nennung des Legendenheiligen hergestellt Seltener enthält das Gebet einen Rückverweis auf das im Haupt1873 teil Erzählte . Einmal ist der Zusammenhang von Hauptteil und Schlußgebet durch das Fehlen einer syntaktischen Grenze formal , 1874 angedeutet Eine zeitliche Entwicklung innerhalb des ersten Typs läßt sich nicht beobachten. Sehr kurze und etwas weniger knappe, frühere und spätere Gebete zeichnet die gleiche gedankliche Einfachheit aus. Die Schlußgebete des "Armen Heinrich" und einer niederdeut1875 sehen Dorotheenpassion aus dem 15. Jahrhundert trennt nur Hartmanns flüssigerer Vers- und Satzbau; am Inhalt haben die zwischen ihnen liegenden zwei Jahrhunderte nichts verändert: Armer
Heinrich
1517
1520
Passio
S.
Dorotheae
369
alsS
müezez
ze
jungest
den
Ιδη
des
helfe
Got
helpe
n
. wy
Dat
wir
Muten
den
da
nämen,
uns
got.
amen.
uns
allen
hvr mit
werden
spreket
allen
gevallen! si
,.
Dat
Nu
uns
ghemeyne,
·, leven
also,
Dorothean jn amen
vro
hemmelriah! alle
glicht
Immer wieder gleiche Anliegen tragen die Schlußgebete des Typs I in immer wieder ähnlichen Bitten Gott oder den Heiligen vor. In den Gebeten des zweiten Typs, die zwischen zehn und zwanzig Versen umfassen, treten keine neuen Anliegen hinzu; als einziger neuer Adressat erscheint - selten - neben Gott und den Heiligen Maria. Eine zeitliche Entwicklung läßt sich auch hier nicht fest1871 Die hystorie ind legende van den hylgen dry konyngen ... (NORRENBERG, Kölnisches Literaturleben, S. 39-54). 1872 Alexius Β 511; Gebetsbiographie Barbara (Geistliche Gedichte) 90; von dem hilgen sunte Brandan 1158; Volksbuch St. Brandan 192,25; Heilige Elisabeth 10532; Wetzeis Margareta 1193; entsprechend Heinrich von Freiberg, Kreuzesholzlegende 882. 1873 Konrad von Würzburg, Pantaleon 2150f.; Der Ritter mit den Selen (Des von Wirtemberk pueh, S. 37-55) 711f.; Der Wirtemberger 629f. 1874 Heilige Elisabeth. 1875 Passio S. Dorotheae (STAMMLER, Mittelniederdeutsches Lesebuch, S. 7579) .
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
525
stellen. Der Umfang beruht meist auf der Variation der Anliegen oder auf einer längeren Anrede des Adressaten. Gelegentlich verursachen hinzutretende nicht gebethafte Intentionen die größere Ausdehnung; in Einzelfällen ist auch sprachliche Ungeschicklichkeit ausschlaggebend. Vergleichsweise kompliziertere Gebete zeigen naturgemäß Autoren, deren Werke einen deutlichen künstlerischen Gestaltungswillen erkennen lassen, so Hartmann, Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg. Auf ausführlich variierende Formulierung des Anliegens geht der 1 876 Umfang etwa im Schlußgebet des Gedichts "Sanct Christopherus" zurück. Es reiht mehrere die Bitte um Befreiung von der Sünde nur variierende Bilder aneinander und verstärkt ihre Wirkung durch die Bindung an je eine der trinitarischen Personen. Fünfmal formuliert der Verfasser dieselbe Bitte. Er erreicht keine Differenzierung der Aussage, wohl aber deren emotionale Vertiefung. Auf der ausführlichen Bestimmung des Adressaten beruht zum großen Teil die Ausdehnung des Schlußgebets der "Historien der alden e" , denn aus den Bitten um das ewige Leben in der Gegenwart Gottes erwächst eine kleine Trinitätslehre (6154-59), die ein gutes Drittel des 17 Verse langen Gebets einnimmt. Interessanter sind die Gebete, die ihre Ausdehnung Nebenintentionen verdanken, so etwa das am Ende von Hartmanns "Gregorius": 3989
Hartman, an diz gote
der sin
arbeit
liet hät
geZeit
und iu ze
der gert
minnen,
dar an
daz ir im lät
gewinnen gevallen
ze tone von in 3995 die es hoeren
allen oder
lesen
daz si im bittende
wesen
daz im diu saelde daz er iueh in dem
daz wir ein alsd nemen
alle
guoten
ze boten
4005
noch
gesehe
himelrtahe.
