Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters: 19. Anglo-deutsches Colloquium 9783484970700, 9783484108110

The focus on inner space unites two topical areas of cultural anthropology: space as a structural paradigm, and the foca

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German Pages 476 Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Räume der Liebe – Orte des Krieges
Aussatz und Erwählung
Zwischen Innenraum und Außenraum
Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum in der hochhöfischen deutschen Epik
Seht ir dort jene hohe lin?
Die Realität der inneren Bilder
Vor dem holen steine erstuonden aber diu sunderbaeren maere (84,4)
›Innenräume‹ des Liebesdiskurses
Kleidung, Verkleidung und Autorschaft
Keller, Schlafkammer, Badewanne
Herzeliebe, weltlich und geistlich
Die Wort gewordene Frau
Werbung und Selbsterforschung
Innenräume der Dame
Zur Ausstattung des ›inneren Menschen‹
Begnadung und Zweifel
Die Konzeptualisierung des inneren Menschen im Traktat ›De horto paradisi‹ Marquards von Lindau und in der ›Theologia deutsch‹. Mit einer Textedition
Innenraum des Selbst, Innenraum des anderen
Anschauung der Welt und vergnügliche Bildung
Das Mittelalter als Innenraum – Kosmos, Kathedrale, Kino
Weltinnenräume
Backmatter
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Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters: 19. Anglo-deutsches Colloquium
 9783484970700, 9783484108110

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Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters

Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters

XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005 Herausgegeben von Burkhard Hasebrink, Hans-Jochen Schiewer, Almut Suerbaum und Annette Volfing

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2008

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-10811-0 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

I. ›Innen‹ und ›Außen‹: Topographien der Gewalt Ricarda Bauschke (Freiburg): Räume der Liebe – Orte des Krieges. Zur Topographie von Innen und Außen in Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹ . . . . . . . Marion Oswald (München): Aussatz und Erwählung. Beobachtungen zu Konstitution und Kodierung sozialer Räume in mittelalterlichen Aussatzgeschichten

1

.

23

Timothy R. Jackson (Dublin): Zwischen Innenraum und Außenraum. Das Motiv des Fensters in der Literatur des deutschen Mittelalters . . . . . . . . . . . .

45

Markus Stock (Toronto): Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum in der hochhöfischen deutschen Epik. Mit einer Studie zu Isenharts Zelt in Wolframs ›Parzival‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Nicola McLelland (Nottingham): Seht ir dort jen hoˆhe lin? Der unerreichbare Innenraum in Ulrichs von Liechtenstein ›Frauendienst‹ . . . . . . . . . . . . . . . .

87

II. Medium des Raumes

Hans-Jürgen Scheuer (Stuttgart) und Björn Reich (Stuttgart): Die Realität der inneren Bilder. Candacias Palast und das Bildprogramm auf Burg Runkelstein als Modelle mittelalterlicher Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

VI

Inhalt

III. Praktiken der Interiorisierung Stefan Seeber (Freiburg): vor dem holen steine erstuonden aber diu sunderbaren maere (84,4). Zu den Raumstrukturen der ›Kudrun‹ . . . . . . . . . . . . .

125

Margreth Egidi (Konstanz): ›Innenräume‹ des Liebesdiskurses. Spiegelungen des Innen am Beispiel der Gartenmotivik in Minnereden . . . . . . . . . . . . . . 147 Undine Brückner (Oxford): Kleidung, Verkleidung und Autorschaft: Verhüllung und Zierde bei Dorothea von Hof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

Sebastian Coxon (London): Keller, Schlafkammer, Badewanne. Innenräume und komische Räumlichkeit bei Heinrich Kaufringer . . . . . . . . . . . . .

179

IV. Poetik imaginativer Präsenz Nigel F. Palmer (Oxford): Herzeliebe, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom ›Einwohnen im Herzen‹ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta . . . . . . . .

197

Elke Brüggen (Bonn): Die Wort gewordene Frau. Zur Vertextung ›weiblicher‹ Selbstreflexion in Reinmars Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Stefanie Schmitt (Frankfurt a. M.): Werbung und Selbsterforschung. Zur Beschreibung der inneren Befindlichkeit in provenzalischen und mittelhochdeutschen Minnekanzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

Ludger Lieb (Dresden): Innenräume der Dame. Imaginationen von Präsenz in den Tageliedern des Mönchs von Salzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

VII

Inhalt

V. Diskursivierung des Innen Wolfgang Haubrichs (Saarbrücken): Zur Ausstattung des inneren Menschen. Die historische Semantik von conscientia, castitas und k(i)usche im Mittelalter . . . . . . . . 295 Caroline Emmelius (Göttingen): Begnadung und Zweifel. Zur Interaktion von Innen- und Außenraum in den ›Offenbarungen‹ der Adelheid Langmann . . . . . . . . 309 Stephen Mossman (Oxford): Die Konzeptualisierung des inneren Menschen im Traktat ›De horto paradisi‹ Marquards von Lindau und in der ›Theologia deutsch‹. Mit einer Textedition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327

Mark Chinca (Cambridge): Innenraum des Selbst, Innenraum des anderen. Zur Ars moriendi im 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

VI. Zeit-Raum: Metapher der Historiographie Eckart Conrad Lutz (Fribourg): Anschauung der Welt und vergnügliche Bildung – die ›Otia imperialia‹ des Gervasius von Tilbury für Kaiser Otto IV. . . . . . . . . . 383 Bettina Bildhauer (St Andrews): Das Mittelalter als Innenraum – Kosmos, Kathedrale, Kino

. . .

409

Michael Stolz (Bern): Weltinnenräume. Literarische Erkundungen zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit (am Beispiel des ›Fortunatus‹-Romans und der ›Geschichtklitterung‹ von Johann Fischart) . . . . . . . . . . .

427

Register

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

447

Vorwort

Vom 7. bis 11. September 2005 fand im Somerville College, Oxford, das XIX. Anglo-German Colloquium zum Thema ›Innenräume‹ statt. Die Beiträge des Colloquiums sind in diesem Band versammelt, der damit erneut die Lebendigkeit und Fruchtbarkeit der internationalen Zusammenarbeit zwischen angelsächsischen und deutschsprachigen Mediävisten dokumentiert. Es war eine besondere Freude, daß Peter Ganz noch an diesem Colloquium teilnehmen konnte, das er seinerzeit selbst mit begründet hatte. Der Dank der Herausgeber gilt Somerville College für die herzliche Gastfreundschaft; der British Academy, Oriel College, der Faculty of Medieval and Modern Languages, Oxford, und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung; den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Freiburg i. Br. für die sorgfältige Hilfe bei der Drucklegung, insbesondere Stefan Seeber und Jochen Conzelmann, der auch den Satz besorgt hat; dem Max Niemeyer Verlag für die Betreuung des Bandes. Eine Diskussion um Innenräume führt ein Colloquium zwangsläufig auch zu sich selbst. Die Herausgeber hoffen, daß dieser Band nicht nur die Reflexion auf ein Innen dokumentiert, sondern, in Auseinandersetzung mit Phänomenen der Grenzziehung und Grenzüberschreitung, auch eine Öffnung nach außen im Gespräch. Burkhard Hasebrink, Hans-Jochen Schiewer, Almut Suerbaum, Annette Volfing

Einleitung

Heinrich von Mügeln findet in seinem Streitgedicht ›Der meide kranz‹ ein eindrucksvolles Bild für die Phänomene, die im Zentrum des Anglo-German Colloquiums Oxford 2005 standen: Wip saßen in der sele sal (MK 99).1 Er inszeniert damit eine Debatte, in der Personifikationen der zwölf freien Künste jeweils Argumente für die Überlegenheit des eigenen Fachgebietes geltend machen und dabei an den Kaiser als Schiedsrichter appellieren. Ort dieser Auseinandersetzung ist der sele sal, wobei die Seele hier Kaiser Karl IV. gehört, der zugleich Adressat des Gedichtes wie auch dessen Protagonist ist – die Debatte findet somit buchstäblich im Kopf des Kaisers statt. Die solchermaßen paradoxe Konstruktion, nach welcher der Kaiser den sal und der sal den Kaiser in sich birgt, macht deutlich, auf welch komplexe Weise in mittelalterlichen Texten die Darstellung architektonischer Räume mit der Entwicklung von Interioritätskonzepten verschränkt wird. Das Thema ›Innenräume‹ verbindet dabei zwei führende Paradigmen der aktuellen kulturwissenschaftlich inspirierten Diskussion. Es greift einerseits das Raumparadigma auf, das in der poststrukturalistischen Diskussion zu einer dominanten Ordnungskategorie geworden ist, und verbindet es andererseits mit der selbst schon räumlich gedachten Leitdifferenz von ›Innen‹ und ›Außen‹. ›Innenräume‹ bilden eine abstrakte Form kultureller Sinnstiftung, lassen sich aber in ganz unterschiedliche Richtungen konkretisieren und semantisieren. Die Literatur des deutschen Mittelalters inszeniert solche ›Innenräume‹ auf verschiedenen Ebenen; gemeinsam dürfte ihnen aber sein, daß mit dieser topologischen Organisation grundlegend die Frage von Differenz, Grenze und Überschreitung gegeben ist. Zugleich werden über ›Innenräume‹ abstrakte symbolische Größen und Prozesse semantisierbar – ›Innenräume‹ reflektieren somit in einer Kultur der Sichtbarkeit und Präsenz Vorstellungen über psychische, kosmologische oder textuelle Ordnungen. Das Thema ›Innenräume‹ ist daher besonders dazu geeignet, die aktuellen mediävistischen Diskussionen um die topologische Organisation kulturellen Wissens zu bündeln und zu vertiefen.

1

Heinrich von Mügeln, ›Der meide kranz‹, in: Die kleinen Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Zweite Abteilung, hg. von Karl Stackmann mit Beiträgen von Michael Stolz, Berlin 2003 (DTM 84), S. 47–203, hier S. 55.

XII

Einleitung

›Raum‹ ist einer der beiden Ordnungsparameter für die vom Menschen wahrgenommene Welt, auch wenn er gegenüber ›Zeit‹ meist als sekundär gilt. Wo mit Dichotomien gearbeitet wird, steht ›Raum‹ daher für die Kategorie des Sichtbaren, Materiellen und Präsentischen – Aspekte, welche die Forschung der vergangenen Jahre als Besonderheit mittelalterlicher Kulturen in das Blickfeld gerückt hat. Damit ist kein passiver Status des Raumes verbunden, sondern Räume – hier ist vor allem die Arbeit von Henri Lefebvre hervorzuheben – werden zu Faktoren von Sinnzuschreibung, indem jeder Raum bestimmte Handlungsmöglichkeiten diktiert.2 Räume für Feste sind nicht für liturgische Praxis nutzbar, und Räume für Frauen schreiben in ihrer Ab- und Ausgrenzung gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensmuster fort.3 Poststrukturalistische Ansätze in der Kultursoziologie (Pierre Bourdieu), Kulturanthropologie (Michel de Certeau) oder Diskursanalyse gehen dagegen davon aus, daß Raum selbst Bedeutungsträger sein kann: »space carried meanings«, bringen Barbara A. Hanawalt und Michal Kobialka dies auf eine Formel.4 Unterschieden wird dabei zwischen physischem Raum (engl. place, frz. lieu), in dem Elemente nebeneinander existieren, nie aber denselben Raum einnehmen können, und sozialem Raum (engl. space, frz. espace), der durch Bewegungen charakterisiert ist.5 Bourdieu etwa konstatiert, daß »alle Unterteilungen und Unterscheidungen des sozialen Raums [...] ihren realen oder symbolischen Ausdruck in dem als dinggewordener sozialer Raum fungierenden physischen Raum« finden.6 Bourdieus Beispiel für diesen sozialen Raum und seine Formung des physischen Raumes ist der Unterschied zwischen »guten« und »schlechten« Wohnvierteln; jüngere historische Studien zu »Raum und Raumerfassung« in der Mediävistik wenden sich dabei vor allem dem zu, was sie 2 3

4 5

6

Vgl. Henri Lefebvre, The Production of Space, übers. von Donald NicholsonSmith, Oxford/Cambridge, Mass. 1991, S. 143. Zur Problematik solcher Festschreibungen vgl. Annette Stern-Kähler, ›A room of one’s own‹. Reale und mentale ›Innenräume‹ weiblicher Selbstbestimmung im spätmittelalterlichen England, Frankfurt a. M. [usw.] 2002 (Tradition – Reform – Innovation 3), S. 27f. Medieval Practices of Space, hg. von Barbara A. Hanawalt/Michal Kobialka, Minneapolis 2000 (Medieval Cultures 23), Introduction, S. IX-XVIII, hier S. X. So Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life, übers. von Steven Rendall, Berkeley/London 1984, S. 117. Kritisch zur Frage, ob space als abstrakte Kategorie in mittelalterlichen Diskursen überhaupt vorkomme oder ob man nicht allein von Ort (lat. locus) bzw. Zeitabschnitten (frz. espace) ausgehen müsse, Michael Camille, Signs of the City. Place, Power, and Public Fantasy in Medieval Paris, in: Hanawalt/Kobialka [Anm. 4], S. 1–36, hier S. 9. – Zu klären wären in diesem Zusammenhang auch die wortgeschichtlichen Kontexte von mhd. ruˆm. Eine entsprechende Studie dürfte auch die Frage zum Gegenstand haben, inwieweit der entsprechende Raumbegriff von Komponenten des Eröffnens eines Raumes und damit der Hinsicht seiner Weite bestimmt sind. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, dt. von Achim Russer, Frankfurt a. M. 2001, hier S. 173.

Einleitung

XIII

»Begegnung von Geschichte und Geographie«7 nennen, d. h. vor allem der Analyse des ›Außenraums‹, also geographische Regionen, Kartographie, Territorialpolitik. Weniger Beachtung gefunden hat bisher das, was im Zentrum der Oxforder Tagung stand: die besonderen Bedingungen, die der Darstellung und Konstruktion von ›Innenräumen‹ in literarischen Texten eigen sind. Die Verschiebung von der allgemeinen Topographie hin zu den ›Innenräumen‹ eröffnet eine Perspektive, die sich entscheidend auf das Zusammenwirken poetischer und anthropologischer Implikationen der literarischen Inszenierung von ›Innenräumen‹ und damit auf die Konstruktion spezifischer Grenzen wie auf die Verfahren ihrer Transgression richtet. Insofern diese Fragestellung die Literarizität solcher Darstellungsmodi bereits einschließt, verweist die Objektebene einer Raumdarstellung unmittelbar auf die Metaebene ihrer poetischen Konstitution. Die Frage, wie sich diese Ebenen überlagern und wechselseitig bestimmen, zieht sich daher leitmotivisch durch die Beiträge des vorliegenden Bandes. Die mediävistische Literaturwissenschaft ist heute von der grundlegenden Erkenntnis gekennzeichnet, daß die unterschiedlichen kulturellen Wissenssysteme des Mittelalters nicht gegeneinander abgeschlossen sind, sondern in enger Weise miteinander verschränkt sind. Es gilt als bedeutender Gewinn eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes, »sowohl die unterschiedlichen Perspektiven auf die Ordnungen des Wissens zusammenzuführen als auch Heterogenität und Komplexität des Feldes sichtbar zu machen.«8 Eine solche integrative und zugleich differenzierende Funktion kommt dem ›Innenraum‹ zu: Er stellt eines der wirkmächtigsten Konzepte und Modelle der topologischen Repräsentation abstrakter symbolischer Größen und kultureller Prozesse dar. ›Innenräume‹ erscheinen also noch da, wo sie an physische Räume gebunden sind, als Funktionen kommunikativer Sinnzuschreibung, so daß Räumlichkeit nicht nur als Bildspender für Deutungsfiguren erscheint, sondern zugleich über ihre vermeintliche Objektivität solchen Modellen Anschaulichkeit und Evidenz verleiht. Die deutliche Faszination für ›Kulturen des Präsentischen‹ stellte Materialität, Sichtbarkeit, Körper und Performanz in den Vordergrund. Daneben aber stehen bedeutende Integrationsversuche, die einer einseitigen Fixierung auf eine solche ›Kultur des Präsentischen‹ entgegenstehen.9 Ein konkretes Beispiel für 7

8

9

Raumerfassung und Raumbewußtsein im späteren Mittelalter, hg. von Peter Moraw, Stuttgart 2002 (Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte. Vorträge und Forschungen 49), S. 7. Udo Friedrich, Ordnungen des Wissens: Ältere deutsche Literatur, in: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, hg. von Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten, Reinbek 2002, S. 83–102, hier S. 86. Verwiesen sei exemplarisch auf zwei bedeutende Bände: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. DFG-Symposion 2000, hg. von Ursula Peters, Stuttgart/Weimar 2001 (Germanistische Symposien Berichtsbände 23); Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003.

XIV

Einleitung

die differenzierte Sicht auf die entsprechenden kulturellen Formationen bietet Jan-Dirk Müller in seiner Monographie zum ›Nibelungenlied‹. Im Kapitel ›Nibelungische Anthropologie‹ behandelt er in einem eigenen Abschnitt die Spaltung von ›Außen‹ und ›Innen‹: »Dieses Auseinandertreten ist eine große Entdeckung der volkssprachigen Literatur um 1200.«10 Müller grenzt in diesem Zusammenhang die Konstruktion eines ›Innen‹ im Minnesang – hier mit Blick auf das Glaubwürdigkeitsparadox bei Reinmar – von der Ebene eines ›Innen‹ im ›Nibelungenlied‹ ab: Im heldenepischen Text gehe es nicht um die Inszenierung eines ›Innenraums‹ der Erfahrung, sondern die Dissoziation von ›Innen‹ und ›Außen‹ ziele auf die Darstellung tückischer Verstellung und damit auf das Thema der dissimulatio. Schon an diesem einzelnen Beispiel kann man sehen, daß die Betrachtung von ›Innenräumen‹ keineswegs kongruent ist mit einer Psychologisierung – im Gegenteil: Die Frage nach der Konstruktion von ›Innenräumen‹, ihrer Inszenierung und Imaginierung, ist immer auch rückgebunden an die Frage ihrer Zeichenhaftigkeit, Sichtbarkeit und damit auch ihrer (im Wortsinn gemeinten) ›Öffentlichkeit‹. Zugleich ist die volkssprachige höfische Literatur der Zeit um 1200 nur ein – wenn auch für die deutsche Philologie selbstverständlich zentraler – Bereich, in dem mit der Herstellung von Innenwelten Symbolisierungen vorgenommen werden. Wenn man nach den denk- und geistesgeschichtlichen Kontexten von Interiorisierungsmodellen fragen will, richtet sich der Blick selbstverständlich auch auf den weiten Bereich der theologisch-geistlichen Literatur. Im Rahmen der germanistischen Mediävistik kann es dabei nicht um eine denkgeschichtliche Aufarbeitung dieser Modelle und damit vor allem augustinischer Denktraditionen gehen. Mit Blick auf die geistliche wie mystische Literatur in der Volkssprache wird jedoch auch nach religiösen Modellen der Interiorisierung und der topologischen Darstellung von ›Innenräumen‹ zu fragen sein. Hier ergeben sich spannende Korrespondenzen auch zum Minnesang, wenn man etwa an Konzeptualisierungen des Herzens als ›Innenraum‹ denkt (der, wie zu Beginn des IX. Buches im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, auch als zu eng gedacht sein kann). Doch auch dabei geht es nicht um das Aufzeigen von Einflußrichtungen, sondern um die Erforschung interdiskursiv wirksamer Wissens- und Deutungsmodelle. Wenn man über die Erkundung geistlicher Denktraditionen immer wieder Augustinus mit dem Modell einer ›Verinnerlichung‹ in Zusammenhang bringt, muß man auch an rhetorische Modelle von ›Innenräumen‹ denken.11 Dabei geht 10

11

Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 214. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, bes. S. 317– 361 (›Außen‹ und ›Innen‹). Vgl. Achim Wurm, Locus non locus. Der Stil der Innerlichkeit in Augustins ›Confessiones‹, in: Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. 30. Kölner Mediävistenta-

Einleitung

XV

es einerseits um den Bereich der Memorialkultur und den Gedächtnisraum, andererseits aber auch um das Problemfeld der Imagination und der räumlichen Konkretisierung von psychischen und mentalen Vorgängen. Es dürfte gerade spezifisch für mittelalterliche Kultur sein, wie direkt sich solche Konkretisierungen mit realen Raumorganisationen architektonischer Art auf der einen und allegorischen Raumimaginationen auf der anderen Seite engführen lassen: Es war ein besonderes Anliegen der Oxforder Tagung 2005, genau auch diese Interdependenzen zwischen unterschiedlichen Wissens- und Realitätsebenen in ihrer literarischen Inszenierung in den Blick zu nehmen. Wenn also im Folgenden sechs Sektionen unterschieden und thematisch weiter ausdifferenziert werden, ist damit keine Partialisierung der Fragestellung gemeint, sondern eine Ausweitung und Verknüpfung, die immer auch die intertextuellen wie interdiskursiven Bezüge bei der Inszenierung von ›Innenräumen‹ zu vergegenwärtigen sucht. Die Leitdifferenz von ›Innen‹ und ›Außen‹ manifestiert sich in Texten nicht als abstrakte Topographie, sondern in ihrer anthropologischen Perspektive als soziale Exklusion von Gemeinschaft oder als Akt der Aggression und Vereinnahmung von Raum (I. ›Außen‹ und ›Innen‹: Topographien der Gewalt). Die beiden den Band einleitenden Beiträge von Ricarda Bauschke und Marion Oswald lassen sich in dieser Hinsicht gleichsam komplementär gegenüberstellen. Wird im ›Liet von Troye‹ Herborts von Fritzlar der scheinbar sichere ›Innenraum‹, der zugleich auch heimlicher Minne Platz bietet, durch den Einbruch des Krieges zum ›Gewaltort‹, liegt die soziale Gewalt im ›Engelhard‹ Konrads von Würzburg darin begründet, daß der Lepröse nicht nur stigmatisiert, sondern ›ganz nach außen‹ gedrängt wird, was die Bezeichnung des ›Aus-satzes‹ noch im Wort festhält. Wie zudem mit dem Einbruch kriegerischer Gewalt in die Schutzsphäre des ›Innenraums‹ bei Herbort zugleich eine Kritik an der abmildernden Haltung der höfischen Literatur gegenüber Gewalt und Aggression aufscheint, überbietet der ›Engelhard‹ Konrads die Ausgrenzung zugleich durch das Motiv der Erwählung und verleiht damit auch der ›Topographie des Ausschlusses‹ eine neue, literarisch an die Legendentradition anknüpfende Sinndimension. Während Aristoteles Raum allein als das den Körper Begrenzende definiert, artikulieren literarische Texte des Mittelalters, indem sie architektonische Räume und Schwellenbereiche beschreiben, einen Gegensatz zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ und machen so ›Innenräume‹ erfahrbar (II. Medium des Raumes). Architekturbeschreibungen sind somit nicht nur Referenz auf ›Realia‹, sondern schaffen im literarischen Text den Bezugsrahmen, innerhalb dessen Räumlichkeit darstellbar wird. Welche signifikante Funktion in diesem Zusammenhang gung vom 10. bis 13. September 1996 in der Universität zu Köln, hg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer, Berlin/New York 1998 (Miscellanea Mediaevalia 25), S. 452–470.

XVI

Einleitung

das Fenster haben kann, stellt Timothy R. Jackson heraus, indem er die spezifische Liminalität des Fensters hervorhebt. Die Liminalität einer Schwelle wird dadurch radikalisiert, daß dem Fenster ebenso ein Distanzmoment zukommt, so daß die Grenze zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ gerade da, wo sie geöffnet erscheint, von Verhaltenheit und Zurücknahme geprägt ist, was in paradoxer Zuspitzung das klösterliche Gitterfenster kennzeichnet. Doch während das Fenster auf eine Begrenzung angewiesen ist, die den architektonischen ›Innenraum‹ erst herstellt, scheint die Grenze im Falle des Zeltes in den umschlossenen ›Innenraum‹ selbst verschoben zu sein. So deutet Markus Stock in seinem Beitrag den ›Innenraum‹ von Orilus’ Zelt als ›Grenze eines Sichtraums‹ und ›Grenze eines Bewegungsraums‹: Das Zelt kommt bei Wolfram von Eschenbach als prekärer Raum in den Blick, dessen erotische Aufladung direkt mit Todesgefahr verknüpft ist. Insofern rührt die Verschiebung von Grenzen in den ›Innenraum‹ unmittelbar an die Grundspannung höfischer Existenz, deren Labilität sich im Zelt gleichsam materialisiert und somit die Opposition von ›Ordnung‹ und ›Kontingenz‹ jenseits ihrer raumsemantischen Polarisierung neu bestimmt. Daß der architektonische ›Innenraum‹ mit seiner Grenze vor allem auch seine Unerreichbarkeit ausstellt, diskutiert Nicola McLelland am ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein. Wieder dient das Fenster als Schwelle, die den Weg zur Erfüllung verheißt, doch eröffnen sich hinter dem physischen Raum nur erneut vielfältig verschachtelte übertragene Bedeutungen von ›Innen‹ und ›Außen‹, Männlichkeit und Weiblichkeit, Schein und Wesen, Ferne und Begehren. Die Unerreichbarkeit wird schließlich in der Welt der Worte überwunden, so daß die Sprache die Grenze zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ auflöst, indem sie selbst zum ›Innenraum‹ wird. Diesen Umschlag von ›Innen‹ und ›Außen‹ fokussiert auch der Beitrag von Hans-Jürgen Scheuer und Björn Reich. Hervorzuheben ist vor allem ihre These zum Bildprogramm der Burg Runkelstein, mit der sie die Anlage des Bildprogramms auf die Lehre ›kommunizierender cerebraler Innenräume‹, die Ventrikellehre, beziehen. Die ›Innenräume‹ von Imagination und Memoria werden in der Burg geradezu begehbar, so daß der höfische Besucher mit seinem Gang durch die Burg die Wirklichkeit der Bilder verdoppelt. Indem er sich in dem architektonisch inszenierten ›Hirnmodell innerer Wahrnehmung‹ bewegt, und umgekehrt der Raum selbst als Apparatur der Wahrnehmung funktioniert, werde der Besucher selbst zum ›Bild unter Bildern‹. Mit dem Umschlag von Innen und Außen rückt damit grundsätzlich das Verhältnis von äußerer Wirklichkeit und inneren Bildern in den Vordergrund. Die folgende Sektion (III. Praktiken der Interiorisierung) wendet sich Szenarien der ›Verinnerlichung‹ zu, die zwar einerseits einen Horizont des Subjektiven, Individuellen aufscheinen lassen, andererseits aber diese psychologische Perspektive entscheidend umbrechen und dahinter anthropologische, literarische und diskursspezifische Konstruktionen von Innenräumen sichtbar werden

Einleitung

XVII

lassen. So entwickelt der Beitrag von Stefan Seeber ausgehend von Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ eine Analyse der ›Kudrun‹, in der ›poetischer Raum‹ auf die ›Figur‹ hin abgebildet wird. Angesetzt wird eine Entwicklung von mythisch strukturierten Räumen, geprägt von der Dichotomie zwischen Heiligem und Profanem und damit auch vom Gegensatz zwischen Sicherheit und Gefahr, hin zu einem ›ästhetischen Raum‹. Während Hagen in seinem Versuch scheitert, den mythischen Raum in Form der Greifenhöhle durch die Welt des Höfischen zu vereinnahmen, gelingt es Kudrun, die sie umgebende Welt so zu ordnen, daß sie ihr Sicherheit bietet – eine Form von Sicherheit allerdings, die nicht mehr an den Schutzraum der Burg oder eines Innenraumes gebunden ist. Interiorisierungsstrategien in der Minnerede funktionalisieren, wie der Beitrag von Margreth Egidi anhand von Beispielen demonstriert, den Garten auf doppelte Weise: als Metapher, die zugleich für Herz und Text bzw. intradiegetische Erzählung stehen kann. Das so angestrebte Innen ist allerdings nicht das eines Subjektes, sondern vielmehr Zentrum des Liebesdiskurses, wobei es gerade diese Differenz der Ebenen ist, die in der Minnerede inszeniert wird. Eine vergleichbare Rückbindung an den literarischen Status der Inszenierung eines ›Innenraums‹ zeigt der Beitrag von Undine Brückner auf. Kleidungsmetaphorik, in welcher das Kleid die Grenze zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ markiert, dient im Werk der Dorothea von Hof der Auseinandersetzung mit der Praxis geistlicher Lebensführung in weltlichem Stand, gleichzeitig aber auch der Reflexion über die textuelle Verfaßtheit des Erbauungsbuches. Kaufringers Märe vom Bauern im Keller inszeniert, so entsprechend die These von Sebastian Coxon, nicht einen psychologisierenden ›Innenraum‹, sondern benutzt die grundsätzlich körperbezogene Topographie des Hauses, um gattungsspezifisch die Problematik öffentlichen Handelns zu artikulieren. Der Beitrag hebt die anthropologische Perspektive hervor, denn Raum ist hier nicht abstrakte topographische Größe, sondern grundsätzlich körperbezogen gedacht. Erst die Beschränkung und Abgrenzung der ›Innenräume‹ garantiert die Unversehrtheit von Ehe und Familie, doch erweisen sich im narrativen Vollzug der komischen Erzählung diese ›Innenräume‹ stets als verletzbar oder als von außen nicht beherrschbar. Die Frage nach der Anwesenheit des einen im ›Innenraum‹ des anderen, besonders im nicht nur metaphorisch als Bewahrungsort inszenierten Herzen, ist Gegenstand einer weiteren Sektion (IV. Poetik imaginativer Präsenz). Daß hiermit nicht nur der Minnesang angesprochen ist, macht der Beitrag von Nigel F. Palmer programmatisch deutlich, der von der Vorstellung des Einwohnens im Herzen ausgeht, um anhand der Herzensraummetaphorik die Spannungen zwischen geistlicher und weltlicher Verwendung zu beschreiben. Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch der Metapher erweisen sich dabei als textsortenspezifisch, und es zeigt sich, daß die Säkularisierung der Herzens-

XVIII

Einleitung

raummetapher zugleich auch eine Ironisierung bedeutet. Doch in geistlicher wie in weltlicher Literatur wird die Metapher vom ›Wohnen im Herzen‹ wörtlich verstanden und damit in spezifischer Weise verkörperlicht. Trotz jeweils unterschiedlicher Diskursivierungen werden innere Erlebnisse in körperlichen Empfindungen geradezu materialisiert, so daß sich die Kategorie des ›Innen‹ nicht mit ›Spiritualisierung‹ deckt. Gegenüber einer geistesgeschichtlichen Lesart (Friedrich Ohly) wird damit die spezifische anthropologische Dimension eines physisch am Körper erfahrenen Inneseins hervorgehoben. Auf der Basis eines Vergleichs der handschriftlichen Überlieferung demonstriert die Interpretation von Elke Brüggen, wie unterschiedlich die Fassungen der Handschriften das Reinmar-Lied Lieber bote, nu wirp alsoˆ (MF XXVIII/178,1) profilieren: einerseits als Botenbericht, in dem der kommunikative Aspekt der Rede im Vordergrund steht, andererseits als Selbstaussprache, die momenthaft einen ›Innenraum weiblichen Denkens‹ offenlege, der dem männlichen Ich weitgehend verborgen bleibe. Im Vergleich von provenzalischer und deutscher Minnedichtung kann Stefanie Schmitt herausarbeiten, daß in der deutschen Lyrik die Darstellung der Befindlichkeit des Ich stärker als eine Sprechweise über die Dame als mit der Dame inszeniert wird. Lyrik erweist sich so als eine Veröffentlichung der inneren Befindlichkeit. Somit wird in der Lyrik der ›Innenraum‹ der Liebenden konstituiert und zugleich öffentlich. Dabei pointiert der Vergleich unterschiedlicher Redetraditionen, daß die Frage der Präsenz in der Form einer ›Integration des Fremden‹ auch den Prozeß der literarischen Einschreibung selbst betrifft. In seiner Studie zur imaginativen Präsenz konzentriert sich Ludger Lieb auf den Mönch von Salzburg und dort wiederum auf das Lied ›Das Taghorn‹. Neben den lyrischen Rollen untersucht der Beitrag den Habitus der permanenten Meditation des Herzenstauschs, wobei die besondere Artifizialität des Mönchs in der Überblendung unterschiedlicher figurativer Darstellungen einer imaginativen Anwesenheit im Herzen oder einer als wirklich inszenierten Anwesenheit des Herzens aufgezeigt wird. Die spezifische Performativität dieser Kunst zeigt sich schließlich darin, daß sich die Imagination im Lied selbst vollzieht. Wenn es konstitutiv für ›Innenräume‹ ist, immer zugleich in einem weiteren ›Innenraum‹ verschachtelt zu sein, ist die Wende zum sprachlichen Medium der Inszenierung ›innerer Anwesenheit‹ konsequent. Die den Liedern eingeschriebene Pragmatik des Singens weist dabei aber weniger auf sprachliche Selbstreferentialisierung als auf dessen stets neu aktivierte und klar herausgearbeitete kommunikative Ereignishaftigkeit. Die ›Erfindung des inneren Menschen‹ (Jan Assmann) muß man als die wohl wirkmächtigste Übertragung der Raumkategorie auf den Bereich des SeelischGeistigen ansehen (V. Diskursivierung des Innen). Literarische Konstrukte einer solchen Topographie seelischer ›Innenräume‹ verweisen dabei interdiskursiv auf Wissensdiskurse, die in vielfältiger Weise solche Verortungen vornehmen. Eine literarische Anthropologie wird deshalb gerade diese Interferenzen von

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poetischer Inszenierung und gelehrter Konzeptualisierung in den Blick nehmen, die ja selbst von jener Metaphorisierung geprägt ist. Wenn man dabei Augustinus geradezu als ›Architekten‹ dieses ›Innen‹ bezeichnen könnte, dann wird man die rhetorische Struktur dieser Konstruktion nicht übersehen.12 Im Rahmen einer solchen ›Diskursivierung des Innen‹ bieten die vorgelegten Beiträge ein differenziertes Spektrum. Wolfgang Haubrichs verhandelt die Ausstattung des inneren Menschen in der Ausdeutung der Semantik von conscientia, castitas und k(i)usche. Die Reduzierung der anfangs auf ein breites Spektrum ›ehrenwerten Verhaltens‹ weisenden Bedeutung von k(i)usche auf den Bereich sexueller Reinheit und Enthaltsamkeit wird detailliert vor dem Hintergrund der christlichen Praxis der Introspektion untersucht. Der Prozeß des sprachlichen Bedeutungwandels wird damit nicht nur in unmittelbarem Bezug zur historischen Anthropologie beschrieben, sondern erscheint als deren bevorzugter Referenzraum. Wie sehr die Konstruktion eines ›Innenraums‹ kommunikativ vermittelt wird, so daß die Diskursivierung des ›Innen‹ mit der sozialen Formierung eines Außenraums einhergeht, legt Caroline Emmelius an Offenbarungstexten dar. Ihr Beitrag präsentiert eine Interpretation von Offenbarungstexten zwischen ›persönlichem Innenraum‹ und ›sozialem Außenraum‹, deren Interferenzen wechselseitige Einsichten eröffnen. Das Wechselspiel von Preisgabe der Offenbarung und Heimlichkeit der Offenbarung dient dabei im sozialen Raum des Klosters zur Inszenierung spiritueller Konkurrenz, besonderer Auszeichnung und sozialer Sonderstellung. Einen allegorischen Entwurf des ›inneren Menschen‹ stellt hingegen Stephen Mossman vor. Marquard von Lindau entwirft in seinem unikal überlieferten und hier erstmals herausgegebenen Traktat ›De horto paradisi‹ in Form einer Gartenallegorie das Modell eines ›homo interior‹, wobei das innere Paradies nicht, wie in älteren exegetischen Traditionen, den Idealzustand der vollkommenen Seele beschreibt, sondern den Grundzustand jedes geistlichen Lebens. Eine zentrale Stellung im so konzeptualisierten ›Innenraum‹ nimmt dabei für Marquard der Wille ein, wobei die Hervorhebung des gelassenen Willens Tendenzen zur Individualisierung entgegenwirkt und die vita communis stärkt, ohne die franziskanische Willenstheologie grundlegend in Frage zu stellen. Wie bedeutsam für eine Diskursivierung des ›inneren Menschen‹ gerade räumliche Vorstellungen einer Außenwelt und vielfältige, als wirklich gedachte Übergänge waren, erläutert Mark Chinca an der Ars moriendi des 15. Jahrhunderts. Im Blickfeld dieser Untersuchungen stehen ›tragende Metaphern‹ eines Diskurses über richtiges Sterben, wobei auch gebrauchs- und funktionsgeschichtliche Zusammenhänge der Texte ausführlich dargelegt werden. Dabei liegt der imaginierte Wirkungsraum der Artes zumeist im Inneren des Selbst, kann aber auch 12

Achim Wurm spricht von Augustinus als dem »Autor der Innerlichkeit« (vgl. Wurm, [Anm. 11], S. 452).

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als ›Gedankenreise ins Jenseits‹ inszeniert sein: Die Meditation des Sterbens findet hier paradoxerweise in einem ›Außenraum des Selbst‹ statt, zu dem sich die inneren Kräfte auf ihrer Reise begeben. Über den Diskurs des richtigen Sterbens hinaus ist damit eine Grundfigur religiöser ›Verortung‹ beschrieben, die Vorstellungen der Transzendenz an kosmologische Raumkonzepte anlehnt, diese aber gleichzeitig metaphorisch übersteigt. Insgesamt lassen diese Beispiele deutlich werden, wie sehr im Kontext des religiösen Diskurses der Begriff des ›Innen‹ enträumlicht und zu einem Konzept einer besonderen Haltung umgeformt wird. Die letzte Sektion versammelt schließlich Beiträge, in denen Geschichtsdeutungen über räumliche Darstellungsmuster organisiert werden (VI. Zeit-Raum: Metapher der Historiographie). Gervasius von Tilbury kombiniert, so die Argumentation des Beitrags von Eckart Conrad Lutz, in seinen ›Otia imperialia‹ Weltkunde und Erzählkultur. Er konstruiert in seinem Text ›Innenräume‹, die Weltwissen und damit Entwürfe einer Außenwelt vermitteln, gleichzeitig aber, in der Einbeziehung ihres herrscherlichen Adressaten, dessen Verhalten und damit die Welt zu verändern suchen. Die Welt ist dabei nicht fiktiver Innenraum, den der Leser betritt; vielmehr leitet der Text seinen Leser an, die Welt je für sich ›hereinzuholen‹, so daß der Text selbst zum ›Innenraum‹ wird. Medium dieses Aktes der re-creatio ist nicht das Kompendium als verschriftlichte Sammlung wissenswert-wunderbarer Fakten, sondern das Gespräch (colloquium), in dessen Verlauf ein je individueller ›Innenraum‹ entsteht. Zu einer der wirkmächtigsten Metaphern des Mittelalters zählt zweifellos das Bild eines Innenraums, aus dessen Umhüllungen sich die Moderne durchbruchartig befreit habe. Bettina Bildhauer diskutiert in ihrem Beitrag, wie das Mittelalter als wirklicher ›Innenraum‹ verstanden wurde, dessen Merkmale nicht nur Geschlossenheit und Stagnation, sondern auch grundlegend für das Verständnis moderner Individualität als Ausbruch aus dem kollektiven ›Innenraum‹ des Mittelalters sind. Diese These wirke noch in der germanistischen Erzählforschung nach, insofern den fiktionalen Figuren jegliche Individualität abgesprochen werde. Überraschend tauchte das Konzept des Innenraums, dessen Einseitigkeit Bildhauer deutlich kritisiert, bei der Kennzeichnung der Postmoderne wieder auf – mit der Aktualisierung dieses Konzepts wird die Geschichte der Mittelalter-Imaginationen um ein weiteres Kapitel fortgeschrieben. Im abschließenden Beitrag nimmt Michael Stolz den von Peter Sloterdijk verwendeten Begriff vom ›Weltinnenraum‹ (Rilke) auf. Die spezifische Inversionsbewegung dieses Konzepts nimmt Stolz zum Ausgangspunkt seiner These, daß erst in literarischen Texten (am Beispiel des ›Fortunatus‹ und der ›Geschichtklitterung‹ Fischarts) am Übergang zur Frühen Neuzeit sich das Bewußtsein eines Innenraumes beobachten läßt, indem sich in diesen Texten neue Erfahrungen des ›Außen‹ widerspiegeln. Damit bewegt sich dieser Beitrag sei-

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nen historiographischen Implikationen nach im Rahmen eines neuzeitlichen Weltbildes, dem gegenüber mittelalterliche Modelle von ›Innenräumen‹, so Stolz, eher ›blaß‹ wirkten, weil sie die Dynamik von ›Innen‹ und ›Außen‹, wie sie erst in den Texten der Neuzeit entwickelt werde, nicht kenne und allenfalls in den aufgezeigten Beispielen (wie z. B. dem späteren Minnesang) erste Ansätze zeige. Diese These pointiert zum einen nochmals die Diskussion und weist zum anderen bereits über den Rahmen der Tagung hinaus, indem sie voraussetzt, das ›Außen‹ in Kategorien geographischer Räumlichkeit zu denken, den Begriff der ›Welt‹ also zum Gegenstand einer Erfahrung der Bewegung im physischen Raum zu machen – entsprechend führt etwa die Jenseitsreise des ›Fortunatus‹ zum santt patricius fegfeür nach Irland. Eine solche Erfahrungsmodalität der Welt, die mit der Erkundung des geographischen Raumes verknüpft ist, hebt sich deutlich von dem Verständnisrahmen ab, wie ihn die vorliegenden Beiträge hervortreten lassen. Die komplexen Konstruktionen von ›Innenräumen‹ in mittelalterlicher Literatur sind stets verwiesen auf anthropologische und kulturelle Deutungsmodelle, auf entsprechende imaginäre Entwürfe und literarische Ordnungen. Die Entwicklung neuer Verfahren sozialer Organisation wie kognitiver Weltaneignung scheint in den Diskursen der Vormoderne die Möglichkeit zu nutzen, innovative Strukturierungen und Repräsentationen in ein ›Innen‹ zu verlagern, das sein eigenes ›Außen‹ spiegelt und gleichzeitig entwirft. So wird insgesamt deutlich, in welchem Maße mittelalterliche Literatur die Wahrnehmung des ›Außen‹ als einen Akt des ›Innen‹ begreift und damit jene paradoxe Engführung bevorzugt, wie sie eingangs im Begriff des selen sal bei Heinrich von Mügeln aufgezeigt wurde. Die Herausgeber

Ricarda Bauschke

Räume der Liebe – Orte des Krieges Zur Topographie von Innen und Außen in Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹ Die Geschichte vom Trojanischen Krieg, wie sie die ›Ilias‹ bietet, und auch die sich im Laufe der Zeit anlagernden Vorgeschichten der Argonautenfahrt sowie der ersten Zerstörung Trojas1 sind von einer immer gleichen, sich topographisch konstituierenden Gerüstmotivik geprägt. Sie fußt auf der Polarisierung von Innenraum und Außenwelt, dem Gegensatz vom Schutz eines umgrenzten Ortes und einer äußerlichen Bedrohung, und die einzelnen Handlungsteile vollziehen sich in einem Spannungsfeld von Aussperrung und Okkupation: Aggressoren dringen in ein fremdes, in sich geschlossenes Gebiet ein, stehlen einen Gegenstand (das Goldene Vlies) und/oder führen eine Frau mit sich fort (Medea, Hesione, Helena) und provozieren dadurch tödliche Folgen. Letztlich wandeln die unterschiedlichen Handlungssequenzen immer wieder dieses eine Schema ab. Bezüglich der Raubmotivik makrostrukturell aufeinander bezogen und klimaktisch organisiert, bedienen sich vor allem die Jasongeschichte, die LaomedonHerkules-Episode und die Paris-Helena-Handlung, also drei Hauptstränge des Geschehens, eines von Aggression gekennzeichneten Initiums, um in Diebstahl und Entführung die Ursache von Vernichtung und kriegerischen Konfrontationen zu verankern.2 Doch auch bestimmte Einzelsequenzen, etwa das tödliche Schicksal des Kriegsbeute nehmenden Agamemnon und der von ihm verschleppten Kassandra, lassen sich anhand eben dieses Modells beschreiben. Selbst das Motiv vom Trojanischen Pferd fügt sich – als dessen variierende Umkehrung – in den skizzierten Strukturrahmen ein: Nicht der Diebstahl eines 1

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Die Tradition des Trojastoffes und dessen besondere Erscheinungsformen in der Literatur des Mittelalters skizziert Elisabeth Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), hier S. 103–111. Stehen in der Darstellung des zweiten Trojanischen Krieges die Folgen des Frauenraubes im Vordergrund, so perspektiviert die Argonautenfahrt dominant die ›Vorgeschichte‹, nämlich Entwendung von Besitz und Tochter. Tödliche Folgen entwickeln sich insofern, als Medea selbst ihrer neuen Familie durch Rachemorde Leid zufügt. Benoıˆt formuliert im ›Roman de Troie‹ eine entsprechende Verantwortung der – in diesem Fall freiwillig – aus ihrer Heimat weggeführten Frau: Jason en a mene´ s’amie, / Quant c¸o avint qu’il s’en ala. / Grant folie fist Medea: / Trop ot le vassal aame´, / Por lui laissa son parente´, / Son pere e sa mere e sa gent (V. 2028–2033). Alle Zitate nach: Le Roman de Troie par Benoıˆt de Sainte-Maure, publie´ d’apre`s tous les manuscrits connus par Le´opold Constans, 6 Bde., Paris 1904–1912, Nachdruck New York/London 1968.

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Gegenstandes aus einem abgeschlossenen Raum und die Entführung von Menschen provozieren Leid und Untergang, sondern hier führt paradoxerweise das ›Geschenk‹ einer Sache zum Fall, weil die heimtückische Gabe es ermöglicht, daß die Griechen in das durch Mauern begrenzte Troja eindringen und die geschützte Stadt von Innen heraus überwältigen. Rein strukturell betrachtet konstituiert sich die Raffinesse der Pferdelist erzählerisch damit nicht zuletzt dadurch, daß die im Trojastoff als Verständnismodell institutionalisierte Kausalkette von Raub und Rache nunmehr in verkehrter Form erscheint: Rache durch ›Gabe‹. Das große Variationspotential des Grundmusters, das sich vor allem in der Episode vom Trojanischen Pferd manifestiert, führt dazu, daß ganz unterschiedliche Konzepte vom abgeschlossenen Raum, in den eingedrungen wird, koexistieren und bisweilen ineinander greifen. Hauptsächlich drei Auffassungen vom Innenraum lassen sich im Kontext der Trojastofftradition ausmachen. In den Koordinaten von Bedrängung und Verteidigung fungieren die Innenräume im Grundsatz als Schutzräume. Ihre textliche Gestaltung impliziert konsequenterweise die Vorstellung einer feindlichen Außenwelt, von welcher sich die Innenräume abgrenzen und vor der sie ihre Bewohner zu bewahren versuchen. Konstituierend für das topographische Grundmuster, wie es sich im Trojastoff darstellt, ist dabei jedoch, daß die Schutzfunktion oft nicht gelingt, der abgeschlossene Raum mithin zur Falle wird, in der Frauenraub und Totschlag stattfinden: Hesione und Helena werden aus Tempeln entführt, die Mauern Ilions verhindern die Flucht der Trojaner vor den mordenden Griechen. Neben das erste, grundlegende Konzept vom Innenraum als Schutzraum tritt daher als zweites die Vorstellung vom Innenraum als Ort besonderer Gewalt. Daß der Krieg selbst vor dem Rückzugsort nicht haltmacht, sondern vom Schlachtfeld in die Stadt, deren Häuser, Innenräume und Tempel übergreift, soll seine ganze Härte in ihrem zerstörerischen Ausmaß vorführen. Wenn die griechischen Krieger aus dem engen Raum des Trojanischen Pferdes ausbrechen und die Stadt – in doppelter Weise – ›von Innen heraus‹ zerstören, wird der abgeschlossene Innenraum, in diesem Fall das hölzerne Roß, sogar selbst zur Keimzelle von Gewalt und Mord. Ein weiterer, dritter Aspekt tritt in Verbindung mit der Liebesthematik hinzu: Der Innenraum ist der heimliche Ort, an dem sich minne entfalten kann. Ein von den Augen und Ohren der Öffentlichkeit abgeschirmter Platz ermöglicht Zwiegespräche und physische Annäherung. Vor allem im Rahmen der AchillHandlung scheinen, wie noch zu zeigen sein wird, alle drei Raumkonzepte − Schutzfunktion, Gewaltbühne, minne-Ort – miteinander verwoben zu sein. Auffällig ist, daß bei weitem nicht alle Bearbeiter des Trojathemas das topographische Sinnangebot, welches der Stoff selbst bereitstellt, auch für die Textgestaltung konstruktiv nutzen. Benoıˆt de Sainte-Maure, Verfasser des alt-

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französischen ›Roman de Troie‹3 und Quellenautor für die beiden mittelhochdeutschen Trojadichter Herbort von Fritzlar4 und Konrad von Würzburg,5 situiert die Handlungsteile in den stofflich vorgegebenen Orten und Räumen; die prachtvolle Chambre de Beaute´s (›Roman de Troie‹, V. 14631–4958) ist sogar seine ganz eigene Zutat.6 Doch eine topographische Sinnstruktur, auf der sich das thematische Spannungsfeld von strıˆt und minne entfalten könnte, forciert Benoıˆt nicht. − Ganz anders und sehr unabhängig von seiner altfranzösischen Vorlage geht in diesem Punkt Herbort von Fritzlar vor, und dies mag angesichts der gängigen Forschungsmeinungen über den hessischen Kleriker und sein ›Liet von Troye‹ überraschen. Fügen sich in den Augen der Literaturhistoriker die Trojaromane Benoıˆts und Konrads organisch in ihr jeweiliges literarisches Umfeld ein, so kommt Herbort noch immer eine nicht unproblematische Sonderstellung zu, die traditionell zu seiner Minderbewertung geführt hat.7 Herbort, der seinen Trojaroman immerhin im Auftrag des Landgrafen Hermann von Thüringen verfaßt,8 werden schwerwiegende Vorwürfe gemacht: Er bearbeite seine altfranzösische Quelle nicht im Sinne des 3

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Allgemeine Informationen zu Autor und Werk bieten Louis-Fernand Flutre / Francine Mora, Benoıˆt de Sainte-Maure, in: Dictionnaire des lettres franc¸aises. Le Moyen Age, hg. von Genevie`ve Hasenohr und Michel Zink, Paris 1964, S. 139–141. Grundlegend Hans-Hugo Steinhoff, Herbort von Fritzlar, 2VL 3, Sp. 1027–1031. Siehe Horst Brunner, Konrad von Würzburg, 2VL 5, Sp. 272–304. Über Konrads ›Trojanerkrieg‹ handelt umfassend Elisabeth Lienert, Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ›Trojanerkrieg‹, Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22). Einen umfangreichen, auf das Stoffliche konzentrierten Quellenvergleich bietet bereits Clemens Fischer, Der altfranzösische Roman de Troie des Benoit de Sainte-More als Vorbild für die mittelhochdeutschen Trojadichtungen des Herbort von Fritzlaˆr und des Konrad von Würzburg, Paderborn 1883. Vgl. dazu den forschungsgeschichtlichen Überblick von Bauschke, in dem bestimmte Mechanismen von Abwertung und Aufwertung im Zusammenhang der Datierungsfrage offengelegt werden: Ricarda Bauschke, Geschichtsmodellierung als literarisches Spiel. Zum Verhältnis von gelehrtem Diskurs und Geschichtswahrheit in Herborts ›Liet von Troye‹, in: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300, Cambridger Symposium 2001, hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young, Tübingen 2003, S. 155–174. Siehe ›Liet von Troye‹, V. 92f.: daz hiz der furste Herman, / der lantgrave von Duringen lant. – Die Zitate aus Herborts ›Liet von Troye‹ folgen prinzipiell der Ausgabe von Frommann: Herbort’s von Fritslaˆr liet von Troye, hg. von Karl Frommann, Quedlinburg/Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 5), Nachdruck Amsterdam 1966 (Editions Rodopi). Zur leichteren Lektüre werden hier folgende Änderungen vorgenommen: Abbreviaturen erscheinen aufgelöst, die wechselnden u- und v-Graphien sind nach ihrem nhd. Lautwert getrennt; gleiches gilt für i- und j-Schreibungen. Schaft-s erscheint als Rund-s. Eigennamen werden groß geschrieben; eine dem nhd. Gebrauch entsprechende Interpunktion soll das Verständnis erleichtern.

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›modernen‹ adaptation courtoise-Verfahrens amplifizierend;9 er verzichte auf eine idealisierende Überformung der Darstellung;10 und er sei – so zuletzt das Untersuchungsergebnis von Elisabeth Schmid für die Kampfdarstellungen im ›Liet von Troye‹11 – nicht in der Lage gewesen, die Stoffülle angemessen zu strukturieren. Alle Kritikpunkte laufen letztlich auf ein und denselben Aspekt hinaus, nämlich daß Herbort sich höfischen Erzählverfahren verschließe oder – bei weniger wohlwollender Sicht – daß er nicht die notwendige Kompetenz besessen habe, um zeitgenössische Verfahren höfischen Erzählens zu aktualisieren. Im folgenden sollen einige dieser Vorurteile revidiert oder zumindest in Frage gestellt werden. Es wird zu zeigen sein, daß Herbort innovativ und bisweilen völlig unabhängig von seiner altfranzösischen Quelle eine ausgefeilte Raumregie entfaltet, wobei er durch die spezifische Topographie der Handlungsschauplätze die Bedeutung seines Textes in bestimmter Weise determiniert. Dafür bezieht er sich durchaus auf höfische Erzählverfahren, funktionalisiert diese jedoch neuartig und setzt sich kritisch mit ihnen auseinander. Obwohl auch Herbort auf die stoffgeschichtlich vorgegebenen topographischen Konstellationen zurückgreift, offenbart sich gerade im Vergleich mit der Benoıˆt-Vorlage, daß er an zentralen Stellen ganz eigene Akzentuierungen vornimmt und damit neues Sinnpotential eröffnet.12

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Über Herborts abbreviatio-Konzept handeln Franz Josef Worstbrock, Zur Tradition des Troiastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar, ZfdA 92 (1963), S. 248–274; Hans Fromm, Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer, PBB 115 (1993), S. 244–278; Elisabeth Schmid, Ein Trojanischer Krieg gegen die Langeweile, in: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 199–218. So urteilt zum Beispiel Ruth Auernhammer, Die höfische Gesellschaft bei Herbort von Fritzlar, Erlangen 1939. Noch entschiedener vertritt diese Position Helga Lengenfelder, Das ›Liet von Troyge‹ Herborts von Fritzlar. Untersuchungen zur epischen Struktur und geschichts-moralischen Perspektive, Bern/Frankfurt a. M. 1975 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Literatur und Germanistik 133). Elisabeth Schmid, Benoıˆt de Sainte-Maure und Herbort von Fritslar auf dem Schlachtfeld. Zwei Stichproben aus dem Trojanischen Krieg, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris 16.–18.3.1995, hg. von Ingrid Kasten [u. a.], Sigmaringen 1998, S. 75–184. Für eine grundsätzliche Neubewertung von Herborts ›Liet von Troye‹ vgl. Ricarda Bauschke, Herbort von Fritzlar: ›Liet von Troye‹. Antikerezeption als Diskursmontage und Literaturkritik, Wiesbaden (Wissensliteratur im Mittelalter) [im Druck]. Vgl. auch Bauschke, Geschichtsmodellierung [Anm. 7], sowie Ricarda Bauschke, Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar. Verfahren interdiskursiver Sinnkonstitution und ihr Scheitern im ›Liet von Troye‹, in: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, hg. von Wolfgang Haubrichs [u. a.], Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 347–365.

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Die Vorstellung vom Innenraum als Rückzugsort, an dem der Einzelne Schutz vor der feindlichen Außenwelt findet, konstituiert grundlegend Herborts Darstellung der Kriegsereignisse im ›Liet von Troye‹. Bereits im Rahmen der ersten Zerstörung Trojas wird dieser Aspekt expliziert. Herbort schaltet der tatsächlichen Auseinandersetzung zwischen Griechen und Trojanern eine wörtliche Rede vor, in welcher Herkules seine Kriegsstrategie unter besonderer Berücksichtigung der geographischen Lage Trojas entwirft: wir suln uns in fier scharn. Peleus blibe in dem mer, Pollux da bi mit sime her, in daz gebirge kere Kastor, zu walde der alde Nestor. ich wil mit Telamone slichen harte schone bi die burg in den hagen. als sie danne beginnent jagen uz der burg zu unser schare, so nemen allesamt ware, wie wir sie umberingen (V. 1278–1289)

Nur außerhalb der Stadt können die Bewohner gestellt werden; das Stadtinnere steht für Schutz und Sicherheit. Die Erwähnung des Wächters auf der Zinne in dem auf die wörtliche Rede folgenden Erzählerbericht verstärkt noch die Polarisierung von Innen und Außen: Des morgens, do ez tagete, der wechter mere sagete. er rief von der zinnen: »ich sehe daz lant brinnen [...].« (V. 1295–1298)

Das architektonische Element der Zinne und der in Ausübung seiner warnenden Aufgabe vorgeführte Wachmann lassen das Bild einer funktionierenden Verteidigungsanlage entstehen, wobei der Hinweis auf das vom Krieg betroffene Umland wiederum die Schutzfunktion des Innenraumes ›Stadt‹ pointiert. Laomedon reagiert entsprechend, wenn er das Kampfgeschehen, das sich vor den Mauern Trojas abspielt, verlagern will: er sprach: »mir ist harte ummere, daz diz folc hie lit. sie sint kumen durch strit. wir wollen ez in bringen uf daz felt mitten under ir gezelt.« (V. 1342–1346)

Von der Stadt weg hin auf das Schlachtfeld möchte der König den Krieg verlegen und darüber hinaus seinerseits die Griechen in deren Schutzort, dem im Vergleich zur Stadt fragilen Zeltlager, aufspüren; denn das Eindringen in den Rückzugsort verspricht Überlegenheit und Kriegsgewinn. Unter militärischen Gesichtspunkten scheint dieser Sachverhalt banal; bemerkenswert ist allerdings,

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daß Herbort ihn für seine Literarisierung des Trojastoffes thematisch macht und als Grundlage einer raumbezogenen Erzählstrategie etabliert. Trotz aller Gegenmaßnahmen führt die Kriegslist des Herkules zum Erfolg; Troja fällt, und die Bewohner klagen: wir han Troyam verlorn. turme unde kemenaten, die sin uns vurraten. (V. 1522–1524)

Die Niederlage wird formuliert als Verlust von Verteidigungsanlagen und Rückzugsräumen. Eine Steigerung des Bildes findet sich in der Darstellung von der Plünderung und dem Schleifen der Stadt: do brachen sie die feste. sie zu furten die burg al: kemenaten unde sal, hus unde palas. allez, daz dar inne was, groz unde kleine, da enbleip niht stein uf steine. die graben wurden gefolt. sie namen silber unde golt, gut gesteine, schone gewant [...]. (V. 1620–1629)

Den Untergang symbolisiert dabei vor allem die totale Zerstörung des ›Innen‹: allez, daz dar inne was.../ da enbleip niht stein uf steine (V. 1624–1626). Auf die Schutzfunktion des abgeschlossenen Innenraumes wird zusätzlich in der Passage angespielt, wo Herbort das Schicksal der Frauen perspektiviert: die frauwen geflohen waren. wie solden sie gebaren? sie enwisten wie gelazzen. in dem bethuse sie sazzen, da heime in ellende. sie lenten zu der wende. ir wangen neigeten sie uz der hant. zufallen was in ir gewant, ir gebende beroubet, ir houbet zu stroubet, umberichtet ir har. (V. 1581–1591)

Die Formulierung da heime in ellende (V. 1585) verweist auf die paradoxe Situation, in der die Trojanerinnen sich befinden, und macht klar, daß der Verlust der Stadt als schützendem Innenraum gleichbedeutend ist mit dem Verlust der sich über die Herkunft definierenden Identität. Wenn Telamon Hesione schließlich aus dem Tempel raubt und verkebst, setzt er den identitätsvernichtenden Prozeß, den Herkules mit der Zerstörung der Stadt einleitet, bis an die Grenzen fort. Darüber hinaus fällt auf, daß die Frauen sich bezeichnenderweise nicht im Dickicht aus Büschen und Bäumen, das Troja umgibt, verstecken, sondern in

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einen abgeschlossenen Raum flüchten, gleichsam einem Pendant zu ihrer verlorenen Stadt: in dem bethuse sie sazzen (V. 1584). Daß sie erschöpft und zerzaust an den Wänden lehnen, visualisiert die grundsätzliche Bedeutung des Gebäudes als Ort der Geborgenheit und Sicherheit. In dem Maße allerdings, in welchem die Schutzfunktion der Häuser und Tempel hervorgehoben wird, potenziert sich reziprok das schreckliche Ausmaß von Gewalt einerseits und Hilflosigkeit andererseits, sobald die Griechen aggressiv in die Innenräume eindringen. Die erläuterten Aspekte sind nicht allein Herborts Eigentum. An entscheidenden Stellen kann er auf Vorgaben aus dem altfranzösischen ›Roman de Troie‹ aufbauen. Anders als Benoıˆt nutzt Herbort jedoch die in der LaomedonHandlung entworfene Raumregie als Folie für seine Schilderung des großen zweiten Trojanischen Krieges. Dies können bereits wenige Beispiele veranschaulichen: Über weite Strecken werden die Kampfhandlungen in dem mittigen Schlachtfeld situiert, das sich zwischen dem abgeschlossenen Raum der Stadt Troja und dem wehrhaft mit Schutzwällen befestigten Zeltlager der Griechen befindet. Wie die Krieger morgens aus der Stadt oder dem Lager auf das Schlachtfeld reiten und abends von diesem in die schützenden Einrichtungen zurückkehren, sind immer wiederkommende Darstellungstypen, die Herbort verwendet, um das Kampfgeschehen nicht nur mit Hilfe eines Tag-NachtRhythmus, sondern auch durch eine räumliche Szenenregie zu strukturieren: do quamen sie zu den pherden unde riten uz zu felde, uz den gezelden und uz der stat von Ylion, als sie waren gewon. (V. 12664–12668) Ez was abunt stunde. Ector begunde mit den sinen keren in die stat. (V. 4601–4603) sie riten harte spete: diese in die stat, die in die gezelt. sie mochten kume uber daz felt vor toten geriten. (V. 13300–13303)

Beide Kampfparteien versichern sich der Funktionstüchtigkeit ihrer Rückzugsorte. Die Griechen errichten ein stabiles Lager: Agamennon die Crichen bat, daz die breiten uf daz felt ir pasilune und ir gezelt, unde hiez sie hutten stellen unde boume fellen unde machen hamiden. sie entorsten ez niet vermiden; daz er gebot, daz geschach.

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Ricarda Bauschke sie machten wende unde dach von deme walde [...] (V. 4604–4613)

Auch auf trojanischer Seite werden Maßnahmen getroffen. Hector wappnet seine Stadt gegen Angriffe: do gesahen sie in allen enden dannoch in dem fride turme, zinnen, berfride, muren, erckere unde wie in were. an dem graben und an der graft Hector tac und nacht buwete baz und baz, biz er harte wol daz gesach unde weste, daz die stat was feste. (V. 6192–6202)

Auf dieser Handlungsbühne wird dem Zuhörer das wechselnde Schlachtglück nun vor allem topographisch vermittelt, nämlich indem zum einen die Griechen die Trojaner bis vor die Stadttore und sogar in die schützenden Mauern hinein treiben: tot wart her Paris in die stat heim gevort. die Crichen quamen nach gerort unz an daz burc tor, da hilden sie vor. sie besazzen da binnen. swie vaste man von den cinnen unt von den turnen werte, daz crichische her beherte, sie konden sie niht vertriben. (V. 14008–14017)

Zum anderen aber drängen die Trojaner ihrerseits die Griechen in mehreren Stufen zurück – bis vor die Zeltstadt, in das Lager selbst, welches sie plündern, hinein und schließlich ganz bis an das Meer und zu den Schiffen: die von Troyge uz der stat gwunnen die ubern hant. die Crichen wichen zu hant unt die Troyger in nach. die da fluhen, den was gach uber daz gevelde hin zu dem gezelde. da wurden sie inne bestanden mit unminne. ez ginc da an ein fechten mit herren unt mit knechten unt mit den sarjanten. in die herberge sie in ranten.

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daz sie dar inne funden oder finden kunden, daz was allez verlorn: win, fleisch unde korn, silber, golt unde gewant unt swaz man joch dar inne fant von schatze oder von spise. da volgete Parise ein vil kreftigiz here. er karte hin zu dem mere. zu den schiffen sie ranten, mit gewalt sie sie verbranten. (V. 11780–11804)

Einerseits gründet sich die lang anhaltende Überlegenheit der Trojaner nicht zuletzt auf ihrem Vorteil, von einer befestigten Stadtanlage aus agieren zu können, und so pointiert Herbort die entsprechenden Bauelemente der Verteidigungsanlage; andererseits nutzt er aber eben diese architektonischen Details wiederum, um die immer größer werdende Bedrängung der Stadt zu veranschaulichen. In der zunehmenden Ausdifferenzierung räumlicher Besonderheiten und der partiellen Anthropomorphisierung Trojas manifestiert sich ganz dinglich der bevorstehende Untergang: hetten die steine witze und sinne, turm und zinne, erker und berfrit und daz burctor damit, obene und unden, von dem fullemunde beide kalc und sant, von deme dache biz an die want kunden sie sich verstan: sie mochten wol geklagent han durch Hectoris unheil. nu bleip ir entsament dehein teil. (V. 10464–10476)

Kampfgewinn und Niederlage bemessen sich also nicht allein in der Anzahl der Verletzten oder der Prominenz der Toten, sondern an den wechselnden Schauplätzen und den textlichen Konkretisierungen der Rückzugsorte Troja bzw. Zeltlager. Die Eskalation der Auseinandersetzung und das Ausmaß des mit den Kampfhandlungen einhergehenden Leides kann darum vor allem dadurch pointiert werden, daß der innere Raum als ursprünglicher Schutzort nun selbst zum Schauplatz von Gewalt wird. Genau diesen Aspekt hebt speziell Herbort im Rahmen des Motivs vom Trojanischen Pferd gleich in doppelter Hinsicht hervor: sie hetten es drinne keinen wan. ir dehein newiste der Crichen argeliste.

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Ricarda Bauschke do sie begunden nahen, ein groz fur sie sahen vor dem rosse brinnen. da waren drizzic inne, rittere verborgen unt verholen. (V. 16153–16160)

Perfiderweise bietet der Innenraum des hölzernen Rosses nicht Flüchtenden Geborgenheit, sondern er liefert Aggressoren den Schutz der Heimlichkeit, ohne welche die Kriegslist nicht gelingen könnte. Der Innenraum des Pferdes fungiert damit durchaus als Ort der Sicherheit, nämlich für die griechischen Kämpfer, die auf diese Weise unbemerkt in das Innere der Stadtmauern Trojas gelangen. Für die Trojaner jedoch entspringen aus diesem ›griechischen Innenraum‹ Untergang und Tod; denn um das Pferd einfahren zu können, zerstören sie Teile ihrer Befestigungsanlage, sie selbst öffnen also die Stadtbegrenzung für Angreifer: Sie zu brachen unde zu forten ir muren in den worten, daz ez dar in queme, wen ez drin wol gezeme. do sie ez dar in brachten, die Crichen gedachten, sint zu brochen wart ir gewer, daz die von Troyge irme her nicht enmochten widerstan. (V. 16082–16090)

Mit dem hölzernen Roß akzeptieren die Trojaner einen Fremdkörper in ihrem inneren Bereich, und durch eben diese leichtfertige Gefährdung der Integrität ihrer Stadt provozieren sie deren Fall. Herbort, der diesen Aspekt besonders deutlich hervorhebt, verfolgt diese Richtung weiter, wenn er seine Darstellung der Eroberung Trojas mit architektonischen Details versieht: uz dem rosse sie traten, als ez was geraten. da wart lenger niht gebeit. als ez uf was geleit, besatzten sie die porten ot in den worten, daz ir dehein da enbinnen dar uz mochte entrinnen. sie hetten die gazzen gezalt unde lagen gestalt, beide uf unde nider unde fort und wider, sie hetten hute uberal. da enwas hus noch sal noch dehein kemenaten: sie weren alle verraten. (V. 16178–16193)

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Nachdem die Griechen durch List in das Innere der Stadtmauern gelangt sind, verhindern sie mit der Besetzung der Tore und durch Hinterhalte in den Straßen die Flucht der Bewohner. Dem Prinzip der Steigerung folgend, schließt sich an die Nennung öffentlich-städtebaulicher Elemente (porten, gazzen) die Erwähnung intimer Innenräume an. Herbort bezeichnet die räumlichen Rückzugsorte explizit: hus, sal, kemenate, er spricht ihnen ihre Schutzfunktion in diesem Fall aber ausdrücklich ab: sie weren alle verraten (V. 16193). Dabei fällt die besondere Drastik der Kriegsdarstellung auf, die für das ›Liet von Troye‹ insgesamt als typisch gilt:13 ez mochte got erbarmen den wiben. an den armen, da sie die kint trugen, zu tode sie sie slugen. hus unde palas unde swaz da gesezis was von blute ez allez vol floz. dehein mensche es genoz, so ez zu dem bethus floch. swer in dar inne bezoch, dem muste er den lip lazzen. gazzen unde strazzen fluzzen alle von blute. sie enmochten vor hute zu deheiner flucht kumen. des wart in allen der lip genumen. (V. 16212–16227)

Aus den Gebäuden quillt das Blut, es dringt nach außen und fließt durch Straßen und Gassen. Daß gerade der bewahrende Innenraum nun zur tödlichen Falle wird, verweist auf die Pervertierung der bestehenden Ordnung in Kriegszeiten und führt zugleich die Totalität der Vernichtung vor. Im Rahmen der zweiten Zerstörung Trojas bedeutet der Verlust des Innenraumes ganz konkret den Verlust des eigenen Lebens und schließlich insofern auch den Verlust einer auf Zukünftiges gerichteten Identität, als mit dem Kindermord die hoffnungsvolle Perspektive auf dynastisches Fortleben in den Nachkommen ausgelöscht wird. Auch Achill findet in einem abgeschlossenen Raum sein Ende, doch ist die Lokalisierung seiner Ermordung im Apollo-Tempel neben dem Grabmal Hectors anders zu bewerten als der Gewaltort des untergehenden Troja oder die Tempel, aus denen Hesione und Helena entführt werden. Denn der Tod Achills ist in besonderer Weise mit der Liebesthematik verknüpft, und somit wird an dieser Stelle ein weiteres Konzept vom Innenraum für die Handlungstopogra13

Vgl. dazu Fromm [Anm. 9] und Reinhard Hahn, Zur Kriegsdarstellung in Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹, in: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters, Bristoler Colloquium 1993, hg. von Kurt Gärtner [u. a.], Tübingen 1996, S. 102–122.

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phie wirksam. Daß es vor allem die abgeschlossenen, von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit abgetrennten Innenräume sind, in deren Heimlichkeit sich ein minne-Geschehen entfalten kann, führt Herbort in der das ›Liet von Troye‹ einleitenden Liebesgeschichte zwischen Jason und Medea beispielhaft vor.14 Die räumliche Ausstattung, palas (V. 529) mit Sitzbänken: er satzte sie uf die benke (V. 531), und die abgeschirmten Orte gadem (V. 593) und kemenate (V. 696) ermöglichen allererst das gegenseitige Liebesgeständnis, den Verrat an Aeetes und den minne-Vollzug. – Im Gegensatz zu diesem ›Idealfall‹ sind Polyxena und Achill durch ihre jeweilige Zugehörigkeit zu den gegnerischen Parteien soweit als nur möglich räumlich voneinander getrennt. Dennoch siedelt Herbort Teile der Liebeshandlung in Innenräumen an, wobei er sich ausdrücklich auf die literarisch etablierte Vorstellung der tougen minne bezieht. Der Bote Achills trifft Polyxena im Palas an: und als er uf daz palas do zu der frowen solte gan, so vant er Polixenam stan, hubesch unde wol gezogen. in des sales swibogen er gruzzete sie stille unde sagete ir von Achille holde minne und allez gut. schone presente und einen hut, daz ir sin herre hette gesant, gap er ir stille an ir hant. (V. 11406–11416)

Unter dem Schwibbogen (V. 11410), also in dem von der Öffentlichkeit des Saales etwas abgetrennten Seitenschiff, kann der Bote Polyxena heimlich – die Doppelung von stille (V. 11411, V. 11416) hebt den Ausschluß der Öffentlichkeit zusätzlich hervor – Nachricht und Geschenke von Achill überbringen. Die Darstellung orientiert sich an zeitgenössischen Formulierungen von Werbesituationen und soll mithin auch die minne Achills für Polyxena in einen literarischen Traditionszusammenhang stellen und mit entsprechendem Sinn füllen. Analog verortet Herbort die Liebesqualen des Peliden im Verborgenen, nämlich – wie bei Eneas vor Laurentum15 – im Zelt: Uf dem felde in sime gezelde 14

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Über die Bedeutung der Jason-Medea-minne als Verständnisfolie für die Darstellung der Liebe zwischen Achill und Polyxena vgl. Bauschke, Herbort [Anm. 12], dort besonders in Kapitel IV die Abschnitte 2.1.2 Liebeskrankheit und zerstörerische minne (Troilus – Briseis – Diomedes, Achill – Polyxena), 3 Die Bedeutung der Argonautensage. Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Nhd. übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986 (RUB 8303), V. 11019–11345.

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Achillen sie vonden. er gebarte in den stunden, als er hette den zan swern. er enwiste, was er solde gern oder wes er geren mochte. die minne in so drochte. (V. 12075–12082)

Mit dem ironischen Erzählerkommentar, in welchem Achills Liebespein Zahnschmerzen gleichgesetzt wird (V. 12078f.), distanziert Herbort sich allerdings sogleich von dem zitierten literarischen Schema. Finden die Kriegshandlungen in der Öffentlichkeit statt, so vollziehen sich die Minnekonstellationen idealiter in der Heimlichkeit, wie sie ein Innenraum garantiert.16 Jason und Medea geben im ›Liet von Troye‹ das entsprechende Modell vor. In dem Antagonismus von öffentlichem Krieg und heimlicher Zweisamkeit liegt indes genau die Chance für die Trojaner, Achill in den Hinterhalt zu locken. Der heimliche Ort des Tempels verspricht ein Stelldichein und wird zur tödlichen Falle: sie namen beide ir swert und anders deheine were unde slichen uz dem here unde quamen hin bi daz tor, da begraben lac Hector unde sin bruder Troylus, unde gingen in daz bethus, dar in was bescheiden. [...] da lagen bi den swibogen unde bi den wenden in fier enden zwencic ritter, starke man, unde hetten ir halsberge an, wol zu gereche in alle wis. da was ouch inne Paris. ez was da finster inne, als die kuneginne hette geraten. zutz in darin traten die zwene herren under des, Antilocus und Achilles. do sie wol quamen darin, jene waren hinder in unde besluzzen die ture unde zucten ir kerzen hervure uzze den kisten. (V. 13548–13577) 16

Wenn Diomedes bei seiner Liebeserklärung an Briseis von diesem Modell abweicht, weil er der Calchas-Tochter seine minne auf dem leeren Schlachtfeld anträgt, erzeugt dies Ironie und Komik gegenüber dem konventionalisierten Schema; vgl. dazu Bauschke, Herbort [Anm. 12].

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Die konkrete Ausgestaltung des Raumes ist ganz Herborts Eigentum. Benoıˆt verzichtet völlig auf eine Ausmalung des Tatortes und überläßt die Vorstellung architektonischer Besonderheiten der Phantasie seiner Zuhörer. Im ›Liet von Troye‹ dagegen erscheinen alle erwähnten räumlichen Details (wenden, in fier enden, besluzzen die ture, swibogen) sowie die Umstände ›Dunkelheit‹ (ez was da finster inne) und ›Kerzenlicht‹ (zucten ir kerzen hervure) als architektonische bzw. situative Hilfsmittel für den verräterischen Mord. Es handelt sich dabei wohl kaum um einen Zufall, daß sich die Feinde ausgerechnet in dem Seitenschiff unter den Schwibbögen verstecken. Der terminus technicus aus der Baukunst,17 der im ›Liet von Troye‹ ausschließlich an den beiden genannten Stellen vorkommt, schlägt den Bogen vom Tempelmord zurück zu Polyxena und erinnert an die eigentliche Erwartung, mit der Achill das Gotteshaus betreten hat. Herbort hebt damit die Perfidität des Täuschungsmanövers nachdrücklich hervor. Zu den anderen Gewaltorten im Trojaroman ergeben sich dabei Unterschiede und Parallelen. Achill flüchtet nicht in den Tempel, um Aggressoren zu entkommen und dem Krieg zu entgehen, sondern er begibt sich freiwillig dorthin und verspricht sich vom Betreten des Raumes Zugang zu Polyxena. In diesem Sinne steht der Ort nicht – wie bei der Vorstellung vom Schutzraum – für das erweiterte Innere von Achill, sondern ist vielmehr als Platzhalter für die Geliebte zu deuten. Andererseits trifft, und hierin liegt eine Parallele zu den Gewaltorten, Achill die Aggression in einem Raum, der als potentieller minne-Ort (zumindest in der falschen Einschätzung Achills) eigentlich Schutz vor der feindlichen Außenwelt bieten sollte. Daß die Feinde in der Heimlichkeit und vermeintlichen Geborgenheit des Innenraumes den Peliden stellen und sein Ende herbeiführen, verweist dabei auch auf die grundsätzliche Aussichtslosigkeit der Liebe zwischen Achill und Polyxena; und diese minne entfaltet insofern eine zweifache zerstörerische Kraft,18 als der Pelide nicht nur getötet wird, sondern dem ersten Krieger auf griechischer Seite mit dem heimtückischen Meuchelmord durch Paris der ruhmreiche ›öffentliche‹ Heldentod auf dem Schlachtfeld verwehrt bleibt. Auch die Wahl des Ortes für den Hinterhalt ist primär im Kontext des griechisch-trojanischen Konfliktes zu bewerten; denn der ApolloTempel beherbergt das Grab des von Achills Hand gefallenen Hector. Als Rachebühne ist er damit der geeignete Platz, als Vollzugsort einer überparteilichen minne-Konstellation kommt er jedoch nicht wirklich in Frage.

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Lexer, Bd. 2, Sp. 1370. Schnell kommt zu dem Ergebnis, Herbort spreche sich grundsätzlich gegen eine mögliche positive Dimension von Liebe aus, vgl. Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern / München 1985 (Bibliotheca Germanica 27). Bauschke, Herbort [Anm. 12], vertritt hier eine andere Position.

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Das Grabmal Hectors als verhinderter Liebesort steht in enger Verbindung mit einem anderen minne-Raum, nämlich dem Liebesgemach von Paris und Helena, das sich im Palast von Troja befindet. Die Chambre de Beaute´s malt Herbort zwar weit knapper aus als Benoıˆt,19 doch er behält die wesentlichen Ausstattungsmerkmale bei: den quadratischen Grundriß (V. 9249), die gedrechselten, mit kostbaren Edelsteinen besetzten Eckpfeiler (V. 9250–9263), die lebensechten Figuren auf den Säulen (V. 9275–9298). Alle Sinne werden angesprochen: Der Lichterglanz hat ein paradiesisches Ausmaß,20 das Saitenspiel läßt alles Unglück vergessen,21 und der Blumenduft besitzt heilende Kräfte;22 deutlich wird auf die Vorstellung der minne als Ärztin angespielt. Doch auch für diesen Raum relativiert sich die Funktion des minne-Ortes speziell unter den Vorzeichen des Krieges. Nicht als heimlicher Liebesort wird der gaden dem Zuhörer vorgestellt – seine Nutzung durch Paris und Helena schiebt der Erzähler erst erklärend nach –, vielmehr wird der Raum bei seiner ersten Erwähnung und ausführlichen Beschreibung sogleich einer ›öffentlichen‹ Funktion zugeführt: Er dient als Krankenzimmer, in dem der verwundete Hector von den Damen gepflegt wird und seine Kampfkräfte zurückgewinnt: in der kamern lac Hector, unz er wol gesunt wart. die kamer Parise gegeben wart, do er von Crichen quam unde mit im brachte Helenam. da waren sie inne an irre suzzen minne. die wile sie dar inne lagen, kurze wile sie phlagen maniger hande unde me, denne hie geschriben ste. dicke sie dar inne waren bi den zehen jaren. do zehen jar ergingen, do muste in misselingen. (V. 9375–9389)

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Den 328 Versen Benoıˆts (›Roman de Troie‹, V. 14631–14958) stehen nur 170 Verse Herborts (›Liet von Troye‹, V. 9221–9389) gegenüber. In die kamern, da er inne lac, / da endorfe niht schinen ander tac, / so clar unde so reine/ was daz gesteine, / daz dar inne luchte. / swer drin quam, den duchte, / daz da were ein paradis (V. 9221–9227). ez kunde wunders harte vile / unde aller hande seiten spile. / ouch kunde ez die seiten/ fingern und bereiten. / da was harte suzze gesanc, / schone lute unde wol clanc. / swie leide einen man were, / er vergezze siner swere (V. 9330–9337). da was nacht unde tag / suzzer ruch und suzzer smag. / gerouch si ein sicher man, / sine gesunt er wider nam, / ob er joch were tot gewunt. / des wart Hector gesunt: / von dem ruche er genas,/ swie er tot wunt was (V. 9346–9353).

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Die unheilvolle Verknüpfung von minne und strıˆt, Grundmotiv des Trojastoffes, findet damit speziell in der doppelten Verwendung des Liebesgemaches eine auch räumliche Konkretisierung: Die im Inneren der Figuren Paris und Helena anzusiedelnde Emotion der Liebe gerät notwendig in einen Konflikt mit der Außenwelt und provoziert den zweiten Trojanischen Krieg; in der Gestalt des todwunden Hector dringen nunmehr die Kampfhandlungen wieder in den Innenraum zurück. Hectors Heilung in der Chambre de Beaute´s ist damit gleichsam als erstes Glied in der Reihe zu sehen, die bis hin zum Gewaltort des untergehenden Troja führt. Der Krieg nimmt den Liebenden Paris und Helena den Raum, er tötet den verliebten Achill im Innenraum des Tempels, und er raubt schließlich den Bewohnern der befestigten Stadt Troja Identität und Leben. Herbort selbst forciert diese klimaktische Blickrichtung, indem er erstens seine Beschreibung des Hector-Grabes parallel zur descriptio der Chambre de Beaute´s anlegt, also die Raumgestaltung mit Säulen, die Art der Kapitelle, die kostbaren Edelsteine, das Ansprechen aller Sinne usw. wieder aufnimmt,23 und indem er zweitens das Innere Trojas nicht nur zum Schutzort vor dem Kriegsgeschehen stilisiert, sondern auch als Ort höfischer Vergnügungen mit Frauen präsentiert: die ritter kurzeten die zit mit den frouwen harte vile beide zu spotte unt zu spile. (V. 9218ff.)

Das belagerte Troja und die Chambre de Beaute´s erscheinen als Orte von höfischem Treiben und amour courtois; aufgrund der Kriegsrealität werden diese Innenräume jedoch auf ihre ganz pragmatischen Nutzungsmöglichkeiten zurückgeführt. Da auch die Heilung Hectors in dem zum Krankenzimmer umfunktionalisierten Liebesgemach seinen späteren Tod nicht abwenden kann, antizipiert die Aufnahme und Behandlung des Verwundeten in der Chambre de Beaute´s in gewisser Weise bereits den Untergang Ilions, das seinen Bewohnern den Schutz einer durch Mauern begrenzten Ansiedlung am Ende nicht mehr bieten kann. Speziell Herbort bindet das Liebesgemach damit ganz neuartig in den Handlungsverlauf ein; denn indem er die Darstellung der Chambre de Beaute´s in einer Weise akzentuiert, daß sich deren Beziehbarkeit auf die Makrostruktur des Gesamtgeschehens ergibt, gestaltet er bis zu einem bestimmten Grad diesen Innenraum im Sinne einer mise en abyme 24 der befehdeten Stadt und ihres Schicksals. 23

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Vier sule stunden dar unde / an dem fullemunde (10753ff.); Zwo sule waren rubine, / zwo almetine. / an dem gewelbe was sulch pris, / ez enwart nie man so wis, / swer ez gesehe, / der wande und jehe, / daz ez ein paradise / in aller hande wise (10773– 10780); da wer ein paradise: / man dorfte da niht der spise, / sulich was der wurze smac. / daz gesteine gap den tac / gliche der sunnen (V. 10805–10809). Vgl. zu diesem von Jean Ricardou geprägten Begriff den Artikel von Werner Wolf, Mise en abyme, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 1998, S. 373.

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Aufgrund der kausalen Verknüpfungen von minne und strıˆt, wie sie sich besonders in der Paris-Helena-Handlung und der Liebe zwischen Achill und Polyxena manifestieren, ist in der Forschung immer wieder vermutet worden, Herbort lege es vor allem darauf an, die destruktive Kraft der minne auszustellen; er weise grundsätzlich die wertsteigernden, positiven Qualitäten der Geschlechterliebe zurück.25 Dieses Argument greift allerdings insofern zu kurz, als es auf die minne zwischen Jason und Medea gerade nicht zutrifft. Das mythologisch vorgesehene grausame Ende der Verbindung, auf das Benoıˆt im ›Roman de Troie‹ explizit anspielt, blendet Herbort bewußt aus;26 ein Pseudoquellenverweis, der eine gezielte Fehlinformation über den Inhalt der altfranzösischen Vorlage liefert, markiert exakt an diesem Punkt die Leerstelle.27 Stattdessen entwirft Herbort in der Argonautenfahrt eine höfisierende Idealform,28 auf deren Folie sich die anderen minne-Handlungen bewähren müssen. Dabei scheint es ihm insgesamt weniger um eine kritische Haltung gegenüber der Geschlechterliebe zu gehen als vielmehr um die Kritik am Krieg – oder, noch weiter gedacht: Kritik an höfischer Literatur, die minne und strıˆt in einer ästhetisch überformten Verknüpfung harmonisiert. Für diesen Darstellungsimpetus legt Herbort wiederum den Grundstein in der Argonautenepisode. Das einleitende Fest des Peleus beschreibt er ausführlicher als Benoıˆt, wobei er gegenüber seiner altfranzösischen Vorlage bezeichnenderweise das Motiv des minne-Turniers neu hinzufügt: frauwen unde die dinstman quamen alle sament dar, wol bereitet unde gar zu behurt unde zu striten. (V. 228–231)

Höfische Damen und Ministerialen sind als Publikum und Teilnehmer zum Schaukampf erschienen; der höfische Liebesdienst wird alludiert. Für die Gestaltung des zweiten Trojanischen Krieges nimmt Herbort diesen Aspekt auf. Neben Recht und Gerechtigkeit sind Ritterschaft und minne zentrale Kampfmotivationen für die Verbündeten Trojas: 25

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Siehe dazu Schnell, Causa amoris [Anm. 18], und Lengenfelder, ›Liet von Troyge‹ [Anm. 10], aber auch Fromm, Herbort-Plädoyer [Anm. 9], und Ursula Schulze, Sie ne tet niht alse ein wıˆb. Intertextuelle Variationen der amazonenhaften Camilla, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 235–260. Über diesen Aspekt handelt Peter Kern, Zur ›Metamorphosen‹-Rezeption in der deutschen Dichtung des 13. Jahrhunderts, in: Eine Epoche im Umbruch [Anm. 7], S. 175–193. des quam Jason zu grozme lobe / in sines fetern des kuniges hove. / Hie ensaget nu niht me / daz welsche buch von Jasone / noch von sinem wibe. / min rede alhie auch blibe, / als sie da ist bliben (V. 1175–1181). Dazu ausführlicher in Bauschke, Herbort [Anm. 12], Kap. IV.3.

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Ricarda Bauschke jegelicher durch daz rechte, etlicher durch sin geslechte, ettelicher durch fruntschaft, etlicher durch ritterschaft, etlicher durch minne waren sie zu Troyge inne. (V. 4083–4088)

Dieser Tenor setzt sich fort, wenn die Frauen von der Stadtmauer aus das Kriegsgeschehen beobachten und kommentieren, als ob es sich um ein höfisches Schauturnier handelte: den frauwen was zu den zinnen gach, unde sahen irn frunden nach uz den fenstern uber al. sie clummen oben uf den sal, da sie die fenster funden. da sie sazzen und stunden, do gleiz ir varwe der sunnen engein also schone so die sunne schein. sie zeigeten mit den fingern dar, da sie sahen in die schar ir man und ir amis. sie sprachen: »da ritet Paris und da her Hector [...].« (V. 6245–6257)

Der Vergleich mit dem Sonnenglanz (V. 6251f.) ruft höfische Erzählkonventionen auf und rückt auch an dieser Stelle die Kriegshandlungen in die Nähe arturischer Ritterspiele. Dabei erzeugt die Kombination von höfischen Diskurselementen und realitätskonformen Details – Neugier treibt die Frauen an und läßt sie unhöfisch auf die Fensterbänke klettern – eine deutliche Distanz Herborts gegenüber literarisch ästhetisierten Kampfbildern. Den literaturkritischen Impetus markiert nicht zuletzt die intertextuelle Anspielung auf Hartmanns ›Erec‹: Für Enite ist, auf den leblosen Körper ihres Begleiters angesprochen, Erec aˆmıˆs und man (V. 6172),29 Geliebter und Ehemann in einer Person.30 Gleiches beansprucht Herbort für das Verhältnis der Trojanerinnen zu ihren Partnern (V. 6255). Ist Erec jedoch nur scheintot und wird durch die klagende Enite wieder zum Leben erweckt,31 bleibt das Schicksal der gefallenen Trojaner – trotz zahlreicher Klagen der Frauen in Worten und Gebärden – endgültig. Das utopische Modell Hartmanns weist Herbort damit explizit in seine Grenzen. Daß nämlich auf Höfisches hin stilisierte Verhal29

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Zitiert nach: Hartmann von Aue, Erec, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39). Darüber handelt Ursula Schulze, aˆmıˆs unde man. Die zentrale Problematik in Hartmanns ›Erec‹, PBB (Tüb.) 105 (1983), S. 14–47. in des toˆdes waˆne, / und doch des toˆdes aˆne (V. 6590f.).

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tensweisen der historischen Kriegswirklichkeit völlig fremd sind, zeigt sich im ›Liet von Troye‹, sobald die Sicherheit Ilions ernsthaft in Gefahr gerät; wiederum stehen architektonische Details der Stadtfestung und das Verhalten der Frauen im Vordergrund der Darstellung: in der burc die frouwen schrigen begunden unde schrigten alden stunden. ritter unde knechte, sturm unde fechte was vor der porten so groz, daz man die stat uf sloz, unde waren so benotet, daz mit blute wart berotet porte und mure. [...] da enwas nie dehein torn, erker noch berfrit, noch dehein zinne da mit man schuzze unde wurfe dar abe. von der frowen ungehabe, von irme geschreige und von klage manigerleige und von irme ungelazze und von dem unmazze, die von in wart gestalt, wart Hector erschalt. (V. 10176–10202)

Die Konfrontation ästhetisch überformter Kampfschilderungen auf der einen Seite mit kriegsrealistischen Details von Zerstörung, Vernichtung, Angst und Leid auf der anderen32 markiert eine entschiedene Distanznahme Herborts gegenüber literarischen Versuchen, kriegerische Auseinandersetzungen publikumsgefällig aufzubereiten. Textlich manifestiert sich dieser Aussageimpetus in einer Raumregie, die mit architektonischen Konkretisierungen auf die außerliterarische Wirklichkeit anspielt. Überdeutlich wird diese Gestaltungstendenz Herborts im Rahmen der schlachteinleitenden Natureingänge, die dem gesamten Kriegsgeschehen eine innere chronologische Struktur verleihen. Rüdiger Schnell33 und vor allem 32

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Letztlich bleibt auch Herborts Entwurf sicherlich immer ein literarischer. Das im Prolog entwickelte Erzählprogramm und die autoreferentiellen Einlassungen der Berichtsinstanz, welche das ›Liet von Troye‹ durchziehen, verdeutlichen allerdings, daß Herbort auch einen historiographischen Anspruch vertritt und sich insofern von zeitgenössischen Verfassern höfischer Erzählwerke abgrenzt. Siehe dazu Bauschke, Herbort [Anm. 12]. Rüdiger Schnell, Andreas Capellanus, Heinrich von Morungen und Herbort von Fritslar, ZfdA 104 (1975), S. 131–151.

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Dietrich Huschenbett34 haben bereits auf diese Besonderheit in Herborts Transformation der altfranzösischen Quelle hingewiesen, sie jedoch anders bewertet. Aus einzelnen Versen oder Verspaaren des ›Roman de Troie‹ extrapoliert Herbort – ganz eigenständig – morgendliche Naturschilderungen besonderer Art: Des morgens vil fru segelten sie zu Troyge zu ie baz und baz. der wechter uf der zinnen saz, sine tageliet er sanc, daz im sin stimme erklanc von grozme done. er sanc: »ez taget schone. der tac, der schinet in den sal. wol uf, ritter, uber al! wol uf! ez ist tac!«. do er gesanc, sin herze erschrac sere unde harte. er gesach uf der warte blicken gegen dem mer wert, halsberg, schilt, helm, swert unde die baniren manicfare. (V. 4175–4191) Do der wechter entsup, daz sich der tac uf hup und grawen begunde, er kunte die stunde. sin stimme harte lute erschal: »der tac schinet uber al. wol uf, rittere, ez ist tac«, daz die burc alle erschrac. da wart lenger niet gebit, sie waren gereit in den strit michels schierre den da bevor. (V. 6655–6665)

Mit der Wächter-Rolle, dem wörtlich zitierten Weckruf und dem malerisch visualisierten Tagesbeginn spielt Herbort auf die in der Minnelyrik konventionalisierte Szene an, wo ein Liebespaar sich nach gemeinsamer Nacht trennen muß und den anbrechenden Tag daher als Feind betrachtet. Anders als in der Textsorte ›Tagelied‹, die hier aufgerufen wird, läutet die Alba-Situation im ›Liet von Troye‹ jedoch die konkrete Kriegsgefahr ein. Die Verschiebung, die Herbort gegenüber der Lyrik vornimmt, offenbart sich dabei vor allem in der Figur des Wächters: In den Tageliedern erscheint er abgelöst von der ursprünglichen 34

Dietrich Huschenbett, Zur deutschen Literaturtradition in Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹, in: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen, hg. von Horst Brunner, Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 3), S. 303–324.

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Observations- und Warnfunktion, die sein realhistorisches Pendant ausübt; er verkündet nicht das Kommen kriegerischer Angreifer, sondern fungiert als Komplize der Liebenden und grenzt sich dadurch mit ihnen von den anderen Bewohnern der Burg ab. Wenn etwa der Wächter bei Wolfram von Eschenbach seine Wachposition, die Zinne, verläßt, um die heimlichen Liebenden zu warnen, ist seine Aufgabe von ihrem historischen Ursprung entkoppelt und gänzlich literarisch überformt.35 Herbort spielt mit diesem Modell. Auch sein Wächter befindet sich uf der zinnen (V. 4178), von grozme done (V. 4181) ist als metatextueller Verweis auf das lyrische Genre deutbar, und mit sine tageliet er sanc (V. 4179) wird gleichsam der sich erst in späterer Zeit ausbildende Gattungsname vorweggenommen. Dennoch ist im ›Liet von Troye‹ die literarisierte Figur nur der Anknüpfungspunkt, den Herbort benutzt, um nunmehr zu einer wirklichkeitsgetreu wirkenden Schilderung des Wächters in Erfüllung seiner historischen Aufgabe zurückzukehren: Der Wachmann weckt alle Bewohner, um sie für den Krieg zu mobilisieren. Auch das qua Tageliedsituation evozierte minne- bzw. huote-Personal verteilt sich im ›Liet von Troye‹ neu: Das außerhalb der Normen handelnde Liebespaar Paris und Helena lebt öffentlich im Schutz der Stadt, deren andere Bewohner nicht merkære oder nıˆdære sind, sondern freundlich gesonnene Verwandte und Verbündete. Die Bedrohung durch den Ehemann betrifft daher alle Trojaner, die sich gemeinsam mit dem Paar hinter den Mauern Ilions verschanzen; die Einnahme der Stadt durch die Griechen läßt sich damit nicht mehr auf die Metapher der Eroberung einer Frau reduzieren.36 Herbort gestaltet also eine doppelte Brechung: Er spielt auf die Literarisierung des historischen Burgwächters im Tagelied an, um im nächsten Schritt die literarische Figur mit ihrer lebensweltlichen Aufgabe zu konfrontieren und dadurch die Artifizialität ihrer Rolle in der Alba-Situation auszustellen; historische ›Realität‹ und deren Ästhetisierung werden in ein Spannungsverhältnis gebracht. In der neuen Kontextualisierung, die den Tageliedentwurf mit dem als geschichtlich verstandenen Trojastoff verknüpft, weist Herbort mithin die Alba-Situation und ihre literarischen Implikationen als rein fiktives, in der im ›Liet von Troye‹ zumindest partiell anvisierten Abbildung faktischer Wirklichkeit37 hohles Modell aus.

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Siehe John Greenfield, wahtære, swıˆc. Überlegungen zur Figur des Wächters im tageliet, in: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter, hg. von Ricarda Bauschke, Frankfurt a. M. [usw.] 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 10), S. 41–61. Zu diesem Bedeutungsspielraum von burc vgl. Dorothea Klein, Allegorische Burgen. Variationen eines Bildthemas, in: Die Burg im Minnesang [Anm. 35], S. 113–137. Über die Metonymie von ›Burg‹ und ›Frau‹ vgl. Ricarda Bauschke, Burgen und ihr metaphorischer Spielraum in der höfischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, ebd., S. 11–40. Vgl. oben, Anm. 32.

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Als Ergebnis läßt sich festhalten: Herbort kennt zeitgenössische Minnekasuistik und deren Aktualisierungsmöglichkeiten in Lyrik und Epik. Er ruft diese explizit auf, allerdings mit dem Impetus, sie zu demontieren und ihre Unbrauchbarkeit für die Behandlung des Trojathemas vorzuführen. Wie planvoll er diesen Zweck verfolgt, zeigt sich in der topographischen Strukturierung des geschilderten Geschehens mit Hilfe eines Innen-Außen-Konzeptes. Daß im ›Liet von Troye‹ der ursprünglich vor äußeren Anfeindungen sichere Innenraum im allgemeinen sowie der heimliche minne-Ort im besonderen zu Bühnen extremer Gewalt werden, soll die allumfassende Zerstörungskraft eines Krieges, der selbst vor Frauen und Kindern nicht haltmacht, ganz dinglich veranschaulichen. Hilflosigkeit und Verzweiflung der Zivilbevölkerung angesichts des bevorstehenden Verlustes von Identität und Leben manifestieren sich speziell im Konzept vom Innenraum als Gewaltort, und damit soll wohl eine auch emotionale Einlassung des Zuhörers bewirkt werden. Daß es sich um pagane Orte handelt, die den Flüchtenden keine Sicherheit bieten können, spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Neuartig im Vergleich zu Benoıˆt bringt Herbort die anderweltlichen Aspekte der Chambre de Beaute´s mit dem Teufel in Verbindung,38 und die in ihrer Schutzfunktion versagenden Innenräume sind dominant Tempel antiker Gottheiten (Venus, Apoll). Indem die konfliktträchtigen Innenräume meist als heidnische Einrichtungen gestaltet sind, wird den Protagonisten auch aufgrund ihres inneren Wesens als Nichtchristen die Rettung verweigert. Letztlich führt Herbort jedoch weder selbstzweckhaft noch primär einen xenophoben Diskurs, sondern die Pointierung des Paganen soll vielmehr den kritischen Blick auf Gewalt und Mord steigern. Krieg und Tod können – so die implizierte Position – niemals eine positive Wirkung entfalten, und dies profiliert sich besonders deutlich an heidnischen Figuren, weil sie ein tröstendes jenseitiges Heil nicht erwarten können. Die Kritik am Krieg ist dabei allerdings nur eine Darstellungsabsicht; denn indem Herbort metatextuell anzeigt, daß er sein ›Liet von Troye‹ auf der Folie höfisierender Gestaltungskonventionen verstanden wissen will, signalisiert er seine noch weiterführende Intention: eine kritische Auseinandersetzung mit höfischer Literatur, die in Herborts Einschätzung minne und strıˆt zugunsten der Liebe verknüpft und damit Krieg und Kriegsleid tendenziell verharmlost.

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der tufel uz den bilden sprach (V. 9368). Dämonisierungstendenzen im ›Liet von Troye‹ beobachtet bereits Stefan Schnell, Mittelhochdeutsche Trojanerkriege. Studien zur Rezeption der Antike bei Herbort von Fritzlar und Konrad von Würzburg, Freiburg i. Br. 1953. Das Pendant, nämlich Aspekte der ›Christianisierung‹, untersucht Thomas Keilberth, Die Rezeption der antiken Götter in Heinrichs von Veldeke ›Eneide‹ und Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹, Berlin 1975.

Marion Oswald

Aussatz und Erwählung Beobachtungen zu Konstitution und Kodierung sozialer Räume in mittelalterlichen Aussatzgeschichten 1. Ob lepram segregata – kulturanthropologische Perspektiven und ihre Grenzen Der Ausschluß der Lepra war eine soziale Praxis, die eine rigorose Unterteilung, eine Distanznahme und eine Regel des Nicht-Kontakts zwischen [...] Individuen [...] vorsah. Er bedeutete andererseits die Aussetzung dieser Individuen in eine außerhalb gelegene, ungeordnete Welt [...]. Drittens implizierte dieser Ausschluß des Leprakranken eine Disqualifizierung – vielleicht nicht unbedingt moralischer, aber in jedem Fall rechtlicher und politischer Art [...]. Sie waren dem Tod geweiht, und Sie wissen, daß der Ausschluß des Leprakranken immer von einer Art Sterbezeremonie begleitet wurde, bei welcher man die leprakranken Individuen, die in diese außengelegene und fremde Welt aufbrachen, für tot erklärte (und damit ihre Güter für übertragbar).1

Jede Gesellschaft zeugt aufgrund ihrer je spezifischen Inklusions- und Exklusionsmechanismen, jener Regeln und Normen, die sie für das Zusammenleben in Gemeinschaften formuliert und welche zwangsläufig zum Ausschluß Einzelner führen,2 ihre Außenseiter: die »Anormalen«, wie sie Michel Foucault in seinen in den Jahren 1974/75 am Colle`ge de France gehaltenen Vorlesungen genannt hat.3 Zu jenen sozialen Devianten der mittelalterlichen Gesellschaft4 1

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Michel Foucault, Die Anormalen. Vorlesungen am Colle`ge de France (1974–1975), aus dem Franz. von Michaela Ott, Frankfurt a. M. 2003, Vorlesung vom 15. Januar 1975, S. 47–75, hier S. 63f. Hinsichtlich dieser grundlegenden Fragestellungen rekurriere ich auf die Arbeiten des Soziologen Alois Hahn: Inklusion und Exklusion. Zu Formen sozialer Grenzziehungen, in: Grenze: Sozial – Politisch – Kulturell. Ambivalenzen in den Prozessen der Entstehung und Veränderung von Grenzen, hg. von Thomas Geisen, Frankfurt a. M. 2003 (Beiträge zur Regional- und Migrationsforschung 2), S. 21–45; sowie: Inklusion und Exklusion. Identität und Ausgrenzung. Kongressakten der Tagung 22./23. 09. 2000 Trient, hg. von Alois Hahn und Cornelia Bohn, Mailand [usw.] 2005 (Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 2). Vgl. Anm. 1. Vgl. zudem den einschlägigen Artikel ›Aussatz‹ von Günther Binding/ Gundolf Keil/Alex H. Murken/Claudia Schott-Volm im LexMA, Bd. 1, 1980, Sp. 1249–1257; sowie Gundolf Keil, Der Aussatz im Mittelalter, in: Aussatz – Lepra – Hansen-Krankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel. Teil II: Aufsätze, hg. von Jörn Henning Wolf, Würzburg 1986 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt, Beihefte 1), S. 85–102. Vgl. entsprechende Überblicksdarstellungen: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch, hg. von Bernd-Ulrich Hergemöller,

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zählen auch die an Lepra Erkrankten.5 In der von mir zitierten Passage aus einer dieser Vorlesungen beschreibt Foucault zentrale Momente im Umgang mit Aussätzigen, die nicht nur in mittelalterliche Rechtsordnungen, Diagnoseund Sequestrierungsprotokolle eingegangen oder dort begründet sind, sondern welche auch auf zahlreichen Bildern dargestellt6 sowie auf verschiedene Weise in lateinischen und volkssprachigen literarischen Texten – in Chroniken, Heiligenviten, Legenden, Romanen und Erzählungen – verhandelt werden.7 Ich erinnere zunächst an jene Szenen in den Tristanromanen Berols und Eilharts von Oberg, in denen König Marke seine des Ehebruchs überführte Gattin Isolde in die Hände einer dahergelaufenen Leprösengruppe gibt, statt sie zur Strafe auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Denn ein Leben

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Warendorf 21994; Bernd Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten, Göttingen 1993 (Kleine Reihe 1568), hier besonders S. 62–65; speziell zum Umgang mit Aussätzigen: Hans Niedermeier, Soziale und rechtliche Behandlung der Leprosen, in: Aussatz – Lepra – Hansen-Krankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel. Teil I: Katalog. Ausstellung im Deutschen Museum München, Ausstellungspavillon, 5. November 1982 – 9. Januar 1983, bearb. von Christa Habrich [u. a.], Ingolstadt 1982 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums 4), S. 76–85. Erst seit dem späten 19. Jahrhundert gilt ausschließlich eine konkrete, durch stäbchenförmige, säurefeste Bakterien ausgelöste Infektion (Mycobacterium leprae) als Lepra. Bis dahin wurden zum Teil unterschiedliche Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen als ›Lepra‹ bezeichnet. Parallel dazu verwendete Begriffe bezeichnen entweder hervorstechende Symptome (etwa lat. leon(t)iasis, satyriasis, elefantiasis, auch mhd. miselsuht, knollsuht) oder den sozialen Umgang mit Erkrankten (in Mittelalter und Früher Neuzeit: die Isolierung bezeichnend uˆzsatz / uˆzsetzicheit, nach dem Aufenthaltsort felt-, sonder- oder spittelsiech, entsprechend eines vorgeschriebenen Warninstruments horngibruoder). Zur Begriffsgeschichte vgl. Keil, Aussatz [Anm. 3], LexMA, Sp. 1255f.; Peter Paul Gläser, Die Lepra nach den Texten der altchristlichen Literatur, Kiel 1986; Ders., Der Lepra-Begriff in der patristischen Literatur, in: Wolf, Aussatz [Anm. 3], S. 63–67; Jörn Henning Wolf, Einführung, in: ebd., S. 1– 15; Ortrun Riha, Aussatz. Geschichte und Gegenwart einer sozialen Krankheit, Leipzig 2004 (SB der Sächsis. Ak. d. Wiss. z. Leipzig. Math.-naturwiss. Kl. 129, Heft ˚ sdahl-Holmberg, Die deutsche Synonymik für »aussätzig« 5), S. 17–19; Märta A und »Aussatz«, Niederdeutsche Mitteilungen 26 (1970), S. 25–71. Vgl. hierzu Bettina von Jagow/Angela Matthies/Florian Steger, Lepra, in: Literatur und Medizin. Ein Lexikon, hg. von dens., Göttingen 2005, Sp. 492–497; Bildund Textzeugnisse in: Medizin in Literatur und Kunst, hg. von Ann G. Carmichael und Richard M. Ratzan, Köln 1994, S. 57f., 115, 138, 161 sowie Franz Ehring, Zur Ikonographie der Lepra, in: Lepra – gestern und heute. 15 wissenschaftliche Essays zur Geschichte und Gegenwart einer Menschheitsseuche. Gedenkschrift zum 650jährigen Bestehen des Rektorats Münster-Kinderhaus, hg. von Richard Toellner, Münster 1992, S. 74–87; Ulrich Kuder, Der Aussätzige in der mittelalterlichen Kunst, in: Wolf, Aussatz [Anm. 3], S. 223–271; Sylvia Hahn, Lepra in der neueren Kunst (1400 bis heute), in: ebd., S. 285–307. Für einen ersten Überblick empfehle ich Norbert H. Ott, Miselsuht – Die Lepra als Thema erzählender Literatur des Mittelalters, in: Wolf, Aussatz [Anm. 3], S. 273–283.

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unter Aussätzigen, in elenden Hütten jenseits des Hofes und ohne Möglichkeit, den entstellten, unheilbar kranken Körpern ausweichen zu können, bedeute für Isolde – so das Argument eines der Aussätzigen – weitaus größeren Ehrverlust als der Tod.8 Während also die Darstellungen Berols und Eilharts die »radikale Ausgrenzung der Leprösen«, ihr Gezeichnetsein von Sünde und Verworfenheit9 und insbesondere ihre ungebändigte, krankheitsbedingte Gewaltbereitschaft betonen,10 spiegeln andere Entwürfe viel stärker Spannungen und Ambivalenzen im Umgang mit Leprakranken wider:11 Zu den wohl bekanntesten Erzähltraditionen, auf die ich hier anspiele, gehören die verschiedenen Versionen der Silvesterlegende,12 Hartmanns von Aue ›Armer Heinrich‹, 8

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Vgl. die V. 1192–1213 des Berolschen ›Tristran‹: »[...] Veez, j’ai ci conpaigno[n]s cent; / Yseut nos done, s’ert conmune; / Paior fin dame n’ot mais une. [...] O toi soloit estre a honor, / O vair, o gris et o baudor; / Les buens vin[s] i avoit apris / Es granz soliers de marbre bis. / Se la donez a nos meseaus, / Quant el verra nos bas bordeaus / Et eslira l’escouellier / Et l’estovra a nos couchier, / Sire, en leu de tes beaus mengiers / Avra de pieces, de quartiers / Que l’en nos envoi’ a ces hus; / Por cel seignor qui maint lasus, / Quant or verra la nostre cort, / Adonc verra si desconfort, / Donc voudroit miex morir que vivre, [...].« Hier und im folgenden zitiere ich nach: Berol, Tristan und Isolde, übers. von Ulrich Mölk, München 1962 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben [1]). Zugespitzt heißt es in der den ›Tristrant‹ Eilharts von Oberg überliefernden Heidelberger Handschrift (Cpg 346): do kam dort her gerant / ain hertzog misselsuchtig sere [...]: »die frowe soltu mir geben, / so benäm ich ir daß leben / gar lasterlich [...]. ich will sie / minem siechen bringen: / die su´llent sie all minnen, / ainer nach dem andern. [...] (V. 4256f.; 4273– 4274a; 4276–4278a); zit. nach: Eilhart von Oberg, Tristrant, Edition diplomatique des manuscrits et traduction en franc¸ais moderne avec introduction, notes et index par Danielle Buschinger, Göppingen 1976 (GAG 202). Peter Johanek, Stadt und Lepra, in: Toellner, Lepra [Anm. 6], S. 42–47, hier S. 42. Mittelalterliche Praktiken der Diagnose und Therapie Leprakranker basierten auf antiken und arabistischen Traditionen, zu denen u. a. auch verschiedene Konzepte der Humoralpathologie und Signaturenlehre gehörten. Vgl. Riha, Aussatz [Anm. 5], bes. S. 7–11; Keil, Aussatz im Mittelalter [Anm. 3], S. 87f.; Christa Habrich, Die Arzneimitteltherapie des Aussatzes in der abendländischen Medizin, in: Toellner, Lepra [Anm. 6], S. 57–72; darüber hinaus: Horst Müller-Bütow, Lepra in der arabischen Medizin, in: Wolf, Aussatz [Anm. 3], S. 79–84. Ivein, der Sprecher der Aussätzigen in Berols Roman, spielt wohl auf dieses Wissen an, wenn er davon spricht, daß er und seine Gefährten von einer großen Glut verzehrt werden: »[...] Sire, en nos a si grant ardor / Soz ciel n’a dame qui un jor / Peüst soufrir nostre convers; / Li drap nos sont au cors aers (V. 1195–1198). Leprakranke wurden einerseits als verworfene Sünder, andererseits als Märtyrer behandelt. Zu den Paradoxien, die sich aus der öffentlichen Wahrnehmung von Aussätzigen im Mittelalter ergaben, vgl. Keil, Aussatz im Mittelalter [Anm. 3], bes. S. 92; Ulrich Kuder, Aussatz und christlicher Glaube, in: Habrich, Aussatz [Anm. 4], S. 26f.; Johanek, Stadt [Anm. 9], S. 43f. Vgl. dazu Wilhelm Pohlkamp, Silvester, LexMA, Bd. 7, 1995, Sp. 1905–1908; Werner Williams Krapp, ›Silvester‹, 2VL 8, Sp. 1247f. Die erste deutschsprachige Version ist jene der ›Kaiserchronik‹, der wohl nicht allein aufgrund ihres Umfangs und

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die weitverbreiteten Geschichten über das Freundespaar Amicus und Amelius,13 Konrads ›Engelhard‹-Roman oder auch Kunz Kisteners ›Jakobsbrüder‹. Denn jene Texte erzählen nicht allein von Aussatz als einer Form der Strafe oder Prüfung Gottes, sondern auch vom Heil der Erkrankten. Sie lassen sich damit, wie ich im Verlauf meiner Argumentation zeigen möchte, in die Nähe von Viten jener Mystikerinnen – etwa der Angela da Foligno, der Aldobrandesca, Ivetta von Hoe, Alix von Schaerbeck oder auch der Juliana von Cornillon – rücken, die Lepra als Form der Selbststigmatisierung oder Erwählung, der Annäherung an und unio mit Gott, als eine Möglichkeit des Heraustretens aus der Immanenz in die Transzendenz thematisieren. Wie heterogen die einzelnen Entwürfe auch sein mögen, eines wird in ihrer Zusammenschau deutlich: Lepra wird niemals als ein ausschließlich medizinisches, sondern immer auch als ein zugleich soziales, juridisches und theologisches Phänomen behandelt, welches entscheidende topographische Konsequenzen für den oder die Aussätzigen hat.14 Wir haben es mit einer Erkrankung zu tun, deren häufig offensichtliche Symptome, wie fleckige Haut oder Knoten und Geschwüre, verstümmelte Gliedmaßen, trübe Augen und eine kehlige Stimme,15 in aller Regel – so auch im Mittelalter – den Ausschluß und

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ihrer Position innerhalb der Chronik ein besonderer Stellenwert zukommt (so Ott, Miselsuht [Anm. 7]), sondern auch im Hinblick darauf, daß Konstantin die Reihe der christlichen Kaiser eröffnet (V. 7604–10333). Diese Sonderstellung wird durch seine Aussatzerkrankung unterstrichen: Im Unterschied zu den anderen Aussätzigen der ›Kaiserchronik‹, Nero (V. 4083–4304, bes. ab V. 4265) und Domitian (V. 5557–5682, bes. 5647–5674), die aufgrund ihrer Gottlosigkeit elend enden, wird Konstantin im Bad der Taufe geheilt (V. 7812–7957). Er ist Verfluchter und Erwählter zugleich. [Die Verszählung entspricht folgender Ausgabe: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, München 2002, Nachdruck der Ausgabe Hannover 1892 (MGH, Deutsche Chroniken 1,1).] Zu den einzelnen Erzähltraditionen vgl. die einschlägigen systematisierenden Artikel: Ludwig Denecke, Amicus und Amelius, Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1, 1977, Sp. 454–463; Hellmut Rosenfeld, ›Amicus und Amelius‹, 2VL 1, Sp. 329f.; Elisabeth Frenzel, Amis und Amiles, in: Dies., Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 91998 (Kröners Taschenausgabe 300), S. 38–41 sowie Edith Feistner, Die Freundschaftserzählungen vom Typ ›Amicus und Amelius‹, in: Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Klaus Matzel und Hans-Gert Roloff, Bern [usw.] 1989, S. 97–130; vgl. auch die Einleitung in: Amis and Amiloun, hg. von MacEdward Leach, Millwood, N.Y. 1990, Nachdr. d. Ausg. London [usw.] 1937. Kaum ein Zeugnis ist hierfür so bezeichnend wie die Bestimmung des dritten Laterankonzils (1179), nach der unterstrichen wird, daß ein Zusammenleben zwischen Leprakranken und Gesunden nicht vereinbar ist (leprosi cum sanis habitare non possunt); vgl. dazu Kuder, Aussatz [Anm. 11], bes. S. 127. Die unterschiedlichen Formen der Lepra (lepromatöse und tuberkuloide Lepra sowie die sogenannten ›Borderline-Typen‹) beschreibt differenziert Karl Friedrich Schaller, Die Klinik der Lepra, in: Wolf, Aussatz [Anm. 3], S. 17–26. Zu Fragen historisch spezifischer Diagnose und Therapie verweise ich auf die jüngste Darstellung der Me-

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die Segregation jener, die von ihr befallen wurden, zur Folge hat. Der Körper der Leprakranken wird wie bei kaum einer anderen Infektion zum Zeichenträger, der »unfreiwillig Auskunft über eine vorher verborgene Wahrheit gibt.«16 Doch gleich, ob die körperlichen Stigmata als Folge eines sündhaften Lebenswandels oder als Offenbarungen von Auserwähltheit gelesen werden, nimmt die Gemeinschaft sie als Bedrohung wahr. Aus Angst vor Ansteckung und Verunreinigung werden die Betroffenen isoliert oder gar gewaltsam ausgestoßen, bevor die Seuche auf alle anderen Körper übergreifen kann.17 Und so erfahren die physisch Gezeichneten zusätzlich eine soziale Stigmatisierung.18 Ihr Weg führt aus dem Innersten einer sozialen Gemeinschaft (Hof, Kloster oder Stadt) ganz nach außen: in eigens für sie bestimmte Hütten, in Leprosorien oder Leprosenkolonien.19 Insofern zentrale anthropologische Themen verhandelt werden – der kranke Körper, Formen des sozialen Verhaltens gegenüber Versehrten, Schnittstellen von Macht und Krankheit, schließlich Leben und Tod – handelt es sich

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dizinhistorikerin Riha, Aussatz [Anm. 5]. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist die ältere medizinhistorische Forschung aufgearbeitet von Volker Mertens, Noch einmal: Das Heu im ›Armen Heinrich‹ (E 73/B 143), ZfdA 104 (1975), S. 293–306. Alois Hahn, Kann der Körper ehrlich sein?, in: Materialität der Kommunikation, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 21995 (stw 750), S. 666–679 (Die »Sprache« der Krankheit, S. 673). Fundamental für jüdisch-christliche Denkformen ist die juridische Festschreibung von Exklusionsritualen für Aussätzige in den Priestergesetzen der Kapitel Leviticus 13 und 14. Diese entsprechen, wie Otto Betz überzeugend vorführt, kaum »medizinischen Grundsätzen«, sondern sind bestimmt »von der Sorge um die religiöse, kultische Reinheit des Volkes [...], die auch sonst in der Priestertora maßgebend ist.« Vgl. Otto Betz, Der Aussatz in der Bibel, in: Wolf, Aussatz [Anm. 3], S. 45–62, hier S. 45. Zu sozialen Dimensionen von Stigmata vgl. Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, aus dem Amerik. von Frigga Haug, Frankfurt a. M. 1975. Auch er thematisiert die (unter bestimmten kulturellen und sozialen Umständen mögliche) Übertragbarkeit von Stigmata (S. 13) wie die Gefahren, die von Stigmatisierten ausgehen können oder ihnen auch nur (in bestimmten sozialen Konstellationen und Räumen) zugeschrieben werden (S. 14). Vgl. ferner Wolfgang Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985. Nach Rene´ Girard gehören körperlich und moralisch Stigmatisierte zu den bevorzugt Verfolgten und Ausgestoßenen einer Gemeinschaft, weil das Stigma zugleich als Opferzeichen, als Zeichen unheilvoller Entdifferenzierung, begriffen wird. Vgl. insbes. Rene´ Girard, Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, aus dem Franz. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a. M. 1992, S. 30–33. Nicht in allen Punkten folge ich Girards Kulturtheorie so vorbehaltlos; zur kritischen Auseinandersetzung vgl. Marion Oswald, Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur, Göttingen 2004 (Historische Semantik 7), S. 49–52. Zu architektonischen Besonderheiten historisch nachweisbarer Leprosorien vgl. Dankwart Leistikow, Bauformen der Leproserie im Abendland, in: Wolf, Aussatz [Anm. 3], S. 103–149.

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zunächst um Zusammenhänge, die aus historisch-anthropologischer Perspektive zu diskutieren sind.20 Darüber hinaus aber müssen die je eigenen Logiken und Stilisierungen der breit gestreuten (literarischen) Erzähltraditionen berücksichtigt werden, dürfen diese nicht allein als ›Datenspeicher‹ begriffen werden, die einen unmittelbaren Zugriff auf den tatsächlichen Umgang mit Leprakranken im Mittelalter erlauben würden. Denn gerade im Hinblick auf jene Geschichten, in denen Aussätzige nicht in Leprosorien, sondern auf paradiesgleiche Inseln oder in andersartige mythisierte Jenseitsräume verbannt werden und in denen von wundersamer Heilung und Reintegration, der Rückkehr ins Innere eines Soziums, erzählt wird, liegt es nahe, daß sowohl die Krankheit selbst als auch ihre topographischen Implikationen – die gewaltsame oder selbstgewählte Aus-Grenzung, der Weg aus dem Innersten nach außen – auch »als Bild oder Metapher«21 gebraucht werden. Entsprechend soll es mir im folgenden nicht darum gehen, mittelalterliche Aussatz-Diskurse jenseits ihrer Repräsentation in literarischen Texten zu rekonstruieren.22 Fragen möchte ich stattdessen nach Formen ihrer symbolischen Verdichtung, nach besonderen ästhetischen Konfigurationen und Darstellungsformen der 20

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Ich argumentiere vor dem Hintergrund der gut dokumentierenden Forschungsberichte von Ursula Peters, Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, hg. von Johannes Janota [u. a.], Tübingen 1992, Bd. 1, S. 63–86; Christian Kiening, Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven, in: Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik, hg. von Hans-Jochen Schiewer, Bern/Frankfurt a. M. 1996 (Jahrbuch für internationale Germanistik C 5,1), S. 11–129; Ders., Historische Anthropologie in literaturwissenschaftlicher Perspektive, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag 10 (2002), S. 305–307; Werner Röcke, Historische Anthropologie. Ältere deutsche Literatur, in: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, hg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten, Hamburg 2002 (Rowohlts Enzyklopädie 55643), S. 35–55. Susan Sontag, Krankheit als Metapher/Aids und seine Metaphern, Frankfurt a. M. 2003, S. 9; Ortrun Riha, Aussatz als Metapher. Aus der Geschichte einer sozialen Krankheit, in: Medizin in Geschichte, Philologie und Ethnologie. Festschrift für Gundolf Keil, hg. von Dominik Gross und Monika Reininger, Würzburg 2003, S. 89– 105; ferner Rudolf Käser, Wie und zu welchem Ende werden Seuchen erzählt? Zur kulturellen Funktion literarischer Seuchendarstellung, IASL 29 (2004), S. 200–227. Käser geht zu Recht von der These aus, daß »literarische Texte über Epidemien [...] Instanzen eines medial vermittelten Seuchendiskurses« sind, »der gewiß niemals ohne Wahrheitskern war und ist, der aber im Bezugsrahmen gesellschaftlicher Kommunikation vordringlich eine andere Funktion erfüllt als die Vermittlung wissenschaftlich erhärteter Fakten, nämlich diejenige, die Kommunikation als Autopoiesis der Gesellschaft fortzusetzen und damit die Kontinuität des Systems zu gewährleisten über das störende Rauschen der pathogenen Irritation hinweg« (S. 201). Außerliterarische ›Zeugnisse‹ sind ohnehin gut dokumentiert, wenngleich eher positivistisch als diskursanalytisch aufgearbeitet. Vgl. Anm. 3–6 u. Anm. 10. Auch in Foucaults Vorlesung [Anm. 1] spielen literarische Texte keine Rolle.

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aufs engste miteinander verschränkten medizinischen, soziologischen, rechtlichen und theologischen Wissenshaushalte.23 In exemplarischer Lektüre des ›Engelhard‹ Konrads von Würzburg sowie einiger ausgewählter Passagen aus den Viten der Franziskaner-Tertiarin Angela da Foligno (um 1248–1309) sowie der Zisterzienserin Alix von Schaerbeck (gest. 1249) werde ich mich dem Thema in drei Schritten nähern: Mein Interesse gilt zunächst der Darstellung des leprösen Körpers und der Reaktionen Nichtinfizierter auf die Erkrankten (Abschnitt 2). Wer jene Texte, von denen die Rede sein soll, kennt, weiß, daß auch sie von Mechanismen erzählen, die die jeweilige Gemeinschaft findet, um den kontagiösen Körper auszugrenzen oder auszustoßen. Zwangsläufig ist die mit einer Leprainfektion verbundene Dissoziation von Kranken und Gesunden mit einer Ausdifferenzierung von Räumen verbunden, der Konstitution von ›Innen‹ und ›Außen‹. Es stellt sich also desweiteren die Frage, welche Raumvorstellungen die Erzähler entfalten, um Ordnungen und Bewegungen gesunder und kranker Körper zu beschreiben, Räume unterschiedlicher Qualität (ein ›Hier-und-dort‹, ›Innen-und-außen‹) zu konstituieren und Grenzen zwischen diesen Räumen zu markieren (Abschnitt 3). Abschließend möchte ich nach sozialen, machtpolitischen, religiösen und mythopoetischen Implikationen jener Entwürfe fragen (Abschnitte 4 bis 6).24 23

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Freilich möchte ich nicht behaupten, daß es sich im Fall von Romanen, Legenden, Viten oder Chroniken im Unterschied zu anderen Äußerungsformen (etwa Gesetzestexten, medizinischen Traktaten oder Diagnoseprotokollen) um die avancierteren Entwürfe handelt. Doch ebenso wie Jan-Dirk Müller gehe ich davon aus, »daß ihre Entlastung von Realitätsverpflichtungen eher das Experimentieren mit kulturellen Vorgaben erlaubt, die sich diskursiv und praktisch ausschließen« (Jan-Dirk Müller, Gottfried von Straßburg: Tristan. Transgression und Ökonomie, in: Transgressionen. Literatur als Ethnographie, hg. von Gerhard Neumann und Rainer Warning, Freiburg i. Br. 2003 [Rombach Wissenschaft /Reihe Litterae 98], S. 213–242, hier S. 219). Ich formuliere diese Fragen in Anknüpfung an jene Untersuchungen, die die kulturhistorisch spezifische Konstruiertheit medial vermittelter Topographien betonen, etwa: Bernhard Jahn, Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen, Frankfurt a. M. [usw.] 1993 (Mikrokosmos 34); Friederike Hassauer, Santiago: Schrift, Körper, Raum, Reise; eine medienhistorische Rekonstruktion, München 1993. Im Unterschied zu Jahn und Hassauer geht es mir allerdings nicht um Makrostrukturen (Vorstellungen von Welt oder der Konstitution dieser überhaupt), sondern allein um ›kleine‹ und ›mittlere‹ Topographien, Entwürfe, die notwendige Bedingung sind, um davon erzählen zu können, daß Leprakranke ausgesetzt und zu einem Leben jenseits von Hof und Kloster gezwungen werden. Ich gehe davon aus, daß es sich dabei um Darstellungen handelt, die nicht in einem so simplifizierenden Raummodell aufgehen, wie es beispielsweise Peter Czerwinski der mittelalterlichen Welt zuschreibt und dabei gerade nicht zwischen tatsächlicher Wahrnehmung und Entwürfen (Bild, Text, Karte) unterscheidet. Seiner These nach kenne die Welt des Mittelalters nur ein quantum discretum, das »aus konkreten, selbständigen, aggregativ nebeneinander liegenden, qualitativ verschiedenen Räumen und Zeiten« besteht, »zwischen

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2. Unberührbar: Körper, Stigma und Distanz Meine Brüder hat er von mir entfernt, meine Bekannten sind mir entfremdet. Meine Verwandten, Bekannten blieben aus, die Gäste meines Hauses haben mich vergessen. Als Fremder gelte ich meinen Mägden, [...]. Rufe ich meinen Knecht, so antwortet er nicht; [...]. Mein Atem ist meiner Frau zuwider; die Söhne meiner Mutter ekelt es vor mir. [...] Alle meine Gefährten verabscheuen mich, die ich liebe, lehnen sich gegen mich auf. (Iob 19,13–19)

Aussatzgeschichten verhandeln Strategien, die Gesellschaften im Umgang mit kontagiös kranken Körpern entwickeln, die Exklusion Stigmatisierter und Mechanismen des Ausschlusses, kaum aber Möglichkeiten ihrer Integration: Ein durch Aussatz gezeichneter Körper weckt die Furcht der anderen vor Anstekkung und epidemischer Ausbreitung der Krankheit; Ordnung und Stabilität der Gesellschaft erscheinen hochgradig gefährdet. Davon erzählt auch der anonym gebliebene Verfasser der Vita der Alix von Schaerbeck (13. Jahrhundert), die als Zisterzienserin im Kloster Mariä Kammeren bei Brüssel lebte. Er gibt vor zu wissen, daß Gott Alix nicht zur Strafe leprös werden ließ, sondern daß sie frei sein und ihre Seele sich ganz mit ihm verbinden könne. Doch aufgrund der ansteckenden, unheilbaren Krankheit wird sie aus der klösterlichen Gemeinschaft verbannt: Post haec autem, [...] volens Deus, electionis suae vas futurum, ab omni strepitu temporali, & inquinamento hujus seculi, pernitus purgari; non tamen ob alicujus criminis culpam vel vindictam, sed causa visitationis & more sponsi, sponsae suae arrham tribuentis in signum perfectae dilectionis; ut soli Deo a liberius posset vacare, & intra cubiculum mentis suae, quasi in thalamo secum morari, & su itate odoris sui sponsam suam cupiens inebriari; morbo incurabili, paucis desiderabili, lepra videlicet, ipsam graviter percussit. Prima siquidem nocte sequestrationis suae a Conventu, contagiositate morbi sui exigente, tanto dolore animi est afflicta, tam gravi cordis vulnere est collisa, quod mentis consternationi compulsa est subjacere pro spiritus defectione. (De B. Aleyde Scharembekana, Cap. II, 9, S. 479)25

Zu dieser Ausgrenzung gehört auch, daß ihr der Zugang zu einem der zentralen gemeinschaftlich vollzogenen Rituale, dem Abendmahl, zumindest partiell verwehrt wird.26 Ihr wird ein Tabu auferlegt, welches zahlreiche Kulturen aus Furcht vor Verunreinigung des heiligen Blutes durch Unberührbare kennen: das

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denen die wichtigste Form einer Vermittlung der Sprung ist«. Vgl. Peter Czerwinski, Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter, München 1993 (Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II), bes. S. 11–189, hier S. 58f. Hier und im folgenden zit. ich nach: Acta Sanctorum. Iunii tomus secundus, hg. von Gottfried Henschen [Godefrido Henschenio] [u. a.], Brüssel 1969, Nachdr. d. Ausg. Antwerpen 1698. Sie darf die Hostie, aber nicht den Wein empfangen. In ihrem Leid über Krankheit und Ausgrenzung wird sie jedoch von Christus getröstet. Ich werde an späterer Stelle darauf zurückkommen (4. Exkurs: Aussatz und Heil).

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Opferverbot.27 Aufgrund ihrer gefährlichen Krankheit ist es der Aussätzigen verboten, sich dem Abendmahlskelch auch nur zu nähern: [...] nam leprosis propter morbi periculum, ne accedant ad Sanguinem, est interdictum (De B. Aleyde Scharembekana, Cap. II, 15, S. 480). Während die Vita der Alix von Schaerbeck einem Modell folgt, nach dem der offensichtlichen Erkrankung unmittelbar die Verbannung der Kontagiösen aus dem Innersten einer Gemeinschaft folgt, werden in den im engeren Sinne literarischen Texten oftmals auch andere Szenarien entworfen. Hier werden die Leprösen nicht ausgestoßen, sondern – ähnlich der Hiob-Geschichte – wird davon erzählt, wie die Gemeinschaft vor den Infizierten flieht.28 Dabei richten die Erzähler alle Aufmerksamkeit auf die Körper der Protagonisten. Ausführlich beschreiben sie zunächst die Makellosigkeit des adligen Körpers vor dem Aussatzbefall, den sich auflösenden, furchterregenden, den unberührbar gewordenen Leib hernach. Dies trifft auch auf Konrads ›Engelhard‹-Roman zu, dem mein besonderes Augenmerk gilt. Schließlich handelt es sich um eine Geschichte, in der die Körper der Protagonisten aufgrund ihrer zwillingshaften Ähnlichkeit29 von Beginn an in den Mittelpunkt rücken und entsprechend die Rezeption unweigerlich auf eine Hermeneutik der Körper und ihre Wahrnehmung durch die höfische Gesellschaft gelenkt wird:30 Der in Burgund aufgewachsene Engelhard verzichtet darauf, gegenüber seinen Eltern und den neun Brüdern Erbansprüche zu formulieren, und entscheidet sich stattdessen dazu, dem dänischen König Fruote seine Dienste anzutragen. Auf seiner Reise nach Dänemark trifft er den brabantischen Fürstensohn Dietrich, der seine hohe Abkunft lange verschweigt. Das Verhältnis beider ist von der ersten Begegnung an reziprok angelegt: So etwa besteht Dietrich als einziger jener, die Engelhard begegnen, die sogenannte Freundschaftsprobe, indem er den Apfel – eine Gabe Engelhards – für beide teilt. Entscheidend ist aber vor allem, daß sie in ihrem Äußeren – abgesehen von der sozial kodierten Ausstattung wie Pferd und Kleidung – ununterscheidbar sind: ein junckherre kam geriten aldort her. der was gestalt reht alsam er 27

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Vgl. die hierzu grundsätzliche Arbeit von Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, aus dem Amerik. von Brigitte Luchesi, Berlin 1985. Die in der Tradition der Amicus-Amelius-Legende erzählten Geschichten kennen beide Exklusionsmodelle: Ausstoßung des kranken Körpers (so etwa in der lat. ›Vita Amici et Amelii‹) und Flucht vor ihm (›Engelhard‹). Vgl. Ute von Bloh, Doppelgänger in der Literatur des Mittelalters? Doppelungsphantasien im ›Engelhart‹ Konrads von Würzburg und im ›Olivier und Artus‹, ZfdPh 124 (2005), S. 341–359. Vgl. dazu auch die Interpretation von Armin Schulz, Notwendige Unterscheidungen. Zur Epistemik der Sinne bei Konrad von Würzburg, in: www.gemanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentags, hg. von Hartmut Kugler [u. a.], Band 1, Bielefeld 2002, S. 129–142.

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Marion Oswald an lıˆbe und an gebaˆre. si waˆren beide zwaˆre vil gar gelıˆch ein ander, wan eine forme vander an in beiden,[...] [...] kein ander underscheide an ir bilden wart erkant, wan daz ir pfert und ir gewant ein ander waˆren ungelıˆch. [...] soˆ anelıˆche gebildet waˆren diu vil werden kint als daˆ zwei wahs gedrücket sint in ein vil schœnez ingesigel. (V. 446–473)31 Kaum verwunderlich ist sodann, daß sich die dänische Königstochter Engeltrud sowohl in Dietrich als auch in Engelhard verliebt. Sie löst das Dilemma, indem sie sich für Engelhard und damit für jenen der beiden Freunde entscheidet, dem sie aufgrund der ähnlich klingenden Namen bestimmt zu sein scheint. Bald darauf muß Dietrich nach Brabant zurückkehren, um das Erbe seines Vaters anzutreten. Auch nachdem Engelhard zum Ritter geschlagen worden ist und in Turnieren sein höfisches Ansehen wächst, bleibt die Minnebeziehung weiterhin geheim, bis Ritschier von England, der Neffe des dänischen Königs, die Liebenden eng umschlungen im Baumgarten findet und sie an Engeltruds Vater und den dänischen Hof verrät. Als Engelhard seine Schuld leugnet, setzt Fruote – im Sinne eines Gottesurteils – einen Zweikampf zwischen den Kontrahenten an, der über Wahrheit und Lüge entscheiden soll. Unter dem Vorwand, in einem Kloster für vergangene Sünden büßen zu wollen, erbittet Engelhard eine Reiseerlaubnis. Diese nutzt er, um Dietrich in Brabant aufzusuchen und um dessen Hilfe im Kampf gegen Ritschier zu bitten. Auf Dietrichs Vorschlag hin, vollziehen beide einen Identitätswechsel, in welchen später allein die Ehefrauen eingeweiht werden. Dietrich siegt stellvertretend für Engelhard im Kampf gegen Ritschier, und mit der Begründung, Gott für seine Dienste Dank erweisen zu wollen, verschwindet er wieder aus Dänemark. Engelhard selbst kehrt an den dänischen Hof zurück, wird Engeltrud vermählt und Vater zweier Kinder.

Einige Zeit darauf erkrankt Dietrich an Aussatz (miselsuht. ...] daz er mitalle uˆzsetzic wart, V. 5147/49). Mit diesem – in Konrads Geschichte begründungslosen – Einbruch der Krankheit32 werden Dietrich und Engelhard signifikant unterscheidbar. Es handelt sich nicht um irgendeine Art von Siechtum, sondern um eine Erkrankung, die dazu führt, daß Engelhards Stellvertreter am gesamten Körper entstellt wird. 31

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Hier und im folgenden zitiere ich nach Konrad von Würzburg, Engelhard, hg. von Ingo Reiffenstein, 3., neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Paul Gereke, Tübingen 1982 (ATB 17). Nicht in allen ›Freundschaftsgeschichten‹ bleibt die Erkrankung unmotiviert. Sie kann auch als Strafe Gottes bewertet werden (etwa in der mittelengl. Version ›Amis and Amiloun‹) oder auf eine Vergiftung durch die Ehegattin folgen (so in der ›Historia von den sieben weisen Meistern‹).

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Er löst sich geradezu bei lebendigem Leibe auf: Haar und Bart werden dünn, er verliert die Brauen, die Augen werden gelb, seine Haut färbt sich tiefrot, Handund Fußballen fallen ein.33 Der Verfall des Fürstenkörpers bleibt dem brabantischen Hof freilich nicht verborgen. Doch Dietrich wird nicht aktiv verstoßen, sondern vorerst von seiner Frau und seinen Vertrauten gemieden. Sie fliehen vor einem Körper, der einst noch – wie etwa am dänischen Hof – alle Blicke auf sich gezogen hatte und nunmehr allein Abscheu erweckt: und aber doˆ man in gesach soˆ wandelbæren an der huˆt, doˆ wart er sıˆnem wıˆbe truˆt und allen sıˆnen kunden gar widerzæme funden. Swer in gerne sach daˆ vor, der suochte nuˆ der flühte spor und ıˆlte von im alzehant. (V. 5192–5199)

Auffällig ist, daß konkrete Raumentwürfe, die man erwarten würde, wenn es um die Exklusion Aussätziger geht, an dieser Stelle nicht greifbar sind. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, daß Räume überhaupt erst durch die Choreographie der Körper – hier: durch das Verhältnis gesunder und versehrter Körper zueinander – konstituiert und strukturiert werden. Eine Imagination von Raum bleibt allem Anschein nach gebunden an Körper, die sich in ihm bewegen. Auffällig ist auch, daß die Dissoziation der Körper zunächst nicht mit einer Ausdifferenzierung des Raumes in Parallelwelten, ein ›Drinnen-und-draußen‹ verbunden ist. Erst später – nachdem kein Arzt Dietrich zu heilen vermag – folgt die selbstgewählte Einsamkeit, der Rückzug des Devianten in die Einsiedelei. Es handelt sich um einen Raum, den es in der Erzählwelt erst von dem Zeitpunkt an gibt, da der Kranke ihn betritt.

3. Räume: Choreographien der Ausgrenzung Konrad erzählt in seiner Dietrichgeschichte – ähnlich wie Hartmann von Aue im ›Armen Heinrich‹ –, wie ein sozialer, ein vollkommener höfischer Körper 33

im wurden haˆr unde bart / dünn unde seltsæne. / sıˆn ougen [...] / begunden sich doˆ gilwen. / als ob si æzen milwen, / soˆ vielen uˆz die braˆwen drobe. / sıˆn varwe, diu daˆ vor ze lobe / liutsæleclich was unde guot, / diu wart noch rœter danne ein bluot / und gap vil egebæren schıˆn. / diu luˆtersüeze stimme sıˆn / wart unmaˆzen heiser. [...] an füezen unde an henden / waˆren im die ballen / soˆ genzlich ıˆn gevallen [...]. (V. 5150–5161, 5164–5166).

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zum natürlichen, angreifbaren, verwesenden Körper verfällt,34 und von den Reaktionen, die jene Wandlung in der höfischen Gesellschaft auslöst. Er führt vor, wie ein einstmals angesehener Fürst in Folge seiner körperlichen Stigmatisierung sozial geächtet wird und damit seinen Platz im Mittelpunkt der höfischen Welt verliert. Er erzählt eine Herrschaftsgeschichte, in welcher der Fürst zu einem Unberührbaren wird und daraufhin auch seinen juridischen, sozialen und herrschaftspolitischen Status – seinen Einfluß über Land und Gefolge – verliert.35 Als Dietrich schließlich die Distanzierung und den damit verbundenen Herrschaftsverlust bemerkt, bittet er seine Dienerschaft, ihm ein Haus außerhalb des Hofes zu errichten, in dem er vollkommen allein leben könne.36 Nun erst wird für den Aussätzigen in der Art eines individuellen Leprosoriums ein eigener Raum geschaffen, wird der Aussätzige tatsächlich zum Ausgesetzten. Dieser Raum, in dem Dietrich fortan leben wird, befindet sich jenseits des Hofes, aber noch in Brabant, genauer: auf einer Insel, die – getrennt durch einen Wassergraben – Dietrichs Burg gegenüberliegt. Von Ausschlußritualen für den zum Sterben bestimmten Aussätzigen, wie sie bereits seit dem frühen Mittelalter aus dem französischen, später auch aus dem westdeutschen und schweizerischen Raum bekannt sind,37 erzählt Konrad nichts. Allerdings wird Dietrich, bevor er allein auf dem Eiland zurückgelassen wird, reich mit Gewändern und Speisen ausgestattet. Und zudem handelt es sich um einen besonderen Raum: Während der leprakranke Heinrich in Hartmanns von Aue Geschichte in einer Meierei Zuflucht findet,38 wird Dietrich an einem 34

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Augen geführt wird die ›Doppelnatur‹ des fürstlichen Leibes: der charismatische symbolische Körper vor der Erkrankung, seine Reduktion auf den vergänglichen biologischen Körper hernach. Zu Vorstellungen über die Doppelnatur des Herrscherkörpers (gemina persona) vgl. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 21994 (dtv 4465). Ausgehend vom juridischen Diskurs sowie der politischen Praxis im elisabethanischen Zeitalter verfolgt Kantorowicz unterschiedliche Auffassungen zur Korporation bis in das frühe Mittelalter zurück. Die Differenzierung von natürlichem und politischem oder symbolischem Körper knüpft an Diskussionen um die zweifache Natur Christi an, an die Unterscheidung zwischen Christus als Mensch und als Gott. Vgl. dazu auch die Beiträge in: Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, hg. von Wolfgang Ernst und Cornelia Vismann, München 1998. im wart enzücket sıˆn gewalt / an liuten unde an lande. (V. 5216f.) nuˆ daz er daz erkande / daz er begunde unmæren / den sıˆnen unde swæren, / doˆ bat er im mit triuwen / stiften unde biuwen / ein hiuselıˆn doch etewaˆ / durch daz er drinne möhte saˆ / belıˆben soˆ gar eine. (V. 5218–5225) Keil, Ausssatz [Anm. 3], LexMA, Sp. 1251: »Die Abscheidung fand nach einem bes. Ritual statt. In Frankreich und Westdeutschland wurde das Totenamt über den Aussätzigen gelesen, nach seinem Ableben die Messe für Märtyrer«; Ders., Aussatz im Mittelalter [Anm. 3], S. 89; ferner Hermann Hörger, Krankheit und religiöses Tabu – die Lepra in der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Gesellschaft Europas, Gesnerus 1 (1982), S. 53–70, bes. S. 57, 66f.; Foucault, Die Anormalen [Anm. 1], S. 64. Die Sequestrierung einzelner Aussätziger in cabane, maisonette oder hiuselin ist auch

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paradiesischen Ort, einem locus amoenus ausgesetzt.39 Insofern ähnelt der Aufenthalt des Todgeweihten auf jener Insel einer Art Jenseitsreise, die schließlich mit Dietrichs Rückkehr ins Leben endet – oder genauer: Es handelt sich um einen Raum fern der höfischen Zivilisation, an welchem ihm die Voraussetzung der Möglichkeit einer Resozialisierung offenbar wird. Denn das Eiland ist mehr als nur »ein sinnfälliges Zeichen von [Dietrichs] Einsamkeit und Distanz, [...] der Ort seiner monologischen Reflexion«,40 der Resignation und Todessehnsucht. Es ist ein Ort, an dem Dietrich – zumindest mittelbar – Zugang zu Gott findet, an dem er durch einen englischen Boten erfährt, daß er zwar von den Menschen gemieden wird, aber nicht von Gott verlassen ist. Ähnlich wie für die leprakranke Alix von Schaerbeck eröffnet auch für Dietrich die Einsiedelei, der Raum außerhalb aller Sozialisation, den Zugang zu Gott und seinen Wundern. Erst Ausgrenzung und Ausstoßung – hier aus dem Konvent, dort vom Hof – ermöglichen Transgressionserfahrungen, die Begegnung und Kommunikation mit dem Numinosen.41 Doch anders als die in dieser Welt nicht mehr heilbare Alix, die Trost in der mystischen unio mit Gott findet, soll Dietrich auch im Hier-und-Jetzt die Gnade Gottes widerfahren: Er soll gesunden, Besitz und Anerkennung zurückgewinnen. Aber hierfür verlangt Gott ein Opfer: Allein mit dem Blut der beiden Söhne Engelhards kann Dietrichs Aussatz geheilt werden. Dietrich interpretiert diese Botschaft Gottes als Versuchung, der er zunächst widerstehen möchte, begibt sich letztlich dennoch auf die Reise nach Dänemark. Allerdings hofft er zunächst nicht auf jenes ihm Heil verheißende Kinderopfer, sondern einzig auf eine bessere medizinische und soziale Versorgung. Er vertraut auf Engelhards Erbarmen und Fürsorge am Rande der höfischen Sozialisiation, eine Leprosenfürsorge, wie sie die Brabanter nach und nach aufgegeben haben.42 Dietrich läßt

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historisch belegt. Vgl. Leistikow, Bauformen [Anm. 19], S. 108.; Keil, Aussatz im Mittelalter [Anm. 3], S. 89. daˆ sprungen bluomen unde gras / vil wünneclichen inne, / und wuohsen naˆch gewinne / daˆ vıˆgen unde mandelrıˆs. / alsam ein irdesch paradıˆs / beschoenet stuont diz einlant. [...] von nüzzen und von kesten / wuohs dar inne manic soum. / ouch stuont der berende ölboum / vil gar naˆch vollem wunsche daˆ. / man schouwet hie noch anderswaˆ / deheinen wert soˆ frühtigen. (V. 5230–5243) Auch befindet sich auf der Insel eine von blühenden Bäumen überschattete Quelle, die Dietrich – der Sonne entfliehend – aufsucht. Umgeben ist sie von roten Rosen und grünem Klee, in den Bäumen haben sich musizierende Vögel niedergelassen (V. 5322–5350). Feistner, Freundschaftserzählungen [Anm. 13], S. 125. Ich verwende den Begriff im Sinne Rudolf Ottos, der das Heilige als das Numinose und dieses wiederum als unbegreifliche, zugleich Vertrauen und Schauer erweckende Macht beschreibt: Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Nachdr. der ungekürzten Sonderausg., München 1987 (Beck’sche Sonderausgaben). Der größtmögliche Abstand zwischen dem kranken Fürsten einerseits und seinen Verwandten sowie Untertanen andererseits ist also noch nicht mit Dietrichs Rückzug

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also zum zweiten Mal einen Ort zurück, nicht etwa weil man ihn von dort regelrecht verstoßen hätte, sondern weil er vor der sozialen Stigmatisierung fliehen möchte. In Dänemark wird ihm nicht nur jene Pflege zuteil, die ihm das Dasein als Aussätziger erleichtert, sondern Engelhard mißachtet gar das Berührungstabu, welches grundsätzlich für Leprakranke gilt, indem er – ohne daß die Furcht vor Ansteckung überhaupt thematisiert werden würde – immer wieder die Nähe des Freundes sucht und ihn umarmt.43 So weit läßt sich die Geschichte aus Dietrichs Perspektive erzählen. Auf Umwegen werde ich darauf zurückkommen und zu beschreiben versuchen, inwiefern sie für jene Engelhards sinnstiftend ist.

4. Exkurs: Aussatz und Heil Du warst ein Herr und bist ein Heiliger, begreifst du, wie die Rechnung aufgeht? Du gehörst zu uns, endlich, Mseridon! Das einzige Glück, das dir bleibt, ist hier, unter uns Aussätzigen, es ist das Glück, uns zu trösten ... Los, Posten, schließ das Tor nur ab, wir kehren um.44

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auf die Insel erreicht. Erst als kaum noch jemand bereit ist, den Leprösen aufzusuchen, erreicht dessen Isolation ihren Höhepunkt: sus lebete er manege stunde / mit jaˆmer und mit leide / biz im die friunde beide / ab giengen und die dienestman, / alsoˆ daz man sıˆn began / pflegen niht soˆ wol als eˆ / und man im boˆt smaˆcheite meˆ / zallen maˆlen danne vor. / eˆ kaˆmen dicke für sıˆn tor / maˆge, friunt, man unde wıˆp, / durch daz sıˆn ungesunder lıˆp / enpfienge hoˆhen troˆst von in. / diz allez was nuˆ gar daˆ hin. / er kam von hoˆher wirde alsoˆ / daz niemen sıˆn engerte doˆ / zeimaˆl in dem jaˆre sehen. / im was soˆ rehte weˆ geschehen / von sıˆner veigen siecheit / daz man in ungerne leit / und in sıˆn gesinde floˆch. / vil seˆre man im abe zoˆch / an spıˆse und an gemache / und pflac sıˆn gar ze swache / mit aller hande dingen. / man sach im lützel bringen / dar uˆf des werdes anger. / wan soˆ der mensch ie langer / siechet unde ie seˆrer, / soˆ sıˆn unwirde ie meˆrer / unde ie groezer danne wirt. / des wart ouch Dieterich verirt / an sıˆner werdekeite gar. / niemen wolte sıˆn doˆ war / mit guoter handelunge nemen. (V. 5572–5605). Hof und Insel erweisen sich freilich als »qualitativ verschiedene[] Räume[]« (Czerwinski [Anm. 24], S. 58), doch so differenziert der eine (Insel) entworfen wird, so unkonkret bleibt der andere (Hof). Die (zunächst noch funktionierende) Versorgung Dietrichs durch den Hof macht außerdem deutlich, daß es sich hier nicht um »selbständige[]« (ebd.), unabhängig voneinander zu denkende Räume handelt, sondern die Insel ein Teil von Dietrichs Herrschaftsbereich ist. Vgl. etwa V. 5742: mit armen er in umbeswief. Dennoch bleibt Dietrich auch hier ein Ausgegrenzter, einer dem der innere Bereich höfischen Lebens versagt bleibt. Denn er wird nicht am dänischen Hof selbst versorgt, sondern in einem kleinen Haus vor den Toren der Festung. Im Unterschied zur Figur des Aussätzigen in anderen Versionen der Geschichte übernachtet Dietrich nicht in der Kemenate des Freundes oder darf an dessen Tafel speisen (so etwa in der lat. ›Vita Amici et Amelii‹). Dino Buzzati, L’uomo che volle guarire, in: Un minimo di rispetto. Racconti italiani

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Noch Mitte des 20. Jahrhunderts erzählt Dino Buzzati in seiner kurzen parabolischen Geschichte ›L’uomo che volle guarire / Der Mann, der gesund werden wollte‹ von einem jungen Adligen, der an Lepra erkrankt, genauer: erkrankt ist. Denn schon mit dem Beginn der Geschichte wird der Rezipient in das Innere einer Leprosenkolonie gelenkt. Die an Lepra Erkrankten leben in einer unabhängigen sozialen Gemeinschaft, die eine hohe Mauer von der Außenwelt trennt. Nicht die Kranken sind ausgegrenzt, sondern die Gesunden. »[P]assa fuori«, »geh hinaus« (S. 98f.) fordert der Wächter Mseridon auf, nachdem dieser auf wundersame Weise vom Aussatz geheilt wurde.45 Tag und Nacht hatte er für seine Heilung zu Gott gebetet, aber nun – da er in die Welt hinausblickt – erscheint sie ihm voller Abscheulichkeiten, und er kehrt zurück in die Gemeinschaft der Leprosen. Die Barmherzigkeit Gottes hat ihn geheilt, doch den »Geschmack am Leben« (»il gusto della vita«, S. 100f.) verlieren lassen. Auf diese Weise ist aus dem Aussätzigen ein Heiliger geworden: »[...] Eri un gentiluomo, sei un santo, [...]« (S. 100). Buzzati nimmt in seiner Geschichte gewiß Bezug auf Leprosenansiedlungen, wie sie unter anderem auch aus dem Mittelalter bekannt sind: Die Aussätzigen bildeten eine weitgehend eigenständige (religiöse) Gemeinschaft, deren Organisation, Hierarchien und Regeln zwar nicht einem Orden, aber einer Bruderschaft vergleichbar waren.46 Doch darum soll es mir an dieser Stelle nicht gehen. Entscheidend ist vielmehr, daß Buzzati den Blick auf einen kulturell und theologisch fundamentalen Zusammenhang lenkt: den von Aussatz und Heil, von Ausgrenzung und Erwählung. Ich möchte behaupten, daß es eben dieser Zusammenhang ist, den auch zahlreiche mittelalterliche Aussatzgeschichten auf unterschiedliche Weise diskursivieren: Auffällig ist nämlich, daß sich nur vergleichsweise wenige Entwürfe finden lassen, in denen die Aussatzerkrankung einzig als Folge und sichtbares Zeichen eines sündhaften Lebenswandels dargestellt wird.47 Erinnert sei noch einmal an die Vita der Alix von Schaerbeck, in der sogar betont wird, daß die Erkrankung der Zisterzienserin gerade nicht als Strafe Gottes zu interpretieren ist, sondern als Zeichen ihrer Erwählung. Der anonym gebliebene Biograph läßt keinen Zweifel daran, daß Alix erst jene Leiden, wie schmerzhafte Verwesung bei lebendigem Leibe und die erbarmungslose Ausstoßung aus dem Konvent, erfahren mußte, um die gänzlich körperlich gedachte Vereinigung mit Gott vollziehen zu können: In Folge ihrer ekstatischen Hingabe an die Eucharistie, die

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del Novecento/Ein Mindestmaß an Respekt. Italienische Erzählungen des 20. Jahrhunderts, Auswahl und Übersetzung von Theo Schumacher [u. a.], München 92004, S. 101. Vgl. Buzzati, L’uomo che volle guarire [Anm. 44], S. 88–101. Vgl. Keil, Aussatz im Mittelalter [Anm. 3], S. 89. Vgl. die Beispiele im einleitenden Teil: die Aussätzigen in den Tristanromanen Berols und Eilharts, Nero und Domitian in der ›Kaiserchronik‹.

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der Aussätzigen – zumindest in Form des Weines – vom Priester versagt bleibt, werden ihr die Wunder Gottes offenbar. So versichert ihr Jesus zum Trost, daß die Hostie sowohl seinen Leib als auch sein Blut enthalte.48 Immer wieder findet sie Zuflucht an seinen Brüsten und Wunden, nährt sich an ihnen wie ein Kind an den Brüsten seiner Mutter, um die Leiblichkeit Christi zu erfahren und mit ihr zu verschmelzen.49 Während Alix unfreiwillig von Gott mit ihrer Aussatzerkrankung ›begnadet‹ wird, spiegelt dagegen die Vita der Franziskaner-Tertiarin Angela da Foligno geradezu die Sehnsucht nach einem solchen Martyrium wider: In der Nachfolge des heiligen Franziskus entscheidet sich Angela zu einem Leben unter Aussätzigen, gibt sich ihrer Pflege hin und – so zumindest die Behauptung in der von Fra Arnaldo da Foligno aufgezeichneten Biographie – trinkt das Wasser, in welchem sie die Leprakranken gebadet hat. Den Schorf ihrer Wunden schmeckt sie süß wie das Brot der Eucharistie: In die Iovis sancti ego dixi sociae meae quod inquireremus invenire Christum. Et dixi: Eamus ad hospitale et forsan ibi inveniemus Christum inter illos pauperes et poenatos et afflictos. [...] Et postquam [...] lavimus pedes feminarum et lavimus manus hominum, maxime cuiusdam leprosi qui habebat manus valde fracidas vel marcidas et perditas, et bibimus de illa lotura. Et tantam dulcedinem sensimus, quod per totam viam venimus in magna suavitate ac si communicavissemus. Et videbatur mihi recte quod ego communicassem, quia suavitatem maximam sentiebam sicut si communicassem. Et quia quaedam scarpula illarum plagarum erat interposita in gutture, ego conabar ad glutiendum eam. Et reprehendebat me conscientia expuere sicut si communicassem, quamvis non expuerem ad eiciendum, sed ad deponendum eam de gutture. (›Il libro della beata Angela da Foligno‹, S. 240)50

Zweifelsohne sind der Wunsch nach unheilbarer Erkrankung, nach einem Martyrium in der imitatio Christi und jene auch für Alix und Angela auffällige Eucharistieverehrung für Lebensbeschreibungen von Mystikerinnen und Aufzeichnungen ihrer Visionen keineswegs ungewöhnlich.51 Doch möchte ich her48 49 50

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Vgl. De B. Aleyde Scharembekana [Anm. 25], Cap. II, 15, S. 480. Vgl. De B. Aleyde Scharembekana [Anm. 25], Cap. II, 10, S. 479. Zit. nach: Il libro della beate Angela da Foligno, Edizione critica, hg. von Ludger Thier und Abele Calufetti, Grottaferrata 21985 (Spicilegium Bonaventurianum 25). Auch von Ivetta von Hoe (1157–1228) heißt es, daß sie ihre Güter verschenkte und in ein Leprosorium zog, um sich anzustecken: Nec sub silentio prætereundum videtur, quod vt magis a Domino posset mereri sancta mulier, suppliciter Deum exorabat, vt si de eius gratia fieri posset, efficeretur & ipsa leprosa, vt nihil ei in virtutis deesset consummatione & gratia; mundoque huic magis efficeretur vilis & despecta. Siquidem huius rei desiderio & gratia manducabat & bibebat cum leprosis, lauabatque se de aqua balnei ipsorum: minuebat quoque eis ipsamet sanguinem, vt sanguine eorum inficeretur, vt sordes attraherent sordes, & lepra efficeret lepram, & morbus traheretur a morbo. Zit. nach: Hugo von Floreffe, De B. Ivetta, sive Ivtta, Cap. XI, 36, in: Acta Sanctorum, Ianuarius (I), hg. von Jean Bolland [Ioannes Bollandus], Brüssel 1969, Nachdr. d. Ausg. Antwerpen 1643, S. 870. Vgl. Peter Dinzelbacher, Mittelalterliche Frauenmystik, Paderborn [usw.] 1993,

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ausheben, daß es sich im Fall von Lepra weder um irgendein beliebiges Martyrium noch um irgendeine unheilbare Krankheit oder um irgendeine Form von Stigmatisierung handelt: Eine Aussatzerkrankung führt dazu, daß der Körper noch im Leben verfällt. Die Haut, die den Körper begrenzt, wird zu einer großen offenen Wunde, wird verletzlich und löst sich auf. Die Gliedmaßen sterben nach und nach ab. Der Körper, der immer auch die Gefahr der Kontamination in sich birgt, wird unberührbar für die irdische Welt. Lepra ist – wie kaum ein anderes physisches Leiden – mit einem Berührungstabu in der Welt und Entrückung aus ihr verbunden. Für die Entwürfe religiösen, ja auch heiligen Lebens bedeutet dies, daß es eine Alternative zur Virginität gibt, die zugleich strukturelle Analogien aufweist. Es gibt zwei Formen von Unberührbarkeit und asketischer Weltdistanzierung: einerseits den Erhalt absoluter Reinheit, die damit verbundenen Formen der Distanzierung und Selbstausgrenzung (Jungfräulichkeit), andererseits die absolute Verunreinigung des Körpers und die darauf folgende Isolierung oder Verbannung aus einem sozialen Raum, in dem Unreine keinen Platz haben. Beide Entwürfe implizieren die Ablehnung der eigenen Körperlichkeit und den Wunsch, daß sich der Körper aller Verfügbarkeit entziehen möge.52 Nun geht es freilich in Konrads ›Engelhard‹ um anderes als in den Viten einer Alix von Schaerbeck oder Angela da Foligno. Gleichwohl werden auch hier – so möchte ich behaupten – Heilserfahrungen (wie Dietrichs Begegnung mit dem Numinosen während seines Inselaufenthaltes) und Heilsbedürfnisse (wie die Legitimierung von Engelhards keineswegs selbstverständlichem Frauenund Machterwerb in Dänemark) im Rahmen der Aussatzgeschichte thematisiert. Was ich am Beispiel von Konrads ›Engelhard‹ zeigen möchte ist, daß ihm ebenso wie allen Geschichten, die in der Tradition der Amicus-Amelius-Legenden erzählt werden, mythische Strukturen zugrunde liegen, die es nicht erlauben, Engelhards ›Aufstieg‹ zum Nachfolger des dänischen Königs Fruote nach Maßgabe moderner Psychologie zu bewerten.

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besonders S. 227f.; Caroline Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters, aus dem Amerik. von Brigitte Große, Frankfurt a. M. 1996, bes. »Mystikerinnen und Eucharistieverehrung im 13. Jahrhundert« (S. 109–147) und »Der weibliche Körper und religiöse Praxis im Spätmittelalter« (S. 148–225); Monika Gsell, Das fließende Blut der ›Offenbarungen‹ Elsbeths von Oye, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram SchneiderLastin, Tübingen 2000, S. 455–482. Freilich ließe sich der Wunsch Angelas da Foligno dann auch biographisch begründen: Sie war bereits verheiratet und hatte Kinder geboren (vgl. für einen ersten Überblick: Christian Klemm, Angela v. Foligno, LexMA, Bd. 1, 1980, Sp. 617f.). Um wieder unberührbar werden zu können, blieb ihr allein die Leprainfektion.

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5. Aussatz und Opfer – Tabubrüche und Herrschaftslegitimierung: mythische Strukturen in Konrads ›Engelhard‹ Konrads ›Engelhard‹ erzählt gewiß eine Geschichte, in welcher die triuwe als höchste Tugend zweier Freunde gepriesen wird. So legen es Pro- und Epilog nahe und betonen damit den exemplarischen Charakter der Erzählung.53 Die vorangegangenen Beobachtungen zeigen allerdings, daß sich weder die Figurenkonstellationen noch die Handlungslogik, schon gar nicht mythische Tiefenstrukturen allein von jenem Diskurs her erschließen lassen. Denn schließlich geht es nicht allein um ein reziprokes Verhältnis zwischen Dietrich und Engelhard. Ihre Freundschaft ist Teil eines komplexen Bezugssystem, in dem besonders genealogisch Zusammenhänge eine zentrale Rolle spielen. Schon eine erste, oberflächliche Lektüre läßt erkennen, daß die Probleme von Erbanspruch, Brautwerbung und Nachkommenschaft nicht nur beiläufig verhandelt werden.54 Konrad erzählt die Geschichte des erbenlosen Engelhard, der mit Hilfe des brabantischen Fürstensohnes Dietrich die dänische Königstochter zur Frau gewinnt und damit – unabhängig von den Gesetzen agnatischer Erbfolge – die Herrschaft ihres Vaters Fruote übernimmt. Zentrales Thema ist aber vor allem das Konfliktpotential, welches von einer sozialen Beziehung ausgeht, die genealogische Regeln einer unbedingt auf Reziprozität angelegten Freundschaft nachordnet: Zunächst gefährdet Dietrich sein Erbe in Brabant, als er für Engelhard im Zweikampf gegen Ritschier sein Leben aufs Spiel setzt.55 Später opfert Engelhard seine Nachkommen, um Dietrich heilen zu können, und riskiert damit die sichere Erbfolge in Dänemark.56 Kodiert ist jene Gefahr in der Ähnlichkeit Engelhards und Dietrichs. Für die beiden Protagonisten selbst ist sie ungleich weniger problematisch als für die soziale Gemeinschaft, in der sie sich bewegen. Denn sie sind nicht miteinander verwandt. Wenngleich sie einander wie Zwillinge ähneln, sind sie doch nicht einmal Geschwister. Es gibt zweierlei Herrschaftsbereiche, keinerlei Ansprüche 53

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Vornehmlich aus dieser Persepktive interpretieren: W. Günther Rohr, Konrads von Würzburg kleiner Roman ›Engelhard‹, Euphorion 93 (1999), S. 305–348; Hans-Joachim Behr, Liebe und Freundschaft im ›Engelhard‹ Konrads von Würzburg, JOWG 5 (1988/89), S. 319–327. Vgl. Horst Brunner, genealogisch Phantasien. Zu Konrads von Würzburg ›Schwanritter‹ und ›Engelhard‹, ZfdA 110 (1981), S. 274–299. Zur zentralen Bedeutung genealogischr Denkformen im Mittelalter vgl. die grundlegende Arbeit von Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischn Wissen im Mittelalter, München 2004. Und: Bereits an früherer Stelle erwägt Dietrich, zugunsten der Freundschaft auf sein Erbe zu verzichten oder zumindest Engelhard daran teilhaben zu lassen: er wolte gerne groˆzen schaden / an sıˆme lande haˆn genomen, / durch daz er nimmer waere komen / von sıˆme truˆtgesellen. Vgl. V. 1379–1427, zit. V. 1390–1393. Vgl. Engelhards Monolog zur Entscheidungsfindung (V. 6118–6202), in dem er auch die Hoffnung auf weitere Kinder formuliert (V. 6184f.).

Aussatz und Erwählung

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auf ein und dasselbe Erbe, keinerlei mimetisches Begehren, welches aus verwandtschaftlicher Nähe resultieren würde.57 Obwohl die Siegel-Wachsmetapher, welche Konrad zur Beschreibung beider verwendet,58 genau dies nahelegen müßte, handelt es sich im Falle von Dietrichs und Engelhards Ähnlichkeit eben nicht um jenes »anthropologische Paradigma«, in welchem »geschlechtliche Reproduktion und genealogisch Institution zusammentreffen.«59 Wie schwer es einer Gesellschaft fällt, mit jenem Problem äußerer Gleichheit oder auch Doppelgängerschaft umzugehen, zeigen die Reaktionen am dänischen Hof. Der kennt nur eine Lösung, um Dietrich und Engelhard differenzieren zu können: Er stattet sie mit unterschiedlichen Gewändern aus,60 ohne an die Möglichkeit von Entkleidung und Kleiderwechsel zu denken. Doch einzig der soziale, nicht aber der biologische Körper wird auf diese Weise unterscheidbar. Und da nur Dietrich und Engelhard ihre wahre Identität kennen, werden alle Außenstehenden manipulierbar. Bis zu Dietrichs Aussatzerkrankung verfügen allein sie über die Zeichen, ordnen sie Namenszeichen und bezeichneten Körper einander zu. Auch in Engeltruds Wahl zwischen den beiden Protagonisten spiegeln sich die »Krise der Unterschiede«,61 die Störung der kulturellen Ordnung und die 57

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Zwillingsgeburten werden in sogenannten traditionalen Kulturen häufig als Bedrohung wahrgenommen, weil sie die Differenzierung zwischen Erst- und Zweitgeborenen und zwischen den oft ununterscheidbaren Körpern nahezu unmöglich machen. Nicht selten reagieren Gemeinschaften mit Tötung oder Aussetzung auf eine solche »Krise der Unterschiede« (Rene´ Girard, Das Heilige und die Gewalt, aus dem Franz. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a. M. 1992, S. 77 u. ö.) Vgl. V. 470–474. Vgl. Georges Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 30, ferner S. 31: »Ähnlich sein heißt zunächst, seinen Eltern ähnlich zu sein, und die symbolische Organisation einer Gesellschaft muß jedesmal das entsprechende Gesetz neu erfinden, das dieser visuellen Beziehung, diesem bedeutungsschweren Erbe Ausdruck verleiht. In einem solchen Zusammenhang werden bestimmte Objekte instituiert, um die Übertragung der Ähnlichkeit zu vergegenständlichen: nämlich die Bilder. Es versteht sich von selbst, daß der Prozeß des Abdrucks [...] zu diesem Zweck besonders geeignet ist. Denn der Abdruck überträgt physisch – und nicht nur optisch – die Ähnlichkeit der Sache oder der Person, von der ein Abdruck gemacht wird. Die Analogie zur sexuellen Reproduktion läßt sich leicht nachvollziehen: Zum einen gehört zum Prozeß des Abdrucks die enge Berührung, der Druck des sich abdrückenden Gegenstands auf oder sein Eindringen in das Substrat; zum anderen verschwindet sein Resultat nicht, wie ein Spiegelbild es tut, sondern es wird buchstäblich ›geboren‹ als ein durch den Akt des Abdrucks produzierter Körper. Man könnte also sagen, daß im Unterschied zur figurativen Nachahmung, welche die optische ›Kopie‹ von ihrem ›Modell‹ säuberlich und hierarchisch getrennt hält, die Reproduktion durch Abdruck als ihr Resultat eine ›Kopie‹ erzeugt, die das taktile, leibliche Kind, und nicht die verblaßte Reflexion ihres ›Modells‹ oder genauer gesagt ihrer elterlichen Form ist.« der uˆz erwelte künic rıˆch / muoste mit den kleiden / si zweˆn underscheiden. (V. 828– 830) Girard, Das Heilige [Anm. 57], S. 77 u .ö.

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damit verbundenen Irritationen wider. In einer grundsätzlich monogam ausgerichteten Kultur darf sie nur Dietrich oder Engelhard lieben. Doch deren zwillingshafte Ähnlichkeit steht dieser Logik entgegen, und so bleibt ihr einzig das ihrem ähnliche Namenszeichen Engelhards als Entscheidungskriterium. So kann es auch dazu kommen, daß einer der beiden Freunde Engeltrud erobert und heiratet, der andere aber stellvertretend die Illegitimität des Brauterwerbs auf sich nimmt. In der Brautwerbungsgeschichte sind Engelhards und Dietrichs Schicksale untrennbar verwoben. Konrad arbeitet freilich auffällig an der Verschleierung eben jenes Skandalons des Brauterwerbs:62 Engelhard und Engeltrud sind von vornherein aufgrund ihrer Namen aufeinander bezogen, und: Engeltrud wird von Engelhard nicht vergewaltigt,63 sondern gibt sich ihm selbst hin. Doch kann er so die basalen mythischen Strukturen nicht vollkommen tilgen. Auch in Konrads Geschichte läßt die Spezifik von Dietrichs Erkrankung die Illegitimität des Frauenerwerbs offenbar werden. Denn die Lepraerkrankung negiert eben all jene Dispositive, welche die Ehe zwischen Engelhard und Engeltrud überhaupt erst ermöglicht haben: Ähnlichkeit, Doppelgänger- und Stellvertreterschaft. Dietrichs Aussatz markiert einen Zustand der Entdifferenzierung: Mit ihm droht sich der Stellvertretungskörper aufzulösen; er macht die ansonsten zum Verwechseln ähnlichen Freunde unähnlich, unterscheidbar für die Gesellschaft. Auf diese Weise tritt auch in Konrads Geschichte (ohne daß es dazu eines Kommentars bedürfte) zu Tage, was im Identitätswechsel noch unsichtbar geblieben ist: der illegitime und auf Gewalt gründende Frauen- und Machterwerb in Dänemark, seine Legitimations- und Heilsbedürftigkeit. Jene mythischen Strukturen finden im Kindsopfer ihre Fortsetzung.64 Mehr noch als etwa Hartmanns ›Armer Heinrich‹, die Silvesterlegenden oder auch einige wenige Versionen der Amicus-Amelius-Erzählungen bekunden all jene Aussatzgeschichten, in denen das Heilung verheißende Kinderopfer tatsächlich vollzogen wird, »die Fortdauer eines archaischen Transgressionsbedürfnisses«.65 Auch in Konrads ›Engelhard‹ geht es keineswegs darum, das Opfer – entgegen 62

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Dies gilt auch für seine Darstellung des gerichtlichen Zweikampfs. Vgl. dazu Rüdiger Schnell, Die ›Wahrheit‹ eines manipulierten Gottesurteils. Eine rechtsgeschichtliche Interpretation von Konrads von Würzburg ›Engelhard‹, Poetica 16 (1984), S. 24–60. Davon erzählt – wenngleich sehr knapp – die lat. ›Vita Amici et Amelii‹. Vgl. Franz Joseph Mone, Die Sage von Amelius und Amicus, Anzeiger für die kunde der teutschen vorzeit 5 (1836), Sp. 145–167, 353–422, Textabdruck Sp. 146–160, hier bes. Sp. 150. Das Opfer ist also nur oberflächlich betrachtet eine »Bewährungstat« (Brunner [Anm. 54], S. 297). Rainer Warning, Narrative Hybriden. Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma (Der arme Heinrich/Parzival), in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Udo Friedrich/Bruno Quast, Berlin/New York 2004 (Trends in Medieval philology 2), S. 19–33, hier S. 23.

Aussatz und Erwählung

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christlicher Kritik an blutigen Opfern – zu entproblematisieren, sondern um die unmittelbare Darstellung des elementaren Zusammenhangs von Gewalt und Heil, von Dietrichs Heilungs- und Engelhards Heilsbedürfnis. Da Dietrich im Zweikampf um die Braut Engelhard vertritt, am dänischen Hof dessen Identität annimmt, ist es nur folgerichtig, daß das illegitime Verhalten Engelhards am Stellvertreter und nicht am Sünder selbst sichtbar wird. Und so vermag auch nur die Opferbereitschaft desjenigen, der den Tabubruch vorehelicher Minne begangen hat, denjenigen zu heilen, der diesen und die damit verbundene Lüge auf sich genommen hat; können nur Engelhards Kinder geopfert werden.66 Dieser Begründungszusammenhang erkärt schließlich auch, warum Anstekkungsgefahr und Berührungstabu für Engelhard nicht gelten. Es ist nicht allein das Modell reziproker Freundschaft, mit welchem beschrieben werden könnte, warum einzig er nicht vor Dietrich flieht. Engelhard kann sich nicht anstecken, weil Dietrich dessen Sünde trägt. Im Opfer finden illegitimes und gewaltsames Handeln ihren Abschluß: Gott nimmt das Opfer an und segnet zugleich Engelhard, indem er die Kinder wieder zum Leben erweckt. Engelhard stand in Gefahr, mit dem blutigen Opfer erneut Schuld auf sich zu laden, aber Gott beendet die Gewaltfolge. Doch während die Lepraerkrankung Dietrichs keine Spuren hinterläßt, bleibt das Opfer sichtbar, auch wenn die Kinder Engelhards auf wundersame Weise von Gott wiederbelebt werden. Die Opfermale, die die Kinder Zeit ihres Lebens tragen werden – als umbe ir keln gestricket / waere ein sıˆdenvaden klein, / reht in der selben maˆze schein / der slac der in geschehen was (V. 6386–6389) –, markieren den nicht unproblematischen Machterwerb des Vaters noch in der Folgegeneration. Die negativen Stigmata, die mit Dietrichs wundersamer Heilung getilgt werden, erneuern sich als Zeichen der göttlichen Legitimation des Machterwerbs in Dänemark, als Zeichen von Engelhards Heil – aber eben auch als Zeichen von Gewalt.

6. Innenräume und verborgene Wahrheiten Das Nicht-Wissen entblößt. Dieser Satz ist der Gipfel, doch muß er so verstanden werden: Es entblößt, also sehe ich, was das Wissen bis dahin verbarg, doch wenn ich es sehe, weiß ich. In der Tat, ich weiß, doch was ich erkannt habe, das entblößt das Nicht-Wissen nochmals.67 66

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Zugleich gilt natürlich das Opfertabu für Aussätzige, welches zwar hier nicht thematisiert, aber gewiß als kulturelles Wissen im Hintergrund steht: Opfern kann nur der, der selbst nicht vom Aussatz betroffen ist. Georges Bataille, Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953 (Atheologische Summe I), aus dem Franz. übers. von Gerd Bergfleth, mit einem Nachwort von Maurice Blanchot, München 1999 (George Bataille, Das theoretische Werk in Einzelbänden, hg. von Gerd Bergfleth, Batterien 65), S. 76.

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Jene Geschehnisse, die die Erbfolge und damit die Kontinuität von Macht und Herrschaft in Dänemark gefährden – die geheime voreheliche Minnebeziehung des selbst erbenlosen Engelhard zur Königstochter sowie das Kinderopfer –, sind für den Hof weitgehend unsichtbar geblieben. Diese für die höfische Gesellschaft tabuisierten Handlungen spielen sich zwar im Inneren des Hofes ab, doch in Räumen, die durch ihre Grenzen den Zugang reglementieren: in Baumgarten und Kemenate.68 Konrad markiert die der Brautwerbungsgeschichte wie auch der Opferszene immanente Ambivalenz mehrfach: Für die Minnegeschichte steht die von Ritschier erspähte Wahrheit der des Trios Engelhard, Engeltrud und Dietrich gegenüber. Das Opfer der Erben Engelhards wird heimlich und im Schlafgemach der Kinder vollzogen, einem Raum, der keinem anerkannten Opferritual adäquat wäre.69 Vor allem aber werden sowohl Dietrichs Körper als auch jene der Kinder Engelhards zu Texten, die – und noch einmal zitiere ich Alois Hahn – »unfreiwillig Auskunft über eine vorher verborgene Wahrheit«70 geben. Konrad lenkt mit Ähnlichkeits- und Stigmadiskurs die Wahrnehmung des Rezipienten auf den höfischen Körper, seine Grenzen und Raum konstituierende Choreographien selbst, weniger aber auf Örtlichkeiten, auf konkrete Topographien oder Architekturen.

