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German Pages 448 [450] Year 2015
Zekai Dağaşan Das Ansehen des Staates im türkischen und deutschen Strafrecht Juristische Zeitgeschichte Abteilung 5, Band 24
Juristische Zeitgeschichte Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum
Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen – Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum in Zusammenarbeit mit Gisela Friedrich (Der SPieGel), rA Prof. Dr. Franz Salditt Band 24 redaktion: Anne Gipperich, Katharina Kühne
De Gruyter
Zekai Dağaşan
Das Ansehen des Staates im türkischen und deutschen Strafrecht
De Gruyter
iSBN 978-3-11-037864-1 e-iSBN (PDF) 978-3-11-037877-1 e-iSBN (ePUB) 978-3-11-038965-4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPi books GmbH, leck ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Kelâm / Das Wort (1947) Bo�lukta çürür kelâm topraktan gelmemi�se topra�a dalmam��sa kökünü salmam��sa. *** In der Leere verrottet das Wort das nicht aus der Erde kommt das nicht in die Erde dringt das keine Wurzeln schlägt. Nâz�m Hikmet Ran (1902–1963)
Vorwort Diese Arbeit wurde im Dezember 2013 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der FernUniversität in Hagen als Dissertation angenommen. Die Druckfassung für den Verlag berücksichtigt die deutsche Kommentarliteratur weitgehend bis April 2014. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum, der mir die Möglichkeit eröffnet hat, diese Arbeit zu verfassen und die Untersuchung mit seinem wohlwollenden Zuspruch und seiner einzigartigen Betreuung begleitet hat. Ich möchte ihm zugleich für die interessante Arbeit am Lehrstuhl danken, durch die ich wertvolle Erfahrungen sammeln konnte. Herrn PD Dr. Martin Asholt danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Bei ihm möchte ich mich zudem für die anregenden Gespräche bedanken, die mir in der Ausarbeitungsphase eine Hilfe waren. Anne Gipperich danke ich für die redaktionelle Betreuung der Arbeit, für die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage und für die interessante Zeit am Lehrstuhl und in der Redaktion der Juristischen Zeitgeschichte. Mein größter Dank gebührt meiner Familie. Meinen Eltern Fethiye und Mustafa Da�a�an möchte ich diese Arbeit widmen. Ihnen danke ich für ihren Mut und ihre Entschlossenheit, ihre damalige Heimat zu verlassen und in Deutschland ein neues Leben aufzubauen, um meinen Geschwistern und mir ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich bedanke mich für ihre vielfältige Offenheit dem Neuen und insbesondere der Bildung gegenüber, die es uns erst ermöglichte, unsere neue Heimat, Heimat zu nennen. Meiner Schwester Ay�egül Finke danke ich für ihre wertvollen Korrekturhilfen. Meinem Bruder Zeki Da�a�an danke ich für seine moralische Unterstützung. Meinem Neffen Alper Akçay danke ich für die Hilfe bei der Durchsicht meiner Entwürfe zu den statistischen Übersichten. Meiner Frau Pia Da�a�an danke ich für ihr Vertrauen und ihre stete Unterstützung, die es mir ermöglichten, diese Arbeit fertigzustellen. Essen, im Mai 2014
Zekai Da�a�an
Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................................... VII Anmerkungen zur Schreibweise und Aussprache ........................................ XXI Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. XXIII ERSTER TEIL: GRUNDLAGEN Erstes Kapitel: Einführung ................................................................................ 3 A) Problemstellung und Bedeutung des Themas......................................... 3 B) Untersuchungsgegenstand ...................................................................... 5 I. Rechtliche Bestandsaufnahme und Eingrenzung ................................ 5 II. Herkunft und Entwicklung der Tatbestände ...................................... 6 C) Forschungsstand ..................................................................................... 7 D) Zielsetzung und Methode ....................................................................... 8 I. Zum Rechtsvergleich und seinem (begrenzten) Nutzen ..................... 8 II. Forschungsmethode......................................................................... 10 III. Darstellungsmethode ..................................................................... 10 1. Gliederung ................................................................................ 10 2. Themenspektrum ...................................................................... 11 E) Quellen und Literatur ............................................................................ 12 F) Statistiken ............................................................................................. 14 ZWEITER TEIL: TÜRKISCHES RECHT Zweites Kapitel: Vorläufer .............................................................................. 19 A) Zur Darstellung .................................................................................... 19 B) Osmanisches Recht............................................................................... 19 I. Staat und Strafrecht im Osmanischen Reich..................................... 19 II. Strafrecht bis in das frühe 19. Jahrhundert ...................................... 21 III. Das „neue“ Strafrecht unter dem Einfluss der tanzimat ................. 21 1. Die Strafgesetzbücher von 1840 und 1851 ............................... 22 2. Das Strafgesetzbuch von 1858 ................................................. 23 3. Pressegesetze ............................................................................ 24 4. Verhältnis zum islamischen Strafrecht ..................................... 27 C) Osmanisch-Türkisches Recht ............................................................... 27
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Drittes Kapitel: Grundlagen des republikanischen Strafrechts........................ 29 A) Rechtshistorische Kontexte .................................................................. 29 I. Das tStGB 1926 ................................................................................ 30 1. Entstehungsgeschichte .............................................................. 30 2. Allgemeine Gesetzgebungstendenzen ...................................... 30 II. Das tStGB 2004 .............................................................................. 33 1. Entstehungsgeschichte .............................................................. 33 2. Kritik . ....................................................................................... 35 B) Grundlagen der Strafbarkeit ................................................................. 36 I. Elemente der Straftat . ....................................................................... 36 1. Legales Element – Tatbestandsbegriff...................................... 36 2. Objektives Element .................................................................. 37 3. Rechtswidrigkeit . ...................................................................... 37 4. Subjektives Element ................................................................. 38 II. Versuch . .......................................................................................... 39 1. Der Versuch im tStGB 1926 ..................................................... 39 2. Der Versuch im tStGB 2004 ..................................................... 40 C) Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsgrundsätze . .......................... 40 I. Rückwirkungsverbot und Günstigkeitsprinzip ................................. 40 II. Bestimmtheitsgebot ......................................................................... 41 III. Analogieverbot. .............................................................................. 42 IV. Allgemeine und strafrechtliche Auslegungsmethoden .................. 42 D) Verfassung und Europäische Menschenrechtskonvention . ................. 43 E) Strafrechtliche Würdigung von Grundrechten ...................................... 44 I. Recht auf Kritik . ............................................................................... 45 II. Recht auf Verbreitung von Nachrichten .......................................... 46 III. Sonstige Rechte . ............................................................................ 4� F) Rechtsgüterschutz ................................................................................. 4� Viertes Kapitel: Art. 145 und Art. 159 tStGB 1926 ........................................ �� A) Zur Darstellung . ................................................................................... �� B) Systematik der Ehrverletzungstatbestände ........................................... �� C) Der Schutz der türkischen Fahne und sonstiger Hoheitszeichen nach Art. 145. .................................................................................... 5� I. Gesetzgebungsentwicklung .............................................................. 5� 1. Erstfassung ............................................................................... 5� 2. Rocco-Angleichung von 1936 .................................................. 5� II. Schutzobjekte . ................................................................................. 5� 1. Türkische Fahne . ...................................................................... 5� 2. Sonstige Hoheitszeichen des Staates ....................................... 53
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III. Tathandlung . .................................................................................. 54 1. Herabwürdigung ....................................................................... 54 2. Öffentlichkeit. ........................................................................... 55 3. Verhältnis zu Verboten aus dem Gesetz zur türkischen Fahne................................................................. 56 IV. Rechtswidrigkeit ............................................................................ 56 V. Schuld . ............................................................................................ 57 VI. Versuch . ......................................................................................... 58 VII. Geschützte Rechtsgüter ................................................................ 59 VIII. Verfolgungsstatistische Entwicklungen ...................................... 60 1. Statistiken zum Zeitraum von 1935 bis 1962 ........................... 60 2. Statistiken zum Zeitraum von 1986 bis 2005 ........................... 61 D) Der Schutz des Türkentums, der Republik und staatlicher Einrichtungen nach Art. 159 ............................................................. 62 I. Gesetzgebungsgeschichte ................................................................. 62 1. Erstfassung ............................................................................... 62 2. Rocco-Angleichungsgesetze von 1936 und 1938 . ................... 62 3. Nachkriegsfassung von 1946 .................................................... 64 4. Nach dem Militärputsch – Fassung von 1961 .......................... 65 5. EU-Harmonisierungsgesetze von 2002 und 2003. ................... 66 II. Schutzobjekte . ................................................................................. 68 1. Türkentum . ............................................................................... 68 2. Republik . .................................................................................. 76 3. Große Nationalversammlung .................................................... 77 4. Regierung und Ministerien ....................................................... 79 5. Militärische Streitkräfte des Staates ......................................... 80 . Sicherheitskräfte des Staates .................................................... 83 . Ideelle Persönlichkeit der Justiz ............................................... 84 III. Tathandlung . .................................................................................. 85 1. Beschimpfen und Verächtlichmachen ...................................... 85 2. Meinungsäußerungen ............................................................... 88 3. Öffentlichkeit. ........................................................................... 90 IV. Rechtswidrigkeit ............................................................................ 92 V. Schuld . ............................................................................................ 93 VI. Versuch . ......................................................................................... 95 VII. Geschützte Rechtsgüter ................................................................ 96 1. Rechtsgüterauffassungen .......................................................... 96 2. Ansehensschutz im Lichte des funktionellen Rahmens ............ 97
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Inhaltsverzeichnis VIII. Verfolgungsstatistische Entwicklungen . .................................... 98 1. Statistiken zum Zeitraum von 1935 bis 1962 ........................... 98 2. Statistiken zum Zeitraum von 1986 bis 2005 ........................... 99
Fünftes Kapitel: Art. 300 und Art. 301 tStGB 2004 ..................................... 101 A) Zur Darstellung . ................................................................................. 101 B) Systematik der Ehrverletzungstatbestände ......................................... 101 C) Der Schutz der türkischen Fahne, des Unabhängigkeitsmarsches und ��de��r Hoheitszeichen nach Art. 300 ..................................... 102 I. Tatbestandsmäßigkeit ..................................................................... 103 1. Schutzobjekte ......................................................................... 103 2. Tathandlung . ........................................................................... 105 3. Vorsatz. ................................................................................... 106 II. Rechtswidrigkeit ........................................................................... 107 III. Versuch . ....................................................................................... 107 IV. Geschützte Rechtsgüter ............................................................... 107 V. Verfolgungsstatistische Entwicklungen ........................................ 108 D) Der Schutz der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und staatlicher Einrichtungen nach Art. 301 ................... 109 I. Erstfassung und Fassung von 2008 ................................................ 109 1. Erstfassung ............................................................................. 109 2. Fassung von 2008 ................................................................... 110 II. Tatbestandsmäßigkeit .................................................................... 111 1. Schutzobjekte ......................................................................... 111 2. Tathandlung . ........................................................................... 116 3. Vorsatz. ................................................................................... 117 III. Rechtswidrigkeit .......................................................................... 117 IV. Versuch . ....................................................................................... 118 V. Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit ....................................... 118 VI. Geschützte Rechtsgüter ............................................................... 120 VII. Verfolgungsstatistische Entwicklungen ..................................... 121 Sechstes Kapitel: Würdigung ........................................................................ 123 A) Vorläufer . ........................................................................................... 123 I. Vom Schutz staatlicher Einrichtungen und Hoheitszeichen zum Schutz der ideellen Persönlichkeit des Staates ........................ 123 II. Rechtsgüterschwerpunkte.............................................................. 124 B) Entwicklungstendenzen ...................................................................... 125 I. Gesetzgebung ................................................................................. 125 1. Erweiterungen und Zweckmäßigkeitserwägungen ................. 125 2. Wendepunkt Beitrittsverhandlungen? .................................... 127 3. Objektivierungstendenzen ...................................................... 127
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II. Anwendung ................................................................................... 127 1. Tendenzen zu extensiven Auslegungsformen......................... 128 2. Öffentlichkeit als Gefährdungsmaßstab ................................. 129 3. Vorfeldkriminalisierung ......................................................... 130 4. Richter als Historiker .............................................................. 131 5. Einflüsse auf Anwendungshäufigkeit ..................................... 133 C) Folgerungen ........................................................................................ 140 I. Ansehen des Staates und Nationalgefühl – Rechtsgüter mit ausufernder Tendenz? ............................................................... 140 1. Nationalgefühl ........................................................................ 140 2. Das Ansehen des Staates ........................................................ 141 II. Rechtspolitische Anmerkungen zur Rechtsgüterkonzeption des Art. 300 und des Art. 301 ......................................................... 142 1. Legitimer Rechtsgüterschutz im Staatsschutzstrafrecht ......... 142 2. Das Ansehen des Staates ........................................................ 145 3. Nationalgefühl ........................................................................ 147 III. Fazit ............................................................................................. 148 D) Ausblick ............................................................................................. 150 I. Gesetzgebung ................................................................................. 150 II. Anwendung ................................................................................... 151 DRITTER TEIL: DEUTSCHES RECHT Siebtes Kapitel: Vorläufer ............................................................................. 155 A) Die Entwicklung der Staatsverbrechen .............................................. 155 I. Die Rezeption der Staatsverbrechen des römischen Rechts ........... 155 II. Der Einfluss der Aufklärung auf die Staatsverbrechen ................. 156 B) Das Rahmenrecht des Deutschen Bundes und die Pressegesetze der Partikularstaaten........................................................................ 158 I. Das Recht des Deutschen Bundes .................................................. 158 II. Das Presserecht der Partikularstaaten............................................ 159 C) Preußisches Recht............................................................................... 160 I. Allgemeines Landrecht ................................................................... 160 II. Strafgesetzbuch von 1851 ............................................................. 161 1. § 101 prStGB 1851 ................................................................. 161 2. § 93 Nr. 3 prStGB 1851 .......................................................... 162 D) Reichsstrafgesetzbuch ........................................................................ 162 I. Ausgangslage und Entstehungsgeschichte ..................................... 162 II. § 131 RStGB ................................................................................. 163
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1. Revision des preußischen Vorbildes....................................... 163 2. Erweiterung durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts......................................................................... 164 3. Verfolgungsstatistische Entwicklungen.................................. 165 III. § 135 RStGB ................................................................................ 166 1. Anpassung an veränderte staatsrechtliche Verhältnisse ......... 166 2. Verfolgungsstatistische Entwicklungen.................................. 167 E) Weimarer Republik............................................................................. 168 I. Rechtshistorischer Kontext ............................................................. 168 II. Erstes Republikschutzgesetz (RepSchG 1922) ............................. 169 1. § 8 RepSchG 1922 .................................................................. 169 2. Geltungsdauer und verfolgungsstatistische Entwicklungen ... 172 III. Zweites Republikschutzgesetz (RepSchG 1930) ......................... 172 1. § 5 RepSchG 1930 .................................................................. 172 2. Geltungsdauer ......................................................................... 172 3. Verfolgungsstatistische Entwicklungen.................................. 173 IV. Notverordnungswelle der 1931/32er Jahre .................................. 174 1. Verordnung gegen politische Ausschreitungen (AusschrVO 1932).................................................................. 174 2. Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens .................... 175 F) Zeit der NS-Herrschaft........................................................................ 177 I. Gesetzgebung in der NS-Zeit ......................................................... 177 1. Zeitraum von 1933 bis 1935 ................................................... 178 2. Zeitraum von 1936 bis Kriegsende ......................................... 178 II. Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes (VolksSchutzVO) ............................................................................ 179 1. § 18 VolksSchutzVO .............................................................. 179 2. Geltungsdauer ......................................................................... 179 III. Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung (HeimtückeVO) ..................... 180 1. § 3 HeimtückeVO ................................................................... 180 2. Geltungsdauer ......................................................................... 181 IV. Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen (HeimtückeG) ..... 182 1. § 1 HeimtückeG...................................................................... 182 2. Geltungsdauer ......................................................................... 182 V. Strafgesetznovelle ......................................................................... 182 1. § 134b StGB ........................................................................... 182 2. Geltungsdauer und verfolgungsstatistische Daten .................. 183
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Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB .............................................. 184 A) Rechtshistorische Kontexte ................................................................ 184 I. Ausgangslage für die zweite deutsche Republik ............................ 184 II. Die wehrhafte Demokratie ............................................................ 185 III. Das frühe Staatsschutzstrafrecht .................................................. 186 1. Staatsschutzstrafrechtliche Grundlegung................................ 186 2. Entschärfungen durch das StÄG 1968 .................................... 188 B) Verhältnis zu Freiheitsrechten aus höherrangigem Recht .................. 189 I. Systematik des Staatsschutzstrafrechts ........................................... 189 II. Grundgesetz .................................................................................. 190 III. EMRK .......................................................................................... 191 C) Systematik der Ehrverletzungstatbestände ......................................... 191 I. Die §§ 185 ff. und die §§ 90a, 90b ................................................. 191 II. Der Wahrheitsbeweis von Tatsachenbehauptungen ...................... 192 III. Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 ...................... 193 D) Der Schutz des Staates und seiner Symbole nach § 90a..................... 193 I. Gesetzgebungsentwicklung ............................................................ 193 1. Erstfassung des § 96 ............................................................... 193 2. StÄG 1968 .............................................................................. 195 3. Änderungen durch (1.) StRG 1969, (4.) StRG 1973 und EGStGB ........................................................................... 196 II. Tatbestandsmäßigkeit nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 ............................. 197 1. Schutzobjekte: BRD, Bundesländer und verfassungsmäßige Ordnung .................................................. 197 2. Tathandlung: Beschimpfung oder böswillige Verächtlichmachung ............................................................... 200 III. Tatbestandsmäßigkeit nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 ............................ 205 1. Schutzobjekte: Farben, Flagge, Wappen und Hymne der BRD oder Bundesländer ................................................... 205 2. Tathandlung: Verunglimpfung ............................................... 209 IV. Öffentlichkeit (i.w.S.) .................................................................. 211 1. Öffentlichkeit (i.e.S.) .............................................................. 211 2. Versammlung ......................................................................... 212 3. Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) .................................. 213 V. Tatbestandsmäßigkeit nach § 90a Abs. 2 ...................................... 216 1. Schutzobjekte ......................................................................... 216 2. Tathandlungen ........................................................................ 217 VI. Der Qualifikationstatbestand nach § 90a Abs. 3 .......................... 219 1. Bestrebungen .......................................................................... 220 2. Gegen den Bestand der BRD .................................................. 220
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3. Gegen Verfassungsgrundsätze ................................................ 221 4. Absichtliches Sicheinsetzen ................................................... 222 VII. Subjektiver Tatbestand ............................................................... 223 VIII. Rechtswidrigkeit und Schuld .................................................... 223 IX. Versuch . ....................................................................................... 223 X. Meinungsäußerungs- und Kunstfreiheit ........................................ 224 1. Meinungsäußerungen ............................................................. 224 2. Kunst . ..................................................................................... 228 XI. Geschützte Rechtsgüter ............................................................... 232 1. Rechtsgüterauffassungen ........................................................ 232 2. Verfassungskonforme Auslegung ........................................... 235 XII. Verfolgungsstatistische Entwicklungen ..................................... 236 E) Der Schutz der Verfassungsorgane nach § 90b .................................. 237 I. Gesetzgebungsentwicklung ............................................................ 237 1. Erstfassung des § 97 ............................................................... 237 2. (8.) StÄG 1968 ....................................................................... 238 3. Änderungen durch (1.) StRG 1969, (4.) StRG 1973 und EGStGB . .......................................................................... 239 II. Tatbestandsmäßigkeit .................................................................... 239 1. Schutzobjekte ......................................................................... 239 2. Tathandlung . ........................................................................... 240 III. Öffentlichkeit . .............................................................................. 242 IV. Subjektiver Tatbestand ................................................................ 242 V. Rechtswidrigkeit und Schuld ........................................................ 244 VII. Meinungsäußerungs- und Kunstfreiheit ..................................... 244 VIII. Geschützte Rechtsgüter ............................................................. 245 IX. Verfolgungsstatistische Entwicklungen ....................................... 246 Neuntes Kapitel: Würdigung. ........................................................................ 247 A) Vorläufer . ........................................................................................... 247 I. Vom Institutionenschutz zum abstrakten Schutz des Staates ......... 247 II. Von der Tatsachenverbreitung zur Beschimpfung, Herabwürdigung und Verächtlichmachung .................................... 248 III. Rechtsgüterschwerpunkte ............................................................ 248 B) Entwicklungstendenzen . ..................................................................... 251 I. Gesetzgebung ................................................................................. 251 1. Vergleichbare Interessenlage für den Ansehensschutz ........... 252 2. § 134a StGB . .......................................................................... 253 3. Gesetzgebungspraxis .............................................................. 254
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II. Anwendung . ................................................................................. 255 1. Extensive Auslegungsformen ................................................. 255 2. Einflüsse auf die Anwendungshäufigkeit ............................... 257 C) Verfassungsrechtliche und kriminalpolitische Bedenken . ................. 258 I. Verfassungsrechtliche Probleme .................................................... 258 1. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ............................................................. 259 2. Art. 5 Abs. 3 GG. .................................................................... 260 3. Art. 18 GG . ............................................................................. 262 4. Art. 21 Abs. 2 GG................................................................... 263 5. Art. 103 Abs. 2 GG................................................................. 264 6. Stellungnahme . ....................................................................... 265 II. Kriminalpolitische Würdigung ...................................................... 271 1. Taugliches Rechtsgüterkonzept? ............................................ 271 2. Zwischen Staats- und Regimeschutz ...................................... 272 3. Rechtsgüterlehre . .................................................................... 273 4. Strafbegrenzungswissenschaft ................................................ 275 III. Unwahre Tatsachenbehauptungen?.............................................. 277 D) Ausblick . ............................................................................................ 278
VIERTER TEIL: VERGLEICH Zehntes Kapitel: Historischer Vergleich ....................................................... 281 A) Vergleichsausschnitt........................................................................... 281 B) Von der Staatwerdung zum Staatsansehen ......................................... 282 I. Allgemein: Über Dezentralisierung zur Republik .......................... 282 II. Der Ansehensschutz des Staates in der absoluten Monarchie: Ehrschutz des Monarchen und Schutz der Hoheitszeichen vor Realinjurien ............................................... 283 III. Gemeinsamer Ursprung des konstitutionell-monarchischen Institutionenschutzes: Das Pressestrafrecht Frankreichs ........................... 284 IV. Zum Ansehensschutz des Staates der republikanischen Phase .... 285 C) Gesetzgebungspraxis . ......................................................................... 287 Elftes Kapitel: Dogmatischer Vergleich ....................................................... 290 A) Vorüberlegungen . ............................................................................... 290 B) Schutzobjekte . .................................................................................... 291 I. Staatssymbole und Hoheitszeichen................................................. 291 1. Allgemein . .............................................................................. 291 2. Private Gegenstände ............................................................... 293 3. Hymne . ................................................................................... 294
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II. Staat, Staatseinrichtungen, konstitutionelle Einrichtungen, Verfassung und Nation. ............................................................................. 294 1. Der Staat als Schutzobjekt ...................................................... 294 2. Staatseinrichtungen und konstitutionelle Einrichtungen ........ 295 3. Inkongruenzen und Unterschiede ........................................... 297 C) Tathandlungen . ................................................................................... 298 I. Realinjurien . ................................................................................... 298 II. Verbalinjurien . .............................................................................. 299 III. Konkretisierungen ........................................................................ 300 D) Öffentlichkeit . .................................................................................... 301 I. Möglichkeitsansatz und Öffentlichkeitsbegriff . ............................ 302 II. Schriften und Internet .................................................................... 303 1. Verkörperte Gedankenerklärungen ......................................... 303 2. Internet. ................................................................................... 304 E) Subjektive Tatseite. ............................................................................. 304 F) Rechtswidrigkeit und Grundrechte ..................................................... 306 I. Rechtfertigungsgründe . .................................................................. 306 II. Würdigung von Grundrechten ....................................................... 306 III. Die Bedeutung der Meinungs- und Kunstfreiheit ........................ 307 1. Meinungsfreiheit..................................................................... 307 2. Kunstfreiheit . .......................................................................... 308 IV. Das Kriterium der Wahrheit ........................................................ 309 ) Ergebnisse und einige Einzelfallbeispiele .......................................... 310 I. Ergebnisse . ..................................................................................... 310 II. Einzelfallbeispiele ......................................................................... 311 1. Fahne und Hymne................................................................... 312 2. Der Staat (i.w.S.) .................................................................... 313 3. Demokratische Herrschaftslegitimation ................................. 314 4. Inkongruenzen und Unterschiede ........................................... 314 Zwölftes Kapitel: Statistischer Vergleich ..................................................... 316 A) Art und Weite des statistisches Vergleichs ........................................ 316 B) Vergleich auf erster Ebene ................................................................. 317 I. Allgemein . ...................................................................................... 317 II. Die Krise als Einfluss auf Rechtsetzer und -anwender? ................ 318 1. Zum Begriff der Krise ............................................................ 318 2. Rechtsetzung . ......................................................................... 319 3. Rechtsanwendung ................................................................... 321 III. Intensität der Einflüsse................................................................. 322
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C) Vergleich auf zweiter Ebene. . ............................................................ 323 I. Vergleichbarkeit des statistischen Materials .................................. 323 1. Bevölkerungszahlen . .............................................................. 324 2. Statistische Kategorien . .......................................................... 325 II. Vergleich der absolut-statistischen Werte ..................................... 327 1. 1954 bis 1960 . ........................................................................ 327 2. 1995 bis 2009 . ........................................................................ 328 D) Ergebnisse . ......................................................................................... 328
Dreizehntes Kapitel: Kriminalpolitischer Vergleich ..................................... 330 A) Vorbemerkungen . ............................................................................... 330 B) Zulässiger Rechtsgüterschutz . ............................................................ 331 I. Verständnis über die Funktion der Rechtsgüter .............................. 331 II. Geschützte Rechtsgüter . ................................................................ 332 1. Besonderer Bestandsschutz . ................................................... 332 2. Friedensschutz . ....................................................................... 333 III. Reichweite der Vorfeldkriminalisierung ...................................... 333 1. Öffentlichkeit. ......................................................................... 334 2. Sonstige Merkmale . ................................................................ 334 C) Der Staat im Staatsschutzstrafrecht . ................................................... 335 I. Persönlichkeit des Staates. .............................................................. 336 II. Individual-funktionaler Staatsbegriff ............................................ 338 1. Lehre. ...................................................................................... 338 2. Praxis . ..................................................................................... 338 III. „Starker Staat“ kraft Ideologie? . .................................................. 339 D) Forderungen . ...................................................................................... 340 I. Verfassungsrechtlich gestützte Forderungen .................................. 340 II. Kriminalpolitisch gestützte Forderungen ...................................... 341 E) Ergebnisse. .......................................................................................... 341 FÜNFTER TEIL: SCHLUSS Vierzehntes Kapitel: Zusammenfassende Würdigung und Ausblick ............ 345 A) Unterschiede und Untersuchungskategorien ...................................... 345 B) Sozio-kulturelle Unterschiede . ........................................................... 346 I. Meinungs- und Verfassungstabuisierungen .................................... 346 II. Republikanisch-kemalistische Tabuisierung? ............................... 347 III. Ansehensschutz im Lichte der Geschichte ................................... 349 C) Lösungsvorrat . .................................................................................... 351 I. Schutzobjekte . ................................................................................ 351
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Inhaltsverzeichnis
II. Tathandlung .................................................................................. 353 III. Öffentlichkeit ............................................................................... 353 IV. Subjektive Tatseite ...................................................................... 354 V. Rechtswidrigkeit und Grundrechte ............................................... 354 1. Rechtfertigungssystematik...................................................... 354 2. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner(er) Rechtfertigungsgrund ........................................ 354 D) Ausblick ............................................................................................. 358 E) Schlussworte ....................................................................................... 361 ANHANG Anhang Nr. 1: Zur türkischen Rechtsordnung .............................................. 365 Anhang Nr. 2: Zur deutschen Rechtsordnung ............................................... 372 Literatur- und Quellenverzeichnis................................................................. 381 A) Quellenverzeichnis ............................................................................. 381 B) Literaturverzeichnis ............................................................................ 392
Anmerkungen zur Schreibweise und Aussprache1 Die in der Arbeit verwendeten türkischen Begriffe und Eigennamen beinhalten dem deutschen Alphabet unbekannte Buchstaben. Einige Buchstaben sind dem deutschen Alphabet zwar bekannt, werden im Türkischen aber anders ausgesprochen. Phonetische Besonderheiten ergeben sich so bei den folgenden Buchstaben: c
dsch wie bei „Dschinn“ oder „Dschungel“
ç
tsch wie bei „Tschechien“ oder „rutschen“
e
wie ä
�
Das � kommt nie am Wortanfang vor und wird am Wortende oder vor einem Konsonanten nicht ausgesprochen. Vorangehende Vokale werden gedehnt: De�nek (Jäger) klingt im Deutschen wie „dähnäk“.
h
Das h wird am Wortanfang wie das deutsche h ausgesprochen. Am Wortende jedoch annähernd wie ch. Silah (Waffe) klingt im Deutschen wie „silach“.
�
wie das e am bei tragen.
r
auf der Zungenspitze gerolltes r
s
scharfes s oder ß wie bei Gruß
�
sch wie bei „schlau“ oder „Flasche“
v
wie w
y
wie j
z
weiches s, wie bei „Sache“ oder „Hose“
â/î
Bei dem a „mit Dach“ oder dem i „mit Dach“ handelt es sich um Buchstaben mit Längenzeichen. Das bedeutet, dass das a oder das i gedehnt werden.
1
Folgende Übersicht mit weitergehenden Anm.: K�yg�, Türkisch, S. 18 f.
Abkürzungsverzeichnis 1
Diese Arbeit enthält allgemein übliche Abkürzungen . Das nachfolgende Verzeichnis beinhaltet daher nicht alle Abkürzungen, die in der Arbeit verwendet worden sind. Abkürzungen aus der türkischen (rechtswissenschaftlichen) Literatur konnten aus Platzgründen nicht immer vermieden werden. a.a.O. a.E. a.F. AB Abs. A�HM AKP AK-StGB ALR Amtl.Begr. ANAP Anm. AP ArchCrR Art. Artt. AT Aufl. AusschrVO Az. BayObLG Bd. BGBl. BGH BGHSt BR BT-SondA bVerf 1
am angegebenen Ort am Ende alte Fassung Avrupa Birli�i (Europäische Union) Absatz Avrupa �nsan Haklar� Mahkemesi (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Adalet ve Kalk�nma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) Alternativkommentar zum Strafgesetzbuch Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Amtliche Begründung Anavatan Partisi (Mutterlandspartei) Anmerkungen Adalet Partisi (Gerechtigkeitspartei) Archiv des Criminalrechts Artikel Artikel (plural) Allgemeiner Teil Auflage Verordnung gegen politische Ausschreitungen Aktenzeichen Bayerisches Oberstes Landesgericht Band Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Bundesrat Sonderausschuss des Bundestages zur Großen Strafrechtskommission belgische Verfassung
Genannt sei das Abkürzungsverzeichnis von Kirchner.
XXIV BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE BwFahnAnO BWappBek bzw. CHP DDR ders. dies. Diss. DJ DP DTP DYP E E. ebd. EGStGB Einl. EMRK ErmG etc. EU EuGRZ EWG f. FAZ ff. Fn. fPressG fVerf GA HeimtückeG
Abkürzungsverzeichnis Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts „Anordnung des Bundespräsidenten über die Stiftung der Truppenfahnen für die Bundeswehr“ vom 18. September 1964 (BGBl. 1964 I, 817) „Bekanntmachung des Bundespräsidenten betreffend das Bundeswappen und den Bundesadler“ vom 20. Januar 1950 (BGBl. 1950 I, 26) beziehungsweise Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei) Deutsche Demokratische Republik derselbe dieselbe Dissertation Deutsche Justiz Demokrat Parti (Demokratische Partei) Demokratik Toplum Partisi (Demokratische Gemeinschaftspartei) Do�ru Yol Partisi (Partei des rechten Weges) Entwurf Esas No. (Nummer der Sache) ebenda Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Einleitung Europäische Menschenrechtskonvention Ermächtigungsgesetz et cetera Europäische Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende Fußnote französisches Pressegesetz französische Verfassung Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen
Abkürzungsverzeichnis HeimtückeVO HRG HRR Hrsg. i.d.F. i.E. i.e.S. i.F. insbes. i.S.d. iStGB i.V.m. i.w.S. JR JuS JW JZ K. Kap. KG KJ KRG krit. KritV Lack/Kü-StGB LG lit. LK-StGB m.E. m.w.N. MDR MHP MK-StGB n.F. NGO NJW NK-StGB
XXV
Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Höchstrichterliche Rechtsprechung Herausgeber in der Fassung im Ergebnis im engeren Sinne in Form insbesondere im Sinne des / der italienisches Strafgesetzbuch in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Karar No. (Nummer der Entscheidung) Kapitel Kammergericht Kritische Justiz Kontrollratsgesetz kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Lackner/Kühl. Kommentar zum Strafgesetzbuch Landgericht littera Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch. Großkommentar meines Erachtens mit weiteren/m Nachweis(en) Monatsschrift des deutschen Rechts Milliyetci Hareket Partisi (Partei der Nationalistischen Bewegung) Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch neue Fassung Nichtregierungsorganisation (urspr. aus dem Englischen: nongovernmental organization) Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch
XXVI Nr. NS NSDAP NStE NStZ NStZ-RR OLG oStGB oVerf PKK PresseG Pr.GS. Prot. prStGB prVO RAF RegE RepSchG RG RGBl. RGSt RheinZ Rn. RNr. Rspr. RStGB S. S. s. s.o. s.u. Sch/Sch-StGB SJZ SK-StGB SPD StÄG Sten.Ber. StGB StPO StRG
Abkürzungsverzeichnis Nummer Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungsreport Oberlandesgericht osmanisches Strafgesetzbuch osmanische Verfassung Partiye Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans) Pressegesetz Gesetzessammlung für die Königlichen Preußischen Staaten Protokoll(e) Strafgesetzbuch für die Königlich-Preußischen Staaten von 1851 Preußische Verordnung Rote Armee Fraktion Regierungsentwurf Republikschutzgesetz Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Rheinische Zeitung für Zivilrecht und Prozeßrecht Randnummer Reihennummer Rechtsprechung Reichsstrafgesetzbuch Satz Seite siehe siehe oben siehe unten Schönke/Schröder. Kommentar zum Strafgesetzbuch Süddeutsche Juristenzeitung Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafrechtsänderungsgesetz Stenographische Berichte (Kommentar zum) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafrechtsreformgesetz
Abkürzungsverzeichnis StV SymbSchG T.B.M.M. TCK tStGB tVerf u. USA usw. VersG VGH vgl. VolksSchutzVO WRV z.B. ZStW z.T.
XXVII
Strafverteidiger Gesetz zum Schutze der nationalen Symbole Türkiye Büyük Millet Meclisi (Große Nationalversammlung der Türkei) Türk Ceza Kanunu (Türkisches Strafgesetzbuch) türkisches Strafgesetzbuch türkische Verfassung und United States Of America und so weiter Versammlungsgesetz Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes Weimarer Reichsverfassung zum Beispiel Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil
ERSTER TEIL: GRUNDLAGEN
Erstes Kapitel: Einführung „Ein guter Gesetzgeber [wird] weniger auf die Bestrafung als auf die Verhütung von Verbrechen bedacht sein; er wird sich mehr bemühen, die Sitten zu bessern, als Strafen zu 1 verhängen.“
A) Problemstellung und Bedeutung des Themas Der strafrechtliche Schutz des Staates, seiner Organe und Einrichtungen vor herabsetzenden Handlungen und der Schutz von Hoheitszeichen können als Teile des „politischen Strafrechts“ bezeichnet werden. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Einerseits stellen die Organe und Einrichtungen des Staates politische Institutionen und damit Schutzobjekte politischer Natur dar. Andererseits ist dieser Teil des Strafrechts in einem besonderen Maße durch seine instrumentelle Verwendung durch die Politik für ihre Zwecke bestimmt2. Die Rede ist vom Staatsschutzstrafrecht, also jenem Teil des Rechts, in dem sich der Staat durch die Mittel des Strafrechts gegen seine (und auch gegen ausländische) Bürger zur Wehr setzt. Gerade dieser Bereich des Strafrechts zeichnet sich durch seine flexibilisierenden Tendenzen aus3, in denen die Zugrundelegung von unterschiedlichen Zielen und Zwecken Straftatbestände erweitern und das Strafmaß heraufsetzen können. Hier herrscht mitunter ein Globalisierungsgedanke vor, nach dem Strafrecht die Aufgabe habe, flächendeckend zu sein4. Diese Tendenzen legitimieren sich politisch nicht selten durch eine Pflicht der Regierung und des Gesetzgebers, die Sicherheit der Bürger aufrechtzuerhalten und sich vor staatsbzw. verfassungsfeindlichen Kräften zu schützen. Der Anspruch auf flächendeckendes und „effektives“ Strafrecht birgt jedoch die Gefahr, einmal aufgestellte strafrechtliche Grundsätze aufzuweichen und hierbei das Ziel, das durch die Strafnormen erreicht werden soll, in den Vordergrund zu stellen. Strafrecht kann in diesem Grenzbereich gar Ziele verfol1 2 3 4
Montesquieu, De l’Esprit des Loix, Buch VI, Kap. IX, abgedruckt bei: Vormbaum, Strafrechtstheorie der Neuzeit, Bd. 1, S. 90; vgl. ders., Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 27 ff.; Eb. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 206. Zum politischen Strafrecht und zur Unterscheidung zwischen politischem Strafrecht im sektoralen und funktionellen Verständnis siehe: Vormbaum, „Politisches“ Strafrecht, S. 29; vgl. Hassemer, AK-StGB, vor § 1, Rn. 480 ff. Zu den flexibilisierenden Tendenzen des Strafrechts: Vormbaum, a.a.O., S. 29 ff., 37; Hilgendorf, Gibt es ein „Strafrecht der Risikogesellschaft?“, S. 10 ff., 14; Hassemer, AK-StGB, vor § 1, Rn. 480 ff. Hierzu: Vormbaum, a.a.O., S. 29 ff., 37 m.w.N.
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Erster Teil: Grundlagen
gen, die durch die Mittel des Strafrechts nicht verfolgt werden sollten. Die Gefahr der „Ausuferung“ ist besonders groß, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen es der Politik erlauben, ihre Gesetze durch aktuelle Ereignisse oder Zustände – etwa durch eine anhaltende Terrorismus-Gefahr, bürgerkriegsähnliche Zustände, drohende Staatsbankrotte etc. – zu legitimieren. Sowohl in der Geschichte der Türkei als auch in der Geschichte Deutschlands gibt es eine Reihe von Zeiträumen, die Erweiterungen im Hinblick auf das materielle Strafrecht durch die Zugrundelegung von beliebigen Zwecken und Zielen und Entformalisierung im Hinblick auf die Strafverfolgung gefördert haben. Dies gilt auch für denjenigen Teil des Strafrechts, der, wie bei ansehensschützenden Vorschriften zugunsten des Staates, seiner Einrichtungen und seiner Symbole und Hoheitszeichen, in einem Spannungsverhältnis zu Freiheitsrechten – hier besonders der Meinungs(äußerungs)freiheit – steht. Eine Untersuchung, die diesen Ausschnitt beider Strafrechtsordnungen gegenüberstellt und rechtsvergleichend in Beziehung setzt, kann einerseits darüber Aufschluss geben, wie das jeweilige Verständnis vom Staat und seiner Befugnis, Handlungen unter Strafe zu stellen, ausgeprägt ist, wie weit der jeweilige Gesetzgeber bereit ist, den Staat etwa vor Äußerungen seiner Bürger zu schützen. Sie kann veranschaulichen, wie das Strafrecht mit Freiheitsrechten verflochten ist, wie also das Grundrechtssystem einschränkenden Einfluss auf die strafrechtlichen Eingriffsbefugnisse des Staates nimmt. Sie komplettiert sich durch den Blick auf die Anwendungsrelevanz entsprechender Strafvorschriften. Denn erst hier zeigt sich, welche (praktische) Durchschlagskraft aufgestellte verfassungsrechtliche oder strafrechtliche Barrieren zu erzeugen bzw. nicht zu erzeugen in der Lage sind. Der Blick auf die Gesetzgebungsgeschichte kann darüber hinaus zeigen, ob und wann sich der jeweilige Gesetzgeber zu materiellrechtlichen Erweiterungen oder Einschränkungen bewegen ließ. Welche Bedeutung der hier zu untersuchende Teil des Strafrechts in der deutschen5 und in der türkischen6 Rechtswissenschaft hat, lässt sich schon an den anhaltenden Diskussionen über die Daseinsberechtigung der Vorschriften verdeutlichen, auf die noch später einzugehen sein wird.
5
6
Glaeser, Missbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 307 ff.; Deiters, Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch das Strafrecht, S. 291 ff., 317 ff., 327. Grünwald, Meinungsfreiheit und Strafrecht, S. 296 f.; Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 27; Bemmann, Meinungsfreiheit und Strafrecht, S. 19; vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 5; �opi�, Politisches Strafrecht, S. 253 f. Sancar, Alenen Tahkir ve Tezyif Suçlar�, S. 231 ff.; Birtek, �fade Özgürlü�ü ve TCK’nun 301. Maddesi, S. 611 ff., 624 ff.; Arslan, Meinungsfreiheit im Lichte der Entscheidungen des Gerichtshofes für Menschenrechte, S. 281 ff., 287; Asar, A�HM Kararlar� I����nda 301. Maddenin De�erlendirilmesi, S. 289 ff.
Erstes Kapitel: Einführung
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Am Rande erwähnt sei, dass die Darstellung der aktuellen Rechtslage eines nicht unbedeutenden Teils des türkischen Staatschutzstrafrechts in aufenthalts- und asylrechtlichen Fragestellungen von Bedeutung sein kann und – wie später zu zeigen sein wird – der hier unter anderem zu untersuchende strafrechtliche Schutz des Türkentums bzw. der türkischen Nation vor Herabsetzungen nicht selten auch von einer gewissen politi7 schen Bedeutung war und im Rahmen der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU Diskussionen erzeugt hat.
B) Untersuchungsgegenstand I. Rechtliche Bestandsaufnahme und Eingrenzung Den Gegenstand der Untersuchung bildet der Ansehensschutz des Staates im türkischen und deutschen Strafrecht. Die rechtliche Ausprägung dieses thematischen Rahmens sind die §§ 90a, 90b StGB und die Artt. 300, 301 tStGB8. Hierbei wird der Ansehensschutz des Staates als Oberbegriff für mittelbaren und unmittelbaren Schutz aufgefasst. Während der unmittelbare Schutz des Staates sich dadurch kennzeichnet, dass der Staat selbst vom strafrechtlichen Schutzumfang umfasst wird, kann bei den staatlichen Einrichtungen und Organen bzw. Hoheitszeichen von einem mittelbaren Schutz gesprochen werden, da zwar eine Verbindung zum Staat besteht, aber nicht der Staat selbst geschützt wird. Der Titel der Arbeit soll keineswegs ausdrücken, dass in diesen Vorschriften ausschließlich das Ansehen des Staates geschützt wird, also keine Ergebnisse vorwegnehmen. Vielmehr soll er klarstellen, dass sich die Arbeit mit Vorschriften beschäftigt, die herabsetzende bzw. verunglimpfende Tathandlungen zum Gegenstand haben und auf den Staat, auf Staatseinrichtungen und auf Hoheitszeichen gerichtet sind. Auf der anderen Seite beschränkt sich die Untersuchung auf die §§ 90a, 90b StGB und Artt. 300, 301 tStGB und geht nicht auf die Suche nach allen denkbaren Vorschriften der deutschen und türkischen Rechtsordnung, die direkt oder mittelbar mit dem Ansehen des Staates korrespondieren könnten. Während § 90a die Beschimpfung und Verächtlichmachung des Staates und die Verunglimpfung von Staatssymbolen sowie Realinjurien gegen Hoheitszeichen pönalisiert, erfasst § 90b die verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen. Konzeptionell ähnlich regelt Art. 300 tStGB die Herabsetzung staatlicher Hoheitszeichen sowie des Unabhängigkeitsmarsches und Art. 301 tStGB die Herabsetzung der türkischen Nation, des Staates der 7
8
So etwa im Strafverfahren gegen Orhan Pamuk, der 2006 den Literaturnobelpreis erhielt und zuvor in einem Interview mit dem Zürcher Magazin „Tages-Anzeiger“ vom 5. Februar 2005 sagte: „[...] Man hat hier 30.000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier.“ Pamuk wurde nach Art. 301 angeklagt. Das Verfahren wurde am 22. Januar 2006 aber wegen fehlender Ermächtigung des Justizministers eingestellt. Hierzu: �ri / Arcan, The Orhan Pamuk Case, S. 17 ff. Für die vollständigen Fassungen siehe Anhang Nr. 1 und Nr. 2.
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Erster Teil: Grundlagen
Republik Türkei, der staatlichen Institutionen und Organe. Vom Untersuchungsgegenstand ausgeklammert sind so die besonderen Ehrverletzungstatbestände der staatlichen Oberhäupter – des Bundespräsidenten bzw. Präsidenten der Republik (§ 90 StGB9; Art. 299 tStGB). Ebenfalls ausgeklammert ist der Schutz von besonderen Persönlichkeiten. Dieser der deutschen Rechtsordnung grundsätzlich fremde Ansatz, äußert sich in der türkischen Rechtsordnung durch das Gesetz über strafbare Handlungen gegen Atatürk10, in dem das Andenken Atatürks vor öffentlichen Beschimpfungen und Beleidigungen geschützt wird11. Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 103 und 104 StGB12; Artt. 341 und 342 Abs. 2 tStGB) sollen in der Untersuchung ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Der Fokus richtet sich ganz auf den Schutz des Ansehens des „eigenen“ Staates. Ebenso wenig ist das Verbreiten von Propagandamitteln bzw. das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, wie in §§ 86, 86a StGB geregelt, für die Untersuchung von Bedeutung, da sich die Untersuchung auf strafrechtliche Regelungen beschränkt, in denen die Tathandlung unmittelbar oder mittelbar gegen den Staat gerichtet ist.
II. Herkunft und Entwicklung der Tatbestände Über die Darstellung der aktuellen Straftatbestände hinaus, wird sich die Arbeit mit der Herkunft der Tatbestände befassen. Hierbei ist zu beachten, dass in der Entwicklung beider Rechtsordnungen ein Systemwechsel weg von der Monarchie und hin zur Republik vollzogen worden ist, einerseits also das Recht des Osmanischen Reiches und andererseits das Recht des Kaiserreiches abgelöst worden ist. In diesen Vorläuferrechtsordnungen wird sich die Untersuchung mit der Suche nach möglichen Bezugsquellen der republikanischen Gesetzgeber begnügen. 9 10
11
12
Siehe hierzu umfassend: Hartmann, Majestätsbeleidigung und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes (§§ 94 ff. RStGB, 90 StGB), Berlin 2006 (Diss.). Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) war Gründer und erster Präsident der aus dem Niedergang des Osmanischen Reiches entstandenen Türkischen Republik. Siehe: Rill, Kemal Atatürk, S. 17 ff., 48 ff. Seinen Zunamen Atatürk („Vater der Türken“) erhielt er von der Großen Nationalversammlung durch Gesetz Nr. 2587 vom 24. November 1934. Rill, Kemal Atatürk, S. 144. Gesetz Nr. 5816 vom 25. Juli 1951. Der von Atatürk begründete Kemalismus ist in der türkischen Verfassung verankert und es existiert eine staatliche Identität, die sich über die (problematische) Repräsentation der Person Kemal Atatürks nach außen, aber auch nach innen trägt. Hinter diesem „Symbol Atatürk“ stehen so auch die dem Kemalismus zugrunde liegenden, ideologischen Ansichten, die mit der verfassungsrechtlichen Grundordnung der Türkischen Republik derart verzahnt sind, dass ein Angriff auf das Andenken Atatürks, zumindest wertungsmäßig, einem Angriff auf das Ansehen des staatlichen Identitätsbewusstseins, also dem Ansehen des Staates in Gestalt der „kemalistischen Türkei“, gleichstehen dürfte. Siehe dazu: Heinen, Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes, Münster 2005 (Diss.).
Erstes Kapitel: Einführung
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Im türkischen republikanischen Strafrecht unterteilt sich die Untersuchung in die Darstellung der Artt. 145, 159 aus dem tStGB 1926, die die direkten Vorläufer der Artt. 300, 301 bilden und in die Darstellung der Artt. 300, 301 aus dem geltenden tStGB 2004. Bei der Untersuchung der deutschen Rechtsordnung ist zu beachten, dass die Strafrechtsgeschichte Deutschlands anders verlaufen ist, dass also in der Phase der republikanischen Gesetzgebung nicht zwei Strafgesetzbücher in Kraft getreten sind, sondern das geltende Strafgesetzbuch über die Gründung der Weimarer Republik und der Gründung der Bundesrepublik hinaus – bis heute – in Kraft geblieben ist. An diese von der Geschichte vorgegebenen Rahmenbedingen wird sich auch die Gliederung der Untersuchung anpassen müssen, so dass sich hier an die Suche nach den Vorläufern bis in die Zeit vor dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 195113 die Betrachtungen der §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) anschließen. Die Darstellung der gesetzgeberischen Entwicklung der Vorschriften14 – welche in die Untersuchung der jeweiligen Einzelvorschriften einführt – soll im Lichte der historischen Umstände erfolgen und die dogmatische Untersuchung wiederum soll versuchen, Entwicklungstendenzen herauszuarbeiten. Um einen möglichen Einfluss der historischen Rahmenbedingungen auf die Rechtsanwendung zu überprüfen, wird die Arbeit auch auf die Justizstatistiken zu den Vorschriften eingehen, also auf Mikroebene nach Zunahmen oder Abnahmen der Anklagezahlen, Verurteilungen, Freisprüche und Einstellungen15 suchen und sie in mögliche bzw. wahrscheinliche, historische Kontexte setzen.
C) Forschungsstand Der strafrechtliche Ansehensschutz des Staates ist sowohl in der deutschen als auch in der türkischen Rechtswissenschaft bereits Gegenstand diverser Untersuchungen geworden. Auf deutscher Seite findet sich mit der Dissertation von Last zu den §§ 90 bis 90b StGB und auf türkischer Seite mit der Dissertation von Senkeri zu Art. 159 tStGB 1926 sowie der Untersuchung von Sancar zu Art. 159 tStGB 1926 (und teilweise zu den Entwurfsarbeiten zum Art. 301 tStGB 2004) bereits umfangreiches Forschungsmaterial vor. Zusammen mit 13 14
15
BGBl. I 739. Die jeweiligen Fassungen der Vorschriften sind vollständig in den Anhängen wiedergegeben. Die jeweiligen Erstfassungen werden hingegen zu Beginn der Darstellung der Gesetzgebungsgeschichte einer jeweiligen Vorschrift in der Untersuchung aufgeführt, um einen gedanklichen Bezugspunkt zu schaffen, auf die man die tatbestandlichen Veränderungen der Vorschriften richten kann. Da die Bedeutung der Einstellung von der rechtlichen Ausprägung des Legalitätsprinzips abhängt und sich etwaige Unterschiede bei den Einstellungen auch auf Verurteilungen und Freisprüche auswirken, stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Vergleichbarkeit der ermittelten Statistiken. Hierauf wird im vergleichenden Teil der Arbeit noch einzugehen sein. Siehe unten: Zwölftes Kapitel, C) I.