4000 des sendet disen
geschehe
geltahe
sündaere
um unser
swaere,
in disem
eilende
genislich
als si dS
des gestiure
ende
nämen.
uns got.
amen.
1876 Sanct Christopherus, hg. von SCHÖNBACH, 1989-2002.
526
DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
SCHLUSSGEBETE
Seinen Umfang erreicht dieses Gebet zum einen durch die sehr indirekte Bitte um Fürbitte (3992-96). Die vorsichtige und höfliche Ausdrucksweise soll im Sinne einer captatio benevolentiae die Hörer und Leser für die Befolgung der Bitte günstig stimmen und ihr Wohlwollen auf das im folgenden Gesagte lenken. Zum anderen beruht die Ausdehnung auf der Absicht, den Kult des Gregorius zu begründen, dem die Gebetsaufforderung eine Gemeinde schafft. Die Einladung zur Anrufung des Heiligen nimmt sechs Verse ein (400005); zusammen mit den fünf Versen der captatio benevolentiae hängen also elf der 17 Gebetsverse mit rezipientenorientierten Nebenabsichten zusammen. In Rudolfs "Barlaam und Josaphat" sind für den Umfang Formüberlegungen ausschlaggebend. Rudolf gliedert sein Schlußgebet in drei Abschnitte zu je sieben Versen und schmückt den zweiten und den dritten Abschnitt durch je einen durchlaufenden Reim. Überdies bilden die Zeilenanfänge des Mittelabschnitts ein Akrostichon des Dichternamens: 16144
des bitet und wünschet mit rehten heiles
mir
gesehen
wider
zungen
Für war waer
in den
vlizzen
verte
hilf
uns,
daz wir
des helf Alpha
uns daz
durch sich
dtnen
rot
und uns der
sot
in wernder
lebende
tot,
b$t,
von schäme
iht slinde
et 0, künec
sich
zwtvellich.
got,
vor dir iht sten der helle
ich
strich,
in daz
herre
mich
genaedeclich,
in den dtn menscheit 16160
wir
dich.
ist so
dtner
Krist,
mir.
nü loese
Sünden,
sunte
Ob alle
spot
rtche.
Krist,
Von mtnen
Lßren
got
vroelZche
Reiner
16155
ane
und iu, daz
in stnem
Dtn güete
wan
mir durah
triuwen,
ein ander
Ofte
alle
und iu mit
wünschet
16150
üf den erren
not!
brot
Sabäot.
Rudolf ordnet dem ersten und dem dritten Abschnitt - zunächst als Bitte um Fürbitte, dann als Gebet des Dichters selbst - das ewige Leben zu; die mittlere Versgruppe erbittet die Sündenver-
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
527
gebung. Während die Bitte um das ewige Leben die ihr zur Verfügung stehenden zwei Drittel des Gebets zu differenzierender
Ab-
wandlung nutzt - der Blick richtet sich zunächst auf die himmlische Freude, dann auf das zuvor zu bestehende Gericht -, erweitert sich die Bitte um Sündenvergebung Confessio
im Mittelabschnitt um eine
und ein Lob der Gnade Gottes und begründet so die Hoff-
nung auf Erlaß der Schuld sowohl von der Gnadenbedürftigkeit
des
Menschen als auch von Gottes Gnadenfülle her. Die
zahlenkomposi1877 torisch vorgegebene Form kann Rudolf also sinnvoll füllen Im Schlußgebet
zu Konrads von Würzburg
fang von elf Versen
"Silvester" ist der Um-
(5212-22) Ausdruck des Bemühens, den Auftrag-
geber zu ehren, denn nicht weniger als acht Verse sprechen in erlesenen Bildern von seinen Verdiensten um das Werk. Wie im "Pantaleon" betet Konrad allerdings auch hier nicht selbst für den Veranlasser 1 878. Auch der Schluß des "Alexius" enthält eine ausführliche Aufforderung
zum Gebet für den Auftraggeber (1400— 1879 05), dem Konrad sich diesmal anschließt . Hinzu treten ein