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Vgl. Horst Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit in Gottfrieds ›Tristan‹, ZfdPh 107 (1988), S. 335–361; Peter Strohschneider, Kemenate. Geheimnisse höfischer Frauenräume bei Ulrich von dem Türlin und Konrad von Würzburg, in: Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit. 6. Symposion der Residenzen-Kommission der Ak. d. Wiss. in Göttingen, veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Institut Paris, dem Sonderforschungsbereich 537 der Technischen Universität Dresden und dem Freistaat Sachsen. Dresden, 26. bis 29. September 1998, hg. von Jan Hirschbiegel und Werner Paravicini, Stuttgart 2000 (Residenzenforschung 11), S. 29–45. Diese Beobachtungen bestätigen einmal mehr die von mir in einer früheren Analyse formulierte These, nach der mit einem Tabu belegte Handlungen wie Ehebruch, Inzest, Suizid, Menschenopfer oder verbotene magische Praktiken in zahlreichen mittelalterlichen Darstellungen ausschließlich in Bereichen, die der Wahrnehmung der höfischen Gesellschaft weitgehend entzogen sind, stattfinden: Marion Oswald, Tabubrüche – Choreographien ihrer Wahrnehmung zwischen ›Heimlichkeit‹ und ›Öffentlichkeit‹, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, hg. von Horst Wenzel/C. Stephen Jaeger, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 167–187. Hahn, Körper [Anm. 16], S. 673.

Timothy R. Jackson

Zwischen Innenraum und Außenraum Das Motiv des Fensters in der Literatur des deutschen Mittelalters

Im realen Leben haben Fenster eine relativ einfache, praktische Funktion: Unter nhd. ›Fenster‹ verstehen wir eine Öffnung in einer Mauer zum Einlassen von Luft und Licht; ein Fenster ist u. a. dazu da, daß man hindurch sieht. Letzteres wurde leichter, als die Öffnung nicht etwa wie anfangs mit einem Tuch, einem Holzladen oder einer Tierhaut, sondern mit Glas gefüllt war. So konnte sich Abt Gozbert Ende des 10. Jahrhunderts darüber freuen, daß die Sonne statt durch alte Leinwand nunmehr durch bunte Glasscheiben (per discoloria picturarum vitra) in die Kirche des Klosters Tegernsee scheinen werde.1 Aber mhd. venster bedeutet auch ›Öffnung der Laube‹, ›Galerieöffnung‹ oder ›Arkadenbogen‹,2 wobei an gegebenen Textstellen nicht immer klar wird, wie das Wort bautechnisch genau zu verstehen ist. Änderungen in der lexikalischen Bedeutung jedoch müßen keine großen Änderungen in der jeweiligen Signifikanz des Motivs hervorrufen: Z. B. werden durch Fenster wie auch Arkaden Rahmen gebildet, die unsere Aufmerksamkeit auf das Umrahmte richten. Daher wird auch im folgenden nicht immer versucht, die jeweilige Bedeutung genau zu bestimmen.3 In der Dichtung sind Fenster architektonische Komponenten, mit denen ein Erzähler schalten und walten kann. Das sieht man etwa daran, daß Veldeke bei der Schilderung des Grabmonuments des Pallas das im ›Roman d’Eneas‹ vorkommende Fenster ausläßt, dagegen das in der Quelle lichtlose Grabgewölbe der Camilla mit vier aus Edelsteinen hergestellten Fenstern versieht.4 Und auch in der Literatur haben Fenster öfters vorwiegend pragmatische Darstellungsoder Erzählfunktionen. So können sie Licht hereinlassen, etwa im ›Trojanerkrieg‹ Konrads von Würzburg: 1 2

3 4

Die Tegernseer Briefsammlung, hg. von Karl Strecker, MGH, Epistolae selectae III, Berlin 1925, S. 25, Anm. 24. Siehe Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, hg. von Ernst Martin, Zweiter Teil: Kommentar, Halle an der Saale 1903; Nachdr. Darmstadt 1976, S. 152 bzw. 577. Zum Fenster im Mittelalter siehe Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, Bd. 1, München 1986 (dtv 4442), S. 141f., 146–149. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, Mittelhochdeutsch /Neuhochdeutsch, hg. von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986 (RUB 8303), V. 224,12–14 bzw. 253,24–29. Vgl. dazu Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2003 (Trends in Medieval Philology 3), S. 90f.

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Timothy R. Jackson glanz unde niht ze timber diu venster alle waˆren, diu lieht dem huˆse baˆren von dem wunneclichen tage.5

Man vermutet ferner, daß (wo nicht ausdrücklich etwas anders gesagt wird) die meisten in der Literatur vorkommenden Fenster und Arkaden an relativ hoher und exponierter Stelle an der jeweiligen Mauer angebracht sind.6 So bietet ein Fenster auch einen guten Aussichtspunkt, z. B. nach dem Sachsenkrieg im ›Nibelungenlied‹, als man nach den wiederkehrenden Kriegern ausspäht – doˆ gie an diu venster vil manec scœniu meit. / si warten uˆf die straˆze [...]7 – oder nochmals in Konrads ›Trojanerkrieg‹, als Jason und seine Begleiter bei ihrer Ankunft in Jaconite von den Frauen der Stadt bewundert werden: diu venster wunnebære, diu wurden schœner wıˆbe vol, daˆ von wart doˆ geluoget wol der geste vremde und unbekant. (›Trojanerkrieg‹, V. 7312–7315)8

In der ›Kudrun‹ kann Königin Hilde hören, wie Horant singt, denn ez erhal ir durch daz venster, daˆ si was gesessen an der zinne.9 Fenster stehen relativ selten mit dem Gehör in Verbindung. Daß der Wortschatz des Sehvermögens dagegen häufig in Zusammenhang mit dem Fenster zu finden ist, mag nicht verwundern, interessant ist aber immer wieder die Art und Weise des Sehens; die Rollen derer, die sehen; die Erkenntnisse, die das Sehen bringt; die Implikationen dieser Erkenntnisse. Denn neben den praktischen Wahrnehmungsfunktionen, die dem realen Leben entnommen sind, können Fenster in der Literatur eine Vielzahl von assoziativen und übertragenen Bedeutungen besitzen. So wird mit venster gelegentlich ein in einen Schild gehauenes Loch metaphorisch bezeichnet, etwa: 5 6

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Konrad von Würzburg, Der trojanische Krieg, hg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (BLVS 44), V. 17508–511. Eine Ausnahme – ein Fenster auf Erdbodenhöhe – bietet Wolfram von Eschenbach, Parzival, hg. von Karl Lachmann, Berlin/Leipzig 61926; Nachdr. Berlin 1965, 553,4–8. Das Nibelungenlied, hg. von Karl Bartsch [u. a.], Mannheim 221988 (Deutsche Klassiker des Mittelalters), 243,2f. Wenige Zeilen später werden sie uˆz einem venster hoˆhe enbor (V. 7329) von König Oetas erblickt, der eilt, sie zu begrüßen. In Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹, hg. von Georg Karl Frommann, Quedlinburg /Leipzig 1837 (Bibl. d. ges. Nat. Lit. 5), steigen die Frauen von Troja auf die Zinnen der Stadt, damit sie von den Fenstern aus sehen können, wie Ir man vnd ir amis (V. 6255) gegen die Griechen ausmarschieren. Die Ankunft Gahmurets in Patelamunt wird ebenfalls von den in den Fenstern liegenden Frauen der Stadt beobachtet (›Parzival‹, 17,30–18,4.) Kudrun, hg. von Barend Symons und Bruno Boesch, Tübingen 71964 (ATB 5), 373,4.

Zwischen Innenraum und Außenraum

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Keie sıˆne tjoste braˆhte, als im der ougen mez gedaˆhte, durchs Waˆleis schilt ein venster wıˆt. (›Parzival‹, 295,13–15, vgl. 505,4)

Gottfried spricht vom venster der ougen,10 und in der quasi-wissenschaftlichen Literatur eines Konrad von Megenberg wird das Ohr als venster bezeichnet: Daz oˆr an dem menschen ist ain venster, hin und her gekrümpt inwendig, und haizent ez die maister ain tür oder ain porten der seˆl [...]11

Bilder und Geräusche dringen also gleichsam durch Öffnungen in der Mauer des Körpers hinein. Zu bemerken ist, daß das Auge, nicht aber das Ohr, dem Fenster darin ähnlich ist, daß es Informationen in beiden Richtungen vermittelt. Der Minnediskurs kennt ja das Motiv vom Herzen des liebenden Mannes, das durch sein Auge zum Auge der Geliebten und dann durch dieses zu deren Herzen spricht – und umgekehrt. Geistliche Texte kennen das metaphorische Bild des von Licht durchflossenen Glases als Symbol der unbefleckten Empfängnis: wand als diu sunne durch daz glas schıˆnt, ez blıˆbet unzebrochen, alsoˆ het Marıˆaˆ belochen in ir lıˆp ir kindelıˆn.12

Das muß freilich nicht Fensterglas sein, aber bei diesem Vergleich stellt man sich die Schönheit der zahllosen, aus leuchtenden Edelsteinen zusammengesetzten – und daher an Darstellungen des himmlischen Jerusalem erinnernden – Fenster des Graltempels im ›Jüngeren Titurel‹ leicht vor: »Immer wieder weist der Text auf die besondere Wirkung und Verfärbung des Lichts hin, wenn es durch die Edelsteine in das Tempelinnere fällt.«13 So erscheint das Grab der Camilla mit seinen aus acht Juwelen hergestellten Fenstern als anmaßende »Selbstinszenierung«, »selbstgebaute Himmelsstadt«,14 »als Sinnbild für die ganz im Irdischen verhaftete Lust an Kostbarkeit, Luxus und Reichtum« der Königin der Volsker.15 Auch Gottfried verwendet kirchliches Gedankengut, als er die drei sun10 11

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Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke, Berlin 1930, V. 8126. Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache, hg. von Franz Pfeiffer, Stuttgart 1861; Nachdr. Hildesheim/New York 1971, S. 10f. Bruder Philipps des Carthäusers Marienleben, hg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg/Leipzig 1853 (Bibl. d. Nat. Lit. 34), V. 2037–2040. Gotthard Frühsorge, Fenster: Augenblicke der Aufklärung über Leben und Arbeit. Zur Funktionsgeschichte eines literarischen Motivs, Euphorion 77 (1983), S. 346–358, hier 349, verweist auf das Bild des Fensters als semita lucis, auf der Christus als Sonne in die menschliche Seele dringt. Wandhoff [Anm. 4], S. 261. Ebd., S. 93 bzw. S. 99. Joachim Hamm, Camillas Grabmal. Zur Poetik der dilatatio materiae im deutschen Eneasroman, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 29–56, hier S. 42.

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nebernde[n] vensterlin der Minnegrotte quasi-geistlich als güete, diemüete und zuht allegorisiert (›Tristan‹, V. 16725, 17133, 17058–070); ich komme unten auf diese zurück. Ausdrücklich metaphorische oder symbolische Bedeutungen kommen in weltlichen Texten allerdings relativ selten vor. Ständig jedoch besitzen Fenster eine eher assoziative Signifikanz, indem sie Beziehungen zwischen innen und außen herstellen. Dabei geht es freilich nicht um einen panoramischen Blick durch das Fenster auf eine Stadt oder auf die Natur als Gegenstände, die in sich interessant wären – was man ja auch nicht erwartet.16 Vielmehr weist der Gegensatz zwischen Haus- oder Burginnerem und dem, was draußen liegt, immer wieder auf zwischenmenschliche Situationen, die bedeutungsträchtig werden können. Das läßt sich an einer Stelle in Hartmanns ›Erec‹ gut zeigen. Erec und Enite haben sich um die Mittagszeit wie gewohnt zurückgezogen, und er liegt in ihren Armen. Dann heißt es, daß die Sonne [...] den gelieben zwein durch ein vensterglas schein und hete die kemenaˆten liehtes wol beraˆten [...]17

Dieses Fenster jedoch ist weder nur eine praktische Lichtquelle noch, wie so viele andere Fenster, ein Mittel zur Wahrnehmung dessen, was draußen liegt, und m. E. schon gar nicht, wie man gemeint hat, ein »Symbol für Bewußtsein und Erneuerung«:18 Diese kommen erst später. Stattdessen ist hier die Funktion des Lichtes, das durch das Fenster dringt, daz si [sc. Erec und Enite] sich mohten undersehen (›Erec‹, V. 3022), d. h. es betont die gegenseitige Vernarrtheit der Liebenden, das Vermeiden dessen, was draußen liegt, das Verbleiben im Häuslichen, jene Beschäftigung mit sich selbst, die den Hof und die Ehe sofort in die Krise versetzen wird. Die Spannung zwischen Innen und Außen bei einer Burg oder einer Kirche empfindet man am stärksten in der liminalen Stellung von Fenster und Tür. Als Gahmuret in Belakanes Patelamunt ankommt, findet er unter anderem eine Anzahl von Kämpfern, die bei der Verteidigung des Landes tödlich verwundet worden sind und von denen es heißt: in diu venster gein dem luft was gebettet mangem wunden man, swenn er den arzaˆt gewan, daz er doch mohte niht genesen. (›Parzival‹, 19,26–29) 16 17

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Zum Naturpanorama im 18. Jahrhundert dagegen vgl. Frühsorge [Anm. 12]. Hartmann von Aue, Erec, hg. von Albert Leitzmann und Ludwig Wolff, 6. Auflage besorgt v. Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39), V. 3018–3021. Verglaste Fenster waren wohl zuerst vor allem in Sakralbauten zu finden. Relativ selten kommt es vor, daß wie hier der Erzähler eines weltlichen Textes ausdrücklich darauf hinweist, daß ein gegebenes venster verglast ist. Eva Maria Carne, Die Frauengestalten bei Hartmann von Aue, Marburg 1970, S. 59.

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Einerseits verweist diese Stellung zwischen der internen Bequemlichkeit und der externen frischen Luft19 wohl auf gute medizinische Praxis; andererseits kann man nicht umhin, sie mit dem bevorstehenden Abschied vom Leben zu assoziieren. In ihrer physischen Wirklichkeit und daher wohl auch in ihrer symbolischen Bedeutung besitzen Fenster und Tür jedoch eine jeweils andere Liminalität. Zwischen der einen und der anderen Seite einer Türschwelle gibt es so gut wie keine Entfernung und zumeist entweder keinen oder höchstens einen kleinen Höhenunterschied. Beim Fenster ist der Höhenunterschied zwischen Innen und Außen meist größer, häufig viel größer, eine vertikale Entfernung zwischen Fenster und Erdboden, die zur Folge hat, daß diese Schwelle zwar zumeist leiblich nicht überschritten wird, doch die Gefahr des Sturzes aus einer Höhe mit sich bringt. Die Reichweite des Fensterblickes ist ebenfalls größer: Die erhobene Perspektive bietet die Möglichkeit, viel zu sehen, wenn auch gleichzeitig eine gewisse Entrücktheit dabei ist, ein Fehlen des unmittelbaren Kontakts zwischen Draußen und Drinnen, z. B. zwischen dem, der sieht, und dem, der gesehen wird. Im Vergleich zur Tür scheint mir das Fenster somit in seiner Liminalität bedeutend radikaler. – Und doch ist der radikalste Fall eines Fensters als Schwelle vielleicht das redevenster, das monastische Sprachgitter, das eine paradoxe Steigerung seiner Liminalität gerade durch die Nähe des weltlichen Außenraums zum abgesonderten geistlichen Innenraum erhält. Die Spannung, die im Fenster liegt, merkt man sehr deutlich an einer weiteren Stelle in Konrads ›Trojanerkrieg‹, wo es heißt: an ein venster si doˆ trat, dur daz begunde si doˆ sehen. diu schœne glenzen und enprehen sach den liehten maˆnen. die süezen wol getaˆnen sıˆn glanzer schıˆn beluˆhte [...] (›Trojanerkrieg‹, V. 8900–8905)

Der Gegensatz zwischen Innen und Außen, der hier durch die entgegengesetzten Richtungen – durch das Fenster hinaus, durch das Fenster hinein – zum Ausdruck kommt,20 bildet lediglich den Ausgangspunkt für eine Reihe weiterer 19 20

Vgl. si saˆzen gegen dem lufte unde he´ten kurzewıˆle groˆz (›Nibelungenlied‹, 1320,4: Gotelind, ihre Tochter und Kriemhilt neben dem Fenster im palas zu Bechelaren). Diese Bewegung nach außen und nach innen kommt bei Hugo von Trimberg, Der Renner, hg. von Gustav Ehrismann, 4 Bde., Tübingen 1908–11 (BLVS 247, 248, 252, 256), V. 12709–12712, in witzig-didaktischer Form vor: Halp offen tür und venster kaffen / Macht vil tœrinne und vil affen: / Si siht hin uˆz, er siht hin ıˆn, / Er gedenkt ir, si gedenket sıˆn [...] – eine Symmetrie der Bewegung sowie des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, die wir selten finden werden. Die sprichwortartige Knappheit erinnert an Wolframs Zeilen: im ist noch wirs dan den die geˆnt / naˆch porte aldaˆ diu venster steˆnt (›Parzival‹, 171,5f.) – im Sinn von ›die weder ein noch aus wissen‹ (wobei aber die meisten Hss. außer D nicht porte sondern brote lesen).

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Gegensätze, denn Fenster sind ja Orte der Gegensätzlichkeit schlechthin. Und als solche sind sie immer wieder aufschlußreich für die Erzählkontexte, in denen sie vorkommen. Beispiele für solche Gegensätze sind die zwischen Wissen und Unwissen, Sehen und Gesehen-Werden, Subjekt und Objekt, Sicherheit und Ausgesetzt-Sein, Macht und Schwäche.21 Was draußen vor dem Fenster liegt oder plötzlich auftaucht, kann bekannt und freundlich sein, ist aber häufig neu und unbekannt – oder gar bedrohlich und feindlich. Als Rüdeger und Gotelint Kriemhilt nach Bechelaren bringen, Diu venster an den muˆren sah man offen staˆn (›Nibelungenlied‹, 1318,1) – eine Art und Weise der Begrüßung, die die Gastfreundschaft wohl betonen soll;22 und ebenfalls beim Abschied: Doˆ wurden allenthalben diu venster uˆf getaˆn (›Nibelungenlied‹, 1711,1). An einer Stelle im ›Erec‹ (V. 1150–1167) stehen Walwan und Keii vor der Burg zu Karadigan und sehen, wie ein Ritter auf sie zureitet. Sie informieren Ginover, die mit ihren Hofdamen zu einem Fenster geht. Zuerst erkennt sie den Ritter nicht, dann aber identifiziert sie ihn als Iders. Uns wird nicht gesagt, wie hoch über der Erde dieses Fenster steht, aber die Kombination von Entfernung, Perspektive und Ausblick bringt zuerst Unwissen – man ist zwıˆvelhaft / wer der ritter möhte sıˆn (›Erec‹, V. 1169f.) – dann Gewißheit, denn zum Schluß kann Ginover sagen: ›ez ist benamen der man, als ich verre kiesen kan und als mir mıˆn gemüete seit, dem Eˆrec doˆ naˆch reit.‹ (›Erec‹, V. 1172–1175)

D. h. ein Fenster – bzw. die Stellung am Fenster – vermittelt die Ergebnisse von Sinneswahrnehmungen. Aber so ist die Sache noch nicht beendet, denn jenseits dessen, was man vom Fenster sehen kann, liegt eine relativ unbekannte Welt. Ginovers Identifizierung ist zwar richtig, aber ob Iders’ zerhauener Schild auf einen Sieg oder eine Niederlage deutet, und – noch wichtiger – ob Erec der Gegner gewesen ist, ist aus diesem Fenster, aus diesem Blickwinkel und aus dieser Entfernung nicht auszumachen, denn dieses Wissen gehört in einen Bereich, der jenseits des Horizonts der Betrachterin liegt. Das ›Nibelungenlied‹ bietet zwei weitere Beispiele des Gegensatzes von Wissen und Unwissen. Als Siegfried und seine Begleiter in Worms ankommen, 21

22

Cathrin Senn, Framed Views and Dual Worlds. The Motif of the Window as a Narrative Device and Structural Metaphor in Prose Fiction, Bern [usw.] 2001 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XIV: Angelsächsische Sprache und Literatur 375), S. 67–69, konstatiert Ähnliches für das Fenster im modernen englischsprachigen Roman. Frühsorge [Anm. 12], S. 356, erwähnt eine Stelle in Fontanes ›Frau Jenny Treibel‹, wo das Gegensätzliche sich ins Paradoxe steigert: »Das Fenster im Salon der Kommerzienrätin verbindet und trennt zugleich.« Hugo Bekker, The Nibelungenlied. A Literary Analysis, Toronto/Buffalo 1971, S. 18.

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meint Ortwin, daß Hagen werde sagen können, wer die Fremden seien – Gunther nennt sie unkunde degene (›Nibelungenlied‹, 83,2). Hagen kann es in der Tat: ›Daz tu´on ı´ch‹, sprach Hagene. z’einem ve´nster er doˆ gie. sıˆn ouge er doˆ wenken zuo den gesten lie. (›Nibelungenlied‹, 84,1f.)

Und da Siegfried so imponierend ist, kann Hagen ihn sofort erkennen, ohne ihn je gesehen zu haben. Wissen ist Macht, und Hagen zeigt sich insofern als der Mächtige unter den Burgunden, als er das weiß, was andere nicht wissen. Er ist das beobachtende Subjekt, das aus dem Fenster nach unten auf Siegfried als Objekt hinunterschaut, ohne daß dieser weiß, daß er beobachtet wird. In anderen Kontexten wäre eine solche Figur die unterlegene; hier aber läßt die ruhmreiche Vergangenheit Siegfrieds (und auch dies ist nur Hagen bekannt) dieses Verhältnis sich verkehren und den Fremden als den potentiell noch Mächtigeren erscheinen. Später ist es Siegfried selber, der das weiß, was andere nicht wissen. In den zehn ersten Strophen der 7. aˆventiure, Wie Gunther Prünhilde gewan, kommt das Wort venster sechsmal vor. Bei der Ankunft vor Brünhilds Burg in Island wird die Aufmerksamkeit von Gunther und seinen Begleitern (und daher vom Hörer bzw. Leser) sofort auf die Burgfenster gelenkt, besser gesagt: auf die Frauen, die von diesen Fenstern eingerahmt sind. Denn schon in der ersten Strophe heißt es: [...] doˆ sah der künec staˆn oben in den venstern vil manege scœne meit. daz er ir niht erkande, daz was Gunthere leit. (›Nibelungenlied‹, 389,2–4)

Und in der nächsten Strophe stellt Gunther an Siegfried die Frage: ›ist iu daz iht künde umb disiu magedıˆn, die dort her nider scouwent gein uns uˆf die vluot?‹ (›Nibelungenlied‹, 390,2f.)

Gunthers Unwissen ist hier nur e i n Faktor. Dazu kommen erstens die im Kontext des Fensters immer wieder hervortretende Gegensätzlichkeit von Frau und Mann und zweitens ein komplexes Hin und Her zwischen Subjekt und Objekt. Zuerst ist Gunther der Beobachtende; dann merkt er, daß er und seine Begleiter aus der Höhe beobachtet werden – also ist er nicht weniger Objekt als Subjekt. Dann wieder ein Wechsel: Auf Siegfrieds Aufforderung, er solle ›tougen spehen‹ (›Nibelungenlied‹, 391,1), welche Jungfrau ihm am besten gefalle, besetzt Gunther nochmals die Rolle des subjektiven Beobachters, und die, die ihm besonders auffällt – ›die welent mıˆniu ougen durch ir scœnen lıˆp‹ (›Nibelungenlied‹, 392,3) – ist natürlich Brünhild; freilich weiß sie nicht, daß sie auf diese Weise ausgewählt und zum Objekt gemacht worden ist. Auch aus der Ferne und von unten vermag Gunther also die weibliche Schönheit im Fenster

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richtig einzuschätzen. Aber die Genauigkeit dieser Verwendung seiner Sehkraft kann wieder nur der überlegene Siegfried bestätigen. Hier liegt, wie ich meine, ein weiterer Gegensatz vor: Zum einen sind Brünhild und ihre magedıˆn – von unten gesehen – räumlich entrückt, unbedroht, unantastbar. Insbesondere Brünhild gehört noch in eine abgeschlossene, geborgene Welt, die hinter den Fenstern liegt, eine Welt jedoch, die sie bald wird verlassen müßen.23 Zum anderen aber – und das geschieht, indem der Erzähler zur Perspektive vom Fenster aus hinüberwechselt – heißt Brünhild ihre Begleiterinnen uˆz den venstern gaˆn, denn sin’ solden daˆ niht staˆn / den vremden an ze sehene (›Nibelungenlied‹, 394,1–3). Sich auf diese Weise zur Schau stellen, sich den Blicken der fremden Männer aussetzen,24 verstößt gegen die Forderung nach der weiblichen Demut und Keuschheit. Dies geschieht ungeachtet der Gepflogenheiten der höfischen Ideologie, nach denen vrouwen schouwen ein durchaus erlaubter männlicher Zeitvertreib ist. In Antwort auf Brünhilds Gebot jedoch putzen sich die Frauen in Erwartung der Ankömmlinge heraus (Gegen den unkunden strichen si ir lıˆp – ›Nibelungenlied‹, 395,1), was man als eine Erweiterung des Zustands der Unterlegenheit verstehen könnte, der im Objekt-Sein besteht, und dann: an diu engen venster koˆmen si gegaˆn, daˆ si die helde saˆhen; daz wart durch scho´uwe´n getaˆn. (›Nibelungenlied‹, 395,3f.)

D. h. sie bereiten sich auf ein neues Gesehen-Werden vor; gleichzeitig aber verbergen sie sich ausgerechnet da (etwa hinter Scharten), wo sie sehen können, noch ohne gesehen zu werden. So wie Kriemhild, die früher Siegfried heimlich und wiederholt, und zwar durch verschiedene Fenster, beim buˆhurt beobachtet hat,25 sind hier Brünhild und ihre magedıˆn zu Voyeuses geworden, vrouwen, die schouwen. Somit behandeln sie Siegfried und die Burgunden eindeutig als Objekte. Und zweimal wird betont, daß sie Zeuginnen dessen werden, was folgt, der Selbstdemütigung Siegfrieds im Steigbügeldienst: daz saˆhen durch diu venster diu wæltlıˆchen wıˆp (›Nibelungenlied‹, 396,3)26 und daz saˆhen durch diu venster die vrouwen schœn’ unde heˆr (›Nibelungenlied‹, 398,4). Noch bedeutungsträchtiger ist die Zeile daz sach allez Prünhilt, diu vil heˆrlıˆche meit (›Ni23 24 25

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Zu bemerken ist, daß sich diese Verkörperung des Wilden, des Zähmungsbedürftigen, in einem eher häuslichen Milieu findet. Auch diese kommen aus einem Bereich, der vom Fenster aus nicht wahrzunehmen ist. Vgl. ›Nibelungenlied‹, 131–134. Dabei wird die erotische Komponente in der Verbindung zwischen Sehen und Nicht-Sehen deutlich herausgestrichen: Da sie ihn sehen konnte, deheiner kurzewıˆle bedorftes in den zıˆten meˆr (›Nibelungenlied‹, 133,4); und von Siegfried, der noch ein Jahr lang wird warten müßen, bevor er sie durch ein Fenster oder sonstwie zu Gesicht bekommt (›Nibelungenlied‹, 138), heißt es: Wess’ er, daz in sæhe, die er in herzen truoc, / daˆ het er kurzewıˆle immer von genuoc (›Nibelungenlied‹, 134,1f.). Lies: wætlıˆchen.

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belungenlied‹, 401,4), denn hier sind Fenster fatalerweise Vermittler von falschem Wissen. Eine viel längere Episode in Veldekes ›Eneas‹ beschreibt ebenfalls, aber mit größerer Ausführlichkeit, den Anfang eines erotischen Verhältnisses: wie sich Eneas und Lavinia ineinander verlieben.27 Hier steht ein Fenster noch deutlicher im Mittelpunkt. Eines Tages reitet Eneas aus und hält vor der Stadt Laurentum an. doˆ sach diu junkfrowe her abe von dem venster daˆ si lach. den heˆren sie wol besach, den minnesaˆlegen Troiaˆn. (›Eneas‹, V. 267,8–11)

Dieser weiß zunächst nicht, daß er beobachtet wird, und schon gar nicht, was für eine Wirkung sein Aussehen hat. Lavinia, die Frau, ist es, die sofort der Minne zum Opfer fällt und nunmehr die aktive Rolle spielt.28 Am nächsten Tag geht sie erneut zum Fenster in der Hoffnung, Eneas wieder zu sehen (›Eneas‹, V. 287,14), und als er hergeritten kommt, niht langer sie doˆ lach, froˆlıˆche si sprank von dem venster uˆf den bank. (›Eneas‹, V. 287,30–32)

Sie läßt einen junkheˆren einen Pfeil mit einem Liebesbrief in Richtung des Eneas schießen. Dieser liest ihn und dann der junkfrouwen her geneich, daˆ si in dem venster lach. si frowete sich doˆ sin gesach unde neich im hin wider von dem venster hin nider. her neich hin uˆf und sie her abe. (›Eneas‹, V. 290,6–11)

Die Gegensätzlichkeit von Hinauf und Herab, von Fenster und Erdboden, auf die der Erzähler hier ausdrücklich hinweist, scheint aber nicht wie in der Passage aus dem ›Nibelungenlied‹ asymmetrische erotische Verhältnisse auszudrücken, sondern die Entwicklung der gegenseitigen Liebe, die dann in V. 290,32–34 konstatiert wird, denn als her reit dem venster naˆher bıˆ / da diu junkfrouwe inne lach (›Eneas‹, V. 291,6f.), kann Eneas die Schönheit der Lavinia deutlicher wahrnehmen und verliebt sich ebenfalls. Er scheint den Rest des Tages vor ihrem Fenster zu bleiben. Auch am dritten Tag wartet Lavinia im 27 28

›Eneas‹, V. 266,19–306,34 – rund 1500 Zeilen, allerdings mit langen monologischen und dialogischen Passagen. Ihre Anfälligkeit wird durch die gewöhnlichen Symptome betont: Ihr wird heiß und kalt, sie schwitzt und bebt, wird bleich und rot (›Eneas‹, V. 267,28–268,8); sie fällt beinahe um (›Eneas‹, V. 276,28–31); sie kann weder essen noch trinken noch schlafen (›Eneas‹, V. 278,3–27).

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Fenster, bis er kommt (›Eneas‹, V. 301,2–5), und der Erzähler beschreibt das neue Liebesverhältnis nochmals mit den gleichen reziproken Gebärden und mit dem gleichen Hin und Her zwischen Unten und Oben: doˆ geneich ir Eˆneˆas der maˆre und der rıˆche und sach vil fruntlıˆche gegen dem venster daˆ si lach. minneclıˆch sin ane sach und geneich ime wider von dem venster hin nider. sie sach here und her dar. (›Eneas‹, V. 305,26–33)

Wer wie Gunther oder Eneas draußen und unten steht, sieht in der Regel aus einer gewissen Entfernung nur diejenigen, etwa Brünhild bzw. Lavinia, die im Fenster stehen. Nur selten kann er aus gleicher Höhe durch das Fenster in das Innere des jeweiligen Gebäudes hineinsehen, wie es etwa König Marke geschieht, oder Iwein auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer. Da findet dieser ein wıˆtez wercgadem staˆn: [...] dar in er durch ein venster sach würken wol driu hundert wıˆp.29

Dabei ist – naturgemäß – die Sichtweite des Hineinsehenden beschränkt, aber in diesem Fall ist die Perspektive der Frauen ebenfalls reduziert, denn diese scheinen nicht wie Ginover oder Brünhild oder Lavinia vom Fenster aus einen panoramischen Blick auf die Außenwelt zu genießen,30 sondern sie sehen nur den beobachtenden Iwein, was eine besonders heftige Reaktion in den widerwillig Beobachteten hervorruft: Ihre Arme fallen in den Schoß, ihre Tränen fließen, denn daz ir groˆzen unraˆt iemen vremder hete gesehen, daˆ was in leide an geschehen. (›Iwein‹, V. 6228–6230)

Statt daß ihre schame jedoch ausgenutzt würde, erweckt ihre Erscheinung sofort Iweins Mitleid, und später verteidigt er die Interessen der Frauen energisch gegen die zwei Riesen. Von seinem Jäger informiert gelingt es Marke, durch eins der Fenster der fossiure auf Tristan und Isolde hinunterzublicken (›Tristan‹, V. 17491–506). Wo Schlafende unwissentlich aus einer solchen Höhe und aus einer solchen Perspektive als Objekte beobachtet werden, sind sie normalerweise die Unterle29 30

Hartmann von Aue, Iwein, hg. von Ludwig Wolff, Berlin 71968, V. 6187, 6190f. Auf Schastel marveile ist es eine Frau, Arnive, die durch ein Fenster auf einen Mann, Gawan, hinuntersieht: doˆ wart von der frouwen / zem venster oben ıˆn gesehen [...] (›Parzival‹, 574, 10f.).

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genen, ist der voyeuristische Beobachter das souveräne Subjekt. Hier werden jedoch die gewöhnlichen Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt. Indem das Fenster einen Sonnenstrahl auf den Körper der Isolde fallen läßt, steigert es die erotische Schönheit ihres Erscheinens (›Tristan‹, V. 17576–607), und Markes Mißtrauen wird durch seine Liebe für sie beiseite geschoben (›Tristan‹, V. 17659–668).31 So wie Brünhilt fällt auch Marke falschen Informationen, die durch ein Fenster vermittelt werden, zum Opfer. Das ist ein Sehen, daß zur blintheit führt (›Tristan‹, V. 17738–816), denn durch den Fensterblick betrogen, glaubt er, was er glauben will, und somit ist zum Schluß er der Schwächere, der Ausgelieferte. Die pseudo-theologische allegorische Auslegung der Minnegrotte erinnert an zwei weitere beschränkte Räume, die aber geistliche Funktionen im engeren Sinne besitzen. Der Einsiedler flieht vor Iwein in seine Klause und verriegelt die Tür (›Iwein‹, V. 3290–3294). Da er aber immer noch Angst vor dem Wahnsinnigen hat, versucht er, ihn zu beruhigen: hie gienc ein venster durch die want: daˆ durch rahter die hant und leit im uˆf ein bret ein broˆt [...] (›Iwein‹, V. 3303–3305)

Auf beiden Seiten besteht kein Wunsch nach Kontakt mittels der Sinne: Hier handelt es ausnahmsweise um ein Fenster, durch das nicht gesehen, sondern durch das etwas überreicht wird. Die Situation der Sigune als eingemauerter inclusa ist radikaler. Als er auf ihre Zelle stößt – Parzivaˆl fürz venster reit (›Parzival‹, 436,27) – scheint das Vorhandensein dieses Fensters das Fehlen einer Tür nur noch zu betonen, denn es entsteht ein Kontrast zwischen der Aufgeschlossenheit des fahrenden Ritters gegenüber allem, was die Welt anzubieten hat, und der freiwilligen Bewegunglosigkeit der Klausnerin, der Reduzierung des Kontakts mit der Außenwelt auf allein das, was das Fenster ermöglicht. Im darauf folgenden Gespräch wird mehrmals explizit oder implizit auf das Fenster Bezug genommen – etwa er gienc fürz venster zuo der want: / daˆ wolter vraˆgen mære (›Parzival‹, 437,14f.) – denn dieses macht das Gespräch ja erst möglich.32 Auf ihren Vorschlag hin für daz venster er doˆ saz: er bat ouch dinne sitzen sie. si sprach ›nu haˆn ich selten hie gesezzen bıˆ decheinem man.‹ (›Parzival‹, 438,18–21)

31 32

Aus Angst, daß das Sonnenlicht ihrem Teint schaden könnte, er nam gras, bluomen unde loup, / daz venster er dermite verschoup [...] (›Tristan‹, V. 17613f.). Vgl. ›Parzival‹, 437,19; 437,29. Hier sind wahrscheinlich beide Gesprächspartner auf gleichem Niveau. Als aber Terramer versucht, Gyburg zum Widerruf zu überreden, scheint seine Stelle die Hoffnungslosigkeit des Unternehmens zu unterstreichen: ›under disem venster mir mıˆn vater / sagete [...]‹ (›Willehalm‹, 254,22f.).

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Wenn der Erzähler eine solche Bemerkung gemacht hätte, würden wir vielleicht von Wolframscher Witzigkeit sprechen. Hier aber wird durch die Worte der Sigune ein paradoxes, mittels des Fensters erreichtes Nebeneinander von Kontakt und Kontaktlosigkeit angedeutet. Ein Fenster bzw. venster markiert aber nicht nur die Grenze zwischen zwei zumeist unterschiedlich großen Räumen, sondern kann auch selber einen Raum bilden. Es bietet Entrücktheit und Geborgenheit, nicht nur wie in der vorhin besprochenen Szene aus dem ›Nibelungenlied‹ gegenüber der Außenwelt, sondern auch gegenüber der Innenwelt. Innerhalb der Privatsphäre des Zimmers oder des Saales – Frühsorge spricht von »der subjektiven Enge des Hauses«33 – bieten die Fensternischen, die die dicken Mauern einer Burg entstehen lassen, einen kleinen, intimen Raum, der mit Bänken oder gar Betten versehen sein kann. Zum Beispiel sind auf Schastel marveile der venster siule wol ergrabn, dar uˆf gewelbe hoˆhe erhabn. dar inne bette ein wunder lac her unt dar besunder [...] (›Parzival‹, 565,15–18)

Das Fenster verschafft auf diese Weise nähere zwischenmenschliche Kontakte und Verbindungen, und so bietet es nicht nur die Möglichkeit, Handlungen zu beobachten, sondern auch einen Ort, wo Handlungen verlaufen können. Hier kann Kriemhilt Etzels Mannen heimlich gegen Hagen und Volker aufstacheln – allerdings auch in Kombination mit dem Motiv ›zum Fenster hinaussehen, ohne gesehen zu werden‹ (›Nibelungenlied‹, 1762,1–1766,4). Hier kann Belakane ihren Gast Gahmuret empfangen: ein weˆnc si gein im doˆ trat, ir gast si sich küssen bat. si nam in selbe mit der hant: gein den vıˆnden an die want saˆzen se in diu venster wıˆt uˆf ein kultr gesteppet samıˆt, dar undr ein weichez pette lac. (›Parzival‹, 23,29–24,5)

Das sind zwar die gewohnten Gesten der höfischen Begrüßung; in diesem Fall aber werden sie durch die unmittelbar hervorgehenden Zeilen komplizierter, denn diese konstatieren, daß Belakane sich schon in Gahmuret verliebt hat. Und später, als Gawan eine ruhige Ecke im wimmelnden Hofleben sucht, wo er sich mit Arnive unterhalten kann, in ein venster gein dem pfluˆm nam er im sunder einen ruˆm, daˆ er und Arnıˆve saz, diu vremder mære niht vergaz. (›Parzival‹, 655,7–10)34 33 34

Frühsorge [Anm. 12], S. 352. Vgl. eine Stelle im ›Prosalancelot‹: Als Ginover Gawan eine Frage stellen wollte, leyte

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Das Fenster bietet außerdem einen Ort, wo man sich allein mit seinen Gedanken oder Gefühlen aufhalten kann. Am Anfang der vorletzten aˆventiure des ›Nibelungenlieds‹ bringt Helfrich die Nachricht, daß Rüdeger im Kampf gestorben sei. Dietrich schickt Hildebrand zu den Burgunden, um mehr über ein so schlimmes Ereignis zu erfahren. Mittlerweile vil harte senelıˆche er in ein venster saz (›Nibelungenlied‹, 2247,2). Auf den ersten Blick scheint diese Entrücktheit auf ratlose Trauer oder gar Schwäche und Passivität hinzuweisen, aber mit der Bestätigung von Rüdigers Tod stürzt sich auch Dietrich in den Kampf. Der Fall von Lyonel im ›Prosalancelot‹ ist zugleich anders und ähnlich: Als dieser hört, daß er von Claudas usurpiert worden ist, wird er sofort wütend. Er kippt mit dem Fuß die Tafel um und springt rot im Gesicht und mit roten Augen auf. Dann: Er ging alleyn in ein fenster siczen da yn nymand irret an synen gedencken und da er sich wol bedencken mocht was er thun mocht und wie er syn ding mocht angefangen. (›Prosalancelot‹; I 156,13–16)

Also nach dem anfänglichen Zornesausbruch sucht auch er einen stillen Ort auf, wo er sich überlegen kann, wie er sich in dieser schwierigen Lage am besten verhält. Relativ selten sitzt oder steht eine Frau alleine am Fenster; fast immer ist ein gesellschaftliches Moment dabei, z. B. ist sie wie Brünhild von Frauen begleitet.35 Bei drei weiteren Beispielen für das Fenster als Ort der einsamen Erfahrung der Gefühle oder Gedanken jedoch haben wir es mit einem Topos zu tun, nämlich der Darstellung der weiblichen Liebessehnsucht anhand des Bildes einer Frau, die allein aus einem Fenster in die Welt hinausschaut.36 Beim ersten Beispiel geht es allerdings nicht um eine Fensternische an der Innenseite einer Mauer, sondern um eine Laube. Da die verliebte Gräfin im ›Maurituis von Crauˆn‹ aus Liebeskummer nicht schlafen konnte, diu frouwe stuont uˆf saˆ, doˆ gienc si durch ir truˆren da über die burcmuˆren ein loube was gehangen. dar kam sie eine gegangen: in ein venster siu gestuont, als senendiu wıˆp ofte tuont

35 36

[sie] yn mit der hant einhalb hien, sie gingen in ein fenster siczen (I 628,36f.). Lancelot und Ginover. Prosalancelot, übers., komm. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker 123). Ebenfalls Kriemhilt: ›Nibelungenlied‹, 810,1f; 1869,1; vgl. ›Parzival‹, 37,10f.; 61,3–5; 151,7–9. Ruth Harvey, Zu Sigunes Liebesklage (Tit. 117–119), Wolfram-Studien 6 (1980), S. 54–62, verweist (S. 59) auf »[d]ie Gebärde des Am-Fenster-Stehens bzw. -Sitzens, als körperliches Korrelat bestimmter psychologischer Zustände«, etwa »schmerzlichen Nachdenkens« oder »Liebeskummer und Liebessehnsucht«.

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Timothy R. Jackson den leit von liebe ist geschehen. diu muoz man truˆrende sehen.37

Die Gräfin steht ganz oben im Morgenlicht zwischen der häuslichen Welt hinter ihr und der Welt, die draußen vor ihr liegt und in der der Mann, den sie liebt und aus eigener Schuld verloren hat, aufzufinden sein müßte. Das Fenster wird als ein Ort der Einsamkeit dargestellt – unerwünschter Einsamkeit in der Trennung vom Geliebten, beabsichtigter Einsamkeit in der bewußten Trennung von der Gesellschaft. Der Erzähler bringt nicht nur dieses Bild, sondern kommentiert es auch, macht uns gerade auf den topischen Inhalt aufmerksam. Das zweite Beispiel befindet sich wieder im ›Prosalancelot‹. An einer Stelle hält der durch seine Liebe zu Ginover verwirrte Lancelot eine andere Frau für die Königin. Uns interessiert diese andere Frau, von der es heißt: Der ritter reyt dannen und kam fur ein gar fest huß rytende; da sah er ein frauwen in irm hemde und in yrm surckote in eim fenster ligen und besah jhene wiese und jhenen walt. (›Prosalancelot‹ I 610,5–8)

Es geht hier um einen weiteren Gegensatz, den zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Und diesen Versuch einer verliebten Frau, vom einsamen Fenster aus die Welt nach dem Geliebten zu erforschen, finden wir in einer Szene in Wolframs ›Titurel‹ in erweiterter und gesteigerter Form wieder. In ihrer Klage um Schionatulander beschreibt Sigune, wie sie nach dem Geliebten gesucht hat. Zuerst erzählt sie: Ich haˆn vil aˆbende al mıˆn schouwen uˆz venstren über heide, uˆf straˆze unde gein den liehten ouwen, gar verloren: er komet mir ze selten.38

Dann in der nächsten Strophe: Soˆ geˆn ich von dem venster

.... an die zinnen [...]. (›Titurel‹, 118,1)

und schließlich in der übernächsten: Ich var uˆf einem wilden waˆge eine wıˆle: daˆ warte ich verre, meˆre danne über drıˆzec mıˆle [...] (›Titurel‹, 119,1f.)

Hier ist das Fenster die unterste von drei Stufen; aber sowohl von hier aus als auch bei der Ausweitung des Horizonts auf den Ausblick von den Zinnen und den Rundblick auf das Meer geht es immer wieder um ein Nicht-Sehen-Können, um ein Subjekt, das das erwünschte Objekt nicht findet. Eine Fensternische kann schließlich einen Raum anbieten, wo Geliebte oder Ehepartner eine Intimsphäre finden. Nachdem er von Laon nach Orange zurückkehrt, zieht sich Wolframs Willehalm mit Gyburg ins Private zurück: 37 38

Mauritius von Crauˆn, hg. von Heimo Reinitzer, Tübingen 2000 (ATB 113), V. 1700– 1708. Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Titurel, hg. von Walter Johannes Schröder und Gisela Hollandt, Darmstadt 1971, 117,1–3.

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in den vensteren wart gelegen von im und von der vrouwen.39

Zwar sind sie den Blicken anderer nicht ausgesetzt, aber so abgeschlossen und ungestört ist es dort auch nicht, denn von diesen Fenstern aus kann Gyburg beobachten, wie in der Außenwelt Truppen sich herannahen. Die nächsten Dreißiger bringen ein Motiv, das oben diskutiert wurde: Gyburg fragt mehrmals, wer diese Truppen sind, und als der Wissende kann Willehalm sie informieren. Dann kehrt man zu Intimitäten zurück: diu künegıˆn in dem venster lac, diu der gesellekeite pflac: des marcgraˆven umbevanc an sıˆne brust si dicke twanc. (›Willehalm‹, 243,17–20)

Doch zum Schluß der marcraˆve uˆz’en vensteren trat (›Willehalm‹, 244,4), denn Willehalm muß zu seinen Pflichten zurück und seinen Vater und seine Brüder begrüßen. Noch 249,26f. aber sehen diese Familienmitglieder Gyburg steˆn gein den vensteren an der wende. Auf dieses Bild komme ich zurück. Die Frau, die von einem Fenster oder einer Arkade aus einem Turnier oder buˆhurt beiwohnt, bildet ein häufiges und relativ komplexes Motiv, das nicht nur in der Literatur, sondern auch in der bildenden Kunst vorkommt, etwa in vielen Illustrationen der Manessischen Handschrift.40 In letzterem Fall betont die visuelle Dimension, wie sehr diese Frauen sich »in dem sie schützenden und wie ein Bild einfassenden Rahmen der Burgarchitektur« befinden.41 Man vergleiche aber zunächst als poetisches Beispiel einen buˆhurt am Hof zu Worms im ›Nibelungenlied‹: In diu venster saˆzen diu heˆrlıˆchen wıˆp und vil der schœnen mägede; gezieret was ir lıˆp. si saˆhen kurzewıˆle von manigem küenem man. (›Nibelungenlied‹, 810,1–3)42

Im dichterischen Bild wie in der Illustration sind solche mägede den Blicken der Männer ausgesetzt – aus sozialer Perspektive ist der buˆhurt eine von wenigen Veranstaltungen, bei denen junge Frauen öffentlich auftreten dürfen. Aber auch wenn sie durch ein Fenster oder eine Arkade als Anzuschauende eingerahmt werden, so sind sie doch nicht weniger Zuschauende,43 und zwar aus einer 39 40 41 42 43

Wolfram von Eschenbach, Willehalm, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 69), 234,30–235,1. Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift, hg. und erläutert von Ingo F. Walther, Frankfurt a. M. 1988, gibt sämtliche Bilder wieder. Ebd., S. 111. Vgl. ›Nibelungenlied‹, 647,1f. Während seiner zwei Kämpfe mit Lischoys auf Schastel marveile ist Gawan dem Blick von vierhundert an den Fenstern stehenden Frauen ausgesetzt (›Parzival‹, 534,27–30; vgl. 535,22–24; 541,20–22; 544,26–28).

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gewissen Höhe, also gleichzeitig Objekt und Subjekt, passiv und aktiv, untergeordnet und übergeordnet. Mehr noch, sie haben eine beträchtliche emotionelle Macht über die jungen Männer, die vor ihnen kämpfen, denn bewußt oder unbewußt spornen sie diese an.44 Die Männer stellen sich umgekehrt den Frauen zur Schau, in der Hoffnung, ihnen zu imponieren und dadurch ihre Gunst zu erwerben. Eine Frau, die aus der Höhe beim ritterlichen Kampf zuschaut, wird in der Manessischen Handschrift öfters dargestellt. Bl. 52r zeigt im unteren Feld eine Tjost, in der Walther von Klingen über seinen Gegner siegt. Im oberen Feld sitzen fünf Frauen hinter Zinnen in den fünf Bogen einer Arkadenreihe (also in venstern) und nehmen offenbar emotionellen Anteil an dem Geschehen: Zwei von ihnen scheinen mit dem Besiegten Mitleid zu haben, während die Gebärden der drei anderen Bewunderung für den siegreichen Walther ausdrücken. Weitere Bilder zeigen, wie Albrecht von Haigerloch (Bl. 42r), Wernher von Hohenberg (Bl. 43v), Johann von Ringgenberg (Bl. 190v) und Der von Scharpfenberg (Bl. 204r) vor einer solchen Gruppe oben in einem Fenster bzw. einer Arkade sitzender bzw. stehender Frauen kämpfen.45 Auf Bl. 11v sehen wir, wie Heinrich von Breslau nach erfolgreichem Turnier aus den Händen seiner Dame, einer von vier Frauen, die über ihm in den venstern einer Zinnenarkade sitzen, einen Kranz erhält. Auch in den Bildern von Kraft von Toggenburg (Bl. 22v) und Rudolf von Rotenburg (Bl. 54r) wird eine Frau gezeigt, die ebenfalls aus der Höhe einem Ritter einen Kranz reicht. Bei seiner Besprechung letzteren Bildes weist Walther auf die Bedeutung dieses Höhenunterschieds: »Der Dienende, gleich welchen Standes, muß schon formal als demjenigen untergeordnet erkennbar sein, in dessen Dienst er sich gestellt hat.«46 Manchmal zeigt ein Bild, wie ein verliebter Sänger und Ritter das Problem der Distanz zwischen ihm und der geliebten Frau oben im Fenster beseitigt, indem er auf seinem Pferd vor ihrer Burg anhält und ihr eine Liebesbotschaft in Form eines Schriftbandes (auf etwas unrealistische Weise) einfach zum Fenster hineinreicht: vgl. Konrad von Kirchberg (Bl. 24r), Leuthold von Seven (Bl. 164v), Rubin (Bl. 169v),47 den von Wildonie (Bl. 201r) und den von Stamheim (Bl. 261r). Im Fall des Christan von Hamle (Bl. 71v) hatte der Maler den wit44

45

46 47

Vgl. Veldekes Eneas im Zweikampf auf Leben und Tod gegen Turnus: doˆ gesach der helt balt / Eˆneˆas der Troiaˆn / Lavıˆnen zuˆ dem venster staˆn: / des gewan der helt guˆt / grimmigen hoˆhen muˆt, / wand im diu maget lieb was. (›Eneas‹, V. 327,20–25) In der Darstellung von dem Herzog von Anhalt (Bl. 17r), Albrecht Marschall von Rapperswil (Bl. 192v), Gösli von Ehenheim (Bl. 197v), Dietmar dem Setzer (Bl. 321v) und dem Dürner (Bl. 397v) befinden sich die Frauen hinter Zinnen, aber ohne die Umrahmung durch Fenster oder Arkadenbogen. Walther [Anm. 40], S. 46. Hier mit der Variation, daß der Ritter seine Botschaft nicht mit der Hand überreicht, sondern mit einer Armbrust zur Dame im Arkadenbogen hinaufschießt.

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zigen Einfall, die Frau den Ritter mit einer großen Seilwinde emporziehen zu lassen. Ein letztes Beispiel aus der Manessischen Handschrift, das Bild des Bruno von Hornberg (Bl. 251r), stellt eine Seltenheit in der Literatur und der Buchillustration gleichermaßen dar, denn hier ist es der Ritter, der oben im Fenster steht. Unten übernimmt seine Dame die aktive Rolle: Auf ihn zureitend fesselt sie jetzt seine Hände mit einer Schlinge – eine buchstäbliche Wiedergabe der Metapher in den Zeilen Mıˆner frouwen minnestricke / hant gebunden mir den lıˆp.48 Am Tag nach der Ankunft der Burgunden bei Etzel findet wieder ein buˆhurt statt: Kriemhilt mit ir vrouwen in diu ve´nste´r gesaz zuo E´tze´l dem rıˆchen; vil lı´ep wa´s im daz. si wolden schouwen rıˆten die helde vil gemeit. (›Nibelungenlied‹, 1869,1–3)

Kriemhilt hofft auf Mißerfolg seitens der Burgunden – diu küneginne ez gerne durch leit der Bu´rgo´nden sach (›Nibelungenlied‹, 1879,4); Hagen will nicht weniger die Gelegenheit wahrnehmen, den Hunnen zu imponieren: ›laˆt die vrouwen schouwen und die degene, wie wir künnen rıˆten; daz ist guot getaˆn.‹ (›Nibelungenlied‹, 1888,2f.)

Wichtig an dieser Darstellung des Motivs ist also, daß das Festliche an der Veranstaltung, die vom Fenster aus beobachtet wird, durch die schon vorhandenen Spannungen zwischen Burgunden und Hunnen unterminiert wird. Etzel beteiligt sich nicht am buˆhurt, sondern ist als bloßer Zuschauer anwesend. Und sein Zuschauen ist weniger die Aktivität eines handelnden Subjekts als die Schwäche des Älteren, der bei den Frauen in einem Fenster sitzenbleibt. Erst als der geckenhafte hunnische Ritter von Volker getötet wird, greift Etzel ein: der wirt uˆz einem venster vil harte gaˆhe´n began (›Nibelungenlied‹, 1893,4), aber so stark ist sein Wunsch, die Situation nicht weiter zu verschlechtern, daß er auch dann in der Hoffnung, die Kämpfenden zu beschwichtigen, bereit ist, die Tötung für einen Zufall zu erklären: ›ich sach vil wol sıˆn rıˆten [...]‹ (›Nibelungenlied‹, 1896,3).49 Immer wieder geht es in dieser Episode um das, was man aus der Fensterperspektive sehen kann: Etzel und Kriemhilt naˆmen sıˆn [sc. Bloedel) wol war, / wande vor in beiden diu ritterschaft geschach (›Nibelungenlied‹, 1879,2f.).50 Insofern erinnert sie an die Stelle, an der Willehalm zum ersten Mal Rennewart erblickt. Eines Abends in Laon sitzen der Markgraf und die königliche Familie oben im Fenster (›Willehalm‹, 187,1), und von dieser erhöhten 48 49 50

Zit. nach Walther [Anm. 40], S. 166. Zum Umschwung von der Passivitat zur Aktivität in Zusammenhang mit Fenstern siehe Bekker [Anm. 22], S. 19–21. Vgl. auch ebd., 1872,4; 1890,4.

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Stelle aus sind sie Zuschauer bei der Mißhandlung des jungen Mannes (189,28–30), was im Bild auf fol. 125r der St. Galler Handschrift dargestellt wird. Willehalm läßt Rennewart zu sich kommen und gewinnt ihn schließlich als Gefolgsmann; auch dies geschieht, wie im Bild auf fol. 132r zu sehen ist, noch beim Fenster oben im Palast.51 Aber wenn Verben des Sehvermögens wie sehen und war nemen auch diese Episode kennzeichnen,52 so ist die Stimmung eine ganz andere als in der Szene aus dem ›Nibelungenlied‹. Statt daß sie wie Kriemhilt und Etzel durch die unten verlaufenden Gewalttaten bedroht würden, sitzen die Mitglieder der königlichen Partie an entrückter Stelle, sicher, vornehm und sittlich überlegen im Vergleich zu den jungen Rittern mit ihrem flegelhaften Verhalten. Die Verbindung von Fensterstelle und Passivität, die wir an Etzel bemerkt haben, erinnert an Dietrich, noch deutlicher aber an Wolframs Gyburg. Nach deren tapferen Verteidigung von Orange heißt es bei Willehalms Rückkehr: Gıˆburc moht ir waˆpenroc nuˆ mit eˆren von ir legen. (›Willehalm‹, 246,24f.)

Im unmittelbaren Kontext kann das ganz praktisch bedeuten: Die Heiden sind nicht mehr in der Nähe, also braucht sie nicht mehr in voller Rüstung zu gehen. Wie wir aber schon gesehen haben, bleibt Gyburg, als Willehalm sie verläßt, um seinen Vater und die neu angekommenen französischen Truppen zu begrüßen, in der Fensternische zurück. Und später, als die Fürsten sich auf den neuen Kampf gegen Terramer vorbereiten, wird ihre Rolle auf eine einfache Geste reduziert: Gıˆburc si weinende kuste (›Willehalm‹, 312,30), und dann Gıˆburc diu kom schiere in diu venster durh schouwen mit maneger juncvrouwen, wie mit vürstenlıˆcher krefte maneger geselleschefte daz velt wart überdecket. (›Willehalm‹, 313,6–11)

Der Erzähler hat zwar ihre früheren militärischen Verdienste nicht etwa als die Taten einer monströsen Usurpatorin männlicher Funktionen betrachtet, sondern mit Bewunderung beschrieben. Trotzdem darf diu unverzagete (›Willehalm‹, 226,25) die Handlung auf diese Weise nicht mehr mitbestimmen, sondern sie wird fortan – und das scheint sie wortlos zu erdulden – von der aktiven Verfolgung familiärer oder nationaler Interessen ausgeschlossen und in die passive Rolle derjenigen zurückversetzt, die leidet und nur aus der Entfernung den weiteren Verlauf des Krieges verfolgen kann. Zum Schluß möchte ich eine relativ lange Episode besprechen: Iwein in der Falle nach seinem Sieg über Askalon. Drei Belege für das Wort venster gehören 51 52

Vgl. die Abbildungen zwischen S. 1104 und 1105 der Ausgabe. Vgl. ›Willehalm‹, 187,5; 187,10; 187,30; 190,22; 190,25.

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hier in ein komplexes Spiel mit Tür und Fenster, Innen und Außen, Sehen und Gesehen-Werden und gerade Nicht-Gesehen-Werden. Nach seinem Sieg wird Iwein zum Gefangenen zwischen zwei slegetor oder porten (›Iwein‹, V. 1124, 1128) in der Burg von Askalon und Laudine. In diesem abgeschlossenen Raum, der als huˆs (›Iwein‹, V. 1135) bezeichnet wird, doˆ suochter wider unde vür und envant venster noch tür daˆ er uˆz möhte. (›Iwein‹, V. 1145–1147)

Trotzdem kann Lunete durch ein türlıˆn(›Iwein‹, V. 1151) zu ihm kommen, kann er sehen, wie Laudine dem aufgebahrten Askalon folgt. Letzteres ist möglich, ohne daß er selber gesehen wird, dank dem Ring, den er von Lunete erhalten hat. An Laudine erkennt er, daz er nie wıˆbes lıˆp alsoˆ schœnen gesach. (›Iwein‹, V. 1309f.)

In ihrer Trauer hat sie unter anderem ihre Kleidung zerrissen, so daß swaˆ ir der lıˆp bloˆzer schein, da ersach sıˆ der her Iˆwein [...] (›Iwein‹, V. 1331f.)

Weibliche Körperpartien, die normalerweise bedeckt und verborgen werden, sind dem Blick eines Mannes ausgesetzt – also auch hier ein voyeuristisches Moment. Als Askalon zu Grab getragen wird, kann Iwein die Trauernde hören, aber nicht mehr sehen: ouch enwas diu noˆt niht cleine, daz er sıˆ hoˆrte und niene sach. (›Iwein‹, V. 1446f.)

In seiner Schwierigkeit kann Lunete ihm nochmals helfen, denn sie weiß dennoch ein Fenster zu finden: wande sıˆ naˆch sıˆner bete ein venster ob im uˆf tete, und liez si in wol beschouwen. (›Iwein‹, V. 1449–1451)

Jetzt kann er Laudine wieder sehen, und immer noch ohne gesehen zu werden. Das entsprechende Bild auf Schloß Rodenegg zeigt, wie Iwein und Lunete durch ein kleines Erkerfenster ganz oben rechts auf sie und die übrige Trauergesellschaft hinuntersehen.53 250 Zeilen später betont der Erzähler, wie intensiv er sie immer noch anschaut, denn im schuof daz venster guot gemach, des er genoˆz daz er sıˆ sach [...] (›Iwein‹, V. 1693f.) 53

Volker Schupp/Hans Szklenar, Ywain auf Schloß Rodenegg. Eine Bildergeschichte nach dem ›Iwein‹ Hartmanns von Aue, Sigmaringen 1996, Tafel IX.

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und drei Zeilen weiter heißt es: er saz daˆ und sach sıˆ an [...] (›Iwein‹, V. 1697)

und wieder drei Zeilen später wird konstatiert, daß das Sehen ihm eigentlich nicht genüge, indem er sich nur gerade noch davor zurückhalten kann, sie durch das Fenster anzusprechen: ouwıˆ wie kuˆme er daz verlie, doˆ er sıˆ vür sich gaˆn sach, daz er niht wider sıˆ ensprach! (›Iwein‹, V. 1700–1702)

Zum Schluß heißt es vom Fenster, daß diu stat was im diu beste (›Iwein‹, V. 1722). Abschließend und zusammenfassend ließe sich Folgendes sagen: In dieser Episode finden wir Neues, aber auch viel, was für das Fenstermotiv typisch ist. Strukturell gesehen können Fensterszenen als Einleitungen in neue Handlungsstränge fungieren (vgl. Gunther in Island), und hier wird sogar das Hauptmovens für den ganzen Roman eingeleitet: Iweins Liebe zu Laudine. Als Subjekt schaut der ungesehene, ja unsichtbare, Iwein durch ein Fenster das unwissende – ihm allerdings noch unbekannte – Objekt Laudine an. Insofern ist er der Mächtigere. Diese Liebe ist aber nach den Prinzipien der höfischen minne Ausdruck der emotionalen Machtlosigkeit und Unterlegenheit des Mannes – ›unterlegen‹ im Sinne von ›dem Leid ausgesetzt‹, ›verwundbar‹ oder gar ›labil‹. Denn als Iwein Laudines Trauer beobachtet, hat dies zur Folge, daz im ir minne / verkeˆrten [!] die sinne (›Iwein‹, V. 1335f.). Das ist der Zustand der geistigen Verwirrung, der später eine wichtige Rolle spielen wird. Auch hier also (wie im Fall von Sigune oder der Gräfin in ›Maurituis von Crauˆn‹) ist das Fenster ein Ort, wo mit den Gefühlen gerungen wird. Clark betont zu Recht die Bedeutsamkeit des Eindringens in abgeschlossene Räume bei Hartmann: »The breaching of the enclosure occurs through the senses if the enclosure is a vessel of the mind/heart and by way of gates, doors, and windows if a physical edifice.«54 Diese Episode erzählt von Iweins Eindringen in die Burg, vom Eindringen der Liebe über seine Augen in sein Herz, vom Fenster, das dies ermöglicht oder gar bewirkt hat, und von seinem Wunsch, in Laudines Herz einzudringen. Der architektonische Innenraum, in den er eingedrungen ist und in dem er sich jetzt aufhalten muß, ist kein Ort der sicheren Geborgenheit, denn trotz des Zauberrings steht er in äußerster Gefahr; hier wird die freiwillige bzw. gezwungene Einschränkung der Bewegung hinter dem Fenster (vgl. Sigune und Gyburg) auf den Zustand der Gefangenschaft gesteigert. Auf der anderen Seite aber (im buchstäblichen sowie im übertragenen Sinn) beschwört der Außenraum in ihm die Hoffnung auf den Übergang von der Passivität des Gefangenen zur Aktivität des Minneritters herauf, denn bei 54

Susan L. Clark, Hartmann von Aue. Landscapes of Mind, Houston 1989, S. 168.

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aller physischen Einengung Iweins eröffnen sich ihm durch den Blick vom Fenster und seine sofort aufflammende Liebe neue psychische Perspektiven, grenzenlose Wunschträume.

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Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum in der hochhöfischen deutschen Epik Mit einer Studie zu Isenharts Zelt in Wolframs ›Parzival‹1 I. Es gehört zu den wenig umstrittenen Grundannahmen, daß in der mittelhochdeutschen Epik die Gliederung und Semantisierung des erzählten Raums die Sinnkonstitution prägen. Wegstrukturen, Gliederungen der Erzählwelt in deutlich unterschiedene Sphären, Semantisierungen von Räumen, Dichotomien von Innen und Außen haben als narrative Phänomene zurecht viel Aufmerksamkeit bei der Analyse mittelalterlichen Erzählens gefunden, vor allem auf der Grundlage einer im weitesten Sinne strukturalistisch orientierten Literaturwissenschaft.2 In der Folge hat die neue Aufmerksamkeit gegenüber den Bedingungen prämoderner Kommunikation, nämlich die Bedeutung der Interaktion unter Anwesenden, der Sichtbarkeit der an der höfischen Kultur Teilhabenden, sowie die Diskussion um Präsenz und Repräsentation auch den Blick geschärft dafür, wie mittelalterliche poetische Imagination Räume entwirft und profiliert.3 1

2

3

Dieser Beitrag entstand zum größten Teil während eines von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten mehrwöchigen Aufenthalts in Ithaca, N. Y., im Sommer 2005. Ich danke – einmal mehr – Arthur Groos und dem German Department der Cornell University für die Gastfreundschaft. Hugo Kuhn, Erec (1948), in: Ders., Dichtung und Welt im Mittelalter. Kleine Schriften 1, Stuttgart 1959 (21969), S. 133–150; Ders., Tristan, Nibelungenlied, Artusstruktur (1973), in: Ders., Liebe und Gesellschaft. Kleine Schriften 3, hg. von Wolfgang Walliczek, Stuttgart 1980, S. 12–35; Walter Haug, Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach (1971), in: Ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 483–512; Ralf Simon, Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matie`re de Bretagne, Würzburg 1990 (Epistemata 61); kritisch gegenüber diesen Ansätzen Elisabeth Schmid, Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung, in: Erzählstrukturen in der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1999, S. 69–85. Horst Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit in Gottfrieds ›Tristan‹, ZfdPh 107 (1988), S. 335–361; Ders., Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am Hof und in der höfischen Literatur, in: Materialität der Kommunikation, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1988 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 750), S. 178–202; Ders., Hören und Sehen – Schrift

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In ihrem Forschungsbericht zum erzählten Raum in moderner Literatur hat Natascha Würzbach festgehalten, daß in narratologischen Theorieentwürfen und Lehrbüchern der räumlichen Dimension der Erzählwelt wenig Beachtung geschenkt wurde. Würzbach betont, wie sehr die narrative Konstruktion der Zeit gegenüber der des Raumes privilegiert erscheint in der Erzähltheorie, wie sie sich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelt hat.4 Man braucht nur die einflußreichen Narratologien von Ge´rard Genette und Mieke Bal aufzuschlagen, um diesen Eindruck bestätigt zu finden.5 Diesem theoretischen Defizit steht allerdings eine interpretatorische Praxis gegenüber, die dem erzählten Raum und seinen Semantisierungen große Aufmerksamkeit schenkt. Dies gilt auch für die mediävistische Literaturwissenschaft und innerhalb dieser vielleicht noch stärker für die mediävistische Germanistik. Methodische Reflexionen zum erzählten Raum wurden vor allem in der Folge des Kuhn-Haugschen Strukturmodells6 zur Artusepik angestellt. Als allgemeines Ergebnis dieser methodischen Ausrichtung der Epenanalyse ließ sich sichern, daß nicht nur für die Artusromane, sondern für die früh- und hochhöfische Epik im allgemeinen den raumschaffenden Bewegungen der Protagonisten und handlungsführenden Figuren entscheidende Bedeutung zukommt.

4

5

6

und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995; Peter Strohschneider, Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ›New Philology‹, ZfdPh 116, Sonderheft (1997), S. 62–86. Natascha Würzbach, Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung, in: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Fs. Wilhelm Füger, hg. von Jörg Helbig, Heidelberg 2001 (Anglistische Forschungen 294), S. 105–129. Bei Ge´rard Genette, Die Erzählung, hg. von Jochen Vogt, München 21998, spielt der erzählte Raum so gut wie keine Rolle; etwas mehr findet sich, mit der Bilanzierung des Forschungsdefizits (S. 93), bei Mieke Bal, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto [usw.] 1985, S. 43–45 u. 93–99. Eine Ausnahme stellt Lotmans Narratologie dar; vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 1972 (UTB 103); Ders., Über den Begriff des geographischen Raumes in mittelalterlichen russischen Texten, in: Ders., Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst, hg. von Klaus Städtke, Leipzig 1981 (RUB 905), S. 233–242. Neuere methodologische Zugriffe finden sich bei: Leonard Lutwack, The Role of Place in Literature, Syracuse 1984; Ruth Ronen, Space in Fiction, Poetics Today 7 (1986), S. 421–438; Ansgar Nünning, Raum/Raumdarstellung, literarische(r), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbergriffe, hg. von Ansgar Nünning, 2. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2001, S. 536–539; Würzbach [Anm. 4]; Dies., Raumdarstellung, in: Erzähltextanalyse und Gender Studies, hg. von Ansgar und Vera Nünning, Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 344), S. 49–71; Birgit Haupt, Zur Analyse des Raums, in: Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, hg. von Peter Wenzel, Trier 2004 (WVTHandbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 6), S. 69–88. Vgl. Kuhn [Anm. 2] und Haug [Anm. 2].

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Generalisierend läßt sich zunächst festhalten, daß epische Räume, zumal Innenräume, dazu tendieren, fixiert zu sein: nicht immer betretbar, nicht einmal immer erreichbar, sicherlich nicht immer topographisch festlegbar, aber fixiert. Eine wichtige Ausnahme stellt, sieht man einmal vom Schiff ab, das Zelt dar, als temporäre, bewegliche und vergleichsweise ungeschützte Behausung. Zelte haben als transportabler und schnell installierbarer Innenraum das Potential, gegebene räumliche Strukturen zu befragen oder auch zu bereichern. Selbstverständlich spielen Zelte immer dann eine hervorragende Rolle im epischen Geschehen, wenn temporäre Behausungen auf dem Weg der Protagonisten liegen sollen oder wenn die Protagonisten selbst eine solche mitgeführte Behausung benötigen. Der vorliegende Beitrag versucht, Zelte der hochhöfischen deutschen Epik auf ihre narrative Funktion hin zu analysieren und damit abzugehen vom Interesse an Zelten als beliebten Gegenständen für ornative, beschreibende Passagen in der Erzählung. Damit soll nicht gesagt werden, daß die ornative Funktion der Zeltbeschreibungen nicht bedeutsam ist. Eine analytische Trennung von Ekphrasis auf der einen Seite und narrativer und raumsemantischer Funktion auf der anderen würde sogar zu verfälschenden Ergebnissen führen. Das liegt an einem wichtigen Charakteristikum dieser Zelte, die nicht nur einen Teil des Raumes aus dem Umgebungsraum ausschließen und nicht nur Handlungsraum, sondern immer auch Zeichen sein können, elaborierte Zeichen, die in sich selbst und nicht nur in ihrer raumsemantischen Funktion Bedeutung erzeugen können.

II. Für die hochhöfische deutsche Epik lassen sich grundsätzlich zwei Funktionstypen des Zelts ausmachen.7 Erstens das Herrschaftszelt, also ein Zelt, das Herrschaft oder einen Anspruch auf Herrschaft oder Dominanz jenseits der festen Burg ausdrückt, zum Beispiel in Krieg und Turnier oder überhaupt in Kontexten einer reisenden Herrschaftsausübung, wie – um das wichtigste epische Beispiel zu benennen – der des reisenden Artushofs. In diesem Punkt – das zeigen Belege aus der Historiographie – kann man eine gewisse historische Grundlage ausmachen.8 Sobald weltliche und geistliche Herren ihre Herrschaft reisend 7

8

Zu Zelten in der altfranzösischen Epik des 12. Jahrhunderts siehe Susanne Friede, Die Wahrnehmung des Wunderbaren. Der ›Roman d’Alexandre‹ im Kontext der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts, Tübingen 2003 (Beihefte zur ZfrPh 317), S. 85–114. Manfred Balzer, ... et apostolicus repetit quoque castra suorum. Vom Wohnen im Zelt im Mittelalter, Frühmittelalterliche Studien 26 (1992), S. 208–229. Zur höfischen Zeltkultur vgl. Alwin Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger. 2. verm. und verb. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1889, S. 247–254; Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde., München 1986 (dtv 4442), Bd. 1, S. 168–171.

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oder kriegführend bewähren oder ausdehnen, spielen Zelte als bewegliche Eigenräume eine entscheidende Rolle. Das Herrschaftszelt und der durch die Zeltschnüre um es selbst gebildete rinc oder hof sind in der Epik – viel mehr als die Burg – als verletzliche und zu verteidigende Eigenräume gekennzeichnet. Das ist so selbstverständlich, daß Wolfram im sechsten Buch des ›Parzival‹9 Kunnewares Knappen die scheinbare Herausforderung10 durch Parzival, der gedankenverloren mit aufgerichteter Lanze in der Nähe von Artus’ Lager steht, metaphorisch ausrufen lassen kann: tavelrunder ist geschant: / iu ist durch die snüere alhie gerant (284,21f.). Also: In der Nähe scheint jemand zum Kampf bereitzustehen, und die Tafelrunde versäumt es, zu reagieren – das wiegt so schwer, als hätte jemand den Machtbereich der Tafelrunde verletzt und deren Ansehen beschädigt, indem er unbehindert durch die Zeltschnüre in ihren Bereich eingeritten ist. Ein gutes Beispiel für ein Herrschaftszelt findet sich in Heinrichs von Veldeke ›Eneasroman‹: das herausfordernde, riesige Zelt, das Eneas bei der Belagerung Laurentes errichten läßt (247,1–248,38).11 Es steht im Rahmen seines Kampfes um die Hand von Lavine und die Herrschaft in Italien. Die Belagerten halten das Zelt für eine richtige Burg und sind bestürzt über die scheinbar übermenschlichen Fähigkeiten ihres Feindes, der über Nacht ein solch wehrhaft scheinendes Bauwerk errichten zu können scheint. Ihr König Latinus sieht sich daraufhin zu Waffenstillstandsverhandlungen gedrängt (248,20–248,38). Die Funktion des Zeltes im Handlungsablauf ist völlig klar: Der Herausforderer Eneas schafft in der von ihm beanspruchten Sphäre einen Eigenraum, der weithin sichtbar seinen Machtanspruch repräsentiert. Eneas’ Leute stellen das Zelt, seinen Standplatz vollständig ausfüllend, auf einem Berg auf, wo es sichtbar den umgebenden Raum dominiert. Der Text verwendet viel Sorgfalt darauf, den Aufbau des Zeltes zu beschreiben. Es scheint also auch darum zu gehen, daß und wie ein Herrschaftsanspruch erzeugt wird. Auffällig sind die Abweichungen gegenüber dem altfranzösischen Text: Während Eneas hier einen Waffenstillstand nutzt, um das Zelt über Nacht aufrichten zu lassen, führt im deutschen Text der Eindruck des Zeltanblicks bei den Bewohnern Laurentes Waffenstillstandsverhandlungen erst herbei. Der deutsche Text motiviert also anders, gibt dem Zeltaufbau mehr Gewicht im Handlungsverlauf. In beiden Texten aber ist das entscheidende Moment die Tatsache, daß den Erbauern des Zelts von ihren Gegnern übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben werden, 9 10 11

Zitiert wird nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der sechsten Aufl. von Karl Lachmann, Berlin/New York 1999. Zur Abweichung von Chre´tiens ›Perceval‹ an dieser Stelle vgl. Haug [Anm. 2], S. 502f. Zitiert wird nach: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift, mit Übersetzung und Kommentar hg. von Hans Fromm, Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek des Mittelalters 4).

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was sie als Feinde umso gefährlicher macht. Ein weiterer wichtiger Unterschied zum altfranzösischen Roman ist die Herkunft des Zeltes. Wie Susanne Friede festgehalten hat, wertet der ›Roman d’Eneas‹ das Zelt durch seine Herkunftsgeschichte auf: »Eneas hat es von einem Griechen bei Troja erbeutet (V. 7312– 7314). Diese Information weist auf den bevorstehenden Sieg von Eneas auch gegen die Laurentiner voraus.«12 In Veldekes ›Eneas‹ hingegen ist das Zelt ein Geschenk Didos, wie erst im Rahmen dieser Passage nachträglich deutlich wird (247,6f.). Wie Marion Oswald zeigen kann, läßt sich diese veränderte Herkunftszuschreibung direkt an den repräsentativen Glanz und an die Instabilität von Didos Herrschaft, aber auch an Eneas’ Status als Heimat- und Herrschaftsloser anschließen.13 Das Zelt stiftet so Verbindung zum Herkunftsraum, semantisiert aber gleichzeitig Eneas’ Herrschaft als Anspruch, der – im Wortsinn – noch Stabilisierung bedarf. Das Zelt ist also Zeichen für Eneas’ Machtanspruch und steht für seine zukünftige Herrschaft. Eigens wird betont, daß das Zelt keine primär militärische Funktion hat: es was nicht durch wer (247,31), so der Text, sondern der raumgreifende Aufbau wart durch herschaft getan, / durch reichtuom vnd durch wolstan (247,27f.). Der Text gewährt keinen Blick in den Innenraum dieses Herrschaftszeltes.14 Es geht auf in seiner Funktion als Zeichen für den Herrschaftsanspruch des Eneas. In dieser Funktion leitet das Zelt dessen Sieg ein. Die verängstigten Bewohner Laurentes täuschen sich im Charakter des Zeltes (es ist eben nicht aus Stein), gleichzeitig ›verstehen‹ sie aber seine Implikation (es ist ein Anspruch). Repräsentation im Sinne von Vertretung hängt hierbei eng mit höfischer Repräsentation zusammen: Die Schauseite des Zeltes, ihr visueller Eindruck und ihre Pracht, bestimmen nicht zuletzt die kulturelle Valenz des von ihr verborgenen Innenraumes und die Bedeutung, die der Wirt des Zeltes hat oder beansprucht.

12

13 14

Friede [Anm. 7], S. 103. Zu den imperialen Konnotationen des Zelts im ›Roman d’Eneas‹ vgl. auch Christopher Baswell, Eneas’s Tent and the Fabric of the Empire in the ›Roman d’Eneas‹, Romance Languages Annual 2 (1990), S. 43–48. Marion Oswald, Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur, Göttingen 2004 (Historische Semantik 7), S. 223–225. Anders aber die Illumination der Berliner Bilderhandschrift zu dieser Szene (fol. 48r), in der Eneas den Waffenstillstand im Zelt sitzend gewährt (Fromm [Anm. 11], Abb. nach S. 512).

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III. Der zweite Funktionszusammenhang sind Zelte als Frauen- oder Minnezelte,15 etwa das Zelt Mabonagrins im ›Erec‹ oder das Zelt des Orilus im dritten Buch des ›Parzival‹, die vielleicht in intertextueller Beziehung zueinander stehen. Das Zelt ist hier temporäre, isoliert stehende Behausung höfischer Existenz fern der Gesellschaft oder auch fern des größeren Zeltlagers, Behausung einer Existenz, die sich grundsätzlich in zwei Handlungen erfüllt: Der Innenraum des Zeltes dient als Ort der Minne zwischen vrouwe und Ritter, gleichzeitig ist das Zelt Ausgangspunkt für die Suche nach Bewährung im Kampf. Im ›Perceval‹/›Parzival‹ Chre´tiens und Wolframs trifft der Held der Erzählung – sicher nicht zufällig – nach seinem Aufbruch aus der mütterlich behüteten, abgeschiedenen Kindheitswelt zuallererst auf ein solches Zelt (›Perceval‹ V. 635–640; ›Parzival‹, 129,18–26). Gestaltet ist diese Begegnung als eine doppelte Grenzüberschreitung: Zunächst überquert Parzival – nach langem mutterdeterminierten Zögern – den Fluß, der ihn aus der Gesellschaftsentrücktheit Soltanes in den höfisch bestimmten Aventiureraum führt, dann verletzt er die Grenze des Zelts, dessen Bereich, wie im deutschen Text gleich zu Beginn der Passage nahegelegt wird, der Verfügungsgewalt des Orilus unterliegt.16 Es steht an der Grenze des höfisch bestimmten Raumes, als Markierung, aber auch als Handlungsort, in dem die in Soltane suspendierten Regeln der höfischen Kultur, von denen Parzival noch nichts weiß, gelten. Der Zeltinnenraum wird zum Ort des Zusammenstoßes mit diesen Regeln. Dieser Innenraum steht im Zeichen der Minne. Darauf deutet der hauptsächliche und eigens beschriebene Einrichtungsgegenstand, das Bett. Darauf deutet noch mehr die schlafende Jeschute, die durch die Art der Beschreibung ihres halbnackten Körpers und durch Zuschreibungen als eine Figur gezeichnet ist, die Minnehandlungen nahesteht (›Parzival‹, 130,3–25). Beide – Bett und Frau – prägen den Innenraum dieses Minneortes. Parzival ist aufgrund der gesellschaftlichen Isolation seiner Kindheit und der fehlenden höfischen Erziehung völlig unvorbereitet und hält sich an die kontextlosen Regeln der Mutter: Er raubt der hoch sexualisiert beschriebenen Jeschute Ring und Kuß, beides in zu wörtlichem Verständnis der mütterlichen Regeln und der Normen der Gesellschaft, in die der Tor – buchstäblich – stolpert. Wie stark auch das Minnezelt durch Herrschaftsansprüche bestimmt ist, zeigt die Art und Weise, wie der zurück15

16

Zu Frauenzelten in der altfranzösischen Literatur siehe Friede [Anm. 7], S. 90–94. Zu Minnezelten in der hochhöfischen deutschen Epik Gert Kaiser, Liebe außerhalb der Gesellschaft. Zu einer Lebensform höfischer Liebe, in: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, hg. von Rüdiger Krohn, München 1983, S. 79–97. Orilus wird auch syntaktisch hervorgehoben: duc Orilus de Lalander, / des wıˆp dort unde vander (›Parzival‹, 129,27f.).

Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum in der hochhöfischen deutschen Epik

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kommende Orilus den Übergriff des Fremden registriert, nämlich nicht zuerst an seiner Frau, sondern an den Zeltschnüren, die herausgerissen sind und damit eine Verletzung des ringes als Machtbereich anzeigen, sowie den Spuren, die der Eindringling am und im ringe, also im Eigenraum um das Zelt, hinterlassen hat: der spürte an dem touwe daz gesuochet was sıˆn frouwe. der snüere ein teil was uˆz getret: daˆ hete ein knappe dez gras gewet. (›Parzival‹, 132,29–133,2)

Orilus deutet die Zeichen der Verletzungen des Raumes richtig und falsch zugleich: richtig als Zeichen eines Eindringen in seinen Raum, falsch als Zeichen des Ehebruchs. Bei beiden Annäherungen an das Zelt ist die Erzählung auf den Blick der sich nähernden Figuren, Parzival und Orilus, fokalisiert. Ganz ähnlich verhält es sich auch in Chre´tiens ›Perceval‹,17 die Blickregie spielt in beiden Texten eine große Rolle. In Wolframs ›Parzival‹ ist die Grenzverletzung des Protagonisten erzähltechnisch so umgesetzt, daß zunächst seinem Blick Bereiche zugänglich werden, die vom Raum, in dem er sich zu bewegen hätte, abgeschirmt sind: Er sieht den Zeltinnenraum, den er dann betritt, er sieht das Bett, auf das er dann springt, und er sieht den aufgedeckten Frauenkörper, den er dann berührt. Das Zelt ist also beides: Grenze eines Sichtraums und Grenze eines Bewegungsraums. Blick, Betreten und Berühren sind die sorgsam aufgebauten Stufen der Grenzverletzung. Orilus’ Zelt ist aber nicht nur Handlungsort, sondern auch Zeichen: Zunächst einmal Zeichen ritterlicher Existenz, Index für den nahen, gefährlichen Ritter (ähnlich wie Mabonagrins Zelt im ›Erec‹). Wie später deutlich wird, ist Orilus, während Parzival seine törichten Grenzverletzungen begeht, gerade dabei, Schionatulander, einen Verwandten Parzivals, zu töten. Auch darin zeigt sich ein torenhaftes Vergehen des Helden: Statt den Verwandten (und Lehnsmann) als Landesherr zu schützen, stolpert Parzival buchstäblich in der ihm fremden Welt herum. Das Zelt ist auch Markierung dieser Parzival fremden, höfischen Welt, nämlich Markierung der Grenze zu einer – von der in der Abgeschiedenheit Soltanes beschränkten Sicht her – anderen, von komplexen, aber defizitären Regeln geprägten höfischen Welt, in die Parzival stolpert, in der er versagt, in die er aber auch kommt, um deren Defizite aufzudecken. Das Zelt des Orilus und seine nähere Umgebung sind also – wie auch das Zelt Mabonagrins und seine nähere Umgebung – ihrer Ordnung nach spannungsgeladen, ihre in beiden Fällen problematische Ordnung wird durch die Intervention des Protagonisten herausgefordert. Fast immer spielen in dieser oder ähnlicher Weise beim Minnezelt – wie beim Herrschaftszelt – Fragen des Besitzes und der Dominanz eine Rolle. 17

Vgl. Friede [Anm. 7], S. 93.

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IV. Bevor ich weitere signifikante Verwendungen von Zelten bei Wolfram von Eschenbach bespreche, will ich kurz auf das Zelt Gandins in der Rotte-undHarfe-Episode von Gottfrieds ›Tristan‹ (V. 13055–13450) eingehen,18 das in seinen Charakteristika zwischen dem Herrschaftszelt des Eneas und dem Minnezelt des Orilus steht. Gandin, der irische Harfner, der durch ein listiges Manöver das Recht auf Markes Frau Isolde erhält, hat ein Zelt am Gestade Cornwalls, in das er Isolde führt, um mit ihr auf die Flut und damit auf die Möglichkeit der Rückkehr nach Irland zu warten.19 Der Innenraum dieses Zeltes ist nur einmal dem Blick freigegeben; wir sehen mit Tristan, der sich anders als der passive, schwache Marke um die Wiedergewinnung der Königin kümmert, wie Isolde weinend Gandin under armen (V. 13289) sitzt, eine sexualisierte Szene in einer an sexuellen Anspielungen reichen Passage. Der Raum des Zeltes vertritt Gandins Eigenraum, vertritt sein Recht auf Isolde, vertritt letztlich Irland und steht damit in einer vor allem den ersten Teil des ›Tristan‹ prägenden Reihe irischer Anspruchsdemonstrationen in Cornwall. Diesen Aspekt teilt Gandins Zelt mit dem Typus des Herrschaftszelts, wie man es im ›Eneasroman‹ sehen kann. Gleichzeitig erscheint das Zelt Gandins als Travestie eines Minnezelts. Der Blick in den Innenraum des Zeltes auf die weinende Isolde mit dem für den Moment erfolgreichen Gandin offenbart eine Szene, die wohl gezielt den Zeltinnenraum als Ort der Minne travestiert. Mann und Frau sind im Zelt beieinander, aber es ist eine leidbesetzte Szene, eine Verkehrung des Minneorts. Tristan rückt die Verkehrung durch eine Gegenlist wieder gerade, er holt Isolde aus diesem verkehrten Raum heraus und bestätigt damit zum wiederholten Male sein Recht auf Isolde – und bestätigt, daß seine Minneverbindung mit Isolde nicht ›verkehrt‹ ist, obwohl sie Ehebruch und Verwandtenbetrug darstellt.

V. Kann man im Falle des Zelts von Orilus schon deutlich die Semantisierung des Zeltinnenraums als (verletzlichen) höfischen Raum bei Wolfram beobachten, so sieht man diese Semantisierung noch deutlicher, wenn auch gleichzeitig vieldeutiger, in Wolframs zweitem ›Titurel‹-Fragment. Hier ist der erzählte Raum, 18 19

Zitiert wird nach: Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke. 14., unveränd. Aufl. [nach d. 3. Aufl. 1958], Dublin/Zürich 1969. Zur Gandin-Episode vgl. Gerd Dicke, Gouch Gandin. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode ›Rotte und Harfe‹ im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, ZfdA 127 (1998), S. 121–148.

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was nach und nach im vergleichsweise wenig konkret definierten Handlungsraum des Fragments deutlich wird, um das Zelt Schionatulanders und Sigunes herum zentriert.20 In vielem als Gegenstück und Ergänzung zum ›Parzival‹ konzipiert, nimmt der ›Titurel‹ in dieser Passage eine Gegenperspektive zur oben besprochenen Passage um das Zelt von Orilus ein: Dieses dient unter anderem als Index für den nahen, gefährlichen Ritter, der in zeitlicher Nähe zu Parzivals Eintreffen dort dessen Verwandten und Lehnsmann Schionatulander erschlägt. Es ist Symbol für die Verbindung von Minne, Ritterexistenz und Töten. Als direktes Gegenstück dazu ist das Minnezelt Schionatulanders im ›Titurel‹ Index für den im Minnedienst gefährdeten Ritter, Symbol für die Verbindung von Minne, Ritterexistenz und Getötetwerden. Daß es Orilus ist, der Schionatulander erschlägt, wie aus der ersten Siguneszene und dem ersten Auftreten von Orilus im ›Parzival‹ (nicht aber direkt aus dem ›Titurel‹ oder dem ›Parzival‹) durch nachtragende Figurenrede deutlich wird, bezieht beide Zelte eng aufeinander. Das Zelt im ›Titurel‹ ist raumsemantisch aus der wilde, dem Wald, herausgenommener Ort: Es gibt Dienerinnen, höfische Lebensform. Im Zelt angebunden ist der Bracke, der selbst und dessen beschriebene Leine in vielen, teils metaphorischen Bezügen mit dem Minnethema verbunden erscheinen.21 Aufgrund der Vielschichtigkeit des Textes und seiner Metaphorik22 tut man gut daran, bei der Interpretation vorsichtig zu formulieren. Soviel wird aber für die Raumsemantik deutlich: In fast buchstäblichem Sinne wird der Zeltinnenraum als ein höfischer Raum gezeigt, der auf Minne Bezogenes, symbolisiert durch den Bracken und die von ihm transportierte Schrift, ›enthalten‹ kann. Daß höfische Kultur ihren Eigenraum hier nicht in einer Burg und bei Hofe hat, son20

21

22

Wolfram von Eschenbach, Titurel, hg., übers. und mit einem Kommentar und Materialien versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin/New York 2002. Ich beschränke die Analyse stark auf die raumsemantische Funktion des Zeltes und muß daher viele Aspekte der Interpretation unberücksichtigt lassen; zu diesen vgl. Max Wehrli, Wolframs ›Titurel‹, Opladen 1974 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Vorträge G 194); Helmut Brackert, Sinnspuren. Die Brackenseilinschrift in Wolframs von Eschenbach ›Titurel‹, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 155–175; Christian Kiening/Susanne Köbele, Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs ›Titurel‹, PBB 120 (1998), S. 234–265 (ich zitiere nach der leicht überarbeiteten Fassung in: Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 247–275); Stephan Fuchs-Jolie, Der ›Titurel‹ Wolframs von Eschenbach. Eine Einführung, in: Wolfram von Eschenbach: Titurel. Text – Übersetzung – Stellenkommentar (Studienausgabe), hg. von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin/New York 2003, S. 3–24; zur Bedeutung und Metaphorik von wilde und minne vgl. Kiening/Köbele, S. 256–258. Dazu bes. Kiening/Köbele [Anm. 21].

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dern im vorläufigen und verletzlichen Raum des Zeltes, ist bedeutsam: Höfische Kultur und höfische Liebe sind hier das der wilden Natur zeitweilig und engräumig Abgewonnene, der kleine Innenraum im offenen, gefährlichen Raum des Waldes. Dementsprechend ist auch die Bewahrung des Bracken, der ›wilde‹ wie ›höfische‹ Anteile zu haben scheint, im höfischen Raum nur ein Vorläufiges, ein Übergangsstadium. Er reißt sich los und aus dem Zelt aus, und er beschädigt es dabei (Str. 160–163).23 Dies ist wiederum in all seiner Bedeutungsoffenheit auf den Gegensatz zwischen Höfischem und Wildem hin lesbar: Der Hund, der im ›Titurel‹ – wie die Minne! – als gefährliches Mittel zwischen Natur und Kultur gezeichnet wird,24 hat das Potential, das Zelt als den aus der Natur ausgenommenen höfischen Raum zu beschädigen, und zwar aufgrund seines Jagddranges, seines Drangs nach ›Rückkehr‹ in den natürlichen Raum, nach Ausbruch aus der Bewahrung im höfischen Raum. Dieser Ausbruch, der sich auf vieles, aber dominant auch auf die Minne als solche beziehen läßt, verletzt auch die um die Integration von Minne und höfischem Leben ringenden Minnesubjekte: Sigune verletzt sich beim Versuch, den Bracken mit der beschriebenen Leine zurückzuhalten, an der Diamantschrift, auf deren Inhalt sich ihr Begehren gerichtet hat. Schionatulander verletzt sich beim Verfolgen des Hundes. Daß der junge Mann selbst im Text mit einem waidwunden Wild gleichgesetzt wird, deutet auf seine Tötung voraus, auf die Tötung durch Orilus, der – nun wieder ergänzt aus dem ›Parzival‹ – vom anderen Minnezelt in der Gegend aufgebrochen ist. Sehr deutlich wird also, daß das Zelt im ›Titurel‹, um das es mir ausschließlich in dieser verkürzenden Skizze geht, eine zentrale raumdefinierende Funktion hat und der Dichotomisierung des Raumes (›höfisch‹/wilde) dient. Der Bracke, der unter anderem für die Minne zu stehen scheint, und sein erzwungener Aufenthalt im höfischen Raum des Minnezelts verunsichern diese Dichotomisierung und führen, wenn nicht zur Zerstörung, so doch zur Beschädigung der ›Stützen‹ des Höfischen (objektiviert in den Zeltstangen, an denen der Bracke festgebunden ist und die er herausreißt). Die (grundsätzlich auch im ›Titurel‹ als kulturstiftend verstandene) Minne erscheint hier vor allem als kulturgefährdende, kaum zivilisierbare Kraft; sie kann ihren Subjekten, so wird deutlich, wenn man das im ›Titurel‹ und im ›Parzival‹ Erzählte in dem engen intertextuellen Zusammenhang liest, in dem es gedacht ist, Leben und Glück rauben. Minne und Leid, Minne und Tod, und die Vorläufigkeit und Verletzlichkeit höfischen Liebesglücks sind so im Zelt und seiner Beschädigung symbolisiert.

23

24

Zur Passage Joachim Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel. Beiträge zum Verständnis des überlieferten Textes, Tübingen 1972 (Hermaea 30), S. 207–211; Brakkert/Fuchs-Jolie [Anm. 20], S. 415–421. Kiening/Köbele [Anm. 21], S. 258f.

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VI. Gaston Bachelard hat in seiner assoziativen Philosophie der dichterischen Phanstasie und häuslichen Geborgenheit ein Kapitel den Topoi von Schnecke und Muschel gewidmet, die ihren Zufluchtsraum mit sich herumtragen. Bachelard reißt kurz die offensichtliche Parallele zum beweglichen, menschengeschaffenen Zelt an.25 Dies ist eine grundständische semantische und imaginative Belegung des Zelts, das zwar vorläufige, aber dafür schnell verfügbare »Intimitätsverdichtung der Zuflucht«26 bietet. Wolfram nutzt diese grundständische Belegung in einer der Szenen, die die lange Reihe von Schlußakkorden im ›Parzival‹ bilden: Auf der Ebene am Fluß Plimizœl sieht Parzival Condwiramurs wieder und trifft seine Söhne und Erben zum ersten Mal (799,16–804,3). Das Zeltlager und das im sunderringe (799,24–27) aufgebaute herrscherliche Hauptzelt stehen für heimatliche Zuflucht. Das Hauptzelt konnotiert zudem familiäre Intimität und dient als Ort der Minne. Der intime Charakter wird eigens betont: Die Kämmerer schlagen die winden (›Seitenwände‹, V. 801,30) des Zelts zu, um Parzival und Condwiramurs ungestörte Gemeinschaft zu ermöglichen. Doch nicht nur diese allgemeine semantische Belegung, sondern auch spezifischere beeinflussen die Sinnkonstitution dieser Passage. Der Platz, auf dem das Hauptzelt steht, ist bedeutsam. Es ist dieselbe ouwe, auf der Parzival im sechsten Buch sich in die Erinnerung an die geliebte Ehefrau verloren hatte.27 Die korrelative Sinnstiftung baut auf Differenz: Parzivals erster Aufenthalt am Plimizœl ist geprägt durch das Fehlen von Behausung. Der Protagonist und der dem Artushof entflohene, ihn zeitweise begleitende Falke sind isoliert und ungeschützt dem bemerkenswert spät fallenden Schnee ausgesetzt (281,12–14 und 282,3). Zusätzlich ist dieser erste Aufenthalt geprägt von Abwesenheit und mentaler Repräsentation der Geliebten in der Blutstropfenszene.28 In der Wiedersehensszene am Plimizœl ist all dies umgedreht: Parzival ist nun in dem von seiner Familie mitgebrachten Zelt behaust, und die Liebe von Parzival und Condwiramurs hat im Zelt ihren Raum der Präsenz und Erfüllung. Der Text 25

26 27

28

Gaston Bachelard, Poetik des Raumes. Aus dem Französischen von Kurt Leonhard. 7., unveränd. Aufl., Frankfurt a. M. 2003 (orig.: La poe´tique de l’espace, Paris 1957), S. 117–143; zu Schnecke und Zelt s. S. 131. Ebd., S. 58, zur Hütte. Zu dieser zentralen Szene s. Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea 94), S. 1–14, Literatur zur Szene ebd., S. 1, Anm. 1; Burkhard Hasebrink, Gawans Mantel. Effekte der Evidenz in der Blutstropfenszene des ›Parzival‹, in: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Elizabeth Andersen [u. a.], Berlin/New York 2005 (Trends in Medieval Philology 7), S. 237–247. Dazu Hasebrink [Anm. 27].

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läßt keinen Zweifel daran, daß diese vor allem durch das Zelt gesetzte Differenz an gleichem Ort als solche gelesen und daß die Wiedersehensszene mit der Blutstropfenszene verglichen werden soll. Der Erzähler betont eigens, daß das Zelt genau dort steht, wo Parzival einst die Blutstropfen im Schnee sah (802,1–5). Die dem Blick durch die Zeltwände entzogene Liebesvereinigung wird so – wiederum explizit – zur Kompensation (pfant, V. 802,4) für die an derselben Stelle erlittene Erfahrung, in mehrfachem Sinne unbehaust und isoliert zu sein. Wolfram nutzt also die Konnotation der verfügbaren Behausung und die Beweglichkeit des Zeltes aus, um an bedeutsamem Ort Korrelationen zu stiften.

VII. Mein Vorschlag für eine detailliertere Interpretation eines Textzusammenhangs, in dem ein Zelt eine wichtige Rolle spielt, bezieht sich auf eine andere Passage in Wolframs ›Parzival‹: Es geht um das Zelt Isenharts, das eine bestimmende Rolle in der Elternvorgeschichte spielt und anhand dessen ebenfalls Probleme höfischer Existenz durchgespielt werden.29 Es gehört zur typischen Zeltbeschreibung der französischen und deutschen höfischen Epik, daß man erfährt, welche Kraft benötigt wird, um ein Zelt zu bewegen.30 Trotzdem wird, abgesehen vom Hintransport, kaum je das Potential des Zelts als beweglicher Innenraum dazu genutzt, ein mehrfaches Aufstellen desselben Zeltes zu thematisieren. Zelte werden also als beweglich wahrgenom29

30

Eine detaillierte Interpretation des zweiten Buches des ›Parzival‹ bietet Cornelia Schu, Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs ›Parzival‹ Frankfurt a. M. [usw.] 2002 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 2), S. 91–115. Ein wichtiges Hilfsmittel für die Interpretation ist Heiko Hartmann, Gahmuret und Herzeloyde. Kommentar zum zweiten Buch des Parzival Wolframs von Eschenbach. 2 Bde., Herne 2000. Zu Isenhart und seinem Zelt vgl. bes. Walter Mersmann, Der Besitzwechsel und seine Bedeutung in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach und Gottfrieds von Straßburg, München 1971 (Medium Aevum 22), S. 145–147, mit besonderer Berücksichtigung der Parallelen zum – oben besprochenen – Zelt des Eneas vor Laurente; Ulrich Pretzel, Gahmuret im Kampf der Pflichten, in: Mediaevalia litteraria. Fs. Helmut de Boor, hg. von Ursula Hennig und Herbert Kolb, München 1971, S. 379–395, hier S. 384; Elke Brüggen, Schattenspiele. Beobachtungen zur Erzählkunst in Wolframs ›Parzival‹, Wolframstudien 18 (2004), S. 171–188, hier S. 186 mit Anm. 35. Das oben besprochene Zelt des Eneas wird von zwanzig (247,12), das Isenharts im ›Parzival‹ von dreißig Saumtieren (61,14) getragen; eine markierte Abweichung davon bietet das Feenzelt im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven, das trotz seiner reichen und wunderbaren Ausstattung von einer juncvrouwe getragen werden kann – dies stützt seinen Wundercharakter; Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, hg. von Karl August Hahn, repr. Berlin 1965 (Texte des Mittelalters), V. 4896–4901.

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men, nicht aber als bewegliche, wiederholt benutzbare Innenräume narrativ ausgebeutet. Das einzige Zelt in meiner Beispielreihe, das wirklich als beweglicher Raum genutzt wird, ist das des orientalischen Königs Isenhart. Das erste Mal ist es zu sehen beim ersten Treffen Gahmurets und Belakanes, das ganz im Zeichen von Minne und Politik steht. Die beiden sitzen, für Belakanes Hof wie für die Feinde gut sichtbar, im Fenster von Belakanes belagerter Burg.31 Ludger Lieb hat die narrative Textur der Passage analysiert;32 ich greife im folgenden einen Teil seiner Ergebnisse auf. Das Zwiegespräch hat eine schematische Funktion im Heilsbringermuster. Gahmuret, der Heilsbringer, nähert sich der Frau an, die der ›Preis‹ für seine Befreiungsleistung sein wird. Gleichzeitig ist das Gespräch konventionelle Stufe der Minneentstehung;33 beides hängt eng zusammen. Der Ort des Gesprächs ist bedeutsam. Es findet im Fenster statt, das heißt in einem Schwellenraum zwischen Innen und Außen, zwischen Belakanes Raum und dem von den Feinden dominierten Außenraum. Belakane führt Gahmuret ihre äußere Bedrohung vor, gleichzeitig aber führt sie den Belagerern Gahmuret als ihren Retter vor. Dabei weist sie unvermittelt auf das große Zelt hin: [...]. daz als ein palas dort steˆt, daz ist ein hoˆch gezelt: daz braˆhten Schotten uˆf diz velt. (27,16–18; Interpunktion verändert)

Es steht isoliert vor den Mauern Patelamunts als eine Art Memorialzeichen für den im Minnedienst für Belakane getöteten Vorbesitzer Isenhart. Belakane hatte ihn, wie der Text sie rückschauend sagen läßt, versuocht [...], ober kunde sıˆn / ein friunt (27,13f.), und er hatte sich in überzogenem Minnedienst rüstungslos in die Tjost begeben und war getötet worden. Die Verwandten und Lehnsleute Isenharts, die in Vergeltungsabsicht Belakanes Hauptstadt belagern, haben das Zelt als mahnendes Zeichen aufgebaut. So vereint es Aspekte der Minne und der Anspruchsdemonstration. Beide genannten thematischen Aspekte des Zelts also spielen hinein: Einerseits hängt es eng mit der Minne zwischen Isenhart und Belakane zusammen, ohne allerdings Minnezelt zu sein; andererseits ist es Repräsentation eines Anspruchs auf Vergeltung und damit auch auf Dominanz der Belagerer im Raum der Belagerten.34 Es ist – um auf die 31 32

33 34

Zum Fenster als Schwelle und Schwellenraum vgl. den Beitrag von Timothy Jackson in diesem Band. Ludger Lieb, Erzählen am Hof. Was man aus einigen Metadiegesen in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ lernen kann, in: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen, hg. von Ernst Hellgardt [u. a.], Köln [usw.] 2002, S. 109–125, hier S. 113– 116. Ebd., S. 116. Genau wie die Wappen der Belagerer Belakane an Isenhart erinnern sollen, soll auch das Zelt an ihn erinnern. Zur Zeichen- und Memorialfunktion der Wappen im ›Parzival‹ Heiko Hartmann, Heraldische Motive und ihre narrative Funktion in den Werken Wolframs von Eschenbach, Wolframstudien 17 (2002), S. 157–181.

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andere anfangs getroffene Unterscheidung zurückzukommen – vor allem Zeichen; es ist kein Handlungsraum. Der Innenraum bleibt dem Blick verborgen, und wird nicht von handelnden Personen betreten. Durch die Blickregie wird angezeigt, daß das Zelt etwas Unzeigbares repräsentiert: das Erinnern an den unnötig Gestorbenen. Diese Erinnerung ›belagert‹ Belakane. An späterer Stelle im ›Parzival‹ heißt es: de küngıˆn Belakaˆne was missewenden aˆne und aller valscheite laz, doˆ si ein toˆter künec besaz. (337,7–10)

Es ist auffällig, daß in der visuellen Präsentation des Geschehens das Zelt diese Funktion (›toter König‹, ›Erinnerung‹) übernimmt und nicht der Leichnam Isenharts selbst, der, wie an einer Stelle eher nebensächlich eingeworfen wird, im Lager seiner Lehnsmänner aufgebahrt liegt (51,12), aber keine weitere Rolle im Text spielt. Wo der Leichnam Präsenz erzeugen würde, tritt das Zelt als Repräsentation und als überdeterminiertes Zeichen, das über Funktionsassoziationen an kulturell hochvalente Felder – Turnier, Kampf, Belagerung, Minne – angeschlossen ist. Mit seinem Sieg über die Belagerer scheint Gahmuret Belakane und das Zelt selbst von der Erinnerung an seinen Vorbesitzer zu befreien. Es kommt zur Liebesvereinigung zwischen Belakane und Gahmuret. Isenhart kann nun begraben werden, seine Leute leisten Gahmuret den Lehnseid und erbitten sich von den Schotten für Gahmuret das Zelt. Es gehört nun dem neuen König, Gahmuret, der Isenharts Platz eingenommen hat. Am Ende dieses ersten Teils der Gahmuretgeschichte betont der Text das Zelt wiederum entschieden: Es wird als einziges Objekt, das Gahmuret aus Belakanes Land mitnimmt, ausdrücklich genannt: daz velt herberge stuont al bloˆz wan ein gezelt, daz was vil groˆz. daz hiez der künec ze schiffe tragn. (54,11–13)

Das Zelt und sein Mitführen also hat, so läßt sich wohl folgern, eine besondere Bedeutung; es ist, wie später deutlich wird, zum Wiedergebrauch bestimmt. Bei Ankunft in Kanvoleis läßt Gahmuret das Zelt aufwendig am Turnierplatz errichten. Das Zelt nimmt mit seinen snüeren die ganze Fläche ein. Es repräsentiert jetzt Anspruch auf Dominanz im Turnier, und damit – ohne daß Gahmuret selbst dies klar zu sein scheint – Anspruch auf die Hand der Gastgeberin und die Herrschaft, denn um diese geht es ja im Turnier. Der raumgreifende Charakter des Aufbaus unterstreicht diesen Anspruch, ganz ähnlich dem Zelt des Eneas bei Heinrich von Veldeke, auf das der ›Parzival‹ sich hier in Anspielungen bezieht.

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Genau mit dem Eintritt des Zelts in die okzidentale höfische Welt erhält es zu der bisherigen Bezeichnung gezelt eine weitere: aˆvoy welch ein pouluˆn! (62,18) ruft ein Knappe, der hier ganz offensichtlich eine höfisch determinierte Sichtweise auf das Zelt zu vertreten hat. Der Ruf markiert den Eintritt in die höfische Sicht- und Repräsentationskultur, er ist gefaßt in modischem Französisch, der Sprache der Vorbildkultur also. Der Ausruf bezieht sich zunächst auf die orientalisch wunderbare Größe und Ausstattung des Zeltes. Das linguistische Plus der zusätzlichen Bezeichnung pouluˆn bereitet aber auch vor, daß das Zelt viel mehr sein wird als vorher. Jenseits des Turnierplatzes ist es der hauptsächliche Handlungsraum des zweiten Buches. Die Kampfkunst Gahmurets findet im Turnier um Herzeloyde und ihr Land bekanntlich einen Höhepunkt. Er dominiert das Vorturnier in einer Weise, daß das eigentliche Turnier abgesagt werden kann. Das Zelt dient während und nach dem Vorturnier als Aufenthaltsort für die von Gahmuret besiegten Könige, unter ihnen Lähelin, der später im Roman zum Hauptfeind der Anschewin wird. Bereits vor ihnen hat Gahmuret das Zelt den Boten der französischen Königin Ampflise als Ruheort angeboten; diese sollen um Gahmuret werben und tun dies mit einigem Nachdruck. Nach dem Ende des Vortuniers reitet Herzeloyde, Königin des Landes, mit ihren Damen zunächst an die snüere des Zelts, also an den Grenzbereich zwischen ihrem und Gahmurets Raum, heran, um dann das Zelt zu betreten und kurz darauf mit ähnlichem Nachdruck Gahmuret zu ersuchen, sie und ihr Land als Preis zu akzeptieren. Das Zelt ist also auch Ort der Minne, zumindest für Herzeloyde, die in einer eindeutigen Handlung den nahesitzenden Gahmuret vor den Augen der anderen an sich zieht: er saz für si soˆ naˆhe nidr, daz sin begreif und zoˆch in widr Anderhalp vast an ir lıˆp. (84,3–5)

Schließlich ist auch Belakane, der sich Gahmuret verpflichtet zu fühlen scheint, – wenn auch nicht körperlich – anwesend: Gahmuret äußert Gefühle der Bindung ihr gegenüber. Gahmuret verfängt sich mit seinem Eintritt in die okzidentale Sphäre geradezu in einem Netz von sozialen Beziehungen, und der Text macht deutlich, daß Gahmuret diese Beziehungen als bindende, ja behindernde Faktoren begreift. Verhandelt werden diese Ansprüche an Gahmuret im Zelt, das den Bereich kennzeichnet, in dem er selbst wirt ist. Das zeichnet den Innenraum des Zeltes zu allererst aus, und Herzeloyde als die wirtıˆn des umgebenden Raumes thematisiert dies: ir sıˆt hie wirt daˆ ih iuch vant: / soˆ bin ich wirtıˆn überz lant (83,13f.). Im Zelt, dem Raum Gahmurets im Turnier, verdichten sich also diese Bezüge; in seinem Raum werden die Ansprüche verhandelt. Man könnte bei diesem Befund stehen bleiben. Gahmuret ist die entscheidende, weil umworbene Größe in dieser Passage, und daher wird sein Fall in seiner eigenen Sphäre zum

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Thema. Der Eigenraum Gahmurets im beweglichen Provisorium des Zelts ist der passende Ort einer Verhandlung über ihn selbst, den immer rastlosen Ritter. Damit ist aber nur ein Teil erklärt. Außer Sicht bleibt hier nämlich, daß das Zelt seine Herkunft mit sich trägt und damit ein deutungsbedürftiges Verbindungsglied zwischen Gahmuret und Isenhart bildet. Der Text gibt kein explizites Angebot einer Erklärung oder Deutung dieser Verbindung, die gleichwohl ausdrücklich benannt wird, und zwar gleich beim Aufbau des Zeltes beim Turnierplatz: umb unvergolten minnen gelt /wart ez ein künec aˆne: / des twang in Belacaˆne: »für nicht gewährte Minne verlor es ein König: Dazu brachte ihn Belakane« (61,10–12). Zu sehen ist hier die für den ›Parzival‹ so charakteristische Technik der späteren Anspielung. Man hat in dieser Anspielung vor allem eine Verbindung zu Belakane gefunden.35 Dafür spricht auf den ersten Blick auch ihre namentliche Nennung. Allerdings bleibt festzuhalten, daß eine Anspielung auf Isenhart ebenso deutlich zu erkennen ist. Er wird als Vorbesitzer des Zelts in Erinnerung gebracht. Wolfram erinnert also an die Verbindung zum Toten, aktualisiert damit auch die frühere Funktion des Zeltes als Memorialzeichen für Isenhart. Wieso? Zum einen haben die ›Parzival‹-Interpreten herausgearbeitet, daß dieser indirekte Bezug auf Belakane das Dreieck konfligierender Bindungen zu drei Frauen – Belakane, Ampflise und Herzeloyde – vervollständigt.36 Zum anderen – und diese zweite semantische Belegung liegt, blickt man auf Gahmurets bald folgenden Tod, ebenso nahe – wird eine Analogierelation gestiftet. Das Zelt des toten Isenhart umhüllt die Verhandlung um einen, der dem Tod nahe ist. Diese Verbindung wird ja – nebenbei gesprochen – dadurch noch gestärkt, daß Isenharts Helm Gahmuret das Leben kostet. Der Helm löst genau das nicht ein, was der Name seines früheren Trägers verspricht: guneˆrtiu heidensch witze (105,16) läßt einen Feind Bocksblut auf den adamas gießen: doˆ wart er weicher danne ein swamp (105,21), und Gahmuret wird getötet. In dieser Analogierelation im Zeichen des Todes scheint das Sinnzentrum des allusiv wiedergebrauchten Zeltes zu liegen.37 Das Zeichen des Toten, scheinbar bewältigt durch Gahmurets Leistung im Reich Belakanes, kehrt im folgenden wieder als Handlungsort, der im Zeichen des Todes steht. Der Rückbezug also schafft eine wichtige Semantisierung für die erzählte Gegenwart. Diese Semantisierung wiederum wird durch die Versammlung von Figuren, durch Handlung und über das Einbringen weiterer Information auf die erzählte Zukunft bezogen (wobei diese Bezüge zu diesem Zeitpunkt, zumindest für Ersthörer oder -leser noch nicht ersichtlich sind). Denn vieles in diesem Zelt weist auf zukünftiges Sterben voraus: 35 36 37

Dazu Pretzel [Anm. 29], S. 384. Literatur s. Anm. 29. Hier liegt auch das Sinnzentrum einer weiteren Bezugnahme auf Isenhart: Die versammelte Gesellschaft trinkt im Zelt aus den Gefäßen des toten Isenhart. Vgl. Brüggen [Anm. 29], S. 186.

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– Herzeloydes Minne, die ihr das Herz zerschneiden wird (140,18–20), entfaltet sich an diesem Ort; sie und Gahmuret sind sich hier zum ersten Mal nahe. – Die Nachricht vom Tod der Mutter Gahmurets, die stirbt, weil Gahmuret nicht da ist, um sie nach dem Tode seines älteren Bruders, Galoes, zu stützen, trifft hier ein. Dieses Detail weist auch auf den Tod Herzeloydes voraus, die stirbt, nachdem ihr Sohn Parzival sie – in gewissem Sinne – im Stich läßt. – Die Boten einer gerade zur Witwe gewordenen Königin sitzen im Zelt. Auch hier kann man unter anderem einen Bezug auf Gahmurets Tod sowie Herzeloydes Zukunft und die Bedeutung dieser Zukunft für den Romanverlauf erkennen. – Lähelin sitzt im Zelt, der spätere Hauptfeind Parzivals, wie sein Bruder Orilus, der Gahmurets Bruder Galoes getötet hat und Schionatulander töten wird, eine düstere, außergewöhnliche und todbringende Romanfigur: Lähelin, so erfährt man aus rückschauenden Erwähnungen im Verlaufe des Romans, wird nicht nur Parzivals Erbländer rauben, sondern auch den Fürsten Turkentals (128,8f.) sowie den Gralsritter Lybbeals (540,28f.) und fast auch Gawan (301,13–20) töten, den nur die Fürsprache der Königin Inguse rettet.38 Aus dem Zelt heraus also ziehen sich Linien weit in den Roman hinein, die Vor- mit Hauptgeschichte verbinden. All diese Linien, darauf kommt es mir besonders an, haben mit Tod und Sterben zu tun, für die das Zelt Zeichen und für deren Personal (das todbringende wie das sterbende) es Handlungsraum ist. Diese Verbindung von Zeichen und Handlungsraum stellt die Grundlage für die spezifische Sinnkonstitution im zweiten Buch des ›Parzival‹ dar. Von diesem Punkt zurückgeblickt, erscheint es wirklich als gezielte Geste, daß die Erinnerung an Isenhart und sein Schicksal nicht primär an seine Leiche oder an ein Grabmal gebunden ist, sondern an sein Zelt: an das bewegliche und Bewegung konnotierende Objekt, das zudem eine enge semantische Bindung zu wichtigen Themenbereichen der höfischen Literatur und auch des ›Parzival‹ aufweist (Krieg, Belagerung, Turnier, Minne) und das zum Innenraum/Handlungsraum werden kann. In seinem Charakter als weitergegebenes Objekt steht es in einem Zusammenhang mit anderen signifikanten, 38

All dies wird in Figurenberichten und -kommentaren an späteren Stellen des Romans nachgereicht. Zu Lähelin s. L. Peter Johnson, Lähelin and the Grail Horses, MLR 63 (1968), S. 612–617; Dennis H. Green, The Art of Recognition in Wolfram’s ›Parzival‹, Cambridge 1982; Markus Stock, Lähelin. Figurenentwurf und Sinnkonstitution in Wolframs ›Parzival‹, PBB 129 (2007), S. 18–37.

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den Besitzer wechselnden Objekten (wie Rüstung oder Pferd) im ›Parzival‹.39 Die Tatsache, daß es gleichzeitig als Handlungsraum dienen kann und damit die Semantisierung eines Ortes entscheidend mitbestimmt, hebt es von diesen anderen Objekten ab. Mit dem Abschluß der Verhandlungen über Gahmuret verschwindet das Zelt Isenharts aus dem ›Parzival‹. Dies entspricht einer Funktionslogik. Das Zelt hat bezeichnet, was zu bezeichnen war, es hat behaust, was zu behausen war: Liebe, Herrschaft, Tod. Nun entläßt es die Figuren, die sich zeitweilig in seinem Innenraum aufhielten, in eine Romanwelt, in der sie sich in Handlung, Figurenerinnerung und Allusion stetig wiederbegegnen und in der Liebe, Herrschaft und Tod bestimmend sind. Außerhalb des ›Parzival‹ taucht es jedoch noch einmal auf, und wieder birgt es Liebe und Tod. Der ›Jüngere Titurel‹ weiß zu berichten, daß jenes Minnezelt von Sigune und Schionatulander, das den fragilen höfischen Mittelpunkt im zweiten ›Titurel‹-Fragment bildet (s. o. Abschnitt V), genau dieses Zelt Isenharts ist:40 Schionatulander hat es nach Gahmurets Tod erneut aus dem Orient mitgebracht, und verwendet es – fatalerweise, möchte man fast sagen – als Minnezelt, als das es wiederum seine grundsätzlichen Semantiken von Liebe und Tod entfaltet und zudem noch eine besonders sinnfällige Relation zwischen dem in überzogenem Minnedienst gestorbenen Isenhart und Schionatulander, der einem ähnlichen Schicksal entgegengeht, stiftet.41 Ob diese Beziehung in Wolframs ›Titurel‹ selbst bereits angelegt ist, muß aufgrund des Fragmentcharakters des Textes offenbleiben.42 Es wäre allerdings ein reizvoller Gedanke, daß diese 39

40

41

42

Allgemein: Mersmann [Anm. 29], S. 114–156; zu den Pferden Johnson [Anm. 38] und Friedrich Ohly, Die Pferde im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach (1985), in: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 323–364 [zuerst in: L’uomo di fronte al mondo animale nell’alto medio aevo, XXXI settimana di studio del Centro Italiano di Studi sull’ Alto Medioevo, Spoleto 1985, S. 849–933]. Die Heidelberger Handschrift H (cpg 141) des ›Jüngeren Titurel‹. Bereinigter Text des Zweiten und Dritten Teilstücks (Strophe H 662,5–764,2 und 765,6–1377,2) mit den Varianten der Redaktion R, hg. von Werner Schröder, Stuttgart 1994 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 1994, 11), Str. H 961; Albrechts Jüngerer Titurel, nach den Grundsätzen von Werner Wolf krit. hg. von Kurt Nyholm, Bd. 1, Berlin 1955 (DTM 45), Str. 1166. Die Parallelen zwischen Isenhart und Schionatulander sind deutlich, u. a. auch darin, daß beide nicht begraben werden, solange ihr Tod nicht ›bewältigt‹ ist; zu dieser Parallele Eberhard Nellmann, Stellenkommentar, in: Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹, nach der Ausg. Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8), Bd. 2, S. 443–790, hier S. 481, Kommentar zu 51,12. Zum Problem des Beginns des zweiten ›Titurel‹-Fragments zusammenfassend Heinzle [Anm. 23], S. 179f.

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beiden sich umkreisenden Geschwisterplaneten, der große ›Parzival‹ und der kleinere ›Titurel‹, auch über dieses so assoziationsreiche Wiedergebrauchsobjekt in Beziehung stehen.

VIII. Diese Skizzen zu raumsemantischen Funktionen von Zelten in der hochhöfischen Epik sind ergänzungsbedürftig. Dies gilt sowohl für die Funktion der besprochenen Zelte im größeren textuellen und intertextuellen Zusammenhang als auch für das Korpus besprochener Passagen, das sich für die hochhöfische Epik ergänzen ließe durch Beispiele etwa aus Wolframs ›Willehalm‹, aus dem ›Mauritius von Crauˆn‹, aus dem ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven, aber auch durch weitere Beispiele aus Wolframs ›Parzival‹ selbst.43 Der Einbezug späterer mittelhochdeutscher Epen würde weiteres Material liefern – Material, und darauf kommt es mir besonders an, nicht so sehr für eine Realien- oder Kulturgeschichte mittelalterlichen Wohnens, Reisens und Repräsentierens, und auch nicht so sehr für eine Geschichte volkssprachlicher Objektbeschreibung, sondern für eine Narratologie hochhöfischen Erzählens unter spezieller Berücksichtigung der Raumsemantisierung und der korrelativen Sinnstiftung.

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Wolframs ›Willehalm‹ etwa illustriert gleich zu Beginn (16,1–21) mit der Beschreibung des muslimischen Zeltlagers die Überlegenheit der Angreifer: ir gezelt, swenne ich diu prüeven wil, / man mac der sterne niht soˆ vil / gekiesen durh die lüfte; Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen hg. von Joachim Heinzle, Tübingen 1994 (ATB 108), 16,17–19. Das Zelt im ›Mauritius von Crauˆn‹ (hg. von Heimo Reinitzer, Tübingen 2000 [ATB 113]) findet sich in V. 773–810. Das Minnezelt in Ulrichs von Zatzikhoven ›Lanzelet‹ [Anm. 30] ist strukturelle Mitte des Romans (V. 4661–4929). Für den ›Parzival‹ ist etwa das große Zelt Gawans und das Zeltlager bei Joflanze als Ort höfischer Interaktion zu nennen; dazu Elke Brüggen, Inszenierte Körperlichkeit. Formen höfischer Interaktion am Beispiel der Joflanze-Handlung in Wolframs ›Parzival‹, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994, hg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 17), S. 205–221.

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Seht ir dort jene hohe lin? Der unerreichbare Innenraum in Ulrichs von Liechtenstein ›Frauendienst‹ (ca. 1255)* Einleitung: Innen- und Außenwelten in der Rezeption des Frauendienstes Ulrichs von Liechtenstein (1200/1210–1275) ›Frauendienst‹ bietet wie vielleicht kaum ein anderer Text seiner Zeit ein Beispiel dafür, wie ein Autor mit den Grenzen und Übergängen zwischen Innen und Außen spielen kann: strukturell, erzählerisch und thematisch.1 Strukturell, denn dieser epische, quasi-autobiographische Text des mittleren dreizehnten Jahrhunderts beinhaltet weitere Texte, die verschiedene Gattungen vertreten (Briefe, Büchlein sowie 58 Lieder), die z. T. zwar narrativ und stilistisch in den Text integriert sind, aber gleichzeitig freistehend betrachtet werden können und betrachtet worden sind. Strukturell auch, indem Gattungsgrenzen übertreten werden: Motive und Konventionen *

1

Ich möchte an dieser Stelle Caitriona Leahy für wertvolle Anregungen herzlich danken, sowie den KollegInnen auf dem Oxforder Kolloquium, insbesondere Hartmut Bleumer, Burkhard Hasebrink, Henrike Lähnemann und Anne Simon. Franziska Meyer danke ich ebenfalls für die sorgfältige Lektüre einer früheren Version des Manuskripts. Das Werk ist überliefert in zwei Fragmenten und einer Handschrift »in bairischösterreichischer Schreibsprache« aus der Zeit um 1300 (München, BSB, Cgm 44; Sigle M). Die Lieder sind (bis auf sechs) auch separat überliefert in der Heidelberger Liederhandschrift (Fritz-Peter Knapp, Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273, Graz 1994 [Geschichte der Literatur in Österreich 1], S. 483). Es wird, wo nicht anders angegeben, zitiert nach der Ausgabe Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, hg. von Franz Viktor Spechtler, Göppingen 1987 (GAG 485). An einzelnen Stellen ziehe ich zum Vergleich die Lachmannsche Ausgabe heran: Ulrich von Liechtenstein. Mit Anmerkungen von Theodor von Karajan, hg. von Karl Lachmann, Berlin 1841. Einführend zum Werk: Jan-Dirk Müller, Ulrich von Liechtenstein, in: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Bd. 1: Mittelater, hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max, Stuttgart 1989, S. 329–336 und Ders., Ulrich von Liechtenstein, 2VL 9, Sp. 1274–1282. Ausführliche Bibliographie bis 1999: Klaus M. Schmidt [u. a.], Bibliographie zu Ulrich von Liechtenstein, in: Ich – Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter, hg. von Franz Viktor Spechtler und Barbara Maier, Klagenfurt 1999 (Schriftenreihe der Akademie Friesach 5), S. 495–509. Mir leider nicht zugänglich bei der Verfassung dieses Textes war die Dissertation von Sandra Linden, Kundschafter der Kommunikation. Höfische Kommunikation im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Lichtenstein, Tübingen 2002 (Bibliotheca Germanica 49).

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anderer Gattungstypen – etwa der Küchen-, Apotheken- und Arzneihumor des Schwanks einerseits2 oder die Figuren des Artusromans andererseits – werden bewußt und auf spielerische, karnevalistische Art in die Selbstinszenierung inkorporiert.3 Erzähltechnisch erstens in dem Sinne, daß der Autor Ulrich uns dazu einlädt, die innere, erzählte Welt seines Werkes mit seiner externen, historischen Wirklichkeit zu identifizieren, indem er historisch belegbare Personen und Ereignisse nennt und einen ziemlich genau nachvollziehbaren Zeitablauf durchblicken läßt. Die Autorrolle »suggeriert die Präsenz eines scheinbar greifbaren Körpers«,4 am Körper des Autors sollen ja wesentlich Stationen der Handlung sogar abzulesen sein.5 Dennoch bleibt die Beziehung zwischen der ›literarischen‹ und der ›äußerlichen‹ Biographie unklar: Trägt der Körper des erzählenden Ichs wirklich die Zeichen der im Text beschriebenen Mundoperation? Fehlt ihm wirklich ein Finger? Der Text spielt aber auch in einem engeren, handlungsbezogenen Sinne mit den Grenzen zwischen Innen und Außen, sofern sich gut die erste Hälfte der Handlung um das Problem des Ich-Erzählers dreht (den ich im Weiteren Ulrich nennen werde, ohne damit den Erzähler mit dem Autor gleichsetzen zu wollen), und darum, wie Ulrich seine Liebe zu seiner Dame zu erfüllen vermöge, wie er auf verschiedene Art und Weise in das Weibliche einzudringen versucht. Mit diesem Streben nach Innen verbunden ist auch die thematische Auseinandersetzung mit dem Kontrast zwischen dem äußerlichen Anschein der Weiblichkeit und der weiblichen ›Essenz‹, dem wıˆplich-Sein. In diesem Beitrag werde ich mich vor allem diesem handlungsbezogenen und thematischen Spiel mit Innenräumen im ›Frauendienst‹ widmen. Ich werde zeigen, wie der Innenraum der Frau im ersten Teil der Werkes unerreichbar ist und bleibt, wie Ulrich aber schließlich in einen noch intimeren Raum, das Herz seiner zweiten Geliebten, hineingelangt – in einen geschlossenen Raum, der sich aber dann auch als das Unendliche, das Grenzenlose entpuppt, als ein irdisches Himmelreich. In dieser Liebe wird somit der Gegensatz zwischen der männlichen Außenwelt und der weiblichen Innenwelt überwunden. Vorab jedoch einige Bemerkungen zu den eben angeschnittenen Punkten, d. h. zur textuellen Integrität auf der einen Seite und zur Beziehung zur historischen Wirklichkeit auf der anderen Seite – beides sind Fragen, die die frühere ›Frauendienst‹-Rezeption mitbestimmt haben. 2 3

4 5

Knapp [Anm. 1], S. 489. Franz Viktor Spechtler, Ein »lächerlicher Minneritter«? Zur Funktion der Komik bei Ulrich von Liechtenstein, in: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literaturund Sprachgeschichte, Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag, hg. von Angela Bader [u. a.], Stuttgart 1994, S. 144–154, hier S. 148. Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt 2003, S. 199. Zum Körper als einem zu lesenden Buch im mittelalterlichen Denken vgl. Michael Camille, The image and the self. Unwriting late medieval bodies, in: Framing medieval bodies, hg. von Sarah Kay und Miri Rubin, Manchester 1994, S. 62–99.

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Zunächst zum letzteren Punkt: zum Spielraum zwischen erzählter Welt und externer Wirklichkeit. Die Lachmannsche Ausgabe des ›Frauendienst‹ gibt neben dem Text sogar die von Lachmann errechneten Daten für bestimmte Geschehnisse an. So schreibt Ulrich etwa seinen Brief in der Rolle der Göttin Venus am 25. März 1227, und Friedrich II. stirbt am 15. Juni 1246. Letzteres ist historisch belegt, ebenso die erwähnte Schwertleite im Jahre 1222 am Anfang des Werkes; ersteres aber – die Selbst-Inszenierung als Venus – wie all das andere Geschehen, das scheinbar autobiographisch erzählt wird, findet keine urkundliche Erwähnung.6 Die Grenze zwischen der erzählten Welt und der Außenwelt ist also keine scharfe – oder, wenn sie für Ulrichs Zeitgenossen gut zu erkennen war, ist sie es jetzt nicht mehr. Nachdem das Werk im 19. Jahrhundert noch als verlässliche geschichtliche Quelle verstanden wurde, hat die neuere Forschung akribisch herausarbeiten müssen, inwiefern wir Ulrichs ›Autobiographie‹ Glauben schenken dürfen (siehe vor allem die Beiträge in Spechtler /Maier [Anm. 1]). Man hat festgestellt, daß die Kleidungs- und Rüstungsbeschreibungen weitgehend die zeitgenössische Mode widerspiegeln, zumindest für Adlige;7 man hat sogar Ulrichs Venus-Gewand in einer »kostümkundlichen Dokumentation« nachgebildet.8 Der Autor selber ist mit 94 Urkunden gut belegt, ebenso fast alle der 115 namentlich genannten Adligen, die in verschiedenen (höchstwahrscheinlich erdichteten) Turnieren mit ihm kämpfen; aber die zentrale Minnediensthandlung, in der Ulrich vergebens versucht, die Gunst seiner Dame zu gewinnen, nennt keine Namen, und von einigen Ereignissen wissen wir ganz einfach, daß sie wenig plausibel sind und daß sie bereits als literarische Motive bekannt waren – so zum Beispiel die grandios angelegten Turniere oder der abgeschnittene Finger als Zeichen der Liebe (der eine Parallele im ›Waltharius‹ hat).9 Festhalten dürfen wir aber auf jeden Fall, daß Ulrich bewußt mit den Grenzen zwischen Fiktion und Realität spielt, indem er sie ineinander flicht. Hier soll also keine klare Trennung zwischen Innenwelt und äußerer Wirklichkeit auszumachen sein, sondern beide sollen ineinander übergehen. Nun aber zum zweiten oben notierten Punkt: zur Spannung in der Rezeption zwischen dem epischen ›Gefäß‹ und den anderen darin enthaltenen Texttypen, vor allem der Minnelyrik. Winfried Frey stellte 1981 »eine auffällige Textferne« in der Sekundärliteratur fest, einen gewissen Widerwillen, sich auf 6 7 8 9

Ich folge hier und im Folgendem Franz Viktor Spechtler, Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter, in: Spechtler/Maier [Anm. 1], S. 13–21. Gertrud Blaschitz, gechleidet wol nach ritters siten. Beschreibungen von Kleidung und Rüstung im ›Frauendienst‹, in: Spechtler/Maier [Anm. 1], S. 371–410. Annemarie Bönsch, Das Venus-Gewand Ulrichs von Liechtenstein. Eine kostümkundliche Dokumentation, in: Spechtler/Maier [Anm. 1], S. 411–437. Vgl. Heinz Dopsch, Zwischen Dichtung und Politik. Herkunft und Umfeld Ulrichs von Liechtenstein, in: Spechtler/Maier [Anm. 1] S. 49–104, hier S. 90, mit Hinweis auf Knapp [Anm. 1].

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den Text als solchen genau einzulassen,10 und kritisierte damals insbesondere eine Tendenz, die Lieder (lediglich) als freistehende Werke zu lesen, ohne auf ihren K o n text zu achten – eine Tendenz, die gewissermaßen legitimiert wurde durch die separate Ausgabe der Minnelieder durch Kraus und Kuhn, sowie durch die Überlieferung selber.11 Frey macht aber darauf aufmerksam, wie ein zweiter Gattungstyp im Text, der Brief, eine klare Funktion in der Handlung erfüllt: Ein Brief der Dame, der angeblich und von der Struktur her als Minnebrief zu lesen ist, bietet mit seiner »buchhalterische[n]« Prosa eigentlich ein Indiz für die »hochnäsige« Einstellung dieser Dame Ulrich gegenüber.12 Nicht anders als der Minnebrief – so Frey – erfüllen auch die Lieder eine Funktion in ihrem epischen Kontext. Sie sollen nicht nur als konkrete Belege für die Wahrheit der erzählten Ereignisse, aus deren Anlässe sie angeblich ursprünglich gedichtet wurden, und so für die Authentizität des Autors bürgen, sondern sie haben für Frey noch eine weitere Funktion. In ihnen gelangt Ulrich schließlich an eine gegenseitige, erfüllte Liebe, welche die unerwiderte Anbetung in der ersten Hälfte des Werkes ersetzt und die, wie Frey zeigt, in ihrer Ablösung von der Realität, als ›Ersatzrealität‹ eine Flucht darstellt vor dem Chaos nach dem Tod von Ulrichs Herrn, Friedrich II. von Österreich. Auch für das höfische Publikum des Werkes bleiben die fiktionale, literarische Form des Minnesangs und seine Minnewerte das einzige, was noch Ordnung und Halt in einer ruderlosen Welt bietet.13 Diese funktionale Einbindung der Lieder in die Erzählung ist darüber hinaus stilistisch untermauert durch den Gebrauch derselben Motive, Refrains und Bilder im narrativen Text wie in den Liedern. Manchmal entstehen Anklänge zwischen einem Lied und dem unmittelbar Vorhergehenden, wie etwa die Refrains am Ende jeder Strophe im Lied 12, einem Tanzlied, welche die Refrains der viel längeren Strophen des vorangehenden büechels variieren (hier nach der Lachmann-Ausgabe): si liebe, si reine, si heˆre (3. Büchlein, 66), si liebe, si reine, si guote (3. Büchlein, 133), si liebe, si reine, si süeze (3. Büchlein, 212), si liebe, si guote, si reine (3. Büchlein, 291), werden im Lied am Ende jeder Strophe variiert: si reine, si saelic, si heˆre (I,5), mit güete, si liebe, si guote (II,5), von leide, si liebe, si süeze (III,5), si guote, si liebe, si reine (IV,5), 10

11 12 13

Winfried Frey, mir was hin uˆf von herzen gaˆch. Zum Funktionswandel der Minnelyrik in Ulrichs von Liechtenstein ›Frauendienst‹, Euphorion 75 (1981), S. 50–70, hier S. 50. Deutsche Liederdichter des dreizehnten Jahrhunderts, hg. von Carl von Kraus und Hugo Kuhn, Tübingen 1952–58. Frey [Anm. 10], S. 60. Christelrose Rischer, wie süln die vrowen danne leben? Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion am Beispiel des ›Frauendienstes‹ von Ulrich von Liechtenstein, in: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von Gerhard Hahn und Hedda Ragotzky, Stuttgart 1992, S. 133–157, hier S. 156, zitiert von Franz Viktor Spechtler [Anm. 3], hier S. 154.

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abschließend in beiden Fällen mit einer längeren, fast identischen Formulierung: Troˆst mıˆner jaˆre, / daz ist ir schouwe, si frouwe zewaˆre / mich sol ir lachen vroˆ machen, si schoene, si claˆre (3. Büchlein, 374–9 und, nur leicht variiert Lied 12, V. 3–5). Manchmal schlagen die Anspielungen eine Brücke über viel längere Textpartien hinweg: Lied 17 nimmt Zeilen des Eingangs des Textes wieder auf: Wıˆp sint reine, wıˆp sint guot, wıˆp sint schoene und wol gemuot, wıˆp sint guot für senediu leit, wıˆp die füegent werdekeit, wıˆp die machent werden man (5: 1–5)

und verflicht sie mit neuen Variationen: Wıˆp sint reine, wıˆp sint guot, wıˆp sint lieber danne iht dinges sıˆ, wıˆp sint schoene und wol gemuot, wıˆp sint aller missewende vrıˆ, wıˆp sint guot für senediu leit, wıˆp diu füegent werdikeit (Lied 17, II)

Eben dieses Einflechten derselben Motive in die Lieder und in den erzählenden Text macht eine Frage nach der Priorität des einen oder des anderen überflüssig: ob die Lieder dem restlichen Text als Schmuck eingefügt werden oder ob dieser nachträglich den äußeren Rahmen für die vorwiegend früher komponierten Lieder liefert (wie Knapp glaubt).14 Innen und Außen in diesem Sinne von Gefäß (dem epischen Rahmen) und Gehalt (den Liedern) erweisen sich als ein Konstrukt der Rezeption. Es mag zwar immer noch stimmen, daß die Lieder, anders als die Briefe und Büchlein, nur relativ »locker« in die Erzählwelt eingebunden sind – so Kiening, der ihre Funktion hauptsächlich darin sieht, die »künstlerische Meisterschaft« des Autors (der neben Turnieren und Lieben sich auch im Dichten auszeichnet) zu suggerieren.15 Aber ich möchte im folgenden zeigen, wie die Lieder im Sinne von Frey einen Ausweg bieten, einen ›dritten Weg‹, oder besser gesagt einen Locus, in dem die Kluft zwischen weiblicher Innenwelt und männlicher Außenwelt, welche den Text prägt, überwunden werden kann. Ich wende mich also im folgenden dem Spiel mit Innen und Außen im thematischen (und auch metaphorischen) Sinne zu. Ich werde folgende Aspekte behandeln: I. Innen und Außen als Männerwelt und Frauenwelt; II. Schein und Sein: Aussehen und inneres Wesen; III. Sommer und Winter als poetologische Korrelate von Außen und Innen; IV. Das Herz. Im Schlussteil (V.) zeige ich, wie diese Oppositionen am Ende des Werkes sprachspielerisch, metaphorisch aufgelöst werden.

14 15

Knapp [Anm. 3], S. 483. Kiening [Anm. 4], S. 204–205.

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I. Innen und Außen als Frauenwelt und Männerwelt Höhepunkt der Minnediensthandlung stellt Ulrichs heimliches Stelldichein mit seiner Dame dar. Er wird durch ein Fenster in ihre Kammer hochgezogen, ärgert aber die Dame sogleich und wird alsbald wieder herabgelassen. Die Szene bringt ein oppositionelles Begriffspaar auf den Punkt, das durch das ganze Werk läuft, das wiederum nur das »gendering of space« der mitteralterlichen Wirklichkeit widerspiegelt:16 Das Innere, das Eingegrenzte, als das Weibliche, das Außen als das Männliche. Dies wird an der poetologischen Welt des ›Frauendienst‹ genau so deutlich wie in vielen anderen mittelhochdeutschen Texten: Der turnierende Ritter Ulrich genießt eine praktisch unbegrenzte Handlungssphäre – es fällt auf, wie häufig vom Überqueren politischer Grenzen die Rede ist (zwischen Steiermark, Böhmen, Kärnten, Österreich, Rom, windisch lant) und wie viele wirklich existierende Orte auf seinen Reisen genannt werden. (Als Beispiel darf der Brief dienen, in dem Ulrich in der Rolle der Venus seine Stationen ankündigt [Brief B, nach Strophe 479].) Dagegen ist die Welt der Frau eingegrenzt – Ulrichs Dame bewohnt eine nicht näher lokalisierte, also vom restlichen Geschehen abgekapselte Burg (uns lediglich bekannt als daz viel reine, süeze lant, / dar inne was diu vrowe min 372: 4f.). Männer verbringen den Sommer mit Turnieren unter freiem Himmel, während die Frauen bestenfalls von drinnen zuschauen, so etwa bei Ulrichs Zug in der Rolle der Königin Venus durch Wien: die lin da waren ninder bloz, / si sazzen alle vrowen vol (849: 2f.). Erst im Winter lassen die Männer, notgedrungen, das Turnieren sein (der sumer mit freuden ende nam. / sa der kalte winder quam, / do muost ich minnesiecher man / durch not daz turniren lan 48: 1–4) und wenden sich den Frauen drinnen zu. Immer wieder alterniert das Turnieren des Sommers mit dem Anbruch des Winters, wenn Ulrich den Kontakt mit seiner Dame wieder aufnimmt. (Übrigens: Daß das Tjostieren mit Lanzen metaphorisch stellvertretend für Sex gelesen werden kann, ist klar, und Ulrich bedient sich sogar selber dieser Metapher V. 6882–688817 – Ulrichs aktives Turnierleben kann also auch als ein Sublimieren seines frustrierten Begehrens nach Penetration gedeutet werden.) Während Männer draußen handeln, sind Frauen drinnen Gegenstände der Beobachtung: Den winder reit ich alzehant / vrowen sehen [...] (334: 1f.). (Ähnlich bei den Frauen an den Fenstern beim Wiener Zug: vrowen schowen sanfte tuot 849: 7). Aber auch das Frauen-Sehen unterliegt strikten Regeln, denn der Handlungsraum der Dame ist nicht nur im wörtlichen Sinne räumlich eingegrenzt, sondern auch durch huote und die Sorge um Zensur. Ulrichs Dame ist also behuot (49: 4), daß 16 17

Roberta Gilchrist, Medieval bodies in the material world. Gender, stigma and the body, in: Kay/Rubin [Anm. 5], S. 43–61, bes. S. 49–57. Vgl. Klaus M. Schmidt, Der Kampf im Schlafzimmer. Erwartungen und Realität in sexuellen Beziehungen: Ulrich von Liechtenstein, in: Bader [Anm. 4], S. 155–177, hier S. 169–170.

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Ulrich lange nicht einmal dazu kommt, ihr zu sagen, daß er ihr dient. Als er sie auf einem Fest in Wien sieht, kann er sie nicht sprechen, denn die merker liezen ez niht geschen, / ich meid ez durch ir kranckes spehen (43: 7f.). Erst wenn die Dame ausnahmsweise sunder huot ausreitet – und das auch nur vorübergehend, um von einem Haus zu einem anderen zu gelangen (Brief A, nach Strophe 114; 121: 7; 129: 3) – vermag Ulrich nach vielem Zögern sie endlich anzusprechen, und sie nimmt ihm eine Locke Haar ab. Aber das Stelldichein wird hastig abgebrochen: Vart von mir, daz ist min rat, / [...] / ir wizet wol, man hüetet min (153: 1,4). Der Kontrast zwischen einer weiblichen Innenwelt und einer äußerlichen Männerwelt kehrt in zugespitzter Form im Höhepunkt der Minnediensthandlung wieder, wo Ulrich endlich zu seiner Dame in die Kammer auf ihrer Burg hineingelassen werden soll. Diese Episode kann metaphorisch und stellvertretend für die gesamte Minnediensthandlung gelesen werden. Ulrich hat sich ja schon viel früher der konventionellen Metapher der Burg bedient, als er in seinem zweiten Büchlein die Minne apostrophierte: als si vernem den boten min, / so sol da sa din helfe sin, / und sol uf sliezen mir das tor / da ich bin lange gewesen vor / und kan ouch nimmer chomen drin, / mir helfe drin din güetlich sin. / ich meine ir herze: daz ist verspart / und vor mir manicvalt bewart. (2. Büchlein [nach Strophe 449]: 307–314) Die Minne erwidert, so wil ich sa mit mıˆner chraft / sliezen uf ir herzen tor. / du solt niht lange sin hie vor; / wir süln da gesinde sin / in dem herzen der vrowen din (2. Büchlein: 353–357). Hier steht die zu erobernde Burg explizit für das Herz und nicht (wie so oft sonst, etwa in der ›Krone‹, V. 11719–11744)18 für den weiblichen Körper, aber jene vertraute Deutung des Bildes klingt fast zwangsläufig mit. Allerdings dürfte von vorne herein klar sein, daß Ulrichs Penetrieren des Weiblichen im wörtlichen Sinne zum Scheitern verurteilt ist, denn die Dame hat das Treffen nur unter der Voraussetzung erlaubt, daß er nicht das von ihr verlangt, was er ja eigentlich will: des er von mir ze lone gert, / des ist er immer ungewert, / daz sol er niht für übel han, / wan ichs gewern wil nimmer man (1097: 5–8). Sie präzisiert ein zweites Mal: er sül dar uf niht chomen her, / daz ich in zuo mir welle legen – / des sol er sich vil gar bewegen! / daz in min ouge hie gern siht, / des sol er da für haben niht, / daz ich hie welle minnen in, / des sol er haben deheinen sin (1104: 2–8). Von vornherein ist also klar: Die Dame läßt ihn in die Burg herein, sie läßt ihn aber nicht in ihre Burg hinein. In dieser Szene – die sich an einem Fenster abspielt, an der Schwelle zwischen Innen und Außen – treten konventionelle poetologische Merkmale des Raumes in zugespitzter Form auf. Zu dem Gegensatz Innen/Außen tritt ein weiteres Wertepaar hinzu, das sich aus der Vertikalität der Burgmauer ergibt: Oben und Unten.19 Das Fenster ist hoch oben in der Burgmauer (also positiv 18 19

Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1–12281), hg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Tübingen 2000. Vgl. Gaston Bachelard, The Poetics of Space, übersetzt von Maria Jolas, Boston 1994, S. 17.

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valorisiert, aber auch allegorisch erinnernd an den höheren gesellschaftlichen Status der Dame, die Ulrich ze hohe [...] geborn ist (61: 3; auch 76); unten – negativ besetzt – liegt nicht einfach der Boden, sondern noch tiefer, der Burggraben, wo Ulrich sich vor der Begegnung mit der Dame verbirgt, wo er unglücklicherweise von dem husschaffer bepinkelt (1188), also weiter erniedrigt wird, und in welchem Ulrich sich nach dem abrupt abgebrochenen Rendezvous zu ertränken versucht. Oben ist also gleich unerreichbare Höhe, unten ist gleich Erniedrigung und Scheitern. Die Außenwelt, die bis jetzt als männliche Handlungssphäre durchaus positiv zu sehen war, wird in dieser Szene ganz anders konnotiert. Sie ist nicht länger der Locus des Turnierens, des öffentlichen Ruhms, der sommerlichen Rittertaten, sondern beschränkt sich nun auf eine Grenzsphäre, das Nicht-Innen, definiert durch die Nähe, aber Unerreichbarkeit der Burg, welche die Dame in ihrem Turm (traditionelles Symbol der Keuschheit, etwa in der Sankt-Barbara-Legende) beherbergt. Schon bei seiner Ankunft sind Ulrich die äußerlichen Zeichen des Rittertums verlorengegangen. In seiner Angst, nicht rechtzeitig anzukommen, hat er zwei Pferde zu Tode geritten, und statt seiner ritterlichen Waffen trägt er ein langes Messer, als uns des libes vorht betwanc (1126: 8). Er hat seine feinen Kleider abgelegt und die eines Aussätzigen angezogen, und die Einnahme eines Krautes ruft in ihm sogar die Symptome des Aussatzes hervor, so daß er sich unauffällig in der (ganz typisch für solche Grenzbereiche mittelalterlicher Siedlungen)20 Aussatzkolonie aufhalten kann. Seiner Eile zum Trotz muß er bis zum nächsten Tag warten und macht eine vinster naht durch, denn do huob sich sa ein wint vil groz, / mit regenes ungefüege angoz, so daß er vil nach vor vroste tot ist (1167: 2–4; 1168: 1) – ade schönes Sommerwetter, das ritterliche Leistungen im Freien sonst begleitet –, und anstelle eines Lebens voll Taten wartet er nun, dem Geheiß der Dame folgend, tatenlos unter den Aussätzigen, deren Fingerstummel ihn an die einer verfaulten Leiche im Grab erinnern (1152). Ulrich ist nun in jedem Sinne ›ausgesetzt‹, abgesondert von dem, was er sucht. Seine neuste Verstümmelung dank dem Aussatz-Kraut erinnert auch an die früheren Verstümmelungen, denen er sich unterzogen hat: eine Mundoperation, weil sein Mund der Dame nicht gefiel, und das Abschneiden eines Fingers, das ja, zwangsläufig an eine Kastration erinnernd, Ulrich auch gewissermaßen entmannt hat.21 Genau wie ein ›echter‹ Aussätziger – nach mittelalterlicher Ansicht – als Penitent die Stigmata seiner Sündhaftigkeit, speziell der ungezügelten sexuellen Begierde, am eigenen Leib trägt,22 so sind an Ulrichs Körper (Mund, Hand, nun auch den Symptomen des 20 21

22

Vgl. Gilchrist [Anm. 16], S. 47. Vgl. Ulrich Müller, Ulrich von Liechtenstein und seine Männerphantasien. Mittelalterliche Literatur und moderne Psychologie, in: Spechtler/Maier [Anm. 1], S. 297–318, hier S. 303. Vgl. Gilchrist [Anm. 16], S. 48.

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Aussatzes) die Zeichen eines harten, ihm von der Dame auferlegten bußähnlichen Dienstes abzulesen. Das innerhalb der heimlichen Innenwelt von Liedern und Botschaften an die Dame vorherrschende Machtverhältnis, in denen Ulrich die Rolle des Bittstellers spielt, bricht jetzt in die äußerliche Welt aus, indem der sonst reiche, einflußreiche Adlige es den Bettlern gleich tut, die an einem Fenster der Burg um Almosen bitten. Schließlich ist es soweit: Ulrich soll an zusammengeknoteten Bettüchern in das Fenster der Dame hochgezogen werden. Dreimal versuchen die Frauen ihn hochzuziehen, aber er bleibt jedes Mal auf halber Strecke hängen (eine Anspielung auf die mittelalterliche Vergillegende des Vergil im Korb – dasselbe Motiv kommt schon im 13. Jahrhundert mit Bezug auf Hippocrates vor). Nachdem man auf die Idee kommt, Ulrichs Begleiter zuerst hochzuziehen, damit dieser beim Hochziehen des gewichtigeren Liebhabers helfen kann, gelangt Ulrich endlich hinein. Aber er verspielt sofort seine Chance, indem er zu sprechen beginnt, bevor seine Dame den Mund aufmachen kann, und prompt nach dem verlangt, was sie ihm ausdrücklich verboten hatte: sol ich iu hie geligen bi, / so bin ich allez des gewert, / des min lip ie ze vreuden gert (1206: 2–4). Dreimal wiederholt er diese Bitte, trotz des Abratens der Dame und seiner Vermittlerin, der niftel; schließlich droht er damit, bis zum Morgen zu bleiben und auf Entdeckung zu warten, die seine Dame entehren würde. Die Dame kontert, daß sie seinen Willen erfüllt hätte, wenn er ihrem gehorcht hätte (1248); er hat aber nicht auf ihren Minnegruß gewartet (1249, 1260), bevor er selber sprach. Hier, in ihrer intimen Sphäre, hätte die Frau – die in der Öffentlichkeit zu schweigen hat – ausnahmsweise ihren Willen aussprechen können und sollen, aber Ulrich hat sie auch hier nicht zu Wort kommen lassen. Die Dame schlägt listig vor, Ulrich wieder herunterzulassen und das Ganze noch einmal von vorne zu beginnen: Sie wird ihn grüßen, und er wird seine Belohnung bekommen. Ulrich willigt ein, er wird heruntergelassen, sie spricht einen Gruß aus (1268) und will ihn küssen. Aber indem er sie zu umarmen versucht, läßt er versehentlich ihre Hand los und schnellt hinunter. Trotz eines Versprechens, das Stelldichein drei Wochen später zu wiederholen, beauftragt die Dame Ulrich stattdessen mit einer vart [...] über mer (1321: 1). Statt in den weiblichen Innenraum einzudringen, soll Ulrich nun vielmehr das Weite suchen. Später wird ihm die gefährliche Reise zwar erlassen, und Ulrich spielt sogar darauf an, daß die Dame ihm etwas gönnt, was er aus zuht verschweigt (1349: 8) – aber wenige Seiten später (allerdings sind das zwei Jahre der erzählten Zeit!) scheidet er wegen eines nicht näher präzisierten swache[n] leit (1361: 7) aus ihrem Dienst aus. Kein Happy-End also zur Story der Versuche, den weiblichen Innenraum im wörtlichen Sinne zu penetrieren. Vielmehr läuft dieser ganze erste Teil des Werkes darauf hinaus, die Sinnlosigkeit des Minnedienstes vor Auge zu führen. Im zweiten Teil jedoch weicht die epische Handlung mit dem eigentlichen Streben nach dem weiblichen Innenraum einem von den Liedern getragenen uneigent-

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lichen Diskurs über den Innenraum der Geliebten. Was sich schließlich als episch nicht erzählbar erwies, darf in der symbolischen Welt der Lyrik vollzogen werden.

II. Schein und Sein: Aussehen und Wesen Der Gegensatz Innen/Außen spielt sich im ›Frauendienst‹ auf einer zweiten Ebene ab – auf der des trügerischen Aussehens. Öffentliches Auftreten der Frau wird thematisiert durch Ulrichs Verkleidung als Königin Venus. Er trägt ein enges Kleid, Handschuhe und einen Schleier, der sein Gesicht bedeckt (526– 531). Denn die Frau hat ihren Körper zu bedecken: den Kopf, die Hände, das Gesicht. Auch ihr Benehmen ist eng eingegrenzt: In der Messe imitiert Ulrich das Neigen mit dem Kopf und den weiblichen Gang (umbeswanc 945: 5) und geht mit kleinen Schritten: chum hende breit was da min trit (945: 8). Er unterzieht sich also »der räumlichen und sensuellen Einschränkung« der Frau im Mittelalter23 – obwohl ein solches Benehmen von der Göttin Venus doch eigentlich kaum zu erwarten wäre! Aber wenn Ulrich diese weibliche Rolle übernimmt, bedeutet dies für ihn keinen Machtverlust, sondern er folgt dem bewährten, von Garber identifizierten Muster des »progress narrative«, wonach Männerfiguren sich gerade deswegen als Frauen verkleiden, um die Macht wieder an sich zu reißen, um ein sonst unerreichbares Ziel zu erreichen.24 (Und in der Tat wird Ulrich nach der Venusfahrt das Treffen mit seiner Dame vergönnt.) Bennewitz macht die gleiche Tendenz an anderen Figuren aus dem deutschen Mittelalter deutlich: Ulrich folge dem Beispiel von Hugdietrich in der Heldenepik, der sich als Frau verkleidet, um seiner Geliebten näher zu kommen (was dem Hugdietrich übrigens besser gelingt als Ulrich, denn Hugdietrich verläßt seine Dame erst dann, als ihre Schwangerschaft entdeckt wird).25 Auch in einem anderem Sinne kommt Ulrich dem Weiblichen physisch näher, denn als Frau verkleidet darf er den Friedenskuß mit anderen Frauen während der Messe austauschen (537–9, 947; auch in einem anderen Kontext 934). Wichtig ist, daß Ulrich nicht einer jener Transvestiten ist, der als Frau ›durchgehen‹ möchte, sondern er sucht, was Garber die »reassurance of being a phallic woman«26 nennt. Er beansprucht für sich die konventionelle Rolle der 23

24 25 26

Ingrid Bennewitz, Eine Dame namens Ulrich, oder: Über den pragmatischen Nutzen von Frauenkleidern für die literarischen Helden des Mittelalters, in: Spechtler/Maier [Anm. 1], S. 349–370, hier S. 353. Marjorie Garber, Vested interests. Cross-dressing and cultural anxiety, London 1992, S. 67. Bennewitz [Anm. 23], S. 357. Garber [Anm. 24], S. 3.

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Dame in der Öffentlichkeit, aber das allgemeine Lachen anlässlich seiner Auftritte bestätigt, daß er/sie durchschaut wird (z. B. 933: 4, auch 945: 4; 989). Er geht in vrowen wis und was ein man (492: 2), in vrowen chleit nach riters siten (514: 2). Er behauptet also seine Machtposition als Mann in der öffentlichen Gesellschaft. Kein Zufall, daß er ausgerechnet die Rolle der Königin bzw. Göttin Venus für sich wählt, der einzigen Frauenfigur, deren Macht über Männer anerkannt wird. Aus dieser sozusagen verdoppelten Machtposition heraus besiegt er alle Gegner und zerbricht 307 Lanzen. Ulrich kompensiert mit diesen öffentlichen phallischen Erfolgen das Scheitern seines Minnedienstes und revanchiert sich in der Rolle der Königin für seine Erniedrigung durch die anonyme Minnedame, die ihn heimlich zum Minnesklaven erniedrigt hat.27 Gerade Ulrichs Annehmen der äußerlichen Zeichen der Weiblichkeit und das öffentliche Erkennen des Spiels unterstreichen die Tatsache, daß Frau-Sein nicht im Äußerlichen aufgeht. Nicht einmal alle (echten) Frauen besitzen in Ulrichs Augen die Essenz der Weiblichkeit, denn wiplich sin nimmt moralische Konturen an. Ein wiplich wip besitzt nicht nur äußerliche Schönheit, sondern auch güete. So heißt es von der zweiten Dame, der Ulrich dient: nie wart so wiplich wip erchant. / an ir man schoene u n d güete vant (1391: 3–4; Hervorhebung von mir) und güete kann mangelnde Schönheit kompensieren (1756). Der äußere Schein kann sogar trügen, wie eine Blume, die bitter riecht: Swer gerne frowen schoene siht/ unde ir güete wil merken niht, / der schouwet wan ir liehten schin (1782: 1–3). Obwohl das Äußerliche durchaus zur Weiblichkeit beizutragen scheint (ir gebaerde, ir schone, ir güete, / ir wiplich guot gemüete, Lied 49: IV, 5–6), pocht Ulrich bis zum Ende des ›Frauendienst‹ immer mehr darauf, daß die i n n e r e güete das wesentliche Weibliche ist: Von grozzer schoene wirt ein lip / sunder güete niht wiplich wip (1775: 1–2).

III. Sommer und Winter als poetologische Korrelate von Außen und Innen Ein weiteres Korrelat von Innen und Außen wird ebenfalls gegen Ende des Werkes aufgelöst: der Gegensatz von Winter und Sommer. In einem Winterlied (Lied 35) bietet der Innenraum zwar immer noch Schutz vor dem Winter: Für sin stürmen, für sin slichen, / für sin ungefüege dro / sül wir in die stuben wichen (Lied 35, Strophe III, 1–3), aber nicht der Innenraum an sich schützt, denn wer einfach drinnen bleibt, ist nicht sicher vor den Stürmen: swer mit witzen nu niht vert, / sit er wil diu hus besitzen, / der ist von im [dem Winter] unernert (II, 5–7). Vielmehr muß man mit Frauen zusammen sein: da mit wiben wesen vro (III, 4). Wenn Frauen am Anfang des ›Frauendienst‹ Gegenstände waren, die man be27

Vgl. Müller [Anm. 21], S. 308–309.

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schaute, um die Winterzeit zu vertreiben, geht es jetzt um eine reziproke Beziehung: Man kontrastiere, wie Ulrich im ersten Teil einen Winter mit vrowen sehen verbringt (z. B. 334: 2) mit der gegenseitigen Liebe hier und – noch expliziter – im darauffolgenden Lied 36 (II, 7–8): din lieber man, min liebez wip, / daz sin wir beidiu und ein lip). Die güete der Dame bietet Schutz: wibes güete, daz ist ein dach (Lied 35: III, 5). Auch vor dem Winter im metaphorischen Sinne bietet die geliebte Dame Schutz. Nach dem Tod Friedrichs II. von Österreich wird die sommerliche Außenwelt des männlichen Handelns unverläßlich, und Ulrichs Eindruck einer aus ihren Fugen geratenen Welt wird durch seine (fiktionale) Gefangenschaft auf seiner Burg symbolisiert, die ihn seiner Freiheit zu ritterlichen Taten beraubt. Er besingt das Chaos und die Gewalt metaphorisch als das Ende des Sommers: Waz dar umbe, ist verswunden / uns der sumer? (Lied 50: I, 1f.). Aber für Ulrich bedeutet das Ende des Sommers nicht das Ende seines hohen muot, denn er hat seine Dame: Swem der winder hochgemüete swendet, / der muoz ofte truric sin. / mir hat hohen muot ein wip gesendet, / da von ist daz herze min, / swie ez wittert, vro, vro, vro (Lied 39: II, 1–5, auch 1610–1612, 1616).

IV. Das Herz: ir herzen schrin (1742: 8) Das Herz ist der konventionalisierte Innenraum par excellence, und Ulrich bemüht alle vertrauten Metaphern: Das Herz ist zum einen eine Burg, in die Ulrich hinein will. Es ist auch ein Gefängnis, wo er seine Angebetete gefangen hält: ja han ich si gevangen [...]; In min vil sendez herze / mitten haˆn ich si geleit (Lied 8: I, 3 und IV, 1–2) – keine huote kann sie dagegen gefeit halten (si ist vor mir vil unbehuot (VI, 4) – wobei die Kombination der Besessenheit, der bedrohlichen Sprache und der Allmachtphantasie viel eher an einen pathologischen Stalker erinnert denn an einen Liebhaber. Auch die zweite Dame findet sich in seinem Herzen versigelt und verrigelt (Lied 48: IV, 1, 3; ähnlich 1734: 2), immerhin begleitet von hohem muot und minne. Mehr noch, sie ist keine Gefangene, sondern ist gekommen, um dort ze huse zu sein und ist dort vogt zusammen mit hohem muot (Lied 32: VI); sie ist mines herzen chüneginne (Lied 42: II, 6, auch 1637). Das Herz ist aber auch ein schrin, in dem die Liebe oder das Liebesleid ihr Zuhause haben, und in das schlaue Frauen keinen ungezognen Mann hineinlassen (1742: 8; 1743: 2). Das Herz einer geliebten Dame scheint jedoch etwas mit der TARDIS von Dr. Who aus der bekannten britischen Fernsehserie gemeinsam zu haben, denn seine Dimensionen sind drinnen viel größer als draußen. Ulrich vergleicht das Herz seiner Geliebten wiederholt mit dem Paradies (Lied 41: I, 6; Lied 42: V, 3; 1794–1796, 1800, 1802, Lied 55) – und mit dem Wort

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himelrich beschwört er keinen schrin herauf, sondern im Gegenteil das räumlich und zeitlich Unbegrenzte. Das, worein Ulrich jetzt eindringen will, wird nun als ein Unendliches vorgestellt, eine Vorstellung, die durch die als Oxymoron gepaarten Begriffe des hohen muot und herzens grunt unterstrichen wird, zwei entgegengesetzte Begriffe, die zusammen immer wiederkehren, wie hier im Lied 53 (VII, 1–2): In des herzen grunde schone / blüet mir hochgemüete. Ulrichs Geliebte läßt seinen hohen muot so hoch wie die Sonne steigen: von ir güete / stiget min gemüete / für die liehten sunnen ho (Lied 39: II, 6–7); ich bin vro [hier nach Lachmann: Spechtler hat vor] in des herzens grunt / [...] so ist mir in dem herzen so / sam ez welle in die lüfte ho (1645: 1, 7–8). Oder Ulrichs eigenes Herz steigt hohe uf für der sunnen schin, / so si hohe in ir hoehe stat (1790: 3–4). Ganz anders als das Eindringen in einen engen Innenraum stellt sich die wahre, glückliche, weil gegenseitige Liebe heraus als ein Aufsteigen in das Grenzenlose.

V. Schluss: Tuo uf! ich chlopf an mit worten, / la mich in, so bistu guot! / sliuz uf schire mir die porten! (Lied 41: III, 1–3) Die Welt der geschriebenen Worte ist eine heimliche Welt – eine Tatsache, auf die der ›Frauendienst‹ früh anspielt, insofern Ulrich – angeblich Analphabet28 – auf seinen Schreiber angewiesen ist für die Entschlüsselung eines Schreibens seiner Dame (169–171). Schriften über Liebe dürfen außerdem nur in einem vertrauten Innenraum gelesen werden: diu wol gemuote danne gie / in ir heimlich, da sie las / swaz an dem brief geschriben was. (165: 4–6; auch 171: 2; 323: 2; 1319: 3), und Ulrichs schriftliche Offenbarungen seiner Liebe müssen außer Sicht weggelegt werden: Ulrichs erstes büechlin an die Dame weiß sein Schicksal: als ich ir min rede gesage, / sa von dem selben tage / muoz ich die vinster bowen. / ich mac des wol getrowen, / ez heize lade, ez heize schrin, / daz ich da muoz verslozen sin, / als in dem karchaere (1. Büchlein [nach Strophe 161]: 136–142), und das zweite Büchlein wird ebenfalls – diesmal zusammen mit Ulrichs abgeschnittenem Finger, also fast reliquienähnlich – in Samt und Gold eingewickelt (444–445). Die heimliche Anbetung der ersten Dame und ihre Vertextlichung werden der Öffentlichkeit erst dann zugänglich, wenn sie literarisiert werden – also anonymisiert und in eine Erzählwelt eingefügt. Im zweiten Teil hingegen spielt sich die Liebe für die zweite Dame von vornherein ausschließlich in der literarisierten, lyrischen Form der anonymisierten Lieder ab. Diese rein verschriflichte Liebe hat aber den Vorteil, daß sie zumindest inner28

Knapp [Anm. 3], S. 489, ist geneigt, Ulrich beim Wort zu nehmen, und sieht in der schriftlichen Rezeption seiner Lieder durch seine Dame ein Beispiel für die »Möglichkeit mündlicher Produktion und schriftlicher Rezeption«.

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halb der heimlichen Welt der Worte gelingen kann. So preisen die späteren Lieder des ›Frauendienst‹ eine gegenseitige Liebe, die sehr wohl als erotische, sexuelle Erfüllung imaginiert wird, die aber keinen Wirklichkeitsbezug für sich beansprucht. Denn Ulrich will nur mit Worten in die Geliebte eindringen: Tuo uf! ich chlopf an mit worten, / la mich in, so bistu guot! / sliuz uf schire mir die porten! (Lied 41: III, 1–3). Im ›Frauendienst‹ geht es nicht mehr um Taten, sondern um Worte, um literarischen Dienst. Also zumindest in der Welt der Worte – genauer, in der Welt der lyrischen, uneigentlichen Rede – können alle Grenzen zwischen Innen und Außen aufgelöst werden. Zum einen wird die Dame, bis jetzt dem Innenraum gehörend, mit dem Sommer draußen gleichgesetzt, was über den Topos hinausgeht, die Liebe sorge für ewigen meien schin (Lied 29: II, 2–4). So, wie die Farben des Sommers gepriesen werden – Sumervar ist nu gar / heide, velt, anger, walt, / hie unt da, wiz, rot, bla, / gel, brun, grüene, wol gestalt (Lied 29: I, 1–4) – wird Ulrichs zweite Dame in seinen Liedern auf ähnliche Weise wiederholt als ein Zusammenspiel von Farben heraufbeschworen – prun rot wiz (Haar, Mund, Haut) (etwa 1619: 4; Lied 39: VII, 1–2; 1693–1694)29 – und Ulrichs hoher muot blüht in ihrem Sonnenschein reht als in der [nach Lachmann; Spechtler liest des] meien zit / tuont die rosen (Lied 39: III, 5–6). Die geliebte Dame bringt also die sommerliche Außenwelt nach innen, in die stuben (Lied 35: III, 3). Zum anderen wird auch der mögliche Gegensatz zwischen dem äußerlichen Schein der Frau – schönen Farben und Kleidern – und ihrem inneren Wesen sprachspielerisch annuliert, wenn die Dame metaphorisch die Farben der güete aufträgt und sich mit güete kleidet: Wil ein [vrowe (Zusatz von Lachmann)] schoene beliben / gerne staeticlichen, / diu sol sich mit güete riben, denn solche varben [...] verderbent nimmer (Lied 53: III); güete ist ein daz beste wibes chleit / daz an vrowen lip wart ie geleit (Lied 51: II, 5–6). Die Angst um die speher und merker, welche die Dame im Innenraum hüeten, wird ebenfalls überwunden, indem Ulrich als allwissender Erzähler die Rolle des spehers umdreht und für sich beansprucht. Der Innenraum des Herzens (heimlich) ist ihm kein Geheimnis mehr, denn er kann in alle Frauenherzen sehen: ich gedaht ir heinlich gar ze spehen / und in ir herzen grunt ze sehen / [...] beidiu durch chleider und durch lip. / sich chan vor mir bewarn dehein wip (1779: 7–8; 1780 5–6). Und der intimste aller Innenräume, das Herz der geliebten Dame, an das Ulrich mit Worten anklopft, öffnet sich zu einem unendlichen Himmelreich.

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Der Topos des roten Mundes ist Gottfried von Neifen entlehnt (und wird oft überboten in der Formulierung chleinvelhitzeroter munt), siehe Knapp [Anm. 1], S. 485.

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Die Realität der inneren Bilder Candacias Palast und das Bildprogramm auf Burg Runkelstein als Modelle mittelalterlicher Imagination I. Im XVIII. Buch von ›De civitate Dei‹, das die Geschichte der civitas terrena seit Abraham und die in ihr sich entfaltende Zukunft des Gottesstaates behandelt, schaltet Augustinus mit den Kapiteln 17 und 18 einen Exkurs über das phantasticum hominis, den Umgang des Menschen mit seinen inneren Bildern, ein. Darin erzählt er eine Art philosophischer Gespenstergeschichte: Ein Mann habe erklärt, daß er eines Nachts vor dem Zu-Bett-Gehen in seinem eigenen Hause gesehen habe, wie ein ihm wohlbekannter Philosoph auf ihn zugekommen sei, um einige Probleme der platonischen Philosophie zu erläutern, die er vorher trotz drängender Bitten zu behandeln abgelehnt habe. Als der Philosoph nach seinem nächtlichen Besuch gefragt worden sei, warum er im Hause des M a n n e s getan habe, was er bei s i c h zu Hause dem Bittenden noch stets verwehrt hätte, habe er geantwortet, dies sei in Wirklichkeit gar nicht geschehen, er habe aber in jener Nacht von eben diesem Besuch geträumt. Ac per hoc, so schließt Augustinus sein Exempel, alteri per imaginem phantasticam exhibitum est vigilanti, quod alter vidit in somnis (»So trat dem einen durch ein Phantasma im Wachen vor Augen, was der andere im Schlaf sah«).1 Für Augustinus ist die leibhaftige Begegnung mit einer imago phantastica keine bloße Phantasterei, sondern Beleg für die Wirksamkeit und Wirklichkeit innerer Bilder. In der Platoniker-Anekdote kommuniziert das Bild zwischen den inneren Sinnen des träumenden Philosophen und dem Interieur des Privathauses, wo Fragen zur platonischen Erkenntnistheorie im Raume stehen und ihrer Klärung harren. Das Bemerkenswerte an dieser Anekdote besteht darin, daß das Phantasma für sein gleichzeitiges Erscheinen im Traum- und im Hausinneren keine Grenze zur Außenwelt zu überschreiten braucht. Wie auf der Schleife eines Möbiusbandes bewegt es sich innerhalb eines Kontinuums, das Traum und architektonischen Innenraum erzählend ineinander übergehen läßt. So gerät die Differenz, die nach konventioneller Auffassung das Interieur mit empirischer, den Traum dagegen mit virtueller Räumlichkeit assoziieren würde, ins Schwanken. Was beide Schauplätze miteinander verbindet, ist das Merkmal 1

Sancti Aurelii Augustini De civitate Dei Libri XXII, recog. Bernhard Dombart/Alfons Kalb, vol. II, Darmstadt 51981, S. 279 (civ. XVIII, 18, 18–26).

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ihrer Innerlichkeit, an das Augustinus die erkenntnistheoretische Frage nach dem Realitätsstatus und Wahrheitswert menschlicher Wahrnehmung stellt. Ob aus platonischer, aristotelischer oder spätantik-synkretistischer Sicht wird sie – einmal abgesehen von der unterschiedlichen Bewertung der phaino´mena – damit beantwortet, daß die Seele im Körper des Menschen allein durch Hinwendung an die Phantasmen, also: durch die Vermittlung innerer Verbildlichungsprozesse, zur Erkenntnis ihrer äußeren Umwelt gelangt. Weder Traum noch architektonischer Innenraum können daher für sich beanspruchen, ›wirklicher‹ oder ›ursprünglicher‹ zu sein als die Spukerscheinung, so als könnten sie der Urteilskraft einen externen Standpunkt bieten, von dem aus Phantasie und Realität sich clare et distincte voneinander scheiden ließen. Vielmehr führt Augustins Exempel das Ineinsbilden von Wirklichkeit und Imagination vor Augen: im Wachtraum des Hausherrn und in der geträumten Realität des Philosophen. Unabhängig von Intention und Bewußtsein der involvierten Personen stellen beide Phänomenalisierungen Formen der Medialität innerer Bilder dar und bezeugen die unüberschreitbare Interiorität der Wahrnehmung. Unter diesen epistemologischen Bedingungen scheinen Innenräume, egal ob es sich um empirisch gegebene oder in Bild und Diagramm, Erzählung oder Schrift fingierte handelt, eine besondere Affinität zur Theorie der Imagination zu besitzen, nimmt diese Theorie in Antike und Mittelalter doch selbst die Gestalt kommunizierender cerebraler Innenräume an (Drei-Ventrikel-Lehre). So hat Giorgio Agamben in seinem grundlegenden Buch ›Stanze. La parolae il fantasma nella cultura occidentale‹ (Turin 1977) mit Blick auf Dantes ›De vulgari eloquentia‹ die Stanze (stantia) charakterisiert als ›geräumige Kammer‹ (mansio capax) und als ›Raum der Sammlung aller Kunst‹ (receptaculum totius artis), weil sie »neben sämtlichen Formelementen der Kanzone, jenen joi d’amor verwahrte, die sie [die Dichter des Duecento] der Dichtung als einzigen Gegenstand anvertrauten.«2 Im Rahmen der von Agamben rekonstruierten ›Pneumophantasmalogie‹ mittelalterlicher erotischer Dichtung bedeutet dies, daß die Kanzonenstrophe als räumliche Grundeinheit der poetischen Form bruchlos hinüberspielt in das physiologische Raummodell des Gehirns, in dessen Ventrikeln Imagination, Ratio und Memoria, von Minne und Magie befeuert, bei der Phantasmenproduktion zusammenwirken. In diesem receptaculum ›künstlicher Intelligenz‹ bringen die inneren Bilder die Kluft zwischen logischempirischer Erkenntnis und poetischer Fiktion zum Verschwinden, wenn das Wahrgenommene den Imaginationsapparat nur stark genug anregt. Da aber das Imaginäre, wie Augustins Exempel zeigte, nicht willentlich gesteuert werden kann und – mit den Worten Wolfgang Isers – »kein sich selbst aktivierendes Potential [ist], sondern [...] der Mobilisierung von außerhalb seiner«3 bedarf, 2 3

Giorgio Agamben, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, aus dem Italienischen v. Eva Zwischenbrugger, Zürich/Berlin 2005, S. 11. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1993, S. 377.

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muß die Poetik mittelalterlicher Artefakte, die uns im folgenden interessiert, besondere Rücksicht auf das Hervorbringen und Bearbeiten, Entfesseln und Binden der imagines nehmen, um dadurch die Wahrnehmungsintensität steigern und die Aufmerksamkeit auf ihr Werk lenken zu können. Die folgenden Ausführungen werden anhand zweier Beispiele – eines architektonisch manifesten und eines literarisch fingierten – vorführen, welche strukturbildenden Wechselwirkungen zwischen der Phantasmenlehre und der Machart mittelalterlicher Artefakte bestehen. Es soll deutlich werden, wie die künstlerische Ausgestaltung von Innenräumen – sie seien baulich realisiert oder im sprachlichen Modus der descriptio evoziert – die äußere Differenz von materiellem Bild (pictura) und materiellem Text (scriptura) auflöst und überführt in die Innerlichkeit bildgebender Prozesse, die man sich als Zirkulation von imagines innerhalb einer Flucht mentaler Innenräume denkt, wo sie intensive Präsenzeffekte erzeugen: die Realität der inneren Bilder. Obwohl die physiologischen Grundannahmen dieses Modells (pneuma-induzierte Bildgenese, Hirnventrikel-Lehre) spätestens im 17. Jahrhundert obsolet geworden sind, bildet die hier zu skizzierende Imaginologie im Feld der Kunst eine Denkform von außerordentlich langer Dauer. Daher gehören die folgenden Beobachtungen und Thesen zu einer ›Archäologie der Phantasie‹, in der die Kunst des Mittelalters eine Phase höchster Differenziertheit, Produktivität und Subtilität im Entwickeln unterschiedlicher Strategien darstellt, mit dem Problem der von innen andrängenden Bilderflut umzugehen.