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Erster Teil: Grundlagen
der entsprechenden Kommentarliteratur, der Sammlung einschlägiger Judikate und diversen Aufsätzen sowie den allgemeineren Werken zum Staatsschutzstrafrecht und zu Ehrverletzungsdelikten findet sich eine solide Basis für diese rechtsvergleichende Untersuchung. Ein umfassender Rechtsvergleich, der sich im Wesentlichen auf die Vorschriften §§ 90a, 90b und Artt. 300, 301 beschränkt, existiert hingegen nicht16. Zwar enthält das Werk von Sancar einige rechtsvergleichende Anmerkungen und ebenso finden sich auf deutscher Seite besonders bei Tellenbach einige Aufsätze mit vergleichenden Darstellungen, doch sind die Vorschriften nicht umfassend, d.h. auf historische, dogmatische, statistische und kriminalpolitische Gesichtspunkte hin, untersucht und verglichen worden17.
D) Zielsetzung und Methode I. Zum Rechtsvergleich und seinem (begrenzten) Nutzen Ein Rechtsvergleich von Vorschriften aus der türkischen und deutschen Strafrechtsordnung kann je nach inhaltlicher Rahmensetzung zwar für beide Seiten Erkenntnisgewinne bieten. Gleichwohl erfolgt eine rechtsvergleichende Untersuchung in der Regel aus einer bestimmten Perspektive18. Diese Arbeit vergleicht nämlich für das deutsche Recht. Kaiser schreibt: „Die Strafrechtsvergleichung ist in der Lage, dem Gesetzgeber, der an die Reform des Strafrechts denkt, den ‘Lösungsvorrat’ für die verschiedenen sozialen Probleme, die sich ihm dabei stellen, systematisch geordnet, praktisch geprüft und kritisch gewürdigt zur Verfügung zu stellen.“19
Diese Untersuchung, die den Schwerpunkt auf einen besonderen Teil des Staatsschutzstrafrechts legt, dient so der Grundlagenforschung20 und Erarbeitung von Vorkenntnissen für die deutsche Strafrechtsreform. Aber auch die Betrachtungen des deutschen Rechts und der Vergleich können (deutschsprachigen) türkischen Lesern als Fundstelle dienen. Ihnen werden einführende, allgemeine Informationen, insbesondere solche von deutschen Autoren oder Personen des öffentlichen Lebens in Deutschland, nicht vorenthalten. So mag der deutsche Leser einige überflüssig erscheinende Bemerkungen21 in Fußnoten vorfinden. Er wird aber dazu angehalten, diese als Verständnishilfe und instrudierende Anmerkungen für den türkischen Leser zu verstehen. 16 17 18 19 20 21
Auch lässt sich keine rechtsvergleichende Untersuchung im Geltungsbereich des tStGB 1926 finden, die die §§ 90a, 90b den Artt. 145, 159 gegenüberstellt. Auf die hier genannten Werke wird im Laufe der Arbeit noch näher eingegangen. Vgl. Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 40. Kaiser, Strafrechtsvergleichung und vergleichende Kriminologie, S. 83. Kaiser, a.a.O., S. 82. Etwa biografische Anmerkungen zu Gustav Radbruch, Theodor Heuss u.ä.
Erstes Kapitel: Einführung
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Nun ergibt sich aus der Betrachtung des türkischen Rechts allein noch nicht die Rechtsvergleichung. Rechtsvergleichung resultiert vielmehr daraus, mehr als eine Rechtsordnung zu analysieren und zueinander in Beziehung zu setzen22. Die Strafrechtsvergleichung kann Erkenntnisse darüber bringen, welche Handlungen in den jeweiligen Rechtsordnungen als strafbar angesehen werden und welche Handlungen straffrei sind. Bezieht man gesellschaftspolitische und historische Erwägungen mit ein, können die Untersuchungsergebnisse auch darüber Aufschluss geben, weshalb ein bestimmtes Verhalten strafbar war oder ist, warum also der Gesetzgeber bestimmte politische Handlungen für strafwürdig hielt oder noch immer hält. Wie inhaltlich frei aber der Vergleich, wie frei also ein jeder Verfasser bei der Würdigung der Frage nach dem Untersuchungsausschnitt ist, bringt Eser durch eine Variable zum Ausdruck. Für ihn wird unter Rechtsvergleichung immer gerade das verstanden, „was der betreffende Autor – sei es aus persönlicher Neugierde oder sei es im Hinblick auf eine bestimmte Aufgabe – als erforschenswert an einer fremden Rechtsordnung findet.“23
Hierbei unterscheidet Eser zwischen dem rechtspolitisch orientierten Komparatisten und jenen Autoren, denen es bei dem Rechtsvergleich mehr auf die „exotischen“ Eigentümlichkeiten eines fremden Rechts ankommt. In der rechtspolitischen Arbeit werde im ausländischen Recht nach Argumentationsmaterial für die eigenen Postulate gesucht, wohingegen der nach „exotischen“ Eigentümlichkeiten suchende Autor seine Untersuchung wie ein Museum betreiben werde, in dem die besonderen Ausprägungen des fremden Rechts gleichsam wie „Fossilien“ nebeneinandergestellt verglichen werden. Diese Untersuchung siedelt sich zwischen diesen beiden Polen an. Sie wird nicht lediglich damit beschäftigt sein, bloße Eigentümlichkeiten des türkischen Strafrechts losgelöst von ihren kriminalpolitischen und historischen Hintergründen „auszustellen“. Sie wird aber auch nicht ergebnisorientiert nach Argumenten suchen, die bei der Lösung von deutschen Meinungsstreitigkeiten helfen können. Vielmehr soll sie zu beurteilen helfen, ob der zu untersuchende Ausschnitt des Staatsschutzstrafrechts verändert, limitiert oder gar gestrichen werden sollte. Denn der durch die Strafrechtsvergleichung ermittelte Lösungsvorrat24 kann auch die Gestalt der Erkenntnis annehmen, dass ein gesellschaftliches Problem auf eine spezielle, etwa strafrechtliche Art nicht
22 23 24
Vgl. Feldtmann, Vom Reisen in andere Strafrechtssysteme, S. 153 m.w.N. Siehe hierzu und zum Folgenden: Eser, Funktionen, Methoden und Grenzen der Strafrechtsvergleichung, S. 1500. Kaiser, a.a.O., S. 83; siehe schon: Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 42, zitiert aus: Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung, S. 287; der Begriff „Lösungsvorrat“ dort wiederum auf Zitelmann zurückgeführt.
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Erster Teil: Grundlagen
oder nur unbefriedigend gelöst werden kann, so dass eine Nachahmung zu vermeiden ist. Ihre Grenze findet die komparative Methode in nicht vergleichbaren Untersuchungsausschnitten. Doch sind Rechtsordnungen in ihrer Gesamtheit und in ihren Teilstücken, wie die Sprachen, stets vergleichbar und zugleich unvergleichbar. Entscheidend ist, wie detailliert der Vergleich ist und ob die Untersuchungskategorien in der Lage sind, diejenigen Teilstücke und Inhalte zu erfassen, die jeweils und insgesamt miteinander vergleichbar sind.
II. Forschungsmethode Wenn man untersuchen möchte, wie der Staat sein Ansehen schützt, muss der Blick zunächst zwar auf die gesamte Rechtsordnung gerichtet werden. So kann von vornherein nicht lediglich das Strafrecht berücksichtigt werden, da beispielsweise die in der Verfassung verankerte Grundlegung zum Thema staatlicher Ansehensschutz schon unterschiedlich sein kann oder auch ein entsprechender ordnungsrechtlicher Schutz existieren könnte. Wenn aber in beiden Strafrechtsordnungen Regelungen zum Thema vorliegen, ist ein auf diese Regelungen beschränkter Vergleich methodisch unbedenklich. Demgemäß richtet sich die Untersuchung lediglich auf das Strafrecht beider Rechtsordnungen. Die Forschungsmethode folgt hierbei Jeschecks Stufenaufbau25: Die ersten beiden Stufen bilden hiernach der eigene dogmatische und kriminalpolitische Standpunkt und die exegetische Arbeit am Auslandsrecht, die neben der Darstellung des Gesetzesrechtes auch das Gewohnheitsrecht zu berücksichtigen hat, also die wesentliche Dogmatik wiederzugeben in der Lage sein sollte. Die dritte Stufe bildet der eigentliche Rechtsvergleich. Sie stellt die vergleichende Synthese der einzelnen Teilstücke des fremden Rechts mit der eigenen Rechtsordnung dar. Die vierte Stufe fordert die rechtspolitische Bewertung, die den inhaltlichen Rahmen des „eigentlichen“ Rechtsvergleichs verlässt. Für Jescheck geht es hier „um die großen Wertkategorien der Gerechtigkeit, der kriminalpolitischen Zweckmäßigkeit, der Praktikabilität, der Tradition, der Volksüberzeugung [...].“26
III. Darstellungsmethode 1. Gliederung Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile. Während der erste (Grundlagen) und letzte Teil (Zusammenfassung und Würdigung) auf den rechtsvergleichenden Teil der Arbeit vorbereiten und ihn zusammenfassend würdigen sollen, bildet 25 26
Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 38 ff. Jescheck, a.a.O., S. 43.
Erstes Kapitel: Einführung
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der Hauptteil der Arbeit den Rechtsvergleich. Hierbei wird die Darstellung des thematischen türkischen bzw. deutschen Rechts getrennt, so dass der zweite Teil der Arbeit die Darstellung des türkischen Rechts27 und der dritte Teil der Arbeit die Darstellung des deutschen Rechts enthält28. Der dogmatische Teil, der auch die Untersuchung der Justizstatistiken und der geschützten Rechtsgüter enthält, deckt damit die von Jescheck bezeichneten ersten beiden Stufen ab. Um den vierten Teil der Arbeit – den eigentlichen Vergleich und damit die dritte und vierte Stufe – zu erleichtern, werden bei der Darstellung der jeweiligen Rechtsordnungen Untersuchungskategorien gebildet. Sie richten sich nach dem jeweiligen Verbrechensaufbau und umfassen auch die (grobe) Dogmatik der Versuchsstrafbarkeit, um zu ermitteln, wann strafbares Handeln beginnt. Neben dem Vergleich enthält der vierte Teil notwendigerweise auch die Auseinandersetzung mit der Frage, ob die einzelnen Teilstücke (die einzelnen Elemente des strafbaren Handelns, der Rechtsgutsbegriff, die ermittelten statistischen Erkenntnisse etc.) vergleichbar sind.
2. Themenspektrum Innerhalb der dogmatischen Teile zu den einzelnen Rechtsordnungen sollen mit der Darstellung der Vorläufer und der Normentwicklungen historische Aspekte berücksichtigt werden. Mit der dogmatischen Darstellung liegt der Schwerpunkt beim gesetzten Recht. Dieser wird mit der Untersuchung der Justizstatistiken um Erkenntnisse über die Anwendungsrelevanz des gesetzten Rechts ergänzt. Die Einbeziehung rechtspolitischer Hintergründe erfolgt unter anderem über die Untersuchung der geschützten Rechtsgüter. Denn der Einblick in dasjenige, was der Gesetzgeber glaubt, als Legitimation für strafbares Handeln heranziehen zu dürfen, öffnet gleichzeitig das Fenster zu den von Jescheck so bezeichneten „Traditionen“ und „Volksüberzeugungen“. So ist denkbar, dass der türkische Gesetzgeber mit den einzelnen Schutzobjekten andere Rechtsgüter zu schützen glaubt, als der deutsche Gesetzgeber und umgekehrt. Etwaige Unterschiede können historische oder gesellschaftspolitische 27
28
Im Schrifttum wird mit „türkischem Recht“ häufig das Recht seit der Gründung der Türkischen Republik im Jahre 1923 bezeichnet. Demgemäß ist das vor diesem Wendepunkt geltende Recht das „osmanische Recht“. „Osmanisch-türkisches“ Recht hingegen bezeichnet dasjenige Recht, das als ursprünglich osmanisches Recht nach der Gründung der Türkischen Republik noch fortgalt, bis es durch entsprechende Regelungen der „neuen“ türkischen Jurisprudenz ersetzt worden ist. Der Teil „türkisches Recht“ soll mit seiner Überschrift aber lediglich die Trennung zur deutschen Rechtsordnung markieren. „Türkisches Recht“ wird also als Oberbegriff sowohl für das osmanische Recht als auch für das türkische Recht aufgefasst. Im türkischen Recht wird vor der Untersuchung der konkreten Vorschriften einem Grundlagen-Kapitel Platz eingeräumt, der auf die folgenden Darstellungen vorbereiten und insbesondere auf die Grundlagen der Strafbarkeit und auf die Rechtssetzungs- bzw. Rechtsandwendungsgrundsätze eingehen soll. Für die Darstellung des deutschen Rechts werden die hier dargestellten Inhalte als bekannt vorausgesetzt.
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Erster Teil: Grundlagen
Gründe haben und sind entsprechend zu würdigen. Diese Würdigung bildet ebenfalls einen Teil der rechtspolitischen Ausführungen der Arbeit.
E) Quellen und Literatur29 Da Besonderheiten der Quellen- und Literaturbeschaffung notwendigerweise Einfluss auf die Darstellung nehmen, seien einige dieser Unterschiede gegenüber der Situation in Deutschland erwähnt: Die türkischen Kommentare enthalten im Gegensatz zu dem hierzulande üblichen Umfang nur wenige Angaben zu der aktuellen rechtswissenschaftlichen Diskussion30. Auch ein historischer Abriss der jeweiligen Vorschriften, wie er im Leipziger Kommentar vorkommt und zumindest eine Einführung bietet, ist in den türkischen Kommentaren nicht bzw. nur ausnahmsweise auf einzelne Vorschriften beschränkt auffindbar. In einigen Werken werden dagegen die amtlichen Begründungen (gerekçe) zu den Vorschriften veröffentlicht. Daneben enthalten die meisten Kommentare einige Rechtsprechungsbeispiele, zwar meist auf die Entscheidungen des Kassationshofes (Yarg�tay)31 beschränkt, aber häufig vollständig abgedruckt32, so dass hier ein dogmatischer Einstieg in die Materie und ein Überblick auf die wesentliche Lage der Praxis ermöglicht wird. Bei den Kommentaren handelt es sich somit um eine bedeutende Zugangsmöglichkeit auf eine themengebundene Rechtsprechungsübersicht. Denn die türkische Rechtsprechung wird längst nicht so umfangreich dokumentiert, wie es in Deutschland der Fall ist: Zwar existiert eine amtliche Entscheidungssammlung des Kassationshofes (Yarg�tay Kararlar Dergisi)33, doch enthält sie nicht alle wichtigen und interessanten Urteile34. Um einen möglichst breiten Zugang zu allen wesentlichen Rechtsfragen eines thematischen Rahmens zu erlangen, ist der Rückgriff auf Monographien, in denen teilweise auch eine Darstellung und Diskussion von nichtveröffentlichten Entscheidungen enthalten ist, hilfreich. Denn der Zugang zu der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist nur ein erster Schritt. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass ein Teil der veröffentlichten Urteile häufig nur Angaben zu der Frage macht, ob ein Tatbestand verwirklicht worden ist oder nicht und häufig keine genauen Differenzierungen 29 30 31 32 33 34
Siehe zu den folgenden Ausführungen den Überblick über die rechtswissenschaftliche Literatur in der Türkei bei: Rumpf, Einführung in das türkische Recht, S. 14 ff. Rumpf, a.a.O., S. 17. Der türkische Kassationshof entscheidet in (zweiter und) letzter Instanz in Zivil- und Strafsachen. Vgl. hierzu: Rumpf, a.a.O., S. 58 f. Rumpf, a.a.O., S. 17. Vor 1975 trug die Entscheidungssammlung den Namen „Amtliche Entscheidungssammlung“ (Resmî Kararlar Dergisi). Rumpf, a.a.O., S. 18. Rumpf merkt an, dass in der amtlichen Entscheidungssammlung nur ein „Bruchteil“ der höchstrichterlichen Urteile erscheint, a.a.O., S. 18.
Erstes Kapitel: Einführung
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oder Begründungen enthält35. Eine andere hierzulande unübliche Darstellungsweise von Urteilen ist die Aussparung von Schimpfwörtern und Flüchen, die in den Aussagen der Angeklagten enthalten sind36. Sie sind zwar regelmäßig so zensiert, dass eine Rekonstruktion der Flüche gelingt, doch stellt sich die Frage nach einer angemessenen Übersetzungsform, welche in dieser Arbeit – dem Grundsatz der genauen Übersetzung gemäß – zugunsten der Darstellung entsprechender Urteilspassagen mit den Aussparungen entschieden wurde. Ferner bieten Aufsätze in Zeitschriften einen guten Einstieg in dogmatische Fragen und geben darüber hinaus einen kurzen Überblick über die höchstrichterliche Rechtsprechung und den allgemeinen Meinungsstand. Aber auch hier ist der Markt längst nicht so groß wie der mit einer Fülle von Zeitschriften bediente deutsche. Zu den wichtigen rechtswissenschaftlichen Zeitschriften von Universitäten können die Zeitschriften der juristischen Fakultäten der Universitäten Ankara (Ankara Üniversitesi Hukuk Fakültesi Dergisi)37 und Istanbul (�stanbul Üniversitesi Hukuk Fakültesi Mecmuas�)38 gezählt werden. Auch das Justizministerium gibt Zeitschriften heraus, und die Zeitschrift der Justiz (Adalet Dergisi) stellt eine traditionsreiche Publikation dar39, in der neben der Veröffentlichung von aktuellen höchstrichterlichen Urteilen auch erstinstanzliche Urteile vorzufinden sind. Eine wichtige Hilfe bei der Auslegung von Gesetzen bieten ferner die Gesetzesbegründungen und die Verhandlungsprotokolle des Parlaments40. Sie werden in der Parlamentszeitschrift (Türkiye Büyük Millet Meclisi Tutanak Dergisi)41 abgedruckt. Im Hinblick auf die Übersetzung von Vorschriften wurde darauf Wert gelegt, Übersetzungen aus dem Schrifttum zugrunde zu legen. Hierbei gilt, dass bei der Übernahme von Übersetzungen das übersetzende Werk zitiert wird. Falls hier von der Übersetzungsliteratur abgewichen wird, wird auf entsprechende Stellen hingewiesen. Wenn keine Angaben zu übersetzten Vorschriften ge35 36 37 38 39 40 41
Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht der Türkei, S. 642. Aus der (fiktiven) Aussage „So eine Scheißrepublik!“ wird in der Darstellungsform der Urteile etwa „So eine Sch...republik!“. Auch im Internet zugänglich unter: http://dergiler.ankara.edu.tr (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Zugänglich unter: http://journals.istanbul.edu.tr (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Rumpf, a.a.O., S. 20. Siehe: Rumpf, a.a.O., S. 20 f. Früher wurde die Parlamentszeitschrift unter den Namen Zabit Ceridesi geführt. Mit der tVerf 1961 wurde ein Zweikammersystem eingeführt und das Komitee für die nationale Einheit gegründet. Jedes Organ hat in dieser staatsorganisationsrechtlichen Zwischenphase (bis zur Abschaffung des Zweikammernsystems durch die tVerf 1982) eine eigene Publikationsreihe geführt (u.a. Cumhuriyet Senatosu Tutanak Dergisi, Millet Meclisi Tutanak Dergisi, T.B.M.M. Tutanak Dergisi, Millî Birlik Komitesi Genel Kurul Toplant�s�).
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Erster Teil: Grundlagen
macht werden, wurden sie vom Verfasser übersetzt. Andere Texte, insbesondere Gerichtsurteile, Gesetzesbegründungen und Aussagen aus den Verhandlungsprotokollen wurden ebenfalls vom Verfasser übersetzt.
F) Statistiken Die türkische Justiz ist im Laufe der Zeit in statistischer Hinsicht unterschiedlich erfasst worden. Die Aufzeichnungen begannen im Jahre 1935 und wurden mit einer Verzögerung von jeweils zwei Jahren jährlich publiziert. Bei den Statistiken, die sich auf Einzelvorschriften erstrecken, existiert kein durchgehender Erhebungszeitraum. Für die Periode von 1935 bis 1962 lassen sich in den Publikationen der Türkischen Gesellschaft für Statistiken (Türkiye �statistik Kurumu) Angaben zu den jährlichen Verurteiltenzahlen finden. Die Anklagen (dava), Freisprüche (beraat) oder die Einstellungen (dü�me) sind nicht dokumentiert. Nach 1962 sind in den Publikationen der Türkischen Gesellschaft für Statistiken weitgehend keine auf Einzelvorschriften beschränkten Erhebungen zu finden, da sich offensichtlich die Veröffentlichungspolitik nach dem Militärputsch im Jahre 1960 verändert hat. Erst ab 1986, nun allerdings unter der Schirmherrschaft des Amts für Justizstatistiken (Adli Sicil ve �statistik Genel Müdürlü�ü) sind wieder vermehrt Erhebungen zu Einzelvorschriften veröffentlicht worden. Sie beschränken sich von 1986 bis 1993 auf reine Anklagezahlen und dehnen sich ab 1994 auch auf die Verurteiltenzahlen und auf Zahlen zu den Freisprüchen aus. Bedauerlicherweise ist damit statistisch derjenige Zeitraum der türkischen Geschichte ausgespart worden, der sich durch drei militärische Interventionen und einer damit einhergehenden Instabilität auszeichnet und daher für die statistische Untersuchung eines Teils des politischen Strafrechts von besonderem Interesse gewesen wäre. Ähnlich verhält es sich mit der statistischen Erfassung der Strafverfolgung in Deutschland: Die Kriminalstatistik für das Deutsche Reich hat die Strafverfolgung nach Vorschriften des RStGB und diversen Nebengesetzen von 1882 bis einschließlich 1939 dokumentiert. Die Kriminalstatistik enthält unter anderem die Anklagezahlen, Verurteilungen, Freisprüche und Einstellungen. Hieraus lassen sich für einen großen Teil der Vorläufer der §§ 90a, 90b statistische Erkenntnisse ableiten, da hierbei überwiegend Angaben zu Einzelvorschriften gemacht wurden. Gelegentlich und insbesondere bei Vorschriften mit geringerer Anwendungsrelevanz aber wurden die Vorschriften auch aggregiert erfasst. Die statistische Erfassung wurde danach durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen. Erst nach der Gründung der Bundesrepublik wurde die Strafverfolgung ab 1950 wieder statistisch erfasst. Sie wurde zunächst in der Statistik der Bundesrepublik Deutschland, seit 1960 in der Rechtspflegestatistik und ab
Erstes Kapitel: Einführung
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1974 in der Strafverfolgungsstatistik veröffentlicht42. Das hier ermittelte statistische Material enthält jedoch (mit Ausnahme für § 96 im Zeitraum von 1954 bis 1960) keine Einzelstatistiken zu §§ 90a, 90b (§§ 96, 97). Sie finden sich in den Veröffentlichungen lediglich in aggregierter Form. Die Off-Site-Files zur Strafverfolgungsstatistik (EVAS 24311) enthalten dagegen Einzelstatistiken zu den §§ 90a, 90b seit dem Jahr 1995. Erfasst sind unter anderem Einstellungen, Freisprüche und Verurteilungen. Da aber die Abgeurteilten dokumentiert werden, enthalten die Daten keine Entscheidungen vor Eröffnung des Hauptverfahrens, also auch keine Einstellungen nach §§ 153 ff. StPO durch die Staatsanwaltschaft43.
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Die Daten wurden ab 1950 in den alten Bundesländern erhoben. Das Saarland und West-Berlin traten erst 1961 hinzu. Seit 1995 ist Gesamtberlin erfasst. Von den neuen Bundesländern traten Brandenburg 1994, Sachsen 1992, Thüringen 1997, Mecklenburg-Vorpommern 2001 und Sachsen-Anhalt 2007 hinzu. Heinz, Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882–2006, S. 33. Abgeurteilte sind nach Terminologie der Strafverfolgungsstatistik Angeklagte, gegen die Strafbefehle erlassen wurden bzw. Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluss rechtskräftig abgeschlossen worden sind. Siehe etwa: Strafverfolgung 2010, S. 13. Heinz, a.a.O., S. 32 f.
ZWEITER TEIL: TÜRKISCHES RECHT
Zweites Kapitel: Vorläufer „Wie es dem Staate gebührt, die unmittelbar gegen die Regierung gerichteten strafbaren Handlungen in Strafe zu nehmen, so gehört auch die Bestrafung der an dem Einzelnen begangenen strafbaren Handlungen unter dem Gesichtspunkte der Störung des Rechtsfriedens zu den Aufgaben des Staates.“1
A) Zur Darstellung Die türkische Strafrechtsgeschichte lässt sich in drei Entwicklungszeiträume unterteilen. Sie sind Ausdruck von zwei wichtigen Umbruchphasen der türkischen (Rechts-)Geschichte – die Reformphase der tanzimat („neue Ordnungen“) und die Gründung der Türkischen Republik. So unterscheidet sich das Strafrecht vor der tanzimat von demjenigen, das durch die tanzimat-Periode beeinflusst ist und dieses wiederum vom republikanischen Strafrecht. In diesem Kapitel sollen die möglichen Vorläufer der Artt. 145, 159 tStGB 19262 dargestellt werden. Demnach beschränkt sich dieses Kapitel auf das Recht der ersten beiden Entwicklungszeiträume, also auf das Strafrecht vor der tanzimat und auf das tanzimat-Strafrecht. Das republikanische Strafrecht hingegen, das durch Inkrafttreten des tStGB 1926 eingeläutet wurde, wird in den darauffolgenden Kapiteln ins Auge genommen.
B) Osmanisches Recht I. Staat und Strafrecht im Osmanischen Reich Die osmanische Strafrechtsordnung basierte auf dem islamischen Recht und gliederte sich so in drei Teile – in die hadd-, qisas-, und ta’zir-Strafen3, die sich im Hinblick auf den Regelungsgehalt deutlich voneinander unterscheiden und in denen der Staat je nach Strafengruppe eine unterschiedlich gewichtige Rolle spielt. Denn mit den qisas-Strafen besteht ein großer Teil des islamischen Strafrechts aus der Privatrache (Talion), also einem aus dem staatlichen Einflussbereich grundsätzlich ausgelagerten Bereich der Bestrafung4. Obwohl 1 2 3 4
Art. 1 oStGB 1858, Text bei: Nord, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 1. Diese Vorschriften bilden wiederum die Vorbilder der Artt. 300, 301 tStGB 2004. Ayd�n, Türk Hukuk Tarihi, S. 73 ff., 171 ff.; Mumcu / Üçok, Türk Hukuk Tarihi, S. 40 ff., 59 ff.; Avc�, Osmanl� Ceza Hukuku, S. 14 ff.; Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 3 ff. Die qisas erfasste im osmanischen Strafrecht so die Vergeltung als Strafe für Tötungen mit Vorbedacht, für Tötungen als nicht beabsichtigte Folge eines Angriffs und fahrläs-
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
aber der Bereich der Privatrache strafprozessual geregelt wurde und somit zumindest unter der Kontrolle der Obrigkeit stand5, ließ doch schon die Konzeption der Privatrache keinen Platz für den Staat als strafrechtliches Schutzobjekt. Und auch ein Blick auf die hadd-Strafen führt zu einem ähnlichen Ergebnis: Denn die Gruppe der hadd-Strafen regelt die Strafen für Diebstahl, Straßenraub, Alkoholgenuss, Unzucht und Verleumdung wegen Unzucht, Apostasie (Abkehr vom Glauben) und Aufruhr6. So kann also auch in dieser Gruppe kein für die Untersuchung relevanter Regelungsgehalt existieren. Tatsächlich liegt dem islamischen Verständnis von den Straftaten gegen den Staat keine Prämisse zugrunde, in der der Staat als Abstraktum Beachtung finden würde. Straftaten gegen den Staat i.w.S. sind vielmehr diejenigen Handlungen, die das Zusammenleben der (islamischen) Gemeinschaft gefährden7. So verwundert es nicht, dass neben dem Aufruhr auch die Apostasie zu den Straftaten gegen den Staat gezählt wird8. Schon Feuerbach fragte: „Wie konnte auch damals der Araber sich bis zu dem Begriff eines Staatsverbrechens erheben, – eine Beleidigung des Staates – er, der keinen Staat noch kannte; der in patriarchalischer Einfachheit, als König seiner Familie, mit seinem Stamme als Bundsgenosse vereinigt lebte [...]“9
Das islamische Strafrecht ist jedoch nicht auf diesen Kern von Straftatbeständen beschränkt. Vielmehr ist die Verhängung von Strafen auch für andere Handlungsweisen durch die Obrigkeit nach islamischem Recht zulässig10. Diese Gruppe – die ta’zir-Strafen – wird auch als die Gruppe der freien Strafen bezeichnet11, da hier Verhalten ohne vorherige gesetzliche Positivierung verfolgt werden konnte12. Für Weiterentwicklungen war diese Strafengruppe also
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11 12
sige Tötungen sowie Körperverletzungen (bei Verstümmelungen oder Beraubung eines inneren Organs). Zur osmanischen Rechtslage: v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 426 f. Siehe ergänzend mit Blick auf das islamische Strafrecht: El-Baradie, GottesRecht und Menschenrecht, S. 129 ff. Eine autonome Privatrache sollte grundsätzlich ausgeschlossen sein. Siehe hierzu und zum osmanischen Strafprozessrecht eingehend: Akman, Osmanl� Devleti’nde Ceza Yarg�lamas�, S. 19 ff. Vgl. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 426 f. Tellenbach, Zum Straf- und Strafprozessrecht, S. 146 (Fn. 3). mit Hinw. auf: ElBaradie, a.a.O., S. 96 ff. Vgl. Avc�, Osmanl� Ceza Hukuku, S. 21. Vgl. Özek, Devletin �ahsiyeti, S. 610 f. Avc�, a.a.O., S. 323 ff.; Özek, a.a.O., S. 611. Feuerbach, Criminaljurisprudenz des Koran, S. 170. El-Baradie, a.a.O., S. 147 m.w.N.; �çel / Donay, Ceza Hukuku, Bd. 1, S. 50 f.; Ayd�n, Türk Hukuk Tarihi, S. 173; Taner, Tanzimat Devrinde Ceza Hukuku Kanunlar�, S. 1. Tellenbach, Zum Straf- und Strafprozessrecht, S. 146. Vgl. Mumcu / Üçok, Türk Hukuk Tarihi, S. 64. Pacic, Islamisches Strafrecht, S. 16. Bei schwerwiegenderen Handlungsweisen (Hippel: Verletzungen des öffentlichen Friedens) nahm der Herrscher durch seine Richter (kadis) das Recht auf Bestrafung wahr. Jedoch galt auch hier nicht der Grundsatz nullum crimen sine lege. Bei Übertre-
Zweites Kapitel: Vorläufer
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offen und, wie zu zeigen sein wird, konnten sich mit der durch die tanzimatEpoche initiierten Öffnung für das europäische Recht einige Veränderungen für das Verständnis von Staat und Recht durchsetzen. Diese Entwicklungen nahmen Einfluss auch auf das Strafrecht.
II. Strafrecht bis in das frühe 19. Jahrhundert Bei der Geschichte des ta’zir-Rechts im Osmanischen Reich kann zwischen der Zeit bis zur tanzimat-Epoche und der Zeit danach unterschieden werden13. Denn schon vor der tanzimat entstanden umfassende Gesetze, die kanunnameler14, die neben zivilrechtlichen Vorschriften auch Straftatbestände enthielten15. Diese kanunname-Bewegung führte insbesondere unter Süleyman II. (1520–1566) schon früh zu einigen Reformen16. Den Gesetzen, deren Entstehungszeit vor der tanzimat liegt, ist ein unmittelbarer, strafrechtlicher Schutz des Ansehens des Staates jedoch fremd17.
III. Das „neue“ Strafrecht unter dem Einfluss der tanzimat Veränderungen brachte die tanzimat. Diese Reformepoche begann mit dem am 3. November 1839 ergangenen tanzimat-Erlass (Gülhane Hatt-� �erif-î)18, in dem unter anderem die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz festgelegt wurde. Während der tanzimat näherte sich der osmanische Gesetzgeber an die europäische Gesetzgebung an. In der Amtszeit Sultan Abdülmecids I. (1839–
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tungen lag das Recht auf Verfolgung und willkürlicher Bestrafung bei den Leitern der Polizei. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 427. Vgl. Mumcu / Üçok, Türk Hukuk Tarihi, S. 64; vgl. �çel / Donay, Ceza Hukuku, Bd. 1, S. 50 f. Vgl. auch: Senkeri, der vor der Zeit des oStGB 1858 und danach unterscheidet, Tahkir Ve Tezyif Cürümleri, S. 28; siehe: �entop, Tanzimat, S. 18 ff. Vgl. Bisoukides, Osmanisch-Türkisches Recht, S. 17. Siehe ferner: Da�a�an, Von der Sünde zur Straftat, S. 385 ff. Heyd, Eski Osmanl� Ceza Hukukunda Kanun ve �eriat, S. 633 ff.; ders., Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 1 ff. Das Wort „Kanun“ fand aus dem Griechischen Einzug in die arabische Rechtsprache. Vgl. hierzu: Hattenhauer, Europäisches und osmanisches Recht, S. 73. Mumcu / Üçok, Türk Hukuk Tarihi, S. 182 ff., 184; Ayd�n, a.a.O., S. 108 f.; Bisoukides, a.a.O., S. 17 ff. Süleyman „der Prächtige“ oder „der Gesetzgeber“ (kanuni) reformierte u.a. das Strafrecht. Er beschränkte die Steinigung (die Strafe für Ehebruch) und das Abschlagen der Hand (die Strafe für Diebstahl) und trat hier in Widerspruch mit koranischen Vorschriften. Bisoukides, a.a.O., S. 17 f. Vgl. Mumcu, Siebzig Jahre westliches Recht, S. 28. Die kanunname-Bewegung begann bereits mit Mehmet II. (1451–1481). Acar, Osmanl� Kanunnameleri Ve �slam Ceza Hukuku I, S. 57 m.w.N. Vgl. Senkeri, Tahkir Ve Tezyif Cürümleri, S. 28; vgl. Üçok, �slâm Ceza Hukuku, S. 126 ff.; vgl. Özek, a.a.O., S. 610 ff. Auf Deutsch: Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, S. 15 ff. In zeitgenössischer, türkischer Sprache: Velidedeo�lu, 1789 Devrimin �lkerlerinin Osmanl�’daki Yans�malar�, S. 15.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
1861) wurden drei Strafgesetzbücher erlassen, in denen bereits erste Ansätze eines neuen Verständnisses von Staatsschutz und Strafrecht erkennbar sind: Hierbei handelt es sich um die Strafgesetzbücher aus den Jahren 1840, 1851 und 185819.
1. Die Strafgesetzbücher von 184020 und 185121 Das erste Strafgesetzbuch der tanzimat-Zeit war das oStGB vom 3. Mai 1840 (Ceza Kanunnâme-i hümâyûnu), das aus einer Einleitung, 41 Vorschriften und einem Schluss besteht. Es enthält, neben einem Verweis auf das Scheriatrecht, eine Reihe von ta’zir-Tatbeständen22 und zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass der osmanische Staat selbst als Schutzobjekt strafrechtliche Berücksichtigung gefunden hat23. Während die meisten Bestimmungen keine Angaben zum Strafmaß enthalten und die Tathandlungen zwar benennen, aber nicht näher spezifizieren24, misst die Kodifikation den Straftatbeständen zum Schutze des osmanischen Staates eine Sonderrolle bei: Hier nämlich lassen sich genauere Angaben zu Strafmaß, Art der Bestrafung und Ausführungen zur Tathandlung finden. Mögliche Vorläufer sind in der Kodifikation jedoch nicht geregelt. Bei dem oStGB 1851 (Kanun-i Cedid) handelte es sich um eine Novellierung des oStGB 184025. Es wurden neue Tatbestände wie die Belästigung, Trunkenheit, Glücksspiel, Fälschung, Entführung von Mädchen und Münzvergehen eingeführt26. Ferner wurde das Gesetz gegenüber seinem Vorgänger von 1840 19 20
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Mumcu / Üçok, a.a.O., S. 271 ff.; Taner, a.a.O., S. 6 ff.; siehe schon: Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 9 ff. Vgl. Da�a�an, a.a.O., S. 391 ff. Der Text in osmanisch-arabischen Schriftzeichen in der Bibliothek der Türkischen Gemeinschaft für Sprache (Türk Dil Kurumu Ba�kanl��� Kütüphanesi): Karakoç, Külliyat, Dosya (Akte) 5 / No. 992 (Hinw. bei: �entop, Tanzimat, S. 28). Der Text wurde (mit einigen inhaltlichen Hinweisen) auch in das lateinisch-türkische Alphabet transkribiert: Akgündüz, Külliyat, S. 809 ff. Zum Text: Karakoç, Külliyat, Dosya 7 / No. 997 (Hinw. bei: �entop, Tanzimat, S. 33); Akgündüz, Külliyat, S. 821 ff. Vgl. Akgündüz, Külliyat, S. 805. So unter anderem bei der Anreizung zur Rebellion in Art. 1 des 2. Abschnitts der Kodifikation: „Bei der Anreizung zur Rebellion gibt es zwei Formen; die verbale und die tätige Form; zum Beispiel wenn ein Mann einen anderen Mann oder eine Gruppe von anderen Männern durch aufrührerische Äußerungen zur Rebellion gegen den Osmanischen Staat, seine Gesetze oder seine Verordnungen anreizt, wird er, abhängig von dem Grad seiner Störung, mit einem Jahr bis zu fünf Jahren Zwangsarbeit bestraft.“ (Hervorhebungen diesseits); Akgündüz, Külliyat, S. 812. Vgl. Miller, Sin and Crime, S. 29 f. Kritisch: Taner, a.a.O., S. 7 f. Önder, Das türkische Strafrecht, S. 426. Vgl. Tellenbach, Zum Straf- und Strafprozessrecht, S. 146. Vgl. Akgündüz, Külliyat, S. 805. Önder, Das türkische Strafrecht, S. 427; Jaenecke, a.a.O., S. 10 f. Vgl. �entop, Osmanl� Ceza Hukuku, S. 33 ff.
Zweites Kapitel: Vorläufer
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neu gegliedert27: Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit dem Schutz des Lebens, der zweite Abschnitt mit dem der Ehre und der letzte Abschnitt mit dem von Vermögen28. Mögliche Vorläufer finden sich jedoch auch hier nicht.
2. Das Strafgesetzbuch von 185829 Bedeutender noch ist das Strafgesetzbuch vom 9. August 1858 (Ceza Kanunnâme-i hümâyûnu). Es wurde wiederholt erneuert und ergänzt, jedoch erst durch das republikanische tStGB 1926 abgelöst. Vorbild dieses Gesetzes war der französische Code pénal von 181030, und wie das gesetzgeberische Vorbild, legte der osmanische Gesetzgeber auch in diesem Gesetzbuch großen Wert auf den strafrechtlichen Schutz des Staates. Im oStGB 1858 ist der Anteil der Staatsschutzdelikte aber sogar noch höher als im Code pénal, der bereits einen vergleichsweise hohen Anteil an Staatsschutztatbeständen31 enthält32. Obwohl aber die Zahl der staatsschützenden Strafvorschriften erweitert wurde, lassen sich im oStGB 1858 in der Fassung vom 9. August 1858 keine Strafvorschriften finden, die einen Ansehensschutz des Staates oder staatlicher Einrichtungen bzw. den Schutz von Hoheitszeichen enthalten. Allerdings erweiterte sich das Staatsschutzstrafrecht des oStGB 1858 mit einer Reihe von Novellen nach Inkrafttreten der osmanischen Verfassung im Jahre 1876. Während Art. 55 in seiner Erstfassung vom 9. August 1858 lediglich die Aufwiegelung zum Aufstand regelte33, erhielt die Vorschrift nach einer Novelle von 1880 den 27 28 29
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Das oStGB 1840 bestand aus 13 Abschnitten und 41 Paragraphen, das oStGB 1851 hingegen aus drei Abschnitten und 43 Paragraphen. Akgündüz, Külliyat, S. 805. Miller, a.a.O., S. 43 ff. Der Text in osmanisch-arabischen Schriftzeichen findet sich im Osmanischen Staatsarchiv in Istanbul (Ba�bakanl�k Osmanl� Ar�ivi), Dosya 65–1/3 (Hinweis bei: Akgündüz, Külliyat, S. 833). Das Gesetz im türkisch-lateinischen Transkript: Akgündüz, Külliyat, S. 832 ff. Vollständige Übersetzung ins Deutsche: Nord, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 1 ff. Nord, a.a.O., S. IX; vgl. Tellenbach, Zum Straf- und Strafprozeßrecht in der Republik Türkei, S. 146; Yenisey, Entwicklungen im türkischen Strafrecht, S. 213; Mumcu / Üçok, a.a.O., S. 272; Jaenecke, a.a.O., S. 12. Der direkte Vergleich beider Strafgesetzbücher ergibt: Das französische Strafgesetzbuch enthält einen staatsschützenden Anteil von 68 Vorschriften im Titel „Widerstand und Ungehorsam gegen die Autorität“ von insgesamt 484 Vorschriften, während im osmanischen Pendant 23 Vorschriften dieses Titels übernommen worden sind, diese also einen geringeren Anteil von den insgesamt 265 Vorschriften bilden; vgl. Miller, a.a.O., S. 55. So ist das unerlaubte Eröffnen von Druckereien, das Drucken von Schriften, die sich „gegen das Herrscherhaus, die Behörden und eine der dem Sultanat unterworfenen Nation richten“ (Artt. 137, 138), das unerlaubte Eröffnen von Schulen, die unerlaubte Erteilung von Unterricht und die Nutzung von unerlaubten Lehrbüchern (Artt. 140, 141, 142) unter Strafe gestellt; Nord, a.a.O., S. 43 ff. „Wer unmittelbar oder mittelbar die ottomanischen Untertanen und die Bewohner der Türkei zum bewaffneten Aufstande gegen das Herrscherhaus aufwiegelt, wird, wenn
Zweiter Teil Türkisches Recht
3 Pressegesetze a Zum Presserecht im Osmanischen Reich
tanzimat
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Zweites Kapitel: Vorläufer
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anders als ihre Vorbilder aus Preußen (und möglicherweise Belgien)38 – kein Vorzensurverbot statuierte. Jedoch änderte sich die presserechtliche Situation in der zweiten konstitutionellen Periode39 am 21. August 1909 durch die Umsetzung der Verfassungsnovelle vom 1. April 1908, in der die Vorzensur abgeschafft40 und das Interesse nach einem neuen, dieser veränderten Lage angepassten Gesetz größer wurde und der Gesetzgeber sich im Jahr 1909 daher für das neue Pressegesetz entschied41.
b) Pressegesetz von 1865 Das erste osmanische Pressegesetz (Matbuat Nizamnamesi) hatte das französische PresseG 1852 zum Vorbild42. Es trat am 1. Januar 1865 in Kraft. Durch dieses Gesetz wurde die Gründung von Publikationen mit politischen Inhalten an eine Genehmigungspflicht gebunden. Trotz dieser Ausgangslage wurde das oPresseG 1865 in Sachen Staatsschutz durch einen Beschluss im Jahre 186743 dahingehend erweitert, dass neben den im Gesetz festgelegten Straftatbeständen jederzeit administrative Bestrafungen und andere, auch sonst über das Pressegesetz hinausgehende Maßnahmen durch die Regierung möglich sein sollten44. Das oPresseG 1865 enthält neben dem Schutz des Sultans und des 38 39
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Rumpf, Rezeption, S. 8 m.w.N. Vgl. Azrak, die auf die fVerf 1814 hinweist, das wiederum Vorbild für die bVerf 1831 war, Resepsiyon, S. 606. Weil das Parlament von Abdülhamid II. nicht zum zweiten Gesetzgebungsjahr zusammengerufen wurde, wird zwischen zwei Perioden der konstitutionellen Monarchie unterschieden. Die erste konstitutionelle Periode bezeichnet den Zeitraum zwischen Inkrafttreten der oVerf 1876 und der Auflösung des Parlaments im Jahre 1878 (Me�rutiyet I). Die zweite Periode hingegen stellt den Zeitraum zwischen 1908 bis zur Gründung der Republik dar: Denn im Sommer 1908 wurden Wahlen ausgeschrieben und das Parlament nahm erneut seine Arbeit auf, indem es u.a. 1909 den Sultan zum Abdanken zwang (Me�rutiyet II). Siehe zum Ganzen: Rumpf, a.a.O., S. 8 ff.; Yayla, Me�rutiyet, S. 948 ff. Art. 12 oVerf 1876 i.d.F. vom 21. August 1909: „Die Presse ist innerhalb der Schranken des Gesetzes frei. Ihre Erzeugnisse können auf keine Weise vor der Drucklegung der Überprüfung und Begutachtung (Censur) unterworfen werden.“, Kraelitz-Greifenhorst, Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches, S. 57. Vgl. Özkorkut, Bas�n Özgürlü�ü, S. 78 f. Senkeri, Tahkir Ve Tezyif Cürümleri, S. 29. Zur Pressefreiheit und den Pressegesetzen im Osmanischen Reich siehe: Özkorkut, Bas�n Özgürlü�ü, S. 65, 71 ff. Zur Presse allgemein: Kolo�lu, Osmanl� Bas�n�, S. 68 ff. „Aufgrund der andauernden Verbreitung einiger den allgemeinen Interessen des Landes widersprechender, schädlicher und unwahrer Nachrichten [...] [wird beschlossen, dass] gegen Zeitungen und Zeitschriften dieser Art auch durch administrative Bestrafungen und andere Maßnahmen [...] vorgegangen werden soll, um die Sicherheit und Ordnung zu wahren und den drohenden Schaden für den gesamten Staat und für das gesamte Volk abzuwenden.“; in leicht verständlichem Türkisch in Auszügen abgedruckt bei: Kudret, Sansür, Bd. 1, S. 7. Vollständiger Text in lateinisch-türkischem Transkript bei: Kudret, Sansür, Bd. 2, S. 43 f. Özkorkurt, Bas�n Özgürlü�ü, S. 74.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
kaiserlichen Hauses vor unwürdigen Äußerungen (Art. 15)45 auch den Schutz von Staatsorganen- bzw. einrichtungen (Artt. 16 und 19): „Wer durch Verbreiten von Schriften den Regierungschef oder die Minister des Sultans beleidigt, wird mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe von fünf bis fünfzig Pfund bestraft.“ „Wer durch Verbreitung von Schriften Gremien, Gerichte und staatlich gebildete Räte verunglimpft, verächtlich macht oder bemängelt, wird mit Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe von fünfzig bis zweihundert 46 Pfund bestraft.“
Die Vorschriften enthielten mit dem Schutz des neben dem Sultan aufgeführten Regierungschefs und der Minister des Sultans vor Beleidigungen einerseits und dem Schutz von Gremien, Gerichten und staatlich gebildeten Räten vor Verunglimpfungen, Verächtlichmachungen und Bemängelungen andererseits einen relativ umfassenden Schutz von Staatsorganen und -einrichtungen. Durch weite Formulierungen wie „Gremien“ und „staatlich gebildete Räte“ konnte – obwohl durch die Verfassung von 1876 neue Verfassungsrechtssubjekte entstanden waren und sich dadurch die Struktur der staatlichen Organe verändert hatte – die Anwendbarkeit der Vorschriften immerhin 45 Jahre aufrechterhalten werden, bis es durch das oPresseG 1909 ersetzt wurde.
c) Pressegesetz von 190947 Im oPresseG 1909 (Matbuat Kanunu), das am 29. Juli 1909 in Kraft trat, lässt sich neben dem Schutz des Sultans vor Ehrgefährdung und übler Nachrede (Art. 26)48 auch der Schutz von Staatsorganen und -einrichtungen finden. Art. 28 Abs. 1 oPresseG 1909 lautet: „Bei übler Nachrede gegenüber dem Kaiserlichen Hause, dem Senat, dem Abgeordnetenhause, den Gerichten und anderen Verwaltungszweigen und offiziellen Körperschaften, dem Kaiserlichen Heere, der Kaiserlichen Flotte, den diplomatischen Beamten und Konsuln befreundeter Mächte wird die gemäß Art. 11 verant49 wortliche Person zu Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu sechs Monaten oder 45
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„Wenn ein Autor den Sultan oder das Kaiserliche Haus durch unwürdige Äußerungen angreift, wird er mit Gefängnis von sechs Monaten bis drei Jahre oder mit Geldstrafe von fünfundzwanzig bis hundertfünfzig Pfund bestraft.“; lateinisch-türkisches Transkript bei: Kudret, Sansür, Bd. 2, S. 36. Vgl. Hinw. bei: Senkeri, a.a.O., S. 29. Text bei: Kudret, Sansür, Bd. 2, S. 36 f. Vgl. Hinw. bei: Senkeri, a.a.O., S. 29. Auch das oPresseG 1909 hatte mit dem fPresseG 1881 Frankreich zum Vorbild. Özkorkurt, Bas�n Özgürlü�ü, S. 78. „Bei Veröffentlichungen von Artikeln, Worten und Ausdrücken, die eine Ehrgefährdung oder üble Nachrede gegenüber Seiner Majestät dem Sultan enthalten, wird die gemäß Art. 11 verantwortliche Person [s.u.] mit Gefängnis von drei Monaten bis zu drei Jahren bestraft.“; Nord, a.a.O., S. 93. Der nach Art. 11 Verantwortliche ist der verantwortliche Leiter oder Herausgeber; der sich durch seine Unterschrift als solchen bezeichnenden Verfasser des Artikels; der Drucker; der Verkäufer oder Verteiler; Nord, a.a.O., S. 90.
Zweites Kapitel: Vorläufer
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Geldstrafe von fünf bis zu fünfzig türkischen Pfunden oder zu beiden Strafen zu50 gleich verurteilt.“
Mit dem Schutz von Senat (Artt. 60 ff. oVerf 1876) und Abgeordnetenhaus (Artt. 65 ff. oVerf 1876) stellte die Vorschrift in erster Linie eine Angleichung an die zwischenzeitlich errichtete Verfassung dar. So wurden die Verwaltungszweige und offiziellen Körperschaften, das Kaiserliche Heer und die Kaiserliche Flotte als neue, über Art. 19 oPresseG 1865 hinausgehende Schutzobjekte mit aufgeführt.