1877 Die Auffassung WYSS' (Theorie, S. 204), Rudolf vermeide es, in seinem Schlußgebet von sich selbst zu reden, ist angesichts der Bitte um Fürbitte und des Akrostichons des Dichternamens unbegründet. - Auch im "Guten Gerhard" beeinflußt die formale Gestaltungsintention den Umfang des Schlusses. Der über acht Verse gleichbleibende Reim (6913-20) gibt dem Schluß ein Mindestmaß vor. Hiervon ist das Schlußgebet aber nicht betroffen, denn es endet - nicht syntaktisch, wohl aber dem Sinne nach schon bevor der identische Reim einsetzt. 1878 Auch hier wird denen, die den Heiligen verehren, wieder ein unmittelbarer Nutzen versprochen: Wer Silvesters Kult pflegt, gewinnt scelde in der Welt und Freude im Himmel (5200-11). 1879 Vom Ende des "Alexius" her wird WYSS' These, das Fehlen eines Gebets für den Autor im Schluß des "Silvester" belege, daß bei Konrad die "Trennung der geistlichen von der literarischen Komponente, die Wolfram so radikal negier(e) (...) exakt durchgehalten" sei (Theorie, S. 254), unplausibel. Denn es ist nicht einzusehen, warum Konrad den Schluß des "Silvester" an solchen literaturtheoretischen Überlegungen ausrichten sollte, nicht aber den des in jeder Hinsicht vergleichbaren und praktisch gleichzeitig mit diesem entstandenen "Alexius". Vollends widerlegt ist WYSS' These durch die Tatsache, daß Konrad im "Alexius"-Eingang um Inspiration betet (1-5, 16f.); dort ist er offenbar durchaus bereit, die 'geistliche' und die 'literarische' Komponente zu vermischen. Aus Konrads Gebeten ist keine poetologische Gegenposition zu Wolfram konstruierbar. Der Grund für das Fehlen eines Gebets am Ende des "Silvester" liegt nicht in einer Dichtungstheorie, sondern in der sozialen Stellung des bürgerlichen Auftragsdichters Konrad, das heißt in den materiellen Entstehungsbedingungen des Werks. Die Ehrung des Auftraggebers durch ein Schlußgebet, die ihm zusteht, darf nicht durch die Kombination mit einem Gebet für den Dichter geschmälert werden. Wenn im "Alexius" trotzdem neben dem Gebet für die Veranlasser eine Bitte für Konrad steht, so ist dies eine Ausnahme, die anscheinend durch ein persönlicheres Verhältnis des Dichters zu den Anregern dieses Werks motiviert ist. Für keinen anderen Auftraggeber findet Konrad so freundliche Worte: JShannes von BermesWll und Heinrich Isenlln haben ihm rehte liebe (...) getän (1389), indem sie ihn um ein Gedicht baten, so daß er, wie er ausdrücklich betont, gevn unde wiZZeettehen dooh (1393) an die Arbeit gegangen sei. So herzlich beschreibt Konrad die Auftragssituation sonst nicht. Für eine persönliche Beziehung
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SCHLUSSGEBETE
kurzes Gebet des Dichters für sich selbst (1406-08) und eine feierliche Apostrophe Christi (1409-12). Nur ziemlich selten ist der Umfang des Schlußgebets durch sprachliche Unbeholfenheit verursacht. Ein Beispiel bietet der 1 880
"Alexius F", wo Füllverse und Flickwörter den Stil des Schlußgebets prägen. Die verschwommene Spiegelmetapher im Mittelpunkt des Gebets wird durch ihre Ausdehnung auf fünf Verse (1519-23) nicht klarer. Aber dieses Gebet ist ebensowenig typisch für die Anrufungen des zweiten Typs wie das Hinzutreten einer nicht gebethaften Aussage- oder Gestaltungsintention bei Hartmann, Rudolf und Konrad. Die meisten Gebete des Typs II nutzen den zur Verfügung stehenden Raum zur Intensivierung der üblichen Gebetsanliegen durch Variation. Auch in den Gebeten der dritten Gruppe ist nicht selten ausführliche Variation Hauptursache der Ausdehnung. Doch kommt es nun auch vor, daß zu den Bitten um ein gelingendes Weltleben und den ewigen Lohn gleichgewichtig ein oder mehrere weitere Anliegen 1881 hinzutreten . So enthält das 26 Verse lange Schlußgebet zu Tilos von Kulm "Von siben Ingesigeln" außerdem ein ausführliches Gottes- und Marienlob, das mit 14 Versen (6258-71) gut die Hälfte des Gebets beansprucht. Deutlicher noch zeigt das auf zwei Komplexe aufgeteilte Schlußgebet der "Hiob-Paraphrase", wie ein recht großer Umfang durch eine Vermehrung der Anliegen verursacht werden kann: 15611
Hy
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Gote Der 15515
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buch
ende,
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werk!