II. Im Jahre 1385 erwerben der Bozener Amtmann Niklaus Vintler und sein Bruder Franz die Burg Runkelstein. Nach Rene´ Wetzels biographischer Skizze über die ›Runkelsteiner Vintler – Konstruktion einer adligen Identität‹ ist es den beiden Männern darum zu tun, sich eine Aura adliger Legitimität [...] zu verschaffen [...]. Dem reichen Amtmann, dem es gelungen war, Zugang zum landesfürstlichen Hof und zum herzoglichen Rat zu erhalten, der täglich Umgang mit Vertretern des österreichischen und alten Tiroler Adels pflegte, waren die adligen Weihen Zeit seines Lebens versagt geblieben. [...] Über die Assimilierung adliger Lebensweise und adliger Kultur versuchte Vintler, sich eine perfekte adlige Existenz aufzubauen [...], die im Kauf einer Burg und in der Inszenierung einer höfischen Schein- und Bilderwelt gipfelt.4 4

Rene´ Wetzel, Quis dicet originis annos? Die Runkelsteiner Vintler – Konstruktion einer adligen Identität, in: Schloß Runkelstein. Die Bilderburg, hg. von der Stadt Bozen unter Mitwirkung des Südtiroler Kulturinstituts, Bozen 2000, S. 291–310, hier S. 301.

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Um diese Inszenierung möglichst wirkungsvoll zu gestalten, greifen die VintlerBrüder zunächst in den Bauplan der alten Burganlage ein: Sie bauen in deren Vorder- und Empfangsbereich den West- und Ostpalas aus, indem sie den einen aufstocken und den anderen zusammen mit der im Mittelteil der Burg gelegenen Kapelle substantiell umgestalten. Im hinteren Teil des Burghofes entsteht zum Abschluß der aufwendigen Arbeiten um 1400 sogar ein völlig neuer Komplex: das doppelgeschossige sogenannte Sommerhaus mit seiner »offenen ebenerdigen Bogenhalle«.5 Die Mauern des Sommerhauses werden inwendig und auswendig mit opulenten Freskenzyklen ausgemalt, ebenso die Innenräume von West- und möglicherweise auch Ostpalas sowie das Innere der Burgkapelle. Daß es sich bei der Verwandlung Runkelsteins in eine Bilderburg nicht um bloße Ausschmückungen repräsentativer Räume handelt, sondern um ein Gesamtkonzept, bei dem bauliche Veränderungen und Bildprogramm ineinandergreifen, deutet Friederike Wille in einer wichtigen Bemerkung zur Baugeschichte der Burgkapelle an: Es ist auffallend, daß Vintler, der so sehr auf die fiktive Konstruktion einer adligen Identität bedacht war, diesen alten, repräsentativen, semantisch eindeutig feudal besetzten Bautypus der doppelgeschossigen Pfalz- und Burgkapelle zugunsten eines scheinbar unspektakulären einfachen Kapellenraums aufgibt. Er orientierte sich in diesem Fall am Kapellentypus, wie er in der ersten Hälfte des Trecento im Kontext der Bettelorden und des Palastbaus italienischer Bankiers und Kaufleute ausgebildet wurde, und vollzog damit einen Paradigmenwechsel nach, der architektonische, zeichensetzende Strukturen zugunsten der Repräsentation durch Malerei zurücktreten ließ.6

Seit Giotto fügt Wille (S. 188) hinzu, kenne man die Möglichkeit einer derartigen »systematische[n], einem Gesamtkonzept unterworfene[n], lückenlose[n] Ausmalung«, die den Sakralraum zum Schauraum einer in sich geschlossenen Deutung von Heils- und Heiligengeschichte mache, um den repräsentativen Bedürfnissen der jeweiligen Auftraggeber entgegenzukommen. Im Falle der ›Bilderburg Runkelstein‹ drängt sich die Frage auf, ob dieser archtitektur- und kunstgeschichtliche Befund zur konzeptionellen Einheit des Bildprogramms auf den Sakralraum beschränkt bleiben muß. Könnte nicht die Gestaltung der Kapelle Teil eines größeren Planes sein, der auch die sogenannten profanen Wandmalereien des Westpalas und des Sommerhauses mit umfaßte?7 Und wenn ja, auf 5 6 7

Joachim Zeune, Burg Runkelstein durch die Jahrhunderte: Burgenkundliche und baugeschichtliche Marginalien, in: Schloß Runkelstein. [Anm. 4], S. 31–47, hier S. 41. Friederike Wille, Die Fresken der Burkgkapelle Runkelstein, in: Schloß Runkelstein. [Anm. 4] S. 185–202, hier S. 185 und 188. Daß jedes der beiden ›profanen‹ Gebäude ein konsequent durchgeführtes Bildprogramm enthält, wurde in der bisherigen Forschung, insbesondere am Beispiel des Sommerhauses, immer wieder betont. Eine Erklärung zur Frage, ob und wie die baulich separaten und dennoch in einer architektonischen Anlage versammelten Zyklen miteinander in Verbindung stehen, findet sich aber noch nicht. Ansätze dazu bietet Cord Meckseper, der erkannt hat, daß im Westpalas die »reale, lebendige Gegen-

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welcher Ebene ließe sich eine solche Zusammenschau weltlicher und geistlicher Bildsujets denken? Ein Rundgang durch die Vintlersche Burganlage soll in drei Stationen das Prinzip eines derart umfassenden, kompartimentierten Schauraums aufdecken. Die Abfolge der Stationen ergibt sich dabei aus der architektonischen Struktur der Burg und ihrer gegenwärtigen touristischen Erschließung, sie ist in dieser gestuften Form allerdings nicht als starres Schema, sondern als dynamisches Modell ineinander greifender und simultan ablaufender Zirkulationen innerer Bilder zu denken. Denn, wie sich zeigen wird, kommunizieren die Räume im Burginneren miteinander wie nach antiker und mittelalterlicher Wahrnehmungstheorie die Hirnventrikel im Prozeß der inneren Verbildlichung. Erste Station: Wer das Innere der Burg über den westlichen Palas betritt, wird von einem ›Saal der Ritter‹ und auf dem nächsten Stockwerk von einem ›Wappenzimmer‹ empfangen. Hier sind die heraldischen Zeichen des regionalen Adels versammelt und formieren eine symbolische Hofgesellschaft, in die man imaginär als vriunt des Hauses eintreten kann. In einem durch eine tiefer gehängte Decke markierten Raumkompartiment, der sogenannten Kammer der Ritterspiele, wird der Empfang fortgesetzt und von den Wandmalereien selbst thematisiert: Gezeigt wird, wie die Burgherren ihre Gäste vor der detailgetreuen Kulisse Runkelsteins feierlich begrüßen. Die aktuelle Situation der Ankommenden wird so auf das Szenarium eines höfischen Festes projiziert. Diese Engführung von pictura und Realität erhält eine zusätzliche Dynamik mit dem Eintritt in den angrenzenden Raum. In der irreführend ›Badestube‹ genannten Kammer fällt als erstes die Gliederung der Wandmalereien auf. Den größten Teil der Flächen bedeckt ein aufgemalter, an rundumlaufenden Stangen befestigter Wandbehang. Über den Stangen verläuft ein Bilderfries, der aus einer Sequenz von loggienartig sich öffnenden cellulae zusammengesetzt ist. In jeder Zelle befindet sich eine Figur, festgehalten in charakteristisch bewegter Pose. An drei Wänden sind es gestikulierende Frauen und Männer, an der Südwand Tiere,8 von denen einige auf der Vorhangstange zu balancieren scheinen. Die Figuren sind sehr lebendig dargestellt. Einige von ihnen kehren dem Betrachter demonstrativ den Rücken zu, andere machen Miene, gerade über den Wandbehang hinweg in den Raum hinabzusteigen (Abb. 1). All dies ließe sich als

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wart« dargestellt wird im Gegensatz zu ihren »ideologisch-historischen Grundlagen« im und am Sommerhaus (Cord Meckseper, Wandmalerei im funktionalen Zusammenhang ihres architektonisch-räumlichen Orts, in: Literatur und Wandmalerei I. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter. Freiburger Colloquium 1998, hg. von Eckart Conrad Lutz [u. a.], Tübingen 2002 [Literatur und Wandmalerei 1], S. 255–281, hier S. 267). Die Tierdartellungen erinnern an entsprechende Miniaturen im marginalen Rankenwerk illuminierter Handschriften. Zu ihrer Funktion als Zeichen der im Leser / Betrachter angeregten Phantasiearbeit vgl. Michael Camille, Image on the Edge. The Margins of Medieval Art, London 1992, S. 20–55.

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Illusionismus abhaken, der witzig mit der Vorstellung spielt, die Figuren könnten aus der Wand heraus- und als Menschen unter die sie betrachtenden Menschen treten.9 Doch bekommt solche Animation eine andere, tiefsinnigere Dimension, wenn man zur Balkendecke der Kammer aufblickt, die nachweislich zur Originalausstattung des Raumes gehört (Abb. 2).10 Sie charakterisiert den Raum als Phantasmen produzierende Wahrnehmungsapparatur, innerhalb derer die Vorgänge, die aktuell im Auge des Betrachters ablaufen, verdoppelt und in den architektonischen Innenraum hinein verlängert werden: Die Schwärze des Himmels, das Gold der aufgemalten Sterne, des Mond- und des Sonnengesichts sollen zusammen den Eindruck einer geschlossenen Kammer ohne äußere Lichtquelle erzeugen, deren Dunkelheit einen inneren Glanz entwickelt und die Malereien aus sich selbst heraus erleuchtet – ganz so, wie es nach dem Verständnis mittelalterlicher Wahrnehmungsphysiologie im Innersten des Systems geschieht, wenn die inneren Bilder durch das Augenfeuer illuminiert werden.11 Wer hier eintritt, löst also nicht nur die Aktualisierung und Realisierung von zuvor in Gedächtniszellen eingelagerten imagines agentes aus, sondern auch den umgekehrten Vorgang. Indem er sich schauend vom Innenraum eines geschlossenen und Bilder träumenden Auges aufnehmen läßt, wird er selbst zum Phantasma: zum Bild unter Bildern. Das entspricht genau den Operationen des phantasticum hominis nach Augustinus: Die Grenze zwischen Außenwelt und Innenwelt wird im Zuge forcierter Interiorisierung aufgehoben und die ›Badestube‹ zur Schaltstelle der inneren Bildsynthese. Die Arbeit der imaginatio wird dabei nicht nur auf ihre Kommunikation mit den Gedächtniszellen hin transparent gemacht. In der Fensternische der Ostwand zeigt die nördliche Laibung zusätzlich einen Ritter mit Falken, die gegenüberliegende südliche eine Dame, die in ihrer Linken eine Krone trägt. Beide symbolisieren offensichtlich den bestimmenden Anteil des Eros an der inneren Wahrnehmung, der Falke als Sinnbild der Jagd nach minne, die Dame mit Krone als Sinnbild des Objekts der Begierde: des perfekten erotischen Phantasmas (Abb. 3a/b). Als bekröntes Bild ist es dazu bestimmt, die Position der Herzenskönigin einzunehmen, die vom proton organon der Wahrnehmung aus alle Formationen des phantasmatischen Prozesses beherrscht.

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Zahlreiche weitere illusionistische Motive im Westpalas (und nur dort) sind erwähnt bei Kristina Domanski/Margit Krenn, Die profanen Wandmalereien im Westpalas, in: Schloß Runkelstein [Anm. 4], S. 51–98, bes. 53, 65 und 78. Zur ›Badestube‹ vgl. ebd., bes. S. 65–77. Zur Theorie des Augenfeuers vgl. David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, übers. von Matthias Althoff, Frankfurt a. M. 1987, S. 23f. sowie Ge´rard Simon, Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. Mit einem Anhang: Die Wissenschaft vom Sehen und die Darstellung des Sichtbaren, aus dem Französischen von Heinz Jatho, München 1992 (Text und Bild), bes. S. 34–46.

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Mit dem Durchlaufen der ›Badestube‹ ist der Besucher eingegangen in den Reigen der imagines, die im Obergeschoß Szenen höfischen Lebens evozieren: Jagd, Tanz und Ballspiel, Turnierkampf und höfische Konversation unter Minnenden. Alle Szenen des ›Turniersaals‹ spiegeln vor und wider, was adlige Lebensform in Vollendung ausmacht: die gesellige Partizipation an der Hofesfreude, die insofern wesentlich in den Bereich des Gesellschaftlich-Imaginären gehört, als sie unter den Gleichen alle Sinne auf’s höchste stimuliert und doch in einer tänzerischen Balance hält, die sich allen gleichermaßen im hohen muot mitteilt (Abb. 4). Zweite Station: Der so physiologisch – in der Bewegtheit der Körper und ihrer gesteigerten Sensibilität – angeregte consensus erwiese sich als flüchtige Stimmung, hielte nicht der zweite Raumkomplex, das Sommerhaus, Bilder bereit, die der summa consensio adliger Freundschaft Stetigkeit verliehen durch die zeitliche Tiefe weitgespannter Traditionslinien und großer Erzählungen. Im und am Sommerhaus ist all das abgebildet, was erinnerungswürdig und erinnerungsnotwendig erscheint: Das gesamte Gebäude ruht auf Säulen, auf denen die sieben freien Künste abgebildet sind. Sie formieren die Basis mittelalterlichen Wissens und mithin eine unumstößliche Grundlage für jede Art weiterentwickelter Erkenntnis.12 Direkt an diese Säulen schließt sich die ›Kaiserreihe‹ an, eine Folge von 100 Porträts römischer und deutscher Herrscher, angefangen bei Augustus bis hin zu Ludwig dem Bayern.13 Darüber finden sich die ›Triaden‹, die jeweils in Dreiergruppen die bedeutendsten alttestamentlichen und christlichen Könige, die besten höfischen Ritter und berühmtesten Liebespaare, die sagenhaftesten Recken, größten Riesinnen und Riesen und kleinsten Zwerge einprägsam zusammenstellen (Abb. 5).14 Die Dreiergruppe bildet dabei die kleinste Ordnungseinheit, mit der es möglich ist, – einen Kanon zu definieren (insofern eine Auswahl getroffen wird, die das Ganze normativ repräsentieren kann),

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Die Bilder auf den Säulen der östlichen Arkaden sind nicht erhalten, wahrscheinlich handelte es sich um Darstellungen der sieben Tugenden. Auch Rene´ Wetzel betont den memorialen Aspekt der Kaiserreihe. Nachdem er sich die Frage gestellt hat, warum die Reihung nicht bis zu den Kaisern der ›Gegenwart‹ reicht, kommt er zu dem Schluß: »Dadurch, daß die Reihe bereits mit Ludwig dem Bayer abbricht, historisch also zu einer Zeit, in welcher Niklaus Vintler vielleicht noch nicht einmal geboren war, wird sie ein Stück weit auch aus der politischen Tagesaktualität hinausgehoben und mehr in ihrer historischen und ideellen Bedeutung gesehen« (Rene´ Wetzel, Runkelsteiner Kaiserreihe und Runkelsteiner ›Weltchronik‹Handschrift im Trialog von Bild, Text und Kontext, in: Literatur und Wandmalerei I [Anm. 7], S. 405–433, hier S. 425.) Vgl. Kristina Domanski/Margit Krenn, Die profanen Wandmalereien im Sommerhaus, in: Schloß Runkelstein [Anm. 4], S. 99–154, bes. S. 99–109.

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– ihn intern zu differenzieren (indem jeweils die Mittelposition unter den Figuren hervorgehoben wird) und – ihn nach außen kombinatorisch zu erweitern (so daß die Triaden zu dreimal drei Gruppen zusammentreten). So können historische, religiöse und literarische Aspekte in e i n e r pikturalen Form verortet und nach den Regeln der ars memorativa für das adlige Gedächtnis präpariert werden. Tritt der Betrachter unter diesem Eindruck ins Innere des Sommerhauses, erfährt sein Blick einen schroffen Wechsel.15 Anstelle der in leuchtenden Farben gehaltenen Triaden begegnet ihm mit den Szenen des Tristanzyklus ein anderes, forcierteres Bildkonzept. Durch das Anwenden der terra-verde-Technik wird jedes Sehen konterkariert, das lediglich an der Abbildung erzählter Handlung interessiert wäre oder den abgebildeten Objekten nichts als einen referentiellen Sinn entnehmen wollte. Indem nämlich 1. der dominierende Grünton des Malgrundes jede Colorierung löscht bis auf angedeutetes Inkarnat und wenige, umso markantere Rotmarkierungen und 2. die Konturierung zugleich durch Weißüberhöhung hervorgehoben wird, löst sich das Bild gespensterhaft von seinem Grund und aus seiner Referenzfunktion erster Ordnung. Es geht dadurch in eine zweite Ordnung über und wird so dezidiert a l s B i l d abgebildet (Abb. 6). Indem der Technikwechsel von der Außen- zur Innenwandbemalung einen solchen Modusbruch inszeniert, dringt der Besucher vom Memorierarrangement der Triaden in das tiefer gelegene, schemenhafte Reich der Erinnerungsphantasmen ein. Sie erscheinen gleichsam in statu nascendi, als würden sie durch den Blick ins Innerste des Inneren allererst aktiviert und gäben sich über die rot markierten Memorierpunkte als besonders sorgfältig eingelagerte Präparate der memoria zu erkennen.16 Auf die beiden anderen epischen Zyklen, die Szenen aus dem ›Garel‹ des 15

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Dazu generalisierend Wetzel [Anm. 13]: »Doch nicht nur die Bildthemen [im Sommerhaus] sind archaisch, auch deren Behandlung wirkt (im Gegensatz zu den Westpalas-Malereien) so« (S. 423, Anm. 69). Indem die dargestellten Handlungshöhepunkte in der Memorierfarbe Rot hervorgehoben werden, dienen die einzelnen Markierungen dazu, beim Abschreiten der Fresken »die Erzählung anzuregen und in gewisser Weise zu lenken« (Andrea Gottdang, ›Tristan‹ im Sommerhaus der Burg Runkelstein. Der Zyklus, die Texte und der Betrachter, in: Literatur und Wandmalerei I [Anm. 7], S. 448). Das heißt: Sie vergegenwärtigen und beleben die in der memoria abgespeicherte Geschichte. Vgl. zu dieser Art der wahrnehmungsphysiologischen Animation auch Jörg Jochen Berns, Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg 2000; zur Funktion der roten Farbe im Kontext der ars memorativa vgl. außerdem Georges Didi-Huberman, Fra Angelico.

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Pleiers im Inneren und aus Wirnts von Grafenberg ›Wigalois‹ an der Außenwand der Bogenhalle, kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden.17 Sie komplettieren jedenfalls einen klaren Befund: Umschloß der Westpalas die Funktionen des Imaginationsventrikels, so bildet das Sommerhaus eine Schatzkammer adliger memoria. Dritte Station: Das so sich abzeichnende Hirnmodell der inneren Wahrnehmung bliebe freilich ein rein assoziativer Hintergrund für das Verständnis des Bildprogramms von Runkelstein, wenn nach der Identifikation des vorderen und des hinteren Ventrikels sich keine Entsprechung für das mittlere Ventrikel, den Sitz der ratio, aufspüren ließe. Im imaginationstheoretischen Zusammenhang kommt ihr die Aufgabe zu, den Verkehr der inneren Bilder zu regeln: Sie prüft als eine Art ›aktiver Filter‹ mittels der Urteilskraft, welche imagines als erinnerungswürdig in der memoria eingelagert bzw. welche aus der memoria aufgerufenen imagines in den aktuellen Verbildlichungsprozeß eingespeist werden sollen. Zudem ist sie der Ort, an dem minne und Magie ansetzen, wenn es darum geht, die Bildproduktion von außen zu beeinflussen oder ›fernzusteuern‹.18 Wo wäre ein solcher Ort innerhalb der Burganlage zu suchen? Und wie ließen sich seine ratio-analogen Funktionen piktural darstellen? Antwort auf die erste Frage gibt ein Blick auf den Grundriß der Burg. Trennt man Westpalas und Sommerhaus durch zwei gedachte Linien voneinander ab, so wird der dadurch eingegrenzte Zwischenraum nach Osten hin von einem signifikanten Kompartiment des Ostpalas abgeschlossen: von der bereits erwähnten Burgkapelle. Sie liegt genau an der Stelle, wo in Analogie zum mittelalterlichen Hirnmodell die ratio zu erwarten wäre (Abb. 7).19 Dem heutigen

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Unähnlichkeit und Figuration, aus dem Franz. übers. von Andreas Knop, München 1995, S. 64–83. Auffällig ist beim Garel-Zyklus wiederum das Vorherrschen der Memorierfarbe Rot. Der Wigalois-Zyklus kann wegen seines schlechten Erhaltungszustandes nicht näher analysiert werden. Zum szenischen Umfang und zur stofflichen Akzentuierung beider Zyklen vgl. Dietrich Huschenbett, Des Pleiers ›Garel‹ und sein Bildzyklus auf Runkelstein, in: Runkelstein. Die Wandmalereien des Sommerhauses, hg. von Walter Haug [u. a.], Wiesbaden 1982, S. 100–128; Beschreibung der Bilder des ›Garel‹-Zyklus, S. 129–139; Beschreibung der Bilder des ›Wigalois‹-Zyklus, S. 170–177. Grundlegend für das Verständnis des Zusammenhangs von Wahrnehmungstheorie und ars magica ist die Monographie von Ioan Petru Culianu, Eros und Magie in der Renaissance, mit einem Geleitwort v. Mircea Eliade, aus d. Franz. von Ferdinand Leopold, Frankfurt a. M. 2001 [franz. Orig.: E´ros et Magie a` la Renaissance. 1484, Paris 1984]. Auf die restlichen Innenräume des Ostpalas läßt sich nur vorsichtig spekulierend eingehen. Vergleicht man den Grundriß der Burg konsequent mit dem Drei-Ventrikel-Modell, so müßte insbesondere der unmittelbar an die Kapelle angrenzende Trakt, der dem Westpalas gegenüberliegt, der imaginatio zugeordnet werden. Tatsächlich scheinen die wenigen dort erhaltenen Malereien darauf zu verweisen: Die Illustration des Neidhartschen Veilchenschwanks und die abgebildeten Notenlinien eines Minneliedes wären in diesem Zusammenhang den äußeren Reizen des Geruchssinnes (ol-

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Besucher Runkelsteins ist sie normalerweise nicht zugänglich, denn von den dortigen Fresken sind, abgesehen von einigen wenigen Szenen, nur Fragmente erhalten, deren Sujets sich zum Teil erst wissenschaftlicher Rekonstruktion erschließen. Die ikonographischen Indizien weisen allerdings klar auf ein Ensemble von vier Themenbereichen hin, bei denen es je um das Verhältnis der richtigen, von Gott kommenden Bildvorstellungen zu den falschen, durch Dämonen verursachten geht. Es handelt sich um Szenen aus den Legenden der drei Titelheiligen der Kapelle, Antonius, Katharina und Christophorus, sowie um das Heilsgeschehen der Kreuzigung. In der dem Eingang gegenüberliegenden Apsis stellt es dem Eintretenden sogleich die Grenze zwischen irdischer Wahrnehmung, die in der Innerlichkeit der imagines befangen ist, und dem göttlichen intellectus vor Augen, der im Opfertod Christi auch die Aufhebung der Schranken reiner Weltimmanenz in Aussicht stellt. An den Seitenwänden werden Antonius- und Christophorus-Vita, Bekenner- und Märtyrertod, parallel geführt. Bedeutsam für den Kontext der Imaginationstheorie ist hier zunächst die andeutungsweise erhaltene Bedrängung des Eremiten Antonius durch dämonische Phantasmen: Antonius ist auf den Fresken an seinem schwarzen Mantel und dem Nimbus zu erkennen. Er wird von Teufeln und Dämonen bedrängt, die mit allen Mitteln versuchen, ihn von Gott abzulenken. [...] Ein großer rötlicher Dämon mit Krallenzehen und bedrohlich ausgespannten Fledermausflügeln quält den Heiligen, den er am Kopf packt und mit einem Stab malträtiert.20

Der zweite Heiligenzyklus zeigt die Geschichte des Christophorus, der wegen seiner Ablehnung der Götzenverehrung gefoltert wird und somit ebenfalls als Vorbild für einen Menschen fungiert, der die Idolatrie der Heiden verwirft zugunsten der richtigen, gottgemäßen Vorstellungen im Zeichen des Kreuzes. An der dem Altar gegenüberliegenden Wand ist schließlich das Martyrium der heiligen Katharina von Alexandrien abgebildet, die sterben muß, weil sie die Gottesminne der weltlichen Minne vorzieht. Die Darstellung ist auf ihre Folter und ihren Tod verkürzt und zeigt in einem dritten Bildfeld den Leichnam, aufgebahrt in einem Sarg, aus dem Öl fließt, das nicht nur Krüppel heilt, sondern hier auch einen Augenkranken oder Blinden wieder sehend macht (Abb. 8).

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factus) und des Gehörs (auditus) zuzuordnen, so daß hier der elementare Vorgang angedeutet sein könnte, der, durch die einzeln verbildlichten Sinneseindrücke gespeist, das Phantasma/die imago als Produkt synästhetischer Wahrnehmung enstehen läßt. Daß die Realität der Phantasmen auf Synästhesie beruht, wird auch in literarischen Kontexten immer wieder vorgeführt; vgl. Hans Jürgen Scheuer, Die Wahrnehmung innerer Bilder im ›Carmen Buranum‹ 62. Überlegungen zur Vermittlung zwischen mediävistischer Medientheorie und mittelalterlicher Poetik, Das Mittelalter 8 (2003), H. 2: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. von Hartmut Bleumer und Steffen Patzold, Berlin 2004, S. 121–136. Friederike Wille, Die Fresken [Anm. 6], S. 192.

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Der Schlüssel zum gesamten Bildprogramm findet sich aber neben und über der Eingangstür: Als Leitmotiv und gleichsam ›Programm in nuce‹ steht neben der Tür [...] ein Bild der Christophoruslegende, das so isoliert, besondere Bedeutung erhält. Es ist die Szene, wo Christophorus auf das Kreuz weist, das Zeichen der Passion und der Erlösung, und damit den Teufel hinter den Felsen fliehen läßt [...]. Zusätzlich wird über der Tür, in einer Art Supraporte, von Engeln das Schweißtuch der Veronika mit der vera icon, dem wahren Abbild Christi, präsentiert.21

Im Verbund dieser beiden Motive ist ein deutliches apotropäisches Zeichen gesetzt: Während Christophorus, auf das Kreuzzeichen deutend, allen dämonischen Versuchen, in die Zentrale der Steuerung, Beurteilung und Lizensierung der inneren Bilder einzudringen, Einhalt gebietet (Abb. 9), demonstriert die vera icon dasjenige Bild, das aus theologischer Sicht einzig und allein wert ist, ›wahr‹ und ›wirklich‹ genannt zu werden (Abb. 10). An ihm haben sich alle Phantasmen, die der Besucher von seinem bisherigen Gang durch die Burganlage mitgebracht haben mag, zu messen; durch seine Heilspräsenz werden die von der imaginatio angestachelten und durch die memoria auf Dauer gestellten Muster adliger Selbstverbildlichung gereinigt. So erst erhalten die imagines interiores ihren vollgültigen und von Zweifeln ungetrübten, ratio-geprägten und zugleich spiritualisierten Realitätsanspruch. Die Kapelle ist also weitaus mehr als nur das fehlende, illustrative Verbindungsstück zwischen Westpalas und Sommerhaus, zwischen imaginatio und memoria. Sie ist eine Anleitung dafür, wie die Anlage überhaupt zu verstehen ist. Die anderen Bilder müssen gleichsam durch den Filter der christlich geläuterten ratio hindurch betrachtet werden.22 21 22

Ebd., S. 189f. So ist denn möglicherweise auch zu verstehen, warum als erinnerungswürdige Vorbilder im Sommerhaus gerade Wigalois, Tristan und Garel gewählt wurden: W i g a l o i s als Beispiel für den miles christianus, der gegen den Teufelsbündler Roaz zu Felde zieht. Walter Haug macht darauf aufmerksam, daß gerade das Dämonenhafte der Gegner des Wigalois auffällig betont werde (vgl. Walter Haug, Das Bildprogramm im Sommerhaus von Runkelstein, in: Runkelstein. Die Wandmalereien des Sommerhauses, hg. von Walter Haug [u. a.], Wiesbaden 1982, S. 15–62, hier S. 46); Tr i s t a n , dessen Abenteuer auf Runkelstein bezeichnenderweise im Gottesurteil kulminieren. Domanski und Krenn weisen mehrfach darauf hin, daß sich die TristanFresken eng an christliche Ikonographie anlehnen und daher bei einigen Bildern des Zyklus »ein sakraler Aspekt mitschwingt« [Anm. 9, S. 144]; und schließlich G a r e l , in dessen Geschichte wie in keinem anderen Artusroman der Aspekt der Versöhnung hervorgehoben ist. Auch die sonstigen Fresken des memoria-Komplexes im Sommerhaus lassen sich ohne weiteres durch einen Filter christlicher Frömmigkeit lesen. Nicht nur die Kaiserreihe, sondern auch die Triaden verweisen auf die Heilsgeschichte: v o n l i n k s g e l e s e n : die Neun guten Helden (die ja schon für sich genommen den Fortgang der Heilsgeschichte markieren), v o n r e c h t s g e l e s e n : wohl die aus dem ›Heldenbuch‹ stammende Heilsgeschichte, die von der Erschaffung der Zwerge über die Riesen bis hin zu den Recken reicht.

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Damit ist die Dimension, in der die architektonische Sequenz der Räume in Westpalas, Sommerhaus und Burgkapelle mit dem kompositorischen Gesamtprogramm der ›Bilderburg‹ zur Deckung kommt, beschrieben: Wer die Burg Runkelstein mit offenen Augen durchquert, bewegt sich durch ein Drei-Ventrikel-System, dessen Innenräume der funktionellen Einheit imaginatio – memoria – ratio homolog sind. Die Burganlage präsentiert sich so als der cerebrale Schauraum einer höfisch stilisierten und christlich geläuterten Ritterschaft. Deren Darstellung mag modernen Betrachtern als historisch verspätete und nostalgisch von nicht-adligen Aufsteigern beschworene vorkommen. Sie ist dem Konzept nach und im Durchgang durch die Vintlersche Bilderwelt aber sicherlich die aktualisierte, r e a l e Perfektion adliger Existenz. Denn diese bemißt sich nicht allein nach Abstammung und Genealogie, sondern ist als konsensuellimaginäre Größe wesentlich durch das Verfügen über gemeinsame innere Bilder definiert.

III. Die Umgestaltung Runkelsteins zur Bilderburg steht in der Qualität ihrer Ausführung und in der Reichweite ihres Anspruchs gleichwohl in der Sukzession einer weitaus älteren Tradition. Der Hinweis Friederike Willes auf Giottos »um 1306 freskierte Palastkapelle des Paduaner Bankiers Enrico Scrovegni«23 mag zwar kunsthistorisch einen ersten Aufschluß geben, führt aber längst nicht weit genug zurück. Denn, wie gezeigt, genügt es nicht, sich auf den Bautyp der »Privatkapelle« zu beschränken oder bei dem sehr unspezifischen Argument des besonderen Repräsentationswillens aufstrebender sozialer Gruppen stehenzubleiben. Deshalb empfiehlt es sich, den Skopus der Suche zu erweitern, zumal sich unter der Voraussetzung einer mittelalterlichen ›Kultur der Phantasmen‹ architektonische oder pikturale Innenräume ohnehin nicht kategorisch von literarischen scheiden lassen, da die genannten Artefakte keine unterschiedlichen Medien, sondern nur verschiedene artifizielle Speicher und Quellen des Imaginären darstellen.24 23 24

Wille, Die Fresken [Anm. 6], S. 189. Die Verwendung des Begriffs ›Intermedialität‹, sei es im Kontext ekphrastischen Erzählens, sei es zur Beschreibung des Zusammenspiels architektonischer, skripturaler und pikturaler Elemente, führt vor dem Hintergrund mittelalterlicher Imaginationstheorie in die Irre. Wiewohl erst in den achtziger Jahren zum literaturwissenschaftlichen Terminus avanciert, hat das Konzept seine Wurzeln in Romantik und Spätromantik, von wo es die avantgardistische Utopie der Überführung von Kunst in Leben und Leben in Kunst speist. Dabei geht es jeweils um das Darstellen und Herstellen eines Totaleindrucks oder Gesamtkunstwerks, in dialektischeren Kunstauffassungen auch um die Unterbrechung derartiger Verschmelzungsphantasien, doch stets unter

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Im Bereich didaktisch expliziter Literatur führt die Suche nach einem entsprechenden hirnanatomischen Modell, das mit der Frage nach der Konstitution adliger Lebensform verknüpft ist, auf den ›Welschen Gast‹ des Thomasin von Zerklaere. Seine Erläuterung der drei Fakultäten des Wahrnehmungsapparates, erweitert um den intellectus als engelhaftem Boten der göttlichen Transzendenz, führt im 7. Buch zur elementarsten Ebene der Erziehung des höfischen Menschen durch das Ausbalancieren seines Wahrnehmungsapparates.25 Auf dem Feld der volkssprachlichen Epik wäre zudem zu erinnern an die strukturgebende Bedeutung des Hirnmodells in der descriptio von Helmbrechts Kappe, auf die zuerst Mario Klarer hingewiesen hat,26 sowie überhaupt an die Spuren, die die Imaginationstheorie in den zentralen ekphrastischen Passagen des Antike- und Artusromans bis hin zu Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue hinterlassen hat.27 Keine literarische Verarbeitung der Imaginationstheorie in mittelhochdeutscher Epik führt aber näher an den Kern des Runkelsteiner Projekts heran als die descriptio des Palastes in der Candacia-Episode des ›Straßburger Alexander‹. Entscheidend für eine imaginologische Lektüre dieses ›Romans im Roman‹ ist sein argumentativer Bezug auf die Souveränitätsdebatte, die Alexander zuvor mit dem Kynikervölkchen der Occidraten auszufechten hatte. Auf deren Frage, wieso er sich angesichts seiner Sterblichkeit um etwas so Eitles wie weltliche Macht kümmere, gibt er zur Antwort, solange er lebe und seiner Sinne Herr sei,

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den Bedingungen eines Blickregimes, für das Innerlichkeit der Effekt einer Simulation und ihrer technischen Apparatur ist. Im Gegensatz dazu ist die Erzeugung von imagines unter den epistemologischen Voraussetzungen der Pneumophantasmalogie das Ergebnis eines in seine Innerlichkeit vollkommen eingeschlossenen Geschehens, auf das die Artefakte um ihrer bloßen Wahrnehmbarkeit willen zwangsläufig und ohne Alternative Rücksicht zu nehmen haben. Ihr einziges Medium ist die PhantasmenProduktion vor dem inneren Auge. Vgl. Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 321–337, bes. S. 326f. Bei Thomasin geht es vor allem um die Verse 8789–8882 (vgl. Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast. Secondo il Cod. Pal. germ. 389, Heidelberg con le integrazioni di Heinrich Rückert e le variante del Membr. I 120, Gotha, a cura di Raffaele Disanto, Triest 2001, S. 144f.). Vgl. Mario Klarer, Ekphrasis, or the Archeology of Historical Theories of Representation: Medieval Brain Anatomy in Wernher der Gartenaere’s Helmbrecht, Word and Image 15 (1999), S. 34–40. Vgl. Hans Jürgen Scheuer, Numquam sine phantasmate. Antike in mittelalterlicher Imagination, in: Germanistik in/und/für Europa. Faszination – Wissen. Texte des Münchner Germanistentages 2004, hg. von Konrad Ehlich, Bielefeld 2006, S. 381– 390, sowie vom selben Verfasser, Hermeneutik der Intransparenz. Die Parabel vom Sämann und den viererlei Äckern (Mt 13,1–23) als Folie höfischen Erzählens bei Hartmann von Aue, in: Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und den Künsten, hg. von Steffen Martus und Andrea Polaschegg, Bern [usw.] 2006 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik; NF 13), S. 337–360.

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müsse er das tun, was seinem Platz in der Weltordnung entspreche: uneingeschränkt zu herrschen über die äußere wie die innere Welt.28 Die Begegnung des Weltherrschers mit Candacia liest sich nun wie eine Probe auf’s Exempel, ob Alexander zurecht davon ausgehen kann, meister von sıˆnen sinnen zu sein. Markus Stock hat die Königin vom östlichen Ende der Welt prägnant als »Herrin der Bilder« charakterisiert.29 Daß dies nicht nur im Hinblick auf ihre Prachtentfaltung gilt, sondern verblüffend konkret ihre Klugheit im Regieren über die Innenräume des Imaginären betrifft, zeigt die Struktur ihrer Palastanlage:30 1. Der Empfangsraum oder kuninginnen sal trägt durch seine Ausstattung alle Merkmale der imaginatio: Sein innerer Glanz aus tiefster Schwärze allegorisiert die innere Illumination des Sehapparates. Der tuˆre umbehanc (V. 5949), ein von Candacia mit iren tiefen sinnen (V. 5972) gefertigter Bildteppich, zeigt in Szenen des höfischen Festes und der Jagd die Bewegtheit der Einbildungskraft. Ein seltsamer, pneumatisch betriebener Automat, das scoˆne tier, das unter anderem seine Stimme erhebt und alsein pantier (V. 6026) süß duftenden Atem verströmt, komplettiert, indem er Gehör und Geruchssinn anspricht, die Sinneseinträge in den Innenraum des sensus communis. 2. In den folgenden vier kemenaten durchläuft Alexander als Begleiter Candacias Grade wachsender memoria-Intensität, wie sich wiederum an den Raumattributen (rot, unzerstörbar, selbstbeweglich) ablesen läßt. Im letzten Raum deckt Candacia das Incognito Alexanders auf, indem sie ihm mit seinem wirklichen Namen und seinem Porträt konfrontiert, das ihn nicht als Gott, sondern als sterblichen Menschen zeigt. Alexander muß erkennen, daß seine Gastgeberin ihn durchschaut, in eine Falle gelockt und ohne Waffen, nur durch List überwunden hat. Am intimsten Ort der Erinnerung, dem Sitz des Selbstbildes, stößt er an die Grenzen seiner Macht, die genau in der innersten Funktion seines Sinnesapparates liegen, und vernimmt als nunmehr entthronter meister sıˆner sinne aus dem Mund seiner Bezwingerin das memento mori. 28

29

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Vgl. Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besanc¸on und den lateinischen Quellen, hg. und erkl. von Karl Kinzel, Halle/Saale 1884 (Germanistische Handbibliothek 6), S. 285–291 (V. 4762–4889). Markus Stock, Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ›Straßburger Alexander‹, im ›Herzog Ernst B‹ und im ›König Rother‹, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 122. Zur ausführlicheren Darstellung und Einordnung der Alexander-Candacia-Episode in den mittelalterlichen Souveränitätsdiskurs vgl. Hans Jürgen Scheuer, Cerebrale Räume. Internalisierte Topographie in Literatur und Kartographie des 12./13. Jahrhunderts. (Hereford-Karte, ›Straßburger Alexander‹), in: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. von Hartmut Böhme, Stuttgart/Weimar 2005 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 27), S. 12–36.

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115

3. Im höchstgelegenen dritten Abschnitt des Palastes schließlich, dem slafgadem der Königin, in dem nach der hirnanatomischen Analogie die ratio anzusiedeln wäre, lieben Alexander und Candacia einander im Bett der Königin. Dies besiegelt zum einen die Übernahme der Gewalt über die ratio durch die minne. Zum anderen kulminiert die Passage in der aufwendig inszenierten Hochzeit zwischen dem Herrscher über die Welt und der Herrscherin über die S i n n e n welt. An diesem Punkt vollendet sich die Initiation Alexanders in die arcana imperii, die innersten Geheimnisse des Königtums. Sie bestehen nach der allegorisch verschlüsselten Lehre des ›Alexanderlieds‹ in der Erkenntnis, daß das Wesen des Herrschers gespalten ist in die gottgleiche Singularität seiner Amtsmacht und in die Nichtigkeit seiner menschlichen Existenz. Erst nach dieser Initiation erhält Alexander deshalb die Insignien der Königsherrschaft aus der Hand der sinnreichen Candacia: einen halsperc gut (V. 6369), einen guˆten mantel (V. 6382) und nicht zuletzt eine guˆte croˆne (V. 6387). 4. In einem descensus dringt Alexander schließlich ein in eine cruft, die was alt (V. 6398). Sie ähnelt einer Orakelstätte, in der er die oberste Gottheit nach dem genauen Zeitpunkt seines Todes befragt. Daß ihm als sterblichem Menschen dieses Vorauswissen verweigert wird, weist die Krypta als die unzugängliche Kammer der providentia aus, die allein dem göttlichen, hier heidnisch als Mantik verkappten intellectus offensteht. Alexanders Gang durch Candacias Palast läßt sich so verstehen als Passage durch den Wahrnehmungsapparat des Herrschers und als anatomische Exploration der Grenzen weltlicher Souveränität. Seine Passage zeigt, daß die Legitimation jedes adligen Herrschaftsanspruchs wesentlich verbunden ist mit dem Problem der Beherrschbarkeit der Bilder, deren Sitz die Innenräume des Imaginären sind. In genauer Analogie zu dieser Problematik ist das Runkelsteiner Bildprogramm entworfen, dessen Realitätsanspruch sich verwirklicht in der Evokation und Reinigung der inneren Bilder höfischer Kultur. Jenseits bloß repräsentativer Funktionen bilden sie, als planvoll angelegtes Ensemble betrachtet, den Schauplatz, auf dem sich der ständische sensus communis des Adels allererst konstituieren und im Horizont eines theologisch geläuterten Bildverständnisses perfektionieren kann. Indem der Besucher sich durch die Kammern bewegt, beobachtet er an den Wandmalereien die Prozesse, die sich beim Anblick der Bilder in den Kammern des eigenen Wahrnehmungsapparates abspielen. Die manifeste Existenz des Baus geht so auf in einem medialen Arrangement miteinander kommunizierender Innenräume. Wie in der einleitenden Anekdote Augustins über das phantasticum hominis lassen sich diese nicht mehr nach der Differenz real/fiktiv unterscheiden. Denn außerhalb der Innerlichkeit des Imaginären gibt es keinen Ort der menschlichen Wahrnehmung, außerhalb ihrer Kammern keinen anderen Schauplatz innerweltlicher Realität.

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Abb. 1:

Westpalas. ›Badestube‹: Animierte Phantasmen.

Abb. 2:

Westpalas. ›Badestube‹: Illuminierte Balkendecke.

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Abb. 3a:

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Westpalas. ›Badestube‹, Fensterlaibung: Ritter mit Falken, Symbol der Jagd nach Minne.

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Abb. 3b:

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Westpalas. ›Badestube‹, Fensterlaibung: Dame mit Krone, Symbol der Herzenskönigin.

Die Realität der inneren Bilder

Abb. 4:

Westpalas. ›Turniesaal‹: Tanzszene.

Abb. 5:

Sommerhaus. Außenwand: Triaden.

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Abb. 6:

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Sommerhaus. ›Tristan-Zimmer‹: Terra-verde-Darstellung mit rotmarkierter Drachenzunge.

Die Realität der inneren Bilder

Abb. 7:

Grundriß Runkelstein. Die drei Kompartimente der Burganlage.

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Abb. 8:

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Burgkapelle. Blindenheilung am Sarkophag der Katharina.

Die Realität der inneren Bilder

Abb. 9:

Burgkapelle. Christopherus und das Kreuzzeichen als Apotropaion.

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Abb. 10:

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Burgkapelle. Eingangstür: Vera Icon-Fragment.

Stefan Seeber

Vor dem holen steine erstuonden aber diu sunderbaeren maere (84,4) Zu den Raumstrukturen der ›Kudrun‹* »Das eigentliche ›fundamentum divisionis‹ liegt zuletzt nicht in den Dingen, sondern im Geiste: Die Welt hat für uns die Gestalt, die der Geist ihr gibt.« Ernst Cassirer

Der neue Blick auf die Dichtung – der Raum Die Forschung zur ›Kudrun‹ befindet sich im Wandel. Nachdem jahrzehntelang der mindere Wert der Dichtung und das geringe künstlerische Vermögen ihres Dichters betont worden waren, hat die Arbeit Kerstin Schmitts zur ›Poetik der Montage‹ einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Die Künstlichkeit der Komposition wird nun mehr als Artifizialität positiv bewertet, der Patchworkcharakter der Episodenreihung als poetisches Konzept verstanden, und beides wird als Ausdruck der literarischen Grundstimmung des 13. Jahrhunderts begriffen, die nachklassisches Epigonentum bewußt und auch spielerisch in Szene setzt.1 Die Umetikettierung von Schwächen zu Stärken kann dabei allerdings nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen Interpretation der Dichtung sein, die über das Aufzeigen der – wie immer bewerteten – Mängel im Vergleich zu den klassischen Dichtungen der Zeit um 1200 hinaus die eigenständigen Gestaltungsmerkmale der ›Kudrun‹ zur Kenntnis nimmt. o Eines der Desiderate der Erforschung des puech [...] von Chautrun 2 ist eine erneute Analyse der Raumstrukturen, unter den neuen Vorzeichen, die die Germanistik in den letzten Jahren entwickelt hat.3 Bislang ist der Raum in der * 1 2 3

Für kritische Lektüre und Zuspruch danke ich Almut Suerbaum herzlich. Kerstin Schmitt, Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der ›Kudrun‹, Berlin 2002 (Philologische Studien und Quellen Heft 174). Kudrun. Die Handschrift, hg. von Franz H. Bäuml, Berlin 1969, S. 46 (CXLr, 1a). Vgl. u. a. den wegweisenden Aufsatz von Elisabeth Lienert, Raumstrukturen im ›Nibelungenlied‹, in: 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Heldendichtung in Österreich − Österreich in der Heldendichtung, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 1997 (Philologica Germanica 20), 103–122, sowie die Arbeit von Andrea Glaser, Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen

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›Kudrun‹ nur im Hinblick auf etwaige Verbindungen zu realer Geographie untersucht worden,4 nie als »poetischer Raum«,5 d. h. als Teil der Fiktion der Dichtung. Gerade in dieser Hinsicht jedoch bietet der Raum einen hervorragenden Ansatzpunkt für eine neue Interpretation der Dichtung,6 da sich besonders hier (ebenso wie im Bereich der Zeitangaben) die relative Kohärenz der Angaben von der für die Handlung so oft bemängelten fehlenden Konsistenz abhebt.7 Auch wenn die einzelnen Reiche nicht auf einer Landkarte verzeichnet werden können, bleiben die Entfernungen von A nach B im Rahmen der Dichtung immer dieselben: So ist etwa für den Weg zwischen Hetels Burg und Seeland immer eine Reise von 6 Tagen einzuplanen.8 Auffällig ist, daß sich in der ›Kudrun‹ zahlreiche Schilderungen von Außenräumen, also Strand, Meer, Inseln finden, die Darstellung von Innenräumen dagegen spärlich gesät ist. Abgesehen von Hagens Aufenthalt in einer Höhle auf der Greifeninsel werden Innenräume als dezidiert von der Außenwelt abge-

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Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2004 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1888) und den Sammelband Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter, hg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer, Berlin/New York 1998 (Miscellanea Mediaevalia 25). So etwa bei David Blamires, The Geography of ›Kudrun‹, MLR 61 (1966), S. 436– 445, Theodor Frings, Zur Geographie der Kudrun, PBB (Halle) 91 (1971), S. 342– 346, (zuerst: ZfdA 61 (1924), 192–96), Roswitha Wisniewski, Kudrun, Stuttgart 2 1969 (Metzler Realienbücher Abt. D), S. 50–60, sowie Werner Hoffmann, ›Kudrun‹. Ein Beitrag zur nachnibelungischen Heldendichtung, Stuttgart 1967 (Germanistische Abhandlungen 17), S. 300–306; mit anderem Blickpunkt Helmut Maisack, ›Kudrun‹ zwischen Spanien und Byzanz. 5.–13. Jahrhundert, Berlin 1978 (Philologische Studien und Quellen 90). Zu diesem Terminus vergleiche Horst Brunner, Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart 1967, S. 16. So auch Barbara Siebert, Rezeption und Produktion. Bezugssysteme in der ›Kudrun‹, Göppingen 1988, S. 179–182 mit Verweis auf Werner Roesler, Handlungslokalisierung im ›Kudrunlied‹. Historische Genealogie oder literarische Typologie, Diss. Tampere 1978. Siebert interpretiert den Raum nicht anhand der Cassirerschen Paradigmen, sondern postuliert eine strukturelle Weg-Ziel-Erfüllung in Analogie zur Aventiure-Struktur der Artusepik. Friedrich Panzer, Hilde-Gudrun. Eine sagen- und literaturgeschichtliche Untersuchung, Halle/Saale 1901, S. 89–140. Vgl. Str. 816 und 1652. Zum Nachweis der Konsistenz der Zeitangaben sei nur auf folgende Beispiele hingewiesen: Als Hilde sich von ihren präsumtiven Entführern drei Tage Vorbereitungszeit erbittet (Str. 410), terminiert Horant folgerichtig die Abfahrt aus Irland auf den vierten Morgen nach dem Gespräch mit Hilde (Str. 422). Kudruns Gefangenschaft dauert 13 Jahre (Str. 1088), die sich aus unterschiedlich langen einzelnen Abschnitten verschiedener Demütigungen fast exakt addieren lassen (vgl. Str. 1011, 1021, 1022, 1070). – Die ›Kudrun‹ zitiere ich nach der ATB-Ausgabe von Stackmann (Kundrun, nach der Ausg. von Karl Bartsch hg. von Karl Stackmann, Tübingen 2000 [ATB 115]) unter Angabe von Strophe und Vers. Auf Stackmanns Anmerkungen zum Text verweise ich als ›Stackmann [Anm. 8]‹ mit Angabe der Seitenzahl.

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schlossene Örtlichkeiten erst am Ende der Dichtung, nach Kudruns Heimkehr nach Hegelingen, greifbar. Die Außenräume und ihre Relation sind damit genau nachzuvollziehen, die Innenräume hingegen erscheinen diffus und ohne genaue Grenzsetzungen. Auch der Hof als funktionierendes Element gesellschaftlicher Bindung ist nur am Ende der Dichtung präsent, sein Bestand scheint sich ebenso wie ein geordneter architektonischer Innenraum erst im Laufe der Dichtung zu entwickeln. Aus diesen Beobachtungen speisen sich die folgenden Überlegungen. Analyseinstrument für die Interpretation sollen dabei die Gedanken der Literaturwissenschaft sowie der Philosophie zur Bedeutung des Raumes in Dichtung und Geschichte sein. Zum einen, literaturwissenschaftlich betrachtet, wird der Raum in der Literatur des Mittelalters oft als Ausdruck für die »psychologische Mehrdimensionalität des Helden«9 begriffen: Die Darstellung unterschiedlicher Außenräume verweise, so hat bereits 1986 Horst Wenzel postuliert, auf den Innenraum der Figur in seiner Mannigfaltigkeit, die nicht durch psychologisierende Terminologie zum Ausdruck gebracht werden könne. Paul Zumthor hat für das Mittelalter generell von der Vorstellung eines »espace personalise´«10 gesprochen, so daß Natur und Landschaft in der Dichtung den »Schlüssel zur menschlichen Befindlichkeit«11 in die Hand des Interpreten geben. Dieser Ansatz scheint wenig auslegungs- und erklärungsbedürftig, allein verwundert, daß die Reaktionen der Figuren auf Handlungen im Raum nicht immer der Umgebung zu entsprechen scheinen, die doch ihre psychologische Disposition widerspiegeln soll; man denke etwa an Kudruns Flucht vor ihren Befreiern am Strand von Ormanie (1207–1211). Hier besteht folglich Klärungsbedarf, um zu einer angemessenen Interpretation zu gelangen. Um die Probleme, die sich bei der Betrachtung von Raum und Figur in ihrer Verbindung ergeben, zu lösen, wird Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ einen philosophisch-theoretischen Rahmen bieten. Cassirer umreißt einen Weltbildwandel von primitiven Gesellschaften bis ins technologische Zeitalter, der das Mittelalter und als Zeitalter mythisch-religiösen Bewußtseins mit einer Tendenz zur Allegorisierung mit einbezieht.12 Seine Vor9

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Horst Wenzel, Ze hove und ze holze – offenlıˆch und tougen. Zur Darstellung und Deutung des Unhöfischen in der höfischen Epik und im Nibelungenlied, in: Höfische Literatur. Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983), hg. von Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 5), S. 277–300, hier S. 284, vgl. auch Glaser [Anm. 3], S. 27. ˆ ge, Paul Zumthor, La mesure du monde. Repre´sentation de l’espace au Moyen A Paris 1993 (Poe´tique), S. 35. Lienert [Anm. 3], S. 110. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II. Das mythische Denken, Text und Anm. bearb. von Claus Rosenkranz, Hamburg 2002 (ECW 12), S. 301: »Es ist vor allem das mittelalterliche Denken, an dem man sich diesen fortschreitenden geistigen Prozeß der Allegorisierung deutlich machen kann.«

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stellung von der Entwicklung der Weltwahrnehmung durch den Menschen ist inzwischen zur Grundlage zahlreicher Studien der Kulturanthropologie13 wie auch der Germanistik geworden,14 auch die ›Kudrun‹ ist bereits im Zusammenhang mit Cassirers Theorie des Mythos untersucht worden.15 Ich möchte im folgenden einen kurzen Umriß seiner Idee mit besonderem Schwerpunkt auf der Vorstellung von der Bedeutung des Raumes nachzeichnen, um mich dann mit diesem theoretischen Rüstzeug der ›Kudrun‹ zuzuwenden.

Cassirers Konzept des mythisch-religiösen Raumes ... Cassirer unterscheidet, idealtypisch geschieden, Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Technik und Wissenschaft,16 die als Stationen menschlichen Weltbegreifens auszumachen sind. Für das Mittelalter sind bisher nur die schwer zu trennenden Bereiche von Mythos und Religion nutzbar gemacht worden,17 ich möchte darüber hinaus auch die ästhetische Raumwahrnehmung in meine Überlegungen einbeziehen. Cassirer selbst hat die Bedeutung des Raumes und seiner Wahrnehmung sowohl für den mythisch-religiösen als auch für den ästhetischen Zugang zur Welt betont,18 so daß hier auf seine ausführlichen Ana13 14 15

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Vgl. z. B. Tzotcho Boiadjiev, Loca nocturna – Orte der Nacht, in: Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter [Anm. 3], S. 439–451. Zuletzt Glaser [Anm. 3]. Jan-Dirk Müller, Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen-Episode in der ›Kudrun‹, in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Udo Friedrich und Bruno Quast, Berlin/New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 197–217. Vgl. Ernst Wolfgang Orth, Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart, in: Ders., Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie: Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996 (Studien und Materialien zum Neukantianismus 8), S. 2–25 [zuerst: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), S. 119–136], S. 2. Mit zusätzlicher Betonung der Form »Geschichte« unter Auslassung von »Technik«: Birgit Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 6), S. 75. Vgl. etwa Cassirers Ausführungen in seinem Aufsatz ›Die Begriffsform im mythischen Denken‹, in: Ernst Cassirer, Aufsätze und kleine Schriften (1922 – 1926), Text u. Anm. bearb. von Julia Clemens, Hamburg 2003 (ECW 16), S. 3–73, in dem er die sukzessive Ausformung religiöser Sichtweisen auf der Basis mythischer Anschauungen in extenso erörtert. Paradigmatisch formuliert er in Cassirer, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Ernst Cassirer, Aufsätze und kleine Schriften (1927–1931), Text u. Anm. bearb. von Tobias Berben, Hamburg 2004 (ECW 17), S. 411–432, hier S. 419: »Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. Die Sinnstruktur ist das primäre und

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lysen zum Raum zurückgegriffen werden kann. Zuerst zum Mythos und seiner Raumwahrnehmung. Die mythische Weltsicht umschreibt Cassirer bildreich: »Die Welt gleicht einem Kristall, der, wie sehr man ihn auch in kleine und immer kleinere Teile zerschlagen mag, doch in ihnen allen immer noch die gleiche charakteristische Organisationsform erkennen läßt.«19 Diese Organisationsform ist die Aufteilung der Welt nach der Dichotomie von Heiligem und Profanem, die alles durchdringt und kein Objekt unbewertet läßt. Dabei werden dem Bereich des Heiligen die Attribute Sicherheit, Geborgenheit, Schutz etc. zugeordnet, wohingegen mit dem Profanen Gefahr, Dunkelheit, das Böse und potentiell Tödliche assoziiert werden.20 Die Räume umgibt in dieser Perspektive ein »Zauberhauch«,21 die Wertungen des mythischen Weltbildes setzen das wahrgenommene Phänomen in direkten Bezug zur transzendenten Realität, die als ordnend verstanden wird. Die besondere Bedeutung der räumlichen Ordnung hat Cassirer wiederholt hervorgehoben:22 Im Raum spiegelt sich demzufolge die Einteilung der Welt in gut und böse besonders deutlich wider. Nur schwer von der mythischen Weltsicht zu trennen ist die religiöse Stellung zur Welt, bei der zwar eine dem Mythos fremde Trennung zwischen Urbild und Abbild vorgenommen wird, die aber dennoch ihre mythischen Wurzeln nicht zu leugnen vermag.23 Im folgenden wird deshalb nicht trennscharf zwischen rein mythischer und religiöser Raumwahrnehmung geschieden, zumal Cassirer selbst das Mittelalter als Zeitalter der Ausbildung eines religiösen Bewußtseins kategorisiert, in dem der Prozeß der Allegorisierung immer weiter voranschreite,24 ohne daß die mythische Basis verloren gehe: Vom Christentum spricht er als einer Religion mit mythischer »Bodenständigkeit«.25 Ich grenze

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bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.« Vgl. auch Orth [Anm. 16], S. 6. Cassirer [Anm. 17], S. 40. Cassirer [Anm. 12], S. 116 sowie Cassirer [Anm. 18], S. 420: »Jeder Ort steht hier in einer eigentümlichen Atmosphäre und bildet gewissermaßen einen eigenen magischmythischen Dunstkreis um sich her: Denn er ist nur dadurch, daß an ihm bestimmte Wirkungen haften, daß Heil oder Unheil, göttliche oder dämonische Kräfte von ihm ausgehen.« Da Cassirer die eigentlich eng verbundenen Phänomene von Zeit und Raum in seinem Werk getrennt betrachtet, klammere auch ich hier die Zeit als Faktor aus und beschränke mich auf eine Analyse der Raumstrukturen; vgl. auch Cassirer [Anm. 12], S. 126. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III. Phänomenologie der Erkenntnis, Text u. Anm. bearb. von Julia Clemens, Hamburg 2002 (ECW 13), S. 169. So z. B. Cassirer [Anm. 12], S. 122. Cassirer [Anm. 12], S. 279. Vgl. auch Cassirer [Anm. 17], S. 59, wo Cassirer ebenfalls besonders den mythischen Hintergrund monotheistischer, ethisch fundierter Religionen betont. Vgl. Anm. 12. Cassirer [Anm. 12], S. 291.

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folgerichtig vom mythisch-religiösen Raum den ästhetischen ab, ohne für den mythisch-religiösen Bereich in jedem Fall eine Binnendifferenzierung vorzunehmen.26 Plausibel erscheint die – von Cassirer selbst nicht explizit vorgenommene – Verbindung von Mythos und Literatur bei einem Blick auf die mittelhochdeutsche Dichtung, finden sich doch in Texten besonders der Epik immer wieder Hinweise darauf, wie sehr die nicht eingefriedete Welt als unheimlich und bedrohlich wahrgenommen wurde. Bezeichnend ist hierbei, daß nicht z. B. der Wald27 oder das Meer28 per se als gefährlich und böse gelten, sondern daß eine Wertung immer daran geknüpft ist, ob eine höfische Form des Lebens an einem bestimmten Ort möglich ist oder nicht. Wie sehr die höfische Lebensweise Diesseitiges mit Jenseitigem verknüpft, also eine Gottgebundenheit des irdischen Strebens betont, ist dabei nicht erst seit den Anfangsversen des ›Iwein‹ ein allgegenwärtiges Thema. Das Höfische ist in seinen Grundzügen mit dem Eingefriedeten, Sakralen verknüpft, und eventuelle Einbrüche des Wilden, Unzivilisierten in diese höfische Sphäre sind mit ihrem Bedrohungspotential vor diesem Hintergrund zu bewerten.29 Somit knüpft die Kategorie des Höfischen nicht nur an den in der Einleitung erwähnten Innenraum der Figuren an, sondern ist auch eng mit dem mythisch-religiösen Bereich der Raumordnung verbunden. Der Moment des Einbruchs wilder Elemente in diese Einfriedungen ist dabei der Ansatzpunkt für weitere Überlegungen, die im Verlauf der Untersuchung noch angestellt werden müssen.

... und seine Realisierung in der ›Kudrun‹ Bislang ist immer die Dichotomie von Heiligem (Sicherem, Gutem) und Profanem (Bösem, Gefährlichem) in den Blick genommen worden, wenn über die Bedeutung des Raumes in der mittelhochdeutschen Dichtung gehandelt wurde; die Brüche wurden nie als Störungen der Weltsicht begriffen, die über das mythische Konzept hinausreichen können. Und auch in der ›Kudrun‹ findet

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Vgl. zur engen Verbindung von Mythos und Religion auch Recki [Anm. 16], S. 85 passim. Zum Wald vgl. z. B. Marianne Stauffer, Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter, Bern 1959 (Studiorum Romanicorum Collectio Turicensis X). Zum Meer vgl. z. B. Hugo Rahner, Heiliger Homer, II. Odysseus am Mastbaum, in: Ders., Griechische Mythen in christlicher Deutung, Zürich 1957. Wenzel [Anm. 9], S. 283f.

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sich die mythisch-religiöse Raumwahrnehmung wieder.30 Allem voran ist das Meer der Raum, in bzw. auf dem man in Gottes Hand ist, zumal das Personal der ›Kudrun‹ durchgängig aus Nichtschwimmern besteht.31 Die Magnetbergepisode macht deutlich, wie wenig der Mensch im fremden, feindlichen Raum auszurichten vermag: sunderwinde (1125,1) treiben die Schiffe von Kudruns Befreiern auf dem Weg nach Ormanie zum Berg hin, und obwohl man auf die Verwendung von Eisen beim Schiffsbau verzichtet hat (1109), zieht der Berg die Schiffe zu sich (1126,3), das vorgegebene Schicksal ist unausweichlich, denn der Magnetberg zieht mitnichten nur Eisen an, auch die guote[n] segelboume der Schiffe biegen sich in seine Richtung (1126,4). Wenn sich die Masten biegen, die normalerweise aus Holz gefertigt sein sollten, ist die Logik des Magnetberges außer Kraft gesetzt. Da es außerdem dennoch möglich ist, der Anziehungskraft des Berges durch günstige Winde zu entkommen, ist das Motiv vollkommen von seinem üblichen Bedeutungsrahmen, der etwa im ›Herzog Ernst‹ nachzuvollziehen ist, losgelöst.32 An der Spitze der Macht des Magnetberges steht Gottes Kontrolle über die Naturkräfte – dementsprechend stark ist die Episode auch religiös aufgeladen, es wird gebetet (1133,1), und allein gotes werc und ouch sıˆne helfe (1135,2f.) führen dazu, daß die Reise glimpflich ausgeht. Der Mensch ist auf dem Meer hilflos,33 auch die aufmunternde persuasive Rede Wates, der durch ein wazzermaere (1128,3) die Situation positiv umdeuten will, verfängt nicht; allein 30

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Ähnlich argumentiert auch Ann-Katrin Nolte, Spiegelungen der Kriemhildfigur in der Rezeption des ›Nibelungenliedes‹. Figurenentwürfe und Gender-Diskurse in der ›Klage‹, der ›Kudrun‹ und den ›Rosengärten‹ mit einem Ausblick auf ausgewählte Rezeptionsbeispiele des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, Münster 2004 (Bamberger Studien zum Mittelalter 4), S. 108f., die Wenzels Dichotomie von Wildnis und Hof auf die ›Kudrun‹ übertragen will. Als Kudrun etwa von ihrem Entführer Ludwig ins Wasser geworfen wird, wird sie an den Haaren herausgezogen, sonst würde sie ertrinken (960f.): Keiner springt ihr nach, um sie zu retten. Vgl. Herzog Ernst B, V. 3883–4068 (in der Ausgabe: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch, in der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A hg., übers., mit Anm. u. einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski, Stuttgart 1979 [RUB 8352]). Hier rettet das Gebet den Männern das Leben, verhindert aber nicht die Kollision mit dem Berg. Auch der Umstand, daß man Verpflegung für 20 Jahre bei sich hat, trägt nicht zur Beruhigung bei (1123,3). Obschon dieses Ausmaß an Verpflegung natürlich topischen Charakter hat, fällt auf, wie sehr der Dichter immer um das leibliche Wohl seiner Figuren bemüht ist, und zwar zu Lande und zu Wasser – immer wieder läßt er beiläufig einfließen, daß für alle und für lange Zeit genug zu essen vorhanden war, gerne betont er auch, daß die Verpflegung kostenlos gewährt wurde, so etwa in 1593,4. Den Dichter scheint eine Art Wolframscher Hunger und Futterneid anzutreiben, oder aber er flicht, neben zahlreichen anderen Reminiszenzen an andere Werke, auch dieses Merkmal einer berühmten Dichtung in seine Ausführungen ein.

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die Naturgewalten, die von Gott gesteuert werden, können Rettung bringen und die Schiffe aus dem negativ konnotierten Raum herausführen.34 Die Magnetbergepisode zeigt außerdem, wie sehr intensivierte Darstellung von Räumlichkeit mit der Schilderung von Emotionen verknüpft ist. Der Raum wird zum ›espace personalise´‹ nicht nur, indem seine Ausweglosigkeit und potentiell tödliche Bedrohlichkeit auf die Wahrnehmung der Figuren hinweisen; signifikant ist vielmehr die Parallelisierung von Raumdarstellung und Präsentation von Emotionen: Es wird mit jaˆmer (1127,1) geweint, auch die besten Seeleute können sich der Tränen nicht enthalten (1126,4), die allgemeine Stimmung ist von Furcht geprägt (1133,4). Auch zu Lande finden sich solche mythisch strukturierten Räume, denen jede Einfriedung fehlt. Besonders eindrücklich wird ein solcher mythischer Raum im Zusammenhang mit dem Kampf auf der Insel Wülpensant gezeichnet. Der Kampfplatz für die Auseinandersetzungen zwischen Kudruns Entführern und ihren Verfolgern ist ein wert vil breiter und hiez der Wülpensant (848,1). Es wird allein unter Zuhilfenahme von sogenannten »raumgesättigten« Wörtern35 (wert, sant, wilder habe etc.) eine Szene ausgebreitet, bei der Handlung Raumdarstellung ersetzt: Die Angreifer kommen übers Meer immer näher (853), ihr Vordringen auf den Strand erfährt erbitterten Widerstand (860), die zahlreichen Einzelkämpfe münden in ein Blutbad (869), bei dem auch Kudruns Vater sein Leben verliert (880). Einen Schutz gewährenden Innen- oder Rückzugsraum gibt es nicht, von den Entführern heißt es si enwesten war entrinnen (878,3), die terra horribilis, die dargestellt wird, zeigt in mythischer Raumordnung einen Platz völliger Profanität. Eine seltsame Bruchstelle in der immanenten Logik des Geschehens fällt dabei auf: Die Entführer vermögen den Verfolgern letztendlich zu entkommen, indem sie sich schlafend stellen und zugleich genügend Krach schlagen, um den Lärm der Abfahrtsvorbereitungen zu über34

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Daß das Bild vom Schiff, das dem Meer ausgeliefert ist, an alte Metaphorik anknüpft, sei am Rande erwähnt. Indem der Dichter seine Darstellung in die lange Traditionsreihe stellt, insinuiert er Unterstützung durch die Autorität der Tradition und größere Wirkmächtigkeit. Vgl. Peter Dinzelbacher, Europa im Hochmittelalter 1050–1250. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2003, S. 180 mit Hinweis auf das ›Ezzolied‹. Rainer Gruenter, Zum Problem der Landschaftsdarstellung im höfischen Versroman, in: Landschaft und Raum in der Erzählkunst, hg. von Alexander Ritter, Darmstadt 1975 (WdF CCCCXVIII), S. 293–335 [zuerst: Euphorion 56 (1962), S. 248–78], S. 297: »Das epische Personal bewegt sich in einer bestimmten Zeitdauer von einer Grenze des Schauplatzes zur anderen, die einzelnen Stationen dieses Prozesses werden durch Lokalangaben räumlich verdeutlicht, die Einzelstrecken addiert, so daß der Schauplatzraum dem Leser Zug um Zug vor Augen tritt, ohne mehr zu bieten als eine Art topographischer Unterrichtung. Die sogenannten raumgesättigten Wörter [Wüste, Gebirge, See, Wald etc.] beschreiben den Raum nicht, in dem sich die bezeichneten Objekte befinden oder den sie selbst in ihrer Lage und Beschaffenheit einnehmen, sondern sie suggerieren Raumvorstellungen, die sie nicht konkretisieren.«

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decken. Wenn in dieser Passage (893–897) nicht Schnarchen gemeint ist, was in den Bereich der Komikforschung führen würde, kann diese hanebüchene Methode zur Flucht nur eines bedeuten:36 An einem Ort absoluter Profanität, an dem jede Einfriedung unmöglich erscheint, werden alle Logik und aller Menschenverstand außer Kraft gesetzt. Profanität und Gottlosigkeit werden mit Ordnungslosigkeit gleich gestellt. Dieser Bruch der Ordnung setzt eine Neuorientierung in Gang: Die Verfolger geben die Jagd auf und ordnen den Raum neu. Auf dem blutgetränkten Kampfort wird ein Friedhof mit einem rıˆchen kloˆster (909,3) geschaffen. Der mythisch-religiös orientierte Geist kreiert eine sakrale Einfriedung, nicht nur als Zeichen der memoria, sondern auch als Bußhandlung, hatten die Verfolger doch für ihre Fahrt Kreuzfahrerschiffe gekapert und zweckentfremdet (838–843), eine Sünde, die zu rügen weder der Erzähler (845; 854,3f.) noch die Figuren selbst (914,4; 931f.) müde werden.37 Spätere Schenkungen, ein Münster, ein Spital und gesicherte Einkünfte lassen sodann einen dauerhaft angelegten Memorialort entstehen, der zuletzt die ganze Insel umfaßt: sıˆt nante man ez daˆ zem Wülpensande (950,4). Wenn dieser Memorialort – im übrigen auch als mentaler Innenraum des Gedächtnisses der Toten konzipiert – zu einem Mittel der Aufstachelung zum Kampf umfunktioniert wird (1121f.), durchbricht die ›Kudrun‹ allerdings traditionelle Bildmuster der mythischen, besonders auch der religiösen Ordnung des Raumes.38 Der Friedhof wird in dem Moment, in dem Wate und seine Mitkämpfer die Waisen der Gefallenen auf die Insel bringen, um sie dreizehn Jahre nach der Schlacht zu einem neuen Kampf aufzustacheln, jenseits der ursprünglichen Bestimmung mit neuer Bedeutung versehen, wobei die Wertung des Raumes nicht auf ein transzendentes Denkschema – Nu ruoche in got genaˆden, die daˆ sint gelegen (918,1) – zielt, sondern sehr diesseitig ausgerichtet ist. 36

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Vgl. auch den Kommentar Stackmanns [Anm. 8], S. 181 zu 893,2: »Die beiden Kriegslisten schließen einander im Grunde aus: denn entweder täuscht man Schlaf oder aber große kriegerische Geschäftigkeit vor, während man sich heimlich aus dem Staube macht«. Der Friedhof ist so reflektiertes Zeichen (im Sinne religiöser memoria) und direkte, mythisch gedachte Ursache-Wirkung-Relation, weil die Einrichtung des Gottesackers die Wirkung hat, Sünden abzutragen: Es zeigt sich wieder die untrennbar enge Verquickung von mythischen und religiösen Elementen im Sinne Cassirers. Im Sinne von Cassirer [Anm. 12], S. 275–306 (›Dialektik des mythischen Bewußtseins‹) kann die Einfriedung der Insel als Auseinanderdriften der sonst so eng verbundenen Bildwelten von Mythos und Religion gesehen werden: Im Moment der Umfunktionalisierung ist das mythisch-religiöse System gerade auch an seiner Doppelung der Funktionalisierung von Bildwelten gescheitert und wird überwunden; die memoria als religiöse, abstrahierende Idee (anstelle einer direkten Kommunikation mit wirkmächtigen Toten, die im Mythos zu finden wäre) und die quid-pro-quoBußleistung in mythischer Mentalität führen zur Implosion des Systems, als dessen Ausbreitungsgrenzen erreicht sind, und machen so den Weg frei für die neue, ästhetische Raumordnung und -nutzung.

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Zuletzt soll das berühmte Motiv der Wäsche waschenden Kudrun am Strand als Beispiel für eine mythisch-religiöse Raumgestaltung dienen, wobei auch hier, stärker noch als in der Umfunktionalisierung des Wülpensants, Brüche in der Konzeption der mythischen Weltsicht faßbar werden. Nach ihrer Hochzeit39 nutzt der abgelehnte Bewerber Hartmut die Abwesenheit von Ehemann und Vater, entführt Kudrun und bringt sie unter schwersten Bedingungen in seine Heimat Ormanie. Dort versucht seine ganze Familie, die Entführte durch immer neue Drohungen und Versprechungen dazu zu bringen, Hartmut zu heiraten. Nach anfänglichen Erniedrigungen durch Magddienste in der Burg wird die Königstochter letztendlich dazu gezwungen, am Strand vor der Burg Wäsche zu waschen. Dabei geht es zum einen darum, die vollständige Demütigung der in die ellende verschleppten Frau auszudrücken: Der Wechsel der Lokalitäten erlaubt hier, ganz in der von Wenzel geschilderten Weise, Einblick in das Innere der Figuren, der Strand und seine demütigende Konnotation ersetzen gleichsam eine psychologisierende Schilderung.40 Zum anderen wird vom Dichter eine konkrete physische Bedrohung Kudruns mit dieser herabsetzenden Aufgabe verbunden: Als ihre Befreiung näher rückt, spitzt sich die Lage zu, wenn Kudrun in bitterer Kälte barfuß waschen gehen soll und den Tod fürchtet.41 Sie bittet um Schuhe, aber ihre Peinigerin, in dieser Szene wie so oft mit dem Epitheton wülpinne (1203,1) versehen, lehnt ab: waz werret ir mir toˆte? (1203,4). Für die entscheidende Szene wird die Handlung zugespitzt, die Lebensgefahr ist nach dem Gespräch mit den Boten am Strand kein Thema mehr. Der Strand, an dem fünfeinhalb Jahre lang (1070,2) gewaschen wird, wird dabei niemals näher bestimmt, er heißt griez oder sant, über Klippen, Felsen, 39

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Zur Frage nach der Eheschließung und ihrem Rechtscharakter vgl. zuletzt Schmitt [Anm. 1], S. 227, weiters Eckart Loerzer, Eheschließung und Werbung in der ›Kudrun‹, München 1971 (MTU 37), S. 98–131 sowie Hoffmann [Anm. 4], S. 126, Anm. 4. Vgl. zur Ehepolitik außerdem Jerold C. Frakes, Brides and Doom. Gender, Property, and Power in Medieval German Woman’s Epic, Philadelphia 1994, bes. Kap. 7, und Thomas Grenzler, Erotisierte Politik – politisierte Erotik? Die politisch-ständische Begründung der Ehe-Minne in Wolframs ›Willehalm‹, im ›Nibelungenlied‹ und in der ›Kudrun‹, Göppingen 1992 (GAG 552). Wenzel [Anm. 9], S. 283f. Siebert sieht die ellende, die in der ›Kudrun‹ nur hier in solcher Dichte auftritt, als Signum der ganzen Raumgestaltung der Dichtung: Siebert [Anm. 6], S. 192–197. Für Siebert ist die Figur der Hildeburg paradigmatische Personifizierung von ellende. Insgesamt finden sich in der Dichtung 25 Belege des Wortes ellende, zusammen mit 45 Belegstellen für fremde mit all seinen Ableitungen ergibt sich eine große semantische Dichte von Verweisen auf Fremdheit: Begriffsglossar und Index zur Kudrun, bearb. v. Klaus M. Schmidt, Tübingen 1994 (Indices zur deutschen Literatur 29), S. 308 u. S. 157. Eine von Assoziationen geprägte Interpretation der Gemütszustände Kudruns anhand der Umgebung liefert Joseph Koch, Das Meer in der mittelhochdeutschen Epik, Münster 1910, S. 40f. wir müezen hiute sterben, tragen wir niht schuohe an den füezen (1202,2).

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Buchten o. ä. wird nichts berichtet. Die Schilderung setzt sich also auch hier aus ›raumgesättigten‹ Worten zusammen, verfehlt aber ihre Wirkung nicht: Der Raum ist gottlos und ausweglos im wahrsten Sinne des Wortes, im Hintergrund thront die Burg, von der aus man die Wäscherin beobachten kann, vor ihr liegt das Meer, es gibt keinen Ort des Rückzuges, kein eingefriedetes Gebiet, das ihr Schutz bieten würde. Dem wirkmächtigen Bild wird sogar die Logik der Handlung untergeordnet, da Meerwasser zum Waschen eigentlich gänzlich ungeeignet ist.42 Der mythische Raum erscheint hier als hoffnungslos profan, und ebenso wie auf dem Wülpensant ist diese Ausweglosigkeit die Bühne für scheinbar konfuse und schlecht motivierte Handlungen der Figuren. Während es den Entführern durch lautlosen Lärm gelang, unbemerkt von der Insel zu flüchten, scheint sich für Kudrun eine mythisch-religiöse Einfriedung im profanen Raum anzukündigen, als sie in der 24. Aventiure Besuch von einem sprechenden Vogel bekommt, der sich als Bote Gottes ausgibt (1167,3). Kudrun erfährt, daß Rettung naht, und für einen Augenblick ist ein rettendes Eingreifen Gottes plausibel, das den negativ konnotierten Raum umwerten würde.43 Doch es kommt anders. Als die Vorhut ihrer Befreier am nächsten Tage mit einiger Verspätung eintrifft, will Kudrun sich vor den zwei Kundschaftern (ihrem Ehemann und ihrem Bruder) verstecken, zu sehr schämt sie sich des laster[s] (1208,4), Wäscherin zu sein: Sozialer Status wird hier wichtiger genommen als die lebensnotwendige Befreiung. In einer mythisch-religiösen Weltsicht müßte sie darum bemüht sein, eine Einfriedung im feindlichen Gebiet zu erreichen, d. h. die Befreier dankbar zu empfangen; stattdessen sorgt sie sich um den Anblick, den sie bietet. Offensichtlich hat die höfische Kategorie des lasters, also der Schande bzw. Schmach, höhere Priorität als die mythische Kategorie des Schutzes: Höfische und mythisch-religiöse Einschätzung der Situation divergieren hier in besonderem Maße. 42

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Das hat bereits Karl Stackmann in seiner Einleitung zur ›Kudrun‹-Ausgabe 1965 betont: ›Kudrun‹, hg. von Karl Bartsch, 5. Auflage überarbeitet und neu eingeleitet von Karl Stackmann, Wiesbaden 1965, S.VII-CI, hier S. LXXXIV; vgl. zuvor schon Hellmuth Rosenfeld, Die ›Kudrun‹: Nordseedichtung oder Donaudichtung?, ZfdPh 81 (1962), S. 289–314, hier S. 296–299. Die Parallele zum Magnetberg, der hölzerne Masten verbiegt, sticht ins Auge: Offensichtlich wird der Bruch mit der Logik des Weltwissens bewußt eingesetzt, um zentrale Momente der Dichtung stärker ins Bewußtsein der Zuhörer zu heben. Vgl. Cassirer [Anm. 12], S. 122: »Wo immer das mythische Denken und das mythisch-religiöse Gefühl einem Inhalt einen besonderen Wertakzent verleiht, wo immer es ihn gegen andere auszeichnet und ihm eine eigentümliche Bedeutung beilegt, da pflegt sich ihm diese qualitative Auszeichnung im Bilde der räumlichen Sonderung darzustellen. Jeder mythisch bedeutsame Inhalt, jedes aus der Sphäre des Gleichgültigen und Alltäglichen herausgehobene Lebensverhältnis bildet gleichsam einen eigenen Ring des Daseins, ein umhegtes und umfriedetes Seinsgebiet, das sich durch feste Schranken gegen seine Umgebung abscheidet und das in dieser Abscheidung erst zu einer eigenen, individuell-religiösen Gestalt gelangt.« Diese Einfriedung würde im Falle Kudruns im Innern vollzogen werden.

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Das Gespräch zwischen Kudrun und den Spähern ist ein Verwirrspiel gegenseitigen Nicht-Erkennens und Täuschens, Kudrun gibt sich als ihre eigene Dienstmagd aus und fingiert ihren Tod (1242), ihrem Mann, der sie sodann zu beweinen beginnt, hält sie vor, daß sie auch Nachricht von seinem Tod erhalten habe (1246,2). Nachdem sich die Parteien erkannt haben, endet die doppelbödige Kommunikation dennoch nicht (1253) – unverrichteter Dinge fahren die Befreier wieder ab, um Kudrun mitsamt ihren Damen am nächsten Tag kriegerisch zu befreien: Nur eine Rettung naˆch eˆren (1259,3) ist akzeptabel. Im Sinne von Schmitts Theorie der engen Verhaftung im Sippenverband44 sind Listen und Täuschungsmanöver sinnlos, zumal wenn die Ankunft der Kundschafter von einem Boten Gottes angekündigt worden ist. Aus Kudruns Verhalten sprechen Vorsicht und Mißtrauen, sie zeigt Distanz zu dem eigentlich erwarteten Rollenverhalten als Entführte, die ihren Befreiern gegenübertritt. Der Innenraum der Figur, die Emotionalität, die gezeigt wird, ist nicht in Einklang zu bringen mit den Erwartungen, die der Text weckt. Dieser Umstand weist auf eine tiefreichende Skepsis gegenüber der Ankündigung des Vogels hin. Das Hinterfragen göttlicher Botschaften, das Versagen der Einfriedungen, führt aus der mythisch-religiösen Raumwahrnehmung heraus, Kudruns Zweifel und beginnende Autonomie im Handeln – mit all den Fehlern, die dieses Handeln birgt, man denke nur an das heldenepische siegesgewisse Lachen, das fast die ganze Befreiung scheitern läßt −45 führt zu einer anderen Stufe der Weltgestaltung, der des ästhetischen Raumes.

Der ästhetische Raum Cassirer hat sich zur ästhetischen Weltsicht weniger ausführlich geäußert als zum Mythos, seine – nie zusammenhängend ausformulierte −46 Ästhetik ist am Geniegedanken orientiert und für die deutsche Literatur stark goethezentriert.47 44 45

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Schmitt [Anm. 1], S. 293–302. Ein teil uˆz ir zühten lachen si began, / diu in vierzehen jaˆren freude nie gewaˆn (1320,1f.), vgl. weiter Gerlints Ankündigung daz lachen Kuˆdruˆnen koufent dıˆne rekken hiute tiure (1362,4). Das Lachen Kudruns erinnert an das Lachen von König Rothers Frau, als diese ihren Mann unter dem Tisch bei Hofe in Konstantinopel entdeckt (König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein, hg. von Ingrid Bennewitz unter Mitarbeit von Beatrice Knoll und Ruth Weichselbaumer, Stuttgart 2000 [RUB 18047], V. 3882: do lachete die gote), vgl. zu ›König Rother‹ Sebastian Coxon, do lachete die gote: Zur literarischen Inszenierung des Lachens in der höfischen Epik, Wolfram-Studien 18 (2004), S. 189–210, bes. S. 193–195. Vgl. Recki [Anm. 16], S. 108. Vgl. seine Ausführungen im Kapitel X in: Ernst Cassirer, An essay on man. An introduction to a philosophy of human culture, Text und Anm. bearb. von Maureen

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Die Vorstellung von Fiktionalität und gebrochener bzw. reflektierter Darstellung des Weltbildes etwa in einem literarischen Werk ist kein wesentliches Moment seiner Überlegungen geworden. Stattdessen sieht er die Kunst im Sinne von bildender Handlung des Menschen als paradigmatische Äußerung einer neuen, vom Mythos in ihrer Grundvoraussetzung geschiedenen Weltsicht: Der Mensch des ästhetischen Zeitalters begreift die Welt, die ihn umgibt, als formund veränderbares Objekt, ohne daß eine Dichotomie von Heiligem und Profanem oder der Versuch, Inseln des Sakralen zu schaffen, sein Tun leiten würden. ›Ästhetisch‹ bezeichnet folgerichtig in diesem Zusammenhang primär den Aspekt des Subjektiv-Formenden statt der wirklichen Implementierung von ästhetischem Wert in ein künstlerisches Werk. Auf den Raum bezogen, bedeutet die ästhetische Weltsicht folgendes: Der Mensch gestaltet den Raum nach seinen Bedürfnissen, statt sich in der Raumwahrnehmung an den Gottheiten zu orientieren, die in Bösem oder Gutem präsent erscheinen. Der Mensch wird Subjekt seiner Welt.48 Diese Weltsicht entsteht dabei nicht voraussetzungslos, so sehr sie in ihrer idealtypischen Ausgestaltung als symbolische Form der Kunst auf den ersten Blick vom Mythos unterschieden scheint: Der Mythos, von dem Cassirer auch als »Mutterboden«49 aller folgenden Entwicklungsstufen spricht, prägt auch die ästhetische Weltsicht, zumal sie den Raum ebenfalls als »echte[n] Lebensraum« wahrnimmt, der »aus den Kräften des reinen Gefühls und der Phantasie aufgebaut ist.«50 Die Cassirersche Kategorie des ästhetischen Raumes als Fortentwicklung aus dem mythisch-religiösen Raum ist, soweit ich sehe, bisher nicht auf mittelhochdeutsche Dichtung des 13. Jahrhunderts angewendet worden. Die Entwicklung, die sich in Kudruns Verhalten am Strand von Ormanie abzeichnet, begreife ich als einen Hinweis darauf, daß die Weltsicht der Figuren einem Wandel weg von der mythischen und hin zur ästhetischen Ordnung durchläuft. Dieser Wandel zeigt sich an der Oberfläche in Form von Handlungen, die vordergründig überhaupt nicht mit den Bedingungen der Situation und der Umgebung in Einklang gebracht werden können, auf einer Metaebene dagegen als

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Lukay, Hamburg 2006 (ECW 23). Eine deutsche Übersetzung liegt ebenfalls vor: Ders., Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser, Hamburg 1996 (Philosophische Bibliothek 488). Cassirer [Anm. 18], S. 423: »So ist der ästhetische Raum nicht mehr wie der mythische ein Ineinandergreifen und ein Wechselspiel von Kräften, die den Menschen von außen her ergreifen und die ihn kraft ihrer affektiven Gewalt überwältigen – er ist vielmehr ein Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt.« Ernst Cassirer, Sprache und Mythos, in: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926) [Anm. 17], S. 227–311, hier S. 266, vgl. auch Recki [Anm. 16], S. 84: »Der Mythos ist von daher als ein integrales Moment aller Kultur zu begreifen.« Cassirer [Anm. 18], S. 422.

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Signal für eine neue Gewichtung des Subjekts und seiner ›modernen‹ Zentrierung angesehen werden können. Diese These möchte ich anhand zweier weiterer Beispiele stärker fundieren. Dabei muß zuerst nachverfolgt werden, inwieweit gesicherte Räume (als Paradigma eines Weltbildes) aufgegeben werden zugunsten einer neuen, figurzentrierten Weltsicht. In einem zweiten Schritt ist zu fragen, wie diese neue Sicht mit einer Neubewertung auch des Höfischen zusammengehört, das eine eher untergeordnete und krisenhafte Rolle in den ersten beiden Handlungsteilen der Dichtung (Hagen- und Hildeteil) spielt.

Ästhetischer Raum in der ›Kudrun‹ I: Greifeninsel Besonders der Aufenthalt Hagens auf der Greifeninsel bietet sich als Beispiel für die Entwicklung von mythisch-religiöser Raumwahrnehmung hin zu ästhetischer Raumgestaltung und zurück an. Erst vor kurzem hat Jan-Dirk Müller der Episode eine umfassende Interpretation im Hinblick auf die »Verabschiedung« des Mythos gewidmet, bei der er auch Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zur Erklärung heranzieht.51 Sein Ergebnis: Die mythischen Versatzstücke, die in der Episode verwendet werden, stehen nicht mehr als Teil eines in sich geschlossenen mythischen Weltbildes vor dem Rezipienten, sondern sind vermischt mit religiösen Aspekten, die die Handlung überformen, sowie mit höfischen Kulturmustern, die ebenfalls dazu beitragen, die mythische Weltsicht zu dekonstruieren. Der Einsatz mythischer Elemente trägt somit, so Müller, gerade dazu bei, den Mythos als Weltsicht auslaufen zu lassen. Müllers Analyse ist in zahlreichen Punkten treffend; sie bleibt jedoch zu sehr auf die Greifenepisode beschränkt und blendet zudem die Problematisierung des Höfischen aus, die sich ebenso in der ›Kudrun‹ findet wie die Loslösung aus den mythisch-religiösen Strukturen. So betont Müller, daß Hagen »aus einer funktionierenden höfischen Ordnung herausgerissen« werde,52 wobei er nicht berücksichtigt, daß das Fest, das den Rahmen der Handlung abgibt, unter außerordentlich schwierigen Umständen zustande gekommen ist: Uote hat ihren Ehemann erst durch massiven Einsatz ihrer Überredungskünste davon überzeugen können, ein Hoffest zu veranstalten (27–33). Auch zeigt eine Analyse der Semantik der Festfreude eine enge Verbindung von freuden und swaere (50,4) wie auch von Lachen und Weinen – was die Ambivalenz der ausgelassenen Stimmung bei Hofe deutlich hervorhebt. Daß die Ausgelassenheit des Festes dem Greif die Gelegenheit zum Kindsraub bietet, erinnert schließlich an geistliche Bewertungskategorien, in denen Lachen wie Lärm und überschwengliche Freude als negative, sündenbehaftete Phänomene gelten.53 Die vernachläs51 52 53

Müller [Anm. 15]. Ebd., S. 206. »Nicht Gott gibt uns Gelegenheit zur Ausgelassenheit, sondern der Teufel«, betont

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sigte Aufsichtspflicht bei Hofe wird doppelt betont (53,4 und 57,2f.). Der Hof ist damit in ein Zwielicht gerückt, Hagen wird aus einer brüchigen Umgebung entführt. Für den Aufenthalt auf der Greifeninsel macht Müller eine Veränderung des mythischen Raumes plausibel, die die Entwicklung Hagens zum »Kulturheros«54 widerspiegle. Er versteht die Greifeninsel ebenso wie McConnell, der sich in mehreren Arbeiten der Greifenepisode gewidmet hat,55 als eine ›Anderwelt‹, »zugleich jenseitig und benachbart«.56 Diese Definition der ›Anderwelt‹ in der Kudrun ist schillernd, zumal die Insel sich nicht, wie Müller postuliert, sukzessive der bewohnten Welt annähert,57 sondern von Anfang an wol hundert lange mıˆle (80,3) von Irland entfernt ist. Der Greif kann die Strecke im Flug in drei Tagen bewältigen – der Rückweg per Schiff dauert dementsprechend fast sechsmal so lange.58 Die ›Anderwelt‹ ist in ihrem Charakter zudem mehrfach gebrochen: Zum einen ist Hagen nicht allein auf der Insel, sondern hat Gesellschaft von drei Prinzessinnen, die Gott ebenso wie ihn vor dem Schicksal bewahrt hat, Greifenfutter zu werden (73), zum andern ist die Insel prinzipiell

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etwa Johannes Chrysostomus in der sechsten Homilie seines Matthäus-Kommentars: Des Heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus, Erzbischofs von Konstantinopel Kommentar zum Evangelium des Hl. Matthäus, aus dem Griechischen übersetzt von Dr. P. Joh. Chrysostomus Baur, Benediktiner der Abtei Seckau, I. Band, nebst einer allgemeinen Einleitung über des Hl. Chrysostomus Leben, Schriften und Lehre, Kempten/München 1915 (Bibliothek der Kirchenväter 23), S. 112. Der mit religiöser Semantik aufgeladene Kontext der Entführungsszene scheint eine solche Deutung zu implizieren. Kerstin Schmitt, ›Men’s Studies‹ in der Mediävistik. Legitimationsstrategien von Männlichkeit und Herrschaft in der ›Kudrun‹, in: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000, »Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert«, hg. von Peter Wiesinger, Band 10: Geschlechterforschung und Literaturwissenschaft (betreut von Margaret Littler, Walter Erhart und Marlies Janz), Literatur und Psychologie (betreut von Hans H. Hiebel und Astrid Lange-Kirchheim), Medien und Literatur (betreut von Jochen Hörisch), Berlin [usw.] (Jahrbuch für Internationale Germanistik 62), S. 131–138, hier S. 137. Schmitt selbst benutzt das Wort in Anführungszeichen. Winder McConnell, da gewan Er vil der creffte er hette manign gedanck: A Note on Kudrun 101,4, in: Fide et Amore. A Festschrift for Hugo Bekker on his Sixty-Fifth Birthday, hg. von William C. McDonald und Winder McConnell, Göppingen 1990 (GAG 526), S. 221–233; Winder McConnell, The Epic of Kudrun. A Critical Commentary, Göppingen 1988, S. 12–28. Müller [Anm. 15], S. 217. Ebd., S. 212. Vgl. 80,3f. und 137,3. Es soll nicht behauptet werden, daß realiter die Strecke von 100 Meilen per Schiff in zweieinhalb Wochen bewältigt werden kann (auch wenn der Erzähler nicht ohne Ironie die Eile der von der Furcht vor Hagen getriebenen Seeleute betont) – festzuhalten gilt es nur, daß offensichtlich bewußt die Reisedauer dem Verkehrsmittel angepaßt gedacht wird, daß die Strecke zwischen Irland und Greifeninsel also keine beliebig wechselnde Größe ist.

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erreichbar, denn sie liegt auf der Route von Kreuzfahrerschiffen. Vor allem aber ist die Insel kein Raum, der außerhalb der Einflußsphäre Gottes stehen würde, denn Gott rettet die Kinder, er hilft Hagen dabei, die Greifen zu töten, und er gewährt, bevor sich die Gelegenheit ergibt, die Herrschaft über die Insel zu übernehmen, Schutz. Der Innenraum der Höhle, in der sich die vier Königskinder aufhalten, ist der einzig definitiv positiv konnotierte geschlossene Raum in der ›Kudrun‹. Die Höhle bietet archaische Geborgenheit und ermöglicht das Überleben, aber keine höfische Kultur.59 Der mythische Status, den sie verkörpert, wird durch den Einfluß der höfischen Ansprüche zu einem Phänomen, das überwunden werden muß. McConnell betont in seiner Analyse der Stelle, daß die Bedeutung des göttlichen Wirkens nach der Befreiung von den Greifen zurücktrete.60 Kaum hat Hagen, bezeichnenderweise in der Rüstung eines Kreuzfahrers (90,1), mit Gottes Hilfe (94,4) den Greif getötet, ruft er die Prinzessinnen aus der Höhle: laˆt iu erschıˆnen den luft und ouch die sunnen, / sıˆt uns got von himele wil etelıˆcher freuden [...] gunnen (95,3f.). Mit dieser Nennung Gottes bricht die enge Kette der Verweise auf die überirdische Macht ab, die bisher die Handlungslogik bestimmt hat. Hagen erzieht sich selbst (98,4), er erschließt sich den Raum der Insel (100) und macht ihn sich untertan. Gott ist dabei nicht mehr präsent,61 der Held scheint sich selbst überlassen, er tötet ohne Beistand, aber voller Zorn (100,4) den Gabilun, trinkt sein Blut und kleidet sich in seine Haut. Die Assimilation an die Umgebung, der Aufstieg zum ersten unter den wilden Wesen ist verbunden mit Kraftzuwachs (doˆ gewan er vil der krefte [101,4]), aber auch mit aufkeimender Fähigkeit zur Reflexion: er heˆte manigen gedanc (101,4). Müller sieht bei all diesen Elementen (unter Auslassung der Gedanken, die sich Hagen macht)62 die göttliche ordnende Kraft im Hintergrund wirksam.63 Allerdings 59

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Vgl. das Fehlen von höfischer Struktur: Doˆ sprach der frouwen einiu: ›ez ist soˆ geschehen, / daz wir unser schenken selten haben gesehen / noch unser truhsaezen, die uns solten tragen spıˆse‹ (81,1–3) und von gutem Essen: ez was ein fremede spıˆse, die im die juncfrouwe truoc (82,4). Vgl. Müller [Anm. 15], S. 208: »Die Höhle ist sicher, aber ohne Perspektive«. McConnell, The Epic of Kudrun [Anm. 55], S. 17. Anders Müller [Anm. 15], S. 210, bes. Anm. 41. Ebd. S. 209. Problematisch erscheint mir an Müllers These die postulierte Dichotomie von Mythos und Religion, die so zumindest auf der Basis von Cassirer, dessen Theorie er als Grundlage seiner Ausführungen über den Mythos zitiert, nicht behauptet werden kann: »[...] anders als im Nibelungenlied beginnt die mythische Anderwelt nicht zu wuchern und die bekannte zu verschlingen, sondern wird, dank Gottes Hilfe, von einem schwachen Kind bezwungen und später von einer Frau gebannt.« (Müller [Anm. 15], S. 216). Vgl. dagegen Cassirers Ausführungen in der Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2, wo er für Religionen allgemein eine starke Ablösungstendenz vom Mythos diagnostiziert, das Christentum allerdings explizit von dieser Regel ausnimmt: Ihm sei eine besondere »mythische ›Bodenständigkeit‹« eigen, der

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deuten gerade die Gedanken auf eine noch weitergehende Entwicklung der Figur Hagen hin, die aus dem Bereich der religiös überformten mythischen Ordnung in den Bereich ästhetischer Wahrnehmung führt:64 Hatte er bisher eine von Gott zum Schutz gewährte architektonische Innenwelt zur Verfügung, erschließt er nun seinen eigenen, mentalen Innenraum und ordnet die Angelegenheiten auf der Insel entsprechend. Er versucht nicht, einen paradisus redivivus zu erstellen, sondern stellt andere Ansprüche an den Raum, den er beherrscht, und macht sich damit in der von Gott gewährten Freiheit zum Vaˆlant aller künige (168,2).65 Müller ist zuzustimmen, daß besonders das Ende des Aufenthaltes auf der Insel und auch die Wiedererkennungsszene in Irland (Erkennungszeichen ist sein guldıˆn kriuze [143,4]) nur im religiösen Kontext adäquat gelesen werden können. Doch für den Zeitraum zwischen dem Heraustreten aus der Höhle und der Abreise auf dem Kreuzfahrerschiff ist Hagen allein Mittelpunkt des Geschehens, darauf weist der Erzähler immer wieder hin: er lernte swes er gerte (97,4), jaˆ zoˆch er sich selbe (98,4), Von sıˆner herberge gieng er in den walt (100,1), in luste sıˆnes [des Gabilun] bluotes (101,3) – alle diese Textstellen kreisen um Hagen und seinen Willen, den er der Umgebung aufzwingt. Parallel zu diesem Aufschwung zum wilden Herrscher über die Insel ist die Entwicklung Hagens als »Kulturheros«66 zu sehen, die einher geht mit dem Versuch der Höfisierung der Wildnis.67 Das Experiment, einen Hofersatz auf der Greifeninsel zu errichten, scheitert jedoch, und die Rückkehr in die (christlich bestimmte) Zivilisation wird bald angestrebt. Bezeichnenderweise werden Hagens außerordentliche Erlebnisse sofort in ein Lied umgeschrieben, sie werden (als Dichtung in der Dichtung) fiktionalisiert und somit auf eine andere Diskursebene verschoben, indem sie zum Inhalt einer künstlerischen Äußerung werden. Das Lied hebt in Strophe 167 an, sein Ende ist nicht genau zu bestim-

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Mythos spiele im Christentum »gewissermaßen die Rolle einer psychologisch-geschichtlichen ›Gegebenheit‹.«: Cassirer [Anm. 12], S. 291. Ian R. Campbell, ›Kudrun‹. A Critical Appreciation, Cambridge 1978 (Anglica Germanica, Ser. 2), S. 32 hat diese Stelle »enigmatic« genannt und seine Analyse auf eine Ambiguisierung des Epithetons wilde fokussiert, das Hagen beigegeben wird. Ich stimme mit McConnell [Anm. 55], S. 229 überein, wenn er in einem Gedankengang, den auch Schmitt [Anm. 1] wieder aufgegriffen und vom Gender-Standpunkt ausgehend weiterentwickelt hat, einen Prozeß innerer Entwicklung Hagens in dieser Zeile kulminieren sieht. Bereits Brunner [Anm. 5], S. 54, hat darauf hingewiesen, daß sich auch das Epitheton »wilde« für Hagen nur aus dem Aufenthalt auf der Greifeninsel erklären lasse; vgl. weiters Blamires [Anm. 4], S. 441. Wie Anm. 54. Desiderate sind angemessene Kleidung, angemessenes Essen, angemessene höfische Umgebung. Die rudimentären Formen des Umgangs miteinander können einen vollgültigen Hof nicht ersetzen, vgl. etwa den Kuß der frouwen für Hagen nach dem Sieg über die Greifen (96,2).

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men, es vereinigt sich wieder mit der Handlung, ohne daß eine besondere Zäsur gesetzt würde. Die Problemstellung, die Hagens Ausgreifen aus dem mythischen Raum aufgibt, wird so sublimiert, wobei heldenepische Versatzstücke dem Lied selbst den Charakter einer mythischen Erzählung verleihen. Zusammen mit Kudruns Skepsis gegenüber dem Botenvogel ergibt sich jedoch ein Netz von Verdachtsmomenten, die auf eine tieferreichende Änderung im System der ›Kudrun‹ hinweisen.

Ästhetischer Raum in der ›Kudrun‹ II: das ›Happy End‹ der Dichtung Während Hagens Aufenthalt auf der Insel eine abgeschlossene Szene darstellt, die merkwürdig exponiert im Handlungsverlauf steht,68 bietet Kudruns Skepsis gegenüber der Botschaft des von Gott gesandten Vogels Ansätze für eine weitreichende Änderung der Wahrnehmung der Erzählwelt. Nachdem Kudrun von der bevorstehenden Befreiung durch die Späher sichere Nachricht hat, beginnt sie, durch List für sich und ihre Begleiterinnen angenehmere Haftbedingungen zu erreichen. Sie fingiert ihr Einverständnis in die Hochzeit mit Hartmut (1284), offenbart sich allerdings ihren Hofdamen und macht durch ihr Lachen, das ein teil uˆz ir zühten (1320,1) ist, ihre Entführer aufmerksam (1321,4). Ihr eigenmächtiges Handeln, gegen den erklärten Willen der Befreier (1264,2), gefährdet den Erfolg der Mission, bringt ihr aber Genugtuung: Sie ergeht sich in Anspielungen und verbalen wie nonverbalen Hinweisen für ihre Peiniger (1284; 1285,4; 1318,4 etc.), auch auf die Gefahr hin, enttarnt zu werden (1322). Der Eigennutz steht über dem Ziel der reibungslosen Wiederherstellung der Ordnung. Persönliche Rache und Genugtuung sind ab dem Moment, von dem an sie um die Befreiung weiß, dominierend für Kudruns Denken (1270,4). Eine ähnliche Eigenmächtigkeit legt Kudrun auch an den Tag, als es darum geht, die Verhältnisse nach dem Sieg über Ormanie neu zu ordnen. Hier verfährt sie versiert, eine Gefährdung ihrer Pläne besteht nicht, anders als vor der Befreiung ist die Lage sicher. Kudrun arrangiert Ehen zwischen den verschiedenen Ländern, deren Herrscher mit ihrer Entführung bzw. Befreiung zu tun gehabt haben. Oft ist das politische Moment dieser Neuordnung zu gering geschätzt worden, zu sehr hat man sich auf den vermeintlich prägenden Einfluß christlichen Gedankenguts im letzten Teil der Dichtung konzentriert.69 Erst 68

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Müller [Anm. 15], S. 215, nennt die Greifenepisode im Hinblick auf die Handlungslogik einen »Schlenker, der auffällig schlecht in das raumzeitliche Kontinuum der Epenwelt integriert ist«, zumal, da Hagens Eigenerziehung bei Hofe nichts gilt – er muß erst zum Ritter geschlagen werden, bevor er heiraten kann (171,1). Vgl. etwa Hoffmann [Anm. 4], S. 185f. Mit Verweis auf die politische Ebene hingegen Frakes [Anm. 39], bes. S. 218–245 und Grenzler [Anm. 39], bes. S. 557–559 mit Rückbindung von Kudruns Verhalten an die »Hagen-Linie«.

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Kerstin Schmitt hat mit Nachdruck betont, daß das Zitat aus dem Römerbrief, mit dem Kudrun ihre Mutter Hilde dazu auffordert, den besiegten Feinden zu vergeben, Teil einer breiter angelegten persuasiven Strategie ist.70 daz niemen mit übele sol deheines hazzes loˆnen (1595,3), damit macht sich Kudrun für die Gefangenen stark, jedoch ohne daß ihre Argumentation verfangen würde: Si [Hilde] sprach: ›vil liebiu tohter, des solt du mich niht biten‹ (1596,1). Erst die tränenreiche Bitte, allerdings ohne religiösen Bezug, führt zum Ziel (1598f.), was sich problemlos mit den von Althoff für die mittelalterliche Politik ausgemachten ›Spielregeln‹ des Verhaltens erklären läßt:71 Der weinend vorgetragenen Bitte kann man sich nur schwerlich verweigern. Das religiöse Motiv wird funktionalisiert, der Hinweis auf die Bibel wird somit zu einem Argument unter anderen, und es ist nicht einmal das effektivste Mittel, um zum Ziel zu gelangen. Deutlicher kann die Neubewertung des mythisch-religiösen Codexes kaum signalisiert werden. Es ist dieser Geist, nicht ein religiös motivierter Gedanke der Vergebung, der den Schluß der Dichtung bestimmend prägt, wenn Kudrun daran geht, mit pragmatischer Zielsetzung Hochzeiten zu arrangieren. Sie tut dies berechnend und ohne Rücksicht auf die Interessen der zu Verheiratenden, als Siegerin gibt sie die Regeln vor. Nicht umsonst hat Vollmann-Profe Kudrun als »kühle Heldin« bezeichnet,72 man könnte auch von Eigenbewußtsein oder Egozentrismus der Hauptfigur des letzten Teils der Dichtung sprechen.73 Die Dichtung wird in dieser abschließenden Situation neu zentriert und neu fokussiert: Es herrscht, um einen Neologismus zu verwenden, ein Kudrunzentrismus, denn Kudrun ist der Mittelpunkt der neuen Ordnung, es geht um Kudruns Wohl und Kudruns Sicherheit, und Kudrun selbst kümmert sich nach Kräften darum. Der Mensch stellt damit sich und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt des Geschehens – und ordnet demgemäß seine Umgebung neu.

70

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73

Schmitt [Anm. 1], S. 253f, weiters Hinrich Siefken, Überindividuelle Formen und der Aufbau des ›Kudrunepos‹, München 1967 (Medium Aevum: Philologische Studien 11), S. 159, der eher en passant darauf hinweist, daß erst die Tränen Hilde umstimmen. Vgl. u. a. Gerd Althoff, Empörung, Tränen, Zerknirschung. ›Emotionen‹ in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters, FMSt 30 (1996), S. 60–79, bes. S. 64. Gisela Vollmann-Profe, Kudrun – eine kühle Heldin. Überlegungen zu einer problematischen Gestalt, in: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, hg. von Mark Chinca [u. a.], Tübingen 2000, S. 231–244, (im Titel); ebd., S. 237 werden die Eheschließungen als »politische Heirat[en]« bezeichnet, Schmitt [Anm. 1], Kap. 5.1 arbeitet die ältere Literatur zum Thema auf und kommt zu dem Schluß, daß die Ehen von Kudrun als Muntwalt geschlossen werden, ohne daß auf die Wünsche der zukünftigen Ehepartner Rücksicht genommen würde. Dabei darf allerdings nicht von einem psychologisch ausdifferenzierten ›Ich‹ im modernen Sinne ausgegangen werden; es handelt sich um eine innerweltliche Fokussierung der Handlung, nicht um eine psychologische Individualisierung.

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Daß die Neuordnung nicht unreflektiert in der Dichtung steht, sei nicht verschwiegen: Während sich Kudrun die maßgeblichen Länder durch Heiraten als Verbündete sichert und somit die politische Landkarte neu ordnet, bleibt das Meer weiterhin mythisch-religiöser Raum, auf dem der Mensch ausgeliefert ist und keine Kalkulationen über den Verlauf der Dinge anstellen kann: des hulfen in die winde (1657,4) heißt es, als Siegfrieds Braut aus Karadie eingeschifft wird. Die Räume zu Lande werden beherrschbar und können aufgeteilt werden in Einflußbereiche, aber ein mythischer und damit auch der Gewalt des Menschen nicht unterworfener Raum bleibt erhalten.

Schluß: Der architektonische Innenraum als Problem, die ›Kudrun‹ als Dichtung des Übergangs Kudrun wird bei ihrer Rückkehr aus Ormanie am Strand empfangen, was nicht weiter auffällig erscheint. Der größte Teil der Handlung spielt im Freien, meist am Meerufer, nur selten wird, wie bei Hagens Aufenthalt auf der Greifeninsel, ein Innenraum faßbar, dem positive Bedeutung zugemessen wird. Die Abwendung vom architektonischen Innenraum geht so weit, daß die Abgrenzung von Innenräumen nicht mehr gegeben ist. Als z. B. Hilde ein colloquium secretum mit ihren zukünftigen Entführern Horant und Morunc veranstaltet (394), kann selbst der vor dem Zimmer plazierte kameraere (394,1) nicht verhindern, daß das Gespräch öffentlich wird: Der hoechste kameraere (411,1) kommt in den eigentlich abgeschotteten Raum und stört das vertrauliche Treffen. Der Innenraum innerhalb der Burg ist kein Rückzugsraum mehr, sondern störungsanfällig. Ebenso diffus erscheinen die Raumverhältnisse in Ormanie, die Burg absorbiert die etwa 60 Begleiterinnen74 Kudruns bei der Ankunft geradezu, sie verschwinden spurlos im Innern der Burg und müssen, als die Versöhnung vorgetäuscht wird, erst wieder zusammengesucht werden.75 Und auch wo Kudrun sich aufhält, wird nicht klar, die Kemenaten, in denen sie Dienst zu tun hat, erscheinen austauschbar. Es ist ihr sogar möglich, ungehindert das Schlafzimmer der Königin aufzusuchen, um für das Wäschewaschen im Schnee um Schuhe zu bitten (1200,1). Keiner der Räume ist abschließender Innenraum, der Zurückgezogenheit gewährt, vielmehr sind die Teile der Burg eine unterschiedslose, in sich nicht abgegrenzte Agglomeration von Orten des Schreckens, sie werden zu Un-Orten, die jeder Spezifizierung entbehren.

74 75

801,3 spricht von 62 Damen, 976,1 von wol sehzic magedıˆn, am Ende sind es in 1300,1 drıˆ und sehzic. 1005,1 wird die Trennung der Damen erwähnt, 1299,2 heißt es: doˆ suochte man uˆz dem gademe manige maget guot.

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Diese Befunde korrespondieren mit dem Umstand, daß die Burg als solche nicht Schutzraum im mythisch-religiösen Sinne ist, sondern vielmehr in keiner der Situationen, in denen ein Sturm geplant ist, den Angriffen standhält76 – Hartmut öffnet sogar selbst die Tore seiner Burg, um sich den Feinden zu stellen, gibt den Schutzraum also freiwillig preis (1386). Die Problematik des Schutzraumes und die nicht gewahrte Privatheit des geschlossenen Innenraumes verweisen wiederum auf ein Problem der höfischen Ordnung in der ›Kudrun‹: Wenn die Burg nicht schützt, wenn das Böse wie in der Greifenepisode in die vermeintlich intakte Gesellschaft hineinzureichen vermag, wenn geheime Unterredungen nicht möglich sind, da Raumabgrenzungen nicht gewahrt werden,77 stehen wesentliche Werte des Höfischen zur Disposition. Erstaunlich ist hierbei, daß die gewohnte Trennung von offenlıˆch und tougen am Ende der Handlung, während Kudruns politischer Aussöhnungsaktion, wiederhergestellt wird. Es gibt die Möglichkeit, tougen zu handeln (1600,2) und damit Geschehen adäquat zu inszenieren: So läßt Kudrun Hartmut schön ausstaffieren, bevor er öffentlich präsentiert wird; er wird damit symbolisch restituiert. Es wird ein Fest veranstaltet, das keinen Einbruch des Bösen erfährt (ab 1611), geheime Gespräche werden ohne Störung (1618,1) in der kemenaˆten geführt und kontrolliert öffentlich gemacht (1623,1). Auch heimlıˆche (1626,1) kann eine Unterhaltung stattfinden, das ist beim Gespräch zwischen Kudrun und Hildeburc der Fall: Kudrun sondiert die Lage, läßt dann den Bräutigam in spe herbeiholen und öffnet so den Raum nach außen (1630). Kudrun schafft also nicht nur auf politischer Ebene groˆziu süene (1644,1), sondern bringt auch Raumstrukturen und -abgrenzungen, die ihre Bedeutung in der Dichtung verloren hatten, wieder zurück in den Bereich der Handlung. Der defizitäre Hof, die problematisch gewordene Ordnung der Räume wird vor einem neuen Hintergrund neu konstruiert: Der mythisch-religiöse Schutzraum, in den der Mensch sich flüchten kann, ist am Ende der Dichtung obsolet geworden, die erzwungenen Feierlichkeiten Sigebants und Uotes, das Eindringen des Teufelsboten in den Hof bei Hagens Entführung, aber auch der Umstand, daß die Burg sowohl für Hilde (198) als auch für Kudrun zum Ort der Gefangenschaft werden konnte, haben das altbekannte Hofkonzept aufgerieben. Die politisch orientierte Feierlichkeit (31f.), die Uote von Sigebant einfordert, wird im großen Stil von Kudrun verwirklicht, indem sie das Fest nach ihrer Rückkehr mit politischer Aktivität verbindet. Die Termini ze hove (1600,3; 1645,1; 1673,1; 76

77

Die einzige Belagerung einer Burg, die nicht in der Eroberung endet, ist die Herwigs und Hetels gegen Siegfried von Mohrland (13. Aventiure) – bezeichnenderweise wird hier der Angreifer im angegriffenen Land in die Enge gedrängt, d. h. die klassische Belagerungssituation ist umgekehrt. Im Fall von Hildes Unterhaltung wird die Situation nach dem Eindringen des obersten Kämmerers dadurch gerettet, daß er in Horant seinen Cousin erkennt und deshalb das Komplott unterstützt (414–417).

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1683,4) und ze kemenaˆten (1630,3), aber auch palas (1631,1; 1672,2) erhalten damit eine neue, klar strukturierte und den Raum strukturierende Bedeutung.78 Das Zentrum, das die Welt der ›Kudrun‹ erhält, ist dabei eines einer neuen Ordnung. Die Räume werden aktiv und personenbezogen, nicht bezogen auf die Transzendenz genutzt, für Inszenierungen von Macht und Festfreude ebenso wie zum Rückzug aus der Öffentlichkeit. Voraussetzung dafür ist eine neue Ausrichtung der Welt auf die Protagonisten, genauer: auf Kudrun, die nicht mehr dem Raum untergeordnet ist, in ihm nicht mehr ausharren muß wie am Strand von Ormanie. Kudrun nutzt den Raum, um Macht zu zeigen, und sie steigert ihre Macht, indem sie eine neue Raumordnung vornimmt: Die Heiratsabsprachen dienen weniger einem ›Happy End‹ als der verwandtschaftlichen Kooperation, die auch an exponierter Stelle – in der letzten Strophe der Dichtung – nochmals bewußt hervorgehoben wird (1705). Erst die Gewinnung eines Innenraumes in den Figuren ermöglicht diese Neuordnung des Raumes in der Dichtung. Indem der Schritt vom mythischen zum ästhetischen Raum, zur Ordnung und Gestaltung der Räume nach dem eigenen Idealbild (hier: für die eigene Sicherheit, ohne daß man auf göttliche Hilfe angewiesen ist), vollzogen wird, wandelt die Dichtung auf neuen Pfaden. Der geordnete und genutzte Raum, die Herstellung der politischen wie gesellschaftlichen Ordnung wird zur Metapher der eroberten Innenräume der Figuren, die den ausgehöhlten, defizitären Räumen, die zum Beginn der Dichtung dominieren, einen neuen Sinngehalt vermitteln. Daß das Meer als großer mythischer Raum dabei unangetastet bestehen bleibt, widerspricht diesem Ergebnis nicht, sondern bestätigt die These vielmehr, hat doch Cassirer immer wieder betont, daß es eine klare, endgültige Scheidung der einzelnen Raumsichten, besonders im vortechnischen Zeitalter, nicht gebe. Die ›Kudrun‹ verbalisiert damit einen geistesgeschichtlichen Fortschritt, der sie weniger als Epigonendichtung denn als Spiegelbild einer literarischen wie auch außerliterarischen Entwicklung79 erscheinen läßt. Nur diese Weiterentwicklung garantiert Zukunftsfähigkeit und das viel beschworene ›Happy End‹, das der Dichter selbst so treffend (und wieder mit typischem Kudrunzentrismus) formuliert hat: ir sorge heˆte nu ende (1700,4). 78

79

Vgl. dagegen die Konfusion, die in Ormanie herrscht, wo der Hof bisweilen synonym mit Kudruns Kammer verwendet wird: in 1289,3 wird Hartmut aufgefordert, zuo ir kemenaˆten zu kommen, 1291,2 kann er sie nur sehen, wenn er ze hove kommt, letztendlich geht er zuo der meide kemenaˆten (1292,4). Die Beispiele von semantischer Uneindeutigkeit des Hofbegriffs ließen sich, besonders für die Teile der Dichtung, die in Ormanie spielen, vermehren. Die bereits von Müller [Anm. 15], S. 201 betonte Literarizität, die es der ›Kudrun‹ erlaubt, Versatzstücke unterschiedlicher Provenienz und Geisteshaltung zu kombinieren, muß dabei natürlich berücksichtigt werden. Die ›Kudrun‹ kann insofern nur bedingt als Spiegelbild einer historischen Realität gelesen werden, sie ist und bleibt Produkt eines bildenden Willens, eines uns unbekannten Autors, und damit Fiktion.

Margreth Egidi

›Innenräume‹ des Liebesdiskurses Spiegelungen des Innen am Beispiel der Gartenmotivik in Minnereden

›Innenraum‹-Metaphern entwerfen ein Innen stets als ein Außen. Sie sind KippPhänomene – ein Innen wird als solches erst dann imaginiert, wenn diese Differenz, d. h. die Metaphorizität der Rede, vergessen, wenn die Metapher beim Wort genommen wird.1 Wo jedoch das Innere eines Ich als (Außen-)Raum breit entfaltet wird, kann die Vermittelheit literarischer Rede, insbesondere die für die Metapher konstitutive Differenz, mitunter stark ausgestellt werden. An der Gartenbildlichkeit, wie sie in Minnereden vielfältig eingesetzt wird,2 an ihrer Brüchigkeit und ihren Mehrfachbesetzungen, ist diese ausgestellte ›Künstlichkeit‹ der Rede evident – zugleich läßt sich hier auch beobachten, wie die inkonsistente ›Innenraum‹-Bildlichkeit für die Thematisierung der Rede über die Liebe eingesetzt werden kann. 1 2

Ich greife damit einen Diskussionsbeitrag Hartmut Bleumers auf. Zur Gattung der Minnerede grundlegend: Ingeborg Glier, Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden, München 1971 (MTU 34); ferner Walter Blank, Die deutsche Minneallegorie. Gestalt und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform, Stuttgart 1970 (Germanistische Abhandlungen 34); Ludger Lieb/Peter Strohschneider, Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden, in: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, hg. von Gert Melville und Peter von Moos, Köln [usw.] 1998 (Norm und Struktur 10), S. 275–305; Ludger Lieb, Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450 (DFG-Symposion 2000), hg. von Ursula Peters, Stuttgart/Weimar 2001 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 23), S. 506–528; Ders./Jacob Klingner, Flucht aus der Burg. Überlegungen zur Spannung zwischen institutionellem Raum und kommunikativer Offenheit in den Minnereden, in: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter, hg. von Ricarda Bauschke, Frankfurt a. M. [usw.] 2006 (Kultur – Wissenschaft – Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 10), S. 139–160; Wolfgang Achnitz, Kurz rede von guoten minnen / diu guotet guoten sinnen. Zur Binnendifferenzierung der sogenannten ›Minnereden‹, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000), S. 137–149; Ders., Minnereden, in: Forschungsberichte zur Internationalen Germanistik. Germanistische Mediävistik, Bd. 2, hg. von Hans-Jochen Schiewer, Bern [usw.] 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik C, 6), S. 197–255; Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden, hg. von Ludger Lieb und Otto Neudeck, Berlin/New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40).

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1. e

Die Minnerede ›Das plumleingertlein‹3 ist ein einfach strukturierter, »sujetloser«4 Text – eine Allegorie des Herzens des liebenden Ich: Zu dienst dem liebsten pulen mein Sol mein Hercz das gertlein sein, On alle zweyffel einig yr. (V. 95–97)

Der Text steht damit in struktureller Nähe zur ursprünglich auf die tropologische Hohelied-Exegese zurückgehenden geistlichen Motivtradition des Seelengärtleins, des paradisus animae oder hortulus animae.5 Der Entwurf des eigenen Herzens als Garten akzentuiert – wie analog in der geistlichen Tradition – vor allem seinen Schutz durch Gräben, Mauer und Zwinger sowie seine Blumen und Vögel. Den weitaus größeren Teil des Textes bildet die ausführliche Allegorese dieser Motive mit den bekannten konventionalisierten Versatzstücken einer Lehre über Minne und angemessenes Minneverhalten. Indem der Garten hier nicht als Handlungsraum fungiert, sondern ausschließlich als Allegorie des Inneren, repräsentiert der Text den Typus ›Herz als Garten‹ in Reinform. Nicht erst aufgrund der Differenz zwischen Allegorie und Allegorese, sondern bereits durch die kleinteilige und ausführliche descriptio des Gartens entsteht keine konsistente Imagination des ›Innenraums‹. Die Gleichung Garten = Herz (außer dem obigen Zitat vgl. etwa V. 157: In meins getrewen herczen gertlein) wird immer wieder durch die diskursive Umsetzung durchkreuzt. Das Desinteresse an kohärenter Bildlichkeit zeigt sich symptomatisch, wenn sich innerhalb der Allegorie die Gleichung verdoppelt: Die fest verriegelte Pforte des Gartens ist auch wieder das Herz des Ich, das den Pförtner, den Willen des Ich, einläßt; die Türflügel bilden die Initialen der Geliebten als Hüter der Pforte.6 Zugleich ist 3

4 5

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Tilo Brandis, Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke, München 1968 (MTU 25), e Nr. 386; ›Das plumleingertlein‹, hg. von N. Roth, Literarische Blätter 6 (1805), Nr. 21, Sp. 324–335; Nr. 22, Sp. 337–339. – Die Verszählung richtet sich nach der schwach sichtbaren handschriftlichen Zählung im edierten Text. Dieser hat keine Interpunktion, die daher von mir sparsam eingeführt wurde. Mit der Terminologie Jurij M. Lotmans, Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 41993, S. 329–340. Zur volkssprachlichen Tradition vgl. Wolfgang Stammler, Der allegorische Garten, in: Landschaft und Raum in der Erzählkunst, hg. von Alexander Ritter, Darmstadt 1975 (WdF 418), S. 248–261. V. 181–196; zwar scheinen die Verse 181–183 auf das Herz der Geliebten zu zielen (Die Pfortt das ist ain hercz gehewr / Der allerliebsten Createwr, / Die In mein hercz noch ye kam), doch wird dies im folgenden eindeutig korrigiert (Das ist mein frewdenreyches hercze / Schlewst sich auff on allen schmerzen; V. 185f.); auch das Einlassen des Willens und die Initialen der Dame als Türflügel und Hüter bestätigen dies. Vielleicht läßt sich gehewr prädikativ zu Der allerliebsten Createwr stellen und auch ain hercz schon auf das Ich beziehen.

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die Minneallegorie werbende Rede des Ich an die Adresse der Geliebten, der es e als Neujahrsgruß ›Das plumleingertlein‹ und damit sein Herz übereignet: Nun hat ain end das plumelgertlein Von den edeln Schönen vögelein. Das thu ich meynem lieb [...]7 schencken, Das es meiner grossen lieb sol gedencken. (V. 521–524)

Evident wird hier die doppelte Referenz des geschenkten Gärtleins auf das Herz wie auf den Text, der vom Herzen handelt (vgl. V. 521). Damit wird nicht nur die (tugendgemäße) Ausschmückung des Herzens, sondern auch die (rhetorische) des Textes zum Minnedienst (s. o., V. 95–97). Die Doppelreferenz prägt auch den Textbeginn: Ich hab in lusstes gier Nach meins herczen pegir Beraytt ain lustiges gertlein Dem allerliebsten puln [...] mein. Wenn sie nyendert [...] kain trost mag gehan, So schol sie In das gertlein gan, Da fint sie was [sie]8 finden schol: Das gertlein das ist frewden vol. (V. 1–8)

In der Aufforderung einzutreten scheint die Referenz auf den Text als ›Trostbüchlein‹ fast die dominante zu werden. Wenn der umworbenen Dame hier die Möglichkeit geboten wird, Trost zu finden, dann erhält der Text als Garten, entsprechend der paradigmatischen Dimension des in ihm Erörterten, über die Situation des Ich hinaus Geltung – die Minnelehre löst sich vom Ich ab, dessen Gabe sie ist. In der imaginierten Bewegung des Hineingehens in das Herz wie in den Text wird eine ›Innenraum‹-Bildlichkeit noch am deutlichsten, doch bleibt die Metaphorizität dabei bewußt, wird die Metapher nicht als Metapher zum Verschwinden gebracht. Die beiden letzten Verse der Eingangspassage scheinen den Gartenraum jedoch mit anderen Konnotationen zu versehen: Was lieb von seinem lieb pegert, Des wirt es alles darynn gewert. (V. 9f.)

Damit wird schließlich auch das Motiv des Gartens als Ort erotischer Begegnung angedeutet, und von hier aus gesehen überlagert sich im Nachhinein auch in der Aufforderung einzutreten die Herz-/Text-Metapher des Gartens mit der konkreten räumlichen Vorstellung. Mit ihr ist auch ein winziger Ansatzpunkt für die narrative Nutzung des Gartenmotivs gegeben – und genau dies ist ja das »sujethafte Ereignis«,9 das viele Minnereden, die generalisierende mit erzählen7 8 9

Auslassungen in Zitaten aus diesem Text beziehen sich nur auf in Klammern gesetzte (neuhochdeutsche) Erläuterungen des Herausgebers. sie fehlt im edierten Text. Vgl. Lotman [Anm. 4].

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der Rede verbinden und den Garten als Liebesort entwerfen, eingangs konstituiert: daß ein Ich einen schönen Garten betritt.

2. Dies geschieht z. B. in der Minnerede ›Von ainem wurtzgarten‹.10 Eingangs ist das Ich auf der Jagd, was zunächst auf eine erotische Begegnung vorauszuweisen scheint. In der Aue trifft es auf einen umhegten Garten: Von den hunden ich da chert, Ich vand ain hag, das was geheˆrt Lustlich mit des Mayen zier. [...] Es was geschrenckt mit list; Recht, als ain hertz geschaffen ist, Also was es mit eggen dreyn. (V. 9–19)

Der Garten hat die Form eines Herzens. Die Erwartung, daß das Ich von einer Liebesbegegnung erzählt, wird enttäuscht, wobei die Abwendung von der Jagd schon darin deutlich wird, daß das Ich, nicht die Hunde, den Garten findet. In seinem Inneren, und zwar in der wild (V. 28), nicht an einem lieblichen Ort, sitzt eine schwarzgewandete klagende Dame. Der Garten wird Ort der sich im Dialog entfaltenden Erzählung ihrer Geschichte: In ihrem nun zerstörten Garten wohnten vordem fraw Er, Triu, Stätt und Mynn (V. 51–53). Ursprünglich wuchs in ihm nur Gras; auf einen Rat hin erwählte sie sich einen Gärtner, der ihn in triue[m] dienst mit Kräutern und Blumen aufs schönste schmückte (V. 68). Dieses Yrdisch Baradeis aber ist nun voller Unkraut, denn der Gärtner hat den Garten nicht genügend vor den Schlangen (den Verleumdern) und ihren vergifteten Zungen geschützt, die alles Schöne, was in ihm wuchs, verdorben haben. Triu, Stätt vnd Mynn sind aus ihm vertrieben worden, nur fraw Er nicht (V. 166–169). Der Herzgarten der Dame ist zugleich ein im strukturellen Sinne ›jenseitiger‹ Ort, analog zur Struktur vieler narrativer Minnereden, in denen der Zentralort, der geschlossene Garten, das Reich der Personifikationen ist, als jenseitige Welt durch Schwellen und Übergangsräume markiert und Ziel des Ich, dessen Wanderung die Raumstruktur sukzessive erschließt.11 Der deutlich 10

11

Brandis Nr. 500; Liederbuch der Clara Hätzlerin, aus der Handschrift des Böhmischen Museums zu Prag hg. und mit Einl. und Wörterbuch versehen von Carl Haltaus, Quedlinburg /Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8), Nachdruck mit einem Nachwort von Hanns Fischer, Berlin 1966, 2. Abteilung [= Hätzlerin II], 59. Z. B.: ›Der Minne Gericht‹ des Ellenden Knaben; Brandis Nr. 459; Mittelhochdeutsche Minnereden, Bd. 1: Die Heidelberger Handschriften 344, 358, 376 und 393, hg. von Kurt Matthaei, Neudruck mit einem Nachwort von Ingeborg Glier, Du-

›Innenräume‹ des Liebesdiskurses

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markierte Schwellencharakter des Hags stellt eine Parallele zu solchen Begegnungen des Ich mit einer Personifikation her; auch im ›Wurtzgarten‹ muß das Ich einen Eingang suchen und vermag ihn schließlich – als ›bewegliche‹, grenzüberschreitende Figur12 – zu finden (V. 25–27). Zudem indizieren die TugendPersonifikationen, die den Garten einst zur Wohnstatt hatten, den paradigmatischen Status der erzählten Geschichte. Mit ihnen hat die Dame gemeinsam, daß sie keine bewegliche Figur, sondern gleichsam ein Teil des Gartens ist, wie er ein Teil von ihr ist. Abgesehen vom Eintreten wird eine ›Innenraum‹-Bildlichkeit nur momenthaft greifbar: in der Vorstellung der Abgeschlossenheit (V. 205f.) bzw. der Ofv fenheit von Gärten anderer Frauen (Gemain vnd vnbeschlossen; ainer gat vsz, der ander ein; V. 242f.) und in der Innen-Außen-Differenz, wenn die Dame ausführt: Wie grön mein hag vssen scheint, Ich hab ynwendig pitterkait; [...] o Ich tu fleisz zu aller stunt, Das ich mein hag vszwendig zier, Das nyemant werd gefrät an mir.13 Es went, wer es vssen sicht, Ich hab darynn geprechens nicht [...]. (V. 110–118)

Daß die Metaphorizität des ›Innenraums‹ bewußt bleibt, verdankt sich der zweifachen Funktion des Gartens als allegorischem Handlungsraum der erzählten Geschichte und als Raum, in dem diese Geschichte erzählt wird; das erinnert an e die Doppelreferenz des Gartens auf Herz und Text im ›plumleingertlein‹- mit der entscheidenden Verschiebung vom ›Text‹ auf die intradiegetische Erzählung der Dame. Eine weitere Parallele – mit einer entsprechenden Verschiebung – e zeigt sich im Trostmotiv: Wird das ›plumleingertlein‹ der Geliebten vom Ich als Trostbuch dargeboten, so hat die Dame im ›Wurtzgarten‹ durch das Gespräch zuletzt auch Trost erhalten (V. 350f.). Von hier aus mag es zu erklären sein, daß sie zuletzt nicht nur das Ich gehen läßt, sondern überraschend davon spricht,

12 13

blin/Zürich 1967 (DTM 24) [= MR I], 1; ›Der Minner im Garten‹; Brandis Nr. 424; MR I, 5; ›Bestrafte Untreue‹; Brandis Nr. 463; MR I, 11; ›Frau Minne weiß Rat‹; Brandis Nr. 422; MR I, 14; ›Ain mynn red von hertzen vnd von leib‹; Brandis Nr. 425; Hätzlerin II, 47; ›Die Minne vor Gerichte‹; Brandis Nr. 455; Lieder-Saal, das ist: Sammelung altdeutscher Gedichte, hg. von Joseph von Lassberg, St. Gallen 1846, I, 29; ›Frau Ehrenkranz‹; Brandis Nr. 434; Lieder-Saal I, 50; ›Der Wiedertail‹; Brandis Nr. 403; Lieder-Saal III, 180; Eberhard von Cersne, Der Minne Regel – Lieder, Edition du manuscrit avec introduction et index par Danielle Buschinger, Edition des me´lodies par Helmut Lomnitzer, Göppingen 1981 (GAG 276); Brandis Nr. 428. Vgl. Lotman [Anm. 4]. Gemeint ist, daß die valschen sich wenigstens nicht ihres Erfolges freuen sollen.

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selbst den Garten, die wild, die ihr ellende spiegelt, zu verlassen – damit aber hört der Garten auf, allegorischer Herzraum zu sein, was den Status der ›Innenraum‹-Bildlichkeit als prekär erscheinen läßt: v

Gesell, ich sam dich hie ze lang, v Du wärest vil lieber anderswa, Ich will auch nit bleiben daˆ. Darumb far hin in gotes pleg, Mir sind wol kündig hie die weg [...]! (V. 320–324)

3. Den Typus des Gartens als Liebesort repräsentiert die Minnerede ›Von dem mayenkrantz‹.14 Das Ich, das wieder jagend unterwegs ist (V. 1–3 und 236), wird hiervon durch die Schönheit und den Wohlgeruch eines Kräutergartens abgelenkt, auf den es zufällig trifft und dessen Kräuter und Vögel es beschreibt. Dann aber läßt es den Garten zunächst hinter sich und reitet weiter, wobei sein Jagdverlangen durch ein Eichhörnchen wieder geweckt wird: Mein hertz mir da gepott, Das ich darnach solt sehen Vnd mit listen darnach spehen, Ob mir so wol möcht gelingen, das ich In [sc. den Aichhorn] künd gefangen pringen Der, der ich aigen was. (V. 112–117)

Jagd und Liebe werden hier nicht nur in der bekannten metaphorischen Gleichung aufeinander bezogen, wie es der Beginn des Textes vermuten läßt (die Jagd als Liebeswerbung); darüber hinaus ist die Jagd auch Dienst. Die Beobachtung der Sprünge des Eichhörnchens mündet jedoch in die sehnsüchtigen gedencken des Ich an seine Geliebte (V. 124–135), in die die Eichhornjagd, von der nicht weitererzählt wird, zuletzt übergeht: Ich nam seiner sprunge war, Die er traib all vff vnd nider Mit seinen listen her vnd wider Vnd mit seinem wencken. Also raitt ich in gedencken Vnd gedacht senlich dahin, o Da hertz, gedanck mut vnd syn Ist mit wesen stätticlich. (V. 120–127)

14

Brandis Nr. 224; Hätzlerin II, 57; ein weiteres Beispiel ist ›Von manigerlay plümlen‹; Brandis Nr. 363; Hätzlerin II, 17.

›Innenräume‹ des Liebesdiskurses

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Auf diese Weise wird ein Innen thematisch, ohne daß ein ›Innenraum‹ sich konstituiert – allein dadurch, daß die Beschreibung einer Bewegung im Außenraum abbricht und sich im Inneren fortzusetzen scheint. Eine neue Spur bringt nun das Ich vollends von der Jagd ab und bringt es zum Garten zurück: Zuhannd nam ich ain ander spür, o Die mich darzu gund treiben. Das ich den Aichhorn liesz beleiben Vnd volgt ir nach mit sitten. Sy was von clainen tritten o Vnd trug mich hinder sich ynn plan, Da ich vand den garten stan, Von dem ich hab erst gesaitt. (V. 136–143)

Eichhornjagd und Eintreten in den Garten scheinen in einem Verhältnis der Komplementarität zu stehen, wie die Sprunghaftigkeit der mehrfach einsetzenden Handlung andeutet – beide führen zueinander hin und schließen einander zugleich aus. Daß das Ich der Spur, die schließlich in den Garten hineinführt, im Zustand des Erinnerns ansichtig wird, in dem Moment, als es das Jagen aufgibt, läßt vermuten, daß der Garten und das, was in ihm geschieht, fiktionsintern einer ›anderen Realität‹ angehören als etwa die Jagd oder die Sehnsucht des Ich nach seiner Geliebten. Im abstrakt-strukturellen Sinne ist auch dieser Garten ein ›jenseitiger‹ Ort. Zwar ist er, anders als der topische amöne Zentralort sonst,15 nicht von einem dichten Rosenhag oder einer anderen schwer überwindbaren Grenze umschlossen, doch ein ihn umgebender Kranz von Lilien deutet die Grenze immerhin an (V. 27–29). Vor allem aber ist die Spur der dem Ich in der Umgrenzung offenstehenden Pforte16 analog und setzt wie diese die Existenz einer Grenze, die nur für eine ›bewegliche‹ Figur überwindbar ist, voraus. Der Jenseits-Charakter dieses Ortes, auf den noch zurückzukommen sein wird, schließt die Funktion des Gartens als Liebesort nicht aus – erblickt das Ich hier doch eine schöne Jungfrau im grünen Jagdgewand, an deren Schönheit sich augenblicklich sein Begehren entzündet: o

Ich bruft, vnd wär ich halber tott Vnd mer dann tusent wunden wunt, Ob sy mich kuszt, ich wurd gesunt, Von begird vnd von lust; Wurd ich vmbfangen an ir prust, Ich nems für aller welt hordt; Ob sy spräch das ainig wort: 15

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Z. B.: Brandis Nr. 459; MR I, 1; Brandis Nr. 422; MR I, 14; Brandis Nr. 455; Lieder-Saal I, 29; Brandis Nr. 434; Lieder-Saal I, 50; Brandis Nr. 403; Lieder-Saal III, 180. Bei Eberhard von Cersne, der die Abgeschlossenheit des Gartens am stärksten herausarbeitet, ist die Jenseitsschwelle eine hohe Mauer mit den Minnetugenden als Turmwächter (Brandis Nr. 428). Z. B.: Brandis Nr. 459; MR I, 1, V. 634–639.

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Margreth Egidi Schweig, trautt gesell, du bist mein! So wär verschwunden all mein pein Vnd wär mein fräd manigualt. Das macht ir leib wolgestalt, Den ich in Engels form genösse. Nun wol Im, der ir leibes plösse In stätter lieb sol rüren! (V. 194–207)

Dies alles geschieht indes nur in der Imagination des Ich. Die Dame äußert nach Gruß und Verneigung zunächst Mißtrauen und will sich vergewissern, daß das Ich allein gekommen und durch die Art, wie es in den Garten gelangt ist, als hierzu befugt ausgewiesen ist (V. 226–240) – was noch einmal die Abgeschlossenheit des Gartens bestätigt. Hierüber beruhigt, beginnt sie mit dem Gegenüber ein Gespräch, in dem das Jagen, zuvor Element der Handlung, als Gegenstand diskursiver Erörterung wiederkehrt, und fordert dann den gesellen auf, sich zu ihr ins Gras zu setzen und ihr beim Kranzflechten zu helfen. Mit dem gemeinsamen Blumen- und Kräuterpflücken zitiert der Text abermals eine Chiffre erotischer Begegnung, die weder auf der Handlungsebene noch verbal dechiffriert wird – stattdessen rät das Ich der Unerfahrenen, sich der Liebe zuzuwenden, und läßt eine Minnelehre folgen. Zum Lohn hierfür setzt sie ihm beim Abschied den vollendeten Maienkranz auf, und so wird schließlich auch die Minnerede selbst bezeichnet: Damit satzt sy mir vff den krantz Vnd sprach: den pring nach deinem synn Deines hertzen küngin! Die red haiszt der Mayen krantz; Got geb ir fräd in hertzen gantz! (V. 354–358)

Ein Liebesort ist der Garten also nicht im Sinne erfolgreicher Werbung (wie z. B. in ›Von manigerlay plümlen‹),17 sondern, wie häufig in Minnereden, in dem Sinne, daß er dafür vorgesehen ist, in ihm Liebe zu imaginieren und sie diskursiv zu entwerfen. Zumal über das wird verhandelt, was an der Liebe verallgemeinerbar, kein einmaliges ›Ereignis‹ ist. Das Begehren des Ich, das sich auf die schöne Dame im Garten richtet, widerspricht dem nicht, denn ihre descriptio rückt sie in die Nähe einer Personifikation, auch wenn sie in ihrem uneindeutigen Status von letzterer unterschieden bleibt. Solche Nähe zeigt sich an ihrer Bekleidung als Jägerin mit grünem Gewand und Jagdhorn, vor allem aber an den goldenen Buchstaben, die auf dem Gewand zu erkennen sind: An prust, an arm wol beschlagen o Mit guldin puchstaben, tetten sagen: Wer nit müg beleiben ain, Der hüt sich vor valscher gemain. (V. 162–164)

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Brandis Nr. 363; Hätzlerin II, 17.

›Innenräume‹ des Liebesdiskurses

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Zu einer weiteren Ermahnung fügen sich die Buchstaben einer Kette zusammen, v die sie um ihren Hals trägt: Seyest du von hertzen weis, / So plas still vnd leys! (V. 173f.). Wie auch sonst nicht selten für Figuren in Minnereden läßt sich für die Jägerin, darauf weist die Beschriftung hin, eine paradigmatische Dimension geltend machen.18 In anderen Texten können dies die sprechenden Namen des Ich, die Schemaqualität haben, indizieren.19 Damit erinnert auch dieser Garten an den lieblichen Zentralort in solchen Minnereden, wo er das Reich der Personifikationen ist, denen das Ich begegnet. Wie diese und wie die klagende Dame im ›Wurtzgarten‹ ist die Dame, die das begehrte Objekt und, als Jägerin, zugleich das Begehren personifizieren mag (von einer Personifikation trennt sie aber gerade die fehlende Festschreibung), keine ›bewegliche Figur‹, sie ist eng auf den Garten bezogen, in dem sie sich aufhält und den sie, als ein Teil von ihm, nicht verläßt. Seine sehnsüchtige Erinnerung an seine Geliebte läßt das Ich die Spur finden, die in den Garten hinein und zunächst zur Imagination der Liebeserfüllung führt, die einen Übergang zwischen den gedencken des Ich an die eine Geliebte und der generalisierenden Rede über die Liebe bildet, dann zum Dialog über das Jagen und schließlich zur Lehre, die das Ich erteilt. Die Bewegung führt über mehrere Stufen in ein ›Innen‹, doch ist dies nicht das Innere eines Subjekts, sondern gleichsam das Zentrum des Liebesdiskurses, geht es doch nicht um Liebe als sujethaftes Ereignis, sondern um die Rede über die Liebe als Paradigma, wobei die Rede sich selbst auch paradigmatischen Status zuschreibt, wenn sie zum schmückenden Maienkranz wird, den grundsätzlich jeder vorbildlich Liebende und Redende seiner Geliebten aus dem Garten mitbringen könnte. e Das ›plumleingertlein‹ deutet das Hineingehen in den Garten als Eintreten in 18

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Kiening fordert in seiner grundlegenden Studie zur Begegnung zwischen Ich und Personifikation, in der er auf die Übergänglichkeit der Personifikation hinweist: »Das heißt aber, die Personifikation nie nur paradigmatisch, immer auch syntagmatisch zu betrachten«; Christian Kiening, Personifikation. Begegnungen mit dem FremdVertrauten in mittelalterlicher Literatur, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Helmut Brall [u. a.], Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 347–387, hier S. 357; das Umgekehrte ist geltend zu machen für eine Figur wie die Jägerin im ›mayenkrantz‹ oder für ein Ich, das sich der ellend knab nennt; zu letzterer Figur in ›Der Minne Gericht‹ des Ellenden Knaben vgl. Margreth Egidi, Ordnung und Überschreitung in mittelhochdeutschen Minnereden. ›Der Minne Gericht‹ des Ellenden Knaben, in: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden, hg. von Ludger Lieb und Otto Neudeck, Berlin/New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 225–240. Brandis Nr. 459; 450; 402; 251; MR I, 1–4: der ellend knab; Eberhard von Cersne, ›Der Minne Regel‹; Brandis Nr. 428: Ie und Ie; Die Minnelehre des Johann von Konstanz, nach der Weingartner Liederhandschrift unter Berücksichtigung der übrigen Überlieferung hg. von Dietrich Huschenbett, Wiesbaden 2002; Brandis Nr. 232: Troˆstes aˆne.

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Margreth Egidi

das Herz des Ich wie in den Text an, wobei auch in diesem Garten nichts anderes erwartbar ist als der Entwurf der Liebe in ihrer paradigmatischen Dimension. Der ›mayenkrantz‹ löst die Doppelreferenz, die das Gartenmotiv in der statischen Allegorie erhält (auf das Herz bzw. den Text), gleichsam in eine Dynamik auf; ihr Ziel ist nicht das Herz als Garten, das Innere des Ich, das keinen Raum erhält, vielmehr sind das sehnsüchtige Gedenken wie auch die Imagination der Liebeserfüllung mit der Jägerin Übergangsstufen, die der Rede über die Liebe einen ›Diskursraum‹ eröffnen. Zugleich entsteht eine diskontinuierliche Bewegung von ›reiner‹ Bildlichkeit (die Eichhornjagd) über uneigentliche Rede (die Verhüllungsrhetorik der Jagdmetaphern) und sprachloses Zeichenhandeln (das Blumenpflücken, dem die Allegorese fehlt) bis hin zur unverhüllten ler über Minne. Letztere wird mit einer Überbietung der Chiffre mit dem Chiffrierten erreicht, die den Umschlagpunkt von verhüllter in unverhüllte Rede bildet: Der Behauptung der Dame, das Rosenpflücken sei ihre größte Freude, begegnet das Ich mit dem Hinweis auf die größeren Freuden der Liebe. Daran knüpft die Schlußkonstellation der beiden ›Endprodukte‹ an: Die Dame bietet mit dem Blumenkranz ›unübersetzte‹ Chiffren an, das Ich den ›mayenkrantz‹ als Minnerede.

4. Von Interesse für eine ›Poetik des Innen‹ sind Minnereden gerade dann, wenn sie keine konsistente ›Innenraum‹-Bildlichkeit entfalten, wenn diese aufgrund von Mehrfachbesetzungen brüchig bleibt und in der ausgestellten ›Künstlichkeit‹ der Rede die Metapher als Metapher nicht zum Verschwinden gebracht wird. Die Beispieltexte zeigen, daß diese Brüchigkeit etwas zu tun haben kann mit der Inszenierung der Ebenendifferenz zwischen Liebe und Liebesdiskurs, aus der sich Minnereden ganz wesentlich speisen – etwa bei der Doppelreferenz der Gartenallegorie auf Herz und Text oder bei der zweifachen Funktion des Herzgartens als Handlungsort des erzählten Geschehens und als Ort des Erzählens; im ›mayenkrantz‹ verschiebt sich die Doppelreferenz auf den Kranz. Zugleich entwickelt dieser Text eine Strategie, mit der er die besagte Ebenendifferenz als Bewegung in ein Inneres umsetzt, ausgehend vom sujethaftem Ereignis der Jagd über das gedencken des Ich an die Geliebte und die Übergangsstufe der Imagination bis zur Rede über Liebe in ihrer paradigmatischen Dimension. Der Text inszeniert damit andeutend das ›Innen‹, in das er hineinführt, nicht als das Innere einer Figur, sondern gleichsam als das Zentrum der Rede über die Liebe, ihr einen Raum eröffnend.

Undine Brückner

Kleidung, Verkleidung und Autorschaft ›Verhüllung‹ und ›Zierde‹ bei Dorothea von Hof

Im Vergleich mit anderen Kategorien materieller Kultur spielt Kleidung innerhalb der Literatur eine besondere Rolle, was Jane Burns in ihrer Einführung zu ›Medieval Fabrications‹ folgendermaßen begründet: »Textiles and the representation of them in literary, historical, art historical, legal, and religious documents provide a particularly apt tool for medievalists of various disciplines because textiles stand at the nexus of the personal and the cultural, often linking specific, individual expressions to institutionalized and hierarchical social structures.«1 Zur Signifikanz gibt es zahlreiche wichtige Untersuchungen,2 die auf Studien der metaphorischen Anwendung der Kleidung in exegetischen und moraldidaktischen geistlichen Texten aufbauen.3 Daß die Kleidungsinterpretation in mittelalterlicher Literatur bevorzugt vorgenommen wurde und als Bindeglied zwischen materieller und ideeller Kultur fungiert, mag in der Flexibilität der Anwendung dieses Themen- und Bildkomplexes begründet sein, der sowohl auf narrativer als auch auf poetologischer Ebene zum Tragen kommt. Die detaillierte Beschreibung der Kleidung in narrativem Zusammenhang beinhaltet lesbare Signale, die Aussagen über den sozialen Status, körperliche Qualitäten und innere Disposition der Figuren erlauben.4 Andererseits kann Verkleidung dabei als 1

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E. Jane Burns, Introduction. Why Textiles Make a Difference, in: Medieval fabrications: dress, textiles, clothwork, and other cultural imaginings, hg. von E. Jane Burns, New York 2004 (The New Middle Ages), S. 1–18, hier S. 1. Elke Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1989 (Beihefte zum Euphorion 23); Joachim Bumke, Höfische Kultur: Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, Bd. 1, München 1986. S. 172f.; Anke Bennholdt-Thomsen, Die allegorischen kleit im ›Gregorius‹-Prolog, Euphorion 56 (1962), S. 174–184; E. Jane Burns, Courtly love undressed: reading through clothes in medieval French culture, Philadelphia 2002 (The Middle Ages series); Encountering medieval textiles and dress: objects, texts, images, hg. von De´sire´e G. Koslin und Janet E. Snyder, New York 2002 (New Middle Ages). Meinolf Schumacher, Sündenschmutz und Herzensreinheit: Studien zur Metaphorik der Sünde in lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters, München 1996 (Münstersche Mittelalter-Schriften 73); Robes and honor: the medieval world of investiture, hg. von Stewart Gordon, Basingstoke 2001 (The new Middle Ages). Für das Lesen mittelalterlicher Texte als Kulturobjekte vgl. Claire Sponsler, Medieval Ethnography. Fieldwork in the European Past, in: Assays: Critical Approaches to Medieval and Renaissance Texts 7 (1992), S. 1–30.

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Undine Brückner

Mittel zur Verschleierung der eigenen Identität dienen, die Grenzen nicht nur des sozialen Standes, sondern auch des Geschlechts überschreiten kann.5 Nicht nur Kleiderordnungen und Luxusgesetze sorgen für die Definition und Einhaltung akzeptabler Bekleidungsstandards je nach religiösem Stand, Geschlecht und Status, sondern auch Werke allgemein moraldidaktischer Natur, wie zum Beispiel ›Der Tugenden Buch‹.6 Gleichzeitig widmen sich Autoren geistlicher Literatur dem Thema Kleidung auch auf spiritueller Ebene, wobei sich die Seele im Diesseits metaphorisch mit Tugenden bekleiden soll, sodaß sie im Jenseits das verlorene Glorienkleid wiedererlangt.7 Auch die etymologische Verbindung zwischen Text und Textilien bezeugt, wie sehr sich Kleidungsmetaphern zu poetologischer Anwendung anbieten.8

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Vgl. König Rother als Pilger, Ulrich von Liechtenstein im Venus-Kostüm. Zum Problem von Verkleidung und Geschlechtsidentität s. James A. Schultz, Bodies That Don’t Matter: Heterosexuality Before Heterosexuality in Gottfried’s ›Tristan‹, in: Constructing Medieval Sexuality, hg. von Karma Lochrie [u. a.], Minneapolis 1997 (Medieval Cultures), S. 91–110; Karma Lochrie, Covert Operations: The Medieval Uses of Secrecy, Philadelphia 1999 (The Middle Age Series); Ad Putter, Transvestite Knights in Medieval Life and Literature, in: Becoming male in the Middle Ages, hg. von Jeffrey Jerome Cohen und Bonnie Wheeler, New York/London 2000 (The new Middle Ages 4; Garland reference library of the humanities 2066), S. 279–302. o ›Das buch der tugenden‹: ein Compendium des 14. Jh. über Moral und Recht nach der ›Summa theologicae‹ II-II des Thomas von Aquin u. a. Werken der Scholastik und Kanonistik, 2 Bde., hg. von Klaus Berg und Monika Kasper, Tübingen 1984 (Texte und Textgeschichte 7/8), S. 442 u. 452f.; vgl. dazu Monika Kasper-Schlottner, ›Der Tugenden Buch‹, 2VL 9, Sp. 1134–1137; Neithard Bulst, Zum Problem städtischer und territorialer Kleider-, Aufwands- und Luxusgesetzgebung in Deutschland (13. bis Mitte 16. Jahrhundert), in: Renaissance du pouvoir le´gislatif et gene`se de l’e´tat, hg. von Andre´ Gouron [u. a.], Montpellier 1988 (Publications de la Socie´te´ d’Histoire du Droit et des Institutions des Anciens Pays de Droit E´crit 3), S. 29–57; Gundula Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel. Modekritik in Wort und Bild 1150–1620, Marburg 2002. Erik Peterson, Theologie des Kleides, Benediktinische Monatsschrift 16 (1934), S. 347–356, hier S. 350; Ulrich Köpf, Kleid/Kleidung. II. Christentum. 1. Sozial und kirchengeschichtlich, 4Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, 2001, Sp. 1412f. Erika Greber, Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln [usw.] 2002 (Pictura et Poesis 9), S. 1f. Ausgehend von der poststrukturalistischen Besinnung auf das Textile am Text wird die etymologische Herkunft des Terminus texere nicht nur auf die Literatur, sondern auch auf die Literaturtheorie angewandt. Vgl. Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1988 [frz. Orig.: Le plaisir du texte, 1973], S. 94:: »Text heißt Gewebe, aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe, dieser Textur löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.«

Kleidung, Verkleidung und Autorschaft

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Im Rahmen des Themas ›Innenräume‹ wird sich dieser Beitrag jedoch weniger mit der fundamentalen Bedeutungsvielfalt der Kleidung beschäftigen als damit, wie reale und metaphorische Kleidung zur Schaffung von körperlichen, geistigen und poetologischen Innenräumen beitragen kann.9 Untersucht werden soll dies am Fall der verheirateten Konstanzer Kompilatorin Dorothea von Hof o (1458–1501) und ihrem ›Buch der götlichen liebe‹.10 Im Alter von 19 Jahren besuchte Dorothea die Engelweihe in Einsiedeln (14.09.1477) und legt dort nach ihren eigenen Worten einige weltliche Kleidungs- und Schmuckstücke ab und setzt sich die für verheiratete Patrizier- und Bürgerfrauen vorgeschriebene Kirchenhaube, den ›Sturz‹ auf: Vnd satzt do den sturtz vf vnd let etliche weltliche o claiden vnd clainet hin das ich yr nit me trug.11 Ähnlich wie auch andere Objekte für einen bestimmten Inhalt konstruiert sind und so eine Barriere zwischen dem Inneren und Äußeren bilden, dient Kleidung dazu, Menschen in sich aufzunehmen. Im Falle der Kleidung haben wir es jedoch mit zwei separaten Aspekten der Gefäßfunktion zu tun, die Gegenstand der Diskussion sein sollen. Primär schützt das Gewand den Träger äußerlich gegen Witterungseinflüsse und eindringliche Blicke, seine Funktion ist also Verhüllung. Zweitens aber ist Kleidung sorgfältig gestaltet, um dem Betrachter einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. In diesem Sinne wird auch die schmuckloseste und einfachste Kleidung zu einem Zeichen, das Teile der äußeren öffentlichen Person repräsentiert; dies soll hier als Zierfunktion bezeichnet werden. Die Spannung zwischen diesen beiden Gefäßfunktionen, der Verhüllung und der Zierde, zieht sich durch moraldidaktische, spirituelle und poetologische Interpretationsmöglichkeiten, die im folgenden kurz vorgestellt werden. Auf moraldidaktische Texte wirkt sich diese Spannung in dem Maße aus, daß sie in ihrer Bewertung von Kleidung zu einer gewissen Ambivalenz tendieren. Kleidung wird in ihrer Verhüllungsfunktion positiv bewertet, wenn sie Sittsamkeit bewahrt und anstößige Entblößung verhindert, negativ aber, wenn sie den Träger und besonders die Trägerin als stolz und sexuell begehrenswert erscheinen läßt.12 Die Zierfunktion üppiger und wertvoller Kleidung, die in epischen Tex9

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Vgl. Dyan Elliott, Dress as Mediator between Inner and Outer Self. The Pious Matron of the High and Later Middle Ages, Mediaeval Studies 53 (1991), S. 279–308. Siehe auch Claudia Olk, Die verholnen kammeren der unsu´nlichen gotheit – zur Darstellung des Undarstellbaren bei Margery Kempe und Mechthild von Magdeburg, in: Innenwelten vom Mittelalter zur Moderne. Interiorität in Literatur, Bild und Psychologiegeschichte, hg. von Claudia Olk [u. a.], Trier 2002, S. 39–57. Kurt Ruh, Dorothea von Hof, 2VL 2, Sp. 216f.; Werner Fechter, Dorothea von Hof. Neues zu ihrer Biographie und zur Rezeption deutscher geistlicher Literatur im spätmittelalterlichen Konstanz, Typoscript 1994. o Dorothea von Hof, ›Buch der götlichen Liebe‹: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 752, r fol. 357 . Dazu Schumacher [Anm. 3], S. 310f.

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Undine Brückner

ten gleichbedeutend mit einem adligen Charakter und guter gesellschaftlicher Abstammung ist, weist in moral-didaktischen Texten eher auf einen durch Stolz, Eitelkeit und Verschwendung korrumpierten Charakter hin.13 o In das neunte Kapitel des ›Buch der götlichen Liebe‹ ist ein Exzerpt aus Heinrich Seuses erstem Brief des ›Briefbüchlein‹ integriert. Der Brief richtet sich an eine Nonne, die soeben die Welt verlassen hat und als gottgeweihte Jungfrau eingesegnet wurde, und das Zitat läßt sogar spezielle Verbindungen zwischen dem Kleidungstyp, der die Trägerin einschließt, und der weiterreichenden Debatte der Verschließung vor der Welt herstellen. Am Beispiel von Nonnen, als geweihten Jungfrauen im Vergleich zu ledigen, weltlichen Jungfrauen wird aufgezeigt, welche Kleidung ihrem gewählten Leben entspricht und welche Signale diese Kleidung senden sollte. o

Gedenk das du alle din fründe vnd ere vnd guot mit besinttem mut hast vfgeben vnd o bis vest an dissem willen. Tu nit als etlich toracht mägt, die sich gelichent den wilden, ingeschlosnen tieren: so man den die tor beschlusset so gugent sy durch die zun vs. Die da sind halb vs, halb inne: We mir, was verlierent die grosser arbeit mit clainen dingen! Got dienen ist innen ain kärcher, götliche zucht ain notstal, darvm das innen der öpfel nit mag werden, so gienent sy nach dem schmacke. Für die rössinen schappel legent sy vf florirende tücher vnd für rotten scharlacht pryssent si sich in ain wissen sack.14

Hier kritisiert der Text Frauen, die sich für ein klausuliertes Leben entschieden haben, ohne ihr Leben dem Dienst Gottes widmen zu wollen. Diese Frauen leben halb vs halb inne und gugent durch die zun vs, wie eingesperrte Tiere.15 Obwohl sie, wie es ihnen geziemt, wissen sack als Ordenstracht tragen, ist ihre geistliche Verschließung vor der Welt unvollständig. Die Trägerinnen, die bei der Einkleidung in die Ordenstrachten durch die Weihezeremonie geheiligt werden sollten, haben sich als dessen unwürdig erwiesen.16 Anstatt nach den 13

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Gabriele Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters, Hildesheim [usw.] 1985 (Ordo 1), S. 199. Raudszus vertritt die Meinung, daß in mittelalterlichen Epen die angemessene und kostbare Kleidung des Helden im Einklang mit seinen moralischen Qualitäten steht. Dies bestätigen auch Brüggen [Anm. 2], S. 39f. und Thomas Lentes, Die Gewänder der Heiligen: Ein Diskussionsbeitrag zum Verhältnis von Gebet, Bild und Imagination, in: Hagiographie und Kunst: der Heiligenkult in Schrift, Bild und Architektur, hg. von Gottfried Kerscher, Berlin 1993, S. 120–151, hier S. 135f. o ›Buch der göttlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 97r/r. Vgl. Heinrich Seuse, Brief I, in: Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 361, 15– 24. Vgl. Ct 2,9; siehe auch Athalya Brenner, The Song of Solomon, in: The Oxford Bible Commentary, hg. von John Barton/John Muddiman, Oxford 2001, S. 429– 433. Der Freund, als Hirsch »steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter« in die aufblühende Natur. So wie die Naturmetaphern Ausdruck der Sehnsucht des Liebenden sind, sehnen sich die Nonnen nach etwas, das außerhalb des Zauns liegt. Dyan Elliott, Dressing and Undressing the Clergy. Rites of Ordination and De-

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spirituellen rössinen schappel, der Liebesgabe Christi zu streben, legen sie sich ersatzweise florierende tücher um. Somit haben die Nonnen hier nicht nur ihre geistliche Tracht entweiht und damit äußerlich die Abwesenheit des persönlichen spirituellen Innenraums signalisiert, sondern auch ihre ungenügende Abkehr von der Welt demonstriert, indem sie die visuellen Grenzen des kommunalen geistlichen Innenraums, des Konvents, überschreiten. Die kleidungstechnische Ersatzhandlung symbolisiert gleichermaßen die Unerreichbarkeit des weltlichen Außenraums und des spirituellen Innenraums. Da das Gewand eine traditionelle Metapher für den Leib in seinem Verhältnis zur Seele ist, werden Verhüllung und Zierde auf der geistlichen Ebene im Allgemeinen als eindeutig positiv gesehen.17 Sich hübsche Kleider anzuziehen ist gänzlich wünschenswert, solange sie Tugenden symbolisieren.18 Die traditionelle Repräsentation von Tugenden und Lastern durch Kleidung reicht vom Alten Testament bis zum Alten Orient zurück, wobei nur vom Anlegen, Verhüllen oder Bekleiden mit positiven oder negativen Gewändern die Rede ist.19 Das spirituell positive, tugendhafte Kleid wird in seiner Originalbedeutung nicht als Zierde, sondern als Rüstung und Schutz empfunden.20 Spitz bezeichnet die ›Hülle‹ als Elementarmetapher, die in der frühkirchlichen Zeit der Exegese aus der typologischen Deutung und der heilsgeschichtlichen Denkweise hervorgegegangen ist und allegorisch über sich hinausweist.21 Die theologische Grundlage der geistlichen Interpretation der direkten Beziehung des Menschen zum Kleid bildet deshalb der Sündenfall.22

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gradation, in: Burns [Anm. 1], S. 55–70. Siehe auch De´sire´e Koslin, The Robe of Simplicity. Initiation, Robing, and Veiling of Nuns in the Middle Ages, in: Gordon [Anm. 3], S. 255–274. Schumacher [Anm. 3], S. 310. Peterson [Anm. 7], S. 347–356. Peterson folgt der syrischen Interpretationstradition der Kleidungsmetapher, während sich die griechische und die lateinische Interpretationstradition nicht auf die gleiche Art und Weise mit der Kleidungsmetapher beschäftigten. Vgl. Paul Wendland, Das Gewand der Eitelkeit. Ein Fragment, Hermes 51 (1916), S. 481–485; Sebastian Brock, Clothing Metaphors as a Means of Theological Expression in Syriac Tradition, in: Typus, Symbol, Allegorie bei den östlichen Vätern und ihren Parallelen im Mittelalter. Internat. Kolloquium, Eichstätt 1981, hg. von Margot Schmidt in Zusammenarbeit mit Carl Friedrich Geyer, Regensburg 1982 (Eichstätter Beiträge 4, Abt. Philosophie u. Theologie), S. 11–40, hier S. 12f. H. A. Brongers, Die metaphorische Verwendung von Termini für die Kleidung von Göttern und Menschen in der Bibel und im Alten Orient, in: Von Kanaan bis Kerala. Festschrift für J. P. M. van der Ploeg zur Vollendung des 70. Lebensjahres am 4. Juli 1979, hg. von W. C. Delsman, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1982 (Alter Orient und Altes Testament 211), S. 61–74, hier S. 65f. Brongers [Anm. 19], S. 62. Hans-Jörg Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns: Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends, München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften 12), S. 8 und 34f. Peterson [Anm. 7], S. 347.

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Nichtsdestotrotz lassen sich auch auf der geistlichen Ebene Spuren der Ambivalenz zwischen Verhüllung und Zierde feststellen. Tugendkleider der Seele, so reizvoll sie auch sein mögen, bedecken die Seele von außen. Sie fungieren als der einzig mögliche Ersatz für das durch den Sündenfall verlorene Glorienkleid. Voraussetzung für die erfolgreiche Bekleidung und/oder Verhüllung ist Reue, da diese das Ablegen der Lasterkleider, der Sünden, ermöglicht.23 Sind alle ›erworbenen‹ Tugendkleider und von Gott eventuell verliehene Gnadenkleider24 angelegt, ist die Seele bereit zur unio mystica. Nun offenbart sich die Ambivalenz spiritueller Kleidung im Kontext der Brautmystik, denn zur Unio mit dem himmlischen Bräutigam muß die Seelenbraut auch das letzte die Seele verhüllende Kleidungsstück, die Tugenden, ablegen.25 Im Einblattdruck von ›Christus und die minnende Seele‹ fordert Christus die Seele zur Vereinigung auf: Wilt du o e dich genieten mein / So must du gar enblosset sein die Antwort der Seele erfolgt: e Nement alle sament war / er will mich enblossen gar. 26 Bildliche Darstellungen dieses Textes zeigen, daß es wirklich das letzte äußere Kleidungstück ist, das die Seele noch von Gott trennt.27 Mechthild von Magdeburg, in deren Visionen sich Kleidungsmetaphern häufen, spricht zu Gott: Du kleidest dich mit der seele min und du bist ouch ihr nehstes cleit. Die inneren Tugenden werden damit als etwas beschrieben, das die Seele schon immer besitzt; sie darf sie nicht ablegen, da sie ihr von Natur aus gegeben sind und das Gefäß darstellen, welches Gott in der Einheit füllen will.28 Mit diesen inneren Tugenden ist die Seele also gleichsam von innen ausgekleidet, und der verbleibende Innenraum hat nur die eine Funktion, Gott in sich aufzunehmen.

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Bardo Weiss, Ekstase und Liebe: die Unio mystica bei den deutschen Mystikerinnen des 12. und 13. Jahrhunderts, Paderborn [usw.] 2000, S. 455f. Diese üblicherweise von Christus verliehenen Gnadenkleider können bestimmte Tugenden wie Unschuld und Leiden darstellen oder absolute Vollkommenheit bedeuten, wenn die Seele mit Christi Tugenden ausgestattet wird. Weiss [Anm. 23], S. 457f. Helena Stadler, Konfrontation und Nachfolge: Die metaphorische und narrative Ausgestaltung der Unio mystica im Fliessenden Licht der Gottheit von Mechthild von Magdeburg, Bern 2001(Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 35), S. 136f. Einblattdruck ›Christus und die minnende Seele‹, in: Krone und Schleier: Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, hg. von der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland und dem Ruhrlandmuseum Essen, Ausst.-Kat., München 2005, S. 466. Christus und die minnende Seele: zwei spätmittelhochdeutsche mystische Gedichte, hg. von Romuald Banz, Breslau 1908 (Germanistische Abhandlungen 29). Vgl. Hildegard Elisabeth Keller, My Secret Is Mine: Studies on Religion and Eros in the German Middle Ages, Leuven 2000 (Studies in Spirituality; Supplements 4), S. 187f. Mechthild von Magdeburg. Das Fließende Licht der Gottheit, hg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek des Mittelalters 19; Bibliothek deutscher Klassiker 181), S. 92 (II,V,7–8); vgl. Weiss [Anm. 23], S. 460.

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Auf literarisch-poetologischer Ebene schließlich existieren zwei metaphorische Umsetzungen. In beiden Fällen bleibt die Dichotomie von Verhüllung und Zierde anwendbar. Die erste sieht den Text als ein wertvolles verhüllendes Gewebe, das vom Autor gewoben wurde und von ihm wie Kleidung als Tugendschutz und/oder Kampfesrüstung getragen werden kann. So schmückt sich zum Beispiel der Autor mit dem Text, selbst wenn er sich hinter oder in seinen Text zurückzieht. Im zweiten Fall ist der Text kein Gewebe, sondern eine nackte Form, wie ein Körper, die durch den Autor bekleidet werden muß. Dieses Paradigma vom Text als integumentum ist zum Bedeutungsträger eines bestimmten hermeneutischen Ansatzes geworden, der den Text als Gewebe multipler Bedeutungsschichten sieht, der deshalb auf der wortwörtlichen Ebene nicht wahr sein muß.29 Thomasin von Zerklaere spielt auf die diesem Modell entspringende Kleidungsmetapher mit der Formulierung an: daz war man mit lüge kleit.30 Das adäquate Bekleiden des Textes ist sowohl ein ästhetisches als auch ein hermeneutisches Problem, und die an die Zierde des Textes gestellten Anforderungen werden den Autor in seinen intellektuellen Entscheidungen beeinflussen. Wie solche Konzepte in der didaktischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts verhandelt werden, ist schon oft diskutiert worden; ich möchte hier dagegen vorführen, wie ein geistlicher Text des späten 15. Jahrhunderts, Dorotheas o von Hof ›Buch der götlichen Liebe‹ damit umgeht. Mein Ziel ist es, die Konzepte der Verhüllung und Zierde auf die Art und Weise anzuwenden, mit der sich Dorothea von Hof mit dem Thema der Kleidung auf moraldidaktische, geistliche und sogar poetologische Weise auseinandersetzt und inwieweit ihr Werk verschiedenartige Innenräume schafft.

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Hennig Brinkmann, Verhüllung (›Integumentum‹) als literarische Darstellungsform im Mittelalter, in: Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, hg. von Albert Zimmermann, Berlin/New York 1971 (Miscellanea Mediaevalia 8), S. 314–339. Thomasin von Zerclaere, Der Welsche Gast, hg. von Friedrich Wilhelm von Kries, 4 Bde., Göppingen 1984/85 (GAG 425), S. 1118f. »Es geht um das Problem wie sich Erfindung – der höfische Roman, der ›Winke für das rechte Leben gibt‹ – mit der Wahrheit vereinbaren läßt. Grundsätzlich ist integumentum von allegoria dadurch geschieden, daß die verborgene Wahrheit der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist«; siehe Brinkmann [Anm. 29], S. 325. Vgl. auch Kathryn Starkey, Das Spiegelbild bei Thomasin von Zerclaere: (Selbst-)Reflexion und Imago in der Entwicklung des höfischen Subjekts, in: Inszenierung von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hg. von Martin Baisch, Berlin 2005, S. 230–248. Weiterhin Kathryn Starkey, From Symbol to Scene: Changing Models of Representation in the Manuscripts of the ›Welsche Gast‹, in: Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des ›Welschen Gastes‹ von Thomasıˆn von Zerclaere, hg. von Horst Wenzel und Christina Lechtermann, Köln [usw.] 2002 (Pictura et Poesis 15), S. 121–142.

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Dorothea von Hof, Ehefrau eines Konstanzer Patriziers, ist die Kompilatoo rin des unikal überlieferten ›Buch der götlichen Liebe‹. Dieses in 53 thematische Kapitel gegliederte Werk setzt sich aus moraldidaktischen und katechetischen Exzerpten aus der Patristik und Aussagen von kirchlichen und antiken Autoritäten zusammen, die ihrerseits Texten des 14. und 15. Jahrhunderts entstammen. Dorothea berichtet in einem Kolophon, sie habe vierundzwanzigjährig am o Silvesterabend 1482 dis buch zu Ende geschrieben zu haben. Bewußt betont sie v ihren Status als Ehefrau: Vnd ist gesin nu´ Iar an sant Pallus bekert Im dru´ vnd achtzigosten Iar das Jerg vnd ich Elich zesament kament. 31 Im gleichen Maße inszeniert auch das Frontispiz Dorotheas Namenspatronin, die heilige Dorothea, zur Linken des heiligen Georg, des Namenspatrons ihres Mannes. Die androgyne, farblich hervorgehobene Schreiberfigur mit Schreibpult, Tintenfaß und dem aufgeschlagenen, schon beschriebenem Buch in der Mitte stellt assoziativ die Beziehung zwischen der abgebildeten Tätigkeit und dem Verfasseranspruch Dorotheas her.32 Diese explixite Darstellung mittelalterlicher weiblicher Autorschaft auf der ersten und letzten Seite ihres Werkes zeigt, daß Dorothea sich mit dem Werk wie mit einem Schmuckstück ziert. Als Ersatz für den bereits abgelegten, aus Kleidern und Kleinodien bestehenden materiellen Zierrat legt sie die durch das Lesen, Exzerpieren, Kompilieren und Kopieren verinnerlichten Tugenden als geistliche Kleider an und schafft sich mit diesen literarisch-intellektuellen Tätigkeiten einen spirituellen Innenraum. Der eigentliche Text des Werkes jedoch verschweigt den weltlichen Status und das Geschlecht der Verfasserin und äußert sich nur zu ihrem literarisch-methodischen Vorgehen. Obwohl das Werk recht umfgangreich ist, vermeidet es weitgehend die Nennung von Frauen, bezieht sich aber in der seltenen Erwähnung des weiblichen Geschlechts hauptsächlich auf Kleidung. Wie die enge Verbindung von Kleiderund Frauenschelte durch geistliche Kritiker zeigt, boten sich den Frauen deutlich mehr Möglichkeiten als Männern, was die Bekleidung und Zierde anbelangt, selbst wenn diese eher sukzessiv je nach Familienstand als Jungfrau, Ehefrau oder Witwe zur Verfügung standen.33 Benz stellt in seiner Analyse der Bilder31 32

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o

›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 357r. Christel Meier, Ecce auctor. Beiträge zur Ikonographie literarischer Urheberschaft im Mittelalter, Frühmittelalterliche Studien 34 (2000), S. 338–392. Siehe auch Lesley Smith, Scriba Femina. Depictions of Medieval Women Writing, in: Women and the Book: Assessing the Visual Evidence, hg. von Lesley Smith, London [usw.] 1997, S. 21–44; Katrin Graf, Bildnisse schreibender Frauen im Mittelalter. 9. bis Anfang 13. Jahrhundert, Basel 2002. Jutta Zander-Seidel, Textiler Hausrat. Kleidung und Haustextilien in Nürnberg von 1500–1650, München 1990 (Kunstwissenschaftliche Studien 59); Dies., Das erbar gepent. Zur ständischen Kleidung in Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert, Zeitschrift der Gesellschaft für Waffen- und Kostümkunde. Dritte Folge der Zeitschrift für historische Waffenkunde 27 (1985), S. 119–140; Veronika Baur, Kleiderordnungen in

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welt der Visionen fest, daß »gerade bei Frauen die Kleider der Personen, die sie in Visionen sehen, besonders oft beschrieben werden« und daß »die himmlische Gewandung in Form einer recht vielgestaltigen und vielfarbigen Garderobe auftritt.«34 Elliott beschreibt die Funktion der Kleidung als eine Art Kurzschrift, um der äußeren Welt die Befindlichkeit des Trägers zu vermitteln. Die sich ergebende Diskrepanz zwischen sozialer Stellung und spiritueller Verfassung wird besonders auffällig in der Kleidung von Heiligen beider Geschlechter, jedoch zusätzlich kompliziert in der Situation von Frauen, speziell verheirateter Frauen, deren Frömmigkeitspraxis sich einer anderen Autoritätshierarchie anpassen mußte.35 Daß die Beschäftigung mit Kleidung nicht ein ausschließliches Frauenthema ist, zeigt zum Beispiel Heinrich Seuse, der sich insbesondere für die Kleidung der Ordensleute und des Weltklerus interessierte, als er ihre ungebührliche und aufwendige Prachtentfaltung kritisierte.36 Die metaphorische Interpretation realer Kleidung im weltlichen und geistlichen Bereich in Bezug auf den spirituellen Innenraum ist kein neuer Ansatz. Wie die Studie alttestamentarischer Texte durch Brongers und Spitz gezeigt hat, existiert die Metapher des Kleides zur Beschreibung des buchstäblichen und geistigen Schriftsinnes schon seit langem.37 Die geistliche Interpretation des Kleides geht davon aus, daß der Mensch vor dem Sündenfall zwar unbekleidet war, aber ein Kleid aus Glorie und Gnade trug.38 »Der Mensch wird erst durch das Glorienkleid interpretierbar, daß ihm äußerlich anhaftet. Aber in dieser ›Äußerlichkeit‹ eines bloßen ›Kleides‹ kommt etwas sehr wichtiges zum Ausdruck, daß nämlich die Gnade die geschaffene Natur, ihre ›Unbekleidetheit‹, wie auch ihre Möglichkeit entblößt zu werden, voraussetzt.«39 Der Zustand des intellektuell wahrgenommenen Nacktseins wurde erst durch den Sündenfall

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Bayern vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, München 1975 (Miscellanea Bavarica Monacensia 62; Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München 82); Gertraud HamplKallbrunner, Beiträge zur Geschichte der Kleiderordnungen mit besonderer Berücksichtigung Österreichs, Wien 1962 (Wiener Dissertationen aus dem Gebiet der Geschichte 1). Ernst Benz, Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart 1969, S. 341– 352, hier S. 352. Vgl. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Die Miniaturen im ›Liber scivias‹ der Hildegard von Bingen. Die Wucht der Vision und die Ordnung der Bilder, Wiesbaden 1998; Lentes [Anm. 13], S. 120–151. Elliott [Anm. 9], S. 279. Den Ausgangspunkt ihrer Analyse bildet Augustinus’ Brief an Ecdicia, die ohne Erlaubnis ihres Ehemannes ihren Landbesitz verschenkte, Keuschheit gelobte, und sich, der fleischlichen Bindung ledig, in Witwenkleider hüllte. Heinrich Seuses Horologium sapientiae, hg. von Pius Künzle, Freiburg/Schweiz 1977 (Spicilegium Friburgense 23), S. 105f. Spitz [Anm. 21], S. 8 und 23f.; Brongers [Anm. 19], S. 72. Ambrosius bezeichnet das prälapsarische Gewand als Unschuldskleid sed nec Adam primo nudus erat, quando eum innocentia vestiebat, De Isaac 5, 43 zitiert nach Peterson [Anm. 7], S. 349. Peterson [Anm. 7], S. 350.