4. Verhältnis zum islamischen Strafrecht Wie bereits erwähnt, stellen die in der tanzimat erlassenen Strafvorschriften zum Teil ta’zir-Tatbestände dar. Gegenüber dem oStGB 1840 und dem oStGB 1851 stellt das oStGB 1858 nun eine relativ umfassende Kodifikation dar, so dass die Annahme nicht fern liegt, es handele sich – abgesehen von dem Nebenstrafrecht – um das einzig geltende Strafrecht des Osmanischen Reiches ab 1858. Doch ist zu beachten, dass die strafrechtlichen Entwicklungen in der tanzimat-Zeit keine Säkularisierung des Strafrechts herbeigeführt haben. Das Strafrecht dieser Epoche bestand vielmehr neben dem Scheriatsrecht, löste also das islamische Strafrecht nicht ab, sondern ergänzte es51. Das ta’zir-Recht, das Straftatbestände enthielt, die schon in der ersten und zweiten Deliktgruppe (hadd und qisas) geregelt wurden, trat an die Stelle des hadd- und qisasRechtes52. Andererseits blieb dasjenige islamische Strafrecht bestehen, das den Gedanken widerspiegelt, die Bestrafung einer Tat sei – wie Nord schreibt – lediglich „Ausfluß der Privatrache“53. Hierunter fallen die Straftaten, die sich gegen Leib und Leben richten54.
C) Osmanisch-Türkisches Recht Das oStGB 1858 blieb trotz der teilweise erheblichen, gesetzgeberischen Veränderungen im Rahmen umfassender Novellen bis 1926, also drei Jahre nach 50 51 52 53 54
Zum Text: Nord, a.a.O., S. 93. Vgl. hierzu Nord, a.a.O., S. X; Nord betont, dass „kein türkischer Gesetzgeber“ die Abschaffung des islamischen Strafrechts „je gewagt“ hätte. Siehe auch: Jaenecke, a.a.O., S. 3 ff. Vgl. Nord, a.a.O., S. X. Nord, a.a.O., S. X. Ebd. Vgl. Art. 1 des osmanischen Strafgesetzbuches von 1858: „[...] das vorliegende Gesetzbuch [bestimmt] die einzelnen Grade der Strafbarkeit, die festzusetzen und in Anwendung zu bringen nach dem Scheriat der Obrigkeit zukommt. Davon dürfen jedoch die im Scheriat anerkannten Individualrechte [insbesondere das private Recht zur Talion] keinesfalls berührt werden“. Text bei: Nord, a.a.O., S. X; vgl. zum Ganzen: Ende / Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, S. 208 ff.; Jaenecke, a.a.O., S. 3 ff., 12 ff.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
Gründung der Türkischen Republik als osmanisch-türkisches Recht in Kraft. Das oPresseG 1909 wurde erst durch Gesetz Nr. 1881 vom 8. August 1931 abgelöst und damit mehr als sieben Jahre nach Gründung der Republik noch angewendet.
Drittes Kapitel: Grundlagen des republikanischen Strafrechts „Die Türkische Republik ist das Resultat eines Systems, das durch die Türkische Revolution errichtet wurde. Sie basiert auf den [...] säkularsten Prinzipien. Es steht außer Frage, dass sie nicht das Strafgesetzbuch des absolutistischen Sul1 tanats adaptiert.“
A) Rechtshistorische Kontexte Nach dem Niedergang des Osmanischen Reiches und der Gründung der Türkischen Republik am 29. Oktober 1923 musste sich das türkische Recht an den durch Mustafa Kemal Atatürk begründeten und später in der türkischen Verfassung verankerten Grundsatz der Laizität anpassen. Das bedeutet, dass sich das neue türkische Recht einerseits vom Scheriatsrecht zu verabschieden hatte, das bis dahin die Grundlage des osmanischen Rechts bildete. Da die noch junge republikanische Jurisprudenz aber wenig Erfahrung mit säkularistisch ausgerichtetem Recht hatte, erforderte dies andererseits eine noch deutlichere Annäherung an das europäische Recht als noch in der tanzimat2. Demgemäß inkorporierte man in der Republik früh Teile der europäischen Rechtsordnung. So fand das italienische Strafrecht, das deutsche Strafprozessrecht oder etwa das schweizerische Zivilrecht den Weg in die neue türkische Rechtsordnung. 3
Die Säkularisierung erfolgte freilich nicht in einem Schritt . Vor der Ausrufung der Republik wurde zunächst das Sultanat abgeschafft, was primär Auswirkungen im Inneren des Landes hatte. Die Abschaffung des Kalifats hingegen, erfolgte 1924 erst nach der Gründung der Republik. Auf diesen Schritt sollte die Bevölkerung umfassend vorbereitet werden. Im Gegensatz zur Abschaffung des Sultanats tangierte dieser Schritt nämlich auch das Bild der jungen Türkei in der übrigen islamischen Welt. Denn der Titel des Kalifen galt als Stellvertretung für die gesamte islamische Gemeinde auf der Welt. Der Islam hingegen wurde in der tVerf 1924 (Gesetz Nr. 491 vom 20. April 1924) noch ausdrücklich als Staatsreligion erwähnt. Erst 1928 wurde der Islam aus der Verfassung gestrichen. Nach weiteren neun Jahren wurde wiederum die Laizität als verfassungsmäßiges Prinzip in die Verfassung vom 5. Februar 1937 aufgenommen. 1
2 3
Das Zitat (siehe bei: Erem, Gerekçeli Türk Ceza Kanunu, S. IX) stammt von Mahmut Esat Bozkurt (1892–1942), türkischer Justizminister und Weggefährte Atatürks. Seinen Zunamen Bozkurt („grauer Wolf“) erhielt er nach Inkrafttreten des NachnamenGesetzes (Gesetz Nr. 2525 vom 12. Juni 1936) von Atatürk. Er galt als kemalistischer Nationalist. Vgl. Uyar, Mahmut Esat Bozkurt, S. 11 ff., 97 ff. Siehe: Tellenbach, Zum Straf- und Strafprozeßrecht in der Republik Türkei, S. 145 ff.; Önder, Die Entwicklung und Rezeption des Straf- und Strafverfahrensrechts in der Türkei, S. 315 f.; Yenisey, Entwicklungen im türkischen Strafrecht, S. 212 ff. Siehe hierzu und zu den Ausführungen des Absatzes: Do�an, Säkularisierungstendenzen, S. 54 ff.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
Die neue Türkische Republik hatte sich gleichzeitig gegenüber jenen Kräften im Land zu behaupten, die die Rückkehr des Sultanats herbeiführen wollten. In dieser gesellschaftlichen und politischen Umbruchphase verabschiedete das türkische Parlament, die Große Nationalversammlung, am 1. März 1926 das erste Strafgesetzbuch der Türkischen Republik (Gesetz Nr. 765) und löste das oStGB 1858 ab, das keine Geltung mehr beanspruchen konnte.
I. Das tStGB 1926 1. Entstehungsgeschichte4 Die Arbeiten am tStGB 1926 reichen bis in die osmanische Phase zurück. Schon im Jahre 1909 nämlich erteilte der damalige Justizminister Necmeddin Molla Kocata�5 den Auftrag, das italienische Strafgesetzbuch von 1889 – den Codice Zanardelli – ins Türkische zu übersetzen, da man dieses Strafgesetzbuch für eines der „modernsten und vollkommensten Strafgesetzbücher“ (en yeni ve en mükemmel ceza kanunlar�ndan) hielt6. Vorlage dieser in Auftrag gegebenen Übersetzung bildete jedoch nicht etwa das italienische Original, sondern eine französische Übersetzung des Codice Zanardelli7. Diese Übersetzung, die als Entwurf von 13258 bezeichnete wurde, konnte damals jedoch nicht zum Gesetz erhoben werden, da es nicht der „sozialen Situation der Türkei“ entsprochen habe9. Nach Gründung der Republik wurde der Entwurf von 1325 jedoch wieder aufgegriffen und nach einer erneuten Überarbeitung am 1. März 1926 als neues Strafgesetzbuch angenommen, welches am 1. Juli 1926 in Kraft trat10.
2. Allgemeine Gesetzgebungstendenzen Wie in vielen Rechtsordnungen, haben wichtige politische Entwicklungen auch Einfluss auf das türkische Strafrecht genommen: Die Türkische Republik durchlebte nach ihrer Gründung bis in das Jahr 1950 eine Einparteienherrschaft, nach 1950 die Etablierung eines Mehrparteiensystems und in den Jah4
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Siehe zu den Ausführungen des folgenden Abschnitts: Önder, Das türkische Strafrecht, S. 427 ff.; vgl. ders., a.a.O., S. 313 ff.; Tellenbach, a.a.O., S. 145 ff.; Artuk / Gökcen / Yenidünya, Ceza Hukuku Genel Hükümler4, S. 85 ff. Hakeri, Geschichte des türkischen Strafrechts, S. 73 ff. Necmeddin Molla Kocata� (1875–1949) war Justizminister im Osmanischen Reich und später Abgeordneter der Großen Nationalversammlung für die Provinz Kastamonu. Siehe: http://biyografi.net (zuletzt abgerufen: Juli 2013). So im Protokoll der Justizkommission, abgedruckt bei: Erem, a.a.O., S. XI ff. Siehe auch: Önder, Das türkische Strafrecht, S. 427; Tellenbach, a.a.O., S. 147. Önder, a.a.O., S. 427; Hakeri, a.a.O., S. 73. Erst das Gesetz Nr. 698 vom 26. Dezember 1925 brachte die christliche Zeitrechnung. Önder, a.a.O., S. 428. Önder, a.a.O., S. 428 f.; Hakeri, a.a.O., S. 74.
Drittes Kapitel: Grundlagen des republikanischen Strafrechts
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ren 1960, 1971 und 1980 drei militärische Interventionen als Reaktionen auf innenpolitische Krisen und bürgerkriegsähnliche Zustände. Zuletzt nahm die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union Einfluss auf das (Straf-)Rechtssystem der Türkischen Republik. Diese Entwicklungen lassen eine Unterteilung in die Zeiträume von 1924 bis 1946 (Einparteiensystem), von 1950 bis 1960 (Mehrparteiensystem) und von 1960 bis 1980 (militärische Interventionen) zu. Ihnen schließt sich seit 2001 die EU-Annäherung an.
a) Gesetzgebung unter italienischen Einfluss Im Jahre 1930 trat der Codice Rocco in Kraft und löste den Codice Zanardelli ab. Der türkische Gesetzgeber zögerte nicht lange und beschloss, sich auch an das im faschistischen Italien beschlossene, neue italienische StGB anzunähern: So wurden mit den Gesetzen Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 und Nr. 3531 vom 29. Juni 1938 autoritative Elemente11 des Codice Rocco übernommen und insbesondere das Staatsschutzstrafrecht angeglichen12. Diese erste Phase des republikanischen Strafrechts (1926 bis 1946) kann als Ausdruck der politisch unruhigen Umbruchphase der noch jungen Republik verstanden werden, in der die Einparteienherrschaft der von Atatürk mitbegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP) eine politische Opposition gegen ihre Politik (noch) nicht zuließ und in der bis 1931 in Teilen der Türkischen Republik bereits zwei Mal der Ausnahmezustand ausgerufen wurde13.
b) Gesetzgebung im Mehrparteiensystem Im Jahre 1946 wurden nach der Ankündigung von �smet �nönü14 zum ersten Mal andere Parteien zur Wahl zugelassen, und noch im gleichen Jahr wurde die Demokratische Partei (DP) gegründet, die sich bei den Wahlen Mitte 1946 – trotz der Wahlmanipulationen durch die Regierung15 – bereits zu einer bedeutenden Opposition zur CHP entwickeln konnte und bei den Wahlen im Jahr 1950 schließlich die Mehrheit gewann16. In dieser Phase erfuhr das türkische Strafgesetzbuch eine Reihe von Veränderungen, die als Reaktion auf das 11 12 13 14
15 16
So: Hakeri, a.a.O., S. 78 m.w.N. Hakeri, a.a.O., S. 78; Tellenbach, a.a.O., S. 149; Miller, From Fikh to Fascism, S. 146 ff. Vgl. Hakeri, a.a.O., S. 78; vgl. �en, Türkei, S. 145; vgl. Steinbach, Geschichte der Türkei, S. 21 ff. �smet �nönü (1884–1973) war Weggefährte Atatürks, Mitglied der Republikanischen Volkspartei (CHP) und war der erste Ministerpräsident und zweiter Staatspräsident der Türkischen Republik. Zur Person �nönüs und seiner Rolle bei der Einführung des Mehrparteiensystems siehe: U�ur, �smet �nönü, S. 9 ff., 21 ff. Steinbach, Stationen der Innenpolitik, S. 11. �en, Türkei, S. 44 f.; Steinbach, Geschichte der Türkei, S. 42 f.; ders., Stationen der Innenpolitik, S. 11 f. Vgl. hierzu: Keser, Liberale versus starker Staat?, S. 199 ff., 201 ff.; vgl. auch: Ka�tan, Çok Partili Döneme, S. 123 ff., 130 ff.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
Mehrparteiensystem aufgefasst werden können17. Sie äußerten sich aber vornehmlich in der Erhöhung der Strafen weiter Teile des Strafgesetzbuches18.
c) Gesetzgebung im Schatten der Militärinterventionen Durch wachsende wirtschaftliche und soziale Problemen wie Inflation, Verschärfung der Einkommensunterschiede und Verelendung durch Landflucht verlor die Demokratische Partei (DP) mit Adnan Menderes19 als Ministerpräsident und Celâl Bayar20 als Staatspräsident das Vertrauen der Bevölkerung; die Wahlen von 1957 gewannen sie gleichwohl, wenn auch nur knapp21. Am 27. Mai 1960 putschte die Armee und die Demokratische Partei wurde verboten. Nach den so genannten Yass�ada-Prozessen wurden Menderes und andere im Jahre 1961 hingerichtet. Die neue (liberale) Verfassung wurde am 9. Juli 1961 durch Volksabstimmung angenommen. Die Phase der ersten militärischen Intervention (1960 bis 1971) hatte auf das juristische System, insbesondere auf das (Staatsschutz-)Strafrecht erweiternden Einfluss22. Ende der 1960er Jahre eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen den Linksextremen und jenen, die der Partei der Nationalen Bewegung (MHP) nahe standen23. Die Regierung unter Süleyman Demirel24 von der Gerechtigkeitspartei (AP) konnte die Lage nicht beruhigen und so griff das Militär am 12. März 1971 ein und übernahm für zwei Jahre die politische Führung. Nach dieser zweiten militärischen Intervention zeichnete sich in der Gesetzgebung die Tendenz zur Bestrafung von terroristischen Aktivitäten ab25. 17 18 19
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Die Artt. 141, 142 tStGB (Bildung verbotener Organisationen) wurden gelockert (Gesetz Nr. 5844 vom 3. Dezember 1951). Siehe: Yenisey, a.a.O., S. 214 f. Siehe insbesondere Gesetz Nr. 6123 vom 9. Juli 1953. Tellenbach, a.a.O., S. 149 f. Önder, a.a.O., S. 432; Yenisey, a.a.O., S. 215. Adnan Menderes (1889–1961) war Ministerpräsident und Mitbegründer der Demokratischen Partei (DP). U.a. seine Ambitionen, die Opposition auszuschalten, förderten den Putsch von 1960. Siehe Übersetzung der Einleitung des Gesetzes Nr. 1, bei: Hirsch, Die einstweilige Ordnung der türkischen Verfassung, S. 431; Atao�lu, Adnan Menderes, S. 9 ff., 165 ff., Steinbach, Stationen der Innenpolitik, S. 12. Mahmut Celâleddin Bayar (1883–1986) war Staatspräsident der Türkischen Republik und Mitbegründer der Demokratischen Partei (DP). Im Gegensatz zu Menderes, wurde das Todesurteil von 1961 bei ihm nicht vollstreckt. 1966 wurde er begnadigt. Siehe: http://biyografi.net (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Siehe hierzu und zu den folgenden Ausführungen: Steinbach, a.a.O., S. 42 ff.; ders., Stationen der Innenpolitik, S. 12 f. Für einen Überblick siehe: Yenisey, a.a.O., S. 217 f. Vgl. Hakeri, a.a.O., S. 79 f. Hierzu und zu den folgenden Ausführungen: Steinbach, a.a.O., S. 13 f. Süleyman Demirel (*1924) war Staats- und Ministerpräsident der Türkei. Siehe: http://biyografi.net (zuletzt abgerufen: Juli 2013) Siehe Gesetze Nr. 1490 vom 28. September 1971 und Nr. 2245 vom 7. Juni 1979. Hierzu ausführlich: Yenisey, a.a.O., S. 224 f.; vgl. Hakeri, a.a.O., S. 79 f.
Drittes Kapitel: Grundlagen des republikanischen Strafrechts
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Aufgrund anhaltender bürgerkriegsähnlicher Zustände und Versorgungsprobleme beim Öl- und Lebensmittelbedarf übernahm das Militär am 12. September 1980 zum dritten Mal die politische Führung des Landes26. Das Parlament wurde aufgelöst, die Verfassung außer Kraft gesetzt und die Gesetzgebung vom Nationalen Sicherheitsrat (Millî Güvenlik Konseyi) übernommen. Ein Drei-Punkte-Plan wurde beschlossen (Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung, Schaffung eines stabilen politischen Systems, Verwirklichung einer neuen Wirtschaftsordnung). Im unmittelbaren Zeitraum nach dem Putsch wurden neben der Erweiterung der Zuständigkeit der Militärgerichte das Staatsschutzstrafrecht und die Vorschriften zum Schutz der Bevölkerung erweitert27.
d) EU-Harmonisierungsgesetzgebung Den Beginn einer „Trendwende“ im Strafrecht brachten die EU-Harmonisierungsgesetze, also jene Gesetzgebungsinitiative, durch die die Kopenhagener Kriterien28 erfüllt werden sollten29, um eine Aufnahme der Beitrittsverhandlungen für einen künftigen EU-Beitritt der Türkei zu ermöglichen30. Die ersten Harmonisierungsgesetze bewirkten insbesondere die Herabsetzung der Strafen. Die EU-Annäherung wirkte sich daneben auf das neue tStGB 2004 aus. Auch nach der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 hielt der Einfluss des EU-Annäherungsprozesses auf das türkische Strafrecht an.
II. Das tStGB 2004 1. Entstehungsgeschichte Dem neuen türkischen Strafgesetzbuch (Gesetz Nr. 5237), das am 26. September 2004 beschlossen wurde und am 1. Juli 2005 in Kraft trat, gingen bereits zwei Jahrzehnte der Reformarbeit voran31. Doch schon zuvor, in den Jahren 26 27 28
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Hierzu und zu den folgenden Ausführungen: Steinbach, a.a.O., S. 14. Insbesondere durch die Gesetze Nr. 2370 vom 7. Januar 1981 und Gesetz Nr. 2787 vom 21. Januar 1983. Eingehend: Yenisey, a.a.O., S. 232 ff. Die Türkische Republik hatte bereits 1959 bei der EWG einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt. Die Kopenhagener Kriterien bilden – als politische und wirtschaftliche sowie Aquis-Kriterien (aquis communitaire) – das Mindestmaß an Standards, welche für die Verhandlungen mit einem Bewerberstaat zum Beitritt in die EU zu erfüllen sind. Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen Ende 2004 wurden 2002 von der Erfüllung der politischen Bedingungen der Aquis-Kriterien abhängig gemacht. (siehe Protokoll zu Schlussfolgerungen des Vorsitzes; abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/73845.pdf [zuletzt abgerufen: Juli 2013]). So das Gesetz Nr. 4744 vom 6. Februar 2002, das Gesetz Nr. 4771 vom 3. August 2002 und das Gesetz Nr. 4963 vom 30. Juli 2003. Dazu: Avrupa Birli�i Uyum Yasa Paketleri, S. 7 ff., 11 ff., 48 ff. Vgl. auch: Da�a�an, Von der Sünde zur Straftat, S. 400 f. Vgl. Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 1 f. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch: Da�a�an, a.a.O., S. 400 f.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
194032 und 1958 wurden zwei Entwürfe ausgearbeitet, jedoch nicht zum Gesetz erhoben33. Unter Sulhi Dönmezer34 schließlich wurden 1987, 1989, 1997, 2000 und 2003 wieder verschiedene Entwürfe ausgearbeitet35. Das tStGB 2004 knüpft zwar am Entwurf Dönmezer von 2003 an36, wurde im Unterausschuss der Justizkommission jedoch nachhaltig umgefasst, was der üblichen Praxis im Gesetzgebungsverfahren, die Regierungsentwürfe in den parlamentarischen Kommissionen weitgehend unberührt zu lassen, widersprach37. Einer der Gründe für den relativ späten Eingriff in den Entwurf war das Interesse der türkischen Regierung, das neue Strafgesetzbuch mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der EU als eigene Reformarbeiten vorweisen zu können38. Das neue Strafgesetzbuch hatte – im Gegensatz zu seinem Vorläufer von 1926 – kein direktes Vorbild aus nur einer Strafrechtsordnung. Das tStGB 2004 enthält vielmehr Elemente verschiedener Strafrechtsordnungen39: Obwohl dem Regierungsentwurf das französische Strafgesetzbuch in der Fassung von 1994 32
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36 37 38
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Der Entwurf von 1940 basierte auf dem Codice Rocco. Siehe: Sözüer, Das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 12 m.N. bei: �çel / Donay, Ceza Hukuku, Bd. 1, S. 63. Siehe auch: Centel / Zafer / Çakmut, Türk Ceza Hukukuna Giri�, S. 37 f.; Tellenbach, a.a.O., S. 149. Sözüer, a.a.O., S. 12. Sulhi Dönmezer (1918–2004) wurde bei seinen Entwürfen eine konservative Haltung vorgeworfen. Roxin / Isfen, Der Allgemeine Teil des neuen türkischen Strafgesetzbuches, S. 229 m.w.N. Vgl. Da�a�an, a.a.O., S. 401. Sözüer, Reform des türkischen Strafrechts, S. 717. Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 1 ff.; dies., a.a.O., S. 149 ff.; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 37 ff.; Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht, S. 9 ff.; Keçelio�lu, Der Einfluss des deutschen Strafgesetzbuches auf das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 25 ff.; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 88 ff. Vgl. Da�a�an, a.a.O., S. 401. Sözüer, Reform des türkischen Strafrechts, S. 717. Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 39; Hakeri, a.a.O., S. 88; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 93 f. Roxin / Isfen, a.a.O., S. 229 m.w.N. Sözüer, a.a.O., S. 14. Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 2. Sözüer, Reform des türkischen Strafrechts, S. 717 f.; ders., Das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 14; Roxin / Isfen, a.a.O., S. 230 (Fn. 13). Die Regierung erklärte: „Dieser Entwurf [Regierungsentwurf] ist kein Produkt unserer Regierung. Um einen neuen Entwurf vorzubereiten, braucht man viel Zeit. Man soll den Regierungsentwurf als einen ‘Anstoß’ für eine Reform des türkischen Strafgesetzbuches betrachten, um den Gesetzgebungsprozess überhaupt in Gang zu setzen. Die bei der Diskussion geäußerte Kritik wird selbstverständlich gewürdigt, sodass man den Entwurf gegebenenfalls im Parlament ändern wird.“ (Hervorhebungen diesseits) Text abgedruckt bei: Sözüer, a.a.O., S. 14. Siehe hierzu zu den folgenden Ausführungen: Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 40; Centel, Kritische Betrachtungen zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, S. 43; Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 2; Roxin / Isfen, a.a.O., S. 228 ff. Zum Einfluss des deutschen Strafrechts siehe zudem: Keçelio�lu, Der Einfluss des deutschen Strafgesetzbuches auf das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 52 ff.
Drittes Kapitel: Grundlagen des republikanischen Strafrechts
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zugrunde lag, standen die Veränderungen im Entwurf des Unterausschusses insbesondere unter deutschen Einflüssen. Eingang nahmen auch Elemente aus den Strafrechtsordnungen Österreichs, Spaniens, Polens, Russlands und der Schweiz.
2. Kritik Das neue Strafgesetzbuch stand in vielerlei Hinsicht unter erheblicher Kritik. So wurde kritisiert, dass die relativ späten und wesentlichen Veränderungen am Entwurf durch die Mitglieder des Unterausschusses nicht angemessen diskutiert worden seien und dadurch das Regelwerk im Gesamten unter erheblichen Mängeln leide40. Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Sprache des Strafgesetzbuches. Zwar wurde im Gegensatz zu derjenigen des tStGB 1926 versucht, eine klare und moderne Sprache zu verwenden, um sie der Bevölkerung verständlicher zu machen, die schon längst nicht mehr in der Lage war, die teilweise durch die osmanisch-türkischen Begriffe geprägte Rechtssprache zu verstehen: Doch habe der Gesetzgeber dieses Ziel nicht erreicht, was einerseits daran liege, dass zu viele ausländische Rechtsordnungen gleichzeitig als Vorbild gedient hätten und andererseits daran, dass viele Fremdwörter verwendet worden seien41. Nicht bloß im Hinblick auf die Sprache, sondern im Allgemeinen wurde kritisiert, dass das Strafgesetzbuch unter dem Einfluss zu vieler fremder Rechtsordnungen gestanden habe und daher weder die Kodifizierung eigener Rechtsbestände noch die Übernahme fremder Rechtsbestände darstelle42. Ferner wurde kritisiert, dass es entgegen der Zielsetzung nicht gelungen sei, das Individuum in den Vordergrund zu stellen43 und das Strafgesetzbuch darüber hinaus unnötige Bestimmungen enthalte44. Obwohl das neue Strafgesetzbuch ausweislich der amtlichen Begründung eine demokratisch-liberale Ausrichtung anstreben sollte, wurde teilweise auch der Vorwurf erhoben, dass es das Erscheinungsbild eines totalitären Staates aufweise45. Das neue Strafgesetzbuch trat zusammen mit einigen anderen, wichtigen Gesetzen in Kraft: Hierbei han40 41 42
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Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 40. Centel, a.a.O., S. 42 ff. m.w.N. Vgl. Centel, a.a.O., S. 42 m.w.N. Toroslu / Ersoy, Kanunla�mamas� Gereken Bir Tasar�, S. 6. Centel, a.a.O., S. 43; Toroslu, Ceza Hukuku, S. 10 m.w.N.; Toroslu / Ersoy, a.a.O., S. 2 ff.; Haf�zo�ullar�, Yeni Türk Ceza Kanununun Yorumu Meselesi, S. 70; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 40. Zu den Begriffen Rezeption und Kodifikation siehe: Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 11 ff. Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 41; Centel, a.a.O., S. 45. Zudem wurde betont, dass der große Spielraum zwischen Strafunter- und Strafobergrenze zu Ungerechtigkeiten führen werde. Diese Meinung zielt insbesondere auf Bestimmungen ab, die schon in der Verfassung enthalten sind (etwa Art. 1 und 3 Abs. 2). Siehe hierzu: Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 41; Centel, a.a.O., S. 47 f. So deutlich bei: Haf�zo�ullar�, a.a.O., S. 69 f. m.w.N.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
delt es sich um die Strafprozessordnung, das Strafvollzugsgesetz, das Ordnungswidrigkeitengesetz, das Gesetz über erstinstanzliche Bezirksgerichte, das Jugendschutzgesetz, das Strafregistergesetz und einige Einführungsgesetze46.
B) Grundlagen der Strafbarkeit47 Auch wenn diese Arbeit auf den Vergleich von einzelnen Vorschriften aus dem besonderen Teil zweier Strafrechtsordnungen zugeschnitten ist, kann ein Blick auf die Grundlagen der Strafbarkeit nicht gänzlich ausgeblendet werden. Dieser Abschnitt dient daher der Darstellung des Mindestmaßes der dogmatischen „Unterfütterung“ der Straftatbestände, die für die hier zu untersuchenden Einzelvorschriften relevant sind.
I. Elemente der Straftat Über den Aufbau der Straftat werden in der türkischen Strafrechtswissenschaft unterschiedliche Ansätze ins Feld geführt. Überwiegend wird ein vierstufiger Verbrechensaufbau vertreten, der aus legalem (kanuni unsur) und objektivem Element (maddi unsur), der Rechtswidrigkeit (hukuka ayk�r�l�k) und dem subjektiven Element (manevi unsur) besteht48. Während das legale Element die Frage behandelt, ob für die relevante Handlung ein gesetzlicher Tatbestand existiert, liegt dem objektiven Element die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung oder des Unterlassens zugrunde; die Tatbestandsmäßigkeit indiziert die Rechtswidrigkeit und im subjektiven Element werden Schuldfähigkeit des Täters und Schuldhaftigkeit des Handelns untersucht49.
1. Legales Element – Tatbestandsbegriff Das legale Element erfasst die Suche nach einer gesetzlichen Umschreibung des einschlägigen Täterverhaltens – den Tatbestand (tip)50 – der in der türkischen Rechtswissenschaft begrifflich lange objektiv aufgefasst wurde. Vorsatz sollte als Element der Schuld und somit als Teil des subjektiven Elements be46 47 48 49 50
Centel, a.a.O., S. 41. Vgl. Sözüer, Reform des türkischen Strafrechts, S. 718; vgl. ders., a.a.O., S. 15; vgl. Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 2 f. Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht, S. 17 ff.; Tellenbach, Einführung in das türkische Strafrecht, S. 21 ff., dies., Die Straftat in der Türkei, S. 463 ff. Tellenbach, a.a.O., S. 21 ff.; dies., Die Straftat in der Türkei, S. 463. Isfen bezeichnet diesen Aufbau als „klassischen Aufbau“ und benennt daneben noch Vertreter anderer Varianten: a.a.O., S. 17 ff. Siehe etwa: Alacakaptan, Suçun Unsurlar�, S. 27 ff. Tellenbach, a.a.O., S. 21 ff. m. zahlr. w.N. Siehe auch: Dönmezer / Erman, Nazarî ve Tatbikî Ceza Hukuku13, S. 361 ff. Siehe ferner: Rumpf, Einführung in das türkische Recht, S. 396. Isfen, a.a.O., S. 20 ff.; Koca / Üzülmez, Türk Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 136 ff.; Keyman, Tipiklik ve Ceza Hukuku, S. 59 ff.; Demirba�, Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 199 ff.; Hakeri, Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 119 ff., 121 ff.
Drittes Kapitel: Grundlagen des republikanischen Strafrechts
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handelt werden51. Da nach Inkrafttreten des tStGB 2004 der Vorsatz jedoch nicht länger als Schuldform angesehen wird, sondern als eine Verwirklichungsform von Unrecht52, unterteilt sich im jüngeren Schrifttum der Begriff des Tatbestandes so allmählich in einen objektiven und subjektiven Teil53.
2. Objektives Element Dem objektiven Element liegt die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit, also der Handlung (fiil), des Erfolgs (netice) und der Kausalität (nedensellik) zugrunde54. Die Handlung wird als menschliches, körperliches und willentliches Verhalten verstanden55. Der Erfolgsinhalt unterscheidet sich je nach Vorliegen von Erfolgs-, Tätigkeits- oder Gefährdungsdelikten56. Bei der Spezifizierung der Kausalität existieren verschiedene Ansätze: Neben der Adäquanz- und Relevanztheorie finden sich im Schrifttum auch bedingungstheoretische Ansätze wieder57. Die Lehre der objektiven Zurechnung hingegen findet kaum Beachtung58.
3. Rechtswidrigkeit Bei Vorliegen bestimmter Umstände kann die durch die Tatbestandsmäßigkeit indizierte Rechtswidrigkeit entfallen59. Bei diesen besonderen Umständen handelt es sich um die Rechtfertigungsgründe (hukuka uygunluk sebepleri), die im Geltungsbereich des Strafgesetzbuches von 1926 in zwei Gruppen aufgeteilt waren. Die erste Gruppe bildeten die geschriebenen Rechtfertigungsgründe, die in Art. 49 aufgeführt wurden. Zu den geschriebenen Rechtfertigungsgründen gehörten das Handeln aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift (kanun 51 52 53
54
55 56 57 58 59
Vgl. Tellenbach, a.a.O., S. 32 f. m.w.N.; dies., Die Straftat in der Türkei, S. 463 ff.; Taner, Ceza Hukuku Umumî K�s�m, S. 315 ff. Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 6; Sözüer, Das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 18; ders., Die Reform des türkischen Strafrechts, S. 720. Zum Ganzen: Tellenbach, Die Straftat in der Türkei, S. 463 ff.; Isfen, a.a.O., S. 19 f. Vgl. Darstellungen bei: Koca / Üzülmez, a.a.O., S. 144 ff., 171 ff.; Özgenç, Türk Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 225 ff.; den Vorsatz noch als Schuldform bezeichnend etwa: Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 380 ff. Tellenbach, a.a.O., S. 23; Koca / Üzülmez, a.a.O., S. 144 ff.; Demirba�, Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 199 ff. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 235 ff.; Dönmezer / Erman, a.a.O., S. 370 ff.; Hakeri, a.a.O., S. 135 ff.; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 288 ff.; Önder, Das türkische Strafrecht, S. 453. Tellenbach, a.a.O., S. 23; siehe auch: Keyman, Cürmi Fiilin Yap�sal Unsuru Olarak Hareket, S. 121 ff.; Özgenç, a.a.O., S. 171 ff.; Önder, a.a.O., S. 453; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 238; Dönmezer / Erman, a.a.O., 370. Tellenbach, a.a.O., S. 23. Tellenbach, a.a.O., S. 23; Önder, a.a.O., S. 457 ff.; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 276 ff.; Hakeri, a.a.O., S. 167 ff.; Alacakaptan, a.a.O., S. 46 ff. Tellenbach, a.a.O., S. 23; Isfen, a.a.O., S. 35 ff., 39. Hierzu und zu den folgenden Ausführungen siehe: Tellenbach, a.a.O., S. 23 ff.
Zweiter Teil Türkisches Recht
hükmün icras� görevin ifas� me�ru müdaafa �zt�rar ma�durun r�zas� hakk�n icras�
4 Subjektives Element
kast özelkast
do�rudan kast
olas� kast
Tellenbach
Taner Önder Artuk GökcenYenidünya Tellenbach Centel Zafer Çakmut
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Drittes Kapitel: Grundlagen des republikanischen Strafrechts
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Person eine Tat begeht, obwohl sie vorhersieht, dass sie die Merkmale eines gesetzlichen Tatbestandes verwirklichen könnte66. Er enthält – im Gegensatz zum direkten Vorsatz – kein voluntatives Element67. Welche Straftatbestände bei der Begehung den Eventualvorsatz für die Strafbarkeit genügen lassen, kann aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht ausdrücklich entnommen werden. In der amtlichen Begründung lassen sich aber folgende Ausführungen finden: „Für Straftaten, die vorsätzlich erfüllt werden können, gilt grundsätzlich, dass sie sowohl mit direktem Vorsatz als auch mit Eventualvorsatz begangen werden können. Straftatbestände jedoch, in denen die Formulierung ‘wissentlich’ enthalten ist, können nur mit direktem Vorsatz begangen werden.“68
II. Versuch Wie weit strafbares Handeln vorgezogen ist, wie weit also von dem Handlungserfolg entfernt Taten bestraft werden sollen, hängt von der jeweiligen Dogmatik zur Versuchsstrafbarkeit ab. Hierbei ist zwischen der Frage, ob der Versuch des jeweiligen Straftatbestandes strafbar ist, und derjenigen nach den Voraussetzungen der Versuchsstrafbarkeit zu unterscheiden.
1. Der Versuch im tStGB 1926 Im tStGB 1926 war der Versuch nach Art. 61 Abs. 1 bei allen Verbrechen (cürüm) strafbar; bei Übertretungen (kabahat) war der Versuch hingegen nur in den gesetzlich bestimmten Fällen strafbar69. Der strafbare Versuch erforderte den Vorsatz, den Einsatz geeigneter Mittel, der Beginn der Ausführungshandlungen und das Fehlen der Vollendung aus Gründen, die außerhalb des Einflussbereichs des Täters liegen70. Dogmatisch schwierig zu bewältigen und durch die Rechtsprechung zu konkretisieren war u.a. der „Einsatz geeigneter Mittel“71. Hierzu etablierten sich zwei Ansätze: Ein objektiver Ansatz stellte darauf ab, ob das Mittel objektiv geeignet war, den Erfolg herbeizuführen; der 66
67 68 69 70 71
„Begeht eine Person eine Tat, obwohl sie vorhersieht, dass sie die Merkmale des gesetzlichen Straftatbestandes verwirklichen könnte, so liegt Eventualvorsatz vor.“, Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 25. Beim Eventualvorsatz sieht Art. 21 Abs. 2 S. 2 eine obligatorische Strafmilderung vor. Zum Ganzen: Tellenbach, Subjektive Tatseite, S. 789; Sözüer, a.a.O., S. 721; Hakeri, a.a.O., S. 208 ff.; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 388 ff. Vgl. hierzu: Sözüer, Das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 19; ders., Die Reform des türkischen Strafrechts, S. 721; Roxin / Isfen, a.a.O., S. 234. Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri, S. 167. Siehe näher: Tellenbach, a.a.O., S. 47 ff. Tellenbach, a.a.O., S. 47. Sözüer, Suça Te�ebbüs, S. 158 ff.; Erem, Türk Ceza Hukuku, Bd. 1, S. 396 ff.; Taner, a.a.O., S. 226 ff.; Artuk / Gökcen / Yenidünya, Ceza Hukuku Genel Hükümler3, S. 765 Tellenbach betont, das Erfordernis des Einsatzes gefährlicher Mittel sei „ein gravierender Unterschied zum deutschen Recht“, a.a.O., S. 47.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
subjektive Gegenansatz forderte, dass der Täter in der Lage war, das Mittel zweckentsprechend zu verwenden72.
2. Der Versuch im tStGB 2004 Im tStGB 2004 wurde die Aufteilung zwischen Verbrechen und Übertretungen aufgegeben. Es kennt lediglich Straftaten (suç) und hat andere sanktionswürdige Handlungen im Gesetz Nr. 5326 vom 30. März 2005, dem neuen Ordnungswidrigkeitengesetz geregelt73. Als Folge der Aufhebung dieser Unterscheidung ist im türkischen Strafrecht nunmehr der Versuch jeder Straftat strafbar74. Nach Art. 35 Abs. 1 liegt ein Versuch vor, wenn der Täter mit tauglichen Handlungen (elveri�li hareketlerle) zur Ausführung der Straftat unmittelbar ansetzt, sie aber aus Gründen, die er nicht beeinflussen kann (elinde olmayan nedenlerle), nicht vollenden kann75.
C) Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsgrundsätze I. Rückwirkungsverbot und Günstigkeitsprinzip Seit dem tStGB 1926 ist die Anwendung von Strafvorschriften im Hinblick auf ihre zeitliche Geltung umfassend geregelt worden. Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot ist sowohl im tStGB 1926 als auch im tStGB 2004 verankert. Art. 2 Abs. 1 S. 1 tStGB 1926 regelte, dass niemand wegen einer Tat bestraft werden kann, die nach dem Gesetz, das zur Tatzeit galt, nicht als Verbrechen oder Übertretung angesehen wurde76. Die mit Strafe belegte Tat musste also vor der Begehung gesetzlich fixiert sein. Art. 2 Abs. 1 S. 2 wendete das Rückwirkungsverbot ausdrücklich auch auf Fälle an, in denen das Strafgesetz nach der Tat, jedoch vor der Verhängung bzw. Vollstreckung der Strafe wegfiel77. 72 73 74 75
76 77
Tellenbach, a.a.O., S. 47 m.w.N.; Sözüer, Suça Te�ebbüs, S. 194 ff. m.w.N. Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 5 f. Vgl. Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 7. „Wer zur Ausführung der Straftat, die er begehen will, mit tauglichen Handlungen unmittelbar ansetzt, sie aber aus Gründen außerhalb seines Einflussbereichs nicht vollenden kann, ist wegen Versuchs verantwortlich.“; vgl. Übersetzung bei: Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 31 f. Zu den Voraussetzungen des Versuchs siehe: Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 441 ff.; Hakeri, a.a.O., S. 418 ff.; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 598 ff. Siehe auch: Sözüer, Die Reform des türkischen Strafrechts, S. 732 ff. „Niemand kann wegen einer Tat bestraft werden, die nach dem Gesetz, das zur Tatzeit galt, nicht als Verbrechen oder Übertretung angesehen wurde.“; Tellenbach, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 9. „Ebenso kann niemand wegen einer Tat bestraft werden, die gemäß einem nach der Tat erlassenen Gesetz nicht mehr als Verbrechen oder Übertretung angesehen wird. Ist die Verurteilung zu einer Strafe erfolgt, so werden ihre Vollstreckung und ihre gesetzlichen Folgen von selbst aufgehoben.“; Tellenbach, a.a.O., S. 9.
Drittes Kapitel Grundlagen des republikanischen Strafrechts
II Bestimmtheitsgebot
Tellenbach Tellenbach
Hirsch
Wedekind
Tellenbach
Tellenbach
Centel Zafer Çakmut ¡¢Demirba� ¢ �çelDonay
£¤
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1961 und tVerf 1982 (s.o.). Dem Bestimmtheitsgebot wird allgemein das Erfordernis zugewiesen, dass die Tatbestände und Rechtsfolgen der Strafe vorsehenden Strafvorschriften hinreichend genau, also klar und verständlich sein müssen: Zu weite Begriffe, etwa solche, die inhaltsleer, unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten zugänglich sind oder unterschiedliche Bedeutungen haben, sollten danach unzulässig sein84.
III. Analogieverbot Als weiterer Rechtsanwendungsgrundsatz ist das Analogieverbot anerkannt85. Es ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 tStGB 1926 und aus Art. 2 Abs. 1 tStGB 2004. Es umfasst jedenfalls das Verbot der Analogie zulasten des Täters; täterbegünstigende Analogien sind dagegen erlaubt86.
IV. Allgemeine und strafrechtliche Auslegungsmethoden Die allgemeine Methodenlehre ist von Art. 1 des Zivilgesetzbuches geprägt, nach dem der Rechtsanwender bei Nichtvorliegen einer gesetzlichen (kanuni hüküm) oder gewohnheitsrechtlichen (örf ve adet) Regelung der Regelung des „hypothetischen Gesetzgebers“ Folge zu leisten hat87. Als besondere Auslegungsmethoden ist die grammatikalische, historische und teleologische Methode anerkannt. Ferner spielt die rechtsvergleichende, EMRK-konforme, systematische und genetische Auslegung eine nicht unerhebliche Rolle88.
Sowohl Lehre als auch Rechtsprechung sehen die Auslegung im Strafrecht unter einschränkendem Einfluss des Gesetzlichkeitsprinzips. Das bedeutet, dass die strafrechtliche Auslegung zuungunsten des Täters nicht so weit gehen darf wie bei der allgemeinen Auslegung, also seine Grenze im Analogieverbot findet89. Im Rahmen dieser Prämisse ist in der strafrechtlichen Auslegung die grammatikalische und logische Methode anerkannt; eine besondere Rolle
84 85 86 87
88 89
„Außer in den gesetzlich bestimmten Fällen und Formen kann niemand festgenommen oder verhaftet werden.“; Bolland, Die türkische Verfassung, S. 155. �çel / Donay, Ceza Hukuku, Bd. 1, S. 56 f., 83. Hakeri, a.a.O., S. 15 ff.; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 56. Tellenbach, Gesetzlichkeitsprinzip in der Türkei, S. 146 f. �çel / Donay, Ceza Hukuku, Bd. 1, S. 83 ff. m.w.N.; Hakeri, a.a.O., S. 23 ff.; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 54 f. Tellenbach, Einführung in das türkische Strafrecht, S. 11 m.w.N.; dagegen: Önder, a.a.O., S. 445. „Wenn keine gesetzliche Regelung vorliegt, hat der Richter nach Gewohnheitsrecht und wenn auch kein Gewohnheitsrecht existiert nach der Frage, welche Regelung der Gesetzgeber getroffen hätte, zu entscheiden.“ Vgl. hierzu: Önder, Das türkische Strafrecht, S. 445; Rumpf, Einführung in das türkische Recht, S. 8. Die Vorschrift geht auf Art. 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuches zurück, das ebenfalls den Rückgriff auf den „hypothetischen Gesetzgeber“ vorsieht. Rumpf, a.a.O., S. 8. Önder, a.a.O., S. 445 f.; Tellenbach, Grundlagen des Strafrechts in der Türkei, S. 770. Vgl. �çel / Donay, Ceza Hukuku, Bd. 1, S. 83 ff.
Drittes Kapitel: Grundlagen des republikanischen Strafrechts
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spielt die genetische Auslegung, also die Hinzuziehung von Sekundärquellen aus dem Gesetzgebungsverfahren (Plenardebatten, Protokolle der Justizkommission, Gesetzesbegründungen etc.) und die Berücksichtigung der Dogmatik der Vorbildrechtsordnungen90. Letzteres wird seit Inkrafttreten des tStGB 2004 jedoch wohl an Bedeutung verlieren, da das neue Strafgesetzbuch auf mehr als nur einer Rechtsordnung beruht und die türkische Strafrechtswissenschaft nun nicht länger – wie noch im Geltungszeitraum des tStGB 1926 – auf die Dogmatik einer Strafrechtsordnung zurückgreifen kann.
D) Verfassung und Europäische Menschenrechtskonvention Die in der türkischen Rechtswissenschaft anerkannte Normenhierarchie91 ergibt eine der Verfassung untergeordnete Stellung des Strafrechts92: Das Strafrecht darf nicht die durch die Verfassung gewährleisteten Grundrechte und aufgestellten Grundsätze und Ideale missachten. Insbesondere das Verhältnis zu den Grundrechten erhält so regelmäßig Relevanz. Die Grundrechte der tVerf 1924, 1961 und 1982 stehen wiederum unter Gesetzesvorbehalt und so bilden die Straftatbestände Konkretisierungen dieser Gesetzesvorbehalte. Im Gegensatz zur tVerf 1924 enthielt Art. 11 tVerf 1961 neben dem Gesetzesvorbehalt für alle Grundrechte zugleich die Wesensgehaltgarantie (öze dokunma yasa��), die als Schrankenschranke inhaltliche Anforderungen für die Konkretisierungen der Gesetzesvorbehalte aufstellte93. Mit den Verfassungsänderungen von 1971 wurden für den allgemeinen Gesetzesvorbehalt der tVerf 1961 Beschränkungsgründe eingeführt und dadurch der Streit beendet, ob es sich bei Art. 11 um einen pauschalen Gesetzesvorbehalt für alle Grundrechte handelt94. Während in der tVerf 1982 die Wesensgehaltgarantie (zunächst) wieder abgeschafft und mit Art. 14 sogar ein Missbrauchsverbot für Grundrechte aufgestellt wurde, wurde für Grundrechtsbeschränkungen mit Art. 11 Abs. 1 S. 1 hingegen das Verbot eingeführt, „Wort und Geist“ zu widersprechen; als zusätzliche Schrankenschranke gilt nach Art. 11 Abs. 2, dass Grundrechtsbeschränkungen den Erfordernissen einer demokratischen Gesellschaftsordnung entsprechen müssen95. Aus Art. 91 ergibt sich ferner ein Parlaments90 91 92 93 94 95
Vgl. Önder, a.a.O., S. 445 f.; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 84 ff.; Demirba�, a.a.O., S. 118 ff. Rumpf, a.a.O., S. 6; Tellenbach, Grundlagen des Strafrechts in der Türkei, S. 770 f. Hierzu und zu den folgenden Ausführungen des Absatzes vgl.: �çel / Donay, a.a.O., S. 17 f.; Rumpf, a.a.O., S. 25 ff., 63 ff.; zu den Grundrechten und dem Schrankensystem der tVerf 1982: ders., Das türkische Verfassungssystem, S. 219 ff. In der amtlichen Begründung verweist der Gesetzgeber mit Art. 19 GG auf das deutsche Vorbild. Rumpf, Die „Europäisierung“ der türkischen Verfassung, S. 68. Rumpf, a.a.O., S. 70. Rumpf, a.a.O., S. 74 f.; ders., Einführung in das türkische Recht, S. 66.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
vorbehalt (yasa kayd�), also dass einschränkende Gesetze formelle Gesetze sein müssen96. Eine eigenständige Schrankenschranke der tVerf 1982 bildet zudem das Laizismusprinzip. Nach den Verfassungsänderungen von 2001 ist in Art. 13 wieder die Wesensgehaltgarantie aufgenommen worden. Eine besondere Rolle spielt noch die Europäische Menschenrechtskonvention. Dies gilt in materiell-rechtlicher und prozessualer Hinsicht: Nachdem die Türkei 1950 die Konvention unterzeichnet hatte, wurde in der tVerf 1961 und später auch in der tVerf 1982 klargestellt, dass der Inhalt der EMRK in der Türkei zumindest97 den Status des Inlandsrechts hat98. Spätestens seit einer Verfassungsänderung im Jahre 2004 hat die EMRK im Falle einer Inhaltskollision mit Inlandsrecht Vorrang99. Da ferner das türkische Verfassungsgericht für (Urteils-)Verfassungsbeschwerden nicht zuständig ist, spielt der über die EMRK „wachende“ Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Überprüfung der Urteile des Kassationshofes eine wichtige Rolle100.
E) Strafrechtliche Würdigung von Grundrechten Das türkische Strafrecht räumt der Würdigung der betroffenen Grundrechte bei der Auslegung der Tathandlungen101 und bei der Rechtswidrigkeit ihren Platz ein. Wie oben geschildert, sieht das Strafrecht seit Inkrafttreten des tStGB 1926 in der Ausübung eines Rechtes (hakk�n icras�) einen (ungeschriebenen) Rechtfertigungsgrund. Um eine Rechtsausübung als Rechtfertigung anzuerkennen, muss ein subjektives Recht bestehen, der Rechtsinhaber muss dieSiehe hierzu und zu den folgenden Ausführungen: Rumpf, a.a.O., S. 66 f. Streitig war, ob die EMRK übergesetzliche oder einfachgesetzliche Stellung hat. Hierzu: Gölcüklü / Gözübüyük, Avrupa �nsan Haklar�, S. 20. 98 Art. 65 Abs. 5 S. 1 tVerf 1961: „Die ordnungsgemäß in Kraft gesetzten internationalen Abkommen haben Gesetzeskraft.“; Hirsch, a.a.O., S. 130. Art. 90 Abs. 5 S. 1 tVerf 1982: „Die ordnungsgemäß in Kraft gesetzten internationalen Verträge haben Gesetzeskraft.“; Wedekind, a.a.O., S. 151. 99 Dies wurde z.T. schon früher angenommen, weil die Überprüfung völkerrechtlicher Verträge auf die Vereinbarkeit mit Verfassungsrecht nicht zulässig war. Gölcüklü / Gözübüyük, a.a.O., S. 19 ff. Mit Gesetz Nr. 5170 vom 7. Mai 2004 erhielt Art. 90 Abs. 5 schließlich folgenden Zusatz: „Soweit Grundrechte und -freiheiten regelnde Vorschriften verfahrensmäßig in Kraft gesetzter völkerrechtlicher Verträge mit nationalen Bestimmungen mit gleichem Regelungsgehalt nicht übereinstimmen, finden die Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge vorrangig Anwendung.“ (Übersetzung aus: Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, S. 25) Siehe: Tellenbach, a.a.O., S. 772. 100 Die Zahl der anhängigen Verfahren aus der Türkei eingereichten Klagen und der hierdurch ergangenen Urteile ist im Vergleich zu den meisten anderen Ländern höher: siehe etwa Jahresbericht des Gerichts aus dem Jahre 2008, S. 128. Vgl. Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, S. 190; vgl. ders., Einführung in das türkische Recht, S. 54. 101 Siehe: Demirba�, Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 53; �çel / Donay, a.a.O., S. 17 f.; vgl. auch Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 106 f.; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O, S. 9 f.