zu den Anregern spricht natürlich auch, daß Konrad sich hier anders als in den beiden anderen Legendenschlüssen dem Gebet für die Auftraggeber anschließt (1402-05). Nur aufgrund dieses persönlichen Verhältnisses aber scheint es Konrad möglich zu sein, als beauftragter und bezahlter Verfasser im Schluß ein Gebet für sich selbst neben das für die Veranlasser zu stellen. 1880 Z.B. der ganze Vers 1518; 1516 alsus; 1521 mügen; 1522 gar. 1881 In Typ II treten nur in einem einzigen Fall - dem Schlußgebet zu Rudolfs "Barlaam" - andere Anliegen, Confessio und Lobpreis, neben die üblichen Bitten. Sie haben aber nicht dasselbe Gewicht wie diese, sondern sind ihnen als Begründung gedanklich untergeordnet.
Geistliche Erzähldichtung der Blüte- und Spätzeit
15520
Gelobt
sy Crist,
15556
Des
si gelobet
daz
Mit
der
di iz
Maria, Eyn 15560
muter, reyne
Urspring
Du baisam Der
Den
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Von Aldenburg 15565
Und
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Sunder Got,
der
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in allen
Sprechet
alle
himelberk!
lebende
wort
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maget
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La dyr,
der
529
dar, barmherzekeit,
veralles lylgen
leyt, fin,
bevolen
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genedeclich her
Dyteriah
lobesam! sunden tu din amen
slam, rich! glich!
Das 23 Verse lange Gebet hat fünf verschiedene Anliegen: Auf die einleitende Widmung an Gott (15511-15) folgen am Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Teils ein Marien- und ein Christuslob (15516-20, 15556-61), sodann eine Bitte zu Maria für den Hochmeister und den ganzen Orden (15562-65) und schließlich ein Gebet um das ewige Leben für alle Ordensritter (15566-68) . Variation kommt zwar vor (15557-61), aber insgesamt beruht der Umfang keineswegs auf der vielfachen Formulierung weniger Gedanken, sondern im Gegenteil auf dem vergleichsweise knappen Vortrag relativ zahlreicher Anliegen. Im Schlußgebet des "Daniel" ist für den Umfang von 32 Versen (8295-99, 8316f., 8324-48) ebenfalls eine Vermehrung der Anliegen ausschlaggebend - neben die Bitten um ein christliches Leben und die Seligkeit treten die um Kommunion und Beichte vor dem Tod sowie ein Marienlob -, zusätzlich aber auch die Tatsache, daß für verschiedene Personen getrennt gebetet wird: Der Hochmeister Luder von Braunschweig ist nicht in die Gebete für den Dichter und sein Publikum eingeschlossen, sondern ihm gelten eigene Bitten. Dieser Akt der Ehrerbietung erweitert das Gebet auf das Doppelte: Von seinen 32 Versen bitten 16 für Luder (8316f. , 8324-37). Die Vermehrung der Anliegen begegnet erst seit dem 14. Jahrhundert und besonders in der Ordensdichtung, denn zu Gebeten des dritten Typs neigen vor allem lange und sehr lange Gedichte, die in dieser Zeit beinahe nur noch im Deutschen Orden entstehen. Außerhalb des Ordens ist nur für das Schlußgebet zu Kunz Kisteners 1882 "Jakobsbrüdern" die Ausdehnung auf die Zahl der Anliegen zurückzuführen. Vor dem 14. Jahrhundert beschränken sich auch die
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DIE MITTELHOCHDEUTSCHEN
SCHLUSSGEBETE