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möglich, wobei der Mensch sein Glorienkleid verlor und von nun an ersatzweise und aus Gründen der Scham mit ›Kleidern aus Fell‹ deckt werden muß. Das Ziel der Inkarnation ist es, die Menschheit wieder in das paradiesische Glorienkleid zu kleiden, was durch die Taufe geschieht, die als das Anlegen des jungfräulichen Christus betrachtet wird, der sich, bei seiner Taufe im Wasser des Jordan, als Heilsversprechen in allen Taufwassern zurückließ, aber erst mit dem Jüngsten Gericht vollständig erreicht werden kann.40 Da der sündige postlapsarische Körper ein Zeichen der verlorenen Unschuld und des Verlusts des ewigen Lebens ist, muß er fortan mit Kleidern verhüllt werden.41 Die Metaphorizität der religiösen Sprache zum Ausdruck von Sünden visualisiert einen strafwürdigen Tatbestand, während sie genausogut dem Ausdruck von Tugenden dienen kann.42 In Dorotheas Werk bilden die Sündenkapitel der Hoffart und Unkeuschheit und ihre korrespondierenden Tugendkapitel die Grundlage für eine moraldidaktische Interpretation der Zier- und Verhüllungsfunktion der Kleidung. Entscheidend ist die Motivation des Trägers, wie die zier-bedingte Höllenqual des reichen Mannes zeigt, der geclaidet was An disser welt mit pfeller vnd mit samet, wan nieman tret sölliche costbere claider Die da gar sind v´ber die mas Danne zuo ainer v´ppigen ere.43 Moralisch inakzeptabel ist die Intention des Menschen, mit übertriebener Kleidung anderen zu gefallen und eine Aussage zur sozialen Bedeutsamkeit der eigenen Person zu machen. Im Gegensatz dazu konstituiert die bewußte Wahl schäbiger und einfacher Kleidung, um dafür als gut, gerecht und heilig gelobt zu werden, eher eine Verkleidung zur Verhüllung. In diesem Fall wird nicht nur aus Stolz gegen Gott gesündigt, sondern auch gegen den Betrachter, der in seiner Einschätzung des Trägers (ähnlich wie bei Verkleidungen in höfischen Epen) betrogen wird: Das ist alweg sünd vnd ist das dar vm wan sy die lüt triegent mit Iren bössen claidern durch ain rumen vnd durch ain gelichsnen vnd nit durch got. 44 40

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Hildegard Elisabeth Keller, Wort und Fleisch. Körperallegorien, mystische Spiritualität und Dichtung des St. Trudperter Hoheliedes im Horizont der Inkarnation, Bern 1993 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 15); Brock [Anm. 18], S. 12f. Peterson [Anm. 7], S. 350f. Schumacher [Anm. 3], S. 10. Brongers Studie zeigt Jahwe als Kriegs- und Schöpfergott der Gerechtigkeit, wie er einen Panzer anlegt, den Helm des Heils aufsetzt und Vergeltung als Gewand anzieht (Jes. 59,17). Brongers [Anm. 19], S. 61f. Auch Seuses ›Diener der Ewigen Weisheit‹, wird in Kapitel 20 der ›Vita‹ zum geistlichen Rittertum erhoben und dementsprechend mit Ritterkleid, Schuhen und Standarte ausgerüstet. Seuse, ›Vita‹ [Anm. 14], S. 55f. Siehe auch: Das St. Trudperter Hohelied: eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis, hg. von Friedrich Ohly unter Mitarb. von Nicola Kleine, Frankfurt a. M. 1998 (Bibliothek des Mittelalters 2). o o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 186r; Quelle: ›Das buch der tugenden‹ [Anm. 6], S. 452. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 186v; Quelle: unbekannt.

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Die Interpretation der äußeren Kleidung im angegebenen Textbeispiel führt somit zur Fehleinschätzung der Religiosität der fraglichen Person durch den Betrachter, weil das Äußere nicht dem geistigen Innen entspricht. Komplizierter wird die moralische Bewertung des Zieraspektes von Kleidung und Schmuck, wenn es sich beim Träger um Frauen handelt und besonders, wenn die Trägerinnen verheiratet sind. Zierde wird als positiv bewertet und von kirchlichen Autoritäten nicht als Sünde angesehen, wenn die Ehefrau damit beabsichtigt, dem eigenen Ehemann zu gefallen. o

Pallus spricht das die efrow die ding gedenckt die da hörent zu disser welte, wie sy wolgevalle Irem man. Vnd darvm sprechent die maister: Ist das sich die efrow nun o darvm zieret das sy da mit wol geval irem e man, das mag sy wol tun on alle sünd. Aber die frowen die da elich man nit habent, noch och haben wellent, die mugent on o sünd des nit begeren, das sy den manen zu bösser begerung wol gevallent. Wan das o wär nit anders dan das man in zu sünden vrsach gebe.45

Die Unterscheidung in Verheiratete und Unverheiratete (Jungfrauen und Witwen) macht deutlich, daß Ehefrauen zu allererst ihrem Ehemann Gehorsam schulden und sich schmücken dürfen bzw. sollen, um sexuell attraktiv zu bleiben und den eigenen Mann vor Ehebruch zu bewahren.46 Es ist also das gefährliche Verführungspotential unverheirateter Frauen, welches durch tugendhafte Verhüllung und Schmuckverzicht kontrolliert werden soll. Inwieweit der dekorative und Aufmerksamkeit erregende Kleidung als prunksüchtig und unmoralisch angesehen wird, hängt also davon ab, ob die Trägerin verheiratet ist. Ein Ehemann, der seine gesellschaftliche Stellung durch seine Kleidung zum Ausdruck bringt, kann dies auch von seiner Frau verlangen. Der Ehemann hat also das Recht seiner Ehefrau reiche Kleidung vorzuschreiben, ohne daß ihr dieses Vergehen als Sünde zugeschrieben wird, weil die Ehefrau in erster Linie ihrem Mann gehorsam zu sein hat. Sollte diese Forderung nach standesgemäßer üppiger Kleidung nicht mit der persönlichen tugendhaften Intention einer Ehefrau übereinstimmen, gewinnt der Ehemann Einfluß auf die äußere Entsprechung ihres spirituellen Innenraums und der Ausübung ihrer Frömmigkeit. Bei Nicht-Ehefrauen wird die Zierde jedoch immer als eine sündhafte bewußte Einladung zur Unkeuschheit gesehen. Zusätzlich gilt für alle Frauen das Verbot des Schminkens und des Färbens der Haare: Das sich frowen mallent vnd färbent durch Ir schönne das mag nit gesin one sünde Aber denne so ist es frowen ain tod sünd so es beschiecht In ainer vnkünschen begerung. 47 45 46

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o

o

›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 186r; Quelle: ›Das buch der tugenden‹ [Anm. 6], S. 455. Elliott [Anm. 9], S. 282. Elliott nennt diese sexuelle Spannung den ›female dresssexuality-subordination nexus‹, der es verheirateten Frauen erschwert, die innere Frömmigkeit mit den äußeren Anforderungen an ihre Kleidung zu vereinbaren. Siehe auch den von ihr zitierten Brief Augustinus’ an Ecdicia, die durch ihre Witwenkleidung der Öffentlichkeit das Ende ehelicher sexueller Beziehungen signalisierte und damit ihren Mann bloßstellte, der sich daraufhin außerehelich vergnügte. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 187r.

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Zu den Regeln für geistliche Frauen gehört weiterhin das Verbot, daß sie ihre ogen nit frölichen hin vnd her werffent sunder Ir sölt sy nyder schlachen zuo der erden, denn niedergeschlagene Augen sollen den Ausschluß der äußeren Welt bewirken und mithilfe des eigenen Körpers einen introspektiven Innenraum schaffen, in dem sie sich ganz dem geistlichen Leben widmen können.48 Der o Verhüllungsaspekt der Kleidung beschränkt sich im ›Buch der götlichen Liebe‹ auf die von Paulus geforderte tugendhafte Bedeckung des weiblichen Kopfes.49 Im Vergleich zu ungenügender Verhüllung bildet die weibliche Zierde somit die größte Gefahrenquelle für die weibliche Seele und die der Männer, denn wiplich gesicht ist ain tür des tüfels vnd ist ain weg der vnkünschait vnd ist ain schlag des ewigen todes.50 Die Innenräume, die bisher angesprochen wurden – der Konvent, die Kleidung und auch der Körper als Innenraum – eröffnen multiple, graduell abgestufte Räume, die kontemplative Rückzugsmöglichkeiten bieten.51 Das Maß oder Übermaß an äußerlicher Zierde kann nur bedingt als Definition der inneren weiblichen Einstellung Gott gegenüber gelten, wobei Ehemänner oder fremde Männer als mittelbarer Intentionsindikator fungieren. Wo sich eine Ehefrau schlichter kleiden möchte, ihr dies aber vom Ehemann versagt wird, ersetzt die von Gott erkannte positive interne Intention die äußere Ausführung.52 Obwohl diese Möglichkeit von Dorothea nicht besprochen wird, spielt sie im Leben verheirateter Heiliger wie Elisabeth von Thüringen und Birgitta von Schweden eine große Rolle. Beide Frauen passen ihre Kleidung ihrer gesellschaftlichen Stellung bis zu einem gewissen Grad an, obwohl Elisabeth es vorziehen würde, nicht nur in Abwesenheit ihres Mannes einfache Kleidung zu tragen, und Birgitta bis zu ihrer Witwenschaft wartet, bis sie die standesgemäßen Kleider ablegt; beide sahen sich zeitweise gezwungen ihren geistlichen Innenraum von ihrer äußeren Erscheinung zu trennen.53 Bewußte Übertretung 48

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›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol 213r/v; Quelle: Der Heiligen Leben, Juliana (Predigtteil). Fechter [Anm. 10], S. 187. Fechter benutzte zum Nachweis die 1471 bei Günther Zainer in Augsburg erschienene Ausgabe (Exemplar: Freiburg, UB, Ink. 2o K 3376,d); dieser Text ist in ›Der Heiligen Leben‹, Bd. 2, hg. von Margit Brand [u. a.], Tübingen 2004, S. 497f. unter dem Eintrag von Juliana von Nikomedien nicht vorhanden. McNamarra weist darauf hin, daß Paulus Anweisung zur weiblichen Kopfbedekkung impliziert, daß Frauen und Männer – im Unterschied zum geschlechtlich separierten Jüdischen Gottesdienst – gemeinsam beten würden. So gesehen boten die frühen christlichen Gemeinden Frauen gleichberechtigten Gottesdienst im Gegenzug zur veränderten Kleidung. Jo Ann McNamarra, Sexual Equality and the Cult of Virginity in Early Christian Thought, Feminist Studies 3 (1976), S. 145–158, hier S. 145. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 209r; Quelle: unbekannt. Vgl. Annette Kern-Stähler, A room of one’s own. Reale und mentale Innenräume weiblicher Selbstbestimmung im spätmittelalterlichen England, Frankfurt a. M. [usw.] 2002 (Tradition – Reform – Innovation 3). Elliott [Anm. 9] zitiert Augustinus’ Epistel 262, S. 263. ›Der Heiligen Leben‹ [Anm. 49], Elisabeth von Thüringen, S. 154–178; Elliott [Anm. 9], S. 297.

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der Verhüllungs- und Zierregularien dagegen ist im gleichen Maß Ausdruck von Lasterhaftigkeit wie das äußere Vorspiegeln einer nicht existierenden inneren Frömmigkeit, und reflektiert auf der geistlichen Ebene ein gestörtes persönliches Verhältnis zu Gott. Die Bewertung von Frauen in den Lasterkapiteln ist überwiegend negativ, während die entsprechenden Tugendkapitel das jungfräulich geistliche Leben als Ziel propagieren. Dorotheas Quellentexte, wie etwa Meister Ingold Wilds ›Das goldene Spiel‹ enthalten durchaus Material für den Ausdruck einer positiveren Einstellung Frauen gegenüber: wie zum Beispiel die Ansicht, daß noch gewone o licher ordnung so sind die frawen andachtiger und geschikter zu gotz dienst denn die man.54 Dennoch vermeidet Dorothea eine persönliche Stellungnahme, denn die didaktischen kleidungstechnischen Exzerpte sind allgemein gehalten und nehmen keinen Bezug auf spezifische Vorbilder. Die Kleidungsmetaphorik dient der Darstellung des geistigen Zier- und Verhüllungsaspektes, indem sowohl Tugenden wie auch Laster als Kleider bezeichnet werden. Diese Metaphern können an den Status der Trägerin gebunden sein: Ain raine Iunckfrow sol nit sorgen wie sy beclaidet werd oder syg, wan sy hat ain claid der vnschuld.55 Im 24. Kapitel, das Hoffart und Lust thematisiert, sind es die zerisnen bösnen claider der hoffart und das vnrain claid der vnkünschait,56 während das dazugehörige Tugendkapitel die Demut auf ähnliche Art und Weise vorstellt: Dömüttikait ist ain claid, das da nit ist v´ber flüssig, noch costber, noch hüpsch. 57 Das Unschuldskleid der Seele weist auf einen intakten geistlichen Innenraum hin, der hier eindeutig höher bewertet wird als die weltliche Zier- und Verhüllungsfunktion realer Kleidung. Egerding definiert die metaphorische Bedeutung der Kleidung in mystischen Texten folgendermaßen: »Bei diesen Metaphern steht der Unterschied zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit, zwischen einem außen- und innenorientierten Menschen sowie dem äußeren uneigentlichen und dem inneren eigentlichen Menschen im Mittelpunkt. Zentral für dieses Konzept menschlicher Veränderung ist die Notwendigkeit der Umorientierung von außen nach innen.«58

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Meister Ingold, Das goldene Spiel, hg. von Edward Schröder, Straßburg 1882 (Elsässische Literaturdenkmäler aus dem 14.–17. Jahrhundert 3), S. 16. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 211v; Quelle: unbekannt. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 208r/v; Quelle: ›Deutsches Plenar‹. Fechter [Anm. 10] benutzte zum Nachweis die 1490 bei Johann Schobser in Augsburg erschienene Ausgabe (Exemplar: Freiburg, UB, Ink.4o 0 7351,d). o o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 188v; Quelle: ›Das buch der tugenden‹ [Anm. 6], S. 453. Michael Egerding, Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, Bd. I, Paderborn [usw.] 1997, S. 65.

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Dorothea ist keine Mystikerin; dennoch spielt das Konzept der menschlichen Veränderung von außen nach innen doch gerade bei literarischer Auseinandersetzung mit geistlichen Texten eine große Rolle. Eine Form der spirituellen Zierde der Seele dient dazu, den Innenraum abzugrenzen und zu schützen, was sich in der Metapher des geistlichen Waffenkleides äußert: Stercke vnd götlich geziert ist der sel claid, wan als ain wol gewapnotter man nit als bald mag werden verwundet Als der nackent. Also enmag och die sel, die wol behüt ist mit götlicher stercke, nit wol mit sünden verwundet werden. 59 Während die Seele auf spiritueller Ebene mit Tugenden geziert werden kann, so wie es schickliche Verhüllung im realen Bereich demonstriert, fungieren Laster wie Hoffart und Unkeuschheit als Verhüllung der Seele vor Gott. Neben den selbst erworbenen, die Seele zierenden Tugenden wird die Kleidungsmetaphorik auch explizit auf die von Gott verliehenen Gnaden angewendet: Owe mord, ha/’nd mich valschlich vnd ellenclich gelassen vnd ab mir gezeret alles das gu/ot da mit mich min ainyges lieb hat geclaidet.60 Die bei Mystikerinnen am häufigsten auftretende Kleidungsmetapher, das Kleid als Tugendgeschenk, ist in Dorotheas Werk nur in Exzerpten aus Seuses Werken zu finden.61 Im Gegensatz zum Streben der mit Tugenden gezierten Seele nach Gottförmigkeit kommt die seelische Verhüllung durch Sünden und Laster der Gottesferne gleich. Der negative Effekt der Sünden kann auch durch Entblößung der Seele beschrieben werden: kain vntugent zerrisset mer das claid der sel dan die hoffart.62 Die Metapher der Zerreißung des Seelenkleides zeigt die Seele nicht gleichwertig unbekleidet, wie vor der Vereinigung von Gott und Seele, sondern ›nackt‹ im Sinne von absoluter Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit durch jegliche Anfechtung und Sünden aller Arten. Die Erwartung, bei Dorothea auch eine metaphorische Entkleidung der Seele im Kontext der unio mystica zu finden, wird enttäuscht, was zum Teil daran liegen mag, daß Dorothea mystisches und spekulatives Gedankengut fast völlig ausspart. Einzig die Vermählung der Seele mit Gott wird als prunkvolle Ausstattung der Braut beschrieben: Er hat mich Im selbs vermächlet mit sinem vingerlin vnd hat mich beclaidet mit costlichem gewand mit häftlin, mit edlem gestain hat er mich wol gezieret vnd hat mich gekrönt als sinen gespontzen mit ainer edlen kron.63 59

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›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 281v; Quelle: unbekannt; vgl. aber Seuse, ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ [Anm. 14], S. 205, 10. Ich wil dir min wafen claid an legen wan alles min liden muos von dir nach dinem vermugen werden gelitten. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 12r; Quelle: Seuse, ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ [Anm. 14], 211, 22. Weiss [Anm. 23], S. 462. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 208r/v; Quelle: ›Deutsches Plenar‹, Glosse 1. Advent. Fechter [Anm. 10], S. 111. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 79r/v; Quelle: Berhard D. Haage, Der Traktat ›Von dreierlei Wesen der Menschen‹, Heidelberg 1968; Fechter [Anm. 10], S. 118.

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Die Seele, die als Braut Christi meist mit weiblichen Termini bezeichnet o wird, tritt auch in ›Buch der götlichen Liebe‹ in verschiedenen Kleidern auf.64 So kann sie Iungfrow, dierne oder arme wöscherin sein, auch gemächlin 65 und kungin.66 Obwohl die Kleidung der Seele in diesen Fällen nicht näher beschrieben wird, läßt sich doch ihre hierarchische Stellung implizit an ihrer rollenbezogenen weiblichen Kleidung ablesen. In gleichem Maße wie die Kleidung weltlicher und geistlicher Jungfrauen bestimmten Restriktionen wie der Größe des Ausschnittes und dem Tragen der Ordenstracht unterliegt, wird von der jungfräulichen Seele erwartet, daß sie sich mit Tugendkleidern ziert. Aus Heinrich Seuses ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ stammt die Metapher, die den höheren Rang der Ehefrau (gemächlin), der sich visuell, wie oben beschrieben, in kostbaren Gewändern und Schmuck ausdrückt und Gottesnähe symbolisiert, mit dem niederen Rang der armen Wäscherin und Gottesferne kontrastiert: Owe hertz mines wie bistu so stächlin, das du nit alles von laide zerspringest. Ich hies doch hie vor sin liebe gemächlin. Owe we vnd yemer we, ich bin nit wirdig das ich nun hais sin arme wöscherin. 67 Gemäß der Kleidungsmetaphorik der Mystikerinnen ist die Seele mit dem vollkommensten Tugendkleid diejenige, welche kurz vor der Vereinigung mit Gott steht. Es ergibt sich somit eine Art Kleiderordnung der Seele, wobei die im Text enthaltenen Bezeichnungen der Seele qualitative Unterschiede der Kleidung je nach Gottesnähe implizieren. All diese Be- und Entkleidungsvorgänge der tugend- oder lasterhaften Seele spielen sich im spirituellen Innenraum ab und können als zweite Interiorisierungsstufe nach der moraldidaktischen Interpretation des Textes gelten. Die Möglichkeit einer dritten Interiorisierungsstufe mithilfe einer poetologischen Interpretation, hängt zunächst von der Frage ab, ob es angemessen ist o bei einem Text, wie Dorotheas ›Buch der götlichen Liebe‹ vom ›Poetologischen‹ zu sprechen. Die literarische Tätigkeit des Kompilierens von Texten anderer Autoren, auch wenn dies in kontinuierlicher, diskursiver, nach Themen und Themenkomplexen geordneter Prosa geschieht, mag auf den ersten Blick nicht als besonders erfolgversprechend für die Analyse von Hinweisen auf literarisches 64

65 66 67

Vgl. Barbara Newman, God and the goddesses: vision, poetry, and belief in the Middle Ages, Philadelphia 2003 (The Middle Ages Series), S. 245. Newman beschreibt die verschiedenen Beziehungen, die Maria mit der Trinität eingeht – Mutter des Sohnes, Tochter des Vaters, Braut des Sohnes etc. – anhand mittelalterlicher Kunstwerke, wobei ihre Rollen an bestimmte Darstellungen gebunden sind; z. B. Maria lactans, die doppelte Interzession und die Pieta`. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 120v; Quelle: Seuse, ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ [Anm. 14], S. 211f. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 323v; Quelle: unbekannt. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 120v: Quelle: Seuse, ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ [Anm. 14], S. 211f.

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Selbstbewußtsein aussehen. Auch die fehlende Behandlung von geschlechtsspezifischen ›Frauenthemen‹ enttäuscht im Vergleich zum proto-feministische Züge tragenden Werk der Christine de Pizan oder der Mystikerinnen, die uns scheinbar Einlaß in ihre innersten spirituellen Erfahrungen gewähren. Während das Kolophon in Dorotheas Werk ein starkes literarisches Selbstbewußtsein ero kennen läßt, erlaubt der eigentliche Text des ›Buches der götlichen Liebe‹ keinen Spielraum für ein weibliches ›Ich‹. Eine poetologische Untersuchung mag angesichts von Dorotheas Schweigsamkeit und ihrer methodologischen Strenge provokant erscheinen, kann aber auch dazu dienen, die Grenzen einer solchen Interpretation zu finden. Es wäre unangebracht, Dorothea spirituell-poetologische Interiorität nur aus dem Grunde abzusprechen, weil uns durch den Text des Werkes kein direkter expliziter Einblick in ihre persönliche Erfahrungswelt o gelingt. Das ›Buch der götlichen Liebe‹ als Objekt ist Ausdruck und Beweis ihrer geistlich-literarischen Interiorität. Ausgehend vom Text, der als wertvolles, vom Autor gefertigtes Gewebe extern betrachtet wird, läßt sich feststellen, daß die Lesarten zur Erfassung der o Wahrheit des ›Buch der götlichen Liebe‹ auf die wörtliche und im besten Fall auf die exegetische Interpretation beschränkt bleiben.68 Der Ausschluß des mehrsträngigen Bedeutungsgewebes lenkt die Aufmerksamkeit auf den formalen Aspekt des Werkes. Dorotheas Werk ist durch eine von ihr geplante Kapitelstruktur gegliedert, die ihren Platz in der formalen Gesamtkonzeption des Werkes hat. Der Hauptext, das eigentliche Gewebe, wurde mittels Exzerpieren und integrativem Kompilieren geschaffen. Der Begriff ›integratives‹ Kompilieren dient der Differenzierung von anderen Kompilationstypen wie den Florilegien und sukzessiv erstellten Sammlungen verschiedener Texte (Miszellen und Rapiaria); er bezeichnet Exzerpte, die aus verschiedenen Werken entnommen wurden und ein spezielles Thema als kohärenten, fortlaufenden Text vorstellen.69 Die systematische Benutzung ihrer mehr als vierzig Quellentexte zeigt, daß Dorothea für ihr Werk einen bestimmten autoritativen Status anstrebt. So scheint es nicht unangemessen zu sein, den Begriff der Zierde zu verwenden, um die sorgfältigen textuellen Kombinationen zu beschreiben, mit denen Exzerpte ausgewählt werden, um die Themenkapitel damit zu schmücken. Der Übergang zum nächs68 69

Vgl. Spitz [Anm. 21], S. 23–41. Alastair J. Minnis, Late medieval discussions of Compilatio and the role of the compilator, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 101 (1979), S. 385–421; Thomas Kock, Die Buchkultur der Devotio moderna. Handschriftenproduktion, Literaturversorgung und Bibliotheksaufbau im Zeitalter des Medienwechsels, Frankfurt a. M. [usw.] (Tradition – Reform – Innovation 2); Nikolaus Staubach, Diversa raptim undique collecta. Das Rapiarium im geistlichen Reformprogramm der Devotio moderna, in: Literarische Formen des Mittelalters: Florilegien, Kompilationen, Kollektionen, hg. von Kaspar Elm, Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 15), S. 115–147.

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ten Exzerpt wird in der Handschrift nicht markiert und bleibt so dem Leser, wie beabsichtigt, visuell verborgen. Dieses Weben bzw. Verflechten, um den Text zu einem geistlichen Schmuckstück zu machen, schafft Dorotheas poetologischen Innenraum. Das Produkt gereicht ihr als quasi-Seelgerät zur geistlichen Zierde. Nur Exzerpte aus den Werken männlicher Autoren werden von Dorothea in komplizierter Dichte zu kontinuierlicher Prosa geformt, und es bleibt offen, inwieweit sie sich dessen bewußt war, auf welche Weise nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch die Verwendung weiblicher Autoren den Autoritätstatus ihres Werkes beeinträchtigen würde. Dorothea selbst schweigt im Text. Während man ihre Methodologie als Strategie persönlicher Verhüllung hinter einem Gewebe aus männlichen Zitaten sehen kann – der poetologische Innenraum wird noch weniger erreichbar bzw. interpretierbar als der geistliche –, wird ihre Vorgehensweise gerade beim Exzerpieren von Passagen, die sich mit Frauen und deren Beziehung zu Kleidung beschäftigen, deutlich. Dorotheas misogyne Frauenkritik zum Thema weiblicher Kleidung, die selbst innerhalb des Kontextes ihrer Quellen markant hervortritt, zeigt, daß sie sich moralisch und intellektuell von ihrem eigenen Geschlecht zu distanzieren sucht. Die mit ihrer Kleiderkritik anvisierten Sünden sind superbia und ihre Unterart vanitas, die andere Sünden, wie luxuria und avaricia nach sich ziehen.70 Allerdings läßt sich der Nachweis einer solchen Distanzierung nur ex negativo führen, was methodisch nicht unproblematisch ist. Obwohl aus den Luxusgesetzen und Kleiderordnungen des 14. und 15. Jahrhunderts klar ersichtlich ist, daß sich nicht nur Frauen o übermäßig zierten, ist im ›Buch der götlichen Liebe‹ keine Kritik männlicher Kleidung zu finden. Selbst das allgemeine Beispiel des üppig gekleideten Mannes in der Hölle wird mit Bartholomäus als Gegenbeispiel neutralisiert: Wir lessent do Christus gieng vf ertrich in menschlicher nattur, do gieng er ainmal vber veld mit sinen Iungern. Vnd sant Partlenme gieng och mit Innen In costlichem o gewand vnd das mugt die andren Iunger, das er so wäch gieng vnd sy so schlechteco lich; vnd hinder retten sant Partlenme darvm vnd mainttent er sölt es nit tun, sit den mal das vnser her so schlecht gieng vnd dis bekant vnser her.71

Die Vermutung liegt nahe, daß ihre konservative Haltung auf die Verbindung zwischen der Zierde des weiblichen Körpers und der intendierten oder unabsichtlich provozierten sexuellen Reaktion des männlichen Geschlechts hinzielt. Christus spricht In dem ewangielio: wer ain wib ansieht In vnlutrer begird, der hat die sünd verbracht In sinem hertzen. Wan also ret sant Iohannes mit dem guldin mund: o Ob sich ain frow vfmacht den manen ze gevallent vnd zu Ir zucht die ogen der o menschen In lust, so mus sy liden helsche pin, ob sust kain sund da beschiecht wan sy hat gift berait.72 70 71 72

Vgl. Richard Newhauser, The treatise on vices and virtues in Latin and the vernacular, Turnhout 1993 (Typologie des sources du moyen aˆge occidental 68), S. 100f. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 261v–262r; Quelle: unbekannt. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 209r/v; Quelle: unbekannt.

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Die tugendhafte Kleidung der Witwe Judith, die einzige der fünf im ›Buch der götlichen Liebe‹ genannten Frauen (Maria Magdalena, Judith, Thekla, Elisabeth von Thüringen und Birgitta von Schweden), die in direkten Zusammenhang mit o positivem Kleidungsverhalten gebracht wird, trug ain härin hempt an Irem lib.73 Auch in der Legende der Elisabeth von Thüringen spielt Kleidung, hier als sündiger Komfort, eine große Rolle. Ihre schäbige irdische Kleidung wird zur Vermeidung von Blamagen bei Staatsempfängen stets von Engeln oder Christus selbst durch repräsentationsfähige Kleidung ersetzt. Freut sie sich an diesem Ersatz, wird sie bestraft.74 Die tugendhafte Zierde des Körpers, bzw. die Abkehr vom Äußerlich-Körperlichen zum Innerlich-Spirituellen kommt der geistlichen Zierde des Textes gleich, die sich nicht in der äußerlichen Textform, sondern am heilsgeschichtlichen Inhalt verwirklicht. Dorotheas Rückzug von ihrem eigenen Geschlecht würde sich demnach sowohl auf stolze putzsüchtige Frauen beziehen, mit denen sie nicht auf eine Stufe gestellt werden will, als auch auf exemplarisch tugendhafte Frauen, wie Judith, die sie wohl eher als Vorbild, nicht Ebenbild sah. Ihr Rückzug in den poetologischen Innenraum vollzieht sich durch die Zierde des Textes. Zur weiteren Erläuterung der Verhüllungsfunktion ist es angemessen, zuerst das Gesamtkonzept des Werkes ausführlicher zu betrachten. Dorothea folgt dem für spätmittelalterliche Fachliteratur üblichen formalen Programm der äußeren Gliederung des Werkes in Vorrede, Inhaltsverzeichnis, Kapitelgliederung und dem abschließenden Kolophon. Im Vergleich mit zwanzig Inkunabeln, die zwischen 1472–1482 gedruckt wurden, läßt sich feststellen, daß diese überaus formale Struktur nicht allgemein üblich war, sondern nur für universitäre Inhalte wie Medizin, Jura und Formbriefe angewendet wurde. Die Verfasserin nimmt in einer Art accessus ad auctores Stellung zum Konzept des Werkes und seinem inneren Aufbau: o

o

o

o

Wan aber dis buch got zu lobe gemachet ist und och den lütten zu nutze und zu o troste, di da dis buch aintweder selbe lessen, oder aber vor in hörent lessen, hierum so sond sy och wissen, das dis buoch haisset das buoch der götlichen liebe vnd ain summe der tugent. Und haisset darum ain sume der tugent, wan es gemachet ist in der schönnen künglichen tugent der götlichen liebe.75

Das Weben des Textes, die Kompilationsmethode, vollzieht sich laut Dorothea in den Schritten des Lesens vieler Bücher, des Exzerpierens und Kompilierens 73

74

75

o

›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 210r; Quelle: Marquard von Lindau, Das Buch der zehn Gebote (Venedig 1483), hg. von Jacobus Willem van Maren, Amsterdam 1984 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 7). ›Der Heiligen Leben‹ [Anm. 49], S. 170,5f. Lentes [Anm. 13], S. 135 bezeichnet den Austausch des irdischen Gewandes gegen das göttliche als grundlegenden Austausch der Persönlichkeit. o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. *2r/v, Vorrede.

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der Passagen, die dann zu thematischen Kapiteln der Tugenden und ihrer entsprechenden Laster geformt werden: o

Won ich disse nach gänden lere us vil bücher han zu samen gelessen vnd us gezogen, vnd zesament gesetzt nach dem besten so ich kund: tugent und untugent wider ain andren, und sust vil ander leren und under wissung. In wz trübsal der mensch sy, das er doch etwaz trostes dar In vinde.76

Auffällig ist hier das ›Ich‹ der Verfasserin, das nirgendwo sonst im Text erscheint. Die formale Imitation von Werken intellektuellen und autoritativen Inhalts kann als erster Schritt gelten, Aufmerksamkeit und Autorität für ihr Werk zu beanspruchen. Die Verhüllung äußert sich dergestalt, daß für ihren Text ein Äußeres geplant wird, das schon bei oberflächlicher Betrachtung das von ihr gewünschte Signal eines geistig anspruchsvollen Werkes setzt. Da diese Art der Darbietungsform aber hauptsächlich für männliches Wissen verwendet wird, bekommt Dorotheas Text ein männliches Gewand, das ihre weibliche Autorschaft absichtlich verhüllt. Weder in ihrer Vorrede noch im übrigen Text des Werkes gibt es Hinweise auf ihr Geschlecht. Der poetologische Verhüllungsaspekt setzt sich jedoch auch auf der Exzerptebene fort, wo streng darauf geachtet wird, keine weiblichen Autoren und nur extrem wenige Instanzen beispielhafter Weiblichkeit zu verwenden. Der poetologische Zieraspekt des Textes manifestiert sich im geistlichen Inhalt der Kompilation, indem sich die Verfasserin in einen geistigen Innenraum zur Lektüre zurückzieht und sich durch den meditativ-kontemplativen Verinnerlichungsprozeß die Tugenden aneignet, die der Text propagiert.77 Der Text läßt die beschriebenen Tugenden der spirituellen Zierde ihrer Seele dienen, wobei das Werk selbst zum Seelgerät wird. Wie schon der Titel andeutet, ist das o ›Buch der götlichen Liebe‹ auf literarischer Ebene als ein aus multiplen Tugenden gewobenes Kleid der Seele zu sehen, das die Seele der weiblichen Verfasserin ziert, die aus literarischen, tugendhaften und Autoritätsgründen äußerlich ein männliches Autorenkleid trägt. Das Verstecken hinter einem aus männlichen Autoritäten gewobenem Text ist eventuell auch darauf zurückzuführen, daß eine Verbreitung des Werkes beabsichtigt war. Die Verantwortung für die Aussage und für den Inhalt des Textes liegt beim Autor, nicht beim Kompilator, der ›nur‹ für die neue Form und Anordnung verantwortlich ist.78 So käme das Ver76

77

78

o

›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. *3r/v, Vorrede. Hans-Jochen Schiewer, Uslesen. Das Weiterwirken mystischen Gedankenguts im Kontext dominikanischer Frauengemeinschaften, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 581–603. Nikolaus Staubach, Text als Prozeß. Zur Pragmatik des Schreibens und Lesens in der Devotio moderna, in: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, hg. von Christel Meier [u. a.], München 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften 79), S. 251–276. Zu dieser Differenzierung von Autor und Kompilator vgl. Alastair J. Minnis, Med-

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stecken hinter dem aus männlichen Autoritäten gewobenen Text, hinter dem männlichen Kleid, einer Art Schutz vor Angriffen auf die Authentizität und Autorität des Werkes gleich, bei dem Dorothea die bestmögliche Verkleidung wählt – die eines Intellektuellen, der geistliche Texte zum Lesen, Meditieren und Kontemplieren zusammenstellt. Inwieweit sich diese poetologische ›Verwandlung‹ mit dem virago-Topos vereinen läßt, ist am Traktat ›Schwester Katrei‹ zu belegen, der in Dorotheas Werk als letzter narrativer Text erscheint. Er sprach: nit nym dich des an Es ist frowen nit gegeben. Sy sprach: ich wais wol dz o niemer kain frow ze hymelrich komen mag, sy mussent alle manbar werden. Das son o Ir also verston: sy mussent manlich werck wurcken vnd mu/ossent manlichy herzen han mit aller craft Das sy In selber mugent wider ston vnd allen gebrestlichen dingen.79

Ambrosius bezeichnete diese Transformation der religiösen virago als die einer gläubigen Frau, die bis zur vollkommenen Männlichkeit fortschreitet.80 Das manbar-werden bezieht sich daher auf die zweifach untergeordnete Rolle der Frau in der Schöpfung, die sich darauf gründet, zeitlich nach und aus Adam geschaffen worden zu sein und sich dann gegen diese Subordination durch Ungehorsam im Garten Eden aufgelehnt zu haben. Erst am Jüngsten Tag werden die Frauen von ihrer sexuellen und prokreativen Rolle befreit, um endlich spirituelle Gleichheit mit Männern zu erreichen.81 Dorothea betritt also den Weg zur spirituellen Männlichkeit, indem sie sich ihre Fähigkeiten zur geistlichen Zierde zunutze macht. Männlich werden heißt hier also nicht das eigene Geschlecht zu verleugnen, sondern sich über dessen Hindernisse unter Aufbietung aller Mittel – auch männlicher – hinwegzusetzen.

79

80 81

ieval theory of authorship. Scholastic literary attitudes in the later Middle Ages, London 1984, S. 94; Andrea Syring, Compilatio as a method of Middle High German literature production, in: Medieval Sermons and Society. Cloister, City, University, hg. von Jacqueline Hamesse [u. a.], Louvain-La-Neuve, 1998 (Textes et e´tudes du moyen aˆge 9), S. 117–143, hier 120f.: Vincenzs von Beauvais Prolog zum ›Speculum naturale‹ erklärt, daß die zusammengestellten Zitate der Kirchenväter dem Werk Autorität verleihen, während er selbst nichts hinzugefügt hat außer der Anordnung der Teile (ordinatio). o ›Buch der götlichen Liebe‹ [Anm. 11], fol. 343r/v; siehe Franz Josef Schweitzer, ›Schwester Katrei‹, 2VL 8, Sp. 947–950; Ders., Der Freiheitsbegriff der deutschen Mystik: seine Beziehung zur Ketzerei der ›Brüder und Schwestern vom Freien Geist‹, mit besonderer Rücksicht auf den pseudoeckartischen Traktat ›Schwester Katrei‹, Frankfurt a. M./Bern 1981 (Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur und Sprache 10), S. 321–370; Otto Simon, Überlieferung und Handschriftenverhältnis des Traktates ›Schwester Katrei‹. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik, Halle 1906, S. 31f. Joan Cadden, Meanings of sex difference in the Middle Ages. Medicine, science and culture, Cambridge 1993 (Cambridge History of Medicine), S. 206. Rosemary Radford Ruether, Women in Christianity, in: Christianity. The Complete Guide, hg. von John Bowden, London 2005, S. 1230.

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Daher kann sich Dorotheas literarisches Selbstbewußtsein hier auf differenzierte Art und Weise äußern. Sie ist eine selbstbewußte Ehefrau, die über die intellektuellen Fähigkeiten verfügt, einen autoritativen Text zu konzipieren und zu kompilieren; und weiterhin zu erkennen, daß ein solcher Text von der Außenwelt kritisch begutachtet werden könnte. Ihre geschlechtsgebundene spirituelle Unvollkommenheit, die sie von Visionärinnen unterscheidet, die über Gottes direkten Auftrag und die Approbation der Kirche verfügten, rechtfertigt die geistliche Anleitung anderer nur ungenügend. Die Spannung zwischen Dorotheas selbstsicherem weiblichen Verfasseranspruch und ihrer männlichen Konzeption und verhüllten Autorschaft läßt sich vielleicht noch einmal mit dem Beispiel der verwitweten Judith illustrieren, die ein härenes Hemd trägt, das nicht der moralisch motivierten ›Verhüllung‹ ihres Körpers dient, sondern der spirituellen ›Zierde‹ ihrer Seele durch tugendhafte asketische Praxis. Das gottgefällige Ideal wäre damit als die sich vor der Welt verhüllende und schmucklose Frau zu definieren, die durch zusätzliche, der geistlichen Zierde dienende Verhüllung des Körpers ineinander verschachtelte Innenräume schafft. Judith zieht sich jedoch noch weiter hinter das härene Hemd zurück, das eine Reflektion ihrer inneren spirituellen Verbindung zu Gott verkörpert. m Gegensatz zu Judith setzt sich Dorothea den turz 82 auf, um sich moralisch und geistlich von der Welt durch Verhüllung zu distanzieren. Sie transzendiert den Status der Ehefrau, indem sie ein äußerlich am Tragen des Sturzes erkennbares geistlicheres Leben in der Welt führt als ›andere‹ Ehefrauen und sich damit dem Ideal der Frauen annähert, die ein nur Gott gewidmetes Leben führen. Auf der poetologischen Ebene, als männlich anmutender Autor, gelingt es ihr auf vergleichbare Weise ihr ›unvollkommenes‹ Geschlecht zu transzendieren, indem sie frauenkritisch kompiliert und sich auch mittels literarischer Tätigkeit aus der Welt zurückzieht. In gewisser Weise scheint der virago Topos auf sie zuzutreffen, sofern sie als Frau versucht, ihr eigenes Geschlecht zu transzendieren. Da Kleidung den thematischen Anlaß für Dorotheas Re-positionierung als ›männliche‹ Autorität iefert, schien es angemessen, diesen Aspekt ihrer literarischen Tätigkeit mit Kleidungsmetaphern zu beschreiben und festzustellen, daß sich ihre allgemeine textuelle Selbstverhüllung an bestimmten Stellen im Text über das Schweigen hinaus noch weiter in eine Verkleidung durch den Text zurückzieht.83 Obwohl Verhüllen und Verkleiden natürlich als zwei Verfahrensweisen angesehen werden können, den direkten Kontakt mit der Welt zu ver82 83

Zum sturz siehe Zander-Seidel [Anm. 33], S. 110f. Vgl. Roberta Gilchrist, Gender and Material Culture. The Archeology of Religious Women, London 1994; siehe auch Valerie Hotchkiss, Clothes make the man: female cross dressing in medieval Europe, New York/London 1996 (The new Middle Ages 1; Garland reference library of the humanities 1991).

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meiden, ist hier gezeigt worden, daß die transgressiven Dimensionen zur Inszenierung des intellektuellen ›cross-dressing‹ Anlaß geben, um den Status Dorotheas von Hof als Autor zu erhöhen.

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Keller, Schlafkammer, Badewanne Innenräume und komische Räumlichkeit bei Heinrich Kaufringer

I. Ein mit der Knauserigkeit seiner Frau unzufriedener Kaufmann begibt sich auf jahrelange Suche nach einem glücklichen Ehepaar. Nachdem er sich schon einmal getäuscht hat, glaubt er endlich eins gefunden zu haben, in ainer statt weit und gros (V. 277), wo sein reicher Wirt in vorbildlicher Eintracht mit seiner Ehefrau zu leben scheint. Über seine Geschäfte befragt, verrät der Kaufmann seinem Wirt den geheimen Grund seiner Reise. Dieser verpflichtet seinen Hausgast ebenfalls zur Verschwiegenheit, bevor er ihm sein eigenes Leid zu enthüllen verspricht. Der Kaufmann wird jetzt im Hausinneren durch ainen keler tief und weit (V. 361) geführt, wo der Wirt eine abseits liegende stainin kamer (V. 363) aufschließt. Zum Erstaunen des Hausgastes befindet sich darin ein großer Bauer (fraisam, stark und saur V. 366), der vor allem durch seine zerzausten, hochstrebenden Haare einen furchterregenden Anblick bietet. Diesen wilden Bauern, erklärt der Wirt, halte er seit zehn Jahren gefangen, um die außerordentliche Lüsternheit seiner Frau zu befriedigen. Nur auf diese Weise gelinge es ihm, die Ehre seiner Familie und seines Hauses vor aller Welt aufrechtzuerhalten, obwohl er sich tagtäglich mit seiner eigenen Schande konfrontiert sehe, nicht zuletzt, weil alle seiner Kinder in Wahrheit von dem Bauern abstammten. Erschrocken und erleichtert zugleich fährt der fremde Kaufmann so schnell wie möglich wieder nach Hause und weiß nunmehr seine eigene Frau zu schätzen.

Wenn es etwas Schlimmeres als eine Irre auf dem Dachboden geben sollte, dann wohl einen Bauern im Keller: So könnte ein erstes Fazit aus der ›Suche nach dem glücklichen Ehepaar‹ lauten, einer Kurzerzählung Heinrich Kaufringers, die als achte von insgesamt 17 Reimpaardichtungen in einem auf 1464 datierten Codex (Cgm 270) überliefert worden ist.1 Der Bauer im Keller ist als Chiffre dafür zu verstehen, daß zumindest in seinen schwankhaften Mären Innenraum bei Kaufringer weniger eine Frage der inneren seelischen Räume und Fähigkeiten seiner zumeist stereotypen Figuren ist. Es handelt sich vielmehr um Szenenregie, um die äußere Gestaltung einer Erzählwelt also, in der die Lokalisierung des narrativen Geschehens im Familienhaus, in bewohnten Innenräumen, privilegiert wird. Nicht daß das eine das andere unbedingt ausschließen müßte. Die Abhandlung zur sogenannten Poetik des Raumes von Gaston Bachelard hat gezeigt – allerdings im Bezug auf die Dichtkunst und Literatur des 19. und 1

Heinrich Kaufringer. Werke, hg. von Paul Sappler, Bd. 1, Tübingen 1972, S. VII-XI. Falls nicht anders angemerkt, werden alle Kaufringer-Texte nach der Sappler-Ausgabe zitiert.

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20. Jahrhunderts –, wie sehr das Haus und dessen verschiedene Innenräume subjektiv und emotional erlebt werden, wie sehr sie selbst die Imaginationskraft, Erinnerungen und Ideen des (modernen) Menschen beeinflussen.2 Für Bachelard ist etwa der Keller der Innenraum der Irrationalität schlechthin: ein Ort des Dunkels, der unerwarteten Geheimnisse, der Angst.3 Von diesem gewiß für den modernen Betrachter bestechenden Bild weicht aber der Keller in Kaufringers ›Suche nach dem glücklichen Ehepaar‹ bezeichnenderweise ab, denn hier wird alles unmittelbar Bedrohende durch die resolute spätmittelalterliche Rationalität des Wirtes auffällig entkräftet. So wild und unzivilisiert der Bauer ist, läßt sich seine ungeheure Körperlichkeit durchaus instrumentalisieren. Vor dem Bauern selbst hat der Wirt keine Angst (er serviert ihm ja Wein und Speise vom eigenen Tisch). Angst hat er aber davor, daß das verborgene und schändliche Dasein des Bauern der städtischen Öffentlichkeit bekannt werden könnte. Es ist die grelle Diskrepanz zwischen der öffentlichen Ehre des mächtigen Wirtes aus guter Familie und seiner heimlichen Schmach also, die den semantischen Bezugsrahmen für die unterschiedlichen topologischen Details dieser Episode herstellt – drinnen, nicht draußen; hinunter, nicht hinauf; abseits, nicht zentral –, und welche die Topographie einer abgeschlossenen Kammer im Hauskeller hervorgerufen hat. Das Geheimnis der mißlungenen Ehe darf nicht zum Skandal werden und bleibt daher im entlegensten Innenraum unter Verschluß.

II. Mit den drei sich ergänzenden Begriffen Topologie, Semiotik und Topographie soll hier auf Jurij Lotman verwiesen werden, der Raum und Raumgrenzen als wichtigste Strukturmerkmale überhaupt für kulturelle und literarische Ordnung beschrieben hat und diesen zwei komplementären Phänomenen im narrativen Kontext handlungsbefördernde wie zeichenhafte Funktionen zuweist.4 Ungeachtet Lotmans strukturalistischer Vorliebe für binäre Begriffskombinationen wie ›oben / unten‹ und ›links / rechts‹, tritt in seiner semiotischen Theoriebildung die Einsicht in die kulturgeschichtliche Variabilität räumlicher Modelle – bzw. in die historisch bedingte Semantisierung gewisser Universalien der 2 3 4

Gaston Bachelard, The Poetics of Space. Translated from the French by Maria Jolas. With a new Foreword by John R. Stilgoe, Boston 1994, S. 3–73. Bachelard [Anm. 2], S. 17–19. The Structure of the Artistic Text. Translated from the Russian by Ronald Vroon, Michigan 1977 (Michigan Slavic Contributions 7), vor allem S. 217–231; Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. Translated by Ann Shukman. Introduction by Umberto Eco, London/New York 1990, S. 131–142, 171–202. Vgl. auch Matias Martinez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 62005, S. 140–144.

Keller, Schlafkammer, Badewanne

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menschlichen Raumerfahrung – immer deutlicher hervor. Gerade in diesem Zusammenhang bezieht sich Lotman auf das Mittelalter als Beispiel für ein vergangenes Zeitalter, das nicht nur seine räumlichen Weltbilder nach ganz anderen Maßstäben und Regelsystemen konstruiert habe (»places have a moral significance and morals have a localized significance«),5 sondern auch literarische Texte, wie Dantes ›Divina Comedia‹, produzierte, die das Sinnpotential des Raumes auf fast unüberbietbare Weise zu funktionalisieren wußten.6 Nach Paul Zumthor läßt sich die Alterität mittelalterlicher Raumerfassung als grundlegender Aspekt einer Kultur der ›Präsenz‹ und Körperbezogenheit erklären: Raum im Mittelalter sei einerseits nie ohne den darin sich befindenden Körper vorstellbar, jener sei sogar als Eigenschaft des jeweiligen Körpers aufzufassen;7 andererseits könne die sozioethische Semantisierung eines solchen personaliserten Raumes nie ausgeschlossen werden.8 Bestätigt wird dieser Befund von der andauernden geschichts- und kulturhistorischen Diskussion über das Öffentliche und Private im Mittelalter (und der Frühen Neuzeit), die immer wieder auf das Thema Raum (bzw. Innenraum) rekurriert.9 Bei der vormodernen Erfahrung und Organisation des Raums (etwa des architektonischen Innenraums einer Kirche oder eines privaten Haushalts), so hat es sich herausgestellt, überschneiden und überlagern sich ganz unterschiedliche Wahrnehmungsmodi, die Teilräume des Öffentlichen bzw. Privaten entstehen lassen.10 Zur Erhellung der sozialen bzw. mentalen Konstruiertheit des Raumes im Mittelalter leisten literarische Texte nicht selten einen entscheidenden Beitrag, da sie sozusagen das ›Wissen von sich selbst‹ der sie hervorbringenden Kultur verarbeiten.11 Semantisierungsstrategien, Probleme und sogar, über längere Zeitperioden hinweg gesehen, Bewußtseinsänderungen lassen sich literarischen Dar5 6 7 8 9

10

11

Lotman, Universe [wie Anm. 4], S. 172. Lotman, Universe [wie Anm. 4], S. 177–185. Paul Zumthor, La Mesure du Monde. Repre´sentation de l’e´space au moyen aˆge, Paris 1993, S. 51–68. Zumthor [wie Anm. 7], S. 42–43. Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, hg. von Gert Melville und Peter von Moos, Köln [usw.] 1998 (Norm und Struktur 10); Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Susanne Rau und Gerd Schwerhoff, Köln [usw.] 2004 (Norm und Struktur 21). Vgl. Rüdiger Schnell, Die ›Offenbarmachung‹ der Geheimnisse Gottes und die ›Verheimlichung‹ der Geheimnisse der Menschen. Zum prozesshaften Charakter des Öffentlichen und Privaten, in: Melville/von Moos [Anm. 9], S. 359–410, bes. S. 359–369. Vgl. Danielle Re´gnier-Bohler, Imagining the Self, in: A History of Private Life, vol. II: Revelations of the Medieval World, hg. von Georges Duby. Translated by Arthur Goldhammer, Cambridge (Ma) 1988, S. 310–394, hier S. 313–315; Annette Kern-Stähler, A Room of One’s Own. Reale und mentale Innenräume weiblicher Selbstbetstimmung im spätmittelalterlichen England, Frankfurt a. M. [usw.] 2002 (Tradition – Reform – Innovation 3), S. 1–17, 191–209.

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stellungen entnehmen, die sich etwa durch ihre Thematisierung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit auszeichnen.12 Die Entwicklung raumbezogener Begrifflichkeit dürfte auch in dieser Hinsicht bedeutsam sein.13 Die narrative Inszenierung des Fern- und Nahraumes, der Außen- und Innenräume, sowie deren Grenzen und Schwellenbereiche, scheint sogar Komponente einer etablierten volkssprachlichen Erzählpraxis zu sein, welche den Sinn eines Handlungsgeschehens über den Ort, an dem es stattfindet, symbolisch vermittelt.14 Die Frage nach literarischer Raumdarstellung ist zugleich eine Frage nach literarischen Mustern und Kodierungen, die über Einzelwerke hinausgehen. Zumthor selbst argumentiert, daß narrative Raumgestaltung nach Gattung und Erzähltradition zu differenzieren sei.15 Mit dem »la`-bas« des höfischen Romans etwa hebe sich die räumliche Welt der Fabliaux eindeutig ab: »L’aimable fabliau franc¸ais se confine dans un ici (la maison, la ville) dont il inspecte en riant (et parfois en grinc¸ant des dents) les zones d’ombre.«16 Zumthors Urteil gilt zweifellos auch für viele spätmittelalterliche Schwankmären (man denke etwa an Kaufringers ›Suche nach dem glücklichen Ehepaar‹). Die räumliche Priviligierung von Haus und Schlafkammer kann daher als eine Funktion komischer Kurzerzählungen eingestuft werden, die primär von sexuellem Verhalten und Ehekonflikt handeln.17 Methodisch interessant in diesem Zusammenhang sind ferner die semiotischen Textinterpretationen Rosanna Brusegans, die ein Licht darauf werfen, wie das narrative Geschehen altfranzösischer Fabliaux nicht nur nach innen gelenkt, sondern derartig topologisch strukturiert wird – beschrieben hier 12

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Rüdiger Brandt, Enklaven – Exklaven. Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter. Interpretationen, Motiv- und Terminologiestudien, München 1993 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 15). Siehe auch: Jan-Dirk Müller, Öffentlichkeit und Heimlichkeit im Nibelungenlied. Wahrnehmung und Wahrnehmungsstörung im Heldenepos, in: Melville/von Moos [Anm. 9], S. 239–259; Horst Wenzel, Öffentliches und nichtöffentliches Herrschaftshandeln im ›Erec‹ Hartmanns von Aue, in: Melville/von Moos [Anm. 9], S. 213–238. Vgl. Peter Strohschneider, Kemenate. Geheimnisse höfischer Frauenräume bei Ulrich von dem Türlin und Konrad von Würzburg, in: Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit. 6. Symposion der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, hg. von Jan Hirschbiegel und Werner Paravicini, Stuttgart 2000 (Residenzenforschung 11), S. 29–45. Vgl. Elisabeth Lienert, Raumstrukturen im Nibelungenlied, in: 4. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Heldendichtung in Österreich – Österreich in der Heldendichtung, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 1997 (Philologica Germanica 20), S. 103–122; JanDirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 297–343; Elke Brüggen, Räume und Begegenungen. Konturen höfischer Kultur im Nibelungenlied, in: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg. von Joachim Heinzle [u. a.], Wiesbaden 2003, S. 161–188. Zumthor [Anm. 7], S. 382–387. Zumthor [Anm. 7], S. 382. Vgl. auch Re´gnier-Bohler [Anm. 11], S. 323; Kern-Stähler [Anm. 11], S. 196.

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anhand der auf Lotman zurückgehenden analytischen Kategorien von »espace ouvert/espace ferme´« und »l’opposition spatiale haut/bas« –,18 daß Schuld und Unschuld der Figuren schon durch die (innen)räumliche Inszenierung suggeriert wird.19 An diese Diskussion soll nun eine nähere Analyse des Oeuvres von Heinrich Kaufringer (nach dem Münchener Codex Cgm 270) anknüpfen. In einem ersten Teil werden die erzähltechnischen Eigenschaften von Kaufringers Innenraumgestaltung kurz umrissen, um Funktionalität und Bedeutung des häuslichen Innenraums in spätmittelalterlichen komischen Kurzerzählungen deutscher Tradition etwas präziser in den Blick zu bekommen. Der zweite Teil geht der (allerdings von Brusegan nicht gestellten) Frage nach, inwiefern solche vertextete Räumlichkeit als komisch bezeichnet werden könnte.20 Für eine solche Untersuchung taugt das Werk Kaufringers als Materialbasis, nicht nur weil er einer der produktivsten Märendichter gewesen ist, sondern weil die schon angedeutete Überlieferung seiner (dreizehn) Schwankerzählungen gleichzeitig eine Gegenprobe zur Verfügung erlaubt, nämlich Kaufringer-Texte, die wohl nicht primär komisch wirken sollten.

III. Bei den schwankhaften Mären Kaufringers, die fast alle vom ehelichen Konflikt oder drohendem bzw. begangenem Ehebruch handeln, kommen Räume und Orte außerhalb des Hauses durchaus vor, aber immer wieder ist es der Innenraum, in dem sich das entscheidende narrative Geschehen abspielt. Die Privilegierung des Innen hat strukturell zur Folge, daß sich die Handlung in diesen Texten oft von außen nach innen bewegt. In Kaufringers ›Mönch als Liebesbote‹, wo eine listige Frau ihren Beichtvater dazu ausnutzt, einem unbekannten Jüngling ihre geheimen Wünsche mitzuteilen, gipfelt das Geschehen im nächtlichen Besuch, den dieser der Frau in ihrer Schlafkammer abstattet. Um den Weg zu ihr zu finden, soll er sich nach einer Reihe von sorgfältig gestuften Stationen richten – dornzaun (V. 220), rinkmur (V. 225), kriechpaum (V. 230), garten (V. 232), haus (V. 233), tür (V. 234), kamer (V. 238) und schließlich pett (V. 241) –, deren zwei18 19

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Rosanna Brusegan, La re´presentation de l’espace dans les fabliaux. Frontieres, Interieurs, Feneˆtres, Reinardus 4 (1991), S. 51–70, hier S. 57, 65. Bei seiner Beurteilung räumlicher Verhältnisse in der Erzählwelt der Fabliaux stützt sich Zumthor zum großen Teil auf die Argumentation Brusegans; vgl. Zumthor [Anm. 7], S. 387–388. Hier und im folgenden gehe ich davon aus, daß schwankhafte Mären im Spätmittelalter primär als komisch empfunden und auf Rezipientengelächter hin strukturiert wurden. Zur Komik als literarischer Funktion vgl. Andreas Kablitz, Komik, komisch, 3RL Bd. II (2000), S. 289–294.

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malige Auflistung im ungewöhnlichen Kommunikationsprozeß über den Mönch das narrative Endziel stark betont: Beischlaf im intimsten Innenraum.21 Als es tatsächlich zum Rendezvous kommt, erspart uns der Erzähler keineswegs eine nochmalige Schilderung dieser räumlichen Stationen.22 Er scheint sogar dem ›Recht‹ der ehebrecherischen Leidenschaft nachzugeben, wenn der Ort ihres Vollzugs nun verharmlosend als kämerlein (V. 366) bezeichnet wird. Die Anhäufung topographischer Einzelheiten gegen Ende des ›Mönch als Liebesbote‹ springt ins Auge, wenn man sich bewußt macht, wie spärlich solche Details in diesen Erzählungen sonst erscheinen. Allgemein betrachtet gilt bei Kaufringer also jener weitverbreitete mittelalterliche Darstellungsmodus, nach dem der Raum eine Funktion der Handlung ist.23 Im Prinzip heißt das, daß Raum und Innenräume, zusammen mit deren weiteren materiellen oder architektonischen Eigenschaften, nur dann zur Sprache kommen, wenn es die Handlung verlangt, oder wenn sie vom größeren funktionalen oder thematischen Interesse sind. In ›Der Mönch als Liebesbote‹ wird daher nicht jeder Raum so differenziert dargestellt. Dreimal sucht den Mönch die Frau auf: si gieng zuo dem münich guot, / sam si hett trurigen muot (V. 47–48); si gieng auf das alt spor / wider zuo dem münich hin (V. 122–123); zehant da gieng die fraw gemait / zuo dem münich, da si in fant (V. 210–211). Und dreimal wird die nähere topographische Erläuterung von dessen Wohnraum vermieden, da es für diese Fassung des Stoffs völlig belanglos ist, wo er sich aufhält: Hauptsache ist, daß 21

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Diese Stationen werden zum ersten Mal aufgelistet, als sich die Frau bei ihrem Beichtvater vorgeblich beklagt, in der vorigen Nacht sei der junge Mann auf unerhörte Weise bei ihr zu Hause eingedrungen. Daraufhin gibt der entrüstete Mönch dem jungen Mann dieselben Details von wort ze wort (V. 285) wieder: zaune (V. 289), rinkmur (V. 291), kriechpaum (V. 293), garten (V. 295), haußtür (V. 296), kamer (V. 297). Obwol diese Struktur zum Kern des Erzählstoffs gehört – sie ist auch in der entsprechenden ›Decameron‹-Geschichte (III,3) und zwei weiteren deutschen Fassungen (›A‹; ›C‹) aus dem fünfzehnten Jahrhundert vorhanden –, wird sie bei Kaufringer (in der sogenannten ›B‹-Fassung also) besonders privilegiert. da es nun was worden nacht, / er gieng hinzuo oun luten pracht, / da er den dornzaun vand; / darauf staig er da zehant. / auf die rinkmur er da kam. / vil schier er des war nam, / wie im der kriechpaum nit verzig, / das er daran hinab stig / in den garten hin zetal. / er clam hinab oune val / und oun allen ungemach. / die haußtür er offen sach; / da gieng er vil pald hinein. / er kam in ir kämerlein; / daz was vor im nicht verspert. / da vand er die frawen wert / ligen an dem pett (V. 353–369). In Hans Schneebergers ›Mönch als Liebesbote C‹ handelt es sich um durchaus vergleichbare räumliche Einzelheiten: gart (V. 202), pechlin (V. 208), ain praite linden (V. 210), venster (V. 217), kamer (V. 219) und pett (V. 221). Von diesen wird aber immer rascher berichtet: der münch kunt nit schweigen mer, / sagt im alle ding wider und für, / den garten und di hintertür, / manglung des mans, pach, lind und venster (V. 260–263); wan er des tags all sach pesach, / di tür, den garten, pach und linten / und auch den ast zum venster hinden (V. 278–280). Text zitiert nach: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer, München 1966 (MTU 12), S. 338–347. Vgl. Brusegan [Anm. 18], S. 53.

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der Eindruck gestärkt wird, daß sich Frau und Mönch schon seit längerem kennen.24 An jenen Textstellen, wo Innenraum tatsächlich evoziert wird, erfolgt dies dennoch oft auf eine Art und Weise, die den Erwartungen des modernen Lesers nach präziseren Zimmer- und Raumbezeichnungen nicht entgegen kommt. In ›Der Zehnte von der Minne‹ etwa, die von der Verführung einer naiven Bauersfrau durch einen Priester und der wohlbedachten Rache ihres Ehemanns erzählt, wird praktisch das ganze Geschehen innerhalb des Bauernhauses lokalisiert, ohne daß einzelne Handlungen, so wichtig für den Erzählverlauf sie auch sein mögen, eine nähere räumliche Bestimmung erführen: So können wir nur vermuten, daß die Fastnachtsgäste des Bauern in seiner stube feiern;25 gänzlich im unklaren müssen wir aber darüber bleiben, wo denn der Priester sein heimliches Gespräch mit der Bauersfrau führt: die frawen er da für sich nam / und sas zuo ir in stiller weis (V. 46–47). Ähnlich undeutlich wirkt der Ort der Verführung am nächsten Tag; von einer kamer ist nirgends die Rede.26 Erst bei der Inszenierung der Rache des Bauern ze tisch (V. 219) – wieder in der stube also? –, läßt sich erkennen, daß dieser Innenraum ein Teilraum ist: Der bessere ›Wein‹, mittels dessen der Bauer seinen bösen Streich spielt, muß nämlich aus einem anderen unbestimmten Teilraum hinein (V. 242) gebracht werden.

Auch hier entpuppt sich also eine mittelalterliche Raumkonzeption, die grundsätzlich körperbezogen ist, insofern als körperliche Bedürfnisse, bzw. deren Befriedigung, den ganzen (zumeist undifferenzierten) Innenraum der jeweiligen Szene ausfüllen. Zwar lassen sich natürlich die Aktivitäten wie das gesellige Beisammensein oder Essen als Indizien für die stube, Schlafen oder Beiliegen als Indizien für die kamer in Anspruch nehmen; aus Kaufringers Erzählperspektive war eine solche Konkretisierung aber offensichtlich nicht immer nötig. Ähnlich verhält es sich mit Anspielungen auf Möbelstücke wie Tisch und Bank (als stube-Indizien) oder Bett (als kamer-Indiz), die in einer Erzählung wie den ›Drei listigen Frauen‹ mehrere nach Körperbedürfnissen organisierte bäuerliche Innenräume ohne weiteres heraufbeschwören.27 24

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die fraw und auch der münich waren / mit ainander ze der frist / in guoter gehaim oun arge list (V. 44–46). In dem ›Mönch als Liebesbote A‹ dagegen wird nicht nur die heimliche Liebesaffäre sondern auch das fromme Verhalten des Beichtvaters räumlich konnotiert: der münch wurd schnelle / da geen in sein zelle, / darinnen er sang und las, / das seiner sel gut was (V. 289–292); Text zitiert nach: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, hg. von Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23. Bibliothek deutscher Klassiker 138), S. 524–543. gen der vaßnacht fuogt sich das, / das die gemain baurschaft was / und auch der pfaff in wirtschaft / daz der frawen tugenthaft / und lebten da in hohem muot (V. 37–41). da kam der pfaff in das haus / zuo der frawen eingegangen. / [...] / der pfaff lag da bei der frawen / bis hin gen dem mitten tag (V. 118–129). vor überiger trunkenhait / entslief er bei dem weib gemait / auf dem pank unmassen vast. / [...] / darnach muost er ze pete gan (V. 303–311); wir süllen von frau Mächilt sagen, / wie die hett iren man geschant; / der was mair Seifrid genant. / da er des nachtz was slafen gan, / [...] / vil pald er von dem pette gie (V. 400–419).

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Es ist nicht unmöglich, daß sich diese Art räumlicher Inszenierung aus der architektonischen Realität spätmittelalterlicher Einraumhäuser entwickelt hat. Mindestens genauso ausschlaggebend aber ist die thematische Angemessenheit einer solchen körperorientierten Perspektive.28 Gerade im Falle der ›Drei listigen Frauen‹ geht es um die weibliche Beherrschung und Bestrafung von den Körpern viehisch dummer Ehemänner. Übrigens heißt das nicht, daß die Innenraumbezeichnungen stube und kamer (sowie keller usw.) in diesen Texten nicht zu finden wären, sondern eher, daß deren Verwendung, die per definitionem räumliche Teilbereiche innerhalb des Hauses identifiziert, die soziale Thematik von Zugänglichkeit und Abgeschlossenheit, Öffentlichkeit und Heimlichkeit in den Vordergrund stellt. In den ›Drei listigen Frauen‹ etwa wird der zunächst undifferenzierte Innenraum, in dem der erste Bauer ze tische (V. 50) sitzt, gleich darauf als stuben (V. 52) bezeichnet, was die Bühne für einen umständlichen Betrug aufbaut, der öffentliche Teilnahme einschließen wird: Der Ehemann, der sich vom eigenen Tod überzeugen läßt, soll auch erfahren, wie die Dorfgemeinschaft darauf reagiert.29 Da sich die kamer durch ihre größere Unzugänglichkeit für die Außenwelt unterscheidet, bietet sich eben dieser begrenzte Innenraum, und nicht die stube, für Geheimnisse und Intimität an. Allein die Präsenz eines Mannes in der Schlafkammer konnotiert eine nähere Beziehung zur Frau des Hauses. Vielleicht liegt es eben daran, daß der Ritter im ›Feigen Ehemann‹ nicht vor der Vergewaltigung der aufrichtigen Frau zurückschreckt und sich über ihre Reaktion darauf sogar wundert.30 Wichtigster Gegenstand, Kennzeichen und Symbol intimer Räumlichkeit ist zweifellos das Ehebett, dessen Bedeutung als locus ›ordentlicher‹ innerehelicher Sexualität die Innenraumsemantik in diesen Texten oft entscheidend steuert.31 Ehebruch findet fast immer in der ehelichen Schlafkammer – im Ehebett – statt und stellt daher eine räumliche Störung im inner28

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Folglich wird bewohnter Innenraum gelegentlich auch auf adligen Burgen nach demselben körperbezogenen Prinzip geschildert; vgl. etwa die Darstellung ehelichen Lebens gegen Anfang der ›Rache des Ehemannes‹: Da nun der ritter komen was / wider haim ze seinem weib / und er wolt trüten iren leib, / als er vormals het getan, / die fraw kert sich von im dan / und det ab im gar schmächlich (V. 40–45). da si nun das pracht zuo gevert, / die haußtür schier ward aufgespert. / fraw Jüt und Mächilt komen dar / und die nachpürin gar. / sie clagten das betrüebte weib, / das ir werder, stolzer leib / irs mans als schier beraubet was (V. 233–239). si redt mit im gar scharpflich, / das er von dannen machet sich / gar mit trurigem muot zwar. / er wisset das nicht fürwar, / wie er es geschaffet hett, / wol oder übel, an der stet (V. 227–232). Zum ›Mißverständnis‹ hat es sicherlich beigetragen, daß die Frau selbst den Ritter ins Hausinnern führt: in die kamer fuort si in / zuo ainer schönen sideln hin; / darauf sassen si zesamen (V. 119–121). Zu materiellem Wert und kulturhistorischer Bedeutung des Betts im Mittelalter vgl. Re´gnier-Bohler [Anm. 11], S. 327–330; Philippe Contamine, Peasant Hearth to Papal Palace: The Fourteenth and Fifteenth Centuries, in: Duby [Anm. 11], S. 425– 505, hier S. 489–499.

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sten Kern des Familienhauses dar, die, falls sie vom Erzähler nicht gebilligt wird, nur durch extreme Körperstrafen aufzuheben ist. So stellt es sich in der ›Suche nach dem glücklichen Ehepaar‹ heraus, daß der erste angeblich glücklich verheiratete Wirt seine Frau jede Nacht aus der Hirnschale eines toten Priesters, ihres ehemaligen Liebhabers, trinken läßt. Dieses grausame Ritual findet normalerweise an Ort und Stelle des Verbrechens selbst statt, vor dem pett (V. 221). Nur dieses eine Mal, vor dem neugierigen Kaufmann, zwingt der Wirt seine Frau dazu, ihren Schlaftrunk außerhalb der Kammer zu nehmen, worüber sie sich zutiefst schämt. Handlung und Handlungsraum bedingen sich offenbar gegenseitig, tun dies aber auch auf metaphorischer Ebene. Bewohnter Innenraum, ganz gleich ob nach Körperlichkeit oder sozialer Zugänglichkeit bestimmt, ist prinzipiell als nicht offen, sondern eingeschränkt und von der Außenwelt abgegrenzt zu denken, wodurch die Unversehrtheit von Ehe und Familienehre garantiert werden soll. Türen und Fenster markieren in erster Linie Berührungspunkte mit der Außenwelt.32 Sie lassen Körper und Blicke ein und aus, und insofern können sie gelegentlich auch die Integrität des Haushalts in Gefahr stellen. Wie sich die Protagonisten an diesen Schwellen verhalten, wie man sich Eingang in den Innenraum oder Ausgang daraus verschafft, ist daher für Handlung und Charakterisierung höchst bezeichnend. Daß die Liebesaffäre im ›Mönch als Liebesbote‹ zum Beispiel nichts anderes als buolschaft (V. 1) ist, läßt sich nicht nur daran ablesen, daß gegen Ende der Erzählung der Liebhaber mehrere Grenzen und den Schwellenbereich des Gartens überqueren muß, bevor er die haußtür (V. 364) erreicht, sondern auch daran, wie die Frau früher auf die Gasse zu schauen pflegte, als sie den jungen Galanten erblicken und seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte: si luogt heraus zum venster bas / mit irem lieplichen gesicht (V. 114–115).

IV. Mit den soeben beschriebenen Prinzipien narrativer Innenraumgestaltung ist jedoch noch nichts über ihre komische Zündkraft ausgesagt. Komische Räumlichkeit, oder die komische Erfassung bzw. Wahrnehmung von Innenraum, so meine Grundthese, gibt es durchaus in Kaufringers kurzen Erzählungen; feststellen läßt sie sich allerdings nur unter zwei methodischen Vorbehalten: Erstens kann es bei diesem Versuch nur darum gehen, raumbezogene Strukturen und Motivik zu identifizieren, die im breiteren Funktionszusammenhang spätmittelalterlicher Schwankmären, und das heißt in erster Linie komischer Unter32

Vgl. Brusegan [Anm. 18], S. 65–70; Zumthor [Anm. 7], S. 59, 81–83.

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haltung, besonders pointiert zu sein scheinen. Folglich ist es wahrscheinlich, daß dieselben räumlichen Erscheinungen im Kontext einer anderen kommunikativen Situation eine ganz andere Reaktion – etwa Entrüstung und nicht Gelächter – provoziert hätten.33 Zweitens ist raumbezogene Komik kaum von körperbezogener Komik zu trennen: So wie ein Raum durch eine bestimmte körperliche Präsenz komisch verwandelt werden kann, so entpuppt sich die Lächerlichkeit eines Körpers oft in seinen räumlichen Verhältnissen. Nicht einmal tabuisierte Orte wirken an sich komisch. Um tendenziöses Gelächter auszulösen, bedarf sogar das scheußhaus eines Insassen oder, wie wir aus Claus Spauns ›Fünfzig Gulden Minnelohn‹ wissen, mindestens eines gefoppten Ehemanns, der von außen an die Wand klopft.34 Auch bei Heinrich Kaufringer wird Innenraum komisch konfiguriert, wenn eine architektonische Struktur, ein häuslicher Teilraum oder ein für Innenraum repräsentativer Gegenstand menschlicher ›Fremdbestimmung‹35 unterliegt. Lächerlich wirkt es demnach, wenn der Liebhaber in der ›Zurückgelassenen Hose‹ aus dem Kammerfenster stürzt, um sich vor dem unerwartet zurückkehrenden Ehemann zu retten;36 oder wenn der erste Bauer in den ›Drei listigen Frauen‹ sich auf einem Stubentisch, an dem man sonst essen würde, festbinden läßt, damit ihm einen Zahn aus dem Mund herausgerissen werden kann.37 Merkmal solcher Fremdbestimmung ist die sekundäre, nicht vorgesehene Umfunktionalisierung des Raums, welche in einem sinnstiftenden Verhältnis zu dessen primären, ordnungsgemäßen Funktion steht,38 das sich hier vor allem unter dem Begriff der Verkehrten Welt einordnen läßt. Dabei erweist sich die räumliche 33

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In Anlehnung an Freuds Theorie des Witzes wäre vor allem die Teilnahme des Publikums an diesem Prozeß zu betonen, denn auch der Erfolg literarischer Komik im Spätmittelalter wird von Erwartungen und Lachbereitschaft der Zuhörer abhängig gewesen sein. Vgl. Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in: Sigmund Freud. Studienausgabe, Bd. 4: Psychologische Schriften, hg. von Alexander Mitscherlich [u. a.], Frankfurt a. M. 1970, S. 9–219, hier S. 142: »Jeder Witz verlangt so sein eigenes Publikum, und über die gleichen Witze zu lachen ist ein Beweis weitgehender psychischer Übereinstimmung.« si sprach: »stee nun hie bei der wand!«, / und gab im in sein hand ain beckin heer, / »nun klopf dran, so fürcht ich mir nit mer, / wann ichs nun tu ain wenig heeren« (V. 128–131). Text zitiert nach: Fischer [Anm. 22], S. 351–361. Siehe Karlheinz Stierle, Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie, in: Das Komische, hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), S. 237–268, hier S. 238–44. ir fräud ward da schier zerstört / von dem hauswirt, irem man. / der kam in das haus gegan. / der kamer begund er nahen. / der gesell muost ser gahen. / er viel ze der kamer aus / über ain laden von dem haus (V. 8–14). der knecht schier beraitet was; / dem weib det er zeliebe das. / er pand den pauren für sich / auf ainen tisch vesticlich, / das er nit mocht weichen zwar (V. 127–131). In der strukturalistischen Anthropologie hat sich die Unterscheidung zwischen primärer (›strategic‹) und sekundärer (›tactical‹) Funktionalisierung eines Raums eingebürgert; vgl. Kern-Stähler [Anm. 11], S. 11–12.

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Umgebung bzw. der für einen bestimmten Innenraum konstitutive Gegenstand wie Tisch oder Bett, als in höchstem Maße manipulierbar. Inszenierung und Ausführung eines komischen Betrugs innerhalb der Erzählwelt läßt den dafür in Anspruch genommenen Raum unerwartet zur Bühne, die dafür instrumentalisierten Möbelstücke gleichsam zur Bühnenausstattung werden.39 Zum anderen wird Innenraum in diesen Texten in seiner komischen Theatralität entlarvt, wenn mehrere, meistens drei, Charaktere sich in unmittelbarer und nicht selten auch unerwünschter oder unbewußter Nähe zueinander befinden. Dies wirkt umso lächerlicher, als die narrativen Rollen bzw. Identitäten der Figuren als soziale Typen (wie Frau, Liebhaber und Ehemann) die Situation als äußerst konfliktträchtig erweisen. Ob das jeweilige Dasein im Raum legitim oder illegitim ist, soll im Regelfall von den Rezipienten ohne weiteres nachvollziehbar sein; diese Entscheidung kann nach außertextlichen gesellschaftlichen Normen und Erwartungen erfolgen, muß es aber nicht. Konstitutiv ist aber, daß Legitimität und Autorität (vor allem des Ehemanns) gerade nicht zum richtigen räumlichen Ausdruck kommen, da die Figuren sich an Stellen befinden, wo sie nicht sein sollten, oder sich eben nicht befinden, wo sie sein müßten. Gerade im Zusammenhang solcher inkongruenter oder pervertierter räumlicher Konstellationen wird die schwankhafte Schlafkammer mit mehreren Gegenständen oder Möbelstücken ausgestattet, hinter denen sich der jeweilige Ehemann zu verstecken vermag. Die grundsätzlichen Strukturen ändern sich nicht, stattdessen wird von der erzählerischen Sympathielenkung im Einzeltext bestimmt, wie und auf Kosten welches Figurentyps man in solchen Szenen zu lachen hat. So ist es der lasterhafte Priester in der ›Rache des Ehemannes‹, der vermutlich zur Zielscheibe der Verspottung wird, wenn er sich mit der Frau des Ritters ins Ehebett begibt, ohne zu wissen, daß ihr Gatte sich hinter dem Schrank versteckt hält.40 Im ›Feigen Ehemann‹ dagegen soll wohl der ›Titelheld‹ ausgelacht werden, da er hinter einem großen Faß in seiner eigenen Schlafkammer hocken bleibt, auch als der fremde Ritter das Haus wieder verlassen hat.41 Fremdbestimmung und räumlich-situative Inkongruenz greifen natürlich ineinander über, etwa in jenen Erzählungen, in denen eine Badewanne, die 39

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Am radikalsten vollzieht sich dieser Prozeß gegen Ende der ›Drei listigen Frauen‹, als im sakralen Kirchenraum eine von den Bauersfrauen dirigierte Aufführung des illiteraten Unverständnisses, Scheintods und grotesker Verstümmelung stattfindet; vgl. V. 453–542. er gieng ze der kamer ein / und sas hinder ain hohen schrein / vil leise da verborgen. / darnach oun alle sorgen / ward die kamer aufgespart. / der pfaff und auch das weibe zart / giengen mit ainander ein. / si mainten da gar sicher sein. / da ward der pfaff betrogen gar, / als ir des werdent schier gewar. / nun stound ain pet schon berait (V. 211–221). Da die fraw des wart gewar, / das der edel ritter gar / auß dem haus gegangen was, / si gieng vil pald zuo dem vas. / si vand den küenen weigant; / der hett sein swert in der hant, / das panzer an dem halse sein (V. 233–239).

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räumliche Intimität schlechthin darstellt, als locus des Geschehens fungiert. Die unvermeidliche Nacktheit und Körperbezogenheit des Badens ließen diese Betätigung durch das ganze Mittelalter hindurch als moralisch fragwürdig erscheinen.42 In der literarischen Tradition des Schwankmäres schlägt sich dieses Bewußtsein darin nieder, daß Ehefrauen gemeinsames Baden zu Hause mit ihren Liebhabern besonders genießen.43 In einer solchen Szene gipfelt auch Kaufringers ›Bürgermeister und Königssohn‹, wo ein Erfurter Kaufmann (und Bürgermeister) es mitansehen muß, wie sich seine Frau in einen galanten Studenten (den inkognito auftretenden französischen Königssohn) verliebt: das weib söllich gepärd gewan, / damit er sich nichtz guotz versan (V. 227–228). Von den öffentlichen städtischen Räumen der Kirche und des Marktplatzes verlegt sich sodann die Handlung ins Hausinnere des Kaufmanns, als seine Frau den Studenten heimlich zu sich einlädt: die fraw des da nicht enlie, si wolt nicht lenger baiten, ain pad wolt si beraiten in ainem zuber weit und gros; darein sas der herre plos und das weib oun alle swär. (V. 258–263)

Den Badenden wird ihr Vergnügen jedoch verdorben, als der vernünftige Ehemann ungemeldet zurückkommt und, nachdem er seinen unerwünschten Gast höflich begrüßt hat, die Kammertür hinter sich verriegelt: Der wirt heraus tratt für die tür. / den rigel stieß er vaste für (V. 293–294). Die Wahrnehmung von Innenraum als Sphäre der Eingeschlossenheit und erotischer Verborgenheit erweist sich auf einmal als lächerlich prekär. Denn durch ihre situationsbedingte Nacktheit, die nicht mehr als sexueller Genuß, sondern als hilflose und beschämende Verwundbarkeit empfunden wird (si heten weder pärd noch weis. / von scham und vorcht das geschach V. 306–307), können die Badenden nichts gegen die Verkehrung von räumlicher Intimität in Gefangenschaft unternehmen.44 Je mehr sich in dieser Erzählsequenz der Kaufmann um das leibliche 42

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Siehe Re´gnier-Bohler [Anm. 11], S. 364–366; Philippe Braunstein, Towards Intimacy: The Fourteenth and Fifteenth Centuries, in: Duby [Anm. 11], S. 534–630, hier S. 600–610. Vgl. etwa den wohl aus dem 15. Jahrhundert stammenden ›Warnenden Ehemann‹, wo Baden sowie Essen dem Ehebruch unmittelbar vorausgehen: ir amis besendet wart / und wart im wol erbotten. / gebraten und gesotten / baidi wild und zam, / und edel kipperwin alsam / wart im schöne dar gesatt. / gefisieret und gebatt / wart er harte schone / der werden min ze lone. / nach diesen arbaiten / lieplich si sich laiten / und pflagen süsser mine (V. 60–71); Text zitiert nach Fischer [Anm. 22], S. 62–65. Zum Baden in den Fabliaux vgl. Brian J. Levy, The Comic Text: Patterns and Images in the Old French Fabliaux, Amsterdam /Atlanta 2000 (Faux titre 186), S. 143–159. Zur Thematisierung der Nacktheit in diesem Text vgl. Andre´ Schnyder, Frauen und Männer in den Mären Heinrich Kaufringers. Zur Darstellung des Körperlichen und

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Wohl der quasi beim Ehebruch Ertappten kümmert,45 desto unerträglicher, aber auch komischer wird die peinliche Lage einer nicht mehr heiß erwünschten räumlichen Enge. Auch in Kaufringers ›Chorherr und Schusterin‹ lädt eine Ehefrau ihren Liebhaber (den Chorherrn) zum Baden ein, womit ein Innenraum innerhalb eines Innenraums geschaffen wird: ain pad ward da den zwaien beraitt in ainen zuber gros. darein sas der herre plos und mit im die frawe zart. der zuber schon bedecket wart mit ainem golter seidein, das niemant sehen mocht hinein. (V. 14–20)

Diese Badewanne fasziniert und irritiert zugleich. Einerseits scheint sie – im Handwerkermilieu – unwahrscheinlich kostbar zu sein; soll etwa darin ein weiterer Hinweis auf die Sündhaftigkeit (luxuria) der Schusterin liegen? Andererseits wird das volle Ausmaß dieser Sündhaftigkeit vor den Augen ihres Ehemanns vom golter seidein (V. 19) buchstäblich verdeckt, obwohl die Verortung der Badewanne selbst die Aufmerksamkeit des Schusters unausweichlich auf sich ziehen müßte: der zuber stond offenbar / bedecket vor der kamer guot (V. 30–31). Wird Innenraum von Schuster und Schusterin unterschiedlich wahrgenommen, wenn etwa für jenen bewohnter Raum gleichzeitig Arbeitsraum ist,46 während diese sich das Handwerkerhaus als Ort körperlicher Pflege und Freude aneignet, so drückt sich das agonale Verhältnis zwischen Frau und Liebhaber auch im Räumlichen aus. Diesmal nämlich ist es die Frau selbst, die die Intimität der Badewanne zum Erschrecken ihres Liebhabers spielerisch verwandelt, indem sie so tut, als ob sie seine Gegenwart ihrem emsigen Ehemann verraten würde.47 In der Welt des Schwanks stellen die raumbezogenen Handlungen der Frau eine Provokation dar, die einen wesensverwandten Gegenschlag geradezu einladen.48 Als die Schusterin eines Morgens beim Chorherrn im Bett liegt, läßt dieser daher ihren Ehemann holen, um ihre unter der Decke

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zur Konstruktion des Geschlechterunterschiedes, in: Manlıˆchiu wıˆp, wıˆplıˆch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren, Berlin 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9), S. 110–130. er pracht in kost und claren wein. / er wolt ins nach dem pade wol / erpieten, als man tuon sol (V. 300–302). Der wirt tratt aus der werchstat sein. / in die kamer wolt er gan; / daraus wolt er tragen dan / mer leders in die werkstatt sein (V. 34–37). si luoget zuo dem zuber aus / und sprach zuo im [dem Schuster] on allen graus: / »gang herzuo, mein lieber man! / hie sitzt ain korherr wolgetan / bei mir in dem zuber gros; / der ist nacket unde plos. / komm her und geschaw in eben!« (V. 39–45). Zum typisch schwankhaften Strukturtyp des Ausgleichs vgl. Hermann Bausinger, Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen, Fabula 9 (1967), S. 118–136.

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hervorsteckenden Füße zu messen.49 Ob damit aber die Störung der räumlichen Ordnung innerhalb des Handwerkerhauses aus der Welt geschaffen worden ist, bleibt eher zweifelhaft. Auch wenn infolge der Rache des Liebhabers eine Veränderung in der Besetzung des Innenraums bei dem Schuster sich nachzeichnen läßt – etwas verspätet nach Hause zurückkehrend, findet dieser eine Szene idealtypischen weiblichen Fleißes vor –,50 bleibt es den Textrezipienten klar, daß solches ordnungsgemäße Verhalten aufseiten der Frau Verstellung und Heuchelei ist.

V. Die hier untersuchten komischen Erzählungen Heinrich Kaufringers sind insofern repräsentativ für spätmittelalterliche Schwankmären, als sie ganz eindeutig in einer sich über mehrere Jahrhunderte hinweg erstreckenden literarischen Tradition stehen.51 Erzählstoff, Motivik und Thematik hat Kaufringer mit vielen Texten aus dieser Tradition gemeinsam, und dies gilt prinzipiell auch für seine narrative Gestaltung des bewohnten Innenraums. Untersucht man die sonstige schwankhafte Märendichtung des Spätmittelalters, so stößt man auf eine durchaus vergleichbare körperbezogene Erfassung von bewohntem Raum, auf räumlich inszenierte Spannungen zwischen Innen und Außen, Heimlichkeit und Öffentlichkeit, und auf komisch verzerrte räumliche Konfigurationen: Szenen, in denen etwa der Liebhaber unter dem Bett lauert, in dem Frau und Ehemann liegen,52 oder wo der lasterhafte Priester in einem aufgehängten Korb Zuflucht nimmt, während Ehemann und Frau darunter am Tisch sitzen und essen.53 Of49

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der ruoft ze der kamer heraus / und pat den schuoster gaun hinein / und hies in willikomen sein. / er dackt oben schon das weib / und enplösset iren leib / unden bei den füessen zwar (V. 142–147). si gahet hain oun allen graus, / sam si von der kirchen gieng. / die gunggel si vil schon empfieng / in ir hend; si sas und span. / darnach kom der guot man / ze der tür gegangen ein (V. 194–199). Vgl. etwa Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, S. 175–191. Vgl. den ›Knecht im Garten‹ von Hans Rosenplüt: si furt in in ir gaden hin / und sagt im da iren sinn/ und hieß in krichen unter ir pet, / das er solt losen, wenn si redt (V. 87–90); Text zitiert nach: Fischer [Anm. 22], S. 178–187. Vgl. den ›Pfaffen im Käsekorb‹ des sogenannten Schweizer Anonymus: zehant er in den käskorb sprang. / der pur zuo der tür in trang. / [...] / do aß der pur gar ser, / aber die frow sach hin und her. / do sach die frow das, / das in dem korb ein loch was. / dadurch hieng dem pfaffen das, / das im bi sinen beinen gewachsen was (V. 37–56); Text zitiert nach: Eine Schweizer Kleinepiksammlung aus 15. Jahrhundert, hg. von Hanns Fischer, Tübingen 1965 (ATB 65), S. 51–56.

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fensichtlich gehört es zu den erzähltechnischen Grundsätzen solcher Texte, daß normabweichendes Verhalten besonders provozierend wirkt, wenn es mittels übertriebener räumlicher Verdichtung inszeniert wird. Zugleich spiegelt die jeweilige Einsicht der Figuren in ihre unmittelbaren räumlichen Verhältnisse die unterschiedlichen Wissensebenen innerhalb der Erzählwelt wieder, wie schon ›Der kluge Knecht‹ des Strickers verdeutlicht;54 und der komische Effekt solcher Konstellationen wird um so erfolgreicher gewesen sein, da die Textrezipienten die literarischen Figuren eben an diesem räumlichen Wissen fast immer übertreffen, wodurch sie im Bewußtsein ihrer eigenen Überlegenheit bestärkt werden. Es wäre ferner zu erwägen, inwiefern sich die Innenraumschilderung im Verlauf dieser Tradition weiter differenzieren läßt. Verwiesen sei hier nur auf die Möglichkeit einer zunehmenden ›Theatralisierung‹ in der spätmittelalterlichen Darstellung von Brauch und Mißbrauch bewohnter Innenräume, wenn Protagonisten ›Bühnen‹ aus ihrer räumlichen Umwelt machen, indem sie die Auftritte anderer Figuren in immer verwickelteren Handlungssequenzen, oder ›Aufführungen‹, in Szene setzen. So läßt etwa der Titelheld von Hans Rosenplüts ›Fahrendem Schüler‹, einem mit Strickers ›Klugem Knecht‹ verwandten Ehebruchsschwank, den lüsternen Pfaffen als nackten Teufel vor den Augen des betrogenen Ehemanns plötzlich erscheinen und aus dem Haus wieder entkommen.55 Solche ›Theatralisierung‹ ließe sich eventuell vor dem Hintergrund des im 15. Jahrhundert aufkommenden weltlichen Spiels beschreiben: Als Autoren von Fastnachtspielen haben etwa die Nürnberger Märendichter Hans Rosenplüt und Hans Folz einen entscheidenden Anteil an diesem Prozeß genommen. Sinnstiftende räumliche Verdichtung könnte aber auch als Indiz der Reflektiertheit in der spätmittelalterlichen narrativen Gestaltung schwankhaften Geschehens gedeutet werden. Auch bei Heinrich Kaufringer ist eine höchst gezielte Inszenierung räumlicher Verhältnisse bzw. des bewohnten Innenraums festzustellen, die mit der primären komischen Funktion seiner weltlichen Erzählungen eng zusammenhängt. Daß Kaufringer es aber auch verstanden hat, durch auffällige räumliche Konfigurationen ganz andere Affekte bei seinen Textrezipienten hervorzurufen, bezeugt nicht zuletzt das geistlich gefärbte Märe ›Die unschuldige Mörderin‹, das zwar unter seinen schwankhaften Texten in Cgm 270 – zwischen der ›Rache des Ehemannes‹ und dem ›Schlafpelz‹ – überliefert 54

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Das narrative Geschehen gipfelt bekanntlich darin, daß der Knecht seinen Meister sowohl köstliches Essen (värhelıˆn V. 226; vochenz V. 241) und Trinken (des metes in der kannen V. 258) als auch den Liebhaber seiner Frau (pfaffe V. 277) in der eigenen Stube (?) schrittweise entdecken läßt; Text zitiert nach: Grubmüller [Anm. 24], S. 10–29. da bescheiß er den pfaffen wol mit ruß / von oben herab biß auf den fuß / und macht in swarz als ie kein rab. / da rumpelt er die leitern herab / und pfuchzet gein dem bauern auß / und lief da zu der tür hinauß (V. 143–148); Text zitiert nach: Grubmüller [Anm. 24], S. 916–927.

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wird, dennoch einen durchaus ernsteren Eindruck macht, wie bereits die ersten Verse vermitteln: Got lat den gerechten menschen nicht / auß seiner väterlichen pflicht (V. 1–2). Das Provozierende an diesem Text liegt bekanntlich darin, daß sich eine junge Frau unschuldig in Schuld verstrickt, indem sie eine Reihe von bösen Menschen, die sie betrügen und / oder erpressen wollen, grausam ermordet.56 Die peinliche Lage der jungen ›tugendhaften‹ Königin wird den Zuhörern vor allem in der Hochzeitsnachtszene plastisch, und das bedeutet hier sowohl körperlich als auch räumlich, vor Augen geführt, wenn die Braut unmittelbar erleben muß, wie eine Dienerin ihre Stelle im Bett mit dem Bräutigam einnimmt: Si giengen in die kamer trat. das liecht da erlöschet wart. die junkfraw sich nit lenger spart, si legt sich zuo dem küng vil leis in der maß und in der weis, sam si die recht küngin sei. die küngin stuond nachent darbei; die hort wol, wie es ergieng. der küng die junkfraw umbefieng und lebt fraintlich mit ir gar nach seines herzen gir und truckt si vast an seinen leib und machet aus der magt ain weib. das hort die küngin alles eben, wann si stuond nicht ferr daneben in der kamer gar still. (V. 518–533)

Erst die Anlehnung dieser Inszenierung pervertierter intimer Räumlichkeit an die schwankhafte Figurenkonstellation jener kamer-Szenen aus der ›Rache des Ehemannes‹ und des ›Feigen Ehemanns‹, wo sich der Ehemann draußen vor dem Ehebett befindet, läßt die volle Wirkungskraft dieser Episode sich entladen, in der, dem thematischen Program des Prologs gemäß,57 Leiden und Unschuld der Titelheldin räumlich konkretisiert werden sollen.58 Auffällig ist, wie 56 57

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Vgl. Ralf-Henning Steinmetz, Heinrich Kaufringers selbstbewußte Laienmoral, PBB 121 (1999), S. 47–74. so der mensch nun darauf stat, / das er nun ganz getrawen hat / zuo got und im enpfilhet gar / als sein leiden, wißt fürwar, / das den got nicht will verlan, / er well im allzeit beigestan, / als ich ew nun sagen wil, / wie ain junkfraw kumers vil / gelitten hat und aribait, / davon si kam in herzenlait / unverdient und gar oun schuld. / der half got mit seiner huld / aus allen iren nöten gar (V. 5–17); vgl. auch V. 750–761 des Epilogs. Es ist diese verkehrte Situation, die dadurch noch unerträglicher wird, daß die Magd mit üppigem schal (V. 572) sich weigert, aus dem königlichen Ehebett wieder auszusteigen, die die Untat der Königin gewißermaßen rechtfertigt: si gieng pald in die kuchein / gar haimlich in stiller weis. / si zunt ain liecht an vil leis / und truog das in die kamer dan / und zunt an vier enden an, / das die kamer pran vil ser. / [...] / die

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im breiteren narrativen Zusammenhang die erzählerische Darstellung der darauffolgenden (gelungenen) Ehe im wesentlichen in einer zweiten Bett-Szene besteht: Da si wol zwai und dreissig jar also bei ainander waren, als ich das nun haun erfaren, da lag der edel künig gros ains tages in der frawen schos und was da entslaufen ser. die fraw gedacht hin und her und ward mit rew umbegeben, wie si den ritter umb sein leben hett gepracht, das was ir lait, und den portner und die mait, und wie der knecht ungetrew auch sterben muost, das ward ir new, und ward darumb wainen ser, das die zäher dem künig her vielen auf das antlütz sein. (V. 624–639)

Auch der Gipfelpunkt der ›Unschuldigen Mörderin‹ spielt sich in einem intimen Innenraum ab, der diesmal nicht mittels topographischer Einzelheiten, sondern allein anhand der körperlichen Nähe von Mann und Frau bezeichnet wird.59 Wenn aber dieser Raum ebenfalls gestört wird, dann hat das offenbar nichts mit der unerwünschten körperlichen Präsenz eines Dritten zu tun, sondern ist stattdessen direkte Folge der überwältigenden inneren Trauer (rew V. 631) der Königin selbst, die sich in Tränen unwillkürlich ausdrückt. Diese beiden Szenen gestörter Intimität stehen also in einer ganz besonderen strukturellen Beziehung zueinander, nach der die erste durch die zweite aufgehoben wird. Auf narrativer Ebene heißt das, daß nun endlich die Königin von ihrer inneren Gewissensqual erlöst werden kann.60 Zum anderen bedeutet diese pathetische Wendung in der Geschichte zugleich eine Priviligierung des geistlichen Innenraums über den architektonischen oder nach rein körperlichen Bedürfnissen organisierten Innenraum, der Kaufringers schwankhafte Mären charakteri-

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küngin sties den rigel für / und gieng da mit dem künig dan. / in der kamer da verpran / die junkfraw ze pulver schon (V. 588–613). Insofern unterscheidet sich diese Inszenierung auch von einer anderen großen Enthüllungsszene der mittelhochdeutschen Literatur: nuˆ kam ez alsoˆ naˆch ir site / daz er umbe einen mitten tac / an ir arme gelac. / nuˆ gezam des wol der sunnen schıˆn / daz er ir dienest muoste sıˆn: / wan er den gelieben zwein / durch ein vensterglas schein / und hete die kemenaˆten / liehtes wol beraˆten, / daz si sich mohten undersehen (›Erec‹ V. 3013–3022); Text zitiert nach: Erec von Hartmann von Aue, hg. von Albert Leitzmann und Ludwig Wolff, 6. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39). Zu dieser Szene aus dem ›Erec‹ vgl. auch Wenzel [Anm. 12]. Der König nämlich verzeiht ihr alles; vgl. V. 687–701.

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siert. In der ›Unschuldigen Mörderin‹ wird demzufolge Enthüllung und Erfahrung einer furchtbaren Wahrheit in erster Linie als Ergebnis mehrerer innerer Vorgänge, wie Erinnerung und Reue, dargestellt, während etwa im komisch schrecklichen Schwankmäre ›Der Suche nach dem glücklichen Ehepaar‹ zutiefst empfundenes Leid in der grotesken Figur des gefangenen Bauern verkörpert wird, der hinter der zugeschlossenen Tür einer heimlichen Kammer im Hauskeller auf Entdeckung wartet.

Nigel F. Palmer

Herzeliebe, weltlich und geistlich Zur Metaphorik vom ›Einwohnen im Herzen‹ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta Als Gawan das Abenteuer mit Zauberbett und Löwenkampf in der Burg Schastel marveile trotz schwerer Verwundungen erfolgreich bestanden hat, sinkt er betäubt, verblutend und vollkommen ermattet auf dem toten Tier als Kissen nieder und wird dort, auf seine Art zum ›Löwenritter‹ geworden, in seiner Ohnmacht von schönen Frauen entdeckt (573,1–576,19).1 Es ist nicht das erste Mal, daß einem Ritter im höfischen Roman derartiges widerfährt. Zuerst wird Gawan in der mit Blut bespritzten Kemenate von einer Kammerjungfrau besucht, dann von der Königin Arnive, die zwei weitere Jungfrauen hinschickt, um ihn zu pflegen. Glücklicherweise verfügt die Königin über ein wunderbares Heilmittel – ein weiteres Hartmann-Motiv2 –, das Cundrie ihr von Munsalvaesche gebracht hat und mit dem sie den verwundeten Ritter in einen heilsamen Schlaf versetzen kann. Gegen Abend erlaubt sie ihm, aufzuwachen, und beim Anblick der ihn umgebenden schönen Damen, seiner noch nicht als solcher erkannten Großmutter Arnive3 und ihrer Kammerjungfrauen, ergreift ihn die Sehnsucht nach einer in seinen Augen noch schöneren Frau, Orgeluse. Jetzt endlich darf er etwas zu essen bekommen und soll wieder einschlafen, aber Frau Minne gönnt seinem Herzen den Schlaf nicht, den der Körper braucht. An dieser Stelle setzt Wolframs Erzähler mit dem sogenannten ›Dritten Minneexkurs‹ ein (583,1–587,14).

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Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a. M. (Bibliothek des Mittelalters 8/1–2). Vgl. Hartmann von Aue: Erec, hg. von Manfred Günter Scholz. Übers. von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5), V. 5100–5249; Hartmann von Aue: Iwein. Text der 7. Ausg. von Georg Friedrich Benecke/Karl Lachmann/Ludwig Wolff. Übersetzung und Kommentar von Thomas Cramer, Berlin/New York 42001, V. 3419–3452; die Entdeckung des schlafenden Helden durch die Gräfin von Narison und ihre Hofdamen ›Iwein‹ V. 3359–3418. Daß er sich dennoch über ihre Identität im klaren sein müßte, geht aus der Szene 334,1ff. hervor; vgl. Sidney M. Johnson, Gawan’s surprise in Wolfram’s Parzival, The Germanic Review 32 (1957), S. 285–292, hier S. 286–288. Siehe auch Dennis Howard Green, The Art of Recognition in Wolfram’s Parzival, Cambridge 1982, S. 156f.

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Gleich zu Beginn der zweiten Folge von Gawanerzählungen hatte sich der Erzähler dem Prinzip verpflichtet, daß seine wildiu maere gleichzeitig alle Freude rauben und hochgemüete erzeugen sollen (503,1–4). Auch die hier zu besprechende Stelle lebt von solchen Paradoxien. Jetzt geht es darum, ein Verhältnis zwischen der exzeptionellen äußeren Not, die Gawan auf dem Lit marveile mit Mannheit und Standhaftigkeit überstanden hat, und der inneren Not, die ihm Orgeluse bereitet, herzustellen. Die schrecklichen Abenteuer, durch die sich Lanzilot, Garel, Erec und Iwein hervorgetan haben, einschließlich des Abenteuers an der Furt Li gweiz prelljus, das ihm selber bevorsteht, sind nicht zu vergleichen mit den Anstrengungen (noˆt 583,7. 11), die sein standhaftes Herz auf dem Zauberbett erlitten hat und auf denen sein einzigartiger prıˆs (583,7) als Aventiureritter jetzt begründet ist (583,4–584,4). In diesem ersten Abschnitt wird durch die Reihe von expliziten intertextuellen Verweisen, die sich einem komplexen Geflecht von impliziten inter- und intratextuellen Bezügen in den Gawanbüchern anschließen,4 die außerordentliche Standhaftigkeit seines Herzens – als in sıˆn manlıˆch herze hiez (583,24) – in einer spielerisch aufgebauten Hyperbel ausgedrückt. Die Erwähnung des Herzens, das vorerst als der Sitz seiner Kühnheit und Tapferkeit aufzufassen ist, bleibt eine ganz gewöhnliche Redeweise aus der Alltagssprache, nur durch die konventionelle syntaktische Fügung, die verlangt, daß das innere Organ dem handelnden Menschen Befehle erteilt, vom heutigen Sprachgebrauch etwas unterschieden. Hier soll aber gleich von einer anderen Funktion des Herzens die Rede sein, denn es gibt eine andere Qual, die in ihrer Intensität die Gesamtheit der im vorangehenden Abschnitt aufgezählten aˆventiure-Erlebnisse aus der höfischen Literatur übertrifft, auch wenn man sie alle zusammenbündeln würde. Man hat das so formuliert, daß Gawans Kämpfe analog zu der Situation Parzivals, dessen Kämpfe mit den besten Rittern mit einer religiösen Dimension gekoppelt sind, jetzt »unter doppelter Perspektive« erscheinen. Der Vergleich von Gawans kumber mit den Aventiuren der anderen Helden wird nachträglich im Sinne von Wolframs Konzeption des ihm eigenen ›(Minne-)Rittertums‹ neu definiert:5 4

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Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ›Parzival‹, Frankfurt a. M. [usw.] 1993 (Mikrokosmos 36), hier S. 357–366. Zur Vorstellung, daß Gawans Kämpfe und Kampfesprinzipien unter der doppelten Perspektive von ritterlicher Tüchtigkeit und Minne zu sehen sind, s. Draesner [Anm. 4], S. 366. Vgl. Sonja Emmerling, Geschlechterbeziehungen in den GawanBüchern des »Parzival«. Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell, Tübingen 2003 (Hermaea 100), S. 123, die den Text mit ihrer These überstrapaziert, wenn sie den Vergleich mit den Heldentaten anderer arthurischer Protagonisten nicht auf Gawans Kampf in Schastel marveile, sondern nur auf seine Minnequalen bezieht. Dabei übersieht sie, daß der Ruhm des Helden gerade durch diese groˆze noˆt (583,7) begründet ist, auf die sich der erste Vergleich ausdrücklich bezieht (gein dirre noˆt 583,11), was zu

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welhen kumber mein ich nuo? ob iuch des diuhte niht ze fruo, ich solt in iu benennen gar. Orgeluˆse kom aldar in Gaˆwaˆns herzen gedanc, der ie was zageheite kranc unt gein dem waˆren ellen starc. wie kom daz sich daˆ verbarc soˆ groˆz wıˆp in soˆ kleiner stat? si kom einen engen pfat in Gaˆwaˆnes herze, daz aller sıˆn smerze von disem kumber gar verswant. ez was iedoch ein kurziu want, daˆ soˆ lanc wıˆp inne saz, der mit triwen nie vergaz sıˆn dienstlıˆchez wachen. niemen sol des lachen, daz alsus werlıˆchen man ein wıˆp enschumpfieren kan. wohrıˆ woch, waz sol daz sıˆn? daˆ tuot frou Minne ir zürnen schıˆn an dem der prıˆs haˆt bejagt. werlıˆch und unverzagt haˆt sin iedoch funden. gein dem siechen wunden solte si gewalts verdriezen: er möht doch des geniezen, daz sin aˆne sıˆnen danc wol gesunden eˆ betwanc. (584,5–585,4)

Gemeint ist also Gawans Liebeskummer. Orgeluse ist in sein Herz gekommen, genauer: sie hat einen Platz in den »Gedanken seines Herzens«, in »seinen innersten Gedanken« gefunden (584,9), was seinen bisherigen Ruf für Standhaftigkeit und Kühnheit zu beeinträchtigen scheint. Der Erzähler behauptet dann in einer überspitzten Formulierung, daß Orgeluses Eintreten in das Innere seines Herzens eine ritterliche Niederlage bedeutet: »Keiner darf darüber lachen, daß ein so tapferer Kämpfer von einer Dame besiegt wird« (584,22–24). Sie hat ihn wie in einem Zweikampf erobert, aber auf diese Weise von seiner Geliebten besiegt zu werden, ist natürlich zum Vorteil des Liebhabers (585,2–4). Die Metapher vom Einwohnen der Minnedame im Herzen nimmt in diesem Passus durch einen mehrgliedrigen Gedankengang Gestalt an. Orgeluse nimmt trotz seiner tapferen Standhaftigkeit einen Platz in seinen Gedanken ein, in seinem Herzen. Daraufhin konstatiert der Erzähler, wie merkwürdig es sei, daß eine als real vorzustellende Frau sich in einem so kleinen Raum verbergen könne. diesem Zeitpunkt schwerlich etwas mit seinen Errungenschaften als Minnediener zu tun haben kann. Siehe auch Nellmann [Anm. 1] zur Stelle (Bd. 2, S. 724).

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Um dorthin zu kommen, mußte sie sich durch den engen Pfad zwängen, der in Gawans Herz führt, womit an dieser Stelle nicht wie gewöhnlich bei diesem literarischen Muster der Weg über die Augen, sondern der Weg über die Gedanken gemeint sein muß.6 Dem paradoxen Eintreten der großen Frau über einen so engen Pfad in das enge Herz ihres Liebhabers entspricht dann die Paradoxie, daß das neue Leiden seine bisherigen Schmerzen zunichte macht, denn die Schmerzen des Verwundeten werden durch die größere Not der Liebesqual aufgehoben. Zum komischen Motiv, daß die große Frau sich zusammenquetschen muß, wenn man die Metapher vom Wohnen im Herzen wörtlich nimmt, tritt nun die weitere Beobachtung, daß die Wände des Herzens, die die Klausnerin in seinem Inneren umgeben, für diese große Frau, der Gawan mit solcher Treue seinen Dienst erwiesen hat, recht niedrig sind. Ihre ›Größe‹ ist darin begründet, daß die Minnedame für ihren Diener eine so ungemein wichtige Person ist. Damit mündet die Präsentation abstrakter Liebesmetaphorik als eines realistischen, physischen Vorgangs in das bewußt komische, ja lächerliche Bild von der Frau, die zu groß für die ihr zugewiesene Klause ist und sozusagen mit dem Kopf herausragt. Aber Lachen ist verboten. Die mißliche Situation, die dadurch entstanden ist, daß ein Ritter eine solche Niederlage durch eine Frau erlitten hat, die als lächerlich empfunden werden könnte, bietet Anlaß, sich über die Ungerechtigkeit von Frau Minne zu beklagen, die einen verwundeten Helden so behandelte.

I. Der neueste Kommentar zu der ›Parzival‹-Stelle schreibt: »Zum Minnesangmotiv von der Dame im Herzen s. zuletzt Ohly 1970«.7 Und es ist tatsächlich so, daß ich die bekannte Orgeluse-Stelle an den Anfang gestellt habe, weil sie zu den vier oder fünf ›klassischen‹ Beispielen für diese Variante der Liebesmetaphorik zählt, die Friedrich Ohly 1970 in einem richtungsweisenden Aufsatz 6

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Bei Gawans erster Begegnung mit Orgeluse wird der visuelle Eindruck, den sie auf ihn macht, besonders stark betont. Das geht aus den Bemerkungen des Erzählers hervor (z. B. in der Bezeichnung Orgeluses als ougen süeze aˆn smerzen, / unt ein spansenwe des herzen 508,29–30), aus Orgeluses eigener Darstellung (wie habt ir minne an mich erholt? / maneger sıˆniu ougen bolt, / er möhts uˆf einer slingen / ze senfterm wurfe bringen, / ob er sehen niht vermıˆdet / daz im sıˆn herze snıˆdet 510,1–6), sowie aus Gawans eigenen Worten (mıˆn ougen sint des herzen vaˆr: / die haˆnt an iwerem lıˆbe ersehn, / daz ich mit waˆrheit des muoz jehn / daz ich iwer gevangen bin 510,16–19). Die Herz-Auge-Thematik wird an der späteren Stelle durch die Vorstellung ersetzt, daß der Prozeß des Erinnerns, der durch Gedanken geschieht, der Geliebten einen Weg in Gawans Herz eröffnet. Nellmann [Anm. 1], Bd. 2, S. 725.

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unter dem Titel ›Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen‹ zusammengestellt und besprochen hat.8 Es handelt sich um einige sehr bekannte Beispiele aus der Lyrik die Frauenstrophe Duˆ bist mıˆn aus den ›Tegernseer Liebesbriefen‹, Friedrichs von Hausen Ich muoz von schulden sıˆn unvroˆ, Morungens West ich, ob ez verswıˆget möhte sıˆn, Reinmars Lied Mıˆn ougen wurden liebes alse vol; und aus dem ›Parzival‹ die Orgeluse-Stelle und das Anklopfen von Frau Aventiure an der Tür zu Beginn des 9. Buches, womit eine recht ungewöhnliche poetologische Variante des Motivs in die Diskussion einbezogen wird.9 Das Motiv der großen Frau, die sich in einem so kleinen Raum zurecht finden muß bzw. einen so engen Pfad einschlagen muß, um ins Herz zu gelangen, stellt Ohly glaubhaft in Bezug zur Tradition des Psalmverses 118,32: »Ich laufe den Weg deiner Gebote; denn du tröstest mein Herz« (Luther), der in der Vulgata in Übereinstimmung mit dem hebräischen Text und Septuaginta etwas anders lautet: Viam mandatorum tuorum cucurri, cum dilatasti cor meum. (»Den Weg deiner Gebote lief ich, als du mir das Herz geweitet.«)10 Spätestens seit Cassiodor wird die Opposition des Weges und der dilatatio cordis als eine Opposition zwischen Enge – angustia – und Weite aufgefaßt: Erst durch die Weitung des Herzens wird es möglich, den engen Weg der Gebote zu gehen.11 Das konkordante Lesen dieser Stelle im Zusammenhang mit der Fürbitte des Apostels im Epheserbrief, »daß Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet werdet« (Eph 3, 17), bildet eine der Grundlagen für die mittelalterliche Herzensraummetaphorik. Die Enge des Herzens, des Hauses der Seele, in das der Herr eintreten soll, findet bei Augustinus am Anfang der ›Confessiones‹ eine einflußreiche Formulierung: Quis dabit mihi, ut uenias in cor meum et inebries illud, ut obliuiscar 8

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Gedenkschrift für William Foerste, hg. von Dietrich Hofmann unter Mitarbeit von Willy Sanders, Köln/Wien 1970 (Niederdeutsche Studien 18), S. 454–476; nachgedruckt in: Friedrich Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 128–155 [zit.]. Für die Beispiele aus dem Minnesang s. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser/Helmut Tervooren. Bd. I: Texte, Stuttgart 381988, S. 21 (3,1); S. 73 (Hausen 42,1); S. 245 (Morungen 127,1); S. 378 (Reinmar 194,18). Ohly [Anm. 8], S. 139 Anm. 22; S. 147 Anm. 28. Die Luther-Übersetzung ist stark interpretierend und betont einen Aspekt, der sich zwar aus dem Gesamtkontext der Trostthematik von Psalm 118 (119) ergibt, aber nur mit Mühe mit einer wörtlichen Übersetzung der Stelle zu vereinbaren ist. Non enim potuisset uel ambulare uel currere, nisi cor eius in latitudine scientiae fuisset extensum; nam cum uia mandatorum eius legatur angusta, nisi dilatato corde non curritur. (»Ohne daß sein Herz eine Ausbreitung des Wissens erlebte, könnte er weder laufen noch gehen, denn weil der Weg seiner Gebote als eng bezeichnet wird, ist es nicht möglich, ohne die Weitung des Herzens zu laufen.«); Magni Aurelii Cassiodori Expositio psalmorum, hg. von Marcus Adriaen, 2 Bde., Turnhout 1958 (CCL 97– 98), Bd. 2, S. 1073 (Exp. in Ps. CXVIII, 32). Alle Übersetzungen sind meine eigenen.

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mala mea et unum bonum meum amplectar, te? [...] Angusta est domus animae meae, quo venias ad eam: dilatetur abs te. Ruinosa est: refice eam. 12 (»Wer gibt mir, daß du kommest in mein Herz und es trunken machest, daß ich vergesse meine Sünden und dich umarme, du mein einzig Gut? [...] Eng ist das Haus meiner Seele, in das du kommen magst zu ihr; mach du es weiter! Baufällig ist es: bau du es neu!«) Das Augustinuswort steht am Anfang einer langen Tradition vom Einwohnen Gottes im Herzen oder in der Seele.13 Der Pfad, der dorthinführt, mag schmal sein, aber das enge Herz muß sich weiten, um Gott zu empfangen. Ein analoger Gedanke war die Einwohnung des mächtigen Herrn, den Himmel und Erde verehren, im Schoß der Jungfrau, den Ohly zuerst bei Venantius Fortunatus (2. Hälfte 6. Jh.) nachweist.14 Diese Tradition der Herzensmetaphorik findet, so Ohly, eine Erneuerung in lateinischen theologischen Werken aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, wie z. B. in den Kirchweihpredigten Bernhards von Clairvaux und im Traktat ›De archa Noe‹ von Hugo von St. Viktor.15 In diesem theologischen Bereich sei dann die »geschichtliche Herkunft« der Minnelieder zu suchen, die das phantastische Bild von ›der Dame im engen Herzen‹ thematisieren, denn die Parallelen zwischen volkssprachiger Dichtung und der christlichen lateinischen Tradition sind zu eng und zu vielfältig, als daß sie allein durch zufällige Parallelentwicklungen im ›Beim-Wort-Nehmen‹ des ubiquitären Motivs des Wohnens im Herzen erklärt werden könnten.16 Auf der Grundlage eines Kommunikationszusammenhangs zwischen der Bibelsprache, der Patristik und der Theologie des 12. Jahrhunderts auf der einen Seite und dem Minnesang sowie dem höfischen Roman auf der anderen Seite formuliert Ohly seine Interpretation der Orgeluse-Stelle: »[Wolfram] malt in 12

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Sancti Augustini Confessionum libri XIII, quos post Martinum Skutella iterum edidit Lucas Verheijen O.S.A., Turnhout 1981 (CCL 27), S. 3 (I, 5[5–6]). Dazu Ohly [Anm. 8], S. 135. Das Verhältnis von ›Herz‹ und ›Seele‹ als Kategorien der Innerlichkeit in der höfischen Dichtung untersucht Katharina Philipowski, Der geformte und der ungeformte Körper. Zur ›Seele‹ literarischer Figuren im Mittelalter, ZfdPh 123 (2004), S. 67–86; Dies., Bild und Begriff: seˆle und herz in geistlichen und höfischen Dialoggedichten des Mittelalters, in: anima und seˆle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter, hg. von Ders. und Anne Prior, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 197), S. 299–319. Zum Hintergrund vgl. Xenja von Ertzdorff, Das ›Herz‹ in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen religiösen Literatur, PBB (Halle) 84 (1962), S. 249–301. Siehe auch Dies., Die Dame im Herzen und das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs »Herz« in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts, ZfdPh 84 (1965), S. 6–46. Ohly [Anm. 8], S. 140f. Ohly [Anm. 8], S. 135–139. Ähnlich schon von Ertzdorff, Die Dame im Herzen [Anm. 13], S. 45f., die die »Grundbedeutung« der höfischen Konzeption des Herzens auf die geistliche Literatur zurückführt und eine »Wesensverwandtschaft« zwischen der Liebe im höfischen Kontext und »Aussagen über die Ergriffenheit durch die göttliche Liebe« feststellt.

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diesem Dunkelstück verwegen aufgesetzte Lichter der Erinnerung an Göttliches, um Gawans Heilswende im Geschehen von Orgeluses Herablassung in sein Herz zu bezeichnen. Das Zwielicht ihrer Epiphanie im Herzen reicht bis ins Schillern zwischen der paradoxalen Konkretheit ihres Kommens in Gaˆwaˆnes herze und dem sie wieder aufhebenden Kommen in Gaˆwaˆns herzen gedanc.«17 Wichtig sind hier mehrere methodische Aspekte. An erster Stelle ist auf die Kontextualisierung im Werk im Hinblick auf ein Gesamtbild von Gawans Errungenschaften hinzuweisen. Diese wäre durch eine Erörterung der Bezüge zu ergänzen, die zwischen dieser Stelle und der vorangegangenen Darstellung zu Beginn des 10. Buches bestehen. Dort verliebt sich Gawan auf den ersten Blick in Orgeluse (s. o. Anm. 6), und der Erzähler beschreibt diesen Vorgang durch eine Kombination von Liebeskriegmetaphorik mit dem Motiv der Einwohnung der Minnedame im engen Herzen (508,14ff.). Das Herausstellen der schillernden, zwielichtigen »Epiphanie im Herzen«, die von Ohly als »Heilswende« gedeutet wird, zielt auf die Parallelisierung der inneren Entwicklung Gawans mit dem Parzival-Geschehen, aber gleichzeitig auf eine Unterscheidung der beiden Hauptfiguren. Zweitens begnügt sich die Interpretation nicht mit der Feststellung, daß eine Redefigur, die in der theologischen Literatur ausgebildet wurde, als Ausdrucksmittel für die Darstellung der höfischen Liebe im Minnesang adaptiert und unter den Bedingungen einer anderen Gattung von Wolfram in den höfischen Roman übernommen wurde, sondern der Transfer wird inhaltlich gedeutet. Das bedeutet, daß die inhaltlichen Konnotationen aus dem sakralen Kontext, in dem die Metaphorik vom Einwohnen im Herzen ihren traditionellen Ort hatte, auf den profanen Kontext in der Erzählung von Gawan und Orgeluse übertragen werden. Drittens wird das Verhältnis zwischen der Sakralsphäre und der Profansphäre nicht so gedeutet, daß für Wolfram und die Minnesänger die beiden Bereiche ineinander übergingen, so daß das Ausloten des Phänomens Liebe durch die dichterische Metaphorik auf einer Ebene ansetzen konnte, wo es auf die Unterscheidung zwischen weltlich und geistlich nicht mehr ankommt, sondern es wird gerade der Bruch, der Übergang thematisiert. Die Interpretation der Einwohnung Orgeluses im Herzen Gawans als eine ironisch zu verstehende »Heilswende«, eine zwielichtige »Epiphanie«, fußt nicht in erster Linie auf der Komik der Konkretisierung (»eine kurze Mauer um eine so große Frau herum« 584,18f.). Sie fußt auch nicht explizit auf dem Bruch zwischen Wolframs Motiv von dem kleinen Herzen mit einem engen Eingang und niedrigen Wänden und der gängigen Version der Metapher, nach der der Weg ins Herz zwar eng sein mag, aber das sonst als klein und eng vorzustellende Organ durch die Liebe gedehnt wird und zum Empfang der Geliebten die dilatatio erlebt. All das mag 17

Ohly [Anm. 8], S. 147.

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für Ohly eine Rolle gespielt haben, aber ich habe ihn so gelesen, daß vor allem der Vorgang der Profanierung einer sakralen Metapher an sich zur Ironisierung der Aussage beigetragen hat und deswegen eine Schwelle bildet. Dazu ist auch zu bemerken, daß es immer wieder in der Literaturgeschichtsschreibung auffällt, wie vorsichtig und unbestimmt Bemerkungen zu den geistlichen Assoziationen von profanen Sachverhalten formuliert werden, so als ob mit dieser Umdeutung auch für den Interpreten eine problematische Schwelle überschritten würde. Fünfunddreißig Jahre nach dem Erscheinen von Ohlys Aufsatz scheint es mir durchaus angebracht zu fragen, wie das Phänomen der analogen Betrachtungsweise sakraler und profaner Sachverhalte in der mittelalterlichen Dichtung und im mittelalterlichen Denken zu beurteilen ist. Es gibt mit Sicherheit keine für alle Texte gültige Regel, die man als eine Antwort auf meine Frage verstehen könnte, zumal die methodische Vielfalt, die die Teilnehmer an unserem Kolloquium trennt und verbindet, eine Fülle von verschiedenen Zugängen zu der Frage erwarten läßt. Die weltliche und geistliche Herzensraummetaphorik bildet einen Bereich, für den man erwarten könnte, daß die mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen im Bereich des Innenlebens des Menschen, die von der Forschung gerade für das 12. und 13. Jahrhundert im religiösen Bereich hervorgehoben wurden,18 einen Einfluß auf die weltliche Dichtung gehabt haben müßten und deswegen für die literarische Hermeneutik von entscheidender Bedeutung sein könnten. Es geht darum, den Kommunikationszusammenhang zu bestimmen, in dem Stellen wie die Herzensraummetaphorik im ›Parzival‹ zu sehen sind und den man durch die Einbeziehung eines breiteren Spektrums von deutschen und lateinischen Texten, die im 13. Jahrhundert entstanden sind, erweitern könnte. Das bedeutet zugleich die Suche nach Details, die sowohl im weltlichen wie im geistlichen Bereich anzutreffen sind, die zum Verständnis der weltlich-geistlichen Analogien helfen könnten und die sowohl für kulturgeschichtliche wie hermeneutische Fragen von Relevanz sein können.

II. Mein zweites Beispiel ist der Biographie von Juliana von Cornillon (1193–1258), Priorin der religiösen Laiengemeinschaft an einem Leprosorium bei Lüttich, entnommen, die sich in der Mitte des 13. Jahrhunderts mit ungeheurem Engagement für die Einführung des Fronleichnamsfests einsetzte und deren Visionen 18

Anstatt einer eigenen Zusammenstellung verweise ich auf das Kapitel ›»Innen« und »Außen« in der gelehrten Diskussion der Zeit‹ bei Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im »Parzival« Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea 94), S. 15–27.

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und Erlebnisse angeblich in französischer Sprache von einer Freundin aufgezeichnet wurden und in der Form einer auf die Jahre 1261/64 datierbaren, nach dieser nicht erhaltenen volkssprachigen Informationsquelle bearbeiteten anonymen lateinischen Vita erhalten sind:19 In sollempnitate autem Ascensionis Domini Iuliana interdum se domibus inclusam non poterat sustinere, sed eam deduci seu deferri sub divo, ubi celum conspiceret, oportebat. Visum autem erat ei, quod videret Christum in humanitatis nostre forma, sicut olim intuentibus discipulis ascenderat, virtute sublatum propria celorum ardua penetrare. In quo sub beato intuitu dicebatur mirabiliter delectari. Unde cum in die sollempnitatis memorate ad quandam dilectam sibi personam visitandi gratia divertisset, sic repleta et referta gratie fuit, ut plenitudinem eius angusto corpore capere non valente illa, ad quam Iuliana venerat, plurimum timeret, ne disrupto corporis vasculo sua visitatrix per medium scinderetur. Illa autem, que sic affecte presto erat, mirabile dictu vocem Iuliane audiebat, quam sine oris apertione sed solo pectore proferebat. Pro captanda vero aliquantula evaporatione ardoris, quem intra se patiebatur, ut vocem inclusam emitteret, admonuit, neminem hanc asserens auditurum. At illa exclamavit et dixit: ›Recessit Dominus meus‹. Nonne tibi videtur dixisse: Ascendit deus in iubilatione? Sic autem veluti ascensionis peracto officio, cum ad se foret reversa, sic sibi erat per quandam mestitie gravitatem, ac si sola fuisset et orphana derelicta. Sed postmodum in altaris sacramento consolationem plurimam resumebat necnon et in hoc verbo solatii, quod discipulis suis et cunctis pariter fidelibus dereliquit: Ecce ego vobiscum sum omnibus diebus, usque ad consummationem seculi. (»Am Festtag von Christi Himmelfahrt konnte Juliana es manchmal nicht aushalten, eingeschlossen im Hause zu bleiben, sondern es war nötig, sie ins Freie zu führen oder zu tragen, wo sie den Himmel sehen konnte. Denn sie pflegte in einer Vision zu sehen, wie Christus, so wie er damals vor den Augen der Apostel hinauffuhr [Acta 1,9], durch seine eigene Kraft aufgehoben wurde und in die Höhen des Himmels eindrang. Es hieß, daß sie sich bei diesem seligen Anblick ganz außerordentlich freute. So geschah es an diesem Festtag, als sie einer lieben Freundin Besuch erstattete, daß sie derart von Gnade erfüllt und überkommen wurde, daß sie die Fülle der Gnade in ihrem engen Körper nicht halten konnte. Die Frau, bei der Juliana zu Besuch war, fürchtete sehr, daß das kleine Gefäß ihres Körpers platzen und mitten entzwei zerreißen könnte. Als sie neben ihr stand, hörte sie seltsamerweise Julianas Stimme, die diese ohne den Mund zu öffnen allein aus der Brust hervorbrachte. Um den Druck dieser inbrünstigen Leidenschaft, die sie in sich erlebte, ein wenig aufzulösen, riet sie ihr nachdrücklich, die in ihrem Inneren verschlossene Stimme herauszulassen, wobei 19

Buch I, Kapitel 19. Zitiert in eigener Textherstellung und mit eigener Interpunktion nach der diplomatischen Transkription der Handschrift in: Feˆte-Dieu (1246–1996). 2. Vie de Sainte Julienne de Cornillon. E´dition critique par Jean-Pierre Delville, Louvain-la-Neuve 1999 (Universite´ Catholique de Louvain. Publications de l’Institut d’E´tudes Me´die´vales – Textes, E´tudes, Congre`s, vol. 19/2), S. 58. Zur Datierung ebd., S. XII-XIII. Über Juliana von Cornillon (bzw. Mont-Cornillon) s. zuletzt Anneke B. Mulder-Bakker, Lives of the Anchoresses. The Rise of the Urban Recluse in Medieval Europe, übers. von Myra Heerspink Scholz, Philadelphia, PA 2005, S. 78–117. Vgl. Bernard McGinn, The Flowering of Mysticism. Men and Women in the New Mysticism – 1200–1330, New York 1998 (The Presence of God: A History of Western Christian Mysticism 3), S. 398f.

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sie versicherte, daß niemand es hören würde. Darauf rief Juliana laut und sprach: ›Mein Herr zieht sich zurück.‹ Findest du nicht, daß sie damit sagte: ›Aufgefahren ist Gott unter Jubel‹? [Ps 46, 6] Als das Himmelfahrts-Officium zu Ende war und sie wieder zu sich kam, wurde sie von solcher Trauer befallen, als ob sie einsam und verwaist sei. Aber nachher fand sie wieder großen Trost im Altarsakrament und in jenen tröstlichen Worten, die er sowohl seinen Aposteln als auch allen Gläubigen hinterließ: ›Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende‹ [Mt 28, 20].«)

Die Passage berichtet über Julianas Erlebnisse am Festtag Christi Himmelfahrt und insbesondere davon, wie sie infolge eines visionären Erlebnisses »derart von Gnade erfüllt und überkommen wurde, daß sie die Fülle der Gnade in ihrem engen Körper – angusto corpore – nicht halten konnte«. Ihre Freundin, die dabei steht, merkt, was mit ihr passiert, und fürchtet, daß ihre Besucherin platzen wird – ne disrupto corporis vasculo sua visitatrix per medium scinderetur. Dann hört sie Julianas Stimme, aber Juliana spricht nicht durch ihren Mund, sondern durch eine innere Stimme (vox inclusa) in ihrer Brust. Die Freundin bittet sie, auszusprechen, was in ihrem Inneren passiert, worauf Juliana mit den Worten antwortet: »Mein Herr zieht sich zurück«; das, was das Ertönen der inneren Stimme veranlaßt hatte und sie fast zum Platzen brachte, war also die leibliche Präsenz des Herrn, mit welcher ihr Körper erfüllt war. Was passiert in dieser unscheinbaren Episode? Am Himmelfahrtstag erlebt die kranke Juliana – so haben wir das Motiv zu verstehen, daß sie ins Freie hinausgetragen werden mußte, – als sie bei ihrer Freundin, der Inklusin Eva, zu Besuch war, die Einwohnung des Herrn in ihrem Körper, nicht als Metapher, sondern als körperliche Erfahrung. Dabei wird der Augenblick, wo der Herr sich aus ihrem Körper entfernt, in einen Bezug zu seiner Himmelfahrt gesetzt. Juliana erlebt Christi Himmelfahrt am eigenen Leib. Dieser Darstellung dürften Vorstellungen zugrunde liegen, die in den Responsorien des Officiums am Himmelfahrtstag formuliert werden: Resp. Ascendit deus in iubilatione alleluia et dominus in uoce tube alleluia alleluia. [...] Resp. Non turbetur cor uestrum ego uado ad patrem et dum assumptus fuero a uobis mittam uobis alleluia spiritum ueritatis et gaudebit cor uestrum alleluia.20 (»Aufgefahren ist Gott unter Jubel, der Herr, alleluia, beim Schalle der Posaune, alleluia. [...] Euer Herz betrübe sich nicht. Ich gehe zum Vater, und wenn ich von Euch aufgenommen worden bin, dann schicke ich Euch, alleluia, den Geist der Wahrheit, und Euer Herz wird sich freuen, alleluia.«) 20

Zitiert nach der Faksimileausgabe von Paris, BnF, ms. n.a. lat. 1411: Un Antiphonaire cistercien pour le temporal, xiie sie`cle. Introduction, table, index par Claire Maiˆtre, Poitiers 1998 (Manuscrits note´s 1), fol. 109v–110r. Die Zisterzienserliturgie, die für dieses Fest nicht unrepräsentativ sein dürfte, bietet sich wegen Julianas Verbindungen zum Zisterzienserkloster Villers als Vergleichsgrundlage an. Vgl. Corpus antiphonalium officii, hg. von Renatus-Joannes Hesbert, 6 Bde., Rom 1963–1979 (Rerum ecclesiasticarum documenta, series maior, fontes 7–12), Bd. 2, S. 426–433 (mit Nr. 6123 und 7225); CURSUS Nr. c6123 und c7225 (http://www.cursus.uea.ac.uk/ Stand: 15. Januar 2006).

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Die Stichwörter plenitudo und angustus verweisen deutlich auf die Tradition vom Einwohnen Gottes im Herzen des Menschen, aber vom Herzen ist an keiner Stelle ausdrücklich die Rede, nur vom »kleinen Gefäß« (vasculus) ihres Körpers, das in Gefahr steht, entzwei gerissen zu werden, und von ihrer Brust (pectus), aus der die innere Stimme ertönt. Die Brust ist aber zugleich der Sitz des Herzens, und man wird die Stelle kaum anders lesen können denn als eine Aussage, daß der Herr sich aus ihrem Herzen zurückzieht, wobei Herz nicht nur das Körperorgan bedeutet, sondern metonymisch für die Gesamtheit der menschlichen Persönlichkeit steht.21 Das geistige Geschehen wird durch das gewählte Vokabular in einen physischen Vorgang umgesetzt. Vergleichbares ist in der Epik zu beobachten, z. B. bei der Stelle im altfranzösischen ›Roman d’Eneas‹, auf die von Ertzdorff aufmerksam macht, als Lavine Eneas zum ersten Mal erblickt, sich in ihn verliebt, und er dann zu seinem Zelt zurückreitet, worauf sie unter Verwendung eines betont physikalischen Vokabulars feststellen muß, daß er ihr Herz aus ihrer Brust geraubt hat und mit sich trägt: »Mein Herz geht mit seinem davon, er hat es mir unter der Achsel weggezogen«.22 Zur weiteren Erklärung der Stelle können Parallelen in der zeitgenössischen Vitenliteratur herangezogen werden, aus denen deutlich wird, daß zwei verschiedene literarische Muster bei Julianas Himmelfahrtserlebnis an ihrem Körper inszeniert werden. Das Motiv der ›inneren Stimme‹ ist mit dem ›himmlischen Singen‹ der Christina Mirabilis von Saint-Trond (ca. 1150–1224) zu vergleichen, deren Vita im Jahre 1232 von Thomas von Cantimpre´ verfaßt wurde. Christina wird bei einem Gespräch mit Nonnen des Katharinenklosters bei Saint-Trond in Ekstase versetzt, während ihr Körper sich zum Erstaunen aller wie ein Kreisel dreht.23 Wenn sie zur Ruhe kommt, ist ein himmlisches Singen 21 22

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Vgl. von Ertzdorff, Die Dame im Herzen [Anm. 13], S. 6; Dies., ›Herz‹ [Anm. 13], passim. Mon cuer en porte, / il le m’a de mon sein enble´. / Molt folement l’as donc guarde´. / Mes cuers avuec le suen s’en vait, / desoz l’aissele le m’a trait; Eneas – roman du XIIe sie`cle, hg. von Jean-Jacques Salverda de Grave, 2 Bde., Paris 1925–1929 (Les ˆ ge 44, 62), V. 8350–8354. Vgl. von Ertzdorff, Die Classiques franc¸ais du Moyen A Dame im Herzen [Anm. 13], S. 16f., die das Phänomen von der Gattung her deutet: »Ein einfaches ›Wegziehen‹ des Herzens von seinem Sitz genügt für die Romanaussage nicht, es werden bestimmte Ortsangaben gemacht, von wo das Herz weggeholt wurde: Brust und Achsel«. Zum Phänomen der Beweglichkeit des Leibes in der Ekstase vgl. Bardo Weiss, Ekstase und Liebe. Die Unio mystica bei den deutschen Mystikerinnen des 12. und 13. Jahrhunderts, Paderborn [usw.] 2000, S. 178f. (mit der nicht ganz korrekten Angabe, daß Christina sich »wie ein Reif« drehe). Für den Vergleich »sich drehen wie ein Kreisel« (velut trochus ludentum puerorum) s. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. XI/1/1, Leipzig 1935, Sp. 838 s. v. 4Topf (3). Siehe auch Walter Simons, Reading a saint’s body: rapture and bodily movement in the vitae of thirteenth-century beguines, in: Framing Medieval Bodies, hg. von Sarah Kay und Miri Rubin, Manchester 1994, S. 10–23.

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zu hören, das nicht aus ihrem Mund oder ihrer Nase kommt, sondern aus ihrer Brust (inter guttur et pectus ejus) ertönt.24 Eine weitere Parallele läßt sich aus einer Passage in der 1385/1395 von Raimund von Capua verfaßten ›Legenda maior‹ der Katharina von Siena anführen, in der von Catharina berichtet wird, daß ihr Herz beim Empfang des Abendmahls entsprechend dem Psalmvers Cor meum et caro mea exultaverunt (Ps 83, 3) vor Freude in ihrem Körper hüpfte und ein klangvolles, tönendes Geräusch (strepitum sonorosum siue sonantem) von sich gab, das die anwesenden Mitschwestern deutlich hören konnten.25 Für das Motiv, daß ihr Körper in Gefahr steht zu platzen, gibt es in der Vita von Lutgard von Tongeren (1182–1246) in dem Bericht über ein Erlebnis der Nonne Elisabeth eine Parallele. Diese wird mit dem Begehren erfüllt, wie die heilige Agnes das Martyrium zu erleiden. Dieser Wunsch wird so inbrünstig empfunden (in tali desiderio æstuaret), daß ein Ader nahe an ihrem Herzen zerplatzt, mit dem Ergebnis, daß ihr Kleid und ihre Kukulle mit Blut getränkt werden.26 Auch von Christina Mirabilis wird einmal berichtet, daß sie »innerlich mit solcher Freude erfüllt wurde, daß man meinte, sie würde am Äußeren ihres Körpers zerplatzen« (et tanta jocunditate interius replebatur, ut rumpi exterius in corpore crederetur).27 Was es zu bedeuten hat oder wieso es überhaupt möglich ist, daß Juliana dieses Erlebnis erfährt, wird nicht ausdrücklich erörtert, aber ihre Freundin erkennt, daß ihr Inneres durch ardor – ein inbrünstiges Begehren in ihrem Herzen – bewegt ist. Außerdem scheint die Freundin zu ahnen, daß Juliana ihr Erlebnis göttlicher Gnade als so persönlich und so privat empfindet, daß sie es geheimhalten will und ungerne in der Gegenwart von anderen Personen davon sprechen möchte. Was Julianas Himmelfahrtserlebnis mit der Orgeluse-Stelle im ›Parzival‹ verbindet, ist die Vorstellung, daß ein inneres Erlebnis physisch an den Körpergliedern vollzogen wird, und zwar so, daß eine konkrete Beschreibung des Vorgangs recht nahe an die Schwelle der Peinlichkeit oder Lächerlichkeit heranführt. Es ist für beide ein Erlebnis der Liebe, aber ein qualvolles, überwältigendes, das es auch zu überwinden gilt.

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Thomas Cantimpratanus: ›De S. Christina Mirabile virgine‹, in: Acta Sanctorum Julii, tom. 5, Antwerpen 1727, S. 650–657, hier S. 656, Abschnitt 35. Über Christina vgl. McGinn [Anm. 19], S. 160–162. Die Legenda Maior (Vita Catharinae Senensis) des Raimund von Capua. Edition nach der Nürnberger Handschrift IV,75. Übersetzung und Kommentar, hg. von Jörg Jungmayr, 2 Bde., Berlin 2004, Bd. I, S. 260.1–15 (II.6.181) mit Anm., Bd. II, S. 782f. Acta Sanctorum Iunii, tom. 3, Antwerpen 1700, S. 231–263, hier S. 248 Abschnitt 21. Über Lutgard von Tongeren (von Aywie`res) vgl. McGinn [Anm. 19], S. 164–166 mit S. 400f. Anm. 44–46. Ich danke Anne Bailey (Harris-Manchester College, Oxford), die mich auf die Lutgard-Stelle aufmerksam gemacht hat. Acta Sanctorum Julii, tom. 5 [Anm. 24], S. 659 Abschnitt 49.

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III. Eine etwas ungewöhnliche Variante der ›Herzensmetaphorik‹ befindet sich in der ›Martina‹ Hugos von Langenstein.28 Der Verfasser dieses umfangreichen und grandiosen Gedichts über die wenig bekannte frühchristliche Märtyrerin Martina war Priesterbruder in einer Deutschordenskommende am Oberrhein und verfaßte sein 1293 fertiggestelltes Werk auf Bitte einer Dominikanerin. Damit handelt es sich um eine geistliche Dichtung, die in einem Hauptrezeptionsgebiet der höfischen Dichtung entstanden ist und deren einzige Handschrift in einer Zürcher Werkstatt angefertigt wurde, die außerdem qualitätvolle Handschriften der höfischen Literatur produzierte.29 Ein größerer Erzählabschnitt des Werks besteht aus einer Serie von Folterszenen, in denen der heidnische Kaiser Alexander mit verschiedenen Mitteln versucht, die tugendhafte und keusche Martina zum Heidentum zu bekehren. An dem Höhepunkt der Reihe von Marterszenen, nachdem er vergeblich versucht hat, sie zu verbrennen, ihre Haare ausgerissen hat, und sie der Zauberei beschuldigt, führt er sie zum Tempel des Gottes Zeus und steckt sie dort für drei Tage in Einzelhaft, wo sie sich freudevoll dem Gebet widmet. Es folgt ein wunderbares Erlebnis:30 222,15

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ir lip was alleine da, diu hoh enborne Martina, in dem tempel nieman me, als ir wol vernament e. ir lip da eine solde wesin, als man wolde. der was da umbestellit, als ich han gezellit, mit engelscher presse, die da mit frouden messe umbe si da trungen. der stimme suoze erclungen, die pflagen da ir libes, der megde niht dez wibes.

Martina von Hugo von Langenstein, hg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1856 (StLV 38); Nachdr. Hildesheim /New York 1978. Vgl. Georg Steer, Hugo von Langenstein, in: 2VL 4 (1983), Sp. 233–239; Jutta Meindl-Weiss, Eine vergessene Heilige. Studien zur Martina Hugos von Langenstein, Frankfurt a. M. 2002 (Europäische Hochschulschriften Reihe I, Serie 1, Bd. 1844), zur hier behandelten Stelle S. 82–84. Karin Schneider, Codicologischer und paläographischer Aspekt des Ms 302 Vad., in: Rudolf von Ems: Weltchronik. Der Stricker: Karl der Große. Kommentar zu Ms 302 Vad., hg. von Ellen Judith Beer [u. a.], Luzern 1987, S. 19–42; Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer, Literarische Topographie des deutschsprachigen Südwestens im 14. Jahrhundert, ZfdPh 122 (2003) Sonderheft, S. 178–202, hier S. 192–195, 200–202. Das Zitat in eigener Textherstellung und mit eigener Interpunktion nach der diplomatischen Transkription der Handschrift durch von Keller [Anm. 28], S. 559–561.

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do was ir kuschis herze mit frouden sunder smerze bi ir gemahel Criste. swie sin doch nie vermiste hie der lip, der ez doch truoc, also stoltz und also cluoc was daz herze so kiusche, daz ez solich getiusche hie mit dem libe treip, daz ez hie und dort beleip. diu doch dekeine sunde treit, diz was solich behendekeit, prufent, wel ein gouglere der megde herze were. nu hie, nu da, nu hin, nu her fuor daz herze umbe entwer mit frodericher unstete, diu doch niht sunden hete. uf der wehsellicher straze zwischen zwein hoven [honen Hs.] ein fraze wirt vil dicke hie erzogen, hore ich sagen ungelogen. wie sol ez danne im ergan, wil ez solhe fuore han und ein bedenthalber sin? uf die rehten truwe min, daz horte ich ie verkeren den luten an den eren. wil ez dez libes pflegen unde doch den himel degen dort dur nieman lazin, so sol mans billich mazin, daz ein bedinthalbir si. die waren ie der eren fri. daz kiusche herze snelle flouc uz der megde zelle zuo dez hohsten throne, dem himelkunge frone. da sach daz herze wilde an dem gotlichem bilde wunders also vollekomen me danne ez ie vernomen hatte uf der erde von dem kunge werde. ez kunde niht erglosin diu rehte grundelosin wunder, diu ez spehte an dem kunge rehte. sin craft niht entohte, da von ez sprechin mohte

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mit der kuneginne von Saba, diu ze Salamone da ze Hierusalem kan gevarn, diu wunder so groz enbarn, diu si selbe horte sagen, und sine wisheit bi den tagen, du lie vil gar beschowen kunic Salamon die frouwen. do si diu rehte da gesach, der nam si wunder unde sprach: »kunic, swaz mir wisheit von dir und wunders ist geseit, daz ist wider dem eine niht, so nu miner ougen gesiht mit rehter warheit hat gesehin. ich muoz von schulden iehin, daz sich die wol frowen mun, die dich stete sehin sun, unde sint die selic gar, die dinu wort offenbar horint und die wisheit din, die mun fro und selic sin, wan siu der wisheit schrin an dir schowent volle schin.« suz mohte daz herze wol der megde wunderunge vol sin vor gottes throne, dem himilschen Salamone, von dem elliu tugende fluzit und diu rehtiu wisheit duzit. nieman kan gekunden sine wisheit anegrunden. so man ie me gedenkit, so man ie me gekrenkit von diner hohin wisheit wirt, der sinne craft ie me verirt. da von daz herze so geswinde was bedenthalbin ingesinde, dez libes hie, dez kunges dort, schowende sinen himelhort, suz was ez ane muoze und doch vil wol zefuoze. doch so reit ez noch engie weder dort [doch Hs.] noch hie, ez flouc ane gevider beide hin unde wider unde was vil sneller gar danne valke oder adelar. da von was mit cluoger pfliht diu kiusche maget eine niht,

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Engelscharen sammeln sich im Tempel um die heilige Jungfrau, so daß der Versuch des Kaisers, sie durch die Einsamkeit im Tempel einzuschüchtern, vollkommen mißlingt (222,15–28). Während die Engel ihren Leib mit dem freudigen Gesang der Messe trösten, verläßt ihr Herz den Körper und eilt zu ihrem Bräutigam im Himmel. Ihr Herz befindet sich gleichzeitig in ihrem Leib und im Himmel (222,29–40), was aber auch so ausgedrückt wird, daß es wie ein Gaukler zwischen beiden Orten hin und her eilt (222,41–47). Wenn das Herz sich vor dem Thron Gottes aufhält, übertrifft der wunderbare Anblick, der ihr dort zugeteilt wird, alles, was sie jemals von dem Himmelskönig auf Erde gehört hat (222,63–72). Was das Herz hier an göttlicher Weisheit erblickt habe, sei mit dem Erlebnis der Königin von Saba vor dem König Salomo vergleichbar, die feststellen mußte – genau so steht es auch im Buch der Könige (III Rg 10,6–7) –, daß sein Anblick alles übertroffen habe, was sie von ihm vernommen hatte. Aber Martinas Herz hat nicht die Kraft, davon zu sprechen (222,73–102). Das Wunderbare an dem Erlebnis der unmittelbaren Anschauung Gottes, den die Heilige in der Ekstase mit den Augen ihres Herzens erblickt, wird nicht wie bei der Königin von Saba in einer treffenden Aussage von Seiten des Erzählers formuliert, sondern Martina erlebt das Wunderbare, Paradoxe am eigenen Leib. Sie ist in sich und außer sich. Ihr Herz fliegt hin und her, schneller als ein Vogel zwischen hier und dort. Den gedanklichen Rahmen, der in der Aussage anklingt, daß »ihr keusches Herz bei ihrem Bräutigam Christus war«, bildet ihre Liebe zu Christus, die außerdem in der Passage betont wird, in der sie zum Tempel geführt wird. Aber die innere Erfahrung, die durch das literarische Muster des entrückten Herzens artikuliert wird, wird vor allem als Teilnahme an Gottes Weisheit expliziert. Damit unterscheidet sich das mystische Konzept in der ›Martina‹ von den Entrückungsszenen in frauenmystischen Texten, in denen die Seele den Körper verläßt und in den Himmel fliegt, um dort wie in einer unten zu behandelnden Szene bei Gertrud von Helfta die Umarmung durch den Bräutigam oder seinen Kuß zu erfahren. Das Herz ist in diesem Text in erster Linie das Organ der Gotteserkenntnis, nicht der Liebe, obwohl diese selbstverständlich bei der Erkenntnis Gottes ihre Rolle zu spielen hat.31 Wir haben es hier mit dem Gegenstück zum literarischen Muster der Einwohnung Gottes im Herzen des Menschen zu tun, nämlich mit der Entrückung des menschlichen Herzens in die Gegenwart Gottes. Die Grundvorstellung ist 31

Die Vorstellung, daß die Erkenntnis Gottes durch das liebende Herz geschehen kann, auch wenn der menschliche Geist auf Grund seiner Schwäche die Nähe Gottes nicht erträgt, ist in der psychologischen Lehre der Viktoriner verankert; zu Hugo von St. Viktor vgl. von Ertzdorff, ›Herz‹ [Anm. 13], S. 274f.

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unmittelbar aus der Paulusvision in II Cor 12,2 übernommen, wo es von der Entrückung des Apostels heißt: Sive in corpore nescio, sive extra corpus nescio, Deus scit. (»Ist er in dem Leibe gewesen, so weiß ich’s nicht; oder ist er außer dem Leibe gewesen, so weiß ich’s auch nicht; Gott weiß es.«) Martinas Herz befindet sich sowohl in dem Leibe, als auch außer dem Leibe. Es treibt eine solche ›Gaukelei‹, daß es gleichzeitig in ihrem Körper und vor Gottes Thron im Himmel zu sein scheint – daz ez hie und dort beleip (222,38), oder anders formuliert: nv hie, nv da, nv hin, nv her / fuor daz herze vmbe entwer / mit frodericher vnstete (222,43–45). Es verhält sich wie ein beidenthalbære (222,53. 61), ein Opportunist, der als »Vielfraß« gleichzeitig von den Alternativen, die an zwei verschiedenen Höfen abgeboten werden, profitieren will (222,48).32 Der bewußt komisch geschilderte Schwindeleffekt des Hin- und Herfliegens, das soweit bisher bekannt keine genauen literarischen Parallelen hat, erinnert in seiner körperlichen Drastik an die oben erwähnte Entrückungsszene in der Vita der Christina Mirabilis: corpusque ejus velut trochus ludentum puerorum in vertiginem rotabatur, ita quod ex nimia vehementia vertiginis nulla in corpore ejus membrorum forma discerni posset.33 (»Ihr Körper drehte sich in einem Wirbel wie ein Kreisel, mit dem Buben zu spielen pflegen, und zwar so, daß wegen der großen Geschwindigkeit des Wirbels die Form ihrer Glieder an ihrem Körper nicht mehr zu erkennen war.«) Das Motiv vom ›entrückten Herzen‹ steht parallel zu einer im französischen und deutschen Minnesang häufig belegten und variantenreichen Vorstellung, für die von Ertzdorff, die die wichtigsten Belege in ihrem Aufsatz vom Jahre 1985 [Anm. 13] zusammenstellte, die Bezeichnung »die Anwesenheit des Herzens bei der Geliebten« verwendet. In einem religiösen Kontext ist das Motiv schon um 1060/80 in der okzitanischen Literatur belegt: En Deu del cel lo quors li jag (»Im Gott des Himmels lag (ruhte) ihr Herz«).34 Ein prägnantes Beispiel aus der deutschen Literatur steht in dem Lied von Walther von der Vogelweide, 32

33 34

Der überlieferte Text von 222,48 ergibt keinen Sinn, denn die Lesung honen (zu mhd. hœne stf. »Schmach, Schande; verletztendes, hochfahrendes Wesen« oder hœne adj. »verachtet; durch Schmähung an der Ehre kränkend, hochfahrend, übermütig, zornig, böse; Gefahr bringend, gefährlich«) läßt nur negative Deutungen der Alternativen zu, von denen der Vielfraß (mhd. vraˆz stm.) profitiert, was zum Gnadenerlebnis einer Entrückung vor den Thron Gottes schlecht paßt, auch wenn man die Stelle als eine ironische Burleske liest. Zu beidenthalbære vgl. Kurt Gärtner [u. a.], Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz, Stuttgart 1992, S. 31. Kurt Gärtner habe ich für ein klärendes Gespräch und Hinweise zu danken. Acta Sanctorum Julii, tom. 5 [Anm. 24], S. 656, Abschnitt 35. La Chanson de sainte Foy, hg. von Ernest Hoepffner und Prosper Alfaric, 2 Bde., Paris/Oxford 1926 (Publications de la Faculte´ des lettres de l’Universite´ de Strasbourg 32–33), V. 87. Die Übersetzung nach von Ertzdorff, Die Dame im Herzen [Anm. 13], S. 8, die auf eine Stelle bei Augustinus, ›Confessiones‹, ed. Verheijen [Anm. 12], S. 1 (I,1), hinweist: inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te. (»Unser Herz ist ruhelos, bis es Ruhe findet in dir.«)

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wo der Liebhaber sich beklagt, daß sein Ich bewußtlos liegt, während sein Herz »bei ihr« ist. Seine körperliche Anwesenheit ist nur noch eine scheinbare: mıˆn schıˆn ist hie noch, soˆ ist bıˆ ir daz herze mıˆn, daz man mich ofte sinneloˆsen haˆt.35

Die Problematik der in einem narrativen Kontext schwer realisierbaren räumlichen Trennung von Leib und Herz bei Bewahrung der Integrität der Person wird in der ›Martina‹ durch das Hin- und Hereilen des Herzens zwischen Leib und Gottes Thron auf eine spielerische Weise gelöst. Die Schwierigkeiten liegen aber nicht nur auf der Ebene der narrativen Darstellung, denn sie ergeben sich aus grundsätzlichen, philosophischen Erwägungen und sind gelegentlich auch in der Lyrik angesprochen. Eine vergleichbare Lösung des Problems, daß das Herz »als geistiges Erfahrungsorgan so in sich geschlossen und mit dem Ich verbunden« sei, »daß ein Auseinanderspannen nicht möglich ist«, beobachtet von Ertzdorff in den Liedern von Bernart de Ventadorn, bei dem die Anwesenheit bei der Geliebten durch die Anwesenheit des Geistes (esperitz) und nicht die des Herzens, das sich von dem Ich nicht entfernen darf, ausgedrückt wird.36 Auch die narrative Umgebung von Martinas Entrückungserlebnis ist für die Interpretation von Bedeutung. Alles, was Kaiser Alexander mit Martina unternimmt, mißlingt oder verkehrt sich in sein Gegenteil. Nachdem er umsonst versucht hat, sie zu verbrennen oder durch Ausreißen ihrer Haare zu demütigen, führt er sie zum Tempel des Zeus, wo sie in Einzelhaft eingekerkert wird. Aber ihr Gang zum Tempel wird von ihr als ein feierlicher Einzug, geführt von Scham und Minne, erlebt (221,21–42). Dort, wo sie einsam sein sollte, wird sie durch eine Engelschar umringt. Für Martina ist der Tempel, der ein Kerker sein sollte, gar nicht eng. Cor fidelis templum non angustum Deo. Timor habet angustias, amor latitudinem, heißt es bei Augustinus in einer Predigt: »Das Herz des Gläubigen ist ein Tempel, das im Hinblick auf Gott gar nicht eng ist. Furcht zieht die Enge vor, Liebe die Breite«.37 Damit stellt sich Martinas Erlebnis im Tempel in die Reihe der angustia – dilatatio/plenitudo-Oppositionen, die bei der Thematik vom ›Einwohnen im Herzen‹ eine so wichtige Rolle spielen. Der Tempel erweist sich als ein Ort, 35

36 37

Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996, 67,II,4–6 (98,9–11). Von Ertzdorff, Die Dame im Herzen [Anm. 13], S. 12f. Zitiert nach der Fassung von Sermo XXIII,7 in PL 38, Sp. 158A. Über den ›Tempel der Seele‹ als das Ziel eines christlichen Lebens bei Prudentius vgl. Haiko Wandhoff, In der Klause des Herzens. Allegorische Konzepte des inneren Menschen in mittelalterlichen Architekturbeschreibungen, in: Philipowski /Prior [Anm. 13], S. 145–163, hier S. 150f.; zum Gralstempel im ›Jüngeren Titurel‹ ebd., S. 152f.

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von dem ihr Herz vor den Thron Gottes, des ›himmlischen Salomos‹, entrückt wird, wo Martina die Rolle der Königin von Saba spielt. Daß nicht Martina, sondern ihr Herz entrückt wird, gehört nicht zu den zahlreichen Allegorien in Hugos Gedicht. Man kann das Geschehen zwar als eine Metonymie auffassen, aber im Rahmen des wunderbaren Geschehens der Heiligenlegende gehört das Herzmotiv zu der Erzählebene der Wirklichkeit und der Wahrheit; es handelt sich um die ›Verbuchstäblichung‹ oder ›Konkretisierung‹ eines literarischen Musters. Der Zeitpunkt, zu dem ihr leibliches Herz aus den Fugen gerät und den Körper verläßt, markiert den Übergang von uneigentlicher Sprache, Herzensmetaphorik, zu einer Erzählung des Wunderbaren, die auf einer Vorstellung von innerer Erfahrung als am physischen Körper erlebt gegründet ist. Dabei besteht das disjunktive Element in der biologischen Unmöglichkeit des auf eine höhere Wahrheit weisenden Erzählvorgangs.

IV. »Why all the fuss about the body?« wird man fragen. Die drei Beispiele, die ich vorgeführt habe, haben gemeinsam, daß die Liebe als Ergebnis der Verbuchstäblichung metaphorischer Sprache materialiter am Körper empfunden wird: Die Geliebte dringt durch die Gedanken ein und erobert das enge Herz, wo sie nicht Platz findet; oder Gottes Gnade erfüllt das Herz der mit leidenschaftlicher Sehnsucht entflammten Braut fast bis zum Platzen, so daß eine himmlische innere Stimme hörbar wird und den körperlichen Aspekt des Erlebnisses auch für Außenstehende (für einen Zeugen) erkennbar macht; oder eine heilige Frau erlebt auf dem Höhepunkt eines ekstatischen Erlebnisses, wie ihr Herz den Leib verläßt und an der unmittelbaren Gegenwart Gottes teilhat, wobei das am Körper Verhaftetsein dieser Erfahrung dadurch spürbar gemacht wird, daß das Herz immer wieder hin- und herfliegt. Inneres Empfinden wird konkret am Körper erlebt. Beim dritten Beispiel wird aus dem Liebesverlangen der Drang nach der Erkenntnis Gottes. Es ist mit Sicherheit möglich, das alles als übersteigerte Metaphorik und deswegen als eine rhetorische Strategie aufzufassen, die jeweils dazu verwendet wird, um einen Höhepunkt zu markieren. Könnte es aber nicht sein, daß das körperliche Empfinden von inneren Erlebnissen auf Grund einer anders gelagerten Einstellung zur traditionellen Leib-Seele-Thematik in der Vergangenheit einen anderen Stellenwert gehabt hat als heute? Meine Beobachtungen zur Herzensraummetaphorik treffen sich mit einigen Formulierungen, mit denen vor fünfzehn Jahren die amerikanische Historikerin Caroline Walker Bynum ihre Untersuchungen zu der traditionellen christlichen Vorstellung von der Auferstehung des Leibes zusammengefaßt hat, in denen sie für eine differenzierte Konzeption der Individualität und des Leib-

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Seele-Verhältnisses plädiert.38 In bezug auf die Gotteserfahrung, wie sie von Mechthild von Magdeburg und Marguerite von Oingt beschrieben wird, schreibt sie in ihrem Aufsatz v. J. 1995: »They make it explicit that they speak of embodied persons, not of souls«; es handelt sich um »the encounter of our embodied selves with the body of Christ« (S. 26). Genau das würde für Martinas Herz zutreffen. Andere Formulierungen fassen den gleichen Sachverhalt etwas weiter, indem sie sich nicht auf religiöse Erfahrung beschränken: »the cultivation of bodily experience as a place for encounter with meaning, a locus of redemption« (S. 15), und vor allem: »Knowing, feeling, and experiencing were located in the body« (S. 13). Meine Beispiele lassen nicht erkennen, wie es zu einer solchen, etwas anders nuancierten Sicht auf inneres Empfinden kommen konnte, aber sie lassen eine solche deutlich erkennen. Auch die Orgeluse-Stelle im ›Parzival‹ ist als ein Zeugnis dieser Sichtweise anzusehen. Das Parallelphänomen zur Einwohnung der Minnedame im Herzen des Liebhabers ist, wie schon angedeutet und von Ohly als wichtiges Glied in seiner Argumentation verwendet, die Einwohnung Gottes im Herzen der Jungfrau bei der Inkarnation. Die Mitteilung des Engels tritt durch das Ohr ein und wird im Herzen empfangen. Dort, wo die Liebe zu der Minnedame in Analogie zum Wunder der Inkarnation geschildert wird, tritt eine bemerkenswerte Veränderung ein. Sie nimmt nicht den Weg über das Ohr, sondern über das Auge.39 Um so bemerkenswerter ist das Morungen-Lied, das die Freude des Liebhabers, der ein Trosteswort von seiner Minnedame empfangen hat, in einem doppelten Dreierschritt zum Ausdruck bringt, der im Unterschied zur gängigen Minnesangtradition jeweils mit der Mitteilung durch das Ohr einsetzt, wie es eher in der geistlichen Tradition zu erwarten gewesen wäre: (1) Hören – ergriffenes Herz – Tränen, (2) das durch ihren Mund gesprochene Wort – ergriffenes Herz – Erschrecken, am Leibe empfunden, und Sprachlosigkeit:40 Wol dem wunneclıˆchen maere, daz soˆ suoze durch mıˆn oˆre erklanc, 38

39

40

Caroline Bynum, Why all the fuss about the body? A medievalist’s perspective, Critical Inquiry 22 (1995), S. 1–33. Vgl. Dies., The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200–1336, New York 1995 (Lectures on the History of Religions N.S. 15). Dt. Übersetzung: Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Aus dem Amerik. von Brigitte Grosse, Frankfurt a. M. 1996 (edition suhrkamp NF 731). Z. B. bei Reinmar, Moser/Tervooren [Anm. 9], S. 278: Sie gie mir alse sanfte dur mıˆn ougen, / daz sıˆ sich in der enge niene stiez. / in mıˆnem herzen sıˆ sich nider liez (MF 194,22–24). Vgl. Konrad Burdach, Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. 2. berichtigte Aufl. mit ergänzenden Aufsätzen über die altdeutsche Lyrik, Halle/Saale 1928, S. 114f.; Ohly [Anm. 8], S. 131–133 mit Anm. 4–5 (mit einem einzigen Beleg für das seltene Motiv der Empfängnis Mariens durch das Auge in der religiösen Dichtung). Moser/Tervooren [Anm. 9], S. 242 (MF 125,33–126,7).

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und der sanfte tuonder swaere, diu mit vröiden in mıˆn herze sanc, Daˆ von mir ein wunne entspranc, diu vor liebe alsam ein tou mir uˆz von den ougen dranc. Saelic sıˆ diu süeze stunde, saelic sıˆ diu zıˆt, der werde tac, doˆ daz wort gie von ir munde, daz dem herzen mıˆn soˆ naˆhen lac, Daz mıˆn lıˆp von vröide erschrac, und enweiz von liebe joch, waz ich von ir sprechen mac.

Auch hier könnte man mit Bynum sagen: »Knowing, feeling and experiencing were located in the body« (S. 13). Das fliegende Herz in der ›Martina‹ führt in die Nähe eines weiteren, mit der Einwohnung der Geliebten oder des Herrn im Herzen verwandten Motiv, das im Hinblick auf die Körperlichkeit von inneren Empfindungen von Bedeutung ist, nämlich die Herz-Jesu-Verehrung, die am Ende des 13. Jahrhunderts in den lateinischen Schriften der Mystikerinnen im Zisterzienserinnenkloster Helfta einen literarischen Höhepunkt erlebt. Besondere Beachtung verdienen die Visionen, in denen das Verhältnis der Mystikerin zu Gott auf der Ebene ihrer Herzen ausgespielt wird, wie z. B. in einem Erlebnis Gertruds von Helfta (1256–1301/02) zu Pfingsten, bei dem eine honigähnliche Flüssigkeit aus dem Herzen Jesu träufelt und den Grund ihres Herzens durchdringt, bis es ganz damit gefüllt ist.41 In Buch IV Kapitel 14 des ›Legatus divinae pietatis‹ wird im Anschluß an eine umfangreiche Anleitung für die Mystikerin, wie sie die Arche Noe in ihrem Herzen erbauen soll, als Höhepunkt dieser Vision das Küssen der Liebenden geschildert. Gertrud bittet ihren Bräutigam, jetzt ruhen zu dürfen, und erhält als Antwort die Versicherung, daß sie durch die mystische Vereinigung ihrer Seele mit Gott einen höheren Grad an Erholung erleben wird, als durch körperlichen Schlaf möglich wäre. Dann hört sie die Messe, spricht das ›Confiteor‹, und hört, wie Gott ihre Sünden vergibt. Darauf segnet und umarmt er sie:42 Extensaque venerabili dextera sua, dedit illi benedictionem suam. Ad quam dum anima inclinaretur, suscepit eam Dominus in sinum suum, sicque inter strictos amplexus suaviter illi blandiens, decantabat: Ad imaginem quippe Dei factus est homo. Sicque oculos ipsius et aures, os quoque et cor, manus ac pedes exosculans, et ad singula 41

42

Gertrude d’Helfta: Œuvres spirituelles. Tome IV: Le He´raut (Livre IV). Texte critique, traduction et notes par Jean-Marie Cle´ment [u. a.], Paris 1978 (SC 255), S. 312 (IV,38). Vgl. Sabine B. Spitzlei, Erfahrungsraum Herz. Zur Mystik des Zisterzienserinnenklosters Helfta im 13. Jahrhundert, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991 (Mystik in Geschichte und Gegenwart: Texte und Untersuchungen I,9), S. 65f. Cle´ment [u. a.] [Anm. 41], Bd. 4, S. 162. Vgl. Spitzlei [Anm. 41], S. 115.

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dulciter decantando eadem verba repetens, per ipsa in anima divinam suam imaginem et similitudinem dignissime innovabat. (»Er streckte seine ehrwürdige rechte Hand aus und segnete sie. Als sich die Seele darauf hin verbeugte, empfing sie der Herr an seiner Brust, und während er sie eng umschlungen hielt und zärtlich liebkoste, sang er: Denn nach dem Bilde Gottes ist der Mensch erschaffen [Gn 1, 26]. Und er küßte ihre Augen und ihre Ohren, ihren Mund und ihr Herz, ihre Hände und ihre Füße, und dadurch, daß er jedes Mal mit süßer Stimme sang und die gleichen Worte wiederholte, erneuerte er auf eine würdige Weise sein heiliges Bild und seine Ähnlichkeit in ihrer Seele.«)

Wir erfahren hier, wie Gertruds Seele an der Brust des Herrn, an seinem Herzen ruht, wie der Lieblingsjünger in den Christus-Johannes-Gruppen des 13. Jahrhunderts.43 Er küßt ihre Augen, ihre Ohren, ihren Mund, ihr Herz, ihre Hände und Füße und singt: »Denn nach dem Bilde Gottes ist der Mensch erschaffen«. Im folgenden Kapitel bittet Gott die Seele, zu seiner linken Seite zu stehen und an seiner Brust auszuruhen, damit er selbst sich zur Linken über das eigene Herz neigen kann, um der Seele Gertruds direkt ins Herz zu sehen. Dann lobt er die mannigfaltigen Tugenden ihres Herzens und hebt die Freude hervor, die er durch die Interaktion mit ihr erlebt:44 Cui respondit Dominus: »Si desideras mihi gravamen meum alleviare, tunc oportet te gravamen habere, et stare ad sinistram meam, ut ego pausem super pectus tuum, quia cum me reclino ad sinistram, repauso super Cor meum, quod gratissimum est fessis, et sic directe respicio in cor tuum, et in clangore delector suavisonorum desideriorum tuorum quibus me continue demulces, et arridet mihi grata amoenitas variarum affectionum tuarum, quibus erga me afficeris, et aspirat mihi secura confidentia, qua in omnibus motibus cordis tui ad me anhelas, et dulciter afficit me effluxus pietatis cordis tui, qua universis bonum exoptas aeternae salutis. Et insuper patet mihi thesaurarium nobilissimum cordis tui, unde sufficienter distribuere potero universis de tua bona voluntate, qua omnibus indigentibus benefacis. Nam si astares mihi ad dextram, scilicet prosperitatis, tunc utique his variis delectationibus privari viderer, quia quidquid est sub aure, nec arridet oculis, nec aspirat naribus, nec porrigi potest manibus absque labore.« (»Darauf antwortete der Herr: ›Wenn du mir meine Bürde leichter machen willst, dann mußt du selbst eine Bürde tragen. Stelle dich an meine linke Seite, damit ich an deiner Brust ruhen kann. Denn wenn ich mich zur Linken neige, ruhe ich über meinem Herzen, das den Überdrüssigen großen Trost erweist, und blicke direkt in dein Herz. Dann erfreue mich am Klang deiner süß tönenden Wünsche, mit denen du mich ohne Unterlaß beschwichtigst. Mir lächelt der anmutige Dank deiner vielfältigen Empfindungen entgegen, die du gegen mich hegst. Mir strömt entgegen das sichere Vertrauen zu mir, dem du in allen Regungen deines Herzens Ausdruck verleihst. Es 43

44

Gertrud Jaron Lewis, God and the human being in the writings of Gertrud of Helfta, Vox Benedictina 8/2 (1991), S. 297–322, hier S. 304–306. Vgl. Jeffrey F. Hamburger, St. John the Divine. The Deified Evangelist in Medieval Art and Theology, Berkeley [usw.] 2002, S. 180f., der vergleichbare Zusammenhänge in Buch IV Kapitel 54 aufdeckt; S. 261 Anm. 1 zu den Christus-Johannes-Gruppen. Cle´ment [u. a.] [Anm. 41], Bd. 4, S. 164/166.

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berührt mich zärtlich die überströmende Liebe deines Herzens, mit der du für alle Menschen die Güter des ewigen Heiles ersehnst. Vor allem wird mir offenkundig die edelste Schatzkammer deines Herzens, woraus ich von deinem guten Willen, mit dem du allen Bedürftigen Gutes tust, allen Menschen genugsam zuteilen kann. Denn wenn du dich an meine rechte Seite stellst, auf die Seite des Gedeihens, dann werde ich gewiss auf diese verschiedenen Freuden verzichten müssen, denn was unter das Ohr gestellt wird, wird man nicht ohne Mühe mit den Augen genießen, mit der Nase riechen oder mit den Händen ergreifen können.‹«)

Bei diesen Szenen handelt es sich um das, was Bynum als »the encounter of our embodied selves with the body of Christ« (S. 26) bezeichnet. Die Theologiehistorikerin Sabine Spitzlei spricht bei ihrer Analyse der Stellen von der »Auffassung der Seele als Gesamtperson« und stellt fest, daß »ihre leibhafte Erscheinung im inneren Geschehen der Einung sichtbar vor Augen tritt«.45 Inneres Empfinden verlagert sich also in den Körper, und das gilt sowohl für Gott als auch für die Seele, ebenso wie es bei Morungen und Wolfram für den Minnediener und Liebhaber gilt.

V. Ist es möglich, bei meinen Beispielen zwischen einer literaturwissenschaftlichen und einer – im kulturwissenschaftlichen Sinne – wissensgeschichtlichen Fragestellung zu unterscheiden? Zwischen einer poetologischen oder hermeneutischen und einer kulturgeschichtlichen? Oder sind die Weichen schon durch die Auswahl der Beispiele, die miteinander verglichen werden sollen, gestellt? Mit diesen Fragen berühre ich ein methodisches Problem, das schon in der Einladung zu einem Kolloquium über ›Innenräume‹ angelegt war. Die Frage nach der kulturwissenschaftlichen Methode hängt engstens mit dem Bruch in der deutschen Geschichtswissenschaft zusammen, der im Jahr 1933 geschah, aber auch mit Geschichte und Selbstverständnis des Faches in den Jahren 1945 bis 1990. Es ist allerdings nicht so, daß dieses Problem, das man an Hand des Umgangs mit Warburg, Cassirer und Wind am Anfang der Dreißiger Jahre erörtern kann – ich verweise auf Otto Gerhard Oexle46 –, auf die deutsche Geschichtswissenschaft beschränkt bleibt; es gilt unter anderen Voraussetzungen genau so für die englischen Historiker und für die Literaturwissenschaftler. Für die mittelalterliche Kunstgeschichte und die germanistische Mediävistik hat die Methodendebatte eine besondere Bedeutung, denn der kul45 46

Spitzlei [Anm. 41], S. 88. Otto Gerhard Oexle, Kultur, Kulturwissenschaft, Historische Kulturwissenschaft. Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Wende, in: Mediävistik als Kulturwissenschaft, hg. von Hans-Werner Goetz, Berlin 2000 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Zeitschrift des Mediävistenverbandes 5/1), S. 13–33.

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turwissenschaftliche Ansatz bedeutete von Anfang an, ja schon seit den Anfängen dieser Fachdisziplinen im 19. Jahrhundert eine Alternative und Ergänzung zu werkimmanenten Fragestellungen wie Stilgeschichte und Poetologie. In der gegenwärtigen Diskussion sollte es insbesondere darum gehen, nach den spezifischen Strategien zu fragen, durch welche Kultur in der Literatur, d. h. in Texten jeglicher Art, umformuliert, in Frage gestellt, oder in die Welt literarischer/künstlerischer Imagination überführt wird.47 Sowohl die Textauswahl als auch der Deutungshorizont, die Ohlys wissenschaftsgeschichtlich recht bedeutendem Versuch über Herzensraummetaphorik zugrunde liegen, sind einer sehr bestimmten Konzeption von der Konstituierung von Sinn verpflichtet. Ohly sucht nach Einflußrichtungen, die letztendlich durch literarische Gattungen und durch ein hierarchisches Verständnis vom Verhältnis weltlich-höfischer zu sakraler Kultur gesteuert sind. Die Textauswahl konstituiert sich aus einer Gruppe von volkssprachigen deutschen Texten, die in einem durch die Gattungen Minnesang und höfischer Roman definierten Verhältnis zueinander stehen, das die Spielregeln für die Interpretation festlegt. Getragen wird dieses Konstrukt durch die jüdisch-christliche Tradition der Hermeneutik und Exegese, deren Gegenstand Schrift und Welt umfaßt. Dazu steht Dichtung in einem analogen Verhältnis. Dichtung ist für Ohly – so die Formulierungen aus dem Jahr 1970 – »sprachliche Seinserhellung«, eine »geistige Bewegung auf die sprachliche Findung von wahrer Existenz«.48 Das Verhältnis zwischen Literatur und Welt ist bei der von Ohly propagierten Methode tendenziell affirmativ, aber es ist dennoch zu beobachten, daß das ›Wohnen im Herzen‹ bei der Orgeluse-Stelle im ›Parzival‹ nicht einfach als Übernahme und Wiederholung eines literarisch-theologischen Gemeinplatzes verstanden wird. Ohly hebt hervor, wie im Zuge des »Beim-Wort-Nehmens« »verwegene«, »schillernde«, und »zwielichtige« Effekte erzeugt werden, die zur Profanierung 47

48

Vgl. den Forschungsüberblick bei Ursula Peters, Text und Kontext: Die MittelalterPhilologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie [zuerst: 2000], in: Dies., Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973–2000, hg. von Susanne Bürkle [u. a.], Tübingen/Basel 2004, S. 301–334, besonders S. 301–310, 332–334. Ohly [Anm. 8], S. 128. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext s. Christel Meier, Zwischen historischer Semiotik und philologischer Komparatistik. Friedrich Ohlys Werk und Wirkung, in: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997, hg. von Eckart Conrad Lutz, Freiburg/Schweiz 1998 (Scrinium Friburgense 11), S. 63–91; David A. Wells, Friedrich Ohly and exegetical tradition: some aspects of medieval interpretation, Forum for Modern Language Studies 41 (2005), S. 43–70; Samuel P. Jaffe, Foreword, in: Friedrich Ohly, Sensus Spiritualis. Studies in Medieval Significs and the Philology of Culture, translated by Kenneth J. Northcott, Chicago/London 2005, S. ix-xii; Ders., Epilogue. Philology as »aesthetic science« (Kunstwissenschaft) and »human science« (Humanwissenschaft). In memoriam Friedrich Ohly (1914–1996), in: ebd., S. 370–393.

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einer ursprünglich sakralen Metaphorik hinzutreten, womit disjunktive Aspekte der Literarisierung angesprochen sind. Die Textauswahl, mit der ich hier als Experiment einen etwas anders gelagerten Kommunikationszusammenhang herzustellen versucht habe, führt insofern in eine andere Richtung, als das Postulat eines poetologischen Konnexes von Anfang an geopfert wurde. Es wurde zwar Wert darauf gelegt, die Beispiele vom Herzen als Erkenntnisorgan oder als Träger von inneren Empfindungen funktional im jeweiligen Gesamtwerk zu interpretieren – gerade am ›Parzival‹ wird die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens besonders deutlich –, aber die Beispiele für räumliche, materiale und körperliche Darstellung von mentalen Innenräumen, die ich in Bezug zueinander setzen wollte, sind Vertreter von verschiedenen Textgattungen mit einem jeweils eigenen Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch, teilweise volkssprachig, teilweise lateinisch, und sie stammen nicht alle aus dem deutschen Sprachbereich. Es ist aber nicht so, daß es an historischen Verbindungen fehlt. Für Juliana von Cornillon sind Kontakte zum Zisterzienserkloster Villers und zur dort entstandenen Vitenliteratur belegt,49 womit ein Bezug zu den etwas späteren zisterziensischen Visionärinnen in Helfta gegeben ist. Wolfram von Eschenbach ist über seinen Gönner Hermann I. von Thüringen mit der thüringischen Adelswelt verbunden, deren Klostergründungen wie z. B. das von Hermann gegründete Zisterzienserinnenkloster St. Katharina in Eisenbach50 parallel zu den Entwicklungen in der Diözese Lüttich verlaufen. Hermanns Schwiegertochter, die heilige Elisabeth von Thüringen, ist eine der wichtigsten Figuren der Frauenbewegung, an der Juliana, Christina Mirabilis und Gertrud teilgenommen haben. Hugo von Langenstein, dessen Familie zu den führenden Ministerialengeschlechtern des Südwestens gehörte, ist der Verfasser eines geistlichen Epos, das in der Tradition der höfischen Dichtung steht und dessen einzige, bald nach der Entstehung des Werks angefertigte Handschrift in derselben Zürcher Werkstatt geschrieben wurde wie die St. Galler Handschrift von Rudolfs Weltchronik (s. o. Anm. 29). Einige recht beachtliche, mit unserer Fragestellung verwandte Überlegungen wurden vor nicht allzu langer Zeit in einem Aufsatz von Bruno Quast über 49

50

Vgl. Henri Schuermans, Abbaye de Villers: Les reliques de la B. Julienne de Cornillon, Annales de la socie´te´ arche´ologique de l’arrondissement de Nivelles 7 (1903), S. 1–68. Über die in Villers entstandenen Viten s. zuletzt Barbara Newman, Preface. Goswin of Villers and the visionary network, in: Send me God. The Lives of Ida the Compassionate of Nivelles, Nun of La Rame´e, Arnulf, Lay Brother of Villers, and Abundus, Monk of Villers, by Goswin of Bossut, translated by, and with an introduction by Martinus Cawley OCSO and with a preface by Barbara Newman, Turnhout 2003, S. xxix-xlix. Vgl. Peter Strohschneider, Johannes Rothes Verslegende über Elisabeth von Thüringen und seine Chroniken. Materialien zum Funktionsspektrum legendarischen und historiographischen Erzählens im späten Mittelalter, IASL 23 (1998), S. 1–29, hier S. 11f.