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ses Recht selbst ausüben dürfen, das Recht muss innerhalb seiner Grenzen ausgeübt worden sein und die Ausübung des Rechts muss dem Rechtsgut, das durch die Zuerkennung des Rechts geschützt werden sollte, dienlich sein102. Die Würdigung bestimmter subjektiver Rechte setzt die Heranziehung von Grundrechten voraus. Bei den Ehrverletzungsdelikten handelt es sich insbesondere um die Meinungsäußerungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Kunstfreiheit und die Freiheit der Wissenschaft103.
I. Recht auf Kritik Als taugliches Recht für die strafrechtliche Rechtfertigung ist das Recht auf Kritik (tenkid hakk� oder ele�tiri hakk�) anerkannt104. Es resultiert aus der Meinungsäußerungsfreiheit und aus der Pressefreiheit105. Beide sind in der türkischen Verfassungsgeschichte bereits seit der tVerf 1924 als Grundrechte verankert106. Art. 70 tVerf 1924 sah unter anderem in der Freiheit der Rede und der Veröffentlichung natürliche Rechte der Türken107. Die tVerf 1961 garantierte jedermann, seine Meinungen durch Wort, Schrift, Bild oder auf jedem anderen Wege öffentlich zu äußern und zu verbreiten108 und bestimmte, dass die Presse frei ist109. Auch die tVerf 1982 gewährt Meinungsäußerungs-110 und Pressefreiheit111. 102 Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 424 f.; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 328 f.; Tellenbach, Einführung in das türkische Strafrecht, S. 28; Demirba�, a.a.O., S. 282 ff.; Erman, Hakaret Ve Sövme Suçlar�, S. 131 ff. 103 Erman, a.a.O., S. 129 ff., 149 ff.; Özek, Bas�n Hukuku, S. 50 ff.; vgl. Koca, Türk Ceza Kanunun 159. Maddesi II, S. 600 ff.; vgl. Senkeri, Alenen Tahkir ve Tezyif Cürümleri, S. 241 ff.; vgl. Sancar, Alenen Tahkir ve Tezyif Suçlar�, S. 192. 104 Koca, a.a.O., S. 600; siehe auch: Sancar, a.a.O., S. 211; Erman, a.a.O., S. 170 f. 105 Koca, a.a.O., S. 600; Erman, a.a.O., S. 153, 170. Erman ordnet dem Recht auf Kritik die Meinungsäußerungsfreiheit zu, bezeichnet es aber als eine Form des Rechtes auf Verbreitung von Nachrichten. Letzterem ordnet er wiederum die Pressefreiheit zu. 106 Zur Geschichte der Meinungsäußerungsfreiheit siehe: Can, Die Schranken der Meinungsäußerungsfreiheit, S. 20 ff. 107 „Unverletzlichkeit [...] des Gedankens, der Rede, der Veröffentlichung, [...] gehören zu den natürliche Rechten der Türken.“; Bolland, Die türkische Verfassung, S. 155. 108 Wortlaut des Art. 20 Abs. 1: „Jedermann besitzt Gedanken- und Überzeugungsfreiheit; jedermann kann allein oder in Gemeinschaft mit anderen seine Gedanken und seine Überzeugungen durch Wort, Schrift, Bild oder auf jedem anderen Wege öffentlich äußern und verbreiten.“; Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 99. 109 Art. 22 Abs. 1 S. 1: „Die Presse ist frei“ Hirsch, a.a.O., S. 101. 110 Wortlaut von Art. 26 Abs. 1 S. 1: „Jedermann hat das Recht, seine Gedanken und Überzeugungen allein oder in der Gemeinschaft mit anderen in Wort, Schrift, Bild oder in anderer Weise öffentlich zu äußern und zu verbreiten.“; Wedekind, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 60. 111 Wortlaut von Art. 28 Abs. 1 S. 1: „Die Presse ist frei und darf nicht zensiert werden.“; Wedekind, a.a.O., S. 64.
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Das Recht auf Kritik soll einen harten und polarisierenden Umgang gewähren112. Kritik wiederum soll voraussetzen, dass die geäußerten Gedanken ein systematisches Verständnis und eine Wertung zum jeweiligen Thema aufweisen, also eine Meinung enthalten113. Dieser Voraussetzung genügen insbesondere nicht obszöne, aggressive, ehrkränkende Äußerungen, sowie Flüche, Beleidigungen und unwahre Äußerungen (Verleumdungen)114. Aber auch auf Tatsachen beruhende Kritik soll ihre Grenze im Missbrauch finden115.
II. Recht auf Verbreitung von Nachrichten Auch die Verbreitung von Nachrichten (haber verme hakk�) bildet ein taugliches Recht für die strafrechtliche Rechtfertigung116. Sie ist Ausdruck der Pressefreiheit117. Die Besonderheit liegt hier darin, dass das Verbreitungsrecht sowohl die Äußerung von Kritik als auch allgemeine, gesellschaftliche Informationen zum Gegenstand haben kann. Um eine strafrechtliche Rechtfertigung zu begründen, muss die Tathandlung jedoch die Qualität einer Nachricht haben: Erforderlich ist, dass die Nachricht wahr (gerçek) und aktuell (güncel) ist und an der Nachricht ein öffentliches Interesse (kamu yarar�) besteht118. Bei der Verbreitung von Nachrichten sollen beleidigende, ehrkränkende oder missbräuchliche Inhalte keine strafrechtliche Rechtfertigung begründen dürfen119.
III. Sonstige Rechte Neben dem Recht auf Kritik und auf Verbreitung von Nachrichten sind die Verbreitung von Wissenschaft und von Kunst ebenfalls als taugliche Rechte zur strafrechtlichen Rechtfertigung anerkannt120. Sie resultieren aus der Kunstfreiheit und Freiheit der Wissenschaft121. Die Kunstfreiheit und Freiheit der Wissenschaft waren in der tVerf 1924 nicht verankert. Erst die tVerf 1961 gewährte jedermann das Recht, Wissenschaft und Kunst zu erlernen und zu leh112 Erman, a.a.O., S. 170 m.w.N.; vgl. Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 149. 113 Sancar, a.a.O., S. 226. Vgl. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 425 ff.; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 149. 114 Hatemi, Dü�ünce Özgürlü�ü, S. 110 ff.; Sancar, a.a.O., S. 195 f.; Erman, a.a.O., S. 170. 115 Sancar, a.a.O., S. 228; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 149. 116 Erman, a.a.O., S. 153 ff.; vgl. Koca, a.a.O., S. 600 ff.; Senkeri, a.a.O., S. 241 ff.; vgl. auch: Sancar, a.a.O., S. 211 ff.; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 439 ff.; Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 335 ff.; Hakeri, a.a.O., S. 292. 117 Erman, a.a.O., S. 153. 118 Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 440 f.; Erman, a.a.O., S. 154 ff. 119 Erman, a.a.O., S. 165 ff.; Senkeri, a.a.O., S. 248; Sancar, a.a.O., S. 221 ff. 120 Erman, a.a.O., S. 149 ff. 121 Ebd.
Drittes Kapitel: Grundlagen des republikanischen Strafrechts
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ren, sie auszuüben, mitzuteilen und zu verbreiten und jegliche Art von Forschung zu betreiben122. Der tVerf 1982 bleiben diese Rechte erhalten123. Um ein Verhalten als Verbreitung von Wissenschaft rechtfertigen zu können, müssen die verbreiteten Inhalte Wissenschaft darstellen, insbesondere den jeweiligen Methoden des Faches Rechnung tragen124. Pseudowissenschaftliche Schriften oder gegen die wissenschaftlichen Regeln verstoßende Arbeiten können so keine Rechtfertigung begründen125. Einen besonderen Ausdruck der Verbreitung von Wissenschaft bildet die Aufarbeitung von geschichtlichen Ereignissen: Die Verbreitung dieser Inhalte soll erfordern, dass sie als wissenschaftlich eingestuft werden, wobei auch hier die Grenze des Missbrauchs gilt126. Bei der Ausübung der Kunstfreiheit bilden mit den Ehrverletzungstatbeständen insbesondere satirische Werke und Karikaturen eine Schnittstelle. Wie bei dem Recht auf Kritik oder Verbreitung von Nachrichten soll auch die Verbreitung von Kunst ihre Grenze in beleidigenden, ehrkränkenden oder obszönen Darstellungen nehmen127.
F) Rechtsgüterschutz128 In der türkischen Strafrechtswissenschaft werden bei der Darstellung von Vorschriften des Besonderen Teils Betrachtungen über die geschützten Rechtsgüter (korunan hukukî konu suçun hukukî de�eri) angestellt. Die Erforschung der Frage, was mit einem bestimmten Straftatbestand geschützt werden soll, kann bei der Auslegung eines Tatbestandes helfen (tefsir) und bietet überdies die Möglichkeit, Vorschriften kategorisch oder systematisch einzuordnen bzw. zu klassifizieren (tasnif): Dies findet in der Türkei seit geraumer Zeit Zustim122 Wortlaut von Art. 21 Abs. 1: „Jedermann besitzt das Recht, Wissenschaft und Kunst frei zu erlernen, zu lehren, öffentlich mitzuteilen, zu verbreiten und auf diesen Gebieten Forschungen jeglicher Art anzustellen.“; Hirsch, a.a.O., S. 100. 123 Wortlaut von Art. 27 Abs. 1: „Jedermann hat das Recht, Wissenschaften und Künste frei zu erlernen, zu lehren, öffentlich mitzuteilen, zu verbreiten und auf diesen Gebieten Forschungen jeglicher Art anzustellen.“; Wedekind, a.a.O., S. 63. 124 Vgl. Erman, a.a.O., S. 149 m. Hinw. auf: Özek, Bas�n Hukuku, S. 310 ff. 125 Erman, a.a.O., S. 149 f. 126 Erman, a.a.O., S. 150 ff.; auf die Relevanz historischer Untersuchungen zur historischen Person Mustafa Kemal Atatürks sei hier nur am Rande hingewiesen. Erman betont, dass die Grundsätze zur strafrechtlichen Rechtfertigung aufgrund der Ausübung des Rechts auf Aufarbeitung historischer Ereignisse auch auf das Gesetz Nr. 5816 vom 25. Juli 1951 (Gesetz über strafbare Handlungen gegen Atatürk) anzuwenden sind, ebd., S. 153. 127 Ebd., S. 149. 128 Zu den Ausführungen des folgenden Abschnitts siehe auch mein Aufsatz: Von der Sünde zur Straftat, S. 411 ff.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
mung129. Im Rechtsgüterschutz aber die Grundlage für eine über die Auslegungshilfe und Einordnung der Vorschriften (systemimmanente Funktion) hinausgehende systemkritische Funktion zu sehen, findet erst im jüngeren Schrifttum deutlichere Zustimmung130. Insbesondere Ünver verlangt eine über die verfassungsrechtliche Rechtsgüterordnung131 hinausgehende Auseinandersetzung beim „Auffinden“ von legitimen Rechtsgütern132. Zwar sei Grundlage für das Rechtsgut die Freiheit des Individuums in der Gemeinschaft (bireyin toplum içinde ya�ayaca�� bir özgürlük), doch soll es neben Individualrechtsgütern auch Gemeinschaftsrechtsgüter geben können. Ünver lehnt einen festen Kernbestand an Rechtsgütern ab, da durch die gesellschaftliche Weiterentwicklung – etwa durch technischen Fortschritt – neue Rechtsgüter entstehen können. Grundsätzlich haben für die Strafe stets eine Zulänglichkeit (liyakat) und ein Bedürfnis (muhtaçl�k) vorzuliegen. Es gelte, im Zweifel für die Freiheit zu entscheiden (in dubio pro libertate).
129 Siehe hierzu grundlegend: Toroslu, Cürümlerin Tasnifi Bak�m�ndan Suçun Hukukî Konusu, insbes. S. 87 ff., S. 229 f. Siehe auch: Haf�zo�ullar�, Yeni Türk Ceza Kanunun Yorumu Meselesi, S. 77. Toroslu sieht in Rechtsgütern eine rechtliche Existenz oder einen rechtlichen Vorteil. Diese wird durch die Straftat beeinträchtigt oder verletzt. Toroslu, Ceza Hukuku, S. 65; ders., Suçun Hukukî Konusu, S. 87 ff.; vgl. Centel / Zafer / Çakmut, a.a.O., S. 222 f. 130 Dönmezer / Erman etwa sahen im Recht des Staates auf Setzung von Recht hinreichende Legitimation für die Schaffung neuer Straftatbestände, Nazarî Ve Tatbikî Ceza Hukuku1, S. 111 f. sowie Nazarî Ve Tatbikî Ceza Hukuku13, S. 112 f. Sie mögen hierbei durch den italienischen Positivismus beeinflusst worden sein (vgl. dazu: Da�a�an, a.a.O., S. 407 ff. m.w.N.), der seinerseits im Gesetzgeber die letzte Legitimationsinstanz für das Setzen von Strafrecht sieht. Vgl. Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 61. Auf der anderen Seite konnte sich auch in der Türkei – wohl vergleichbar mit der in Italien vertretenen Lehre von der „offensività“ (dazu: Maiwald, Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozeßrecht, S. 42 ff. Vgl. Donini, Verbrechenslehre, S. 106 ff.), eine Strömung herausbilden, die zumindest nach der Verletzung von Rechtsgütern verlangt – und so zumindest die Ablehnung von abstrakten Gefährdungsdelikten hat etablieren können. Siehe: Ünver, Hukuksal De�er, S. 1065 f., 1067; Alacakaptan, Ceza Hukukunda Tamamlay�c� Kurallar, S. 19. 131 Tellenbach, Grundlagen des Strafrechts in der Türkei, S. 756. Vgl. Haf�zo�ullar� / Güngör, Türk Ceza Hukukunda Suçlar�n Tasnifi, S. 25 f.; Özek, „1997 Türk Ceza Yasas� Tasar�s�“, S. 40. 132 Hierzu und zu den folgenden Ausführungen siehe: Ünver, a.a.O., S. 668 ff., 761 ff.; zusammenfassend: S. 1055 ff. Siehe auch: ders., Das Rechtsgut im Strafrecht, S. 93 ff.
Viertes Kapitel: Art. 145 und Art. 159 tStGB 1926 A) Zur Darstellung Tatbestand und Dogmatik der Artt. 300, 301 tStGB 2004 sind im Wesentlichen durch die Artt. 145, 159 tStGB 1926 beeinflusst. Für grundlegend neue Entwicklungen und ihre Würdigung im Schrifttum bietet der Zeitabschnitt seit Inkrafttreten des tStGB 2004 wenig Raum. Daher beinhaltet dieses Kapitel den größten Teil der dogmatischen Darstellung. Im darauffolgenden Kapitel wird der Schwerpunkt darin liegen, die (dogmatischen) Unterschiede der Artt. 300, 301 zu den Artt. 145, 159 herauszuarbeiten.
B) Systematik der Ehrverletzungstatbestände Im tStGB 1926 existierten allgemeine und besondere Ehrverletzungstatbestände. Erman unterschied folgendermaßen: „Bei Straftaten, die nur die Ehre von Menschen beeinträchtigen, sprechen wir von allgemeinen Ehrverletzungstatbeständen und bei Straftaten, die über die Ehre hinaus auch andere, ideelle Werte verletzen, von besonderen Ehrverlet1 zungstatbeständen.“
Die allgemeinen Ehrverletzungstatbestände (genel tahkir suçlar�) bildeten die üble Nachrede und die Beleidigung (Artt. 480 ff.) unter dem Titel des neunten Kapitels „Verbrechen gegen Personen“. Zu den besonderen Ehrverletzungstatbeständen (özel tahkir suçlar�) zählten unter anderem die Beleidigung des Präsidenten der Republik (Art. 158), die Verbrechen gegen ausländische Staaten, ihre Staatsoberhäupter und Botschafter (Artt. 164 ff.), die Verbrechen gegen die religiöse Freiheit (Artt. 175 ff.), die Beleidigung von öffentlichen Amtsträgern (Artt. 266 f.), sowie die Beleidigung bzw. Herabwürdigung von gerichtlichen, administrativen, politischen oder militärischen Gremien bzw. Richtern (Art. 268). Als besondere Ehrverletzungstatbestände galten auch die Artt. 145 und Art. 1592. Die Unterscheidung zwischen allgemeinen und besonderen Ehrverletzungstatbeständen hatte neben der systematischen Einordnung auch Bedeutung für den Inhalt der Tathandlung. Denn bei den besonderen Ehrverletzungstatbeständen, die nicht ehrverletzende oder ehrgefährdende Tathandlungen gegen natürliche Personen, sondern gegen Einrichtungen und Institutionen bzw. Werten zum Gegenstand haben, konnte die Tathandlung nicht in der einfachen Beleidigung oder üblen Nachrede bestehen. Dies erfordert vielmehr 1 2
Erman, Hakaret Ve Sövme Suçlar�, S. 3. Erman, a.a.O., S. 3. So auch: Koca, Türk Ceza Kanunun 159. Maddesi II, S. 575 f.
Zweiter Teil Türkisches Recht
tahkir
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vilipendio
C Der Schutz der türkischen Fahne und sonstiger Hoheitszeichen nach Art 145 I Gesetzgebungsentwicklung 1 Erstfassung
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Erman Senkeri Senkeri ¡Sancar ¢£ ¤ ¥ Ziemke ¦¦ abreißen wegnehmen ¥
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auf eine andere Weise herabwürdigen sonst wie schmähen¡Hoheitszeichen des Staates Hoheitszeichen der Regierungin der Absicht der Beschimpfung in missachtender Absicht
Viertes Kapitel: Art. 145 und Art. 159 tStGB 1926
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erste Kapitel war in verschiedene Abschnitte unterteilt und Art. 145 fiel in den ersten Abschnitt (Artt. 125–145) „Verbrechen gegen das Vaterland“.
2. Rocco-Angleichung von 19368 Wie bereits erwähnt, suchte der Gesetzgeber nach Inkrafttreten des Codice Rocco im Jahre 1930 eine Annäherung an das neue italienische Strafrecht. Mit Gesetz Nr. 3038 – einem der Rocco-Angleichungsgesetze – wurde auch Art. 145 verändert. In der Gesetzesbegründung betonte der Gesetzgeber, dass er „bestehende Schwierigkeiten in der Strafverfolgung beseitigen“ wollte9: Während der Strafrahmen unberührt blieb, erhielt die Vorschrift drei zusätzliche Absätze, die das Schutzobjekt „türkische Fahne“ als „amtliche Fahne des Staates sowie jegliche mit den Nationalfarben geschmückte Fahne“ legal definierten (Abs. 2) und die gleiche Strafbarkeit für das Schutzgut der „sich auf irgendeinem Gegenstand befindenden Nationalfarben“ (Abs. 3)10 und eine Strafverschärfung um ein Drittel bei Begehung im Ausland (Abs. 4) einführten. Im Absatz 1 wurde die öffentliche Begehungsform („allgemein zugängliche Orte“) und das Schutzobjekt türkisches Wappen gestrichen11. Mit Gesetz Nr. 3038 wurde darüber hinaus auch der Standort der Vorschrift verändert. Das erste Kapitel erhielt den Titel „Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates“ und der erste Abschnitt dieses Kapitels, in dem auch Art. 145 Platz fand, den Titel „Verbrechen gegen die internationale Persönlichkeit des Staates“.
II. Schutzobjekte 1. Türkische Fahne Die türkische Flagge mit Halbmond und Stern taucht in der Geschichtsschreibung erstmals bei den in Anatolien angesiedelten Seldschuken auf, deren Herrscher G�yaseddin Mesud ein mit diesen Symbolen bestücktes, weißes Banner an Osman Bey – den späteren Herrscher über das Osmanische Reich – übersenden ließ12. Während nach dem 8 9 10
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Für die vollständige Fassung des Art. 145 siehe Anhang Nr. 1. Abgedruckt in: Zabit Ceridesi v. 11.6.1936, RNr. 250, S. 36. Vgl. hierzu die amtliche Begründung: „Nach diesem Absatz wird die Beschimpfung der sich auf irgendeinen Gegenstand befindenden Nationalfarben mit derjenigen der Fahne gleichgestellt und hierfür die gleiche Strafe vorgesehen. Als Beispiel können hierfür mit den Nationalfarben beschmückte Säulen [...] genannt werden.“, abgedruckt in: Zabit Ceridesi v. 11.6.1936, RNr. 250, S. 36 f. Vgl. Art. 292 aus dem italienischen Codice Rocco: (1) „Wer die Nationalflagge oder ein anderes Hoheitszeichen des Staates schmäht, [...].“ (2) „Im Rahmen des Strafgesetzes ist unter Nationalflagge die amtliche Staatsflagge und jede andere die Nationalfarben tragende Flagge zu verstehen.“ (3) „Die Bestimmungen dieses Artikels finden auch auf denjenigen Anwendung, der die Nationalfarben in Darstellung auf einer anderen Sache als einer Flagge schmäht.“ Bunge, Das Italienische Strafgesetzbuch, S. 114. Hierzu und zu den folgenden Ausführungen des Absatzes siehe: Akarsu, Türk Bayra�� Ve Alt�n Oran �li�kisi, S. 438 ff. m.w.N.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
15. Jahrhundert die zwischenzeitig rote, mit weißen Symbolen bestückte Flagge durch eine grüne abgelöste wurde, kann die älteste, der heutigen Nationalflagge am ehesten entsprechende Fahne unter Selim III. (1789–1807) nachgewiesen werden. Der Stern, der unter Selim III. noch achteckig war, wurde unter Abdülmecid I. (1839–1876) durch einen fünfeckigen ersetzt. Nach Gründung der Republik markierte Gesetz Nr. 2994 vom 29. Mai 1936 die erste gesetzliche Regelung zur Nationalflagge. Das Gesetz regelte neben den genauen Maßen und Maßverhältnissen, dass die türkische Fahne aus weißem Halbmond und Stern auf rotem Hintergrund bestehen sollte. Diese Regelung wurde durch das nachfolgende Gesetz Nr. 2893 vom 24. September 1983 beibehalten.
Die türkische Fahne als Schutzobjekt war über den gesamten Geltungszeitraum des tStGB 1926 im Art. 145 enthalten. Wie in der amtlichen Begründung zum Änderungsgesetz von 1936 bereits anklingt13, gab es bei der Anwendung der Erstfassung eine Reihe von Schwierigkeiten, die erst nach 1936 „beseitigt“ werden konnten. Diese Schwierigkeiten erwuchsen daraus, dass einerseits bis 1936 keine gesetzliche Regelung zur Nationalflagge existierte und andererseits auch keine strafrechtliche Definition zum Inhalt und Maß der türkischen Fahne vorlag. Durch Gesetz Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 wurde so die Regelung eingeführt, dass unter der türkischen Fahne zum einen die amtliche Fahne und zum anderen jede mit Nationalfarben geschmückte Fahne zu verstehen sei. Bei der amtlichen Fahne wurde also auf die gesetzliche Regelung zur Nationalflagge – Gesetz Nr. 2994 vom 29. Mai 1936 – Bezug genommen14. Weil die Legaldefinition aber auch jede mit den Nationalfarben geschmückte Fahne in den Anwendungsbereich der Vorschrift rückte, musste das Schutzobjekt nicht notwendigerweise den gesetzlichen Vorgaben zur Nationalflagge entsprechen. Vielmehr sollte jede – auch private15 – Fahne, die die Nationalfarben trug, als taugliches Schutzobjekt in Frage kommen16. Die Nationalfarben sind rot und weiß17. Um aber als Fahne von anderen Gegenständen abgrenzbar zu sein, konnte das bloße Vorliegen der Nationalfarben nicht ausreichen, um die Eigenschaft als türkische Fahne zu erzeugen: Vielmehr mussten sich auf den Fahnen auch der den türkischen Staat symbolisierende Halbmond mit Stern befinden18. So lehnte der Kassationshof das Vorliegen einer türkischen Fahne im Sinne des Art. 145 bei einem Schulbanner ab, das nicht Halb13 14 15 16 17 18
„[...] um bestehende Schwierigkeiten bei der Strafverfolgung zu beseitigen“, abgedruckt in: Zabit Ceridesi v. 11.6.1936, RNr. 250, S. 36. Erem, Ceza Hukukunda Türk Bayra��, S. 116; ders., Bayra�a Hakaret, S. 968; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1056. Vgl. Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 139; vgl. Kurt, Terör Suçlar�, S. 83. Vgl. Gözübüyük, Türk Ceza Kanununun Aç�lamas�, Bd. 2, S. 648. Erem, a.a.O., S. 118. Gözübüyük, Türk Ceza Kanununun Aç�lamas�, Bd. 2, S. 647. Erem, a.a.O., S. 118; ders., Bayra�a Hakaret, S. 969; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1057; Gözübüyük, Türk Ceza Kanununun Aç�lamas�, Bd. 2, S. 648; Kurt, a.a.O., S. 83. Erem, a.a.O., S. 117; ders., Bayra�a Hakaret, S. 968 f.; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 139. Vgl. Gözübüyük, a.a.O., S. 646.
Viertes Kapitel Art 145 und Art 159 tStGB 1926
2 Sonstige Hoheitszeichen des Staates
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
Staates und solchen Zeichen, die die bloße Zugehörigkeit zu einer Behörde oder einer Einrichtung ausdrücken: Letztere sollten keine Hoheitszeichen im Sinne des Art. 145 darstellen27. Die Rechtsprechung sah in den Hoheitszeichen Gegenstände wie etwa die Fahne, Banner, Wappen oder die Nationalhymne28, deren ideeller Wert regelmäßig nicht bemessbar sei29. Die Barzahlungsmittel sollten nicht dazugehören30. Zeichen von Behörden und Einrichtungen sollten ebenfalls nicht Hoheitszeichen des Staates sein31.
III. Tathandlung 1. Herabwürdigung Die Tathandlung des Art. 145 bestand im Abreißen, Zerreißen, Beschädigen oder in der Herabwürdigung (tezlil) auf andere Weise. Wie durch die Formulierung des Gesetzgebers bereits deutlich wird, sollte jede Tathandlung, die herabwürdigend ist, tatbestandsmäßig im Sinne des Art. 145 sein. Somit wurden das Abreißen, Zerreißen und Beschädigen exemplarisch, also nicht abschließend, aufgeführt32. Was genau unter einer Herabwürdigung im Sinne des Art. 145 zu verstehen war, hing von der genauen Handlungsform ab und sollte eine weite Auslegung erfordern33. Sie wurde als jede kleinmachende Handlung verstanden34. Nach allgemeiner Auffassung gab Art. 145 aber keine besondere Handlungsform vor35, so dass die Tathandlung auch durch Worte, etwa durch
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Hierzu zähle insbesondere Art. 159, der mit dem Schutzobjekt „Türkentum“ Werte beinhalte, die auch durch den Unabhängigkeitsmarsch repräsentiert werden können. Erem, a.a.O., S. 118; ders., Bayra�a Hakaret, S. 969; ebd., S. 1057. In anderen Entscheidungen wurde eine Herabwürdigung der Nationalhymne zwar abgelehnt, jedoch weil die subjektiven Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Kassationshof, Urteil vom 2.9.1987, E. 9/552, K. 93; Kassationshof, Urteil vom 11.3.1986, E. 730, K. 1634; Kassationshof, Urteil vom 6.12.1983, E. 3093, K. 3145; alle abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 140 f.; Kurt, a.a.O., S. 87 f. Kassationshof, Urteil vom 21.2.1983, E. 4/565, K. 77, abg. bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 141 f. Yarg�tay Kararlar Dergisi 1983, 757 ff.; Özel, �çtihatl� Türk Ceza Kanunu, S. 73. So entschied der Kassationshof, dass das Zerreißen eines Geldscheines keinen Angriff auf ein Hoheitszeichen des Staates bildet, weil Geldscheine und Münzen durch Nutzung natürlicherweise beschädigt und beschmutzt werden und Wertschwankungen ausgesetzt sind: „Die Zahlungsmittel, die je nach wirtschaftlicher Lage des Landes ihren Wert verlieren oder an Wert zulegen, zählen nicht zu den Hoheitszeichen des Staates.“, Kassationshof, Urteil vom 21.2.1983, E. 4/565, K. 77 (s.o.). Siehe auch: Kassationshof, Urteil vom 1.3.1983, E. 452, K. 926, abgedruckt bei: Özel, a.a.O., S. 73. So etwa nicht die Zeichen auf Zugwagons; Kassationshof, Urteil vom 29.5.1956, E. 1881, K. 7728; abgedruckt bei: Gözübüyük, a.a.O., S. 649; Kurt, a.a.O., S. 94. Erem, a.a.O., S. 118; Kurt, a.a.O., S. 83; Gözübüyük, a.a.O., S. 648 f. Erem, a.a.O., S. 118; Kurt, a.a.O., S. 83; Gözübüyük, a.a.O., S. 648. Kurt, a.a.O., S. 83; Gözübüyük, a.a.O., S. 648. Kassationshof, Urteil vom 11.3.1953, E. 1401, K. 2603, abgedruckt bei: Gözübüyük, a.a.O., S. 649; Kurt, a.a.O., S. 94.
Viertes Kapitel: Art. 145 und Art. 159 tStGB 1926
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Beschimpfen oder Missachten, erfüllt werden konnte36. Diesen Ansatz teilte auch der Kassationshof, der in der Aussage des Angeklagten „ich f… deine Republik, deine Fahne und dein Banner“ einen tauglichen Angriff im Sinne des Art. 145 sah37. Dass die Tathandlung nicht bei gleichzeitiger Anwesenheit der türkischen Fahne oder eines anderen Schutzobjektes der Vorschrift erfolgen musste, zeigt eine Entscheidung des Kassationshofes, in der sie einen vorinstanzlichen Freispruch eines Angeklagten aufhob, der angegeben hatte, dass „die türkische Fahne bald von ihrem Platz entfernt [...] und durch eine Hadschi-Fahne ersetzt“ werde38. Schon die Nicht-Beachtung eines Fahnenappells konnte die Tathandlung erfüllen: So wurde eine Verurteilung nach Art. 145 darauf gestützt, dass sich der Angeklagte, während auf dem Schulhof der Unabhängigkeitsmarsch gesungen wurde, rauchend an die Wand lehnte und hierdurch „einen respektlosen Eindruck machte“39.
2. Öffentlichkeit Die Erstfassung des Art. 145 sah noch vor, dass die Tathandlung an einem allgemein zugänglichen Ort, also öffentlich, erfolgen musste. Mit Gesetz Nr. 3038 wurde diese Voraussetzung aus der Vorschrift gestrichen. Obwohl diese Änderung für Art. 145 vor dem Hintergrund der Rocco-Angleichungsphase der 1930er Jahre, die einige Verschärfungen für das Staatschutzstrafrecht brachten, wohl konsequent erscheint, wurde sie in der Lehre kritisiert. So führte Erem an, dass die Strafbarkeit für Handlungen in privaten, zumindest nicht öffentlichen Orten Rechtsgut und Schutzzweck der Vorschrift widerspreche, zur missbräuchlichen Anwendung einlade und daher keinen sozialen Nutzen (sosyal fayda) mehr verfolge40. 36
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Mit Verweis auf die italienische Strafrechtswissenschaft, bei der die Schmähung der italienischen Fahne auch durch Worte erfüllt werden könnte. Dies ergebe sich aus der Begründung zum Art. 115 des Codice Rocco. Erem, a.a.O., S. 118, mit Hinweis auf: Manzini, Trattato di Diritto Penala Italiano, Bd. 4, Turin 1961, S. 544 (Fn. 4). Kassationshof, Urteil vom 4.2.1982, E. 449, K. 531, abgedruckt bei: Yarg�tay Kararlar Dergisi, 1982, 597 ff.; Özel, a.a.O., S. 73. Kassationshof, Urteil vom 11.3.1953, E. 1401, K. 2603 (s.o.). Der Begriff Hadschi (hac�) ist wörtlich die Bezeichnung für einen gläubigen Muslimen, der die Pilgerfahrt nach Mekka bereits angetreten hat. Im allgemeinen Sprachgebrauch steht der Begriff für einen gläubigen, rechtschaffenden Menschen und wird in diesem Kontext – freilich vereinfacht – wohl derart verwendet worden sein, dass eine gute (religiöse) Fahne die schlechte (laizistische) Fahne ersetzen soll. Kassationshof, Urteil vom 16.6.1982, E. 4487, K. 4112, abgedruckt bei: Yarg�tay Kararlar Dergisi 1982, 1334 f.; Özel, a.a.O., S. 73; Kurt, a.a.O., S. 92. Mit Hinweisen auf das italienische Schrifttum: Erem, a.a.O., S. 119; ders., Bayra�a Hakaret, S. 970 f.; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1058 f.; Erem betont ferner, dass auch bei Art. 159, unter anderem bei der Beschimpfung und Verächtlichmachung des
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
3. Verhältnis zu Verboten aus dem Gesetz zur türkischen Fahne Wie bereits erwähnt, wurden mit Gesetz Nr. 2994 vom 29. Mai 1936 und Gesetz Nr. 2893 vom 24. September 1983 Regelungen zur Nationalflagge aufgestellt. Gesetz Nr. 2893 – das Gesetz zur türkischen Fahne – enthielt neben Aussehen, Vervielfältigung und Nutzung auch Verbote im Umgang mit der Nationalflagge. Art. 7 des Gesetzes Nr. 2893 lautet: „Die türkische Fahne darf nicht in zerrissener, abgerissener, zusammengeflickter, zerlöcherter, beschmutzter, verblichener, zerknitterter oder in einer anderen, im Hinblick auf ihren ideellen Wert unwürdigen Weise genutzt werden. Außer bei offiziellen Fahneneiden, darf sie bei keinem anderen Anlass als Decke auf Tische oder Pulte gelegt werden. Auf diese und ähnliche Gegenstände darf das Motiv der Fahne nicht platziert werden. Sie darf nicht in Gestalt von Uniformen oder Kleidern verwendet werden. [...] Die türkische Fahne darf weder durch Worte, Schriften, tätliche Angriffe oder auf andere Weise beleidigt oder respektlos behandelt werden. Die Fahne darf nicht zerrissen, nicht verbrannt, nicht auf den Boden geworfen und nicht ohne die nötige Sorgfalt genutzt werden. [...]“
Das Gesetz lieferte somit eine Reihe von Fallgruppen, in denen nach der Wertung des Gesetzgebers eine unwürdige Behandlung der türkischen Fahne vorliegt. Diese Wertungen konnten bei der Auslegung der Herabwürdigung der türkischen Fahne mit herangezogen werden. Jedoch erfüllte nicht jede der in Art. 7 des Gesetzes zur türkischen Fahne verbotenen Handlungen notwendigerweise den Tatbestand des Art. 14541.
IV. Rechtswidrigkeit Weil Art. 145 keine besondere Begehungsform voraussetzte, also nach herrschender Lehrmeinung und Rechtsprechung auch durch mündliche Äußerungen oder Schriftform erfüllt werden konnte, ist eine Relevanz der Ausübung von Kritik als mögliche, strafrechtliche Rechtfertigung (tenkid hakk�n icras�) nicht auszuschließen. In der Rechtsprechung des Kassationshofes zum Art. 145 lässt sich allerdings erkennen, dass bei Tathandlungen, die eine kritische Auseinandersetzung mit der Fahne oder anderen Hoheitszeichen zum Gegenstand hatten, eine Würdigung nicht auf Ebene der Rechtswidrigkeit, sondern tendenziell auf Ebene der Schuld erfolgte, also entsprechende Handlungsweisen nicht
41
Türkentums –, das im Hinblick auf Rechtsgut ähnlich sei – die öffentliche Begehung vorausgesetzt ist. Vgl. hierzu: Erem, a.a.O., S. 120; ders., Bayra�a Hakaret, S. 971; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1059; Erem nennt ein Urteil des Kassationshofes, bei dem das Vorliegen der subjektiven Merkmale der Tat abgelehnt wurde. Hier wurde der Verwendungszweck der Fahne aufgehoben und die Fahne zum Haushaltstuch umfunktioniert. Kassationshof, Urteil vom 30.12.1952, E. 10389, K. 12856, abgedruckt bei: Gözübüyük, a.a.O., S. 649; Kurt, a.a.O., S. 94.
Viertes Kapitel: Art. 145 und Art. 159 tStGB 1926
57
im Rahmen möglicher Rechtfertigungsgründe, sondern im Rahmen der subjektiven Merkmale des Art. 145 gewürdigt worden sind.
V. Schuld Neben dem Vorsatz erforderte Art. 145 auch die Absicht der Beschimpfung42. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut („in der Absicht der Beschimpfung“). Die Absicht (özel kast oder hususî kast) erforderte, dass der Täter die Beschimpfung zum Anlass nahm, diese also Zweck der Tat war43. Die türkische Fahne vom Mast zu nehmen, um sie zu stehlen, sollte so die Beschimpfungsabsicht nicht erfüllen44. In der Rechtsprechung wurde die Beschimpfungsabsicht bei einer Gruppe von Häftlingen verneint, die sich beim Fahnenappell und dem anschließenden Erklingen des Unabhängigkeitsmarsches weigerten, aufzustehen: Zur Begründung verwies der Kassationshof auf die an den Wärter der Anstalt gerichtete Erklärung der Häftlinge, nach der der Unabhängigkeitsmarsch nicht ihren Anschauungen entspreche und sie nicht mehr beabsichtigen, sich für ihn zu erheben45. Erforderlich war also grundsätzlich, dass die Absicht der Beschimpfung nach außen trat, die Absicht sich an den Tatumständen, insbesondere Äußerungen des Täters erkennen ließ46. Dieses Nach-Außen-Treten der Absicht wurde durch den Kassationshof beispielsweise bei der Aufforderung des Angeklagten während eines Fahnenappells auf dem Schulhof „Freunde, der Unabhängigkeitsmarsch wird nicht gesungen, er wird schlecht gesungen“ bejaht47. Die Absicht der Beschimpfung wurde in einem Fall verneint, in dem der Angeklagte eine aus einer mit türkischen Fähnchen beschmückten Leine bestehende Wegsperre überfuhr, um den Wegzoll48 nicht entrichten zu müssen49. 42 43 44 45 46 47 48
49
Erem, a.a.O., S. 119; ders., Bayra�a Hakaret, S. 971; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1059; Kurt, a.a.O., S. 85; Gözübüyük, a.a.O., S. 648. Erem, a.a.O., S. 119 f.; ders., Bayra�a Hakaret, S. 971; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1059; Gözübüyük, a.a.O., S. 648. Dieses konkrete Beispiel so bei: Erem, a.a.O., S. 120; ders., Bayra�a Hakaret, S. 971; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1059. Siehe: Kassationshof, Urteil vom 2.9.1987, E. 9/552, K. 93, abgedruckt bei: Çetin, a.a.O., S. 140 f.; Kurt, a.a.O., S. 86 f. Hinw. bei: Tellenbach, Einführung in das türkische Strafrecht, S. 90. Erem, a.a.O., S. 120; ders., Bayra�a Hakaret, S. 971; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1059. Vgl. Kassationshof, Urteil vom 17.3.1956, E. 3515, K. 3355, abgedruckt bei: Kurt, a.a.O., S. 94; Gözübüyük, a.a.O., S. 649. Kassationshof, Urteil vom 17.6.1981, E. 2229, K. 2352, bei: Kurt, a.a.O., S. 92 f. Bei türkischen Hochzeiten war und ist es Tradition, dass das Fahrzeug der Brautleute (in der Regel von Jugendlichen und Kindern) beim Eintreffen am Ort der Veranstaltung durch Straßensperren zum Halten und die Brautleute so zum Entrichten von Süßigkeiten oder Kleingeld „gezwungen“ werden. Kassationshof, Urteil vom 17.3.1956, E. 3515, K. 3355 (s.o.)
58
Zweiter Teil: Türkisches Recht
VI. Versuch Dass Art. 145 ein Verbrechen darstellte und damit der Versuch der in Art. 145 bezeichneten Straftat strafbar war, ergibt sich aus der Stellung der Vorschrift im zweiten Buch „Verbrechen“. Weil Art. 145 keine besondere Begehungsform voraussetzte, also sowohl mündlich oder schriftlich begangen werden konnte als auch in der beispielhaft aufgezeigten Art (Abreißen, Zerreißen oder Beschädigen), musste bei der Frage nach Versuch und Vollendung darauf abgestellt werden, ob die Tathandlung in mehrere Ausführungshandlungen aufteilbar war oder nicht. In der türkischen Strafrechtswissenschaft wurde dabei überwiegend die Ansicht vertreten, dass in denjenigen Fällen, in denen die Tathandlung mündlich erfolgt, zeitgleich mit der Begehung die Tathandlung vollendet sei50. Eine Aufteilbarkeit in mehrere Ausführungshandlungen wurde grundsätzlich abgelehnt. Die mündliche Begehung selbst sollte demnach eine geschlossene, also nicht aufteilbare Ausführungshandlung sein51: „Entweder wurde die Aussage getätigt und die Straftat wurde vollendet oder es liegt eine solche Aussage noch nicht vor und es gibt keine Straftat.“52
Erman skizziert zwar noch zwei Gegenmeinungen aus dem italienischen Schrifttum53: Hierbei handelt es sich zum einen um die Ansicht von Florian, der eine Versuchsstrafbarkeit für Fälle annimmt, in denen der Täter glaubt, ehrrührende Aussagen zu tätigen, diese aber objektiv nicht ehrrührender Art sind; und zum anderen um die Ansicht von Maggiore, der den Fall, dass die ehrrührende Aussage gegenüber einer Person zu dem Zweck getätigt worden ist, dass diese den Inhalt dem eigentlichen Adressaten gegenüber weitergibt, dies jedoch unterlässt, für eine Versuchsstrafbarkeit geeignet hält. Doch lehnt Erman den Versuch in beiden Fällen ab: Im ersten Fall handele es sich um einen (absolut) untauglichen Versuch (kesin imkans�zl�k), d.h. es fehle am nach Art. 61 tStGB 1926 erforderlichen Einsatz geeigneter Mittel; im zweiten Fall handele es sich lediglich um eine Vorbereitungshandlung: Denn entweder liege auch hier die mittelbar-täterschaftliche Aussage vor – und damit die strafbare Tathandlung; oder dies sei nicht der Fall.
50
51
52 53
Diese Lehrmeinung ist keine spezifische Ansicht für den Tatbestand des Art. 145. Sie findet sich auch bei den übrigen Ehrdelikten wieder, deren Tathandlung in Form von mündlichen Äußerungen erfolgen kann (so auch beim Art. 159 [dazu unten]). Erman, Hakaret ve Sövme Suçlar�, S. 123 ff., 124. m.w.N. Vgl. Koca, Türk Ceza Kanunun 159. Maddesi II, S. 604. Dass ein Versuch insbesondere etwa in den Fällen angenommen werden kann, in dem der Täter die den Tatbestand erfüllende Äußerungen begonnen hat auszusprechen, dann aber – etwa durch Lärm oder andere – unterbrochen wurde, kann dem Schrifttum nicht entnommen werden. Erman, a.a.O., S. 124 m.w.N. Das Folgende nach: Erman, a.a.O., S. 125.
Viertes Kapitel Art 145 und Art 159 tStGB 1926
VII Geschützte Rechtsgüter
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Nationalgefühl
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60
Zweiter Teil: Türkisches Recht
VIII. Verfolgungsstatistische Entwicklungen 1. Statistiken zum Zeitraum von 1935 bis 1962 8 7 6 5 4 3 2
Abb. 1: Verurteilungen nach Art. 145 von 1935 bis 1962
1961
1959
1957
1955
1953
1951
1949
1947
1945
1943
1941
1939
1937
0
1935
1
61
Im Zeitraum von 1935 bis 1962 weist Art. 145 mit einer durchschnittlichen Verurteilungsquote von weniger als zwei Verurteilungen im Jahr keine hohe Relevanz auf62. Auffällig ist, dass die Zeit mit den geringsten Verurteiltenzahlen die Zeit nach der Rocco-Angleichung im Jahre 1936 bildet, bei dem sich der Gesetzgeber eigentlich zum Ziel gesetzt hatte, „bestehende Schwierigkeiten in der Strafverfolgung“ zu „beseitigen“63, wohl auch deshalb die Voraussetzung der öffentlichen Begehung aus dem Tatbestand strich und damit den Tatbestand erheblich erweiterte. Auf die Änderungen durch das Gesetz Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 folgen dann fünf Jahre, in denen lediglich zwei Verurteilungen ergingen. Eine leichte Erhöhung macht sich jedoch ab 1949 bemerkbar. 61 62
63
Siehe Anhang Nr. 1. Obwohl sich bei derart geringen Werten der berechtigte Einwand aufdrängt, die Statistiken böten keine statistischen Relevanz, wurde gleichwohl nicht darauf verzichtet, das ermittelte Material darzustellen. Denn sie geben in jedem Fall einen möglichen Aussagegehalt zur Vergleichbarkeit mit den Vorschriften aus der deutschen Rechtsordnung. Inwieweit sich Aussagen auf Mikroebene, also Aussagen innerhalb der türkischen Rechtsordnung, machen lassen, wird an anderer Stelle diskutiert. Siehe hierzu unten: Sechstes Kapitel, B) II. 5. Abgedruckt in: Zabit Ceridesi v. 11.6.1936, RNr. 250, S. 36.
61
Viertes Kapitel: Art. 145 und Art. 159 tStGB 1926
2. Statistiken zum Zeitraum von 1986 bis 2005 45 40 35 30 25 20 15 10
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
1991
1990
1989
1988
1987
0
1986
5
Abb. 2: Anklagen (l.), Verurteilungen (m.l.), Freisprüche (m.r.) und die 64 Einstellungen (r.) nach Art. 145 von 1986 (bzw. 1994) bis 2005
Anhand der Zahlen des Amts für Justizstatistiken lassen sich genauere Statistiken über die Anklagezahlen (seit 1986) und Verurteilungen, Freisprüche und Einstellungen (seit 1994) finden. Sie zeigen im Hinblick auf die Anklagen nach Art. 145 einen deutlichen Abstieg der Zahlen seit Mitte der 1980er Jahre und einen erneuten Anstieg in den 1990er Jahren. Dies macht sich auch in den Verurteilungszahlen bemerkbar: Im Zeitraum von 1994 bis 2005 ergingen durchschnittlich mehr als sechs Verurteilungen pro Jahr65. Das bedeutet, dass sich die Verurteilungen im Vergleich zum Zeitraum von 1935 bis 1962 mehr als verdreifacht haben und die Relevanz der Vorschrift so zunahm. Auffällig ist, dass mit Ausnahme von 2001, 2003 und 2005 keine Einstellung66 verzeichnet wurde und mit Ausnahme von 1997 und 2001 stets mehr Freisprüche ergingen als Verurteilungen.
64 65 66
Siehe Anhang Nr. 1. Ausgenommen ist das Jahr 2002, zu dem keine Verurteilungszahlen vorliegen. Welchen Stellenwert die Einstellung – beurteilt nach den Maßstäben des Legalitätsbzw. des Opportunitätsprinzips – hat, wird später noch zu erläutern sein. Denn dies hat einerseits Einfluss auf die Beurteilung der Werte bei den Verurteilungen und Freisprüchen und – noch wichtiger – ggfls. auch Einfluss auf die Frage, ob diese Werte vergleichbar sind mit denjenigen, die zur deutschen Rechtsordnung ermittelt werden konnten. Siehe dazu unten: Zwölftes Kapitel, C) I. 2.
62
Zweiter Teil: Türkisches Recht
D) Der Schutz des Türkentums, der Republik und staatlicher Einrichtungen nach Art. 159 I. Gesetzgebungsgeschichte 1. Erstfassung Die Erstfassung des Art. 159 vom 1. Juli 1926 lautet: „Wer die Große Nationalversammlung, die ideelle Persönlichkeit der Regierung, das Heer, die Flotte oder das Türkentum beschimpft und verächtlich macht, wird 67 ebenfalls nach den Bestimmungen des vorhergehenden Paragraphen bestraft . Wer die Gesetze der Türkischen Republik verächtlich macht, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und mit schwerer Geldstrafe von dreißig bis zu hundert Lira 68 69 bestraft.“ ,
Wie Art. 145 fand auch Art. 159 im ersten Kapitel „Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates“ des zweiten Buches „Verbrechen“ Platz. Art. 159 wurde jedoch nicht im ersten, sondern im zweiten Abschnitt (Artt. 146–163) „Verbrechen gegen die Staatsgewalt“ erfasst.
2. Rocco-Angleichungsgesetze von 1936 und 193870 Mit den beiden Rocco-Angleichungsgesetzen, dem Gesetz Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 und dem Gesetz Nr. 3531 vom 29. Juni 1938, wurde Art. 159 erweitert. In der amtlichen Begründung glaubt der Gesetzgeber erkannt zu haben, dass die Verschärfung des Strafrechts nicht nur in Italien – sondern auch in großen Teilen Amerikas und Europas – eine Reaktion auf negative „soziale und wirtschaftliche Entwicklungen“71 sei und auch im türkischen Staatsschutzstrafrecht ein neues Regelungsbedürfnis entstanden sei: 67 68
69
70 71
Art. 158: „Wer den Staatspräsidenten in seiner Gegenwart beleidigt, oder wer Beleidigungen gegen den Staatspräsidenten veröffentlicht, wird mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren bestraft.“ Ziemke, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 53. Die strafrechtliche Verfolgung dieser in Art. 159 bezeichneten Tathandlungen waren gemäß Art. 160 von einer Ermächtigung des Präsidenten der Großen Nationalversammlung abhängig: „Die strafrechtliche Verfolgung in den Fällen der Artt. 157 und 158 findet nur mit Ermächtigung des Justizministers und in den Fällen des Art. 159 nur mit Ermächtigung des Präsidenten der Großen Nationalversammlung statt.“ Ziemke, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 53. Ziemke, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 53. Die Tathandlungen der Art. 159 beschimpfen und verächtlich machen werden von Ziemke mit beleidigen und schmähen übersetzt. Diese Übersetzungen sind ungenau; vgl. hierzu jüngere Übersetzungen des Art. 159, so etwa: Tellenbach, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 80. Weiterhin übersetzt Ziemke im Art. 159 Abs. 2 die Währung der Geldstrafe als Pfund statt als Lira. Für die einzelnen, vollständigen Fassungen siehe Anhang Nr. 1. Abgedruckt in: Zabit Ceridesi v. 11.6.1936, RNr. 250, S. 1. Hinw. bei: Sancar, Alenen Tahkir Ve Tezyif Suçlar�, S. 47 (Fn. 72).