Gebete des dritten Typs auf ein oder sehr wenige Anliegen, meist die gängigsten Bitten. So erreicht das Gebet am Ende des "Laubacher Barlaam" mit den üblichsten zwei Anliegen 35 Verse (16592626), weil es die Bitten für den Verfasser und die Hörer (16592604) von den Bitten für den Verfasser allein (16505-26) trennt, so daß es die Bitte um ein gutes Weltleben zweimal formulieren kann. Zudem ist dieses Anliegen in Einzelbitten um Stärkung in Gedanken und Werken (16613f.), Schutz für den muot (16616) und Entzündung mit dem Feuer des Geistes (16617f.) aufgefächert. Zusätzlich verlängert wird das Gebet dadurch, daß die spezifischen Bitten des Mittelteils von allgemeinen Formulierungen wie 'vernimm mich in deiner Güte' (16609-11) und 'erhöre mich' (16626) umrahmt werden. Das Schlußgebet zu Lamprechts von Regensburg "Sanct Francisken Leben" variiert sogar ein einziges Anliegen, die Bitte um die Seligkeit, über mehr als zwanzig Verse hinweg (5004-09, 5026-41). Erweiternd wirkt überdies eine feierliche Apostrophe Gottes (5042-49). Insgesamt ist im Typ III eine Erweiterung der Anrede des Adressaten aber selten der Grund des Umfangs. Viel häufiger beruht er auf der vielfachen Formulierung des Anliegens oder seiner Begründung. Um ein außergewöhnliches Anliegen geht es Johannes von Frankenstein, der Gott für das Gelingen seines Werks dankt und dies mit Rückblicken auf seine Situation am Werkbeginn und mit bildlichen Beschreibungen der Schwierigkeiten geistlichen Dichtens eingehend begründet (11403-28). Ausführlich erklärt sein Anliegen auch 1883 Gundacker von Judenburg , der die Bitte um geistliche Erkenntnis, rechten Glauben, Reue und Sündenvergebung durch eine vielgliedrige Kette von Begründungen und Berufungen auf gnadenvolle Eigenschaften Gottes und der Heiligen zu einem 26 Verse langen Gebet erweitert. In der Legende "Sant Cecilia" beruht der Umfang auf dem Bemühen um eingehende Darstellung in konsistenter Metaphorik: 16 der zwanzig Schlußgebetsverse und das abschließende Bibelzitat in Prosa sind darauf verwendet, die Bitte um eine ge1882 1191-1202, 1209-30. Der Verfasser bittet die Hörer um ihre Fürbitte (1191-95, 1209-11), hofft, daß sie ihm einen Teil ihrer durch gute Werke erworbenen geistlichen Verdienste abtreten werden (1196-202), bittet Gott, der den Santiago-Pilgern gewährten Gnade mitsamt dem Publikum ebenfalls teilhaftig zu werden (1212-14), weist Gott und den Heiligen Jakob auf die preisende Absicht seines Werks hin (1215-19), und erbittet Befreiung von not und arebeit (1220f.), viele gute Lebensjahre für Hörer und Vorleser (1222-26) und schließlich das ewige Leben für sich und das Publikum (1227-30). Die Vielzahl dieser Anliegen füllt die 34 Gebetsverse fast ohne Variation aus, nur die Bitte um Fürbitte wird wiederholt. 1883 Christi Hort. Das Schlußgebet ist nicht Gundackers Eigentum, sondern vollständig Freidanks "Bescheidenheit" entnommen (180,8-81,9). LEITZMANN (Gundacker von Judenburg, S. 544) hält es für eine Zufügung des Schrei-
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lingende irdische Existenz in der Bildlichkeit des Gleichnisses 1 884 von den klugen und törichten Jungfrauen zu formulieren und den Rezipienten die Konsequenzen eines 1geistlich scheiternden 3g5 Lebens anschaulich vor Augen zu führen Häufiger als die kleinen Typen sind die Gebete der dritten Gruppe auf mehrere Komplexe verteilt. Diese sind nur in Hugos 1886 von Langenstein "Martina" ungeregelt über den Schluß verstreut (doch achtet selbst Hugo darauf, daß die letzten Werkverse zu einer Anrufung gehören). In der Regel bilden die Gebetskomplexe einen Rahmen um den Schluß, wobei zwischen den Anrufungen zu Beginn und am Ende des Schlusses immer gewisse Unterschiede bestehen. In Lamprechts Franziskusleben ist der erste Gebetskomplex durch die Erwähnung der Stigmatisierung des Heiligen inhaltlich an die Legende angebunden, während der Gebetskomplex in den allerletzten Versen auf jede Rückwendung verzichtet 1 8 8 7 . Im "Hiob" 1888 und im "Daniel" 1889 steht in den ersten Versen des Schlusses das Lob, in den letzten die Bitte. Allerdings ist dieses Schema im "Daniel" durch eine zusätzliche, ganz kurze Bitte im Mittelteil (8316f.) etwas verunklart. Im Mittelteil preist der Verfasser den Hochmeister unter anderem für seine Verwandtschaft mit der Heiligen Elisabeth. Eine Bitte zu ihr für Luder konnte er kaum unterlassen, auch wenn sie die formale Struktur des Schlusses störte. Auch dert sich Ihre oder los,