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den »literarischen Physiologismus« in der Vita der Katharina von Siena durch Raimund von Capua (1395 fertiggestellt) und im ›Herzmaere‹ Konrads von Würzburg angestellt.51 Die beiden Texte dienen ihm als Beispiele der ›Desymbolisierung‹ und der nachträglichen ›Symbolisierung‹ und werden im Anschluß an die Terminologie neuerer kulturwissenschaftlicher Studien zwei verschiedenen ›Ordnungen‹ zugewiesen.52 Insbesondere geht es darum, die von Peter Sloterdijk53 entwickelte geschichtsphilosophische Konstruktion zu relativieren, die – so Quast – das mittelalterliche Innenraumdenken ausschließlich den »Ordnungen des Materialen« unterstelle und für diese Periode einen Physiologismus des Denkens ansetze, das am Symbolischen keinen Anteil hat. Besonders die Analyse der ›Vita Catharinae Senensis‹ (Teil II, Kapitel 6) ist für uns relevant. Die im Anschluß an Ps 51,12 ausgesprochene Bitte der Heiligen, der Herr möge ihr »ihr eigensinniges Herz und ihren Eigenwillen« wegnehmen, wird durch das somatische Erlebnis eines körperlich vollzogenen ›Herzensraubs‹ erfüllt, was ihr spottender Beichtvater für biologisch unmöglich hält und nicht wahrhaben möchte. Auf diesen Einwand folgt die Bestätigung durch ein Wunder, denn der Herr erscheint vor Katharina in einer Vision, legt sein eigenes Herz in die linke Seite ihrer Brust und schließt die klaffende Wunde. Die Richtigkeit ihrer Schilderung dieser Ereignisse wird später durch eine Narbe an ihrer linken Seite bezeugt, deren tatsächliches Vorhandensein Katharinas Mitschwestern und viele andere Personen, die diese gesehen hatten, dem Hagiographen versichert konnten.54 Dem literarischen Muster des ›Herzensraubs‹, dem wir oben im altfranzösischen ›Eneasroman‹ begegnet sind, tritt somit das Motiv vom ›Herzenstausch‹ an die Seite.55 51

52

53

54 55

Bruno Quast, Literarischer Physiologismus. Zum Status symbolischer Ordnung in mittelalterlichen Erzählungen von gegessenen und getauschten Herzen, Zeitschrift für deutsches Altertum 129 (2000), S. 303–320. Vgl. Udo Friedrich, Die Ordnungen des Wissens: Ältere deutsche Literatur, in: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, hg. von Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten, Reinbek bei Hamburg 2002 (rowohlts enzyklopädie 55643), S. 83–102. Vgl. das Kapitel »Herzoperation oder: Vom eucharistischen Exzeß«, in: Peter Sloterdijk, Sphären. Mikrosphärologie, Bd. I: Blasen, Frankfurt a. M. 1998, S. 101–140, wo u. a. die von Quast zitierte Passage aus der ›Vita Catharinae Senensis‹ und das ›Herzmäre‹ behandelt werden. Ed. Jungmayr [Anm. 25], Bd. I, S. 256–258 (§§ 179–180); Kommentar in Bd. II, S. 777–779. Die frühesten Belege für den ›Herzenstausch‹ in einem geistlichen Kontext stehen bei Gerhard von Lüttich in seinem Traktat ›De doctrina cordis‹ (3. Viertel 13. Jh.) und in der Vita der Lutgard von Tongeren (von Aywie`res) von Thomas von Cantimpre´ (zwischen 1248 und 1263). Vgl. Gerardus Leodiensis, Speculum concionatorum ad illustrandum pectora auditorum in septem libros distributum, Neapel 1607, S. 246f. (Buch 4); Thomas von Cantimpre´, ›Vita Lutgardis‹, hg. von Guido Hendrix, Primitive

Herzeliebe, weltlich und geistlich

223

Quast hebt die Desymbolisierung der im Kontext der Psalmen in einem übertragenen Sinne zu verstehenden sprachlichen Wendung für den geistigen Reinigungsakt innerer Erneuerung hervor: Cor mundum crea mihi Deus et spiritum stabilem renova in visceribus meis. (»Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen beständigen Geist in meinem Inneren.«) Dabei handele es sich um die »Verbuchstäblichung« oder Somatisierung eines sprachlichen Bildes, die der für das Mittelalter charakteristischen Vorgangshaftigkeit sprachlicher Bilder bzw. dem Physiologismus mittelalterlichen Denkens verpflichtet sei (mit Verweis auf Bynum). Dadurch daß der Herzenstausch durch die Unmöglichkeitserklärung in Frage gestellt und einem literarischen Muster unterworfen ist, werde das physiologische Erlebnis Katharinas nicht als plane Desymbolisierung, sondern als literarische Inszenierung einer Paradoxie präsentiert: »die physische Unmittelbarkeit des Geschehens wird einer abwägenden Diskursivierung ausgesetzt« (S. 310). Das »Changieren« zwischen wörtlicher, materialer und übertragener, symbolischer Bedeutung beinhalte, daß der Vollzug der Desymbolisierung an Ordnungen des Symbolischen partizipiere. Das Besondere an der Literarisierung von Katharinas Erlebnis sei also der »symbolisch konstruierte Physiologismus«, die »literarisch bewirkte Ambivalenz«, und diese übernimmt hier die Funktion, die Authentizät der Begnadigung zu versichern. Auch für die oben erörterten Beispiele materialiter inszenierter Herzensmetaphorik ist festzustellen, daß die ›Desymbolisierung‹ (Gawan, Martina, wohl auch Gertrud) oder ›Somatisierung‹ (Juliana) »in mehrfacher Hinsicht zurückgenommen« (S. 318) wird. Das geschieht durch Komik, Peinlichkeit, das Wunderbare, biologische Unmöglichkeiten, oder durch das Überlagern eines Vorgangs mit symbolischer Bedeutung (die Erfahrung von der Einwohnung durch die Geliebte als eine ›Heilswende‹: Ohly). In der ›Martina‹ vermag die Heilige, nach dem Vorbild von Paulus ein beidenthalbære, nicht zu entscheiden, auf welcher Ebene sie die Erkenntnis Gottes erlebt. Es handelt sich bei allen hier behandelten Beispielen wie auch in der Katharinenlegende um die Desymbolisierung von gängigen Metaphern, von traditionsreichen sprachlichen oder literarischen Mustern, die – um mit der Kulturwissenschaft zu reden – neu semantisiert werden und an kontextbedingten, unterschiedlichen symbolischen Ordnungen teilhaben. versions of Thomas of Cantimpre´’s Vita Lutgardis, Cıˆteaux: Commentarii cistercienses 29 (1978), S. 153–206, hier S. 163 (I,1,12, vita antiqua); hg. von Godefridus Henschenius und Daniel Papebrochius, in: Acta Sanctorum Junii, tom. 3 [Anm. 26], S. 239 (I,1,12, jüngere Fassung). Vgl. Peter Dinzelbacher, Das Christusbild der heiligen Lutgard von Tongeren im Rahmen der Passionsmystik und Bildkunst des 12. und 13. Jahrhunderts, Ons geestelijk erf 56 (1982), S. 217–277, hier S. 236–239; Guido Hendrix, Hugo de Sancto Caro’s traktaat De doctrina cordis. Handschriften, receptie, tekstgeschiedenis en authenticiteitskritiek, Löwen 1995 (Documenta Libraria 16/1), S. 410–412.

224

Nigel F. Palmer

Schließen möchte ich mit dem Hinweis auf eine für die Interpretation recht schwierige und problematische Stelle aus dem ›Parzival‹, die für Ohlys Interpretation der Minnedame im Herzen eine wichtige Rolle spielt. Als Wolfram vom ersten Teil seines Gawan-Romans zum Geschehen um den eigentlichen Helden des Werks zurückkehrt, inszeniert er in einem sehr merkwürdigen poetologischen Kunstgriff die Wahrheit der Erzählung, die der Autor und Erzähler zu vermitteln hat, durch eine einzigartige Variante der Herzensraumthematik. Frau Aventiure klopft vorerst unerkannt am Tor der Burg, in der sich der Erzähler aufhält, und verlangt hereingelassen zu werden, ins Herz des Erzählers. Auf den Einwand, er habe keinen Platz und daß sein Herz für sie zu eng sein müßte – wiederum ein spielerisches Beim-Wort-Nehmen oder eine Desymbolisierung der Metaphorik, gibt sich Frau Aventiure zu erkennen und verspricht, er werde es nicht bereuen, wenn er erfährt, was sie mitzuteilen hat. Die Erzählung – der Text – wird vom Erzähler, der damit auch als der Dichter und Verfasser Wolfram von Eschenbach erkenntlich werden soll, am eigenen Leib erlebt, so wie man die Liebe als eine körperliche Erfahrung, so wie man Christi Himmelfahrt oder Gottes Gnade am eigenen Körper erleben kann. ›Tuot uˆf.‹ wem? wer sıˆt ir? ›ich wil inz herze dıˆn zuo dir.‹ soˆ gert ir zengem ruˆme. ›waz denne, belıˆbe ich kuˆme? mıˆn dringen soltu selten klagn: ich wil dir nu von wunder sagn.‹ jaˆ sıˆt irz, frou Aventiure? wie vert der gehiure? ich meine den werden Parzivaˆl, [...] (433,1–9)

Es handelt sich bei dieser Geschichte nicht um Erfundenes, sondern um Empfundenes, um eine einzigartige Wahrheit, die wahrlich mitteilenswert ist.

Elke Brüggen

Die Wort gewordene Frau Zur Vertextung ›weiblicher‹ Selbstreflexion in Reinmars Lyrik*

Eine Frau instruiert einen Boten. Er soll umgehend i h n aufsuchen, den Mann, dem sie verbunden ist. Mit einer gedrängten Reihe von Imperativen will sie sicherstellen, daß der Bote in ihrem Sinne agiert, sie zuverlässig und korrekt vertritt. sage im das (1,2), sage im dvrh den willen min (1,5), das [s]prich (3,7), bitte in (4,3): Es geht ihr darum, die Rede des Boten im voraus festzulegen. Dabei erteilt sie nur für bestimmte Aussagen eine Lizenz. Andere knüpft sie an eine Bedingung: Der Bote soll zuvor prüfen, ob das Risiko, das sie mit ihren Worten eingeht, vertretbar erscheint. Da es sich im Kern um ein Liebesgeständnis handelt (dc ich im holdes h Sze trage, 3,2), will sie sicherstellen, daß auf seiten des Mannes aufrichtige Zuneigung zu finden ist. Die Antizipation einer möglichen Antwort des Mannes (Spreche er, 4,1) und die Festlegung einer dann gebotenen Replik (so bitte in, 4,3) sind weitere Vorsichtsmaßnahmen; sie belegen ein Bewußtsein von der Problematik der herbeizuführenden Situation und den Wunsch, aus einer Position der Abwesenheit heraus die größtmögliche Kontrolle zu behalten. Die Skizze bezieht sich, wie unschwer zu erkennen ist, auf Reinmars Lied Lieber bote, nu wirp alsoˆ (MF XXVIII/178,1). Es liegt ihr allerdings die vierstrophige Version der Handschrift C zugrunde, nicht der sechsstrophige Abdruck in MF, dem das Lied seine mediävistische Rezeptionswirksamkeit verdankt.1 Daß ein solches sechsstrophiges Lied in keiner Handschrift überliefert *

1

Der Oxforder Vortrag wurde in überarbeiteter Form auch auf einem Colloquium zur Diskussion gestellt, das am 10. Februar 2006 anläßlich des 65. Geburtstages von Peter Kern in Bonn stattgefunden hat; meinem Kollegen Peter Kern soll der Beitrag gewidmet sein. – Der Obertitel greift eine Formulierung aus einem Beitrag von Jeffrey Ashcroft [Anm. 7], S. 62, auf. Die Anführungszeichen im Untertitel erinnern an den Umstand, daß sich die mittelhochdeutschen Minnelieder mit weiblicher Ich-Position männlicher Autorschaft verdanken; im folgenden verzichte ich auf diese Markierung. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. I: Texte, Stuttgart 381988. – Der C-Text wird zitiert nach: Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift. Faksimile-Ausgabe des Codex Pal. Germ. 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Interimstexte von Ingo F. Walther, Frankfurt a. M. 1975–1979. Die Zählung der Strophen orientiert sich an der weiter unten gebotenen Übersicht zur handschriftlichen Überlieferung. Für den Text des Liedes in b, E und m wurden die folgenden Faksimilia herangezogen: Die Weingartner

226

Elke Brüggen

ist, läßt sich der Ausgabe ohne weiteres entnehmen. Ich verdeutliche die Überlieferungsverhältnisse im folgenden mit einer schematischen Übersicht, bei der für die Strophenfolge die Numerierung der Strophen in MF (in der Bearbeitung von Hugo Moser und Helmut Tervooren, MFMT) als Referenzschlüssel gewählt wurde: Strophenanfang Lieber bote, nu wirp alsoˆ Lieber bote, nu wirp alsoˆ Vraˆge er, wie ich mich gehabe Eˆ daz du iemer ime verjehest Spreche er, daz er welle her Des er gert, daz ist der toˆt Daz ich alsoˆ vil daˆ von

MF

b

C

E

1 2 3 4 5 6

178,1 178,8 178,15 178,22 178,29 178,36

75 − 77 − 76 −

118 − 120 121 119 −

229 230 − 231 232 233

m fol. 3r (1) fol. 3r/v (2) − fol. 3v (3) fol. 3v (5) fol. 3v (4)

Strophenfolge

Strophenbestand MFMT/MF b C E m

MFMT

6 3 4 5 5

Str. Str. Str. Str. Str.

MFMT/MF b C E m

1 1 1 1 1

– – – – –

2 5 5 2 2

– – – – –

3 3 3 4 4

–4–5–6 –4 –5–6 –6–5

Autorzuschreibung MFMT / MF b C E m

Reinmar der Alte / Her Reinmar ohne eigene Überschrift, im Anschluß an das Morungen-Corpus Her Reinmar der Alte (Bildüberschrift); (h)er reimar (Beischrift zu Beginn des Corpus) hS Reinmar van nyphen (fol. 3r als Beischrift zum Lied; fol. 3v auf dem oberen Blattrand)

Liederhandschrift. Bd. 1: Faksimile. Bd. 2: Textband [neben Beiträgen von Wolfgang Irtenkauf u. a. ein diplomatischer Abdruck von Otfrid Ehrismann], Stuttgart 1969. Die Lieder Reinmars und Walthers von der Vogelweide aus der Würzburger Handschrift 2o Cod. Ms. 731 der Universitätsbibliothek München. Bd. 1: Faksimile. Mit einer Einführung, hg. von Gisela Kornrumpf, Wiesbaden 1972. Günter Schmeisky, Die Lyrik-Handschriften m (Berlin, Ms. germ. qu. 795) und n (Leipzig, Rep. II fol. 70a). Zur mittel- und niederdeutschen Sangverslyrik-Überlieferung. Abbildung, Transkription, Beschreibung, Göppingen 1978 (GAG 243). Von fol. 3v gibt es eine hervorragende Farbabbildung in: Aderlaß und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln. Eine Ausstellung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kulturforum, 20. Juni – 21. September 2003. Germanisches Nationalmuseum. Nürnberg, November 2003 – Februar 2004, hg. von Peter Jörg Bekker und Eef Overgaauw, Mainz 2003, S. 113.

Die Wort gewordene Frau

227

Mit einer Überlieferung in vier Handschriften (b, C, E, m)2 zählt das Lied zu den am besten bezeugten Texten im Reinmar-Corpus – daß nur C und E es unter Reinmars Namen führen, während es in b Teil einer Sammlung ist, die ohne einen eigenen Autornamen im Anschluß an das Morungen-Corpus eingetragen wurde, und in m unter van nyphen firmiert, hat keine ernsthaften Zweifel an der Autorschaft Reinmars aufkommen lassen. MF XXVIII/178,1 ist vielmehr zu den bekanntesten Texten des mit dem Namen ›Reinmar‹ verbundenen Œuvres zu rechnen. Daß dieses auch für die mittelalterliche Rezeption zutraf, hat Albrecht Hausmann zu zeigen versucht. Sein Vorschlag, die ReinmarÜberlieferung nach dem Kriterium der ›Überlieferungswirksamkeit‹ resp. der ›historischen Relevanz‹ zu strukturieren, weist das Lied einem Kernbestand Reinmarschen Minnesangs zu, einer Gruppe von Texten, die »auch die zeitgenössische Vorstellung von ›Reinmar‹ [...] geprägt« haben.3 Die Art und Weise, in der sich die Unterschiede im Strophenbestand und in der Strophenfolge auf die Handschriften verteilen, legt die Annahme nahe, daß zwei Fassungen des Liedes existiert haben, die einerseits in b und C, andererseits in E und m erhalten sind, jeweils in differenter Weise.4 Beiden Fassungen gemeinsam ist die Eröffnung des Liedes mit Strophe 1. b und C lassen dann übereinstimmend die Strophen 5 und 3 folgen. Nur in C, nicht jedoch in b, ist noch eine vierte Strophe angefügt. E und m kennen dagegen ein fünfstrophiges Lied mit einer identischen Reihenfolge der ersten drei Strophen (1–2–4); die Strophen 5 und 6 schließen sich an, erscheinen in den beiden Handschriften aber gegeneinander vertauscht (E: 5–6; m: 6–5). In b und C fehlen somit die zweite und die sechste Strophe, während E und m die dritte Strophe nicht kennen. Auf Lesartenebene ist nur an wenigen Stellen5 eine nennenswerte Va2

3

4

5

Ein handschriftenbezogener Textabdruck findet sich im Anhang; dabei werden Schaft-s und geschweiftes z ebenso wie in den Zitaten im fortlaufenden Text nicht realisiert. Albrecht Hausmann, Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), Zitat S. 67; zu MF XXVIII/178,1 vgl. bes. S. 214–223. Die leitenden Prämissen, die Methodik und die Schlußfolgerungen des Buches sind nicht unwidersprochen geblieben. Vgl. die Rezensionen von Gert Hübner (ZfdPh 120 [2001], S. 456–459), Christoph März (ZfdA, 131 [2002], S. 238–240), Jutta Goheen (Speculum 77 [2002], S. 928f.), Christopher Young (Arbitrium 21 [2003], S. 39–42). Ferner Jan-Dirk Müller, Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar, PBB 121 (1999), S. 379–405, und Albrecht Hausmann, Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstituierung im Spannungsfeld zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang, in: Sangspruchtradtition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder, hg. von Margreth Egidi [u. a.], Frankfurt a. M. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 5), S. 25–43. Vgl. Reinmar. Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle, Stuttgart 1986 (RUB 8318), S. 377f. Hausmann, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 214–217. 1,2 – 1,4 – 1,5 – 4,5f. – 5,5–7.

228

Elke Brüggen

rianz zwischen bC und Em zu verzeichnen; aufgrund der Divergenzen in Strophenbestand und Strophenfolge wäre gleichwohl bei einer Edition ein Parallelabdruck der beiden Fassungen bC und Em wünschenswert.6 Erst so träte stärker ins Bewußtsein, daß es für eine Deutung des Liedes nicht unerheblich ist, welche Fassung man zugrunde legt. Die Beobachtungen und Überlegungen, die in der Forschung bislang zu Reinmars Frauenlied Lieber bote, nu wirp alsoˆ vorgetragen worden sind,7 stüt6 7

So auch Hausmann, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 215, mit einem Abdruck der beiden Fassungen auf S. 216f. Ausführlicher ist der Text von William E. Jackson, Ingrid Kasten und Albrecht Hausmann behandelt worden: William E. Jackson, Reinmar’s Women. A Study of the Woman’s Song (›Frauenlied‹ and ›Frauenstrophe‹) of Reinmar der Alte, Amsterdam 1981 (German Language and Literature Monographs 9), S. 16f., S. 260–265. Ingrid Kasten, Das Frauenlied. Reinmar: Lieber bote, nu wirp alsoˆ, in: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter, hg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993 (RUB 8864), S. 111–128. Hausmann, Reinmar der Alte [Anm. 3], bes. S. 214–223. Des weiteren finden sich punktuelle Bemerkungen zu MF XXVIII/178,1 in ganz unterschiedlichen Fragezusammenhängen. Unter den neueren Beiträgen vgl. insbes. Jeffrey Ashcroft, Obe ichz laˆze oder ob ichz tuo. Zur Entstehung und Funktion des dilemmatischen Frauenmonologs (Reinmar, Walther, [Pseudo-]Hausen), in: Lied im deutschen Mittelalter: Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Colloquium 1991, hg. von Cyril Edwards [u. a.], Tübingen 1996, S. 57–65, hier S. 61f. – Trude Ehlert, Männerrollen und Frauenrollen im Hohen Minnesang: kontrastiv oder komplementär?, in: Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann, hg. von Burkhardt Krause, Wien 1997, S. 41–58, hier S. 54–56. – Peter Göhler, Zum Boten in der Liebeslyrik um 1200, in: Gespräche – Boten – Briefe, hg. von Horst Wenzel, Berlin 1997, S. 77–85, hier S. 80–85. – Ingrid Kasten, Weibliches Rollenverständnis in den Frauenliedern Reinmars und der Comtessa de Dia, GRM 68 / N.F. 37 (1987), S. 131–146, bes. S. 135. – Frauenlieder des Mittelalters, zweisprachig, übersetzt und hg. von Ingrid Kasten, Stuttgart 1990 (RUB 8630), S. 251f. – Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 3), S. 870–873. – Rüdiger Schnell, Frauenlied, Manneslied und Wechsel im deutschen Minnesang. Überlegungen zu ›gender‹ und Gattung, ZfdA 128 (1999), S. 127–184, hier bes. S. 143–152. – Schweikle [Anm. 4], S. 377–379. – Heinrich Siekhaus, Revocatio – Studie zu einer Gestaltungsform des Minnesangs, DVjs 45 (1971), S. 237–251, hier S. 249f. – Franz Viktor Spechtler, Die Stilisierung der Distanz. Zur Rolle des Boten im Minnesang bis Walther und bei Ulrich von Liechtenstein, in: Peripherie und Zentrum. Studien zur österreichischen Literatur. Festschrift für Adalbert Schmidt, hg. von Gerlinde Weiss und Klaus Zelewitz, Salzburg [usw.] 1971, S. 285–310, hier S. 293–295, S. 297f. – Frederic Tubach, Feudal Ritual and Personal Interplay. Observations on the Variety of Expressive Modes in Minnesang, in: From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide, hg. von Franz H. Bäuml, Göppingen 1984 (GAG 368), S. 190–207, hier S. 195f. – Zum Terminus und zum Konzept ›Frauenlied‹ vgl. zuletzt Ingrid Kasten, Zur Poetologie der ›weiblichen‹ Stimme. Anmerkungen zum ›Frauenlied‹, in: Frauenlieder. Cantigas de amigo. Internationale Kolloquien des Centro de Estudos Humanı´sticos (Universidade do Minho), der Faculdade de Letras (Universidade do Porto) und des Fachbereichs Ger-

Die Wort gewordene Frau

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zen sich vornehmlich auf die Textgestalt von MF. Damit bestimmt die als »besonders plausibel« empfundene und um die Strophe MF 3 aus bC ergänzte Strophenfolge von E die Wahrnehmung des Liedes.8 Die Frage nach dem jeweiligen poetischen Eigengewicht der bC- und der Em-Fassung ist dagegen, sieht man von den knappen Hinweisen im Kommentar von Günther Schweikles Ausgabe ab,9 noch kaum in den Blick gekommen. Dies gilt überraschenderweise auch für die erst 1999 erschienene Reinmar-Monographie von Albrecht Hausmann. Hier findet sich zwar (m. W. erstmalig) eine ausführlichere Interpretation des Liedes, die sich an der bC-Fassung orientiert, doch handelt Hausmann die Em-Fassung in wenigen Sätzen ab, die im wesentlichen ältere Überlegungen von Ingrid Kasten aufnehmen und die Textfassung ansonsten als Duplizierung zentraler Aussagen und Motive von MF XXVII/177,10 einstufen.10 Eine die beiden Fassungen vergleichende Analyse, welche die wechselnden Akzentsetzungen beschriebe, die sich durch das jeweilige Zusammenspiel von Strophenbestand, Strophenfolge und Lesarten ergeben, liegt demnach bislang nicht vor. Damit ist eine Zielsetzung des vorliegenden Beitrags benannt. Mit Blick auf das Rahmenthema des Colloquiums gebe ich beim Vergleich der Fassungen der Frage nach den Modi der Vertextung einer Innenwelt weiblichen Denkens und Empfindens besonderes Gewicht. Die überlieferungsnahe Interpretation betont den fassungsspezifischen Umgang mit der Thematik des Redens und Schweigens. Auf diese Weise soll der herkömmlichen Deutung des Liedes eine neue Perspektive zur Seite gestellt und, unter Einbeziehung weiterer Lieder, die hohe Relevanz dieser Thematik für die Profilierung des ReinmarCorpus herausgearbeitet werden. Nach der Würdigung des Liedes in W. E. Jacksons schon 1981 erschienener Monographie zu den Frauenliedern und Frauenstrophen Reinmars sind die interpretatorischen Vorgaben zu MF XXVIII/178,1 vor allem von I. Kasten und

8 9 10

manistik (Freie Universität Berlin), Berlin, 6.11.1998, Apu´lia, 28.–30.3.1999, hg. von Thomas Cramer [u. a.], Stuttgart/Leipzig 2000, S. 3–18; Thomas Cramer, Was ist und woran erkennt man eine Frauenstrophe?, ebd., S. 19–32; Elisabeth Schmid, Die Inszenierung der weiblichen Stimme im deutschen Minnesang, ebd., S. 49–58; Ingrid Bennewitz, Die obszöne weibliche Stimme. Erotik und Obszönität in den Frauenstrophen der deutschen Literatur des Mittelalters, ebd., S. 69–84; Norbert Richard Wolf, Frauenlied aus Männermund, ebd., S. 85–93. – Zur Konstruktion des Ichs in Reinmars Frauenliedern vgl. Sabine Obermaier, Der Sänger und seine Rezipientin. Zu Ich-Rolle und Rollen-Ich in den Sänger- und Frauenliedern des Hohen Minnesangs, ebd., S. 33–48; Dies., Von Nachtigallen und Handwerkern. ›Dichtung über Dichtung‹ in Minnesang und Sangspruchdichtung, Tübingen 1995 (Hermaea 75), S. 67–72. Zitat aus Kasten, Deutsche Lyrik [Anm. 7], S. 871. Schweikle [Anm. 4]. Hausmann, Reinmar der Alte [Anm. 3]; zu E (m wird lediglich gestreift) vgl. S. 223, mit der abschließenden Überlegung: »Neben XXVIII (E) wäre Lied XXVII tatsächlich redundant, und vielleicht ist das der Grund, warum es in E fehlt.«

230

Elke Brüggen

A. Hausmann bereitgestellt worden.11 Ich fasse sie im folgenden kurz zusammen. Funktion und Bedeutung des Liedes Lieber bote, nu wirp alsoˆ werden nach I. Kasten »in nicht geringem Maße« durch seine Zugehörigkeit zu einer Folge von Frauenliedern im Reinmarschen Œuvre bestimmt, zu der neben MF XXVIII/178,1 noch MF XXVII/177,10 (Sage, daz ich dirs iemer loˆne), MF XXXVII/186,19 (Ungenaˆde und swaz ie danne sorge was) und MF XLIV/ 192,25 (Deˆst ein noˆt) gehören.12 In diesen Liedern werde die Frau als Liebende und zugleich als Minnedame gezeigt, hineingezogen in einen Konflikt zwischen minne und eˆre, zwischen persönlicher Neigung und gesellschaftlichen Normen, »welche die Verwirklichung ihrer Liebe nicht gestatten«.13 Das Bedrängende dieses Konflikts werde von Lied zu Lied intensiviert, bis mit dem in MF XLIV/192,25 gestalteten Triumph der Liebenden über die Minnedame der Endpunkt der Sequenz erreicht sei. In dem von den genannten Frauenliedern abgesteckten Spektrum besetze MF XXVIII/178,1 eine mittlere Position. Ablesbar sei das zum einen an der Handhabung des Botenmotivs: Die Frau adressiere einen Boten, doch anders als ›noch‹ in MF XXVII/177,10 komme es in MF XXVIII/178,1 nicht ›mehr‹ zu einem Dialog, im Unterschied zu den anderen beiden Liedern aber auch ›noch‹ nicht zu einer reinen Selbstaussprache. Als weiteres Argument wird der »ständige Wechsel« der Positionen angeführt, das Schwanken der Sprecherin zwischen dem Wunsch, dem Mann die Liebe zu bekennen und damit auf seine Werbung und die Bitte um Erwiderung der Liebe einzugehen, und der Furcht vor den Folgen, die ein solcher Schritt für ihre gesellschaftliche Reputation haben könnte, ein Schwanken, das in »vielerlei Einschränkungen, Vorbehalte[n] und Rücknahmen«, Widersprüchen und Wiederholungen versprachlicht werde.14 Mit dem Verbot, das weiterzugeben, was gegenüber dem Boten ausgesprochen wurde, werde schließlich mittels der von Reinmar oft genutzten Stilfigur der revocatio das Scheitern der Kommunikationsabsicht vorgeführt. Anders als I. Kasten, die ihren Ausführungen den Text von MF zugrunde legt und damit die (um eine Strophe erweiterte) Version der Handschrift E privilegiert,15 hat A. Hausmann das Lied auf der Basis der bC-Version analysiert, im Zusammenhang mit dem Frauenlied MF XXVII/177,10 (Sage, daz ich dirs iemer loˆne) und mit MF XIII/163,23 (Mich hoehet, daz mich lange hoehen sol), einem Reinmarschen Manneslied, auf das in MF XXVII/177,10 eindeutig Bezug genommen wird.16 Trotz unterschiedlicher Textgrundlage zeigen die Aus11 12 13 14 15

16

Zu Kasten vgl. Anm. 7 und zu Hausmann, Reinmar der Alte, vgl. Anm. 3. Kasten, Rollenverständnis [Anm. 7], S. 134. Dies., Frauenlied [Anm. 7], S. 122. Kasten, Frauenlied [Anm. 7], S. 114. Ebd., S. 115. Zu bedenken bleibt dabei freilich, daß in MF nur für die zweite und die sechste Strophe E als Leithandschrift gewählt wurde, so daß man es (auch) auf Lesartenebene mit einem Mischtext zu tun hat. Zur möglichen Funktion dieser Referenzen vgl. Kasten, Frauenlied [Anm. 7], S. 123f. und S. 125–127; Hausmann, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 207–209.

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führungen Hausmanns ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den Prämissen und auch mit den Ergebnissen der Darlegungen von Kasten. In Stichworten: MF XXVII/177,10 als Verstehenshorizont für MF XXVIII/178,1 – inhaltlichkonzeptionelle Kompatibilität von Frauen- und Manneslied bei Reinmar – komplementäre Funktion des Frauenliedes – minne/eˆre-Konflikt als zentrales Thema des Reinmarschen Frauenliedes – Perspektivierung von hoher Minne und Frauendienst durch eine weibliche Stimme, jedoch nicht aus einem Interesse, das primär auf die literarische Gestaltung der emotionalen Befindlichkeit der Frau gerichtet wäre. Neu ist jedoch, wie Hausmann auf der Grundlage der bC-Fassung von MF XXVIII/178,1 den Konflikt von minne und eˆre auffaßt. Der Konflikt resultiert für ihn »nicht so sehr aus gesellschaftlichen Zwängen, sondern vor allem aus dem qua Norminternalisierung in sich widersprüchlichen Wollen des geliebten Mannes«, dessen »gesteigerte[s] Interesse an der weiblichen Tugend« die Frau in ein unlösbares Dilemma zwinge.17 Er liest die Frauenlieder als Antwort auf die Minnekonzeption der Reinmarschen Manneslieder, welche den Mann seiner Deutung zufolge als ›sozialisiert‹ und ›souverän‹ zugleich erweisen, da er »das truˆren aus seinem eigenen Ethos heraus in eine höherwertige vröide transformieren und in ästhetisch perfekte rede umsetzen kann«, sich dadurch gleichzeitig als gesellschaftlich integriert zeige. Zudem erfülle die »Vergegenwärtigung der Frau mittels Frauenrede« die Funktion, die im Reinmarschen Manneslied entfaltete subjektive männliche Perspektive mit einem ›objektiven‹ Hintergrund auszustatten und auf diese Weise »der Gefahr des logischen Substanzverlustes der Frau« entgegenzuwirken.18 Im Interesse einer Weiterführung der Diskussion scheint es mir notwendig zu sein, beide Positionen noch einmal zu überdenken. Daß sich zwischen den vier Frauenliedern, auf die I. Kasten ihre Aufmerksamkeit richtet, vielfältige Bezüge ausmachen lassen, steht außer Frage. Inwieweit die betreffenden Lieder indes in einem planvollen Zusammenhang stehen, der eine bestimmte Reihenfolge der einzelnen Texte voraussetzt, scheint mir weniger evident.19 Mit dieser Prämisse wird ein Verständnisrahmen postuliert, der dazu einlädt, der Deutung des einzelnen Liedes Aussagen aus anderen Liedern der ›Sequenz‹ zu unterlegen. Er bildet die Voraussetzung dafür, daß im Falle von MF XXVIII/178,1 die Opposition von minne und eˆre zum zentralen Problem erklärt werden kann, von dem aus die Argumentation der Sprecherin organisiert werde. In den Liedern MF XXXVII/186,19 und MF XLIV/192,25 lassen sich nämlich entsprechende Textstellen ausmachen, welche die Bedeutung des Konzepts weiblicher 17 18 19

Hausmann, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 224 und S. 226. Ebd., S. 226. Bei dieser Position ließen sich eine produktionsästhetische und eine rezeptionsästhetische Perspektive überdies allenfalls für die Handschrift C in Deckung bringen, denn nur hier sind alle vier Lieder gemeinsam überliefert – wenn auch nicht in direkter Folge.

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eˆre belegen.20 In MF XXVIII/178,1 fällt der Begriff eˆre zwar, allerdings an einer einzigen Stelle, im Abgesang der dritten in MF abgedruckten, in b und C überlieferten Strophe – und das auch nur in der Handschrift b (3,5–7): main er wol mit trvwen mich. e swas ime danne mvge ze vroden komen das min ere si das sprich.

Die von I. Kasten privilegierte Handschrift E kennt die Strophe ebensowenig wie m, und die Handschrift C kommt im entscheidenden letzten Vers des Abgesangs ohne einen Rekurs auf die eˆre aus. Diese Konstellation läßt die Bedeutung der minne-eˆre-Opposition für das Lied MF XXVIII/178,1, speziell für die Em-Version, zurücktreten. Daß die Strophe MF 3 in Em fehlt, lädt m. E. überdies dazu ein, den Eindruck eines ständigen Positionswechsels der Sprecherin noch einmal zu befragen. Er scheint mir nicht zuletzt durch die zugrunde gelegte Edition generiert, die verschiedene Fassungen kontaminiert. Rezipiert man MF 2 und MF 3 in Folge, so stehen ein im Abgesang von MF 2 zwar formuliertes, sogleich aber mit einem Schweigegebot belegtes Geständnis der Zuneigung und eine im Aufgesang von MF 3 erwogene Mitteilung dieser Zuneigung, bei der lediglich bestimmte Vorkehrungen getroffen werden sollen, unvermittelt nebeneinander. Nimmt man jedoch die Überlieferung ernst, entfällt die Möglichkeit einer solchen Lektüre, da die Strophen MF 2 und MF 3 nicht gemeinsam, sondern nur alternativ eingesetzt wurden. Daran müßte sich m. E. die Frage anschließen, wie es sich mit den übrigen konstatierten Inkonsistenzen der Argumentation auf der Ebene der einzelnen Handschriften resp. der Fassungen verhält. Anders gewendet: Könnte es nicht sein, daß hier je eigene Logiken und kohärenzsichernde Versprachlichungsstrategien zu entdecken wären? Der zuletzt zitierten Textstelle kommt in A. Hausmanns Relektüre des Liedes und mittelbar auch in seinem Versuch einer Funktionsbestimmung der Frauenlieder im Reinmarschen Minnesang entscheidende Bedeutung zu. Die Strophen 1 und 2 der bC-Fassung versteht Hausmann als Formulierung eines ›in sich widersprüchlichen Botenauftrags‹, mit dem die Frau dem Mann Freude zugestehe, ihm jedoch selbst keinen Grund zur Freude biete, sein Minnebegehren vielmehr zurückweise. Als Auflösung dieses Widerspruchs betrachtet er die dritte Strophe: Hier gebe sie dem Mann Grund zur vröide, »indem sie sich der minne verweigert und damit ihrer eˆre gemäß handelt«.21 Diese Sicht beruht vor allem auf einer Auslegung des Abgesangs, bei der die grammatisch-syntaktischen Strukturen in einer Weise aufgelöst werden, die keineswegs naheliegt; der beigegebene Übersetzungsvorschlag zeigt dies: »Wenn er mich richtig mit zu20

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Vgl. MF XXXVII,1,7–10/186,25–28: Der mir ist von herzen holt, / den verspriche ich seˆre, / niht durch ungevüegen haz, / wan durch mıˆnes lıˆbes eˆre. MF XLIV,2,6f./ 192,37f.: nu wil er – daz ist mir ein noˆt –, / daz ich durch in die eˆre waˆge und ouch den lıˆp. In MF XXVII/177,10 kommt der Begriff eˆre dagegen nicht vor. Hausmann, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 218 u. 220.

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versichtlicher Treue liebe, was ihm dann zur Freude gereichen könne, das sei meine Achtbarkeit, das sprich.«22 Man mag diesen Vorschlag trotz der – von Hausmann zum Teil selbst gesehenen – grammatischen Probleme in Erwägung ziehen, doch scheint er mir insgesamt so schwach begründet und so wenig plausibel, daß er die interpretatorischen Schlüsse, die darauf basieren und die von erheblicher Tragweite sind, nicht zu sichern vermag. Eine überzeugende Erklärung der bC-Version von MF XXVIII/178,1 steht demnach aus.23 Alle Realisationsformen des Liedes verfügen mit den Strophen MF 1 und MF 5 über einen gemeinsamen Strophenkern. Man darf erwarten, daß er das konzeptuelle Zentrum darstellt, von dem aus wechselnde Sinnpointierungen generiert werden konnten. Die Strophe MF 1 hat dabei einen besonderen Status: Sie steht in allen Überlieferungszeugen an erster Position – mit nur geringfügigen Divergenzen im Wortlaut, die den Sinn der Aussagen nicht tangieren. Grundlegendes zu den Kategorien Sprecherinstanz, Adressierung der Rede, Sprechsituation und Sprechhaltung läßt sich bereits dieser eröffnenden Strophe entnehmen. Die ersten beiden Worte machen deutlich, daß sich die Äußerungen an einen Boten richten. Die Verwendung der zweiten Person Singular und der viermalige Einsatz des Imperativs markieren den hierarchischen Abstand zwischen der redenden und der angeredeten Person, wobei das in die Apostrophe aufgenommene Adjektiv lieber Nähe und Vertrautheit codiert. Über die Pronominalstruktur, die als abwesenden Dritten einen Mann ins Spiel bringt, den der Bote im Auftrag der Frau aufsuchen und sprechen soll, wird das Ganze als Frauenrede ausgewiesen. »Die Sprechsituation, die das Lied setzt, wird somit bestimmt durch eine triadische Beziehung: durch die Sprecherin, einen abwesenden Mann und einen Boten, der als Vertrauter und Mittler fungiert.«24 Der Bote modelliert dabei die Beziehung zwischen Mann und Frau in zweifacher Hinsicht: Er fungiert als Mittel zur »Stilisierung der Distanz«, und zugleich steht er für die Möglichkeit, diese Distanz, die auch als eine räumliche imaginiert ist, zu überwinden.25 Daß die Möglichkeit einer mediatisierten Kommu22

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24 25

Ebd., S. 219, mit entsprechender Explikation. Ich möchte demgegenüber an der eingeführten Auffassung festhalten: daz sprich als regierender selbständiger Satz, dem mehrere abhängige Sätze vorangestellt sind. 3,5 verstehe ich als eine Aussage mit konditional-hypothetischer Note, swaz in 3,6 als verallgemeinerndes Pronomen, das einen Relativsatz einleitet, daz in 3,7 als auf 3,6 bezogenes explikatives daz. Die Plazierung von danne in 3,6 stellt kein Problem dar: Es begegnet nicht selten in Konditional- oder mit swaz eingeleiteten Sätzen (vgl. BMZ 1, 300a–301b), wobei es teils temporale (»alsdann, dann«), teils kausale (»demnach, von daher«) Bedeutung hat und teils, wie hier, zwischen beiden Bedeutungen changiert. Thomas Klein (Bonn) verdanke ich bestätigende Hinweise und Kommentare. Hausmanns auffallende Vernachlässigung, ja Geringschätzung des Em-Textes hat ihren Grund nicht zuletzt darin, daß sich das Lied in dieser Gestalt aufgrund des Fehlens der dritte Strophe der von ihm entwickelten Lektüre nicht fügt. Kasten, Frauenlied [Anm. 7], S. 114. Vgl. Spechtler [Anm. 7] und Göhler [Anm. 7].

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nikation ergriffen wird, setzt wiederum ein Interesse an ihr voraus. Durch die verwendete Sprechsituation wird es in Reinmars Lied auf seiten der Frau verortet. Die Verwendung des Zeitadverbs schiere im zweiten Vers unterstreicht dieses Interesse; die Mitteilung duldet keinen Aufschub, und so legt das Wort eine Fährte zu einer innerlichen Beteiligung der Frau, welche die Rede motiviert. Gelegenheit, diese Fährte zu verfolgen, bieten die nächsten beiden Verse, in denen die Sprecherin die Qualität i h r e s Daseins von s e i n e r Lebensführung abhängig macht, bietet vor allem aber auch der Abgesang, in dem an den Mann der Appell gerichtet wird, auf keinen Fall etwas zu tun, das zu einer Trennung führen würde. Wodurch der Mann die Beziehung gefährden könnte, bleibt ungesagt, doch kann die Sprecherin offenbar voraussetzen, daß der Adressat über das entsprechende Wissen verfügt; von einer Leerstelle kann somit allenfalls mit Blick auf die Rezipienten gesprochen werden. Sie wäre wohl einstweilen zumindest partiell zu füllen, wenn man dem wol varn und vroˆ sıˆn des Mannes, die im dritten Vers als Bedingung für das Wohlergehen der Frau namhaft gemacht werden, gehörige Beachtung schenkte. Die Stelle wird im allgemeinen als eine Äußerung der Anteilnahme verstanden, als eine besorgte Erkundigung nach dem Wohlbefinden des Geliebten.26 Ausgehend von dem Gewicht und der semantischen Komplexität, die insbesondere dem Terminus vroˆ in der Literatur um 1200 zukommen, wäre jedoch zu überlegen, ob hier nicht vielmehr eine Erwartung formuliert wird, die den Adressaten auf eine Haltung und eine Handlungsweise verpflichten möchte, die den Richtlinien höfischer Interaktion Rechnung trägt – die Lesart von E vn¯ lebt er schone (1,3) legt jedenfalls nahe, daß ein derartiges Verständnis im zeitgenössischen Horizont lag.27 Verknüpft man diese Erwartung mit dem im Abgesang übermittelten Appell, so hat die potentielle Gefährdung der Beziehung zwischen Mann und Frau ihre Ursache in einem denkbaren Verstoß des Mannes gegen jene ethisch-ästhetischen Verhaltensnormen, durch die das höfische Leben Substanz und Form bezieht. Dominiert in Strophe 1 der weibliche wille (1,5), so kommt in Strophe 5 (= 2bC, 4E, 5m) das männliche Wollen in den Blick. Seine extreme Negativierung (Des er gert, daz ist der toˆt / und verderbet manigen lıˆp, 5,1f.) resultiert aus dem Umstand, daß dieses Wollen strikt aus weiblichem Blickwinkel und vor 26

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Vgl. Jackson [Anm. 7], S. 261. Kasten, Frauenlied [Anm. 7], S. 114: »Die Sprecherin möchte, daß der Mann erfährt, wie sehr ihr an seinem Wohlbefinden liegt, wie wichtig es für sie ist, ihn glücklich zu wissen.« Vgl. auch die Übersetzungen der Stelle bei Schweikle [Anm. 4], S. 261: »Geht es ihm gut und ist er frohgemut, [...].« und Kasten, Deutsche Lyrik [Anm. 7], S. 349: »Wenn es ihm gutgeht und er froh ist, [...].« Hausmann, Reinmar der Alte [Anm. 3], S. 217, deutet die Rede mit Bezug auf MF XXVII/177,10 als Zugeständnis. Vgl. MF XXVII,1,3–6/177,12–15: ›ist ez waˆr und lebt er schoˆne, / als si sagent und ich dich hoere jehen?‹ / »Vrowe, ich sach in: er ist vroˆ; / sıˆn herze staˆt, ob irz gebietent, iemer hoˆ.«

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allem in seinen Auswirkungen auf die Frau beurteilt wird. Eingeführt auf dem Wege uneigentlicher Rede, wird es in den Versen 3 und 4 im Rekurs auf die Körperzeichen ovidianischer Minnepathologie konkretisiert; minne, der danach erwartbare Begriff, fällt so erst im Abgesang (5,5), wobei die Pointe darin liegt, daß seine Verwendung in der Sicht der Sprecherin männlicher Definitionsmacht geschuldet ist.28 Der dagegengesetzte Begriff unminne (5,6) enthüllt die männliche Bezeichnungspraxis als Teil einer persuasiven Strategie, mit deren Hilfe die Männer eine für die Frauen existenzbedrohende Pervertierung der Liebe euphemistisch verbrämen. Daß es dabei um sexuelles Begehren geht, wird nahegelegt, bleibt aber unausgesprochen. Die vom zweiten Vers an manifeste generalisierende Tendenz der Rede (manigen lıˆp, 5,2; diu wıˆp, 5,4; die man, 5,5) nimmt die eigene Situation als gängige Konstellation wahr und überführt sie in die allgemeine Problematik des Geschlechterverhältnisses. Anders als in der ersten Strophe ist für die gesamte Rede der Frau in Strophe 5 keine Adressierung erkennbar, so daß sie wie eine Rede zu sich selbst wirkt. Man darf sich den Boten weiterhin als anwesend vorstellen, angesprochen wird er indes nicht. Damit ist die Frauenrede hier ihrer direkten kommunikativen Dimension entkleidet. Der Redeanlaß, die Instruktion des Boten, scheint überholt, die Mitteilungsabsicht der Selbstaussprache gewichen, die momenthaft einen Innenraum weiblichen Denkens und Empfindens offenlegt und dabei zu einer deutlichen Kritik an der Ideologie und Praxis höfischer Minne vorstößt. Aus dieser Spannung von Botenansprache und Selbstaussprache bezieht das Lied MF XXVIII/178,1 seine Komplexität und seinen Reiz. Will man die beiden Fassungen gegeneinander profilieren, wird man dem Spiel mit der kommunikativen und der reflexiven Funktion der Rede besondere Beachtung schenken. Ich verfolge diesen Gedanken zunächst für die Fassung bC. Ansprache an den Boten und Selbstaussprache folgen hier in den ersten beiden Strophen direkt aufeinander. In der dritten Strophe nimmt die Sprecherin sodann die Rede an den Boten wieder auf. Lediglich der Schluß der vierten Strophe in C (wes wes s wil er da mit besweren mich / dc niem doch an mir geschehe.) hat erneut reflexiven Charakter, kommt als klagende Frage ohne Adressaten daher. Ihr Inhalt wird zwar, ebenso wie der Inhalt der zweiten Strophe, dem Boten als dem anwesenden Gegenüber bekannt, er ist aber nicht als Mitteilung für ihn und erst recht nicht als Mitteilung für den abwesenden Dritten ausgewiesen. An den Boten, nicht aber an den Mann, zu dem er geschickt wird, richtet sich dagegen das Lohnversprechen im zweiten Vers der vierten und damit letzten Strophe in C, das jedoch über seine pragmatische Dimension hinausgeht, indem es, darin dem Einsatz des Zeitadverbs schiere in 1,2 vergleichbar, Emotionalität preisgibt, 28

E ist hier gesondert zu betrachten. Hier lautet der entsprechende Vers: mı¯nen heizzet er die man. Statt mit einem Substantiv haben wir es mit dem Infinitiv eines Verbs zu tun, und anders als in den übrigen Handschriften ist davon die Rede, daß der Tod die Männer dazu verführt, zu minnen.

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etwas von den Gefühlen erkennen läßt, welche die Frau für den Mann hegt. Mit der (durch die Präsenz eines sprachlosen Gegenübers motivierten) Rede zu sich selbst, der Rede an dieses Gegenüber und der über den Boten zu vermittelnden Rede an den abwesenden Dritten operiert der Text demnach mit drei verschiedenen Ebenen der Versprachlichung einer weiblichen Innenwelt. Fluchtpunkt der in kommunikativer Absicht geäußerten Rede ist in b ein Bekenntnis der Zuneigung zum Mann, in C zusätzlich der Wunsch nach einer Begegnung mit ihm. Ihr künstlerisches Kapital schlägt die Liedfassung bC daraus, daß sich dieses kommunikative Ziel zwar auf der Ebene der Ansprache an den Boten zeigt, daß es für den Fall einer weitergehenden Veröffentlichung aber mit Restriktionen bedacht wird, Restriktionen, wie sie in relativ schlichter Form in der vierten Strophe formuliert sind (so bitte in das ers s o vber. / die rede dier ivngest sprach zv mir. / e dc ich in angesehe., 4,3–5), komplizierter, eingelassen in ein temporal-konditionales syntaktisches Gefüge in der dritten Strophe. In den reflexiven Passagen der Rede kommt hingegen eine zweite ›Stimme‹ zum Zuge, die, indem sie Minne mit Leid, Krankheit, Verderben und Tod in Verbindung bringt, als Widerpart zu der auf Fortführung einer existierenden Verbindung zum Mann drängenden ›Stimme‹ erscheint. Auf diese Weise erreicht der Text trotz seiner Beschränkung auf e i n e sprechende Instanz – anders als in MF XXVII/177,10 bleibt der Bote ja stumm – eine Dialogizität der Rede, die eine paradoxale Ausformulierung der Minneproblematik ermöglicht. In diesem Gegeneinander der beiden weiblichen ›Stimmen‹ stiftet die Fokussierung auf das Thema ›Reden und Schweigen‹ diskursive Kohärenz. Es geht vornehmlich um die Modellierung von Sprachhandlungen, um das sagen (1,2; 1,5; 3,5), das verjehen (3,1), das sprechen (3,7; 4,1; 4,4), das biten (4,3), das heizen (2,5) und das verbern der rede (4,3f.). In der hohen Dichte ihrer Verwendung lenken diese Verben die Aufmerksamkeit so stark auf das, was gesagt werden soll, sowie auf das, was auf gar keinen Fall oder nur unter bestimmten Umständen geäußert werden darf, daß auch bedeutungsoffenere Verben wie tuon (1,6) oder gern (2,1) aufgrund dieses Kontextes, in den sie gestellt sind, einem konkretisierenden Semantisierungsprozeß unterliegen, der das ihnen innewohnende Moment der sprachlichen Äußerung in den Vordergrund rückt. Die auf diese Weise erreichte Problematisierung des Sprechens und die Anstrengungen, die unternommen werden, die Rede zu regulieren, sollten indes nicht vergessen machen, daß die Absicht, sich mitzuteilen, nicht aufgegeben wird: Fluchtpunkt der weiblichen Rede bleibt, ich wiederhole es noch einmal, das Bekenntnis der Zuneigung und der Wunsch nach (erneuter) Begegnung. Darin sehe ich das Spezifikum der bC-Fassung. Für die Fassung Em liegen die Dinge anders.29 Gegenüber bC fehlt die dort an dritter Position überlieferte Strophe (= MF 3), während es sich bei den 29

In den folgenden Zitaten vertritt E die Fassung Em. Eigens hinweisen möchte ich auf

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Strophen 2Em (= MF 2) und 5E/4m (= MF 6) um Plusstrophen handelt. Neben dieser Differenz im Strophenbestand ist die Stellung der Strophe Des er gert (= 4E/5m/MF 5) von Belang, die in Em an das Ende eines insgesamt fünfstrophigen Ensembles rückt, in E an die vorletzte, in m an die letzte Position. Mit der Strophe 3bC (= MF 3) entfällt in dieser Fassung die Lizenz, der Zuneigung für den Mann unter bestimmten Bedingungen mit gebotener Vorsicht Ausdruck zu verleihen. Zwar spricht die Frau auch hier von aufrichs tiger Zuneigung (ich bin im von htze¯ holt. / vn¯ sehe in gerner denne de¯ liehten tac., 2,5f.), doch fällt dieses Geständnis sogleich der Selbstzensur anheim (daz aber du verswigen solt., 2,7). Wenn das Lied in der Fassung Em schließlich in einer vollständigen Tilgung weiblicher Rede mündet, so handelt es sich hierbei um eine radikale Variante dieser Selbstzensur, die durch die zweite Strophe vorbereitet erscheint. Diese Strophe doppelt zudem das auch in 3Em (= MF 4) vorhandene Bestreben, Herrin über das Reden und Schweigen des Mannes zu e sein (swa du mugest da leit in abe. / daz er mich der rede vergebe., 2,3f.; so bit e o in daz er verbere / rede die er iungest sprach zv mir., 3,3f.). Anders als in b, wo das Lied mit den Worten das sprich endet, steht am Schluß von Em das Verbot, auch nur ein einziges Wort dessen, was ausgesprochen wurde, weiterzugeben. Der Auftrag an den Boten wird widerrufen, dieser zur Geheimhaltung verpflichtet und seiner angestammten Aufgabe, Übermittler von Nachrichten zu sein, enthoben. Wenn die Ablehnung männlicher Rede dazu führt, daß die weibliche Rede, die doch auf eine Regulierung männlicher Rede aus war, sich selbst ausstreicht, haben wir es mit einer Variation der lyrischen Versprachlichung paradoxer Sachverhalte zu tun, von der die Texte Reinmars bekanntlich in ganz besonderem Maße leben. Einsichtig gemacht wird diese Wendung mit Hilfe der Strophe 4E/5m (= MF 5): Die Reflexion auf die vom Wollen und vom Reden des Mannes ausgehende existentielle Gefährdung liefert die Begründung für das Verstummen der Frau, ihm vorangestellt und somit in vorbereitender Funktion in E, ihm nachgeordnet und somit in explizierender Funktion in m.30 Nicht von ungefähr habe ich die Analyse der beiden Fassungen von MF XXVIII/178,1 auf die Thematik des Redens und Schweigens konzentriert. Im Hintergrund steht die Überzeugung, daß der Versuch, das besondere Profil des Reinmarschen Minnesangs herauszuarbeiten, bei der offenkundigen Relevanz anzusetzen hätte, die dieser Thematik im Reinmar-Corpus zukommt. Da sie auch und insbesondere in jenen Texten hervortritt, die stets zum Kernbestand Reinmarscher Lyrik gerechnet worden sind, hätte das Projekt einer

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die in E 4,4–5 versus m 5,4–5 und E 5,1–4 versus m 4,1–4 zu verzeichnenden Differenzen. Dagegen hilft diese Reflexion in der Fassung bC, die Einschränkungen zu verstehen, unter die zunächst die Äußerungen der Frau, sodann die Rede des Mannes gestellt werden sollen.

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überfälligen und seit langem geforderten Revision des Reinmar-Bildes ihr in verstärktem Maße Beachtung zu schenken.31 Die Frauenlieder können einen ersten Eindruck von der Prominenz der Thematik vermitteln. Sie wird zu einem nicht unerheblichen Teil über die verwendete Lexik transportiert, die in auffallender Häufigkeit auf Wortmaterial zurückgreift, mit dem sprachliche Handlungen oder Reaktionen auf solche bezeichnet werden. Ich gebe einige Hinweise, die das ergänzen können, was oben zu MF XXVIII/178,1 ausgeführt wurde. MF XXVII/177,10 (Sage, daz ich dirs iemer loˆne) ist von den folgenden Verben resp. verbalen Ausdrücken durchsetzt: s a g e n , j e h e n (1,1: Sage, daz ich dirs iemer loˆne; 1,3f.: ist ez waˆr und lebt er schoˆne, / als si sagent und ich dich hoere jehen?), g e b i e t e n (1,6: sıˆn herze staˆt, ob irz gebietent, iemer hoˆ; 3,6: oweˆ, gebiute ichz nuˆ, daz mac ze schaden komen; 4,1: Ist aber, daz ichs niene gebiute), v e r b i e t e n (2,1: Ich verbiute ime vröide niemer), e i n e r e d e l aˆ z e n (2,2: laˆze eht eine rede, soˆ tuot er wol), b i t e n (2,3: des bite ich in hiut und iemer; 3,3: ez ensıˆ ob ich ins biten welle?), v e r s a g e n (2,4: deme ist alsoˆ, daz manz versagen sol), v e r r e d e n (2,5: Vrowe, nuˆ verredent iuch niht), s p r e c h e n (2,6: er sprichet: allez daz geschehen sol, daz geschiht), g e l o b e n , l i e t g e s i n g e n (3,1f.: Haˆt aber er gelobt, geselle, / daz er niemer meˆ gesinge liet), v e r n e m e n (3,5: Ouch mugent irz wol haˆn vernomen), v e r v l u o c h e n (4,3: und vervluochent mich die liute), v r i u n t m i t r e d e g e w i n n e n (5,1f.: Daz wir wıˆp niht mugen gewinnen / vriunt mit rede, si enwellen dannoch meˆ). Für MF XXXVII/186,19 (Ungenaˆde und swaz ie danne sorge was) lautet die noch um einige Substantive erweiterte Liste: r aˆ t e n , s p r e c h e n (1,4–6: raˆt ein wıˆp, diu eˆ von senender noˆt genas, / mıˆn leit, und waer ez ir, / waz si danne sprechen wolde; 3,1: Als ich eteswenne in mıˆme zorne sprach; 3,9f.: mir ist lieber, daz er bite, / danne ob er sıˆn sprechen lieze), v e r s p r e c h e n (1,7f.: Der mir ist von herzen holt, / den verspriche ich seˆre), g u o t e s m a n n e s r e d e v e r n e m e n (2,4: guotes mannes rede habe ich vil vernomen), d i e r e d e v e r b i e t e n (2,7: Doˆ ich im die rede verboˆt), b i t e n (2,8: doˆne bat er niht meˆre; 3,9f.: mir ist lieber, daz er bite, / danne ob er sıˆn sprechen lieze), d i e r e d e v e r m ˆı d e n (3,2: daz er die rede vermite), e i n e m w o l s p r e c h e n (4,5: soˆ wol als er mir sprach), v e r n e m e n (5,1: Alle, die ich ie vernam und haˆn gesehen), v o n w ıˆ b e n w o l und n aˆ h e s p r e c h e n (5,2f.: der keiner sprach soˆ wol / noch von wıˆben nie soˆ naˆhen), l o p (5,4: waz wil ich des lobes?), s p a e h e r e d e (5,5f.: sıˆn spaehe rede in sol / lützel wider mich vervaˆhen), h o e r e n , s a g e n (5,7: Ich muoz hoeren, swaz er saget). MF XLIV/192,25 (Deˆst ein noˆt) arbeitet mit den folgenden Wörtern: s t r ıˆ t (im Sinne einer stürmischen Werbung) (2,3: wolt er laˆzen nuˆ den strıˆt!), e i n e s d i n g e s g e r n (2,4f.: wes gert er meˆre, wan daz ich im holder bin / Danne in al der werlte ein wıˆp?), w e l l e n (2,6f.: nu wil er – daz ist mir ein noˆt –, / daz ich durch in die eˆre waˆge und ouch den lıˆp), e i n e n e i n e s d i n g e s n i h t e r l aˆ n (3,1: Des er mich nu niht erlaˆt), s c h oˆ n e r e d e n (3,5: Ein alsoˆ schoˆne redender man), v e r s a g e n (3,6: wie möhte ein wıˆp dem iht versagen), w i d e r e i n e n s p r e c h e n , s p r e c h e n (4,1f.: Schoˆne kan er im die stat / gevüegen, daz er sprichet wider mich; 5,3: weˆ, war umbe spriche ich daz?), b i t e n (4,3f.: zeinen zıˆten er mich bat, / daz ich sıˆnen dienest naeme; daz tet ich), z ü r n e n (5,3f.: weˆ, war umbe spriche ich daz? / jaˆ zürne ich aˆne noˆt), v e r s a g e n (5,5: 31

Vgl. Helmut Tervooren, Brauchen wir ein neues Reinmar-Bild? Überlegungen zu einer literaturgeschichtlichen Neubewertung hochhöfischer deutscher Lyrik, GRM 67, N.F. 36 (1986), S. 255–266.

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Dicke haˆt ich im versaget), k l a g e n (5,6f.: doˆ tet er als ein saelic man, / der sıˆnen kumber alles uˆf genaˆde klaget).

Dieses Sprachmaterial wird in den Frauenliedern genutzt, um eine Auseinandersetzung mit männlicher rede zu inszenieren. Die situative Verankerung dieser Auseinandersetzung ist entweder das Gespräch einer Frau mit einem Boten oder das Selbstgespräch. Eine Auffächerung der Thematik erfolgt über rekurrente Motivkonstellationen, mit deren Hilfe verschiedene Problemstellungen identifizierbar werden. Fokussiert wird zunächst eine rede des Mannes, die so geartet ist, daz manz versagen sol (MF XXVII, 2,4). Es bleibt in diesem Zusammenhang bei Andeutungen, die sich in der Summe allerdings zu dem Eindruck verdichten, daß es bei der inkriminierten rede um eine rhetorische Transgression des werbenden Sprachspiels geht, um eine Artikulation männlichen Begehrens, welche auf die Gewährung des Liebesvollzugs drängt. Daz wir wıˆp niht mugen gewinnen / vriunt mit rede, si enwellen dannoch meˆ klagt die Dame in MF XXVII, 5,1f. und setzt entschlossen hinzu: ich enwil niht minnen (5,3). Im Modus der Klage wird der Inhalt der männlichen Rede auch in MF XXVIII/178,1 behandelt: als etwas, was die Sprecherin belastet, eine Forderung nach minne, die unsinnig ist, da sie ihr im Bewußtsein um ihr Gefährdungspotential ohnehin niemals nachkommen wird (4,6–5,7). minne ist ein soˆ swaerez spil, / daz ichs niemer tar beginnen, heißt es in MF XXXVII, 4,9f., und dementsprechend wird auch hier der Vorsatz verkündet, der Verführungsmacht männlicher Rhetorik mit Standhaftigkeit zu begegnen: guotes mannes rede habe ich vil vernomen; / der werke bin ich vrıˆ, / soˆ mich iemer got behüete (2,4–6). In MF XLIV/192,25 kategorisiert die Frau die werbende Rede des Mannes als strıˆt (2,3), als ein Verlangen, das sich mit ihrer Zuneigung allein nicht zufriedengibt, sondern eine Form des Entgegenkommens einfordert, die sie als Bedrohung ihrer eˆre, ja ihrer Existenz einstuft (2,4–7). Des weiteren loten die Texte die tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Möglichkeiten aus, der unerwünschten rede Einhalt zu gebieten, und sie werfen dabei die Frage auf, welcher Spielraum für ein verbales Verhalten zu Gebote steht, das als adäquate Entgegnung dieser rede gelten könnte. So wird die vorsichtige, gleichwohl entschiedene Bitte erwähnt, die bedrängende rede zu unterlassen (MF XXVII, 2,2–4). Daß der Mann dieser Bitte entspricht, wird in MF XXVIII zur Voraussetzung einer (erneuten) Begegnung mit ihm (MF XXVIII, 4,1–5; vgl. 2,3f.) erklärt. Schärfere Töne schlägt das Lied Ungenaˆde und swaz ie danne sorge was (MF XXXVII/186,19) an: Hier erinnert sich die Sprecherin an ein zornig aufgeladenes Redeverbot (2,7; 3,1f.), das sie mit Erfolg verhängen konnte: doˆne bat er niht meˆre (2,8) – um sich zugleich die verheerenden Auswirkungen ihrer Maßnahme auf den geliebten Mann vor Augen zu führen, eine noch niemals bei jemandem wahrgenommene jaemerlıˆche site, die sie als Beweis für die Authentizität seiner Gefühle wertet (3,4–6). Mit der qualvollen Evokation dieses inneren Bildes ist der Punkt erreicht, an dem sich das Redeverbot

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gegen sie selbst zu richten beginnt und daher aufgehoben werden muß: mir ist lieber, daz er bite, / danne ob er sıˆn sprechen lieze (3,9f.); Ich muoz hoeren, swaz er saget (5,7). Der intime Kommunikationsraum, in dem das gesprochene Wort vor unerwünschter oder unkontrollierter Veröffentlichung geschützt bleibt, ermöglicht die Formulierung fiktiver weiblicher Herzensgeheimnisse: eines Ausgeliefertseins an die Macht der Gefühle, welches bislang als gültig erachtete Maßstäbe des Verhaltens zur Disposition stellt. Ein Höchstmaß an innerer Zerrissenheit führt das Lied MF XXXVII/186,19 vor, ein Monolog, der widersprüchliche Empfindungen und Vorsätze in einer dichten Folge von revocationes zum Ausdruck bringt. Für die Destabilisierung und Depotenzierung der Frau wird hier nicht zuletzt die Qualität der männlichen rede verantwortlich gemacht, die Anerkennung und Lohn verdient hätte (4,1–5): Mir ist beide liep und herzeclıˆchen leit, daz er mich ie gesach oder ich in soˆ wol erkenne, sıˆt daz er verliesen muoz sıˆn arebeit, soˆ wol als er mir sprach.

spaehe nennt sie diese rede (5,5), kunstvoll, schön und in ganz außerordentlichem Maße bewegend (5,1–6): Alle, die ich ie vernam und haˆn gesehen, der keiner sprach soˆ wol noch von wıˆben nie soˆ naˆhen. waz wil ich des lobes? got laˆze im wol geschehen. sıˆn spaehe rede in sol lützel wider mich vervaˆhen.

Daß diese spaehe rede, welche die Frau unterbinden möchte und für die sie sich gleichzeitig so empfänglich zeigt, letztlich auf rhetorisch stilisierte Texte bezogen werden soll, die im öffentlichen Gesangsvortrag zur Geltung gebracht werden, auf Minnesang somit,32 legt insbesondere das Dialoglied MF XXVII/177,10 nahe.33 Hier läßt sich die Sprecherin bestätigen, daß der vil liebe[] man (1,2) die Wiederaufnahme seines Gesangs von ihrer Bitte abhängig gemacht hat – um sodann in klagendem Gestus ihre dilemmatische Situation zu explizieren. Folgt sie diesem Ansinnen − daz mac ze schaden komen (3,6); tut sie es aber nicht, sind die negativen Konsequenzen ebenso unabweisbar, da ihr die Beglückung fehlen würde, die sie durch ihn erfährt, und man überdies ihr die Schuld dafür gäbe, daß al der welte ihre vröide genommen wäre: oweˆ, nu enweiz ich, obe ichz laˆze oder ob ichz tuo (4,1–6). Indem das Lied, wie hinlänglich bekannt, explizite 32 33

Vgl. Kasten, Frauenlied [Anm. 7], S. 124. Weitere Textstellen, die in diesem Zusammenhang genannt werden könnten, sind MF XXVII,3,5/177,26 und XLIV,1,1f./192,25f.

Die Wort gewordene Frau

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Referenzen auf Reinmars Manneslied XIII/163,23 (Mich hoehet, daz mich lange hoehen sol) enthält, lädt es u. a. dazu ein, den eloquenten Verführer, den die Frauenlieder heraufbeschwören, mit dem Ich-Sprecher des Mannesliedes zu identifizieren.34 Auf diese Weise öffnet es ein Fenster zu einem insgesamt sehr viel breiter angelegten poetologischen Diskurs über die Kunst der rede, zu dem die Frauenlieder interessante Facetten beitragen und über den die ›programmatische Identität‹ der Reinmarschen Lyrik wohl am ehesten zu fassen wäre.35

34 35

Vgl. Anm. 16. Vgl. dazu Elke Brüggen, Meisterschaft und Ohnmacht des Wortes. Zur poetologischen Dimension von Reinmars Lyrik (in Vorbereitung). – Für Korrekturdurchgänge danke ich Marcus Breyer, Christine Bücken, Ann-Kathrin Deininger, Ina Elsing, Susanne Flecken-Büttner und Peter Glasner.

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Elke Brüggen

Anhang Text nach b (pag. 101) 1

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5

Lieber botte nv wirbe also. sihe in schiere vn¯ sage ime das. vert er wol vn¯ ist er fro. ich lebe iemer deste bas. sage ime dvrch den willen min. o das er iemer solhes iht getv. da von wir geschaiden sin. Des er gert das ist der tot. vn¯ verderbet manigen lip. blaich vn¯ etteswenne rot. alse verwet es dv wip. minne haissent es die man. vn¯ mohte bas vnminne sin. we ime ders alrest began. E das dv iemer ime veriehest. das ich ime holdes herze trage. so sihe das dv alrest besehest. vn¯ vernime was ich dir sage. main er wol mit trvwen mich. e swas ime danne mvge ze vroden komen das min ere si das sprich.

Text nach C (fol. 103ra/b) 1

5

2

Lieber botte nv wirbe also. sihe in schiere vn¯ sage im das. vert er wol vn¯ ist fro. ih lebe iemer deste bas. sage im dvrh den willen min. o dc er iemer solhes iht getu da vo¯ wir gescheide¯ sin. Des er gert dc ist der tot. s vn¯ vderbet manige¯ lib. bleich vn¯ eteswe¯ne rot. also verwet es du wib. 5 mı¯ne heissent es die man. e vn¯ mohte bas vnmı¯ne sin we im ders alrerst began.

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Die Wort gewordene Frau s

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E das dv iemer ims viehest. dc ich im holdes hze trage. so sich dc dv alrerst besehest. s vn¯ vnim was ich dir sage. meı¯ er wol mit truwe mich. e swas im da¯ne mvge ze froiden kome¯ das prich. Spreche er dc er welle her. s dc ichs iem lone dir. s so bitte in das ers vber. o die rede dier ivngest sprach zv mir. e dc ich in angesehe. wes wes wil er da mit besweren mich s dc niem doch an mir geschehe.

Text nach E (fol. 181vb–182ra) 1

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5

Lieber bote nu wirbe also. gesprich in schiere vn¯ sage ime daz. e fert er wol vn¯ lebt er wol schone. ich var immer deste baz. bit in durch den willen min. s o daz er imm iht getu do von wir gescheiden sin. Frage er wie ich mich gehabe gihe daz ich mit frauden lebe. e swa du mugest da leit in abe. daz er mich der s rede vergebe. ich bin im von htze¯ holt. vn¯ sehe in gerner denne de¯ liehten tac. daz aber du verswigen solt. e

3

5

Sprech er daz er wolle her. daz iz immer lone dir. so bit in daz er verbere e o rede die er iungest sprach zv mir. so mac ich in angesehen. waz wil er da mite beswert er mich daz doch nimmer mac geschehen. t

4

5

Des er gert daz ist der tao. s vn¯ hat vderbet manigen lip. bleich vn¯ etswe¯ne rot. also verwet er die wip. mı¯nen heizzet er die man. e ez mohte baz vmminne sin. so we im ders alrest began.

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Elke Brüggen

5

5

Daz ich also vil do von gerede daz ist mir leit. wenne ich was vil vngewon. so getaner erbeit. als ich taugenlichen trage. s dun solt im nimmer niht viehen. alles des ich dir gesage.

Text nach m36 (fol. 3r/v) o

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Leber bote nu werf also sprek en schir vn¯ saghe ym datz. vert her wol vn¯ ist her vro. ik lebe ym deste batz. vn¯ bite en dorch den willen myn. o dat her nymber des icht tu dar van wer ghe scheyden syn vraghet her dich we ik mich ir habe so gich datz ich mit vrouden lebe. war du mochst dar leyde en abe. dat her mich der rede vorhebe. ik byn ym von hertzen holt. vn¯ seghe en gherner den dene tach datz aber du vor swighen solt. Spricht her her wille komen here. des ik ymber lone dir. so bidde en dat her vor bere. rede de her iu¯ghest sprach to myr. so mach ik en an gheseen. dorch wat wil her besweren mich des doch nymber mach ghescheen. Dat her dar zo kan saghen von. dat tut myr we vn¯ ist myr leyt. went ik was des vil vnghe won. so sene¯tliker arebeyt. als ik nv toghe¯tliken traghe. du en solt ym nymber icht vor iehen. al des ik dir hir nv saghe

An den kursiv wiedergegebenen Stellen folgt der Text wegen der schlechten Lesbarkeit der benutzten Reproduktion des Fragments [Anm. 1] der Transkription Schmeiskys, in der nicht sicher zu entziffernde Wörter unterstrichen sind.

Die Wort gewordene Frau 5

5

Des her ghert dat ist der tot. vn¯ vor terbet menighen lip. bleck vn¯ ichteswanne rot. alzo verwet itz de wip. my¯ne heytze¯ itz de man. itz mochte bat vmmy¯ne heytzen. we ym deis al rest began

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Stefanie Schmitt

Werbung und Selbsterforschung Zur Beschreibung der inneren Befindlichkeit in provenzalischen und mittelhochdeutschen Minnekanzonen Die Befindlichkeit des (männlichen) lyrischen Ichs ist eines der zentralen Themen der mittelalterlichen Minnekanzone. Im Mittelpunkt steht meist die Klage über das mit der unerfüllten Sehnsuchtsliebe einhergehende Leid, das zu lindern nur in der Macht der Dame stünde. Für die Beschreibung dieser Befindlichkeit stehen zwei verschiedene Inszenierungsformen zur Verfügung: der an die Dame adressierte und damit in die liedinterne (fiktive) Kommunikation mit ihr als Adressatin eingebundene Appell und der monologische expressive Selbstausdruck, dessen vorrangiges Ziel darin besteht, einen Innenraum auszuleuchten. Während der appellativen, an die Dame gewendeten Beschreibung des inneren Zustands die Sprechhaltung ›ich liebe dich‹, also das Sprechen mit der Dame, korrespondiert, entspricht dem expressiven Selbstausdruck ein ›ich liebe eine Frau‹, also das Sprechen über sie. Der vergleichende Blick auf die Beschreibung der Befindlichkeit des Ich in provenzalischen und mittelhochdeutschen Minnekanzonen zeigt, daß in den Trobadorliedern beide Inszenierungsformen vertreten sind, während die deutschen Dichter auf eine Adressierung an die Dame verzichten und ganz auf expressiven Selbstausdruck setzen. Ich möchte an einigen Beispielen plausibel machen, daß der Gebrauch der Inszenierungsformen nicht zufällig ist, sondern als Indikator für unterschiedliche Redetraditionen1 in Trobadorlyrik und Minnesang aufgefaßt werden kann. Zur Überprüfung ziehe ich in einem zweiten Schritt mhd. Lieder heran, die deutliche inhaltliche Beziehungen zu provenzalischen Vorbildern aufweisen. Dabei bestätigt sich die eindeutige Präferenz der Minnesänger für den expressiven Selbstausdruck ohne liedinterne Adressierung. Das könnte darauf hinweisen, daß bei der ›Integration‹ von aus provenzalischen Liedern übernommenen Elementen der Einschreibung in die Redetraditionen des Minnesangs ein hoher Stellenwert zukommt und wichtiger sein kann als die Bewahrung des im Vorbild Vorgefundenen. Die Unterschiede bei der Integration des ›Fremden‹ ins ›Eigene‹ in der Lyrik lassen sich also bis zu einem ge1

Ich verwende ›Redetraditionen‹ hier als Arbeitsbegriff, der für eine Untersuchung im größeren Zusammenhang vor dem Hintergrund der Diskurstheorie präzisiert werden müßte. Zum Diskursbegriff vgl. Jürgen Fohrmann, Diskurs, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3., neubearbeitete Aufl., Bd. 1, hg. von Klaus Weimar [u. a.], Berlin 1997, S. 369–372.

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Stefanie Schmitt

wissen Grad mit den je anderen literarhistorischen Traditionen und Situationen erklären. Ich betrachte diese Unterschiede hier in erster Linie als literarisches Phänomen, ohne auszuschließen, daß sich die jeweiligen historischen und sozialen Bedingungen auf die Ausprägung der beiden literarischen Systeme auswirken.2 In der Forschung gehört die Erkenntnis, »daß der Minnesang Teil eines größeren, europäischen Diskurszusammenhanges war«,3 daß er »inhaltlich und formal maßgeblich geprägt [ist] durch die produktive Rezeption und Auseinandersetzung mit Modellen, die in der romanischen Literatur, in der Lyrik der Troubadours und Trouve`res, entwickelt worden waren«,4 zu den Selbstverständlichkeiten, die die Erforschung des Minnesangs und der mittelalterlichen europäischen Lyrik seit ihren Anfängen begleiten.5 Erstaunlicherweise ist jedoch der Untersuchung dieses »europäischen Diskurszusammenhangs« selbst wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden; die systematische Frage, wie sich der ›Diskurs der Trobadorlyrik‹ zum ›Diskurs des Minnesangs‹ verhält, bleibt noch zu stellen. Das hängt mit der einseitigen Ausrichtung der fast ausschließlich in der Germanistik beheimateten Erforschung des Verhältnisses von romanischer und mittelhochdeutscher Lyrik zusammen: Hier ist über die Jahre hinweg viel Energie investiert worden, um – weitgehend positivistisch – formale und inhaltliche Kontrafakturen6 und allgemein Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Lyrik der Trobadors und Trouve`res und der Minnesänger zu bestimmen. Als Konsens können noch immer die Punkte gelten, die Bumke schon 1967 in seinem Überblick zu den romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter zusammengestellt hat: 2

3

4 5

6

Vgl. Ingrid Kasten, Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur Entwicklung und Adaption eines literarischen Konzepts, Heidelberg 1986 (GRM-Beiheft 5). Ingrid Kasten, Minnesang, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3., neubearbeitete Aufl., Bd. 2 hg. von Harald Fricke [u. a.], Berlin/New York 2000, S. 604–608, hier S. 607. Kasten [Anm. 3], S. 608. Vgl. z. B. Friedrich Diez, Die Poesie der Troubadours. Nach gedruckten und handschriftlichen Werken derselben dargestellt, 2., vermehrte Aufl. von Karl Bartsch, Leipzig 1883 (Nachdruck Hildesheim 1966), S. 213–256; Karl Bartsch, Nachahmung provenzalischer Poesie im Deutschen, Germania 1 (1856), S. 480–482; Hans Spanke, Deutsche und französische Dichtung des Mittelalters, Stuttgart/Berlin 1943, S. 83–93. Friedrich Gennrich, Liedkontrafaktur in mhd. und ahd. Zeit, in: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, hg. von Hans Fromm, Darmstadt 1961 (WdF 15), S. 330–377; Ursula Aarburg, Melodien zum frühen deutschen Minnesang. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: ebd., S. 378–421; Silvia Ranawake, Höfische Strophenkunst. Vergleichende Untersuchungen zur Formentypologie von Minnesang und Trouve`relied an der Wende zum Spätmittelalter, München 1976 (MTU 51); Günther Schweikle, Minnesang, Stuttgart 1989 (SM 244), S. 43–50.

Werbung und Selbsterforschung

249

Die bei den Troubadours reich ausgebildete Terminologie der Vasallität fehlt in Deutschland fast ganz; das Dienstverhältnis der Minnesänger wird durch die allgemeineren Begriffe undertaˆn, eigen, dienest, genaˆde, hulde usw. ausgedrückt, die nicht auf eine formelle rechtliche Bindung zielen, sondern konventionelle Ergebenheitsausdrücke der höfischen Umgangssprache waren. Sicherlich spiegelt sich darin nicht nur ein Unterschied in der sozialen Struktur, sondern auch ein anderes Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit. Darauf deutet schon das Fehlen der Tornaden im deutschen Minnesang: Die in diesen Widmungsstrophen genannten ›Verstecknamen‹ der Geliebten und die Namen der Gönner und Gönnerinnen schlugen die Brücke zur literarischen Praxis des Frauendienstes, wie er an den Höfen Ermengardes von Narbonne, Eleonores von Poitou und ihrer Töchter bezeugt ist, den es jedoch in Deutschland nicht gegeben zu haben scheint. [...] Im Zusammenhang mit dieser Entwirklichung der Lyrik sind wohl auch die Veränderungen im höfischen Frauenbild zu sehen. Der Akzent verlagert sich bei den deutschen Dichtern von den körperlichen Vorzügen auf moralische und geistige Qualitäten, und das Bild der Dame wird noch stärker als in Frankreich typisiert und idealisiert 7

Dieses positivistisch ausgerichtete Zusammenstellen von Differenzen und Zusammenhängen findet sich auch noch in neueren Arbeiten: Deutlich erkennbar wird es im Kommentar zu Sayces Zusammenstellung der »Romanisch beeinflußte[n] Lieder des Minnesangs« und in ihrer um die Texte der provenzalischen und französischen Vorbilder ergänzten Ausgabe der Lieder Rudolfs von Fenis.8 Auch Touber stellt in seinen Arbeiten weitgehend positivistisch Verbindungen zwischen Troubadour- und Trouve`relyrik und Minnesang in bezug auf Themen und Motive, Gattungen und Strophenformen in den Vordergrund.9 Er legt dabei, nicht immer ausgesprochen, die Abhängigkeit des Min7 8

9

Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, Heidelberg 1967, S. 45. Romanisch beeinflußte Lieder des Minnesangs mit Übersetzung, Kommentar und Glossar, hg. von Olive Sayce, Göppingen 1989 (GAG 664); Rudolf von Fenis: Die Lieder. Unter besonderer Berücksichtigung des romanischen Einflusses, mit Übersetzung, Kommentar und Glossar hg. von Olive Sayce, Göppingen 1996 (GAG 633); kritisch dazu Robert Luff, Zum Problem der Verifizierbarkeit romanischer Einflüsse in der deutschen Minnelyrik des Hochmittelalters, PBB 124 (2002), S. 250–260, hier S. 252–259; Robert Luff, Rez. zu Sayce, Romanisch beeinflußte Lieder des Minnesangs, ebd., S. 162–166, hier S. 165f. z. B. Anton Touber, Deutsche und französische Lyrik des Mittelalters, in: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik, Festschrift für H. Birkhan zum 60. Geburtstag, hg. von Christa Tuczay [u. a.], Bern [usw.] 1998, S. 652–672.; Ders., Die Vasallität in der deutschen und französischen Lyrik des Mittelalters, Recherches germaniques 25 (1995), S. 3–12.; Ders., La France cache´e dans le Minnesang allemand, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire litte´raire au moyen aˆge, hg. von Ingrid Kasten [u. a.], Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 303–314.; Ders., Les sens occitans, cache´s dans la poe´sie des Minnesänger, in: Le Rayonnement des Troubadours. Actes du colloque de l’AIEO, hg. von Dems., Amsterdam 1998, S. 285–296.

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nesangs von der romanischen Lyrik nahe10 und setzt voraus, daß mit den Themen, Motiven, Gattungen und Strophenformen der romanischen Lyrik auch deren ›System‹ im Minnesang adaptiert werde; daß die übernommenen Elemente in einen neuen literarhistorischen Kontext integriert werden (müssen) und sich dabei verändern (können), wird nicht in Betracht gezogen. Dabei hat Schweikle schon 1980 auf die unterschiedliche Entwicklung von Minnesang und Trobadorlyrik hingewiesen: Bei der Bewertung der Beziehungen zwischen den beiden Bereichen [d. h. Trobadorlyrik und Minnesang, St.Sch.] wird immer unausgesprochen davon ausgegangen, es habe einen parallelen engen Kontakt zwischen beiden Kunstentwicklungen gegeben (mit einer zudem nur einseitigen Auswirkung auf den mhd. Sang). Zu beobachten sind aber in der mhd. Lyrik nach Hausen lediglich punktuelle Anstöße. Diese führten dann zu einer weitgehend eigenständigen Ausprägung der mhd. Lyrik. Erinnert sei an die (in der provenzalischen Lyrik nicht ebenso zu konstatierende) formale Vorherrschaft der Stollenstrophe, an die Pflege einer Gattung wie der des Wechsels, der im Provenzalischen kein Pendant hat, an das Fehlen andererseits bestimmter provenzalischer Gedichtgattungen wie Tenzone, Sirventes u. a. in der mhd. Lyrik nicht nur des 12. Jarhunderts. Und schließlich verdient auch Beachtung, daß die provenzalischen vidas und razos in der mhd. Tradition keine direkte Nachfolge gefunden haben.11

Insgesamt hat die Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit auf die Untersuchung systematischer Unterschiede zwischen der Lyrik der Trobadors und der Minnesänger gerichtet. Eine Ausnahme bildet die Studie von Ingrid Kasten, die die Ausprägungen des literarischen Konzepts ›Frauendienst‹ bei Trobadors und Minnesängern untersucht und zur Erklärung der Abweichungen auf die verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen rekurriert.12 Sie kommt zu dem Ergebnis, daß die Minnesänger die ethische Komponente des Frauendienstes in den Vordergrund stellen. Dies werde aus dem komplexen Zusammenspiel der veränderten Bedingungen der Produktion und Rezeption begreiflich, dessen Folge es auch ist, daß die Minnesänger den Frauendienst ausschließlich als Modell für die Regelung der Beziehung zwischen den Geschlechtern betrachten und, anders als die Trobadors, kein erkennbares Interesse an seiner politischen Dimension entfalten.13 10

11

12 13

Mehr als deutlich wird das in Touber, Les sens occitans [Anm. 9], S. 292f.: »Les Minnesänger sont les fils spirituels des troubadours. Ils ont he´rite´ de la lyrique occitane l’ide´al de courtoisie, auquel on acce`de par une bonne e´ducation et par les vertus cardinales que sont la constance, la mesure, le tact, la patience; ils en ont rec¸u e´galement presque tous les genres: le grant chant courtois, l’aube, la chanson de croisade, le sirvente`s –, les the`mes comme fin’amor, dezir, joi, sofrir, mezura, servir, merce, etc., et beaucoup de ses formes strophiques.« Günther Schweikle, Die frouwe der Minnesänger. Zu Realitätsgehalt und Ethos des Minnesangs im 12. Jahrhundert, in: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, hg. von Hans Fromm, Bd. 2, Darmstadt 1985 (WdF 608), S. 238–272, hier S. 243; vgl. am Beispiel der unterschiedlichen Ausprägung des Frauendienst-Gedankens auch Kasten [Anm. 2], S. 305. Kasten [Anm. 2]. Ebd., S. 204.

Werbung und Selbsterforschung

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Auch die Erschließung der mittelhochdeutschen Lieder, die »direkte inhaltliche Bezugnahmen auf romanische Vorbilder«14 aufweisen, bleibt lange vor allem positivistisch geprägt; ihre interpretatorische Auswertung setzt intensiv erst mit den Arbeiten von Volker Mertens ein.15 Mit der Arbeit von Nicola Zotz liegt jetzt die erste zusammenhängende Untersuchung dieser Lieder vor; die Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf die Rezeption von Motiven, Gedanken und Bildern in den deutschen Liedern, um »zu erkennen, wie das Fremde ins Eigene aufgenommen wird.«16 Das Interesse gilt der Frage, wie sich »der Kontakt [zwischen den Literaturen, St.Sch.] zwischen dem Fremden und dem Eigenen im Einzelfall gestaltet«;17 einen »Systemvergleich«, der »viele Dichter und ihre Lieder in den Blick nehmen« und »die Ausprägungen der romanischen und der deutschen Dichtungskonzeption vergleichen«18 kann, klammert die Autorin bewußt ebenso aus wie die Unterschiede zwischen provenzalischer und französischer Lyrik.19

I. In der Trobadorlyrik gibt es im Hinblick auf die liedinterne Sprechhaltung mehrere Inszenierungsformen für die Befindlichkeit des Ich: als monologischer Selbstausdruck oder als an die Dame adressierter Appell; möglich ist auch eine Kombination in einem Lied.20 Bernarts von Ventadorn ›Lerchenlied‹ zeigt die expressiv-monologische Variante: Der Zustand des lyrischen Ichs wird in Form einer »intensive[n] Selbst14

15

16 17 18 19 20

Nicola Zotz, Inte´gration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang, Heidelberg 2005 (GRM-Beiheft 19), S. 10. Volker Mertens, Dialog über die Grenzen: Minnesänger – Troubadours – Trouve`res. Intertextualität in den Liebesliedern Rudolfs von Fenis, in: Kritische Fragen an die Tradition. Festschrift für Claus Träger zum 70. Geburtstag, hg. von Marion Marquardt [u. a.], Stuttgart 1997, S. 15–41.; Ders., Kontrafaktur als intertextuelles Spiel. Aspekte der Adaptation von Troubadour-Melodien im deutschen Minnesang, in: Le Rayonnement des Troubadours. Actes du colloque de l’AIEO, hg. von Anton Touber, Amsterdam /Atlanta 1998, S. 269–283.; Ders., Intertristanisches – Tristan-Lieder von Chre´tien de Troyes, Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke, in: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991, Band 3: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis, hg. von Johannes Janota, Tübingen 1991, S. 37–55. Zotz [Anm. 14], S. 13. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 14. Siehe die Interpretation von Folquet de Marseille in Abschnitt IV.

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erforschung«21 detailliert ausgeleuchtet. Die das ganze Lied durchgehaltene Monologizität korrespondiert mit der durch das abweisende Verhalten der Dame provozierten Absage an diese und unterstreicht so den beklagten Zustand der Kontakt- und Kommunikationslosigkeit: Pus ab midons no·m pot valer precs ni merces ni·l dreihz qu’eu ai, ni a leis no ven a plazer qu’eu l’am, ja mais no·lh o dirai. Aissi·m part de leis e·m recre; mort m’a, e per mort li respon, e vau m’en, pus ilh no·m rete, chaitius, en issilh, no sai on.22 (»Da mir nicht Werbung und nicht Gnade und nicht das Recht, das ich habe, bei meiner Dame von Wert sein kann / und es ihr nicht angenehm ist [wörtl.: zum Gefallen gereicht], / daß ich sie liebe, werde ich es ihr niemals mehr sagen. / So trenne ich mich von ihr und sage mich (von ihr) los; / sie hat mich getötet, und als Toter [oder: durch den Tod] antworte ich ihr, / und ich gehe, da sie mich nicht [in ihrem Dienst] behält, / unglücklich fort ins Exil, ich weiß nicht wohin.«)23

Die vollständige Abhängigkeit des passiven, leidenden Ich von der Dame kulminiert darin, daß sie Herrin über sein Leben oder seinen Tod ist. Es steht ganz in ihrer Macht; es ›erleidet‹ die Liebe buchstäblich und ist nur zur Reaktion, nicht zur Aktion fähig. Besonders klar kommt die Aktivität der Dame in der Beschreibung des ersten Blickkontakts zum Ausdruck, der als von ihr initiiert dargestellt wird: Sie läßt das Ich in den Spiegel ihrer Augen sehen.24 Anc non agui de me poder ni no fui meus de l’or’ en sai que·m laisset en sos olhs vezer en un miralh que mout me plai. (V. 17–20) (»(Noch) niemals hatte ich Macht über mich, noch war ich der meine von der Stunde an [...], da sie mich in ihren Augen in einen Spiegel sehen ließ, der mir sehr gefällt.«)25

21

22

23

24 25

Michael Bernsen, Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter. Eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca, Tübingen 2001 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 313), S. 144; vgl. die ausführliche Interpretation des ganzen Liedes ebd., S. 138–144. Zitiert nach: Bernard de Ventadour, Chansons d’Amour, Edition critique avec traduction, introduction, notes et glossaire par Moshe´ Lazar, Paris 1966, hier : Nr. 31, V. 49–56. Übersetzung von Dietmar Rieger in: Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I. Lieder der Trobadors. Provenzalisch /Deutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von D. R., Stuttgart 1980, S. 111. Vgl. ähnlich auch im unten besprochenen Lied Guilhems de Cabestain (Abschnitt III). Übersetzung: Rieger [Anm. 23], S. 109.

Werbung und Selbsterforschung

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Der von der Dame verursachte Verlust von Herz und Selbst in der Liebe führt in letzter Konsequenz zum Weltverlust nach deren Ende:26 Tout m’a mo cor, et tout m’a me, e se mezeis e tot lo mon; e can se·m tolc, no·m laisset re mas dezirer e cor volon. (V. 13–16) (»Sie hat mir mein Herz weggenommen und mich mir weggenommen und sich selbst und die ganze Welt; und als sie sich mir wegnahm, ließ sie mir nichts als Sehnsucht und ein begehrendes Herz.«)27

In Bernarts Lied korrespondieren die hoffnunglose Beziehungslosigkeit zwischen Ich und Dame und die monologische Sprechhaltung des Liedes, so daß die Isolierung des Ich durch die Trennung von der Dame betont wird. Umgekehrt verbindet sich in einem Lied von Rigaut de Barbezieux der Wunsch, Kontakt mit der Dame aufzunehmen, mit der Adressierung der Beschreibung seines inneren Zustands an die Angebetete. Die Apostrophen ziehen sich in der Anrede in der zweiten Person Plural und im regelmäßig zu Beginn des siebten Verses jeder Strophe wiederholten Senhal Mielhs-de-Domna konsequent durch das ganze Lied bis in die Tornada. Die Kommunikation mit der Dame bleibt jedoch fiktiv und findet nur in der Vorstellung bzw. im Traum des lyrischen Ichs statt, denn es betont mehrfach, daß es nur davon träume, sie um ihre Liebe zu bitten (E’us cug prejar, e non fatz, mais consir, V. 11)28 und sich eher tötete, als seine Bitten an sie zu richten: Leu pogratz de mi pensar Qu’anz m’auceria Que’us preges, car non aus. (V. 26–28) (»Ihr könnt beruhigt von mir denken, daß ich mich eher tötete, als Euch zu bitten, denn ich wage es nicht.«)

In dieser fiktiven Wendung an die Dame, die unterstreicht, wie sehr das lyrische Ich in seinen Gedanken auf sie bezogen ist, werden ausführlich die Wirkungen dargelegt, die sie auf das Ich ausübt: Die intensive Betrachtung ihrer freundlichen Person läßt es sich selbst vergessen (V. 7–10), ihre lieblichen Blicke finden 26

27 28

Kasten [Anm. 2], S. 186f.; Erich Köhler, Zur Struktur der altprovenzalischen Kanzone, in: Ders., Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania, München 1984, S. 28–45, hier S. 40f.; L[eslie] T. Topsfield, Troubadours and Love, Cambridge [usw.] 1975, S. 129; Christoph Huber, Ich – Du – Welt. Figurationen des Subjektiven im Minnesang, in: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hg. von Martin Baisch [u. a.], Königstein/Ts. 2005, S. 17–33, hier S. 19. Übersetzung Rieger [Anm. 23], S. 109. Zitiert nach: Anthologie des Troubadours, textes choisis, pre´sente´s et traduits par Pierre Bec, Paris 1979, Nr. 21. Übersetzung: »Und ich glaube Euch zu bitten und tue es nicht, sondern träume.« Alle nicht namentlich gekennzeichneten Übersetzungen stammen von mir.

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durch seine Augen den unumkehrbaren Weg in sein Herz, wo es sie sorgfältig hütet (V. 12–15), der in seinem Herzen eingeschlossene freudvolle, süße Gedanke an die umfassende Vortrefflichkeit und Schönheit der Angebeteten spendet Trost bei Traurigkeit (V. 29–44). Die fiktive Öffnung der Befindlichkeit für die Dame imaginiert sie als Gegenüber und die Beziehung zu ihr als zwischenmenschliches Verhältnis, dessen Unrealisierbarkeit gleichzeitig präsent gehalten wird. Die Apostrophen an die Dame, die sich in zahlreichen provenzalischen Liedern finden, adressieren die Beschreibung des inneren Zustands in der liedinternen Kommunikationssituation an die ›richtige‹ Adresse: an diejenige, die auf sie einwirkt und in deren Macht es auch läge, das Leid des lyrischen Ichs zu lindern. Auf diese Weise wird eine lebensweltlich-situative Einbettung evoziert. Diese Ausrichtung des Singens auf die Dame schlägt sich auch darin nieder, daß der Wunsch nach Mitteilung an die Dame in den Tornadas häufig als Motivation für das Singen genannt wird.29 Das Lied übernimmt als Bote die Funktion der Vermittlungsinstanz zur Dame: Chansoneta, ar t’en vai a Mo Frances, l’avinen, cui pretz enans’ e melhura. (Bernart de Ventadorn, Lied XV, V. 49–51) (»Liedchen, geh jetzt fort zu Mon Franc¸ais, der Liebenswürdigen, deren Verdienst sich vermehrt und erhöht.«)

oder A la bela t’en iras, ma chansos, e digas li que sai sui de joi blos, si no·m reve qualsque bona jauzida.30 (»Zu der Schönen wirst du gehen, mein Lied, und sollst ihr sagen, daß ich hier ohne Freude bin, wenn mich nicht irgendeine gute Fröhlichkeit erfreuen wird.«)31

Das Lied ist Gabe und Botschaft in einem.32 Doch nicht nur in den Tornadas wird das Lied zum Kommunikationsmedium mit der räumlich fernen Dame. 29

30

31 32

Vgl. Beate Kellner, Ich grüeze mit gesange – Mediale Formen und Inszenierungen der Überwindung von Distanz im Minnesang, in: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, hg. von Albrecht Hausmann, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 107–137, hier S. 133–137; Rainer Warning, Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion, in: Funktionen des Fiktiven, hg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser, München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 183–206, hier S. 195–197. Zitiert nach: Trouve`res et Minnesänger, recueil de textes par Istva´n Frank, Saarbrücken 1952, Nr. 17b, hier V. 25–27. – Vgl. ähnlich die Tornadas bei Bernart de Ventadorn, ed. Lazar [Anm. 22], Nr. 4, 8, 34, 36, 41. Übersetzung: Zotz [Anm. 14], S. 227. Zum Lied als Gabe vgl. Folquet de Marseille Nr. 5, V. 39f.: [...] tan qu’en luec d’un ric do / denh escoutar ma veraia chanso. Zitiert nach: Le Troubadour Folquet de Marseille, e´dition critique par Stanislaw Stronski, Krakau 1910 (Nachdruck Genf 1968).

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Auch in den Liedern selbst wird das Singen als Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit der auf anderen Wegen nicht erreichbaren Dame thematisiert, z. B. bei Bernart de Ventadorn:33 Pois messatger no·lh trametrai ni a me dire no·s cove, negu cosselh de me no sai; mais d’una re me conort be; ela sap letras e enten, et agrada·m qu’eu escria los motz, e s’a leis plazia, legis los al meu sauvamen. (Nr. 40, V. 49–56) (»Wenn ich ihr weder einen Boten übersenden darf, noch es mir zusteht, mit ihr zu sprechen, weiß ich mir keinen Rat. Aber mich tröstet eins: Sie kann lesen und Geschriebenes verstehen und deshalb schreibe ich für sie die Wörter (meines Liedes), und wenn es ihr gefällt, möge sie sie zu meiner Rettung lesen.«)

Ein solches Singen oder Dichten für die Dame als Adressatin, mit der Motivation, ihr die Liebe des Ichs und sein daraus entstehendes Leid zu vermitteln, gibt es im deutschen Minnesang so gut wie nicht.34 Der Minnekanzone ist die Einbettung des Lieds in eine (fiktive) Kommunikationssituation mit der Dame weitgehend fremd. (Damit könnte auch zusammenhängen, daß es keine Geleitstrophen gibt: Sie wären unter diesen Umständen gewissermaßen funktionslos). Eines der wenigen Gegenbeispiele ist Kaiser Heinrichs Ich grüeze mit gesange (MF 5,16ff.), wo das Lied zum Mittel der Kontaktaufnahme mit der Dame avanciert.35 Es fungiert hier als indirekter Gruß an die unerreichbare Geliebte, der auch von Dritten übermittelt werden kann: Swer nu disiu liet singe vor ir, / der ich soˆ gar unsenfteclıˆch enbir, / ez sıˆ wıˆp oder man, der habe si gegrüezet von mir (I,5–7). Die Verlagerung auf den nach innen gerichteten Selbstausdruck in der klassischen Minnekanzone, die mit dem Verzicht darauf einhergeht, die Beschreibung der inneren Befindlichkeit an die Dame zu adressieren, läßt sich z. B. an Friedrichs von Hausen Lied von der Gedankenminne (MF 51,33ff.) zeigen. Die Ausgangssituation ist der des oben besprochenen Lieds von Rigaut de Barbe-

33 34

35

Übersetzung Zotz [Anm. 14], S. 91: »[...] so daß er anstelle eines kostbaren Geschenks mein aufrichtiges Lied hörend annehmen möge.« Vgl. Maria Luisa Meneghetti, Il pubblico dei trovatori. La ricezione della poesia cortese fino al XIV secolo, Torino 1992, S. 126–130; 153. Vgl. die Aufstellung von Motivierungen für das Singen bei Thomas Bein, Das Singen über das Singen. Zu Sang und Minne im Minnesang, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien Berichtsbände 17), S. 67–92, hier S. 80–82, in der dieser Aspekt fehlt. Vgl. die ausführliche Analyse bei Kellner [Anm. 29], S. 115–119; ebd., S. 123f. auch weitere Beispiele.

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zieux sehr ähnlich; auch bei Friedrich von Hausen gibt es eine Beziehung zur Dame nur in der Vorstellung, im Inneren des Ich.36 In diesem Innenraum läßt sich auch die Distanz zu ihr überwinden, freilich wird sie dabei gleichzeitig als tatsächlich unüberwindbar bestätigt. Das Ich gewinnt eine gewisse Erleichterung seines Kummers daraus (MF 52,27f.), daß es sich die Entfernung von der unerreichbaren Dame ›verkürzt‹, indem es sich zu ihr ›hindenkt‹ (MF 52,30) und ihr in Gedanken seinen Kummer klagt: Ich denke underwıˆlen, ob ich ir naˆher wære, waz ich ir wolte sagen. daz kürzet mir die mıˆlen, swenne ich mıˆne swære soˆ mit gedanken klage. (MF 51,33–52,2)

Gegenstand dieser gedanklichen Annäherung ist das Nachdenken darüber, was das Ich der Dame mitteilen, wie es ihr also seinen Kummer über seine aussichtslose Liebe klagen würde, wenn es ihr tatsächlich näher wäre. Doch das bleibt ein ins Innere des Ichs verschlossenes Gedankenexperiment, das nicht, wie es vor allem vor dem Hintergrund des provenzalischen Beispiels vorstellbar wäre, z. B. in eine an die Dame gerichtete fiktive Klage umgesetzt wird, sondern, wie die auf die Dame referierenden Personalpronomina der dritten Person deutlich machen, auf ein Nachdenken über sie (MF 52,16; 52,18f.; 52,30; 52,32f.;) und – vor allem in der zweiten und dritten Strophe – auf den Kummer der Minne beschränkt bleibt. Der Verzicht auf die Apostrophe an die Dame erweist sich im Hinblick auf die Konzeption der Liebe und die Rolle der Dame durchaus als folgerichtig. Anders als in den beiden provenzalischen Beispielen wird die Liebe ausschließlich als vom Ich ausgehend konzipiert. Die Wurzel allen Leides liegt darin, daß das Ich sich unverständig soˆ hoˆher minne / [...] underwunden (MF 52,7f.) habe und nun aufgrund seiner stæte daran festhalten muß: Mıˆn stæte mir nu haˆt daz herze alsoˆ gebunden, daz sıˆ ez niht scheiden laˆt von ir, als ez nu staˆt. (MF 52, 13–16)

Die Dame bleibt ein konturloses, unerreichbares und scheinbar nur in der Vorstellung des Ich existierendes ›Objekt‹ der auf sie gerichteten Minne des Ich, die nicht als zwischenmenschliche Beziehung entworfen wird. Die Beschreibung der dem Ich aus der Liebe erwachsenden Qual dringt nicht aus dem Innenraum 36

Vgl. Kellner [Anm. 29], S. 124f.; Klaus Grubmüller, Ich als Rolle. ›Subjektivität‹ als höfische Kategorie im Minnesang? in: Höfische Literatur. Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3.–5. November 1983), hg. von Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora, 6), S. 387–406, hier S. 399– 401.

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seiner Gedanken hinaus. Sie hat in der internen Sprechsituation des Liedes keinen Adressaten und bleibt als Selbstausdruck ganz nach innen gerichtet.37 Dabei wird eine wesentliche Differenz zur Monologizität bei Bernart von Ventadorn erkennbar: Während der Rückzug auf die »intensive Selbsterforschung«38 hier als sekundäres, als defizitär erfahrenes Phänomen eine Phase des Kontakts und der Kommunikation abzulösen scheint und durch die Situation der Lossagung von der Dame motiviert wird, gehört die räumliche und affektive Distanz zwischen Ich und Dame bei Friedrich von Hausen zur Ausgangskonstellation, deren Veränderung gar nicht denkbar zu sein scheint. Die Minne ist von vornherein etwas, das im Innern des lyrischen Ichs stattfindet. Die verschiedenen Ausprägungen der monologischen Inszenierung deuten weitere Unterschiede zwischen den Redetraditionen von Trobadorlyrik und Minnesang an, die die Konzeption der Beziehung zwischen Ich und Dame und, damit zusammenhängend, die Konzeption der Liebe betreffen, die im größeren Zusammenhang untersucht werden müßten.

III. An einigen mittelhochdeutschen Liedern, die inhaltliche Beziehungen zu romanischen Vorbildern aufweisen, lassen sich die Befunde erhärten: Während die Beschreibung des inneren Zustands in vielen Trobadorliedern an die Dame adressiert werden kann und dadurch Appellcharakter bekommt, nehmen die Minnesänger diese Adressierung an die Verursacherin des Minneleids zurück und ersetzen sie durch Selbsterforschung. Zwei in diesem Sinne verschiedene Inszenierungen zeigt der Vergleich von Walthers Wol mich der stunde mit Guilhems de Cabestanh Lo jorn qu’ie·us vi, dompna, primeiramen. Auch wenn die Beziehung zwischen den beiden Liedern lockerer ist als in anderen Fällen, reichen die formalen und inhaltlichen Übereinstimmungen aus, um anzunehmen, daß Walther das provenzalische Lied gekannt hat.39 Thematisch stehen die beiden Lieder nahe beeinander: Ein Ich reflektiert darüber, daß es seit dem Zeitpunkt des ersten Kontakts ganz von seiner Dame eingenommen ist, daß sich alle seine Gefühls- und Verstandeskräfte bei 37

38 39

Kellner [Anm. 29], S. 125, zufolge ermöglicht »diese Gedankenminne, die von körperlichen Liebesvollzügen unabhängig wird, [...] dem Ich eine neue und ungeheure Freiheit. Es ist die Freiheit eines Autors, so möchte ich postulieren, einer Autorschaft, welche sich die Liebe in Gedanken zu erschaffen vermag, auch ohne sie in konkreten Lebensvollzügen auszuagieren.« Bernsen [Anm. 21], S. 144. Sayce [Anm. 8], S. 224–226; 231f., bestreitet die Zuweisung an Walther und einen engeren Zusammenhang der Lieder. Zotz [Anm. 14], S. 75 sieht es als sicher an, »dass Walther Guilhems Lied gekannt hat«.

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ihr befinden, und drückt den Wunsch aus, daß die Dame gnadenhaft eine Erfüllung seiner Hoffnungen gewähren möge. In Guilhems Lied richtet sich die Beschreibung des Ich dialogisch an die in allen fünf Strophen und der Tornada wiederholt angesprochene Dame, wie z. B. in der ersten Strophe: Lo jorn qu’ie·us vi, dompna, primeiramen, quan a vos plac que·us mi laissetz vezer, parti mon cor tot d’autre pessamen e foron ferm en vos tug mey voler: qu’aissi·m pauzetz, dompna, el cor l’enveya ab un dous ris et ab un simpl’esguar, mi e quant es mi fezes oblidar.40 (»An dem Tag, als ich Euch, Herrin, das erste Mal sah, als es Euch gefiel, mich Euch sehen zu lassen, da löste ich mein Herz ganz von anderem Denken und alle meine Wünsche waren fest auf Euch gerichtet: Denn so setztet Ihr, Herrin, mir ins Herz das Verlangen mit einem süßen Lachen und einem bescheidenen Blick; mich und was mein ist, ließet Ihr mich vergessen.«)41

Die Klage über die unerfüllte Liebe richtet sich in der internen Sprechsituation also auch hier wieder an die ›richtige‹ Adresse: an diejenige, die den Kummer ausgelöst hat und die das Ich auch von seinem Leid erlösen könnte. Die konsequente Ansprache der Dame unterstreicht dabei die Intensität, mit der diese die Gedanken des Ich einnimmt.42 Das Lied bekommt den Charakter einer Handlungsaufforderung an die Dame, die hier auch recht präsent und aktiv erscheint. So führt das Ich etwa den ersten Kontakt auf ›Aktivitäten‹ ihrerseits zurück: Es konnte sie überhaupt nur sehen, weil sie sich hat sehen lassen (V. 2), ihr Blick und Lächeln lösten das Verlangen in seinem Herzen aus (V. 5f.); als Reaktion darauf richtet sich sein ganzes Wollen (voler) auf sie, es vergißt jeden anderen Gedanken (pessamen, V. 3) und sogar sich selbst (V. 7). In der zweiten Strophe sind es ihre Schönheit und ihr Verhalten (»angenehme Gesellschaft«, »höfische Rede«, »liebreizendes Gefallen«), die dem Ich alle intellektuellen und emotionalen Kräfte (sen) rauben. Wiederum reagiert es darauf, indem es der Dame seinen sen (den sie ja bereits besitzt) übereignet und sich selbst – als Zeichen vollendeter Liebe – in ihren Dienst begibt. In der vierten und fünften Strophe drückt sich die Abhängigkeit von der Dame darin aus, daß sie das in Erinnerung gerufene Versprechen beim Abschied gewähren könne, das dem Ich schon einmal Freude bereitet habe und aus dem es jetzt Hoffnung auf erneute Freude schöpfe. Hier kommt sie am stärksten als Partnerin ins Spiel. Das Ich, durch die Wirkung der Dame in deren Gewalt gekommen, stilisiert sich – an 40 41 42

Zitiert nach: Romanisch beeinflußte Lieder des Minnesangs [Anm. 8], S. 221–223, hier V. 1–7. Übersetzung: Zotz [Anm. 14], S. 66. Zotz [Anm. 14], S. 67.

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vielen Stellen durch lehnsrechtliche Begriffe (autrejar, mercejar, render) verstärkt und ›juristisch‹ konnotiert43 – als abhängig von deren Gnade und Entgegenkommen. Das Lied wird wieder zum Mittel einer (fiktiven) Kontaktaufnahme und Einwirkung auf die Dame; die Beschreibung der eigenen Befindlichkeit und des ›Selbstverlusts‹ in der Liebe wird dialogisch für die Dame geöffnet, ihr kommuniziert. Bei Walther hingegen bleibt die Beschreibung des inneren Zustands des Ich monologisch; die Dame ist Thema, nicht Adressatin und erscheint distanzierter, unerreichbarer: Wol mich der stunde, daz ich si erkande, / diu mir den lıˆp und den muot haˆt betwungen (L. 110,13f.).44 Besonders deutlich wird diese monologische Sprechhaltung im Aussparen der Anrede in der zweiten Strophe, wenn es um das geht, was der Sänger von der Gnade der Dame erhofft: daz müez uns beiden wol werden volendet, / swes ich getar an ir hulde gemuoten. (L. 110, 22f.). Die Bitte, deren Gegenstand nicht konkretisiert, sondern nur mit dem generalisierten Relativpronomen swes bezeichnet wird, richtet sich nicht direkt an die Dame, und es bleibt auch unklar, von wem eigentlich die Gewährung erhofft wird. Die Formulierung daz müez uns beiden wol werden volendet (L. 110, 22), die die Dame einschließt, impliziert eher eine dritte Instanz, z. B. Gott, nicht so sehr die Vorstellung, daß es in der Macht der Dame läge, das Erwünschte zu gewähren. Walthers Lied prägt in erster Linie der monologische, nach innen gewendete Selbstausdruck des Ich. Die Dame kommt zwar in ihren abstrakten Qualitäten (güete) und in den Wirkungen vor, die sie auf das Ich ausübt (diu mir den lıˆp und den muot haˆt betwungen), nicht jedoch als Angesprochene und gar nicht als Partnerin. Vorgestellt wird sie – zunächst scheinbar analog zum provenzalischen Lied – in der ersten Strophe als diejenige, die Körper und Herz des Ich in ihre Gewalt gebracht hat. Der erste Schritt, die Aktion, scheint hier allerdings wieder vom Ich auszugehen: Daß es seine Gefühls- und Verstandeskräfte (sinne) ganz auf sie gerichtet hat, bildet die Voraussetzung dafür, daß sie es der sinne beraubt. Ausgelöst wird das nicht, wie im provenzalischen Lied, durch ihren Anblick, sondern durch ihre Vortrefflichkeit (güete), also eine ethische Qualität. Ihre schœne und das liebenswürdige Lachen ihres roten Mundes kommen als zusätzliche Elemente ins Spiel, die bewirken, daß das Ich sich nicht von ihr trennen kann. Die eher abstrakte Charakterisierung der Dame setzt sich auch in der zweiten Strophe in ihrer Beschreibung als reine, liebe, guote fort, der das Ich muot und sinne zugewendet habe. Wie schon in der ersten Strophe und anders als im provenzalischen Lied ist dies wieder zuerst vom Ich aus gedacht. Auch in ihren 43 44

Zotz [Anm. 14], S. 67f. Zitiert nach: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neu bearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996, Nr. 78.

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Wirkungen auf das Ich, als Quelle der fröide (L. 110, 24), bleibt die Dame seltsam passiv, denn wieder gehen diese von ihren allgemein erwähnten moralischen und körperlichen Vorzügen (schœne und güete) aus, die auch nicht als spezifisch auf das Ich gerichtet erwähnt werden wie z. B. das bezaubernde Verhalten von Guilhems Dame in der zweiten Strophe. Erst an dritter Stelle kommt bei Walther das Lachen ihres roten Mundes ins Spiel, bei dem auch offen bleibt, inwieweit es dem Ich gilt und vielleicht eine Verbindung mit ihm herstellt.45 Im Vergleich zum provenzalischen Lied fällt auf, daß der durch die Liebe verursachte ›Selbstverlust‹, bei Guilhem in der lehnsrechtlich konnotierten Übereignung des sen an die Dame gipfelnd, bei Walther eine geringere Rolle spielt. Die Qualitäten der Dame berauben das Ich zwar seiner Sinne, aber eben erst, nachdem es sie ihr schon zugewendet hat. Auch wenn das Ich den Auswirkungen der Liebe und der Attraktivität der Dame ausgesetzt ist, bleibt es trotzdem in stärkerem Maße ›Herr seiner Selbst‹ als das Ich Guilhems, bei dem der Unterwerfungsgestus dominiert. Guilhems Lied wird mit der als Apostrophe an die Dame inszenierten Beschreibung in eine fiktive Werbungssituation hineingesprochen; Walthers Lied konzentriert sich auf den monologischen Selbstausdruck des Ich. Zotz zufolge kommt in den fehlenden Apostrophen bei Walther nicht eine größere Distanz, sondern »ein Einverständnis«46 zwischen Ich und Dame zum Ausdruck. Sie bringt die dialogische Sprechhaltung bei Guilhem damit in Verbindung, daß sein Lied ein Werbelied sei, mit dem der Kontakt zur Dame erst noch hergestellt werden müsse, während Walthers Sänger bereits fröide von der Dame erfahren habe und nicht mehr werben müsse.47 Doch in diesem Punkt unterscheiden sich die beiden Lieder eigentlich nur graduell: Weder deutet die von den Attributen der Dame ausgelöste fröide bei Walthers Ich auf eine Erfüllung der Sehnsucht oder auch nur einen engeren Kontakt zur Dame hin, noch gibt es bei Guilhem Hinweise auf eine gänzliche Fremdheit. Bei Walther wird das Verhältnis zwischen Ich und Dame nicht konkretisiert, es bleibt ganz offen, bei welcher Gelegenheit und unter welchen Umständen der Sänger sich am Lachen der Dame erfreut hat und ob es spezifisch für ihn bestimmt war.48 In Guilhems Lied hingegen wird ein Abschied, also ein persönlicher Kontakt, mit einem Versprechen seitens der Dame erwähnt (Str. 4). 45 46 47 48

Vgl. Zotz [Anm. 14], S. 73. Zotz [Anm. 14], S. 76. Zotz [Anm. 14], S. 76: »Im Unterschied zu Guilhems Lied hat seines [=Walthers, St.Sch.] nicht mehr den Zweck der Werbung zu erfüllen.« Bei Zotz [Anm. 14], S. 73; 76, schlägt die zunächst vorsichtige Argumentation ins Spekulative um: »Walthers Sänger hingegen hat Freude aus einem ganz anderen Grund: Ihm hat der rote Mund der Dame Freuden zugelacht, was mindestens das Versprechen einer Liebeserfüllung, wenn nicht sogar die Erfüllung selbst andeutet. Er muss an diese Freuden nicht glauben wie Guilhem, sondern hat sie bereits erfahren [...].«(S. 76).

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Das provenzalische Lied richtet sich an die Dame und bezieht sie als Handelnde ein, in deren Macht es liegt, das Ich zu erlösen. Der Ausdruck des Leids bekommt damit eine appellative Qualität und erscheint als Sprechhandlung, die die Dame ihrerseits zum Handeln – zur Annahme des Dienstes, der Erwiderung der Liebe etc. – auffordern soll. In Walthers Lied steht der expressive Selbstausdruck des Ich im Zentrum. Da die Liebesklage nicht Teil einer (fiktiven) Kommunikation zwischen Ich und Dame ist, hat sie keinen appellativen Charakter und bleibt monologisch, damit aber auch ganz auf das Ausleuchten eines Innenraums konzentriert. Ähnlich wie in den oben besprochenen Beispielen deutet die Gegenüberstellung der Lieder Guilhems und Walthers noch einmal unterschiedliche Konzeptionen der Liebe im provenzalischen und im mittelhochdeutschen Lied an: Bei Guilhem ist sie stärker von der Dame aus gedacht, auf deren Attraktivität das Ich reagiert; bei Walther erscheint sie als freilich von den Vorzügen der Dame beeinflußte ›Aktion‹ des Ichs.

IV. Der Verzicht auf die Adressierung der Innenreflexion an die Dame in Walthers Lied ist kein Einzelfall im Korpus der romanisch beeinflußten Lieder. Am Beispiel der dritten Strophe von Rudolfs von Fenis Gewan ich ze Minnen ie guoten waˆn (MF 80,1ff.), die motivisch in engem Zusammenhang mit der dritten Strophe eines Liedes von Folquet de Marseille steht, läßt sich noch einmal zeigen, daß die Anrede der Dame im deutschen Lied gezielt vermieden wird. Bei Folquet heißt es: Bona dona, si·us platz, siatz sufrens del ben q’ie·us vuel, q’ieu sui del mal sufrire, e pueis lo mals no·m poira dan tener anz m’er semblan qe·l partam egalmens; pero, si·us platz q’az autra part me vire, ostatz de vos la beutat e·l dous rire e·l bel semblan, que m’afollis mon sen: pueis partir m’ai de vos, mon escien! (Nr. 2, V. 17–24) (»Gute Herrin, ertragt doch, wenn es Euch gefällt, das Gute, das ich Euch wünsche, denn ich ertrage das Übel, und das kann mir dann keinen Schaden mehr zufügen, sondern es wird mir so vorkommen, als teilten wir es gleichmäßig; wenn es Euch aber gefällt, daß ich mich anderswo hinwende, tut von Euch die Schönheit und das süße Lachen und die schöne Erscheinung, die mir den Sinn betört: Dann fürwahr werde ich von Euch gehen.«)49

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Übersetzung: Zotz [Anm. 14], S. 197.

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In Rudolfs von Fenis Übertragung klingt das so: Mıˆn frowe sol laˆn nuˆ den gewin, daz ich ir diene, wan ich mac ez mıˆden; iedoch bitte ich si, daz siz geruoche lıˆden, soˆ wirret mir niht diu noˆt, die ich lıˆdende bin. Wil aber si mich von ir vertrıˆben, ir schœner gruoz scheid et mich von ir lıˆbe. noch dannoch vürhte ich meˆre, daz sıˆ mich von allen mıˆnen freuden vertrıˆbe. (MF 80,17–24)

In beiden Strophen äußert das Ich den Wunsch, daß die Dame seinen Dienst bzw. seine guten Wünsche annehmen möge. Festgelegt werden außerdem die Voraussetzungen für eine (von der Dame zu initiierende) Trennung: bei Folquet die Entäußerung von Schönheit, Lächeln und schöner Erscheinung, bei Fenis der gruoz. Da Fenis die Anreden der okzitanischen Strophe nicht übernimmt, geht auch hier der appellative Redegestus des provenzalischen Liedes verloren und wird durch eine monologische Beschreibung des Verhältnisses zwischen Ich und Dame ersetzt. Am deutlichsten erkennbar wird das im dritten Vers seiner Strophe, der dem ersten Vers von Folquet beinahe wörtlich entspricht: iedoch bitte ich si, daz siz geruoche lıˆden gegenüber Bona dona, si·us platz, siatz sufrens. Die Dame wird in der provenzalischen Strophe zur als mit dem Ich in Beziehung stehenden Partnerin stilisiert: In der Verteilung von Gutem und Schlechtem auf Dame und Ich und vor allem in der Vorstellung des gemeinsam geteilten mals, auch in der auf eine Art Selbstentäußerung hinauslaufenden Forderung, sie solle sich als Voraussetzung für eine Trennung von ihren betörenden Eigenschaften (Schönheit, Lächeln) lossagen. Die deutsche Strophe bleibt ganz auf die Befindlichkeit des Ich fokussiert. Es verspricht sich von einer Duldung seines Dienstes einen quasi schmerzfreien Kummer und fürchtet mehr als die Trennung von der Dame den Verlust jeglicher Freude, also höfischer Hochstimmung. Bei Folquet eröffnet die besprochene Strophe den an die Dame gerichteten zweiten Teil des Liedes, der sich über insgesamt drei Strophen und die erste Tornada erstreckt. Das Ich beschreibt hier die zunehmende Anziehungskraft, die die Dame auf es ausübt und es zur Selbstaufgabe treibt. In den beiden ersten Strophen hingegen denkt das Ich monologisch über die sein Herz völlig und ausschließlich einnehmenden, gleichzeitig süßen und quälenden Liebesgedanken nach. Da es von der Geliebten keine Hilfe erhoffen kann, sieht es sich dem Willen von Amors ausgeliefert, die ihn durch das in ihm geweckte Begehren töten wolle. Die Beschreibung der durch die Liebe zur Dame verursachten Qualen bekommt durch die Wendung an diejenige, in deren Macht sich nicht nur das Ich befindet, sondern in deren Macht auch eine Linderung des Kummers läge, eine besondere Eindringlichkeit. Die liedinterne Sprechsituation evoziert nicht nur

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das (hier freilich einseitige, mit einem stummen Gegenüber geführte) Gespräch mit der Geliebten als situatives Vorbild und damit einen kommunikativen Kontext für den Ausdruck der Befindlichkeit; sie verdeutlicht auch, wie sehr die Gedanken und Gefühle des Ich von der Dame eingenommen sind, wie stark es auf sie bezogen und in seinem Wunsch nach einer positiven Veränderung seines Zustands auch von ihr abhängig ist. Durch die Adressierung an die Dame bekommt der Selbstausdruck des Ich eine kommunikative Funktion und erschöpft sich nicht in sich selbst. Auch in einem weiteren von Folquet beeinflußten Lied nimmt Fenis die Apostrophe des Vorbilds zurück: In der zweiten Strophe von Mit sange waˆnde ich mıˆne sorge krenken (MF 81,30ff.), die Anklänge an die zweite Strophe von Folquets En chantan m’aven a membrar 50 aufweist, überführt Fenis das Sprechen mit der Dame im provenzalischen Lied in ein Sprechen über sie. Folquets: E pois Amors mi vol honrar / tant qu’el cor vos mi fai portar, (V. 11f.)51 wird bei Fenis wiedergegeben als: Sıˆt daz diu minne mich wolte alsus eˆren, / daz si mich hiez in dem herze tragen, / diu mir wol mac mıˆn leit ze vröiden keˆren (MF 81,37–39).

V. Meine ausgehend von den Inszenierungsformen für die Beschreibung der inneren Befindlichkeit des Ich in provenzalischen und deutschen Kanzonen gewonnenen Beobachtungen müßten im größeren Zusammenhang überprüft und differenziert werden. Die Beispiele legen jedoch vor allem dort, wo weitere Unterschiede z. B. in Bezug auf die Konzeption des Verhältnisses zwischen Ich und Dame und die Konzeption der Liebe aufscheinen, nahe, daß am kleinen Ausschnitt der Inszenierung innerer Zustandsbeschreibungen Facetten verschieden ausgeprägter Redetraditionen greifbar werden. Daß sich diese Facetten mit anderen, auch bekannten, Beobachtungen zum Verhältnis von Trobadorlyrik und Minnesang verbinden lassen, möchte ich abschließend nur noch in wenigen Stichpunkten andeuten. Sie mögen zeigen, daß es sich lohnen würde, den Redetraditionen von Trobadorlyrik und Minnesang im größeren Kontext vergleichend nachzugehen. 50 51

Ed. Stronski [Anm. 32], Nr. V. »Und da Amors mich ehren will / indem sie mich Euch im Herzen tragen läßt« (11f.) [Übersetzung Zotz [Anm. 14], S. 90]. Zum Bild von der Dame im Herzen vgl. Sebastian Neumeister, Das Bild der Geliebten im Herzen, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire litte´raire au Moyen Age, hg. von Ingrid Kasten [u. a.], Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 315–330.

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Die Adressierung der Beschreibung der inneren Befindlichkeit an die Dame in den provenzalischen Liedern läßt sie als (wenngleich stummes) Gegenüber erscheinen und legt eher eine Konzeption der Liebe als zwischenmenschliche Beziehung und nicht, wie bei den Minnesängern, eher als Verehrung eines Ideals nahe. Das ließe sich mit der bei den Trobadors generell zu beobachtenden Tendenz zusammenbringen, konkrete Lebensweltlichkeit zu evozieren: Zu denken wäre z. B. – an die (durch sozialgeschichtliche Voraussetzungen beeinflußte) konkretere Füllung des Frauendienst-Gedankens, wie sie Ingrid Kasten herausgearbeitet hat;52 – damit zusammenhängend an den signifikant höheren Stellenwert der Lehnsterminologie; – an den Gebrauch der (im Minnesang ganz fehlenden) senhals, um die Identität der einen besungenen Dame zu verbergen,53 was sie als konkrete Person erscheinen läßt und so ebenfalls den Eindruck stärkerer lebensweltlicher Bezogenheit unterstützt, oder auch – an den größeren Stellenwert der gesellschaftlichen Widersacher: der Verleumder (lauzengiers) und des eifersüchtigen Ehemanns (gilos). Dadurch scheinen der Liebe zwischen Ich und Dame primär äußere (überwindbare?) Widerstände entgegenzustehen, was eher die Möglichkeit eröffnet, sie als Partnerin und Subjekt der Liebe zu entwerfen. Die klassische Minnekanzone verzichtet hingegen weitgehend auf ein solches Evozieren von Lebensweltlichkeit; Minne betrifft vor allem das Innere des lyrischen Ichs: – der Frauendienst-Gedanke wird ethisiert: Frauendienst gilt den Minnesängern als (ethische) Bewährungsprobe;54 – die Lehnsterminologie spielt eine vergleichsweise untergeordnete Rolle; – die Instanzen des gesellschaftlichen Widerstandes treten selten als ›Dritte‹ in Erscheinung, sondern werden von der Dame inkorporiert, die in ihrer Vollkommenheit auch die gesellschaftlichen Ideale vollkommen repräsentiert.55 Sie kommt daher nicht als Gegenüber und Partnerin in Frage. 52 53

54 55

Kasten [Anm. 2]. Vgl. Rainer Warning, Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120–159, hier S. 130. Kasten [Anm. 2], S. 226. Grubmüller [Anm. 36], S. 396: »[Die Frau, St.Sch.] nimmt [...] die Instanzen des gesellschaftlichen Widerstandes gegen die Ausgrenzung des Ich in sich auf. Ihre Vollkommenheit, die vollkommene Verkörperung der Ideale dieser Gesellschaft ist, also vollkommene Gesellschaftlichkeit (darin liegt ein Grund für ihre Namenlosigkeit und die Reduzierung zum bloßen Pronomen), steht notwendig in Opposition zur Aus-

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Eine Zusammenstellung und differenzierte Beschreibung neuer und bereits bekannter Unterschiede in Trobadorlyrik und Minnesang bildete die Voraussetzung, um lyrische Redetraditionen in den beiden Literaturen herauszuarbeiten. Dabei müßte auch die Frage in den Blick genommen werden, inwieweit bei einzelnen Aspekten dieser mit je verschiedenen literarhistorischen Situationen verbundenen Redetraditionen Wechselbeziehungen und Tendenzen zum teilweisen systematischen Zusammenschluß greifbar werden. Die Beschreibung lyrischer Redetraditionen könnte auch eine neue Perspektive auf die romanisch beeinflußten Lieder des Minnesangs eröffnen, weil sich die einzelnen Lieder dieser Gruppe in der Spannung zwischen Orientierung am romanischen Vorbild und der Einschreibung in die Redetraditionen und den literarischen Kontext des Minnesangs betrachten ließen, was auch Erkenntnisse zu den Charakteristika lyrischer Übertragungsvorgänge erwarten ließe, die sich ja noch wenigerals die der mittelalterlichen Epik als Übersetzungen beschreiben lassen: »es gibt kein einziges deutsches Minnelied, das man mit einigem Recht als Übersetzung eines französischen oder provenzalischen Liedes bezeichnen könnte.«56

56

sonderung des Ich aus dem Konsens aller. Zugleich aber ist diese vollkommene Gesellschaftlichkeit der Stimulus für das im Kontrast sich begründende Ich-Erlebnis.« Bumke [Anm. 7], S. 44f.

Ludger Lieb

Innenräume der Dame Imaginationen von Präsenz in den ›Tageliedern‹ des Mönchs von Salzburg I. In einem seiner weniger bekannten Lieder (L. 99,6: ›Sumer unde winter beide sint‹)1 gestaltet Walther von der Vogelweide den Topos von den oculi cordis 2 zu einer Verherrlichung der imaginativen Fähigkeiten des minnenden Ich. Diese nämlich ermöglichten ihm das höchste Glück, das nicht etwa in einer körperlichen Erfüllung des Minnebegehrens bestünde, sondern darin, mit seiner Geliebten in wechselseitigem Gedenken vereint zu sein, in einem Gedenken, das räumliche Grenzen transzendiert. Zu diesem durchaus bemerkenswerten Resultat führt das Ich den Rezipienten in einem längeren Gedankengang, der hier einleitend dargelegt werden soll, weil er wesentliche Aspekte meiner Thematik berührt. Walther geht das Thema nicht direkt an, sondern wählt in der ersten Strophe einen Quereinstieg. Mit einem Jahreszeitentopos plausibilisiert er zunächst die Absicht des Sängers, (erneut) Freude in seiner Liebesbeziehung zu suchen. Über diesen Gedanken kommt er in der zweiten Strophe darauf zu sprechen, daß sein Herz ihm immer Positives von der geliebten Dame berichtet habe: Sıˆt daz nieman aˆne fröide touc, soˆ wolte ouch ich vil gerne fröide haˆn von der mir mıˆn herze nie gelouc, ez ensagte mir ir güete ie sunder waˆn. (L. 99,13–16) (»Weil nun ohne Freude niemand angenehm ist, wollte auch ich sehr gerne Freude haben und zwar von der, von der mein Herz nie Falsches sagte, von deren Vollkommenheit es mir immer mit Gewißheit berichtete.«)

1

2

Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns, hg. von Christoph Cormeau, Berlin/New York 1996, S. 214f., Nr. 68. Vgl. Wolf Gewehr, Der Topos ›Augen des Herzens‹ – Versuch einer Deutung durch die scholastische Erkenntnistheorie, DVjs 46 (1972), S. 626–649; Gudrun Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter. 2 Bde., München 1985 (MMS 35 I/II), Bd. 2, S. 1019–1040; Arthur Groos, Modern Stereotyping and Medieval Toˆ f der linden obene‹, Journal of poi: The Lovers’ Exchange in Dietmar von Aist’s ›U English and Germanic Philology 88 (1989), S. 157–167, hier S. 161f. mit Anm. 10.

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Walther interessiert sich im folgenden nicht für die konventionelle Artikulation des minnesängerischen Leidens angesichts einer jahreszeitbedingten Kollektivfreude. Stattdessen beginnt er zu reflektieren, wie es möglich sei, daß das Herz permanent (ie) von der Vollkommenheit der Dame spreche, und woher es die Gewißheit (sunder waˆn) nehme, daß es sich so verhalte. Der Abgesang der zweiten Strophe gibt darauf eine scheinbar banale Antwort: Es gab i n d e r Ve r g a n g e n h e i t für das Ich wiederholt die Gelegenheit, die Dame mit eigenen Augen anzusehen, sich also durch Autopsie von der güete der Dame zu überzeugen: Swenne ez [mıˆn herze] diu ougen sante dar, seht, soˆ braˆhtens im diu mære, daz ez fuor in sprüngen gar. (L. 99,17–19) (»Wann immer mein Herz die Augen dorthin sandte, seht, dann brachten sie ihm solche Kundschaft, daß das Herz vor Freude umhersprang.«)

Walther benutzt die für den Minnesang so fundamentale Differenzierung in eine Vergangenheit, in der bereits ein visueller Kontakt zur Dame bestand und der Minnedienst begann, und in eine Gegenwart des Singens, in der die Dame gerade nicht gegenwärtig, nicht sichtbar ist und daher Strategien zur »kommunikative[n] Annäherung an die ferne Geliebte« entworfen werden.3 Die Strategie dieses Liedes besteht nun darin, das eigene Herz des Sängers als Ausgangspunkt von Annäherung zu exponieren. Dabei ist es noch durchaus konventionell, daß Walther die Wahrnehmung – wie Augustinus – als ein Zusammenwirken von innerem Wahrnehmungszentrum (Herz) und äußeren Sinnen (Augen) beschreibt (und hier sind noch nicht die ›Augen des Herzens‹ gemeint):4 Die Augen werden als Kundschafter vorgestellt, die eine Distanz überwinden und bei ihrer Rückkehr eine Kundschaft (mære) mitbringen und an das Herz übermitteln. Das Resultat im Inneren des wahrnehmenden Subjekts ist der Affekt (das Herz fuor in sprüngen gar). Das Interesse Walthers richtet sich in den folgenden Strophen weniger auf die Wahrnehmungstheorie als auf die Imaginationsfähigkeit des Herzens, und weniger auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart. Das Herz ist nämlich auch jetzt, nachdem ein leibhaftiges Sehen mit den Augen (warum auch immer) unmöglich geworden ist, in der Lage, die Geliebte zu ›sehen‹.5 Genau über dieses 3

4 5

Beate Kellner, Ich grüeze mit gesange. Mediale Formen und Inszenierungen der Überwindung von Distanz im Minnesang, in: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, hg. von Albrecht Hausmann, Heidelberg 2004, S. 107–137, hier S. 112; vgl. auch S. 115 zu Kaiser Heinrich (MF 5,16): »Der Liebesgruß durch das Lied erscheint insofern geradezu als Ersatz für eine Gelegenheit zum Zusammensein mit der Dame und daher auch als Ersatz für eine Kommunikation von Angesicht zu Angesicht.« Vgl. Gewehr [Anm. 2], S. 634f., der eine ähnliche Konzeption in Hartmanns von Aue ›Klage‹ mit der Wahrnehmungslehre des Augustinus vergleicht. Ähnliches beobachtet Tobias Bulang auch bei Ulrich von Liechtenstein: »Im geden-

Innenräume der Dame

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Phänomen beginnt Walther zu staunen und nachzudenken. Er wundert sich also über das Phänomen der Imagination: In weiz niht wol, wie ez dar umbe sıˆ: sıˆn gesach mıˆn ouge lange nie. sint ir mıˆnes herzen ougen bıˆ, soˆ daz ich aˆne ougen sihe sie? Daˆ ist doch ein wunder an geschehen. wer gap im daz sunder ougen daz ez si zaller zıˆt mac sehen? (Str. III = L. 99,20–26) (»Ich weiß nicht recht, wie es sich verhält. Lange Zeit hat mein Auge sie nicht mehr gesehen; ist es nun etwa so, daß die Augen meines Herzens bei ihr sind, so daß ich sie ohne Augen sehe? Dann hat sich doch hierbei ein Wunder ereignet. Wer hat meinem Herzen die Fähigkeit gegeben, ohne Augen sie jederzeit zu sehen?«)

In dieser Strophe wechselt der Sprecher vom eigentlichen zum metaphorischen Gebrauch von »Auge«. Dies geschieht sprachlich durch die dreimalige Negation eines Sehens mit dem körperlichen Auge (V. 2: mıˆn ouge [...] nie; V. 4: aˆne ougen und V. 6: sunder ougen) und der Einführung der berühmten Metapher von den »Augen des Herzens« (V. 3). Damit wird einen körperliches, organisches Sehen, das in der Vergangenheit möglich war, durch ein imaginäres Sehen des Herzens in der Gegenwart abgelöst. Walther scheint aber Wert darauf zu legen, daß dieses imaginäre Sehen nicht etwas ist, was abgeschlossen im Innenraum seines Herzens sich ereignet. Vielmehr denkt er es offenbar als eine wundersame Präsenzerfahrung, wie die Verse 3 (sint ir [...] bıˆ) und 5 (ein wunder) nahelegen. Das Sehen mit den Augen des Herzens6 ist also eine virtuelle Annäherung an die Dame, eine körperlose Überwindung räumlicher Distanz zur Stiftung einer Präsenz ohne Körper. Walther spezifiziert diesen Aspekt in der vierten Strophe: Welt ir wizzen, waz diu ougen sıˆn, daˆ mit ich si sihe dur elliu lant? ez sint die gedenke des herzen mıˆn, daˆ mitte sihe ich dur muˆre und ouch dur want. (L. 27–30) (»Wollt ihr wissen, was das für ›Augen‹ sind, mit denen ich durch alle Länder sehe? Es sind die Gedanken meines Herzens. Mit denen sehe ich durch Mauern und Wände.«)

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ken wird die individuelle memoria als Tätigkeit gefasst, in der die Grenzen des Realen imaginär transzendiert werden können.« (Zur Exponierung von Imagination in Ulrichs von Liechtenstein ›Frauendienst‹, in: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter, hg. von Kathryn Starkey und Horst Wenzel, Stuttgart 2007, S. 65–84, hier S. 75.) Weitere Belege für das Sehen der Geliebten mit den Augen des Herzens in der mittelhochdeutschen Literatur schüttet Schleusener-Eichholz [Anm. 2], S. 1036–1040 aus.

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Dieses Sehen mit dem Herzen ist »unabhängig von Raum und Zeit«,7 es ist die Freiheit der Gedanken, die überall hinwandern und keine räumlichen Grenzen mehr kennen. Es ist auch hier noch einmal wichtig zu betonen, daß Walther dieses Sehen bzw. Denken als eine räumliche Bewegung begreift, die bis hinein in die Innenräume der Dame (hinter Mauer und Wand) gelangen kann. In der letzten (fünften) Strophe wird diese Form virtuellen Sehens zum höchsten Ziel des Sängers stilisiert (ich [...] ein soˆ sælic man) – jedoch nur unter der Bedingung der Wechselseitigkeit; falls nämlich auch die Frau ein solches Sehen praktiziere, falls Mann und Frau einander träfen in einem wechselseitigen Denken an den anderen: Wirde ich iemer ein soˆ sælic man, daz si mich aˆne ougen sehen sol? siht si mich in ir gedanken an, soˆ vergiltet sıˆ mir mıˆne wol. (L. 99,34–37) (»Werde ich jemals so vom Glück gesegnet, daß sie mich ohne Augen sehen wird? Wenn sie mich in ihren Gedanken ansieht, ist das ein guter Lohn für die Gedanken, die ich hatte.«)

Im Abgesang der Strophe konkretisiert Walther die Augen des Herzens noch weiter: Es sind nicht einmal mehr einfach die Gedanken, mit denen das Herz sich zur Dame ›hinsehen‹ kann, sondern es ist der ›Wille‹, die Kraft des Herzens, die von der Memoria gespeist und von der Ratio geleitet den aktiven Part des Herzens darstellt, mit dem das Herz sich bis zur Dame hinstreckt – und darauf hofft, daß die Dame in demselben Maße ihren Willen hin zu ihm sendet, um auf diese Weise die räumliche Distanz zu überwinden: Mıˆnen willen gelte [si] mir, sende mir ir guoten willen, mıˆnen den habe iemer ir. (L.99.38–100,2) (»Meinen Willen belohne sie mir, indem sie mir ihren guten Willen sende. Meiner soll ihr für immer gehören.«)

II. Die in diesem Lied von Walther von der Vogelweide entworfene Möglichkeit der Liebenden, in eine virtuelle Verbindung zu treten, die die räumliche Distanz überschreitet und eine imaginäre Präsenz schafft, kehrt vielfach und variantenreich im Minnediskurs des hohen und späten Mittelalters wieder. Erinnert sei etwa an Gottfrieds ›Tristan‹, in dem das Liebespaar aufgrund der prekären Situation des Ehebruchs häufig nicht beieinander sein kann und daher solche virtuelle Interaktion betreibt, z. B.: 7

Schleusener-Eichholz [Anm. 2], S. 1038.

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der wille der sleich under in lieplıˆchen unde suoze in micheler unmuoze. (›Tristan‹, V. 16444–16446)8 (»Der Wille ging zwischen ihnen auf sehr liebliche Weise und mit großem Eifer hin und her.«)

Man kann sogar teilweise eine Verstärkung dieses Aspektes ab dem 14. Jahrhundert beobachten. So werden etwa für das lyrische Werk des Guillaume de Machaut, der einen erheblichen direkten oder indirekten Einfluß auf die deutsche Lieddichtung, insbesondere auf den Mönch von Salzburg ausübte, Präsenz und Distanz zu einem Hauptmerkmal, so daß man sogar von einer »Poesie der Spannung zwischen Präsenz und Distanz« sprach.9 Natürlich ist eine solche Spannung in jeder Liebesbeziehung in irgendeiner Weise festzustellen, denn sie resultiert aus einem schlechthin basalen Dilemma der Liebe: daß nämlich die dauerhafte und vollständige Präsenz der Liebenden beieinander und ineinander erstrebt wird und zugleich prinzipiell unmöglich ist.10 Nichtsdestotrotz ist das Schlagwort von einer ›Poesie der Spannnung zwischen Präsenz und Distanz‹ für die spätmittelalterliche Lyrik eines Guillaume de Machaut insofern angebracht, als hier stärker als in der hochmittelalterlichen Liebeslyrik die Problemkonstellation von langwährender Distanz und kurzer Zeit der Präsenz in der Situation einer bestehenden, wechselseitigen Liebesbeziehung variantenreich durchgespielt wird.11 Eine besondere Rolle kommt auch hier der imaginierten Präsenz zu, etwa wenn Guillaume in einer Ballade aus ›La Louange des Dames‹ davon berichtet, wie die Erinnerung an den schönen Körper der Geliebten dazu führt, daß er im Zustand der Abwesenheit glaubt, ihrem schönen Körper ganz nah zu sein.12 Man kennt solche imaginierte Präsenz auch schon im Hohen Minnesang, 8

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Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 3 Bde., Stuttgart 31984 (RUB 4471–73). Jacqueline Cerquiglini, Nachwort, in: Guillaume de Machaut, Lob der Frauen. Gedichte. Altfranzösisch und deutsch, [hg. von Jacqueline Cerquiglini, Nachdichtungen von Uwe Grüning], Frankfurt a. M. 1987, S. 123–144, hier S. 134. Selbst in der göttlichen Liebe zu den Menschen ist es Gott zwar möglich, vollständig im Menschen, in Maria als ›eingeborener Sohn‹ präsent zu werden, die Distanz zu überwinden, doch auf Dauer kann auch er in diesem ›Innenraum‹ Mariens nicht bleiben, distanziert sich in der Geburt, im Tempel, am Kreuz, in der Himmelfahrt wieder von Maria und den geliebten Menschen. Zum entscheidenden Unterschied, daß das Lied im hohen Minnesang aus der Situation des Liebesanfangs, das Lied des 14. bis 16. Jahrhunderts aus der Mitte einer wechselseitigen Liebesbeziehung heraus gesprochen ist, vgl. Burghart Wachinger, Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von Walter Haug, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 1–29, bes. S. 20f.; kritisch gegen diese Generalthese wendet sich Matthias Meyer, Von Falken, Trappen, Eulen und Hirschen. Ein liederlicher Liebeszoo, Neophilologus 86 (2002), S. 417–435, hier S. 429. Guillaume de Machaut [Anm. 9], S. 12f.; vgl. auch Michael Camille, The Medieval

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man denke nur an das berühmte Lied Morungens ›Ich waene nieman lebe‹, in dem es heißt, es beduncket mich wie sie geˆ dort her ze mir aldur die muˆren (MF 138,17), doch werden solche Imaginationen bei Guillaume und in der Liebesdichtung des Spätmittelalters, auch in der deutschen Liebesdichtung des Spätmittelalters, weiter ausgeführt. Man kann in diesem Zusammenhang etwa an die im 15. Jahrhundert überaus häufig überlieferte Minnerede ›Der Traum‹ denken, in der das Ich erzählt, wie es träumte, daß seine Geliebte in seine Kemenate gekommen sei und sich auf seinen Wunsch hin fast ganz entkleidet habe.13 Auch die virtuelle Überwindung räumlicher Distanz vom Mann zur Frau hin ist in den Minnereden des 14. und 15. Jahrhunderts gelegentlich thematisiert. Zum Beispiel korreliert die Minnerede ›Segen der fernen Geliebten‹14 das wechselseitige Gedenken mit dem magischen, pseudo-religiösen Akt des Kreuzzeichens, das der Mann in die Luft schlägt. Außerdem wird das Herz, das zur Geliebten fliegt und gedankenvoll wieder zum Liebenden zurückkehrt, mit der Metapher des ausfliegenden Falken bezeichnet, der zum Falkner zurückkehrt. Unter diesen hier nur ganz aleatorisch angeführten Beispielen ragt ein Lied des Mönchs von Salzburg, das sogenannte ›Taghorn‹, heraus (das zweite in der Edition seiner weltlichen Lieder). Es spielt dieses Thema auf höchst subtile Weise durch und wird im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. Zwei Vorbemerkungen bzw. Begriffsklärungen zur Rolle des ›Herzens‹ und zum Status der ›Imagination‹ sind im Hinblick auf die Analyse dieses Liedes von Bedeutung, weil sie sogleich die Komplexität des poetischen Entwurfs des Mönchs verdeutlichen. Für die deutsche Liebesdichtung des hohen und späten Mittelalters kann man idealtypisch drei dominante Konstellationen der Herz-Metaphorik differenzieren, die allerdings nicht selten auch vermischt werden:

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Art of Love. Objects and Subjects of Desire, London 1998, dt.: Die Kunst der Liebe im Mittelalter, Köln 2000, S. 27–30. Die Minnerede ist in der Version der Handschrift Prag, Knihovna Na´rondnı´ho muzea, Cod. X A 12, abgedruckt in: Liederbuch der Clara Hätzlerin, aus der Handschrift des Böhmischen Museums zu Prag, hg. und mit Einleitung und Wörterbuch versehen von Carl Haltaus, Quedlinburg /Leipzig 1840 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 8), Neudruck mit einem Nachwort von Hanns Fischer, Berlin 1966, Nr. II 5; vgl. Tilo Brandis, Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke, München 1968 (MTU 25), Nr. 247. Vgl. in Zukunft auch das ›Handbuch Minnereden‹, hg. von Jacob Klingner und Ludger Lieb (erscheint Berlin/New York 2008), Nr. B247. Die Minnerede ist in der Version der Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Donauesch. 104, abgedruckt in: Lieder-Saal. Sammlung altdeutscher Gedichte, hg. von Joseph Freiherr von Lassberg, 4 Bde., Bd. 2, o. O. 1822, Nachdruck Hildesheim 1968, S. 379–381, Nr. 134; vgl. Brandis [Anm. 13], Nr. 13; Klingner/Lieb [Anm. 13], Nr. B13.

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1. ›Wohnen im Herzen‹.15 In der Minnelyrik ist dieser Typ mit Abstand am häufigsten anzutreffen: »Das Gewöhnlichste ist, daß die Geliebte im Herzen des Mannes wohnt.«16 Die (meist einseitige) Liebe zu einer Frau beherrscht das gedankliche Zentrum des Liebenden so vollständig, daß er keine anderen Gedanken haben kann und daß daraus der Eindruck beim Liebenden resultiert, die Frau sei in seinem Herzen präsent, sie wohne dort. Das Herz wird hier als Innenraum, als Gefäß im Inneren des Menschen aufgefaßt. Tendenziell kommt dieser Typ vor allem in lyrischen Texten vor. 2. ›Herzenstausch‹. In einer wechselseitigen Liebesbeziehung sind die Liebenden räumlich getrennt und behelfen sich durch den Tausch der Herzen, was meint: Ihr Innerstes/Ganzes wird in die Verfügung des je anderen gegeben. Das Herz fungiert hier als konkretisiertes metonymisches Substitut des ganzen Menschen, das sich je vom Körper des Liebenden lösen und zum Körper des Anderen hin bewegen kann. Dieser Typ wird in der Hohen Minne aufgrund der Unerfülltheit der Minne selten eingesetzt, er kann dort nur erhofft werden. Tendenziell findet er sich am ehesten in den Minnebeziehungen der höfischen Epik,17 aber auch im spätmittelalterlichen Lied, das stärker von bestehenden, wenn auch heimlichen Liebesbeziehungen ausgeht,18 und dementsprechend insbesondere auch in den Abschiedsszenen des Tagelieds. 3. ›Das Herz bei der Dame‹. Dieser Typ ist hinsichtlich der Einseitigkeit dem ersten Typ, hinsichtlich der Vorstellung eines sich bewegenden Herzens dem zweiten Typ verwandt und insgesamt seltener. Die »Liebeslyrik Walthers von der Vogelweide [...] verwendet wieder in stärkerem Maß das Motiv von der Anwesenheit des Herzens bei der Dame, so daß das Ich in seiner leiblichen Anwesenheit bewußtlos erscheint.«19 Hier geht es gerade nicht um Herzens15

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Vgl. Xenja von Ertzdorff, Die Dame im Herzen und das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs ›Herz‹ in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts, ZfdPh 84 (1965), S. 6–46; Friedrich Ohly, Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen [zuerst 1970], in: Ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 21983, S. 128–155; Sebastian Neumeister, Das Bild der Geliebten im Herzen, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire litte´raire au moyen aˆge. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris, 16.–18.3.1995, hg. von Ingrid Kasten [u. a.], Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 315–330; Kellner [Anm. 3], bes. S. 123, 128, 132f. Vgl. auch den Beitrag von Nigel F. Palmer in diesem Band. Konrad Burdach, Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide, Leipzig 1880, S. 114. Zitiert nach Ohly [Anm. 15], S. 131 Anm. 4. von Ertzdorff [Anm. 15], S. 24: Das »Motiv [...] des Herzenstausches der Liebenden [hat] häufiger Verwendung im höfischen Roman gefunden. In der Lyrik ist es sehr viel seltener und muß es auch sein, weil es ihrem abstrakten Aussagestil insofern widerspricht, als die Lyrik diese Herzensgemeinschaft nur als eine ferne Möglichkeit formuliert.« Vgl. Wachinger [Anm. 11]. von Ertzdorff [Anm. 15], S. 41.

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tausch, sondern um eine metaphorische Beschreibung des paradoxen Liebeszustands, daß der Liebende sein ganzes Inneres an die Geliebte verliert, weil er permanent ›mit den Gedanken bei ihr ist‹.20 Diese Begriffsklärung ist wichtig, weil der Mönch die einzelnen Typen überblendet bzw. vermischt. Er steht damit in einer Tradition der Verwilderung und der Freisetzung literarischer Schemata, woraus nicht nur er, sondern auch manch andere Dichter des späten Mittelalters ihr kreatives Potential schöpfen.21 Eine Überblendung von ›Wohnen im Herzen‹ und ›Herzenstausch‹ hat auch schon Ulrich von Liechtenstein in der Mitte des 13. Jahrhunderts kreativ betrieben, wenn er »das semantische Spiel in den metaphorischen Raum von Herzenstausch und Wohnen im Herzen [überführt], wodurch sich die semantische Ambivalenz noch einmal entfalten kann«.22 Wichtig ist hier vor allem der Effekt größter Nähe der Herzen, den Ulrich nicht zuletzt über syllogistische Spielereien erzeugt: Die Dame wohnt in seinem Herzen, und da ihr Herz auch in ihrem Innern ist, ist auch das Herz der Dame in seinem Herzen.23 Der Begriff ›Imagination‹, wie er hier verwendet wird, entspricht dem mittelalterlichen Gebrauch, der wesentlich durch Augustinus geprägt wurde. In seinem Genesis-Kommentar unterscheidet er drei Arten des Sehens,24 von denen hier nur die ersten zwei interessieren. Die visio corporalis entspricht dem Sehen mit dem leiblichen Augen (Wahrnehmung mit den äußeren Sinnen), die visio spiritalis entspricht dem Sehen mit den ›Augen des Herzens‹ (Wahrnehmung mit den inneren Sinnen); diese nennt Augustinus auch imaginatio, weil sie eine imago absentis corporis erzeuge.25 20 21

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Zum ›Herz bei der Dame‹ in den Liedern Friedrichs von Hausen vgl. zuletzt Kellner [Anm. 3], S. 123f. Vgl. hierzu die Aufsätze von Manfred Kern, Der verhuhnte Falke. Anmerkungen zu einer möglichen Ästhetik der spätmittelalterlichen Liebeslyrik, Neophilologus 86 (2002), S. 567–586; Ders., Hybride Texte – wilde Theorie? Perspektiven und Grenzen einer Texttheorie zur spätmittelalterlichen Liebeslyrik, in: Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert. 18. Mediävistisches Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 28. und 29. November 2003, hg. von Gert Hübner, Amsterdam /New York 2005 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 37), S. 11–45; Ders. ›Parlando‹. Trivialisierte Bildlichkeit, transgressive Produktivität und europäischer Kontext der Minnerede (mit einem Exkurs zu Rosenplüt und Boccaccio), in: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden, hg. von Ludger Lieb und Otto Neudeck, Berlin/New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 55–76. Bulang [Anm. 5], S. 80. Vgl. auch Christian Kiening, Der Autor als ›Leibeigener‹ der Dame – oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen [u. a.], Tübingen 1998, S. 211–238, hier S. 231f. Vgl. zuletzt Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea NF 94), S. 51f. Vgl. auch Johann Heinrich Trede, Einbildung, Einbildungskraft I, Historisches

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Für viele Imaginationen, von denen die Sänger und Erzähler in der mittelalterlichen Liebesliteratur gewöhnlich sprechen (nicht dazu gehört z. B. das eingangs besprochene Lied von Walther), sind zwei Dinge typisch: 1. Diese Imaginationen werden a l s I m a g i n a t i o n e n angezeigt, sie entblößen sich selbst. Der Träumende wacht auf, bevor die Dame sich ganz ausgezogen hat, oder es wird – wie bei Guillaume – gesagt, daß das Ganze n u r ein Wunschgebilde war und die Dame in Wahrheit ganz weit weg ist. Dadurch werden diese Präsenzerfahrungen vom textuellen Vollzug eines Liedes oder einer Minnerede distanziert. Unter diesem Aspekt kommen Imaginationen der Präsenz mit dem Tagelied überein, das gewöhnlich auch nur aus der Distanz heraus, nämlich in der Narration, von einer nicht mehr aktuellen Erfahrung der Präsenz spricht.26 2. Für die Imaginationen ist ebenfalls typisch, daß meist eine Anwesenheit der Dame b e i m I c h imaginiert wird und nicht anders herum. Das scheint mit der Geschlechterverteilung der Vorstellung vom ›Wohnen im Herzen‹ zusammenzuhängen (siehe oben): Die Dame ist trotz ihrer physischen Abwesenheit im Herzen des liebenden Mannes anwesend und insofern diese Anwesenheit im geistigen Zentrum des Mannes alle inneren Sinne erfaßt, kann es zu einer imaginierten Präsenzerfahrung kommen (als ›real‹ erlebte Imagination einer körperlichen Anwesenheit der Dame in seiner Nähe). Im ›Taghorn‹ des Mönchs liegen nun genau die erwähnten typischen Aspekte der Imagination von Präsenz nicht vor und damit erweist sich dieses Lied als ein besonderer Fall von Innovation: 1. Imagination wird hier nicht als ein Vergangenes erzählt, sondern Imagination vollzieht sich im Lied, im Akt des Singens selbst:27 Das Lied ist selbst ein Imaginationsprozeß. Die Selbstentblößung als Imagination fehlt.

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Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 346–348, hier S. 346: »Nach Thomas [von Aquin] ist die Einbildungskraft im Unterschied zur Wahrnehmung das Vermögen, den Gegenstand in dessen Abwesenheit zu apprehendieren, als wenn er gegenwärtig wäre.« Die Selbstentblößung der Imagination, für die eine Präsenz der Geliebten vor dem Szenario faktischer Abwesenheit nurmehr eine Sinnestäuschung, ein ›Als-ob‹ zu sein vermag, äußert sich auch in Werbungsgesprächen, in denen die männliche Hoffnung auf raum- und körpertranszendierende Vereinigung als ›unrealistisch‹ erwiesen wird. Z. B. will das erzählende Ich im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein sich so mit der Dame vereinen, daz wir beidiu sin ein ich, was die Dame mit dem Verweis auf die Faktizität der interpersonalen Differenz erledigt: herre, des mac niht gesıˆn sit ir iwer, so bin ich min (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst, Strophe VII, V. 4–7, hg. von Franz Viktor Spechtler, Göppingen 1987 [GAG 485], Lied XXX, vgl. hierzu Bulang [Anm. 5], S. 71; Klaus Grubmüller, Minne und Geschichtserfahrung. Zum ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein, in: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983, hg. von Christoph Gerhardt [u. a.], Tübingen 1985, S. 37–51, hier S. 48f. Ansatzweise findet sich ein solcher textimmanenter Vollzug von Imagination schon bei Ulrich von Liechtenstein: In der dritten und vierten Strophe seines Liedes XLI

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2. Imaginiert wird nicht die Präsenz der Dame beim Ich oder vor den Augen seines Herzens, sondern die Anwesenheit des Ichs bei der Dame, in den Innenräumen, die von der Dame konstituiert werden: Herz und Kemenate. Damit behält diese Imagination den Aspekt einer virtuellen Bewegung im Raum, einer Überwindung von Distanz, wie er schon im Lied von Walther von der Vogelweide hervortrat. Imagination ist nicht nur etwas, das sich ›passiv‹ im Innern des Mannes abspielt, sondern etwas, mit dem der Liebende ›aktiv‹ hinaustritt aus sich selbst und in die eigentlich unzugänglichen Innenräume der Dame eindringt. Wie dies dem Mönch von Salzburg gelingt, soll nun in einer detaillierten Analyse des ›Taghorns‹ gezeigt werden. Punktuell in die Analyse einbezogen wird auch die Melodie, weil sie zum Teil semantische Qualitäten aufweist.28

III. Gar leis in senfter weis wach, libste fra, plik durch dy pra vnd scha, wy tunkel gra so gar fein pla ist zwischen dem gestirn. (W 2,1,1–4)29 (»Erwache, liebste Dame, ganz leise und auf angenehme Weise! Blicke durch deine Wimpern hindurch und schau, wie es zwischen den Sternen so dunkelgrau und ganz fein blau ist.«)

Unschwer sind diese Eingangsverse als Gattungssignal zu erkennen. Die Aufforderung aufzuwachen und der Hinweis auf den anbrechenden Morgen sind eindeutige Merkmale des Tageliedtypus, der in der deutschen Lyrik des 13. bis 16. Jahrhunderts weit verbreitet ist.30 Der in den zwei Handschriften überlie-

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gibt sich der hohe muot des Ich-Sprechers in dessen Herzen mit der geliebten Dame sexueller Erfüllung hin; vgl. Bulang [Anm. 5], S. 78f. Vgl. neuerdings den Vorstoß von Johannes Kandler, »Gedoene aˆn wort daz ist ein toˆter galm«. Studien zur Wechselwirkung von Wort und Ton in einstimmigen Gesängen des hohen und späten Mittelalters, Wiesbaden 2006 (Elementa Musicae 5); ferner Ders., Wie klingt die Liebe? Anmerkungen zur Wechselwirkung von Musik und Text im Lochamer-Liederbuch, in: Hübner, Liebeslyrik [Anm. 21], S. 47–64. Vgl. auch Achim Diehr, Literatur und Musik im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin 2004. Ich zitiere nach der Ausgabe von März: Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Texte und Melodien, hg. von Christoph März, Tübingen 1999 (MTU 114), hier Nr. W 2, S. 172–174. Erst nach Abschluß des Manuskripts erschien die Edition: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger, Frankfurt a. M. 2006 (Bibliothek des Mittelalters 22; Bibliothek deutscher Klassiker 191); das ›Taghorn‹ ist dort ediert auf S. 518–521 mit Kommentar auf S. 962. Vgl. die klassischen Ausgaben der Tagelieder: Tagelieder des deutschen Mittelalters. Mittelhochdeutsch /Neuhochdeutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von

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ferte Titel ›Taghorn‹31 weist ebenfalls in diese Richtung. Doch mag es lohnenswert sein, sich nicht mit dieser Klassifizierung zu begnügen und das Lied in der Gattungsschublade ›Tagelied‹ verschwinden zu lassen.32 Denn allzuleicht übersähe man die anderen Signale, die dieser Liedanfang setzt und die bereits erahnen lassen, was sich im weiteren Verlauf des Liedes herausstellt: daß nämlich die Tageliedsituation benutzt wird für ein raffiniertes Imaginationsspiel.33 Drei Details aus den ersten Versen kündigen den Modus dieses Spiels an: 1. Der Himmel in Vers 3, den die Dame anschauen soll, wird als dunkelgrau und ganz fein blau geschildert. Das ist die für den frühen Morgen typische Mischung eines noch ›nachtschwarzen‹ und eines schon ›tagblauen‹ Himmels. Doch anders als die geläufigen Übersetzungen dieses Verses suggerieren – sie sprechen davon, daß »aus dem Dunkelgrau ein feines Blau w i r d.34 daß »sich das dunkle Grau zwischen den Sternen hellblau f ä r b t «35 oder daß »feinstes Blau aus Dunkelgrau inzwischen am Himmel e n t s t e h t « −36 ist an diesem Übergangszustand nicht so sehr der Prozeß der Farb v e r ä n d e r u n g oder des Tag w e r d e n s hervorgehoben, sondern die G l e i c h z e i t i g k e i t z w e i e r s i c h a u s s c h l i e ß e n d e r Z u s t ä n d e . Eine solche Gleichzeitigkeit als arretierten Zwischenzustand zu denken und auszudrücken, widerstrebt offenbar der Logik modernen Denkens und Sprechens.37 Man neigt dazu, die logisch und sprachlich

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Martina Backes. Einleitung von Alois Wolf, Stuttgart 1992; Owe do tagte ez. Tagelieder und motivverwandte Texte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Renate Hausner, Göppingen 1983 (GAG 204). Zum Tagelied im späten Mittelalter vgl. Ralf Breslau, Die Tagelieder des späten Mittelalters. Rezeption und Variation eines Liedtyps der höfischen Lyrik, Berlin 1987; Sabine Obermaier, Wer wacht? Wer schläft? ›Gendertrouble‹ im Tagelied des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Hübner, Liebeslyrik [Anm. 21], S. 119–145. Vgl. März [Anm. 29], S. 368. Skeptisch bezüglich einer Zuordnung zur Gattung der Tagelieder ist auch Burghart Wachinger, Blick durch die braw. Maria als Geliebte bei Oswald von Wolkenstein, in: Fragen der Liedinterpretation, hg. von Hedda Ragotzky [u. a.], Stuttgart 2001, S. 103–117, hier S. 104f. Ich stimme überhaupt mit Wachingers knappen, aber innovativen Ausführungen zum ›Taghorn‹ des Mönchs in diesem Aufsatz völlig überein. Auf die in Wachingers Aufsatz analysierten Lieder Oswalds kann ich im folgenden nicht weiter eingehen. Wenig ergiebig sind die Bemerkungen von Dirk Joschko, Zur Parodierung konventioneller Muster in den Tageliedern des Mönchs von Salzburg, in: Parodie und Satire in der Literatur des Mittelalters [ohne Hg.], Greifswald 1989 (Deutsche Literatur des Mittelalters 5), S. 103–112. Der Mönch von Salzburg. Ich bin du und du bist ich. Lieder des Mittelalters, hg. von Franz Viktor Spechtler [u. a.], München 1980, S. 23 [Hervorhebung von L. L.]. Backes [Anm. 30], S. 195 [Hervorhebung von L. L.]. Der Mönch von Salzburg, Die weltliche Dichtung, übertragen von Christoph Wilhelm Aigner, Ausgabe der mittelalterlichen Texte von Franz Viktor Spechtler, Salzburg 1995, S. 127 [Hervorhebung von L. L.]. Vgl. grundsätzlich Peter Czerwinski, Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten. Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung 2, München 1993.

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kaum auszuhaltende Spannung eines paradoxen Zwischenzustands, der eine eigene raumzeitliche Ausdehnung haben soll, durch den Ausdruck eines gleitenden Übergangs oder einer Dynamik des Werdens, des Entstehens zu lösen. Aber hier ist eben genau kein Über g a n g gemeint. Die Farbe der Nacht und die Farbe des Tages sind gleichzeitig am Himmel. Anvisiert wird somit ein Zwischenzustand der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. 2. Ein solcher Zwischenzustand ist nun auch auf Seiten der Dame zu beobachten. Die Aufforderung in Vers 2 (plik durch dy pra) zielt darauf ab, daß die Dame durch ihre Wimpern hindurchblicken soll. Dieses Blinzeln markiert einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. So wie der Schein der Sonne sich im feinen Blau des Himmels zwischen den Sternen zeigt und doch noch abwesend ist, so ist im Blinzeln durch die Wimpern ein Zwischenzustand von nächtlichem Schlaf und morgendlichem Wachen festgehalten. 3. Zu diesen Zuständen einer Zwischenzeit tritt auch noch eine räumliche Komponente, ein Zwischenraum, hinzu. Der Innenraum, der hier imaginiert wird, ist nicht einfach eine Kemenate, sondern ein Raum, der sich durch größte Nähe (Wimpern) und zugleich größte Ferne (Gestirn) auszeichnet. Die Aufforderung plik durch dy pra impliziert eine körperliche Nähe des sprechenden Ichs zur Dame. Nur wer sehr nahe ist, kann die ganz kleine Bewegung des Blinzelns beobachten. Zugleich soll sich der geforderte Blick der Dame – mit dem Blick des Mannes38 – in die größtmögliche Ferne richten und zwischen den Sternen Kosmologisches beobachten. Nähe und Ferne, Präsenz und Distanz, je ins Extrem gesteigert, sind in dieser Konfiguration des Erwachens zusammengeführt. Zwischen den Wimpern der Dame aber und den Sternen des Himmels öffnet sich ein Raum, der nur vom Ich besetzt ist und der nur von der Rede dieses Ichs entworfen wird. Das Ich ist hier jene Instanz, die die Verbindung von Nähe und Ferne herstellt und steuert.39 Der M o d u s des hier beginnenden literarischen Spiels ist also das Entwerfen, Festhalten und Umkreisen eines paradoxen Zwischenzustandes, eines imaginären Zwischenraums, der sich – pointiert gesagt – als Raum der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und als Zeit der Anwesenheit des Abwesenden darstellt. Diese besondere Variation einer herkömmlichen Rhetorik des Paradoxes macht die epochale Bedeutung des Mönches aus.40 38 39

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Wachinger [Anm. 32], S. 103. Es ist im übrigen auch die Zwischenzeit des anbrechenden Tages mit den raumzeitlichen Kategorien von Anwesenheit und Abwesenheit zu beschreiben: Die Sonne bzw. der Tag sind in dieser Zeit abwesend (was der dunkelgraue Himmel indiziert) und zugleich sind sie anwesend (was der blaue Himmel indiziert). Man könnte vielleicht sogar soweit gehen, die Form der Anwesenheit der Sonne am frühesten Morgen, die nur durch den Glanz, durch das indirekte Erleuchten gegeben ist, mit der nur imaginativen Anwesenheit des Mannes am Bett der Geliebten zu korrelieren. Vgl. für nicht ganz unähnliche Phänomene in der französischen und italienischen Lyrik des Spätmittelalters Andreas Kablitz, Verwandlung und Auflösung der Poetik

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Ebenfalls schon den Beginn des Liedes bestimmen zwei Merkmale, die das Lied deutlich vom Typus des Tagelieds abheben:41 die ruhige Grundstimmung und die monologische Sprechsituation. 1. R u h i g e G r u n d s t i m m u n g : Im Tagelied löst der Anbruch des Tages normalerweise Leid aus, denn der Tag bedeutet Trennung der Geliebten. Das Aufwachen am Morgen ist im Tagelied daher meist ein unruhiger Moment, ein Moment des Aufschreckens und ein Moment der Klage. Im Vergleich dazu wirkt das Lied vom Mönch von Salzburg schon aufgrund seiner – durch ihre Anfangsstellung hervorgehobenen – Worte (Gar l e i s in s e n f t e r weis [...]) wie ein Gegenprogramm: kein unsanftes Erwecken, kein Wächter, der laut singt, keine Rede von Scheiden und Klage, keine Angst. Vielmehr wird eine intime, ungestörte, unaufgeregte Grundstimmung erzeugt.42 Diese drückt sich in der ruhigen, langsamen und einfachen Melodieführung dieser ersten Verse aus:

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des Fin’amors bei Petrarca und Charles d’Orle´ans. Transformationen der spätmittelalterlichen Lyrik diskutiert am Beispiel der Rhetorik des Paradox, in: Musique naturele. Interpretationen zur französischen Lyrik des Spätmittelalters, hg. von WolfDieter Stempel, München 1995 (Romanistisches Kolloquium 7), S. 261–350. Schon Horst Brunner, Das deutsche Liebeslied um 1400, in: Gesammelte Vorträge der 600–Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein Seis am Schlern 1977, hg. von HansDieter Mück und Ulrich Müller, Göppingen 1978 (GAG 206), S. 105–146, hier S. 120, nennt drei Merkmale, die nicht zur herkömmlichen Tageliedkonvention passen: daß der Mann die Frau weckt, daß diese nicht zu Wort kommt und daß die Klaffer nicht erwähnt werden (zum letzten Merkmal vgl. jedoch V. 3,10: zu tratz den dein ge¨perd missvelt – hiermit dürften doch wohl die Klaffer gemeint sein). Breslau [Anm. 30], S. 134, behauptet schlicht, das ›Taghorn‹ müsse trotz seiner ›prägnanten Abweichungen‹ »als vollgültiger Vertreter dieses Liedtyps betrachtet werden«. Ähnlich wie Brunner argumentiert wieder Wachinger [Anm. 32], S. 104f. Ausschließen kann man wohl, daß es sich hier um den seit Wolfram gelegentlich bezeugten Typus der Umcodierung des Tagelieds zum Lob der Ehe handelt, in dem die ruhige und entspannte Grundstimmung daraus resultiert, daß Ehepartner beieinander liegen und somit die permanente Gefahr des Entdecktwerdens durch die Institution Ehe aufgehoben ist. Das ›Taghorn‹ des Mönchs ist kein solches Lied, denn am Ende des Liedes nimmt tatsächlich jemand Abschied: gib vrlaub mir, frau auzerwelt (Strophe 3, V. 11).

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Es ist also gerade der Aspekt dieser ruhigen Stimmung, der hier in der Melodie wiedergegeben wird. Wie ganz anders dagegen beginnt ein Tagelied, das die typische Nervosität des Aufwachens nach der Liebeserfüllung ausdrückt. Ich zeige als Beispiel den Beginn des ›Kchühorns‹, das ebenfalls vom Mönch von Salzburg stammt und in der Corpushandschrift direkt dem ›Taghorn‹ folgt: »Ich muzz hyn, mein traut gesell ich hab zelang geslaffen hy pey dir.« ›traut gespil, ge wy got well ich laz dich schaiden nicht so pald von mir.‹ »ja sint dy kchü noch vngemolchen, darvmb ist mir gach; gespottet wurd mir von den volchen, sold ich treiben nach.« (W 3,1b,1–8) (»Ich muß fort, mein Geliebter, ich habe schon zu lang hier bei dir geschlafen.« ›Geliebte, mag es gehen, wie Gott will, ich laß dich nicht so schnell von mir scheiden.‹ »Aber die Kühe sind noch nicht gemolken worden, darum habe ich es eilig; ich würde verspottet von den anderen, wenn ich meine Kühe hinterher treiben müßte.«)

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2. Der ruhigen Grundstimmung – und das ist das zweite Merkmal – entspricht die Form des M o n o l o g s . Auch diese steht in Differenz zur Tradition des Tagelieds, in der der Dialog oder zumindest die Rede mehrerer Figuren der Normalfall ist. Wenn gelegentlich einmal im überkommenen Tagelied ein Sprecher monologisiert, reflektiert er gewöhnlich aus einer distanzierten Position heraus über die Tageliedsituation – wir kennen solche Lieder von Wolfram, von Reinmar und von Ulrich von Liechtenstein. Im ›Taghorn‹ des Mönchs aber spricht im ganzen Lied nur ein einziger männlicher Sprecher. Und er tut es ganz und gar nicht aus der Distanz, sondern offenbar aus der Unmittelbarkeit einer Anwesenheit in der Kemenate, denn er spricht die im Bett liegende Dame unentwegt direkt an. Wegen dieser Anwesenheit des Sprechers in der Kemenate irritiert es umso mehr, daß die Dame an keiner Stelle zu Wort kommt. Ja, es werden nicht einmal irgendwelche Reaktionen der Dame erwähnt. Stattdessen werden permanent Aktionen von ihr gefordert. Man achte nur auf die Imperative: wach, plik, scha, wach, grüzz in der ersten Strophe; dann in der zweiten Strophe: Erwach, rek, strek, enplek, hör, und in der dritten; berait, gib, gedenk, hab, slaf, tu kund. Der dominante Modus des ganzen Liedes ist der auf die Dame gerichtete Imperativ sowie der Konjunktiv (z. B. Str. 1, Vers 8–11: wünsch, sag, schrick). Diese Form des Monologs, der dauernd Aktionen des

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Gegenübers fordert und wünscht, ohne Reaktionen zu erhalten, zeugt von einer asymmetrischen Kommunikationssituation und paßt nicht in eine Tageliedsituation. Die Dame erscheint hier nicht als Gesprächspartner, sondern als zu besprechendes Objekt; die Imperative sind geradezu Ausdruck eines imaginativen Schöpfungsaktes. Die Dame und die Räume, in denen sie präsent wird, werden im Prozeß des Liedes erschaffen. Anders als im n a r r a t i v e n Entwurf eines Tagelieds sind hier die Rede des Sängers und die Rede des Liebenden ununterscheidbar: Der außerhalb der Kemenate stehende Sänger imaginiert die Kemenate, den Innenraum der Dame, und er bringt sich so – im Sinne der oben entwickelten Imagination als Bewegung des Herzens – selbst als Liebenden in diesen Raum der Nähe hinein.43 Da die Rollen nie deckungsgleich werden können – der Sänger kann nicht in der Kemenate singen; der am Bett der Geliebten Stehende kann nicht zugleich vor dem Publikum stehen –, ergibt sich ein Oszillieren zwischen diesen beiden Rollen, oder anders gesagt: Es öffnet sich ein literarischer Zwischenraum, in dem Anwesenheit und Abwesenheit zugleich sein können (so wie zwischen dem Gestirn zugleich Nacht und Tag ist). Aufgrund seiner spezifischen Konstruktion gehört dieses Lied somit zu den seit dem frühen Minnesang bekannten Liedern von der ›Gedankenminne‹ bzw. der ›Fernliebe‹. In die Reihe der Vertreter dieses Konzepts im deutschen Minnesang – u. a. Friedrich von Hausen,44 Walther von der Vogelweide (siehe oben) und Ulrich von Liechtenstein45 − ist somit auch der Mönch zu stellen. Man kann sogar behaupten, daß die »Freiheit [...] einer Autorschaft, welche sich die Liebe in Gedanken zu erschaffen vermag, auch ohne sie in konkreten Lebensvollzügen auszuagieren«,46 beim Mönch zu einem Höhepunkt gelangt, denn die Freiheitsgrade erstrecken sich bei ihm bis in die Kemenate der Dame, bis zu ihrem Körper. Es zeichnet sich somit folgender Grundgedanke für die Interpretation des ›Taghorns‹ ab: Der ästhetische Entwurf entfaltet seine »utopischen Möglichkeiten« (Müller) als Imagination einer paradoxen Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz, die einer konkreten, referentialisierbaren Liebessituation und -beziehung enthoben ist.47 43

44 45

46 47

Vgl. auch die in dieselbe Richtung gehenden Ausführungen bei Wachinger [Anm. 32], S. 105: »Jedenfalls ist die Körperlichkeit des Erwachens zu Beginn von Strophe 2 nicht von einem Mann angesprochen, der neben der Geliebten liegt, sondern von einem, der sich zu ihr hindenkt«. Kellner [Anm. 3], S. 122–126. Zur eigenen Welt als Produkt des Wünschens bei Ulrich von Liechtenstein vgl. Grubmüller [Anm. 26], S. 45; Bulang [Anm. 5], S. 82, nennt das pointiert »Minnesang als Exil des Imaginären«. Kellner [Anm. 3], S. 125. Vgl. Jan-Dirk Müller, Lachen – Spiel – Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein, DVjs 58 (1984), S. 38–73, hier S. 70; Klaus Grubmüller, Ich als Rolle. ›Subjektivität‹ als höfi-

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Im ›Taghorn‹ wird die Absenz des Ichs durch eine Reihe weiterer Irritationen der tageliedtypischen Präsenzsituation markiert.48 Eine entscheidende Rolle spielt hierbei der Herzenstausch, der traditionell für die Möglichkeit der erfüllten Liebesbeziehung steht, räumliche Grenzen zu überschreiten, also Anwesenheit bei gleichzeitiger Abwesenheit zu behaupten. In den meisten Tageliedern hat der Herzenstausch die Funktion, daß die Liebenden nach dem morgendlichen Abschied und der Trennung ihrer Körper wenigstens in einer imaginären Wirklichkeit beieinander bleiben können. Ganz anders im ›Taghorn‹: nu wach, mein mynnikliche dirn, in liber süzz vnd grüzz dein aigenz hercz bey mir, seind ich enpir der stymm von dir, daz mir gar still dein rainer will wünsch liben guten tag, den mir he¨ut sag tugentlichen, mynniklichen dein güt mit mangem liben plik, so daz mein hercz in fre¨uden schrik zu trost der libsten zuversicht, der mir dein weiblich güt verjicht, bis das geschicht, daz mir wünsch guten tag dein mund. (W 2,1,5–15) (»Nun erwache, meine geliebte Freundin, in der Süße der Liebe und grüße dein eigenes Herz bei mir [weil ich deiner Stimme entbehre], so daß mir ganz still und heimlich dein reiner Wille einen guten Tag der Liebe wünsche, den mir heute deine Vollkommenheit mit manchem liebenden Blick tugendreich und lieblich sage, so daß mein Herz in Freude erschrickt, was zum Trost der lieblichen Zuversicht geschieht, den mir deine weibliche Vollkommenheit verspricht, bis es dann geschieht, daß dein Mund mir ›guten Tag‹ wünscht.«)

Wenn es in Vers 6 als Bitte des Ichs an die Dame heißt: vnd grüzz dein aigenz hercz bey mir, so irritiert das in mehrerer Hinsicht: Erstens wird der Herzenstausch bereits als vollzogen vorausgesetzt. Zweitens: Stünde der Geliebte tatsächlich am oder läge er im Bett der Geliebten, dann wäre ein Hinweis auf den Herzenstausch dysfunktional. Drittens irritiert die Aufforderung zum Gruße (statt der erwartbaren Aufforderung zum Kusse) – denn man grüßt in spätmittelalterlichen Liedern stets diejenigen, die nicht anwesend sind oder nicht anwesend waren. Die nachfolgenden Verse erhärten genau diese Annahme, daß bei aller Präsenz, die sich in den Imperativen und in der Naheinstellung auf die Dame ausdrückt, das Ich zugleich körperlich gar nicht in der Kemenate anwesend ist: Begründet

48

sche Kategorie im Minnesang?, in: Höfische Literatur. Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983), hg. von Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 387–408, hier S. 400f.; Gert Hübner, Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone, 2 Bde., Baden-Baden 1996 (Saecvla Spiritalia 34/35), Bd. 1, S. 284. Wachinger [Anm. 32], S. 104f.