Viertes Kapitel: Art. 145 und Art. 159 tStGB 1926
63
„Während einige Ereignisse in der letzten Zeit gezeigt haben, dass sie in den bestehenden Tatbeständen keine ausreichende Berücksichtigung finden, wurde es als zweckmäßig erachtet, die Sicherheit und das Wohl des Staates vor allen denkbaren Angriffen zu schützen. Um diese Lücke zu schließen, wurden die Vorschriften des türkischen Strafgesetzbuches im ersten Kapitel des zweiten Buches mit der Überschrift ‘Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates’ durch eine gründliche Neufassung [...] geändert“72.
So wurden mit den Gesetzen Nr. 3038 und 3531 einige neue Schutzobjekte in Art. 159 aufgenommen. Hierbei handelt es sich um die Republik (Abs. 1) und die ideelle Persönlichkeit der Justiz (Abs. 2). Weiterhin wurden das Heer und die Flotte aus Absatz 1 ausgegliedert, durch Gesetz Nr. 3038 durch die bewaffneten Kräfte des Staates ersetzt, durch Gesetz Nr. 3531 um die Sicherheitskräfte des Staates erweitert und die Formulierung zu militärische Streitkräfte oder Sicherheitskräfte73 (Abs. 2) des Staates abgeändert. Nachdem so die Schutzobjekte auf zwei Absätze aufgeteilt waren, wurde ein weiterer (vierter) Absatz eingefügt, der eine Strafschärfung um ein Drittel für die Beschimpfung des Türkentums im Ausland vorsah. Für die Tathandlung trat die Voraussetzung der öffentlichen Begehungsweise hinzu. Auf Rechtsfolgenseite wurde ein eigener Strafrahmen definiert: Denn während die Erstfassung noch auf die Rechtsfolgen des Art. 158 verwies, erhielt Art. 159 in seiner neuen Fassung einen eigenen Strafrahmen. Nach Absatz 1 handelte es sich hierbei um eine Gefängnisstrafe von einem Jahr bis zu sechs Jahren. Obwohl sich die Aufteilung der Schutzobjekte in Absatz 1 und Absatz 2 für eine entsprechende Verteilung unterschiedlicher Rechtsfolgen eignete, sah Art. 159 Abs. 2 den gleichen Strafrahmen vor. Absatz 3 entsprach mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und mit schwerer Geldstrafe von dreißig bis zu hundert Lira dem Strafmaß des Absatz 2 der Erstfasssung. Die strafrechtliche Verfolgung, die bis dahin von der Ermächtigung des Präsidenten der Großen Nationalversammlung abhing, wurde in den Fällen der Beschimpfung und Verächtlichmachung der ideellen Persönlichkeit der Regierung, der Justiz sowie der Republik mit Gesetz Nr. 3038 an die Ermächtigung des Justizministeriums gebunden und mit Gesetz Nr. 3531 auf die Fälle der Beschimpfung und Verächtlichmachung des Türkentums, der Großen Nationalversammlung und der militärischen Streitkräfte und Sicherheitskräfte des Staates ausgedehnt74. Gesetz Nr. 3038 änderte dar72 73
74
Zabit Ceridesi v. 11.6.1936, RNr. 250, S. 29 (z.T. wortgleich schon auf S. 1). In der amtlichen Begründung heißt es hierzu: „[...] um keine Zweifel darüber aufkommen zu lassen, ob bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs die Kräfte zum Schutz des Zolls oder der Wälder und die Gendarmerie von den bewaffneten Kräften des Staates umfasst werden, wird der Ausdruck der bewaffneten Kräfte des Staates durch den Begriff der militärischen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte des Staates ersetzt.“ Zabit Ceridesi v. 29.6.1938, RNr. 320, S. 3. Die Strafverfolgung wegen Angriffen auf die Gesetze der Türkischen Republik und auf die militärischen Streitkräfte und Sicherheitskräfte wurde anders geregelt. Vgl. schon die Änderungen durch Gesetz Nr. 1840 vom 11. Juli 1931 (siehe Anhang Nr. 1).
64
Zweiter Teil: Türkisches Recht
über hinaus auch die Titel der Überschriften: Das erste Kapitel erhielt den Titel „Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates“. Dagegen behielt der zweite Abschnitt dieses Kapitels, in dem auch Art. 159 erfasst wurde, den Titel „Verbrechen gegen die Staatsgewalt“.
3. Nachkriegsfassung von 194675 Mit Gesetz Nr. 4956 vom 20. September 1946 wurde Art. 159 durch verschiedene Schutzobjekte und neue Tathandlungen bzw. Begehungsformen erweitert. So wurden in die Vorschrift der Schutz der Ministerien76 und der Schutz der Legitimität der Großen Nationalversammlung vor aggressiven Taten und Handlungen (Abs. 1) aufgenommen und der Schutz der Gesetze der Großen Nationalversammlung um den der Beschlüsse der Großen Nationalversammlung (Abs. 3) erweitert. Nachdem Absatz 2 der Vorgängerfassung im Absatz 1 der neuen Fassung vollständig aufgegangen war, wurde eine neue Regelung (Abs. 2) eingeführt, die es ermöglichte, die „verdeckte“ Begehung der in Absatz 1 genannten Taten als ausdrücklich geschehen anzusehen: „Auch wenn bei Verübung der in Absatz 1 genannten Vergehen der Name des Beleidigten oder des Angegriffenen nicht ausdrücklich erwähnt oder die Beleidigung oder Aggression bemäntelt worden ist, wird sie, soweit die Umstände keinen Zweifel daran lassen, dass es seiner Natur nach sich gegen eines der im Absatz 1 Genannten richtet, so behandelt, als ob sowohl der Name des Angegriffenen erwähnt 77 wie auch die Beleidigung oder Aggression klar ausgedrückt worden wären.“
In der Entwicklung des Art. 159 stellte diese Fassung die umfangreichste und zugleich schärfste dar. Dies gilt neben dem Tatbestand auch für die Rechtsfolgen: Denn während die Vorgängerfassung eine Gefängnisstrafe von einem Jahr bis zu sechs Jahren vorsah, blieb dieser Strafrahmen in der Neufassung zwar unangetastet, jedoch war anstelle einer Gefängnisstrafe nunmehr eine Zuchthausstrafe vorgesehen78. Hintergrund für die mit der Rocco-Angleichung 75
76
77 78
Mit Gesetz 4956 wurde auch Art. 160 geändert, der neben den Gesetzen auch die Beschlüsse der Großen Nationalversammlung der Strafverfolgungsbefugnis der Staatsanwälte zusprach und die Verfolgung nach Art. 159 Abs. 1 an die Ermächtigung des Justizministers band. Für die vollständigen Fassungen siehe Anhang Nr. 1. Zur Einführung der Ministerien: „[...] die Beschimpfung und Verächtlichmachung der [...] Ministerien stellt [...] keine Straftat dar. Es ist zu beobachten, dass einige diese Lage nutzen und einzeln das eine oder andere Ministerium in einer das normale Maß an Kritik hinausgehenden Art und Weise auf das Schärfste durch Worte und durch Verbreiten von Schriften angreifen und dass dies in der öffentlichen Meinung häufig zu Aufreizungen und Kränkungen führt. Es ist nun eine endgültige Erforderlichkeit und Notwendigkeit entstanden, gegen diese sich ununterbrochen wiederholenden Handlungen vorzugehen.“ T.B.M.M. Tutanak Dergisi v. 18.9.1946, RNr. 50, S. 1 f. Vgl. �ensoy / Tolun, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 39. Nach Art. 13 war die Zuchthausstrafe nur bei Verbrechen zu verhängen, deren Mindestmaß bei einem Jahr lag. Gegenüber der Gefängnisstrafe hatte die Zuchthausstrafe einige hafterschwerende Folgen. Vgl. Önder, Das türkische Strafrecht, S. 499 ff.
Viertes Kapitel Art 145 und Art 159 tStGB 1926
Legitimität der Großen Nationalversammlung Große Nationalversammlung nicht legitimiert
¡ Legitimität der Großen Nationalversammlung
4 Nach dem Militärputsch – Fassung von 1961 ¡ ¡ ¢ £ ¤ ¤ ¤ ¤¢
Steinbach ders ¥ ¦ ¤ ¥ ¦ §§ Hakeri £Yenisey £ ¤ ¥Sosyal ��ler Komisyonu¦ Erem ¢ ¨ ©©¤£
66
Zweiter Teil: Türkisches Recht
sondere auf die Schutzobjekte des Art. 159 aus, die im Jahre 1946 in die Vorschrift eingefügt worden waren. So wurde die Legitimität der Großen Nationalversammlung aus Absatz 1 der neuen Fassung wieder gestrichen. Aus der (nicht veröffentlichten) Begründung zum Entwurf kann entnommen werden, dass der Gesetzgeber die öffentliche Kritik an Wahlmissständen nicht länger erschweren wollte85. Im Gegensatz hierzu blieb Absatz 2 mit der Strafbarkeit für die „verdeckte“ Begehung der in Absatz 1 bezeichneten Tathandlungen weiterhin bestehen, wurde aber faktisch (mit-)entschärft, da nunmehr eine geringere Zahl an entsprechenden Begehungen möglich war. Ferner wurde der Strafrahmen des Absatzes 3 von ehemals dreißig bis hundert Lira auf hundert bis fünfhundert Lira erhöht. Im Übrigen blieb die Vorschrift erhalten.
5. EU-Harmonisierungsgesetze von 2002 und 200386 Seit den 1980er Jahren ist Art. 159 zwar Gegenstand diverser Entwürfe geworden87, er wurde aber bis zu den EU-Harmonisierungsgesetzen zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien nicht verändert. Unter diesen Harmonisierungsgesetzen finden sich insgesamt drei Gesetze, die Änderungen im Hinblick auf Art. 159 vorsahen. Hierbei handelt es sich um das Gesetz Nr. 4744 vom 6. Februar 2002, Gesetz Nr. 4771 vom 3. August 2002 und um das Gesetz Nr. 4963 vom 30. Juli 2003. Das Gesetz Nr. 4744 vom 6. Februar 2002 brachte für Art. 159 auf Tatbestandsseite keine Veränderungen, wurde jedoch auf Rechtsfolgenseite entschärft: Der bisherige Strafrahmen von einem Jahr bis zu sechs Jahren wurde auf von einem Jahr bis zu drei Jahren herabgesetzt. Auch wurde die bis dahin vorgesehene Zuchthausstrafe gestrichen und die Gefängnisstrafe, die schon in der Erstfassung vorgesehen war, wieder eingeführt. Absatz 3, der bislang Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu sechs Monaten und schwere Geldstrafe von hundert bis fünfhundert Lira vorsah, beschränkt sich in der neuen Fassung auf Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu sechs Monaten. Mit Gesetz Nr. 4771 vom 3. August 2002 blieben die ersten vier Absätze des Art. 159 unberührt. Es wurde jedoch ein umstrittener88 Absatz 5 eingefügt: 85
86 87 88
„Bei einer Behauptung, nach der die Wahlen nicht korrekt seien, [...] sieht die Vorschrift vor, den Urheber einer solchen Behauptung mit einer schweren Strafe zu bestrafen. Dabei führt die Pönalisierung einer solchen Kritik dazu, dass das Aufdecken von Wahlmissständen unmöglich wird. Deswegen ist es erforderlich, die Formulierung ‘aggressive Taten und Handlungen, die Legitimität der Großen Nationalversammlung in Zweifel bringen lassen’ aus der Vorschrift zu streichen.“ Nicht veröffentlicht, aber abgedruckt bei: Erem, Türk Ceza Hukuku, Bd. 2, S. 119. Für die einzelnen, vollständigen Fassungen siehe Anhang Nr. 1. So etwa in den Entwürfen der Jahre 1987, 1989, 1997 und 2000. Sancar, Alenen Tahkir Ve Tezyif Suçlar�, S. 53.
Viertes Kapitel: Art. 145 und Art. 159 tStGB 1926
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„Die Beschimpfung und Verächtlichmachung der in Absatz 1 genannten Organe und Institutionen, die ohne Vorsatz der Beschimpfung und Verächtlichmachung als schriftliche, wörtliche oder visuelle Meinungsäußerung lediglich zum Zwecke der Kritik erfolgt, rechtfertigt keine Strafe.“
Schon die Begründung89 zeigt, dass in den Gesetzestext lediglich das eingefügt wurde, was der allgemeinen strafrechtlichen Dogmatik entsprach. Denn schon ohne diesen fünften Absatz des Art. 159 war nach Art. 45 sichergestellt, dass ohne Vorsatz die Strafe ausgeschlossen ist90. Daher wurde bei den Diskussionen in der Großen Nationalversammlung vereinzelt angemerkt, dass es sich bei der Vorschrift um eine überflüssige Wiederholung strafrechtlicher Grundlagen handele91. Auch wenn es sich aber um eine deklaratorische Feststellung handelt, darf man gleichwohl annehmen, dass der Gesetzgeber sich zu dieser Regelung aufgrund des aus dem EU-Annäherungsprozess entstandenen Drucks und derjenigen Kritiker, die eine Abschaffung des Art. 159 forderten, aufgefordert gefühlt haben wird92. Das Gesetz Nr. 4963 vom 30. Juli 2003 brachte zwei Neuerungen für Art. 159. Zum einen wurde der Strafrahmen des Absatz 1 von einem Jahr bis drei Jahren in sechs Monate bis drei Jahre geändert und dadurch auch die untere Grenze des Strafrahmens heruntergesetzt. Zum anderen veränderte sich die Formulierung des mit Gesetz Nr. 4771 eingeführten fünften Absatzes: „Meinungsäußerungen ohne Vorsatz der Beschimpfung und Verächtlichmachung lediglich zum Zwecke der Kritik, rechtfertigen keine Strafe.“ 89
90 91
92
„In die Vorschrift wurde aufgenommen, dass Beschimpfungen und Verächtlichmachungen von Organen und Institutionen, die im ersten Absatz aufgeführt sind, keine Strafe rechtfertigen, wenn sie ohne Vorsatz der Beschimpfung und Verächtlichmachung schriftlich, wörtlich oder visuell lediglich zum Zwecke der Kritik erfolgen. So wird vorgesehen, dass Meinungsäußerungen, die innerhalb der Meinungs- und Meinungsäußerungsfreiheit bleiben und die Eigenschaft der Kritik aufweisen, nicht bestraft werden.“ T.B.M.M. Tutanak Dergisi vom 1.8.2002, RNr. 890, S. 3. Hinw. bei: Sancar, Alenen Tahkir Ve Tezyif Suçlar�, S. 53. Fahrlässigkeit war nach Art. 45 nur in den Fällen strafbar, in denen das Gesetz eine solche Strafbarkeit ausdrücklich vorsieht. Vgl. Tellenbach, Einführung in das türkische Strafrecht, S. 32. Ramazan Toprak von der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) äußerte sich hierzu folgendermaßen: „Mit diesem Absatz wird juristisch ausgedrückt, dass das, was keine Straftat darstellt, nicht strafbar ist. Also das, was ‘gehen ist nicht strafbar’ ausdrückt, wird auch hier mit diesem Absatz in eine Regelung gekleidet. Wenn man sich dieser Aussage im Umkehrschluss nähert, könnte man auch annehmen, dass unsere Rechtsprechungsorgane vorher nicht strafbare Dinge eigentlich als strafbar angesehen haben und entsprechend bestraft haben. Gestern hat Herr Staatsminister Arseven eine Sache zugegeben. Er sagte ‘Die Art. 159 und 312 des türkischen Strafgesetzbuches werden von den Anwendern, also von den Richtern, falsch aufgefasst’. Ob ich nun will oder nicht, so frage ich mich doch, ob der Herr Minister – bewusst oder unbewusst – nicht einige Fehler zugegeben hat.“ T.B.M.M. Tutanak Dergisi vom 2.8.2002, S. 35. Hinw. bei: Sancar, Alenen Tahkir Ve Tezyif Suçlar�, S. 54 (Fn. 82 a.E.). Vgl. Sancar, Alenen Tahkir Ve Tezyif Suçlar�, S. 54.
68
Zweiter Teil: Türkisches Recht
Absatz 5 in seiner neuen Fassung dehnte sich auf die gesamte Vorschrift aus und benannte nunmehr alle im Art. 159 enthaltenen Tathandlungen. In der Begründung heißt es zu diesen Änderungen: „Um die Meinungs- und Meinungsäußerungsfreiheit zu stärken, wird die im [...] Art. 159 Abs. 1 bezeichnete Untergrenze des Strafrahmens herabgesetzt und außerdem die Regelung des letzten, durch Gesetz Nr. 4771 vom 3. August 2003 [...] eingeführten Absatzes auf die gesamte Vorschrift ausgedehnt und in die Vorschrift aufgenommen, dass in diesem Rahmen die in der Vorschrift beschriebenen Tathandlungen, die lediglich zum Zwecke der Kritik geäußerte Meinungen darstellen, 93 keine Strafe rechtfertigen.“
Diese Fassung des Art. 159 stellt die letzte im türkischen tStGB 1926 dar, die bis zum tStGB 2004 nicht weiter verändert wurde.
II. Schutzobjekte 1. Türkentum a) Herkunft Das Schutzobjekt Türkentum hielt sich über den gesamten Geltungszeitraum des tStGB 1926 im Art. 159. Zwar beruht Art. 159 in seiner Erstfassung z.T. auf den Artt. 123, 126 des Codice Zanardelli von 1889. Doch findet sich in diesen Vorbildvorschriften kein Äquivalent zum Türkentum94. Im Schrifttum wird zwar gelegentlich behauptet, dass das Schutzobjekt Türkentum auf Art. 29195 des Codice Rocco von 1930 beruhe, doch ist dieses Strafgesetzbuch vier Jahre nach dem türkischen Strafgesetzbuch in Kraft getreten und kann daher als Bezugsquelle nicht herangezogen worden sein96. In der türkischen Rechtswissenschaft wurde angeführt, dass das Türkentum zum Schutz der neu gegründeten Türkischen Republik strafrechtliche Regelung gefunden habe97. So stehe der Begriff Türkentum in einem engen Zusammenhang zu einem „türkischen Nationalbewusstsein“ und zur „Türkisie93 94 95
96
97
T.B.M.M. Tutanak Dergisi, 30.7.2003, RNr. 262, S. 3. Hinw. bei: Sancar, a.a.O., S. 54. Dies gilt ebenso für die möglichen Vorbilder aus der osmanischen Rechtsordnung; siehe oben im zweiten Kapitel. „Wer öffentlich die italienische Nation schmäht, wird mit Gefängnis von einem bis zu drei Jahren bestraft.“; Bunge, Das italienische Strafgesetzbuch, S. 114; abweichend von dieser Übersetzung aber: Jescheck / Mattes (Hrsg.), Die strafrechtlichen Staatsschutzbestimmungen des Auslandes, S. 176 (dort statt Schmähung als Tathandlung „Verächtlichmachung“). Im Übrigen findet sich dort als Schutzobjekt die „italienische Nation“ und entspricht daher schon begrifflich nicht dem „Türkentum“ aus Art. 159. So auch: Senkeri, Tahkir Ve Tezyif Cürümleri, S. 56; Senkeri merkt ferner an, dass die Gründe für die Aufnahme des Türkentums in keiner amtlichen Begründung zu finden sind. Auch Tosun weist auf die unklare Herkunft des Merkmals hin, TCK’nun 159. Maddesi I, S. 460. Vgl. Senkeri, a.a.O., S. 56 m.w.N.
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rung“, durch die in den jungen Jahren der Republik eine neue türkische Identität und ein neues Bild des türkischen Staates geschaffen und gefördert werden sollte98. Schon in den frühen Jahren der Unabhängigkeitsbewegung99 habe Mustafa Kemal Atatürk den Begriff des Türkentums für sich nutzen wollen, um ein Gegengewicht zur religiös geprägten Identität im Osmanischen Reich zu schaffen100: „Dieses Land war in seiner Vergangenheit türkisch, ist in seiner Gegenwart türkisch und wird immer türkisch bleiben.“101
Weil es sich bei dem Osmanischen Reich und der Türkischen Republik um Vielvölkerstaaten handelte, war von einem fehlenden Herkunftsbewusstsein der in Anatolien lebenden Menschen auszugehen. Während sich im Osmanischen Reich die Identität der verschiedenen Ethnien noch durch die Zugehörigkeit zum Reich ausdrückte, fiel der „überethnische“ Bezugspunkt Reichszugehörigkeit nach der Gründung der Republik weg102. Das Türkentum sollte so den Verlust dieses Bezugspunktes ersetzen. Die osmanische und türkische Identität – beide so genannte Panidentitäten103 – unterscheiden sich also insofern, als es innerhalb des Einflussgebiets des Osmanischen Reiches sehr wohl eine türkische Ethnie gegeben hat104, während die osmanische Identität als bloße Reichszugehörigkeit keine Ethnie darstellte. Dies zeigt, dass man das Problem der fehlenden Nationalzugehörigkeit dadurch zu lösen versuchte, indem man eine (wenn auch bedeutende) der über vierzig Ethnien des heutigen Gebiets der Türkei auswählte und dieser die Eigenschaft der Panidentität verlieh105. 98 99 100 101
102 103
104 105
Vgl. ebd., S. 56 (siehe auch dort Ausführungen in: Fn. 8). Der Begriff Unabhängigkeitsbewegung (millî mücadele) umschreibt die Entstehung der Türkischen Republik und die Befreiungskriege (1921–1922). Vgl. �en, Türkei, S. 37 (dort „türkischer Widerstand“). Vgl. Senkeri, a.a.O., S. 56 f., m.w.N.; Turan, Atatürk Millîyetçili�i, S. 850 ff. Senkeri, a.a.O., S. 57 (Fn. 8) m.w.N. Vgl. auch: „Unsere Ahnen, die große Staaten schufen, besaßen auch eine große und umfangreiche Kultur. Wir sind verpflichtet, diese zu suchen, zu erforschen und das Ergebnis den Türken und der Welt mitzuteilen. Sobald das türkische Kind seine Ahnen kennt, wird es in sich die Kraft verspüren, noch größere Taten zu vollbringen.“ Übersetzung aus: Rill, Kemal Atatürk, S. 104; zitiert nach: Atatürk. Sein Leben und seine Werke, Ankara 1981, S. 245. Vgl. �en, Türkei, S. 144 f.; Oran, Türkiye’de Az�nl�klar, S. 155 ff. Unterschieden wird in der theoretischen Diskussion insoweit zwischen der Panidentität (üst kimlik) und der Subidentität (alt kimlik). Während die Panidentität sich durch die Zugehörigkeit zum türkischen Staat und der türkischen Nation auszeichnet, stellt die Subidentität den ethnischen Hintergrund, also die ethnische Zugehörigkeit (Kurden, Tscherkessen, Lazen, Armenier, etc.) dar. Oran, a.a.O., S. 27 ff., 155 ff. Vgl. hierzu: Muhiddin, Die Kulturbewegung im modernen Türkentum, S. 36 ff., 42 ff. Hierzu kritisch: Oran, a.a.O., S. 156 f. Siehe hierzu ferner: Ayd�n, Kimlik Sorunu, S. 7 ff., 53 ff., 87 ff.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
Um der türkischen Identität, also dem Türkentum, zur Geltung zu verhelfen, wurde in der Türkischen Republik der Nationalismus gefördert und zum Staatsideal erklärt. Nachdem nämlich der Nationalismus zum Teil des Kemalismus geworden war106, fand er später auch in der Verfassung Berücksichtigung107. Der kemalistische Nationalismus diente der Formung eines Nationalstaates108, also dem Ziel, „alle zu vereinigen, die sich innerhalb der Grenzen der Türkei der Familie der Menschheit zugehörig fühlen, Türkisch sprechen und mit der türkischen Kultur aufgewachsen sind.“109
Es darf davon ausgegangen werden, dass das Türkentum im Jahr 1926 strafrechtlichen Schutz erlangt hat, weil nach dem Niedergang des Osmanischen Reiches die Frage einer kollektiven Identität entbrannt war und diese in Form des Türkentums die Grundlage für die Schaffung und Erhaltung einer türkischen Nation bilden sollte110.
b) Definition 111
Der Begriff Türkentum umschreibt den „Zustand des türkisch-Seins“ und bezieht sich daher unmittelbar auf die Bezeichnung türkisch. Bei der Charakterisierung der türkischen Kultur existieren unterschiedliche Bezugskriterien112. Mögliche und in der Soziologie häufig anzutreffende Kriterien bilden die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kulturgeschichte oder Herkunft, die gemeinsame geografische Ansiedlung, oder aber auch Annäherungen ethnischer Art. Für die osmanischen und türkischen Gesetzgeber war die formelle Staatsangehörigkeit hingegen von ethnisch-kulturellen oder religiösen Kriterien zu trennen113, 114. Einer solch formalen Annäherung wie bei derjenigen 106 Der Nationalismus ist Teil der von Atatürk am 20. April 1931 zusammengefassten „sechs Grundpfeiler“ (alt� ok) des Kemalismus (Republikanismus, Nationalismus, Populismus, Etatismus, Säkularismus und Revolutionarismus). Sie wurden im dritten Parteikongress der von Atatürk mitbegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP) in das Parteiprogramm aufgenommen. Vgl. Özcan / Dinç, Kemalismus, S. 203. 107 Art. 2 der tVerf 1924 i.d.F. vom 5. Februar 1937 lautete: „Das Türkische Reich ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär. [...].“ 108 Oran, a.a.O., S. 109 f. 109 Özcan, Der Kemalismus als Konzept des laizistischen Staates, S. 63 m.w.N. 110 Vgl. Senkeri, a.a.O., S. 56 m.w.N. 111 Püsküllüo�lu, Arkada� Türkçe Sözlük, S. 998. 112 Hierzu und zu den folgenden Ausführungen des Absatzes: Sancar, a.a.O., S. 71 ff. 113 Dies ist seit dem Staatsangehörigkeitsgesetz (Tabiiyet-i Osmaniye Kanunnamesi) vom 23. Januar 1869 der Fall. Hierzu: Özkan / Tütüncüba��, Çifte Vatanda�l�k, S. 617 ff.; 114 Im Schrifttum wird jedoch wiederholt darauf hingewiesen, dass von den frühen Jahren der Republik bis in die Zeit der jüngeren Verfassungen von 1961 und 1982 eine Entwicklung im Verständnis über „die Türken“ stattgefunden habe. Hiernach hat der Islam auch nach Gründung der Türkischen Republik seinen Einfluss nicht verloren. Teilweise ist sogar davon die Rede, dass das Türkentum phasenweise mit dem Begriff „Islam“ gleichgesetzt worden sei. Vgl. hierzu: Sancar, a.a.O., S. 81 m.w.N.
Viertes Kapitel Art 145 und Art 159 tStGB 1926
c Das Türkentum und der Staat
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einander verbunden, dass ein Angriff auf eine dieser Komponenten je nach Auslegung einen Angriff auf das Türkentum darstellen konnte: „Der Begriff Türkentum ist eng verbunden mit dem Nationalgefühl. Mit dem Nationalgefühl soll die Gesamtheit der geistigen und emotionalen Bestandteile, die zum Ausdruck Vaterlandsliebe zugezählt werden können, gefördert werden. Mit anderen Worten ist das Nationalgefühl das Resultat der die Vaterlandsliebe bildenden Liebe und Gedanken. In diesem Zusammenhang drückt die Zugehörigkeit zur territorialen, ethnischen und politischen Gesamtheit der Türkei das Bewusstsein von den Rechten unseres Landes innerhalb der Weltgemeinschaft und die Überzeugung der zugehörigen Menschen von den Pflichten gegenüber seinem Volk das Nationalgefühl aus.“122
d) Türkentum und Völkermordbehauptungen: Fallstudie Hrant Dink Eine politisch brisante Ausprägung erlangte die strafrechtliche Behandlung von Auseinandersetzungen mit den Massakern an den im Osmanischen Reich angesiedelten Armeniern und ihrer Deportationen in die Wüstengebiete Syriens und Mesopotamiens in den Jahren 1915–1917, insbesondere die konkrete Qualifizierung bzw. Bezeichnung als Völkermord. Die offizielle Haltung der türkischen Regierung spricht den Ereignissen, in denen bis zu 1,5 Millionen Menschen ums Leben gekommen sind, einen Völkermordcharakter ab und sieht in den Deportationen die Reaktion der jungtürkischen Regierung auf die durch den Krieg entstandene Situation123. Die ausbleibende Anerkennung eines Völkermordes durch die türkische Regierung stellt bis heute ein Hindernis in den Beitrittsverhandlungen mit der EU dar124. Zwar stellte Art. 159 nicht Völkermordbehauptungen ausdrücklich unter Strafe, doch zeigt sich, dass diese Frage Gegenstand der in Art. 159 Abs. 1 enthaltenen Beschimpfung und Verächtlichmachung des Türkentums wurde. Einen besonderen Fall bildet hierbei das Verfahren gegen den Journalisten Hrant Dink, der sich in einer Serie von acht Artikeln in der von ihm herausgegebenen armenisch-türkischen Wochenzeitschrift Agos mit der armenischen Identität und dem Einfluss der Geschichte und ihrer Bewertung auf das armenische Selbstbild auseinandersetzte. Hrant Dink hatte mit seiner Zeitschrift und durch die gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren eine rege politische Beachtung in den türkischen und internationalen Medien gefunden. Er wurde am 17. Januar 122 (Hervorhebungen diesseits) Protokoll des Justizausschusses vom 1.8.1951, teilw. abgedr. bei: Ça�layan, a.a.O., S. 1172 f. S. auch: Sancar, a.a.O., S. 78; Senkeri, a.a.O., S. 60. 123 Literatur, die dieser offiziellen Haltung weitgehend entspricht, ist zahlreich vorzufinden. Siehe etwa: Çal�k (Hrsg.), „Ermeni Soyk�r�m�“ �ddialar�. Yanl�� Hesap Talaa’tan Dönünce, passim. 124 Zum Ganzen: Thelen, Die Armenierfrage in der Türkei, S. 14 ff.; Schaefgen, Schwieriges Erinnern: Der Völkermord an den Armeniern, S. 13 ff., s. auch 118 ff., 122 ff.; Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, S. 17 ff. (Dokumente S. 111 ff.).
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2007 in Istanbul vor seinem Verlagshaus von dem Ultranationalisten Ogün Samast erschossen125. Das Verfahren gegen Hrant Dink bildet insbesondere aufgrund der Veröffentlichung der richterlichen Begründung zum Urteil und der Gegenstimmen einen wertvollen Bezugspunkt für die vorliegende Untersuchung. In der Begründung finden sich die wesentliche Haltung der türkischen Justiz zu den Völkermordvorwürfen und das Verhältnis zur offiziellen türkischen Haltung wieder126. Auf folgende Passage der achtteiligen Artikelserie, wurde besondere Aufmerksamkeit gerichtet127: „Das edle Blut, welches das von den Türken abströmende, giftige Blut ersetzen wird, ist in derjenigen Ader enthalten, die die Armenier zusammen mit Armenien erschaffen werden.“128
Diese Textpassage im letzten der acht Artikel baute auf unterschiedliche Gedanken auf, die in den vorhergehenden Artikeln zum Ausdruck gebracht worden waren. Während Dink sich in den ersten fünf Artikeln mit dem kulturellen Komplex, insbesondere mit den Werten der Armenier, der Rolle der Kirche und derjenigen der Diaspora beschäftigte, ging er in den letzten drei Artikeln auf das Verhältnis zwischen Türken und Armeniern ein. Hierbei erwähnte er unter anderem, dass die Armenier Opfer eines Völkermordes seien129, die armenische Identität an einem durch den türkischen Einfluss in Erscheinung tretenden Tumor leide130 und es erforderlich sei, das Gesunden der armenischen Identität von der Frage zu trennen, ob Frankreich, Deutschland, Amerika und die Türkei einen Völkermord an den Armenier anerkennen131. Weil diese und 125 Siehe hierzu: „Armenischer Autor in Istanbul ermordet“, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. Januar 2007, S. 8; „Jugendlicher gesteht Mord – Hintergründe ungeklärt“, in: Süddeutsche Zeitung vom 22. Januar 2007, S. 6. 126 Ein anderes, weniger gut dokumentiertes Beispiel bildet etwa die Verurteilung nach Art. 159 wegen der Aussagen „Mörderstaat“, „Ausbeuterstaat“ und „völkermordender Staat“; siehe: Kassationshof, Urteil vom 5.12.1995, E. 6495, K. 6456, abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 204 f. Der veröffentlichte Teil des Urteils lässt nicht erkennen, in welchem Zusammenhang die Aussagen stehen. 127 Vgl. die einleitenden Ausführungen des Kassationshofes, in: Urteil vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184, abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 151 f. 128 Erschienen in: Agos vom 13. Februar 2004, Nr. 411, S. 10. 129 Vgl. Wortlaut des sechsten Artikels der Serie: „Die Armenier und Juden sind [...] zwei klassische Beispiele für die Diaspora. Für beide sind die Gründe die gleichen... Opfer eines Völkermordes geworden zu sein.“; erschienen in: Agos vom 23. Januar 2004, Nr. 408, S. 10. 130 Vgl. Wortlaut: „Der eigentliche Faktor, der die Gestalt der heutigen armenischen Identität bildet und in der armenischen Identität die Funktion eines Tumors wahrnimmt, ist der türkische Einfluss.“; erschienen in: Agos vom 23. Januar 2004, Nr. 408, S. 10. 131 Vgl. Wortlaut des siebten Artikels der Serie: „Das Gesunden der armenischen Identität an die Frage zu knüpfen, ob die Franzosen, Deutschen, Amerikaner und unbedingt auch die Türken den Völkermord anerkennen oder nicht, ist ein Fehler, der von der armenischen Gemeinschaft nunmehr berichtigt werden muss.“; erschienen in: Agos vom 30. Januar 2004, Nr. 409, S. 10.
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andere Aussagen der Artikel als Serie konzipiert waren, sollten sie in ihrer Gesamtheit in das Urteil einfließen132. Trotz einer von den Richtern festgestellten Zweideutigkeit der Aussage Hrant Dinks133 wurde sowohl in der erstinstanzlichen Urteilsbegründung als auch in der Urteilsbegründung zur Revision des Kassationshofes eine öffentliche Beschimpfung und Verächtlichmachung des Türkentums angenommen, u.a. weil die oben erwähnte, zentrale Passage im achten Artikel Dinks eine Ähnlichkeit zu einem Ausspruch von Atatürk aufweise und dieser Ausspruch bewusst entstellt worden sei134. Gegen diese Auslegung des Kassationshofes sprachen sich die Senatsmitglieder Osman �irin und Muvaffak Tatar aus: In ihren begründeten Gegenstimmen kritisierten sie in erster Linie die Deutung der Richter, die sich zu sehr auf die zentrale Passage des achten Artikels versteift hätten, ohne die anderen Textpassagen, die angeblich in die Urteilsfindung mit eingeflossen seien, berücksichtigt zu haben135. Dink zeige, so �irin und Tatar, dass er mit dem giftigen Blut nicht das Türkentum oder das türkische Blut, sondern „das durch die Ereignisse um 1915 entstandene, falsche Verständnis der Armenier“ gemeint habe136. Obwohl in den veröffentlichten Begründungen weder das erstinstanzliche Gericht noch der Kassationshof die Strafbarkeit ausdrücklich auf die Feststellung Hrant Dinks bezogen haben, die Armenier seien Opfer eines Völkermordes geworden, zitierten �irin und Tatar zudem folgende Feststellungen des Sachverständigengutachtens137: 132 Siehe: Kassationshof, Urteil vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184, abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 151 f. 133 Die zentrale Passage ist nach Ansicht der Richter zweideutig. Sie könne einerseits bedeuten, dass das türkische Blut giftig ist. Nach einer anderen Deutung könne gemeint worden sein, dass das armenische Blut durch einen türkischen Einfluss vergiftet worden ist, nicht notwendigerweise aber, dass das türkische Blut selbst giftig ist. Kassationshof, Urteil vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 156 f. 134 Kassationshof, Urteil vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184: „Der Ausspruch Mustafa Kemal Atatürks ‘Die Kraft, die Ihr benötigt, ist in dem edlen Blut enthalten, das in euren Adern fließt.’ wurde von dem Verfasser in meisterhaftem Stil entstellt und in ‘das von den Türken abströmende, giftige Blut’ verändert und somit das Türkentum herabgesetzt.“; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 167 f. 135 Kassationshof, Urteil vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 169. 136 Osman �irin / Muvaffak Tatar, in: Gegenstimmen zum Urteil vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184: „Was mit der Aussage ‘das von den Türken abströmende, giftige Blut’ bezweckt wurde, findet sich im letzten Absatz des sechsten Artikels: ‘Am Ende zeigt sich, dass die Türken sowohl das Gift als auch das Gegengift der armenischen Identität bilden. Die eigentliche Frage ist, ob sich die armenische Identität von den Türken befreien wird oder nicht.’ Die Aussagen [...] zielten nicht auf das Türkentum oder die Türken, sondern auf das durch die Ereignisse um 1915 entstandene, falsche Verständnis der Armenier, von dem es sich nun zu lösen gilt.“; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 171. 137 Bei den Sachverständigen handelte es sich um Selman Dursun, Serdar Talas und Hasan S�nar vom Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul.
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„Die Ereignisse um 1915 als Völkermord zu qualifizieren, erfüllt [...] nicht den in Art. 159 bezeichneten Straftatbestand. Über die Völkermordbehauptungen wird noch immer diskutiert, und sowohl die Armenier als auch die Türken bringen unterschiedliche Blickwinkel und Ansichten zum Ausdruck. Daher sind diese Aussagen eine auf ein historisches Ereignis gerichtete Meinungsäußerung.“138
�irin und Tatar gingen in ihren Ausführungen noch weiter und erklärten, dass eine Strafbarkeit für die Völkermordbehauptung im Ausland den Eindruck zur Folge haben werde, dass Armenier in der Türkei nicht ihre Gedanken zum Ausdruck bringen dürfen und in der Türkei nur solche Ansichten geäußert werden könnten, die vom Establishment erlaubt worden sind139. Ähnliche Kritikpunkte führte auch das Senatsmitglied Hamdi Yaver Aktan an140.
d) Kritik Das Tatbestandsmerkmal „Türkentum“ wurde aufgrund der Zugrundelegung ethnisch-kultureller Erwägungen stets weit ausgelegt. Dies führte einerseits dazu, dass die türkische Geschichte, Sprache, Kultur und die Religion in die Auslegung des Tatbestands mit eingeflossen sind und das Schutzobjekt hierdurch praktisch unbestimmbar war. Da Kultur andererseits dynamisch ist, war das Türkentum auch für die Zukunft unbestimmt141. Wie bereits erwähnt, führte die inhaltliche Nähe des Türkentums zum Nationalismus ferner zu einem weiten Verständnis von Staat, Nation und Türkentum. Diese Bedenken wurden wiederholt in der Lehre142, teilweise aber auch in der Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht. In der oben zitierten Entscheidung („Nieder mit der Türkei“) äußerten zwei Mitglieder des Senats ihre Bedenken folgendermaßen: „Die im Art. 159 geschützten Institutionen und Einrichtungen sind eingrenzbar und zahlenmäßig bestimmt. Unter ihnen findet sich nicht die ‘Türkei’. Die Verwendung des Begriffs ‘Türkei’ kann – je nach Umständen – unterschiedliche Bedeutungen haben. Im Hinblick auf die klare Regelung ‘Niemand kann wegen einer Tat bestraft werden, die das Gesetz nicht ausdrücklich als Straftat bezeichnet’ des Artikel 1 des Türkischen Strafgesetzbuches kann die Ansicht der Mehrheit nicht geteilt werden [...].“143 138 Kassationshof, Urteil vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 173. 139 �irin / Tatar, in: Gegenstimmen zum Urteil des Kassationshofes vom 11.7.2006, E. 9– 169, K. 184, abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 176: „Es ist bedauerlich, dass in der demokratischen Türkischen Republik statt Gegenmeinungen frei von Angst und Zwang auszudrücken, weiterhin Angst vorherrscht und bei Inhalten, die zum Ausdruck gebracht werden konnten, davon ausgegangen wird, dass diese vom Establishment erlaubt worden [...] sind.“ 140 Hamdi Yaver Aktan, in: Gegenstimme zum Urteil des Kassationshofes vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184, abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 186 ff. 141 Can, a.a.O., S. 41 ff.; Sancar, a.a.O., S. 83 m.w.N. 142 Can, a.a.O., S. 40 ff.; Sancar, a.a.O., S. 70 ff., insb. 76 f. 143 Gündel, Hakaret Suçlar�, S. 144. Bei den beiden Senatsmitgliedern handelt es sich um Yöndem und Uygun (abgedruckt bei Gündel, ebd.).
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Neben der Unbestimmtheit und der ethnisch-kulturellen Auslegung, wurde der Rechtsprechung auch vorgeworfen, das Türkentum systemwidrig angewandt zu haben: Denn obwohl alle Ethnien (etwa alle Kurden, Armenier, Tscherkessen, Alewiten, Assyrer u.a.) vom Türkentum umfasst werden sollten, habe der Kassationshof die türkische Ethnie bevorzugt144. In diesem Zusammenhang stehen Verfahren gegen die Autoren wissenschaftlicher Arbeiten zu Subidentitäten in der Türkei145.
2. Republik Das Schutzobjekt „Republik“ war im Art. 159 nicht über den gesamten Geltungszeitraum des türkischen Strafgesetzbuches enthalten. Bei Inkrafttreten des türkischen Strafgesetzbuches von 1926 existierte darüber hinaus kein Äquivalent im italienischen Vorbild. Die Republik wurde erst mit Gesetz Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 in den Tatbestand des Art. 159 Abs. 1 aufgenommen. In der amtlichen Begründung wurde zur Aufnahme die bloße Zweckmäßigkeit angeführt: „Die Aufnahme der [...] Beschimpfung der Staatsform Republik in die Tathandlungen der Vorschrift wurde als zweckmäßig betrachtet und der Begriff (Republik) 146 hinzugefügt.“
Obwohl die amtliche Begründung das Regelungsbedürfnis nicht näher erklärt, lieferte sie für die Auslegung die Grundlage für einen Streitstand: Ein Teil der Rechtswissenschaft nahm an, dass lediglich die Staatsform Schutz finden sollte147. Diese Ansicht stützte sich zum einen auf den Wortlaut. Zum anderen sei die Tatsache, dass die staatlichen Institutionen einzeln aufgeführt werden, ein Indiz dafür, dass auch nur diese geschützt werden sollten148. Eine andere Ansicht hingegen sah in der Republik den Schutz des Staates149. Sie stützte sich darauf, dass die Republik in der theoretischen, wissenschaftlichen und alltäglichen Verwendung mit dem Begriff des „Staates der Türkischen Republik“ gleichgesetzt werde. In einer vielzitierten Entscheidung des Kassationshofes 144 Can benennt aber auch zwei Ausnahmeentscheidungen aus dem Jahre 2004, in denen die Beschimpfung von Kurdisch-Stämmigen bestraft worden ist, a.a.O., S. 42 f. 145 Can nennt einige Beispiele aus der Rechts- und Politikwissenschaft, a.a.O., S. 42. 146 Abgedruckt in: Zabit Ceridesi v. 11.6.1936, RNr. 250, S. 37. 147 Gözübüyük, Türk Ceza Kanunun 159. Maddesi, S. 428 m.w.N. Vgl. Yalkut, Hükümetin Manevi �ahsiyeti, S. 934 m.w.N. 148 Yalkut nennt eine frühe Entscheidung des Kassationshofes aus dem Jahre 1949 (Kassationshof, Urteil vom 16.2.1949, E. 905, K. 204, abgedruckt bei: Gözübüyük, Türk Ceza Kanunun Aç�lamas�, Bd. 2, S. 698), bei der ein Verbalangriff auf den „Staat“ als nicht tatbestandsmäßig gewertet wurde, a.a.O., S. 934; vgl. zu den wichtigsten Argumenten: Sancar, a.a.O., S. 91. 149 Vgl. Senkeri, a.a.O., S. 68. In diese Richtung: Sancar, a.a.O., S. 92 f.; Erem, Türk Ceza Hukuku, Bd. 2, S. 119.
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aus dem Jahre 1977 zur Aussage „Ich f... das Gesetz, den Staat, die Köpfe des Staates und die Fädenzieher in die...“150 wurde klargestellt, dass „die Tatsache, dass in der Vorschrift vom ‘Staat’ nicht ausdrücklich die Rede ist, nicht bedeutet, dass ein Angriff gegen die ideelle Persönlichkeit des Staates außerhalb des Geltungsbereichs der Vorschrift liegt. Mit der Aufführung der ‘Republik’ ist der Staat der Türkischen Republik gemeint.“151
Diese Auslegung wurde in den Folgejahren beibehalten: „[...] ‘Republik’ ist gleichbedeutend mit ‘Staat’. Ist die Beschimpfung und Verächtlichmachung ihrer Art nach gegen den Staat gerichtet, ist hierin eine Be152 schimpfung und Verächtlichmachung der Republik zu sehen.“
3. Große Nationalversammlung Die Große Nationalversammlung (Büyük Millet Meclisi) stellt das Parlament der Türkischen Republik dar. Die tVerf 1924 bestimmte, dass das Gesetzgebungsrecht bei der Großen Nationalversammlung und die primäre Funktion der Großen Nationalversammlung in der Repräsentation der türkischen Nation liegt153. Aus der tVerf 1961 ergibt sich die Besonderheit, dass neben die Große Nationalversammlung ein neues Gesetzgebungsorgan trat. So bestimmen Artt. 63 und 64 tVerf 1961, dass die Große Nationalversammlung aus Nationalversammlung und Senat besteht und diese gemeinsam am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind154. Dieses Zweikammersystem wurde mit Inkrafttreten der tVerf 1982 wieder aufgehoben.
a) Einzelfragen Das Schutzobjekt der Großen Nationalversammlung war über den gesamten Geltungszeitraum des türkischen Strafgesetzbuches von 1926 hinweg im Tatbestand des Art. 159 enthalten. Da es sich bei der Großen Nationalversammlung um ein aus mehreren natürlichen Personen in der Funktion als Abgeordnete zusammengesetztes politisches Organ handelte, war Art. 159 vom strafrechtlichen Ehrschutz einzelner Abgeordneter abzugrenzen. Grundsätzlich galt, dass bei der Großen Nationalversammlung auf das Organ im Gesamten abzustellen war, weshalb die Beschimpfung und Verächtlichmachung einzelner oder mehrerer Abgeordneter keine Straftat nach Art. 159 darstellte155. Ob150 Zur Äußerung: Sancar, a.a.O., S. 91 (Fn. 67). 151 Kassationshof, Urteil vom 1.6.1977, E. 2025, K. 1952, teilweise abgedruckt bei: Özel, �çtihatl� Türk Ceza Kanunu, S. 83. 152 Kassationshof, Urteil vom 5.5.1998, E. 70, K. 156, abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 188 ff. 153 Bolland, Die türkische Verfassung, S. 139. 154 Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 48 f.; 129. 155 Sancar, a.a.O., S. 94; Senkeri, a.a.O., S. 79; Tosun, TCK’nun 159. Maddesi I, S. 461 f.; Gözübüyük, a.a.O., S. 692 f.
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wohl aber nach Art. 266 Abs. 3 ein besonderer Schutz der Abgeordneten existierte, konnte auch eine gegen einzelne Abgeordnete gerichtete Äußerung einen Angriff gegen die Große Nationalversammlung als Ganzes bilden156. So hob der Kassationshof ein auf Art. 266 Abs. 3 gestütztes, vorinstanzliches Urteil auf und erkannte in einem an den Ministerpräsidenten und an die Geschäftsstelle der Nationalversammlung gerichteten Telegramm mit dem Inhalt „Gibt es unter den Parlamentariern niemanden mit Selbstachtung; schämen sie sich nicht, wenn sie ihre Finger heben, um ihre persönlichen Interessen durchzusetzen und ihre Gehälter zu erhöhen?“
eine Beschimpfung und Verächtlichmachung der Großen Nationalversammlung157. Die Frage, ob ein Angriff auf die Große Nationalversammlung vorliegt, hing also nicht von einer bestimmten Zahl von Abgeordneten ab, die vom Angriff umfasst sein mussten, sondern bestimmte sich danach, ob die betroffenen Abgeordneten die Funktion der Großen Nationalversammlung als Ganzes repräsentierten, also ob der Angriff seiner Art nach über die Personen der Abgeordneten hinaus der Großen Nationalversammlung galt158. Im Geltungszeitraum der 1961er Verfassung mit dem Zweikammernsystem wurde der Tatbestand des Art. 159 nicht angepasst. Deshalb entbrannte eine Diskussion über die Frage, wie die Beschimpfung und Verächtlichmachung nur des Senats oder nur der Nationalversammlung zu behandeln war. Diese Frage wurde sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung überwiegend mit dem Ansatz gelöst, dass sowohl ein nur auf den Senat oder die Nationalversammlung gerichteter Angriff als auch ein beide Teilorgane umfassender Angriff tatbestandsmäßig zu werten seien159.
b) Legitimität und Beschlüsse der Großen Nationalversammlung Durch das Gesetz Nr. 4956 vom 20. September 1946 wurde Art. 159 Abs. 1 um das Schutzobjekt der Legitimität der Großen Nationalversammlung erweitert. Da dieses Schutzobjekt durch Gesetz Nr. 235 vom 5. Januar 1961 wieder entfiel, ist umfangreiches Schrifttum nicht vorhanden. Es beschränkt sich im Wesentlichen auf die Wiedergabe der amtlichen Begründungen zur Einführung und Streichung des Schutzobjekts. Während die Gesetze der Türkischen Republik – also die Gesetze der Großen Nationalversammlung – bereits in der Erstfassung des Art. 159 aufgeführt und 156 Sancar, a.a.O., S. 94 f.; Kassationshof, Urteil vom 20.9.1976, E. 8–345, K. 379, in: Yarg�tay Kararlar Dergisi 1977, 421 f. (bei dieser Entscheidung sah der Kassationshof in der Aussage „Nur eine Regierungskrise?“ einen Angriff auf die Große Nationalversammlung in ihrer Gesamtheit). 157 Kassationshof, Urteil vom 20.10.1972, E. 7058, K. 7908, abgedruckt bei: Senkeri, a.a.O., S. 80 (Fn. 30) m.w.N. Ein Angriff auf den Parlamentarismus hingegen war vom Schutz der Großen Nationalversammlung nicht umfasst: Sancar, a.a.O., S. 95. 158 Senkeri, a.a.O., S. 78. 159 Kassationshof, Urteil vom 16.4.1962, E. 27, K. 23, abgedruckt bei: Özek, TCK’nun 159. Maddesi, S. 786 ff.