viele der über fünfzig Verse langen, manchmal fast an hunVerse heranreichenden Gebete des vierten Typs beschränken auf die zwei Anliegen gelingendes Weltleben und ewiges Heil. breite Darstellung kann den Gebetston sehr intensivieren didaktische Nebenintentionen realisieren. Sie ist aber sinnwo ein Gewinn an Differenzierung oder thematischer Emphase
bers, eine Annahme, zu der nichts zwingt. 1884 Mt 25,1-13. 1885 Außer den erwähnten gehören fünf weitere Gebete zum Typ III. In drei von ihnen geht der Umfang auf die Variation der üblichsten Anliegen zurück (Marter der Heiligen Margareta, 739-62; Ulrich von Türheim, Rennewart, 36488-518; Makkabäer, hg. von HELM, 14387-410). Das vierte Gebet, das am Ende von Hugos von Langenstein "Martina" (292,31-37.55-64.78-88), gewinnt seine Ausdehnung durch die Verdoppelung der Bitte um Fürbitte, die jedoch jeweils anders akzentuiert ist - zuerst durch die Angabe des Verfassernamens (292,31-37), dann durch ein Gebet für die Fürbitter (292,7888) - und so über eine nur stilistische Variation hinausgeht. Im fünften Gebet schließlich, dem Schlußgebet der "Erlösung" (6997-7022), geht die Länge zum wesentlichen Teil auf die Begründung der Bitte um das ewige Leben durch einen Hinweis auf Christi Passion zurück, denn dieser weitet sich zu einer immerhin elf Verse langen Erinnerung an sein Leiden (700515) . 1886 292,31-37.55-64.78-88. 1888 15511-20, 15556-68. 1887 5004-09, 5026-49. 1889 8295-99, 8316f., 8324-48.
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nicht zu erkennen ist. Im denkbar ungeschickt gebauten und formulierten, neunzig Verse langen Schlußgebet einer 14 30 entstandenen 1890 Gebetsbiographie der Heiligen Dorothea wird die Variation zur ungeordneten, jeder Assoziation folgenden Reihung. Die Sprache ist konventionell, blaß und bis zur Unverständlichkeit konfus. Der Verfasser durchschaut seinen Satzbau selbst nicht, so daß es zu der sinnlosen Bitte kommt, Dorothea möge bei Christus bewir1891 ken, daß uns Dorotheas Hilfe zuteil werde . Nicht weniger unsinnig ist die Hoffnung, Dorothea werde uns behüten, indem Maria und Christus uns beistehen (343-53) , denn damit ist das Gemeinte 1892 genau verkehrt . Der unkontrollierte Gedankengang führt auch zu vom Thema weit abführenden assoziativen Einschüben, deren ausgedehntester zehn Verse lang ohne jeden Zusammenhang mit den Gebetsanliegen über Maria als Mutter Christi spricht (358-67). Hier führt das Streben nach eindrucksvoller Länge nur zu Wirrheit; eine Intensivierung der Aussage wird nicht erreicht. Welchen Effekt die vielfache Variation desselben Gedankens dagegen haben kann, wenn sie überlegt gestaltet wird, zeigt das 72 Verse umfassende Schlußgebet der "Hester" (1939-2010), einer Ordensdichtung vom Beginn des 14. Jahrhunderts. Sein einziges Anliegen ist die an Maria gerichtete Bitte um Fürsprache bei Christus zum ewigen Leben für alle Gläubigen. Maria ist angerufen, weil die Heldin typologisch auf sie, unse Hester (1945), bezogen werden konnte. Die Sprache ist klar und die Syntax durchsichtig. 1890 301-90. Zwar ist das ganze Gedicht in Form einer Anrede an Dorothea verfaßt, doch ist es möglich, ein Schlußgebet eindeutig abzugrenzen, denn bei Vers 301 tritt der Verfasser aus der Erzählsituation heraus und richtet von nun an ein persönliches Bittgebet an die Heilige. 1891 Denn die Verse 325-28 hängen syntaktisch noch ab von 317-19, so daß sich ergibt:
317 0 milte suße junakfrow vin, Fliß