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wird in Vers 7 die Bitte um den Gruß ans Herz nämlich damit, daß das Ich der Stimme der Dame entbehre. Das ist allerdings für eine Situation der körperlichen Anwesenheit der Liebenden in der Kemenate nicht recht plausibel. Offenbar ist der erbetene Morgengruß also etwas nicht Stimmliches, etwas nicht Mediales, nicht Akustisches, eine imaginäre Fernkommunikation, die daher auch bei körperlicher Abwesenheit der Geliebten funktioniert. Der Herzenstausch bekommt die Funktion, daß die nur imaginierte Anwesenheit immerhin eine wechselseitige Kommunikation ermöglicht, auch wenn diese nur gedanklicher Natur ist. Denn statt daß die Dame dem Mann in der Kemenate antwortet, wünscht (V. 8) nur ihr Inneres, ihr rainer will ganz still, dem Mann einen guten Tag. Diese durch den Herzenstausch ermöglichte Kommunikation vollzieht sich also – wie im eingangs interpretierten Lied Walthers – ohne Stimme, körperlos. Alle diese Signale sind indes nicht eindeutig.49 Es bleibt durch die Uneindeutigkeit alles in der Schwebe. Offenbar geht es nicht darum, durch die Ausstellung der Paradoxien einen Ausdruck etwa wie Petrarca vom Verlust des »Seelenfriedens« zu erlangen.50 Vielmehr ist das Lied der Kohärenz innerweltlicher Ordnung enthoben: Paradox wird das Ganze daher erst, wenn man es referentialisiert. Im Fluidum einer imaginierten Minneszene sind alle diese Zustände gleichzeitig gegeben und ineinander verwoben. Damit überschreitet das Lied als der Ort der Imagination die Möglichkeiten der ›Realität‹ und entwirft eine virtuelle Welt, die keine Flucht ist, kein Traum, aus dem man erwacht, sondern die auf die ›Realität‹ schlicht nicht mehr angewiesen ist. Wie die ›Realität‹ aussieht, das erfährt der Rezipient z. B. im ›Kchühorn‹ (siehe unten): Dort gibt es keine Minnekommunikation, die von den realen Sorgen, Nöten, Ansprüchen, Zeiten und Räumen enthoben wäre. Die Verse 8–15 bilden nun eine Klimax, die in zwei Richtungen geht: Erstens werden die Kommunikationsakte immer körperlicher: vom reinen Willen in Vers 8, der wohl im Herzen zu situieren ist, über die Blicke in Vers 10, die dem Ich Zuversicht signalisieren, bis zum Gruß in Vers 15, der mit dem Mund gesprochen wird. Zugleich wird die Imagination einer Anwesenheit in der Kemenate immer schwächer, denn die Blicke, die die Dame ihm heute (V. 9) schenken soll, und der stimmlich geäußerte Gruß, der danach folgt, liegen offenbar in einer Zukunft nach der Verabschiedung des Ichs aus der Kemenate. Diese doppelte Klimax führt also bis zum einzigen ›Geschehen‹, das in dieser Strophe überhaupt einen nicht-imaginativen Charakter hat, das gesprochene Wort des Grußes: bis das geschicht, daz mir wünsch guten tag dein mund. Am Ende der Strophe kippt die gesamte imaginative Konstruktion in eine erhoffte Wirklichkeit, hier in das höchste Ziel schon der alten Minnesänger, daß die Dame sie grüßen möge (die in der Forschung mehr behauptete, als argumentativ 49 50

Darauf hat mich dankenswerterweise Herr Haubrichs in der Diskussion aufmerksam gemacht. Kablitz [Anm. 40], S. 276.

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begründete ›Erotisierung‹, die diese Klimax leisten soll, kann ich nicht erkennen).51

51

Z. B. Breslau [Anm. 30], S. 132: »Nach dem Motiv des Herzwechsels (V. 6) beschreibt der Erzähler, wie der Wunsch für einen guten Tag zuerst von der Geliebten nur in Gedanken ausgesprochen wird, dann mit mangem liben plick (V. 10) und schließlich durch ihren Mund, also mit zunehmender Erotisierung.«

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Noch einmal sei an dieser Stelle die Melodie des Liedes ins Spiel gebracht. Sie unterstreicht die hier vorgetragene Interpretation auf bemerkenswerte Weise. Am Ende des siebten Verses (Liedzeile Buchstabe h/i) fügt der Komponist das einzige längere Melisma innerhalb der Strophe ein. Mit diesem Melisma wird das Ende von Vers 7, dem auch in der Textinterpretation zentrale Bedeutung zukam, besonders markiert. Das Melisma trägt zudem eine Bedeutung, denn es macht die Abwesenheit der Stimme der Dame, um die es in diesem Vers geht, durch das Fehlen von Text hörbar. Auf der Silbe dir singt der Sänger diese Tonfolge, die somit als wortlos erscheint – so wie der Gruß der Dame wortlos vonstatten geht. Außerdem ist die erwähnte Klimax in der Melodie nachgezeichnet: Die schnelle rhythmische Figur in V. 8 (Liedzeile j) hat die Funktion, diesen sich über mehrere Zeilen hinziehenden Prozeß der Wirklichwerdung der Imagination gleichsam in Gang zu setzen. Erwach in liber sach, dein ärmlin rek, dein füzlin strek; ich wek dich auz der dek; dein hercz enplek vnd brüstlin wolgestalt, den dein arm tun dy nacht gewalt; (W 2,2,1–5) (»Erwache in Liebesdingen, recke deine Ärmchen, strecke deine Füßchen! Ich wecke dich aus der Decke heraus. Entblöße dein Herz und deine schönen kleinen Brüste, denen deine Arme nachts Gewalt antun.«)

Die Interpretation der zweiten Strophe des ›Taghorns‹ ergibt sich wie von selbst aus dem bisher Gesagten. Erneut beginnt die Strophe mit der starken Imagination einer unmittelbaren Nähe, wieder finden sich eine Häufung von Imperativen, die die Szenerie des Streckens und Reckens imaginieren, und wieder folgen Irritationen, die eine Abwesenheit in diese Anwesenheit hineinmischen, so daß wieder dieser charakteristische Zwischenzustand entsteht. Bereits der dritte Vers ich wek dich auz der dek ist mindestens doppeldeutig. Alle Übersetzer sind sich einig, daß gemeint sei: ›Ich wecke dich, indem ich dir die Decke

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wegziehe‹; man hat gar behauptet, hier würden die durch den Schlaf unterbrochenen Liebesspiele wieder beginnen.52 Lexikalisch ist die Übersetzung des ›Decke-Wegziehens‹ allerdings nicht gedeckt, möglich scheint zumindest auch die Übersetzung: ›ich wecke dich von innen, aus der Decke heraus‹, nämlich insofern das Herz des Ichs im Innern der Dame ist und er sie daher ebenso von innen (aus der Decke) wecken kann, wie sie in der ersten Strophe ihm innerlich (per Fernkommunikation) einen guten Tag wünschen konnte. Die anschließende Aufforderung, Herz und Brüste zu entblößen, zielt erneut auf die Vermischung von nur imaginativer und tatsächlich körperlicher Anwesenheit. Mit Vers 5 macht das Ich klar, daß es in der Nacht keine Präsenz des Mannes gab, daß da keine Liebesspiele waren, die durch den Schlaf unterbrochen wurden, denn ihre Arme, die Arme der Dame, ›tun‹ nachts ihren eigenen Brüsten ›Gewalt‹. Das ist ein unmißverständlicher Rückbezug auf die erwünschte Traumwirklichkeit aus dem ›Nachthorn‹ (siehe unten), in dem das Ich sich wünschte, daß die Dame nachts ihre Brüste selbst umfänge (siehe Strophe 2, V. 8–11). Der Höhepunkt an Irritation folgt in der zweiten Strophe des ›Taghorn‹ aber erst in den Versen 6 und 7 – übrigens genau an der Stelle, an der in der ersten Strophe ebenfalls die Irritation der Abwesenheit in die Tageliedsituation eingeführt wurde: dein haup enpör vnd hör das wunderlich geschell, wy dein gesell dich weken well. (W 2,2,6f.) (»Erhebe Deinen Kopf und höre die wunderlichen Klänge mit denen dein Geliebter dich wecken will.«)

Statt zur tageliedgemäßen Liebesvereinigung fordert das Ich die Dame auf, sich aufzurichten und zu hören; kein Körperkontakt also, sondern medial vermittelte Interaktion wird gefordert. Die erwünschte Kommunikation funktioniert genau anders herum als in der ersten Strophe: Während es dort die Frau sein sollte, die den Mann grüßt, ist es hier der Mann, der die Frau – so darf man es sich wohl vorstellen – über die Grenze der Kemenate hinweg mit seiner Musik, seinem Gesang anspricht. Durch die hier einmalige Rede über den Geliebten in der dritten Person (dein gesell) und durch die Erwähnung der Musik (geschell), die dieser Geliebte gerade ausübt, konfiguriert sich das Ich in der Doppelrolle eines Sängers, der abwesend ist (vor der Kemenate steht), und eines Geliebten, der anwesend ist (im Bett der Geliebten liegt). Übrigens paßt auch hier wieder die Melodie frappierend genau, denn am Ende von Vers 7 folgt das Melisma, das hier leicht als das geschell des Sänger-Geliebten zu decodieren ist. Im zweiten Teil der zweiten Strophe (V. 8–15) wird jener Habitus beschrieben, der dieses faszinierende Oszillieren zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Präsenz und Distanz überhaupt ermöglicht. Es ist der Habitus einer permanenten Meditation über den Herzenstausch: 52

Der Mönch von Salzburg [Anm. 34], S. 179.

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Ludger Lieb frau, ich betracht all tag vnd nacht den libsten anevang, wy mich betwang liblich scherczen in dem herczen, da ich den libsten wechsel traib, so daz mein hercz pey dir belaib; des wechsels ich her wider wart von dir, mein libstez fre¨ulin zart, vnd han all vart dich pey mir in meins herczen grund. W 2,2,8–15)

(»Frau, ich betrachte jeden Tag und jede Nacht den Beginn der Liebe, wie mich in dem Herzen das liebliche Scherzen überwältigte, als ich nämlich den angenehmsten Wechsel betrieb, so daß mein Herz bei dir blieb. Den Wechsel von deinem Herz zu mir beobachte ich, meine liebste schöne kleine Dame, und habe Dich auf allen Wegen bei mir im Grunde meines Herzens.«)

Das Ich ›meditiert‹ permanent über den Anfang der Liebesbeziehung, der im Herzenstausch besteht. Es ist letztlich wohl eine Form der Magie, die der Sänger hier treibt, eine »Praxis des Präsentmachens abwesender Dinge und der Entfernung präsenter Dinge«.53 Im Meditieren über das Phänomen des Herzenstauschs schafft das Ich eine andere Wirklichkeit, einen literarischen Freiraum, in der Anwesenheit und Abwesenheit zugleich gedacht werden können. In der dritten Strophe wird in den Versen 11–15 die tageliedtypische Situation abgeschlossen (gib vrlaub mir, frau auzerwelt ...).54 Es wird noch einmal die Imagination einer körperlichen Anwesenheit in der Kemenate stark gemacht, wobei aber erneut die Vereinigung im virtuellen Innenraum eines gedanklichen Kommunizierens als tragendes Konzept eingeblendet bleibt (V. 3,12: gedenk an mich und V. 3,15: tu dein genad mir all zeit kund). Deutlicher nehmen die ersten fünf Verse der dritten Strophe reziprok das Wünschen der ersten Strophe auf. Ging es dort um den Gruß und die Wünsche der Dame an das Ich, so wünscht nun das Ich der Dame nur das Beste: Lib zeit, dy gancz fre¨ud geit, sey dein gelait mit sälikait; (W 2,3,1f.) (»Eine Liebeszeit, die vollständige Freude gibt, begleite und segne dich.«

Daraufhin folgt eine ganz traditionelle Bitte des Minnenden, daß nämlich die Dame ihm sage, wie und was er tun und lassen soll: berait mich, frau gemait, wy dein will sait. das wil ¢ich² täglich mern, wann ich getet ny ding so gern. (W 2,3,3–5)

53 54

Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2004, S. 102f. Zum ›Urlaub‹ nehmen als Tagelied-Motiv siehe die Einleitung von Alois Wolf in Backes [Anm. 30], S. 35.

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(»Mach mich, schöne Dame, zu dem, zu dem du mich machen willst. Täglich will ich diese Übereinstimmung mit deinem Willen vermehren, denn ich würde nichts lieber machen.«)

Im Kontext dieses Liedes, in dem das Ich imaginativ durch seine Imperative permanent das Handeln seiner Dame wie bei einer Spielfigur bestimmte, bekommt diese Aufforderung den Charakter einer reziproken Ergänzung: Auch das Ich will sich vom Willen der Dame völlig gestalten lassen. Im Mittelpunkt der dritten Strophe aber, in den Versen 6–8, wiederholt sich eine Aussage, die unterstreicht, worin die ganzen raffinierten Brechungen von Anwesenheit und Abwesenheit kulminieren: wurd mir das hail zu tail, dich täglich sehen an, auf e¨rd ny man sölch fre¨ud gewan; wenn so ich dich, traut frau, ansich, so han ich fre¨ud genug. (V. 2,3,6–8) (»Würde mir das Heil zuteil, dich täglich anzusehen, hätte ich eine Freude, die kein Mensch auf Erden je hatte, denn wenn ich dich, geliebte Dame, ansehe, habe ich vollkommene Freude.«)

Das Heil, die ultimative Freude, die das Ich erreichen will und die im übrigen hier durch das Melisma der Melodie ausgedrückt wird, besteht darin, die Frau permanent anzusehen. Als Ziel all der Imaginationen wird nicht die körperliche Liebeserfüllung, die man im Spätmittelalter so gerne thematisiert sieht, also nicht das ›Wirklich-Werden‹ der Imaginationen der Präsenz genannt, sondern das ›Wirklich-Werden‹, das ›Sinnlich-Werden‹ der imaginativen Wahrnehmung. Was in Walthers Lied noch nicht so deutlich hervorkam, die Gelegenheit des wiederholten Sehens mit den Augen des Körpers, ist genau das, was das Ich im Lied des Mönchs anstrebt, denn die Autopsie ist Quelle der Imagination: Das Ich hofft auf die Wahrnehmung der Dame mit seinen äußeren Sinnen. Nur wenn nämlich das Ich permanent affiziert wird durch den Anblick der Dame, kann es seine imaginativen Akte vollziehen, die das Ich hineinbringen in die Kemenate, in den Innenraum, unter die Decke der Geliebten.

IV. Abschließend soll die hier vorgelegte Interpretation des ›Taghorn‹ durch einen kurzen Blick auf einige andere Lieder, die dem Mönch von Salzburg zugeschrieben werden, gestützt bzw. modifiziert werden, vor allem durch einen Blick auf die schon erwähnten Lieder das ›Nachthorn‹ (W 1) und das ›Kchühorn‹ (W 3).55 55

Lohnend wäre auch ein Vergleich mit den geistlichen Liedern des Mönchs, der hier nicht geleistet werden kann. So lassen sich etwa über den Topos von den ›Augen des

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Ludger Lieb

In der Corpus-Handschrift des Mönchs (Mondsee-Wiener Liederhandschrift) steht das ›Taghorn‹ an zweiter Stelle innerhalb eines Komplexes von fünf Liedern (W 1–W 5), die nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch verschiedene Möglichkeiten präsentieren: Mit »diesem Block der Lieder W1–W5 [wird] gleichsam ein Katalog, ein Prosepkt von Möglichkeiten vorgeführt [...], wie zwei Stimmen zueinander in ein Verhältnis treten können.«56 Inhaltlich wurde vor allem die angeblich zyklische Anordnung hervorgehoben: »Die Lieder ergeben nach der Plazierung ihrer Sujets im Tagesablauf den Kreislauf eines vollständigen Tages. ›Das nachthorn‹ spielt, wie der Titel andeutet, in der Nacht, ›Das taghorn‹ in den frühen Morgenstunden, ›Das kchühorn‹ nach Mittag [...]; ›Ain enpfahen‹ enthält zwar keine eindeutigen Zeitsignale im Text, wird durch seine Stellung innerhalb des Zyklus jedoch zwingend mit dem frühen Abend konnotiert, da ›Dy trumpet‹ erneut zur Nachtzeit situiert ist.«57 Das ›Nachthorn‹ ›spielt‹ allerdings keineswegs in der Nacht, sondern ist ein Abendgruß mit Wünschen und Hoffnungen für die kommende Nacht.58 Außerdem wird über-

56

57

58

Herzens‹ Verbindungen zu geistlichen Denkformen ziehen, vgl. Groos [Anm. 2], S. 161f. (mit Hinweis auf Eph 1,18). Auch das ›Wohnen im Herzen‹ wurde im Zusammenhang mit Heinrich von Morungen schon lange in den Kontext der Marienverehrung gestellt: »Heinrich von Morungen berührt mit Scheu das Geheimnis, wie, gleich dem Wunder der Empfängnis Mariae, die Dame ihm durch unverletzte Augen ohne Tür ins Herz gekommen« (Ohly [Anm. 15], S. 131f.; vgl. auch die weiteren Literaturangaben zu den geistlichen Implikationen der Morungen-Strophe ebd., Anm. 5). – Von den geistlichen Liedern konkret zu nennen wäre etwa das Weihnachtslied G 10 ›Maria, keusche muter zart‹ (Der Mönch von Salzburg, Die geistlichen Lieder, hg. von Franz Viktor Spechtler, Berlin/New York 1972, S. 169–173), in dem das Ich – ähnlich wie zu Beginn des ›Nachthorn‹ – die Dame (hier Maria) darum bittet, daß es eine gute Nacht (hier: Heilige Nacht) habe und immer die Geheimnisse ›betrachte‹, mit denen die Vereinigung von Gott und Maria vonstatten gehe (V. 9–11: das ich an diser heilgen nacht dein junkfräulich gepurd betracht, wie sich dein vater in dich flacht). Interessant ist auch die mehrfache Beschäftigung mit dem Thema der Verkündigung, die z. T. mit Tagelied- und Liebesbotschaftsituationen ausgestattet ist, z. B. in G 14, V. 40ff., oder in G 23, einem Gedicht über die 8 Tagzeiten, in der auch ein Morgenlied (Matutin) mit Thematik des anbrechenden Morgens vorkommt. März [Anm. 29], S. 13; vgl. auch Ulrich Müller, Kontext-Informationen zum ›Sitz im Leben‹ in spätmittelhochdeutschen Lyrik-Handschriften: Mönch von Salzburg, Michel Beheim, in: Entstehung und Typen mittelalterlicher Lyrikhandschriften. Akten des Grazer Symposiums, 13.–17. Oktober 1999, hg. von Anton Schwob und Andra´s Vizkelety, Bern [u. a.] 2001, S. 187–206; Franz Viktor Spechtler, Mittelalterliche Liedforschung. Aufzeichnungs- und Aufführungsform der Lieder des Mönchs von Salzburg, JbOWG 1 (1980/81), S. 175–184. Martin Huber, Fingierte Performanz. Überlegungen zur Codifizierung spätmittelalterlicher Liedkunst, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17), S. 93–106, hier S. 101f.; zurückhaltender formuliert Wachinger [Anm. 32], S. 104: »fünf Stücke [...], die überwiegend zweistimmig sind und verschiedene Varianten von Begegnungen und Gesprächen im Umkreis der Tageliedtradition durchspielen«. Ungenauigkeiten der Forschung angesichts der subtilen und komplexen Konstruktio-

Innenräume der Dame

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sehen, daß die Beziehungen zwischen den Liedern unterschiedlich stark sind: ›Taghorn‹ und ›Nachthorn‹ gehören aufgrund der monologischen Sprechsituation sehr eng zusammen, sie sind spiegelbildlich und mittels intertextueller Verweise aufeinander bezogen; das ›Kchühorn‹ stellt als Tagelied-Parodie etwas ganz anderes dar, geradezu einen Kontrapunkt zu den ersten Liedern. Ähnliches ließe sich auch von den anderen beiden Liedern (W 4 und W 5) sagen, doch erreichen diese nicht mehr die textuelle Komplexität und Subtilität der ersten drei Lieder und erscheinen eher als formale Experimente. 1. Das ›Nachthorn‹: Hier findet sich eine sehr ähnliche Sprechsituation. Wieder besteht das gesamte Lied aus einem Monolog und wieder richtet sich der Monolog permanent an eine Dame. Die tageszeitliche Situierung ist genau spiegelbildlich zum ›Taghorn‹: Während dieses am frühen Morgen, an der Schwelle zwischen Nacht und Tag, ›spielt‹, ist jenes (das ›Nachthorn‹) am Abend, an der Schwelle zwischen Tag und Nacht situiert. Ausgesprochen wird in der ersten Strophe eine Bitte an die geliebte Dame, dem Ich eine fröhliche Nacht zu wünschen: Zart libste frau in liber acht, wünsch mir ain liblich frölich nacht; (W 1,1,1f.) (»Schöne liebste Dame, die ich in Liebe ansehe, wünsche mir eine liebliche fröhliche Nacht.«)

Wie Christoph März anmerkt, meint die Wendung in liber acht (V. 1,1), daß »die Frau mit den Augen der Liebe gesehen wird«.59 Im Zusammenhang mit der Bitte, daß die Dame etwas wünschen (nicht: etwas tun) soll, verweist dieser Anfang sogleich darauf, daß ein Geschehen anvisiert ist, das in wechselseitiger gedanklich-imaginärer Weise manifest wird: Süße Träume soll die Dame dem Ich wünschen, Imaginationen einer Anwesenheit der Dame, einer Liebeserfüllung, die das Ich so fröhlich machen, daz ich mir wünsch das hail, daz ich slaffen solt an straffen in sölcher liber sach an end. (W 1,1,11–13) (»daß ich mir das Folgende zum Heil wünsche, daß ich nämlich, ohne daß es mir jemand übel nähme, in solchen Liebesangelegenheiten ohne Ende schlafen dürfte.«)

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nen des Mönchs sind keine Seltenheit, man vergleiche nur die so andeutungsreichen wie diffusen Aussagen Spechtlers im Kommentar zur Edition: Der Mönch von Salzburg [Anm. 36], S. 179: »der einsame Liebhaber wälzt sich liebeshungrig im Bett usw. [...] Die Bezeichnung ›nachthorn‹ in der Überschrift ist ein typischer Kunstgriff des Mönchs. Er gibt damit einen Hinweis für die Aufführungspraxis: Hornstöße, zeigt, daß das Geschehen zu einer ungewöhnlichen Zeit spielt: in der Nacht, und bringt durch die Verbindung der Begriffe eine köstliche Mehrdeutigkeit zustande.« März [Anm. 29], S. 368.

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Ludger Lieb

Durch süße Träume fröhlich gemacht, meint also das Ich nachts, sein Heil bestehe in einem ungestörten dauerhaften Liebestraum. Die zweite Strophe des ›Nachthorns‹ widmet sich nun dem reziproken Traum der Dame, den das Ich sich wünscht: Dich lät nicht ain meins herczen gir; dar vmb so wünsch ich me wenn zwir, daz dir sol traumen auch von mir; wy ich gar frölich sey bey dir vnd doch in gut nach deinem mut behut, an hercz gesmukt vnd schon gedrukt in ärmlin weiz mit fleiz; vnd daz du mynnikliche dirn in süzzem slaf dy herczen libsten pirn vmbvingest nach dem willen mein, als ich da selb solt sein. in den sachen sold entwachen; mein hercz sold frölich sein behend. (W 2,2,1) (»Die Begierde meines Herzens läßt dich nicht allein, daher wünsche ich mehr als zweimal, daß Du auch von mir träumst, nämlich davon, wie ich fröhlich bei Dir wäre (und doch in guter Absicht und nach deinem Willen behütet) an das Herz geschmiegt und lieblich gedrückt mit Eifer in die weißen Ärmchen; und daß du liebenswertes Mädchen in süßem Schlaf die herzliebsten Birnen (= Brüste) umfingest, wie es meinem Willen entspräche, als ob ich selbst da wäre. In diesem Zustand sollten wir (solltest Du, sollte ich?) erwachen, mein Herz würde sofort fröhlich sein.«)

In dieser zweiten Strophe des ›Nachthorns‹ wird ein imaginativer Vorgang erzählt, der zunächst an die typischen Imaginationen, wie wir sie von Guillaume de Machaut oder von den Traumerzählungen kennen, anknüpft. Und die dritte Strophe ist schließlich ganz in diesem traditionellen Stil gehalten: Imaginationen einer Präsenz der Dame, die sich als Imagination entpuppt, indem sie vergeht. Dagegen wird in der zweiten Strophe nicht retrospektiv von einer Traumerscheinung o. ä. gesprochen, sondern der Sänger träumt sich – ähnlich wie im ›Taghorn‹ − in die Innenräume der Dame hinein. Der Sänger imaginiert sich als Liebenden, der seine geliebte Dame anredet. Dieser Liebende imaginiert seinerseits, daß die Dame von ihm träumt, also seine Anwesenheit imaginiert. Die drei imaginativen Akte dieser zweiten Strophe erzeugen eine solche imaginative Intensität, daß das Ich am Ende der Strophe sagen kann: Jetzt, in den sachen sollte ich, solltest Du aufwachen und – das ist die Pointe: Mein Herz sollte sogleich fröhlich sein. Das Ich erwartet also, daß die Imagination so stark sein könnte, daß dem Erwachen aus dem Traum nicht eine Ernüchterung folgte, sondern daß der imaginierte Zustand der Anwesenheit eine faktische körperliche Anwesenheit konstituieren könnte. Im Grunde wird also im ›Nachthorn‹ genau das erhofft, was im ›Taghorn‹ ins Werk umgesetzt ist: eine virtuelle Präsenz der Liebenden in einem zeit- und raumtranszendierenden Imaginationsraum.

Innenräume der Dame

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Das ›Taghorn‹ ist also der Vollzug des Ideals: Durch ein geschicktes Spiel mit den tradierten Modellen (u. a. Tageliedsituation, Herzenstausch) wird eine Imagination von Anwesenheit installiert, die sogar der Wirklichkeit einer Abwesenheit kompatibel ist. Das ›Nachthorn‹ dagegen markiert die nächtliche Vision des sehnsüchtig Liebenden, die stets von Ernüchterung bedroht ist (3. Strophe). In ihr aber wird das Ziel formuliert: der Umschlag der wechselseitigen Traumvision einer Anwesenheit in eine dauerhafte virtuelle (poetische) Anwesenheit! 2. Das ›Kchühorn‹: Abgesehen von dem, was schon oben (S. 280f. und 289f.) zu diesem Lied gesagt wurde, sei zum Schluß noch folgendes angefügt: Formal ist das ›Kchühorn‹ deutlich als Parodie zu ›Taghorn‹ und ›Nachthorn‹ gekennzeichnet, nicht nur wegen der tageliedtypischen aufgeregten Grundstimmung, die sich in der schnellen Melodieführung ausdrückt (siehe oben), sondern auch wegen des Dialogs zwischen Knecht und Magd, dem noch ein Erzähler bzw. Wächter übergeordnet wird. Im Gegensatz zum Monolog im ›Taghorn‹ und ›Nachthorn‹ begegnet dem Zuhörer hier eine unüberhörbare Vielstimmigkeit. Die vielen Stimmen thematisieren nun – und das ist ein weiterer Unterschied – vor allem Probleme, Probleme post coitum, Probleme, die sich ergeben, wenn nach dem ›Schäferstündchen‹ der Alltag wieder einbricht: Die Kühe sind ungemolken, Angst vor dem Spott der Leute und vor dem Verlust der Anstellung, Mißtrauen des Knechtes, Vorwurf der Untreue etc. Es gibt hier zudem auch keinen Innenraum, sondern nur das Außen des Feldes, wo dirn und knecht auf dem Stroh beieinander liegen. Innenräume kommen nicht den Mägden auf dem Felde, sondern nur den Damen zu. Ausdrücklich markiert der Erzähler im Lied diese Statusdifferenz, wenn er bemerkt, daß für Knechte und Mägde die sexuelle Befriedigung geeignet sei: das füget sich wol ainem armen kneht oder: Wenn die Magd am frühen Morgen heizen will, dann holt sie sich den Knecht. Damit erweist sich die sexuelle Erfüllung in der Liebesbeziehung gleichsam als ein Privileg der ›Unterschicht‹ oder besser andersherum: Die Fähigkeit zur ästhetischen Produktion von imaginierter Präsenz, die eine ›körperlose‹, aber höchst erregende Liebesbeziehung ermöglich, ist ein Privileg der höfischen Gesellschaft, für die der Mönch von Salzburg vor allem im ›Taghorn‹ sein subtiles Können zeigt.

Wolfgang Haubrichs

Zur Ausstattung des ›inneren Menschen‹ Die historische Semantik von conscientia, castitas und k(i)usche im frühen und hohen Mittelalter I. Historische Semantik und Wortgeschichte Selbst wenn es den Begriff ›Gewissen‹ im Sinne eines regulativen Bewußtseins oder Wissens im späten 12. Jahrhundert noch nicht gegeben hätte, so könnten wir unschwer aus Geschichten, wie sie der ›Erec‹ Hartmanns von Aue bietet, ablesen, daß es das Phänomen schon gab. Wenn der Protagonist Erec einmal, wenn auch nicht sponte sua, in jener berühmten Bettszene, seines fehlerhaften Verhaltens innegeworden ist, weiß er sofort, daß und was er zu handeln hat: Er besitzt das ›richtige Bewußtsein‹.1 Wenn man freilich geneigt wäre, diese Kategorie für eine Innovation des 12. Jahrhunderts zu halten, so irrte man. Was unterscheidet das Bewußtsein Erecs von demjenigen der Eltern des magister Iso von St. Gallen, die, nachdem sie entgegen den Geboten der Kirche vor dem Besuch der heiligen Sonntagsmesse miteinander geschlafen haben, nach einer Erzählung des St. Galler Chronisten Ekkehard IV. aus dem frühen 11. Jahrhundert, sofort wissen, was sie in Beichte und Buße zu tun haben, um Schuld und Sünde zu tilgen?2 Wir können aus solchen historiae lernen, wie wichtig eine kontextorientierte Semantik ist, die Bedeutung aus Narrationen zu extrahieren vermag. Man kann auch lernen, daß das Phänomen ›avant le mot‹ zu existieren vermag.3 Das entwertet wort- und begriffsgeschichtliche Studien, Semasiologie und Onomasiologie nicht. Im Gegenteil, sie werden dann um so wichtiger, wenn – wie im Frühund Hochmittelalter – die narrativen, situationsschildernden Quellen eher gering sind. Dann müssen zur Bedeutungsfindung Glossierungen, Übersetzungen 1

2

3

Hartmann von Aue, Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 7 2006 (ATB 39), V. 2924–3049. Ekkehardi IV. Casus Sancti Galli, hg. und übersetzt von Hans H. Haefele, Darmstadt 1980 (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des deutschen Mittelalters 10), S. 71– 75 (c. 30f.); vgl. Wolfgang Haubrichs, Bekennen und Bekehren (confessio und conversio). Probleme einer historischen Begriffs- und Verhaltenssemantik im zwölften Jahrhundert, Wolfram-Studien 16 (2000), S. 121–156, hier S. 128–130. Vgl. dazu Wolfgang Haubrichs, Emotionen vor dem Tode und ihre Ritualisierung, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter, hg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten, Berlin/New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 70–97.

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Wolfgang Haubrichs

und schließlich Etymologien hinzutreten. Besonders interessante Fälle der Begegnung zweier Sprachen, zweier Bezeichnungs- und Bedeutungssysteme bieten Lehnwörter, Entlehnungen aus einer anderen Sprache. Einen solchen Fall, der zugleich einen Einblick in die Frühgeschichte der Begrifflichkeit des regulativen Bewußtseins zu geben vermag, möchte die folgende Analyse von mhd. kiusche, ahd. ku¯ski behandeln.

II. Die Etymologie von ahd. ku¯ski, mhd. kiusche Ein mhd. kuˆsche, kiusche entsprechendes Wort ist früh nur in einem besonderen Spektrum der westgermanischen Sprachen belegt: nämlich im Altsächsischen (ku¯ski, ku¯sc, Adverb ku¯sko), im Altfriesischen (ku¯sk) und im Althochdeutschen (ku¯ski, Adverb ku¯sko).4 Hinzu kommt stellvertretend für den nördlichen Bereich des Fränkischen mndl. cuusc. Es ist also ein kontinentales, sich auf die im Frankenreich integrierten bzw. in randlichem Kontakt mit diesem stehenden gentes beschränktes Wort. Bei der zentralen regulativen und ethischen Bedeutung, die das Wort keusch und seine Ableitungen im Laufe des Mittelalters gewannen, ist es nicht verwunderlich, daß schon früh intensive Bemühungen um die Etymologie dieses in den germanischen Sprachen eher isolierten Worts unternommen wurden. Bemühungen, das Wort in indogermanische Zusammenhänge einzubetten, dürfen als gescheitert angesehen werden. 1912/13 hat Ferdinand Sommer, an Jakob Grimm anknüpfend, als Basis die idg. Wurzel *gˆeus- mit der Bedeutung ›kosten, prüfen, auserwählen‹ (vgl. ahd. kiosan) erschließen wollen, von der das ahd. Wort mit adjektivischem sk-Suffix abgeleitet sei.5 Doch ist diese Anknüpfung von der Indogermanistik nicht rezipiert worden; sie scheitert zusätzlich an den lautlichen Verhältnissen – u¯, nicht iu – des ahd. Worts. Auch semantisch abwegig ist der 1945 von Wilhelm Kaspers gestartete Versuch, mit gleichem Ableitungssuffix zu einer postulierten, aber in dieser Form nicht weiter verifizierbaren Wurzel *gu¯- zu stellen, deren Bedeutung sich von ›krumm, gebogen, demütig geneigt‹ zu ›schamhaft‹ und ›rein‹ entwickelt hätte.6 So ist heute allgemein anerkannt die zuerst von Hans Sperber 1914/15 gebotene Erklärung als Lehnwort, das etymologisch eine vulgärlateinische Form 4

5 6

Friedrich Kluge/Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York 242002, S. 485; Dennis H. Green, Language and History in the early Germanic world, Cambridge 1998, S. 319f. Ferdinand Sommer, Zur deutschen Wortforschung 4: keusch, Indogermanische Forschungen 31 (1912/13), S. 372–373. Wilhelm Kaspers, Zur Etymologie von ahd. chuˆski ›keusch‹, PBB 67 (1944), S. 151–154.

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von lat. conscı´us ›bewußt‹ fortsetzt.7 Auf dieser Basis ist in der Tat eine schlüssige, auch auf der romanischen Seite überzeugende Ableitung möglich. Vulgärlateinische, sprechlateinische Ausgangsform ist die Obliquusform *consciu. Diese Form unterlag alsdann dem romanischen Nasalverlust vor [s], so wie mensa ! me¯sa, trans ! tra¯s (it. tra), mansu ! ma¯s(u), sponsa ! spo¯sa etc.8 Die in diesem Lautwandel zugleich produzierte Ersatzdehnung des vorausgehenden Vokals erzeugte die Form co¯sciu. Zu einigen dieser Wörter mit haupttonigem [o¯] entwickelten sich Varianten mit [u¯], wie bei so¯brius mit vulgärlat. su¯brius, und entlehnt as. su¯bri, ahd. su¯bar ›makellos‹,9 wie bei Ro¯ma mit ahd. Ru¯ma ›Rom‹, ahd. Ru¯mari, und got. Ru¯mareis ›Römer‹,10 wie lat. mo¯rus, entlehnt ahd. mu¯rberi ›Maulbeere‹, wie lat. lo¯ra, entlehnt ahd. lu¯ra ›Nach-, Tresterwein‹, wie lat. to¯phus, entlehnt ahd. tu¯fstein.11 Es entstand die Form cu¯sci(u), die recht früh – und deswegen ohne die romanische Palatisierung – als ku¯ski- in westgermanische Gentilsprachen übernommen wurde. Wegen des folgenden [-i] entwickelte sich eine umgelautete Variante kiusci, die seit dem späten Althochdeutschen mit ¢iu² bezeichnet wurde. Auf der Grundlage von doch eher selten belegten prov. cusc ›pur, vertueux‹ und afrz. cuschement ›re´ve´remment‹, also ›rein, tugendhaft, ehrerbietig‹ haben Walther von Wartburg und ihm folgend Theodor Frings und Gertraud Müller (vor allem aus wortgeographischen Gründen) ein got. *ku¯sk-eis als Ausgangsform sowohl der romanischen wie auch der westgermanischen Wörter postuliert, wenn auch mit Fragezeichen.12 Man hat dann die Einführung dieses Lehnworts ins Althochdeutsche der ominösen, heute kaum noch mit Substanz zu versehenden gotisch-arianischen Mission in Süddeutschland zuschreiben wollen, doch ist dies völlig hypothetisch.13 Völlig ausreichend ist dagegen für die Erklärung sowohl der romanischen als auch der germanischen Entwicklung die oben skizzierte Dualität von vulgärlat. *cu¯sci(u) und westgerm. ku¯ski.

7 8 9 10 11 12

13

Hans Sperber, Beiträge zur germanischen Wortkunde D. keusch, Wörter und Sachen 6 (1914/15), S. 14–57, hier S. 55–57. Vgl. Lothar Wolf/Werner Hupka, Altfranzösisch. Entstehung und Charakteristik. Eine Einführung, Darmstadt 1981 (Die Romanistik), S. 44, §57. Vgl. John Hennig, Sauber, Muttersprache 82 (1972), S. 45–51; Kluge/Seebold [Anm. 4], S. 787. Sigmund Feist, Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache, Leiden 31939, S. 400f. Vgl. Wilhelm Braune/Ingo Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik I. Lautund Formenlehre, Tübingen 152004, §41. Theodor Frings/Gertraud Müller, Das Wort keusch, in: Erbe der Vergangenheit. Germanistische Beiträge. Festgabe für Karl Helm, Tübingen 1951, S. 109–135. Vgl. ferner Elias Wesse´n, Om den äldsta kristna terminologien i de germanska fornspraken, Arkiv för Nordisk Filologi 44 (1928), S. 75–108. Auch Green [Anm. 4], S. 319f. nimmt eine ostgerm. (gotische?) Zwischenstufe an, die dann (wohl aus Südfrankreich) auch ins Altprovenzalische einwirkte.

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Wolfgang Haubrichs

Ich halte das Wort für eines der im Rahmen des merowingischen Frankenreichs wie Priester, klirih ›Kleriker‹, Bischof, Jünger  iunior, wie aber auch Sünde, ahd. suntia  sons, sonte ›Schuld‹ und sauber, ahd. su¯bar  sobrius entlehnten Wörter der fränkischen Kirchensprache.14 Auf jeden Fall zeigen die vulgärlateinischen und romanischen Entwicklungen des Wortes, daß es nicht auf gelehrter, sondern auf sprechsprachlicher Ebene entlehnt wurde und zwar früh. Dafür spricht auch, daß spätere Lehnbildungen lateinische Wörter mit con- wie z. B. communitas mit gi-meinida ›Gemeinde‹ und compater mit gi-fatero ›Gevatter‹ übersetzt und nicht direkt entlehnt haben.15

III. Wort- und Bedeutungsgeschichte Die frühe Bedeutungsgeschichte von ku¯ski und seinen Ableitungen ist 1951 grundsätzlich und umfassend von Theodor Frings und Gertraud Müller aufgehellt worden. Sie unterscheiden für das Althochdeutsche acht Bedeutungsbereiche:16 1) Gerade noch repräsentiert durch zwei frühe Glossen non est fas: ni ist chuski nefas est: unchus ist

wird die Bedeutung von ›geziemend, sittlich‹, also das, was das göttlich gesetzte Recht, die göttlich gesetzte Pflicht fordert.17 2) »Allgemein das, was der Anstand fordert: sittsam, züchtig, auch bescheiden, besonnen als Ergebnis von Beherrschung und innerer Zucht«: Hier sind Übersetzungen von modestus, modestia und teilweise auch sobrius einzuordnen,18 aber auch das nur durch die ags. Genesis B überlieferte þurh cu¯scne siodo (›mit sittsamem Verhalten‹) der altsächsischen Genesis.19 14

15

16 17 18 19

Vgl. dazu Wolfgang Haubrichs, Die Missionierung der Wörter. Vorbonifatianische und nachbonifatianische Strukturen der theodisken Kirchensprachen, in: Bonifatius – Leben und Nachwirken (754–2004). Die Gestaltung des christlichen Europa im Frühmittelalter, hg. von Franz Felten (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte) [im Druck]. Vgl. Hans Siegert, Griechisches in der Kirchensprache. Ein sprach- und kulturgeschichtliches Wörterbuch, Heidelberg 1950, S. 85, mit Hinweis auf lat. communio (ahd. gi-meinida), compater (ahd. gi-fatero), conscientia (ahd. gi-wizzanı¯), convertere (ahd. bi-ke¯ran), confessio (ahd. bi-jiht). Frings/Müller [Anm. 12], S. 112ff., 122–135. Elias von Steinmeyer/Eduard Sievers, Die althochdeutschen Glossen, Bd. 1, Berlin 1879, 217,10; 510,53. Frings/Müller [Anm. 12], S. 112. Heliand und Genesis, hg. von Otto Behagel, 10. Aufl. von Burkhard Taeger, Tübingen 1996 (ATB 4), V. 618.

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Zur Ausstattung des ›inneren Menschen‹

3) Dem steht nahe der Sinnbereich von ›würdig, ehrenwert als Ergebnis einer von außen herangetragenen Wertschätzung‹, also einer Beurteilung: Hier sind Übersetzungen von dignus und honestus einzuordnen,20 auch das Adverb ku¯sko für honeste 21 und gleichlautendes as. ku¯sko ›mit Anstand‹ im ›Heliand‹.22 Notker hat ha´rto chı´uske frı´unt für honestissimi amici. 23 Aussagekräftig ist vor allem jene Szene in Otfrids Evangelienbuch III,19,32–35, in der Io 8,49ff. ausgelegt wird, die Vertreibung Jesu mit Steinwürfen, nachdem er seine Gottessohnschaft öffentlich bezeugt, und sein geduldiges Ertragen der Anfeindungen:24 [...], Bı´lidon thaz ouh a´lle, so we´r so thes githe´nke, Thaz ist ku¯sgi joh ouh gu´at,

er sine fı´anta firdru´ag. so wer so wo´la wolle, then dı´ufal biskre´nke! [...].

(»[...] er ertrug seine Feinde geduldig. Möge das jeder nachahmen, der guten Willens ist; wer immer dies im Sinn hat, werfe so den Teufel nieder! Das ist ehrenwert und fromm [...]«)

4) Kaum zu trennen ist der Bereich, in dem es um die honestas im Sinne des Ehrenhaften, des sittlich Guten geht. So übersetzt Notker de honestate mit fo´ne chı´uskero taˆte, und die Doppelformel honestum et turpe mit einer Variationsreihe: dicamus zı´mıˆg uˆnde unzı´mıˆg, chu´isg u´nde u´nchuisg, eˆra u´nde u´nera [...].25 5) Aus dem Bedeutungsbereich ›geziemend‹ entwickelt sich dann, vielleicht nur okkasionell, die Bedeutung ›geeignet, passend für eine besondere Aufgabe‹ in der Übersetzung von idoneus.26 6) Als eine zweite Extension darf der Bedeutungsbereich ›rein, heilig, makellos‹ in Bezug auf Ehrfurcht und Liebe, ›die zwischen Gott und Mensch waltet‹, 20 21 22 23

24

25 26

Frings/Müller [Anm. 12], S. 113. Steinmeyer/Sievers [Anm. 17], Bd. I, 64,13; 65,16. Heliand und Genesis [Anm. 19], V. 551: quaddun sie ina suˆsco an cuninguuıˆsun [...]. Frings/Müller [Anm. 12], S. 113; vgl. Die Schriften Notkers und seiner Schule, hg. von Paul Piper, Bd. 1, Freiburg i. Br [usw.] 1882 (Boethius, De consolatione), (Germanischer Bücherschatz 8), S. 35, 31. Otfrids Evangelienbuch, hg. von Oskar Erdmann, 4. Aufl. besorgt von Ludwig Wolff, Tübingen 1962 (ATB 49), S. 138. Im Sinne von ›ehrerbietig, züchtig‹, also lat. honeste, ist auch die ohne biblisches Vorbild konzipierte Szene Otfrids (II,3,23f.), in welcher der ehrerbietige, geziemende ›Tempelgang‹ Symeons und Annas geschildert wird: Symeo´n joh A´nna quam gimu´ato, / sie giangun ku´sgo ingegin u´z tha´r zi themo go´tes hus. Hier wird ein soziales Muster reproduziert. Frings/Müller [Anm. 12], S. 113; vgl. Die Schriften Notkers [Anm. 23], S. 42, 20 (Boethius, De consolatione); S. 605, 9–11 (Boethius, De syllogismis). Frings/Müller [Anm. 12], S. 113, mit Verweis auf Steinmeyer/Sievers [Anm. 17], Bd. 2, 762,5 (Sermo in Nicolaum): quvsken : idoneum [dissertorem].

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angesehen werden. Erst Notker Labeo († 1022) gewährt diese Bedeutung und zwar jeweils in der Übersetzung von castus.27 7) Extensionen des Bedeutungsbereichs ›Zucht, Besonnenheit‹ in Richtung auf sinnliche Genüsse schließen sich an, z. B. ›mäßig, nüchtern, enthaltsam im Trunk‹, so früh belegt in der Übersetzung chuskeer beim cellerarius monasterii [...] sobrius, non multum edax in der ›Ahd. Benediktinerregel‹.28 8) Hier schließt sich ferner an die Extension auf den sexuellen und erotischen Bereich im Sinne von ›züchtig‹ und ›keusch‹, freilich erst in späten Quellen wie Notker und ›Bamberger Beichte‹ belegt, in denen pudicus, pudor u. ä. übersetzt werden, vorwiegend ausgesagt im Hinblick auf weibliche Tugenden. In diesen Bereich sind auch häufig die Bedeutungen der Deszendenz des Adjektivs ku¯ski einzuordnen, ebenso unverhältnismäßig oft die Ableitungen und auch die Negationen wie ku¯sklı¯hh, unku¯ski, ku¯skida und unku¯skida, nicht aber primäre Bildungen, was wiederum dafür spricht, daß wir es hier nicht mit der ältesten Bedeutungsschicht zu tun haben.29 Bevor ku¯ski sich den Bedeutungsbereich von ›Reinheit‹ und ›Makellosigkeit‹ eroberte, entfaltete es sich in den semantischen Bereich von modestia, maßvollem und beherrschtem Verhalten und von Besonnenheit. Dahinter aber stehen als erste die Bereiche des honestum und des fas, die auch am frühesten belegt sind, und zwar insofern sie das Bewußtsein von ihren Inhalten und das bewußte Verhalten nach ihren ethischen Maßstäben voraussetzen. Hier sind wir dann auch ganz nahe an den romanisch weiterentwickelten Wörtern cusc und cuschement mit ihren Bedeutungen ›ehrerbietig, zurückhaltend, tugendhaft, rein‹. Für die mittelhochdeutsche weltliche Dichtung hatte 1975 Herbert Kolb in seinem wegweisenden Aufsatz ›Vielfalt der kiusche‹ geschrieben:30 Das Wort kiusche scheint den Dichtern der weltlichen Literatur des Mittelalters, insbesondere höfischen Stils, eher verfänglich gewesen zu sein. Sie haben es nur spärlich verwendet und am liebsten ganz gemieden. Zu stark lebte ihre Dichtung aus der 27

28

29 30

Frings/Müller [Anm. 12], S. 113: mit chusgera forhten, nals mit scalhlichero : casto timore, non servili; vgl. Notkers Psalmen nach der Wiener Handschrift, hg. von Richard Heinzel und Wilhelm Scherer, Strassburg/London 1876, S. 232, Ps. 118 N 102; mit chusgera minna : casto timore; vgl. ebd. S. 235, Ps. 118 P 120. Die lateinisch-althochdeutsche Benediktinerregel Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 916, hg. von Achim Masser, Göttingen 1997 (Studien zum Althochdeutschen 33), S. 221, c. 31 [Schreibung normalisiert]: chvskeer nalles filu ezzaleer : sobrius. non multum edax [vom cellerarius gesagt]. Frings/Müller [Anm. 12], S. 112f.; 114; 115, 2b; 118f. Herbert Kolb, Vielfalt der Kiusche. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie zu Wolframs ›Parzival‹, in: Verbum et Signum, Bd. 2: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter, hg. von Hans Fromm [u. a.], München 1975, S. 233–246, hier S. 233.

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erotischen Spannung, sei es im Ernst, sei es im Spiel, als daß sie ihr eine Schranke gezogen hätten, die dieses Wort, wie weit oder wie eng in seinem Inhalt es gemeint sein mochte, verlangt haben würde. Es gehörte zum literarischen Spiel der höfischen Gesellschaft, die gewohnt war, Dichtung im öffentlichen Vortrag entgegenzunehmen, daß niemand sich davon ausgeschlossen zu fühlen brauchte, sich an die Stelle ihrer Helden und Heldinnen zu denken, wenn, unter anderem, von deren Liebesbegehren und -erfüllungen gesungen und erzählt wurde. Die Erwähnung der kiusche als eines ebenso Schranken setzenden wie Gemeinschaft begründenden Begriffs hätte manchem, der vielleicht zu den hingegebensten Zuhörern dieser Dichtung gehörte, die Illusion zerstört.

Diese (nicht in allen Einzelheiten von mir geteilte) Argumentation setzt voraus, daß kiusche semantisch bereits überwiegend in den Bedeutungsfeldern des Sexuellen und Erotischen angesiedelt war. In der Tat hatte sich das Bedeutungsspektrum von kiusche, vor allem in geistlichen Texten, inzwischen in die Bezirke von castitas und pudicitia, von ›Reinheit‹ und ›Schamhaftigkeit‹ verlagert. Mit ›keusch, rein, unschuldig, sittsam, schamhaft‹ setzt Matthias Lexer zu Recht die Zentralbedeutung von kiusche, kuˆsche an.31 Die kiuschen worte bezeichnen bei Hartmann von Aue in einem Kreuzzugsaufruf (MF 211,24) den ›reinen, unbescholtenen Ruf‹. Der Bezug auf die weibliche, vor allem in Enthaltsamkeit und Unschuld zu findende Ehre ist hier allerdings deutlich.32 Es fragt sich nun, und Herbert Kolb fragte es sich auch, wieso sich unter den höfischen Dichtern gerade Wolfram, vor allem im ›Parzival‹, »an dieses literarische Spiel offenbar nicht gehalten hat. Er scheute sich nicht, ja er forderte es ausdrücklich, daß dieser erotischen Freizügigkeit, und existierte sie nur in der freien Identifikation des Hörenden mit dem durch die Dichtung Dargebotenen, eine Schranke gesetzt würde in dem sonst gemiedenen Begriff der kiusche.«33 Kolb stellte zunächst die »Vielfalt von Bedeutungen dieses Wortes« heraus, »die jeden, der sich um eine Inhaltsbestimmung bemühte, zu breit auseinanderfließenden Erläuterungen nötigte.«34 Er zitierte dazu Heinrich Hempel, der sich um solch eine Bestimmung bemüht hatte: »Kiusche meint selbstbeherrschtes, lauteres Wesen und spannt von Mäßigkeit in leiblichem Genuß (keineswegs in vorherrschend sexuellem Sinne) bis Herzensreinheit, Sanftmut und Großmut, ist damit der maˆze nahestehend, aber tiefer im Allgemein-Menschlichen und nicht nur Höfischen gegründet.«35 Noch vorher hatte Julius Schwietering schon 1941 kiusche mit »Selbstbeherrschung« wiedergegeben.36 Man könnte 31 32

33 34 35 36

Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1872, Sp. 1592. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, Stuttgart 361977, Nr. XXII, VI, 5, S. 415. Kolb [Anm. 30], S. 233f. Ebd, S. 234. Heinrich Hempel, Der zwıˆvel bei Wolfram und anderweit, in: Ders., Kleine Schriften, Heidelberg 1966, S. 277–298, hier S. 277. Julius Schwietering, Wolframs Parzival, in: Von Deutscher Art in Sprache und Dichtung, hg. von Gerhard Fricke, Bd. 2, Stuttgart 1941, S. 235–249, hier S. 236.

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auch die entsprechenden Worterklärungen in Gottfried Webers ›Parzival‹Edition von 1967 und in Walter Johannes Schröders und Gisela Hollandts ›Titurel‹-Ausgabe von 1971 und andere zitieren.37 Man war sich einig darin, daß die Vereindeutigung der Bedeutung im Feld des Sexuellen sich erst im 13. Jahrhundert vollzieht, womit freilich vielleicht die Unterschiede in der semantischen Entwicklung zwischen geistlichen und weltlichen Texten ein wenig unterschätzt werden. Auf jeden Fall bleibt die Vielfalt der Bedeutungen von kiusche für Wolfram – aber nicht nur für Wolfram – ein belegbares Faktum, das schon Benecke und Müller sahen, wenn sie die Bedeutung von mhd. kiusche folgendermaßen charakterisierten:38 vernünftiger überlegung, nicht blindem triebe folgend; in der älteren sprache bezieht sich kiusche keineswegs ausschließlich auf den geschlechtstrieb.

So kann kiusche als Adjektiv und Substantiv eingesetzt werden, um ehrenhaftes, ordnungs- und sittengemäßes, ja sanftmütiges Verhalten zu kennzeichnen:39 1) Parz. 734, 23–26: nu bevilh ich sıˆn gelücke sıˆm herze, der saelden stücke, daˆ diu vrävel bıˆ der kiusche lac, wand ez nie zageheit gepflac. (»Nun befehle ich sein Geschick seinem Herzen, jenem Hort des Glücks, wo stets Verwegenheit bei der Beherrschung lag, so daß es niemals zaghaft wurde«). Vgl. auch Parz. 437,12 der kiusche vrävel man [...]; Wh. 253,29 dem claˆren süezen kiuschen vrebel [...].

2) Wh. 190, 11–17 (auf Rennewarts Zorn bezogen): daˆ von im kiusche ein teil zesleif. einen knappen doˆ begreif der starke, niht der kranke; 37

38 39

Wolfram von Eschenbach, Parzival. Text, Nacherzählung, Worterklärungen, hg. von Gottfried Weber, Darmstadt 1963, S. 968–970 [Worterklärung von W. Hoffmann]; Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Titurel. Text, Nacherzählung, Anmerkungen und Worterklärungen, Walter Johannes Schröder und Gisela Hollandt, Darmstadt 1971, S. 621f. Joachim Heinzle, in: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9), übersetzt kiusche an den relevanten Stellen mit ›Sanftmut‹, wozu Hempel [Anm. 35] zu vergleichen ist. Georg Friedrich Benecke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, ausgearbeitet von Wilhelm Müller und friedrich Zarncke, Bd. 1, Leipzig 1854, S. 823. Die folgenden Wolfram-Zitate folgen der Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, hg. von Karl Lachmann, Berlin/Leipzig 61926.

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er draet in zeinem swanke an eine steinıˆne suˆl, daz der knappe, als ob er waere fuˆl, von dem wurfe gar zespranc. (»Da verlor er nun doch die Beherrschung. Einen Knappen packte dieser alles andere als schwächliche Mensch und schleuderte ihn mit Schwung an eine Steinsäule, so daß der Knappe vom Wurf wie eine faule Frucht zerplatzte«).

Formelhaft erscheinen die Wendungen im Bereich des Sprechens: 3) Parz. 462, 4–6 (Trevrizent spricht zu Parzival): sagt mir mit kiuschen witzen, wie der zorn sich an gevienc daˆ von got iwern haz enpfienc. (»Sagt mir mit besonnenem Verstand, wie der Streit anfing, durch den Gott Euren Haß leiden mußte.«)

4) Parz. 465, 15–18 (Trevrizent erneut zu P. in Kontrafraktur einer Formel wie kiusche sprechen oder kiuscher worte sıˆn): wan der sıˆn leit soˆ richet daz er unkiusche sprichet, von des loˆne tuon ich i’u kunt, in urteilt sıˆn selbes munt. (»Denn der, der seine Kränkung so zu rächen sucht, daß er unbeherrscht [unehrenhaft] spricht, dessen Urteil spricht ihm, so künde ich Euch, der eigne Mund«.)

Zu vergleichen ist z. B. in des Winsbeke Vater-Sohn-Lehre (39,1) die Formulierung der Voraussetzung eines Leben in eˆren: [...] Sun, duˆ solt kiuscher worte sıˆn / und staetes muotes [...].40 Im ›Silvester‹ des Konrad von Würzburg (V. 354) antwortet der heilige Held mit kiuschem munde, ›mit reinem Munde‹.41 Ebenso sind Formeln mit kiusche im Bereich des Verhaltens zu beurteilen: 5) Wh. 129, 14–17 (ironisch vom Markgrafen gesagt): ein wolf mit alsoˆ kiuschen siten in die schaˆfes stıˆge siht [...] als doˆ der marcraˆve sach.

40 41

Winsbeckische Gedichte nebst Tirol und Fridebrant, hg. von Albert Leitzmann, 3. Aufl. neubearbeitet von Ingo Reiffenstein, Tübingen 1962 (ATB 9), S. 22, Nr. 39, 1. Konrad von Würzburg, Die Legenden, Bd. 1, hg. von Paul Gereke, Halle/Saale 1925, S. 13, V. 353–555 (Rede des Heiligen gegenüber dem heidnischen Verfolger Tarquinius): Der rede im antwürte boˆt / mit kiuschem munde roˆsenroˆt / der klaˆre und der vil reine.

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(»So unschuldig [mit solch beherrschtem Betragen] blickt ein Wolf in den Schafstall [...], wie der Markgraf dreinschaute.«)

Im Bereich der Speise, des Essens und des Trinkens ist der Aspekt der Beherrschtheit, der Besonnenheit im Sinne von temperantia zu interpretieren. So heißt der ›enthaltsame‹ Trevrizent formelhaft der kiusche. Wird sein heileclıˆchez leben, das ihm Fisch und Fleisch verbietet, geschildert, so ist es sıˆn kiusche, die ihm dies befiehlt. In der Vorbereitung auf die Zugehörigkeit zur himelischen schar der Heiligen durch Fasten streitet sıˆn kiusche sogar gegen den Teufel wie beim Eremiten Antonius (Parz. 452, 15–28). Aber auch jenseits des Heiligen, z. B. in der witzigen Schilderung der Gaben des Grals, ist kiusche eine Kategorie des Essverhaltens: 6) Parz. 238,25–29: in kleiniu goltvaz man nam, als ieslıˆcher spıˆse zam, salssen, pfeffer, agraz. daˆ het der kiusche und der vraˆz alle gelıˆche genuoc. (»In zierlichen Goldschalen nahm man entgegen, was jeder Speise zukam: Soßen, Pfeffer und Obsttunken. Der Mäßige [Beherrschte] und der Vielfraß hatten alle gleichermaßen genug.«)

Formelhaft lebt diese Semantik von kiusche durchaus noch weiter. So wird im ›Heiligen Alexius‹ des Konrad von Würzburg das Verhalten des aus asketischem Impetus wenig Trinkenden seinem kiuschen munt zugeschrieben.42 Und in seinem ›Trojanerkrieg‹ ergeht die Lehre an Achill: an ezzen und an tranke laˆ kiusche dich beschouwen. 43 Es steht außer Frage, daß auch hier der Aspekt der Beherrschtheit, der temperantia, im Vordergrund steht. Zurück zu der Frage, die Herbert Kolb stellte: Wie ist die Vielfalt der Bedeutungen dieses regulativen Wortes und ihr vielfältiger Gebrauch bei Wolfram zu erklären? Kolb hatte in einem methodisch durchaus bemerkenswerten Ansatz gemeint, daß »eine allein im Bereich des Sprachlichen bleibende Bestimmung des Inhalts von kiusche« nicht gelingen könne und deshalb stärker die Gesamtkontexte der Narration, der »Status der Personen, denen kiusche als eine Beschaffenheit ihrer Personalität zugeordnet wird«,44 und – so möchte ich in Nachvollzug seiner Analysepraxis hinzufügen – die Situationen, in denen es 42 43

44

beide wıˆnes unde metes / weˆnic tranc sıˆn kiuscher munt, in: Konrad von Würzburg, Die Legenden, Bd. 2, hg. von Paul Gereke, Halle/Saale 1926, S. 20, V. 410f. Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, hg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (Neudruck Amsterdam 1965), Bd. 1, S. 180, V. 15028–31; duˆ solt der zuhte vlıˆzic sıˆn / mit sinne und mit gedanke. / an ezzen und an tranke / laˆ kiusche dich beschouwen! Kolb [Anm. 30], S. 234.

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verwandt wird, intensiver zu betrachten seien. Dieser Ansatz führt auch zu einem Ergebnis, allerdings paradoxerweise nur in jenem Bezirk, der der Reinheit und der sexuellen Unberührtheit, Jungfräulichkeit und Ehrbarkeit gewidmet ist, also speziell all jenen Eigenschaften, die mit dem lateinischen Tugendbegriff der castitas umschrieben werden können.45 Es gelingt – offenbar ohne daß es dem Semantiker auffällt – nicht in den Bereichen, in denen kiusche mit der Ehrenhaftigkeit, der honestas und der Beherrschtheit, der temperantia des Tuns verwoben ist. Die Vielfalt der Stimmen, die kiusche bietet, blendet Kolb in diesem Bedeutungsraum aus. Wie kommt das? Und womit ist die Vielfalt der Stimmen, für die uns Wolfram als Beispiel dienen soll, in der Situation um 1200 wirklich zu begreifen? Erinnern wir uns, daß die Verwendung von kiusche im Sinnsektor der honestas und der temperantia vorwiegend in Redewendungen, festen Syntagmen, in der Phraseologie und in stereotypen Charakterisierungen und Oppositionen vorkam. Und erinnern wir uns zugleich, daß gerade dieser Bereich den semantischen Kern enthielt, den wir mit Theodor Frings und Gertraud Müller für das Althochdeutsche herauslösen konnten. Es ist nun eine vielfach bewährte Beobachtung, daß sich archaische, ältere Semantiken gerade in Phraseologismen und stereotypen Verwendungen fossilhaft, und das gerade nicht in der reflektierten, sinnbewußten Sprache, sondern in der gewöhnlichen Sprechsprache konservieren. So wird es auch hier sein, so nämlich, daß um 1200 die alten Bedeutungen durchaus noch in der gesprochenen Sprache überlebten, daß sie aber nur selten in die neue Kunstsprache der Literatur übernommen wurden. Mit der Ausnahme von Wolfram, der in seinem Spiel mit den voces der Vielfalt auch der Sprechsprache – wie sonst – ihre Stimme gab.

IV. Conscientia, Bewußtsein, Gewissen Wir sind nun in der historisch-semantischen Betrachtung von ku¯ski, kiusche an dem Punkt angelangt, an dem wir die Entwicklung als eine allmähliche Verschiebung aus dem Bedeutungsbereich der honestas, der Beherrschtheit und Besonnenheit in jenen der castitas, der Reinheit, ja (im geistlichen Bereich) auch der pudicitia, der Schamhaftigkeit, und schließlich in den der sexuellen Reinheit 45

Zur christlichen castitas-Lehre aus der reichen Literatur nur wenige Hinweise: Josef Pieper, Zucht und Maß (zuerst 1939), München 71955; Josef Fuchs, Die Sexualethik des heiligen Thomas von Aquin, Köln 1949, besonders S. 72–80; R. Hauser, Keuschheit, Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter [u. a.], Bd. 4, Darmstadt 1974, Sp. 817f.

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und Enthaltsamkeit, der Hauptbedeutung des nhd. Keuschheit begreifen können.46 Diese im späten Althochdeutschen einsetzende Verschiebung in das Spektrum der castitas hinein47 hat dazu geführt, daß im frühen elften Jahrhundert der eigentliche etymologische Ausgangspunkt von ku¯ski, nämlich conscius und seine Substantivierung conscientia eine neue Lehnübersetzung erfuhr, die ebenfalls eine steile Karriere im Prozeß der Bildung des ›inneren Menschen‹ erlebte: das Ge-wissen, mhd. ge-wizzen, ahd. gi-wizzan.48 Das wohl von Notker Labeo von St. Gallen gefundene Adjektiv-Abstraktum zum Partizip gi-wizzan ›gewusst, bewußt‹ übersetzt Glied für Glied con-scientia.49 Zunächst und auch noch im Mittelhochdeutschen bedeutet es einerseits ›Wissen, Kenntnis, Erkenntnis‹, aber auch schon ›inneres Bewußtsein, Gewissen‹, ja zugleich in fast juristischem Sinne ›Schuldbewußtsein‹.50 Es seit im sıˆn gewizzen, daz er unreht haˆt, formuliert um 1275 der ›Schwabenspiegel‹.51 Wenn aber conscı´us ›bewußt‹ bedeutete und conscientia im elften Jahrhundert als ›Bewußtsein‹, ja ›inneres Bewußtsein‹ aufgefasst wurde, wie kam es dann bei dem von conscius abgeleiteten Lehnwort ku¯sk zu der soeben charakterisierten ältesten althochdeutschen Bedeutungsschicht? Hier klafft noch eine Lücke, die wir nicht mit direkten Quellenzeugnissen zu schließen vermögen, sondern nur mit einer Bedeutungsanalyse von conscientia und conscius im spätantiken und frühmittelalterlichen Latein. Conscientia, formal eine Substantivbildung zu conscius esse ›bewußt sein, wissend sein‹, ist eine Lehnübersetzung von griech. VXQHLÂ GKVL9 ›Mitwissen‹ und ›Bewußtsein‹.52 Dieser Begriff gelangte in christliches Denken erst aus stoischer 46

47 48

49 50 51

52

Klar sexuelle Bedeutung besitzt Kiusche (personifiziert) in der Tugendburg-Allegorie des Georgsromans des Reinbot von Durne, wo ihr diu sehste kamer gewidmet ist, an deren Pforte steht: sıˆt got die kiusch ze waˆpen truoc, / kiusch unkiusch zer helle sluoc. / kiusche ist ein reine art. / Johannes was daˆ mit bewart, / wan im diu kiusche soˆ gezam, / daz er si für die eˆ nam. (Der Heilige Georg Reinbots von Durne, hg. von Carl von Kraus, Heidelberg 1907 [Kritische Ausgaben altdeutscher Texte 1], S. 220, V. 5839–5849). Für das spätere Mittelalter vgl. z. B. Johannes Rothe, Das Lob der Keuschheit. Nach C. A. Schmids Kopie einer verschollenen Lüneburger Handschrift, hg. von Hans Neumann, Berlin 1934 (DTM 38). Vgl. Frings/Müller [Anm. 12], S. 112f., 115, 116f., 118, 126f. Kluge/Seebold [Anm. 4], S. 356. Werner Betz, Die Lehnbildungen und der abendländische Sprachenausgleich, PBB 67 (1944), S. 275–302, hier S. 302; Hans Siegert, Griechisches in der Kirchensprache. Ein sprach- und kulturgeschichtliches Wörterbuch, Heidelberg 1950, S. 85f.; Jürgen-Gerhard Blühdorn, Gewissen I, TRE, Bd. 13, 1984, S. 193–213, hier S. 197. Siegert [Anm. 48], S. 85; Blühdorn [Anm. 48], S. 197 (Glosse zu Ps. 68, 20). Lexer [Anm. 31], S. 995. Des Schwabenspiegels Landrechtsbuch. Zum Gebrauche bei akademischen Vorträgen mit dem Wörterbuche, hg. von Heinrich Gottfried Gengler, Erlangen 21875 [Langform], 72,2. Zum Begriff der conscientia vgl. Hubertus Theophilus Simar, Die Lehre vom Wesen des Gewissens in der Scholastik des dreizehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur

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Popularphilosophie, die wiederum die Umgangssprache beeinflusste, durch Paulus, der das Wort häufig benutzte.53 Bei römischen Stoikern, die ins Mittelalter weiterwirkten, wie Cicero und Seneca, gewann die Lehnbildung conscientia neben den gängigen Bedeutungen ›Wissen‹ und ›Bewußtsein‹ ethisch regulative Dimensionen: ›Gesinnung, Wertbewußtsein‹, schließlich das urteilende Selbstbewußtsein. Dieses Selbstbewußtsein gründet bei ihnen in einem ethischen Urteilsvermögen, das der Menschennatur eigentümlich ist. Für Paulus jedoch ist dieses Bewußtsein theonom, es ist aus Gott abgeleitet, dem Mitwisser des menschlichen Tuns. So kann das menschliche Mitwissen »als inneres Zeugnis für den tadelnswürdigen oder tadelfreien Charakter des eigenen Verhaltens in Anspruch genommen [werden], so daß es als wesentliche Instanz einer Selbstrechtfertigung oder Selbstverurteilung erscheint«. In den nachpaulinischen Schriften und in der Patristik verengt sich die »selbstkritische Funktion [...] auf die Kontrolle der ›gewissenhaften‹ Einhaltung von als zweifellos gültig vorausgesetzten Sittlichkeitsvorschriften und der Aufforderung zum Glauben«.54 Der Begriff conscientia gewinnt somit eine regulative Funktion auch im christlichen Bereich, und zwar eine regulative Funktion für das Innere des Menschen, für den interior homo. 55 Daneben, aber nicht unabhängig davon, kommt conscius schon seit augusteischer Zeit, aber auch später in christlichen Kontexten in Kollokationen vor,

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Geschichte der Ethik, Diss. Bonn 1885; Hendrik G. Stoker, Das Gewissen. Erscheinungsformen und Theorien, Bonn 1925 (Schriften zur Philosophie und Soziologie 2); Friedrich Zucker, Syneidesis – Conscientia. Ein Versuch zur Geschichte des sittlichen Bewußtseins im griechischen und im griechisch-römischen Altertum, Jena 1928 (Jenaer Akademische Reden 6); Ruth Lindemann, Der Begriff der conscience im französischen Denken, Jena/Leipzig 1938 (Berliner Beiträge zur romanischen Philologie 8,2), besonders S. 1–70; Johannes Stelzenberger, conscientia bei Tertullian, in: Vitae et veritati. Festschrift Karl Adam, Düsseldorf 1956, S. 28–43; Ders., Conscientia bei Augustinus. Studie zur Geschichte der Moraltheologie, Paderborn 1959; Ders., Syneidesis, Conscientia, Gewissen. Studie zum Bedeutungswandel eines moraltheologischen Begriffes, Paderborn 1963 (Abhandlungen zur Moraltheologie 5); The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, hg. von Norman Kretzman [u. a.], Cambridge 1982, S. 687–704 (Nr. 36: Conscience); Antonia Cancrini, Syneidesis. Il tema semantico della ›conscienti‹ nella Grecia antica, Roma 1970 (Lessico intelletuale europeo 6), besonders S. 9–39, 145–158; H. Reiner, Gewissen, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1970, Sp. 574–592; Uta Störmer-Caysa, Gewissen und Buch. Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 14). Vgl. Lindemann [Anm. 52], S. 15–23; Reiner [Anm. 52], Sp. 579f.; Michael Wolter, Gewissen II, TRE, Bd. 13, 1984, S. 213–218, hier S. 214f. Reiner [Anm. 52], Sp. 579. Vgl. zuletzt zur frühen Entwicklung des Konzepts von ›Innerlichkeit‹ Ineke van’t Spijker, Fictions of the Inner Life. Religious Literature and Formation of the Self in the Eleventh and Twelfth Centuries, Turnhout 2004 (Disputatio 4).

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welche die umgangssprachliche Funktion des Adjektivs im Sinne eines Bewußtsein von ›gut‹ oder ›böse‹ zeigen: conscius culpae ›der Schuld bewußt‹, conscius recti ›des Richtigen bewußt‹, conscius [...] melioris naturae ›der besseren Natur bewußt‹; castitatis conscius ›der Reinheit bewußt‹, vitiorum omnium conscius ›aller Laster bewußt‹, turpi conscius ›des Schlechten bewußt‹ usw.56 Es ist diese semantische Dimension eines regulativen ethischen Bewußtseins, welche das aus conscius gewonnene Lehnwort ku¯ski dazu befähigt, in seiner ältesten Schicht das bewußte, beherrschte Verhalten im Sinne eines honestum und pium zu beschreiben: ku¯ski hieß also zunächst ›bewußt des christlich Angemessenen und Guten‹.57

V. Fazit Es läßt sich also belegen, daß der Aufbau des ›inneren Menschen‹ schon lange vor dem hohen Mittelalter, ja gewissermaßen mit der paulinischen Wendung zur christlichen Introspektion, zur Etablierung des regulativen Bewußtseins, das mit conscientia, conscius esse zu fassen war, beginnt. Intus hominis quod conscientia vocatur, formuliert Augustinus in seinem Psalmenkommentar und vergleicht die conscientia mit einem Haus oder einem Raum, etwa dem cubile, der »Schlafkammer«.58 Seit dem frühen Mittelalter auch etabliert sich eines der mächtigsten Instrumente zur Erschaffung des interior homo, nämlich die Institution der Beichte, welche das ›Gewissen‹ des Menschen zugleich schuf, ausstattete, erforschte und kontrollierte. Es mag wohl der in diesem Prozess zunehmenden Faszination des Christentums durch die menschliche Sexualität zuzuschreiben sein, daß sich das in der Praxis gebrauchte, aus dem Zentralbegriff conscientia herausentwickelte Lehnwort kiusche aus einer breit angelegten Bezeichnung des ehrenwerten, angemessenen und maßvollen Verhaltens zu einem schmalen Element der ›Meublierung‹ des christlichen Innenraums in den Ecken der castitas und pudicitia, der Keuschheit und der Scham, wandelte und schließlich überwiegend sexuell interpretiert wurde, so daß eine neue Lehnübersetzung von conscientia, eben das Wort Ge-wissen vonnöten war, dessen Karriere bis heute andauert.

56 57 58

Vgl. Lindemann [Anm. 52], S. 3; Frings/Müller [Anm. 12], S. 134f. Vgl. ähnlich bereits Frings/Müller [Anm. 12], S. 135 (»Weg vom Bewußtsein zum Sein«); Kluge/Seebold [Anm. 4], S. 485. Augustinus, Enarrationes in psalmos 45, 3, PL 36, Sp. 515.

Caroline Emmelius

Begnadung und Zweifel Zur Interaktion von Innen- und Außenraum in den ›Offenbarungen‹ der Adelheid Langmann Die Rede von ›Räumen‹ ist in der Literaturwissenschaft häufig uneigentlich und bildhaft. Der Griff zur Metapher aber ist dann problematisch, wenn sich mit ihm eine Lizenz zur Vagheit verbindet, die programmatisch ein Spektrum möglicher Bedeutungen öffnet und zugleich Bedeutungsfestlegungen zu vermeiden sucht. So ist für die Raum-Metapher zunächst zu entscheiden, ob sie sich auf eine Entität oder eine Differenz bezieht. Versteht man ›Raum‹ als Entität, dann liegt der Fokus auf seiner architektonischen Gestalt und dem von ihm Beinhalteten. ›Raum‹ als Differenz ist dagegen Ergebnis sowohl von Inklusionsals auch von Exklusionsprozessen, der Blick liegt hier gleichermaßen auf dem Ein- und auf dem Ausgeschlossenen sowie auf ihrer Grenze. Für die mystische Literatur hat Hildegard Keller das Potential der Raum-Metapher beschrieben und zeigen können, daß architektonische Metaphern ein zentrales Ausdrucksmittel für die »Verinnerlichungsbewegung« mystischer Erfahrung sind.1 In der Annahme, daß die frauenmystischen Offenbarungstexte nicht nur eine nach innen gerichtete Bewegung abbilden, sondern als verschriftlichte Erfahrung auch ein äußeres Ziel haben,2 soll das Bedeutungspotential der RaumMetapher im folgenden auf den Aspekt der Differenzsetzung begrenzt werden. Die These lautet, daß mit den frauenmystischen Offenbarungstexten eine Textsorte vorliegt, an der sich die Interaktion von ›Innen-‹ und ›Außenraum‹ präzise darstellen läßt. So ist die schriftliche Fixierung der persönlich begrenzten, zumeist sinnlichen Erfahrungen (Gottesbegegnungen, Visionen, Auditionen) in zweifacher Hinsicht als Entgrenzung aufzufassen: Indem temporäre Erfahrung auf Dauer gestellt wird, bewirkt sie Entzeitlichung; indem sie (prinzipiell jedenfalls) einer vervielfältigenden Rezeption verfügbar gemacht wird, bewirkt sie Enträumlichung. Zugleich aber ist sie Zeugnis einer Interaktion zwischen der begnadeten Frau und dem sie umgebenden sozialen Raum (z. B. der Klostergemeinschaft) und hat in Bezug auf diesen spezifische Funktionen zu erfüllen. Die Perspektive, die im folgenden exemplarisch für die ›Offenbarungen‹ der 1

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Hildegard Elisabeth Keller, ˆınluogen. Blicke in symbolische Räume an Beispielen aus der mystischen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts, in: Symbolik von Ort und Raum, hg. von Paul Michel, Bern [usw.] 1997 (Schriften zur Symbolforschung 11), S. 353–376, hier S. 354. Vgl. den Hinweis bei Keller [Anm. 1], S. 355.

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Adelheid Langmann entworfen werden soll, versteht sich somit gerade nicht als ›Einblick‹ in das raumbildlich konzipierte Innere einer religiösen Frau, sondern faßt den Text als Vermittlungsinstanz zwischen dem Erfahrungsbereich der Einzelnen – ihrem ›Innenraum‹ – und dem ›Außenraum‹ ihres sozialen Umfelds auf. In der literaturwissenschaftlichen Forschung werden die frauenmystischen Offenbarungstexte vor allem in Bezug auf die Umstände ihrer Entstehung und Rezeption gelesen. Für die Genese der Texte ist besonders der sog. ›Schreibbefehl‹ hervorgehoben worden, also jene Instanz (Beichtvater, Seelsorger, Schreiber), die in den Texten den Anstoß zu den schriftlichen Aufzeichnungen gibt.3 Die textimmanente Konstruktion eines Produktionsteams ist vor allem als intertextuelles Element gedeutet worden, das die Offenbarungsworte der ungebildeten, nicht-lateinkundigen mulier religiosa autorisiert und legitimiert.4 Arbeiten zur Rezeption der Texte konnten zeigen, daß diese mehrstufigen Redaktionsprozessen unterliegen und damit erst in zweiter oder dritter Instanz zu ›Gnadenleben‹ geformt werden,5 was sie wiederum für eine Verwendung im Kontext von konventsbezogener Memoria verfügbar macht.6 Auch die folgenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei der besonderen, ›multilateralen‹ Entstehungssituation der Offenbarungstexte. Anders als Heiligenviten entstehen diese nicht retrospektiv, sondern sind Ergebnis einer Überlagerung von sukzessive und simultan zum Leben der begnadeten Frau entstehenden Texten und späteren Bearbeitungsschritten, die zu ihren Lebzeiten oder postum vorgenommen sein können.7 Das macht im Einzelfall nicht nur die Differenzierung der einzelnen Sprech-, Erzähl- und Redaktionsinstanzen schwer oder unmöglich, sondern läßt auch spezifische Ordnungsmuster (etwa chronologische) nur bedingt greifen. Der Unterschied zwischen Vita und Offenbarungstext kann 3

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Eine Übersicht zu den entsprechenden Textstellen findet sich bei Siegfried Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien, Zürich/München 1980 (MTU 72), S. 175–177 und Klaus Grubmüller, Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechthild von Magdeburg, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. von Johannes Janota, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 335–349, hier S. 339–341. Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988 (Hermaea N.F. 56). Ringler [Anm. 3], S. 13–15 und z. B. S. 81f. Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38). Für die ›Offenbarungen‹ der Adelheid Langmann kann Ringler in der Überlieferung verschiedene Bearbeitungsstufen unterscheiden. So enthält etwa der Text der Handschrift W Angaben zu Adelheids Lebensdaten, die den Redaktionen in B und M fehlen, was ein Argument dafür wäre, daß eine (erste) Bearbeitung der Offenbarungen schon zu Adelheids Lebzeiten vorgenommen wurde. Vgl. Ringler [Anm. 3], S. 79f.

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somit erzähltheoretisch gefaßt werden: Die retrospektiv konzipierte Vita hat Anfang, Mitte und Ende. Sie ist eine ›Erzählung‹, deren Zielsetzung – hier: das Evidentwerden von Heiligkeit – von vornherein feststeht.8 Anders der Offenbarungstext: Zwar greifen in der Bearbeitung Prinzipien, die den Kernbestand der Offenbarungen dem narrativen Verlauf der Vita annähern sollen,9 aber das Material, das der Redaktion zugrundeliegt, kann diesen Prinzipien nicht von vornherein gehorchen und kann somit auch deren Zielsetzung nicht teilen.10 Diejenigen Textteile, die – auf welche Weise und unter Beteiligung wie vieler Personen auch immer – simultan zum Leben der religiösen Frau entstehen, dokumentieren einen Ausschnitt aus dem zugrundeliegenden ›Geschehen‹.11 Nachträglich werden sie zu einer ›Geschichte‹ zusammengestellt und als ›Erzählung‹ angeordnet, ohne daß sie für sich genommen schon den Prinzipien dieser Transformationen unterliegen können. Vielmehr bleiben viele Valenzen des ›Geschehens‹ auch in der Transformation erhalten. Daraus ergeben sich nicht nur formale Brechungen in der jeweils vorliegenden ›Präsentation der Erzählung‹ (uneinheitliche Erzählinstanzen, Sprünge oder Unbestimmtheiten in der Chronologie), sondern auch inhaltliche Diskrepanzen: Während das Gnadenleben als ›Erzählung‹ bemüht sein wird, die Begnadung der Frau auszustellen, kann diese für die Ebene des ›Geschehens‹ kaum als evident gelten. Ganz im Gegenteil: Begnadung muß sich hier erst noch als solche erweisen bzw. allererst hergestellt werden, und zwar für alle Beteiligten: die Frau selbst, enge Vertrauenspersonen (Beichtvater, Mitschwestern) und den Konvent.

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Ähnlich Ringler [Anm. 3], S. 339f: »So ist die Heiligkeit in der Heiligenlegende wesentlich gerade dadurch charakterisiert, daß sie offenkundig ist; im ›Gnaden-Leben‹ dagegen ist sie wesentlich eine verborgene und ›heimliche‹ (im mhd. Wortsinn).« Vgl. auch Hildegard Elisabeth Keller, Absonderungen. Mystische Texte als literarische Inszenierung von Geheimnis, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 195–221, hier S. 204. Im Fall der Adelheid Langmann hält Ringler daher den Begriff des Gnadenlebens für angemessener, vgl. Ringler [Anm. 3], S. 81f. Bürkle [Anm. 6], S. 268, spricht von »konzeptionelle[r] ›Offenheit‹« und »prinzipielle[r] Unabgeschlossenheit« der Offenbarungstexte, wobei zu fragen wäre, ob der Befund tatsächlich Ergebnis einer Konzeption sein kann. Vgl. auch Dies., Die ›Offenbarungen‹ der Margareta Ebner. Rhetorik der Weiblichkeit und der autobiographische Pakt, in: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, hg. von Doerte Bischoff und Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg i. Br. 2003 (Litterae 93), S. 79–102, hier S. 83, wo vor allem der fehlende Tod als Differenzkriterium zu den Viten genannt wird. Die Begriffe ›Geschehen‹, ›Geschichte‹, ›Erzählung‹ und ›Präsentation der Erzählung‹ beziehen sich auf das ›idealgenetische Modell‹ narrativer Transformationen von Wolf Schmid (Elemente der Narratologie, Berlin/New York 2005 [Narratologia 8], S. 241–272).

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Der Prozeß, in dem die Begnadung der Frau evident wird, vollzieht sich folglich in Stufen und auf jeder neuen Stufe ist damit zu rechnen, daß er mit Zweifeln konfrontiert wird. Auf einer ersten Stufe ist die Versprachlichung von Erfahrung anzusetzen, die sich als Akt der Selbstvergewisserung auf Seiten der Frau auffassen läßt und die bereits eine Vorverständigung des Erfahrenen leistet.12 Versprachlichung als Selbstvergewisserung impliziert wiederum die Auseinandersetzung mit Zweifeln an den eigenen Erfahrungen. In Texten, in denen die begnadete Frau nicht nur mit göttlichen Visionen, sondern auch mit Anfechtungen und Heimsuchungen konfrontiert ist, stellt sich die Notwendigkeit, zwischen beidem unterscheiden zu können, ganz besonders.13 Die Interaktion von mulier religiosa und Beichtvater steht auf einer zweiten Stufe, und zwar unabhängig davon, ob sich hier eine historische Praxis spiegelt oder auf ein literarisches Modell rekurriert wird.14 Schon die mündliche Kommunikation impliziert eine Form der Veröffentlichung, insofern als die in Sprache gefaßten Erfahrungen temporär für eine weitere Instanz einsehbar werden. Daß sich hieraus Zweifel am theologischen Status der Offenbarungen ergeben, kann als ein wichtiger Grund für die Verschriftlichung der Offenbarungserfahrungen angesehen werden, denn erst die Schriftform gewährleistet Überprüfbarkeit.15 Dennoch ist die Herstellung und Ausweisung von Begnadung über die Verschriftlichung nicht auf das Zweierszenario von religiöser Frau und Beichtvater zu begrenzen. Zweifel an der spirituellen Auszeichnung der Frau werden vor 12

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Hier ergibt sich eine Parallele zu autobiographischem Schreiben, vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart/Weimar 2000 (Sammlung Metzler 323), bes. S. 32–39. Vgl. grundsätzlich zum Problem der Entscheidbarkeit über dämonische oder göttliche Besessenheit die instruktive Arbeit von Nancy Caciola, Discerning spirits. Divine and demonic possession in the Middle Ages, Ithaca/London 2003. Ursula Peters [Anm. 4], S. 101–110 und 181–194, hat zeigen können, daß die von den Texten suggerierte Entstehung in der Heimlichkeit, abseits von der Öffentlichkeit des Konvents, sowie die dort entworfene intime Zusammenarbeit zwischen der begnadeten Frau und ihrem Beichtvater eine an Mustern und Themen der Vitenliteratur orientierte literarische Konstruktion ist, die in den Texten unterschiedlich funktionalisiert sein könne, und die »keine tragfähigen kulturhistorischen Informationen über die lebensweltliche Situierung der Autorin bzw. den komplizierten Prozeß einer Verschriftlichung und Literarisierung der spirituellen Erlebnisse religiös bewegter Frauen des 13. und 14. Jhs.« vermittele (ebd. S. 194). Die Vorstellung einer ›privaten Genese‹ frauenmystischer Texte entspreche zudem nicht der Praxis mittelalterlicher Literaturproduktion (ebd. S. 110 und 190). Im Fall von Hildegard von Bingen oder Marguerite Porete spielt dieser Aspekt eine wichtige Rolle, vgl. Christel Meier, Von der ›Privatoffenbarung‹ zur öffentlichen Lehrbefugnis. Legitimationsstufen des Prophetentums bei Rupert von Deutz, Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau, in: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, hg. von Gert Melville und Peter von Moos, Köln [usw.] 1998 (Norm und Struktur 10), S. 97–123; Keller [Anm. 8], S. 209f.; Peters [Anm. 4], S. 67–81.

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allem im sozialen Umfeld artikuliert, das hier als dritte Stufe angesetzt wird. Für die Offenbarungstexte des 14. Jahrhunderts sind hierunter (vorwiegend) die Konvente von Dominikanerinnenklöstern zu fassen. Anders als es sich in den retrospektiv verfaßten Nonnenbüchern darstellt, die auf die Hagiographisierung des Lebens der Konventschwestern setzen und dem Konvent damit eine eigenständige, bedeutungsvolle Geschichte verschaffen, ist die Interaktion zwischen einzelnen begnadeten Frauen und der Klostergemeinschaft zu deren Lebzeiten von Spannungen gekennzeichnet. Das läßt sich ganz grundsätzlich mit der Alleinstellung begründen, die die jeweilige Frau entweder auf Grund ihrer (behaupteten) Begnadung für sich reklamiert oder die ihr auf Grund ambivalenter körperlicher Zeichen zugewiesen wird. In jedem Fall jedoch kollidiert die Sonderstellung der begnadeten Frau mit der Gemeinschaftskonzeption des Konvents.16 Eine zentrale Funktion der Offenbarungstexte ist es somit, plausible Erklärungen für die reklamierte Sonderstellung der Begnadeten zu liefern, um die herausgehobene Einzelne auf diese Weise wieder in den sozialen Kontext der Klostergemeinschaft einzubeziehen und darüber hinaus ihren spirituellen ›Nutzen‹ für die klösterliche Gemeinschaft herauszustellen.17 Die Offenbarungstexte werden damit zum Bestandteil einer Argumentation, die, indem sie für die Begnadung der jeweiligen Frau plädiert, zugleich deren Gegenteil rhetorisch zu bewältigen sucht. Die Skala kann dabei von Zweifel und Skepsis bis zum Verdacht auf Besessenheit reichen. In dieser Funktion machen frauenmystische Offenbarungstexte die Grenzen zwischen dem Innenraum der Begnadeten und dem sozialen Außenraum nicht nur explizit sichtbar, pointierter noch ließe sich formulieren, daß sie selbst diese Grenze sind. Ein Modell, das die Funktionsweise der Offenbarungstexte erfaßt, könnte damit wie folgt aussehen: Für den Innenraum der Begnadeten sind wenigstens zwei Oppositionspaare konstitutiv. Das erste ist durch die Spannung zwischen Offenlegen und Verbergen charako terisiert, die Mechthild von Magdeburg programmatisch formuliert hat: Nu mus e 18 ich doch dise rede betwungen schriben, die ich gerne wolte verswigen. Der im 16

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So auch Keller [Anm. 1], S. 355 Anm. 9. Zur Begünstigung der Absonderung Einzelner von der Gemeinschaft durch die Veränderung der baulichen Gegebenheiten vgl. Thomas Lentes, Vita Perfecta zwischen Vita Communis und Vita Privata. Eine Skizze zur klösterlichen Einzelzelle, in: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, hg. von Gert Melville und Peter von Moos, Köln [usw.] 1998 (Norm und Struktur 10), S. 125–164. Indem ich den Mitteilungscharakter der Offenbarungstexte stärker gewichte als ihren hermetischen, abschließenden Gestus, ordne ich ihnen eine rhetorische Funktion in Bezug auf ihren Entstehungskontext zu, von der aus sich an die spätere Rezeption der Texte anknüpfen läßt. Daraus ergibt sich eine Gegenposition zu Keller [Anm. 8], S. 218f. Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung, hg. von Hans Neumann, Bd. 1: Text besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München 1990 (MTU 100), V 32,2f.

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Rekurs auf biblische Muster gewonnene und damit auch theologisch begründete Anspruch, die dem Einzelnen zuteil gewordene Erfahrung Gottes für die Gemeinde der Gläubigen zu öffnen und bekannt zu machen,19 verbindet sich mit einem persönlichen Geheimhaltungswillen, der sich auf brautmystische Texte zurückführen läßt.20 Der Spannung zwischen Veröffentlichungsanspruch und Verbergenswunsch benachbart ist zweitens die Relation von sinnlicher Erfahrung und Schrift. In den Texten erscheint sie in Form von Unsagbarkeitstopoi, die die Schwierigkeit artikulieren, sinnliche Erfahrung sprachlich bzw. schriftlich zu fassen, diese im Ergebnis aber zugleich – wie gelungen und vollständig auch immer – bewältigen.21 Für jenen Außenraum, der sich jenseits der geistigen und sinnlichen Erfahrungswelt und des Körpers der Begnadeten erstreckt, ist wiederum die Spannung von Begnadung und Besessenheit konstitutiv. Funktion des Offenbarungstextes ist es nun, Innenraum und Außenraum, also die Erfahrungen der Begnadeten einerseits mit ihrer Wahrnehmung durch die Umwelt andererseits zu vermitteln. Damit hat der Text zugleich die den beiden Räumen immanenten, konfligierenden Spannungen zu korrelieren. Auf diese Weise spannt sich ein Kreuz auf, in dessen Schnittpunkt der Text steht: Der Intention des Offenlegens im Medium der Schrift entspricht die Wahrscheinlichkeit, daß das soziale Umfeld die Begnadung der religiösen Frau wahrnimmt und anerkennt. Indem der Text diese Korrelation repräsentiert, liefert er zum einen Erläuterungen für jene im Außenraum wahrnehmbaren körperlichen signa der Begnadeten, die ohne entsprechende Exegese ambivalent bleiben und ebensogut Begnadung wie deren Gegenteil indizieren können. Zum anderen schließt er aus, daß das Verbergen als Korrelat von Besessenheit angesehen wird. Die von diesem Modell suggerierte Statik wird den Texten in der redigierten Form, in der sie vorliegen, allerdings nicht gerecht. Vielmehr läßt sich zeigen, daß im Korrelations- und Integrationsprozeß, den der Offenbarungstext in persuasiver Absicht zu leisten hat, eine Dynamik entsteht, durch die die Spannungen zurücktreten und die Autorität der Begnadeten zunehmend hervortitt. Diese Dynamik kann ihrerseits wiederum als Ergebnis nachträglicher Bearbeitung gewertet werden. Am Beispiel der ›Offenbarungen‹ der Engelthaler Dominikanerin Adelheid Langmann (1306–1375) soll im folgenden die behauptete Vermittlungsleistung der Offenbarungstexte zwischen persönlichem Innenraum und sozialem Außenraum aufgezeigt werden.22 19 20

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Das zentrale biblische Muster hierfür ist die Johannesoffenbarung. Vgl. Grubmüller [Anm. 3], S. 342f. So Hildegard Elisabeth Keller, My secret is mine. Studies on religion and eros in the German Middle Ages, Leuven 2000 (Studies in spirituality, Supplements 4), S. 172–175. Vgl. Caroline Emmelius, Verborgene Wahrheiten offenbaren. Verschriftlichungsprozesse in frauenmystischen Texten zwischen Subversion und Autorisierung, in: Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Caroline Emmelius [u. a.], Göttingen 2004, S. 47–65.

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Die ›Offenbarungen‹ der Adelheid Langmann sind in drei Handschriften (B, M, W)23 überliefert, die jeweils »durch besondere Charakteristika ausgezeichnete Stufen der Textentwicklung erkennen lassen«.24 Der Text von B weist als einziger zwei Passagen in der Ich-Form auf (AL 65,6–66,16; 95,18) und enthält indirekte Rede (AL, 30,14; 53,1 und 11; 73,11).25 Er gilt als eine »flüchtig geschriebene« Abschrift der Vorlage (A’) und steht der »Visionärin am nächsten«.26 Der Text von M ist eine glättende Überarbeitung von A’, die sich um einen einheitlichen Berichtsstil in der dritten Person bemüht und neben Zusätzen, Kürzungen und Milderungen im Vergleich zu B »drei Stücke an andere Stellen versetzt, wo sie besser in den Zusammenhang passen sollen«. Sie steht »der Visionärin objektivierender gegenüber und nähert sich stilistisch den Nonnenviten.«27 Der Text von W entfernt sich am weitesten von A bzw. A’.28 Auch er wird stark gekürzt und gemildert, eine von MW vorgenommene Versetzung wird ein weiteres Mal umgestellt. Vor allem aber sieht W Adelheid bereits als historische Person: Am Anfang und Schluß sind ihre Lebensdaten ergänzt.29 22

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Die Offenbarungen der Adelheid Langmann, Klosterfrau zu Engelthal, hg. von Philipp Strauch, Straßburg 1878 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 26). Im folgenden abgekürzt: AL. Textzitate werden mit Seite und Zeile in arabischer Zählung angegeben. Auf den Variantenapparat wird mit Seite und Variantennummerierung (Var.) verwiesen. Hinweise auf den Anmerkungsteil werden durch vorangestelltes ›Anm.‹ markiert. Römische Seitenzählung bezieht sich auf die ›Einleitung‹ von Strauch. B: Berlin, SBB-PK, Ms. germ. qu. 866; M: München, BSB, Cgm 99; W: Wien, Bibliothek des Schottenstifts, Cod. Scot. Vind. 308 (234). Zusammenfassend Ringler [Anm. 3], S. 79f, Zitat S. 79. Zur Beschreibung von B vgl. AL, S. IX-XII. Ringler [Anm. 3], S. 79. Ringler [Anm. 3], S. 80. Zur Beschreibung von M vgl. AL, S. XIIf. Zu W ausführlich Ringler [Anm. 3], S. 19–59, zu AL in W ebd. S. 73–79. Die Texte von B und M enthalten zwar keine konkreten chronologischen Fixierungen, in beiden Handschriften finden sich allerdings biographische Ergänzungen von jüngerer Hand: B enthält eine einleitende Notiz, in der Adelheids Herkunft und Geburtsjahr angegeben werden (AL, S. XI). Diese entspricht dem Textbeginn in W und ersetzt dort die markante Segensformel von B und M (AL 1, 1–4). Im Anschluß an den – von B abweichenden – Schluß von M (AL 80, 6–19) ist Adelheids Todestag ergänzt (AL 80, Var. 10), was inhaltlich dem neuen Schluß von W entspricht. Vgl. hierzu Ringler [Anm. 3], S. 77f. Schon die Ergänzungen in B und M zeigen also, daß die Perspektive auf Adelheids Leben zum Zeitpunkt der Abschriften bzw. der Nachträge gegenüber der in den Texten eingenommenen verändert ist. Der Zusatz in B liefert eine historische Situierung der Person, die zeitliche Distanz signalisiert. Der Zusatz in M entwirft eine eindeutig retrospektive Perspektive, indem er die besonders zu Beginn deutliche biographische Struktur (AL 1, 1–19) durch einen entsprechenden Abschluß komplettiert. Die Überlieferung des Textes in W, die die Zusätze von B und M in den Text selbst integriert, setzt also eine redaktionelle Tendenz fort, die bereits in den beiden anderen Handschriften angelegt ist. Der Unterschied zu diesen ist somit weniger ein prinzipieller (so Ringler [Anm. 3], S. 78f., der von einer »bemerkenswerte[n] Umformung des überlieferten Textes« spricht) als vielmehr ein gradueller.

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Damit nimmt der Text von W eine eindeutig retrospektive, biographisierende Perspektive auf Adelheids Leben ein.30 Auf Grund der »Eigenarten der drei Handschriften und ihrer durch die Rezension ermittelten textgeschichtlichen Position«31 kommt Ringler zu folgenden Schlußfolgerungen für die Vorlagen A und A’: Berichte in der Ich-Form, von Adelheid Langmann selbst abgefaßt oder diktiert, bilden den Kern der Überlieferung (A?). Aufzeichnungen ihrer Berichte durch andere [...] und Berichte anderer Personen [...] wurden von einem Redaktor hinzugefügt, teilweise zusammengefaßt [...] und kommentiert [...] und mit einer Einleitung versehen (A oder A’).32

Damit liegt eine für frauenmystische Texte exemplarische Textgeschichte vor: Alle drei Überlieferungszeugen haben eine oder mehrere redigierende Instanzen durchlaufen. Daß sie ihrerseits auf vorgängiges Material zugreifen, zeigt sich in B an den Passagen in Ich-Form, in M und W an den Bemühungen um eine plausible bzw. vollständige Chronologie. Auf welche Weise wiederum das vorgängige Material entstanden sein mag, muß weitgehend offen bleiben. Zwar legt der Text in B verschiedene Varianten (eigenhändige Aufzeichnungen, Diktat, Bericht Dritter) nahe, inwieweit diese die Umstände der Textgenese aber tatsächlich reflektieren, kann letztlich nicht entschieden werden. Schon der Beginn der ›Offenbarungen‹ Adelheids, wie er in B und M überliefert ist, verdeutlicht den spezifisch paradoxen Sprechgestus dieser Textsorte: In nomine patris et filii et spiritus sancti wil ich diser rede beginnen von einer closterfrauwen, wie got mit ir gewundert hat von jugent auf und daz der heilig geist mit ir gewont hot von kind uf (AL 1, 1–4).33 Einerseits ruft dieser Beginn 30 31 32

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Vgl. Ringler [Anm. 3], S. 77f. Ebd. S. 79. Ebd. S. 79. Peters [Anm. 4], S. 109f., weist zurecht darauf hin, daß die Rekonstruktion eines ›Überlieferungskerns‹ nicht zu der Annahme führen sollte, hier artikulierten sich »unverstellt die religiösen Erfahrungen einzelner prominenter Schwestern« (ebd. S. 110). Sie kann vielmehr zeigen, daß Adelheids in der Ich-Form überlieferte Vision (AL 65,6ff.) ihrerseits ein »dezidiert literarisch konzipierte[r] Text[]« ist, der intertextuelle Bezüge zur Visionsliteratur aufweist (ebd. S. 177, Zitat S. 185). Der in diesem Zusammenhang gegenüber Ringler erhobene Vorwurf erscheint jedoch unberechtigt und nicht geeignet, dessen Verfahren und Ergebnisse grundsätzlich in Frage zu stellen (ebd. S. 110; zugespitzt auch bei Bürkle [Anm. 6], S. 280). Die literarische Prägung auch des ›Überlieferungskerns‹ der Offenbarungstexte kann insofern kein Argument gegen die These sein, daß die Inhomogenität der frauenmystischen Offenbarungstexte Resultat ihrer Entstehungs- und Bearbeitungsgeschichte ist, für deren Aufarbeitung kaum andere als philologische Mittel zur Verfügung stehen. Peters bietet hierzu auch gar keine Alternative an und ihre vorsichtig formulierten Überlegungen zur Entstehungssituation der Texte kommen zu Ergebnissen, die mit denen von Ringler nahezu identisch sind (Peters [Anm. 4], S. 185). Strauchs kritische Edition kennt zwar W nicht, da sie jedoch mit der Leithandschrift B jenen Text wählt, der am weitesten in die Textgeschichte zurückreicht, wird sie für

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das Muster der Vita auf: Inhaltlich wird ein Text angekündigt, in dessen Zentrum eine Person steht, die in einem privilegierten Verhältnis zu Gott und Heiligem Geist steht. Formal weist er ein biographisches Strukturmuster auf (von jugent auf, von kind uf). Mit der autoritativen Segensformel exponiert sich andererseits eine Sprechinstanz (ich), die zwar den Anspruch erhebt, die Vita einer Nonne in ihrem narrativen Verlauf vorzutragen, ohne dabei jedoch ein Ende dieser Lebensgeschichte anbieten zu können: Denn diese ist, wie das Perfekt der Objektsätze anzeigt, noch gar nicht abgeschlossen. Damit aber ist die Sprecherposition des Ich gerade nicht die des retrospektiv verfahrenden Erzählers, der seine Geschichte vollständig überblickt und sie daher ins Präteritum setzen kann. Die unmittelbar bis an die Gegenwart heranreichenden Gnadenerlebnisse der Klosterfrau machen die Sprechinstanz vielmehr zu deren Zeitgenossen. Angekündigt wird zwar eine Erzählung (rede), diese endet aber vorläufig in der Gegenwart und ist prinzipiell fortsetzbar. Zu einer retrospektiven Vita kann die rede erst zu einem Zeitpunkt werden, der jenseits des aktuellen Sprechaktes liegt. Das Paradoxe des Eingangssatzes besteht somit darin, daß sich die Sprechinstanz einem Anspruch aussetzt, für den die Voraussetzungen gar nicht gegeben sind. Um der narrativen Ordnung der Vita genügen zu können, müßten die Gnadenerlebnisse der Adelheid bereits vollständig und abgeschlossen vorliegen, was aber – auf Grund der Zeitgenossenschaft von Sprechinstanz und Textgegenstand gerade nicht der Fall ist: Zu gewährleisten ist dann lediglich der nach vorne offene, prinzipiell fortsetzbare Bericht. Dieser Bericht streift kurz Adelheids Kindheit, in der sie sich bereits durch ein vertieftes Interesse an der Passion Christi hervortut und in der ihr ein Leben als Nonne vorhergesagt wird. Mit 13 Jahren wird sie mit einem kranken Mann verheiratet, der kurz darauf stirbt. Es braucht mehrere direkte Interventionen Gottes, bis Adelheid sich entschließt, der Welt zu entsagen und ins Kloster Engelthal einzutreten. Ihre erste Zeit dort ist schwierig, der Teufel sucht sie heim (AL 4,17–26) und sie leidet an einer Krankheit. Gleichzeitig erhält sie erste Zusagen von Gott, daß sie von ihm auserwählt ist und segensreich wirken wird (AL 5,16–22). Damit beginnen ihre Visionen, Auditionen und Gespräche mit Gott, die in der Regel während der Messe, der Kommunion oder der Stundengebete stattfinden. Sie vollziehen sich also im Kontext des klösterlichen Gemeinschaftslebens und sind gerade nicht auf Zeiten in der Einzelzelle begrenzt.34

Daß Adelheid eine begnadete Frau ist, setzt der hagiographische Beginn des Textes zwar bereits als gegeben an, indem er – vitentypisch – erste Indizien hierfür in ihrer Kindheit aufscheinen läßt. Im weiteren Verlauf des Textes wird

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die folgenden Überlegungen zugrundegelegt. Hierzu grundsätzlich auch Ringler [Anm. 3], S. 72f., hier S. 72: »Für eine kritische Ausgabe der ›Offenbarungen‹ der Adelheid Langmann ist [...] auch nach Auffindung der Hs. W an den Grundsätzen der Ausgabe von Strauch festzuhalten«. Anders etwa im ›Gnaden-Leben des Friedrich Sunder‹, hierzu Keller [Anm. 8], S. 204.

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die Begnadung Adelheids allerdings erst nach und nach manifest – und zwar stets in der Auseinandersetzung mit einem außerhalb ihrer Person angesiedelten Gegenüber. Zunächst muß Adelheids Begnadung für sie selbst evident werden. Als Hinweis auf einen Prozeß der Selbstvergewisserung läßt sich eine Szene werten, die relativ dicht auf den Klostereintritt folgt (AL 7,25–8,18): Adelheid versinkt nach der Messe in eine Betrachtung über den Leidensweg Christi. Als sie bei der Kreuzigung angelangt ist, beginnt der imaginierte Christus vom Kreuz herab zu ihr zu sprechen. Sie fragt, wer da zu ihr spreche. Auf seine Antwort, er, der Auferstandene sei es, reagiert sie mit Zweifeln: disiu swester wart innenclichen wainent und sprach: ›ach liber herre, nu hör ich so vil sagen, wie der pöse gaist die leute betrige, und schölt ich do mit meinen lon verliesen, ich wölt e daz du mich nie beschaffen hest.‹ (AL 7,31–8,4)

Christus schwört, daß er es wirklich sei, Adelheid aber fordert einen sichtbaren Beweis. Darauf erscheint ihr Christus als wunderschöner alter Mann, der in ihr Herz eintritt und sie nochmals befragt, ob sie glaube, daß er es sei. Sie bejaht dies nun und glaubet [...] furpaz immer mer swaz er ir gutes tet (AL 8,17f.). Offenbarungserfahrung, wie sie sich hier darstellt, ist visuell und sprachlich. Aus der bildlichen Meditation (do disiu swester [...] betrahtet unsers herren marter [AL 7,25f.]) entsteht verbale Kommunikation (do wart zu ir gesprochen [AL 7,27]), an der sich wiederum der Zweifel Adelheids entzündet: ›wer pistu daz mit mir reddet?‹ (AL 7,28). Der Selbstzweifel Adelheids ist damit keine monologisch auf sie selbst bezogene Angelegenheit, sondern wird interaktiv inszeniert: Die Kommunikationssituation bietet den Rahmen, um den Zweifel zu artikulieren und diesen – dialogisch – zu bewältigen.35 Zum Medium persönlicher Selbstvergewisserung wird hier also nicht nur die Sprache an sich, sondern die Tatsache, daß der Sprechakt ein Gegenüber findet. Der Prozeß der Selbstvergewisserung kommt zu einem formalen Abschluß, indem Adelheids Begnadung von offizieller Seite bestätigt wird: In den selben zeiten kom ein hoher lesmeister predier ordens. do hiez si unser herre, daz si dem selben lesmeister all ir sache für leget. daz tet si. er überdaht und übertraht all ir sache und vant daz, daz ez allez gereht was und sterket si dor an. do hiez si der selb lesmeister daz si ez an schribe. (AL 26,1–6)

Die Figur des lesmeisters fungiert hier nicht nur als Instanz, die die Verschriftlichung der Offenbarungen anregt und sie dadurch legitimiert,36 im Zentrum 35 36

Vgl. analog hierzu AL 33,5–35,9. Zum Motiv des ›Schreibbefehls‹ und seinen jeweiligen Funktionalisierungen zusammenfassend Peters [Anm. 4], S. 181–188. Die Überführung der Offenbarungserfahrungen Adelheids in die Schrift bedarf – wie in anderen frauenmystischen Offenbarungstexten auch – des besonderen Anstoßes von außen. Während hier der ›Schreibbefehl‹ der Offizialisierung der Gnadenerfahrungen nachgeordnet ist, findet sich die Konstruktion etwa im ›Libro della beata Angela da Foligno‹ in umgekehrter Reihenfolge: Die Verschriftlichung der Offenbarungen liefert dort die Basis für eine Prüfung von kirchlicher Seite (vgl. Emmelius [Anm. 21], S. 55f.).

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steht die Prüfung der – mündlich vorgetragenen – Gnadenerfahrungen. Der Befund, daß diese in einem theologischen Sinne richtig (gereht) seien, verleiht ihnen schon vor der Überführung in die Schriftform eine offizielle Approbation.37 Die Geschlossenheit der Episode und die Tatsache, daß der lesmeister nur punktuell auftaucht, daß ihm also nicht die Rolle einer Vertrauensperson oder dauerhaften geistlichen Betreuungsinstanz zukommt, macht die Annahme plausibel, daß die offzielle Prüfung ein funktionales Inserat darstellt, mit dem frühzeitig ein Urteil zum Status der Offenbarungen abgegeben werden soll. Dieser wird in der Episode zwar nicht explizit angezweifelt. Da die Prüfung eines Sachverhalts jedoch nur notwendig wird, wenn über diesen Unklarheit besteht, setzt sie den Zweifel gleichsam voraus. Dieser Zusammenhang wird in der Episode dadurch verdeckt, daß Gott selbst die Prüfung initiiert. Adelheids Begnadung erweist sich auf einer weiteren Ebene auch in der Interaktion mit den Schwestern des Konvents. Bezeichnend hierfür ist eine Episode, die von der Beziehung Adelheids zu ihrer älteren Mitschwester Christina von Kornburg handelt. Sie wird im Text als heilige Frau eingeführt (AL 47,17). Es heißt, Adelheid habe sich Christina stets anvertraut: der sagt si, waz ir unser herre guetes tet, di weil si lebt (AL 47,18–20). Wiederum geht es um eine sprachliche Realisation der Gnadenerfahrungen. Anders aber als in der hierarchisch strukturierten Kommunikationssituation mit dem lesmeister spricht Adelheid hier zu einer ihr sozial gleichrangigen Mitschwester und gespilen (AL 47,17). Allerdings wird die Offenheit, die Adelheid Christina entgegen bringt, von dieser nicht erwidert. Stattdessen schweigt sie konsequent über die Gotteserfahrungen, die ihr von Adelheid unterstellt werden: eins tages sprach si zu ir: ›libe Cristina, sag mir auch etwaz von unserm herren, waz er dir guetes tue.‹ do sprach si: ›ich sag dir nit.‹ swaz si si ie gepat, do wolt si ir nihts sagen. do wart si ser betrüebet (AL 47,20–23).

Indem sie das absichtsvolle Verbergen von geschauter oder gehörter Gotteserfahrung als eine weitere Option vorführt, auf persönliche Begnadung zu reagieren, liefert die Figur der Christina eine Kontrastfolie für Adelheids Programm der Offenlegung. Zugleich bringt sie das Verhältnis der beiden damit in ein Ungleichgewicht. Adelheid versucht nun auf Umwegen, die kommunikative Balance wiederherzustellen: Sie nimmt Christinas Aussageverweigerung zum Anlaß, Gott um Auskunft über die Christina geoffenbarten Geheimnisse zu bitten: [sie] pat undern herren, daz er ir kunt tet di heimlich di er mit der swester hete (AL 47,23–25). Gott schickt ihr einen Engel, der ihr di taugen und di heimlich (AL 48,4) mitteilt, die er Christina anvertraut hat. Dann fordert sie 37

So auch Peters [Anm. 4], S. 176–181, bes. S. 178f. Die offizielle Approbation durch den lesmeister hat in der ans Ende des Textes gestellten Korrespondenz zwischen Adelheid und dem Prior von Kaisheim, der ihre Auszeichnung als Gottbegnadete bestätigt, eine strukturelle Entsprechung (AL 91,29–96,3).

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Christina nach wenigen Tagen erneut auf, über ihre Visionen zu sprechen und konfrontiert sie, nachdem sich Christina abermals weigert, mit dem ihr geoffenbarten Wissen. Christina gibt daraufhin zu: werlich du weist ez als wol als ich und hon ez menschen nie gesagt (AL 48,13f.), und verlangt zu erfahren, wie Adelheid an dieses Wissen habe kommen können. Auf Adelheids Auskunft reagiert sie wie folgt: do wart si vor andaht inneclichen weinen und sprach: ›ditz sint di wunder gotes di er nit verpirgt vor seinen freunden. wie schir hot er dir gesagt, waz er wol sibentzig jor mit mir geton hot! nu er dir sein nit verpirget, nu wil ich dir sein auch nit verpergen und wil dirz fürbaz sagen untz an mein tot.‹ (AL 48,18–23)

Der Versuch, einen kommunikativen Ausgleich mit Christina zu erzielen, gelingt also: Christina gibt ihre Sprechverweigerung auf und läßt sich auf ein reziprokes Gespräch mit Adelheid ein. Gleichzeitig vollzieht sich eine Umkehr der Verhältnisse. Aus der gegenüber Christina unterlegenen Position wechselt Adelheid als doppelte Offenbarungsempfängerin in eine der ›heiligen‹ Frau überlegene. Als überlegen erweist sich damit auch Adelheids Strategie des Versprachlichens und Offenlegens persönlicher Begnadungserfahrung. Über Christina heißt es abschließend: di selb [...] was ein rehter spigil aller heilikeit in underm closter untz an iren tot (AL 48,23f.). Indem Adelheid Christina zum Sprechen bringt, nimmt sie in dem Prozeß, der Christinas Heiligkeit manifest machen soll, eine zentrale Rolle ein. Auf diese Weise partizipiert sie auch selbst an der Christina zugeschriebenen Heiligkeit und festigt somit ihre eigene Sonderstellung. In einem letzten Schritt muß sich Adelheids Begnadung auch gegenüber dem Konvent herausstellen. Bei den Textpassagen, die sich auf das Verhältnis von einzelner Nonne und Kollektiv beziehen, fällt auf, daß weniger die sprachlichen Offenbarungen eine Rolle spielen als vielmehr der Körper der Frau, dessen Zeichen sowohl auf Begnadung als auch auf Besessenheit verweisen können.38 Adelheids Visionen vollziehen sich zumeist im öffentlichen Raum der Messe und der Stundengebete, vielfach während der Kommunion, aber auch während der Mahlzeiten. Wenn Gott bzw. Christus ihr dann erscheinen, wird ihr Zustand als Selbstverlust mit der stereotyp verwendeten Formel si kom von ir selber beschrieben: si kom so gar von ir selber daz sie niht gereden konde (AL 10,18f.), oder: Diusiu swester kom als gar von ir selber, daz si niht west waz si tet (AL 12,27f).39 Bezeichnet wird damit offenbar ein besonderer mentaler Zustand, eine Absence oder eine Art Ohnmacht. Zu diesen Zuständen kommen vielfältige, nicht näher ausgeführte körperliche Krankheiten, die die Begnadete zeitweilig aus der Gemeinschaft ausgrenzen,40 sie aber zugleich auf deren Hilfe 38

39 40

Nancy Caciola [Anm. 13], S. 24f. und bes. S. 79–125, spricht in diesem Zusammenhang vom Körper der Visionärin als »cipher«: »an unclear sign in need of interpretation by observers« (Zitat S. 24). Analog AL 17,26f.; 26,18–21 u. ö. Vgl. ihren Aufenthalt im siechhaus (AL 16,27–17,6).

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angewiesen sein lassen.41 Die Kombination aus körperlichen Leiden, die die Integration der jeweiligen Frau in die Abläufe der Gemeinschaft erschweren, und inneren Zuständen, die an ihrem Körper wahrnehmbar werden, können bei der Begnadeten selbst, aber auch in ihrem Umfeld den Verdacht provozieren, es handele sich um Anzeichen für Anfechtungen.42 Daß die Ambivalenz der Körperzeichen zu Skepsis, Ablehnung und Verleumdung führen kann, läßt sich für Texte zeigen, in denen die Körperzeichen der begnadeten Frauen deutlicher als bei Adelheid sind. Von Agnes Blannbekin etwa heißt es, eine unerträgliche vis amoris und ein ardor desiderii in ihrer Brust habe sie fast in Geschrei ausbrechen lassen; sie habe aber den Herrn gebeten, nicht zuzulassen, daß sie so ins Gerede komme, was der Herr auch getan habe.43 In den ›Offenbarungen‹ Adelheids ist die Frage danach, was mit ihr in den Phasen des Selbstverlustes geschieht, der Begnadeten selbst in den Mund gelegt. Als sie eines Tages einen solchen Zustand durchlebt hat und wieder zu sich kommt, sagt sie zu Gott: ›vil liber herre, ich weiz wol, daz du mir groz genade host getan. ich enwaiz aber nit waz‹ (AL 17,30f.). Der Herr berichtet und erläutert ihr dann den Inhalt ihrer Vision. Aus dieser Interaktion entwickelt sich im folgenden eine feste Struktur, die für die meisten der berichteten Visionen verbindlich wird: An die Visionen schließen sich Gespräche zwischen Adelheid und Gott an, der ihr das Gesehene auslegt und erläutert. Dieses Verfahren, sinnliche Erfahrung zu versprachlichen, indem sie zum Gegenstand eines Lehrdialogs wird, ist für die ›Offenbarungen‹ der Adelheid spezifisch. Es liefert in diesem Fall aber auch eine Erklärung für die sich in der Öffentlichkeit des Konvents vollziehenden körperlichen Zustände der Adelheid. Die Verknüpfung der äußerlich ambivalenten Phasen des Selbstverlusts mit der festen Struktur aus Vision und dialogisch inszenierter Exegese erwiese sich damit als eine rhetorische Strategie der schriftlichen Aufzeichnungen, Zweifel an der Begnadung Adelheids zu neutralisieren.44 41 42 43

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Visionszustände während der gemeinsamen Essenszeiten machen es notwendig, daß sie mit Unterstützung der Mitschwestern in ihre Zelle gebracht wird, vgl. AL 23,15–27. Vgl. AL 42,28–44,6 sowie 60,14–61,11. Leben und Offenbarungen der Wiener Begine Agnes Blannbekin, Edition und Übersetzung von Peter Dinzelbacher und Renate Vogeler, Göppingen 1994 (GAG 419), Kap. 167,22–27, Zitat 23f. Vgl. auch Kap. 178, wo von Verleumdung der Agnes die Rede ist. Zur Außenwirkung der exzessiven Wein- und Schreikrämpfe bei Angela von Foligno und Margery Kempe vgl. Emmelius [Anm. 21], S. 58f. und 63. Ein weiteres Beispiel für dieses Verfahren ist eine Episode, die sich an Maria Lichtmeß abspielt (AL 13,21–14,7): Mehrfach am Tag erleidet Adelheid während der Mahlzeiten Zustände des Selbstverlusts und muß in ihre Zelle gebracht werden. Die Szene wird zunehmend ambivalent, als ihr eine Feuerflamme aus dem Mund schießt. Sie befragt Gott: ›herre, wo pin ich hiut gwesen? ich weiz wol daz ich enzukket pin gewesen, ich enwaiz aber wa‹« (AL 13,29–14,2). Gott liefert daraufhin die Erklärung: ›din sele ist enzukket gewesen in dem himelrich und han si getröutet und zaiget si miner mueter.[...]‹ (AL 14,2–14,4). Vgl. auch AL 41,25–42,7.

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Dabei sind es nicht nur die körperlich-mentalen Zustände, die die begnadeten Frauen ihrem Konvent gegenüber suspekt werden lassen und Argwohn erregen können. Problematisch ist auch die von vielen der Frauen reklamierte Sonderstellung in ihrem Verhältnis zu Gott bzw. Christus, vor allem, wenn sie – wie in Adelheids Fall – von extremer Zuspitzung ist. So antwortet ihr Gott auf die Frage wie liep hastu mich? (AL 25,3), daß er sie lieber als irgendeinen anderen Menschen auf Erden habe, obwohl es Menschen gebe, die ihm mehr gedient hätten als sie (AL 25,3–8). Auch sei sein gotlich hertze [...] mer zu dir geneiget denn zu keinem menschen (AL 25,8f.). Entsprechende Aussagen finden sich auch in anderen Offenbarungstexten.45 Auch wenn sie als topische Aussagen frauenmystischer Literatur angesehen werden können, so schafft die hierdurch artikulierte Sonderstellung der Begnadeten die Voraussetzung für spirituelle Konkurrenz und soziale Konflikte. Diese Annahme läßt sich durch das Verbot bestätigen, mit der Gott seine Rede in dieser Episode beschließt: er verpot, daz si ez iemant sagte denn eim menschen, den erlaubt er ir her noch (AL 25,12f.). Die Verknüpfung von generellem Sprechverbot und zugestandener Ausnahme macht die Spannung deutlich, die für Offenbarungstexte charakteristisch ist: Begnadung bezeichnet eine privilegierte Beziehung zu Gott – hier wie in anderen Offenbarungstexten inszeniert als singuläre Liebesbeziehung – und als solche ist sie in bezug auf das soziale Umfeld prekär. Daher soll sie geheim bleiben. Bleibt sie aber geheim, wird die Begnadung der Frau für ihr Umfeld nicht evident. Folglich muß sie doch öffentlich werden. In Adelheids Fall wird die Beziehung zu ihrem Konvent schließlich durch spezifische prophetische Gaben verkompliziert. So ist es Adelheid gegeben, vorherzusagen, wer in das Kloster aufgenommen werden soll, wer sterben wird, wie es um die Seelen der Sterbenden steht und in welcher Weise man diesen hilfreich sein kann (AL 30,14–19). Diese Informationen scheinen den Schwestern nicht grundsätzlich willkommen zu sein, denn es heißt, Adelheid spreche nur von Fall zu Fall darüber: dike sagt si ez, dik saget si ez nit. daz liez si von der leut rede wegen (AL 30,19f.). Wie bei Agnes Blannbekin ist es das ausgrenzende Gerede in ihrer sozialen Umgebung, das sie abhält, ihr Wissen offen zu legen. Die spirituelle Auszeichnung und Sonderstellung der mulier religiosa, die Exklusivität ihrer Gaben und die Ambivalenz ihrer körperlichen Reaktionen können eine soziale Absonderung von der klösterlichen Gemeinschaft bewirken, die nicht notwendig als freiwilliger Rückzug aufzufassen ist.46 In den ›Offenbarungen‹ der Margaretha Ebner findet sich etwa folgende Aussage: ich und min swester wurden von unsern usern friunden und von dem covent gelaussen aun helf und aun trost etwe vil jar.47 Die soziale Ausgrenzung, die hier zum 45 46 47

Etwa bei Christina Ebner und Margaretha Ebner, vgl. AL, S. 101 Anm. 25,4. Diesen Aspekt betont Keller [Anm. 8], S. 202–205. Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag zur Geschichte der

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Ausdruck kommt, ist allerdings Umsetzung einer Prophezeiung, die Margaretha verheißt: ›du muost ellend werden hie uf ertrich‹.48 Ob die Ausgrenzung insofern auf einen historischen Umstand verweist, der durch die vorgeschaltete Prophezeiung seinen Sinn erhält, oder ob Prophezeiung und Ausgrenzung lediglich ein literarisches Muster aktualisieren, um die Sonderstellung der Begnadeten zu begründen, ohne daß dieses einen historischen Hintergrund hat, ist nicht zu entscheiden.49 Das Beispiel zeigt aber, daß die Beargwöhnungen der begnadeten Schwester auch ein beabsichtigter Effekt des Textes sein können, mit dem ihrer wahrhaftigen Begnadung vor dem Hintergrund eines ignoranten Umfelds nur umso deutlichere Kontur verliehen werden soll. So läßt sich auch die folgende Episode in Adelheids ›Offenbarungen‹ lesen (AL 60,14–61,11): Adelheid wird von bösen Geistern heimgesucht, die ihr aus Rache für die Bekehrung eines Menschen ankündigen, sie wollten eine Lüge über sie im Kloster verbreiten. Adelheid läßt sich nicht einschüchtern und bekundet ihr Vertrauen auf Gott. Dennoch erfüllt sich die Prophezeiung der bösen Geister. Adelheid wird krank, ihre Mitschwestern unterstellen ihr daraufhin Besessenheit: di frauwen taten ir all smehlichen und jemerlichen, baide di ir siptal waren und auch di andern. si zigen si eins siechtums, der an ir nit enwas (AL 60,24–61,2). Adelheid beklagt sich darüber bei Gott: do sprach si: ›herre, waz hon ich in getan, den frawen allen, daz si mir als jemerlich und als smehlichen tuent?‹ do sprach unser herre zu ir: ›sag mir, waz het ich in geton, den di mich do marteroten: di het ich geschaffen, di het ich noch mir selber gepildet. gedenk, waz si mich leidens an legten.‹ (AL 61,5–10)

Auch hier ist die Anfeindung von außen textintern instrumentalisiert: Zum einen, indem das Verhalten der Schwestern als Rachehandlung der bösen Geister und damit auf übergeordneter Ebene erklärt wird; zum anderen, indem Gott die Verleumdungen, denen Adelheid sich ausgesetzt sieht, dem Leidensweg Christi analog setzt und auf diese Weise Adelheids Leiden als imitatio einen spezifischen Sinn zuschreibt. Ihre Sonderstellung als begnadete Frau tritt dadurch umso deutlicher hervor. Die Offenbarungstexte zeigen aber nicht nur, daß Begnadung zu einer sozialen Sonderstellung führt, die Argwohn und Verleumdung der Gemeinschaft auf sich ziehen kann, sondern sie arbeiten zugleich einer Hagiographisierung des Lebens der begnadeten Frau zu, die integrative Funktionen für den Konvent übernehmen kann. Am deutlichsten zeigt sich diese Funktion in den Nonnenbüchern, in denen die Kurzviten der einzelnen begnadeten Schwestern zu einem Teil der Geschichte des Konvents werden, die diesem Bedeutung verleihen und nachfolgenden Schwestern Orientierung geben sollen. Adelheids ›Offenbarun-

48 49

deutschen Mystik, hg. von Philipp Strauch, Freiburg i. Br./Tübingen 1882 [Nachdr. Amsterdam 1966], S. 10, 18–20. Ebd. S. 10,17f. Hierzu auch Bürkle [Anm. 6], S. 94.

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gen‹ liefern eine Reihe von Anhaltspunkten, anhand derer sich eine positive Wirkung bzw. ein Nutzen ihrer Begnadung für den Konvent ablesen läßt: 1) Zentrale Bedeutung kommt der sog. ›Gnadenfrucht‹ zu, die Adelheid in ritueller Weise am Ende ihrer Gespräche mit Gott zugesagt wird: durch des willen du mich gepeten host gib ich dir dreizig tausent sel uz dem fegfeur und als vil sünder bekert und als vil gueter leut bestetigt (AL 23,13–15).50 Damit partizipiert Adelheid an einer kollektiven Aufgabe des Konvents.51 2) Daneben erweist sich Adelheids Begnadung zunehmend in ihrem praktischen Wirken. Sie kann mehrere Menschen dazu bewegen, ihrem bisherigen Leben zu entsagen und ein Leben im Kloster zu beginnen.52 3) Sie wendet ihre prophetischen Gaben zum Wohl der Gemeinschaft an, besonders als sie in einer äußerlichen Gefahrensituation durchsetzt, daß die Schwestern das Kloster nicht verlassen, sondern ausharren, was sich letztlich als richtig erweist (AL 73,19–74,14).53 4) Gegen Ende des Textes gipfelt Adelheids Wirken in der Heilung ihrer Priorin, die kurz nach der Amtsübernahme vom Teufel besessen wird (AL 79,1– 80,5): do gewan si [die Priorin] di bekorung, si wer besezzen mi[t] dem teufil, und si wart so torlichen tuen und kond weder gereden noch geporen, [...] all di menschen, di si ie gesohen, di heten do für, si wolt von iren sinnen kumen aller ding. der convent was aller betruebt do von und sunderlich di swester. (AL 79, 4–10)

Durch Fürsprache bei Gott gelingt es Adelheid, die bösen Geister zu bannen. Sie hat damit eine Position erreicht, die der der Priorin spirituell überlegen ist. Die Szene liefert damit einen letzten Nachweis dafür, daß die äußeren Zweifel an Adelheids Begnadung bewältigt sind. Die Episode spiegelt aber auch noch einmal – hervorgehoben durch die Position am Ende des Textes – die Sichtweisen der Klostergemeinschaft auf den Körper einer Frau, dessen sichtbare Handlungen (si wart so torlichen tuen und kond weder gereden noch geporen) nicht von denen Adelheids zu unterscheiden sind. Der von außen kommende Blick auf die identischen Körperzeichen muß also notwendig die Frage nach deren Bedeutung erzeugen, weil die Zeichen im einen Fall auf Begnadung, im anderen Fall auf Besessenheit verweisen können. Daß die Entscheidung darüber hier so eindeutig getroffen werden kann, ist vor allem ein Ergebnis der pro50

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Vgl auch Al 5,4–6; 6,15f.; 7,17–19; 8,20–22; 9,8–10; 19,13–15 u.ö. Der kollektive Nutzen wird ersichtlich in der Formulierung: und [unser Herr gab] dem convent funf tausent sel und als vil gueter leut und als vil sünder (AL 25,25f.). Ringler [Anm. 3], S. 75, betont, daß es sich hierbei um ein Spezifikum der Engelthaler Literatur handele. Vgl. AL 45,8–46,9 (Hermann der Tokler); 53,23–60,13 (Eberhart der Schütze). Eine junge Verwandte, die sich Adelheids Ratschlag, ins Kloster zu gehen, widersetzt, erkennt ihren Irrtum zu spät (AL 77,9–26). Vgl. auch das Versprechen Gottes an Adelheid in bezug auf die Zukunft des Klosters und der Gemeinschaft (AL 33,27–34,7).

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grammatischen Vermittlungsleistung des Textes zwischen dem Innenraum der begnadeten Frau und dem Außenraum ihres sozialen Umfelds. Ausgehend von der Annahme, daß mit frauenmystischen Offenbarungstexten nicht allein ›vertextete Innenräume‹ vorliegen, sondern Texte, die immer schon die Aufgabe haben, persönliche Gotteserfahrung an einen Außenraum jenseits der einzelnen begnadeten Frau zu vermitteln, sollten die vorstehenden Überlegungen zeigen, daß dieser Vermittlungsprozeß sich nicht eindimensional von innen nach außen richtet, sondern seine Dynamik aus der Interaktion von Einzelperson und Gruppe bezieht, also wechselseitig ist. Das zeigt sich an der dialogischen Inszenierung der Selbstvergewisserung Adelheids, die für die innere Bewältigung ihrer Zweifel steht, und die in der Institution des prüfenden lesmeisters eine – wenn auch nur punktuelle – äußere Entsprechung findet. In der Interaktion mit der über ihre Gnadenerfahrungen schweigenden Mitschwester Christina wird Adelheids programmatisches Offenlegen als spirituelle Überlegenheit vorgeführt und begründet. Die über das Motiv des ›Schreibbefehls‹ autorisierten schriftlichen Offenbarungen haben als kommunikatives Gegenüber den Konvent. In dieser Konstellation ist es ihre Aufgabe, Zweifel zu neutralisieren, die sich aus der zugewiesenen sozialen und reklamierten spirituellen Sonderstellung Adelheids ergeben. Erklärungen für mehrdeutige Körperzustände liefert dabei die Struktur der einzelnen Gottesbegegnungen aus Vision und (göttlicher) Exegese. Dem Zweifel an der spirituellen Auszeichnung treten Episoden entgegen, in denen Adelheid ihre Sonderstellung explizit zum Nutzen des Konvents anwenden kann. Zur ›Aushandlungsfläche‹ zwischen versprachlichter sinnlicher Erfahrung, über die sich der Innenraum allererst konstituiert, und dem Zweifel, der auf den unterschiedlichen Stufen ihrer Offenlegung von außen an diese herangetragen wird, und damit zum eigentlichen Grenzraum zwischen Innen und Außen wird der Offenbarungstext selbst, dem die Schwierigkeiten der Integration – trotz nachträglicher Bearbeitungen – immer noch angesehen werden können.

Stephen Mossman

Die Konzeptualisierung des inneren Menschen im Traktat ›De horto paradisi‹ Marquards von Lindau und in der ›Theologia deutsch‹. Mit einer Textedition Der Franziskaner Marquard von Lindau war im letzten Drittel des vierzehnten Jahrhunderts eine der führenden Kräfte seines Ordens und gilt heutzutage als der produktivste deutsche Autor seines Ordens überhaupt. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er im Jahre 1389, als er zum Provinzial der riesigen oberdeutschen Provinz ernannt wurde. Das Amt hatte er immer noch inne, als er 1392 in Konstanz starb. Urkundlich ist er seit ungefähr 1370 belegt, und seine schriftstellerische Tätigkeit ist sehr wahrscheinlich in die Zeit danach zu datieren. Das heißt, daß er innerhalb von ungefähr zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren eine erstaunlich große Anzahl zum Teil sehr langer Werke in lateinischer wie auch deutscher Sprache verfaßte, wovon nicht wenige an der Spitze der Bestsellerliste des späten vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts standen. Erhalten sind mehr als 450 Handschriften, die seine Werke enthalten.1 Der Traktat ›De horto paradisi‹, der im Vordergrund der folgenden Untersuchung steht, ist dagegen nur in einer einzigen Handschrift überliefert. Diese Handschrift – München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8987 – besteht aus mehreren Einzelfaszikeln, die im Münchener Franziskanerkloster vermutlich im dritten Jahrzehnt des fünfzehnten Jahrhunderts geschrieben wurden. Sie ist ein typisches Produkt eines Mendikantenklosters und enthält verschiedene Predigtreihen, einzelne Predigten und verwandte praedicabilia, sowohl in Latein als auch (wie bei ›De horto paradisi‹) in deutsch-lateinischer Mischsprache abgefaßt, welche Themen der geistlichen Beratung sowie die kontemplative Vorstellung vom adventus Domini behandeln.2 Die Zuweisung des Traktats an Marquard von Lindau erfolgt nicht aufgrund einer Namensnennung in der Handschrift, sondern aufgrund der Übereinstimmung des Incipit mit dem angegebenen Incipit eines Werkes im Marquardschen Werkverzeichnis, das im Jahre 1434 ebenfalls im Münchener Franziskanerkloster vom 1

2

Zu Marquards Leben und Werken siehe vor allem Nigel F. Palmer, Marquard von Lindau OFM, 2VL 6, Sp. 81–126, und Ottokar Bonmann, Marquard von Lindau und sein literarischer Nachlaß, Franziskanische Studien 21 (1934), S. 315–343. Siehe die Kurzbeschreibung der Handschrift im Anhang I. Sie ersetzt die veraltete Beschreibung der Handschrift bei Carolus Halm und Gulielmus Meyer, Catalogus codicum latinorum bibliothecae regiae Monacensis, Bd. 2/1, München 1874 (ND Wiesbaden 1968), S. 72.

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dortigen Guardian Hermann Sakch geschrieben wurde.3 Als dreizehntes Werk wird ein Traktat de orto paradisi, qui incipit: ortus conclusus genannt. Wegen mehrerer inhaltlicher Parallelen mit anderen Werken Marquards, die unten näher untersucht werden sollen, ist die Zuweisung an Marquard gesichert. Dazu kommt, daß am Ende des Traktats, der teilweise von geistlicher Anfechtung handelt, der lateinische Satz steht: Plura de temptacionibus vide in tractatu Nabuchodonosor et bene pulchra etc. Es wird hier nicht auf ein Werk in derselben Handschrift hingewiesen, sondern auf Marquards Traktat ›De Nabuchodonosor‹, ein allegorisches Werk viktorinischer Prägung, dessen Hauptthema die geistigen Anfechtungen und Versuchungen im fortschreitenden kontemplativen Leben bilden.4 Der erste Teil des kurzen Traktats schildert einen musterhaften inneren Menschen. Der Innenraum des menschlichen Herzens, d. h. der Seele, wird durch eine Auslegung des Paradiesgartens beschrieben. Im zweiten Teil bespricht Marquard die Versuchungen und Anfechtungen, die in den menschlichen Innenraum einzudringen versuchen, und erörtert Methoden ihrer Bekämpfung. Schließlich erfährt man im dritten und letzten Teil von den Vorteilen der Gelassenheit des Willens, wovon später die Rede sein wird. Zuerst aber zum ersten Teil, der allegorischen Darstellung des inneren Menschen. Der Traktat setzt in einer geschickten Mischsprache ein: ›Ortus conclusus soror mea sponsa‹, Canticorum. In hoc verbo amator veritatis, Iesus Christus, vitam spiritualem assimilans cor eius orto concluso, dicens: ›Ein beslozzen gart, etc.‹ Ideo quia quilibet spiritualis homo debet seines herczen war nemen sicut orti conclusi uel temporalis paradysi, sic quod cor suum sit vmb graben cum sancta paupertate, vmb maüret cum castitate, gruntfestet cum profunda humilitate[.]

Inhaltliche Parallelen mit anderen deutschen Werken Marquards, denen wir später begegnen werden, beweisen, daß das Werk auf deutsch geschrieben wurde. Marquard hat Werke in beiden Sprachen verfaßt, und in diesem Fall fängt er mit dem biblischen Text lateinisch an, bevor er eine gemischte Sprache in mnemotechnischer Weise benutzt – das Herz soll vmb graben cum sancta paupertate, vmb maüret cum castitate 5 und gruntfestet cum profunda humilitate sein – um dann weiter auf deutsch voranzukommen. Die Assoziation zwischen dem hortus conclusus im Hohelied 4,12 und dem Bericht vom Paradiesgarten in der 3

4 5

Abgedruckt bei Bonmann [Anm. 1], S. 328–332; wiederholt in: Der EucharistieTraktat Marquards von Lindau, hg. von Annelies Julia Hofmann, Tübingen 1960 (Hermaea 7), S. 15f.; dazu Palmer [Anm. 1], Sp. 83–85. Marquard von Lindau, De Nabuchodonosor (Kritische Ausgabe), hg. von Ronald Horwege, Diss. masch. Indiana University 1971; dazu Palmer [Anm. 1], Sp. 95f. Zur Bedeutung dieser Auslegung der Paradiesmauer vgl. Rudolf Haubst, Die erkenntnistheoretische und mystische Bedeutung der »Mauer der Koinzidenz«, in: Das Sehen Gottes nach Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 25. bis 27. September 1986, hg. von Rudolf Haubst, Trier 1989 (Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 18), S. 167–195, hier S. 169 Anm. 13.

Die Konzeptualisierung des inneren Menschen

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Genesis ist in der exegetischen Tradition seit dem zwölften Jahrhundert geläufig: Nicht nur, daß beide von Gärten handeln, sondern auch weil das Wort paradisus, das im Genesisbericht vorkommt, in der lateinischen Vulgata sonst nur an dieser Stelle im Hohelied verwendet wird.6 Nach dem ersten lateinischen Satz (nach dem biblischen Text) würde man erwarten, daß der Traktat anschließend vom (vielleicht mystischen) Verhältnis zwischen Christus und der menschlichen Seele handeln würde, aber schon im nächsten Satz, wo der hortus conclusus mit dem paradisus temporalis in Verbindung gebracht wird, werden solche Erwartungen enttäuscht. Stattdessen folgt das, was sich als das wichtigste Element der allegorischen Beschreibung des inneren Menschen herausstellen wird: Im Herzen steht daz holcz des ewigen lebens, daz da ist ein gehörsamer gelasner will, von dem die aller edlesten frucht der tugent chüment. Später wird die Bedeutung dieser Auslegung des arbor vitae als der menschliche Wille expliziert. Zuerst aber zurück zur Allegorie: Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist das Leben Christi, das im Herzen als Vorbild steht; und Eua, naturlicher liepleicher lust, sol aus dem herczen getriben sein, vnd ein engel, ein cherubin, sol mit einem plozzen swert dez herczen hüten, daz Eua, liepleicher lust, nit wider in daz hercz kvme. Der Engel mit dem feurigen Schwert aus Genesis 3,24 hütet im biblischen Bericht den Weg zum Baum des ewigen Lebens, und genau diese Rolle spielt er o auch hier: Der engel ist der erst ernst der minne, in der sich der mensch zu got kert hat. Der sol fürsichtikeit in seiner hant haben, vnd sol da mit war nemen dez graben – d. h. Armut – vnd der müren, – d. h. Keuschheit – ob die gancz vnd vnuersert sey vnd daz kain heimleich ein ganck sey, daz Eva nicht der frucht esse vnd immer werd in dem herczen leben. Eva, d. h. wahrscheinlich appetitus,7 darf nicht die Armut oder die Keuschheit verletzen und dadurch die Tugenden zerstören. Daß der Engel der erste ernst der minne sei, weist darauf hin, daß der Traktat an die incipientes im geistlichen Leben gerichtet wird; vielleicht ist an Novizen zu denken, was auch aus dem Niveau des Traktats als Ganzem hervorgeht. Marquards lateinisches Hauptwerk ›De reparatione hominis‹ bespricht ebenfalls im vierten und achten Artikel das Paradies; im achten Artikel wird Petrus Lombardus zum Thema jenes Engels zitiert, der seinerseits Augustinus paraphrasiert und den Engel als caritas auslegt.8 Durch ein lateinisches Satzglied werden neue, unerwartetere Elemente in der o Allegorie eingeführt: In corde debet esse Helyas, ein vester stater mut der sich 6

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Dazu siehe Dietrich Schmidtke, Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters am Beispiel der Gartenallegorie, Tübingen 1982 (Hermaea 43), S. 371. Vgl. Marquard von Lindau OFM, De reparatione hominis. Einführung und Textedition, hg. von Hermann-Josef May, Frankfurt a. M. [usw.] 1977 (Regensburger Studien zur Theologie 5), hier a. 8 (42,34–43,10). Vgl. ebd. und a. 8 (45,39–46,11), a. 4 (22,32–34).

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nit verwandel. Dar inn sol sein Enoch der altvater, der heimleich hin gefürt ward, daz ist rechte mainung die verporgen sey vnd mit der alle ding in got sint geordent. Die Anwesenheit von Enoch und Elia im Paradies geht aus dem biblischen Text nicht eindeutig hervor, sondern gehört zur jüdischen und frühchristlichen Apokalyptik, wonach beide lebendig ins Paradies entrückt wurden, damit sie im letzten Kampf gegen den Antichrist mitwirken und endlich den Märtyrertod erlangen dürfen. Diese Meinung ist im patristischen Schrifttum verbreitet, und wurde im Mittelalter neben anderen auch von Thomas von Aquin behauptet;9 Marquards unmittelbare Quelle dagegen war Nikolaus von Lyra, dessen seinerseits auf hebräischen Schriften fußende Meinung er zu diesem Thema im achten Artikel von ›De reparatione hominis‹ zitiert.10 Die Interpretationen der Namen Enoch und Elia in ›De horto paradisi‹ scheinen eigenständig zu sein; sie sind in ›De reparatione hominis‹ nicht angeführt und korrespondieren nicht, wie üblicherweise zu erwarten wäre, mit den Interpretationen im ›Liber interpretationis hebraicorum nominum‹ des Hieronymus.11 Das letzte Element im menschlichen Innenraum ist dann die Quelle: Auch sol o ein prünn dar inn sein oder auf gan; daz ist auz senftmutiger diemuticheit oder gnedikeit sol kumen ein fridsamer wandel vnd swellichs erbieten in aller peholffenleichait. 12

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Siehe dazu Ildefonse de Vuippens, Le Paradis terrestre au troisie`me ciel. Expose´ historique d’une conception chre´tienne des premiers sie`cles, Paris/Fribourg 1925, S. 13–15 und 29. Unter den von de Vuippens untersuchten Autoren besprach Augustinus die Anwesenheit der beiden Patriarchen im Paradiesgarten am ausführlichsten. Er meinte, sie wohnten im Paradiesgarten, wo sie durch die Ernährung vom Baum des Lebens lebendig blieben: siehe Augustinus, Contra Iulianum (opus imperfectum) tomus posterior libri IV-VI, hg. von Michaela Zelzer, Wien 2004 (CSEL 85/2), lib. 6 c. 30 (S. 415–422) und lib. 6 c. 39 (S. 446–449). Siehe Marquard von Lindau, ›De reparatione hominis‹ [Anm. 7], a. 8 (46,38–47,20). Ihre Anwesenheit wird dort weiterhin durch einen ziemlich langen Bericht einer merkwürdigen Jenseitsreise bestätigt, wonach ein am Ende des dreizehnten Jahrhunderts zum Himmel geführter palästinensischer Franziskaner namens Angelus dort ein Gespräch mit den erwähnten Patriarchen führte: siehe a. 8 (47,21–48,22). Vgl. S. Hieronymi presbyteri Liber interpretationis hebraicorum nominum, in: S. Hieronymi Presbyteri Opera 1/1, hg. von Paul de Lagarde, Turnhout 1959 (CCSL 72), S. 57–161 (siehe Register zu ›Enoch‹ und ›Elia‹). Die biblischen Angaben zu der Quelle und den Flüssen im Paradiesgarten sind nicht eindeutig. Die vier Flüsse, die aus der Quelle stammen, sind oft in allegorischen Werken so besprochen, als ob sie selber im Paradiesgarten anwesend seien, was nach dem biblischen Bericht wahrscheinlich nicht der Fall ist – nur die Quelle ist dort zu finden. Marquard folgt dieser Meinung (vgl. ›De reparatione hominis‹ [Anm. 7], a. 4 [21,26– 32]), und deswegen sind keine Flüsse in ›De horto paradisi‹ zu finden. Erwähnenswert ist, daß die Anwesenheit der Quelle allein im Paradiesgarten vielleicht von Hohelied 4,12, wo ein fons signatus, aber keine Flüsse vorkommen, beeinflußt ist; siehe dazu Schmidtke [Anm. 6], S. 317–319 und 336f.

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So sieht der veräußerlichte Innenraum des Menschen aus. Nach Schmidtke sind deutschsprachige Gartenallegorien eher ein Phänomen des fünfzehnten Jahrhunderts; unter den mit Namen bekannten Autoren sind hauptsächlich in der Ordensreform beschäftigte Dominikaner – und ganz wenige Franziskaner – zu finden.13 Unser Traktat ist aus dieser Sicht eine Ausnahme, obwohl ›De horto paradisi‹ keine reine Gartenallegorie ist: Die Allegorie bleibt hauptsächlich auf den ersten Teil beschränkt. Emblematische hortus conclusus-Predigten sind oft Marien- oder Heiligenpredigten, in denen die reine Seele Mariens bzw. der Heiligen als hortus conclusus gedeutet wird; das Vorkommen jener Hoheliedverse 4,12–5,1 in der Marienliturgie hat wohl auch dazu beitragen können.14 In der Tradition der lateinischen Exegese ist das ›innere Paradies‹ schon im zwölften Jahrhundert unter anderem bei Bernhard von Clairvaux und Honorius Augustodunensis thematisiert, in deren Schriften zum ersten Mal die fidelis anima mit dem inneren Paradies und mit dem hortus conclusus verbunden wird.15 Ein genauer Vergleich von ›De horto paradisi‹ mit allen exegetischen Werken der früheren Zeit könnte vielleicht gewisse Parallelitäten in der Auslegung einzelner Elemente zeigen, würde hier aber zu weit vom Thema abführen. Wesentlich ist, daß in den lateinischen exegetischen Werken des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts das ›innere Paradies‹ normalerweise einen zu erreichenden Idealzustand der vollkommenen Seele darstellt, oder einen Raum vorstellt, in dem die Seele weilt, und sehr oft wo man Christus begegnet.16 Dies ist für Marquards ›De horto paradisi‹ nicht der Fall – das innere Paradies ist einfach das Herz jedes spiritualis homo, ein Basiszustand des gerechten geistlichen Lebens, nicht ein hohes Ideal der Vollkommenheit, nach dem gestrebt werden muß. Bekräftigt wird dies durch die geistliche Interpretation vom Paradies in ›De reparatione hominis‹, die mit dem folgenden Satz eingeführt wird: In nobis est paradisus voluptatis a principio formationis hominis in regione intellectuali hortusque deliciarum prae cunctis corporalibus. 17 Verglichen mit der geistlichen Interpretation vom Paradies in ›De reparatione hominis‹ hat Marquard nur eine Auslegung geändert: die Bäume. Dort ist der Baum der Erkenntnis als der Wille ausgelegt, und der Baum des Lebens ist die einfältige und reine Absicht, Gott zu ehren: Nam ibi sunt [...] lignum quoque vitae, idest intentio simplex et pura divini honoris, et arbor scientiae boni et mali, idest voluntas. 18 In ›De horto 13 14 15

16 17 18

Schmidtke [Anm. 6], S. 215–237. Ebd., S. 268. Siehe Friedrich Wilhelm Wodtke, Die Allegorie des ›Inneren Paradieses‹ bei Bernhard von Clairvaux, Honorius Augustodunensis, Gottfried von Straßburg und in der deutschen Mystik, in: Festschrift Josef Quint, hg. von Hugo Moser [u. a.], Bonn 1964, S. 277–290, insbes. S. 278–282. Neben den Beispielen bei Wodtke [Anm. 15], siehe Schmidtke [Anm. 6], S. 370–377, 402–405 und 422–429. Marquard von Lindau, ›De reparatione hominis‹ [Anm. 7], a. 4 (23,12–15). Ebd., a. 4 (23,23–26); zum historischen lignum vitae vgl. ferner a. 4 (22,14–18) und a. 8 (40,1–26 und 46,12–18).

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paradisi‹ dagegen ist der Baum des Lebens jetzt der Wille, und der Wille spielt danach die führende Rolle in dem Traktat – d. h., er ist das wichtigste Element des inneren Menschen. Der zweite Teil des Traktats erörtert die Rolle, die weiser vnderschaid – discretio – in der Bekämpfung von vier Arten der geistlichen Anfechtung spielt. In zweien von diesen trägt der Wille die entscheidende Rolle. Im ersten ist die Freiheit des Willens hervorgehoben: Alzo daz die becherung oder in val ist von pösem lüst, so sol weiser vnderscheid dir vorheben die freihait deines willen; daz den joch niemant wider got selb gewinnen kan, vnd daz kain lust oder ein val nit schad mer erpringet nücz: ez gebe denn der o o mensch mit verdachtem mut verhengnuz seins willen dar zu.

Im dritten Teil wird geraten, sich demütig in den göttlichen Willen zu ergeben: Vnd sider wir der ewigen weishait vnd iren almechtigen willen nit enpfliehen mügen, hie vmb süllen wir v¨ns gedultikleich vnd gelazzenleich dar ein geben; vnd sol der mensch gedenchen: ›Wil mich got plind han vnd vnvernüftig, daz wil ich allez gern o sein alz ein höher maister.‹ Sich, diser diemutiger gelas vnd dein williges erpietten dem willen gotes v¨ber windet, daz denn got dem menschen gibt vernüft vnd mer liechtes denn er möcht von allen lerern vnd maistern mit fragen v¨ber kümen.

An dieser Stelle sollte man hervorheben, daß am Ende des zweiten Teils sechs Nutzen der Anfechtung und Versuchung aufgereiht werden. Die ›Sechs Nutzen der Versuchung‹ sind auch anderswo in zwei deutschsprachigen Werken Marquards zu finden, im ›Hiob-Traktat‹ und in ›De Nabuchodonosor‹, und ein genauer Vergleich beweist sicher, daß ›De horto paradisi‹ ebenfalls auf deutsch geschrieben wurde.19 Die ›Sechs Nutzen‹ lassen sich in der Tat als ein leicht bearbeitetes, ins Deutsche übertragenes Exzerpt aus dem dritten Buch vom Traktat ›De consolatione theologiae‹ des 1372 gestorbenen Straßburger Dominikaners Johannes von Dambach identifizieren.20 Wichtig ist hier nicht eine ausführliche Untersuchung der Bearbeitung, sondern die Tatsache, daß die ›Sechs Nutzen‹ in ›De horto paradisi‹ ihre ursprünglichere Rolle beibehalten haben. Im ›Hiob-Traktat‹ und noch stärker in ›De Nabuchodonosor‹ bilden die ›Sechs Nutzen‹ einen Teil der notwendigen via purgativa im kontemplativen Leben. Dort ist die Bedeutung des geistigen Leidens als eine Reinigung der Seele sehr stark ausgeprägt, was in ›De horto paradisi‹ nicht der Fall ist. Hier sind die 19

20

Vgl. Der Hiob-Traktat des Marquard von Lindau. Überlieferung, Untersuchung und kritische Textausgabe, hg. von Eckart Greifenstein, München 1973 (MTU 68), 499– 524 (S. 191f.) und Marquard von Lindau, ›De Nabuchodonosor‹ [Anm. 4], 102,9– 104,6. Vgl. Johannes von Dambach, ›De consolatione theologiae‹, Straßburg: Drucker des Henricus Ariminensis (Georg Reyser?) c. 1477 [Hain/Copinger 15326], 3 I iii (Bl. 50v–51r). Zu den gedruckten Fassungen von ›De consolatione theologiae‹ vgl. Albert Auer, Johannes von Dambach und die Trostbücher vom 11. bis zum 16. Jahrhundert, Münster 1928 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen, Bd. 27, Heft 1/2), S. 226–232.

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›Sechs Nutzen‹ als Trostmittel angeführt, um den in Versuchung und Anfechtung geratenen Menschen zu trösten – die Rolle, die die ›Sechs Nutzen‹ in ›De consolatione theologiae‹ spielten, und die eindeutig aus dem einleitenden Satz in ›De horto paradisi‹ hervorgeht: Aber kürczleich in alle anvechtung vnd pekorung sol sich der mensch vj nücz trösten. Zurück aber zur Willensthematik. Am Anfang des dritten Teils des Traktats wird die Allegorie des Lebensbaums wieder aufgegriffen: Dich sol sünder raiczzen daz du habest in dem garten deines herczen daz holcz dez lebens vnd der frucht die da choment von einem körsamen gelassen willen. Danach werden drei Vorteile der Gelassenheit des Willens erörtert. Zuerst, daß ein gelassener Wille die Tugenden bekräftigt: Wann all tugent von eygenschaft irr aygen natur auf o ziehent, vnd daz hercz auf hebent gegen der sälicheit dar zu menschleich natur ist geschaffen. So ist eygener will ein v¨berlast, der da nider wiget da von. Zweitens, daß mit Gelassenheit des Willens die Sünden gevangen werden, da eygner o will ist ein port dürch die all sünd flüsset, wann all sund von mutwillen geschehen sint. Da von wer die port well pesliessen, der hat gevangen die da hinder sint. Hier greift Marquard noch einmal die Allegorie wieder auf, um in eindrucksvoller Weise zu zeigen, daß der eigene Wille ganz aufgegeben werden kann, nicht nur ohne die Tugenden zu gefährden, sondern um die Laster zu verhindern: o

Auch wer den stam abhawet der mutwilligen freyheit, der darf nit fürchten daz die est geperent die frücht der lavtterkeit. Alzo ze gleicher weiz mügent v¨ntugent nit kümen o mit irr betrogen listikeit, da der pawm zu mal wirt abgeslagen mit williger freyheit.

Der dritte Vorteil ist besonders kompliziert und besonders wichtig. Gelassenheit des Willens, behauptet Marquard, sei ein Zeichen und ein Werk der Liebe Gottes. Er erklärt, daß der Mensch oft Geschenke gebe; aber das einzige Geschenk, das beweise, daß der Mensch Gott mehr als sich selbst liebe, sei sich selbst zu geben. Sich selbst zu geben sei den Willen zu geben – d. h., daß der Wille nicht nur als Synekdoche für das Selbst steht, sondern in gewisser Hinsicht, wie im folgenden näher erläutert wird, das Selbst ist. Deswegen ist der Baum des Lebens in diesem Traktat als der Wille ausgelegt – weil hier Leben und Wollen gleichbedeutend ist. Marquard schließt mit drei wichtigen Sätzen: Da von ein gelassner will ist allain daz kint, daz von der höhesten minn gotz in warhait wirt geporn. Dar vmb er zaiget allain den willen dez vaters. Dar vmb wer got willikleich gibt seinen freyen willen, der peweiset, daz er got mer minnet dann sich selb.

Möglich ist es, daß im ersten dieser drei Sätze eine eher mystische Auffassung vom Verhältnis des Menschen zu Gott ausgedrückt wird: Gott gebiert durch seine Liebe zum Menschen den gelassenen Willen im Menschen. Dies darf man wohl in Verbindung mit dem einleitenden lateinischen Satz des Traktats bringen, wonach der amator veritatis, Iesus Christus, vitam spiritualem assimilans

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cor eius orto concluso[.] Andererseits ist eine mystische Interpretation dieses Satzes nicht zwingend. Er könnte auch bedeuten, daß der gelassene Wille nicht von Gott, sondern vom Menschen aus seiner Liebe zu Gott ›geboren‹ wird, und ohne daß das Wort ›geboren‹ hier besondere Aufmerksamkeit verdient. Der Begriff ›gelassen‹ wurde in seiner vollen Bedeutungsfülle erst durch Meister Eckhart geprägt.21 Wie bekannt, ist die Gelassenheit bei Eckhart, sehr knapp formuliert, die Möglichkeit, das Äußere, das Selbst, das Gedachte zu lassen und zum Zustand der vollkommenen Abgeschiedenheit zu gelangen, wo die Gottesgeburt in der Seele gehört werden kann. Die Gelassenheit des Willens ist bei ihm nur ein Teil der vollständigen Gelassenheit des inneren Menschen. Adeltrud Bundschuh konstatiert, daß »die Dreigliederung Nichts-Wollen, Nichts-Wissen, Nichts-Haben [...] auf das Einswerden mit Gott im Willen, in der Vernunft und im Grund [hinweist].«22 In bestimmten Werken, wie in der Armutspredigt ›Beati pauperes spiritu‹,23 ist weiterhin die höchste Gelassenheit des Willens das Lassen des Willens überhaupt, einschließlich des göttlichen Willens: Nur im vollständigen Lassen des Wollens wird der Mensch nichts, und seinem ursprünglichen Zustand (und dadurch Gott), ähnlicher.24 Schließlich muß der Mensch auch Gott lassen – genauer gesagt, die Vorstellung Gottes, damit nur die essentia von Gott beim Menschen bleibt und der Mensch völlig zu Gott zurückgekehrt ist. Wie Bundschuh schreibt, »Meister Eckhart will sagen, daß der Mensch zuletzt auch den Begriff oder den Gedanken Gottes, die Vorstellung Gottes, weglassen muß. Der Mensch soll nicht einen ›gedachten‹ (gedaˆhten) Gott haben; denn, sobald der Gedanke vergeht, vergeht auch der Gott. Er soll vielmehr einen ›wesenhaften‹ (gewesenden) Gott haben, der über die Gedanken des Menschen weit erhaben ist.«25 Die mystisch-spekulative Prägung, die das Wort gelassen bei Eckhart trägt, ist im Traktat ›De horto paradisi‹ nicht in dieser Form zu finden – oder, wenn 21

22 23

24 25

Ludwig Völker, ›Gelassenheit‹. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mystik bis Jacob Böhme, in: ›Getempert und gemischet‹ für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag, hg. von Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller, Göppingen 1972 (GAG 65), S. 281– 312, hier S. 282–285; Adeltrud Bundschuh, Die Bedeutung von gelassen und die Bedeutung der Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Berücksichtigung seiner lateinischen Schriften, Frankfurt a. M. [usw.] 1990 (Europäische Hochschulschriften Reihe 20, Philosophie, 302), S. 100–110. Bundschuh [Anm. 21], S. 153f. Meister Eckharts Predigten, Bd. 1–3, hg. von Josef Quint, Stuttgart [1. Lieferung 1936] 1958–1976; Bd. 4,1–4,2 [Fasc. 1–2] hg. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 1997–2003 (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke 1–4,2), Bd. 2, S. 478–524 (Nr. 52). Bundschuh [Anm. 21], S. 154–156; siehe dann S. 156–158 zum ›Nichts-Wissen‹ und S. 158f. zum ›Nichts-Haben‹. Ebd., S. 160f.; siehe ferner S. 172f., und S. 230–245 zum Begriff der Gelassenheit im Traktat ›Von Abgeschiedenheit‹.

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wir den Satz Da von ein gelassner will ist allain daz kint, daz von der höhesten minn gotz in warhait wirt geporn nicht im mystischen Sinne verstehen, überhaupt nicht zu finden. Eckharts Auffassung des inneren Menschen ist sehr viel breiter; das Lassen des Eigenwillens und dann das Lassen des Wollens schlechthin bilden nur einen Teil (wenn auch einen wichtigen Teil) des Verfahrens des Gelassen-Werdens des inneren Menschen. Die Auffassung von Gelassenheit als, um Ludwig Völker zu zitieren, »eine Haltung geduldigen Gleichmuts und demütiger Ergebung im Leiden«, die er als die herrschende Bedeutung von Gelassenheit in Heinrich Seuses ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ und ›Vita‹ identifiziert, ist auch nicht die Auffassung, die im dritten Teil von ›De horto paradisi‹ vertreten wird.26 Die Auffassung von Gelassenheit als Gottergebenheit, die bei Johannes Tauler sehr stark ausgeprägt ist,27 ist zwar, wie wir schon gesehen haben, im zweiten Teil von ›De horto paradisi‹ vertreten, spielt aber im wichtigen dritten Teil keine Rolle. Unter den Bestandteilen des Innenraums des Menschen im ersten Teil von Marquards Traktat ist nur der Wille Gegenstand einer intensiveren Beschäftigung im weiteren Verlauf des Traktats, und die Gelassenheit des Willens ist im dritten Teil als die Aufgabe des Selbsts verstanden. Von der Abwesenheit eines mystischen Ziels abgesehen, ist diese Auffassung der Gelassenheit des Selbsts viel enger als die Eckhartsche. Eckhart bietet sich als Vergleich an, da Marquard eine so gute Kenntnis seiner Schriften – einschließlich der sehr schmal überlieferten lateinischen Werke – besaß,28 und wegen seiner Wichtigkeit für die Prägung von ›gelassen‹ als terminus technicus. Aber der Vergleich mit dem 1327 verstorbenen Meister Eckhart führt uns nur beschränkt weiter, da in diesem Fall keine nähere Beziehung festzustellen ist. Eine andere Vergleichsmöglichkeit bietet die ›Theologia deutsch‹ des anonymen Frankfurters – ein für die deutsche Ideengeschichte äußerst wichtiges Werk, dessen Einfluß durch Luthers zwei Ausgaben von 1516 und 1518 für die Moderne gesichert wurde. Die Entstehungszeit der ›Theologia deutsch‹ wird in der neueren Forschung ins späte vierzehnte Jahrhundert gelegt – d. h. zeitgleich mit Marquards schriftstellerischer Tätigkeit – obwohl die Überlieferung erst in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts einsetzt.29 In diesem Werk 26 27 28

29

Völker [Anm. 21], S. 285–288 (Zitat S. 286). Ebd., S. 288–290; siehe auch Bundschuh [Anm. 21], S. 114f. Dazu Loris Sturlese, Meister Eckharts Weiterwirken. Versuch einer Bilanz, in: Ekkardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozess gegen Meister Eckhart, hg. von Heinrich Stirnimann und Ruedi Imbach, Fribourg 1992 (Dokimion 11), S. 169–183, hier S. 172f., und Freimut Löser, Rezeption als Revision. Marquard von Lindau und Meister Eckhart, PBB 119 (1997), S. 425–458. Siehe Ute Mennecke-Haustein, ›Theologia deutsch‹, DSAM, Bd. 15, 1991, Sp. 459– 463; Luise Abramowski, Bemerkungen zur ›Theologia deutsch‹ und zum ›Buch von geistlicher Armut‹, ZKG 97 (1986), S. 85–104, hier S. 85–92; Oliver Davies, Ruysbroeck, a` Kempis and the Theologia Deutsch, in: The Study of Spirituality, hg. von Cheslyn Jones [u. a.], London 1986, S. 321–324, hier S. 323f.; Wolfgang von Hinten, ›Der Frankfurter‹ (›Theologia deutsch‹), 2VL 2, Sp. 802–808.

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wird ein mystisches Ziel der Vereinigung mit Gott formuliert, aber hier wird die Gelassenheit des Selbsts hauptsächlich als die Aufgabe des Eigenwillens aufgefaßt. Im 27. Kapitel wird erklärt, wie man das vorstehen sal, das Cristus spricht: ›Man sal alle dingk laßen vnde vorlißen‹[.] Die Antwort lautet: Aber man sal eß also vorstan, das alles des menschen vormugenn, thun vnd laßen vnd wissen vnd joch aller creaturen ist nicht das, da die voreynung an ligt. Was ist nu die eynung? Nichts anders, den das man luterlichen vnd einfeldiclichen vnd gentzlichen yn der warheit eynfeldig sey mit einfeldigen, ewigen willen gotis ader joch czumal an willen sey vnd der geschaffen wille geflossen sey yn den ewigen willen vnd dar jnne vorsmelczet sey vnd czu nichte worden, also das der ewige wille allein do selbist welle thun vnd laße.30

Dem eigenen Willen zu folgen ist das Gegenteil davon, Gott zu folgen, egal, ob man Gutem oder Bösem folgt: Wer dem menschen czu seynem eigen willen hilfft, der hilfft ym czu dem aller bosten. Wan ßo der mensche meher volget vnd czu nympt yn syme eigen willen, ßo er got vnd dem waren gut verrer ist. 31 Im 44. Kapitel wird dies näher erläutert: Da alles Gute von Gott kommt, ist der Eigenwille das Wollen von etwas, was nicht von Gott gewollt wird, und ist zwangsläufig sündhaft.32 Ohne Eigenwillen, meint der Verfasser, gebe es keine Hölle, keinen Teufel und keinen Sündenfall.33 Der Eigenwille existiert, meint der Verfasser im wichtigen 51. Kapitel, damit der Mensch über den Stand der Tiere erhoben werde, damit in diesem gottähnlicheren Zustand der von Gott nach seinem Vorbild geschaffene und ihm gehörige Wille des Menschen es Gott erlaube, auf Erden zu wirken;34 ferner, so daß Gott als Gott erkannt und verehrt werde.35 Der Verfasser spricht neuplatonisch vom ›Fließen‹ des menschlichen Willens in den göttlichen, drückt aber damit eine ähnliche Auffassung von der Willensaufgabe wie in Marquards ›De horto paradisi‹ aus. Die wichtigere Par30 31 32 33 34

35

›Der Franckforter‹ (›Theologia deutsch‹). Kritische Textausgabe, hg. von Wolfgang von Hinten, München 1982 (MTU 78), § 27, Z. 5–12 (S. 110). Ebd., § 34, Z. 4–6 (S. 118f.). Ebd., § 44 (S. 137–39). Ebd., § 49 (S. 142); vgl. § 50 (S. 143). Ebd., § 51, Z. 16–53 (S. 144); vor allem Z. 36–44: Dar vmmb sal creatur seyn vnd got wil sie haben, das disser wille seyn eygen werck dar ynne habe vnd wircke, der yn got an werck ist vnd seyn muß. Dar vmmb der wille yn der creatur, den man eynen geschaffen willen heißet, der ist also wol gotis als der ewige wille vnd nicht der creaturen. Vnd wan nu got an creatur wurcklich vnd beweglich nicht gewollen mag, dar vmmbe wil er eß thun yn vnd mit den creaturen. Dar vmmb sold die creatur mit dem selben willen nicht wollen, sunder got sold vnd wold wollen wircklichen mit dem willen, der yn dem menschen ist, vnd doch gotis ist. Ebd., § 51, Z. 74–77 (S. 146): Wer nicht vornunfft ader wille yn den creaturen, werlich got blebe vnd were vnbekant vnnd vngelibet vnd vngelobet vnd vngeeret, vnd alle creaturen weren nicht wert vnd tochten got nyrgen czu. Sich, also ist geantwort czu der frage. Dazu siehe Alois M. Haas, Die ›Theologia deutsch‹. Konstitution eines mystologischen Texts, FZPhTh 25 (1978), S. 304–50, hier S. 319–21.

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allele ist aber, im Unterschied zu Eckhart, die enge Konzentration auf die Willensaufgabe als wesentlichster Bestandteil der Gelassenheit. Laut dem Verfasser der ›Theologia deutsch‹ braucht man nur den Willen aufzugeben, um dadurch alle Bestandteile des inneren Menschen aufzugeben und gelassen zu werden: Als eß nu vmmbe den willen ist, also ist eß auch vmmb bekentniß, vornunfft, vormugen, liebe, vnd was yn dem menschen ist, das ist alles gotis vnd nicht des menschen. Vnnd wo das geschee, das der wille got also gar gelaßen were, da wurde das ander alczumal gelassen vnnd da bequeme sich got alles des seynen vnd der wille were nicht eygen wille.36

Das Ziel ist jedoch die mystische Vereinigung mit Gott durch die Willensaufgabe. Der Wille soll ›frei‹ werden, was nichts mit der Freiheit des Willens im klassischen, augustinischen Sinne zu tun hat, wonach der Mensch zwischen Alternativen wählen darf, sondern bedeutet, daß der Wille befreit werden muß, damit der menschliche Wille dann in den göttlichen Willen zurückfließen darf: Was frey ist, das ist nymants eigen, vnd wer das eygen macht, der thut vnrecht. Nu ist vnder aller freiheit nichts also frey als der wille, vnd wer den eygen macht vnd lisset yn nicht an seyner edeln freiheit vnd yn synem freyen adel vnd yn seyner freyen art, der thut vnrecht. [...] Aber wer den willen leßet yn seyner edeln freiheit, der thut recht, vnnd das thut Cristus vnd alle seyne nochvolger.37

Es ist, als ob ein Teil Gottes dann in dem und durch den Menschen wirke. Wenn wir die Sätze Da von ein gelassner will ist allain daz kint, daz von der höhesten minn gotz in warhait wirt geporn. Dar vmb erzaiget allain den willen dez vaters in ›De horto paradisi‹ im mystischen Sinne verstehen, dann ist die Nähe zur ›Theologia Deutsch‹ noch deutlicher. Auch wenn eine mystische Interpretation ausgeschlossen wird, bleibt die Vorstellung vom Menschen, der durch die vollständige Willensaufgabe nur den Willen des Vaters zeigt und allein durch die Willensaufgabe das Selbst aufgegeben hat, das wesentliche Merkmal beider Werke. Die Auffassung der Notwendigkeit des gelassenen Willens wurde von Martin Luther mit Eifer übernommen, da die Vorstellung der kompletten Hilflosigkeit und persönlicher Unzulänglichkeit des geschaffenen Menschen, die der vollständigen Hingabe des Menschen zu Gott bedürfe, seinen eigenen Ideen nicht nur entsprach, sondern sie auch formte. Wie Alois Haas konstatiert: »An diesem Gedankenkomplex ist Luther aufs höchste interessiert, da die radikale Fassung des Menschen in seiner sündhaften Hinfälligkeit eine um so gründlichere Hilfsbedürftigkeit signalisiert, der die Rettung durch Jesus Christus überschwenglich entspricht.«38 36 37 38

Ebd., § 51, Z. 57–61 (S. 145). Ebd., § 51, Z. 80–85 (S. 146). Zur neuplatonischen unio-Vorstellung in der ›Theologia deutsch‹ siehe Haas [Anm. 35], S. 330–336. Alois M. Haas, ›Theologia deutsch‹, Meister Eckhart und Martin Luther. Eine Skizze, in: Variorvm mvnera florvm. Latinität als prägende Kraft mittelalterlicher Kultur. Festschrift für Hans F. Haefele zu seinem sechzigsten Geburtstag, hg. von Adolf Reinle [u. a.], Sigmaringen 1985, S. 321–328, hier S. 324; siehe auch Völker [Anm. 21], S. 291f.

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Aus Marquardscher Perspektive ist der Vergleich mit der ›Theologia deutsch‹ sehr wichtig, weil der Traktat ›De horto paradisi‹ jetzt in intellektuellem Zusammenhang mit einem die via moderna prägenden Werk steht, und zwar in dem zentralen Punkt des anthropologischen Verständnisses des inneren Menschen, auch wenn die Vorstellung der ›Freiheit‹ (oder Befreiung) des Willens in der ›Theologia deutsch‹ Marquards Traktat fremd ist und der mystische Kontext der ›Theologia deutsch‹, in den diese Anthropologie eingebunden wird, in Marquards kurzem Traktat nicht vorhanden ist – was vielleicht mehr durch das intendierte Publikum des Traktats bedingt ist als durch eine Ablehnung der mystischen Möglichkeiten, die durch die Selbstentäußerung in der Willensaufgabe in Gott eröffnet werden könnten.39 Aus historischer Perspektive helfen uns solche Vergleiche jedoch nicht weiter. Aus historischer Sicht muß erklärt werden, warum Marquard sich den Innenraum des Menschen so vorstellt und warum dem gelassenen Willen eine so wichtige Stellung im Verhältnis zwischen dem Menschen und Gott zugewiesen wird, wenn der Wille nur ein Bestandteil des inneren Menschen ist. Einerseits könnte man auf den Begriff der Nichtigkeit des Menschen bei Franziskus von Assisi hinweisen. Besonders in den ›Admonitiones‹ des heiligen Franziskus findet sich die Idee, daß der Mensch von sich selbst aus kein Gutes tun kann: Alles Gute kommt von Gott und nur er wirkt Gutes durch den Menschen. Beatus ille servus, qui non magis se exaltat de bono, quod Dominus dicit et operatur per ipsum, quam quod dicit et operatur per alium,40 schreibt Franziskus; Beatus 39

40

Zu Marquards mystischen Perspektiven in seiner deutschsprachigen Predigtsammlung siehe Niklaus Largier, Das Glück des Menschen. Diskussionen über beatitudo und Vernunft in volkssprachlichen Texten des 14. Jahrhunderts, in: Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte, hg. von Jan A. Aertsen [u. a.], Berlin/New York 2001 (Miscellanea Mediaevalia 28), S. 827–855, hier S. 851–854; Freimut Löser, Jan Mı´licˇ in europäischer Tradition. Die Magdalenen-Predigt des Pseudo-Origines, in: Deutsche Literatur des Mittelalters in Böhmen und über Böhmen. Vorträge der internationalen Tagung, veranstaltet vom Institut für Germanistik der Pädagogischen ˇ eske´ Budeˆjovice, 8. bis 11. September 1999, Fakultät der Südböhmischen Universität C hg. von Dominique Fliegler und Va´clav Bok, Wien 2001, S. 225–245, hier S. 232–234; Rüdiger Blumrich, Die deutschen Predigten Marquards von Lindau. Ein franziskanischer Beitrag zur Theologia mystica, in: Albertus Magnus und der Albertinismus. Deutsche Philosophische Kultur des Mittelalters, hg. von Maarten J. F. M. Hoenen und Alain de Libera, Leiden [usw.] 1995 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 48), S. 155–172; Marquard von Lindau. Deutsche Predigten. Untersuchungen und Edition, hg. von Rüdiger Blumrich, Tübingen 1994 (TTG 34), S. 54*–80*; Rüdiger Blumrich, Feuer der Liebe. Franziskanische Theologie in den deutschen Predigten Marquards von Lindau, Wissenschaft und Weisheit 54 (1991), S. 44–55; vgl. Löser [Anm. 28]. Franziskus von Assisi, ›Admonitiones‹, in: Opuscula sancti patris Francisci Assisiensis, hg. von Caietanus Esser, Grottaferrata 1978 (Bibliotheca franciscana ascetica medii aevi 12), S. 58–82, hier § 17, 1 (S. 74).