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über den gesamten Geltungszeitraum des türkischen Strafgesetzbuches von 1926 erhalten wurden, wurden die Beschlüsse der Großen Nationalversammlung mit Gesetz Nr. 4956 vom 20. September 1946 in die Vorschrift aufgenommen. In der amtlichen Begründung wird lediglich auf die bisherige „Strafbarkeitslücke“ hingewiesen: „Während die Beschimpfungen der den Willen der Großen Nationalversammlung ausdrückenden Gesetze eine Straftat bildet, kann der Grund dafür, dass die gegen den sich durch die Beschlüsse zeigenden Willen des Gesetzgebers richtenden Handlungen nicht als Straftat gelten, wissenschaftlich und logisch nicht erklärt 160 werden.“
Wie die Gesetze der Türkischen Republik ist auch das Schutzobjekt der Beschlüsse der Großen Nationalversammlung bis zum Außerkrafttreten des tStGB 1926 der Vorschrift des Art. 159 erhalten geblieben.
4. Regierung und Ministerien Die Regierung ist ein aus den Ministern und dem Ministerpräsidenten zusammengesetztes, verfassungsrechtliches Organ161. Art. 159 enthielt über den vollen Geltungszeitraum den Schutz der ideellen Persönlichkeit der Regierung und seit dem Gesetz Nr. 4956 vom 20. September 1946 auch den Schutz einzelner Ministerien.
a) Ideelle Persönlichkeit der Regierung Die Formulierung „ideelle Persönlichkeit“ sollte zum Ausdruck bringen, dass Art. 159 nicht die natürlichen Personen schützt, aus denen sich die Regierung zusammensetzt, sondern das über diese Personen hinausgehende „Organ Regierung“162. So konnte sich die Meinung etablieren, dass der Gesetzgeber einen Angriff auf die konkreten Minister oder den konkreten Ministerpräsidenten nicht als tatbestandsmäßigen Angriff werten wollte163. Doch wurde betont, dass die Beschimpfung und Verächtlichmachung des Amtswalters im Einzelfall auch über die konkrete Person hinausgehen und dem Organ Regierung gelten konnte164. Dies galt auch für Behörden und Einrichtungen, die den Ministerien hierarchisch untergeordnet waren165. Da der Ministerrat hingegen aus Mi160 T.B.M.M. Tutanak Dergisi v. 18.9.1946, RNr. 50, S. 2. 161 Sancar, a.a.O., S. 101 ff; Senkeri, a.a.O., S. 85 f. 162 Dennoch wird diese Formulierung von Sancar kritisiert: Sie betont, dass die Formulierung „ideelle Persönlichkeit“ sonst mit dem Begriff „juristischen Person“ gleichzusetzen ist, aber die Regierung keine juristische Person darstellt, sondern ein Organ der „juristischen Person Staat“ ist. Hierdurch seien Unklarheiten entstanden; a.a.O., S. 104 f. m.w.N.; Tosun, TCK’nun 159. Maddesi I, S. 462 f. 163 Sancar, a.a.O., S. 105; Erman, Hükümetin Manevi �ahsiyeti, S. 278 f. 164 Senkeri, a.a.O., S. 93. 165 Im Kassationshof, Urteil vom 21.1.1953, E. 563, K. 214 (teilweise abgedruckt bei: Ça�layan, a.a.O., S. 1166 f.) wird die fehlende Begründung darüber, weshalb die Re-
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nistern und Ministerpräsident zusammengesetzt wurde, wurde er in der Rechtsprechung166 und Teilen der Lehre167 mit der Regierung gleichgesetzt.
b) Ministerien Um zu verdeutlichen, dass ein von den konkreten Personen, also Amtswaltern, unabhängiger Schutz bezweckt sein sollte, wählte der Gesetzgeber beim Schutz der Regierung die Formulierung „ideelle Persönlichkeit“. Obwohl diese Formulierung nicht auch beim Schutzobjekt der Ministerien verwendet wurde, vertritt man auch hier die Auffassung, dass mit den Ministerien der Schutz der Organe selbst konstituiert wurde168. Ähnlich der Auslegung bei der ideellen Persönlichkeit der Regierung, sollte auch die Beschimpfung und Verächtlichmachung der Ministerien die Ministerien in ihrer Gesamtheit betreffen: Hierdurch fanden die sekundären Organe der Ministerien einerseits und die konkreten Minister andererseits grundsätzlich keinen Schutz169. Galt der Angriff im Einzelfall jedoch über die Person des Ministers hinaus auch dem Organ selbst, konnte ein tatbestandsmäßiges Handeln angenommen werden170. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis wurde auch damit begründet, dass die Minister im Rahmen der allgemeinen, strafrechtlichen Auslegung als Beamte gelten und somit bereits mit Art. 266171 strafrechtlichen Schutz genießen172.
Militärische Streitkräfte des Staates Die Erstfassung des Art. 159 enthielt die Schutzobjekte Heer und Flotte. Mit Gesetz Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 wurden Heer und Flotte durch das Schutzobjekt der bewaffneten Kräfte des Staates ersetzt. Aus dem Protokoll des Justizausschusses kann man entnehmen, dass „die [...] verwendeten Begriffe (Heer und Flotte) für ihren Zweck als nicht hinreichend bestimmt genug erkannt und an deren Stelle [die] bewaffneten Kräfte des
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gierung betroffen gewesen sein soll, obwohl eine einzelne Regierungsbehörde Angriffsgegenstand war, kritisiert. Ähnliche Kritik auch bei: Kassationshof, Urteil vom 15.4.1970, E. 967, K. 1173, abgedruckt bei: Gözübüyük, a.a.O., S. 712. Siehe schon: Kassationshof, Urteil vom 17.5.1949, E. 905, K. 204, abgedruckt bei: Gözübüyük, a.a.O., S. 698. Sancar, a.a.O., S. 102; Erman, a.a.O., S. 278 ff.; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler3, S. 667; Gözübüyük, a.a.O., S. 694; Gündel, a.a.O., S. 89. Siehe aber: Mumcu, Hükümetin Manevi �ahsiyeti, S. 2. Vgl. Erem, Türk Ceza Hukuku, Bd. 2, S. 119. Vgl. Senkeri, a.a.O., S. 105 m.w.N. Sancar, a.a.O., S. 117 f., S. 122; Senkeri, a.a.O., S. 105 ff. Senkeri, a.a.O., S. 106. „Wer durch Worte oder Tat die Ehre, den Ruf, das Ansehen oder die persönliche Würde eines Beamten in dienstlicher Eigenschaft in seiner Gegenwart und wegen der von ihm ausgeübten Amtspflicht angreift und beleidigt, wird in folgender Weise bestraft.“; Tellenbach, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 129 f. Senkeri, a.a.O., S. 106.
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militärischen Streitkräfte des Staates
a Zur Stellung des Militärs in der Türkei
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¢ ¥ ¦ ¢ ¢ ¤ militärischen Streitkräften des Staates
Sicherheitskräfte des Staates ¥ ¥ ¦ ¢ �en ¢ Weiher Frey ¢¢ Weiher¢ ¢ Weiher § ¥§ ¡¢ ¢ Weiher¢ Teil der Exekutive hinausgehende Stellung¡ Sancar
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lismus181. Seit den Regierungsbildungen der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo�an182 wurden die Aufgaben und Befugnisse des Militärs tendenziell verringert. Dies äußert sich einerseits durch den von Erdo�an geförderten „Kampf“ gegen den so genannten tiefen Staat183 und andererseits durch diverse Verfassungsreformpakete, insbesondere aber dasjenige vom 12. September 2010, in dem eine verstärkte, zivile Kontrolle über die Armee angestrebt worden ist184.
b) Definition und Einzelfragen Ein großer Teil der Lehre und die Rechtsprechung sahen in den militärischen Streitkräften des Staates neben der Gendarmerie185 die Land-, Luft- und Seestreitkräfte186. Demgemäß stellte die öffentliche Beschimpfung und Verächtlichmachung einer dieser Teile ein tatbestandsmäßiges Handeln im Sinne des Art. 159 dar. Nicht erfasst waren hingegen einzelne Verbände und Formationen wie Regimenter, Brigaden, Bataillone, Kompanien und einzelne Klassen wie die Infanterie, Artillerie und einzelne Personen, die bestimmte Ränge bekleiden187. Diese Ansicht stützte sich auf den Willen des Gesetzgebers, der sich schon im Protokoll des Justizausschusses zum Gesetz Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 zeigt. Hiernach war erforderlich, dass sich die Handlungen in „einem weiten Sinne gegen die Existenz der militärischen Streitkräfte“, also nicht lediglich gegen „einen Teil und beispielsweise gegen ein Bataillon“ richten188. 181 Dieses Selbstverständnis basiert auf der von Atatürk zugewiesenen Funktion. Hierbei sollte das Militär in den frühen Jahren der Republik Hüter der nationalen und revolutionären Ideale sein. Vgl. Weiher, a.a.O., S. 97, zitiert nach: Kili, A Case Study of Political Development, S. 21; Harris, The Role of the Military, S. 56, Anm. 4. 182 Recep Tayyip Erdo�an (*1954) ist türkischer Politiker, Mitglied der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und Ministerpräsident der Türkischen Republik. Erdo�an war zuvor Oberbürgermeister (1994–1998) der Stadt Istanbul. Vgl. auch Eintrag auf http://biyografi.net (zuletzt abgerufen: Juli 2013). 183 Bei dem „tiefen Staat“ (Derin Devlet) handelt es sich um eine Verflechtung von Militärund Sicherheitskräften, Politik, Justiz, Verwaltung und organisiertem Verbrechen – einem „Staat im Staate“, der sich durch eine ultranationalistische Zusammensetzung auszeichnet und durch Untergrundorganisationen wie der Ergenekon seinen Einfluss ausübt. 184 Per Volksentscheid vom 12. September 2010 angenommen (ca. 59%). 185 Die türkische Gendarmerie (Jandarma Genel Komutanl���) ist ein paramilitärischer – also neben dem Militär aufgestellter – Verband. Er wurde 1839 gegründet. Er ist zuständig für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ihm können auch militärische Aufgaben zugewiesen werden. Siehe eingehend: Akman, Jandarma, S. 59 ff. 186 Senkeri, a.a.O., S. 136 ff. m.w.N.; siehe auch: Sancar, a.a.O., S. 129; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler3, S. 667. 187 Militärkassationshof, Urteil vom 13.7.1971, E. 307, K. 312: „[Bei Angriffen] gegen einzelne Verbände oder bestimmte Mitglieder kommt – bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen – nur die Anwendung der Art. 266 oder 268 in Betracht.“, teilweise abgedruckt und Hinw. bei: Sancar, a.a.O., S. 129 (Fn. 197) m.w.N. 188 Zabit Ceridesi vom 11.6.1936, RNr. 250, S. 37.
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Während das militärische Personal – gleichgültig ob höchste Kommandoebene oder einfacher Soldat – kein tatbestandsmäßiges Angriffsziel des Art. 159 bildete189, sollten Angriffe gegen die Symbole und Zeichen der militärischen Streitkräfte (Wimpel, Standarten, Fähnchen, Banner und dergl.) des Staates zugleich einen Angriff auf die militärischen Streitkräfte selbst bilden190. Sowohl die Rechtsprechung191 als auch der überwiegende Teil der Lehre192 sahen zudem die Notstandsverwaltungen, die im Ausnahmezustand für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zuständig sind193 als von den militärischen Streitkräften des Staates umfasst, da es sich bei dem Kommando, also der Führung der Notstandsverwaltung, um Angehörige des Militärs handelt194.
. Sicherheitskräfte des Staates Mit Gesetz Nr. 3531 vom 29. Juni 1938 wurde in Art. 159 – neben den militärischen Streitkräften des Staates – auch das Schutzobjekt „Sicherheitskräfte des Staates“ aufgenommen. Dieses Schutzobjekt blieb über den übrigen Geltungszeitraum des tStGB 1926 erhalten. Im türkischen Originaltext ist neben den militärischen Streitkräften wörtlich sowohl von „Sicherheitskräften“ (emniyet kuvvetleri) als auch von „Schutzkräften“ (muhafaza kuvvetleri) die Rede. Im Schrifttum findet sich als Übersetzung jedoch die Formulierung „Sicherheitskräfte“, offensichtlich als Oberbegriff für beide Elemente des Originalen. Dieser dem Informationsverlust der Übersetzung geschuldete Umstand darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den Kräften für Sicherheit und denen für Schutz sehr wohl unterschieden wurde. So setzten sich die Sicherheitskräfte gemäß Art. 3 des Gesetzes Nr. 3201 vom 4. Juni 1937 – dem Sicherheitsorganisationsgesetz – aus den allgemeinen und besonderen polizei189 Zu unterscheiden ist aber, ob ein einzelnes Mitglied der Streitkräfte Angriffsfläche bildet, aber die Streitkräfte Angriffsziel darstellen. So hob der Militärkassationshof ein vorinstanzliches Urteil auf, in dem der Angeklagte seinem Kommandeur vorwarf, das Militär erhalte seine Befehle aus Israel; Urteil vom 1.7.1999, E. 153, K. 150; siehe auch Militärkassationshof, Urteil vom 15.9.1970, E. 327, K. 410, in dem die Aussage „Ich f… die Mütter und Frauen aller, die Streifen auf ihren Schultern tragen“ als gegen die gesamte Dienstgradstruktur der Streitkräfte gerichtet gedeutet wurde (alle teilweise abgedruckt bei: Sancar, a.a.O., S. 129 f. [Fn. 198] m.w.N.). 190 Sancar, a.a.O., S. 131 m.w.N. 191 Der Kassationshof sah in der Aussage „ich f… die Notstandsverwaltung in die…. Unsere Verwaltung ähnelt der Junta in Griechenland“ einen Angriff auf die militärischen Streitkräfte des Staates, Urteil vom 9.5.1973, E. 1632, K. 1808 (teilweise abgedruckt bei: Senkeri, a.a.O., S. 151 [Fn. 136]); Urteil vom 16.11.1981, E. 9/302, K. 376 (teilweise abgedruckt bei: Sancar, a.a.O., S. 134 [Fn. 211]); Militärkassationshof, Urteil vom 31.12.1980, E. 382, K. 271 (bei Sancar, a.a.O., S. 143, [Fn. 211]); vgl. Sancar, a.a.O., S. 133 ff.; Senkeri, a.a.O., S. 151. 192 Sancar, a.a.O., S. 133 ff. m.w.N.; Senkeri, a.a.O., S. 151 m.w.N. 193 Sancar, a.a.O., S. 134, Senkeri, a.a.O., S. 151. 194 Üskül, Siyaset ve Asker, S. 35 f.
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lichen Einsatzkräften zusammen. Zu den allgemein-polizeilichen Einsatzkräften gehörten die Gendarmerie und die Polizei195. Die besonderen polizeilichen Einsatzkräfte richteten sich nach besonderen Gesetzen und nahmen besondere Aufgaben wahr. Demgegenüber ergibt sich bereits aus der Begründung zum Gesetz Nr. 3531, was unter Schutzkräften zu verstehen war. Hiernach wurde das Schutzobjekt „Sicherheitskräfte“ (Sicherheits- und Schutzkräfte) aufgenommen, „um keine Zweifel darüber aufkommen zu lassen, ob bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs [der militärischen Streitkräfte des Staates] die Kräfte zum Schutz des Zolls oder der Wälder und die Gendarmerie von den bewaffneten 196 Streitkräften des Staates umfasst werden“ .
Aus der Begründung ergibt sich also zum einen, dass die Gendarmerie Schutz finden sollte. Diese Einrichtung ist – wenn man sie nicht schon eindeutig den militärischen Streitkräften zuordnen mag – Sicherheitskraft im engeren Sinne. Zum anderen wurde klargestellt, dass auch die Kräfte zum Schutz des Zolls oder der Wälder geschützt werden sollten. Diese Einsatzkräfte waren hingegen den Schutzkräften zuzuordnen. So bestanden die Schutzkräfte aus den Einsatzkräften zum Schutz des Zolls und der Wälder197.
. Ideelle Persönlichkeit der Justiz Das Schutzobjekt der ideellen Persönlichkeit der Justiz wurde durch Gesetz Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 in die Vorschrift aufgenommen und blieb bis zum Außerkrafttreten des tStGB 1926 erhalten. Mit der Einführung vervollständigt die Vorschrift den Schutzumfang im Hinblick auf die Staatsgewalten. Während mit der Regierung und der Großen Nationalversammlung schon die Exekutive und die Legislative geschützt waren, ist nun mit der ideellen Persönlichkeit der Justiz auch die Judikative hinzugetreten198. So heißt es in der amtlichen Begründung: „Im Hinblick darauf, dass die Armee und die Justiz zwei der stärksten und heiligsten Säulen des Staates bilden, wird es einstimmig als zweckmäßig betrachtet, auch 199 diejenigen zu bestrafen, die die ideelle Persönlichkeit der Justiz beschimpfen.“
Wie schon bei der ideellen Persönlichkeit der Regierung, verwendete der Gesetzgeber auch hier die Formulierung „ideelle Persönlichkeit“. Und auch hier sollte die Formulierung erklären, dass nicht die konkreten Amtswalter, sondern 195 Sancar, a.a.O., S. 142 f.; Senkeri, a.a.O., S. 110; insofern stellt die Gendarmerie die Schnittmenge zwischen den militärischen Streitkräften und den Sicherheitskräften des Staates dar, weil sie von beiden Schutzobjekten bzw. Angriffsgruppen umfasst wird. 196 (Hervorhebungen diesseits) Zabit Ceridesi vom 29.6.1938, RNr. 320, S. 3. 197 Sancar, a.a.O., S. 143; Senkeri, a.a.O., S. 111. 198 Dieser Hinweis bei: Sancar, a.a.O., S. 148 f. 199 Zabit Ceridesi vom 11.6.1936, RNr. 250, S. 37.
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der Schutz der „Institution Justiz“ bezweckt wurde, die – ohne selbst über eine juristische Persönlichkeit zu verfügen – Teil der „juristischen Person Staat“ ist und diesen durch die Rechtsprechung vertritt200. Vom Schutz der Justiz sollten jedoch nicht Angriffe auf „[...] einzelne Gerichte oder Gerichtssenate umfasst“201 sein. Doch konnte ein Angriff im Einzelfall – wenn auch bloß gegen einen dieser Teile gerichtet – auch über die bloße Angriffsfläche hinaus die Gesamtheit der Rechtsprechung betreffen202. Eine Diskussion ergab die Frage, wie die einzelnen Gerichtsbarkeiten behandelt werden sollten203. So stellt zwar die Verwaltungsgerichtsbarkeit oder die Militärgerichtsbarkeit nicht die Gesamtheit, sehr wohl aber wesentliche Teile der Rechtsprechung dar, so dass die einzelnen Gerichtsbarkeiten als taugliche Angriffsgegenstände betrachtet wurden204. Ausgenommen waren hingegen die einzelnen, wenn auch höchsten Gerichte innerhalb einer Gerichtsbarkeit, wie etwa das Oberste Verwaltungsgericht (Dan��tay), der Kassationshof (Yarg�tay) oder das Verfassungsgericht (Anayasa Mahkemesi)205. Auch die Staatsanwaltschaft – als wesentlicher Teil der Strafrechtsprechung – sollte von der ideellen Persönlichkeit der Justiz nicht umfasst sein, weil die Staatsanwaltschaft nicht mit der Rechtsprechung, sondern vielmehr mit Strafverfolgung und -aufklärung betraut ist206.
III. Tathandlung 1. Beschimpfen und Verächtlichmachen Die Tathandlung des Art. 159 wurde in Lehre und Rechtsprechung auf unterschiedliche Art und Weise gedeutet. Dies lag einerseits daran, dass der Gesetzgeber die Begehungsform des Beschimpfens und Verächtlichmachens – im Gegensatz zu Artt. 480 und 482, bei denen die einfache Beleidigung legal definiert worden ist207 – nicht näher spezifizierte und andererseits daran, dass 200 Siehe: Tosun, TCK’nun 159. Maddesi I, S. 465; Sancar, a.a.O., S. 149; siehe ferner: Senkeri, a.a.O., S. 164. 201 (Hervorhebungen diesseits) Zabit Ceridesi vom 11.6.1936, RNr. 250, S. 37. 202 Vgl. etwa: Kassationshof, Urteil vom 22.5.1995, E. 9–127, K. 157, abgedruckt bei: Gündel, a.a.O., S. 124 ff. Siehe auch: Erman, Hakaret ve Sövme Suçlar�, S. 42 f. 203 Grundsätzlich sind alle Gerichtsbarkeiten vom Schutz der ideellen Persönlichkeiten der Justiz umfasst. Vgl. Senkeri, a.a.O., S. 170; Problematisch war aber, wie eine Gerichtsbarkeit für sich genommen behandelt werden sollte. 204 Sancar, a.a.O., S. 150; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler3, S. 668. 205 Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler3, S. 668; Sancar, a.a.O., S. 150 f. 206 Sancar, a.a.O., S. 153. Zum Streit eingehender: Senkeri, a.a.O., S. 174 f. m.w.N. 207 Art. 480: „Wer im Umgang mit mehr als zwei einzelnen oder versammelten Personen in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet, die geeignet ist, diesen der öffentlichen Verachtung und öffentlichem Hass preiszugeben oder die Ehre und Würde desselben anzutasten, [...]“; Art. 482: „Wer im Umgang mit mehr als zwei ein-
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auch in den Regierungsbegründungen keine näheren Angaben gemacht wurden. Trotz fehlender Legaldefinition und Regierungsbegründung ist für die Tathandlung des Art. 159 aber zu berücksichtigen, dass eine Beschimpfung und Verächtlichmachung verlangt wurde, d.h. vom Gesetzeswortlaut her keine alternative Formulierung vorlag, sondern kumulativ neben einer vorliegenden Beschimpfung auch die Verächtlichmachung erfüllt werden musste. Diese Deutung fand sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung größtenteils Zustimmung.
b) Lehre In der Lehre gab es verschiedene Ansätze, die Tathandlung im Hinblick auf die beiden Elemente des Beschimpfens und Verächtlichmachens zu spezifizieren. Während Odyakmaz als einzige der Auffassung war, dass für ein tatbestandsmäßiges Handeln das Beschimpfen und Verächtlichmachen nicht zusammen und zugleich vorzulegen haben, also etwa auch solche Beschimpfungen strafbar sein sollten, die nicht auch verächtlichmachend waren208, war sich der überwiegende Teil der Lehre darüber einig, dass beide Elemente kumulativ formuliert wurden209. Hierbei wurde jedoch einerseits über das Verhältnis zur einfachen Beleidigung210 und andererseits über das Verhältnis des Beschimpfens und Verächtlichmachens zueinander gestritten. Für einen großen Teil war das Beschimpfen die weniger intensive Begehungsform211. So ergaben sich im Wesentlichen drei Modelle: 1) Die Beschimpfung ist eine – weniger intensive – Form der Verächtlichmachung. Bei Vorliegen der Verächtlichmachung, war daher notwendigerweise auch die Vorstufe der Beschimpfung erfüllt212. Die Beschimpfung allein konnte den Tatbestand also nicht erfüllen213. Dieses Modell erfasste die meisten der Ansätze, die in der Beschimpfung eine Spezifizierung, ein Synonym oder die Wiederholung der Verächtlichmachung sahen.
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zelnen oder versammelten Personen irgendwie die Ehre, den Ruf, das Ansehen und die Würde eines anderen angreift, [...]“; Tellenbach, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 232, 235. Odyakmaz, Hükümetin Manevi �ahsiyetini Alenen Tahkir Ve Tezyif Suçu, S. 521 ff., 526. So etwa: Gözübüyük, Türk Ceza Kanunun 159. Maddesi, S. 431; ders., a.a.O., S. 695 f.; Tosun, TCK’nun 159. Maddesi I, S. 459. Beim Verhältnis zur einfachen Beleidigung ist der überwiegende Teil der Lehre der Auffassung, dass die Tathandlung des Art. 159 eine schärfere Form der Herabwürdigung verlangt. So etwa: Erman, Hükümetin Manevi �ahsiyeti, S. 281; Özek, Türk Bas�n Hukuku, S. 472; Yurtcan, �ktidari Tahkir Ve Tezyif, S. 731; Artuk / Gökcen / Yenidünya, Uygulamal�, S. 231 f.; Senkeri, a.a.O., S. 186 ff. Özek, a.a.O., S. 472; Ça�layan, a.a.O., S. 1168; Erman, a.a.O., S. 281. Özek, a.a.O., S. 472; Koca, a.a.O., S. 583. Anders nur: Odyakmaz, a.a.O., S. 521 ff., 526.
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2) Ein Gegenmodell führte an, dass der Gesetzgeber auf die Erwähnung der Beschimpfung hätte verzichten können, wenn die Verächtlichmachung im Vergleich zur Beschimpfung eine intensivere Begehungsform darstellt. Daher sollte die Tathandlung des Art. 159 als „Beschimpfung oder Verächtlichmachung“ gelesen werden, so dass schon das Vorliegen einer Beschimpfung für eine strafbare Tathandlung im Sinne des Art. 159 genügen sollte214. 3) Nach einem dritten Modell stand die Beschimpfung neben der Begehungsform der Verächtlichmachung. Die Tatbegehung musste also zugleich eine Beschimpfung und darüber hinaus auch eine Verächtlichmachung darstellen. Eine der Begehungsformen reichte allein nicht aus, um eine strafbare Handlungsform zu erfüllen215. Jedoch war bei der Verächtlichmachung – freilich als Hinweis für die tatsächliche Frage der Tat – häufig, jedoch nicht notwendigerweise auch das Vorliegen der Beschimpfung gegeben216. Dadurch, dass die Verächtlichmachung im Verhältnis zur Beschimpfung als schwerwiegender angesehen wurde, tendierte ein großer Teil der Lehre zu der Auslegung, der Verächtlichmachung die größere Aufmerksamkeit beizumessen217. Für diejenigen Vertreter, die in der Beschimpfung eine Vorstufe der Verächtlichmachung sahen, stellte die Verächtlichmachung einen ordinären, kleinmachenden und die Ehre und Würde des Geschädigten in erheblicher Weise kränkenden Angriff dar218.
c) Rechtsprechung Ein ähnlich uneindeutiges Bild wie in der Lehre gab auch der Kassationshof in seinen zahlreichen Entscheidungen zur Tathandlung des Art. 159 wider. Während er in einigen Entscheidungen in der Beschimpfung und Verächtlichmachung herabsetzende und kleinmachende Tathandlungen219, gegenüber der Öffentlichkeit kleinmachende und herabwürdigende Tathandlungen220, Beleidigungen221 oder Kleinmachen durch Schlechtdarstellungen222 sah, verzichtete er in einer Reihe von Entscheidungen ganz darauf, die Tathandlung zu umschreiben und begnügte sich mit der Feststellung, dass eine Beschimpfung und VerNur: Odyakmaz, a.a.O., S. 526. Tosun, TCK’nun 159. Maddesi I, S. 459. So wohl auch: Gözübüyük, a.a.O., S. 431. Vgl. Tosun, TCK’nun 159. Maddesi I, S. 459. Vgl. Koca, a.a.O., S. 579. Erman, a.a.O., S. 281. Kassationshof, Urteil vom 5.5.1998, E. 1998/70, K. 1998/156 (s.o.). Kassationshof, Urteil vom 25.2.1980, E. 9–564, K. 73, abgedruckt bei: Sava� / Mollamahmuto�lu, TCK’nun Yorumu, Bd. 2, S. 1586. 221 Kassationshof, Urteil vom 1.6.1977, E. 2025, K. 1952 (s.o). 222 Kassationshof, Urteil vom 5.4.1976, E. 8–47, K. 178, abgedruckt in: Yarg�tay Kararlar Dergisi 1977, 710 f.
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ächtlichmachung erfüllt oder nicht erfüllt war223. Einheitlicher wurden hingegen Tathandlungen behandelt, die aus der Verwendung von Schimpfwörtern und Flüchen bestanden224. So wurden Aussagen wie „unter den Richtern sind die Männer Zuhälter und die Frauen Huren“225 auf die Regierung bezogen, „Eierlose“226 auf die gesamten militärischen Streitkräfte und Sicherheitskräfte des Staates bezogen, „diese Henker, Wilde, blutrünstige Räuber, Korrumpierte, gewissenlose und den gesamten Staat ausnehmende Meute von Niederträchtigen“227 als Beschimpfungen und Verächtlichmachungen bewertet. Dies galt ebenso für die den Geschlechtsakt beschreibenden und in den Entscheidungen in diesen Fällen nahezu stets zensierten Flüchen, wie „Ich f… die Mütter und Frauen aller, die Streifen auf ihren Schultern tragen“228 oder „Ich f… das Gesetz, den Staat, die Köpfe des Staates und die Fädenzieher in die…“229.
2. Meinungsäußerungen a) Abgrenzungsregeln zwischen Tathandlung und Kritik Bei der Grenzziehung zwischen strafbaren Verhalten und erlaubter Kritik, litt die Dogmatik im Geltungszeitraum des tStGB 1926 daran, dass nicht hinreichend klar war, ob die Grenzziehung eine Frage der Tathandlung oder der Rechtswidrigkeit war230. Obwohl zudem eine klare Abgrenzung zwischen strafbarer Tathandlung und erlaubter Kritik ohnehin schwierig ist, haben Teile der Lehre den Versuch unternommen, einige Hilfskriterien zur Abgrenzung aufzustellen. Dem Grundsatz nach sollte auch harte Kritik keine Beschimpfung und Verächtlichmachung im Sinne des Art. 159 darstellen 231. Die Grenze sollte die Kritik jedoch in der kategorischen Ablehnung finden: Denn während bei der Beschimpfung und Verächtlichmachung die Schutzobjekte im Hinblick auf Ansehen, Dasein, Funktion und Autorität in Frage gestellt werde, werde bei 223 Kassationshof, Urteil vom 20.12.1982, E. 9–448, K. 508; sowie Urteil vom 31.1.1983, E. 9–482, K. 18; Urteil vom 28.9.1981, E. 9–237, K. 31 und Urteil vom 28.5.1980, E. 1281, K. 2368, alle abgedruckt bei: Sava� / Mollamahmuto�lu, TCK’nun Yorumu, Bd. 2, S. 1583 ff. zusammenstellender Hinw. bei: Koca, a.a.O., S. 583. 224 So: Koca, a.a.O., S. 583 f. Vgl. ebd. für folgende Hinw. auf die Rspr. 225 Kassationshof, Urteil vom 22.5.1995, E. 1995/127, K. 1995/157, abgedruckt bei: Gündel, a.a.O., S. 124 ff. 226 Kassationshof, Urteil vom 29.1.1979, E. 1978/9–504, K. 1979/40, abgedruckt bei: Gündel, a.a.O., S. 99 ff. 227 Kassationshof, Urteil vom 21.1.1974, E. 1973/61, K. 1974/30, abgedruckt bei: Gündel, a.a.O., S. 95 f. 228 Militärkassationshof, Urteil vom 15.9.1970, E. 327, K. 410, teilweise abgedruckt bei: Sancar, a.a.O., S. 130 (Fn. 198). 229 Kassationshof, Urteil vom 1.6.1977, E. 2025, K. 1952, teilweise abgedruckt bei: Özel, a.a.O., S. 83. 230 Siehe dazu die Anmerkungen zur Rechtswidrigkeit unter IV. m.w.N. 231 Koca, a.a.O., S. 586; Senkeri, a.a.O., S. 190 ff.; Sancar, a.a.O., S. 211 ff., 224 ff.
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der Kritik – ohne die Existenz und Daseinsberechtigung der Schutzobjekte zu bezweifeln – eine Diskussion über Nutzen, Zweckmäßigkeit und Richtigkeit der Maßnahmen der Schutzobjekte angestrebt232. Somit ergab sich ein RegelAusnahme-Verhältnis, nach dem grundsätzlich ein Recht auf harte Kritik bestehen sollte, dieses Recht aber nicht missbräuchlich angewandt werden durfte233.
b) Rechtsprechung Nach welchen Kriterien die Rechtsprechung Kritik und Tathandlung abgegrenzt haben könnte, ist unklar – was auch daran liegt, dass der Kassationshof sich in vielen Entscheidungen lediglich mit der Feststellung begnügte, ob die Tathandlung erfüllt oder nicht erfüllt wurde234. Das Vorliegen einer Beschimpfung und Verächtlichmachung der Sicherheitskräfte des Staates wurde etwa für folgende Aussagen angenommen: „Der Imperialismus und sein verlängerter Arm vor Ort, wie die [...] CIA, MIT, Konterguerilla oder geheime Ideologen-Nester usw. inszenieren gegen zivile Einrichtungen Morde und erzeugen Provokationen. Wir werden das Land weder für diese Impe235 rialisten noch für deren verlängerte Arme, diese Faschistenhunde, verlassen.“
Ebenso wurde eine Beschimpfung und Verächtlichmachung der Republik für die Veröffentlichung eines Zeitungsartikels angenommen, in dem es hieß, dass es in der Türkei keine Demokratie gebe und darum so viel darüber gesprochen werde. Tatsächlich aber werde die Demokratie vergewaltigt, Menschen gerieten aufgrund ihrer politischen Ansichten ins Gefängnis, würden gefoltert oder kämen zu Tode. Der Staat stehe hinter den Morden an 13 Journalisten, weshalb die Täter nicht verhaftet würden. Der Staat stehe auch hinter den Drohungen gegenüber Verteilern und Zeitungen und dem Inbrandsetzen von Autos. Im Namen der Demokratie werde eine Komödie gespielt und im Namen der Terrorbekämpfung jede Abscheulichkeit begangen236. Diese Beispiele zeigen, dass es in den für die Abgrenzung zwischen Tathandlung und Kritik relevanten Fällen auch zu Tatsachenbehauptungen kommen konnte, die weder erwiesen wahr noch erwiesen unwahr waren. In diesen Fällen scheint die Rechtsprechung auf 232 Özek, Türk Bas�n Hukuku, S. 149. S. auch: Koca, a.a.O., S. 587; Senkeri, a.a.O., S. 192. 233 Vgl. Koca, a.a.O., S. 602. Das Verfassungsrecht kannte seit den 1970er Jahre das Missbrauchsverbot von Grundrechten und -freiheiten; vgl. etwa Art. 14 Abs. 1 tVerf 1982: „Von den Grundrechten und -freiheiten dieser Verfassung darf keines gebraucht werden, um Aktivitäten mit dem Ziel zu entfalten, die unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk zu zerstören und die demokratische und laizistische Republik zu beseitigen.“ Eine solche Regelung wurde bereits mit einer Verfassungsänderung in Art. 11 Abs. 3 tVerf 1961 eingefügt; Hirsch, Verfassungsänderung in der Türkei 1971, S. 7 ff. 234 Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in der Türkei, S. 642. 235 Kassationshof, Urteil vom 26.11.1979, E. 1979/9–316, K. 1979/513, abgedruckt bei: Gündel, Hakaret Suçlar�, S. 107 ff. 236 Kassationshof, Urteil vom 16.5.1994, E. 2201, K. 2820, abgedruckt bei: Özel, �çtihatl� Türk Ceza Kanunu, S. 82. Siehe auch: Tellenbach, a.a.O., S. 643.
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die voraussichtliche Wirkung in der Öffentlichkeit abzustellen. Als vom Recht der Kritik gedeckt wurde beispielsweise ein Artikel bewertet, in dem der Regierung „aufgrund planloser und verfehlter Investitionen“ vorgeworfen wurde, eine „wirtschaftliche Misere“ herbeigeführt zu haben. In der Begründung wurde ausgeführt, dass der Artikel nicht geeignet gewesen sei, eine Verachtung und Geringschätzung der Leser gegenüber der Regierung herbeizuführen237.
3. Öffentlichkeit Obwohl die Vorbildvorschrift aus dem italienischen Strafgesetzbuch von 1889 die öffentliche Begehung vorschrieb, trat neben die Tathandlung des Art. 159 erst mit Gesetz Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 die Öffentlichkeit. Neben einer Ansicht, nach der die Öffentlichkeit im besonderen Teil des tStGB legal definiert worden sei238, existierten noch einige Ansätze, die, vom Gesetzestext losgelöst, unterschiedliche Kriterien zugrundelegten, um die öffentliche Begehung im Sinne des Art. 159 näher zu konkretisieren239. Nach der in der Rechtsprechung und der überwiegenden Lehrmeinung angenommenen Ansicht sollte für die Öffentlichkeit die Möglichkeit, dass mehrere die Tat wahrnehmen, genügen240, sodass nicht erforderlich war, dass jemand die Tathandlung tatsächlich wahrnahm241. Diese Möglichkeit sollte regelmäßig an öffentlichen, aber auch an privaten Orten vorliegen, nicht hingegen an solchen Orten, in denen eine solche Möglichkeit ausgeschlossen war242.
a) Pressemittel Bei der Begehung durch Pressemittel wurden für die öffentliche Begehung regelmäßig das Vorliegen von Druckerzeugnissen und die Verbreitung derselben vorausgesetzt243. Während Druckerzeugnisse aus Rundschreiben, Flugblättern, 237 Kassationshof, Urteil vom 23.3.1942, E. 68, K. 73, teilweise abgedruckt bei: Senkeri, a.a.O., S. 197 m.w.N. 238 K�yak, Ceza Kanunu Tatbikat�nda „Aleniyet“, S. 193. Art. 153 Abs. 4 regelte, dass die Tat als öffentlich im Sinne des Strafgesetzes gilt, wenn die Tat (1.) durch Druckwerke oder durch irgendein Propagandamittel, (2.) an einem öffentlichen oder allgemein zugänglichen Ort und von mehr als einer Person, (3.) in einer Versammlung, die im Hinblick auf den Ort, an dem sie stattfand, die Zahl der Teilnehmer oder ihren Gegenstand und Zweck keinen privaten Charakter trägt, begangen wurde. Siehe Tellenbach, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 78. Dagegen: Kassationshof, Urteil vom 25.9.1945, E. 2547, K. 2056, abgedruckt bei: Erem, Gerekçeli Türk Ceza Kanunu, S. 219; Ar�kan, Hakaret Suçlar�nda �htilat Ve Aleniyet, S. 4. 239 Zu diesen Ansätzen ausführlich: Senkeri, a.a.O., S. 210 ff.; Sancar, a.a.O., S. 172 ff. 240 Senkeri, a.a.O., S. 211 ff.; Koca, a.a.O., S. 598 ff.; Erman, Hakaret Ve Sövme Suçlar�, S. 207; vgl. auch: Ça�layan, a.a.O., S. 1170; Gözübüyük, a.a.O., S. 696. 241 Erman, Hükümetin Manevi �ahsiyeti, S. 283. 242 Sancar, a.a.O., S. 173 ff. 243 Senkeri, a.a.O., S. 217 ff.
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Artikeln oder Karikaturen in Zeitungen und jeder anderen Art von Schriften bestehen konnten244, wurde für die Verbreitung vorausgesetzt, dass die Druckerzeugnisse in Umlauf gelangen, also an für jedermann sichtbaren Orten zur Schau gestellt, an für jedermann zugänglichen Orten verteilt, angeboten, verkauft oder auch vorgelesen wurden245. Ohne die Verbreitung in dieser oder ähnlicher Form konnte keine Öffentlichkeit angenommen werden246.
b) Öffentliche und private Orte An öffentlichen Orten sollten Tathandlungen stets als öffentlich gelten, selbst wenn sie niemand wahrgenommen hat247. Dies war etwa nach der Rechtsprechung des Kassationshofes auf einem Acker, der sich am Rande einer öffentlichen Straße befand248 oder etwa an einer Bushaltestelle249 der Fall. Daneben sollten aber auch Orte existieren, die durch die vorgesehene Nutzung oder durch Zufall öffentlich werden250. An öffentlichen Orten durch die vorgesehene Nutzung konnten öffentliche Tathandlungen nur während der die Öffentlichkeit begründenden Umstände angenommen werden251. So nahm der Kassationshof die Öffentlichkeit in einem Prüfungszimmer nur während der Prüfungszeiten an und schloss sie für die Zeit danach und davor aus252. Entsprechendes galt für Orte, die zufällig öffentlich werden253, etwa in einem Fall, in dem die Tathandlung in einem Geschäft erfolgte, in dem zunächst keine Kunden waren, der sich aber alsbald mit Kunden füllte und diese Kunden von der Tathandlung Kenntnis nehmen konnten254.
244 Zusammenfassend: Senkeri, a.a.O., S. 217 f.; Kassationshof, Urteil vom 10.11.1976, E. 57, K. 57, bei: Gündel, a.a.O., 139. 245 Für diese Definition siehe: Senkeri, a.a.O., S. 218. Als Interpretationshilfe kann Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 5680 vom 24. Juli 1950, (das durch das Gesetz Nr. 5187 vom 9. Juni 2004 abgelöst wurde) dienen, in dem die Verbreitung gemäß Art. 2 lit. b) als die „Darbietung in der Öffentlichkeit auf jede beliebige Weise“ bestimmt wurde. 246 Kassationshof, Urteil vom 10.11.1976, E. 57, K. 57 (s.o.). 247 Allerdings war zu beachten, dass auch solche Orte existieren, die aufgrund ihrer Distanz zu dem Publikum nicht die Möglichkeit der Wahrnehmung bieten und daher eher wie private Orte zu behandeln waren; vgl. Senkeri, a.a.O., S. 221; Dönmezer, Genel Adap, S. 144 ff. 248 Kassationshof, Urteil vom 27.1.1958, E. 19275, K. 1151, bei: K�yak, a.a.O., S. 197. 249 Kassationshof, Urteil vom 5.12.1966, E. 276, K. 456, abgedruckt bei: Gözübüyük, a.a.O., S. 708 f. 250 Sancar, a.a.O., S. 173; Senkeri, a.a.O., S. 221 f.; Koca, a.a.O., S. 589 ff. 251 Senkeri, a.a.O., S. 221. 252 Kassationshof, Urteil vom 10.10.1979, E. 3885, K. 4107, abgedruckt bei: Gündel, a.a.O., S. 142. 253 Senkeri, a.a.O., S. 221 f. 254 Kassationshof, Urteil vom 24.2.1982, E. 820, K. 940, abgedr. bei: Gündel, a.a.O., S. 149.
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Neben den öffentlichen Orten, sollte auch an privaten Orten eine öffentliche Begehung möglich sein: Dies galt sowohl für an die Öffentlichkeit angrenzende Orte255 und für solche Orte, die mehreren gemeinschaftlich zugänglich waren256. Hiervon abzugrenzen waren private Orte, die geschlossen sind und weder an einen öffentlichen Ort angrenzen noch gemeinschaftlich sind. Von der Rechtsprechung wurde darauf abgestellt, ob die notwendigen Vorkehrungen getroffen wurden, die Privatheit zu gewährleisten: Wurde die Tathandlung von anwesenden „Dritten“ zur Kenntnis genommen, sollte – wenn keine Vorkehrungen getroffen wurden – eine öffentliche Begehung angenommen werden257.
c) Internet In jüngerer Zeit mussten sich Lehre und Rechtsprechung bei den die Öffentlichkeit voraussetzenden Ehrverletzungsdelikten mit der Frage auseinandersetzen, ob das Internet den Voraussetzungen der Öffentlichkeit genügt. Weder das tStGB 1926 noch andere, besondere Gesetze enthielten eindeutige Regelungen zu Tathandlungen, die durch das Internet begangen werden. In einer Entscheidung des Kassationshofes wurde jedoch angedeutet, dass eine öffentliche Begehung durch das Internet grundsätzlich möglich sein soll258. Auch in der Lehre forderten vereinzelte Stimmen die Anpassung der Dogmatik259. Die Ausarbeitung genauerer Kriterien, insbesondere die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Räumen auch im Internet, blieb jedoch aus.
IV. Rechtswidrigkeit Im Hinblick auf mögliche Rechtfertigungsgründe bildeten sich zu Art. 159 im Laufe der Zeit diverse Fallgruppen heraus, die im Schrifttum regelmäßig Erwähnung gefunden haben. Zu diesen besonderen Fallgruppen können im Rah255 Als an öffentliche Orte angrenzend, bewertete der Kassationshof etwa einen Garten, in dem die Tathandlung beim Aufhängen der Wäsche in einer Weise begangen wurde, die geeignet war von den Anwesenden in der Umgebung wahrgenommen zu werden: Kassationshof, Urteil vom 1.10.1958, E. 12839, K. 14209, abgedr. bei: K�yak, a.a.O., S. 197. 256 Beispielsweise wurde der Raum des Bürgermeisters, der innerhalb der Verwaltung mehreren gemeinschaftlich zugänglich war, als öffentlich gewertet: Kassationshof, Urteil vom 2.10.1957, E. 11213, K. 14864, abgedruckt bei: K�yak, a.a.O., S. 197. 257 So wurde etwa die Tathandlung, die zwar in einer privaten Wohnung, aber in Anwesenheit einer Hochzeitsgesellschaft begangen wurde, als öffentlich gewertet: Kassationshof, Urteil vom 16.4.1958, E. 3463, K. 6085, abgedr. bei: K�yak, a.a.O., S. 197. 258 Kassationshof, Urteil vom 25.10.2001, E. 1854, K. 2649, abgedruckt bei: Parlar / Hatipo�lu, Hakaret Suçlar�, S. 530 f, in der eine Verurteilung abgelehnt wurde, da ungeklärt geblieben sei, ob der Angeklagte – ein Mitarbeiter einer Internetgesellschaft – für die Überprüfung der Inhalte und ggf. für die Sperrung der betreffenden Seite zuständig gewesen sei. Dieser hatte zuvor den Dienst angeboten, auf einer Seite der Gesellschaft öffentliche Diskussionsforen einzurichten. In einem dieser von den Kunden eröffneten Foren kam es zu Beschimpfungen und Verächtlichmachungen staatlicher Einrichtungen. 259 Vgl. Özen, Hakaret Suçu ve �nternet Yoluyla ��lenmesi, S. 104 f.
Viertes Kapitel Art 145 und Art 159 tStGB 1926
V Schuld
kast özel kast animus iniuriandi
Senkeri Koca Sancar Senkeri Sancar Erem ¡
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Zweiter Teil Türkisches Recht
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Viertes Kapitel: Art. 145 und Art. 159 tStGB 1926
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sicht vorgelegen haben. Ferner sei daher schon die Bezeichnung dieses Vorsatzes als Absicht fehlerhaft.
VI. Versuch Da auch Art. 159 im zweiten Buch „Verbrechen“ aufgeführt ist, war der Versuch der in Art. 159 bezeichneten Taten nach Art. 61 strafbar. Wie Art. 145, konnte auch Art. 159 auf unterschiedliche Weise begangen werden. Die relevantesten Begehungsformen waren die schriftliche und mündliche. Und auch im Zusammenhang mit Art. 159 stellte sich die Frage nach der Aufteilbarkeit der Ausführungshandlungen, zu der man im Schrifttum die Ansicht vertrat, dass bei der mündlichen Begehung eine Aufteilbarkeit in mehrere Ausführungshandlungen nicht möglich sein sollte273. Koca schreibt: „Weil es sich um ein Tätigkeitsdelikt handelt, existiert im Hinblick auf mündliche Beschimpfungen und Verächtlichmachungen keine Möglichkeit des [...] Versuchs. Tatsächlich liegt entweder eine Aussage vor, die eine Beschimpfung und Verächtlichmachung darstellt oder nicht. Wenn ja, ist die Straftat vollendet und ein Versuch ausgeschlossen. Wenn nicht, liegt auch kein Beginn der Ausführungshandlungen vor, so dass auch hier vom Versuch nicht die Rede sein kann.“274
Lag die Aussage in Schriftform vor, sollte hingegen eine Aufteilung der Ausführungshandlungen in mehrere Etappen und daher auch der Versuch möglich sein275. Da die Tathandlung öffentlich begangen werden musste, bildete den Regelfall des „schriftlichen Versuchs“ die missglückte, d.h. unterbundene, etwa vereitelte Verbreitung einer die Beschimpfung und Verächtlichmachung der in Art. 159 bezeichneten Schutzobjekte beinhaltenden Schrift276. Problematisch wirkte sich jedoch eine Regelung aus dem Pressegesetz (dem Gesetz 277 Nr. 5680) vom 15. Juli 1950 aus . Dieses sah mit Art. 3 Abs. 3 vor, dass Pressedelikte nur mit der Verbreitung der tattauglichen Medien erfüllt werden können. Weil nun einige Stimmen im Schrifttum in der Verbreitung keine Strafbarkeitsvoraussetzung sahen, sondern eine Strafverfolgungsvoraussetzung, war für die Vertreter dieser Ansicht eine Aufteilung der Ausführungshandlungen nicht denkbar, weil hiernach die tattauglichen Medien entweder verbreitet oder nicht verbreitet sein konnten. Nach einer anderen Ansicht hingegen war in der Verbreitung im Sinne des 1950er Pressegesetzes eine Strafbarkeitsvoraussetzung zu sehen, so dass Ausführungshandlungen der Verbreitung denkbar sind und ein Versuch möglich ist. Dieser Streit hielt bis zur Ablösung des 273 Koca, a.a.O., S. 604; Sancar, a.a.O., S. 240; Senkeri, a.a.O., S. 226; Erman, Hükümetin Manevi �ahsiyeti, S. 284; Tosun, TCK’nun 159. Maddesi II, S. 241. Im Übrigen ergeben sich keine Unterschiede zu den Fällen des Art. 145, so dass auf obige Ausführungen, insbesondere auf die differenzierteren Betrachtungen des italienischen Schrifttums durch Erman verwiesen werden kann. Siehe oben: C) VI. 274 Koca, a.a.O., S. 604. 275 Koca, a.a.O., S. 604; Sancar, a.a.O., S. 240 ff.; Senkeri, a.a.O., S. 226 ff. 276 Koca, a.a.O., S. 604 ff.; Sancar, a.a.O., S. 240 ff.; Senkeri, a.a.O., S. 226 ff. 277 Hierzu und zu den folgenden Ausführungen des Absatzes siehe: Senkeri, a.a.O., S. 226 ff.; Sancar, a.a.O., S. 240 ff.
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1950er Pressegesetzes durch das neue Pressegesetz – dem Gesetz Nr. 5187 vom 9. Juni 2004 –, das keine vergleichbare Regelung wie die oben bezeichnete enthielt, an.
VII. Geschützte Rechtsgüter 1. Rechtsgüterauffassungen Über das geschützte Rechtsgut (korunan hukukî konu) bzw. über die geschützten Rechtsgüter des Art. 159 konnten sich unterschiedliche Auffassungen etablieren und wurden teilweise von der italienischen Lehre zur Vorbildvorschrift beeinflusst. Sie variieren je nach Auslegungsschwerpunkt. Denn da der Gesetzgeber die Rechtsgüter nicht ausdrücklich festgelegt hat, wurden unterschiedliche Ansatzpunkte herangezogen, um das geschützte Rechtsgut zu ermitteln. Es kann zwischen systematischen, tathandlungs- und schutzobjektsspezifischen Annäherungen unterschieden werden. Unter anderem wurden die Titelüberschriften zu Ansatzpunkten der Auslegung: Eine erste systematische Annäherung bringt der im Jahre 1936 abgeänderte Titel des ersten Kapitels „Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates“, in der auch Art. 159 erfasst ist: „Die Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates betreffen dem Grunde nach die Existenz, den Erhalt und hierdurch die Ordnung des Staates und schützen dem278 zufolge den Bestand und die Werte des Staates.“
Neben diesen allgemeinen Rechtsgütern, zu denen alle Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates (Artt. 125–173) Bezüge aufweisen, erfolgten nähere Bestimmungen zum Rechtsgut des Art. 159 insbesondere durch tathandlungsspezifische Auslegungen. Weil die in Art. 159 bezeichneten Schutzobjekte nicht beleidigungsfähig waren und die Tathandlung daher auch nicht in der Beleidigung, sondern in der Beschimpfung und Verächtlichmachung bestand, sollte nicht die Ehre Rechtsgut der Vorschrift sein279. Senkeri schreibt: „Das Rechtsgut bei der Straftat der Beschimpfung und Verächtlichmachung der Verfassungsorgane [...] ist, aufgrund der Bedeutung ihrer Funktionen, das ihnen 280 zukommende Ansehen [prestij].“
Diese nähere Bestimmung des Rechtsguts sollte jedoch nicht im Widerspruch mit der Auffassung stehen, die auf den Bestand des Staates abstellt: „Das Ansehen der Verfassungsorgane zu schützen, bedeutet die für die Organe erforderliche Autorität, die Achtung und hiermit die ‘Erforderlichkeit des Gehorsams’ gegenüber den Organen zu schützen. Das Rechtsgut hier sind aber nicht der Aufbau der Organe oder die Personen, die in diesen Organen Platz finden, sondern 281 es ist die sich aus der Gesamtheit der Organe ergebende ‘Existenz des Staates’.“ 278 279 280 281
Sancar, a.a.O., S. 64. Vgl. Rumpf, Ehre und Würde, S. 13. Senkeri, a.a.O., S. 30. Vgl. Rumpf, Ehre und Würde, S. 13. Ebd. Vgl. Rumpf, Ehre und Würde, S. 13.
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Das Ansehen des Staates ist spezieller als der Bestand des Staates, aber eine Ausdrucksform des Bestandsschutzes. Denn das Ansehen von Verfassungsorganen zu schützen, soll den Gehorsam gegenüber den Organen wahren und damit schon im Vorfeld die Staatsorganisation aufrecht erhalten: „In den ältesten Gesellschaften [...] war die Grundlage für den Gehorsam gegenüber der Herrschaft die Religion. Später waren es die Abstammung aus einer bestimmten Familie, in totalitären Staaten der Glaube an den Führer und an dessen Ideologie, die den Gehorsam aufrecht erhalten und das Ansehen [...] erzeugen konnten. In Demokratien hingegen wird die Herrschaft vom Volk abgeleitet [...] und durch ihr Ansehen, durch die Gunst, durch das Vertrauen der Bevölkerung und 282 durch ihre Ehrenhaftigkeit aufrechterhalten.“
Auch bei schutzobjektsspezifischen Betrachtungen wurde das Rechtsgut im Ansehen und Bestand des Staates gesehen. Je nach Schutzobjekt wich die Herleitung der Rechtsgüter jedoch ab. Denn das Türkentum war nicht Verfassungsorgan des Staates, dessen Funktionsausübung durch das Erzeugen von Gehorsam in der Bevölkerung gewahrt werden musste. Vielmehr war es eine abstrakte Größe, ein Wert (de�er) und hatte die Funktion, das Nationalgefühl (millî duygu) der Bevölkerung zu fördern und so den Bestand einer Nation, eines Staatsvolkes zu wahren, ohne deren Vorliegen auch das Vorliegen eines Staates zu verneinen wäre283. Die Republik entsprach weder als Staatsform noch als Staat selbst der Eigenschaft einer Staatseinrichtung. Das Ansehen des Staates oder der Staatsform zu schützen, sollte vielmehr im Vorfeld umstürzlerische Aktionen zu unterbinden versuchen284.
2. Ansehensschutz im Lichte des funktionellen Rahmens Weil das Ansehen der den Staat bildenden Einrichtungen und sonstigen Schutzobjekte des Art. 159 als Rechtsgut und somit als zugrundegelegte Auslegungshilfe ein weites Verständnis vom Anwendungsbereich der Vorschrift ermöglichen konnte, entstand zumindest in der Lehre ein Problembewusstsein über die Frage, wie man kritische Auseinandersetzungen der Bevölkerung mit den Schutzobjekten einerseits und die Rechtsgüterauffassung zur Vorschrift andererseits in ein Gleichgewicht bringt: So wurde von einer veralteten und an dem crimen laesae majestatis-Verständnis anknüpfenden Auffassung abgegrenzt, nach der die in Art. 159 bezeichneten Schutzobjekte heilig (kutsal) und unantastbar (dokunulmaz) sind, so dass grundsätzlich alle Handlungen, die sich gegen diesen Status richten, als rechtswidrig einzustufen waren285. Einer anderen Auffassung zufolge konnten bestimmte Tathandlungen allenfalls das An282 283 284 285
Sancar, a.a.O., S. 65. Senkeri, a.a.O., S. 62. Vgl. Rumpf, Ehre und Würde, S. 13 f. Senkeri, a.a.O., S. 66 ff. Hierunter fiel schon jede Form der Kritik Sancar, a.a.O., S. 67; Senkeri, a.a.O., S. 31 m.w.N.
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sehen der Schutzobjekte betreffen, und zwar nur dann, wenn sie beschimpfender Natur waren: Die Grenze des Erlaubten war demgemäß überschritten, wenn die Tathandlung etwa die Kritik das Ansehen der Schutzobjekte erschütterte und nachhaltig schmälerte286. Einer liberalen Auffassung zurfolge war an das Rechtsgüterverständnis ein zusätzliches Kriterium zu binden: „Nach einer dem demokratischen Verständnis entsprechenden Annäherung, ist der Ansehensschutz im Lichte des funktionellen Rahmens zu beurteilen [...]“287
Die Betroffenheit des funktionellen Rahmens als zusätzliches Kriterium erforderte, dass die Tathandlung nicht bloß das Ansehen des Schutzobjekts schmälert, sondern darüber hinaus auch die Ausübung seiner Funktion in Frage stellt und erschwert288. Dieses Kriterium betraf aufgrund der Natur der Limitierung jedoch vordergründig diejenigen Schutzobjekte, die als Staatseinrichtungen bestimmte zugewiesene Funktionen wahrnehmen (Große Nationalversammlung, Regierung, militärische Streitkräfte, Sicherheitskräfte und Justiz).
VIII. Verfolgungsstatistische Entwicklungen 1. Statistiken zum Zeitraum von 1935 bis 1962 160 140 120 100 80 60 40
Abb. 3: Verurteilungen nach Art. 159 von 1935 bis 1962289
286 287 288 289
Senkeri, a.a.O., S. 31 m.w.N. Sancar, a.a.O., S. 67; vgl. auch: Senkeri, a.a.O., S. 31 m.w.N. Sancar, a.a.O., S. 67 f.; siehe auch: Senkeri, a.a.O:, S. 31 f. Siehe auch Anhang Nr. 1.
1961
1959
1957
1955
1953
1951
1949
1947
1945
1943
1941
1939
1937
0
1935
20
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Mit einer durchschnittlichen Verurteilungsquote von über 82 Verurteilungen pro Jahr im Zeitraum von 1935 bis 1962 ist deutlich zu erkennen, dass Art. 159 eine höhere Relevanz aufwies als Art. 145. Im Verlauf der jährlichen Verurteilungen sind mit den Jahren 1937 und 1948 zwei Zeitpunkte erkennbar, seit denen die Verurteiltenzahlen gegenüber den Vorjahren angestiegen sind. Im Hinblick auf den Anstieg seit 1937 muss berücksichtigt werden, dass Art. 159 mit der Rocco-Angleichung in den Jahren 1936 und 1938 um drei Schutzobjekte erweitert worden war und dadurch der Anwendungsbereich der Vorschrift deutlich erweitert wurde. Ein ähnliches Bild zeichnet sich im Zusammenhang mit dem Anstieg der Verurteiltenzahlen seit 1948 ab: Auch hier wurde die Vorschrift zwei Jahre zuvor durch die Aufnahme von drei neuen Schutzobjekten und der Strafbarkeit für die nicht eindeutigen Begehungen der in Art. 159 Abs. 1 bezeichneten Tathandlungen erweitert.
2. Statistiken zum Zeitraum von 1986 bis 2005 700
600
500
400
300
200
2005
2004
2003
2002
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Abb. 4: Anklagen (l.), Verurteilungen (m.l.), Freisprüche (m.r.) und 290 Einstellungen (r.) nach Art. 159 von 1986 (bzw. 1994) bis 2005
Im Zeitraum von 1986 bis 2005 sind deutliche Schwankungen in den Anklagezahlen erkennbar. Dies gilt insbesondere für die Zunahme der Anklagen in den Jahren 1993 bis 1996 und im Jahr 2001 um teilweise mehr als das Doppelte der Vorjahre. Während im Zeitraum 1986 bis 1992 durchschnittlich knapp 194 Anklagen pro Jahr erhoben wurden, erhöhte sich das Anklageniveau im Zeitraum von 1993 bis 1996 auf durchschnittlich 535 Anklagen jährlich. Mit 290 Siehe auch Anhang Nr. 1.
100
Zweiter Teil: Türkisches Recht
Ausnahme von 2001, verringerte sich das Anklageniveau nach 1996 deutlich, blieb aber von 1997 bis 2005 mit 355 Anklagen pro Jahr noch immer über dem Durchschnitt des Zeitraums von 1986 bis 1992. Dem hohen Verurteilungsniveau um die Jahre 1994 bis 1996 von knapp 157 Verurteilungen folgten einige Jahre mit niedrigeren, aber konstant zunehmenden Verurteilungen bis schließlich in den Jahren 2004 und 2005 das Niveau der Jahre 1994 bis 1996 überschritten wurde. Im Zeitraum von 1994 bis 2005 ergingen durchschnittlich über 131 Verurteilungen im Jahr291. Abgesehen vom Jahr 1999 – hier gab es 101 Einstellungen – wurde nach Art. 159 selten eingestellt. Mit Ausnahme von 1995, 1996 und 2005 war die Zahl der Freisprüche stets höher als die Zahl der Verurteilungen.
291 Ausgenommen ist das Jahr 2002, zu dem keine Verurteilungszahlen vorliegen.
Fünftes Kapitel: Art. 300 und Art. 301 tStGB 2004 A) Zur Darstellung Im neuen Strafgesetzbuch bilden die Artt. 300, 301 die direkten Nachfolger der Artt. 145, 159. Im Gegensatz zum vorherigen Kapitel, wird im Folgenden die subjektive Seite der Tat nicht unter dem Abschnitt „Schuld“, sondern nach den Schutzobjekten und der Tathandlung erläutert, weil im tStGB 2004 der Vorsatz nicht länger als Schuldform betrachtet wird.
B) Systematik der Ehrverletzungstatbestände Auch die Systematik des tStGB 2004 lässt eine Unterteilung in allgemeine und besondere Ehrverletzungstatbestände zu1. Die allgemeinen Ehrverletzungstatbestände (Artt. 125 ff.) sind im achten Kapitel des Zweiten Teiles („Straftaten gegen Personen“) unter dem Titel „Straftaten gegen die Ehre“ aufgeführt und bestehen aus der üblen Nachrede (hakaret) und der Beleidigung (sövme). Als besondere Ehrverletzungstatbestände können – wie schon im tStGB 1926 – diejenigen Straftatbestände aufgefasst werden, die über die Ehre des Einzelnen hinaus auch dem Schutz anderer Rechtsgüter dienen2. Zu ihnen zählen unter anderem die Beschimpfung von einzelnen Gruppen der Bevölkerung (Art. 216 Abs. 2), die Beleidigung des Präsidenten der Republik (Art. 299), die Verunglimpfung der Fahne eines ausländischen Staates (Art. 341) und ebenfalls Art. 300 und Art. 301 als Nachfolger der Artt. 145, 159, die schon im tStGB 1926 als besondere Ehrverletzungstatbestände eingeordnet wurden3. Während die besonderen Ehrverletzungstatbestände im tStGB 1926 aber den allgemeinen vorgeordnet waren, finden im tStGB 2004 die allgemeinen Ehrverletzungstatbestände vor den besonderen ihren Platz. Diese „örtliche“ Vorverlagerung kann als Ausdruck für eine stärkere gesetzgeberische Gewichtung der Individualehre bzw. der Nachrangigkeit des Kollektivschutzes betrachtet werden4. Bei den besonderen Ehrverletzungstatbeständen, die nicht ehrverletzende 1 2 3 4
Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht der Türkei, S. 625 f.; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 15; Artuk / Gökcen / Yenidünya, Ceza Hukuku Özel Hükümler, S. 1037. Tellenbach, a.a.O., S. 626; Çetin, a.a.O., S. 15. Erman, Hakaret Ve Sövme Suçlar�, S. 3. Tellenbach, a.a.O., S. 626; Çetin, a.a.O., S. 125 ff.; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 1037. Wie oben ausgeführt, wird der Lehre von den Rechtsgütern u.a. die Funktion der Klassifizierung (s�n�fland�rma) zugesprochen. Die örtliche Einordnung von Rechtsgütern kann Aufschluss über den durch den Gesetzgeber zugesprochenen Stellenwert geben. Siehe: Toroslu, Suçun Hukukî Konusu, S. 286 ff.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
oder ehrgefährdende Tathandlungen gegen natürliche Personen, sondern gegen Einrichtungen und Institutionen bzw. Werten zum Gegenstand haben, besteht die Tathandlung in der Herabsetzung (a�a��lama) der Schutzobjekte. Der Gesetzgeber erklärt dies folgendermaßen: „Weil die Beleidigung ausschließlich gegenüber natürlichen Personen verübt werden kann, ist [...] bei verschiedenen Tatbeständen, die sich auf Einrichtungen oder 5 Institutionen beziehen, von der ‘Herabsetzung’ die Rede.“
Das bedeutet, dass auch im tStGB 2004 bei nicht beleidigungsfähigen Schutzobjekten, also bei Einrichtungen, Institutionen, Hoheitszeichen, ideellen Werten und Ähnlichem nicht die einfache Beleidigung, sondern die Herabsetzung die Tathandlung bildet und so – wie schon Erman schreibt6 – die sonst erforderliche Verletzung der inneren Würde umgeht.
C) Der Schutz der türkischen Fahne, des Unabhängigkeitsmarsches und anderer Hoheitszeichen nach Art. 300 Der neue Art. 300 befindet sich im dritten Teil des Strafgesetzbuches unter dem Titel „Straftaten gegen das Ansehen der Hoheitszeichen und Organe des Staates“ und trägt die eigene Überschrift „Herabsetzung staatlicher Hoheitszeichen“. Die Vorschrift lautet: „(1) Wer die türkische Fahne durch Zerreißen, Verbrennen oder auf andere Weise öffentlich herabsetzt, wird mit einem Jahr bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Diese Vorschrift wird auf jedes Zeichen angewendet, das die Merkmale der in der Verfassung beschriebenen roten Fahne mit weißem Mond und weißem Stern trägt und als Hoheitszeichen der Türkischen Republik verwendet wird. (2) Wer den Unabhängigkeitsmarsch öffentlich herabsetzt, wird mit zwei Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. (3) Werden die Straftaten dieses Artikels von einem türkischen Staatsangehörigen im Ausland begangen, so wird die Strafe um ein Drittel erhöht.“7
Während die letzte geltende Fassung des Art. 145 tStGB 1926 aus insgesamt vier Absätzen bestand, umfasst Art. 300 tStGB 2004 drei Absätze. Der Nachfolger verzichtet so einerseits auf die Legaldefinition des Art. 145 für die türkische Fahne (Abs. 2) und andererseits auf die Gleichsetzung der türkischen Fahne mit auf irgendeinem Gegenstand befindlichen Nationalfarben (Abs. 3). 5 6 7
5759 say�l� kanunun Madde Gerekçeleri, S. 2. Hinw. bei: Derdiman, 301. Maddenin De�i�iklerin Hukukî Ve Siyasî Sonuçlar�, S. 4 (Fn. 18). Vgl. Erman, a.a.O., S. 1 ff. Siehe oben: Viertes Kapitel, B) Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 190. Tellenbach verwendet anstelle des Begriffes der „Herabsetzung“ die Verunglimpfung. Sowohl Art. 300 als auch Art. 301 pönalisieren jedoch die Herabsetzung (a�a��lama). Dies ist m.E. daher auch hier der naheliegendere Begriff. Sie kommt auch dem Vorläufer (Art. 145 tStGB 1926) näher, der die Herabwürdigung (tezlil) unter Strafe stellte.
Fünftes Kapitel: Art. 300 und Art. 301 tStGB 2004
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Beibehalten wurde hingegen der Schutz der türkischen Fahne und der sonstigen Zeichen in der im Absatz 1 beschriebenen Art, nicht jedoch vor Herabwürdigungen (tezlil) sondern vor öffentlichen Herabsetzungen (alenen a�a��lama). Einen wichtigen Unterschied zum Vorgänger bildet zudem die Aufnahme des Unabhängigkeitsmarsches als eigenständiges Schutzobjekt, das nunmehr ebenfalls vor öffentlichen Herabsetzungen geschützt werden soll. Dieser eigene Straftatbestand wurde zudem mit einem eigenen Strafrahmen bedacht. Während so bei der Begehung nach Abs. 1 der Strafrahmen des Art. 300 – wie schon bei Art. 145 – von einem Jahr bis zu drei Jahren beträgt, ist bei der öffentlichen Herabsetzung des Unabhängigkeitsmarsches nach Abs. 2 ein Strafrahmen von zwei Monaten bis zu zwei Jahren vorgesehen. Die Strafschärfung um ein Drittel bei Begehung im Ausland bleibt erhalten.
I. Tatbestandsmäßigkeit 1. Schutzobjekte a) Türkische Fahne und Hoheitszeichen Nachdem Art. 300 keine Legaldefinition mehr für die türkische Fahne enthält, stellt sich die Frage nach einer näheren Eingrenzung. Aufschluss gibt die amtliche Begründung: „Unter der türkischen Fahne wird – wie Absatz 2 des dritten Artikels der Verfassung bestimmt – die durch Gesetz näher zu bestimmende ‘rote Flagge mit weißem 8 Halbmond und Stern’ verstanden.“
Die Bezugnahme auf die nähere gesetzliche Bestimmung zielt auf das Gesetz Nr. 2893 vom 24. September 1983 ab. Dort ist geregelt, dass die türkische Fahne den dort festgelegten Maßen und Größenverhältnissen entsprechend aus einer „roten Flagge mit weißen Halbmond und Stern“ besteht, d.h. der verfassungsrechtlichen Vorgabe entspricht. Neben der türkischen Fahne regelt Art. 300 Abs. 1 S. 2, dass die Vorschrift auf jedes Zeichen angewendet werden soll, das die Merkmale der in der Verfassung beschriebenen roten Fahne mit weißem Mond und weißem Stern trägt und als Hoheitszeichen der Türkischen Republik verwendet wird9. Im Hinblick auf die türkische Fahne wird so die Frage aufgeworfen, ob nur als Hoheitszeichen verwendete Fahnen „türkische Fahnen“ im Sinne des Art. 300 darstellen, ob also das Schutzobjekt „türkische Fahne“ bloß eines der in Abs. 1 S. 2 bezeichneten „Zeichen“ ist. Die Relevanz dieser Frage ergibt sich aus der Tatsache, dass die Legaldefinition des Vorläu8 9
Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri, S. 285. Dies wurde als zu unbestimmt kritisiert: Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler6, S. 575; Tarhan, Hakaret Suçlar�, S. 563. Soyaslan möchte bei den Hoheitszeichen auch Geldscheine umfasst verstehen. Dies widerspricht aber schon der Rechtsprechung des Vorläufers. Siehe oben: Viertes Kapitel C) II. 2.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
fers die türkische Fahne neben der amtlichen Fahne als jegliche mit den Nationalfarben geschmückte Fahne bestimmte und somit die amtliche Verwendung als Hoheitszeichen nicht voraussetzte. Aufschluss auch über diese Frage gibt wohl die amtliche Begründung: „Jedoch sollen – neben der türkischen Fahne – auch alle Arten der Zeichen, die die in der Verfassung beschriebenen Eigenschaften der türkischen Flagge mit weißem Halbmond und Stern tragen und als Zeichen der Türkischen Republik verwendet werden, vom Straftatbestand umfasst sein.“10
Danach wird die Verwendung der türkischen Fahne als Hoheitszeichen nicht vorausgesetzt11. Dies entspricht einerseits der Systematik der Vorschrift, die sonst nicht zwischen der türkischen Fahne und den sonstigen Zeichen hätte unterscheiden müssen und weicht andererseits auch nicht von den Vorgaben des Vorläufers ab. Im Gegensatz zu Art. 145, der für die sonstigen Hoheitszeichen keine näheren Merkmale voraussetzte, stellt Art. 300 Abs. 1 S. 2 aber klar, dass die Zeichen die in der Verfassung bezeichnete rote Flagge mit weißem Halbmond und Stern tragen müssen und schränkt den Anwendungsbereich der Vorschrift somit ein12. Dies wird noch dadurch bestärkt, dass die Gleichsetzung aller sonstigen Gegenstände mit den sonstigen Hoheitszeichen, wie sie in Art. 145 erfolgte13, in dem Nachfolger keine Entsprechung mehr gefunden hat. Hierdurch schließt die Vorschrift – außer in den Fällen, in denen die türkische Fahne die Angriffsfläche bildet – private Gegenstände aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift aus14.
b) Unabhängigkeitsmarsch Durch die Ausklammerung der Zeichen ohne rote Flagge und den weißen Halbmond und Stern ist der Anwendungsbereich der Vorschrift eingeschränkt worden. Auch der Unabhängigkeitsmarsch (�stiklal Mar��) – die Nationalhymne der Türkischen Republik –, der nach der Rechtsprechung des Kassationshofes zu den sonstigen Hoheitszeichen im Sinne des Art. 145 hinzuzuzählen war15, kann nach der Konzeption des Art. 300 Abs. 1 nicht länger erfasst sein. 10 11 12 13 14
15
(Hervorhebungen diesseits) Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri, S. 285. Vgl. Parlar / Hatipo�lu, Hakaret Suçlar�, S. 466 f. Vgl. Çetin, a.a.O., S. 139; Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 466; Tarhan, a.a.O., S. 562. Vgl. die Formulierung „die sich auf irgendeinen Gegenstand befindenden Nationalfarben“; Tellenbach, Das Türkische Strafgesetzbuch, S. 74. Auch Parlar / Hatipo�lu schreiben, dass die Zeichen als Hoheitszeichen verwendet werden müssen, wollen aber keinen Unterschied machen, ob das Zeichen behördlich oder von privater Seite angebracht wurde. Dies ist m.E. inkonsequent und steht im Widerspruch zur Systematik, Wortlaut und Gesetzesbegründung, a.a.O., S. 466 f. Kassationshof, Urteil vom 21.2.1983, E. 4/565, K.77, abgedruckt bei: Çetin, a.a.O., S. 141 f.; Yarg�tay Kararlar Dergisi 1983, 757 ff. Siehe auch: Kurt, Terör Suçlar�, S. 83. Dagegen: Erem, Ceza Hukukunda Türk Bayra��, S. 117; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1057; ders., Bayra�a Hakaret, S. 969.
Fünftes Kapitel: Art. 300 und Art. 301 tStGB 2004
105
Daher verwundert es nicht, dass der Schutz des Unabhängigkeitsmarsches eine eigenständige Regelung erfuhr.
2. Tathandlung a) Herabsetzung Während Art. 145 als Tathandlung die Herabwürdigung (tezlil) – etwa durch Abreißen, Zerreißen oder Beschädigen – voraussetzte, verlangt die Nachfolgevorschrift die Herabsetzung (a�a��lama) der Schutzobjekte. In der amtlichen Begründung wurde darauf hingewiesen, dass das „Zerreißen“ und „Verbrennen“, von denen in der Vorschrift die Rede ist, „Beispiele zur Verwirklichung“ darstellen16. Daher ist jede Handlung – ob durch Worte oder Schriften –, die herabsetzend ist, vom Anwendungsbereich der Vorschrift umfasst. So kann die Tathandlung beispielsweise auch dadurch erfüllt werden, dass über das jeweilige Schutzobjekt getrampelt wird, dieses mit herabsetzenden Parolen beschmiert wird oder die Fahne in Bildern auf herabsetzende Weise dargestellt oder beschimpft wird17. Dieses Verständnis der Tathandlung ist in einem erheblichen Maße von der Dogmatik zum Art. 145 beeinflusst. Auch dort wurde im Schrifttum betont, dass es einerseits keine besondere Handlungsform für die Herabwürdigung der Schutzobjekte gebe, die Tathandlung also durch Worte, Schriften oder sonstige Weise erfüllt werden könne18. Andererseits wurde angemerkt, dass die Tathandlung eine weite Auslegung verlangt19. So nah die Angaben zur Tathandlung des Art. 300 zu derjenigen des Art. 145 aber sein mögen, muss doch festgestellt werden, dass der Gesetzgeber eine andere begriffliche Umschreibung verwendet, so dass die Frage aufgeworfen wird, ob ein Unterschied zum Vorläufer besteht: Weil die begriffliche Umschreibung zur Herabsetzung – a�a��lama – ein in der türkischen Sprache häufig verwendetes Wort ist und insgesamt geläufiger ist als die begriffliche Umschreibung der Tathandlung des Art. 145 – tezlil –, das ein osmanisch-türkisches Wort darstellt20, könnte davon ausgegangen werden, dass die Verwendung einer neuen Begrifflichkeit bloß auf das Ziel des Gesetzgebers zurückzuführen ist, mit dem neuen Strafgesetzbuch eine klarere Sprache zu verwenden und den Ge21 setzestext der Gesellschaft verständlicher zu machen . Hierfür spricht, dass im Schrifttum noch immer diejenige Rechtsprechung des Kassationshofes aufgeführt wird, die 16 17 18 19 20 21
Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri, S. 285. Çetin, a.a.O., S. 140; Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 468; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler6, S. 575. Kassationshof, Urteil vom 11.3.1953, E. 1401, K. 2603, abgedruckt bei: Gözübüyük, Türk Ceza Kanunun Aç�lamas�, Bd. 2, S. 649. Siehe ferner: Erem, a.a.O., S. 118; Kurt, a.a.O., S. 83. Erem, a.a.O., S. 118; vgl. Kurt, a.a.O:, S. 83; für Art. 300 des tStGB 2004: Parlar / Hatipo�lu, Hakaret Suçlar�, S. 468. Vgl. Devellio�lu, Osmanl�ca – Türkçe Ansiklopedik Lûgat, S. 1289. Vgl. hierzu allgemein: Centel, Kritische Betrachtungen zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, S. 44.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
sich mit der Tathandlung des Art. 145 beschäftigt22. Dagegen spricht, dass die Anklagen und Verurteilungen nach Art. 300 gegenüber dem Vorläufer deutlich zugenommen haben – und dies, obwohl mit der nunmehr erforderlichen Öffentlichkeit eine tatbestandliche Hürde hinzugetreten ist.
b) Öffentlichkeit Während Art. 145 seit 1936 keine öffentliche Begehung mehr voraussetzte, entschied sich der Gesetzgeber, im Hinblick auf die Tathandlung des Art. 300 die Öffentlichkeit zu verlangen. Hierdurch verengt sich der Anwendungsbereich der Vorschrift. Für die Öffentlichkeit wird verlangt, dass die Tat an einem Ort begangen wird, an dem mehrere sie wahrnehmen können23. So wird wohl die Dogmatik zur inhaltlichen Bestimmung der strafrechtlichen Öffentlichkeit im Geltungsbereich des tStGB 1926 auch nach Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches weiter bestehen. Das bedeutet, dass Rechtsprechung und Lehre auf die Möglichkeit, dass mehrere die Tat wahrnehmen24, abstellen werden25, sodass nicht erforderlich sein wird, dass die Tat tatsächlich wahrgenommen wird26. Dies ist bei der Begehung durch Pressemittel nach wie vor möglich. Inwieweit Rechtsprechung und Lehre das Internet als taugliches Medium für die öffentliche Herabsetzung beurteilen und genauere Kriterien aufstellen werden, bleibt abzuwarten. Denn auch das tStGB 2004 enthält keine Regelung, die Tathandlungen im Internet im Hinblick auf die Öffentlichkeit qualifiziert27. Dies gilt auch für etwaige Nebengesetze.
3. Vorsatz Auf subjektiver Seite wird der Vorsatz vorausgesetzt28. Der Täter muss also wissen, dass er die türkische Fahne, ein in Abs. 1 S. 2 bezeichnetes Zeichen oder den Unabhängigkeitsmarsch öffentlich herabsetzt, und dies auch wollen. Während Art. 145 aber neben dem Vorsatz auch die besondere, über den Vorsatz hinausgehende Absicht der Beschimpfung verlangte29, verzichtete der Gesetzgeber im Art. 300 auf die Aufnahme einer entsprechenden Formulierung, so dass der einfache Vorsatz als subjektives Element ausreicht, um eine Bege22 23 24
25 26 27 28 29
Siehe etwa: Çetin, a.a.O., S. 140 ff.; Tarhan, a.a.O., S. 564 ff. Çetin, a.a.O., S. 140; Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 460 f.; Soyaslan, a.a.O., S. 575. Senkeri, Tahkir Ve Tezyif Cürümleri, S. 209 ff.; zu verschiedenen Entscheidungen des Kassationshofes siehe zusammenfassend: K�yak, Ceza Kanunu Tatbikat�nda „Aleniyet“, S. 197; Erman, Hakaret Ve Sövme Suçlar�, S. 207; Artuk / Gökcen / Yenidünya, Türk Ceza Kanunu �erhi, Bd. 5, S. 5642. Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 468. Erman, Hükümetin Manevi �ahsiyeti, S. 283. Kritisch: Özen, Hakaret Suçu ve �nternet Yoluyla ��lenmesi, S. 104 f. Çetin, a.a.O., S. 140; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5651; dies., a.a.O., S. 1054; Soyaslan, a.a.O., S. 575; Tarhan, a.a.O., S. 563. Siehe oben: Viertes Kapitel, C) V.
Fünftes Kapitel: Art. 300 und Art. 301 tStGB 2004
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hung der Straftat anzunehmen30. Da Art. 300 keine wissentliche Begehung voraussetzt, genügt ferner schon Eventualvorsatz. Nach Art. 21 Abs. 2 S. 1 braucht der Täter die Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes nicht zu wollen31. Er muss aber vorhersehen, dass die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes, also im Hinblick auf Art. 300 die Herabsetzung der türkischen Fahne, ein in Abs. 1 S. 2 bezeichnetes Zeichen oder des Unabhängigkeitsmarsches verwirklicht werden und trotz dieser Kenntnis die Tat begehen.
II. Rechtswidrigkeit Die Rechtswidrigkeit des Art. 300 erfordert die Berücksichtigung zweier Besonderheiten. Zum einen stellt sich die Frage, ob die Rechtspraxis zum Art. 145 diejenigen Tathandlungen, die einen kritischen Umgang mit der türkischen Fahne oder den sonstigen Hoheitszeichen beinhalteten, innerhalb der Beschimpfungsabsicht zu würdigen, weiterhin Bestand haben kann. Denn wie festgestellt worden ist, sieht auch Art. 300 keine besondere Begehungsform vor, so dass die Tathandlung weiterhin mündlich, schriftlich oder durch physische Angriffe erfüllt werden kann. Daher ist denkbar, dass etwa ein mündlicher Angriff auf die türkische Fahne eine zwar herabsetzende, aber Kritik enthaltende Tathandlung darstellen kann. Im Gegensatz zu Art. 145 sieht Art. 300 jedoch keine Beschimpfungsabsicht vor und so wird die rechtliche Würdigung von Fällen dieser Art nicht länger innerhalb der Frage diskutiert werden können, ob der Täter mit der Absicht der Beschimpfung gehandelt hat oder vordergründig Kritik üben wollte. Eine alternative Würdigung wird aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Ebene der Rechtswidrigkeit erfolgen. Eine in diese Richtung tendierende höchstrichterliche Rechtsprechung ist jedoch noch abzuwarten.
III. Versuch Weil Art. 300 – ebenso wie Art. 145 – keine besondere Begehungsform voraussetzt, also sowohl mündlich als auch in der beispielhaft aufgezeigten Form (Zerreißen, Verbrennen oder auf andere Weise) erfüllt werden kann, ergibt sich kein Unterschied zum Vorläufer. Entscheidend ist, ob die Ausführungshandlungen in mehrere Etappen aufgeteilt werden können.
IV. Geschützte Rechtsgüter Auch im Hinblick auf die geschützten Rechtsgüter der Vorschrift ergeben sich gegenüber Art. 145 keine Unterschiede: Sie bestehen weiterhin in den von den 30 31
Çetin, a.a.O., S. 140. Roxin / Isfen, Der Allgemeine Teil des neuen türkischen Strafgesetzbuches, S. 234; Sözüer, Das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 19; ders., Die Reform des türkischen Strafrechts, S. 721; Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 6 (Fn. 22).
108
Zweiter Teil: Türkisches Recht
Hoheitszeichen verkörperten ideellen Werten (manevi de�erlerin prestiji) und dem Nationalgefühl des Volkes (millî duygu)32.
V. Verfolgungsstatistische Entwicklungen 250 200 150 100 50 0
2006
2007
2008
2009
2010
2011
Abb. 5: Anklagen (l.), Verurteilungen (m.l.), Freisprüche (m.r.) 33 und andere Entscheidungen (r.) nach Art. 300 von 2006 bis 2011
Gegenüber dem Vorläufer aus dem tStGB 1926 weist Art. 300 eine höhere Relevanz auf. Während nach Art. 145 im Zeitraum von 1986 bis 2005 durchschnittlich knapp 21 Anklagen jährlich erhoben wurden, steigen die Zahlen des Art. 300 von 2006 bis 2011 auf durchschnittlich mehr als 133 Anklagen pro Jahr an. Während die höchsten bekannten Anklagezahlen zu Art. 145 aus 41 Anklagen im Jahr 1986 bestanden, wird dieser Wert bei Art. 300 bis 2011 in jedem Anwendungsjahr überschritten. Besonders dramatisch äußert sich dies ab 2009. Während ferner von 1994 bis 2005 durchschnittlich 6 Verurteilungen pro Jahr ergingen, wurde nach Art. 300 von 2006 bis 2011 durchschnittlich mehr als 30 Mal jährlich verurteilt. 2006 und 2007 ergingen mehr Verurteilungen als Freisprüche. Die Einstellungen lassen sich nur anhand der Zahlen der „anderen“ Entscheidungen schätzen und sind daher unbekannt. Die gesteigerte Relevanz der Vorschrift kann teilweise als Ausdruck der tatbestandlichen Entwicklung von Art. 300 aufgefasst werden. Wie bereits ausgeführt wurde, war der neben die „alten“ Schutzobjekte hinzutretende Unabhängigkeitsmarsch (Abs. 2) zwar schon von der Rechtsprechung zu Art. 145 als sonstiges Hoheitszeichen anerkannt34. Jedoch verlangt die Vorschrift nicht länger eine Beschimpfungsabsicht; nun genügt bereits der Eventualvorsatz. An diesen erweiternden Tendenzen kann offenbar auch die Voraussetzung der öffentlichen Begehung nichts ändern. 32 33 34
Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 466; Çetin, a.a.O., S. 138. Vgl. Tarhan, a.a.O., S. 561 f. Siehe Anhang Nr. 1. Siehe oben: Viertes Kapitel, C) II. 2.
Fünftes Kapitel: Art. 300 und Art. 301 tStGB 2004
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D) Der Schutz der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und staatlicher Einrichtungen nach Art. 301 I. Erstfassung und Fassung von 2008 1. Erstfassung Als direkter Nachfolger von Art. 159 befindet sich die Erstfassung des Art. 301 im Titel „Straftaten gegen das Ansehen der Hoheitszeichen und Organe des Staates“ und trägt die eigene Überschrift „Herabsetzung des Türkentums, der Republik, der staatlichen Institutionen und Organe“. Sie lautet: „(1) Wer das Türkentum, die Republik oder die Große Nationalversammlung der Türkei öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. (2) Wer die Regierung der Türkischen Republik, die staatlichen Justizorgane, die staatlichen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. (3) Ist die Herabsetzung des Türkentums von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um ein Drittel erhöht. (4) Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind, stellen keine Straftat dar.“
In dieser Erstfassung bestand Art. 301 aus insgesamt vier Absätzen, in denen die gleiche Tathandlung zwecks Aufnahme unterschiedlicher Strafrahmen in Abs. 1 und Abs. 2 aufgeteilt wurde. Hierbei erhielt Abs. 1 im Vergleich zum Strafrahmen der letzten Fassung des Vorläufers eine niedrigere Untergrenze – also anstelle von Gefängnis von einem Jahr bis zu drei Jahren wie noch im Art. 159, Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren. Für die Schutzobjekte im Abs. 2, die vor der gleichen Tathandlung geschützt sind, wurde im Vergleich zum Vorläufer sowohl die Untergrenze als auch die Obergrenze herabgesetzt. So beträgt der Strafrahmen nunmehr Gefängnis von sechs Monaten bis zu zwei Jahren. Diese Entschärfung im Strafrahmen entspricht der einhergehenden, allgemeinen Tendenz in der EU-Harmonisierungsphase, deren Entwicklungen sich schon bei der Gesetzgebung zum Art. 159 von 2002 und 2003 abzeichneten. Im Rahmen dieser Entwicklung bewegt sich auch der Umstand, dass die Strafbarkeit nach Art. 159 auch für „verdeckte“ Taten35 einerseits und die Schutzobjekte Gesetze der Großen Nationalversammlung und Beschlüsse der Großen Nationalversammlung und die Ministerien andererseits in Art. 301 nicht übernommen wurden. Einige der erhaltenen Schutzobjekte wurden umformuliert. So treten an die Stelle der ideellen Persönlichkeit der Regierung bzw. Justiz, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane. Während aber Art. 159 die öffentliche Beschimpfung und Verächt35
Seit Gesetz Nr. 4956 vom 20. September 1946. Siehe oben: Viertes Kapitel, D) I. 3 f.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
lichmachung der jeweiligen Schutzobjekte als Tathandlung enthielt, stellt der Nachfolger die öffentliche Herabsetzung unter Strafe und damit insgesamt eine Tathandlung, die weiter ist, als diejenige des Vorläufers. Das bedeutet, dass sich im Hinblick auf die Tathandlung eine der allgemeinen Entwicklung gegenläufige Tendenz abgezeichnet hat. Erhalten geblieben war der Strafschärfungsgrund für den Angriff auf das Türkentum im Ausland und die – im Hinblick auf die Formulierung vereinfachte – Feststellung des Gesetzgebers, dass Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind, keine Straftat darstellen.
2. Fassung von 2008 Schon wenige Jahre nach Inkrafttreten des tStGB 2004 wurde Art. 301 mit Gesetz Nr. 5759 vom 30. April 2008 abgeändert36. In dieser bis heute geltenden Fassung mit der Überschrift „Herabsetzung der türkischen Nation, des Staates der Türkischen Republik, der staatlichen Institutionen und Organe“ lautet Art. 301: „(1) Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. (2) Wer die staatlichen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte öffentlich herabsetzt, wird gemäß Abs. 1 bestraft. (3) Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind, stellen keine Straftat dar. (4) Strafrechtliche Ermittlungen wegen dieser Tat hängen von der Ermächtigung 37 des Justizministers ab.“
Die Aufteilung der Schutzobjekte in Abs. 1 und Abs. 2, die in der Erstfassung noch dazu diente, für die gleiche Tathandlung unterschiedliche Strafrahmen festzulegen, wird zwar in der Fassung von 2008 beibehalten, aber der Strafrahmen der Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren auf die gesamte Vorschrift ausgedehnt. Mit Ausnahme des Türkentums, welches durch die türkische Nation ersetzt wurde, bleiben die anderen Schutzobjekte erhalten. Anstelle der Republik jedoch enthält die Vorschrift nun den Staat der Türkischen Republik. Zusammen mit der Streichung des Türkentums wurde auch der Strafschärfungsgrund für den Angriff auf das Türkentum im Ausland gestrichen. So rückte der ehemalige vierte Absatz auf und es wurde ein neuer Absatz 4 eingefügt, der die strafrechtliche Ermittlung an die Ermächtigung des Justizministers bindet. 36 37
Vgl. Sinar, Yeni Türk Ceza Kanununda �fade Özgürlü�ü, S. 376 f. Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 190 f.
Fünftes Kapitel: Art. 300 und Art. 301 tStGB 2004
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II. Tatbestandsmäßigkeit 1. Schutzobjekte a) Vom Türkentum zur türkischen Nation In der Erstfassung des Art. 301 war das Schutzobjekt Türkentum noch enthalten. Trotz der fast 80 Jahre langen Anwendung im tStGB 1926 erschien es dem Gesetzgeber notwendig, den Begriff in der amtlichen Begründung näher zu spezifizieren: „Der Zweck des Ausdrucks Türkentum, der in der Vorschrift verwendet wird, ergibt sich aus der Existenz einer eigenen und gemeinsamen Kultur aller Türken, gleich, wo diese leben. Diese Existenz ist weiter als der Begriff der türkischen Nation und umfasst auch die Gemeinschaften außerhalb der Türkei, die an der gleichen Kultur teilhaben.“38
Auch in dieser Form bildetete Art. 301 noch die Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten39. Eine umfassende Zusammenstellung von Verfahren wegen Herabsetzung des Türkentums findet sich im Schrifttum nicht. Vielmehr wird auf die Urteilssammlungen der Rechtsprechung des Kassationshofes zum Art. 159 verwiesen. Einige durch die Medien dokumentierte Beispiele bilden hingegen die Verurteilung Arat Dinks und Sarkis Seropyans wegen der Berichte über die Aussagen Hrant Dinks „die Ereignisse von 1915 bis 1918 sind Völkermord“40; die Anklagen gegen Fatih Ta�, Ömer Faruk Kurhan und Ender Abado�u wegen der Übersetzung und Veröffentlichung des Buches „Manufacturing Consent“ von Noam Chomsky und Edward S. Herman, in dem unter anderem über eine Unterdrückung der Kurden in der Türkei berichtet wird und die Anklagen, die sich gegen die Autoren selbst richtet41; die Anklage gegen Orhan Pamuk, der in einem Interview die Äußerung machte, dass „eine Million Armenier und 30.000 Kurden“ in der Türkei „umgebracht“ worden seien; und die Anklagen gegen die Wissenschaftler Bask�n Oran und �brahim Kabo�lu wegen wissenschaftlicher Stellungnahmen über Subkulturen und der Anerkennung von Subidentitäten42.
38 39 40 41
42
(Hervorhebungen diesseits) Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri, S. 285. Vgl. EU-Kommissionsbericht: Türkei Fortschrittsbericht 2006, S. 16 f. Can, Der Schutz der staatlichen Ehre und religiösen Gefühle in der Türkei, S. 42 f. Siehe Bericht „Türk yarg�s� yine Chomsky‘ye kar��“, in: Radikal (türkische Tageszeitung), Ausgabe vom 5. Juli 2006, S. 3. Chomsky und Herman wurden von der 2. Kammer des Amtsgerichts Istanbul freigesprochen; vgl. hierzu: „301’lik kitaba beraat“, in: Radikal, Ausgabe vom 21. Dezember 2006, S. 3. Can, a.a.O., S. 42.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
Unter dem Einfluss der EU-Annäherung43, der türkischen Rechtswissenschaft und der regionalen und internationalen Presse entschied sich der türkische Gesetzgeber mit Gesetz Nr. 5759 vom 30. April 2008 schließlich zur Streichung des Türkentums und Ersetzung um die türkische Nation, die allgemein enger als das Türkentum aufgefasst wird44. Einen ersten Hinweis gibt die amtliche Begründung zur Erstfassung des Art. 301, die beim Begriff Türkentum auch die außerhalb der Türkei lebenden „türkischen“ Gemeinschaften ausdrücklich einbezieht45. Diese Hinzuziehung auch ethnisch-kultureller Momente sollte durch die Limitierung auf die türkische Nation aufgehoben worden sein, da nunmehr das Staatsvolk Schutz findet46. Daneben sollte sich die Änderung auch temporal auswirken: Denn während das Volk des Osmanischen Reiches vom Anwendungsbereich des Türkentums umfasst war, verbirgt sich im Begriff türkische Nation das Volk der Türkischen Republik, welches sich in einer neuen Zusammensetzung erst nach Gründung der Republik im Jahre 1923 formierte47. Eine plastische Zusammenfassung dieser inhaltlichen Annäherungen würde die Aussage bilden, dass die türkische Nation im Anwendungsbereich des Türkentums bereits enthalten war, sich also lediglich neue Einschränkungen ergeben haben, die übrige Anwendung aber unberührt bleibt. Dieser Aussage entspricht auch die Tatsache, dass schon in der Rechtsprechung zum Art. 159 beide Begriffe weitgehend gleichgesetzt worden waren48. Andererseits werfen die Ausführungen über der amtlichen Begründung zum Schutzobjekt der türkischen Nation erneut Fragen auf. Dort wird nämlich zwischen formellen, d.h. die Staatsangehörigkeit betreffenden Parametern und kulturell-ethnischen Aspekten nicht deutlich unterschieden: „Der in Absatz 1 aufgeführte Begriff ‘Türkentum’ wird zu ‘türkische Nation’ abgeändert. Eine Nation bildet die Gemeinschaft von Menschen, die seit jeher zusammen gelebt hat und entschlossen ist, weiterhin zusammen zu leben und daran glaubt, zusammen zu leben, die gleiche Heimat teilt und eine gemeinsame Kultur, Geschichte und Werte besitzt. Damit diese Gemeinschaft als Nation qualifiziert 43
44 45 46 47 48
Bei einer in der Großen Nationalversammlung abgehaltenen Sitzung, an der Repräsentanten des Europarates, der EU-Kommission und Juristen aus Italien, Deutschland und Großbritannien teilnahmen, wurde empfohlen, das Strafmaß herabzusetzen, anstelle des Türkentums ein näher bestimmbares Schutzobjekt zu verwenden und die Strafverfolgung an die Erlaubnis des Justizministers zu binden. Vgl. hierzu: Derdiman, 301. Maddenin De�i�iklerin Hukukî Ve Siyasî Sonuçlar�, S. 6 m.w.N. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5646. Siehe schon: Sancar, Tahkir Ve Tezyif Suçlar�, S. 83 ff. „[...] umfasst auch die Gemeinschaften außerhalb der Türkei, die an der gleichen Kultur teilhaben.“; Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri, S. 285. Adalet Komisyonu Raporu, S. 13 ff., 15. Hinw. bei: Derdiman, a.a.O., S. 4 (Fn. 18). Siehe auch: Sancar, a.a.O., S. 83 ff. Parlar / Hatipo�lu wollen über diese formelle Betrachtung hinaus auch die kulturelle Zugehörigkeit erfasst wissen, a.a.O., S. 472. Kritisch: Derdiman, a.a.O., S. 13 f. Can, a.a.O., S. 42; Adalet Komisyonu Raporu, S. 13; Arslan, Meinungsfreiheit, S. 282 f.
Fünftes Kapitel: Art. 300 und Art. 301 tStGB 2004
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werden kann, ist es erforderlich, dass sie in Besitz eines Vaterlandes ist, in dem sie das gemeinsame Leben führen kann; dass die Individuen einen durch die gemeinsame Kultur und Geschichte ausgedrückten Wunsch haben, im gleichen Staat zu 49 leben und die gleichen Werte teilen.“
Trotz der allseits erwarteten Streichung des Türkentums löste die Entscheidung des Gesetzgebers einige Kritik aus. Ein viel diskutierter Punkt war hierbei die temporale Limitierung auf das Volk der Türkischen Republik: So wurde kritisiert, dass hierdurch Angriffe auf die Osmanen straflos bleiben können, etwa dass Aussagen wie „die Osmanen haben an den Armeniern einen Völkermord begangen“ nicht in der „rechtlichen Klarheit“ bestraft werden können wie es bei Angriffen auf das Türkentum der Fall war50. Schon im Vorfeld hatten insbesondere Politiker aus nationalistischen Kreisen die diskutierte Streichung des Türkentums als Versuch bezeichnet, die Anerkennung des Völkermordes durch die Türkei herbeizuführen51. Einen anderen Kritikpunkt bildete die geografische Limitierung auf das Staatsgebiet der Türkei, wodurch die Einbeziehung der Turkvölker wie im Türkentum aufgegeben wurde: So wurde befürchtet, dass die Aufgabe des weltweiten Schutzes der Türken einen negativen Einfluss auf die Beziehungen der Türkei mit jenen Ländern ausüben könnte, die als Turkstaaten gelten oder türkisch-autonome Provinzen beherbergen52.
b) Der Staat der Türkischen Republik Der Schutz der Republik nach Art. 159 wurde in der Erstfassung des Art. 301 unverändert übernommen und mit Gesetz Nr. 5759 schließlich durch den Staat der Türkischen Republik ersetzt. Wie bereits erwähnt, führte das Schutzobjekt Republik im Geltungszeitraum des Art. 159 in Rechtsprechung und Lehre zu einem Auslegungsstreit, bei dem die Rechtsprechung die Republik mit dem Staat gleichsetzte53. In der Entscheidung des Gesetzgebers, in der Vorschrift anstelle der Republik nunmehr den Staat der Türkischen Republik aufzufüh49 50 51
52 53
5759 Say�l� Kanunun Madde Gerekçeleri, S. 2. Derdiman, a.a.O., S. 13 f. So die MHP: „Was von der Türkei gefordert wird, soll dazu führen, dass einige sich als Intellektuelle bezeichnenden Kreise Eriwan nach dem Mund reden und das türkische Volk und seine Geschichte anschwärzen.“, Jahresbericht der MHP 2006. Hinw. bei: Büyükbay, Euroskeptizismus, S. 55. Vgl. auch das Minderheitenvotum der MHP im „Ausschuss zur EU-Anpassung“: „Im Jahr 2004 entsprach Artikel 301 [...] den Kopenhagener Kriterien. Dann sorgte Orhan Pamuk bei der EU mit seinen Äußerungen [...] für Aufsehen. Die EU [...] begann das Augenmerk auf nur solche Aussagen zu richten, die Völkermordbehauptung im Hinblick auf die Armenier und beleidigende Aussagen von kurdischen Separatisten-Mitgliedern enthielten. Das Ziel hier ist [...] in der Türkei unter dem Deckmantel der ‘historischen Aufarbeitung’ die Anerkennung eines Völkermordes zu ermöglichen.“ Bei: Avrupa Birli�i Uyum Komisyonu Raporu, S. 10. Hinw. bei: Derdiman, a.a.O., S. 4 (Fn. 18). So: Derdiman, a.a.O., S. 14. Siehe oben: Viertes Kapitel, D) II. 2.