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servus, qui omnia bona reddit Domino Deo, quia qui sibi aliquid retinuerit abscondit in se pecuniam Domini Dei sui et quod putabat habere, auferetur ab eo[;]41 und am deutlichsten: Ille enim comedit de ligno scientiae boni, qui sibi suam voluntatem appropriat et se exaltat de bonis, quae Dominus dicit et operatur in ipso; et sic per suggestionem diaboli et transgressionem mandati factum est pomum scientiae mali. 42 Aber sogar in den ›Admonitiones‹ wird diese Idee an Ermahnungen zum Gehorsam gekoppelt, was in den anderen Werken des Franziskus immer der Fall ist.43 Da der Mensch – d. h. der Bruder – von sich selbst aus kein Gutes wirken kann, muß er immer einem anderen untertänig sein und sich zu Gehorsam verpflichten. Die Willensaufgabe ist daher eher ein Resultat des Gehorsamsgelübdes innerhalb der Ordensgemeinschaft als umgekehrt. Auch wenn die Wirkung einer Idee, die den Autoritätsstempel des alter Christus selber trägt, nicht zu unterschätzen ist, führt uns der Hinweis auf die ›Admonitiones‹ nur beschränkt weiter und läßt vieles ungeklärt. Der Schlüssel zum Traktat liegt dennoch in der franziskanischen Tradition – nicht aber bei dem Ordensgründer, sondern in den Entwicklungen der philosophischen Theologie in der sogenannten ›mittleren Franziskanerschule‹ – d. h. im späten dreizehnten und dann im vierzehnten Jahrhundert – in Opposition zum herrschenden Aristotelismus im Dominikanerorden. Vor kurzem wurden diese komplexen Entwicklungen in der Theologie des Willens von Günther Mensching untersucht und dargestellt.44 Hier ist kaum Platz, das Material in aller Ausführlichkeit zu präsentieren, aber das Wesentliche läßt sich zusammenfassen. Die Anfänge der Entwicklung sind im Bereich der Konzeptualisierung Gottes zu finden. Franziskanische Theologen der nachbonaventurianischen Zeit, am eindringlichsten Duns Scotus, lehrten, daß das Wesen Gottes primär in seinem indeterminierten Willen bestehe. Das heißt, praktisch gesehen, daß Gott nicht etwas Gutes tut, weil sein Intellekt etwas als gut identifiziert und erkannt hat und die volitive Kraft dann zur Vollendung der Tat braucht; sondern daß er etwas Gutes tut, weil das, was er will, schon gut ist. Die ratio liegt schon im Willen, und der Begriff ›gut‹ liegt nicht außerhalb von Gott als ein von ihm 41 42 43 44

Ebd., § 18, 2 (S. 74f.). Ebd., § 2, 3–4 (S. 62f.). Siehe z. B. ebd., § 3 (S. 63–65); vgl. Franziskus von Assisi, ›Regula bullata‹, hg. von Esser [Anm. 40], S. 63–74, hier § 10 (S. 72f.). Günther Mensching, Absoluter Wille versus reflexive Vernunft. Zur theologischen Anthropologie der mittleren Franziskanerschule, in: Geistesleben im 13. Jahrhundert, hg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer, Berlin/New York 2000 (Miscellanea Mediaevalia 27), S. 93–103; Günther Mensching, Der Primat des Willens über den Intellekt: Zur Genese des modernen Subjekts im späten Mittelalter, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, hg. von Reto Luzius Fetz [u. a.], Berlin/New York 1998 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts 11/1), Bd. 1, S. 487–507.

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unabhängiger Punkt im Sinne einer aristotelischen Kategorie, die er als ›gut‹ erkennt und auf die er zielt, sondern existiert, weil von Gott gewollt.45 Eine solche Verschiebung vom Intellekt zum Willen als primärer Kraft in Gott ist in sich selbst sehr abstrakt, wurde aber dann sehr wichtig, als dieselbe Auffassung auf den inneren, in imagine Dei geschaffenen Menschen übertragen wurde. Nicht der Intellekt, sondern der Wille ist in der Seele primär, was heißt, daß der menschliche Wille jetzt auch indeterminiert ist: Er steht nicht als Helfer des Intellekts, wo letzterer etwas außerhalb des Menschen als gut erkannt hat und den Willen dazu anspornt, nach dieser Absicht zu streben und ihn dabei bedingt und determiniert. Mensching stellt folgendes fest: »Nach Duns Scotus ist der Wille auch beim Menschen das Vermögen der Selbstbestimmung, während der Intellekt erkennend an die in sich determinierte Natur gebunden ist. Die synthetische Leistung des aktiven Intellekts wird als eine Äußerung des Willens interpretiert, so daß der Mensch nicht primär durch das Erkenntnisvermögen, sondern durch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ausgezeichnet ist.«46 Der indeterminierte Wille des Menschen, jetzt nicht naturhaft durch intellektuelle Erkenntnis gebunden, wird bei Scotus und den anderen zeitgenössischen Franziskanern zum wesentlichsten Merkmal des Individuums: Der Intellekt kann nur naturhaft begreifen, aber der freie, in sich rationale Wille kann entscheiden.47 Die franziskanische Lehre vom Primat des Willens in der Seele war von entscheidender Bedeutung, nicht nur als abstraktes Problem im universitären Bereich. Verbunden mit der verwandten und ebenfalls franziskanischen, anti-aristotelischen Lehre von der unmittelbaren Selbsterkenntnis der Seele war sie für die Anfänge der politischen Philosophie unter dem Einfluß von Ockhams Nominalismus grundlegend. Die philosophischen Wurzeln der konziliaristischen Theorien und der Vertragstheorien des Marsilius von Padua sind ausgerechnet in dieser Gedankenwelt zu finden: Ein bestimmtes System existiert nicht, weil es als Teil der natürlichen Ordnung existiert, die von den einzelnen Menschen wegen der Erkenntnis ihrer naturhaften Gehörigkeit – Gebundenheit – zur natürlichen Ordnung zwangsläufig als das unwiderrufliche System erkannt wird, sondern weil der freie Wille der einzelnen Menschen, der einzelnen Individuen, die keiner anderen Menschen bedürfen, um sich selbst als Menschen unmittelbar zu erkennen, sich freiwillig zu einem bestimmten, von ihnen widerrufbaren System der politischen oder religiösen Ordnung verpflichtet haben. Bestimmte Franziskanertheologen wie Petrus Johannis Olivi und Matthäus von Acquasparta begannen am 45

46 47

Mensching, Der Primat des Willens [Anm. 44], S. 487–494; Mensching, Absoluter Wille [Anm. 44], S. 94f.; vgl. Richard Cross, Duns Scotus on God, Aldershot 2005, S. 55–89. Mensching, Der Primat des Willens [Anm. 44], S. 495. Siehe ebd., S. 495; Mensching, Absoluter Wille [Anm. 44], S. 96–101; zur besonderen Leistung von Scotus in dieser Hinsicht siehe jetzt die klare Darstellung von Richard Cross, Duns Scotus, Oxford/New York 1999, S. 83–89; ferner vgl. Alan B. Wolter, Duns Scotus on the Will and Morality, Washington, DC 21997, S. 31–46.

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Ende des dreizehnten Jahrhunderts von der Seele als geschlossenem Innenraum zu sprechen, der vom Willen regiert wurde. Die Betonung der geschlossenen Interiorität der Seele, die keiner äußeren Gegenstände, keiner aristotelischen phantasmata bedarf, um sich selbst unmittelbar zu erkennen, stärkte das Selbstbewußtsein der einzelnen Menschen.48 Mensching schreibt: »Sind die Einzelnen mit ihrer sich selbst unmittelbar gewissen Seele und dem indeterminierten Willen primär auf sich und ihre Innenwelt bezogen, dann müssen sie als in Gesellschaft lebende Wesen durch einen besonderen Prozeß über sich hinausgehen und einen kollektiven Willen bilden, oder anderenfalls von außen zum Gehorsam gezwungen werden.«49 Dadurch erklärt sich m. E. die Betonung der Notwendigkeit der Gelassenheit des Willens in Marquards ›De horto paradisi‹. Genau der früheren Theologie seines Ordens entsprechend setzt Marquard den Willen primär in den Innenraum der Seele, oder – wie er es ausdrückt – des menschlichen Herzens. In einem klösterlichen Kontext, der von franziskanischer Willenstheologie stark beeinflußt wurde, ist es nicht die Erkenntnis der naturhaft-natürlichen Ordnung des gemeinschaftlichen religiösen Lebens, die den einzelnen Menschen zum Gehorsam bringt, sondern die Verpflichtung des einzelnen Willens, die vollständige Aufgabe des Eigenwillens. Abgesehen von solchen eher politischen Aspekten hatte die franziskanische (insbesondere die scotistische) Willenstheologie auch einen sehr starken moraltheologischen Akzent. Das determinierende Selbst ist jetzt aufgrund der unbedingten Freiheit seines indeterminierten Willens völlig für sein moralisches Handeln zuständig. Wie das Gute nicht von Gott als abstraktes Konzept erkannt und erst dann gewollt wird, so wird eine Tugend nicht als abstraktes Konzept vom einzelnen Menschen erkannt und dann gewollt. Tugenden existieren nur nach der Disposition des individuellen Willens; sie sind keine abstrakten Kategorien, die nach der Naturordnung bestehen, sondern entstammen dem Willen des Menschen. Genau dieser franziskanischen Willenstheologie zufolge existieren die Tugenden nach Marquards ›De horto paradisi‹ nicht als Abstrakta außerhalb des Menschen, sondern sind die Früchte des Lebensbaums – die Früchte des (gelassenen) Willens.50 Im zweiten Teil des Traktats ist es die freihait deines willen, die 48 49 50

Mensching, Der Primat des Willens [Anm. 44], S. 496–503; Mensching, Absoluter Wille [Anm. 44], S. 100–103. Mensching, Absoluter Wille [Anm. 44], S. 103. Daß der Lebensbaum Früchte trägt, wird nach Apo 22,2 behauptet: siehe dazu Schmidtke [Anm. 6], S. 337f. Zum Verständnis und zur allegorischen Auslegung des Lebensbaums unter den frühchristlichen Kirchenvätern siehe Hendrik Bergema, De boom des levens in schrift en historie. Bijdrage tot een onderzoek naar de verhouding van schriftopenbaring en traditie betreffende den boom des levens, binnen het kader der oud-testamentische wetenschap, Hilversum 1938, S. 192–200; zur allegorischen Auslegung des Lebensbaums im Mittelalter vgl. zusammenfassend P[etrus] C[ornelis] Boeren, De twaalf vruchten van de eucharistie en het veertigste der Limburgse sermoenen, Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 71 (1953), S. 242–281, und 72 (1954), S. 18–26, hier (1953), S. 242f.

342

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dem in Versuchung geratenen Menschen vom weisen vnderscheid vorgezeigt wird. Vor allem aber die Konzeptualisierung des inneren Menschen in ›De horto paradisi‹ als ein in sich geschlossener Innenraum mit dem Willen an der zentralen Stelle macht den Einfluß dieser franziskanischen Willenstheologie deutlich. Der Wille hat jetzt den absoluten Vorrang als leitende Kraft im inneren Menschen, und die Hingabe des Willens an Gott bezeichnet nicht nur die Hingabe des Selbsts an Gott, sondern ist es. Die Ergebnisse der früheren Entwicklungen der franziskanischen Willenstheologie im späten dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert spiegeln sich also ganz deutlich im Traktat ›De horto paradisi‹. Weiterhin ist die Betonung der Notwendigkeit eines gelassenen Willens im dritten Teil des Traktats historisch erklärbar als eine Reflexion, in gewissem Sinne eine Reaktion auf die langfristigen Wirkungen dieser Willenstheologie, die jahrzehntelang die Klosterkultur des Franziskanerordens geprägt hat. Diese Klosterkultur neigte, wie Kaspar Elm behauptet hat, bereits im vierzehnten Jahrhundert zur Individualisierung und zum Verfall des gemeinschaftlichen Lebens.51 Eine Willenstheologie, die das Selbstverständnis des Individuums stärkt und in der politischen Theorie zur Idee der Gemeinschaft führt, die nicht naturhaft als Teil einer bestehenden, unwiderruflichen Ordnung existiert, sondern nur widerruflich durch die Bewilligung der einzelnen Mitglieder existiert, hätte zur Verstärkung schon bestehender Tendenzen zur Individualisierung und zur Schwächung der Idee der vita communis führen können. Die Betonung der Notwendigkeit eines gelassenen Willens dient dazu, die vita communis zu stärken, ohne daß die Grundlagen der franziskanischen Willenstheologie dadurch gestört werden. Ob man die franziskanische Willenstheologie für die Fülle von willenszentrierten Demuts- und Gelassenheitstraktaten verantwortlich machen darf, die gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts entstehen, bedarf einer weitergehenden Untersuchung. Schon Haas weist auf Vermutungen in der älteren Forschung hin, daß der ›Theologia deutsch‹ eine franziskanische (und sogar eine scotistische) Willenstheologie zugrunde liegen könnte.52 Dies zu beweisen bedürfte einer genauen Untersuchung der philosophischen Theologie jenes Werkes, die bisher noch 51

52

Kaspar Elm, Frömmigkeit und Ordensleben in deutschen Frauenklöstern des 13. und 14. Jahrhunderts, OGE 66 (1992), S. 28–45. Er stellt z. B. fest (S. 43): »Was das Verhältnis von Frömmigkeit und Ordensleben angeht, sind, um es provozierend zu formulieren, die der Häresie vom freien Geist verfallenen Beginen von Schweidnitz in Schlesien und die sich einem lockeren Lebenswandel ergebenen Zisterzienserinnen von Kentrop in Westfalen genau so symptomatisch wie die frommen Frauen und mystisch begabten Seherinnen vom Bodensee. Sie alle suchten ihre letzte Erfüllung nicht in der Gemeinschaft der Schwestern und Brüder, nicht in einem System, das als Ganzes die Werke des Heiligen Geistes ausübt und die vielen, oft widersprüchlichen Forderungen des Evangeliums erfüllt, sondern in einem Raum persönlicher Lebensgestaltung.« Haas [Anm. 35], S. 318, Anm. 25 und S. 325, Anm. 49.

Die Konzeptualisierung des inneren Menschen

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nicht geleistet wurde. Im Gegensatz zu ›De horto paradisi‹, wo die Merkmale wie die vom Willen stammenden Tugenden eindeutig und kohärent sind, wäre die ›Theologia deutsch‹ ein viel komplexerer Fall.

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Anhang I Kurzbeschreibung der Handschrift München, BSB, Clm 8987 Die folgende Beschreibung einer sehr komplexen Handschrift erhebt nicht den Anspruch, alle Desiderata der modernen Handschriftenkatalogisierung zu erfüllen, damit sie einigermaßen übersichtlich bleibt und dadurch einen Einblick in den Überlieferungskontext vom Traktat ›De horto paradisi‹ bietet. Sie ersetzt die sehr knappe Beschreibung von Halm/Meyer [s. o. Anm. 2]. Texte, die zu identifizieren waren, sind der Kürze willen nicht mit Incipits versehen. Besonderer Beachtung bedarf die Sprachmischung in den verschiedenen Texten; wo nicht anders angegeben, ist die Sprache der Texte Latein. Die Handschrift trägt unten rechts eine moderne, durchgängige Bleistiftfoliierung sowie eine zeitgenössische Foliierung oben rechts. Die alte Foliierung wird in Klammern berücksichtigt; fol. 197–219, 304–308 und 342–344 der Handschrift nach dieser Foliierung sind nicht mehr erhalten. Die Versoseite des ersten Vorsatzblatts sowie teilweise auch fol. 387v (400v) enthalten zeitgenössische Register. Die Quarths. wurde von neun Händen [A-I] geschrieben, von denen zwei durch die zwei Kolophone in der Hs. zu identifizieren sind: Hand B, Friedrich Veldner OFM, im Jahre 1423 Vizeguardian im Franziskanerkloster Landshut, und Hand D, Simon Gestaler OFM. Die Kolophone belegen auch die Datierung ins 3. Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts: fol. 167r (163r) fol. 191v (187v) Leer sind:

Explicit tractatus [...] per manus fratris fridrici veldner tunc temporis vicegardianus domus lanczhütt in die Dyonisy episcopi et martyris Anno Domini M o cccc xxiii o frater Symon Gestaler Anno M o cccc o 26 127v–131v (123v–127v), 167v (163v), 172r (168v), 184r–185r (180r– 181r), 200v–201v (196v, 220r/v), 253r/v (271r/v), 257v (275v), 285v–286v (303v, 309r/v), 295v–296r (318v–319r), 298r/v (321r/v), 331r/v (345r/v), 383r–387r (397r–400r), 388r/v (401r/v).

Hand A 1.

1r–102r (1r–98r)

[Christian Prezner von Kufstein OESA], Predigtreihe ›Stimulus rusticorum‹, Adventsteil Predigten 1r–96v (1r–94v); Register 97r–102r (94br–98r). [Die vollständige Reihe erhalten in München, BSB, Clm 8490. Vgl. Johann Baptist Schneyer, Beobachtungen zu lateinischen Sermoneshandschriften der Staatsbibliothek München, München 1958 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte Jahrgang 1958, Heft 8), S. 79; Johann Baptist Schneyer, Geschichte der katholischen Predigt, Freiburg i. Br. 1969, S. 206; Adolar Zumkeller, Manuskripte von Werken der Autoren des Augustiner-Eremitenordens in mitteleuropäischen Bibliotheken, Würzburg 1966 (Cassiacum 20), S. 102f., Nr. 212 (Hs. genannt).]

2.

103v–127r (98v–123r)

Heinrich von Friemar OESA, ›Tractatus de adventu Verbi in mentem‹ [Edition: Henrici de Frimaria O. S. A. Tractatus ascetico-mystici,

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hg. von Adolar Zumkeller, Würzburg 1975 (Cassiacum Supplementband 6), S. 1–61 (ohne Kenntnis dieser Hs.); vgl. Zumkeller, Manuskripte, S. 126 und 579, Nr. 289 (Hs. nicht genannt).] Hand B (Friedrich Veldner) 3.

132r–167r (128r–163r)

[›De septem coloribus per aduentum Domini‹] Überschrift: Tractatus de septem coloribus. Inc.: Respicite. Luc. 21 o [Lc. 21,28] Isto sacro tempore expedit ut deuoti christiani plus solito regularet uitam decente et honestam ducendo et uirtutibus adorando interiorem hominem [...] Auslegung der sieben Farben als sieben Tugenden, als eine Reihe Adventspredigten konzipiert; Lat. Text mit dt. Zweizeilern [Vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122, der diesen Traktat zum Marquard-Umkreis rechnet und auf eine Parallelüberlieferung hinweist: Stuttgart, LB, HB I 80, 190r–257r]

Hand C 4.

168r–172r (164r–168r)

[Henricus de Wormatia?], Zwei Predigten a. 168r (164r) Inc.: PReparate corda vestra domino etc. [I Reg. 7,3] Prima deus tamquam prediues rex premittit nunccios ad omnem animam ad quem ipse est venturus. Vnde lu. misit nunccios ante conspectum suum [Lc. 9,52] [...] b. 170v (166v) Inc.: [E]cce rex tuus venit tibi. Math. 21 o [Mt. 21,5] Conswetudo regum et principum est nunccios praemittere vt sollempniter recipiantur et quanto maiores tanto sollempnius recipi debent Cum igitur Iesus Christus sit rex regum [...] [Die Zuschreibung an einem nicht näher identifizierten Henricus de Wormatia bei Johannes Baptist Schneyer, Wegweiser zu lateinischen Predigtreihen des Mittelalters, München 1965 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Kommission für die Herausgabe ungedruckter Texte aus der mittelalterlichen Geisteswelt 1), S. 417. Nähere Angaben zur Person des Henricus wären im Nachlaß Schneyers zu finden; vgl. L[udwig] Hödl/R. Hetzler, Zum Stand der Erforschung der lateinischen Sermones des Mittelalters (für die Zeit von 1350–1500), Scriptorium 46 (1992), S. 121–135, hier S. 132. Ein Henricus de Wormatia urkundet 1316 als Regensburger Schreiber eines Exemplars der ›Summa confessorum‹ des Johannes von Freiburg, das zur Bamberger Dombibliothek gehörte (jetzt Bamberg, SB, Msc. Theol. 70); vgl. Be´ne´dictins du Bouveret, Colophons de manuscrits occidentaux des origines au XVIe sie`cle, Bd. 2 (E-H), Fribourg 1967 (Spicilegii Friburgensis subsidia 3/2), S. 411, Nr. 6866.]

Hand D (Simon Gestaler) 5.

173r–181v (169r–177v)

[Henricus de Wormatia?], [›De adventu domini in animam‹] Inc.: [V]eniens venit et non tardabit abac c 2 o [Abac. 2,3] Bernardus. Studiosis mentibus verbum sponsus frequenter apparet sed non sub vna specie [Bernhard von Clairvaux, Sermo 31 in Ct. ct., I, 1–2] nec vniformiter omnibus apparet namque pro varis anime desiderijs

346

Stephen Mossman gustum divine presencie variari infusumque saporem superne dulcedinis diuersa penetrantis aliter atque aliter oblectatur palatum [...] 179v (175v) [S]ponsa christi quanto plus constit in gratia tanto plus dilatatur in fiducia [...] [Zuweisung an Henricus de Wormatia durch Schneyer, Wegweiser, S. 495; vgl. oben Nr. 4]

6.

182r/v (178r/v)

[›De duodecim lapidibus‹] Inc.: Nota quod filia dei debet esse decorata et induta duodecim virtutibus prerogativis quod sit capax verbi incarnati qui virtutes signantur in xii lapidibus preciosis [...] Auslegung der zwölf Edelsteine [hier nicht nach einer bestimmten biblischen Reihenfolge, sondern eine Mischung aus Ez. 28,13, Ex. 28,17–20, und Apc. 21,19–20] als zwölf Tugenden

7.

183r/v (179r/v)

[Petrus de Remis (Remensis) OP], Predigt ›Ecce sponsus venit‹ Inc.: [E]cce sponsus venit exite obviam ei [Mt. 25, 6] est triplex et aduentus christi in carne in mente ad iudicium In quolibet horis venit christus quasi sponsus In primo desponsauit nostram naturam in thalamo vterij virginis uel virginalis [...] [Vgl. Johannes Baptist Schneyer, Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150 – 1350, Bd. 4 (Autoren L-P), Münster 1972 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen 43/4), S. 755, Nr. 501 (Hs. nicht genannt)]

8.

185v–191v (181v–187v)

[Heinrich von Friemar OESA], ›Tractatus de adventu Verbi in mentem‹ (unvollständig) [Werk zum zweiten Mal in der Hs.; vgl. oben Nr. 2]

9.

192r–199v (188r–195v)

Marquard von Lindau OFM, ›De throno Salomonis‹ Lat. Text mit dt. Einschüben [Vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 116f. (Hs. erwähnt)]

10.

200r (196r)

[Gerardus Leodiensis OP?], ›De doctrina cordis‹, 1. Teil: ›De praeparatione cordis‹ (Auszüge) Inc.: [P]Reparate corda vestra domino [I Reg. 7,3] verbum est Samuelis ad populum 1 o Regum 7 o bene conuenit aduentui domini in quibus verbis ad 2 o hortamur. Primo ad moris honestatem ibi preparate cor vester 2 o ad venientis dignitatem ibi domino. Nota septem instrucciones circa cordis disposicionem fiunt in sacra scriptura [...] Enthält den Prolog sowie zwei weitere, kurze Auszüge aus dem 1. Teil [Edition: Liber de doctrina cordis, Paris: Gaspard Philippe für Jean Petit 1506 (Exemplar: Oxford, Bodleian Library, Vet. E 1 f. 1); vgl. die Zusammenstellung der erhaltenen Hss. bei Guido Hendrix, Hugo de Sancto Caro’s Traktaat De doctrina cordis. Handschriften, receptie, tekstgeschiedenis en authenticiteitskritik, Löwen 1995 (Documenta Libraria 16/1) (Hs. nicht genannt)]

Die Konzeptualisierung des inneren Menschen

347

Hand E 11.

202r–235r (221r–253r)

Predigtreihe ›Appropinquat redemptio vestra‹ Inc.: Appropinquat redemptio uestra etc. luc. 21. [Lc. 21,28] Ex quo cognovimus quod verba dei non transibunt. et celestis pater dixit misericordiam volo et non sacrificium [Mt. 9,13; 12,7] tunc reperio quod super hoc [...] 26 Predigten zum Thema ›Appropinquat redemptio vestra‹; Lat. Text mit dt. Einschüben

Hand F 12.

236r–241v (254r–260r)

Kompilat aus [Gerardus Leodiensis OP?], ›De doctrina cordis‹, 1. Teil: ›De praeparatione cordis‹ (stark überarbeitet) und Predigten [Meister Eckharts OP] Inc.: [P]reparate corda vestra domino [I Reg. 7,3] verbum est samuelis a populum israelis I Regum 7 Et bene convenit huic festiuitati scilicet aduentui dei in animam In quibus verbis ad duo hortamur primo ad moris honestatem ibi preparate corda vestra 2 o ad venientis dignitatem ibi domino In verbo enim proposito meremur vt preparemus corda nostra [...] In fünf Kapitel untergliedert; bearbeitete Auszüge aus ›De praeparatione cordis‹ (s. o., Nr. 10) kompiliert mit zahlreichen z. T. sehr langen dt. Zitaten überwiegend mystischen Inhalts aus den Predigten Eckharts. [Zur Identifizierung eines Exzerpts (237r/v [255r/v]) aus der Predigt DW IV/2, Nr. 115b, vgl. jetzt Wolfgang Klimanek, EckhartHandschriften: Zusammenstellung und Beschreibung der Handschriften, die in Bd. IV der Deutschen Werke benutzt worden sind, Forschungsstelle für geistliche Literatur des Mittelalters, Universität Eichstätt 2005 (http://www.meister-eckhart-gesellschaft.de/HssDW.htm; Stand 20. Januar 2006), zu M43. Schneyers Zuweisung der Verfasserschaft dieses Werkes an Petrus de S. Benedicto OP (vgl. Schneyer, Beobachtungen, S. 79) beruht wahrscheinlich auf einer Verwechslung mit einer Predigt ähnlichen Incipits; vgl. Schneyer, Repertorium, Bd. 4 (Autoren L-P), S. 789, Nr. 91]

13.

241v–246r (260v–264r)

[›De adventu Domini in animam‹] Inc.: [D]icite filie syon ecce rex tuus venit tibi manswetus Zach. 9 o [Mt 21,5; vgl. Za 9,9] Expedito quo uel anima devota christo ihesu preparare debet hospicium [...] Fünfteiliger lat. Traktat mit zahlreichen dt. Einschüben (u. a. zur Gottesgeburt in der Seele) in dem 1. und 5. Teil; nach dem 4. Teil befinden sich zwei kurze Notizen, ›De caritate violentia‹ (mit dt. Randglossen) und ›De caritate seraphica‹ (mit einem Verweis auf ›De septem itineribus aeternitatis‹ Rudolfs von Biberach OFM).

14.

246r–252v (264r–270v)

Predigtreihe ›De adventu Dei‹ Inc.: [A]dventus dei ad iudicium Augustinus in libro de cordis Gaudeamus ad misericordiam domini sed timeamus iudicium domini [...]

348

Stephen Mossman Vier Predigten ›De adventu Dei‹: 1. ›ad iudicium‹; 2. ›in carnem‹; 3. ›spiritualis‹; 4. ›saluatoris, sc. ad carnis assumptionem‹.

15.

254r–256v (272r–275r)

[›De spirituali nativitate‹] Inc.: [N]ota interrogaciones valde vtiles quid scilicet deus loquitur in anima nostra. prima interrogacio quomodo debemus nos preparare vt digne recipiamus nativitatem verbi eterni quod pater modo in nobis wult loqui [...] Neun interrogationes zur Gottesgeburt in der Seele mit zwei angehängten quaestiones, Lat.-dt. Mischsprache [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

Hand E [Hand G ab fol. 284r (303r)] 16.

258r–285r (276r–303r)

[Heinrich von Friemar OESA], ›Tractatus de incarnatione Domini‹ Lat. Text mit wenigen dt. Einschüben [Edition: Zumkeller, Tractatus, S. 101–40 (ohne Kenntnis dieser Hs.); vgl. Zumkeller, Manuskripte, S. 131, Nr. 306 (Hs. nicht genannt)]

Hand H 17.

287r–289v (310r–312v)

Marquard von Lindau OFM, ›De virtutibus‹ (Kurzfassung) [Vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 114 (Hs. genannt)]

18.

289v–293r (312v–316r)

[Marquard von Lindau OFM], ›De horto paradisi‹ Dt. Text mit wenigen lat. Einschüben [Edition im 2. Anhang; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 103 (Hs. genannt)]

19.

293r–294v (316r–317v)

[›Zehn Zeichen der Erwähltheit‹] o Inc.: DEr mensch der recht zuversicht wil han vnd wissen ob er der liebsten vnsers herren ains sey consideret si hoc x in se habeat et certus est eterne vite [...] Dt. Text mit wenigen lat. Einschüben [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

20.

295r (318r)

Predigt ›In novitate vitae ambulemus‹ Inc.: [In] Novitate vite ambulemus [Rm. 6,4] homo compositus est ex duobus. scilicet ex corpore 2 o anima et secundum ista duo duplicem vitam gerit vitam [...] [Parallelüberlieferung: München, BSB, Clm 28374; vgl. Schneyer, Repertorium, Bd. 8, S. 768–80, Nr. 189]

21.

296v (319v)

[›De septem artibus liberalibus‹] Inc.: [F]estina discipulorum et septem artibus est notandum quod discipuli christi qui prius rudes fureant [...] [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

Die Konzeptualisierung des inneren Menschen

349

22.

296v–297r (319r–320r)

[›Sex Consolationes‹] Inc.: Nota quod sex sunt que si anima cognosceret fleret iuxta 1 o luc. secundus Si cognouisset [...] [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

23.

297r/v (320r/v)

[›Tria signa dilectionis‹] Inc.: [A]nima amantis tria debet habere signa dileccionis Primum continuum desiderium 2 o amabilem appetitum 3 o dant gratuitum uel spontaneum [...] Lat. Text mit dt. Schluß [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

Hand I 24.

343v, 299r–311v Marquard von Lindau OFM, (357v, 322r–322v) ›De quadruplici homine‹, Fassung B [Alte Foliierung fehlt; auch Fehlbindung in der Hs., deswegen befindet sich der Anfang des Traktats auf fol. 343v (357v). Vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 110f. (Hs. genannt)]

25.

311v–321r (322v–332r)

Marquard von Lindau OFM, ›De nobilitate creaturarum‹ [Vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 111 (Hs. genannt)]

26.

321r–322v (332r–333v)

Predigt ›Multi sunt vocati‹ Überschrift: Dominica lxx o uel dominica xix post pentecost Inc.: [M]vlti sunt vocati pauci vero electi M t 22 o [Mt 22,14] Quia secundum dyonisium proprium est dei vocare omnis ad penitenciam et ad hereditatem regni [...] [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

27.

322v–324v (333v–335v)

Predigt ›Cum factus esset Iesus‹ Überschrift: Dominica infra octavam Ephiphanie sermo Inc.: [C]Vm factus esset Ihesus Annorum duodecim luc. 2 o [Lc. 2,42] Hoc ewangelium dicit Ihesum amissum ut et nos in nobili matre dei discamus ihesum invenire cum ipsum [...] Lat. Text mit dt. Einschüben [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

28.

324v–327r (335v–338r)

›De amore‹ Überschrift: Nota de amore quatuor articulos Inc.: [N]ota infra articulos de amore siue caritate primo de eius diffinicione 2 o de eius distinctione 3 o de eius perfectione 4 o de eius operacione [...] [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

29.

327r–328r (338r–339r)

Quaestio ›De gaudio animae beatae‹ Inc. [Q]vestio est vtrum anima beata in patria tantum habeat gaudium sine suo corpore uel minus uel maius Et primo ostendendo quod non habebit [...] [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

350

Stephen Mossman

30.

328r–330v (339r–341v)

Zwei Predigten ›De penitentia‹ a. 328r (339r) Überschrift: De penitencia vera sermo bonus Inc.: [D]A michi verum signum Josue secundo [Ios. 2,12] verbum propositum ex persona dei alloquentis penitenciam possumus pertinenter adaptare [...] b. 329v (340v) Überschrift: Sermo de penitencia falsa Inc.: [P]er vnam uiam venient ad te et per septem fugient a facie tua deut o 28 [Dt. 28,17] hic dicendum est de penitencia falsa prima igitur penitencia falsa est cum [...] [Marquard-Umkreis; vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 122]

31.

332r–343r (346r–357r)

[Heinrich von Friemar OESA], ›De quatuor instinctibus‹ [Edition: Der Traktat Heinrichs von Friemar über die Unterscheidung der Geister, Lateinisch-mittelhochdeutsche Textausgabe mit Untersuchungen, hg. von Robert G. Warnock und Adolar Zumkeller, Würzburg 1977 (Cassiacum 32) (ohne Kenntnis dieser Hs.); vgl. Zumkeller, Manuskripte, S. 131–35 u. 581f., Nr. 307 (Hs. nicht genannt)]

Hand E 32.

344r–360v (358r–374v)

[Marquard von Lindau OFM], ›De quadruplici homine‹, Fassung C [Vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 110f. (Hs. genannt)]

33.

360v–369r (374v–383r)

[Marquard von Lindau OFM], ›De penis inferni‹ [Vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 115 (Hs. genannt)]

34.

369v–382v (383v–396v)

Marquard von Lindau OFM, ›De quinque sensibus‹ [Vgl. Palmer [Anm. 1], Sp. 115f. (Hs. genannt)]

Die Konzeptualisierung des inneren Menschen

351

Anhang II Marquard von Lindau OFM, ›De horto paradisi‹ Edition nach der einzigen Handschrift München, BSB, Clm 8987, 289v–293r. Alle Emendationen sind in den Fußnoten verzeichnet; Abkürzungen sind stillschweigend aufgelöst. Überschrift: Incipit tractatus de orto paradysi breuiter 1etiam theothunicus [289v] § I ›Ortus conclusus soror mea 2 sponsa‹, Canticorum.3 [290r] In hoc verbo amator veritatis, Iesus Christus, vitam spiritualem assimilans cor eius orto concluso, dicens: ›Ein beslozzen gart, etc.‹ Ideo quia quilibet spiritualis homo debet seines herczen war nemen sicut orti conclusi uel temporalis paradysi, sic quod cor suum sit vmb graben cum sancta paupertate, vmb maüret cum castitate, gruntfestet cum profunda humilitate; daz dar ein gezweiet daz holcz des ewigen lebens, daz da ist ein gehörsamer gelasner will, von dem die aller edlesten frucht o der tugent chüment. Item, der pavm der künst dez guten vnd dez v¨beln daz ist o o daz gut leben Ihesu Christi. Daz sol in daz geistleich hercz zu einem pilder dez geistleichen menschen leben gepflanczet sein. Eua, naturlicher liepleicher lust, sol4 aus dem herczen getriben sein, vnd ein engel, ein cherubin, sol mit einem plozzen swert dez herczen hüten5, daz Eua, liepleicher lust, nit wider in daz o hercz kvme. Der engel ist der erst ernst der minne, in der sich der mensch zu got kert hat. Der sol fürsichtikeit in seiner hant haben, vnd sol da mit war nemen dez graben vnd der müren, ob die gancz vnd vnuersert sey vnd daz kain heimleich ein ganck sey, daz Eva nicht der frucht esse vnd immer werd in dem o herczen leben. In corde debet esse Helyas, ein vester stater mut der sich nit verwandel. Dar inn sol sein Enoch der altvater, der heimleich hin gefürt ward, daz ist rechte mainung die verporgen sey vnd mit der alle ding in got sint geordent. Auch sol ein prünn [290v] dar inn sein oder auf gan; daz ist auz o senftmutiger diemuticheit oder gnedikeit sol kumen ein fridsamer wandel vnd swellichs erbieten in aller peholffenleichait. Die paw ¨ m söllen sein gesneittet mit messikeit an worten vnd an wercken, essen, trincken, slaffen, wachen vnd allen gemach. § IIa Weiser vnderschaid sol den schlangen mit geordenter weiz widerstan. [1] Alzo daz die becherung oder in val ist von pösem lüst, so sol weiser vnder1 2 3 4 5

breuit Hs. me Hs. Ct 4,12 so Hs. hüten fehlt Hs.

352

Stephen Mossman

scheid dir vorheben die freihait deines willen; daz den joch niemant wider got selb gewinnen kan, vnd daz kain lust oder ein val nit schad mer erpringet nücz: o o ez gebe denn der mensch mit verdachtem mut verhengnuz seins willen dar zu. Auch sullend kranch law ¨ t vnd vnpewert menschen die v¨rsach söllicher lüst vnd in vell fliechen vnd meiden. Aber vest menschen sullend si nit flichen, wann der streit ist in nüczzen dem feijren. [2] Ist ez aber daz die becherung ist von o o o vnderziehen lüstes vnd gnaden zu andacht vnd zu guten dingen, so sol weiser vnderschaid den menschen für heben, daz gemeinlicher auz hertten twingen got dienen lonpärer ist,6 dann an erbeit mit lüst got dienen. Wann in hertter vero drossenheit sich twingen zu dem dienst gotes gibet vnd oppfert got mer dez o menschen kraft, denn dienst mit lüst vnd mit leichtem [291r] mut: sicut eqwus plus seruit regi quam pedes. [3] Auch sol der mensch in der pekerung gedencken waz nücz vnd frücht an leiden liget. Wer aber die pekerung von vnzugliechtes vnd vnderscheit, daz der mensch nit weste wie er sich richten solt, so sol der mensch gedenchen daz ez allez für ordent ist in ewikeit, alz vn¨ser nächstes vnd pestes; vnd daz ez allez von vn¨messiger minn gotz v¨ber vns7 verhenget wirt. Vnd sider wir der ewigen weishait vnd iren almechtigen willen nit enpfliehen mügen, hie vmb süllen wir v¨ns gedultikleich vnd gelazzenleich dar ein geben; vnd sol der mensch gedenchen: ›Wil mich got plind han vnd vnvernüftig, daz wil o ich allez gern sein alz ein höher maister.‹ Sich, diser diemutiger gelas vnd dein williges erpietten dem willen gotes v¨ber windet, daz denn got dem menschen gibt vernüft vnd mer liechtes denn er möcht von allen lerern vnd maistern mit fragen v¨ber kümen. Quarto, wer daz die pekerung käme da von, daz dem meno o schen die gerechtikeit gotes würd zu streng für gehalten, daz der mensch zu fast daz v¨rtail gotz wolt fürchten: so sol weiser vnderscheit dem menschen für legen die aygenschaft vnd daz recht daz der mensch [291v] an dem verdienen vnsers herren Ihesu Christi, daz alzo köstleich ist daz daz minst allen sünden wider leg, vnd daz daz allez dez menschen ist, alz het ez der mensch selber geworcht; vnd v¨nder daz verdienen sol sich8 der mensch vergeben vor der hertikeit der gerechtikeit gotes. So mag dem menschen der ein val nit geschaden. § IIb Aber kürczleich in alle anvechtung vnd pekorung sol sich der mensch vj nücz trösten.9 Der erst, daz er da von weiser wirt. Dar vmb sprach der weise man, ›Der nit ist pekorn, der hat wenig pekantnuss.‹10 Secundus, daz der mensch o da von diemutig wirt: vnde Gregorius: ›So v¨ns die v¨ntugent beköret, so werdent 6 7 8 9

10

ist fehlt Hs. vn Hs. ich Hs. Vgl. Marquard von Lindau, ›De Nabuchodonosor‹ [Haupttext, Anm. 4], 102, 9–104, 6; Marquard von Lindau, ›Hiob-Traktat‹ [Haupttext, Anm. 19], 499–524; ferner vgl. Johannes von Dambach, ›De consolatione theologiae‹ [Haupttext, Anm. 20], 3 I iii (Bl. 50v–51r). Sir 34,9–10.

Die Konzeptualisierung des inneren Menschen o

353

o

in v¨ns die zu nemend tugent mit diemutikeit gezieret.‹11 Tertius, daz der mensch da von waker wirt vnd frischer wirt.12 Hie vmb sprichet ein heyliger vater, ›Wir o weren gar zu treg von vns selber, wer ez daz wir nit ein vell der bekorung hetten in vns.‹13 Quartus, daz all tügent vnd inner kreft der selen da von gelauttert vnd gefegt werdent in dem menschen, alzo ein eysen von dem rösst. Quintus, daz all o tugent dest mer werdent pehutt in dem menschen vnd pehalten. Hie vmb wart sancto Paulo pekorung geben, daz die reicheit der offnung dester mer in im o pehutt würde. Sextus, daz der mensch von aim yegleichen ein fall der pekorung mit sundern lon pekrönet wirt in ewiger sälikait: vnde Paulus: ›Ez wirt niemant pe[292r]krönet, er hab denn vestikleich gekrieget oder gestritten.‹14 Mit dysen nuczzen sol sich ein yegleicher mensch in bekörung behelffen, vnd sol auch gedencken daz got seinen aller liebsten frünt wolt lazzen pekort werden, alz ¨ d scheczen Job, Thobiam vnd Paulum: vnde Jacobus:15 ›Prüder, ir sullend all frw 16 17 so ir in maniger lay bekorung seit vnd vallent.‹ § III Dich sol sünder raiczzen daz du habest in dem garten deines herczen daz holcz dez lebens vnd der frucht die da choment von einem körsamen gelassen willen. Primus fruchtus, daz die geleissenhait dez willen gibt allen tugenden ein newe kraft18 vnd ein newes leben. Wann all tugent von eygenschaft irr o aygen natur auf ziehent, vnd daz hercz auf hebent gegen der sälicheit dar zu menschleich natur ist geschaffen. So ist eygener will ein v¨berlast, der da nider wiget da von. So uil dirr last gelichtert wirt, alzo vil werdent die aufhebender tugend in iren werchen gekreftiget vnd gefürdert. Hie vmb von geleissenheit eygens willen enphahent all tugent ein nüwe19 kraft vnd ein nüwes20 leben in iren wercken. Secundus, daz ein gelassenheit eygens willen all tugent werdent gekrenchet vnd gevangen.21 Eygner will ist ein port dürch die all sünd flüsset, o wann all sund von mutwillen geschehen sint. Da von wer die port well peslies11

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

S. Gregorii Magni. Moralia in Iob libri XXIII – XXXV, hg. von Marcus Adriaen, Turnhout 1985 (CCSL 143B), lib. 23, § 25, Z. 123–25: Vitia dum nos temptant, proficientes in nos uirtutes humiliant; flagella dum temptant, surgentes in corde huius mundi uoluptates eradicant. Ferner vgl. hier Johannes von Dambach, ›De consolatione theologiae‹ [Haupttext Anm. 20], 3 IV i (Bl. 53r). wit Hs. Nicht identifiziert. II Tim 2,5. Jacobum Hs. nach so: s Hs. Iac 1,2. krft Hs. müwe Hs. müwes Hs. Textstelle offensichtlich verderbt, ohne daß die neue Lesart deutlich wird. Vielleicht ist hier zu lesen: daz in gelassenheit eygens willen all vntugent werdent gekrencket vnd gevangen.

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sen, [292v] der hat gevangen die da hinder sint. Auch wer den stam abhawet der o mutwilligen freyheit, der darf nit fürchten daz die est geperent die frücht der lavtterkeit. Alzo ze gleicher weiz mügent v¨ntugent nit kümen mit irr betrogen o listikeit, da der pawm zu mal wirt abgeslagen mit williger freyheit. Tertius, daz gelassenheit dez willen ist ein pewertes zaichen vnd ein werck rechter götleicher minn. Daz werck, alzo gerechte minn gotz, sol got minnen ob allen dingen. Wer sich22 in der will gotz gibt, daz er selb mit ernest daz peweishet mit, daz er got mer minn dann sich selber. Wann der mensch gibt etwenn grosse gab vnd vil. Wann er etwaz pessers wil23, denn die gab ist die er gibt. Wer aber werleich sich selber gibt, daz erzaiget, daz er selber in der gab nit meinet: wann wolt er sich o selb mer minnen den den, den er sich gibt, so behub er sich im selber. Dar vmb alle die wil der wil got selber sich nit gibt, so ist ein zweifel, ob er sich selber oder got in aller gab minn, die er got gibt. Da von ein gelassner will ist allain daz kint, daz von der höhesten minn gotz in warhait wirt geporn. Dar vmb erzaiget allain den willen dez vaters. Dar vmb wer got willikleich gibt seinen freyen willen, der peweiset, daz er got mer minnet dann sich selb. Plura de temptacionibus vide in tractatu [293r] Nabuchodonosor et bene pulchra etc.

22 23

Wer sich: waz Hs. vil Hs.

Mark Chinca

Innenraum des Selbst, Innenraum des anderen Zur Ars moriendi im 15. Jahrhundert

Im 15. Jahrhundert war Sterben wie nie zuvor eine Kunst, und die Voraussetzungen für den Vollzug dieser Kunst waren räumlich bestimmt. In den Artes moriendi, jenen Traktaten, die ein systematisch geordnetes Wissen vom heilsamen Sterben enthalten und die in der Zeit zwischen dem abendländischen Schisma und der Reformation Breitenwirkung in ganz Westeuropa erlangten, wird Sterben selbst als Bewegung im Raum definiert: als Übergang und Ausgang aus dem Elend und dem Kerker irdischen Daseins, als Rückkehr in die Heimat und Eingang in die Herrlichkeit.1 Die Vorbereitung auf den eigenen Tod – das Hauptanliegen von Artes mit asketisch-erbaulicher Tendenz – wird regelmäßig als Prozeß der meditativen Verinnerlichung dargestellt: Wer sterben lernen will, soll die inneren Sinne aufschließen, die empfangene Lehre sich ins Herz schreiben, dort bewahren und täglich betrachten.2 Anderen zu einem gottgefälligen Tod zu verhelfen – der Zweck der stärker praxisorientierten Artes, die eine Anleitung für den Umgang mit Sterbenden enthalten – besteht zu einem hohen Grade darin, die richtige Disposition und Orientierung von Menschen, Gegenständen und Gedanken im Raum herbeizuführen: Auf den Sterbenden hat man so einzuwirken, daß er seinen Ehegatten, seine Kinder und Freunde wie auch seinen Besitz völlig hintansetzt; darüber hinaus soll er die Ohren von den todbringenden Einflüsterungen des Teufels abwenden,3 Christi Tod zwischen sich und den Zorn Gottes stellen usw.4 1

2

3

›Speculum artis bene moriendi‹, Incipit: Cum de presentis exilii miseria mortis transitus [...] periculosus, immo etiam terribilis atque horribilis valde plurimum videatur; 1. Teil: exitus de carcere [...] reditus in patriam, ingressus in gloriam. Der lat. Text ist unediert; ich zitiere nach dem um 1475 bei Heinrich Eggestein in Straßburg erschienenen Druck (GW 2598, benutztes Exemplar: London, BL, Sign. IB800) unter Heranziehung zweier Kölner Inkunabeldrucke, um den Text abzusichern: Drucker der Albanus-Legende, um 1474 (GW 2597, Exemplar: Cambridge, University Library, Sign. Inc. 5.A.4.5), Heinrich Quentell, um 1495 (GW 2610, Exemplar: London, BL, IA4916). Zum ›Speculum‹ und seiner Überlieferung im 15. Jh. s. u. Anm. 16. Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Neudr. o Frankfurt/M. 1961), S. 280: tu uf dine inren sinne; S. 284: Hinderdenk echt du mich alle tag dik ze grund, schribe minu´ wort in din herze. Zur Verbreitung des ›Büchleins‹ im 15. Jh. s. u. Anm. 8, Anm. 33; die zitierten Stellen werden unten, S. 370f., im Zusammenhang diskutiert. ›Bilder-Ars‹, Inspiratio contra avaritiam: O homo averte aures tuas a mortiferis suggestionibus dyaboli [...] omnia temporalia totaliter postpone. Zitat nach dem einzigen

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Mark Chinca

Bei all diesen Wörtern und Wendungen, die eine Bewegung, Orientierung oder Verortung im Raum implizieren, fällt auf, daß wir es mit Metaphern zu tun haben. Genauer gesagt, wir haben es mit einem Spektrum metaphorischen Sprechens zu tun, und dieses Spektrum erstreckt sich von bewußt verwendeten Metaphern (z. B. die Anweisung ›Trenne deine Seele vom Leib‹ wird von dem Kommentar begleitet, man solle sie nicht wörtlich nehmen)5 über ›geglaubte‹ Metaphern (man glaubt, daß Sterben tatsächlich ein transitus ist, gleichviel ob der physikalische Standort des Sterbenden wechselt oder nicht) bis hin zu konventionalisierten Metaphern (die Verwendung des Verbs postponere ›hintansetzen‹ im Sinne von ›nicht beachten‹ ist derart konventionell geworden, daß sie zur lexikalischen Bedeutung des Wortes gehört). Der gemeinsame Nenner dieser vielfältigen Metaphorik ist, daß durch sie sowohl der Gegenstand der Ars wie auch die charakteristischen Modi ihrer Aneignung, Übung und Anwendung mit Vorstellungen von Raum assoziiert werden. Da nun dieser metaphorisch erschlossene Raum nicht unbedingt, die Vorstellung davon jedoch immer wirklich ist, sind die Metaphern der Artes moriendi, die hier von Interesse sind, keineswegs als bloße rhetorische Stilmittel anzusehen. Im Gegenteil, ihre Untersuchung gibt Aufschluß über die räumlichen Verhältnisse und Kategorien, in denen man die Kunst des Sterbens als wirksam dachte.6

1. Ars moriendi in Deutschland und den Niederlanden im 15. Jahrhundert Da es mir um tragende Metaphern eines Diskurses geht, und nicht – wie fast ausschließlich in der bisherigen Forschung – um gattungs- oder textgeschichtliche Entwicklungszusammenhänge, basieren die folgenden Überlegungen auf einer repräsentativen Auswahl aus den Artes moriendi, die im 15. Jahrhundert in Deutschland und den Niederlanden verbreitet waren.7 Das Textkorpus um-

4 5

6

7

vollständigen Exemplar der Blockbuchausgabe IA, der sog. ›editio princeps‹, in der British Library, London, Signatur IB18. Zur ›Bilder-Ars‹ siehe weiterhin Anm. 17 unten. ›Speculum‹, 3. Teil: mortem domini nostri Jhesu cristi obicio inter me et iram tuam. Des Coninx Summe, hg. von Dirck Cornelis Tinbergen, Leiden 1900–1907 (Bibliotheek van Middelnederlandsche Letterkunde 64/65, 68/69), S. 320: sceide dijn siel dicke van dinen live. Dat en suldi emmer niet verstaen, dattu di selven doden sulles [...] want dat waer een verdoemlike onverghiflike sonde; mer sceide dine siele van dinen live, mit dyepen ghedachten. Zu diesem Text siehe auch Anm. 13 unten. Zur hier zugrunde gelegten Auffassung der Metapher vgl. die fundamentalen Beiträge von Donald Davidson, What metaphors mean, in: On metaphor, hg. von Sheldon Sacks, Chicago/London 1979, S. 29–45; Karsten Harries, Metaphor and transcendence; Ders., The many uses of metaphor, beide in: Sacks, S. 71–88, 165–172; John R. Searle, Metaphor, in: Metaphor and thought, hg. von Andrew Ortony, Cambridge 21993, S. 83–111. Zu den wichtigsten Monographien, textgeschichtlichen Studien und Gesamtdarstel-

Innenraum des Selbst, Innenraum des anderen

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faßt lateinische und volkssprachliche Schriften, es enthält Texte, die erst im 15. Jahrhundert entstanden sind, sowie ältere Werke, die in dem betreffenden Zeitraum immerfort rezipiert wurden. Viele dieser älteren Artes moriendi wurden ursprünglich als Teil eines umfangreicheren Werkes konzipiert. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist das Sterbekapitel in Heinrich Seuses ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ (um 1332),8 das vor allem in der lateinischen Fassung des ›Horologium sapientiae‹ (zwischen 1334 und 1339) zu einem der wirkungsmächstigsten Andachtsbücher des Spätmittelalters wurde.9 Weitere nennenswerte Erbauungsbücher und Kompendien moraltheologischen oder katechetischen Inhalts, die eine Sterbekunst oder Todesbetrachtung enthalten, sind: Gerard van Vliederhoven, ›Cordiale de IV novissimis‹ (zwischen 1380

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lungen gehören: Franz Falk, Die deutschen Sterbebüchlein von der ältesten Zeit des Buchdruckes bis zum Jahre 1520, Köln 1890 (Neudr. Amsterdam 1969); Mary Catharine O’Connor, The art of dying well. The development of the Ars moriendi, New York 1942, Neudr. 1966 (Columbia University Studies in English and Comparative Literature 156); Rainer Rudolf, Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens, Köln [usw.] 1957 (Forschungen zur Volkskunde 39); Henri Zerner, L’Art au morier, Revue de l’art, 11 (1971), S. 7–30; Nigel F. Palmer, Ars moriendi und Totentanz. Zur Verbildlichung des Todes im Spätmittelalter. Mit einer Bibliographie zur ›Ars moriendi‹, in: Tod im Mittelalter, hg. von Arno Borst [u. a.], Konstanz 1993 (Konstanzer Bibliothek 20), S. 313–334. Vgl. ferner die Lexikonartikel Rainer Rudolf [u. a.], Ars moriendi, LexMA, Bd. 1, 1980, Sp. 1039–1044; Nigel F. Palmer, Ars moriendi, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, 1997, S. 141–143. ›Büchlein der ewigen Weisheit‹, Kap. 21: Wie man sol lernen sterben, und wie ein v unbereiter tot geschaffen ist. Ausgabe: Bihlmeyer [Anm. 2], S. 278–287. Bestandsaufnahme der Handschriften- und Drucküberlieferung zuletzt durch Rüdiger Blumrich, Die Überlieferung der deutschen Schriften Seuses. Ein Forschungsbericht, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 2.–4. Oktober 1991, hg. von Rüdiger Blumrich und Philipp Kaiser, Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter 17), S. 189–201; dieser Bericht ergänzt die Zusammenstellung der Hss. von Georg Hofmann, Seuses Werke in deutschsprachigen Handschriften des späten Mittelalters, Fuldaer Geschichtsblätter 45 (1969), S. 113–206. Zur ndl. Übersetzung des ›Büchleins‹, die mit der ndl. Übersetzung des ›Horologium‹ (vgl. Anm. 9) nicht zu verwechseln ist, siehe Alois M. Haas/Kurt Ruh, Seuse, Heinrich, 2VL 8, Sp. 1109–1129, hier Sp. 1115f. ›Horologium Sapientiae‹, Buch II, Kap. 2: De scientia utilissima homini mortali, quae est scire mori. Ausgabe: Heinrich Seuses Horologium sapientiae, hg. von Pius Künzle OP, Freiburg/Schweiz 1977 (Spicilegium Friburgense. Texte zur Geschichte des kirchlichen Lebens 23), S. 526–540. Zur handschriftlichen Überlieferung und den frühen Drucken siehe ebd., S. 105–214, 220–228. Ndl. Übersetzung (nicht vor 1360/80): Oerloy der ewigher wijsheid (Horologium sapientiae door Henricus Suso OP), hg. von Hildegarde van de Wijnpersse, Groningen-Batavia 1938; zu dieser Übersetzung und ihrer Überlieferung vgl. Werner J. Hoffmann, Die volkssprachliche Rezeption des ›Horologium sapientiae‹ in der Devotio moderna, in: Blumrich/Kaiser [Anm. 8], S. 202–254, hier S. 205–226.

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und 1396);10 Marquard von Lindau († 1392), ›Dekalogerklärung‹, Fassung C;11 Dirc van Delft, ›Tafel van den Kersten Ghelove‹ (abgeschlossen 1404/05);12 10

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›Cordiale de IV novissimis‹, 1. Teil: De morte corporali. Eine moderne Ausgabe des lat. Textes fehlt. Ndl. Übersetzung (Ende 14. Jh./Anfang 15. Jh.); diese liegt der nd. Fassung (1. H. 15. Jh.) und der einflußreichsten Umsetzung ins Hd. zugrunde (älteste Hs. 1. V. 15. Jh.). Direkte Übersetzungen des lat. Originals (bzw. einer gekürzten Fassung davon, des sog. ›Cordiale-Auszugs‹) ins Hd. liegen auch vor, hatten aber geringere Verbreitung. Ausgaben: De veer utersten. Das Cordiale de quatuor novissimis von Gerhard von Vliederhoven in mittelniederdeutscher Überlieferung, hg. von Marieluise Dusch, Köln [usw.] 1975 (Niederdeutsche Studien 20) [mit Überblick über die Übersetzungen, S. 30*–33*, und Zusammenstellung der lat. und volkssprachlichen Hss., S. 40*–69*]; Richard F. M. Byrn, The Cordiale-Auszug. A study of Gerard van Vliederhoven’s Cordiale de IV novissimis with particular reference to the High German versions, Diss. Leeds 1976 [mit Ausgabe der hd. Übersetzungen, S. 53–235]. Inkunabeldrucke: GW 7469–7514 (lat.), 7515–7517 (hd.), 7518 (nd.), 7519–7529 (ndl.). ›Dekalogerklärung‹ (Fassung C), IV. Gebot: Wie man sol lernen sterben, Ob der o mensch in dem pesten sterbe so er ye ward oder nicht, Wie man sich zu dem tode e berayten sol (Überschriften des Druckes v.J. 1483, diese sind nach Nigel Palmer, persönliche Mitteilung, in den Hss. nicht üblich). Zur Fassung C vgl. Nigel F. Palmer, Marquard von Lindau OFM, 2VL 6, Sp. 81–126, hier Sp. 89f. Ausgaben: Die zehe Gebot (Straßburg 1516 und 1520). Ein katechetischer Traktat. Textausgabe mit Einleitung und sprachlichen Beobachtungen, hg. von Jacobus Willem van Maren, Amsterdam 1980 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 14), S. 43–45 [Abdruck der Fassung C1]; Marquard von Lindau OFM. Das Buch der zehn Gebote (Venedig 1483). Textausgabe mit Einleitung und Glossar, hg. von Jacobus Willem van Maren, Amsterdam 1984 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 7), S. 48–50 [Abdruck der Fassung C3]. Übersetzungen ins Niederdeutsche, Niederländische, Lateinische. Die volkssprachlichen Hss. und Drucke sind zusammengestellt bei Nigel F. Palmer, Latein, Volkssprache, Mischsprache. Zum Sprachproblem bei Marquard von Lindau, mit einem Handschriftenverzeichnis der ›Dekalogerklärung‹ und des ›Auszugs der Kinder Israel‹, in: Spätmittelalterliche geistliche Literatur in der Nationalsprache, Bd. 1, hg. von James Hogg, Salzburg 1983 (Analecta Cartusiana 106/1), S. 70–110, hier S. 105–110. ›Tafel van den Kersten Ghelove‹, Somerstuc Kap. 38: Vanden sevenden sacramenten der heligher kercken, als vanden olye, daermen die siecken mede salft ende vanden commendacion, diemen den doden nae doet. Hoe die priester den siecken sal vermanen ende overlesen. Ende wat waerdicheit ende salicheit. Ende vanden bosen gheest hoe hi verschijnt; Kap. 48: Vanden morghenspraeck tusschen den ontfermhertichsten God Cristum ende den mistroostighen sondaer, die in wanhoep ghevallen is. Menich soet dinc van Gods ontfermherticheit ende troest den sondaren ende leren te sterven. Ausgabe: Meester Dirc van Delf, O.P., Tafel van den Kersten Ghelove, hg. von Ludovicus Maria Danie¨ls OP, Antwerpen [usw.] 1937–1939 (Tekstuitgaven van ons geestelijk erf 4–7), Bd. 3b, S. 470–477, 607–615. Zur Überlieferung vgl. zuletzt: Frits Pieter van Oostrom, Dirc van Delft en zijn lezers, in: Het woord aan de lezer. Zeven literatuurhistorische verkenningen, hg. von Willem van den Berg und Johanna Stouten, Groningen 1987, S. 49–71, wiederabgedruckt in: Frits Pieter van Oostrom, Aanvaard dit werk. Over Middelnederlandse auteurs en hun publiek, Am-

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›Des Coninx Summe‹ (ndl. Übersetzung der ›Somme le roi‹ des Laurent d’Orleans durch Jan van Rode, abgeschlossen 1408);13 Jean Charlier de Gerson, ›Opus tripartitum‹ (um 1408).14 Bei all diesen Werken wurden die relevanten Textteile auch vielfach exzerpiert und als eigenständige Ars moriendi in Sammelhandschriften abgeschrieben bzw. separat als Sterbebüchlein gedruckt.15

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sterdam 1992 (Nederlandse literatuur en cultuur in de middeleeuwen 6), S. 152–170, 298f. (zit. Fassung). Zur westmitteldt. Bearbeitung des Sommerteils vgl. Gunhild Roth, Die ›Tafel vom christlichen Glauben und Leben‹. Die westdeutsche Bearbeitung von Dircs van Delf ›Tafel van dem Kersten Ghelove‹, ZfdA 130 (2001), S. 291–297. ›Des Coninx Summe‹, Kap. Hoemen sal leeren sterven (Überschrift der Brüsseler Hs. G). Ausgabe: Tinbergen [Anm. 5], S. 315–327. Zur Überlieferung siehe ebd., S. 197–208, außerdem Stephanus Gerard Axters OP, Bibliotheca Dominicana Neerlandica manuscripta 1224–1500, Löwen 1970 (Bibliothe`que de la Revue d’histoire eccle´siastique 49), S. 175f. ›Opus tripartitum‹, 3. Teil: De arte moriendi (Varianten: De scientia mortis, De arte salubriter moriendi). Ausgabe: Johannes Gerson. Opera omnia, hg. von Louis Ellies Dupin, Antwerpen 1706, Bd. 1, Sp. 447–450; siehe außerdem: Jean Gerson. Œuvres comple`tes, hg. von Pale´mon Glorieux, Bd. 7: L’œuvre franc¸aise, Paris 1966, Nr. 332 (Ausgabe des um 1403 verfaßten pastoralen Traktates ›La science de bien mourir‹, der dem Ars-moriendi-Teil des ›Opus‹ zugrunde liegt). Die handschriftliche Überlieferung des ›Opus‹ in Deutschland und den Niederlanden ist nicht systematisch erfaßt; einige Hss. sind aufgeführt bei Rudolf [Anm. 7], S. 67, Anm. 44, und Morton W. Bloomfield [u. a.], Incipits of Latin works on the virtues and vices, 1100–1500 A.D., Cambridge MA 1979 (The Mediaeval Academy of America Publications 88), Nr. 0734. Inkunabeldrucke aus Deutschland und den Niederlanden: GW 10713–717 (als Teil der gesammelten Werke Gersons), 10739–740, 10774–779, 10781–783. Zu den dt. und ndl. Übersetzungen des gesamten ›Opus tripartitum‹ und ihrer Überlieferung vgl. Herbert Kraume, Die Gerson-Übersetzungen Geilers von Kaysersberg. Studien zur deutschsprachigen Gerson-Rezeption, Zürich/München 1980 (MTU 71), S. 35– 75, 79–90; die Inkunabelausgaben sind inzwischen im GW verzeichnet: 10785–786 (dt. Übersetzung Gabriel Biels), 10795 (nd.), 10796 (ndl.). Seuse: Zur Exzerptüberlieferung der Sterbekunst siehe Hofmann [Anm. 8], S. 155– 157, 183f.; Blumrich [Anm. 8], S. 193 (›Büchlein der ewigen Weisheit‹); Künzle [Anm. 9], S. 236–238 (›Horologium‹); Hoffmann [Anm. 9], S. 213–215 (›Oerloy‹), S. 226–247 (›Horologium‹ II,2 in ndl. Übersetzung im ersten Kollatienbuch des Dirc van Herxen und der Bonaventura-Bearbeitung ›Vanden vier oefeninghen‹). Zu den Drucken des Sterbekapitels aus dem ›Büchlein‹ siehe Falk [Anm. 7], S. 30–34. – Marquard von Lindau: Zu Exzerpt-Hss. siehe Palmer, Marquard von Lindau [Anm. 11], Sp. 87. – Dirc van Delft: Kap. 38 des Sommerteils in nfrk. Übersetzung in Trier, StB, Hs. 1935/1432 4o, fol. 16va–20va (1. H. 15. Jh./1. V. 16. Jh.); Druck von Kap. 48, Zwolle 1478/80 (GW 8477). – ›Des Coninx Summe‹: Druck des Ars-moriendi-Teils, Hasselt um 1488 (Campbell 446). – Gerson: Einige Hss., in denen der 3. Teil des ›Opus tripartitum‹ abgeschrieben ist, verzeichnen Rudolf [Anm. 7], S. 67f., Anm. 44, und Bloomfield [Anm. 14], Nrr. 5565, 5610. Zu den deutschsprachigen Bearbeitungen der Gersonschen Ars moriendi von Thomas Peuntner (1434) und Johannes Geiler von Kaysersberg(›Totenbüchlein‹ 1480/81, ›Sterbe-ABC‹ 1497) vgl. Kraume [Anm. 14], S. 41f., 99–106; ferner Bernhard Schnell, Peuntner, Thomas, 2VL 7, Sp. 537–544, hier Sp. 541. Ausgaben: Thomas Peuntners ›Kunst des heilsamen Sterbens‹ nach den

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Unter den Sterbekünsten, die von Anfang an als selbständige Traktate konzipiert wurden, treten zwei als besonders einflußreich hervor: das wahrscheinlich im 2. Viertel des 15. Jahrhunderts entstandene und außerordentlich weit verbreitete ›Speculum artis bene moriendi‹ (nach seinem Incipit Cum de presentis exilii miseria auch CP-Ars genannt)16 und die mit Bildern versehene Fassung desselben ›De arte moriendi‹ (entstanden um 1460; nach dem Incipit Quamvis secundum philosophum auch QS-Ars genannt, geläufiger sind jedoch die Bezeichnungen ›Bilder-Ars‹ oder – wegen der charakteristischen Überlieferungsform – ›Blockbuch-Ars‹).17 Der Inhalt dieser eigenständigen Artes kann

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Handschriften der Österr. Nationalbibliothek, hg. von Rainer Rudolf, Berlin 1956 (Texte des späten Mittelalters 2); Johannes Geiler von Kaysersberg. Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Bauer, 1. Teil: Die deutschen Schriften, Bd. 1, Berlin/New York 1989, S. 1–13 (›Totenbüchlein‹), S. 97–110 (›Sterbe-ABC‹), S. 470–476, 503–505 (zur Überlieferung; zu den Drucken siehe jetzt auch GW 10580, 10590–592). ›Speculum artis bene moriendi‹ (auch: ›Liber utilis de arte moriendi‹, ›Tractatus bonus et utilis de arte moriendi‹). Ob der Verfasser tatsächlich Nikolaus von Dinkelsbühl war, wie vielfach angenommen wird, muß offenbleiben; vgl. Palmer, Ars moriendi und Totentanz [Anm. 7], S. 318. Eine moderne Ausgabe des lat. Textes fehlt. Die handschriftliche Überlieferung der lat. sowie der volkssprachlichen ›Speculum‹-Fassungen ist nicht vollständig erfaßt; die Verzeichnisse bei O’Connor [Anm. 7], S. 61–112, und Rudolf [Anm. 7], S. 77–80, bedürfen der grundsätzlichen Überprüfung und Ergänzung. Zu den deutschsprachigen Übersetzungen und Bearbeitungen und ihrer Überlieferung vgl. zuletzt: Karin Schneider, ›Speculum artis bene moriendi‹, 2VL 9, Sp. 40–49, hier Sp. 41–48. Textabdruck einer ndl. Inkunabelfassung (GW 2632, Antwerpen 1500): Een scone leeringe om salich te sterven. Een Middelnederlandse ars moriendi, hg. von B. de Geus [u. a.], Utrecht 1985 (Publikaties van de Vakgroep Nederlandse Taal- & Letterkunde van de Rijksuniversiteit te Leiden 12). Weitere Inkunabeldrucke aus Deutschland und den Niederlanden: GW 2597–2598, 2608, 2610, 2613 (lat.); GW 2614/10, Hain 7970–7971 (dt.); GW 2631–2632 (ndl.). Die von Rudolf [Anm. 7], S. 69–82, vertretene Ansicht, das ›Speculum‹ sei jünger als die ›Bilder-Ars‹ und aus dieser hervorgegangen, ist unhaltbar; vgl. Palmer, Ars moriendi und Totentanz [Anm. 7], S. 321–324, der eine Entstehungszeit um die Mitte des 15. Jhs. für die ›Bilder-Ars‹ vorschlägt. Auch diese Datierung hat sich inzwischen als revisionsbedürftig erwiesen: Die ›Bilder-Ars‹ ist vor der ältesten erhaltenen Blockbuchausgabe (um 1460/1465) nicht faßbar; die Hs. der ›Wellcome-Apokalypse‹ (London, Wellcome Library, Ms. 49), die u. a. auch eine Fassung der ›Bilder-Ars‹ enthält und die man bis vor kurzem um 1450/1455 datieren zu können glaubte (Palmer, ebd., S. 324), ist von einer Blockbuchausgabe der Apokalypse (Ausgabe IV) abhängig, die um 1465 entstanden ist; vgl. Lamberto Donati, Del libro xilografico al manoscritto: l’Apocalissi, in: Studi offerti a Roberto Ridolfi direttore de ›La bibliofila‹, hg. von Berta Marrachi Biagiarelli und Dennis. E. Rhodes, Florenz 1973 (Biblioteca di bibliografia italiana 71), S. 249–284, bes. S. 275–284 [zum Abhängigkeitsverhältnis]; Nigel F. Palmer, Blockbooks, woodcut and metalcut single sheets, in: A Catalogue of Books Printed in the Fifteenth Century now in the Bodleian Library, hg. von Alan Coates [u. a.], Oxford 2005, Bd. 1, S. 1–50, hier S. 10 [zur Datierung der Blockbuchausgabe IV der Apokalypse]. Die maßgebliche Darstellung der lat. und volkssprachlichen Blockbuchausgaben der ›Bilder-Ars‹ ist nach wie vor Wilhelm Ludwig Schreiber, Manuel de l’amateur de la gravure sur bois et sur me´tal au XVe sie`cle,

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auch – und in Umkehrung der oben erwähnten Tendenz zur Verselbständigung von einzelnen Kapiteln eines Kompendiums – in größere Erbauungs- und Gebetbücher integriert werden. Beispiele dafür sind die ›Himelstraß‹ Stephans von Landskron (abgeschlossen 1465), der für seine Sterbekapitel aus dem ›Speculum‹, Gerson und der deutschen Bearbeitung des letzteren durch Thomas Peuntner schöpft,18 und der ›Hortulus animae‹, ein kleinformatiges gedrucktes Gebetbuch, das sich in den ersten zwei Jahrzehnten nach 1500 besonderer Beliebtheit erfreute und dessen Ars-moriendi-Teil in der Hauptsache aus Gerson und dem ›Speculum‹ zusammengestellt ist.19

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Bd. 4, Leipzig 1902, S. 253–313; vgl. ferner den Zensus der bekannten Blockbuchexemplare in: Blockbücher des Mittelalters. Bilderfolgen als Lektüre: GutenbergMuseum, Mainz, 22. Juni 1991 bis 1. September 1991, hg. von Gutenberg-Gesellschaft und Gutenberg-Museum, Katalogtexte von Sabine Mertens [u. a.], Mainz 1991, S. 400f. Handschriften der ›Bilder-Ars‹ sind relativ selten und überliefern häufig nur den Text ohne die dazugehörigen Bilder: O’Connor [Anm. 7], S. 45, 61; Rudolf [Anm. 7], S. 70, Anm. 6. Typographische Inkunabeldrucke aus Deutschland und den Niederlanden: GW 2571–2573, 2575–2579 (lat.); GW 2580–2583 (hd.); GW 2594–2596 (ndl.). Die zahlreichen Faksimile- und Textausgaben der ›Bilder-Ars‹ sind angeführt im bibliographischen Anhang zu Palmer, Ars moriendi und Totentanz [Anm. 7], S. 330–334; seither erschienen: Ars moriendi, das ist Die Kunst des heilsamen Sterbens. Das deutschsprachige Blockbuch der Donaueschinger Hofbibliothek, hg. von Nigel F. Palmer und Heribert Tenschert, Ramsen 1995 [Faksimile der Ausgabe XII]; Florence Bayard, L’art du bien mourir au XVe sie`cle. E´tude sur les arts de bien mourir au bas Moyen Age a` la lumie`re d’un ›ars moriendi‹ allemand du XVe sie`cle, Paris 2000 [mit Faksimile des 1496 bei Konrad Kachelofen in Leipzig erschienenen deutschsprachigen Druckes, GW 2583]; Dick Akerboom, »... Only the image of Christ in us«. Continuity and Discontinuity between the Late Medieval ars moriendi and Luther’s Sermon von der Bereitung zum Sterben, in: Spirituality renewed. Studies on significant representatives of the Modern Devotion, hg. von Hein Blommestijn [u. a.], Löwen [usw.] 2003 (Studies in spirituality. Supplement 10), S. 209–272 [Transkription des Textes der Blockbuchausgabe IA mit Reproduktionen sämtlicher Holzschnitte, S. 250–271]. Stephan von Landskron, Die Hymelstrasz. Mit einer Einleitung und vergleichenden Betrachtungen zum Sprachgebrauch in den Frühdrucken (Augsburg 1484, 1501 und 1510), hg. von Gerardus Johannes Jaspers, Amsterdam 1979 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 13), Kap. 49–52. Inhaltsanalyse bei Rudolf [Anm. 7], S. 107–110; vgl. außerdem Bernhard Schnell/Egino Weidenhiller, Stephan von Landskron CanAug, 2VL 9, Sp. 295–301, hier Sp. 298f. Zu Peuntner s. o. Anm. 15. Der älteste erhaltene lat. Druck v. J. 1498 ist noch ohne Ars-moriendi-Texte, diese finden sich erst in Ausgaben ab 1503. Die dt. Fassung des ›Seelengärtleins‹ (ab 1501) enthält einen abweichenden Text, dessen Eingang auf Marquard von Lindau basiert. Vgl. O’Connor [Anm. 7], S. 144; Rudolf [Anm 7], S. 106f.; Maria Consuelo Oldenbourg, Hortulus animae [1494]–1523. Bibliographie und Illustration, Hamburg 1973; Peter Ochsenbein, ›Hortulus animae‹, 2VL 4, Sp. 147–154. Faksimile-Ausgabe: Seelengärtlein (Hortulus animae). Cod. Bibl. Pal. Vindob. 2706, hg. von Friedrich Dörnhöffer, Frankfurt 1907–1911, S. 885–904.

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In der Forschung pflegt man im Hinblick auf Funktion und Zielpublikum der Artes moriendi zwischen ›Kunst des heilsamen Lebens‹ einerseits und ›Kunst des heilsamen Sterbens‹ andererseits zu unterscheiden.20 Zur ersten Kategorie gehören diejenigen Traktate, in denen der Leser aufgefordert wird, sich durch asketische Abkehr von der Welt auf den eigenen Tod vorzubereiten. Die ursprünglichen Adressaten solcher Sterbekünste, deren Tradition in die Zeit vor 1400 zurückreicht, waren hauptsächlich Ordensangehörige, wobei diese Kategorie auch Laienbrüder und -schwestern sowie im Rahmen der cura monialium seelsorgerisch zu betreuende Klosterfrauen und Tertiarinnen einschließt. In diesen Zusammenhang lassen sich Seuse und Gerard van Vliederhoven einordnen,21 ferner ›Des Coninx Summe‹ und Marquard von Lindau, für die allerdings auch Laien außerhalb der Klostergemeinschaft als Adressaten in Betracht zu ziehen sind.22 Asketische Todesbetrachtungen wurden in geringerem Maße auch für den Hochadel verfaßt: Dirc van Delft schrieb für den holländischen Hof Albrechts von Baiern, dem die ›Tafel van den Kersten Ghelove‹ auch gewidmet ist.23 Die zweite Kategorie, die ›Kunst des heilsamen Sterbens‹, umfaßt Artes, durch die der Sterbehelfer (wohl in der Regel ein Priester, in den Texten selbst ständisch neutral als amicus bezeichnet) mit Anweisungen und Ratschlägen für den Umgang mit Sterbenden ausgestattet wird. Der typische Inhalt solcher praktischen Anleitungen besteht aus Mahnungen an den Kranken, katechetischen Fragen, Gebeten, Trostworten und Argumenten gegen die Versuchungen, denen besonders Sterbende ausgesetzt sind.24 Das Aufkommen dieser ›Kunst des heilsamen Sterbens‹ läßt sich mit verschiedenen kirchlichen Reforminitiativen in Verbindung bringen, die sich seit dem frühen 15. Jahrhundert nicht nur in Deutschland und den Niederlanden ausbreiten: der Klosterreform, die übrigens der Verbreitung älterer geistlicher Literatur neuen Antrieb gab,25 sowie Bestre20 21

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O’Connor [Anm. 7], S. 4f., 18; Rudolf [Anm. 7], S. 2, 9f. Zu Seuses Adressaten vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, München 1996, S. 435; Johannes Janota, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 3/1, Tübingen 2004, S. 60, 104f. Zu Gerard van Vliederhoven vgl. Dusch [Anm. 10], S. 13*–15*. Der Übersetzer Jan van Rode bezeichnet sich als convaers der cartuser oerde tot Seelem (Laienbruder in der Kartause zu Zeelhem), er wendet sich an Sonderlinghe lieve ende seer gheminde neve ende broeder in Jhesu Cristo und empfiehlt das Buch dem leken menschen [...] die gaern naden gheboden gods leven soude zur Lektüre an (Tinbergen [Anm. 5], S. 219), womit vielleicht auch fromme Laien außerhalb der Klostergemeinschaft gemeint sind. Zum Zielpublikum Marquards von Lindau vgl. Palmer [Anm. 11], S. 74, der auf die Ehelehre in der Auslegung des 6. Gebots hinweist. Van Oostrom [Anm. 12], S. 154–159; Ders., Het woord van eer. Literatuur aan het Hollandse hof omstreeks 1400, Amsterdam 1987, S. 180–224. Zu diesen ›Formstücken‹ vgl. Rudolf [Anm. 7], S. 114–117. Vgl. Werner Williams-Krapp, Ordensreform und Literatur im 15. Jahrhundert, JOWG 4 (1986/87), S. 41–51.

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bungen vonseiten der Amtskirche um eine bessere Unterweisung und seelsorgerische Betreuung der allgemeinen Laienbevölkerung.26 Traktate wie Gersons ›Ars moriendi‹ (der dritte Teil seines ›Opus tripartitum‹), das ›Speculum artis bene moriendi‹ und die ›Bilder-Ars‹ verfolgen die Absicht, Kenntnisse und Praktiken, die bislang vor allem unter Ordensangehörigen geläufig waren, auf omnes catholici, laici wie auch religiosi atque devoti, zu übertragen. Sie richten sich daher nicht ausschließlich an Ordensleute, sondern auch an Weltpriester und Laien, wobei letztere nicht nur den Gegenstand seelsorgerischer Betreuung durch Geistliche bilden sollen, sondern z. T. auch als Praktikanten der Sterbekunst angesprochen werden.27 26

27

Aus der Fülle der Publikationen zu diesem Themenbereich seien lediglich einige umfassendere Darstellungen und wichtige Sammelbände herausgegriffen: Regnerus Richardus Post, The Modern Devotion. Confrontation with Reformation and Humanism, Leiden 1968 (Studies in medieval and Reformation thought 3); Francis Oakley, The western church in the later Middle Ages, Ithaca/London 1979; Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, hg. von Kaspar Elm, Berlin 1989 (Berliner Historische Studien 14: Ordensstudien 6); Francis Rapp, L’E´glise et la vie religieuse en occident a` la fin du moyen aˆge, Paris 5 1994. Vgl. Palmer, Ars moriendi und Totentanz [Anm. 7], S. 315f., 318f., 325; Kraume [Anm. 14], S. 31–33. Dem Verfasser des ›Speculum‹ zufolge sei die Todesstunde non solum laicis, verum etiam religiosis atque devotis difficilis nimis multumque periculosus (Eingang), er empfiehlt die Sterbekunst generaliter omnibus catholicis (ebd.) und erklärt, daß jeder, non solum religiosus, verum etiam quilibet christianus bonus et devotus, um ein heilsames Sterben bemüht sein sollte (Schlußworte des 1. Teils). In der Vorrede zur ›Bilder-Ars‹ heißt es, die Materie werde in schriftlicher Form für den Schriftkundigen (litteratus) dargeboten und, damit sie allen (omnibus) nütze, gleichzeitig auch mit Bildern für sowohl den Laien (laicus) als auch den Schriftkundigen versehen. Diese Behauptungen gehen auf Gerson zurück, der in der Vorrede zu seiner Ars moriendi den Nutzen der Lehre eciam generaliter omnibus catholicis herausstellt (›Opus tripartitum‹ zitiert nach dem um 1475 bei den Fraterherren in Marienthal erschienenen Inkunabeldruck GW 10776, Exemplar: London, BL, Sign. IA9709). Auch Thomas Peuntner greift diesen Gedanken in seiner Gerson-Bearbeitung auf, indem er betont, daß die Seelsorge nicht nur zu den Pflichten der Geistlichen gehöre, sondern daß es darüber hinaus gar lieb, guet vnd hay¨lsam sei, wenn ein jeder Mensch e wol chunne erparmung vnd hilff tuen seinem nachsten, sunderleichen an seiner seel in e den leczten noten seines todes (›Kunst des heilsamen Sterbens‹: Rudolf [Anm. 15], S. 17). Johannes Geiler von Kaysersberg erklärt in der Vorrede zum ›Totenbüchlein‹, er habe Gersons lateinische Ausdrucksweise vereinfacht, damit die deutsche Fassung einem eynvaltigen menschen aller genisest syn mag. so es das bruchen sol als ichs gebrediget hab (Bauer [Anm. 15], S. 5); in einer 1495 im Straßburger Dom gehaltenen Predigt wirbt er für sein Sterbebüchlein mit folgenden Worten: was man aber ein o fragen sol an dem totbet, ermanen vnd betten, als Gerson lernet, das hab ich zu tütsch gemacht und lassen trucken, es kost ein pfenning, das kauff, so kanstu dich recht halten mit deinem fründ (›Das buoch Arbore humana‹, zit. Christian Kiening, Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003, S. 202, Anm. 49). Zu Laien als Sterbehelfer siehe auch Anm. 55 unten.

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Es muß betont werden, daß es sich bei dem Gegensatz ›Kunst des heilsamen Lebens bzw. Sterbens‹ um Text f u n k t i o n e n handelt und nicht etwa um Texttypen. Man sollte die Opposition daher nicht zum Gattungsschema erstarren lassen: Beide Funktionen können in ein und demselben Text vorkommen (z. B. im ›Speculum‹, dessen erster Teil eine längere Todesbetrachtung bietet),28 Textbausteine können in neuen Funktionszusammenhängen verwendet werden und somit von der einen zur anderen Kategorie übergehen (z. B. die Dramatisierung der Versuchungen der ›Bilder-Ars‹ im ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ v. J. 1510, das die Zuschauer zu Umkehr und gottgefälligem Leben ermahnen will).29 Des weiteren muß unterstrichen werden, daß den zwei Textfunktionen nicht zwei völlig komplementäre Adressatenkreise entsprechen, etwa: ›Kunst des heilsamen Lebens‹ für Ordensleute und Adlige, ›Kunst des heilsamen Sterbens‹ für Weltpriester und auch die allgemeine Laienbevölkerung.30 Ordenskleriker befanden sich unter den Adressaten von Sterbekünsten beider Tendenzen.31 Wenn man den ursprünglichen Entstehungskontext und die innertextlichen Aussagen zum Zielpublikum einmal beiseite läßt und den Blick stärker auf die Überlieferungsgeschichte und Rezeptionszusammenhänge der Artes moriendi im 15. Jahrhundert richtet, so ergibt sich das Bild einer Leserschaft, die weniger der Tendenz der Texte als deren Sprache nach unterschieden war. Auch dieser Befund spricht gegen die Annahme gänzlich getrennter Adressatenkreise für asketische Todesbetrachtung einerseits und praktischen Sterbebeistand andererseits. Aus den Handschriftenprovenienzen geht hervor, daß die tatsächlichen Besitzer von lateinisch geschriebenen Artes überwiegend Mönche und Chorherren waren, wobei die Rezeption der Texte in reformierten Klöstern und Stiften und in Kreisen der Devotio moderna auffällt; außerdem sind Weltpriester als Leser und Benutzer nachzuweisen.32 Bei den volkssprachlichen Sterbe28

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Die bei Heinrich Quentell in Köln erschienenen Drucke des ›Speculum‹ (GW 2608, 2610, 2613) enthalten außerdem am Schluß des Traktates eine lange Reihe von meditationes über Tod, Gericht und Jenseits, die u. a. der ›Imitatio Christi‹ (I,23) entnommen sind. Drei Schauspiele vom sterbenden Menschen, hg. von Johannes Bolte, Leipzig 1927 (BLVS 269/270), S. 1–62, hier V. 564–1574. Dazu Hellmut Rosenfeld, ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ (›Spiel vom sterbenden Menschen‹), 2VL 6, Sp. 754–758; zuletzt auch Kiening [Anm. 27], S. 42–45. So Rudolf [Anm. 7], S. 2, 62, 114. Im 5. Teil des ›Speculum‹ wird z. B. der Leser mit carissime frater angeredet, und die Gebete im 6. Teil haben Alternativformulierungen, je nachdem, ob der Sterbende eine persona regularis (Formel: frater noster) oder infirmus secularis (Formel: famulus tuus) ist. Seuse: Zum ma. Lesepublikum des ›Horologium‹ siehe v. a. Künzle [Anm. 9], S. 215– 219; ferner Ruh [Anm. 21], S. 442, Hoffmann [Anm. 9], S. 202–204 (zur Rezeption in Devotenkreisen). – Gerard van Vliederhoven: Bei der Verbreitung des ›Cordiale‹ spielten Devoten sowie Kartäuser eine besonders wichtige Rolle; vgl. Dusch [Anm. 10], S. 37*f., Richard F. M. Byrn, Late Medieval Eschatology. Gerard van Vliederho-

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künsten kommen zu den eben genannten Gruppen auch Nonnen, Laienschwestern und -brüder hinzu (wiederum besonders in reformierten oder von der Devotio moderna beeinflußten Konventen) und ferner der Adel.33 In einigen wenigen Fällen sind Laien außerhalb des höfischen oder klösterlichen Milieus als Besitzer einer volkssprachlichen Sterbekunst belegt. Auffallenderweise scheint es sich immer um eine Seuse-Handschrift zu handeln, die in fast jedem Fall einer frommen Frau gehörte, die in enger Beziehung zu einer Ordensgemeinschaft stand (dies läßt sich aus Schenkungen oder Vermächtnissen schließen) oder später selbst in ein Kloster eintrat.34

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ven’s ›Cordiale de IV novissimis‹, Proceedings of the Leeds Philosophical and Literary Society. Literary and Historical Section, Bd. 17/2. (1979), S. 55–65, hier S. 61; Ders., Gerard van Vliederhoven, 2VL 2, Sp. 1217–1221, hier Sp. 1219 – Gerson, ›Speculum‹, ›Bilder-Ars‹: Beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse läßt sich eine Übersicht der Rezeptionszusammenhänge nur in äußerst groben Umrissen zeichnen; ein Vergleich der bei O’Connor [Anm. 7] und Rudolf [Anm. 7] angeführten Hss. mit den Beschreibungen in den einschlägigen Handschriftenkatalogen, soweit diese Angaben zu Provenienz, Vorbesitzern usw. enthalten, vermittelt den Eindruck, daß die Besitzer im allgemeinen entweder Ordenskleriker oder Weltpriester waren. Seuse: Zur handschriftlichen Verbreitung des ›Büchleins‹ (auch in der Fassung des ›Exemplars‹) vgl. Bihlmeyer [Anm. 2], S. 3*, Williams-Krapp [Anm. 25], S. 47f., und zusammenfassend Blumrich [Anm. 8], S. 192f. Die Rezeption des ndl. ›Oerloy‹ resümiert Hoffmann [Anm. 9], S. 216f. – Gerard van Vliederhoven: Tragende Kreise der ›Cordiale‹-Übersetzungen, die in Männer- und Frauenkonventen verschiedener Orden abgeschrieben wurden, waren wiederum Devoten und Kartäuser; vgl. Dusch [Anm. 10], S. 37*f., Byrn [Anm. 32], S. 65, Anm. 20. – Dirc van Delft: Nach dem Befund der Hss. wurden die Ars-moriendi-Kapitel sowohl von Ordensleuten als auch beim Hochadel rezipiert; vgl. van Oostrom [Anm. 12], S. 168–170, Roth [Anm. 12]. – ›Des Coninx Summe‹: Handschriftenprovenienzen und Besitzervermerke legen nahe, daß die Leser vor allem Laienbrüder und -schwestern und Adelige waren; vgl. die Angaben bei Tinbergen [Anm. 5], S. 197–204, und Axters [Anm. 13], S. 175f. – Marquard von Lindau: Die ›Dekalogerklärung‹ wurde hauptsächlich in Männer- und Frauenkonventen außerhalb des Franziskanerordens abgeschrieben, wie Marquards dt. Schriften überhaupt; vgl. Palmer [Anm. 11], S. 84. – Gerson: Kraume [Anm. 14], S. 76f., nennt als Empfängerkreise der dt. Übersetzungen und Bearbeitungen Laienbrüder und Klosterfrauen (besonders in Klöstern der Melker Reform), Anhänger der Observantenbewegung der Bettelorden, Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben. – ›Speculum‹ dt.: Zum begrenzten Stand unseres Wissens s. o. Anm. 32. Hss. sind aus Bibliotheken von Männer- und Frauenklöstern erhalten. Beispiele für Hss. von Seuses ›Büchlein‹ bzw. Sterbekapitel, die im 15. Jahrhundert Laien gehörten: Greifswald, UB, Ms. 639 (Arnould van Loe und Ehefrau; diese Hs. der ndl. ›Horologium‹-Übersetzung wurde dem Augustiner-Chorfrauenstift SintMariendael in Diest vermacht, vgl. Hoffmann [Anm. 9], S. 212, Nr. 14); folgende Hss. aus der Bibliothek des Nürnberger Dominikanerinnenklosters St. Katharina, die allesamt von der jeweiligen Besitzerin ins Kloster gebracht bzw. dem Kloster geschenkt wurden, vgl. Karin Schneider/Hein Zirnbauer, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, Wiesbaden 1965 (Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg 1), S. 34, 118, 119, 221, 230: Nürnberg, StB, Cent. IV,36 (Anna Kochin), VI,43n (Ursula Hoschlin), VI,43o u. VI,81 (Katharina Tucher), VI,85 (Barbara Pruck-

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Letzterer Befund entkräftet nicht unbedingt den Anspruch der praxisorientierten Artes, für die Allgemeinheit der Christen (generaliter omnes catholici) verfaßt zu sein, denn es ist immer zu bedenken, daß einzelne Handschriften im Privatbesitz ungleich geringere Überlebenschancen hatten als Bücher in Kloster-, Stifts- und Adelsbibliotheken.35 Überdies ist zumindest für das ausgehende 15. Jahrhundert anzunehmen, daß unter den Besitzern von gedruckten Sterbebüchlein auch lesekundige Laien zu finden waren. Diese Annahme läßt sich an den Verlagsprogrammen der Inkunabeldrucker wahrscheinlich machen, aus denen man indirekt auf die literarischen Interessen und die soziologische Zusammensetzung des jeweiligen örtlichen Lesepublikums schließen kann. Unter den frühen Druckern von Artes moriendi ragt Konrad Kachelofen in Leipzig hervor.36 Von neun heute noch bekannten typographischen Inkunabeldrucken der lateinischen Fassung der ›Bilder-Ars‹ gingen nicht weniger als fünf (GW 2573, 2575–2578) aus seiner Offizin hervor, ein sechster (GW 2579) erschien bei seinem Schwiegersohn, Melchior Lotter d. Ä., der die Druckerei bereits vor 1500 übernahm; von vier deutschsprachigen Ausgaben druckte übrigens Kachelofen drei (GW 2581–2583). Die Leipziger Druckproduktion der Inkunabelzeit war weitgehend auf die Bedürfnisse der Universität eingestellt; die Abnehmer von Kachelofens Bilder-Artes, die alle in Quartformat sind, waren wohl häufig angehende Priester, die das Buch in der späteren Berufspraxis benutzen konnten.37 Gleichwohl weisen Kachelofens Verlagsprogramm und seine Preispolitik darauf hin, daß er den Interessen eines breiteren Lesepublikums zu entsprechen versuchte, so wie es in einer bedeutenden Universitäts- und Handelsstadt wie Leipzig anzutreffen war, und das nicht ausschließlich aus Klerikern und Akademikern bestand: Neben den theologischen, philosophischen und pas-

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lerin); Einsiedeln, Stiftsbibl., Cod. 710 (Margarethe Ehinger, geb. Cappel; diese Hs. des ›Exemplars‹ wurde späterhin dem Dominikanerinnenkloster St. Peter an der Fahr, Konstanz, geschenkt, vgl. Bihlmeyer [Anm. 2], S. 5*f.), Cod. 752 (Schreiberin: Dorothea von Hof, Tochter der Margarethe Ehinger; im frühen 16. Jh. von Dorotheas Nichte Anna Ottilia ins Klarissenkloster Villingen gebracht). Zu Dorothea von Hof vgl. in diesem Band den Beitrag von Undine Bruckner, der ich die Auskünfte zu den Einsiedler Hss. verdanke. Vgl. Kraume [Anm. 14], S. 34, 76. Zu Kachelofen als Druckverleger vgl. Ernst Voullie´me, Die deutschen Drucker des fünfzehnten Jahrhunderts, Berlin 21922, S. 83f.; Victor von Klemperer, Konrad Kachelofen, Johannes Kachelofen, Gutenberg-Jahrbuch (1929), S. 134–151; Ferdinand Geldner, Die deutschen Inkunabeldrucker. Ein Handbuch der deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts nach Druckorten, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 241– 244; Werner Bodenheimer, Konrad Kachelofen zu Leipzig. Ein Druckverleger in einer Zeit des Umbruchs, Aus dem Antiquariat (1991), H. 3, S. A73–A84. Vgl. Nikolaus Henkel, Leipzig als Übersetungszentrum am Ende des 15. Jahrhunderts und Anfang des 16. Jahrhunderts, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, hg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien Berichtsbände 5), S. 559–576, hier S. 569–573.

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toralen Standardwerken und den Werken klassischer und humanistischer Autoren druckte er auch volksprachliche religiöse, moralische und pragmatische Schriften in preisgünstigen Ausgaben.38 Wie es mit der Rezeption praxisorientierter Sterbebüchlein bei Laien auch gewesen sein mag, an den buchhistorischen Tatsachen ist deutlich zu erkennen, daß es durch das ganze 15. Jahrhundert hindurch vor allem in klerikalen Kreisen Leser und Benutzer der Artes moriendi gegeben hat, die gleichermaßen an asketischer ›Kunst des heilsamen Lebens‹ und praktisch-seelsorgerisch ausgerichteter ›Kunst des heilsamen Sterbens‹ interessiert und beteiligt waren. Diese Interessenkonstellation spiegelt sich zunächst in zeitgenössischen Bibliothekskatalogen und den rekonstruierten Beständen geistlicher Bibliotheken wider. Beispiele für Bibliotheken in Deutschland, in denen Sterbekünste beider Tendenzen zu finden waren, sind: der Dominikanerinnenkonvent St. Nikolaus in undis, Straßburg,39 die berühmte Bibliothek des 1428 reformierten Dominikanerinnenklosters St. Katharina in Nürnberg,40 das Bamberger Karmeliterkloster,41 das Kölner Kreuzherrenkloster,42 die Erfurter Kartause Salvatorberg,43 das Au38 39

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Vgl. Geldner [Anm. 36], S. 244 (zum Verlagsprogramm); Bodenheimer [Anm. 36], S. A84 (»das Kachelofen-Prinzip des billigen Kleindrucks mit weiter Verbreitung«). Die noch erhaltenen Hss. sind zusammengestellt bei Sigrid Krämer/Michael Bernhard, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, München 1989–1990 (MBK Ergänzungsbd. 1), S. 746f. Darunter finden sich: Paris, BN, Ms. allem. 222.4o (Seuse, ›Exemplar‹); Berlin, SBB-PK, Ms. germ. qu. 174 (›Büchlein der ewigen Weisheit‹); Berlin, SBB-PK, Ms. germ. oct. 17 (Geiler von Kaysersberg, ›Totenbüchlein‹); Karlsruhe, BLB, St. Peter perg. 4 (›Speculum‹ lt.). Krämer/Bernhard [Anm. 39], S. 613–625; MBK III/3, S. 570–670; Schneider [Anm. 34], S. 1–429. Erhaltene Hss.: Nürnberg, StB, Cent. VI,82 (›Cordiale‹ dt.); Cent. IV,36, VI,43n, VI, 43o, VI,81, VI,85, VII,42, VII,88, VII,90 (Seuse, ›Exemplar‹ bzw. ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ bzw. Kap. 21 separat); Cent. IV,31, VI,36, VI, 43z, VI,46c, VII,88 (Marquard von Lindau, ›Dekalogerklärung‹ C bzw. Exzerpte aus dem Sterbekapitel); Cent. VI,43p, VII,12, VII,40, VII,48, VII,88 (verschiedene dt. Übersetzungen und Bearbeitungen der Gersonschen Ars moriendi; darunter Peuntner). Krämer/Bernhard [Anm. 39], S. 70–74: Bamberg, SB, Msc. Philol. 16, Msc. Theol. 25 (›Speculum‹); Msc. Theol. 38, Theol. 92, Theol. 104, Theol. 105 (›Cordiale‹); Msc. Theol 98 (›Horologium sapientiae‹). Ebd., S. 435–441: Köln, HAStK, GB 4o 110 (›Cordiale‹); GB 8o 84, 8o 144 (›Horologium‹ Kap. II,2); GB 2o 114 (›Speculum‹); GB 2o 90 (Gerson, ›Opus tripartitum‹). Ebd., S. 215–224; MBK II, S. 221–593. Im Bibliothekskatalog (vor Ende des 15. Jhs.) sind folgende Werke verzeichnet: ›Horologium‹ (Sign. D61, D62, D7) bzw. das Sterbekapitel II,2 (F56); ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ (H133); ›Cordiale‹ (F13 [jetzt Edinburgh, UB, Ms. 331], F66, F67, H65 [Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 510], L75 [Edinburgh, UB, Ms. 113], N100); ›Opus tripartitum‹ (L109) bzw. der Ars-moriendi-Teil davon (H69); ›Speculum artis bene moriendi‹ (F11 [Downside Abbey Library, Ms. 48246], F13 [Edinburgh, UB, Ms. 331], F30 [Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibl., 2788/44], F641, M151); außerdem mehrere nicht genauer bestimmbare Schriften ›De arte (bene) moriendi‹ (F9 [Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Ms. oct. 56], F21, H65). Bei dem ›Speculum mortis valde extensum‹

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gustinerchorherrenstift Rebdorf, das sich 1458 an die Windesheimer Kongregation anschloß und auch eine Laienbrüderbibliothek besaß.44 Die Reihe ließe sich leicht fortsetzen. Auch die vielfachen Überlieferungssymbiosen zeugen von der Rezeption asketischer wie auch pastoraler Artes moriendi bei ein und demselben Publikum: Es kommt häufig vor, daß z. B. der Text des ›Speculum‹ mit dem des ›Horologium sapientiae‹ oder ›Cordiale‹ in einer Sammelhandschrift überliefert ist oder in einer zusammengesetzten Handschrift, deren Faszikel noch vor 1500 zusammengebunden wurden.45 Besonders die Leser und Benutzer solcher Sammlungen hätten die ›Kunst des heilsamen Lebens‹ wie auch die ›Kunst des heilsamen Sterbens‹ als verschiedene, nebeneinander bestehende Positionen in einem übergreifenden Diskurs über richtiges Sterben erfahren. Die räumlichen Konfigurationen eben dieses Diskurses sollen jetzt näher beschrieben werden.

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(F14) läßt die ausführliche Inhaltsangabe im mittelalterlichen Katalog auf eine Mischredaktion aus dem ›Speculum‹ und dem sog. ›Modus disponendi se ad mortem‹ eines unbekannten Kartäusers schließen. Zu diesem Werk vgl. Rudolf [Anm. 7], S. 84f. Es ist auch im Anschluß an das ›Speculum‹ in F11 überliefert; vgl. die Beschreibung der Hs. von Neil Ripley Ker, Medieval manuscripts in British libraries, Bd. 2, Oxford 1977, S. 464f. MBK III/1, S. 257–316; Krämer/Bernhard [Anm. 39], S. 668–676. Unter den erhaltenen Hss. befinden sich folgende: St. Petersburg, RNB, Lat. Q. v. I,173 (›Cordiale‹); Eichstätt, UB, cod. st 321, Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Bibl., 2635/174 (›Horologium‹); München, BSB, Clm 15188 (›Speculum‹); Eichstätt, UB, cod. st 231 (Johannes Nider, ›Dispositorium moriendi‹; dazu Rudolf [Anm. 7], S. 83f.); Eichstätt, UB, cod. sm 214, München, BSB, Cgm 835, Cgm 841 (›Büchlein der ewigen Weisheit‹ bzw. Sterbekapitel als Exzerpt). Die zwei letztgenannten Hss. sind als Besitz der Laienbrüderbibliothek identifiziert worden, vgl. Johannes G. Mayer, Tauler in der Bibliothek der Laienbrüder von Rebdorf, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, hg. von Konrad Kunze [u. a.], Tübingen 1989 (Texte und Textgeschichte 31), S. 365–390, hier S. 371f., 387. Vgl. auch die Beschreibungen dieser Hss. von Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691–867, Wiesbaden 1984, S. 538–545, 573–583: Cgm 835 enthält außerdem noch einen Auszug aus dem ›Speculum‹ dt. und die ›Fünf Anfechtungen eines Sterbenden‹ (dazu Rudolf [Anm. 7], S. 81, mit Anm. 24), Cgm 841 die ›Sieben Fragen an einen Sterbenden‹, einen Auszug aus ›Des Sterbenden Anfechtung durch den Teufel‹. Zu diesem Text siehe zuletzt Karin Schneider, ›Des Sterbenden Anfechtung durch den Teufel‹, 2VL 9, Sp. 301f. Beispiele für ›Speculum‹ + ›Horologium‹ bzw. Kap. II,2 separat: Köln, HAStK, W127; Mainz, StB, Hs. I 62; Würzburg, UB, M.ch.q. 65. – ›Speculum‹ dt. + ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ bzw. Kap. 21: München, BSB, Cgm 835; St. Gallen, Stiftsbibl., Ms. 982. – ›Speculum‹ + ›Cordiale‹: Ansbach, StB, Ms. lat. 19; Bamberg, SB, Msc. Theol. 115; Eichstätt, UB, cod. st 191; Frankfurt, StuUB, Ms. Barth. 140 (+ ›Horologium‹, II,2); Karlsruhe, BLB, St. Peter pap. 15; Ottobeuren, Klosterbibl., Ms. O 50; Schwabach, Kirchenbibl., Bd. 7, u. Bd. 12. – ›Speculum‹ dt. + ›Cordiale‹ dt.: Berlin, SBB-PK, Ms. germ. oct. 664; Karlsruhe, BLB, St. Peter pap. 9; München, BSB, Cgm 458.

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2. Innen- und Außenräume des Selbst Artes moriendi, in denen es primär um die Vorbereitung auf den eigenen Tod geht, lassen sich in kommunikativer Hinsicht als Gespräch zwischen Wissenden und Sterblichen charakterisieren. Das »überaus nützliche Wissen« (scientia utilissima)46 bzw. die »vollständige Lehre und Unterweisung« (alle die clergie ende leringhe)47 wird von einem bereits Eingeweihten an einen unaufgeklärten Gesprächspartner vermittelt, der mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert wird und dadurch zu einem gottgefälligen Lebenswandel als bestem Mittel zur Versicherung des ewigen Heils bewogen werden soll. Dieses kommunikative Muster kennzeichnet die Relation zwischen Autor und Leser; es kann darüber hinaus auch auf textinterner Ebene strukturbestimmend sein, da viele Sterbebüchlein die Form eines fiktiven Lehrgesprächs zwischen Figuren wie etwa Gott und Sünder (Dirc van Delft) oder Ewige Weisheit und Diener (Seuse) haben. In solchen Fällen funktioniert der fiktionale Adressat als Identifikationsfigur für den intendierten Leser, dessen Reaktionen durch die innertextlich abgebildeten vorgezeichnet werden. An den folgenden drei Beispielen läßt sich zeigen, wie diese Reaktionen zwar gewöhnlich, keineswegs aber ausnahmslos oder zwangsläufig, in einem metaphorischen Innenraum des Selbst angesiedelt und dort modelliert werden. Das ›Cordiale de IV novissimis‹ des Gerard van Vliederhoven beginnt mit einem Bibelzitat, das den als ›Du‹ angeredeten Leser die von ihm zu erbringende Rezeptionsleistung gleich erkennen läßt: Memorare novissima tua et in eternum non peccabis (Sir 7,40).48 Auf die zentrale Rolle des Gedenkens macht die Vorrede wiederholt aufmerksam. Die Vergegenwärtigung der Letzten Dinge stachele den Geist des Menschen dazu an, die Welt zu verachten und zu seinem Schöpfer zurückzukehren; es sei daher angemessen und nützlich, wenn der Mensch diese Dinge in continua recordatione behalte. Als Vorbild für diese Haltung wird ein gewisser Weiser (quidam sapiens) erwähnt, der einen Merkvers ausgedacht habe, damit er die Letzten Dinge häufig vor Augen (frequenter pre oculis) haben und stets im Gedächtnis (iugiter in memoria) behalten könne: Bis duo sunt que cordetenus sub pectore misi, Mors mea, iudicium, baratri nox, lux paradisi (»Zweimal zwei sind es, die ich ins Herz geschlossen: mein Tod, das Jüngste Gericht, der Hölle Nacht, des Himmels Licht«). Der Prozeß der Vergegenwärtigung vollzieht sich im Inneren des Weisen, genauer: in seinem Her46

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Seuse, ›Horologium‹, Kapitelüberschrift (s. o. Anm. 9), vgl. auch die Worte der Sapientia an den Discipulus: Scientia utilissima et cunctis artibus praeferenda est haec scientia, scire videlicet mori (Künzle [Anm. 9], S. 527). ›Des Coninx Summe‹: In desen dryen corten lessen [sc. die Betrachtung von Himmel, Hölle, Fegefeuer] is alle die clergie ende leringhe besloten, diemen behoevet in wel te connen leren leven ende wel sterven (Tinbergen [Anm. 5], S. 321). Den Textzitaten liegt die Hs. London, BL, Add. Ms. 41618 (v. J. 1469, aus der Kartause Buxheim) zugrunde.

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zen, und auch beim Leser des ›Cordiale‹ soll die Arbeit des An- und Nachdenkens im Herzen geleistet werden. Der Autor erklärt zum Schluß der Vorrede, es sei der Zweck des Werkes, die Erinnerung an die Letzten Dinge auswendig, aufs innigste und beständig dem Menschenherzen aufzudrücken (ut novissimorum celebris memoria cordialiter et intime humanis cordibus continuo imprimatur), deswegen halte er es für angemessen, wenn das vorliegende Büchlein mit dem Titel ›Cordiale‹ versehen werde (ergo videtur rei consonum, ut presenti huic libellulo hoc nomen cordiale loco sui tituli si placeat imponatur). Es läßt sich also ohne jede Übertreibung behaupten, daß die zentrale Metapher des ›Cordiale‹Traktats die des ›Beherzigens‹ ist. Auch bei Seuse bildet neben dem Verstand und den ›inneren Sinnen‹ das Herz eine wichtige Instanz für den Ablauf metaphorischer Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse.49 Die Sterbekunst im ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ – unter ›Kunst‹ ist hier sowohl die literarische Form als auch die praktische Umsetzung des Inhalts zu verstehen – besteht ausschließlich aus inneren Dialogen. Da gibt es zunächst das Gespräch zwischen der Ewigen Weisheit, der Personifikation der göttlichen Weisheit, und ihrem Diener, einer zu didaktischen Zwecken eingesetzten Autorpersona, die stellvertretend für Seuses Leser die Lehren der Ewigen Weisheit empfängt.50 Dieses Gespräch entsteht nach o Aussage des Autors in der Vorrede zum ›Büchlein‹ in seinem Inneren (und stunt in im uf ein kosen mit der Ewigen Wisheit, S. 197), es ist kein leibhaftes Reden (daz geschah nit mit einem liplichen kosenne), sondern die ›innere Rede‹ des von der Heiligen Schrift beleuchteten meditierenden Selbst (es geschah allein mit betrahtunge in dem lieht der heiligen schrift, ebd.). Zu Beginn des Sterbekapitels kündigt die Ewige Weisheit das Thema des leren sterben (S. 279) an und beschwört die Gestalt eines unbereiten sterbenden menschen, an dessen Not die Folgen mangelnder Bußfertigkeit mit verheerender Drastik demonstriert werden sollen (S. 280). Dies führt in einen zweiten Dialog, zwischen dem Gespenst und dem Diener, hinüber. Auch dieses Gespräch läuft im Inneren des zu Belehrenden ab. In einem wohl von der scholastischen Erkenntnislehre beeinflußten Sprachduktus fordert die Ewige Weisheit ihren Diener auf, die inneren Sinne o aufzutun (tu uf dine inren sinne, S. 280), damit er die grausame Erscheinung e sehen, hören und wahrnehmen kann (und sihe und hore [...] nim eben war, ebd.); dieser vernimmt die schrecklichen Klagen des unvorbereitet sterbenden Menschen in seinem Verstand (Der diener horte in siner verstantnu´s, wie du´ e grimme geschophde des unbereiten sterbenden menschen schrei, ebd.).51 Das 49

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Zum Herzen als Organ der Andacht und Betrachtung bei Seuse vgl. Uta Joeressen, Die Terminologie der Innerlichkeit in den deutschen Werken Seuses. Ein Beitrag zur Sprache der deutschen Mystik, Frankfurt [usw.] 1983 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 704), S. 57–61. Vgl. Vorrede: Bihlmeyer [Anm. 2], S. 198. Es handelt sich wohl um keine exakte Übernahme scholastischer Begrifflichkeit. Bei

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Gespenst verabschiedet sich nach der ausführlichen Schilderung seines beklagenswerten, aber trotzdem auch wohlverdienten Schicksals mit dem Rat, der Diener solle über ihn täglich meditieren und seine Worte sich ins Herz schreiben (Hinderdenk echt du mich alle tag dik ze grund, schribe minu´ wort in din herze, S. 284). Dann übernimmt die Ewige Weisheit die Gesprächsführung wieder. Sie bekräftigt die Lehren des unvorbereitet sterbenden Menschen und empfiehlt zur weiteren Übung in der Sterbekunst noch ein drittes Gespräch: Der Diener solle sich umsehen, die zu seinen Lebzeiten unvorbereitet Verstorbenen o v aufzählen und sich mit ihnen in seinem Herzen unterhalten (Tu du´ ogen uf, o v zelle an dien vingern, lug, waz ir eblich bi dinen ziten bi dir tot sint. Hab ein kosen in dinem herzen mit in [...], S. 287).52 Daß der imaginierte Wirkungsraum der asketisch ausgerichteten Artes moriendi nicht unbedingt im Inneren des Selbst lokalisiert sein mußte, zeigt das dritte Beispiel. Das Sterbekapitel in dem ndl. Traktat ›Des Coninx Summe‹ beginnt mit einer längeren Ermahnung an den Leser, deren Quintessenz auf den Lehrsatz hinausläuft: Willst du gottgefällig leben, so mußt du erst gottgefällig sterben lernen.53 Zu diesem Zweck wird dem Leser eine Meditationsübung anempfohlen, durch die er die jenseitigen Folgen von tugendhaftem bzw. sündi-

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Thomas von Aquin vermitteln die sensus interiores (der sensus communis, die vis imaginativa oder phantasia, die vis cogitativa und die memoria) zwischen den äußeren Sinnen und dem intellectus (ST Ia, q.78, a.4). Die vis imaginativa stellt die phantasmata bereit, aus denen der intellectus agens seine species (Ideen) abstrahiert (ST Ia, q.79, a.3; q.84, a.6–7). Bei Seuse hingegen bleibt unklar, ob die verstantnu´s (= intellectus?) des Dieners zu den inneren Sinnen gehört oder ob sie eine höhere Instanz bildet. Auffallend ist ferner, daß in der entsprechenden Stelle im ›Horologium‹ der Terminus sensus interiores nicht verwendet wird; die Aufforderung der Sapientia an den Discipulus lautet einfach Vide ergo nunc (Künzle [Anm. 9], S. 528). Dafür aber heißt der unvorbereitet sterbende Mensch similitudo hominis morientis (ebd.); Thomas von Aquin definiert die von der vis imaginativa erzeugten phantasmata als similitudines particularium bzw. similitudines individuorum (ST Ia, q.85, a.1). Zu den inneren Sinnen bei Seuse vgl. ferner Joeressen [Anm. 49], S. 207f.; zum unterschiedlichen Wortschatz der Innerlichkeit im ›Büchlein‹ und ›Horologium‹ vgl. Claire Champollion, Zum intellektuellen Wortschatz Heinrich Seuses, in: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag, hg. von Ephrem M. Filthaut, Köln 1966, S. 77–89. Anregende Perspektiven auf das Verhältnis von innerer und äußerlicher Wahrnehmung bei Seuse eröffnet Jeffrey F. Hamburger, Speculations on speculation. Vision and perception in the theory and practice of mystical devotion, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 353–408. Bei Dirc van Delft fordert Gott den Sünder zu einer ähnlichen Übung auf: Kint, laet voor dinen oghen inwendelic alle tijt staen dat dode beeld eens ionghelincs, die onversiens ende rokelos vander werlt ghesceiden is; daer bi so salte dese conste alre beste ghedencken, die di brenghen sal die sonden te scuwen, die duecht te wercken ende te verdienen dat ewighe leven (Danie¨ls [Anm. 12], S. 613). Tinbergen [Anm. 5], S. 315–319.

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gem Benehmen im Diesseits begreifen soll. Die Übung besteht darin, die eigene Seele des öfteren vom Leib zu trennen (sceide dijn siel dicke van dinen live), nicht etwa durch Selbstmord – das wäre ja eine Todsünde – sondern mit dyepen ghedachten; es folgt die Anweisung: »scheide aus dir selbst, scheide aus dieser Welt« (sceyde uut di selven, sceyde uut der werlt), d. h. besuche die Regionen des Jenseits, und siehe, wie es dort den Seelen der Verstorbenen ergeht (S. 320). Mit sceiden ist hier selbstverständlich keine wirkliche Bewegung im Raum gemeint, sondern die Verbalphrasen stehen metaphorisch für Imaginiertes: ›stelle dir vor, du wärst tot, in die Hölle gegangen etc.‹ Wir haben es hier mit einer Gedankenreise ins Jenseits zu tun, die eine verblüffende Verbindung von Innen und Außen aufweist. Einerseits bedient sich der Meditationsprozeß eines Mediums, das gewöhnlich für innerlich gehalten wird (das Denken), andererseits wird die Meditation im Außen vollzogen (der Denkende ist außerhalb seiner und der Welt). Diese Verbindung wirft eine ganze Reihe erkenntnistheoretischer Fragen auf. Wenn ich beim Denken außerhalb meiner bin, sind denn auch meine Gedanken draußen? Wenn sie außerhalb meiner sind, kann ich sie noch als m e i n e Gedanken betrachten? Und wenn es nicht meine Gedanken sind, und wenn sie zudem noch außerhalb dieser Welt gedacht werden, wie soll ich sie als mein eigenes Wissen konstituieren, und zwar so, daß es als Richtschnur meines Lebens und Handelns in d i e s e r Welt funktionieren kann? Das sind keineswegs triviale Fragen, zumal der Autor nachdrücklich auf die Notwendigkeit dieser Wissenskonstitution von seiten des Selbst hinweist: Du selte weten, insistiert er (S. 315). Es kommt mir hier nicht auf eine Lösung dieser Probleme an (angenommen, dies sei überhaupt möglich), sondern auf den historischen Punkt: Im 15. Jahrhundert war Innerlichkeit keine notwendige Bedingung für die Ausübung der meditatio mortis, sie war vielmehr eine mögliche Position in einer Kunstpraxis, die sich ebenso gut in einem metaphorisch erschlossenen ›Außenraum des Selbst‹ vollziehen konnte wie in einem Innenraum.

3. Innenraum des anderen Die sogenannte ›Kunst des heilsamen Sterbens‹ wendet sich in erster Linie an Adressaten, die sich weniger auf den eigenen Tod vorbereiten als vielmehr den im Sterben begriffenen Mitmenschen zum ewigen Seelenheil verhelfen sollen. Somit entsteht anstelle des Gesprächs zwischen Wissenden und Sterblichen, das für die asketischen Traktate prägend ist, ein Gespräch zwischen Wissenden und Sterbenden. Der Sterbehelfer, der versierte und getreue amicus des kranken und sterbenden Menschen, unterzieht diesen einer katechetischen Abfrage, um seine Gemütsverfassung festzustellen, redet ihm zu, läßt ihn beten, liest ihm aus Heiligenviten und Gebetbüchern vor usw.54 Entsprechend den veränderten Kom54

Gersons Ars moriendi enthält 4 particulae: 1. an den Sterbenden zu richtende exhor-

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munikationsverhältnissen verschiebt sich auch der Bezugspunkt der effektiven räumlichen Kategorien der Sterbekunst. Diese tangieren nicht mehr das lesende und meditierende Selbst, das in oder außer sich geht, um die nötige Einsicht in die eigene Sterblichkeit zu gewinnen; sie berühren stattdessen den kranken und sterbenden Menschen, der in der Regel nicht der Leser des Traktats ist, sondern ein anderer. Dieser andere hat außer dem Sterbehelfer noch Gesprächspartner, und er hat außer den Letzten Dingen noch Gedanken, die ihn auf dem Sterbebett beschäftigen. Da sind zum einen die Menschen und Gegenstände dieser Welt: die Familienangehörigen, Verwandten und Freunde des Kranken, sein Besitz, der Arzt und – sofern er nicht mit dem Sterbehelfer identisch ist – der Geistliche.55

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tationes; 2. interrogationes; 3. orationes; 4. observationes (praktische Hinweise für den Sterbehelfer, darunter der Vorschlag, dem Kranken aus seinen bevorzugten historie et oraciones devote vorzulesen). Die 6 particulae des ›Speculum‹ werden im Eingangsteil angeführt: 1. de laude mortis et scientia bene moriendi; 2. temptationes morientium (die fünf Anfechtungen des Teufels); 3. interrogationes; 4. instructio cum obsecrationibus (Aufruf zur Imitatio des sterbenden Christus und Gebete); 5. exhortationes (enthält außerdem Ratschläge für den Sterbehelfer, darunter der Hinweis legende sunt coram eo [dem Kranken] a presentibus historie et orationes devote vel recensenda sunt divina precepta); 6. orationes dicendas super agonisantes ab aliquo assistentium. Vgl. auch die ausführlicheren Inhaltsangaben bei Rudolf [Anm. 7], S. 66f., 75f., O’Connor [Anm. 7], S. 25–41. Daß der Sterbehelfer gewöhnlicherweise ein Geistlicher war, läßt sich anhand verschiedener Argumente wahrscheinlich machen. 1. Als Besitzer von Sterbekünsten sind Ordenskleriker und Weltpriester reichlich belegt. Selbst bei einem auf die Bedürfnisse des eynvaltigen menschen zugeschnittenen Werk wie dem ›Totenbüchlein‹ Geilers von Kaysersberg (s. o. Anm. 27) ist eines von den zwei erhaltenen Exemplaren des Erstdruckes einer Hs. des ›Speculum‹ beigebunden (Trier, StB, Hs. 290/1673), die wahrscheinlich aus einem Kartäuserkloster, vielleicht der Kartause St. Alban, Trier, stammt; vgl. Kraume [Anm. 14], S. 105. 2. Geistliche sind als Sterbehelfer, allerdings in Herrscherkreisen, historisch belegt: Maria von Burgund (gest. 1482 in Brügge) erhielt Sterbebeistand vom Bischof von Tournai (vgl. den Chronikbericht in ›Die wonderlijcke oorloghen‹, hg. von Wybe Jappe Alberts, Groningen/Djakarta 1957, S. 150–159), ihr Ehemann, der spätere Kaiser Maximilian I. († 1519), hatte den Kartäuser Gregor Reisch zu seinem Sterbehelfer bestimmt (vgl. Peter Schmid, Sterben – Tod – Leichenbegängnis Kaiser Maximilians I., in: Der Tod des Mächtigen. Kult und Kultur des Todes spätmittelalterlicher Herrscher, hg. von Lothar Kolmer, Paderborn [usw.] 1997, S. 185–215, hier S. 193). 3. In der ›Bilder-Ars‹ wird manchmal ein Geistlicher am Sterbebett gezeigt, z. B. auf dem ursprünglich letzten Bild der Blockbuchausgaben oder auf dem Titelbild, mit dem Kachelofens deutschsprachige Drucke versehen sind; siehe Schreiber [Anm. 17], S. 310, und vgl. unten, Abb. 2, S. 381. Ferner werden im ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ (s. o. Anm. 29) die tröstenden Inspirationen von einem Mönch gesprochen. Angesichts dieser Tatsachen ist ein gewisses Maß an Skepsis gegenüber der Behauptung Arnold Angenendts angezeigt, die hier stellvertretend für eine bei Historikern häufig anzutreffende Auffassung der Verhältnisse stehen darf: »Die Erfahrung, daß gerade im Sterben die Blutsverwandten und Nachbarn oft nicht wirklich Beistand leisteten, sich mehr ums Erbe als um Trost

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Zum anderen treten auch überirdische Gesprächspartner – Dämonen, Engel, Heilige, sogar Gott – auf den Plan und versuchen, den Sterbenden entweder zur Todsünde zu verführen oder vor solchen Anfechtungen zu bewahren.56 All das von dem sterbenden Menschen fernzuhalten oder umgekehrt in seiner Nähe bleiben zu lassen, je nachdem, ob es sein Seelenheil gefährdet oder fördert, ist Aufgabe des Sterbehelfers. Die anzustrebende räumliche Disposition um den Sterbenden herum ist einerseits eine deutlich metaphorische. Anweisungen an den Kranken wie etwa »kehre dein Herz aufrichtig zur freiwilligen Armut« (cor tuum ad voluntariam paupertatem integre converte), »alles Vergängliche ist ganz von dir abzustoßen wie Gift« (omnia transitoria tamquam venenum a te penitus repellendo), »du sollst dein ganzes irdisches Hab und Gut vollkommen hintanstellen« (omnia temporalia totaliter postpone), »die Dämonen sind wegzujagen« (abigantur demones), sind offenkundig Metaphern mit der Bedeutung ›(nicht) denken an‹.57 Andererseits lassen sich Metaphern von Nah und Fern manchmal auch in wirkliche Raumverhältnisse umsetzen, z. B. wenn der Sterbehelfer Freunde und Verwandte tatsächlich vom Kranken fernhält, oder wenn er, sich auf kanonische Autorität stützend, den Arzt nicht ans Sterbebett treten läßt, bevor der Kranke

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bemühten, veranlaßte dazu, beizeiten nach einem Freund, der bezeichnenderweise ein Laie sein sollte, Ausschau zu halten« (Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000, S. 664). Andererseits ist der ausdrückliche Appell der Texte an alle Christen, sowohl Laien als auch Geistliche, in Anschlag zu bringen (vgl. oben Anm. 27). In diesem Zusammenhang mag es signifikant sein, daß die Sterbekünste in Bezug auf die Sakramente äußerst vorsichtig formulieren. Es heißt z. B. im ›Speculum‹, der Freund solle den Kranken inducere et monere, sich so schnell wie möglich mit spirituali medicina et remedio versorgen zu lassen (5. Teil). Diese Formel ist aus Kanon 22 des IV. Laterankonzils übernommen, der bezeichnenderweise an Ärzte gerichtet ist: districte praecipimus medicis corporum, ut, quum eos ad infirmos vocari contigerit, ipsos ante omnia moneant et inducant, ut medicos advocent animarum (Gregor IX., ›Decretales‹, V.38.13, Corpus iuris canonici, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879–1881, Bd. 2, Sp. 888). Der Wortgebrauch im ›Speculum‹ ist vielleicht ein Indiz dafür, daß der Verfasser mit Praktikanten der Sterbekunst rechnet, die nicht durch die Priesterweihe befähigt sind, die Sakramente selbst auszuteilen. Eine ähnliche Formulierung verwendet auch die ›Bilder-Ars‹ im Eingang: Deinde studiose inducatur [moriturus] ad debitum usum sacramentorum ecclesie. Der Text der ›Bilder-Ars‹ besteht in der Hauptsache aus den fünf Anfechtungen des Sterbenden, die dem Teufel in den Mund gelegt werden, und den entgegenwirkenden Inspirationen des guten Engels; die begleitenden Bilder zu diesen zeigen häufig auch Gott und seine Heiligen. Die weiteren üblichen Bestandteile der Sterbekunst, die interrogationes usw., werden im Eingangs- und Schlußteil nur gestreift. Vgl. die Zusammenfassung der Textteile und die Beschreibung der Bilder bei Rudolf [Anm. 7], S. 71–74. Diese vier Anweisungen sind allesamt aus der ›Bilder-Ars‹, die ersten drei aus der Inspiratio contra avaritiam, die vierte aus der Inspiratio de fide. Der dritte Spruch findet seine Entsprechung im ›Speculum‹, 2. Teil: omnia temporalia simpliciter atque totaliter postponere.

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gebeichtet und die Sakramente empfangen hat.58 Eine andere Art von Verwirklichung metaphorischer Redeweisen liegt vor, wenn es sich um ›geglaubte‹ Metaphern handelt, um solche also, die vom Auffassenden beim Wort genommen werden und damit für ihn Realitätsbezug haben. Die Rede von Engeln und Dämonen ist z. B. nur in beschränktem Maße als Metapher für seelische Vorgänge anzusehen, die sonst ebensogut in nicht-figurativer Sprache umschreibbar wären. Zwar wird erkannt, daß die Worte der Engel und Teufel eigentlich cogitationes des sterbenden Menschen sind – dies geht aus Formulierungen in der ›Bilder-Ars‹ wie etwa diabolus temptat hominem infirmum [...] tales in eum iaculans cogitationes,59 infirmus cogitet bzw. consideret 60 deutlich hervor – und zwar weiß man, daß es eigentlich kein Teufel ist, den der musterhaft reagierende Kranke verdrängt, sondern eine Triebregung (z. B. averte a impatiencia animum tuum).61 Doch glaubte man auch an die wirkliche Existenz von Engeln und Dämonen. Obwohl die Engel nicht räumlich begrenzt sind, da sie weder Ausdehnung noch Ausmaß besitzen, können sie nach Thomas von Aquin trotzdem im Raum sein aufgrund der Macht, die sie dort ausüben.62 Man glaubte also an die Anwesenheit – im alltäglichen Sinn des Wortes – von Engeln (und Dämonen) im Sterbezimmer. Wenn also der Sterbende aufgefordert wird, diese übernatürlichen Wesen zu verjagen oder dagegen ihnen zuzuhören, wurde dies nicht als ausschließlich metaphorische Rede verstanden. Die vorbildliche räumliche Disposition im Sterbezimmer, an deren Abstufung von Nah und Fern die Opposition von Gut und Böse, Jenseits und Diesseits, Heil und Verdammnis erst recht sinnfällig wird, veranschaulichen die Illustrationen zum Text der ›Bilder-Ars‹. Der Holzschnitt z. B., der in den Blockbuchausgaben die Inspiratio contra avaritiam begleitet (Abb. 1; Ausgabe IVD),63 zeigt einen Inspiration einflößenden Engel mit dem Spruchband Non sis avarus und im Vordergrund einen zweiten Engel, der mit den Worten Ne intendas amicis die Ermahnung fortsetzt und ein Laken hochhält, um die Freunde vor dem Blick des Sterbenden zu verbergen. Links im Hintergrund stehen zwei Männer, drei Frauen und einige Schafe, vermutlich die Verwandten und der Besitz des Sterbenden; am Kopfende seines Bettes sind Christus am Kreuz und Maria als Fürbitterin. Im Titelbild eines typographischen Drucks desselben 58

59 60 61 62 63

Sowohl Gerson, 4. Teil, als auch das ›Speculum‹, 5. Teil, zitieren den oben [Anm. 55] erwähnten Kanon ›Cum infirmitas‹, demzufolge die Versorgung der Seele durch den Priester einen absoluten Vorrang vor derjenigen des Körpers durch den Arzt hat. Temptatio de vana gloria. Diese und ähnliche Formeln leiten den Schluß jeder Inspiratio der ›Bilder-Ars‹ ein. Ebd., Temptatio de vana gloria. ST Ia, q.52, a.1. Zu dieser Ausgabe und ihren Holzschnitten, die denjenigen der Erstausgabe IA nachgebildet sind, vgl. Schreiber [Anm. 17], S. 262, 312f. Faksimile: Ars moriendi. Holztafeldruck von ca. 1470, hg. von Otto Clemen, Zwickau 1910 (Zwickauer Facsimiledrucke 3).

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Traktats in deutscher Übersetzung (Abb. 2; Konrad Kachelofen, Leipzig 1493, GW 2581) sieht man den Sterbenden im Bett liegend, in seiner unmittelbaren Nähe den Priester und die Engel; die Familienangehörigen beten andächtig für den Verscheidenden, bezeichnenderweise aber auf etwas Entfernung vom Bett, hinter dem ein besiegter Teufel sich verkriecht.64 Die Ordnung von Nah und Fern ist weder die einzige räumlich ausgedrückte Hierarchie, die durch die kunstgerechte Anwendung von Sterbebeistand zustandekommt, noch ist sie die fundamentale. Alles im ›Außenraum‹ des Sterbezimmers Gesagte und Getane wird auf einen Innenraum bezogen, von dem her es seine Beglaubigung erhält und dem es also untergeordnet ist. Diesen Innenraum bilden das Herz und Gemüt des sterbenden Menschen. Gerson, das ›Speculum‹ und die ›Bilder-Ars‹ enthalten Hinweise für den Fall, daß der Sterbende bereits so krank und schwach geworden ist, daß er die Sprache verloren hat. Solange er noch bei klarem Verstand sei, solle er die von einem der Anwesenden alta voce gesprochenen Gebete intra se corde begleiten;65 er solle auf die Fragen und Gebete »mit irgendeinem äußeren Zeichen« (signo aliquo exteriori) antworten »oder allein mit der Zustimmung seines Herzens« (vel solo cordis consensu);66 wenn niemand anwesend sei, der ihm die so wichtigen Fragen stelle, solle er »in sich gehen und sich selbst die Fragen stellen, wobei er sorgfältig überlegen muß, ob seine Verfassung entsprechend ist« (introrsus redeat interrogans semetipsum subtilius considerando an taliter sit dispositus).67 Diese ›innere Rede‹ ist weitaus mehr als ein Notbehelf, der die fehlende äußere Artikulation oder unter Umständen sogar den fehlenden Sterbehelfer bzw. Beichtvater ersetzen darf (das ›Speculum‹ rät dem Kranken, er solle wegen ungebeichteter Sünden nicht in Verzweiflung verfallen, denn in einem solchen Fall reiche die innere Zerknirschung aus).68 Die innere Rede und das innere Engagement gelten auf jeden Fall – auch bei unvermindertem Sprachvermögen des Sterbenden – als unabdingbar, da allein diese Instanzen die Aufrichtigkeit alles äußerlich Gesagten verbürgen. Das Innere hat einen so absoluten Vorrang vor dem 64

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Sämtliche Bilder der Kachelofenschen Ars-moriendi-Drucke sind reproduziert in: Albert Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke, Bd. 13: Die Drucker in Leipzig und Erfurt, Leipzig 1930, Taf. 6–8. ›Speculum‹, Schluß des 4. Teils: Si autem infirmus predictas orationes vel observationes non sciat vel invalescente infirmitate dicere non possit, dicat eas aliquis de astantibus alta voce coram illo mutatis que sunt mutanda. Ipse vero agonisans quam diu usum poterit habere rationis, oret intra se corde tamen, atque desiderio, prout sciat et possit et ita orando spiritum reddet et salus erit. Diese Anweisung wird etwas gekürzt und variiert am Schluß der ›Bilder-Ars‹ wiederholt. Gerson, 4. Teil: Si paciens usum loquendi perdiderit habens tamen sanam et integram noticiam ad interrogationes sibi factas vel oraciones coram eo recitatas signo aliquo exteriori vel solo cordis consensu respondeat; hoc enim sufficit ad salutem. Diese Observatio ist im 5. Teil des ›Speculum‹ wörtlich wiedergegeben. ›Speculum‹, 3. Teil. Ebd., 2. Teil, 2. Anfechtung: in tali casu sufficit contritio interior.

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Äußeren, daß äußerliches Reden eigentlich entbehrlich ist. Es sei besser, so das ›Speculum‹, im stillen zu beten als die Gebete laut auszusprechen »ohne die Anschauung des Gemüts« (melius est cum silentio orare corde sine sono vocis quam solum verbis sine intuitu mentis); wahre, d. h. innerlich empfundene Reue sei unbedingt erforderlich, weil die Reue auf dem Sterbebett häufig »bloß geheuchelt und äußerlich« sei (solum ficte atque specietenus).69 Jede Äußerung und jede Geste bedarf der Beglaubigung durch eine innere Instanz, den intuitus mentis oder cordis consensus, deren Beteiligung auf gar keinen Fall fehlen darf. Dabei wird der Sterbehelfer vor das Problem gestellt, daß diese Instanz eben im Innenraum des anderen sich befindet und daher für ihn, der ja über die Aufrichtigkeit des vom anderen Gesagten zu entscheiden hat, letzten Endes doch unzugänglich und unerforschlich ist. Dieses Problem wird in den Artes in Zusammenhang mit den katechetischen Fragen ausdrücklich angesprochen. Einerseits betonen die Verfasser, daß die Antworten auf die Fragen nicht nur nicht ausbleiben dürfen, sondern zudem noch ›hinlänglich‹ (sufficientes) sein müssen. Gerson z. B. erklärt, wie man einen widerspenstigen Sterbenden gefügig machen kann, indem man ihn die Sakramente empfangen läßt oder ihm die ernsthaften Folgen seiner Renitenz einschärft.70 Andererseits wird implizit eingeräumt, daß es dem Sterbehelfer schwerfallen kann, über die Zulänglichkeit von Antworten zu urteilen, wenn diese solo cordis consensu geäußert werden. Deswegen mahnt das ›Speculum‹ aufs dringlichste, der Sterbehelfer solle auf jeden Fall die Fragen stellen, bevor der Kranke die Sprache verliere, denn ansonsten sei nichts andere zu tun, als unwahrscheinliche und für das Seelenheil unzulänglich erscheinende Antworten so gut wie möglich zu ergänzen.71 Die praxisorientierten Sterbekünste unterscheiden sich also von den asketisch-erbaulichen Artes dadurch, daß der metaphorisch suggerierte subjektive Innenraum, in dem die Kunst sich zur vollen Auswirkung entfaltet, bei ihnen nicht Möglichkeit, sondern vielmehr Bedingung der Praxis ist: Ohne die innere Beteiligung des Sterbenden sind alle Bemühungen des Sterbehelfers unwirksam und umsonst. Da es sich jedoch um den Innenraum des sterbenden Menschen handelt und nicht um den des sterblichen Selbst, und da sich dieser Innenraum des anderen dem Zugriff des Sterbehelfers nicht völlig erschließt, stößt bei ebendieser Voraussetzung die Kunst des heilsamen Sterbens gleichzeitig auch an ihre Grenze. 69 70

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Ebd., 4. Teil, 1. Instructio; 5. Teil. Gerson, 4. Teil: remedium apponatur quantum id commodius fieri poterit, vel per ministracionem sacramentorum confessionis, eukaristie aut extreme unctonis, vel eidem manifestando periculum quod incurrat non plene satisfaciendo peticionibus super fide sua et salute consciencie prolatis. ›Speculum‹, 5. Teil: Curandum tamen extat ut interrogationes fiant antequam usum loquendi amittat. Nam si ex interrogationibus verisimiliter appareant responsiones infirmi non usquequaque sufficientes existere ad salutem remedium per informationem necessarium apponatur more quo fieri poterit meliori.

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4. Schluß Zum Abschluß seien thesenhaft einige Perspektiven umrissen, die über den Rahmen des hier Vorgebrachten hinausgehen, den Blick auf größere historische Entwicklungsgänge freigeben und weiter ausgreifende Fragestellungen eröffnen. 1. Ein wesentlicher Aspekt von jenem jahrhundertelangen kulturgeschichtlichen Prozeß, den man als ›Erfindung des inneren Menschen‹,72 ›Entstehung der Innerlichkeit‹73 u. ä. zu bezeichnen gewohnt ist, besteht in der Entwicklung dessen, was Charles Taylor eine »language of self-understanding« nennt.74 Zu dem Grundwortschatz dieser Sprache der Selbstauslegung und -entdeckung gehören nun Metaphern wie etwa ›in sich gekehrt sein‹, ›sein Inneres jemandem öffnen‹ usw., die einen Innenraum unterstellen, in dem die Subjektivität zuhause ist und in den man sich vor anderen zurückziehen oder andere auch einlassen kann. Dieser Sprachgebrauch ist uns abendländischen Menschen derart selbstverständlich geworden, daß wir seine Kontingenz und seine Metaphorizität kaum gewahren. Folglich ist die Geschichte der Innerlichkeit in nicht geringem Maße eine Geschichte der Verwendung von Metaphern, der damit einhergehenden Glaubenszustände und der durch diese geschaffenen Möglichkeiten zur Selbstdeutung und -verwirklichung. 2. Die Erforschung des historischen Sprachgebrauchs macht nicht nur die Kontingenz unserer Sprache der Innerlichkeit augenfällig. Sie beweist zudem, daß die Glaubenszustände und Vorstellungen, die mit den Metaphern dieser Sprache verbunden sind, sowohl historische Wirklichkeit als auch Wirksamkeit besitzen. Hätten sich z. B. Metaphern des subjektiven Außenraumes, wie man ihnen in ›Des Coninx Summe‹ begegnet, als sprachliche Norm durchgesetzt, so würde nicht nur unsere neuzeitliche »language of self-understanding« eine völlig andere sein, auch die Entwicklung moderner Vorstellungen von personaler Identität, Subjektivität und Privatheit hätte wohl andere Wege genommen als die tatsächlich eingeschlagenen. 3. Zunehmende Interiorisierung wird gängig als Errungenschaft des Menschengeschlechts verbucht: Je höher der Interiorisierungsgrad, um so größer die Reflexionsfähigkeit des einzelnen Menschen, um so mehr Möglichkeiten stünden ihm zur Verfügung. Diesen Fortschrittsgedanken, das Symptom einer nicht ganz überwundenen teleologischen Geschichtsauffassung, gilt es wenigstens zu relativieren. Wer glaubt, er verfüge in der Tat über einen eigenen Innen r a u m , weist sich dadurch als weniger abstraktions- und reflexionsfähig aus als derjenige, der die Metaphorizität eben dieses Raumes durchschaut; die Kehrseite der 72 73 74

Die Erfindung des inneren Menschen. Studien zur religiösen Anthropologie, hg. von Jan Assmann, Gütersloh 1993 (Studien zum Verstehen fremder Religionen 6). Charles Taylor, Sources of the self. The making of modern identity, Cambridge 1989, S. 111: »rise and development of [the] sense [of inwardness]«. Ebd., S. 111f., 186.

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eigenen Interiorität ist – wie das Beispiel der praxisorientierten Sterbekünste zeigt – die Unerforschlichkeit anderer, in deren Innerstes man nicht einzudringen vermag. Alle diese Momente, Reflexionsgewinn und Abstraktionsverlust, Erweiterung und Einschränkung, hat eine differenzierte Geschichte der Interiorisierung zu berücksichtigen und aufeinander zu beziehen.

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Abb. 1: ›Bilder-Ars‹, Blockbuchausgabe IVD: Inspiratio contra avaritiam Ars moriendi (Holztafeldruck von ca. 1470, hg. von Otto Clemen, Zwickau 1910).

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Innenraum des Selbst, Innenraum des anderen

Abb. 2: Titelbild des 1493 bei Konrad Kachelofen in Leipzig erschienenen deutschsprachigen Druckes der ›Bilder-Ars‹, GW 2581 (Albert Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke, Bd. 13: Die Drucker in Leipzig und Erfurt, Leipzig 1930, Taf. 6).

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Anschauung der Welt und vergnügliche Bildung Die ›Otia imperialia‹ des Gervasius von Tilbury für Kaiser Otto IV.

Bei otium mag man an Muße denken, die leichte, zerstreuende Unterhaltung, aber auch an die gefüllte, genutzte freie Zeit. Höfische Muße ist gesellige Muße allemal; und otia das mögen zugleich die Gegenstände sein und die gemeinsame Beschäftigung mit ihnen. Im Titel der ›Otia imperialia‹1 dürfte der Begriff zugleich an den Hof Heinrichs II. von England erinnert haben, und zwar nicht nur ihren Adressaten, Kaiser Otto, aber gerade auch ihn. Denn Otto war an diesem Hof – dem Hof seines Großvaters – aufgewachsen und hatte hier seine Erziehung erhalten; und Gervasius lebte vermutlich gerade noch an diesem Hof, als der sechsjährige Otto dort eintraf. Das war 1182.2 Johannes von Salisbury hatte schon dreißig Jahre früher im selben Umfeld seinen gelehrten ›Policraticus‹ verfaßt und ihn Thomas Becket gewidmet. Er hatte das Werk mit dem Untertitel ›De nugis curialium et vestigiis philosophorum‹ versehen und hatte damit die Hofdichtung um eine gelehrt-unterhaltende Richtung erweitert, die viele Gesichter haben kann3 – in den ›Nugae 1

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Gervase of Tilbury, Otia imperialia. Recreation for an Emperor, edited and translated by S[helagh] E. Banks and J[ames] W. Binns, Oxford 2002 (Oxford Medieval Texts), nach dem vermutlichen Handexemplar (»a rough draft«) des Autors (Vat. Lat. 933), ersetzt jetzt die Edition von Gottfried Wilhelm Leibniz (1707). In der umfassenden Einleitung auch die im folgenden nicht im einzelnen nachgewiesenen Fakten; zur Überlieferung (30 Hss.) ebd., S. lxiii-lxxxv. Die Ausgabe der frühen französischen Übersetzungen (vor 1287 bzw. um 1320/30) gibt leider nur die dritte decisio der ›Otia‹ wieder: Traductions franc¸aises des »Otia imperialia« de Gervais de Tilbury par Jean d’Antioche et Jean de Vignay, e´d. de la 3e partie par Dominique Gerner/Cinzia Pignatelli, Gene`ve 2006 (Publications Romanes et Franc¸aises 237). Auch die moderne französische Übersetzung: Gervais de Tilbury, Le livre des merveilles: divertissement pour un Empereur (troisie`me partie), trad. et comm. par Annie Duchesne, pre´f. de Jacques Le Goff, Paris 1992 (La roue a` livres 15), gibt nur das dritte Buch. Eine »erste deutsche Gesamtübersetzung« (von Heinz Erich Stiene) ist bei Hiersemann (Stuttgart) angekündigt. Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. xxxif. Jens Ahlers, Die Welfen und die englischen Könige 1165–1235, Hildesheim 1987 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 102), S. 134–137. Dazu Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ›Policraticus‹ Johanns von Salisbury, Hildesheim [usw.] 1988 (Ordo 2); Egbert Türk, Nugae curialium. Le re`gne d’Henri II

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curialium‹ des Walter Map ein anderes als bei Johannes oder eben bei Gervasius von Tilbury, in dessen ›Liber facetiarum‹ zunächst und (wenige Jahre später) in seiner Sammlung von mirabilia, die (noch viel später) zum Kern der ›Otia‹ werden. Man hat es mit Wissen und Unterhaltung zu tun, mit philosophischem und ethischem Anspruch, mit Fürstenlehre, höfischem Leben und Hofkritik und immer wieder mit Erzählen und mit der Nähe zum Gespräch.4 Es geht mir hier nicht um Gervasius als den (›leichtgläubigen‹)5 Überlieferer von Motiven der europäischen Erzähltradition – auch des Artusstoffes6 und der Melusine –,7 auch nicht um den Quellenwert seiner Aussagen zur englischen

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Plantegeneˆt (1154–1189) et l’e´thique politique, Gene`ve 1977 (Centre de Recherches d’Histoire et de Philologie V : Hautes E´tudes Me´die´vales et Modernes 28) [Gervasius selbst wird allerdings hier nicht behandelt]. Zur Dynastie jetzt zusammenfassend Dieter Berg, Die Anjou-Plantagenets. Die englischen Könige im Europa des Mittelalters (1100–1400), Stuttgart 2003 (Urban-TB 476). Zur Literatur im Umfeld des englischen Hofes unter Heinrichs II. immer noch grundlegend Walter Schirmer/Ulrich Broich, Studien zum literarischen Patronat im England des 12. Jahrhunderts, Köln/Opladen 1962 (Wiss. Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 23); Türk [Anm. 3], außerdem Laurence Harf-Lancner, Les malheurs des intellectuels a` la cour: les clercs curiaux d’Henri II Plantageneˆt, in: Courtly Literature and Clerical Culture, selected papers from the 10th triennial congress of the ICLS Tübingen 2001, hg. von Christoph Huber und Henrike Lähnemann, Tübingen 2002, S. 3–18; zum weiteren Zusammenhang die Bücher von C. Stephen Jaeger, The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939–1210, Philadelphia 1985 (The Middle Ages), und Ders., The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950–1200, Philadelphia 1994 (The Middle Ages), bes. S. 292–324; seine Aufsatzsammlung Ders., Scholars and Courtiers. Intellectuals and Society in the Medieval West, Hampshire 2002, und (auch darin) bes. der Artikel: Patrons and the Beginnings of Courtly Romance, in: The Medieval Opus: Imitation, Rewriting and Transmission in the French Tradition, ed. by Douglas Kelly, Amsterdam 1996, S. 45–58, sowie Walter Haug, Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem klerikalen Konzept der Curialitas und dem höfischen Weltentwurf des vulgärsprachlichen Romans?, in: Courtly Literature [wie oben], S. 57–75. Gegen solche Charakterisierungen wandte sich deutlich schon Raoul Busquet, Gervais de Tilbury inconnu, Revue historique 191 (1941), S. 1–20. Vgl. auch Banks/ Binns, Introduction [Anm. 1], S. lixf. Vgl. den auch sonst sehr zuverlässigen Artikel von Wolfgang Maaz in der EdM, Bd. 5, 1987, Sp. 1109–1122. Zum Artusstoff zusammenfassend etwa Volker Mertens, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998 (RUB 17609), S. 9–24. Bea Lundt, Schwestern der Melusine im 12. Jahrhundert. Aufbruchs-Phantasie und Beziehungs-Vielfalt in Texten von Marie de France, Walter Map und Gervasius von Tilbury, in: Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, hg. von Bea Lundt, München 1991, S. 233–253; Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischn Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 397–471, bes. 405–408, und Dies., Melusinengeschichten im Mittelalter. Formen und Möglichkeiten ihrer diskursiven Vernetzung, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Kultur 1150–1450. DFG-Symposion 2000, hg. von Ursula Peters, Stuttgart/Weimar 2001 (Germanistische Symposien 23), S. 268–295; Martina Backes, Fremde Histo-

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oder zur französischen Geschichte8 und auch nicht um seinen Beitrag zur Diskussion um den Vorrang von Kaiser oder Papst.9 Es geht mir um die ›Otia‹ an sich, um ihre Strukturen und ihre Leistung als Text, der Bildung und Weltsicht eines bestimmten Adressaten voraussetzt und gestaltend auf sie einwirken, sie verändern soll.

Außenwelt und Innenraum im Gespräch Die folgenden Überlegungen stehen in einem Untersuchungszusammenhang, der mich seit einiger Zeit beschäftigt. Sein Ziel ist es, mittelalterliche Vorstellungen von Gesprächen nachzuzeichnen, in denen sich höfische Bildung zeigt und vollendet. Es geht mir um Inhalte und Konturen dieser Gespräche und um den Einfluß von Texten, Bildern und Erzählen auf sie; vor allem aber um die Frage, wie sich die ›Räume‹ konstituierten, in denen sich zwischen erfahrener Welt und Wahrnehmung der Welt vermitteln ließ; anders gesagt, um Entwürfe von ›Außenwelten‹ und ›Innenräumen‹ in Texten und über Texte, von Räumen, die Wissen, Denken und Handeln ihrer Adressaten im Sinne höfischer Bildung einbeziehen und zu verändern versuchen. Das eindringlichste Beispiel eines solchen Textes ist wohl das Briefgedicht Baudris de Bourgueil für Adela von Blois (c. 134), das um 1102 das gängige Wissen über Kosmos, Geographie und Geschichte wie die Kenntnis der Artes in lateinischen Distichen so wiedergibt, als ob Baudri die Ausstattung von Adelas Palas beschriebe.10 Freilich ist dieser Palas fiktiv, und der Akzent liegt nicht

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rien. Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte französischer Erzählstoffe im deutschen Spätmittelalter, Tübingen 2004 (Hermaea NF 103). Diesem Interesse entspricht die Teilausgabe von Felix Liebrecht (1856), vgl. Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. lxxxvii, aber auch noch die neue Teilpublikation der altfranzösischen Übersetzungen der ›Otia‹ [Anm. 1] wie die neufranzösische Übersetzung [ebd.]. Vgl. die bezeichnenden Teildrucke nach der Leibnizschen Ausgabe im »Recueil des historiens des Gaules et de la France« (1757, 1767 und 1806) bzw. in der »Rolls Series« (als Anhang zur Ausgabe des ›Chronicon Anglicanum‹ des Ralph Coggeshall); Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], ebd. Vgl. z. B. Karl Schnith, Otto IV. und Gervasius von Tilbury. Gedanken zu den Otia imperialia, Historisches Jahrbuch 82 (1963), S. 50–69. Baudri de Bourgueil, Poe`mes, t. 1–2, texte e´tabli, trad. et comm. par Jean-Yves Tilˆ ge), Paris 1998–2002, t. 2, S. 1–43 und 163–217. liette (Auteurs Latins du Moyen A Jean-Yves Tilliette, La chambre de la comtesse Ade`le: Savoir scientifique et technique litte´raire dans le c. CXCVI [134] de Baudri de Bourgueil, Romania 102 (1981), S. 145–171; Ders., La vie culturelle dans l’ouest de la France au temps de Baudri de Bourgueil, in: Robert d’Arbrissel et la vie religieuse dans l’ouest de la France. Actes du colloque de Fontevraud 13–16 de´cembre 2001, e´d. par Jacques Dalarun, Turnhout 2004, S. 71–86.

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auf den Gegenständen an sich, sondern auf der Art ihrer Präsentation: Sie läßt kein Mittel aus, das Dargestellte lebendig erscheinen zu lassen, es so anschaulich, begreiflich und gesprächsweise verfügbar zu machen. Dabei bedient sich Baudri des Kunstgriffs, seine Beschreibung unter direkter Adressierung des als cartula verkörperten und als Bote gedachten Gedichts selbst (und – über es – des Lesers) vorzustellen. Hier wird das einer gebildeten Fürstin attribuierte Wissen so aufgerissen, daß ein Gesprächsraum entsteht, in dem die Spannung zwischen Außen und Innen, zwischen Wissen und Verstehen so ausgetragen werden kann, wie es gebildetem Umgang entspricht. Ausdrücklich bietet sich der Autor an, den Austausch, den das Gedicht erinnernd inszeniert und auf diese Weise neu anregt, im tatsächlichen Gespräch mit Adela, der ersten Adressatin, fortzusetzen.11 Gervasius verfährt anders, obwohl er ›dasselbe‹ Wissen, ›dieselbe‹ Bildung voraussetzt; obwohl auch er für seinen Text mit colloquialen Formen des Gebrauchs rechnet, den Kaiser immer wieder anspricht. Auch Gervasius bietet seinem Adressaten die Welt so dar, wie dieser sie sehen mag oder sehen soll. Aber er entwirft sie nicht als (fiktiven) Innenraum, den er betritt, in den er (staunend) Einblick nimmt, vielmehr öffnet er seinem Adressaten die Augen für eine Welt, die nur ihm eigen und doch die Welt aller ist: Schöpfung, Natur und Geschichte, wie sie der Kaiser sieht oder eben: sehen soll. Indem er so die Welt ›hereinholt‹, wird aber dieser Text selbst zum ›Innenraum‹, freilich ohne daß sich sein Verfasser (anders als Baudri) der Fiktion bedient, geschweige denn zu ihr bekennt. Geographisches, historisches und genealogischs Wissen, die Parameter fürstlicher Bildung, werden so verfügbar gemacht, daß leitende Prinzipien erkennbar und zugleich in immer neuen Verschränkungen der (gedanklichen) Erprobung und (gesprächsweisen) Erörterung aufgegeben sind. Es war wohl 1215, als die ›Otia imperialia‹ endlich in die Hände Ottos IV. gelangten, im Jahr nach Bouvines, also an einem Tiefpunkt der kaiserlichen Macht. Aber man sollte sie nicht einfach – mit zwei jüngeren Handschriften12 – als solacium, als Trostschrift, verstehen, denn ihr Konzept geht im Kern auf die frühen 1180er-Jahre zurück. Damals hatte Gervasius am Hof Heinrichs II. für dessen Sohn Heinrich (den Jüngeren) den erwähnten (verlorenen) ›Liber facetiarum‹ vollendet13 und begonnen, für ihn jene Mirabilia-Sammlung zusammen11 12

13

Misi qui nostrum reddat recitetque libellum / Ipseque, si tandem iusseris, adueniam. (V. 1367f.) Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. xli. Der seltsame Aufsatz von Hans Martin Schaller, Das geistige Leben am Hofe Kaiser Ottos IV. von Braunschweig, DAEM 45 (1989), S. 54–82, stellt die Verhältnisse auf den Kopf (76). Otia, prefatio, S. 14, und II, x, S. 298. Darunter hat man sich natürlich kein »Buch der Scherze« (Wolf [Anm. 21, S. 413]) oder gar »Scherzbuch« (Wilke [Anm. 21, S. 97]) – was auch immer das sei – vorzustellen, sondern eben bereits eines jener Werke der neuen Hofliteratur, die Türk [Anm. 3] unter dem Titel nugae curialium zusammenfaßt und an die auch die ›Otia‹ anschließen; vgl. Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. xcii.

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zustellen, die er noch jetzt als Hauptgegenstand und Anlaß, als primordialem materiam et causam (556/8) seiner ›Otia‹ versteht. 1182 kam Otto als Kind zur Erziehung an den Hof seines Großvaters Heinrich. Im Jahr darauf starb Heinrich der Jüngere während seiner Rebellion gegen den Vater, und Gervasius, der ihm anhing, mag nicht mehr an den englischen Hof zurückgekehrt sein. Aber auch er hatte nach seiner Schulzeit dort seine Erziehung erhalten. Beide – Gervasius wie Otto – waren also geprägt von der Kultur dieses Hofes, in dessen Einflußbereich gelehrte lateinische Werke und volkssprachige Dichtungen entstanden.14 In dessen Gesprächskultur waren aber eben auch jene memorabilia, dicta und facta, ioci und facetiae, die nugae curiales, Gegenstände, aus denen Gervasius (nach den facetiae) mit seinen mirabilia nun einen weiteren Stoffbereich heraushebt. Indem er freilich diesem vielfältigen und nur assoziativ geordneten Bestand an Wissenswert-Wunderbarem zwei Bücher vorausschickt, die einen umfassenden und zugleich ganz am Empfänger orientierten, spezifischen Verstehenshorizont entwerfen, macht er erst möglich, worauf es ihm ankommt – re-creatio zu bieten, die Momente des otium, der Muße, zu solchen der geistig-tätigen Erholung werden zu lassen: Erst so, wenn das einzelne mirabile aus der – ungeordneten – Sammlung entnommen und in den Zusammenhängen des Lebens wahrgenommen werden kann, vermag es, Weltwissen und Erfahrung ins Spiel zu bringen, Ordnungen in Frage zu stellen und doch zugleich grundsätzlich zu bestätigen. Es vermag Verständnis und Urteil zu fördern, gerade weil das Wunderbare sich letztlich menschlichem Verstehen entzieht. Hier ist der Ort eines Gesprächs am Hof, das Wissen und Bildung – in unterschiedlichem Maße – voraussetzt und sie zugleich erweitert. Dieses Gespräch bedarf des – glänzend erzählenden – Textes und dessen gelehrter Vermittler, aber es zielt auf den colloquialen Umgang unter Personen verschiedener Bildung. Ich werde versuchen zu zeigen, wie Gervasius auf dieses Ziel hin schreibt und dazu eine Welt entwirft, in der vor allem Otto sich zu orientieren vermag und durch die er zugleich (neue) Orientierung erhält, eine Welt, die Gervasius seinem Adressaten als ›Innenraum‹, als seine (subjektivierte) Welt, zuschreibt, wie Baudri sein Weltmodell explizit für Adela als ›ihres‹ entwarf.

14

Vgl. oben, Anm. 3f., ferner Schaller [Anm. 12], S. 56f., und Bernd Ulrich Hukker, Kaiser Otto IV., Hannover 1990 (MGH Schriften 34), S. 8–21. Die Frage der Förderung volkssprachiger Literatur durch den Braunschweiger Hof Ottos IV. ist in unserem Zusammenhang ohne Belang; dazu Schaller, ebd., Bernd Ulrich Hukker, Literatur im Umkreis Kaiser Ottos IV., in: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller, Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 7), S. 377–406, und Otto Neudeck, Erzählen von Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung von Geschichte in mittelhochdeutscher Literatur, Köln [usw.] 2003 (Norm und Struktur 18), bes. S. 197–215.

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Das Pferd des Troubadours Ich beginne mit einem mirabile des dritten Buchs,15 das Gervasius mit der bezeichnenden Bemerkung einleitet, daß es Leute gebe, die an Erscheinungen (fantastica) nicht glaubten; Leute, die sich über einen Sachverhalt (materia) nicht wunderten, dessen Ursache (causa) sie nicht kennten. Dann erzählt er eine als besonders ›vergnüglich‹ (iocundus) eingeführte Geschichte, die in seiner Gegend, ja eigentlich beinahe in aller Welt (toti orbi) bekannt sei – dies wohl (zumindest:) auch, weil sie in jenen Kreisen spielt, die sie verbreitet haben werden. Giraldus de Cabreriis also (Guiraut de Cabreira), ein Ritter vornehmster Herkunft, im Kampf erprobt und von höfischer Eleganz (elegantia gratiosus), habe ein Pferd besessen, das ihm nicht nur aus jeder kriegerischen Bedrängnis geholfen habe; es habe ihm vielmehr auch – und das sei das eigentlich Faszinierende (quod sine exemplo mirandum fuit) – in allen Entscheidungsnöten beratend beigestanden, das Pferd war consiliosus. Giraldus habe es entsprechend behandelt, es Bonus Amicus genannt, ihm nur Weizen in silberner Schale zu essen gegeben und es auf einem Daunenkissen ruhen lassen. Niemand wisse, wie sich ihm das Pferd verständlich gemacht habe (ob durch Worte, Zeichen oder Bewegungen), aber selbst für seine Todfeinde habe absolut festgestanden (probatissimum fuit), daß Giraldus dem Pferd alle seine Erfolge in Rat und Kampf verdankte. Dem entsprechend sind übrigens beide zu Tod gekommen: Als einmal das Pferd zur Ader gelassen wurde und Giraldus deshalb ein anderes, langsameres reiten mußte, sei er von seinem eigenen, bestochenen Knappen ermordet worden. Sein Pferd Bonus Amicus aber habe keine Nahrung mehr zu sich genommen, sondern seinen Kopf gegen eine Wand geschlagen; so sei es – mirabiliter et miserabiliter – zu Grunde gegangen. Bewegt sich schon das bisher Berichtete ganz in der Gervasius und Otto gemeinsamen höfischen Vorstellungs- und Lebenswelt, so verdichten sich die Beziehungen noch in einer Episode, die nach Rat und Kampf auch noch den festlichen Rahmen höfischen Umgangs zur Geltung bringt und damit den historischen Berichts- und den aktuellen Rezeptionshorizont ineinander aufgehen läßt: Jener Ritter Giraldus war jung, angenehm im Umgang und heiter, er war in den meisten Musikinstrumenten ausgebildet und wurde von den Frauen begehrt. So war er einmal – man hat das Jahr 1167 erschlossen16 – in jenem pa15 16

Otia, III, xcii, ›De equo Giraldi de Cabreriis‹, S. 738–742. Ebd., Anm. 1 auf S. 738f.: Für 1167 ist ein Aufenthalt König Alfons’ II. von Aragon in Arles belegt, wie ihn Gervasius hier voraussetzt (vgl. anschließend), 1168 fiel die Grafschaft Provence an ihn (Alfons I. von Provence). – Die Angaben zur Lebenszeit des Giraldus (LexMA, Bd. 2, 1983, Sp. 1331: »† vor 1165«) und zur relativen Datierung seines sirventes-ensenhamen (Dictionnaire des lettres franc¸aises. Le Moyen Age, e´d. revue par Genevie`ve Hasenohr/Michel Zink, Paris 1992, S. 411: »vers 1160 ou 1170«; vgl. anschließend) gehen in den Handbüchern auseinander. In unserem Zusammenhang zählen nur die Umstände an sich, wie sie Gervasius (selbst überzeugt) berichtet.

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latium in Arles, das über das Erbe seiner Frau in Gervasius’ Besitz gelangt und ihm vom Kaiser (gegen Einreden) als Eigentum zugesprochen worden sei. Dort also spielte Giraldus damals die Fiedel – in Gegenwart des (inzwischen verstorbenen) Königs Alfons (II.) von Aragon († 1196) und seiner (Gervasius’) eigenen Schwiegermutter,17 einer Dame ersten Ranges, und unter den Augen vieler anderer Standespersonen. Die Damen führten einen Reigen auf, und das Pferd machte zum Takt der Saiten unvergleichliche Kapriolen (incomparabiles circumflexiones). Hier hält Gervasius inne: Quid plura? Und er gesteht seine eigene Ratlosigkeit ein: Quid dicam nescio. Damit gibt er aber – und gerade darauf kommt es mir an – die Erklärung des Ereignisses, des mirabile, frei. Zugleich zeigt er jedoch die Richtung an, in die eine Auseinandersetzung mit dem Berichteten gehen könnte: Habe es sich bei dem Guten Freund um ein richtiges Pferd (verus equus) gehandelt, woher hätte es dann Rat (consilium), Einsicht (intelligentia) und Treue (fides) gehabt? Sei es aber ein fadus, ein guter Geist, gewesen, wie die Leute behaupten, oder auch ein den Dämonen verwandtes Mischwesen, wie hätte es dann essen können? Hier öffnet sich ein Gesprächsraum, in dem ein faszinierender Vorfall oder Befund Erzähler und Hörer verbindet, die Spannung zwischen höfischer Lebenserfahrung und gelehrtem Wissen zum Austrag bringt und so – durch recreatio – Einsicht und Bildung vermittelt. Gervasius nimmt auf das Bewußtsein Ottos Einfluß, gestaltet dessen ›Innenraum‹ mit, indem er die Auseinandersetzung mit dem Erratischen der räumlich, zeitlich und sozial präzise verorteten einzelnen Ereignisse und wunderbaren Sachverhalte vor dem Hintergrund jener Ordnungen einfordert, in die er Otto in den ersten beiden Büchern eingeführt hat. Über die Person des Giraldus, der als Troubadour einen Namen hatte, Guiraut de Cabreira, war der höfische Umgang mit Dichtung präsent, ein literarischer Horizont, den gerade Guiraut in seinem sirventes-ensenhamen ›Cabra joglar‹ (1160/70) umrissen hat.18 In 142 Achtsilblern zeigt er dort, die der Gattung eigene Ambivalenz der Perspektiven nutzend,19 was einen guten ioculator auszeichnet: Welterfahrung durch Reisen, großes Wissen (gran saber), Kenntnis 17

18

19

Da die Ausgabe Leibniz’ socrus vestrae gab, wo Banks/Binns nun mit der vom Autor durchgesehenen Handschrift N socrus nostre lesen, gingen bisher alle Überlegungen fehl; noch Wilke [Anm. 21], S. 101, etwa geht davon aus, der Besuch habe 1191 stattgefunden und Gervasius selbst habe neben Alfons II. von Aragon die »Großmutter« des Kaisers, Eleanore von Aquitanien, zu Gast gehabt. Les genres lyriques, t. 1, fasc. 7, B: La lyrique occitane, dir. par Dietmar Rieger, Heidelberg 1990 (GRLM 2.1.7), S. 301–304. Benutzt in der Ausgabe von Franc¸ois Pirot, Recherches sur les connaissances litte´raires des troubadours occitans et catalans des XIe et XIIIe sie`cles. Les »sirventes-ensenhamens« de Guerau de Cabrera, Guiraut de Calanson et Bertrand de Pans, Barcelona 1972, S. 542–562. Die historisch wechselnden Positionen des Sirventes im Überschneidungsbereich von trobadoreskem und spielmännischem Gattungssystem beschreibt Dietmar Rieger, Das Sirventes, in: Les genres lyriques, t. 1, fasc. 4, B II: La lyrique occitane, dir. par Erich Köhler, Heidelberg 1980 (GRLM 2.1.4), S. 9–61.

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von Neuem und Begabung für instrumentale Musik, Gesang und Tanz wie die Kenntnis der epischen Stoffe von der großen Karls-Geste (la gran jesta de Carlon; 36) über den Troja-, den Alexander- und den Theben-Stoff, über Ovids ›Metamorphosen‹ und die ›Disticha Catonis‹ bis zu den Erzählungen von Artus, von Erec oder von Tristan und Yceut usw. Gervasius wußte sicher, von wem er sprach, als er seine ›weltbekannte‹ Geschichte erzählte, und bei Otto ist das wenigstens nicht auszuschließen. Beide waren Herrschaft und Kultur der Plantagenets verbunden.20

Gervasius, Otto und die ›Otia‹ Es ist an der Zeit, ein paar Worte mehr zu Gervasius und zu Otto zu sagen. So viel wir wissen, stammt Gervasius21 aus englischem Adel. Im Sommer 1177 war er Augenzeuge des Friedensschlusses zwischen Papst Alexander III. und Kaiser Friedrich Barbarossa in Venedig, vielleicht als Mitglied (oder jugendlicher Begleiter) einer englischen Delegation.22 Er hat Schulen besucht, bevor er am Hof Heinrichs II. lebte, vielleicht auch als Erzieher der Söhne tätig war. Jedenfalls schloß er sich dort Heinrich ›dem jungen König‹ an, für den er seinen verlorenen ›Liber facetiarum‹ schrieb. Später sind Studien und ein kanonistisches Magisterium in Bologna, dann Dienste an geistlichen und weltlichen Höfen belegt, an den Kurien von Reims und von Arles, an den Höfen Wilhelms II. von Sizilien und – als iudex – des Grafen Alfons (I.) von Provence. Alfons ist jener König von Aragon, der – als Dreizehnjähriger – Zeuge der Pferdedressur des Troubadours Guiraut gewesen sein soll. Als Gervasius, vielleicht anläßlich der Kaiserkrönung Ottos IV. in Rom (1209), bei der er anwesend war, den Titel eines kaiserlichen Marschalls im Arelat erhielt,23 war er längst in die proven20 21

22 23

Hucker [Anm. 14], S. 8–21; Ahlers [Anm. 2], S. 169–196. Den Wissensstand zu Gervasius fassen Banks und Binns in der Einleitung zur Ausgabe zusammen [Anm. 1], die allerdings die Auseinandersetzung Jürgen Wilkes, Die Ebstorfer Weltkarte. Bd. 1–2, Bielefeld 2001 (Veröff. des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 39), S. 96–122, mit Armin Wolf, Gervasius von Tilbury und die Welfen, in: Die Welfen [Anm. 14], S. 407–438, hier S. 411–427, noch nicht kannten. Die Kontroverse zwischen Wolf und Wilke um die Identität des Gervasius von Tilbury mit dem Propst Gervasius von Ebstorf und (damit eng zusammenhängend) die Urheberschaft an der Ebstorfer Karte (oder ihrer Vorlage) ist nicht beendet. Vgl. die Fortsetzung im Sammelband: Kloster und Bildung im Mittelalter, hg. von Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke, Göttingen 2006 (Studien zur Germania Sacra 28; Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 218) mit weiteren einschlägigen Beiträgen. Vgl. Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. xxvf. Als magister Gervasius in regno Arelati imperialis aule marescalcus bezeichnet ihn eine Urkunde vom Mai 1214, als er in Tarascon an einem Schiedsgerichtsverfahren beteiligt

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zalischen Führungsgruppen integriert. Seine Heirat mit einer Nichte Imberts von Aiguie`res, des Erzbischofs von Arles (1190–1202), seines ersten Dienstherrn dort,24 hatte ihm Zugang und sein palatium verschafft.25 Otto,26 der vielleicht schon als Kind am Hof seines englischen Großvaters von Gervasius wahrgenommen worden war, blieb in diesem Umfeld. Er wurde von seinem Onkel Richard Löwenherz 1196 zum Grafen von Poitou (und Herzog von Aquitanien) erhoben und dann von ihm zur Kandidatur für den deutschen Königsthron bewegt und dabei politisch und finanziell unterstützt.27 Gervasius kannte die Wechselfälle von Ottos Herrschaft im Reich genau: die Doppelwahl von 1198, die zögerliche Anerkennung durch Innozenz III. und Ottos Konzessionen im Neußer Eid (1201); die Koalitionen Ottos mit seinen englischen Verwandten bzw. Philipps von Schwaben mit dem französischen König; Ottos Niederlage von 1206 und seinen Machtverlust, dann die Wende durch die Ermordung Philipps und durch Ottos Verlobung mit Philipps Tochter Beatrix (1208), die den Ausgleich mit den Staufern erlaubte; auch den Höhepunkt seiner Macht nach der Krönung zum Kaiser 1209 und dann die Folgen seiner Auseinandersetzung mit dem Papst – die Formierung einer neuen staufischen Gegenpartei unter Einfluß des französischen Königs, die nach dem Tod von Ottos staufischer Gemahlin (1212) rasch zur Neuwahl Friedrichs II. zum deutschen König führt (Krönung in Mainz am 9. 12. 1212); und schließlich die Niederlage der englisch-deutschen Koalition in Bouvines gegen Philipp II. August am 12. Juli 1214, die Otto vollends um seine Anhängerschaft im Reich brachte. Gervasius betrachtet die Welt natürlich vom welfischen Standpunkt aus, freilich nicht ohne deutlich eigene Akzente zu setzen, umzuwerten und Otto in manchmal verblüffender Offenheit neue Handlungsperspektiven, ja konkrete politische Schritte anzuraten. Diese historisch-politische Weltsicht wird von Gervasius in den ersten beiden Büchern (oder decisiones) der ›Otia‹ entwickelt, die den mirabilia vorangestellt sind, deren Vermittlung das eigentliche Ziel bleibt (propositi nostri principium).28 Der komplexe Fall des Guirautschen Pferdes, der wohl zu reden gab, sollte zeigen, daß von den einleitenden Büchern

24 25

26 27 28

ist; vgl. Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. xxxi. Zu diesem Titel ausführlich Wilke [Anm. 21], S. 105–116. Nach III, lxxxvi, S. 724; vgl. Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. xxix. Die Herausgeber Banks und Binns wagen – auch aufgrund ihrer intensiven Beschäftigung mit den ›Otia‹ – eine farbigere Charakterisierung Gervasius’, die durchaus überzeugt; vgl. ebd., S. xxxviii. Vgl. jetzt auch ihren Beitrag ›The Intellectual Development of Gervase of Tilbury‹, in: Kloster und Bildung [Anm. 21], S. 347– 354. Vgl. zu ihm das erwähnte Buch von Hucker [Anm. 14]. Dazu Ahlers [Anm. 2], S. 169–196; zu den Beziehungen zwischen Otto IV. und Johann Ohneland S. 197–252. So in der prefatio zum dritten Buch, S. 558.

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mehr zu erwarten sein wird als nur die Möglichkeit, die nachfolgenden mirabilia zeitlich und räumlich einzuordnen, wie Gervasius wiederholt suggeriert, insbesondere in der prefatio zum Gesamtwerk: Er hatte ein libellum vor Augen, sagt er dort, per tres decisiones distinctum, in quo tocius orbis descriptio saltem in summa contineretur, prouinciarumque diuisio cum maioribus minoribusque sedibus, et sic singularia cuiusque prouincie mirabilia subnectere que fuisse mirabile, audisse apud ignorantes deliciosasque aures delectabile foret. (14)

In den ersten beiden Büchern konstruiert Gervasius vielmehr jenen ›Innenraum‹, in dem sich Otto umsehen und den er sich zu eigen machen soll. Hier vermittelt er jenes Bildungswissen, das Otto fähig machen wird, so zu urteilen und zu handeln, wie es seiner Stellung angemessen ist. Der wirkliche Anspruch der Konzeption wird schon in der prefatio deutlich, die Gervasius seinem Werk in der Form eines Briefes an den Kaiser voranstellt, so wie er sich im exitus operis in Briefform an den kaiserlichen Sekretär als den erhofften Vermittler der ›Otia‹ wenden wird. Das zentrale Thema des einleitenden Briefs (2–14) wird – gleich nach dem formellen Eingangsprotokoll – durch eine eigene Überschrift hervorgehoben. Schon dadurch erscheint dieser Abschnitt als Teil des durch sorgfältig bearbeitete Rubriken gegliederten Haupttextes.29 Das ist inhaltlich gesehen ähnlich: Die hier vorausgeschickte Collatio sacerdocii et regni – so der Titel – ist eine weit ausholende historisch-theoretische Abhandlung, die schließlich auf die quasi naturgesetzliche Unterscheidung zweier vergänglicher Reiche, des terrenum imperium (Ottos) und des imperium subceleste (des Papstes), der militans ecclesia, vom ewigen imperium celeste (Christi) hinausläuft. Aus dieser Perspektive kann Gervasius später immer neu und konkret entscheidungsorientiert eine kaiserliche Politik empfehlen, die der römischen Kurie nachgibt (ich komme darauf zurück). In der Schlußformel des Widmungsbriefes wünscht er Otto denn auch ein so glückliches Regiment hier, daß er damit dort die ewige Herrschaft mit Christus erwerbe.30 An den Kern der ›Otia‹ führt Gervasius in seiner prefatio aber anders heran; er sagt: Unter den ständigen Veränderungen unseres Lebens und unter den Schatten, die sie werfen, werde unser Geist (animus) mal erfreut, mal nachdenklich gestimmt, immer aber bewegt, selten ruhe er (12). Der Kaiser aber erkenne dabei gelegentlich klar jene in Saul durch den versuchenden Geist verursachte Anfechtung, die durch Davids Harfenklänge vertrieben oder doch gemildert worden sei. Da aber das beste Heilmittel für die natura fatigata sei, sich auf Neues einzulassen (novitates amare) und durch Vielerlei sich erfreuen zu lassen, 29

30

Von Autorkorrekturen an den Rubriken der Hs. N (Vat. Lat. 933) gehen aus Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. lxiv und lxxxii, wie schon James R. Caldwell, The Autograph Manuscript of Gervase of Tilbury (Vatican, Vat. lat. 933), Scriptorium 11 (1957), S. 87–98, hier S. 91. Zur Tradition siehe Hucker [Anm. 14], S. 121–124.

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wolle er, Gervasius, den Ohren des Kaisers etwas mitteilen, durch das sein Sinnen und Trachten erneuert werde (humana recreetur ocupatio; 14).31 Hier nun folgt die oben bereits angedeutete Vorgeschichte des Werks, das Gervasius schon für Ottos Onkel, Heinrich den Jüngeren (von England) nach dem ›Liber facetiarum‹ habe schreiben wollen. Das Buch habe schon damals drei decisiones umfassen sollen, eine knappe Beschreibung des Erdkreises, eine Übersicht über die Provinzen und Herrschaftssitze und daran anschließend einzelne mirabilia aus diesen Provinzen. Es sei schon wunderbar, daß es die mirabilia gebe, und erfreulich, von ihnen zu hören – für den, der sie noch nicht kenne und sie zu schätzen wisse. Wiederholt und eindringlich grenzt Gervasius aber schon hier sein Werk von der Unterhaltung durch mimi und ystriones ab, die zwar auch führende Kreise mit den virtutes Dei unterhielten, jedoch auf unwahre Weise, spiritu fallaci, per linguas mendaces. Sein eigenes Erzählen (narratio) dagegen sei fidelis, es beruhe auf den Büchern ›der Autoren‹ oder auf Augenschein und ließe sich – auf Reisen – täglich an Ort und Stelle nachprüfen (14). Alle in der prefatio angesprochenen Punkte – das Verhältnis von Kaiser und Papst, die Einteilung des Werkes, die rekreative Wirkung der Beschäftigung mit den mirabilia und die Abgrenzung von deren nicht-gelehrter Darstellung – werden wiederholt aufgegriffen, sie sind bestimmend für die Konzeption der ›Otia‹. Besonders deutlich wird das zu Beginn der dritten decisio.32 Hier erinnert Gervasius knapp an die Einteilung des Werkes und betont, daß die mirabilia die primordialis materia und causa des Unternehmens seien, dessen perfectio nun vom Gelingen seines Abschlusses abhänge. Sei doch der Anstoß zu seinem Vorhaben gewesen (propositi nostri principium), die mirabilia der verschiedenen Provinzen den empfänglichen Ohren des Kaisers so nahezubringen, daß er in hellen Stunden tätiger Muße etwas habe, wodurch er seine Vorstellungen erneuern könne: So wird man meditationes recreare (558) verstehen dürfen, auch wenn hier zunächst ein Vers aus den ›Disticha Catonis‹ als Leitbild beigegeben ist, der – schlichter – davon spricht, daß man gelegentlich durch Freuden seine Sorgen unterbrechen solle (Interpone tuis interdum gaudia curis).33 Denn die 31

32 33

Zur mittelalterlichen Theorie der recreatio, zur hygienischen, psychologischen und ethischen Bedeutung literarischer Unterhaltung, vgl. Glending Olson, Literature as Recreation in the Later Middle Ages, Ithaca/London 1982, bes. Kap. 1–3. Zum Ideal des homo facetus und des Erzählens im Kontext der facetia vgl. Gerd Dicke, Facetus, qui jocos et lusus gestis et factis conmendat. Der homo facetus in Mittelalter und Renaissance, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium, Hofgeismar 6.–10. September 2003, hg. von Nicola McLelland [u. a.], Tübingen 2008; Ders., Fazetieren. Ein Konversationstyp der italienischen Renaissance und seine deutsche Rezeption im 15. und 16. Jahrhundert, in: Literatur und Wandmalerei II: Konversation und Konventionalität. Burgdorfer Colloquium 2001, hg. von Eckart Conrad Lutz [u. a.], Tübingen 2005, S. 155–188. Otia, III, Incipit tercia decisio continens mirabilia uniuscuiusque prouincie, non omnia, sed ex omnibus aliqua, S. 556–562. Disticha Catonis rec. et app. crit. instr. Marcus Boas, opus edendum cur. Johannes Botschuyver, Amsterdam 1952, III, 6, 1, S. 159.

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novitas, die den menschlichen Geist anziehe, könne verschiedene Ursachen haben; Unerhörtes (inaudita) fasziniere uns, weil es die Gesetze der Natur durchbreche (ex mutatione cursus naturalis), weil wir seine Ursache (causa) nicht kennten, deren Sinn (ratio) sich uns entziehe; oder weil wir glaubten, Gewohntes variiert zu sehen, wo uns vielmehr die richtige Einschätzung (cognitio iudicii iusti) fehle. So gesehen könnten zwei Phänomene Bewunderung auslösen: miracula und mirabilia. Wunder (miracula) bewirke Gott unter Aufhebung der Naturgesetze (wie etwa bei der Jungfrauengeburt); mirabilia aber seien natürliche Erscheinungen, die wir nur nicht verstehen – ja, unsere Unfähigkeit, sie zu begründen, mache sie erst zu mirabilia (558).34 Damit ist aber zugleich evident, daß sich der Nutzen einer Mirabilia-Sammlung nicht in der Zerstreuung, der Ablenkung von Sorgen erschöpft: mirabilia fordern heraus, weil sie den Einsichtigen mit seiner ignorantia konfrontieren – mit einem Mangel an Kenntnissen der Schöpfung, deren Gesetze jedes mirabile zu sprengen scheint; mit einem Mangel an Beobachtungsgabe, die das Wunderbare erst als solches zu erkennen erlaubt. Wen erfülle es etwa mit admiratio, daß kaltes Wasser, das doch an sich alles kühle, von ungelöschtem Kalk ›entzündet‹ werde, während Öl den Kalk nicht wärme, obwohl es doch jedes Feuer nähre? Freilich verlören selbst Dinge aus Indien ihre Faszination, wenn man sie nur her bringe (560/562). Niemand möge daher das als fabulosa verurteilen, was er, Gervasius, schreibe, es seien nicht leere Worte, seine mirabilia seien verbürgt durch die veridica testificatio der auctores oder der Befunde selbst (terrarum). Seine miranda sollten die Lügengeschichten der mimi verdrängen, denen diese höchstens eine Spur Wahrheit beimischten (562). Gerade diese erneute und auch an dieser Stelle durch Wiederholung noch betonte Abgrenzung unterstreicht noch einmal den Anspruch des Autors, der sein Werk als gelehrtes Unterfangen versteht, Neugier wecken, Wissen mehren und Perspektiven ändern, kurz: Laien, und zunächst: einen bestimmten Fürsten bilden will. In diesem Sinn erklärt er zu Beginn des ersten Teils ausdrücklich, daß er seinem Werk, da hier wie bei jeder Sache der Anfang entscheidend sei (pars sit potentissima), als eine Art Präambel zu seiner Weltbeschreibung etwas zur Erschaffung, Einrichtung und Ausgestaltung der Welt vorausschicken wolle.35 Dies solle gerade so bemessen sein (sic mediocriter temperata), daß es ›Noch-Lernenden‹ (scioli) erlaube, die materia weiter zu ergründen, und dennoch Gelehrten (perfecte scientes) keine Langeweile verursachen müsse (18): 34

35

Vgl. Annie Duchesne, Miracles et merveilles chez Gervais de Tilbury, in : Miracles, ˆ ge. Congre`s Orle´ans 1994, e´d. par la Socie´te´ des prodiges et merveilles au Moyen A historiens me´die´vistes de l’enseignement supe´rieur public, Paris 1995 (Se´rie Histoire Ancienne et Me´die´vale 34), S. 151–156. Funktion und Vernetzung der mirabiliaSammlung in den ›Otia‹ geraten hier so wenig in den Blick wie in der ›Conclusion‹ von Andre´ Vauchez, ebd., S. 317–325, hier S. 323f. Otia, I, i, S. 18: quasi prolixioris tractatus preambula more cursorum.

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[...] sic mediocriter temperata quod materiam amplius inquirendi prestare poterunt sciolis et fastidium non debebunt generare perfecte scientibus. Enimuero imperialem decet celsitudinem ad instructionem fidei laborantem ut summatim nouerit quod in catholicis comprobet et confirmet et plantet, in hereticis quod reprobet, puniat, et euellat.

Was hier gilt, gilt für die ›Otia‹ überhaupt (und wird im Zusammenhang der Betonung der Bedeutung des Anfangs besonders unterstrichen): Das Werk ist gedacht für die gelehrte Lektüre am Hof, die Hofkleriker und semiliterate Laien einschließt, die scioli, deren Wissenwollen vor dem Hintergrund des durch Lektüre vermittelten Wissens- und Bildungshorizonts erlaubt, im Gespräch fragend und erwägend tiefer in die Zusammenhänge einzudringen (materiam amplius inquirere), sich gebildet zu geben und eine Bildung zu vertiefen,36 die als Voraussetzung guten fürstlichen Regiments verstanden wird.37 Und ausdrücklich betont Gervasius hier, daß das summarisch gebotene Wissen dem um die Glaubensunterweisung (instructio fidei) bemühten Kaiser erlaube, orthodoxe und häretische Auffassungen zu unterscheiden und für bzw. gegen sie einzutreten. Wirft man an dieser Stelle einen Blick auf das den exitus operis bildende Schreiben an den kaiserlichen Sekretär, den Propst und Domherrn Johannes Marcus,38 dann wird man die dort völlig beherrschende Bitte um dessen Vermittlung beim Kaiser zur Erhöhung des Verdienstes des Autors zumindest auch in übertragener Bedeutung lesen wollen: Johannes, dem Gervasius das Werk vorab überläßt (preoffero) zur Prüfung (probatio) und Weitergabe (oblatio) und dank dessen Vermittlungs- bzw. Deutungskunst (gratia interpretationis) es erst zur Geltung kommen soll, wird doch als der Gelehrte zu verstehen sein, der perfecte sciens, der Otto, dem sciolus, und dessen Umgebung zu einem Verständnis und Gebrauch der ›Otia‹ verhelfen soll, die das Werk erst eines Dankes wert machen.39 36

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Es ist natürlich abwegig, aus Bemerkungen des Gervasius, die davon ausgehen, daß Otto die ›Otia‹ werde vortragen hören, den Schluß zu ziehen, daß Otto des Lesens und Schreibens unkundig gewesen sei; so Schaller [Anm. 12], S. 56f. (und dies im Gegensatz zu Ottos Großvater, Heinrich II., von dem Schaller zu sagen weiß [56]: »Gerne zog er sich mit einem Buch in sein Zimmer zurück.«). Treffend charakterisiert hingegen schon H. G. Richardson, Gervase of Tilbury, History 46 (1951), S. 102– 114, hier S. 113, die gesellige Rezeption des Buchs im Kreis von »clerks« und »courtiers« als »fashionable entertainment«. Vgl. Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Leipzig 1938 (MGH Schriften 2); Hans-Joachim Schmidt, Spätmittelalterliche Fürstenspiegel und ihr Gebrauch in unterschiedlichen Kontexten, in: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Kolloquium 2004, in Verb. mit Wolfgang Haubrichs/Klaus Ridder hg. von Eckart Conrad Lutz, Berlin 2006 (Wolfram-Studien 19), S. 377–397. Otia, III, ›exitus operis‹, S. 824–826; zu Johannes Marcus vgl. die Introduction, ebd., S. xl. Von vergleichbaren Vorstellungen gehen wohl auch die Herausgeber aus, jedenfalls

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Die Ordnung der Otto zugedachten Welt Sehen wir uns nun wenigstens flüchtig die beiden ersten decisiones an, so wird tatsächlich rasch deutlich, daß deren Anspruch weit über das erklärte Ziel hinausgeht, die Zuordnung der mirabilia zu erlauben. Gervasius erinnert an die Aufteilung der Welt unter die Noachiden und fährt fort:40 habentque diuisiones ista, ut prelibauimus, particionum nomina, scilicet Asiam, Europam, et Affricam, quarum loca specialia per certas regiones, ciuitates et montes, maria ac flumina describere nostri propositi est, ut cum aliqua mirabilia cuilibet terre locoue assignabuntur, facilius habeatur locorum et ipsorum gestorum noticia.

Gervasius legt nicht nur besonderen Wert darauf, die Bausteine seiner Welt- und Erdbeschreibung zu bezeichnen und ihre Anordnung zu erklären und teils ankündigend, teils resümierend Zusammenhänge herzustellen; er setzt vielmehr immer wieder Räume und historische Abfolgen zum Kaiser in Beziehung. Dar-

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nehmen sie an, daß Otto »had it [sc. die ›Otia‹] read to him, for this seems to be how Gervase envisaged the work being presented to him.« Introduction [Anm. 1], S. xxxix. Wenn man freilich mit Michael Rothmann, Totius orbis descriptio. Die ›Otia imperialia‹ des Gervasius von Tilbury: Eine höfische Enzyklopädie und die scientia naturalis, in: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit, hg. von Christel Meier, München 2002 (MMS 78), S. 189–224, hier S. 189–191, als »ideale Rezeptionssituation« die Unterhaltung ansieht, zu der sich »im Winter die adlige Familie nach dem Essen vor dem Kamin« versammelt, werden die ›Otia‹ auf »Gervasius’ Beitrag zu diesen kalten Winterabenden« reduziert (199), sie werden zu bloßer »Unterhaltungsliteratur mit enzyklopädischem Charakter« (223). Wer mag, kann diesen Aufsatz unter verändertem Titel noch zweimal lesen, nämlich als: Mirabilia vero dicimus, quae nostrae cogitioni non subiacent, etiam cum sint naturalia. »Wundergeschichten« zwischen Wissen und Unterhaltung: der ›Liber de mirabilibus mundi‹ (›Otia Imperialia‹) des Gervasius von Tilbury, in: Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen, hg. von Martin Heinzelmann [u. a.], Stuttgart 2002 (Beiträge zur Hagiographie 3), S. 399–433 (mit neuem Vorspann auf S. 399–407), und als: Wissen bei Hofe zwischen Didaxe und Unterhaltung. Die höfische Enzyklopädie des Gervasius von Tilbury, in: Erziehung und Bildung bei Hofe. 7. Symposium der Residenzenkommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Celle 2000), hg. von Werner Paravicini und Jörg Wettlaufer, Stuttgart 2002 (Residenzenforschung 13), S. 127–156. Die zitierten Stellen auf S. 416 und 431 bzw. 135 und 155, letztere modifiziert zu: »höfische Bildungs- und Unterhaltungsliteratur [...]«. Der dreimalige Abdruck erfolgt ohne Hinweis. Besonders befremdet unter diesen Umständen die Anmerkung zum Titel des ersten (und nur des ersten) Abdrucks: »Der Beitrag entstammt bis auf wenige Ergänzungen dem Jahr 1996; die Forschung, auch die eigene, ist inzwischen vorangeschritten; [...].« Auch der jüngste, vierte Aufsatz Rothmanns besteht wenigstens zur Hälfte aus Übernahmen aus dem älteren: Michael Rothmann, Ex oculata fide et probatione cotidiana. Die Aktualisierung und Regionalisierung natürlicher Zeichen und ihrer Ursachen im ›Liber de mirabilibus mundi‹ des Gervasius von Tilbury, in: Kloster und Bildung [Anm. 21], S. 355–383, hier S. 369 u. 381. Otia, II, ii: ›De diuisione orbis tripertiti in summa‹, S. 176–180, hier 176.

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aus ergeben sich Konstellationen, die es erlauben, Ansprüche zu legitimieren und Handlungsperspektiven zu entwickeln. Und immer wieder greift Gervasius erklärend ein, folgert und erteilt konkreten Rat; dabei können schon hier (in den einleitenden decisiones) etwa die wunderbaren Eigenschaften von Landschaften zu machtpolitischen Argumenten werden. Solche Stellen prägen also Muster aus, die für den Umgang mit den mirabilia der Sammlung im dritten Buch Geltung beanspruchen können. Ich gebe zunächst Beispiele. Die zweite decisio beginnt nach der Sintflut mit der Aufteilung (divisio) der Welt in drei Kontinente und der Aufteilung der Geschichte in vier Weltreiche. Sie durchläuft dann beschreibend die drei Erdteile, ihre Provinzen und Staaten, bevor mit dem Untergang Trojas und der Verbreitung der Flüchtigen über Europa die abendländischen Reiche und ihre Herrscherfolgen in den Vordergrund treten. An der Nahtstelle sagt Gervasius: Nun, da er die drei Erdteile beschrieben habe und weil doch das Romanum imperium, das Otto regiere – ad quod te, serenissime imperator, Deus elegit –, das letzte der vier Weltreiche sei, wolle er kurz dessen (des römischen Reiches) Herkunft und die geschichtlichen Umstände seines Aufstiegs beschreiben.41 Diese Entwicklung aber läuft auf den kaiserlichen Rezipienten zu. Dessen (historische) Weltsicht und (politische) Verantwortung also sind es, die Gervasius erzählend konstruiert.42 Wenig später leitet er – mitten in der zweiten decisio – mit einem epilogus de operis continuatione zur Darstellung des regnum Britonum über.43 Er erinnert, daß er vom Fall Trojas ausgehend zur Gründung und Geschichte des römischen Weltreichs gelangt sei; auf den Untergang Trojas gehe freilich nicht nur das römische Kaiserreich zurück, das Otto regiere, sondern auch das Königreich Großbritannien, das ihn, Otto, hervorgebracht habe (denn seine Mutter sei eine Tochter Heinrichs II. gewesen); und auch das Königreich der Franken habe denselben Ursprung, über dessen aquitanischen Teil Otto (als Duc d’Aquitaine) regiert habe: drei Königreiche also, wie drei Söhne, die heilige Dreizahl der Trinität (felicis Trinitatis numero) erfüllend.44 So sei es gut, hier die Reihe der englischen Könige anzuschließen, damit der Kaiser in Erinnerung behalte, wie sie mit dem Kaiserreich und dem Königreich der Franken verbunden sei, aber auch, wodurch die englischen Könige und die Engländer selbst aus Ottos Sachsen hervorgegangen seien; schließlich auch, damit er, Otto (animus tuus), all das lieben, schützen und in seine Gedanken und Pläne einbeziehen werde (complectere), von dem er wisse, daß es mit ihm eines Ursprungs sei – omne id cuius radicem apud tuos noueris esse. 41 42

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Ebd., II, xiv, S. 350. Die meinem Beitrag beigegebene Tafel 1 veranschaulicht die fortgesetzte Einbindung des kaiserlichen Adressaten in die Darstellung – die Darstellung von Welt und Geschichte aus der Otto suggerierten Sicht und in ihrer Bedeutung für sein Urteil und sein Handeln. Am Ende des Kapitels II, xvi, S. 396. Zur Herkunft aus Troja jetzt Kellner, Ursprung [Anm. 7], S. 131–294.

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Wo Gervasius, etwas später, die Liste der fränkischen Herrscher wieder beim Untergang Trojas beginnen läßt und sie bis zu Karl dem Großen ausführt, der das römische Reich, das Otto jetzt regiere, wiederhergestellt habe, da betont er noch einmal, rückblickend, die zweifache Abstammung Ottos von den Sachsen bzw. Angeln, bis zu deren Herrschaft in England er nun die Reihe der britischen Könige heraufgeführt habe: Ottos Vater, Heinrich (der Löwe), und der Vater seiner Mutter, Heinrich II. von England, werden ausdrücklich genannt.45 Von Mutterseite sei Otto freilich auch mit den französischen Königen verwandt. Gervasius sagt dabei zwar, daß Graf Theobald (IV. von Blois-Champagne), der Großvater Philipps, des regierenden französischen Königs (Philipps II. August), ein Neffe von Ottos Ururgroßvater, König Heinrich I., gewesen sei, aber nachvollziehbar ist das nur unter der Voraussetzung sehr komplexen genealogischn Wissens.46 Hier wird also deutlich, wie wir uns den Gebrauch der ›Otia‹ vorzustellen haben werden: schon die Offenlegung und Begründung der Systematik, die Gervasius seiner Darstellung traditioneller Wissensbestände zugrundelegt,47 arbeitet dezidiert auf die Vernetzung der Wissensgebiete hin,48 zeichnet der 45 46

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Otia, II, xviii, S. 434/436. Die beigegebene Tafel 2 veranschaulicht den in den ›Otia imperialia‹ vorausgesetzten genealogisch-dynastischen Horizont, wobei hier nur drei Textstellen ausgewertet wurden: II, xvi, S. 396 (Ottos Verbundenheit mit England, Frankreich, Sachsen), II, xviii, S. 436 (Verwandtschaft Ottos mit Philipp II. August) und II, xviii, S. 452–454 (Ottos Anspruch auf die byzantinische Kaiserkrone). – Im Zusammenhang der genealogischn Überlieferung aus den Häusern der Welfen behandelt Kellner, Ursprung [Anm. 7], Gervasius (S. 297–393, hier 358–362), greift freilich zu kurz (359): In den ›Otia‹ werde »ein genealogischs Programm entworfen, das den Welfen Otto IV. als legitimen Erben des Kaiserthrons zeigen soll«; sie folgt damit Wolf, der den »historisch-genealogischn Ausführungen des Gervasius geradezu den Charakter eines juristischen Gutachtens über die Rechtmäßigkeit des Kaisertums Ottos von Braunschweig« beimißt [Anm. 21], S. 436; von beiden wird die Frage, was Programm bzw. Gutachten mit den Mirabilia zu tun haben mögen, gar nicht gestellt. Wolf gibt seinem Aufsatz eine »Verwandtschaftstafel« bei, in die viele der ›juristisch‹ relevanten Angaben der ›Otia‹ im Wortlaut aufgenommen sind (438). Es ist zwar völlig zutreffend, wenn Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], den enzyklopädischen Anteil der ›Otia‹ als »literary compilation« verstehen, die »provides an overview of the kind of ideas an educated person of his day might have about the world, and suggests the range of books which might pass through the hands of such an insatiable reader.« (xliv) Gervasius geht dabei aber nicht nur aufgrund von »additional information drawn from his personal knowledge« (xlv) über die Tradition hinaus, bringt nicht nur »personal opinions« (xlvii) und »a marked partiality for the Plantagenets« ein (ebd.), sondern konstruiert eben konsequent jenen ›Innenraum‹, jene auf Wissen und Bildung beruhende Weltsicht, die Otto sich – die ›Otia‹ hörend und besprechend – zu eigen machen sollte. Auf Rothmann [Anm. 39], S. 214, »wirken die direkt an Otto gerichteten Abschnitte seltsam unverbunden mit den übrigen Teilen.« Daher bleibt auch seine auf den ersten Blick einleuchtende Charakterisierung der ›Otia‹ als »höfische Enzyklopädie mit Bil-

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Schöpfung geographische Strukturen ein und macht Geschichte als Bewegung im Raum und als zeitlichen Ablauf zugleich anschaulich. In der Begründung und Tradierung von Herrschaft werden Räume und Zeiten dann zu politischen Größen, und verwandtschaftliche Beziehungen überspielen die starren Folgen der Herrscherlisten. Geographische, historische und genealogisch Vorstellungsräume vereinigen sich zu einem Bild der Welt, das der Komplexität des Lebens nahekommt und doch auf die vorgezeichneten Strukturen hin durchschaubar bleibt. Hier bedarf es nur des konkreten Anstoßes, um nachdenkend, fragend und erwägend, also im Gespräch, dieses Weltmodell in Bewegung zu setzen und Einsichten zu gewinnen, die bilden und damit handlungsfähig machen. Dem Text sind demnach diagrammatische Strukturen hinterlegt, bekannte, wie die Noachidenkarte, und neue, wie sie sich in meiner schematischen Wiedergabe der ottozentrischen Struktur des Textes (Tafel 1) oder – konventioneller – in der Darstellung der genealogischen Verhältnisse (Tafel 2) erkennen lassen. Freilich machen diese Schemata ›willkürlich‹ fest, was bei Gervasius im ständigen Wechsel von bekannten, konventionellen oder eigens konstruierten, neuen Ordnungsvorstellungen und ihrer Überwindung sich ereignet, sich vollzieht: Es ist ein gewissermaßen diagrammatisch gestütztes Erzählen. Es rechnet mit der Wirksamkeit gerade solcher Modelle, die kaum aufgerufen sich schon wieder verflüchtigen können, aber prägend bleiben, Denkvorgänge anstoßen, Erkenntnisprozesse auslösen.49 Die Relevanz des auf Otto zugeschnittenen dynamischen Weltentwurfs, den er sich zu eigen machen, in dem – als seinem mentalen ›Innenraum‹ – er sich denkend einrichten soll, wird da unabweisbar, wo Gervasius im Rahmen der Darstellung der Reihe der Römischen Kaiser nach Karl dem Großen bei Otto selbst anlangt, unter Bezug auf die Regentschaft Lothars Ottos Herrschaft als Wiederherstellung der legitimen Thronfolge versteht und dann die Stationen

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dungs- und Unterhaltungsanspruch [...], die auf ein höfisches Publikum zielt« (S. 219), völlig oberflächlich (vgl. dazu schon oben, Anm. 39). Das zeigt schon der dreimalige Abdruck desselben Beitrags unter ganz verschiedenen Titeln. Entsprechend in Rothmann, Mirabilia [Anm. 39], und Ders., Wissen [Anm. 39], S. 423 bzw. 148 und 427 bzw. 152 (hier jeweils »nicht klerikales« statt »höfisches«). Christel Meier, Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter, in: Text und Bild, Bild und Text. DFGSymposion 1988, hg. von Wolfgang Harms, Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien 11), S. 35–65; Eckart Conrad Lutz, Verschwiegene Bilder – geordnete Texte. Mediävistische Überlegungen, DVjs 70 (1996), S. 3–47; Ders., lesen – unmüezec wesen. Überlegungen zu lese- und erkenntnistheoretischen Implikationen von Gottfrieds Schreiben, in: Der »Tristan« Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela 2000, hg. von Christoph Huber und Victor Millet, Tübingen 2002, S. 295–315; Christel Meier, Die Quadratur des Kreises. Die Diagrammatik des 12. Jahrhunderts als symbolische Denk- und Darstellungsform, in: Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore, hg. von Alexander Patschovsky, Ostfildern 2003, S. 23–53.

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von Ottos Biographie aus prowelfischer Sicht beschreibt.50 Auch wenn er sie plastisch mit dem Neid des hostis anticus, mit den Drehungen des Glücksrads (fortune applausus; rota prosperitatis) oder mit dem Eingreifen Gottes (Dominus, omnium moderator et rector) in Verbindung bringt, muß er eben doch schließlich unumwunden den beinahe vollständigen Verlust der Macht konstatieren (466/468). Noch einmal setzt Gervasius nun hier beim Erbe Lothars an: Otto solle bedenken, daß dieser, sein Urgroßvater, sich das imperium von Innozenz II. übertragen ließ. Und mit großem Einfühlungsvermögen setzt Gervasius sich nun – im Anschluß an die grundsätzlichen Überlegungen der prefatio – mit möglichen Gedanken und Befürchtungen Ottos (si credis, si times usw.) auseinander, bevor er ihn schließlich zum Nachgeben zu bewegen versucht. Sein Argument ist dies: Otto möge es dem Papst überlassen, wen dieser als Kaiser anerkennen wolle – sei der Papst gut und Ottos Sache gerecht, werde das gerechte Urteil des Papstes Otto siegen lassen; auf jeden Fall entlaste aber Otto sich selbst und übertrage dem Papst die Bürde, gerecht zu sein (470). Die recreatio erweist sich hier als psychologisch kompetente, von Empathie getragene Beratung. Was sich hier aus der Beschreibung der konkreten Lage des regierenden Kaisers als guter Rat ergibt, ist nicht nur durch die prefatio theoretisch vorbereitet. Schon im vorausgegangenen Kapitel, wo Gervasius das französische Königtum und dessen Ursprung behandelt hatte (siehe oben), gab die Kaiserkrönung Karls durch Leo Anlaß zur Begründung des Prinzips, daß die deutschen Fürsten den Kaiser nur wählten, der Papst aber ihn bestätigen und weihen müsse. Er behalte auch die kaiserlichen Insignien in Rom.51 Gervasius bleibt allerdings nicht bei dieser (von Otto ja bisher nicht akzeptierten) Abhängigkeit stehen. Vielmehr sagt er, es scheine Gott in Otto die plenitudo ueteris imperialis dignitatis wiedervereinigt zu haben: Er sei doch nicht nur vom Papst gekrönt worden, er könne vielmehr – zur Wiederherstellung der antiken Größe des Kaisertums – auch das Regiment im byzantinischen Kaiserreich beanspruchen, das ihm aufgrund der Erbansprüche seiner Frau zustehe (452). Nicht mit dem Papst solle Otto sich streiten (precor itaque, Christianissime imperator ...; 452), sondern sich gegen die Heiden wenden und nach einem imperium novum streben, mit dem er auch vom Papst unabhängige Insignien erlangen werde (454). Der wenig später formulierte, vorhin zitierte Rat, auf die Gerechtigkeit des Papstes zu vertrauen, ist also nur als erster, praktikabler Schritt im Rahmen einer politischen Vision zu verstehen, über deren Ernsthaftigkeit (oder gar Umsetzbarkeit) hier nicht zu urteilen ist.52 Die Begründung des kaiserlichen An50 51 52

Otia, II, xix, S. 466–470. Ebd., II, xviii, S. 450. Dazu Schnith [Anm. 9]. Es gilt auch hier, was Kellner, Ursprung [Anm. 7], die genealogischn ›Rekonstruktionen‹ der Welfen an sich resümierend, zutreffend for-

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spruchs auf Byzanz freilich stimmt: Beatrix, mit der sich Otto nach der Ermordung ihres Vaters (und seines Gegners) Philipp von Schwaben verlobt und die er 1212 geheiratet hatte, war die Enkelin des byzantinischen Kaisers Isaak II. Dieser hatte Philipp zu seinem Thronfolger bestimmt, und über dessen Alleinerbin Beatrix, die nach nur dreiwöchiger Ehe mit Otto verstarb, ließ sich Ottos Anspruch auf Byzanz tatsächlich begründen.53 Man sieht jedenfalls gerade hier noch einmal deutlich, wie sich das von Gervasius geformte Wissen argumentativ nutzen läßt, wie es Urteilsfähigkeit begründet und Urteilsbildung – recreatio im besten Sinn – erlaubt.

Mirabilia – Verschriftung, Erzählen und Gespräch Kehren wir nun zu der Frage zurück, was Gervasius dazu bewogen hat, seiner über viele Jahrzehnte ergänzten Sammlung54 von mirabilia diesen Abriß der Weltkunde voranzustellen, der offenkundig schon in sich mehr leistet als eine schematische Erfassung der Welt über ihre Teile, Regionen und Orte, die Geschichte ihrer Reiche und die Listen ihrer Regenten. Es stellt sich damit zugleich die Frage, wie der ›Leser‹ über die Aneignung des Buches in die Welt Ottos und Ottos Wahrnehmung dieser Welt eingeführt wird oder – anders gesagt – wie die Auseinandersetzung mit dem Buch Ottos Wahrnehmung verändern sollte und welche Rolle dabei den mirabilia zufiel. Die Komplexität der politischen Fragen und Konzepte, die Gervasius in differenzierter, an verschiedenen Schnittstellen seiner Weltkunde je neu einsetzender Argumentation entfaltet, wird von den mirabilia in ihrer Vereinzelung selten erreicht – der komplexe Fall des tanzenden Pferdes in Arles hat Parallelen, aber viele mirabilia haben den schlichten Zuschnitt des von Gervasius als Beispiel erwähnten Kalk-Wunders. Was sie hingegen alle zu leisten vermögen, ist die Anregung zum Nachdenken, zur Suche nach neuen Erklärungen, nach Lösungen für das Rätselhafte im Vertrauen auf die Ergiebigkeit des Zeichensystems der Schöpfung, das sich dem Gebildeten eröffnet wie ein Buch. Schon in der zweiten decisio mündet die Beschreibung der Mittelmeerinseln über die mirabilia Siziliens, seiner Winde, Höhlen und Vulkane, in politische Überlegungen ein, die den Verzicht auf die Insel nahelegen (von deren

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muliert hat: »Verwandtschaft erscheint als dynamische Größe, deren Verläufe und Grenzen je nach den familiengeschichtlichen und politischen Anforderungen immer wieder re-konstruiert werden können.« (393) Vgl. wieder die genealogisch Tafel 2 im Anhang. Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. xxxix.

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Eroberung Otto 1211 nur der Abfall der deutschen Fürsten zu Friedrich II. abhielt). Hier schließt sich auch die strategisch begründete Aufforderung an, das Arelat dem Reich zu sichern.55 Und zu Beginn des ersten Buches gibt die vorangegangene Darlegung des Sechstagewerkes Anlaß zur Auseinandersetzung mit den häretischen Auffassungen der Albigenser.56 Andererseits können einige mirabilia im dritten Buch lange Ausführungen auslösen, etwa dem Kaiser die Unterbindung von Mißständen nahe legen, von Fehlverhalten beim Besuch der Messe etwa (dessen Beschreibung in einen knappen Laienspiegel übergeht)57 oder von sexueller Libertinage, die heimliche Umarmungen von Frauen und Mädchen als den eigentlichen Anreiz für ritterliche Auszeichnung versteht.58 Aber auch in Fällen, wo keine Nutzanwendungen formuliert werden, ist oft evident, daß hier Verstehensprozesse angestoßen werden sollen, die einen wachen, einen gebildeten und damit souveränen Umgang mit Erscheinungen und Anforderungen der eigenen Lebenswelt erlauben, einen Umgang, der immer zunächst ein mentaler und häufig ein colloquialer sein wird. Als Beispiel mag der vermiculus dienen, die auf den Kermeseichen des Mittelmeerraumes lebende Schildlaus, aus der man die Farbe für den kostbaren Scharlach gewinne, in den sich die Könige (!) kleideten.59 Orientierung ergibt sich aber offenbar auch da, wo wir spontan keinen Zugang sehen. Etwa, wenn Gervasius ausdrücklich und grundsätzlich daran erinnert, daß seine Geschichten in vielerlei Hinsicht Lehre und Mahnung bieten, um dann von einem Falkner des verstorbenen Königs Wilhelm von Schottland (den Ottos Großvater Heinrich II. einst gefangen nahm) zu berichten, daß er Vögel ganz ohne Falken, nur durch seinen Zuruf zu Fall zu bringen vermochte – nicht mehr, aber auch nicht weniger.60 Was Gervasius im dritten Teil seiner ›Otia‹ zur Verfügung stellt, läßt sich wohl – resümierend – als Sammlung von Gegenständen verstehen, die Gebildete neugierig machen, sie veranlassen soll, allein nachdenkend und – vor allem – gemeinsam im Gespräch nach Erklärungen zu suchen (oder zu verlangen), die dem mitgeteilten Neuen, Wunderbar-Rätselhaften seinen Platz im Gefüge der Schöpfung und des Wissens über sie zu geben vermögen und so das Wissen und 55

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Otia II, xii, ›De insulis Mediterranei maris‹, hier S. 338–342 – eine Überlegung, deren politische Weitsicht wiederholt gerühmt worden ist; vgl. z. B. schon Friedrich Baethgen, Das Königreich Burgund in der deutschen Kaiserzeit des Mittelalters [1942], wieder in: Ders., Mediaevalia. Aufsätze, Nachrufe, Besprechungen, Teil 1, Stuttgart 1960 (MGH Schriften 17), S. 25–50, hier S. 44f. Ebd., I, ii, ›Diuersitas opinionum et confusio Albiensium‹, S. 28–34. Ebd., III, lvii, ›De domina castri de Esperuer‹, S. 664–668: Hinc tibi, felix Auguste, doctrina sumenda est [...] (664). Ebd., III, xcvii, ›De ouo coruino supposito ciconie‹, S. 750–752: Intuere, felix Auguste, quantam doctrinam [...] licet sumere [...] (750). Ebd., III, lv, ›De uermiculo‹, S. 660–662. Ebd., III, lxxxiv, ›De aucipite regis Scotorum‹, S. 716.

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seine Ordnungen selbst validieren. Dabei ist offenbar auch da, wo befriedigende Erklärungen ausbleiben, aber die geistige Unruhe nicht nachläßt, das Ziel erreicht.61 Entscheidend ist, daß die Erzählungen dieser Sammlung – anders als es immer wieder geschehen ist und noch geschieht62 – mit dem gelehrten Wissen als Ordnungsrahmen verbunden bleiben, das Gervasius ihnen mitgegeben hat. Und umgekehrt bleibt dieses Wissen tot, solange es nicht durch Fragen in Bewegung gerät, durch Fragen, wie sie die mirabilia aufwerfen und zum Gegenstand gebildeter und bildender Gespräche werden lassen. Es ließe sich hier sicher an die Quodlibetica-Sammlungen der Enzyklopädien denken, von Isidor aufwärts, an Sammlungen von Exempla und Dicta, von Fabeln, an Bestiarien und Naturaliensammlungen, an Kunst- und Wunderkammern oder emblematische Kabinette, schließlich auch an die Konversationslexika, aber die spezifische Leistung der ›Otia‹ käme dabei zu kurz: das Konstruieren eines Wissens- und Bildungshorizontes von geradezu ›individuellem‹ Zuschnitt, eines dynamischen ›Innenraumes‹ in diesem Sinn, der durch die Aufnahme von Neuem in rekreativer, bildender Bewegung bleibt und bleiben soll, dessen Aneignung Urteil und Verhalten bestimmt, (höfisches) Leben ermöglicht.63 Gervasius hat unter seine mirabilia auch Elemente der Artus-Sage aufgenommen und das typisch-höfische abendliche Erzählen am Kamin gerade in diesem Zusammenhang wirkungsvoll ausgemalt (gesta antiquorum recensere, 670);64 und deshalb kennt ihn ja auch die Literaturwissenschaft. Sieht man seine Einschätzung dieser Motive als mirabilia und seine wiederholte Auseinandersetzung mit den mimi und ystriones zusammen, so wird klar, daß nicht nur stoffliche Elemente Gervasius mit dem höfischen Roman verbinden. Er gesteht den mimi ja durchaus zu, daß sie Neues, auch uirtutes Dei thematisierten (wie er selbst) (14). Aber ihr Erzählen ist von ihrer loquax garrulitas geprägt, bleibt befangen in den mendacia ihrer fabule (558), enthält höchstens eine Spur Wahrheit (paucitas ueritatis; 562). Gervasius’ eigene Leistung ist es, die uirtutes Dei 61 62

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[...] animus [...] semper mouetur, raro quiescit (›prefatio‹, S. 12). Bezeichnenderweise nicht in der handschriftlichen Überlieferung (mit der Ausnahme von W [15. Jh.], vgl. Banks/Binns, Introduction [Anm. 1], S. lxx), sondern in modernen Teileditionen und Teilübersetzungen bis heute, vgl. Anm. 1. Möglichkeiten und Grenzen ›individualisierender‹ Entwürfe im Bereich barocker Raumausstattungsprogramme zeigen anschaulich etwa Hartmut Freytag [u. a.], Gesprächskultur des Barock. Die Embleme der Bunten Kammer im Herrenhaus Ludwigsburg bei Eckernförde, Kiel 2001, und Barbara Kaiser, Schloss Eggenberg, Graz 2006, S. 97–197. Ebd., III, lix, ›De Wandlebiria‹, S. 669–672. Die Situation ist der weit ausführlicher beschriebenen bei Lambert von Ardres zu vergleichen; zu ihr Michael Curschmann, Höfische Laienkultur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Das Zeugnis Lamberts von Ardres, in: ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994, hg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien 17), S. 149–169.

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wahrheitsgemäß zu berichten, per fidelem narrationem (14). Das setzt die Abstützung auf den Bericht von Autoren oder von Augenzeugen voraus – ex ueteribus auctorum libris oder ex oculata fide –, vor allem aber ein Erzählen, das nicht voraussetzungslos erfolgt, sondern eben von einem umfassenden, gelehrten und doch auf den Kaiser (und den Hof) zugeschnittenen Wissens- und Bildungshorizont ausgeht. Ihn eröffnet Gervasius mit seinen ersten beiden decisiones und hält ihn durch die immer neue Einordnung der mirabilia in die Zusammenhänge des Wissens und die Erfahrungen des Lebens stets gegenwärtig. Worauf es ihm also ankommt, ist die Einbettung des Erzählens in anspruchsvolle Ordnungen, in Strukturen, die den Sinn von Schöpfung und Leben reflektieren. Und eben das sieht offenbar Chre´tien de Troyes nicht anders, wenn er sein Erzählen von Artus von dem der mimi absetzt:65 Der Stoff, der conte d’avanture (V. 13), enthält einen Wert, den das zusammenhanglose Erzählen der Berufssänger (cil qui de conter vivre vuelent; V. 22) nicht zur Geltung bringt (vgl. das Proverbium in V. 1–3), die li contes d’Erec [...] devant rois et devant contes zerstücken und verderben (depecier et corronpre suelent; V. 19–21). Den Wert des Stoffs erschließt erst Chre´tiens eigene, ihrem Anspruch nach gelehrte, sinnstiftende molt bele conjointure (V. 14), ein Erzählen, das die Fabel zur estoire macht (V. 23), die mimoire (V. 24) beanspruchen kann. Sieht man das so, dann kann sich auch unsere Vorstellung von der Rezeption höfischer Erzählliteratur an dem Modell orientieren, das Gervasius seinen ›Otia‹ einschreibt: recreatio durch eine gesprächsweise Aneignung, die neugierig-nachdenklich Unbekanntes mit Bekanntem verknüpft und Gelehrte ebenso wie (nur) höfisch Gebildete einbezieht. In diesem Sinn ist dann auch bezeichnend, wie zum Beispiel der ›Roman d’Eneas‹ seine Beschreibung Karthagos nutzt, um einen Exkurs über die Purpurschnecke einzufügen, der dem Abschnitt über das Scharlachwürmchen bei Gervasius in jeder Hinsicht entspricht; und das mirabile des afterlosen Krokodils, dessen Blut schwarzen Purpur liefere, folgt gleich darauf.66 Das Spektrum der Gegenstände, die der ›Eneasroman‹ zur Sprache bringt, schließt neben Historischem, Politischem, Rechtlichem und Religiösem, genealogischm und Höfischem auch Naturkundliches, auch mirabilia ein, und in anderen Erzähltexten (Alexanderroman, ›Herzog Ernst‹, ›Reinfried von Braunschweig‹67 usw.) ist 65 66 67

Chre´tien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide. Altfranzösisch /deutsch, hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987 (RUB 8360). Le Roman d’Eneas, hg. und übers. v. Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klass. Texte des romanischen Mittelalters 9), V. 471–496. Vgl. etwa Trude Ehlert, Alexanders Kuriositätenkabinett. Oder: Reisen als Aneignung von Welt in Ulrichs von Etzenbach Alexander, in: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, hg. von Xenja von Ertzdorff und Dieter Neukirch, Amsterdam /Atlanta 1992 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 13), S. 313–328; zu den sog. Kranichschnäblern im ›Herzog Ernst‹ vgl. Eckart Conrad Lutz, Wandmalerei und Texte. Zum kulturgeschichtlichen Erkenntniswert von Ausma-

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das nicht anders. Gerade wenn Heinrich von Veldeke68 diese Dinge zugunsten von Inszenierungen und Verhandlungen von höfischer Etikette und von Entfaltung psychologischen Raffinements (nicht nur im Bereich der Liebe) konsequent wegläßt, unterstreicht dies noch einmal das bei Gervasius (und anderen) beobachtete Interesse. Die ›Otia‹ sind also aufschlußreich, weil sie – in gar nicht so irritierender Weise – Weltkunde und Erzählkultur in einer anspruchsvoll gelehrten und zugleich dezidiert individualisierenden Form zusammenführen, Wissen, Fragen und Erwartungen des ersten Adressaten immer wieder vorwegnehmen, den Austausch zwischen Gelehrten und scioli am Hof thematisieren und zu beeinflussen suchen und so einen – idealtypischen – Umgang mit höfischem Bildungswissen erkennen lassen. Daß Gervasius wie Otto, Chre´tien oder der ›Roman d’Eneas‹ im weiteren wie im engeren Sinn für die englische Hofkultur stehen, die weit herum und in vielerlei Hinsicht prägend geworden ist, erhöht die Relevanz des an den ›Otia‹ ablesbaren Konstruierens von ›Innenräumen‹ als Voraussetzung von Bildung und höfischem Gespräch.

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lungen in Schweizer Profanbauten des Spätmittelalters, in: Geschichte in Schichten. Wand- und Deckenmalerei im städtischen Wohnbau des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationales Symposium 2000 in Lübeck, hg. von Annegret Möhlenkamp [u. a.], Lübeck 2002 (Denkmalpflege in Lübeck 4), S. 180–196, hier S. 190–192; Herfried Vögel, Naturkundliches im ›Reinfried von Braunschweig‹. Zur Funktion naturkundlicher Kenntnisse in deutscher Erzähldichtung des Mittelalters (Mikrokosmos 24), Frankfurt a. M. [usw.] 1990; ferner Elisabeth Schinagel-Peitz, Naturkundliches Wissen in lateinischen und deutschen Predigten des Spätmittelalters, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Internationales Symposium Berlin 1989, hg. von Volker Mertens und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1992, S. 285–300. Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar, hg. von Hans Fromm, Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 77; Bibliothek des Mittelalters 4).

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Eckart Conrad Lutz

407 Anschauung der Welt und vergnügliche Bildung

Bettina Bildhauer

Das Mittelalter als Innenraum – Kosmos, Kathedrale, Kino

›Im Weltinnenraum des Kapitals‹ teilt Peter Sloterdijk die Geschichte in drei große Epochen, in denen die Welt von einem Innenraum zu einem Außenraum und wieder zu einem Innenraum geworden sei. Die Alte Welt, das heißt Mittelalter und Antike, habe die Welt als einen Innenraum empfunden: als runde Erde im Inneren von konzentrischen kugeligen Himmelssphären, gleichzeitig im Mittelpunkt und am weitesten von den höchsten Himmeln entfernt. Sloterdijk stellt diesen Innenraum sowohl als imaginäre Schutzhülle dar, in der die moderne Sehnsucht nach Geborgenheit noch befriedigt gewesen sei, als auch als Hemmnis, aus dem die Moderne sich befreien konnte. In der Moderne habe jedenfalls die Kosmoskugel des Mittelalters die Himmelsschalen verloren und sei zu einem nach Entdeckung verlangenden Außenraum geworden, den man sich jetzt zudem aus der Vogelperspektive vorgestellt habe: Während im Kosmosbild der Antike die Erde paradox als die marginale Mitte eines für uns nur von innen her betrachtbaren Universums vorgestellt wurde, wird sie von den Modernen als eine exzentrische Kugel wahrgenommen, von deren Rundheit wir uns nur in äußerer Ansicht selbst überzeugen können.1

Die Moderne sei damit ein Ausbrechen aus dem mittelalterlichen Innenraum gewesen, durch die aktive Entdeckung, Erfassung und Umrundung der Erde gekennzeichnet. Für die Postmoderne, deren Beginn Sloterdijk meist zwischen den vierziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ansetzt, sei die globalisierte, komplett erforschte und durch Datenverkehr und Handel erschlossene Welt hingegen wieder zu einem Innenraum geworden, einem metaphorischen »Kristallpalast« oder »Weltinnenraum des Kapitals«. Der Weltinnenraum des Kapitals ist keine Agora und keine Verkaufsmesse unter offenem Himmel, sondern ein Treibhaus, das alles vormals Äußere nach innen gezogen hat.2

Wie früher von Himmelsphären sähen sich die Menschen jetzt wieder von einer Hülle umgeben, dem »Kristallpalast«, in dem sich nach dem Ende der Ge1

2

Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2005, S. 15. Ausführlicher behandelt Sloterdijk Mittelalter und Antike schon in Ders., Sphären, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1998–2004, bes. Bd. 2: Globen. Sloterdijk, Im Weltinnenraum [Anm. 1], S. 26.

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schichte im eigentlichen Sinne der kapitalistische Konsument gut behütet langweilen könne. Sloterdijks Metapher des die Erde umgreifenden Innenraums soll hier ein bestimmtes Raumverständnis und einen tatsächlich veränderten Raum wiedergeben: Nicht nur seien Distanzen tatsächlich dank moderner Fortbewegungs- und Kommunikationsmittel kleiner (d. h. schneller überbrückbar) geworden, sondern die postmodernen Menschen begriffen sich auch wieder als umgeben von (schützenden oder einschränkenden) Hüllen. Durch den zitierten Präzedenzfall des Mittelalters gewinnt seine These einer Postmoderne mit einem veränderten Raumgefühl an Plausibilität. Sloterdijks Vorstellung vom Mittelalter als Innenraum in einem dreischrittigen Geschichtsmodell hat eine lange, aber unerforschte Tradition, die hier ansatzweise skizziert werden soll. Prägende Kulturhistoriker von Burckhardt bis Benjamin haben sich auf diese räumliche Metapher gestützt, um die Unterschiede zwischen Mittelalter und Moderne zu beschreiben, und auch die mediävistische Fachliteratur verwendet sie seit dem neunzehnten Jahrhundert unkritisch. Während Historiker zögerlich akzeptiert haben, daß Geschichtsschreibung narrativen Mustern folgt, ist noch weitgehend unbeachtet geblieben, wie stark räumliches Denken die Geschichtsschreibung prägt.3 Zeit läßt sich kaum anders vorstellen als räumlich: entweder als Veränderung eines räumlich ausgedehnten Objekts, oder als Distanz zwischen zwei Punkten.4 Das Mittelalter erscheint dabei auf dem konventionellen Zeitstrahl als beidseitig begrenzter Zwischenraum zwischen Antike und Moderne. Diese Zwischenstellung ist dem Mittelalter definitionsgemäß eingeschrieben, seit Petrarca Mitte des 14. Jahrhunderts den Beginn eines neuen, wieder an die Antike anknüpfenden Zeitalters postulierte und die Zwischenzeit zu einem Mittel-Alter denigrierte und Christoph Cellarius 250 Jahre später dieses dreischrittige Geschichtsmodell in der deutschen Geschichtsschreibung verankerte.5 Die genaue Datierung der Epo3

4 5

Nach Karl Schloegel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, kündigt sich allerdings ein ›spatial turn‹ in der Geschichtschreibung an. Eviatar Zerubavel z. B. zeichnet verschiedene räumliche Vorstellungen von Zeit auf: Eviatar Zerubavel, Time Maps. Collective Memory and Social Shapes of the Past, Chicago 2003. Die postkoloniale Forschung lenkt ebenfalls momentan den Blick auf Räumlichkeit, und auch für das Mittelalter ist schon gezeigt worden, wie häufig es mit der räumlichen Ferne des Orients in eins gesetzt wird, z. B. John M. Ganim, Medievalism and Orientalism. Three essays on literature and cultural identity, Basingstoke 2005 (The New Middle Ages); The Postcolonial Middle Ages, hg. von Jeffrey Jerome Cohen, Basingstoke 2000 (The New Middle Ages). Siehe auch Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S. 262–266. Eine Übersicht über die verschiedenen Mittelaltermodelle der deutschen Geschichtsschreibung in der frühen Neuzeit findet sich bei Dieter Mertens, Mittelalterbilder in der frühen Neuzeit, in: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, hg. von Gerd Althoff, Darmstadt 1992, S. 29–54.

Das Mittelalter als Innenraum

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chengrenzen selbst ist dabei weniger wichtig als die Dreiteilung (der Beginn des Mittelalters wird meist zwischen 300 und 1000 angesetzt, das Ende zwischen 1300 und 1789). Wie viele Advokaten einer nach-modernen Epoche kann Sloterdijk bei diesem etablierten Dreierschema bleiben, indem er Antike und Mittelalter zur Vormoderne kombiniert, auf die dann Moderne und Postmoderne folgen. Daß dieser eingeschlossene Zeitraum zwischen Antike und Moderne als Innenraum nicht nur auf der zweidimensionalen Zeitleiste begriffen wird, sondern als wirklicher Innenraum, indem wie bei Sloterdijk dem Mittelalter ein Selbstverständnis als Innenraum mit den Merkmalen Stagnation, Eingeschlossenheit und Geschlossenheit zugeschrieben wird, das soll dieser Aufsatz zeigen. Obgleich dies ein international weit verbreitetes Mittelaltermodell ist, konzentriert sich dieser Beitrag auf wesentliche kulturhistorische und mediävistische Werke in deutscher Sprache.6 Dabei sollen sowohl Grenzen als auch Möglichkeiten dieses einflußreichen Modells aufgezeigt werden. Im Einzelnen werde ich im folgenden zunächst nachverfolgen, wie Forscher eine mittelalterliche Vorstellung vom Kosmos als Innenraum betonen und zur Unterstützung der These von der frühmodernen Entdeckung der Individualität verwenden. Dann stelle ich anhand der gotischen Kathedrale als eines weiteren paradigmatischen Innenraums dar, wie die retrospektiv statisch wirkende Zeit des Mittelalters auf das eigene Zeitverständnis des Mittelalters projiziert wird. Dies bedeutet paradoxerweise, daß man annimmt, daß moderne Individuen an dieser Zeitlosigkeit in gewissem Maße teilhaben können, und die traditionelle Vorstellung der räumlich-linearen Zeit sich damit selbst hinterfragt. Schließlich gehe ich Postulationen der Postmoderne insbesondere im Bereich der Filmtheorie nach, die wie Sloterdijk das Muster eines geschlossenen, statischen Innenraums und eines anschließenden Ausbrechens auf das Verhältnis zwischen Moderne und 6

Beispiele aus dem französisch- und englischsprachigen Raum nennen z. B. Elizabeth Emery/Laura Morowitz, Consuming the Past. The Medieval Revival in fin-de-sie`cle France, Aldershot [usw.] 2003 (z. B. Charles Morice und J. K. Huysmans als Autoren, die Gegenwart und Vergangenheit in der Kathedrale zusammenkommen sehen und die mittelalterliche Gemeinschaftlichkeit betonen); Bruce Holsinger, The Premodern Condition. Medievalism and the Making of Theory, Chicago [usw.] 2005 (z. B. Pierre Bourdieus von Erwin Panofskys Kathedralbegriff beeinflußtes Konzept des Habitus); und David Aers, A Whisper in the Ear of Early Modernists; or, Reflections on Literary Critics Writing the ›History of the Subject‹, in: Culture and History 1350–1600. Essays on English Communities, Identities and Writing, hg. von David Aers, New York 1992, S. 117–202. Es gibt auch das Gegenmodell des Mittelalters als unordentliche Auflösung moderner Zivilisation; beide werden mit vielen Beispielen dargestellt in Otto Gerhard Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995, hg. von Peter Segl, Sigmaringen 1997 (Veröffentlichungen des Mediävistenverbandes 2), S. 307–364.

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Postmoderne übertragen. Damit wird die Verknüpfung von Mittelalter und Innenraum gleichzeitig aufgelöst und wiederbelebt.

Kosmos und Individuum Die Vorstellung, das Mittelalter habe die Erde als Innenraum empfunden, das heißt meist als von den Sphären umschlossene Scheibe, und sei erst durch Kolumbus eines Besseren belehrt worden, gehört zu den weitestverbreiteten Gründungsmythen der Neuzeit. Eindrücklich verbildlicht wird diese Ansicht in dem in Geschichtsbüchern, Printmedien und im Internet vielfach reproduzierten Holzschnitt eines Renaissance-Menschen, der vom Rand der Erdscheibe aus endlich den Kopf aus der Käseglocke der mittelalterlichen Atmosphäre stecken kann.7 Horst Fuhrmann beschreibt diese mittelalterliche Raumvorstellung in seiner Einführung ›Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter‹ so: Wie hat man sich den irdischen Raum damals vorgestellt? In der Mitte des Kosmos liegt die Erde, meist als flache Scheibe auf dem Weltmeere schwimmend gedacht. Gegenfüßler, getrennt durch das Weltmeer, konnte es nicht geben, denn zu ihnen wäre das allen Menschen versprochene heilbringende Wort Gottes nicht gelangt. In der Mitte der Erde wiederum hat Jerusalem seinen Ort, irdisches Abbild der himmlischen zwölftorigen Gottesstadt, und hier auch stoßen die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika zusammen. Auf Weltkarten des Hochmittelalters sind die drei Kontinente von einem Kreis umschlossen.8

Laut Fuhrmann sei die Erde als rundum begrenzter und in sich geschlossener Innenraum imaginiert worden – als kreisrunde Scheibe, umgeben vom Weltmeer und dem kartographischen Kreis, vollständig vom Wort Gottes durchdrungen und Zentrum des Kosmossystems. Auch wenn Sloterdijk stattdessen eine mittelalterliche Erdkugel beschreibt, betont er dieselben Charakteristika eines endlichen, geschlossenen und homogenen Innenraums.

7

8

Siehe zu diesem Bild Hans Gerhard Senger, ›Wanderer am Weltenrand‹ – ein Raumforscher um 1530? Überlegungen zu einer peregrinatio inventiva, in: Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter, hg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer, Berlin/New York 1998 (Miscellanea Mediaevalia 25), S. 793–827; Jürgen Wolf, Die Moderne erfindet sich ihr Mittelalter – oder wie aus der ›mittelalterlichen Erdkugel‹ eine ›neuzeitliche Erdscheibe‹ wurde, Stuttgart 2004 (Colloquia Academica, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften: Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse 2004, Nr. 5), S. 6–10. Horst Fuhrmann, Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter. Von der Mitte des 11. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Göttingen 21983 (Deutsche Geschichte 2), S. 13, in zahleichen Neuauflagen und in dieser Fassung als aktuelles ›Cambridge Medieval Textbook‹ ins Englische übersetzt.

Das Mittelalter als Innenraum

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Wenn die mittelalterliche Welt als Innenraum dargestellt wird, kann der Übergang zur Neuzeit als ein Ausbruch, eine Horizonterweiterung begriffen werden. In Metzlers aktueller Einführung ›Deutsche Geschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart‹ stellt Hanna Vollrath die konventionellen Marker dieser Epochengrenze zusammen: Im allgemeinen Geschichtsbewußtsein aber sind es andere Daten und Ereignisse, mit denen in ihrer Zusammenfassung die Vorstellung vom ›Ende des Mittelalters‹ in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts verbunden ist: die Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453, die vielen Zeitgenossen das Nahen des Weltendes anzeigte, hatten die ›barbarischen‹ Völker aus dem Osten in der christlichen Endzeitlehre doch stets eine beherrschende Rolle gespielt. Mit der Entdeckung der ›neuen Welt‹ Amerika durch Columbus (1492) sieht man dann im Rückblick eine neue, die Grenzen des alten Europa überschreitende Weltorientierung eingeleitet. Vor allem aber verbindet sich mit der Reformation und der institutionell untermauerten Absage der Protestanten an die Alleinverbindlichkeit der Glaubenslehre von Papst und Römischer Kirche die Vorstellung vom Ende der alten römisch-christlichen Welteinheit.9

Diese vielgenannten Epochenschwellen – Fall von Byzanz, Entdeckung Amerikas, Reformation −, so macht diese Liste klar, sind nicht nur Vorstellungen von einem zeitlichen Ende, sondern auch von einer räumlichen Erweiterung der Horizonte zum Orient, nach Amerika und über die Kirche hinaus – einem Überschreiten der Schwelle zwischen Innen- und Außenraum. Auch die sonstigen oft genannten epochemachenden Veränderungen, wie die Entdeckung des Sonnensystems durch Kopernikus oder die Erfindung der Druckerpresse, werden oft als räumliche Dezentrierung oder Fragmentierung dargestellt. Die geographische Expansion fällt dabei in eins mit der geistigen Horizonterweiterung. Die Moderne kann dadurch unbegrenzt und beweglich erscheinen – egal, ob dies positiv als Dynamik, Flexibilität und Pluralismus bewertet wird oder negativ als transzendentale Obdachlosigkeit, Fragmentierung und Ziellosigkeit. Spätestens mit dem vorliegenden Band sollte klar sein, daß mittelalterliche Raumauffassungen in Wirklichkeit ebenso unterschiedlich und differenziert waren wie moderne und sich nicht auf ein monolithisches Selbstverständnis ›des‹ Mittelalters als Innenraum reduzieren lassen.10 In der mediävistischen Forschung ist außerdem mehrfach gezeigt worden, daß zumindest die Lesekundigen im europäischen Mittelalter durchaus wußten, daß die Erde eine Kugel ist.11 9

10

11

Hanna Vollrath, Deutsche Geschichte im Mittelalter, in: Deutsche Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Martin Vogt, Frankfurt a. M. 22003, S. 1–143, hier S. 112f. Siehe auch schon Aertsen/Speer [Anm. 7]; Medieval Practices of Space, hg. von Barbara A. Hanawalt und Michal Kobialka, Minneapolis 2000 (Medieval Cultures 23). Z. B. Hans Freyer, Weltgeschichte Europas, Stuttgart 21954, S. 475–494; Re´mi Brague, Geozentrismus als Demütigung des Menschen, Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1994), S. 2–25; Uta Lindgren, Die Tradierung der Lehre von der Kugelgestalt der Erde von der Antike zur frühen Neuzeit, in: Focus Behaim Globus.

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Vor allem Jürgen Wolf hat nachverfolgt, wie die Vorstellung einer Erdscheibe erst in der frühen Neuzeit aufkam (wohl als Folge einer Fehlinterpretation von zweidimensionalen Erdkarten), dann aber durch aufklärerische Propaganda erfolgreich der katholischen Kirche des Mittelalters angehängt wurde.12 Auch daß Entdeckungsreisen und Kolonialisierung nicht erst mit Kolumbus begannen, ist Fachkreisen bekannt.13 Aber dies ist weder ins allgemeine Bewußtsein durchgedrungen, noch, wie gesehen, in das aller Mediävisten. Die ästhetische Überzeugungskraft der räumlichen Vorstellung des Mittelalters als Innenraum, aus dem die Moderne aufbricht, muß zu groß sein. Interessanterweise wird die Vorstellung eines Ausbrechens aus dem Innenraum des mittelalterlichen Kosmos auch dazu benutzt, die bekannte These von der angeblichen »Geburt« oder »Entdeckung« des Individuums zu Beginn der Neuzeit plausibel zu machen. Während dieses Postulat oft als Teil einer Geschichtsschreibung in teleologischen oder genetischen Mustern dargestellt wird, ist es ebenfalls auf ein Denken in räumlichen Dimensionen zurückzuführen.14 Alles im kosmischen Innenraum des Mittelalters sei nach diesem Modell als Teil des Ganzen, Teil des göttlichen Heilsplans begriffen worden, nicht als selbständige, separate Einheit. Auch der Mensch, der in diesem geschlossenen Kosmos lebte, habe sich noch nicht als Individuum verstanden, sondern als Glied einer größeren Gruppe. Nachdem schon 1799 Novalis die Gemeinschaftsorientierung des christlichen Mittelalters mit der modernen Vereinzelung kontrastiert hatte, stammt die klassische Formulierung natürlich von Jacob Burckhardt (1860): Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte.15

12 13 14

15

Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 1992, Bd. 1, S. 127– 130; Hartmut Kugler, Hochmittelalterliche Weltkarten als Geschichtsbilder, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, hg. von Hans-Werner Goetz, Berlin 1998, S. 179–198. Zu mittelalterlichen Spekulationen über unendlichen Raum s. Edward Grant, Medieval and SeventeenthCentury Conceptions of an Infinite Void Space beyond the Cosmos, Isis 60 (1969), S. 39–60, und Aertsen/Speer [Anm. 7]. Wolf [Anm. 7]. Z. B. Cohen [Anm. 3]. Z. B. Linda Simonis, Genetisches Prinzip. Zur Struktur der Kulturgeschichte bei Jacob Burckhardt, Georg Luka´cs, Ernst Robert Curtius und Walter Benjamin, Tübingen 1998 (Communicatio 18). Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien: Ein Versuch, Leipzig 131922, S. 99. Obwohl sich sonst auch positiver über das Mittelalter geäußert hat, hat diese berühmte Passage den größten Einfluß ausgeübt, s. z. B. Evert Maarten Janssen,

Das Mittelalter als Innenraum

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In dieser schwierigen räumlichen Metapher eines bewußtseins- und sichtverhüllenden Schleiers vor dem eigenen Inneren und gleichzeitig vor der Außenwelt, der sich in der Renaissance auflöst, spricht Burckhardt noch lediglich von einem Sichtbarwerden eines schon vorhandenen Innenraums. Wie schon bei Jules Michelet ist dies eine simultane »Entdeckung« von Welt und Mensch, die mit dem Ende der Kollektivität einhergeht. Später wird diese Entwicklung auch so begriffen, daß ein Innenraum im Menschen erst zu existieren begonnen habe, als die kollektive kosmische Schale zerbrochen sei. Schon für Friedrich Nietzsche in seiner ›Genealogie der Moral‹ entsteht das Innere, die Psyche, räumlich, und zwar erst dann, wenn die Ausbreitung der Triebe nach außen behindert wird: Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: Damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine »Seele« nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist.16

Diese Behauptung einer zunehmenden Verinnerlichung geht in ihrer räumlichen Vorstellung eines Inneren über eine reine Metapher für größere Gefühlskontrolle hinaus. Obwohl Nietzsche sich scheut, diese erstaunliche Erweiterung des Inneren in einer konkreten historischen Epoche festzumachen, paßt sie zum Begriff vom Mittelalter als einer Welt, in der es noch keine individuellen Grenzen gegeben habe, in der der Mensch ungehindert Teil eines Ganzen gewesen sei, bis er in der Neuzeit auf sich selbst zurückgeworfen worden sei. Carl Gustav Jung bezieht eine solche Eröffnung eines psychischen Innenraums dann auch ausdrücklich auf den Übergang vom Mittelalter zur Moderne. In seinem Essay ›Das Seelenproblem des modernen Menschen‹ von 1928 charakterisiert Jung – »die Welt des mittelalterlichen Menschen« wieder mit den bekannten Stereotypen vom geschlossenen Kosmos mit der »Erde im Mittelpunkt der Welt, ewig fest und geruhsam, umkreist von einer sorglichen, wärmespendenden

16

Jacob Burckhardt und die Renaissance, Assen 1970 (Jacob-Burckhardt-Studien 1). Zum Unbehagen Burckhardts am modernen Individualismus s. Jürgen Grosse, Die letzte Stunde. Über eine Lebens- und Weltgeschichtsmetapher bei Jacob Burckhardt und Wilhelm Dilthey, DVjs 74 (2000), S. 654–684. Auch Ferdinand Tönnies, Norbert Elias, Charles Taylor, Susan Bordo und Harold Bloom vertreten die These der Entstehung der Individualität in der Moderne; auch Heidegger sieht den Beginn der Neuzeit als Trennung von Welt und Mensch, bei der der Mensch zum Subjekt und die Welt zum Objekt seiner Vorstellung wird: Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Ders., Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970, Bd. 5: Holzwege, Frankfurt a. M. 1977, S. 75–96, hier S. 87–94. Vgl. Otto Gerhard Oexle, Das entzweite Mittelalter, in: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, hg. von Gerd Althoff, Darmstadt 1992, S. 7–28; Holsinger [Anm. 6], bes. S. 12f., 72–75. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Stuttgart 1988, S. 76f.

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Sonne«,17 und den modernen Menschen als jemanden, der aus dem Innenraum des Kosmos ausbricht in die Weite: Der Mensch »ist erst dann ganz modern, wenn er zum äußersten Rande der Welt gelangt ist«.18 Jung glaubt wie Nietzsche, daß ein Innenleben nicht in allen Menschen vorhanden ist, sondern erst dann entsteht, wenn die Entfaltung nach außen behindert wird: Die Seele [liegt] nicht immer und nicht überall auf der inneren Seite [...]. Es gibt Völker und Zeiten, wo sie außen liegt. [...] Sobald nämlich äußerlich eine ideelle und rituelle Form existiert, in der alle Strebungen und Hoffnungen der Seele aufgenommen und ausgedrückt sind, also z. B. eine lebendige Religionsform, dann liegt die Seele außen, und es gibt kein Seelenproblem, wie es dann auch kein Unbewußtes in unserem Sinne gibt.19

Eine solche lebendige Religionsform, so erklärt Jung ausführlicher anderswo, habe es im Mittelalter gegeben; besonders der Gral habe als ein äußerliches Symbol die wesentlichen Spannungen der Zeit befriedigend ausdrücken können.20 Erst in der Moderne habe es darum Anlaß gegeben, »Strebungen und Hoffnungen« zu verinnerlichen und das Unbewußte und die moderne Seele seien als Innenraum entstanden. Obgleich dies nur Metaphern sein mögen, wären solche Thesen ohne diese konkret-räumliche Vorstellung eines individuellen Innenraums doch kaum verständlich. Wie wenig die Idee einer räumlichen Entstehung einer Seele auch heute überzeugen mag, so stellt sich die westliche Tradition doch immer noch Psyche, Identität, Gefühle oder Bewußtsein räumlich im Inneren des Körpers vor.21 Auch die Vorstellung, daß im Mittelalter vor Descartes Innen und Außen, Körper und Seele stärker eins gewesen seien und damit der individuelle Innenraum weniger ausgeprägt gewesen sei, ist sowohl in populärer Vorstellung als auch in der Fachwissenschaft noch verbreitet, ohne als räumliche Metapher enttarnt zu werden.22 Über hinaus verbindet Max Weber das Modell eines mittelalterlichen Innenraums und eines neuzeitlichen Außenraums nicht nur mit dem Kontrast zwischen Kollektivität und geschlossenen Individuen, sondern auch mit dem zwischen Statik und Beweglichkeit. In seinem bahnbrechenden Werk ›Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‹ benennt er als die epochemachende Neuerung des Protestantismus und Kapitalismus, daß im Mittelalter 17

18 19 20 21

22

Carl Gustav Jung, Das Seelenproblem des modernen Menschen, in: Ders., Seelenprobleme der Gegenwart. 7 Vorträge und Aufsätze, Zürich 1931 (Psychologische Abhandlungen 3), S. 401–435, hier S. 412. Ebd., S. 403. Ebd., S. 408. Carl Gustav Jung, Psychologische Typen, Zürich/Stuttgart 1921, Abschnitt 408f. Hermann Schmitz beschreibt diese ›Introjektion‹ aus phänomenologischer Perspektive kritisch in Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bd. 3,2: Der Gefühlsraum, Bonn 1969, bes. S. 6–19. Z. B. Caroline Walker Bynum, The resurrection of the body in Western Christianity. 200–1336, New York 1995 (Lectures on the history of religions 15).

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die Askese nur in einem Innenraum, der Mönchszelle, von einer exklusiven Gruppe von Menschen betrieben worden sei, während sie in der modernen Lehre Luthers auch von der Außenwelt erwartet werde: Jetzt trat sie [die christliche Askese] auf den Markt des Lebens, schlug die Türe des Klosters hinter sich zu und unternahm es, gerade das weltliche Alltagsleben mit ihrer Methodik zu durchtränken, es zu einem rationalen Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzugestalten.23

Indem der Innenraum der Klosterzelle aufbreche und gleichzeitig die Rolle der Kirche als Heilsvermittlerin in der lutheranischen Lehre zurücktrete, werde aber wieder jedes Individuum isoliert und schweife in seinem eigenen Raum umher: In ihrer pathetischen Unmenschlichkeit mußte diese Lehre nun für die Stimmung einer Generation, die sich ihrer grandiosen Konsequenz ergab, vor allem eine Folge haben: ein Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums. In der für die Menschen der Reformationszeit entscheidensten Angelegenheit des Lebens: der ewigen Seligkeit, war der Mensch darauf verwiesen, seine Straße einsam zu ziehen.24

Dies ist Teil von Webers berühmter ›Entzauberung‹, die er hier als Wandel von einer allumfassenden Gemeinschaft zu einem beweglichen Individuum darstellt.25 Während dieses historische Modell auch außerhalb der Raummetaphorik Sinn macht, verleiht diese Webers These doch größere Eindringlichkeit. Obwohl das Konzept einer mittelalterlichen Kollektivität ebenso wie das eines modernen Individuums oft hinterfragt worden ist, wird das nützliche, aber einseitige Klischee von der modernen Entstehung eines individuellen Innenraums aus der mittelalterlichen Kollektivität auch heute noch selbst in der Fachliteratur weiterverwendet.26 23 24 25

26

Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 17–206, hier S. 163. Ebd., S. 93f. Während Webers These in der Soziologie noch heute prägend ist, ist Walter Benjamins Postulat vom Verlust der Aura und der Erfahrung vor allem in den Kulturwissenschaften fast ebenso einflußreich. In ›Der Erzähler‹ beschreibt er, wie die Kunst des Erzählens in einer Gemeinschaft von Erzähler und Zuhörern im Sterben begriffen sei, da es den Menschen an Erfahrungen fehle. Während für Benjamin die reisenden und dann seßhaften Handwerker des Mittelalters die ideale Verbindung von Erzählern lokaler Traditionen und Abenteuern aus der Fremde verkörpern und damit die Kohärenz und Heimatzentrierung der mittelalterlichen Welt zeigen, fehle jetzt diese unmittelbare Erfahrung und Erzählgemeinschaft. Dieses »Individuum in seiner Einsamkeit« sei klar ein neuzeitliches Phänomen. Walter Benjamin, ›Der Erzähler‹. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Ders., Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theordor W. Adorno und Gersholm Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II,2, Frankfurt a. M. 1977, S. 438–465, hier S. 442f. Kritisch z. B. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998; Aers [Anm. 6]; Holsinger [Anm. 6]; Individuum und Individualität im Mittelalter, hg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer, Berlin/New

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Kathedrale als Innenraum Über das angeblich mittelalterliche Bild der Welt als Innenraum hinaus wird das Mittelalter oft (wenn auch nicht ausschließlich) mit den ummauerten Innenräumen von Städten, Burgen, Klöstern, Kerkern und in der Kulturgeschichte vor allem von Kathedralen assoziiert.27 Georges Dubys prägnante Bezeichnung des Hochmittelalters als »Zeit der Kathedralen« bringt die dem Dom zugemessene Bedeutung als Repräsentant des mittelalterlichen Zeitgeistes auf den Punkt.28 Dabei wird die Kathedrale traditionell als Abbild des Kosmos und damit als ein ebenso homogener, eingeschlossener und gemeinschaftsorientierter Innenraum beschrieben. Schon Leopold von Ranke vergleicht den »gotischen Dom« mit dem gegliederten »Ganzen« der Gesellschaft des 13. Jahrhunderts.29 Die kunsthistorische Forschung von Erwin Panofsky über Otto von Simson bis Norbert Nussbaum unterstreicht die kollektive Produktion der Kathedrale durch eine Gruppe von Baumeistern und Bauarbeitern; das angeblich mangelnde Interesse des Mittelalters an der künstlerischen Leistung einzelner Architekten; die kollektive Rezeption in der Gemeinschaft der Gläubigen; die Spiegelung der kosmischen Ordnung in der Kathedralarchitektur; die Einheit der lichtdurchfluteten Kathedrale, die die Einheit des neoplatonischen Kosmos widerspiegele; und betont darüber hinaus, daß die Kathedrale nicht auf einen individuellen Blickwinkel hin orientiert sei.30 Selbst herausragende Persönlichkeiten des Mittelalters wie der Kathedralenbauherr Abt Suger von St. Denis, erklärt Erwin Panofksy, hätten sich immer noch als Teil eines Ganzen verstanden:

27

28

29 30

York 1996 (Miscellanea Mediaevalia 24). Germanisten unterstreichen noch fast 150 Jahre später oft die kollektive Produktions- und Rezeptionsweise von Literatur und Kunst, die Betonung von Familie, Geschlecht und Feudalbindungen sowie die fehlende Individualität fiktionaler Figuren. In einem der jüngsten Sammelbände zum Thema mittelalterlicher Raum zum Beispiel befassen sich stillschweigend alle Beiträge fast ausschließlich mit Innenräumen, s. Hanawalt/Kobialka [Anm. 10]. Georges Duby, Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980–1420, Frankfurt 1992. Zur Dominanz der gotischen Kirche in der Kunstgeschichtsschreibung über das Mittelalter siehe auch Hans Holländer, Kunsthistorische Mittelaltervorstellungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Mittelalter und Moderne [Anm. 6], S. 279–288. Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Neunzehn Vorträge vor König Maximilian von Bayern, München 1917, S. 74. Abbot Suger. And its Art Treasures on the Abbey Church of St. Denis, hg. von Erwin Panofsky, Princeton, NJ 21979, S. 19–20; Norbert Nussbaum, Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik, Darmstadt 2002; Otto von Simson, The Gothic Cathedral. The Origins of Gothic Architecture and the Medieval Concept of Order, New York 2 1965. Ebenso sieht Bourdieu die Kathedrale als überindividuell und erklärt dies mit seinem Habitus-Konzept, s. Holsinger [Anm. 6], S. 99f.

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Doch besteht ein grundlegender Unterschied zwischen der Ruhmsucht des Renaissance-Menschen und Sugers kolossaler, aber in gewissem Sinne tief demütiger Eitelkeit. Der große Mann der Renaissance behauptete seine Persönlichkeit sozusagen zentripetal: Er schluckte die ihn umgebende Welt, bis seine gesamte Umwelt von seinem Selbst aufgenommen worden war. Suger behauptete seine Persönlichkeit zentrifugal: Er projizierte sein Ego in die ihn umgebende Welt, bis sein ganzes Selbst von seiner Umwelt aufgenommen worden war.31

Das Renaissance-Individuum als Innenraum steht hier wieder der mittelalterlichen Welt als Innenraum gegenüber. Auch der ›Rezipient‹ einer Kathedrale sei nicht als Individuum gedacht worden, so Walter Benjamin in seinem vielzitierten Aufsatz ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹. Diese Kirchen seien auf einen überindividuellen Blickwinkel ausgerichtet gewesen: »Gewisse Skulpturen an mittelalterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebner Erde nicht sichtbar.«32 Dies sei typisch für die rituelle Kunst aller vergangenen Epochen, aber, wie die Abhandlung ›Über das Mittelalter‹ erkennen läßt, ist dies für Benjamin auch Ausdruck des angeblich beschränkten, eingeschlossenen Weltbilds des Mittelalters: Wie die Entfaltung des gotischen Stils nur in der drangvollen Enge mittelalterlicher Städte möglich war, so auch nur unter einer Weltansicht, die gewiß ihrem absoluten Größenmaßstab nach kleiner gezirkelter als die der Antike, auch als die unsere, gewesen ist.33

In dieser formalistischen »verkleinerten Welt« sei der Zugang zur breiteren Perspektive des Absoluten verstellt gewesen. Diese mangelnde Perpektive wird häufig natürlich nicht nur der Kathedrale bescheinigt, sondern auch der mittelalterlichen Malerei und Zeichnung. Die verbreitete kunstgeschichtliche Definition des Beginns moderner Malerei mit der sogenannten Entdeckung der Perspektive in der Renaissance beruht wieder auf dem Klischee der beschränkten und statischen Räumlichkeit des Mittelalters, und auf der Vorstellung, daß individuelles Innenleben im Mittelalter noch nicht existiert habe, so daß das äußere Abbild eines Menschen sein Inneres widergebe und alles im Mittelalter sichtbar gewesen sei.34 Sie wird uns unten noch in ihrer Verwendung in der Filmtheorie beschäftigen.

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33 34

Panofsky [Anm. 30], S. 29f., meine Übersetzung. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders., Gesammelte Schriften [Anm. 25], Bd. 1,2, Frankfurt a. M. 1974, S. 431– 470, hier S. 443. Walter Benjamin, Über das Mittelalter, in: Ders., Gesammelte Schriften [Anm. 25], Bd. 2,1, Frankfurt a. M. 1977, S. 132f., hier S. 133. Zur Sichtbarkeit des Mittelalters siehe z. B. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 122006 (Körners Taschenausgabe 204).

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Wie das Ausbrechen aus dem Kosmos wird auch das Ausbrechen aus der Kathedrale zur Definition des Beginns der Moderne genutzt. Der Ausbruchsmetapher entsprechend ist es nicht nur der Übergang zu einem neuen Baustil, der die Moderne definiert, sondern auch die Zerstörung der Kathedralen in den Bilderstürmen der Reformation und der französischen Revolution. C. G. Jung hebt die »Inthronisation der De´esse Raison in Notre Dame« als Zeitenwende parallel zum Übergang zwischen Antike und Mittelalter hervor.35 Hans-Jürgen Syberberg spricht ebenfalls von der Zerstörung der Kathedralfiguren der Notre Dame als dem »Ende einer Kultur und dem Anfang dieser Epoche des Endes«.36

Zeit als Innenraum Paradoxerweise führt die Vorstellung vom Mittelalter als Innenraum dazu, daß die lineare und räumliche Geschichtsschreibung hinterfragt oder zumindest abgewandelt werden kann, sich sozusagen selbst dekonstruiert. Zunächst zieht die Vorstellung eines unbeweglichen Innenraums nach sich, daß die mittelalterliche Zeit als stillstehend dargestellt wird und damit gerade Alternativen zu einem linearen, räumlichen Geschichtsverständnis bietet. Daß viele mittelalterliche Menschen ein komplexes Bewußtsein von persönlicher und allgemeiner Geschichte und Zukunft hatten, zeigen zum Beispiel einschlägige Untersuchungen zur mittelalterlichen Historiographie.37 Aber mit der Behauptung eines anderen Raum- und Subjektverständnisses im Mittelalter geht die Behauptung eines anderen Zeitverständnisses einher. Wenn die mittelalterlichen Menschen sich angeblich als Teil eines größeren Ganzen erlebten, dann kommt den individuellen, zeitlichen Grenzen von Geburt und Tod weniger Bedeutung zu. Charles Homer Haskins monierte schon in den 1920er Jahren, daß das Mittelalter oft als eine einzige lange Epoche gesehen werde, in der Zeit stillstehe.38 Dies ist aber in der Zusammenfassung dieser fünf oder zehn Jahrhun35 36

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Jung [Anm. 17], S. 419. Hans-Jürgen Syberberg, Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege, München 1990, S. 69. Benjamins Aufsatz über James Ensors Stich ›Le cathe´drale‹ stellt die gotische Kathedrale ebenfalls ihrer Zersetzung in moderne Massen gegenüber. Walter Benjamin, James Ensor wird 70 Jahre, in: Ders., Gesammelte Schriften [Anm. 25], Bd. 4,1, S. 565–567, hier S. 567. Z. B. Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, Berlin 1999 (Vorstellungswelten des Mittelalters 1). Charles Homer Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge, MA 1927, S. 4. Siehe auch Otto Gerhard Oexle, ›Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins‹. Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Denken des Mittelalters und das Problem ihrer Deutung, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahr-

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derte zu einem einzigen Zeitalter in gewissem Maße schon impliziert, denn epochemachende Veränderungen kann es per definitionem erst mit Beginn der Moderne geben.39 Diese Zeitlosigkeit wird auch auf das Selbstverständnis des Mittelalters projiziert. Da man geglaubt habe, daß mit Christi Geburt das sechste und letzte Weltalter begonnen habe, seien bis zum Jüngsten Tag keine grundlegenden Veränderungen mehr erwartet worden. Als maßgeblich für eine angenommene einheitliche mittelalterliche Mentalität gelten dabei Theologen wie Augustinus von Hippo, Hugo von St. Viktor, Hildegard von Bingen und Joachim von Fiore, für die Zeit nur ein unbedeutendes Vorspiel zur Ewigkeit und Geschichte immer schon auf die Erlösung und das Jenseits bezogene Heilsgeschichte gewesen sei. Aber auch aus weltlicher Perspektive sei die Zeit im Mittelalter, in dem sich von Jahr zu Jahr so wenig geändert habe, als stagnierend empfunden worden. Dies wurde zum Beispiel 1912 von Karl Lamprecht in einer maßgeblichen historiographischen Studie so formuliert: Da das gewöhnliche Leben in harter Bindung von Generation zu Generation fast unterschiedslos dahinlief oder wenigstens dahinzulaufen schien, so konnte von einem Verständnis wechselnder Zustände und damit von einem intimen Verständnis geschichtlicher Vorgänge noch nicht die Rede sein.40

Pierre Nora und seine Schule postulieren ebenfalls, daß im Mittelalter Erinnerungen und Geschichte noch ein selbstverständlicher Teil der Gegenwart gewesen seien, während die Moderne besondere Erinnerungsorte brauche, um Vergangenes erreichbar zu machen. Auch die Kathedrale wird oft als erhaben über die vergehende Zeit dargestellt. Dies sei wiederum schon im Mittelalter so gesehen worden, unterstreichen Kunsthistoriker wie Erwin Panofsky, Otto von Simson oder Michael Camille vom 19. Jahrhundert bis heute.41 Dome seien bewußt als räumlich und zeitlich unbeweglich wie der Kosmos geplant worden: als Modelle des ewigen Kosmos, alldurchdrungen vom göttlichen Licht, als Abbilder der ewigen himmlischen Stadt und als Idealbilder des Universums, wie es vor dem Sündenfall war. Friedrich Ohly faßt dies in seiner Analyse des Doms von Siena als räumlich vergegenwärtigte Heilsgeschichte so zusammen: »Im Mikrokosmos der Kathedrale ruht die Ewigkeit wie ein Tag.«42 Christian Kiening zitiert

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nehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner, Sigmaringen 1994, S. 45–70. Siehe auch Jo Tollebeek, ›Renaissance‹ and ›fossilization‹: Michelet, Burckhardt, and Huizinga, Renaissance Studies 15.3 (2001), S. 354–366. Karl Lamprecht, Einführung in das historische Denken, Leipzig 1912, S. 10. Siehe auch Benjamin [Anm. 32], S. 449f. Simson [Anm. 30], z. B. S. 35, 37; Panofsky [Anm. 30]; Michael Camille, Gothic Art. Visions and Revelations of the Medieval World, London 1996. Friedrich Ohly, Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum Dom von Siena, in: Ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 171–273, hier S. 254.

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Ohlys Aufsatz zustimmend und nennt den mittelalterlichen Kirchenraum ganz ähnlich einen »Zeitenraum, der in der Vertikale und der Horizontale Geschichte und Heilsgeschichte aufspannt und in der Bewegung durch den Raum erfahrbar macht.«43 Horst Wenzel spricht vom mittelalterlichen Kirchenbau als »Aufführungsraum christlicher Gedächtnisrituale«, »angefüllt mit Reliquien [...], die als tatsächliche oder vermeintliche Spuren der Vergangenheit den Abstand der Zeiten überbrücken und die Präsenz des Heilsgeschehens demonstrieren«.44 Michael Camille beschreibt die Kathedrale ebenfalls als zeitenübergreifenden Innenraum, als Teil einer »ganz anderen Zeitlichkeit, eines eschatologischen Rahmens, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oft zusammenfielen«.45 Wieder ist die Darstellung der Kathedrale als zeitübergreifenden Innenraum nicht falsch, aber einseitig, und vernachlässigt unter anderem sowohl ähnliche Raum- und Zeitauffassungen in der Moderne als auch andere Kathedralauffassungen im Mittelalter, die die Theorie der Kathedrale als ewiger Kosmos bezweifeln lassen.46 Gleichzeitig eröffnet sie aber die – nostalgische oder avantgardistische – Möglichkeit, an dieser postulierten alternativen Geschichtlichkeit teilzuhaben, gerade weil die Zeit des Mittelalters im Innenraum der Kathedrale noch immer stillstehe. Die Kathedrale, so wird betont, mache die allübergreifende Heilsgeschichte nicht nur für den mittelalterlichen Betrachter gegenwärtig, sondern in einer punktuellen Rückkehr auch für den modernen. Anders gesagt stehe im Dom die Geschichte doppelt still, einmal in dem die Weltgeschichte präsent machenden Bauprogramm und einmal, indem das Mittelalter hier noch fortdauere. Johannes Bühler beschreibt dies 1931 in einem altertümlichen Stil, der den Fortbestand des Mittelalters sogar bis in den Text hineinzutragen versucht: Es ist etwas anderes in künstlerischer und vielleicht auch religiöser Ergriffenheit vor dem Parthenon auf der Akropolis zu stehen als in dem mystischen Halbdunkel des Kölner Domes zu verweilen. Da erklingt mit hellem Tone ein silbern Glöcklein, eine 43 44 45

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Christian Kiening, Zeitenraum und mise en abyme. Zum »Kern« der Melusinegeschichte, DVjs 79 (2005), S. 3–28, hier S. 4. Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 11 und 101. Camille [Anm. 41], S. 71, meine Übersetzung. Syberberg behauptet ebenfalls, daß in den Kathedralfiguren alttestamentarische und neue Könige auf einer raumzeitlichen Ebene ko-existieren, Syberberg [Anm. 36], S. 69. Zur Kritik der etablierten Version siehe Wilhelm Schlink, The Gothic Cathedral as Heavenly Jerusalem: A Fiction in German Art History, in: The Real and Ideal Jerusalem in Jewish, Christian and Islamic Art. Studies in Honour of Bezalel Narkiss on the Occasion of his Seventieth Birthday, hg. von Bianca Kühnel, Jerusalem 1998 (Jewish Art 23–24), S. 275–285; Günther Binding, Die neue Kathedrale. Rationalität und Illusion, in: Aufbruch – Wandel – Erneuerung. Beiträge zur »Renaissance« des 12. Jahrhunderts. 9. Blaubeurer Symposion vom 9. bis 11. Oktober 1992, hg. von Georg Wieland, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 211–235.

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in Gewande eines früheren Jahrtausends gehüllte Gestalt hebt die weißschimmernde Hostie hoch, vor dem Altar fallen Männer und Frauen in die Knie und bekreuzigen sich: Mittelalter und Gegenwart.47

Im Innenraum der Kathedrale sei das Mittelalter sozusagen konserviert, meint Bühler, und deshalb in doppeltem Sinne noch erfahrbar: weil die Zeit im Mittelalter stillgestanden habe, und weil die zeitliche Distanz zum Mittelalter in der Kathedrale überbrückt werden kann. Auch für Simson negiert das Überleben der Kathedrale die Epochenschwelle und hält die vormoderne Vergangenheit präsent: Kein anderes Monument einer von der unseren radikal verschiedenen Kultur ist so sehr Teil des heutigen Lebens wie die Kathedrale. Wir mögen uns der mittelalterlichen Zivilisation nicht näher fühlen als dem alten Griechenland oder Ägypten, ja, unsere moderne Welt entstand ja erst als im Aufstand gegen die intellektuelle Ordnung des Mittelalters. Aber die gotische Kathedrale, der Ausdruck dieser Ordnung, ist heute noch intakt und in Gebrauch; sie ist nicht die romantische Ruine einer unerreichbaren Vergangenheit, sondern immer noch die Mitte fast jeder europäischen Stadt und, in fragwürdigen Imitationen, auch vieler amerikanischer Städte.48

Das Mittelalter mit seiner Ordnung sei in der Kathedrale noch lebendig; sie transformiere sogar den Außenraum der modernen Stadt zurück zu einem zentrierten, hierarchisch geordneten, mittelalterlichen Innenraum. Noch für Pierre Nora und seine Schule fungiert der Dom ebenfalls in der zeitübergreifenden Funktion, die er im Mittelalter gehabt habe, als wesentliches Modell eines sogenannten Erinnerungsortes.49

Kino und Moderne als Innenraum Das Modell des Mittelalters als Innenraum unterminiert sich und die ihm zugrundeliegende linear-räumliche Vorstellung von Zeit auch dann, wenn es auf andere Epochen übertragen wird. Dies ist vor allem in Theorien einer nachmodernen Epoche der Fall, in denen jetzt entweder die Moderne oder die Postmoderne als Innenraum erscheinen kann. Wieder wird oft gerade die Kathedrale 47 48 49

Johannes Bühler, Die Kultur des Mittelalters, Leipzig 1931 (Körners Taschenausgabe 79), S. VII. Simson [Anm. 30], S. xvii; meine Übersetzung. In der englischen Version von Noras ›Lieux de me´moire‹ zum Beispiel hat die Kathedrale einen Ehrenplatz als eines der drei Modelle für Geschichte (zusammen mit Land und Hof) und wird als einführendes Beispiel eines Erinnerungsortes benutzt; Nora vergleicht sogar sein gesamtes Projekt mit einer Kathedrale, s. Pierre Nora, Preface to the English-Language Edition, in: Ders., Realms of Memory. The Construction of the French Past, Bd. 1: Conflicts and Divisions, New York 1996, S. xv-xxiv, hier S. xix.

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als Verkörperung des mittelalterlichen Geistes heranzitiert, während ihr als paradigmatisches postmodernes Medium häufig das Kino gegenübergestellt wird. Beide erscheinen als überzeitliche, gewissermaßen außergeschichtliche Innenräume: Film wird ebenso als Ende der Geschichte begriffen, wie das Mittelalter als vorgeschichtlich dargestellt wird. Walter Benjamin in seinem ›Kunstwerk‹-Essay zum Beispiel verdeutlicht seine Definition der Moderne und Nach-Moderne an der Kathedrale, indem er sie mit dem neuen Medium Kino vergleicht. Die technische Reproduzierbarkeit von Fotos mache es möglich, daß die photographierten Objekte nicht mehr statisch seien, nicht mehr an ihren Platz in der Welt gebunden: »Die Kathedrale verläßt ihren Platz, um in dem Studio des Kunstfreundes Aufnahme zu finden.«50 Während Benjamin zwischen Mittelalter und Moderne keinen radikalen Schnitt sieht und alle vorhergehenden Epochen dadurch vereinigt glaubt, daß Kunst in ihnen noch eine Aura besessen habe, eine Einzigartigkeit und rituelle Bedeutung, ist die Reproduzierbarkeit des Films für ihn der Beginn eines neuen Zeitalters. Wie Sloterdijk mobilisiert er daher die schon bestehende Epocheneinteilung mit ihren akzeptierten Stereotypen eines statischen Innenraums, der sich zu einem dynamischen Außenraum öffnet, und überträgt sie auf den Schnitt zwischen Moderne und Nach-Moderne, um seiner Prophezeiung einer neuen Zeit Nachdruck zu verleihen. Anders als Sloterdijk faßt er dabei alle der Post-Moderne vorhergehenden Epochen zu einer zusammen, nämlich Antike, Mittelalter und Moderne. So erscheint jetzt nicht nur die mittelalterliche Kathedrale aus dem obigen Zitat, sondern auch die Moderne bis zur Ankunft des Films als statisch und eingezwängt: Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung in ihm.51

Wie die Kathedrale durch das Fehlen eines individuellen Blickwinkels charakterisiert gewesen sei, so ist die neue Welt für Benjamin durch den Film gekennzeichnet, der durch Kamera- und Projektionstechnik den Raum und die Zeit aus ihren Grenzen befreie, ausdehne und beweglich mache.52 Dabei ist es aber 50 51 52

Benjamin [Anm. 32], S. 438. Ebd., S. 461. In Benjamins ›Passagenwerk‹ übernimmt der Flaneur später eine ganz ähnliche Rolle, die ebenfalls durch seine Beweglichkeit und seine individuelle Perspektive charakterisiert wird; der durch die endlose Welt schweift, und die Blicke schweifen läßt. Zu Benjamin und seinem Verständnis des modernen Raums s. auch David Frisby, Fragments of Modernity. Theories of Modernity in the Work of Simmel, Kracauer and Benjamin, Cambridge 1985, S. 207–265; zu seiner Auffassung von Film und räumlicher Subjektivität Miriam Hansen, Benjamin and Cinema. Not a One-Way Street, in:

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gerade die verlangsamte Zeit (in der Zeitlupe), die den Körper aus seiner Bindung an den materiellen Raum befreie −53 und damit kehrt das angeblich dynamisch-neue Medium Film doch wieder zu dem von Benjamin als prä-postmodern definierten Merkmal der zähflüssigen Zeit zurück, ohne daß er den Widerspruch eingestände. Obwohl Benjamin besonders im ›Passagenwerk‹ eine neue Geschichtsauffassung fordert, die nicht mehr historisch argumentiert, sondern von der Gegenwart des Betrachters aus dialektisch zurückdenkt, greift er selbst in seiner Darstellung des Mittelalters und der Zeitenwende auf ganz konventionelle Schemata zurück. Es ist bezeichnend, daß er die von ihm geforderte Neuorientierung ausgerechnet eine »kopernikanische Wende« nennt und damit gerade die traditionelle Abgrenzung zitiert. Die Tatsache, daß sich das Konzept eines Innenraums so problemlos auf die Moderne und Postmoderne transferieren läßt, bricht aber dieses Schema in gewisser Weise auch auf. Die Gegenüberstellung von Kino und Kathedrale und deren Räumlichkeit zur Kennzeichnung von Mittelalter und Postmoderne ist überraschend weit verbreitet.54 Andre´ Bazin, Hans-Jürgen Syberberg und Erwin Panofksy vergleichen die kollektive Produktionsweise des Films mit der von Domen und mittelalterlicher Kunst allgemein, die ersten beiden bewundernd, der andere ablehnend, aber alle als Zeichen der Neuheit des Mediums.55 Für Bazin ist außerdem die Erfindung der Perspektiventechnik in der Renaissance-Malerei, durch die eine Trennung von Innen und Außen entstehe, wieder eine Zeitenwende, der nur die Erfindung des Films gleichkomme, die diese Trennung wieder aufhebe.56 Siegfried Kracauer betont dagegen die Unterschiede dieser

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Benjamin’s Ghosts. Interventions in Contemporary Literary and Cultural Theory, hg. von Gerhard Richter, Stanford 2002, S. 41–73; zu Aura und Zeitüberbrückung Miriam Hansen, Benjamin, Cinema and Experience: ›The Blue Flower in the Land of Technology‹, New German Critique 40 (1987), S. 179–224; zu postmodernem Zeitverständnis nach Benjamin vgl. Susanna Radstone, Cinema/memory/history, Screen 36,1 (1995), S. 34–47; zu postmodernem Raum nach Benjamin vgl. Anne Friedberg, ›Les Flaˆneurs du Mal(l): Cinema and the Postmodern Condition‹, PMLA 106 (1991), S. 419–431; über die Arkaden als nach innen gezogenen Außenraum (in Analogie zu Sloterdijks Kristallpalast) Tom Gunning, The Exterior as Inte´rieur: Benjamin’s Optical Detective, boundary 2, 30.1 (2003), S. 105–129. Siehe Gertrud Koch, Cosmos in Film. On the Concept of Space in Walter Benjamin’s »Work of Art« Essay, Qui parle 5,2 (1992), S. 61–71, hier S. 70. Das sonst in der Kunstgeschichte oft beschriebene Licht, das durch die Kathedralfenster fällt wie das Projektorlicht durch den Filmstreifen, wird dagegen kaum zum Vergleich herangezogen. Andre´ Bazin, L’Adaptation ou le cine´ma comme digeste, L’Esprit XVI, Nr. 146 (1948), S. 32–40; Hans-Jürgen Syberberg, Nocheinmal: Das Requiem als Film-System, in: Ders., Syberbergs Filmbuch. Filmästhetik – 10 Jahre Filmalltag – Meine Trauerarbeit für Bayreuth – Wörterbuch des deutschen Filmkritikers, Frankfurt a M. 1979, S. 87–94, hier S. 91; Erwin Panofsky, Style and Medium in the Motion Pictures, Bulletin of the Department of Art and Archaeology Princeton University, 21947, S. 215–233. Andre´ Bazin, Ontologie de l’image photographique, in: Ders., Qu’est-ce que le cine´ma?, Paris 1975, S. 9–17.

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Medien, indem er die Endlosigkeit des Films, in dem die Kamera durch einen als unbegrenzt gedachten Raum schweife, mit den nur begrenzt rekonstruierbaren Räumen der Vergangenheit und besonders noch einmal mit dem endlichen Kosmos des Mittelalters kontrastiert.57 Dabei kann die Photographie allerdings auch wieder an die Zeitlosigkeit des Mittelalters anknüpfen, indem sie Vergangenes, wie die Wasserspeier der Kathedralen, gegenwärtig halte und an den Betrachter heranbringe.58 Be´la Bala´zs hingegen hatte schon Anfang der zwanziger Jahre den Film gerade als mittelalterliches Medium, genauer, als Wiederauflebenlassen der mittelalterlichen Kathedrale mit ihrer Einheit von Innen und Außen beschrieben: Vor allem ist aber der Film eine von Grund aus neue Kunst einer anhebenden neuen Kultur. [...] Ein Ausdrucksmittel des Geistes, das durch die grenzenlose Verbreitbarkeit seiner Technik so allgemein und so tief auf die Menschheit einwirken muß, hat sicherlich eine ähnliche Bedeutung wie seinerzeit die technische Erfindung Gutenbergs. Victor Hugo schrieb einmal, daß das gedruckte Buch die Rolle der mittelalterlichen Kathedralen übernommen hat. Das Buch wurde zum Träger des Volksgeistes und hat diesen in Millionen kleine Meinungen zerrissen. Das Buch zerbrach den Stein: die eine Kirche in tausend Bücher. Aus dem sichtbaren Geist wurde ein lesbarer Geist, aus der visuellen Kultur eine begriffliche.59

Die Kathedrale steht für Bala´zs wieder für Geschlossenheit und Einheitlichkeit des mittelalterlichen Volksgeistes, im Gegensatz zu moderner Zersplitterung, aber auch für Visualität im Sinne der Einheit von innen und außen, Seele und Körper, wie er später erklärt.60 Während die Moderne mit Erfindung der Drukkerpresse diesen geschlossenen – und hier ganz positiv gesehenen – Raum zerstört habe, bedeute das Kino eine zweite solche Epochenwende. Film werde durch seine Visualität die Einheit von Innerem und Äußerem des Menschen wieder herstellen können und damit die Spaltung von Körper und Geist überwinden. Die bewegliche Kamera ziehe den Betrachter in den gefilmten Raum hinein, und die Welt werde wieder zu einem einzigen großen Innenraum – eine Rückkehr ins Mittelalter.61 Noch Sloterdijk behauptet, daß in der Postmoderne die Welt wieder zu einem post-mittelalterlichen Innenraum werde, und aktualisiert damit nichts als die alte Vorstellung vom Mittelalter als Innenraum.

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Siegfried Kracauer, Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, Princeton 1997. Siegfried Kracauer, Die Photographie, in: Ders., Der verbotene Blick. Beobachtungen, Analysen, Kritiken, hg. von Johanna Rosenberg, Leipzig 1992, S. 185–203. Be´la Bala´zs, Kinokritik!, in: Ders., Schriften zum Film, Bd. 1: Der sichtbare Mensch. Kritiken und Aufsätze 1922–26, hg. von Helmut H. Diederichs, Budapest [usw.] 1982, S. 149–151. Be´la Bala´zs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a. M. 2001 (stw 1536), S. 16f. Be´la Bala´zs, Der Geist des Films, Frankfurt a. M. 2001 (stw 1537), S. 14f.

Michael Stolz

Weltinnenräume Literarische Erkundungen zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit (am Beispiel des ›Fortunatus‹-Romans und der ›Geschichtklitterung‹ von Johann Fischart) Weltinnenräume – der Titel des vorliegenden Beitrags ist einem Buch von Peter Sloterdijk entlehnt, das dieser 2005 als Nachtrag und Extrakt seines ein Jahr zuvor abgeschlossenen Projekts über ›Sphären‹ veröffentlicht hat. Unter dem etwas provozierenden Schlagwort vom ›Weltinnenraum des Kapitals‹ tritt Sloterdijk dabei »für eine philosophische Theorie der Globalisierung« (so der Untertitel) ein.1 Der Begriff ›Weltinnenraum‹ stammt aus dem Gedicht ›Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen‹, das Rilke 1914 unmittelbar vor Ausbruch des ersten Weltkriegs verfaßte und in dem er sich »einer lebensphilosophisch-neuplatonisch gefärbten lyrischen Reflexion über Raum und Teilhabe«2 widmete. So heißt es dort: Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. [...] Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.3

Diese Verse und der ihnen entnommene Begriff des ›Weltinnenraums‹ seien hier bewußt an den Anfang eines Beitrags gestellt, der von Raumerkundungen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit handelt. Sie sollen mit einer These verbunden werden, die wie folgt zu formulieren ist: Die literarische Darstellung von Innenräumen bedarf einer Erfahrung der Dynamik von Innen und Außen, wie sie erst in Texten der Neuzeit entwickelt wird. Weil die mittelalterliche Literatur diese Dynamik nicht kennt, muß in ihr notwendigerweise auch die Gestaltung von Innenräumen – von einem neuzeitlichen Standpunkt aus betrachtet – blaß bleiben. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, daß sich das Bewußtsein für eine Dynamik von innerer und äußerer Erfahrung in Texten des Spätmittelalters etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts anbahnt. Die Aufsätze des vorliegenden Sammelbands bieten dafür eine Fülle aussagekräftiger Beispiele. 1

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Vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2005; Ders., Sphären, Bd. 1: Blasen (Mikrosphärologie), Frankfurt a. M. 1998; Bd. 2: Globen (Makrosphärologie), Frankfurt a. M. 1999; Bd. 3: Schäume (Plurale Sphärologie), Frankfurt a. M. 2004. Sloterdijk, Im Weltinnenraum [Anm. 1], S. 307. Ebd.; vgl. Rainer Maria Rilke, Gedichte 1910 bis 1926, hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Frankfurt a. M./Leipzig 1996 (Rainer Maria Rilke, Werke. Kommentierte Ausg. in 4 Bänden, Bd. 2), S. 113, hier Str. 4/5.

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Als Kronzeugen könnten auch zwei so unterschiedliche Autoren wie der italienische Frühhumanist Francesco Petrarca und der Dominikanermönch Heinrich Seuse genannt werden. In dem berühmten Brief von der Besteigung des Mont Ventoux evoziert Petrarca eine Augenlust (cupiditas videndi), die auf dem Gipfel des Bergs dem Rückzug in Innerlichkeit und Weltabkehr nach augustinischem Vorbild weicht. Auch in der ›Vita‹ Heinrich Seuses finden sich Ansätze zu einem Ausgriff nach außen – hier etwa symbolisiert im Blick aus dem geöffneten Fenster der Klosterzelle, einem Blick, der mit dem Rückzug auf den engen Radius des Klosters und den von Seuse dort praktizierten Selbstkasteiungen kontrastiert.4 Von Seuse und Petrarca bis zu Rilkes Versen aus dem Jahr 1914 ist es ein weiter Weg, der hier noch nicht einmal in Ansätzen nachgezeichnet werden kann. Die von einem empirischen Blick geprägte Welterfahrung der Renaissance, die Rationalität der Aufklärung, die Entdeckung der Innerlichkeit in der Romantik wären nur einige der zu nennenden Stationen. Wenn im folgenden der Begriff des ›Weltinnenraums‹ verwendet wird, so geschieht dies mithin im Bewußtsein, anachronistisch zu verfahren. Dieser methodische Schritt erscheint jedoch insofern berechtigt, als der literatur- und kulturwissenschaftliche Blick auf Zeugnisse der Vergangenheit stets und notgedrungen von einer historischen Differenzerfahrung geprägt ist. Die Suche nach ›Innenräumen‹ in den mittelalterlichen Texten, auf die sich die Beiträge dieses Sammelbands einlassen, setzt gerade diesen hermeneutischen Abstand voraus, wenn es gilt, vormoderne Raumsemantiken in den Blick zu nehmen. Im Laufe der nachfolgenden Ausführungen soll versucht werden, dieses Phänomen des ›Weltinnenraums‹ anhand konkreter Beispiele zu fassen. Zunächst aber ist zu klären, worum es Sloterdijk bei dem von Rilke übernommenen Begriff geht. Wie der Untertitel seiner Nachschrift besagt, bezieht er ihn auf Kernpunkte einer »Theorie der Globalisierung«, die er in seinem dreibändigen ›Sphären‹-Projekt entwickelt hat. Sloterdijk unterscheidet dabei drei Phasen, die er wie folgt benennt: 1. eine »metaphysische« oder »kosmisch-uranische« Globalisierung, 2. eine »terrestrische« und 3. eine »telekommunikative« oder »elektronische« Globalisierung.5 4

5

Vgl. dazu Michael Stolz, Altitudo contemplationis humanae. ›Conversio‹ bei Francesco Petrarca und Heinrich Seuse, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Beiträge des XVIII. Anglo-German Colloquium, Hofgeismar 6.–10. September 2003, hg. von Nicola McLelland [u. a.], Tübingen 2008. Die Begriffe prägnant bei Sloterdijk, Sphären, Bd. 3 [Anm. 1], S. 20; Im Weltinnenraum [Anm. 1], S. 21. Ausführlich entwickelt wird die Theorie der drei Phasen in: Sphären, Bd. 2 [Anm. 1], Kapitel 8 (»Die letzte Kugel. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen Globalisierung«), S. 801–1005, erweitert in: Im Weltinnenraum [Anm. 1], vgl. hier bes. das einführende Kapitel 1 (»Von großen Erzählungen«), S. 11–29.

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Die erste dieser Globalisierungen bezeichnet dabei die Phase des Weltbilds vor Kopernikus, in der die Sphaira als vollkommene Kugelgestalt6 die kosmische Welt in sich einschließt: den Kosmos mit dem Himmel, den Planetenbahnen und der im Zentrum befindlichen Erde. Mit der Preisgabe des geozentrischen Weltbilds in der frühen Neuzeit verschiebt sich der Begriff des ›Globus‹ dann von dem einer kosmischen Kugel auf jenen des Erdenrunds. Dies ist nach Sloterdijk die zweite Phase der nunmehr »terrestrischen Globalisierung«, die sich durch »christlich-kapitalistische Seefahrt«, durch europäische »Expansion« und durch »Kolonialismus« auszeichne.7 Es handelt sich um das Zeitalter einer gesteigerten Mobilität und eines beschleunigten Kapitaltransfers, der bekanntlich für die Europäer mit den großen Entdeckungen und Eroberungen in fremden Kontinenten einhergeht. Seit den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg, so Sloterdijk, werde diese terrestrische Globalisierung nun durch eine dritte Phase abgelöst, in der aufgrund der elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten eine grenzenlose und synchrone Vernetzung zwischen beliebigen Standorten auf dem Erdglobus hergestellt werden könne. Räume würden nunmehr zunehmend als virtuelle erfahren und betreten – was nicht zuletzt zu einer nostalgischen Sehnsucht nach authentischen Raumerlebnissen führe.8 Hieraus könnte sich auch erklären, daß nach der Konzentration auf das Phänomen Zeit (wie sie etwa für Einsteins Relativitätstheorie oder für Heideggers Ontologie charakteristisch ist) in Sloterdijks ›Sphären‹-Projekt nunmehr die Erforschung des Raumes eine neue Konjunktur erlebt. Das Interesse an der Analyse historischer Raumerfahrungen, die der vorliegende Sammelband bezeugt, mag ihrerseits in diesem Zusammenhang stehen. Sloterdijks Phasenmodell ist – notwendigerweise – vereinfachend, es ist nicht frei von Verzerrungen, die nicht zuletzt dem mitunter zynischen Stil des Verfassers geschuldet sind. Gleichwohl birgt das Modell die Möglichkeit eines interpretatorischen Zugriffs auf Texte gemäß der Leitfrage nach Funktion und Gestaltung von ›Innenräumen‹ in der vormodernen Literatur und Kultur. Alle 6 7 8

Sloterdijk spricht von einer »Ästhetik der Vollendung«; vgl. Sphären, Bd. 2 [Anm. 1], S. 802, Im Weltinnenraum [Anm. 1], S. 30. Sloterdijk, Im Weltinnenraum [Anm. 1], S. 21. Vgl. dazu besonders Sloterdijks Ausführungen zur »Synchronwelt«, Sphären, Bd. 2 [Anm. 1], S. 977f., Im Weltinnenraum [Anm. 1], S. 217f; ferner ebd., S. 27: »Hinsichtlich der allgemeinen Raumgefühle ist für die dritte Welle der Globalisierung bezeichnend, daß sie den realen Globus enträumlicht und an die Stelle der gewölbten Erdkugel einen nahezu ausdehnungslosen Punkt setzt beziehungsweise ein Netzwerk aus Schnittpunkten und Linien, die nichts anderes bedeuten als Verknüpfungen zwischen beliebig weit auseinanderliegenden Rechnern. Wenn die zweite Welle bei geringen und mittleren Geschwindigkeiten die immense Ausdehnung des Planeten in die menschliche Anschauung gehoben hatte, so bringt die dritte das Weitegefühl der Neuzeit bei hohen Geschwindigkeiten wieder zum Verschwinden. Hierauf antwortet heute ein diffuses Unbehagen an der überkommunikativen Verfaßtheit des Weltsystems«.

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drei Phasen konstituieren auf ihre Weise Weltinnenräume, wobei für das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit insbesondere jene Raumkonzepte von Belang sind, die sich am Schnittpunkt der ersten und zweiten Phase, also am Schnittpunkt der von Sloterdijk kosmisch bzw. terrestrisch genannten Globalisierung, bewegen. Sloterdijk bietet sich aber auch insofern als Ausgangspunkt an, als er in seiner Nachschrift das Konzept vom ›Weltinnenraum des Kapitals‹ seinerseits an einem literarischen – allerdings wiederum neuzeitlichen – Beispiel festmacht: Er bezieht sich auf Dostojevskijs ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ (von 1864) und das dort evozierte Bild des Kristallpalasts.9 Gemäß Dostojevskij gilt Sloterdijk der Kristallpalast des 19. Jahrhunderts als Umschlageplatz des Kapitals und damit als mikrokosmisches Symbol des ›Weltmarkts‹ schlechthin.10 Der so verstandene Weltinnenraum »umschreibt den Horizont der vom Geld erschlossenen Zugangschancen zu Orten, Personen, Waren und Daten«, die »Operationsradien eigener Art« entstehen lassen.11 Das von Dostojevskij entlehnte literarische Motiv des Kristallpalasts zeichnet sich dabei nicht zuletzt dadurch aus, daß dieser als Abbild des globalisierten Welthandels »alles vormals Äußere nach innen gezogen hat«.12 Genau in dieser Inversionsbewegung besteht nach Sloterdijk das Wesen des ›Weltinnenraums‹ im engeren Sinne: Die mit der terrestrischen Globalisierung gewonnene Außenerfahrung stülpt sich gewissermaßen nach innen, indem sie sich selbst in einer Raummetapher – hier jener des Kristallpalasts – symbolisiert. Im folgenden soll nun das Experiment unternommen werden, diese auf einen symbolischen ›Weltinnenraum‹ zulaufende Inversionsbewegung anhand zweier Texte nachzuzeichnen, die literarhistorisch am Anfang jener Phase stehen, die Sloterdijk als »terrestrische Globalisierung« bezeichnet. Es geht dabei, dies sei betont, nicht darum, diese Texte als Kronzeugen einer Epochenschwelle oder gar als Dokumente einer Frühphase des ›Kapitalismus‹ zu bemühen. Es geht vielmehr darum, anhand zweier literarischer Beispiele aus der Zeit zwischen ca. 1470 und 1590 die Dynamik von Innenraum und Außenraum zu beschreiben. Dabei liegt, wie bereits angedeutet, die Vorannahme zugrunde, daß das Konzept des ›Innenraums‹ in Texten des 15. und 16. Jahrhunderts prägnanter und zugleich komplexer gestaltet wird als in jenen des Mittelalters, weil sich in ihnen eine intensivierte Erfahrung des Außen widerspiegelt, die ihrerseits zu einem geschärften Bewußtsein des Innen führt. Bei den beiden zu betrachtenden Texten handelt es sich um den Prosaroman ›Fortunatus‹ und um Johann Fischarts nach Rabelais’ ›Gargantua‹ gestaltete ›Geschichtklitterung‹.

9 10 11 12

Im Weltinnenraum [Anm. 1], S. 25f. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 309. Ebd., S. 26.

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Der ›Fortunatus‹ wurde nach 1470 von einem unbekannten Autor in Nürnberg oder Augsburg geschrieben, er wurde 1509 erstmals in Augsburg gedruckt und erfuhr dann eine rasche Verbreitung nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern durch Übersetzungen auch in den benachbarten europäischen Ländern.13 Der Name des Titelhelden Fortunatus ist Programm: Er verweist auf die Launen der Glücksgöttin Fortuna.14 Getrieben von diesen Launen und einem kaum stillbaren Glücksverlangen bewegt sich Fortunatus, wie auch später sein Sohn Andolosia, auf Pilgerstraßen und Fernhandelswegen durch Europa und den fernen Osten.15 13

14

15

Vgl. die Ausgabe in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, hg. von Jan-Dirk Müller, Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 54; Bibliothek der frühen Neuzeit 1), S. 383–585 (daraus die folgenden Zitate). Grundlegend zum frühen deutschen Prosaroman ist der Forschungsüberblick von Jan-Dirk Müller, Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung, IASL, 1. Sonderheft (Forschungsreferate) 1985, S. 1–128. Wichtige Forschungsliteratur zum ›Fortunatus‹: Hans-Jürgen Bachorski, Geld und soziale Identität im ›Fortunatus‹. Studien zur literarischen Bewältigung frühbürgerlicher Widersprüche, Göppingen 1983 (GAG 376); Hannes Kästner, Fortunatus – Peregrinator mundi. Welterfahrung und Selbsterkenntnis im ersten deutschen Prosaroman der Neuzeit, Freiburg i. Br. 1990 (Rombach Wissenschaft. Reihe Litterae); zu Augsburg als Druckort Jan-Dirk Müller, Augsburger Drucke von Prosaromanen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Helmut Gier und Johannes Janota, Wiesbaden 1997, S. 337–352, bes. S. 346f.; zu Augsburg als möglichem Entstehungsort Dietrich Huschenbett, Fortunatus aus Augsburg, ZfdA 130 (2001), S. 431–434. Jüngere Arbeiten zeigen auf, daß dieses Programm erzähltechnisch mit der Preisgabe von Sinn spielt und damit neue Möglichkeiten gegenüber mittelalterlichen Erzählverfahren erschließt; vgl. besonders Peter Czerwinski, Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung, Bd. 2: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter, München 1993, S. 17–26; Anna Mühlherr, ›Melusine‹ und ›Fortunatus‹. Verrätselter und verweigerter Sinn, Tübingen 1993 (Fortuna Vitrea 10); Jan-Dirk Müller, Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen, in: Fortuna, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1995 (Fortuna Vitrea 15), S. 216–238; Ralf-Henning Steinmetz, Welterfahrung und Fiktionalität im ›Fortunatus‹, ZfdA 133 (2004), S. 210–225. Anhand der im ›Fortunatus‹ offenkundigen Überlagerung magischer und ökonomischer Wertigkeiten wurde zuletzt die Interferenz kultureller Semantiken betont, so von Burkhard Hasebrink, Die Magie der Präsenz. Das Spiel mit kulturellen Deutungsmustern im ›Fortunatus‹, PBB 126 (2004), S. 434–445, und von Beate Kellner, Das Geheimnis der Macht. Geld versus Genealogie im frühneuzeitlichen Prosaroman ›Fortunatus‹, in: Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 537 hg. von Gert Melville, Köln [usw.] 2005, S. 309–333. Vgl. zur Einarbeitung zeitgenössischer Itinerarien bes. Marjatta Wis, Zum deutschen ›Fortunatus‹. Die mittelalterlichen Pilger als Erweiterer des Weltbildes, Neuphilologische Mitteilungen 63 (1962), S. 5–55; Dies., Nochmals zum ›Fortunatus‹Volksbuch. Quellen- und Datierungsprobleme, Neuphilologische Mitteilungen 66 (1965), S. 199–209; Kästner, Fortunatus – Peregrinator mundi [Anm. 13], S. 258–272.

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Auf dem Dreigenerationenschema beruhend, erzählt der Roman, wie der einem verarmten Patriziergeschlecht entstammende Fortunatus sein Glück in fernen Ländern und im Dienste fremder Herren sucht. Eines Tages begegnet er in einem wilden Wald der ›Jungfrau des Glücks‹, einer Personifikation der Fortuna, und wählt aus deren Gaben, zu denen unter anderem Weisheit, Stärke und Gesundheit gehören, den Reichtum. Er erhält einen Geldsäckel, der ihn bei jedem Griff zehn Goldstücke in der jeweiligen Landeswährung fassen läßt. Das zunächst unvorsichtig zur Schau gestellte Vermögen bringt Fortunatus in viele Gefahren. Erst allmählich lernt er, mit der Gabe umzugehen, muß sich sein finanzielles Glück aber durch ein hohes Maß an sozialer Isolation erkaufen. Einer seiner wenigen Vertrauten ist der welterfahrene Lüpoldus, mit dem er die Länder Europas bereist. Auf einer weiteren Reise, die ihn bis in den Orient und nach Indien führt, entwendet Fortunatus dem Sultan von Alexandrien ein Wunschhütlein, das seinem Träger ermöglicht, sich an jeden beliebigen Ort zu versetzen. Die Kombination beider Gaben – finanzielle Freiheit und lokale Mobilität – wird jedoch von Fortunatus selbst kaum mehr ausgenutzt, da er sich mit dem Wunschhütlein sogleich in seine Heimat Zypern begibt, um dort sein Leben als reicher Adliger in Famagusta zu beschließen. Erst in der Folgegeneration übernehmen beide Güter eine handlungsstiftende Funktion. Entgegen dem Rat des Vaters teilen seine Söhne das Erbe. Der reiselustige Andolosia erhält den Säckel, während der seßhafte Ampedo mit einer hohen Geldsumme abgefunden wird und zusammen mit dem Wunschhütlein in Famagusta verbleibt. Auf seinen abenteuerlichen Fahrten verliert Andolosia den Säckel und meint, ihn nur mit dem vom Bruder entliehenen Wunschhut zurückgewinnen zu können. Doch verliert er auch diesen noch und kann beide Güter nur durch eine List zurückgewinnen. Nach der Rückkehr auf Zypern wird er erneut des Säckels beraubt und im Gefängnis ermordet. Der verzweifelte Bruder Ampedo vernichtet den Wunschhut und stirbt alsbald. Mit diesem unglückseligen Ende schließt der Roman. Der ›Fortunatus‹ zeichnet sich durch eine widersprüchliche Ordnung der Erzählstränge aus. Es gibt »kaum eine Episode, die so ausgeht, wie sie angelegt schien«:16 Fortunatus hat am Hof des Grafen von Flandern Erfolg, wird dann aber durch eine Intrige gestürzt. Er verirrt sich in einem bretonischen Wald, gerät dort unvermutet in den Besitz des wundersamen Geldsäckels, der ihm in den Gefahren der Wildnis aber zunächst wenig nützt. Zurück in der Zivilisation erwachsen aus dem Gebrauch des Geldsäckels neue Gefahren. Ähnlich ergeht es Fortunatus’ Sohn Andolosia bei seinem Versuch, die ihm entwendeten Güter wieder zurück zu gewinnen. Die Handlung ist geprägt von Zufall und List, sie unterliegt den Launen eines wechselvollen Glücks. 16

Müller, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts [Anm. 13], S. 1175.

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Die göttliche Vorsehung spielt dabei allenfalls eine marginale Rolle. Ihr Einfluß deutet sich an, als sich Fortunatus und sein Begleiter Lüpoldus in der irischen Höhle von santt patricius fegfeür (S. 444, Z. 6f.) am westlichen Rand Europas hoffnungslos verlaufen und zuletzt Gott um seine Hilfe anflehen, dies mit dem offen artikulierten Eingeständnis, daß in dieser verzweifelten Lage weder gold noch silber helfen könnten (S. 446, Z. 23). Erst ein von dem nahe gelegenen Patricius-Kloster ausgesandter Suchtrupp vermag die hier als pilgere (S. 447, Z. 12) bezeichneten Reisenden zu retten. Die anläßlich des Besuchs in der Patricius-Höhle vorgeführte Alternative ›nicht Geld, sondern Gott‹ weicht an anderen Stationen einem Miteinander: In Konstantinopel etwa erfolgt Fortunatus’ Rettung aus Todesgefahr mit der hilff gots vnd mit parem gelt (S. 459, Z. 24f.), kurz darauf wird betont, daß Gott dort helfe, »wo die Menschen ihren Scharfsinn brauchen«.17 Der Bezug auf die göttliche Providenz wird auf diese Weise verdrängt durch eine weltimmanente Bewegung, der sich die Reisenden auf ihrer Jagd nach dem Glück in einer hektischen Bewegung von Station zu Station aussetzen. Was auf diesen Bahnen verschoben wird, ist eine schier unerschöpfliche Menge Geldes, die Fortunatus, solange er in Besitz des Säckels ist, zur Verfügung steht. Die auf diese Weise vollzogene Bahn des Kapitals um den Erdball macht der Erzähler deutlich, als er in Zusammenhang mit Fortunatus’ Indienfahrt auf Hinderungsgründe des Reisens zu sprechen kommt. Neben der Ferne und der Gefahr des Weges für Leib und Leben wird dabei auch Geldmangel genannt. Wer aber wie Fortunatus Geld in unbegrenztem Maße zur Verfügung habe, der zuge von ainem land zu dem andern / so lang biß das er von ainem ort der welt e zu dem andern kam (S. 491, Z. 15f.). Was der Erzähler hier mit dem Ausdruck von ainem ort [...] zu dem andern beschreibt, ist eine globale Bewegung, die von einem Punkt der Erde ausgeht und rund um den Erdball führt, um wieder an diesem Punkt anzugelangen. Die Globalisierung des Geldes, wie sie sich im frühneuzeitlichen Handelswesen vollzieht, ist damit treffend bezeichnet. In der Terminologie Sloterdijks könnte man sagen, daß der ›Fortunatus‹-Roman ›Sphären‹ eines wechselvollen Glücks beschreibt, die sich als Ausdruck des neuen ökonomischen Denkens erweisen. Für die Perfektionierung dieser Bewegung steht das Wunschhütlein, das Fortunatus dem Sultan von Alexandria entwendet. Im rechten Gebrauch mit dem Geldsäckel würde es eine schier grenzenlose Zirkulation des Geldes ermöglichen. Fortunatus scheint die Gefahren einer solchen Mobilität des Kapitals zu ahnen und benutzt das Wunschhütlein einzig dazu, in seine Heimat Zypern zurückzukehren. Erst an seinen Söhnen wird sich zeigen, welch desaströse Wirkung der Mißbrauch beider Güter haben kann. 17

Ebd., S. 1179, zum Schluß der Episode, als der listige Lüpoldus dem Fortunatus mit folgenden Worten die Flucht ermöglicht: So will ich vns mit der hilff gots mit leib vnd o gut vnd on alle hyndernus von hynnen bringen (S. 460, Z. 29f.).

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Im Epilog des Romans macht der Erzähler deutlich, daß eine vernunftgeleitete Wahl dem Fortunatus zu wahrem Glück hätte verhelfen können: Statt des Reichtums hätte er von der ›Jungfrau des Glücks‹ die Weisheit erwählen sollen, denn diese hätte ihm nyemandt [...] mügen enpfieren (S. 579, Z. 29) und sie o hätte ihm außerdem Wohlstand (tzeitlich gut / eerliche narung vnd grosse hab, S. 579, Z. 30f.) gebracht. Als exemplarisches Vorbild des Ausgleichs von Weisheit und Reichtum erscheint dabei der alttestamentliche König Salomo: Als auch gethon hat Salomon / dardurch er der reichest künig der erden wordenn ist (S. 580, Z. 10–12).18 Die ›Jungfrau des Glücks‹ aber möchte der Erzähler auß vnseren landen veriaget wissen, so daß sie in diser welt nit mer tzufinden sei (S. 580, Z. 14f.). Diesen Wunsch aber wird dem Erzähler nach den umfänglich geschilderten Reisebewegungen kaum ein Leser abnehmen. Der Weg, den Fortunatus, vom Glück getrieben und es erjagend, durch die Länder genommen hat, entlarvt diesen letzten Satz des Romans als bittere Ironie. Die Göttin Fortuna, so wird man den Schluß verstehen dürfen, hat ihren Weg um den Erdball angetreten und ist davon nicht mehr zu vertreiben. Spätere Druckauflagen des ›Fortunatus‹ vermitteln denn auch auf ihrem Frontispiz dieses Bild: Mit Geldsäckel und Wunschhütlein in Händen balanciert die Glücksgöttin auf einem geflügelten Globus (vgl. Abb. 1).19 Das Bildmotiv löst ältere Fortuna-Konzeptionen ab, in denen anhand des Fortuna-Rads ein regelmäßiger und damit berechenbarer Kreislauf von Aufstieg und Abstieg beschrieben war. Dieser Kreislauf weicht im vorliegenden Titelblatt einer Konzeption, in der die wenig verläßliche Fortuna selbst nur mit Mühe die Oberhand auf einer geflügelten Weltkugel halten kann.20 18 19

20

Vgl. Dietrich Huschenbett, Fortunatus und Salomo, ZfdA 133 (2004), S. 226–233, bes. S. 230f. So das Titelblatt eines Drucks (ohne Ort und Jahr, Exemplar der Universitätsbibliothek Jena, Signatur: 8 G.B. 1115), der wohl aus dem 18. Jahrhundert stammt. Für Hilfen bei der (nach wie vor offenen) Datierungsfrage danke ich Herrn Achim Blankenburg von der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Jena. Vgl. auch die Angaben zur Abbildung in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Müller [Anm. 13], S. 1193 (zu 430,8) und neben Abb. 8. – Verwandt mit dieser Fortuna-Darstellung ist jene auf dem Frontispiz eines ebenfalls undatierten, wohl im 18. oder früheren 19. Jahrhundert angefertigten ›Fortunatus‹Drucks aus der Reutlinger Offizin der Druckerfamilie Fleischhauer (ein Exemplar davon ebenfalls in der Universitätsbibliothek Jena, Signatur: 8 G.B. 1116). Zu den Angehörigen der Druckerfamilie Fleischhauer vgl. Reinhard Würffel, Lexikon deutscher Verlage von A-Z. 1071 Verlage und 2800 Verlagssignete vom Anfang der Buchdruckerkunst bis 1945. Adressen, Daten, Fakten, Namen, Berlin 2000, S. 244. Vgl. Müller, Die Fortuna [Anm. 14], S. 218: »Die Fortuna des Fortunatus ist nicht mehr in der Figur des Rades zu fassen, das das Unterste zu oberst kehrt, denn selbst diese Bewegung wäre sub specie aeternitatis noch regelhaft [...].« Zur Bildlichkeit der Fortuna A[lfred] Doren, Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1922/23, hg. von Fritz Saxl, Leipzig/Berlin 1924, S. 71–144; Hubert Herkommer, Frau Welt und Fortuna, Kreis und Quadrat. Welt-

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Aufschlüsse über die von Sloterdijk herausgearbeitete Ablösung einer kosmischen durch eine terrestrische Globalisierung ergibt ein Blick auf die Tradition des Bildmotivs: Ganz offensichtlich beruht das Frontispiz zum ›Fortunatus‹-Roman auf älteren Darstellungen der Frau Welt oder genauer: der figura mundi, wie sie etwa in der Handschrift Rom, Biblioteca Casanatense, Cod. 1404, aus dem frühen 15. Jahrhundert begegnet (Bl. 2v, vgl. Abb. 2).21 Im Vergleich läßt sich unschwer erkennen, daß die Haltung der Fortuna nach jener der figura mundi gestaltet ist.22 Beide Figuren haben das Standbein jeweils auf einer Weltkugel; auch die Stellung des Spielbeins ist ähnlich, wenngleich nicht identisch; die Haltung der oberen Gliedmaßen findet mit einem ausgestreckten Arm und einem angewinkelten Arm eine spiegelverkehrte Entsprechung. Aufschlußreich sind nun gerade die Veränderungen, die sich in den Bilddetails abzeichnen: Die figura mundi krallt sich mit einem Vogelbein auf der Weltkugel fest, Fortuna hingegen balanciert darauf in einer wenig stabilen Pose. Einen mäßigen Ausgleich schafft bei Fortuna das angewinkelte Spielbein, das bei der figura mundi eine andere Funktion hat: Als drachenköpfiges Bein oder Schwanz steht es (so die Beischrift) für das Untier mors, das sich ins Standbein der personifizierten Welt verbeißt und diese damit zu Fall bringen wird. Auch bei den Attributen gibt es bezeichnende Veränderungen. Die figura mundi trägt Symbole der sieben Laster:23 einen Pfauenhut für superbia (Hoch-

21

22

23

bilder des europäischen Mittelalters, in: Weltbilder, hg. von Maja Svilar/Stefan Kunze, Bern [usw.] 1993, S. 177–228, bes. S. 188–195. Weitere Literatur ebd., S. 221, Anm. 28, und bei Müller, Die Fortuna [Anm. 14], S. 217f., Anm. 4. Zu dieser Illustration ausführlicher (jeweils mit Abbildungen und Verweis auf verwandte Darstellungen in zeitgenössischen Handschriften und Holzschnitten) Fritz Saxl, »Aller Tugenden und Laster Abbildung«. Eine spätmittelalterliche Allegoriensammlung, ihre Quellen und ihre Beziehungen zu den Werken des frühen Buchdrucks, in: Festschrift für Julius Schlosser, hg. von Arpad Weixlgärtner und Leo Planiscig, Zürich [usw.] 1927, S. 104–121, hier S. 105 u. 117; Ders., A Spiritual Encyclopaedia of the Later Middle Ages, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), S. 82–142, hier S. 127f.; Michael Curschmann, Facies peccatorum – Vir bonus. Bild-Text-Formeln zwischen Hochmittelalter und früher Neuzeit, in: Poesis et pictura. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken. Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag, hg. von Stephan Füssel und Joachim Knape, Baden-Baden 1989 (Saecula spiritalia, Sonderband), S. 157–189, hier S. 175f.; Eckart Conrad Lutz, Spiritualis Fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ›Ring‹, Sigmaringen 1990 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 32), S. 274–281; Herkommer, Frau Welt [Anm. 20], S. 184–186. Zur Bildlichkeit der Frau Welt grundsätzlich Wolfgang Stammler, Frau Welt. Eine mittelalterliche Allegorie, Freiburg/Schweiz 1959 (Freiburger Universitätsreden, Neue Folge 23). Hingegen zeigt das Frontispiz keine offenkundigen Übereinstimmungen mit der Fortuna-Darstellung Albrecht Dürers (Das Große Glück oder Nemesis, 1501/02; Abbildung z. B. bei Sloterdijk, Sphären, Bd. 2 [Anm. 1], S. 54). Vgl. dazu M[ichael] Evans, Art. ›Laster‹, LCI 3 (1971), Sp. 15–27. Zur Tradition der Lasterattribute bes. Curschmann, Facies peccatorum [Anm. 21], S. 176, und Lutz, Spiritualis Fornicatio [Anm. 20], S. 279f.

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mut), einen geöffneten Ausschnitt für luxuria (Ausschweifung), einen Kelch für gula (Völlerei), einen Hund für ira (Zorn), einen Esel für acedia (Trägheit), eine zu Boden weisende Fackel für invidia (Neid), einen berstenden Gürtel Geldes für avaritia (Habsucht). Bei Fortuna hingegen beschränken sich diese Attribute auf die beiden Gaben des Säckels und des Wunschhütleins. Letztere stehen hier nicht für die Laster, sondern für die unbegrenzten Möglichkeiten, die beide Güter ihrem Träger bei seiner Eroberung der Welt gewähren. Diese Entgrenzung kommt auch in der Haltung der Beine zum Ausdruck: Bei der figura mundi bildet das Vogelbein gleichsam eine Schale oder Hülse, welche die Welt umgreift. Diese Umklammerung steht damit – wenn auch im negativen Sinn – für das alte Modell einer kosmischen Globalisierung, in dem die Erde von anderen Sphären umschlossen ist. Die fragile Beinhaltung der Fortuna repräsentiert dagegen die Phase der terrestrischen Globalisierung, bei der die Kugelgestalt der Erde mit wechselvollem Glück betreten und umrundet wird. Auf diese Weise bleiben die in der figura-mundi-Darstellung evozierten Aspekte der menschlichen Sündhaftigkeit und Sterblichkeit ausgeblendet. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die Fledermausflügel der figura mundi, ein verbreitetes Attribut des Teufels, bei der Fortuna zu einem geblähten Tuch oder Segel24 mutiert sind, das wie die am Globus angebrachten Flügel für eine gesteigerte Mobilität steht. Die Entfernung der Fortuna von einem in permanenter Bewegung befindlichen Globus, wie sie die ironischen Sätze des Epilogs andeuten, erweist sich damit als eine nicht einlösbare Utopie. Utopische Elemente sind aber auch dem Geschick des Fortunatus selbst eigen. Dieser ist ja gerade nicht verpflichtet, sich den Zwängen der zeitgenössischen Ökonomie zu unterwerfen: Er »muß nicht Handel oder Wucher treiben, er muß nicht rechenhaft ökonomische Rücksichten nehmen, das Wunschhütlein nicht für Geschäfte brauchen«.25 In der eigenwilligen Dialektik zwischen dem von ökonomischen Bedingungen gelösten Geschick des Fortunatus und der aus dieser Welt nicht zu bannenden Glücksgöttin Fortuna zeigt sich der fiktionale Freiraum, den der ›Fortunatus‹-Roman in der Darstellung eines frühneuzeitlichen Erfahrungsraums zu nutzen versteht. In einem Abschnitt von Fischarts ›Geschichtklitterung‹ verkehrt sich nun dieser utopische Erfahrungsraum von der Äußerlichkeit zu einem ›Weltinnenraum‹, der freilich kein ›Weltinnenraum des Kapitals‹ im Sinne Sloterdijks ist. Gleichwohl scheint mir hier gegenüber dem ›Fortunatus‹ die von Sloterdijk beschriebene Inversionsbewegung zum Tragen zu kommen: 24

25

Julia Zimmermann, Technische Universität Dresden, weist mich darauf hin, daß dieses Attribut auch von Schleiern beeinflußt sein könnte, wie sie in mittelalterlichen Tanzdarstellungen begegnen. Ausgehend von dieser Anregung möchte ich die als Begleiter des Königs David auftretenden Tänzer im ›Psalterium Aureum‹ (9. Jh.), St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 22, S. 2, anführen. Vgl. die Abbildung in: Peter Ochsenbein (Hg.), Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 179. Müller, Volksbuch [Anm. 13], S. 108.

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Als eine sprachlich ins Monströse gesteigerte Übersetzung des 1534 erschienenen ›Gargantua‹-Romans von Franc¸ois Rabelais26 trägt die ›Geschichtklitterung‹27 den Begriff der Utopie explizit in ihrem Titel. Hatte Rabelais die Heimat seiner Riesenkönige in Reminiszenz an Thomas Morus ›Utopia‹ genannt,28 so läßt Fischart die Könige gemäß dem Titelblatt der Ausgabe von 1590 nicht nur in Utopien wohnen, sondern zugleich in Ländern mit Namen wie Nienenreich, Nichilburg, Nullibingen, Nullenstein, Niergendheym und so fort (vgl. S. 5, Z. 9, 12f.).

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28

Vgl. Franc¸ois Rabelais, Œuvres comple`tes, Edition re´tablie, pre´sente´e et annote´e par Mireille Huchon, avec la collaboration de Franc¸ois Moreau, Bd. 1: Gargantua, Pantagruel, Tiers livres, Quart livre, Cinquiesme livre, Paris 1994 (Bibliothe`que de la Ple´¨ıade 15), S. 3–153; deutsche Übersetzung: Franc¸ois Rabelais, Gargantua, übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck, Nachwort von Frank-Rutger Hausmann, Stuttgart 1992, 21999. Zitiert wird im folgenden nach: Johann Fischart, Geschichtklitterung (Gargantua). Text der Ausgabe letzter Hand von 1590, mit einem Glossar hg. von Ute Nyssen, Nachwort von Hugo Sommerhalder, 2 Bde., Düsseldorf 1963/64. Zur Forschungsliteratur seien stellvertretend folgende Titel genannt: Adolf Hauffen, Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegenreformation, 2 Bde., Leipzig/Berlin 1921/22 (Schriften des wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich); Hugo Sommerhalder, Johann Fischarts Werk. Eine Einführung, Berlin 1960; Wilhelm Kühlmann, Johann Fischart, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450– 1600). Ihr Leben und Werk, hg. von Stephan Füssel, Berlin 1993, S. 589–612; Walter Raitz/Werner Röcke/Dieter Seitz, Konfessionalisierung der Reformation und Verkirchlichung des alltäglichen Lebens, in: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von Werner Röcke und Marina Münkler, München 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 281–316, hier S. 314–316. Jüngere Arbeiten situieren Fischarts ›Geschichtklitterung‹ im Kontext erzähltheoretischer und rezeptionsästhetischer Fragen. Vgl. Josef J. Glowa, Johann Fischart’s ›Geschichtklitterung‹. A Study of the Narrator and Narrative Strategies, New York [usw.] 2000 (Renaissance and Baroque Studies and Texts 27); Ulrich Seelbach, Ludus lectoris. Studien zum idealen Leser Johann Fischarts, Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion 39). Verwiesen sei ferner auf das DFG-Projekt von Beate Kellner und Tobias Bulang zu »Fischart im Kontext« an der Technischen Universität Dresden, in dem die Einbettung der ›Geschichtklitterung‹ in zeitgenössische Diskurse zu den Affekten, zu Bildung und Sprache erforscht wird. Vgl. dazu Beate Kellner, Spiel mit gelehrtem Wissen. Fischarts ›Geschichtklitterung‹ und Rabelais’ ›Gargantua‹, in: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, hg. von Jan-Dirk Müller, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), S. 219–243; Dies., Verabschiedung des Humanismus. Johann Fischarts ›Geschichtklitterung‹, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters [Anm. 4]. Vgl. Franc¸ois Rabelais, Gargantua, Nachwort von Frank-Rutger Hausmann [Anm. 26], S. 262; Glowa, Johann Fischart’s ›Geschichtklitterung‹ [Anm. 27], S. 20; Raitz [u. a.], Konfessionalisierung [Anm. 27], S. 316.

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Dieser für Fischarts Stil29 typischen Namen- und Synonymenhäufung unterliegt auch der Riesenkönig Gargantua, der in der ›Geschichtklitterung‹ unter anderem Gurgelstrozza, Goschagrotza oder Gurgellantua heißt. Nicht um die Abenteuer des Riesen aber soll es in den abschließenden Ausführungen gehen, sondern um die nach Rabelais’ abbaye de The´le`me gestaltete Abtei Willigmut, die Gargantua seinem Freund, dem streitbaren Mönch Jan als Belohnung für seine Leistungen im Kriege erbauen läßt. Die Abtei läßt sich als eine »Art AntiKloster«30 bezeichnen, die sich durch ganz bestimmte Merkmale vom mittelalterlichen Klosterleben abhebt. In Negation konventioneller Ordensnamen verfügt der Mönch, daß es sich um eine Uncarmelitisch, Uncarthäuserisch, Unbettelordisch, Unsuitisch (d.h. ›nicht jesuitische‹, M.St.) Einrichtung (S. 403, Z. 38f.) handeln soll. Anders als die mittelalterlichen Klöster soll die Abtei Willigmut keine Mauern haben und keinem streng nach dem Stundengebet geregelten Tagesablauf unterworfen sein. Als Bewohner sind schöne, gebildete und gesunde Menschen vorgesehen: Junge Leute beiderlei Geschlechts im Alter zwischen zehn und achtzehn Jahren, die dort nach humanistischen Bildungsidealen erzogen werden sollen, ehe sie die Abtei zu ihrer Verheiratung verlassen.31 Die einzige Regel der Abtei lautet: Thu was du wilt (S. 421, Z. 1). Der Satz beruht auf einem verkürzten Augustinus-Zitat: Dilige, et quod vis fac – ›Liebe und tu (unter dieser Voraussetzung), was du willst‹.32 In der Verkürzung bezieht er sich auf Diskussionen über den freien Willen, wie sie im Zeitalter der Reformation – vorbereitet durch umfängliche Diskussionen in der spätmittelalter29

30 31

32

Vgl. zu Stilfragen zuletzt Rüdiger Zymner, Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn [usw.] 1995, bes. S. 86–167; sowie die sprachtheoretisch orientierten Detailstudien von Erich Kleinschmidt, Die Metaphorisierung der Welt. Sinn und Sprache bei Franc¸ois Rabelais und Johann Fischart, in: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit, hg. von Wolfgang Harms und Jean-Marie Valentin, Amsterdam 1993 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 16), S. 37–57; Peter Fuss, Von den Zeichen der Welt zur Welt der Zeichen. Semiologische Konzepte bei Paracelsus und Fischart, Wirkendes Wort 52 (2002), S. 333–360; und Tobias Bulang, Ursprachen und Sprachverwandtschaft in Johann Fischarts ›Geschichtklitterung‹, GRM 56 (2006), S. 127–148. Franc¸ois Rabelais, Gargantua, Nachwort von Frank-Rutger Hausmann [Anm. 26], S. 246. Vgl. dazu Walter Haug, Zwischen Ehezucht und Minnekloster. Die Formen des Erotischen in Johann Fischarts ›Geschichtklitterung‹, in: The graph of sex and the German text. Gendered culture in early modern Germany 1500–1700, hg. von Lynne Tatlock, Amsterdam 1994 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 19), S. 157–177, Nachdruck in Ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 390–403, hier S. 402f. Aurelius Augustinus, In epistulam Iohannis ad Parthos tractatus decem, VII,8, abgedruckt in PL 35, Sp. 1977–2062, hier Sp. 2033. Der Satz bezieht sich bei Augustinus auf die Nächstenliebe (caritas). Vgl. dazu auch Marie-Franc¸ois Berrouard, ›Dilige et quod vis fac‹, in: Augustinus-Lexikon, hg. von Cornelius Mayer [u. a.], Bd. 2, Basel 1996–2002, Sp. 453–455.

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lichen Scholastik – etwa zwischen Erasmus (›Diatribe seu collatio e libero arbitrio‹, 1524) und Luther (›De servo arbitrio‹, 1525) geführt werden.33 Auffällig sind trotz dieser rigorosen Offenheit die Ausschlußkriterien für einen Zugang zur Abtei, die bei Fischart gegenüber Rabelais’ Vorlage zu umfangreichen Katalogen angeschwollen sind. An den Pforten der Abtei sind Schilder angebracht, die Unbefugten den Zutritt verwehren: Hierein komm kein Heuchler, Windhals, [...] Paternosterqueler, [...] Kein Predigläufer Widertäuffer [...]. Herein komm auch kein listfuchs, heuchler, schmeichler [...] Kein blut und gutsauger [...] Herein komm auch kein karger wuchergeier [...] Herein komm auch kein eiferiger Frauengauch (Zitate aus S. 415, Z. 23 bis S. 416, Z. 39). Die sich bei Fischart ins Endlose erstreckende, ins Zotenhaft-schimpfwortartige ausufernde Liste läßt die Frage aufkommen, wer denn eigentlich noch Zutritt zu der Abtei habe. Hierin und in der Regel Thu was du wilt läßt sich der exklusive Anspruch der Institution von Willigmut erkennen. Man könnte diesen Anspruch als utopisch im Sinne von ›ortlos‹ oder ›irreal‹ bezeichnen und dies mit den auf Thomas Morus beziehbaren Ausführungen des Titelblatts der ›Geschichtklitterung‹ rechtfertigen. In Anschluß an Überlegungen von Michel Foucault möchte ich jedoch zu bedenken geben, ob es sich bei der Abtei Willigmut nicht eher um ein heterotopisches denn um ein utopisches Phänomen handelt. Als Heterotopie bezeichnet Foucault in einem Radiovortrag Utopien, »die einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen«.34 Solche Heterotopien berühren sich mit alltäglichen Orten und sind von diesen zugleich als »die vollkommen anderen Räume« abgegrenzt.35 Foucault nennt als Beispiele unter anderem Räume frühkindlicher Erfahrung wie den Garten, den Dachboden oder das zu entdeckende Bett der Eltern. Er weist diesen Räumen einen liminalen Status zu und betont, daß »Heterotopien stets ein System der Öffnung und Abschließung besitzen, welches sie von der Umgebung isoliert«.36

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34

35 36

Vgl. dazu die auf der Grundlage neuerer Forschungsliteratur basierende Überblicksdarstellung von Otto Hermann Pesch, Wille/Willensfreiheit III. Dogmen- und theologiegeschichtlich, TRE 36 (2004), S. 76–97, bes. S. 86–89. Wie Pesch zeigt, beruht die Diskussion auf einem »humanistische(n) Verständnis von der Willensfreiheit als Freiheit gegenüber Gott«, das die »Freiheit als Selbstursächlichkeit des Menschen in bezug auf eben dieses Gottesverhältnis« auffaßt (S. 87). Fischart schließt an diesem Freiheitsverständnis an, wenn er fordert, daß die Bewohner von Willigmut thugendsam (S. 417, Z. 7) und von edler Gesinnung sein sollten: Dann ein Adelicher mut, thut ungezwungen das gut (S. 421, Z. 1f.). Michel Foucault, Die Heterotopien /Les he´te´rotopies. Der utopische Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert, Frankfurt a. M. 2005, S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 18.

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Eben diese Eigenschaft trägt die Abtei Willigmut, wenn man ihren Status auf einer intradiegetischen Ebene37 betrachtet: Im Rahmen der utopischen Diegese der ›Geschichtklitterung‹ ist sie eine Heterotopie, die »gegen die Außenwelt vollkommen abgeschlossen, aber zugleich auch völlig offen«38 ist. Inwiefern nun kann eine solche Heterotopie als ›Weltinnenraum‹ gelten? Die Abtei ist von einem Waldgebiet umschlossen, an das sich die Wirtschaftseinrichtungen von Goldschmieden, Seidenstickern, Webern anlagern, die ihre Ware von einmal jährlich eintreffenden Schiffen beziehen und die Bewohner der Abtei mit einer vornehmen, aber uniformartigen Kleidung versehen. Von Wirtschaftsgebäuden, die für tägliche Bedürfnisse wie etwa Nahrung aufkommen, ist dagegen nicht die Rede. Die Abtei läßt damit ökonomische Belange ebenso außen vor wie der ›Fortunatus‹-Roman, der die Bedingungen des zeitgenössischen Handels und Geldtransfers zwar thematisiert, sie jedoch für den mit Geldsäckel und Wunschhütlein ausgestatteten Protagonisten gerade nicht beansprucht. Die Vorzüge aber, die Fortunatus, solange er im Besitz der beiden Güter ist, genießt – nämlich unbeschränkte, grenzenlose Freiheit – stülpt die Abtei Willigmut nach innen – dies mit ihrer Regel: Thu was du wilt. Die in der Romanhandlung des ›Fortunatus‹ veräußerlichte Devise wird in der ›Geschichtklitterung‹ zu einem Grundsatz, dem sich die jugendlichen Bewohner für beschränkte Zeit überlassen. Herz der Abtei ist eine Bibliothek, deren Einrichtung Fischart gegenüber Rabelais stark ausbaut.39 In einem Wortspiel vergleicht er sie mit den Büchersammlungen der mächtigen Familien der Zeit: Die Fugger und Medici wollen nicht allein stattlich Buch halten, sonder auch herrliche Bücher auff halten und damit die Wissenschaft fördern: die Gelerten wol vergelten (S. 408, Z. 31–33). Der ökonomische Aspekt des ›Buchhaltens‹ geht hier zusammen mit dem wissenschaftlichen Studium ›auf-gehaltener‹, d. h. aufgeschlagener und zugleich aufbewahrter Bücher. 37 38 39

Begriff nach Ge´rard Genette, Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, München 1994 (UTB für Wissenschaft 8083), S. 162f. Michel Foucault, Die Heterotopien [Anm. 34], S. 18. Eine imaginäre Bibliothek, die auch fiktive Titel enthält, entwirft Fischart in seinem ebenfalls 1590 erschienenen Bücherkatalog: Catalogus catalogorum perpetuo durabilis (1590), mit Einleitung und Erläuterungen hg. von Michael Schilling, Tübingen 1993 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, Neue Folge 46). Dazu Seelbach, Ludus lectoris [Anm. 27], S. 231–265; sowie Erich Kleinschmidt, Die konstruierte Bibliothek. Zu Johann Fischarts ›Catalogus catalogorum‹ (1590), Etudes germaniques 50 (1995), S. 541–555, der den ›Catalogus‹ mit den Bibliotheken von The´le`me/Willigmut vergleicht: »›Geschichtklitterung‹ wie ›Catalogus‹ inszenieren [...] die Idee einer anderen Welt, in der gewohnte normative Regeln und institutionelle Ansprüche zumindest zeitweise nicht gelten. [...] Die imaginären Bibliotheken Rabelais [sic, M.St.] und Fischarts sind Spiegelungen jenes ursprünglichen, ganzheitlichen Welt- und Schöpfungsbuches, das immer neu aufgeschlagen und gelesen werden muß« (S. 555).

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Am Eingang der Bibliothek befindet sich eine Statue des Ptolemäus, des Begründers der Bibliothek von Alexandria. Die Figur hält eine Schriftrolle – einen langen Zedel (S. 409, Z. 4) – in Händen, deren Verse der Erzähler zu einem hintergründigen und durchaus ambivalenten Elogium der Bücherwelt ausbaut: Gott grüß euch Liebe Bücher mein, Ihr seit noch ungverseehrt, Dann ich schon euer wol und fein, Daß ich nit wird zu Glehrt. (S. 409, Z. 7–10)

Mit der auf diese Weise thematisierten Schonung der Bücher tritt der hinter dem Bibliothekar verborgene Erzähler in Distanz zu bloßer Buchgelehrsamkeit. Er deutet an, daß die Bücher ungenutzt auf den Pulten liegen und dabei einem artfremden Mißbrauch ausgesetzt sind, etwa jenem der Pergament und Papier fressenden Holz- und Bücherwürmer (vgl. S. 414, Z. 12–39). Viel zu selten aber würden jene die Bibliothek besuchen, Die ein ›Tolle‹ verschulden (S. 410, Z. 3) – d. h. ›die ein Tolle verdienen und erlangen wollen‹.40 Damit ist auf das Tolle Lege in Augustinus’ ›Confessiones‹ angespielt, jenes von einem spielenden Kind angetönte ›Nimm und Lies‹, das die Bekehrung des Augustinus auslöst und das dann seinerseits für Situationen der Umkehr, etwa bei Seuse und Petrarca, konstitutiv wird.41 In den Versen der Schriftrolle wird dieses Tolle Lege auf das ›Nehmen und Lesen‹ der in den Pulten aufbewahrten Bücher reduziert. Die offen artikulierte Skepsis gegenüber dem Buchwesen hindert den Erzähler nicht, die Vorzüge einer umfänglich ausgestatteten Bibliothek hervorzuheben: Er lobt die Vorteile der neuen Buchdruckerkunst (Gelobet sey der löblich Fund/ Der Edeln Truckerey, S. 411, Z. 9f.) und registriert nach und nach das in den Büchern enthaltene Wissen: Theologie, Juristerei, Medizin und Historie, aber auch: Was Gottes Willen heißt (S. 413, Z. 12), Woher die Welt entspreußt (S. 413, Z. 14), wo man neu Insuln gründt (S. 413, Z. 31) und so fort. Neben einer Vielzahl von Folianten finden sich in der Bibliothek, wie es bei Fischart heißt, auch Astrolabia, Globi, Weltkugeln, Mappen, Landtaffeln (S. 408, Z. 37). Die Öffnung auf ein Außen hin vollzieht sich hier also letztlich in der Abbildung des Außenraums durch Globen und Karten – eines Außenraums, zu dem die mauerlose Abtei zwar Zugang gewährt, dem sie sich in ihrer ortlosen Isolation aber zugleich verschließt. Mit den Büchern, Globen und Karten eröffnet die Abtei nicht einen Zugang zur empirischen Welt, sondern vielmehr zu einer »Welt, die zum Bild geworden« ist.42 40

41

Vgl. zum Verbum verschulden Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, 3 Bde., Stuttgart 1992, Bd. 3, Sp. 220f.; ferner Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 12, Leipzig 1956, Sp. 1171–1178, wo darauf verwiesen wird, daß die Bedeutung im Neuhochdeutschen zwischen den »vorstellungen von verpflichtung und leistung, von dankbarkeit und vergeltung« schillert (Sp. 1171). Vgl. dazu den in Anm. 4 genannten Beitrag.

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Wie sich unschwer erkennen läßt, ist dieser ›Weltinnenraum‹ – anders als Sloterdijks Kristallpalast – kein kapitalistischer. Es handelt sich vielmehr um ein Bildungsideal, das der Erzähler nicht nur beschönigt, sondern auch in seiner Beschränkung aufzeigt. Indem die Bibliothek Teil der Institution von Willigmut, pars pro toto ihrer Gesamtanlage ist, kann ihr Abbildcharakter in gewisser Weise auch für die Abtei selbst gelten. Willigmut bietet ein Bild der Welt, das in seiner Idealisierung kein mimetisches ist: Der Zugriff auf die hinter diesem Idealbild stehende empirische Welt bleibt, wenn nicht ausgeschlossen, so doch fraglich. Darin unterscheidet sich die Welterfahrung der Bewohner von Willigmut von jener des Fortunatus, der sich bei aller Märchenhaftigkeit der in seinen Besitz gelangten Gaben auf den Bahnen zeitgenössischer Reisender bewegt. Wie sich am Beispiel der beiden Texte zeigt, bietet die Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts subtile Möglichkeiten, mit der Erkundung von Außen- und Innenräumen umzugehen. Der ›Fortunatus‹-Roman steht für die Gestaltung einer globalen Welterfahrung ein, bei der die neu entdeckten Möglichkeiten des flüchtigen Glücks und des Kapitals um den Erdball zirkulieren. Die einer solchen Gestaltung inhärenten Momente der Utopie intensivieren und invertieren sich in Fischarts Zeichnung der Abtei Willigmut: Hier ist die im ›Fortunatus‹ flüchtig faßbare Freiheit und Freizügigkeit nach innen gerichtet, dies gemäß der Ordensregel: Thu was du wilt. Die vorgebliche Öffnung der Abtei nach Außen freilich erweist sich als eine Isolation, in der die Welt nur als ausgelagerte oder abgebildete erfahren werden kann. Die eigenwillige Dynamik von Innen und Außen, wie sie in der Konfrontation des ›Fortunatus‹-Romans mit Fischarts ›Geschichtklitterung‹ sichtbar wird, dürfte konstitutiv für die Entwicklung eines frühneuzeitlichen Bewußtseins sein. Die beiden Texte lassen Weltbilder erkennen, in denen der Globus seiner schützenden Sphären entkleidet ist und der Mensch selbst die Verantwortung für seine Geschicke übernimmt. Insofern könnten beide Romane als humanistisch gelten, wenn man Humanismus etwa mit Martin Heidegger als »jene philosophische Deutung des Menschen« versteht, »die vom Menschen aus und auf den Menschen zu das Seiende im Ganzen erklärt und abschätzt«.43 Wie riskant und prekär ein solches globales, vom Menschen ausgehendes Weltbild sein kann, zeichnet sich nicht nur bei Heidegger, sondern auch in den beiden besprochenen Texten ab: im kläglichen Scheitern der Söhne des Fortunatus 42

43

Vgl. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (1938), in: Ders., Holzwege, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1977 (Gesamtausgabe, 1. Abt.: Veröffentlichte Schriften 1914–1970, Bd. 5), S. 75–96, hier S. 92. Ferner ebd., S. 90: »Das Weltbild wird nicht von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen, sondern dies, daß überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus«. Dazu auch Sloterdijk, Sphären 2 [Anm. 1], S. 903. Heidegger, Die Zeit des Weltbilds [Anm. 42], S. 93.

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ebenso wie in der unwirtlich-unwirklichen Isoliertheit der Abtei von Willigmut. Um so dringlicher ist zu fragen, welchen Ort ein so gearteter Humanismus gegenüber den Herausforderungen der gegenwärtigen, telekommunikativ geprägten Globalisierung einnehmen soll. Diese – nach Sloterdijk – dritte Globalisierungswelle ist geprägt von einer radikalen Synchronisierung der Räume, aber auch von deren zunehmender Virtualisierung. Wie der Mensch darin seinen Ort finden soll, ist eine offene Frage. Die Koordinaten werden sich dabei wohl verschieben – dies jenseits einer Positionierung innerhalb der schlichten Dichotomie von Innenraum und Außenraum. Doch werden die in der frühneuzeitlichen Raumwahrnehmung ausgeprägten Kategorien dabei nicht einfach überflüssig. In ihrer historischen Bedingtheit dürften sie teilhaben an der Erarbeitung neuer Raumsymboliken, deren Struktur und Semantik erst noch zu finden sind.

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Abb. 1: ›Fortunatus‹, o. O. u. J., UB Jena, 8 G. B. 1115(1), Titelblatt.

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Abb. 2: Figura mundi, Bibl. Casanat., cod. 1404, fol. 2v.

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Register der Personen und Werke

Adela von Blois 385–387 Agnes, hl. 208 Albrecht ›Jüngerer Titurel‹ 47, 84, 214 Albrecht, Marschall von Raprechstwil (Albrecht Marschall von Rapperswil) 60 Albrecht von Baiern, Graf von Holland und Hennegau 362 Albrecht von Haigerloch 60 Aldobrandesca, hl. 26 Alexander III. 390 Alfons II. (›der Keusche‹) von Aragon (Alfons I. von Provence) 388–390 Alix von Schaerbeck 26, 29–31, 35, 37–39 ›Altsächsische Genesis‹ 398f. Amicus-Amelius-Legende 26, 31f., 39 Angela von Foligno 26, 29, 38f., 321 ›Angelsächsische Genesis B‹ 298 Antonius, hl. 110 ›Appropinquat redemptio vestra‹ 347 Arnaldo von Foligno ›Il libro della beate Angela da Foligno‹ 38 Arnold von Loe 365 Augustinus 268, 274, 421 ›Confessiones‹ 201f., 213, 441 ›De civitate Dei‹ 101f., 106, 115 ›Enarrationes in psalmos‹ 308 ›In epistulam Iohannis ad Parthos tractatus decem‹ 438 Sermo XXIII,7 214 ›Bamberger Beichte‹ 300 Sankt-Barbara-Legende 94 Baudri de Bourgueil 385–387 Beatrix, Gemahlin Ottos IV. 391, 401 Becket, Thomas 383 ›Althochdeutsche Benediktinerregel‹ 300

Benoit de Sainte-Maure ›Roman de Troie‹ 1–4, 7, 14f., 17, 22 Bernart von Ventadorn 257 Lied Nr. 25 254 Lied Nr. 31 (›Lerchenlied‹) 251–253 Lied Nr. 40 255 Bernhard von Clairvaux 202, 331 Be´roul ›Tristran‹ 24f. ›Bestrafte Untreue‹ (Minnerede Nr. 463) 151 ›Bilder-Ars‹ (›De arte moriendi‹) 355f., 360f., 363–366, 373–376, 380f. Birgitta von Schweden 168, 174 Blannbekin, Agnes 321f. Bruno von Hornberg 61 Burckhardt, Jacob 414 Buzzati, Dino ›L’uomo che volle guarire›‹ 36f. Cassiodor 201 Cellarius, Christoph 410 Chre´tien de Troyes ›Erec et Enide‹ 404 ›Perceval‹ 70, 72f. Christan von Hamle 60 Christina Mirabilis von Saint-Trond 207f., 213, 221 Christina von Kornburg 319f., 325 Christophorus, hl. 110f., 123 ›Christus und die minnende Seele‹ 162 Cicero, Marcus Tullius 307 ›Des Coninx Summe‹ 356, 359, 362, 365, 369, 371, 378 ›Cum factus esset Iesus‹ 349 ›Cum infirmitas‹ 375

448 Dante Alighieri ›De vulgari eloquentia‹ 102 ›Divina Comedia‹ 181 ›De amore‹ 349 ›De adventu Dei‹ 347 ›De adventu Domini in animam‹ 347 ›De B. Aleyde Scharembekana‹ 30f. ›De duodecim lapidibus‹ 346 ›De gaudio animae beatae‹ 349 ›De penitentia‹ 350 ›De septem artibus liberalibus‹ 348 ›De septem coloribus per aduentum Domini‹ 345 ›De spirituali nativitate‹ 348 Descartes, Rene´ 416 Dietmar der Setzer 60 Dirc van Delf(t) ›Tafel van den Kersten Ghelove‹ 358f., 362, 365, 369, 371 ›Disticha Catonis‹ 390, 393 Domitian 26 Dorothea von Hof 366 o ›Buch der götlichen liebe‹ 157–178 Dostojevskij, Fjodor M. ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹ 430 Dürer, Albrecht 435 Der Dürner 60 Eberhard von Cersne ›Der Minne Regel‹ (Minnerede Nr. 428) 151, 153, 155 Ebner, Christina 322 Ebner, Margaretha ›Offenbarungen‹ 322 Meister Eckhart 334f. ›Beati pauperes spiritu‹ 334 Ehinger, Margarethe 366 Eilhart von Oberg ›Tristrant‹ 24f. Einstein, Albert 429 Ekkehard IV. von St. Gallen ›Casus Sancti Galli‹ 295 Eleonore von Poitou 249 Elisabeth von Thüringen 168, 174, 221 Der Ellende Knabe ›Der Minne Gericht‹ (Minnerede Nr. 459) 150, 153, 155 Erasmus von Rotterdam ›Diatribe seu collatio e libero arbitrio‹ 439

Register der Personen und Werke Ermengarde von Narbonne 249 Fischart, Johann ›Geschichtklitterung‹ 430, 436–442 Folquet de Marseille Lied Nr. 2 261f. Lied Nr. 5 254, 263 Folz, Hans 193 Fontane, Theodor ›Frau Jenny Treibel‹ 50 ›Fortunatus‹ 430–434, 436, 440, 442 Franz von Assisi ›Admonitiones‹ 338f. ›Frau Ehrenkranz‹ (Minnerede Nr. 434) 151, 153 ›Frau Minne weiß Rat‹ (Minnerede Nr. 422) 151, 153 Friedrich I. Barbarossa 390 Friedrich II. 391, 402 Friedrich II. von Österreich 89f., 98 Friedrich von Hausen 282 MF 42,1 201 MF 51,33 255–257 ›Fünf Anfechtungen eines Sterbenden‹ 368 Geiler, Johannes, von Kaysersberg ›Totenbüchlein‹ 359, 363, 367, 373 ›Genesis‹ o ›Altsächsische Genesis‹ o ›Angelsächsische Genesis B‹ Gerard van Vliederhoven ›Cordiale de IV novissimis‹ 357f., 362, 365, 367–370 Gerhard von Lüttich ›De doctrina cordis‹ 222, 346f. Gerson, Johannes (Jean Charlier de Gerson) ›Opus tripartitum‹ 359, 361, 363, 365, 367, 372f., 376f. Gertrud von Helfta 212, 221 ›Legatus divinae pietatis‹ 217–219 Gervasius von Ebstorf 390 Gervasius von Tilbury ›Liber facetiarum‹ 384, 386, 390, 393 ›Otia imperialia‹ 383–405 Gestaler, Simon 345 Giotto di Bondone 104, 112 Giraldus de Cabreriis o Guiraut de Cabreira Goesli von Ehenheim 60

Register der Personen und Werke Gottfried von Neifen 100 Gottfried von Straßburg ›Tristan‹ 47, 54f., 74, 111, 270 Gozbert (Abt in Tegernsee) 45 Guilhem de Cabestanh ›Lo jorn qu’ie·us vi, dompna‹ 257–261 Guillaume de Machaut 292 ›La Louange des Dames‹ 271 Guiraut de Cabreira 388 ›Cabra joglar‹ 389 Hartmann von Aue 113, 197 ›Der arme Heinrich‹ 25, 33f., 42 ›Erec‹ 18, 48, 50, 72f., 295 ›Iwein‹ 54f., 63f., 130 ›Die Klage‹ 268 MF 221,24 301 Heidegger, Martin 429 ›Die Zeit des Weltbildes‹ 415, 442 Kaiser Heinrich (Heinrich VI.) MF 5,15 255 Heinrich I. von England 398 Heinrich II. von England 383, 386f., 390, 395, 397f., 402 Heinrich der Jüngere von England 386f., 390, 393 Heinrich der Löwe 398 Heinrich von Breslau 60 Heinrich von dem Türlin ›Die Krone‹ 93 Heinrich von Friemar ›De quatuor instinctibus‹ 350 ›Tractatus de adventu Verbi in mentem‹ 344, 346 ›Tractatus de incarnatione Domini‹ 348 Heinrich von Morungen 219, 290 MF 125,33 216f. MF 127 201 MF 138,17 272 Heinrich von Veldeke 113 ›Eneasroman‹ 12f., 45, 53f., 60, 70f., 74f., 80, 405 Henricus de Wormatia 345 ›De adventu Domini in animam‹ 345 Herbort von Fritzlar ›Liet von Troye‹ 1–22, 46 Hermann I. von Thüringen 3, 221 Herrand von Wildonie 60

449 ›Herzog Ernst‹ 131, 404 Der Herzog von Anhalt 60 Hieronymus ›Liber interpretationis hebraicorum nominum‹ 330 Hildegard von Bingen 312, 421 Hippocrates 95 Homer ›Ilias‹ 1 Honorius Augustodunensis 331 ›Hortulus animae‹ 361 Hoschlin, Ursula 365 Hugo von Floreffe ›De B. Ivetta‹‹ 38 Hugo von Langenstein 221 ›Martina‹ 209–215, 213 Hugo von St. Viktor 421 ›De archa Noe‹ 202 Hugo von Trimberg ›Der Renner‹ 49 Imbert von Aiguie`res 391 ›In novitate vitae ambulemus‹ 348 Meister Ingold ›Guldıˆn spil‹ (›Das goldene Spiel‹) 169 Innozenz II. 400 Innozenz III. 391 Isaak II. 401 Iso von St. Gallen 295 Ivetta von Hoe 26, 38 Jan van Rode 362 Joachim von Fiore 421 Johann von Konstanz ›Minnelehre‹ (Minnerede Nr. 232) 155 Johann von Ringgenberg 60 Johannes Chrysostomus 138f. Johannes Duns Scotus 339f. Johannes von Dambach ›De consolatione theologiae‹ 332 Johannes von Salisbury ›Policraticus‹ 383 Juliana von Cornillon 26, 204–208, 221 Jung, Carl Gustav ›Psychologische Typen‹ 416 ›Das Seelenproblem des modernen Menschen‹ 415f.

450 Kachelofen, Konrad 366, 381 ›Kaiserchronik‹ 25f. Karl der Große 398, 400 Katharina von Alexandrien 110, 122 Katharina von Siena 208, 222 Kaufringer, Heinrich 179–196 ›Bürgermeister und Königssohn‹ 190 ›Chorherr und Schusterin‹ 191f. ›Drei listige Frauen‹ 185f., 188f. ›Der feige Ehemann‹ 186, 189, 194 ›Mönch als Liebesbote‹ 183f., 187 ›Rache des Ehemannes‹ 186, 189, 193f. ›Der Schlafpelz‹ 193 ›Suche nach dem glücklichen Ehepaar‹ 179, 187, 196 ›Die unschuldige Mörderin‹ 193–196 ›Der Zehnte von der Minne‹ 185 ›Die zurückgelassene Hose‹ 188 Kempe, Margery 321 Kistener, Kunz ›Die Jakobsbrüder‹ 26 Kochin, Anna 365 ›König Rother‹ 136 Kolumbus, Christoph 412f. Konrad von Kirchberg 60 Konrad von Megenberg ›Buch der Natur‹ 47 Konrad von Würzburg ›Engelhard‹ 26, 29, 31–34, 39–42, 44 ›Der heilige Alexius‹ 304 ›Herzmaere‹ 222 ›Silvester‹ 303 ›Trojanerkrieg‹ 3, 45–47, 49, 304 Konstantin 26 Kopernikus 413, 429 Graf Kraft von Toggenburg 60 Kristan o Christan ›Kudrun‹ 46, 125–146 ›Prosa-Lancelot‹ 56f., 58 Langmann, Adelheid ›Offenbarungen‹ 309–325 Lambert von Ardres 403 Leo III. 400 Leuthold von Seven 60 Lothar I. 399f. Lotter, Melchior 366

Register der Personen und Werke Ludwig der Bayer 107 Lutgard von Tongeren 208 Luther, Martin 201, 335, 337, 417 ›De servo arbitrio‹ 439 Marguerite Porete 312 Marguerite von Oingt 216 Maria von Burgund 373 Marquard von Lindau ›De horto paradisi‹ 327, 330–333, 335–339, 341–343, 344, 348, 351–354 (Edition) ›De Nabuchodonosor‹ 328f., 332 ›De nobilitate creaturarum‹ 349 ›De penis inferni‹ 350 ›De quadruplici homine‹ 349 (Fassung B), 350 (Fasung C) ›De quinque sensibus‹ 350 ›De reparatione hominis‹ 329–331 ›De throno Salomonis‹ 346 ›De virtutibus‹ 348 ›Dekalogerklärung‹ 358f., 361f., 367 ›Hiob-Traktat‹ 332 Marsilius von Padua 340 Matthäus von Acquasparta 340 ›Mauritius von Crauˆn‹ 57f., 64, 85 Maximilian I. 373 Mechthild von Magdeburg 216 ›Das fließende Licht der Gottheit‹ 162, 313 ›Der Minne Freud und Leid› (Minnerede Nr. 402) 155 ›Minne und Pfennig‹ (Minnerede Nr. 450) 155 ›Die Minne vor Gerichte‹ (Minnerede Nr. 455) 151, 153 ›Der Minner im Garten‹ (Minnerede Nr. 424) 151 ›Ain mynn red von hertzen vnd von leib‹ (Minnerede Nr. 425) 151 ›Der Mönch als Liebesbote A‹ 185 Mönch von Salzburg 267, 271–295 ›Das Kchühorn‹ 280f., 284, 289f., 293 ›Das Nachthorn‹ 287, 289–293 ›Das Taghorn‹ 272, 275–284, 286–293 ›Moriz von Crauˆn‹ o ›Mauritius von Crauˆn‹ Morus, Thomas ›Utopia‹ 437

Register der Personen und Werke ›Multi sunt vocati‹ 349 ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ 364, 373 Neidhart 109 Nero 26 ›Nibelungenlied‹ 46, 49–53, 56f., 59, 61f. Nietzsche, Friedrich 416 ›Genealogie der Moral‹ 415 Nikolaus von Lyra 330 Notker III. von St. Gallen 299f., 306 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 414 Olivi, Petrus Johannis 340 Otfrid von Weißenburg ›Evangelienbuch‹ 299 Otto IV. (von Braunschweig) 383, 386–393, 395, 397–402, 405 Ovid ›Metamorphosen‹ 390 Petrarca, Francesco 284, 410, 428, 441 Petrus Lombardus 329 Petrus de Remis (Remensis) ›Ecce sponsus venit‹ 346 Peuntner, Thomas 361 ›Kunst des heilsamen Sterbens‹ 359, 363, 367 ›Der Pfaffe im Käsekorb‹ 192 Philipp II. August 391, 398 Bruder Philipp (Philipp der Karthäuser) ›Marienleben‹ 47 Philipp von Schwaben 391, 401 Der Pleier ›Garel von dem blühenden Tal‹ 108f., 111 e ›Das plumleingertlein‹ (Minnerede Nr. 386) 148–151, 155f. Prenzner, Christian, von Kufstein ›Stimulus rusticorum‹ 344 Prucklerin, Barbara 365f. Prudentius 214 ›Psalterium Aureum‹ 436 Ptolemäus 441 Rabelais, Franc¸ois ›Gargantua‹ 430, 437–440 Raimund von Capua ›Legenda maior (Vita Catharinae Senensis)‹ 208, 222

451 Reinbot von Durne ›Georg‹ 306 ›Reinfried von Braunschweig‹ 404 Reinmar (der Ältere) 281 MF 178,1 225–245 MF 194,22–24 216 MF 194,18 201 Reisch, Gregor 373 Richard Löwenherz 391 Rigaut de Barbezieux 255 Bec Nr. 21 253 Rilke, Rainer Maria 427f. ›Roman d’Eneas‹ 45, 70f., 207, 222, 404f. Rosenplüt, Hans ›Der fahrende Schüler‹ 193 ›Knecht im Garten‹ 192 Rubin 60 Rudolf von Ems ›Weltchronik‹ 221 Graf Rudolf von Fenis-Neuenburg 249 MF 80,1 261f. MF 81,30 263 Rudolf von Rotenburg 60 Sakch, Hermann 328 Der von Schar(p)fenberg 60 Schneeberger, Hans ›Der Mönch als Liebesbote C‹ 184 ›Schwabenspiegel‹ 306 ›Schwester Katrei‹ 176 Scrovegni, Enrico 112 ›Sechs Nutzen‹ 332 ›Segen der fernen Geliebten‹ (Minnerede Nr. 13) 272 Seneca, Lucius Annaeus 307 Seuse, Heinrich 170, 441 ›Briefbüchlein‹ 160 ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ 171, 335, 355, 357, 359, 362, 365, 369–371 ›Exemplar‹ 366 ›Horologium sapientiae‹ 165, 357, 364, 367–370 ›Vita‹ 166, 335, 428 ›Sex Consolationes‹ 349 ›Sieben Fragen an einen Sterbenden‹ 368 ›Sieben weise Meister‹ 32 Silvesterlegende 25, 42 Spaun, Claus ›Fünfzig Gulden Minnelohn‹ 188

452 ›Speculum artis bene moriendi‹ 355f., 360f., 363f., 368, 373f., 376f. ›Speculum artis bene moriendi‹, dt. 365, 368 ›Speculum mortis valde extensum‹ 367f. Der von Stamheim 60 Stephan von Landskron ›Himelstraß‹ 361 ›Straßburger Alexander‹ 113–115 ›Des Sterbenden Anfechtung durch den Teufel‹ 368 Der Stricker ›Der kluge Knecht‹ 193 Tauler, Johannes 335 ›Tegernseer Briefsammlung‹ (Clm 19412) 45 ›Tegernseer Liebesbriefe‹ (Clm 19411) 201 Theobald IV. von Blois-Champagne 398 ›Theologia deutsch‹ 335–338, 342f. Thomas von Aquin 275, 330, 371, 375 Thomas von Cantimpre´ 207 ›Vita Lutgardis‹ 222 Thomasin von Zerklære ›Der welsche Gast‹ 113, 163 ›Der Traum‹ (Minnerede Nr. 247) 272 ›Der Traum im Garten‹ (Minnerede Nr. 251) 155 ›Tria signa dilectionis‹ 349 Tucher, Katharina 365 ›Der Tugenden Buch‹ 158 Ulrich von Liechtenstein 281 ›Frauendienst‹ 87–100, 268f., 274f. Ulrich von Zatzikhoven ›Lanzelet‹ 78, 85 Veldner, Friedrich 345 Venantius Fortunatus 202 Vergillegende 95 Vincenz von Beauvais ›Speculum naturale‹ 176 Vintler, Franz 103f.

Register der Personen und Werke Vintler, Niklaus 103–105, 107 ›Von ainem wurtzgarten‹ (Minnerede Nr. 500) 150–152, 155 ›Von dem mayenkrantz‹ (Minnerede Nr. 224) 152–156 ›Von manigerlay plümlen‹ (Minnerede Nr. 363) 154 Walter Map ›Nugae curialium‹ 383f. ›Waltharius‹ 89 Walther von Klingen 60 Walther von der Vogelweide 273, 282 L. 98,9–11 214 L. 99,6 267–270, 275, 284 L. 110,13 257, 259–261 ›Der warnende Ehemann‹ 190 Weber, Max ›Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‹ 416f. Wernher der Gärtner ›Helmbrecht‹ 113 Wernher von Homberg 60 ›Der Wiedertail‹ (Minnerede Nr. 403) 151, 153 Wilhelm II. von Sizilien 390 Der von Wildonie o Herrand von Wildonie ›Winsbecke‹ 303 Wirnt von Grafenberg ›Wigalois‹ 109, 111 Wolfram von Eschenbach 21, 221, 279, 281, 305 ›Parzival‹ 46–49, 55f., 59, 70, 72f., 75–85, 197–204, 208, 216, 219–221, 223f., 301–304 ›Titurel‹ 58, 74–76, 84, 302 ›Willehalm‹ 55, 58f., 61f., 84f., 302–304 ›Die wonderlijcke oorloghen‹ 373 ›Zehn Zeichen der Erwähltheit‹ 348