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ren, wird man also die gesetzliche Fixierung der seit Jahren üblichen Rechtspraxis sehen dürfen54. Dies und systematische Erwägungen ergeben sich auch aus dem Protokoll des Justizausschusses: „Sowohl nach Artikel 1 unserer Verfassung als auch nach den Entscheidungen des Kassationshofes ist unter ‘Republik’ der Staat zu verstehen. [...] Ferner ist der Standort der Vorschrift systematisch auch in denjenigem Teil des Gesetzes zu verorten, der sich mit dem Schutz von Hoheitszeichen und dem Staat beschäftigt.“55
An dieser Änderung wurde vereinzelt kritisiert, dass nun die strafrechtliche Verfolgung gegen Angriffe, die sich auf die Staatsform Republik richten, erschwert sein könnte56. Obwohl auch hier erst abzuwarten sein wird, wie sich die höchstrichterliche Rechtsprechung mit dieser Frage auseinandersetzen wird, kann auf entsprechende Deutungen im Schrifttum der Lehre verwiesen werden, für die in Art. 1 und Art. 2 der 1982er Verfassung festgelegten Grundsätze zur Republik vom Schutzobjekt umfasst sein sollen57. Denn hiernach ist der türkische Staat eine Republik58.
c) Staatliche Streitkräfte oder Sicherheitskräfte Obwohl in Art. 159 auch die staatlichen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte aufgeführt waren, ändert sich die Formulierung in der hier verwendeten Übersetzung des Art. 301 nicht. Allerdings verwendet der Gesetzgeber – wörtlich übersetzt – nunmehr den Begriff „militärischer Aufbau“ (askeri te�kilât) und „Sicherheitsaufbau“ (emniyet te�kilât�). Zumindest im Hinblick auf die militärischen Streitkräfte hat die Verwendung dieses Begriffs im Schrifttum vereinzelt zu der Diskussion geführt, ob eine tatbestandliche Erweiterung zum Vorläufer herbeigeführt worden ist. Die Vertreter einer solchen Ansicht führen an, dass der Gesetzgeber hiermit beabsichtigt haben könnte, nun auch zivile Einrichtungen in den Anwendungsbereich zu rücken; als Argument hierfür wird angeführt, dass der Begriff „Aufbau“ weniger die Wahrung der Funktion der Streitkräfte, sondern vielmehr die Einrichtung in ihrer Gesamtheit, also auch (zivile) Nebeneinrichtungen umfasse59. Unverändert bleibt es hingegen bei der überwiegenden Auslegung der Lehre und Rechtsprechung schon zum Art. 159, dass zu den Streitkräften neben der Gendarmerie die Land-, Luft- und Seestreitkräfte gehören60. Obwohl auch bei den Sicherheitskräften des Staates 54 55 56 57 58 59 60
Vgl. Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 474; Arslan, a.a.O., S. 283. Adalet Komisyonu Raporu, S. 15. Derdiman, a.a.O., S. 15. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5646 f. Artikel 1: „Der Staat Türkei ist eine Republik.“; Wedekind, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 31. Siehe schon: Sancar, a.a.O., S. 141; siehe auch: Çetin, a.a.O., S. 146. Çetin, a.a.O., S. 146; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5649; Tarhan, Tehdit ve Hakaret Suçlar�, S. 572; Parlar / Hatipo�lu, Hakaret Suçlar�, S. 476 f.
Fünftes Kapitel: Art. 300 und Art. 301 tStGB 2004
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nunmehr wörtlich von einem „Aufbau“ die Rede ist, hat dies zu keinen mit den Diskussionen um die Streitkräfte des Staates vergleichbaren Überlegungen geführt. Es bleibt also dabei, dass zu den Sicherheitskräften die Polizei und die Gendarmerie gezählt werden61.
d) Große Nationalversammlung der Türkei Wie schon Art. 159 beinhaltet auch Art. 301 den Schutz der Großen Nationalversammlung, jedoch nunmehr mit dem bloß redaktionellen Zusatz „der Türkei“. Durch die Aufnahme des Schutzobjekts wird die ständige Rechtsprechung zur Großen Nationalversammlung auch für Art. 159 Geltung beanspruchen, insbesondere, dass Angriffe das Organ in seiner Gesamtheit erfassen müssen, etwa auf einzelne Abgeordnete oder Gruppen von Abgeordneten gerichtete Aussagen also grundsätzlich nicht den Tatbestand erfüllen62.
e) Regierung der Türkischen Republik Auch der Schutz der Regierung bleibt in dem Nachfolger des Art. 159 erhalten – und auch hier wird, wie schon bei der Großen Nationalversammlung, der redaktionelle Zusatz „der Türkischen Republik“ hinzugefügt. Durch die Übernahme der Rechtsprechung zu Art. 159, wird auch im Geltungsbereich des Art. 301 unter Regierung der Ministerrat verstanden63. Hierbei gelten weiterhin die durch die höchstrichterliche Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze, nach denen insbesondere die einzelnen Minister oder der Ministerpräsident grundsätzlich keinen tauglichen Angriffsgegenstand darstellen: Aber auch im Schrifttum zum Art. 301 wird erwähnt, dass Tathandlungen, die sich zwar nur gegen einzelne Ministerien richten, aber über diese hinaus dem Organ Regierung gelten, als tatbestandsmäßig zu werten sind64.
f) Staatliche Justizorgane Während Art. 159 den Schutz der ideellen Persönlichkeit der Justiz enthielt, ist in Art. 301 Abs. 1 der Schutz der staatlichen Justizorgane aufgeführt. Die staatlichen Justizorgane umfassen die ordentliche Gerichtsbarkeit, die Verwaltungs- und die Militärgerichtsbarkeit65. Während der Gesetzgeber bei Art. 159 die Formulierung „ideelle Persönlichkeit“ wählte, um zu verdeutlichen, dass 61 62 63 64 65
Çetin, a.a.O., S. 146; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5650; vgl. Sancar, a.a.O., S. 147 f.; Tarhan, a.a.O., S. 572. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5647; Çetin, a.a.O., S. 144; Tarhan, a.a.O., S. 571. Einzelne Abgeordnete genießen bereits nach den allgemeinen Ehrverletzungsdelikten Schutz (Art. 125 ff.); Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 475. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O. 5, S. 5647 f.; vgl. Çetin, a.a.O., S. 145; Tarhan, a.a.O., S. 571; Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 475. Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 475. Çetin, a.a.O., S. 145; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler6, S. 578.
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ein Angriff auf den konkreten Richter oder auf die natürliche Person der Justiz nicht tatbestandsmäßig sein soll, wird auf eine solche Formulierung im Art. 301 verzichtet. Dennoch herrscht im Schrifttum die Meinung vor, dass auch Art. 301 nicht den einzelnen Richter, den einzelnen Senat oder einzelne Gerichte schützt, sondern dass der Angriff die Gesamtheit der Justiz umfassen muss66. So konnte nach der Rechtsprechung des Kassationshofes zum Art. 159 ein auf eine Gerichtsbarkeit gerichteter Angriff schon den Tatbestand erfüllen. Diese Praxis wird daher wohl beibehalten werden. Abzuwarten bleibt hingegen, ob in der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch die Staatsanwaltschaft als tauglicher Angriffsgegenstand gesehen wird67.
2. Tathandlung Einen wesentlichen Unterschied zum Vorläufer bildet die Tathandlung des Art. 301, der anstelle der öffentlichen Beschimpfung und Verächtlichmachung die öffentliche68 Herabsetzung unter Strafe stellt. Schon in der amtlichen Begründung wird darauf hingewiesen, dass die Herabsetzung von der Tathandlung des Art. 159 zu unterscheiden sei69. Nach der amtlichen Begründung zur Erstfassung besteht die Herabsetzung in Handlungen, die „das Ansehen der in der Vorschrift aufgeführten Schutzobjekten verringern“70. Während aber die Tathandlung des Art. 159 in der Beschimpfung und Verächtlichmachung bestand, also beide Elemente der Tathandlung erfüllt werden mussten, ist bei der Herabsetzung zu berücksichtigen, dass sie im Hinblick auf den Wortsinn der Verächtlichmachung entspricht71 und dadurch insgesamt weiter ist als die Tathandlung des Art. 15972. Auf diesen Umstand machen einige Autoren73 kritisch aufmerksam und sehen nunmehr die Gefahr, dass die Vorschrift ausufernd angewendet werden könnte. Denn kritische Äußerungen haben häufig herabsetzende Wirkung, diese Wirkung ist regelmäßig auch beabsichtigt, Kritik in dieser Form muss aber nicht immer auch eine Beschimpfung darstellen74. Weil aber die Beschimpfung nicht mehr vorliegen muss, um die Tathandlung zu er66 67 68 69 70 71 72 73 74
Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5648; Çetin, a.a.O., S. 145; Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 476. Dagegen: Tarhan, a.a.O., S. 571; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler6, S. 578. Dafür: Tarhan, a.a.O., S. 571; Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5648. Zur Öffentlichkeit siehe oben: C) I. 2. b). 5759 Say�l� Kanunun Madde Gerekçeleri, S. 2. Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri, S. 285. Vgl. Sancar, a.a.O., S. 168; Algan, New Version of Article 301 of Turkish Penal Code, S. 2246. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5642; Sancar, a.a.O., S. 168; Algan, a.a.O., S. 2246 ff. Sancar, a.a.O., S. 168 f.; Algan, a.a.O., S. 2246. Vgl. Sancar, a.a.O., S. 168 f.
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füllen, werden mehr Fälle als zuvor, insbesondere auch gesellschaftliche bzw. politische Kritik, von Art. 301 erfasst75. Unverändert bleibt hingegen, dass die Tathandlung öffentlich zu begehen ist76 und im Hinblick auf Begehungsform nicht festgelegt ist, sie also weiterhin durch Worte, durch Verbreiten von Schriften oder Karikaturen oder Ähnliches erfüllt werden kann77.
3. Vorsatz Art. 301 erfordert Vorsatz78. Nach Art. 21 Abs. 1 S. 2 ist unter Vorsatz die wissentliche und willentliche Verwirklichung der Merkmale des gesetzlichen Straftatbestandes zu verstehen. Im Hinblick auf Art. 301 muss der Täter also wissen, dass er die in Absatz 1 oder Absatz 2 der Vorschrift aufgeführten Schutzobjekte herabsetzt und dies auch wollen79. Neben der vorsätzlichen Begehung im Sinne des Art. 21 Abs. 1 genügt für Art. 301 auch der Eventualvorsatz. Denn wie bei Art. 300 verzichtete der Gesetzgeber auch im Art. 301 auf die „wissentliche“ Begehung, bei der nur der direkte Vorsatz ausreichen soll, um die Straftat zu erfüllen. Demnach ist es nicht erforderlich, dass der Täter die Herabsetzung der in Art. 301 aufgeführten Schutzobjekte will, sondern dass er die Erfüllung dieser gesetzlichen Merkmale vorhersieht und trotz dieser Kenntnis die Tat begeht.
III. Rechtswidrigkeit Während des Geltungszeitraums des tStGB 1926 war im Rahmen der Diskussion zu Äußerungen von Kritik beinhaltenden Meinungen umstritten, ob die rechtliche Würdigung der Äußerung bzw. die Abgrenzung zur Tathandlung und Kritik im Rahmen der Rechtswidrigkeit oder des subjektiven Elements erfolgen sollte. Mit der Übernahme der Regelung, dass „Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind“ keine Straftat darstellen, hat der Gesetzgeber diese Frage auch in den Geltungszeitraum des Art. 301 und damit in das tStGB 2004 getragen. In der amtlichen Begründung jedoch wird klargestellt, dass es sich bei der Regelung um eine Konkretisierung des im Art. 26 Abs. 1 ausdrücklich aufgeführten Rechtfertigungsgrundes „Ausübung eines Rechts“ (hakk�n icras�) handelt: 75 76 77 78 79
Algan, a.a.O., S. 2246. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5642; Çetin, a.a.O., S. 147; auf die zur öffentlichen Begehung entwickelte Dogmatik aus dem Geltungsbereich des tStGB 1926 wird im Schrifttum zum Art. 301 verwiesen. Çetin, a.a.O., S. 147. Siehe etwa: Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5651; Çetin, a.a.O., S. 147; Tarhan, a.a.O., S. 576. Offenbar dagegen: Derdiman, a.a.O, S. 4. Das Vorliegen einer Beschimpfungsabsicht fordern: Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 478 f. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5651.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht „Im Zusammenhang mit der Tathandlung wurde mit der Regelung des Absatz 3, nach der in den Fällen der Ausübung des Rechts auf Kritik die Straftat nicht erfüllt ist, dem Rechtfertigungsgrund der Ausübung eines Rechts eine besondere, gesetzli80 che Form eingeräumt.“
Wie schon zu Art. 159 ausgeführt wurde, besteht das Recht, welches berechtigterweise ausgeübt werden kann, darin, seine Meinung und in diesem Rahmen Kritik zu äußern. Die Existenz dieser Rechte wird – wie bereits angemerkt – auf die EMRK und auf die Meinungsäußerungsfreiheit tVerf 1982 zurückgeführt. Obwohl diese vom Gesetzgeber in der Begründung vorgegebene Klassifizierung als Rechtfertigungsgrund nicht ohne Kritik hingenommen wurde81, hat sie dem im Wesentlichen dogmatischen Streit ein Ende bereitet. Die Entscheidung, Absatz 3 der Vorschrift als Konkretisierung des Rechtfertigungsgrundes „Ausübung eines Rechts“ festzulegen, ist wohl darauf zurückzuführen, dass die im Geltungszeitraum des Art. 159 auf subjektiver Ebene zu berücksichtigende Beschimpfungsabsicht nunmehr wegfällt. Die Vertreter der Würdigung auf subjektiver Ebene begründeten ihren Ansatz nämlich damit, dass eine subjektive Würdigung im Rahmen der Beschimpfungsabsicht der tendenziell objektiven Würdigung auf Rechtfertigungsebene vorzuziehen gewesen sei82. Weil nun die Beschimpfungsabsicht wegfällt, wird die argumentative Grundlage für einen derartigen Ansatz genommen.
IV. Versuch Die Frage nach einem möglichen Versuch richtet sich auch hier nach der Aufteilbarkeit der Ausführungshandlungen. Ein Unterschied gegenüber dem Vorläufer ergibt sich daher nicht83.
V. Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit Mehr noch als im Geltungszeitraum des Vorgängers wurde die Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit zum Thema des Art. 301. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die Meinungs- und Pressefreiheit ein wesentliches Arbeitsfeld der EU-Annäherung der Türkei bildet. Die Entscheidung des Gesetzgebers, im Wortlaut der Vorschrift darauf aufmerksam zu machen, dass „Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind“, keine Straftat darstellen, ist nur ein Ausdruck dieser Tendenz. Deutlich in den Vordergrund rücken im Zusammenhang zu den Harmonisierungsgesetzen aus den Jahren 2002 und 2003 zum Art. 159 und der letzten Änderung im Jahr 2008 zu 80 81 82 83
5759 Say�l� Kanunun Madde Gerekçeleri, S. 2. Artuk / Gökcen / Yenidünya etwa halten die ausdrückliche Aufnahme des Rechtfertigungsgrundes in das Gesetz für überflüssig, a.a.O., S. 5656 f. Siehe oben: D) IV. Vgl. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5657. Vgl. Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 482.
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Art. 301 auch Maßstäbe aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), für deren Überwachung der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zuständig ist84. Art. 10 EMRK gewährt Meinungsäußerungsfreiheit, Informations-, Presse- und Rundfunkfreiheit und wird vom türkischen Gesetzgeber in der amtlichen Begründung im Hinblick auf Art. 301 folgendermaßen berücksichtigt: „Wie schon in einer Vielzahl von Urteilen des von der Türkei in seiner gerichtlichen Zuständigkeit anerkannten Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betont, stellt die in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgeführten Meinungsäußerungsfreiheit eines der wichtigsten Fundamente einer demokratischen Gemeinschaft dar. Diese Freiheit ist die Grundvoraussetzung für die persönliche Entfaltung von Einzelnen und das Fortkommen einer demokratischen Gemeinschaft.“85
Diese Freiheit soll hiernach nicht bloß in der Äußerung von zustimmenden, unbedenklichen oder gar uninteressanten Meinungen und Nachrichten gelten, sondern gerade für diejenigen Äußerungen gelten, die provokant sind und in der Bevölkerung aufreizende Wirkung haben können86. Zugleich wird betont, dass die Gesetzgeber der Unterzeichnerstaaten der EMRK das Recht haben, die Meinungsäußerungsfreiheit einzuschränken, sofern hierdurch nicht der Kern von Art. 10 EMRK berührt wird. Bei dieser auch durch Art. 301 gesetzlich positivierten Einschränkung der in Art. 10 EMRK gewährten Rechte soll aber darauf geachtet werden, dass jede Aussage – ob in schriftlicher oder mündlicher Form – nicht aus dem Zusammenhang gerissen wird, also stets die Ausführungen in ihrem Gesamterscheinungsbild betrachtet und bewertet werden. Inwieweit die Rechtsprechung den schon in der amtlichen Begründung aufgestellten Grundsätzen genügen wird, bleibt abzuwarten. In einer Zusammenstellung des Europäischen Parlaments von Verfahren vor türkischen Gerichten, die die Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit betreffen, finden sich eine Reihe von Fällen gegen Verleger und Journalisten, unter ihnen etwa die Verurteilung von Erkan Akay für einen Artikel mit dem Titel „1915–1918; Der 90. Jahrestag für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Vergessen oder Leugnen“, die er an die Monatsschrift „Yeni Dünya �çin Ça�r�“87 zum Zwecke der Veröffentlichung gesendet hatte88. Ein anderes Beispiel bildet die Verurteilung von der 84
85 86 87 88
Schon im Jahre 2003 hatte der Europarat in einer Empfehlung (Nr. 1589) gefordert, dass die Türkei die Gesetze aufheben möge, die die journalistische Redefreiheit strafrechtlicher Verfolgung unterwirft und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur Meinungsäußerungsfreiheit in die nationale Gesetzgebung übernimmt. Siehe: Arslan, Meinungsfreiheit, S. 287. 5759 Say�l� Kanunun Madde Gerekçeleri, S. 2. Hierzu und zu den folgenden Ausführungen des Absatzes: ebd., S. 2 f. Zu Deutsch: „Ruf nach einer neuen Welt“. Siehe: Zusammenstellung des Europäisches Parlaments, Freedom of Speech, S. 10.
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Rechtsanwältin Emine Eren Keskin für Aussagen bei einer Podiumsdiskussion in Köln, bei der sie der türkischen Armee vorwarf, im Kampf gegen die PKK Frauen sexuell missbraucht zu haben89. Der Vorsitzende des Lehrerverbands Mehmet Hanifi Bekmezci wurde nach Art. 301 verurteilt, weil er während einer Pressekonferenz sagte, dass „die in verschiedenen Regionen des Landes vorgekommenen Lynchaktionen und Attentate“ auf „Veranlassung des Generalstabschefs von zivilen Kräften ausgeübt“ worden seien und „unvergessen bleiben“90. Hüseyin Ser, Vorstandsmitglied des Energie-, Industrie- und Bergarbeiterverbandes, wurde für das Vorlesen einer Beschwerdeschrift wegen der Verschiebung des Munzur-Festivals91 während einer Rede verurteilt92. Mit Freispruch endete hingegen das Verfahren gegen Abdullah Yilmaz, der das Buch „�zmir Büyücüleri“ (dt. „Magierinnen von Izmir“) der griechischen Schriftstellerin Mara Meimaridi veröffentlichte, das in Izmir in einer Zeit spielt, in der Türken, Juden, Armenier, Griechen und Levantiner in einer multikulturellen Gesellschaft friedlich miteinander leben93.
VI. Geschützte Rechtsgüter Aufschluss darüber, welches Rechtsgut in Art. 301 geschützt wird, gibt der Titel des dritten Abschnitts, in dem auch Art. 301 platziert ist. Hier soll es um „Straftaten gegen Hoheitszeichen des Staates und gegen das Ansehen von Staatsorganen“ gehen. Das Rechtsgut in dem Ansehen der aufgeführten Schutzobjekte94 und dem Ansehen des Staates95 zu sehen, entspricht so auch der wohl gängigen Lehrmeinung. Wie schon Art. 159, liegt hierbei auch Art. 301 eine vorgreifende, staatsbestandsschützende Komponente zugrunde. Artuk / Gökcen / Yenidünya betonen, „dass die Vorschrift die rechtliche und politische Existenz des Staates“ schützt.“96 89 90
91 92 93 94 95 96
Freedom of Speech, S. 3. Vgl. Amnesty International, 44/035/2006, S. 7. Freedom of Speech, S. 3; der Kassationshof hob das Urteil des Amtsgerichts Tunceli am 6. November 2007 nach Einstufung als (erlaubte) „harte Kritik“ auf. Siehe Eintrag auf: www.bianet.org/bianet/bianet/104186-bia-yillik-medya-gozlem-raporu-2007 (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Das Munzur-Festival ist eine jährlich ausgetragene, kulturelle Großveranstaltung in Tunceli. Das Festival steht aufgrund der ethnischen Prägung der Region der kurdischtürkischen Demokratischen Gemeinschaftspartei (DTP) nahe. Freedom of Speech, S. 4. Vgl. Bericht bei Radikal, abrufbar unter: http://www.radi kal.com.tr/haber.php?haberno=198059 (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Freedom of Speech, S. 10. Parlar / Hatipo�lu, a.a.O., S. 471 m.w.N.; vgl. Çetin, a.a.O., S. 147; siehe auch: Tarhan, a.a.O., S. 570. Eine besondere Stellung ergibt sich für das Türkentum (bzw. die türkische Nation) und für die Republik, die nicht zu den konstitutionellen Staatseinrichtungen zählen. Vgl. dazu schon Sancar, a.a.O., S. 65. Artuk / Gökcen / Yenidünya, a.a.O., S. 5641.
Fünftes Kapitel Art 300 und Art 301 tStGB 2004
VII Verfolgungsstatistische Entwicklungen
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
von 2007 war die Zahl der Freisprüche stets höher als die Zahl der Verurteilungen. Die Entwicklungen der Anklagen und Verurteilungen stehen teilweise in einem Widerspruch zu der tatbestandlichen Entwicklung der Vorschrift. Denn wie oben festgestellt wurde, haben sich der objektive wie der subjektive Tatbestand der Vorschrift zunächst erweitert. Die Vorschrift bekommt mit der Herabsetzung also einerseits eine weitere Tathandlung. Andererseits fällt die Beschimpfungsabsicht weg; für die Tatbestandserfüllung genügt bereits Eventualvorsatz. Lediglich die Streichung des Türkentums und die Einführung der tatbestandlich engeren türkischen Nation Mitte 2008 bringt eine tatbestandliche Verengung. Mit Blick auf die Folgejahre ist abzuwarten, wie sich die Zahlen weiter entwickeln werden, insbesondere ob sich die rückgängige Relevanz langfristig wird durchsetzen können.
Sechstes Kapitel: Würdigung „Das Verständnis über die grundlegende Ideologie einer jeden Gesellschaft und Epoche und das aus diesem Verständnis entstandene politische System beeinflusst mit Gewiss1 heit auch die Rechtsordnung.“
A) Vorläufer I. Vom Schutz staatlicher Einrichtungen und Hoheitszeichen zum Schutz der ideellen Persönlichkeit des Staates Die Betrachtung der Vorschriften zum Schutze des i.w.S. Ansehens des Staates zeigen, dass der Schutz der staatlichen Einrichtungen und Hoheitszeichen, wie er mit Art. 55 oStGB i.d.F. von 1911 und den Vorschriften aus dem oPresseG 1865 und dem oPresseG 1909 schon in der osmanischen Strafrechtsordnung seinen Platz fand, in der republikanischen Phase mit dem nach Art. 159 tStGB 1926 geschützten „Türkentum“ um den Schutz zumindest der Nation und mit der 1936 eingeführten „Republik“ auch um den Schutz des Staates erweitert wurde. Während also der osmanische Strafgesetzgeber den Schutz von Staatssymbolen und Hoheitszeichen kannte, war ihm der Ansehensschutz des Staates selbst, noch fremd. Art. 55 oStGB i.d.F. von 1911 schützte die amtlich angebrachten Fahnen, die Tughra und das Wappen des osmanischen Reiches vor Realinjurien und kommt der Schutzkonzeption des Art. 145 tStGB 1926 bereits sehr nahe, da dieser die türkische Fahne, das türkische Wappen und sonstige Hoheitszeichen der Regierung vor Realinjurien schützen sollte. Art. 159 tStGB 1926 hingegen ging über den Schutz der Staatsorgane und -einrichtungen, wie er in der osmanischen Strafrechtsordnung durch das Pressestrafrecht geregelt wurde, hinaus. Die Artt. 16 und 19 oPresseG 1865 und Art. 28 oPresseG 1909 sind von Art. 159, der über die Staatsorgane hinaus auch das Türkentum und die ideelle Persönlichkeit der Regierung enthielt und später durch das Schutzobjekt der Republik erweitert wurde, daher noch weit entfernt, aber im Hinblick auf den Schutz der Staatseinrichtungen mit Art. 159 tStGB 1926 immerhin vergleichbar. Eine neue Qualität erreicht der Ansehensschutz durch die Rocco-Angleichung, in der bisherige Titel der „Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates“ in die „Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates“ abgeändert wurde und sich hierdurch allmählich ein neues Verständnis vom Verhältnis zwischen Staat und Bürger hat etablieren können, das 1
Sancar, Alenen Tahkir ve Tezyif Suçlar�, S. 31.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
sichtlich durch die faschistische Ideologie Italiens beeinflusst war und auf den Tatbestand der Vorschriften erweiternden Einfluss ausübte2.
II. Rechtsgüterschwerpunkte Mit der Veränderung der Schutzkonzeption der Vorschriften ging auch eine Veränderung der Rechtsgüterschwerpunkte einher. Zwar ähnelten die Vorschriften aus der osmanischen Strafrechtsordnung in tatbestandlicher Hinsicht den Artt. 145 und 159 tStGB 1926. Doch lag – abgesehen von dem Schutz der Hoheitszeichen vor Realinjurien – bei dem pressestrafrechtlichen Schutz der Staatsorgane und -einrichtungen der rechtsgütertechnische Schwerpunkt tendenziell eher im Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, und zwar (teilweise) im Schutz vor schon bestehenden Gefährdungen durch die Presse. Dies lässt sich anhand von dem oPresseG 1865 verdeutlichen, das unter anderem die Gründung von Publikationen mit politischen Inhalten an eine Genehmigungspflicht band und in Sachen Staatsschutz durch einen Beschluss im Jahre 1867 dahingehend erweitert wurde, dass neben den im Gesetz festgelegten Straftatbeständen jederzeit administrative Bestrafungen und andere Maßnahmen durch die Regierung möglich sein sollten3. Der Beschluss bezieht sich auf die andauernde Verbreitung „schädlicher“ Nachrichten in Istanbul und sieht das Erfordernis der Wahrung der Sicherheit und Ordnung: „Aufgrund der andauernden Verbreitung einiger den allgemeinen Interessen des Landes widersprechender, schädlicher und unwahrer Nachrichten in einigen auf unterschiedlichen Sprachen gedruckten Zeitungen in Istanbul und der Aufreizung der Gemüter und der einhergehenden Störung innerhalb der Bevölkerung [wird beschlossen, dass] gegen Zeitungen und Zeitschriften dieser Art auch durch administrative Bestrafungen und andere Maßnahmen, die über die Vorschriften des Pressegesetzes hinausgehen, vorgegangen werden soll, um die Sicherheit und Ordnung zu wahren und den drohenden Schaden für den gesamten Staat und für das gesamte Volk abzuwenden.“4
Zwar waren die Artt. 145, 159 tStGB 1926 vor der Rocco-Angleichung, also bis 1936, Vorschriften des Titels „Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates“ und sollten, von der Rechtsgutskonzeption her betrachtet, ebenfalls dem Schutz zumindest der Sicherheit dienen. Doch kann der Unterschied zwischen dem Pressestrafrecht und dem Hauptstrafrecht darin gesehen werden, dass bei der Begehung durch Pressemittel regelmäßig mit einem größeren Verbreitungsgrad gerechnet werden muss und der Gesetzgeber daher von einer größeren Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen wird. Dass der pressestrafrechtliche Ansehensschutz staatlicher Einrichtungen und Organe 2 3 4
Siehe unten: C) II., insbes. II. 2. Özkorkut, Bas�n Özgürlü�ü, S. 73 f. In leicht verständlichem Türkisch teilweise abgedruckt bei: Kudret, Abdülhamit Döneminde Sansür, Bd. 1, S. 7.
Sechstes Kapitel: Würdigung
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darüber hinaus auch eine gesetzgeberische Reaktion auf schon in Erscheinung getretene Kritik in der öffentlichen Presse sein kann, zeigt auch der Beschluss von 1867, das Pressestrafrecht durch administrative Maßnahmen erweiternd zu flankieren. Im Gegensatz hierzu dienen die Artt. 145 und 159 tStGB 1926 und auch die heutigen Artt. 300 und 301 tStGB 2004 tendenziell eher dem Schutz des staatlichen Ansehens und dem Nationalgefühl5. Sie dienen zwar auch (!) dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – insofern wird gelegentlich auf das Schrifttum zu den italienischen Vorbildern verwiesen (ordine pubblicco) – der Friedensschutz bildet aber nicht den Schwerpunkt der Rechtsgüterkonzeption. Die Vorschriften dienen dem Rechtsanwender so als Reservetatbestände, die bei Zunahme von Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung unterschiedlich intensive Anwendung erfahren können.
B) Entwicklungstendenzen I. Gesetzgebung 1. Erweiterungen und Zweckmäßigkeitserwägungen Die Betrachtung der Entwicklung der Vorschriften zeigt, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Einfluss des Codice Rocco zu deutlichen Erweiterungen der Artt. 145, 159 führte. Eine dramatische Entwicklung zeichnet sich insbesondere zu Art. 159 ab, der in seiner Erstfassung sechs und in der Fassung von 1946 elf Schutzobjekte enthielt. Obwohl aber der Einfluss aus Italien nicht zu verschweigen ist, stellte die Angleichungsphase doch eine autonome Entscheidung des türkischen Gesetzgebers dar, bei der über die Angleichung hinaus auch eigene gesetzgeberische Erwägungen berücksichtigt wurden. Als wiederkehrendes Muster kristallisiert sich hierbei die Tendenz des Gesetzgebers heraus, Erweiterungen als zweckmäßige Reaktionen auf gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse zu rechtfertigen, die sozialschädliche Eigenschaften hervorgebracht haben und aufgrund ihrer Gefahr für die Sicherheit und Einheit des Landes zu bekämpfen sind. So begründete der Gesetzgeber das Angleichungsgesetz von 1936 mit einem durch negative „soziale und wirtschaftliche Entwicklungen“ entstandenem Regelungsbedürfnis und bestehenden Regelungslücken des geltenden Strafrechts: „Während einige Ereignisse in der letzten Zeit gezeigt haben, dass sie in den bestehenden Tatbeständen keine ausreichende Berücksichtigung finden, wurde es als zweckmäßig erachtet, die Sicherheit und das Wohl des Staates vor allen denkbaren Angriffen zu schützen.“6 5 6
Hierzu und zu den folgenden Ausführungen des Absatzes siehe oben: Viertes Kapitel C) VII. und D) VII. sowie fünftes Kapitel C) IV. und D) VI. (Hervorhebungen diesseits) Zabit Ceridesi v. 11.6.1936, RNr. 250, S. 29 (z.T. wortgleich schon auf S. 1).
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
Ein kritischer Diskurs über die Angemessenheit der Ausweitung von Strafrecht kann den Begründungen nicht entnommen werden. Im Vordergrund stehen die Gefährdung der Sicherheit, die Prävention und Zweckmäßigkeitserwägungen. Der Schutz der Legitimität der Großen Nationalversammlung vor aggressiven Handlungen etwa wurde mit der Gefahr für die „Einheit des Landes“ und für die „Sicherheit des Volkes“ begründet, die es „als zweckmäßig betrachten“ ließen, Handlungen dieser Art mit Strafe zu bedrohen7. Neben Zweckmäßigkeitserwägungen spielte auch die Eignung für strafrechtliche Verfolgungen eine Rolle. So setzte sich der Gesetzgeber bei der Rocco-Angleichung des Art. 145 aus dem Jahre 1936 das Ziel, „Schwierigkeiten in der Strafverfolgung zu beseitigen“8. Neue Anlässe zu Erweiterungen gaben stets aktuelle Ereignisse, die Strafbarkeitslücken offenbarten. Dies gilt etwa für die Einführung des Schutzobjektes der Ministerien: „[...] die Beschimpfung und Verächtlichmachung der [...] Ministerien stellt [...] keine Straftat dar. Es ist zu beobachten, dass einige diese Lage nutzen und einzeln das eine oder andere Ministerium in einer das normale Maß an Kritik hinausgehenden Art und Weise auf das Schärfste durch Worte und durch Verbreiten von Schriften angreifen“9.
Auch die Einführung der Legitimität der Großen Nationalversammlung nach den Wahlen von 1946, zu denen zwar erstmalig mehrere Parteien zugelassen wurden, steht in einem ereignisbezogenenen Kontext: „Erneut wurden in letzter Zeit viele Behauptungen aufgestellt, dass die Große Nationalversammlung nicht legitimiert sei.“10
Eine Abkehr von diesen erweiternden Gesetzgebungstendenzen, zumindest im Hinblick auf die hier untersuchten Vorschriften, ging mit der allmählichen Distanzierung vom italienischen Vorbild einher. Denn der türkische Strafgesetzgeber hatte sich für Italien entschieden, weil er damals daran glaubte, einen modernen Strafrechtsgesetzgeber zum Vorbild zu nehmen11. Was für den Codice Zanardelli allgemein Geltung beanspruchen konnte, konnte sich für den Codice Rocco – jedenfalls nicht längerfristig – durchsetzen, insbesondere nicht, nachdem sich der italienische Faschismus durch die Verluste im Krieg und zuletzt nach dem Tode Mussolinis als Verlierer präsentierte 12. 7 8 9 10 11 12
T.B.M.M. Tutanak Dergisi v. 18.9.1946, RNr. 50, S. 2. Zabit Ceridesi v. 11.6.1936, RNr. 250, S. 36. T.B.M.M. Tutanak Dergisi v. 18.9.1946, RNr. 50, S. 1 f. Ebd., S. 2. Erem, Gerekçeli Türk Ceza Kanunu, S. XI. Nach den Rocco-Angleichungsgesetzen von 1936 und 1938 scheiterten weitere, am Codice Rocco angelehnte Reformvorhaben. Tellenbach schreibt, man habe „das Recht des faschistischen Italien“ nicht länger übernehmen wollen, Einführung in das türkische Strafrecht, S. 4 m.w.N.
Sechstes Kapitel: Würdigung
127
2. Wendepunkt Beitrittsverhandlungen? Obwohl aber mit den Änderungen des Art. 159 im Jahr 1961 der Tatbestand geringfügig entschärft wurde, sollte es noch mehr als vier Jahrzehnte dauern, bis die Vorschrift erneut zum Gegenstand gesetzgeberischer Entscheidungen wurde. Diese Periode – in der Art. 145 unberührt blieb – zeichnete sich durch die mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen einhergehende EU-Annäherung der Türkei aus und sollte Art. 159 im Hinblick auf Tatbestand und Rechtsfolge an rechtsstaatlichere Standards anpassen13. So wurde sowohl die Obergrenze als auch die Untergrenze des Strafrahmens herabgesetzt und in die Vorschrift die Regelung aufgenommen, Tathandlungen, die zum Zwecke der Kritik erfolgt sind, nicht zu bestrafen. Der eigentliche Tatbestand des Art. 159 mitsamt den problematischen Schutzobjekten – etwa dem Türkentum – blieben auch in dieser EU-Harmonisierungsphase hingegen erhalten, so dass sich die Frage stellt, ob hier eine „wirkliche“ Kehrtwende eingeläutet wurde. Nach Inkrafttreten des tStGB 2004 zeichneten sich für die Nachfolger der Artt. 145, 159 hingegen deutlichere Veränderungen ab, die sich teilweise tatbestandsverengend auswirkten14: So wurden einige Schutzobjekte des Art. 159 für Art. 301 nicht übernommen und 2008 schließlich das umstrittene Türkentum durch die türkische Nation ersetzt. Für die Herabsetzung der Fahne und Hoheitszeichen nach Art. 300 ist nunmehr die öffentliche Begehung vorgesehen. Neben diesen limitierenden Momenten erweiterten sich die Tatbestände aber an anderer Stelle: Art. 300 erhielt mit dem Unabhängigkeitsmarsch ein zusätzliches, ausdrückliches Schutzobjekt und Art. 301 verlangt nun öffentliche Herabsetzungen und damit eine Tathandlung, die weiter ist als die öffentliche Beschimpfung und Verächtlichmachung.
3. Objektivierungstendenzen Daneben objektivierten sich die Tatbestände der Artt. 300, 301 gegenüber ihren Vorläufern durch die Herabsetzung der subjektiven Voraussetzungen. Denn während Art. 145 und nach allgemeiner Auffassung auch Art. 159 neben dem Vorsatz die Absicht der Beschimpfung verlangte, genügt für die Nachfolger schon der Eventualvorsatz. Durch die Herabsetzung der subjektiven Erfordernisse erweitern sich die Tatbestände.
II. Anwendung Im Hinblick auf Art. 301 wurde im Schrifttum gelegentlich angemerkt, dass auch andere Staaten Europas Strafvorschriften kennen, die den Ansehensschutz staatlicher Institutionen enthalten, diese aber weniger häufig und unter 13 14
Hierzu und zu den folgenden Ausführungen siehe oben: Viertes Kapitel, D) I. 5. Siehe schon oben: Fünftes Kapitel, C) und D).
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
Berücksichtigung der Meinungsäußerungsfreiheit deutlich restriktiver anwenden. Sözüer konstatiert: „Meiner Ansicht nach resultieren aber die [...] Probleme nicht so sehr aus der Vorschrift selbst, sondern aus ihrer Auslegung und Anwendung in der Praxis. In diesem Sinne kann noch einmal darauf hingewiesen werden, dass ähnliche Straftaten wie Art. 301 auch in Strafgesetzbüchern von anderen europäischen Ländern ihren Platz haben, aber dort nicht die Schwierigkeiten und Diskussionen hervorrufen, mit denen man in der Türkei zu kämpfen hat.“15
Auch Tellenbach betont: „Die europäischen Staaten, die eine dem Art. 301 ähnliche Schutzvorschrift gegen die Herabsetzung staatlicher Institutionen kennen, wenden sie viel weniger an. Das ist eine Frage der Mentalität und des Denkens. Manches an Äußerungen, was in der Türkei von einer erheblichen Zahl von Juristen noch als strafwürdig angesehen wird, wird in anderen europäischen Staaten kaum beachtet, vielleicht als Ungezogenheit, Geschmacklosigkeit oder Übertreibung eingestuft, jedenfalls nicht als 16 strafbar.“
1. Tendenzen zu extensiven Auslegungsformen Blickt man auf die Anwendungsgeschichte der Artt. 145 und 159 und auf die Nachfolger zurück, fallen einige extensive Auslegungsformen ins Auge: 1) Art. 145 aus dem tStGB 1926 und auch der Nachfolger Art. 300 aus dem tStGB 2004 führen neben der eigentlichen Tathandlung Beispiele auf. Diese eigentlich mehr der Rechtssetzung zuzurechnende Entscheidung führte im Schrifttum zu der Auffassung, dass die Tathandlung der Vorschriften weit ausgelegt werden müsse. 2) Obwohl die Hoheitszeichen dem Grunde nach physische Gegenstände sind, wurde bei der Auslegung des Art. 145 durch die Rechtsprechung der Unabhängigkeitsmarsch als Hoheitszeichen aufgefasst17. Das Problem wurde immerhin durch die ausdrückliche Regelung im Art. 300 zumindest in rechtsetzungstechnischer Hinsicht gelöst. 3) Art. 159 enthielt seit 1946 die Regelung, Tathandlungen auch dann als ausdrücklich geschehen anzusehen, wenn bei Begehung die Adressaten nicht ausdrücklich erwähnt wurden, jedoch Umstände vorlagen, die keinen Zweifel daran lassen, dass der Angriff einem von ihnen galt. Dies ermöglichte den Richtern einen weiten Spielraum bei der Auslegung. 4) Obwohl die Schutzobjekte in Art. 159 einzeln aufgeführt wurden und der Gesetzgeber einen lückenlosen Schutz staatlicher Einrichtungen anzustre15 16 17
Sözüer, Das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 36. Tellenbach, Zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, S. 79. Kassationshof, Urteil vom 21.2.1983, E. 4/565, K.77, abgedruckt bei: Yarg�tay Kararlar Dergisi 1983, 757 ff.
Sechstes Kapitel: Würdigung
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ben versuchte, konnte sich sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung die Auslegung etablieren, Angriffe, die sich zwar gegen Teile eines Schutzobjektes oder bestimmte Amtswalter richten (Teile der Regierung, Behörden eines Ministerialressorts, bestimmte Minister, bestimmter Ministerpräsident etc.), im Einzelfall als gegen das gesamte Schutzobjekt gerichtet zu deuten18. Diese Auslegung soll nach einigen Autoren beibehalten werden19. Offenbar wird verkannt, dass diese Auslegungsform des Art. 159 auf seine Regelung unter 3) zurückzuführen sein könnte, die in Art. 301 keine Entsprechung mehr findet. 5) Insbesondere die Auslegung zum Türkentum – die in rechtsetzungstechnischer Hinsicht freilich mit der Unbestimmtheit des Schutzobjekts zusammenhängt – offenbart freie Interpretationen. So wurde ein Verbalangriff auf die Türkei schon als Angriff auf das Türkentum gedeutet20.
2. Öffentlichkeit als Gefährdungsmaßstab a) Private Öffentlichkeit? Ein besonderes Problem der Artt. 145 und 159 und der Nachfolger ist der Umgang mit der öffentlichen Begehung. Denn das Ansehen der Schutzobjekte kann nur bei solchen Tathandlungen gefährdet werden, von denen das Publikum Kenntnis erlangt. Mit Blick auf Art. 159 erklärt Sancar: „Das Vorliegen der Öffentlichkeit ist im Hinblick auf die Gefährdung für die in Art. 159 geschützten Rechtsgüter Voraussetzung. Lediglich die Beschimpfung und Verächtlichmachung können nicht ausreichend sein; sondern daneben muss auch danach geschaut werden, ob sie öffentlich, also in einer Weise, in der andere von ihr Kenntnis erlangen, erfolgen und die geschützten Werte und das Ansehen der Organe, die Autorität und Fähigkeit Gehorsam zu erzeugen gefährden können.“21
Art. 145 jedoch setzte seit der Rocco-Angleichung überhaupt keine öffentliche Begehung mehr voraus22. Auch dem Art. 159, der die öffentliche Begehung verlangt, lag ein äußerst weites Verständnis von Öffentlichkeit zugrunde. Es sollte schon die Möglichkeit genügen, dass mehrere die Tat wahrnehmen, die auch in privaten, gar geschlossenen Orten vorliegen kann. Durch diese Auslegung kehrten Lehre und Rechtsprechung die Öffentlichkeit um und führten das wichtigste strafbarkeitslimitierende Tatbestandsmerkmal ad absurdum. Bedenklich ist, dass für die Definition von Öffentlichkeit der Nachfolger im 18 19 20 21 22
Siehe oben: Viertes Kapitel, D) II. 3. ff. Parlar / Hatipo�lu, Hakaret Suçlar�, S. 474 ff.; Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 145. Kassationshof, Urteil vom 28.5.1980, E. 1980/1281, K. 1980/2368, abgedruckt bei: Gündel, Hakaret Suçlar�, S. 144. Sancar, a.a.O., S. 177 f. Kritisch dazu: Erem, Ceza Hukukunda Türk Bayra��, S. 119; ders., Türk Ceza Kanunu �erhi, S. 1058 f.
Zweiter Teil Türkisches Recht
b Konkrete oder abstrakte Gefährdung? zararsuçlar� tehlikesuçlar� somut soyut
Möglichkeit
3 Vorfeldkriminalisierung
CentelZaferÇakmut ¡Hakeri ¡ArtukGökcenYenidünya ¡Özgenç ¢ Sancar£¤¥ Koca ¢ ¡ Sancar £ ¡Senkeri ¦ ¢ArtukGökcenYenidünya § ¤
Sechstes Kapitel: Würdigung
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ren, laden – insbesondere bei den politischen Straftaten – zu Individual26 Freiheitsrechte einschränkenden, ungerechten Strafen ein.“
Neben der durch die weite Auslegung der Öffentlichkeit bedingten Vorfeldkriminalisierung ist der Ansehensschutz und der Schutz von Nationalgefühlen gegenüber dem Staatsbestand Vorfeld. Denn wie bereits festgestellt worden ist, stehen Nationalgefühl und das Ansehen der Schutzobjekte und des Staates in einem Zusammenhang zum Bestandsschutz des Staates27. Das Nationalgefühl soll die Nation, das Staatsvolk, also ein Element für das Vorliegen eines Staates erhalten helfen. Das Ansehen der Hoheitszeichen und Staatsorgane soll Gehorsam und Achtung gegenüber der Autorität der den Staat symbolisierenden Zeichen und gegenüber den konstitutionellen Staatseinrichtungen wahren und im Vorfeld umstürzlerische Aktionen unterbinden. Die Artt. 300, 301 und ihre Vorläufer setzen zum Ziel des Staatsbestandsschutzes also früher an als das allgemeine Rechtsgut Bestandsschutz.
4. Richter als Historiker Neben den extensiven Auslegungstendenzen und der Vorfeldkriminalisierung ergibt sich im Hinblick auf die Anwendungsgeschichte des Türkentums noch die Problematik, dass Völkermordbehauptungen, insbesondere im Zusammenhang mit den Deportationen der Armenier zum Ende des Ersten Weltkrieges, als Beschimpfung und Verächtlichmachung des Türkentums gedeutet wurden. Ob sich daran nun durch die Streichung des Türkentums und Einführung der türkischen Nation etwas ändern wird, ist zumindest fraglich: Denn wie sich bereits aus dem Protokoll des Justizausschusses und dem allgemeinen Schrifttum ergibt, soll die Rechtsprechung des Kassationshofes das Türkentum mit der türkischen Nation weitgehend gleichgesetzt haben28. So behält dieser Aspekt seine Aktualität. Was aber ist so problematisch, wenn ein Strafrichter die Behauptung, dass die Armenier einem Völkermord zum Opfer gefallen sind, mit einer Geld- oder Haftstrafe belegt? Zunächst gibt die Bestrafung von Völkermordbehauptungen einer bestimmten Version von Geschichte Vorrang. Man kann sogar weiter gehen und sagen, dass die Bestrafung solcher Behauptungen eine bestimmte Version der Geschichte als wahr definiert. Denn auch wenn man darüber streiten mag, ob hinter einer Strafnorm auch ein Verbot steht, ist ein Straftatbestand in der Lage, in der Gesellschaft den Eindruck für ein Verbot zu erwecken. Dieser Vorrang für eine Version der Geschichte betrifft den in der Diskussion um26 27 28
Sancar, a.a.O., S. 178 m.w.N. Hierzu und zum Folgenden siehe oben: Viertes Kapitel, C) VII. sowie D) VII. und fünftes Kapitel, C) IV. sowie D) VI. Can, Der Schutz der staatlichen Ehre und religiösen Gefühle in der Türkei, S. 42. Adalet Komisyonu Raporu, S. 13.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
strittenen Teil der historischen Umstände. Die Bestrafung von Völkermordbehauptungen kann aber auch für die juristische29 oder moralische Wertung von unstreitigen historischen Tatsachen als Völkermord erfolgen. Denn in der Türkei werden die Deportation der Armenier und die Massaker nicht bestritten, sie werden vielmehr als kriegsbedingt gerechtfertigt. Die türkischen Darstellungen unterscheiden sich von den armenischen hingegen beispielsweise im Hinblick auf die Opferzahlen und derjenigen Umstände, die ein planungsmäßiges Vorgehen belegen können30. Betrachtet man aber nun die Ermittlung aller (ermittelbaren) historischen Umstände und ihre juristische, politische und moralische Würdigung als gesellschaftliche Aufgabe der Türkei, so setzt dies Rahmenbedingungen voraus, die etwa wissenschaftliche, journalistische oder künstlerische Auseinandersetzungen mit den Ereignissen um die Jahre 1915–17 ermöglichen. Die Strafe für Völkermordbehauptungen verhindert oder erschwert jedenfalls die Erfüllung einer solchen Aufgabe. Dabei sind die Ermittlung der Geschichte und ihre Würdigung schon durch diverse Grundrechte gedeckt. Hierzu zählen insbesondere die Meinungsäußerungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Kunstfreiheit und die Freiheit der Wissenschaft, die sowohl der türkischen Verfassung als auch der in der Türkei geltenden EMRK nicht unbekannt sind31. So erklärten denn auch die Mitglieder des Sachverständigengutachtens zum Fall Hrant Dink: „Die Ereignisse um 1915 als Völkermord zu qualifizieren, erfüllt [...] nicht den in Art. 159 bezeichneten Straftatbestand. Über die Völkermordbehauptungen wird noch immer diskutiert und sowohl die Armenier als auch die Türken bringen unterschiedliche Blickwinkel und Ansichten zum Ausdruck. Daher sind diese Aussagen eine auf ein historisches Ereignis gerichtete Meinungsäußerung.“32
Obwohl es sich bei der offiziellen türkischen Haltung aber um eine These handelt und auch aus Sicht der türkischen Regierung noch Klärungsbedarf besteht33, bezogen die Richter die offizielle Haltung der Türkei in ihre Urteilsbegründung mit ein: 29 30 31 32 33
In der Resolution 260 der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948 wurde beispielsweise ein Definitionsversuch für den Völkermord aufgestellt. Siehe Angaben des Ministeriums für Kultur und Tourismus der Republik Türkei. Abrufbar unter: http://www.kultur.gov.tr/ (siehe unter: „History“ und „Armenian Allegations and the Facts“) (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Siehe oben: Drittes Kapitel, E). Frenz, Europäische Grundrechte, S. 529 ff. (Hervorhebung diesseits) Kassationshof, Urteil vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184, abgedruckt bei: Çetin, a.a.O., S. 173. Die türkische Regierung unterbreitete der armenischen Regierung den Vorschlag, eine türkisch-armenische Historiker-Kommission einzuberufen und die Faktenlage wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Siehe hierzu das Spiegel-Interview mit dem armenischen Ministerpräsidenten Sersch Sargsjan (*1954), in: „Die Welt muss reagieren“, Spiegel vom 3. April 2010, Nr. 14, S. 94.
Sechstes Kapitel: Würdigung
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„[...] Der Angeklagte beurteilt die Ereignisse um 1915 mit dem Blick der armenischen Diaspora und sieht in ihnen einen von türkischer Seite begangenen Völkermord. Es ist offenkundig, dass dies der offiziellen türkischen These widerspricht. Der offiziellen türkischen These zur Folge [...] haben die Armenier, die einen Teil der osmanischen Gesellschaft bildeten, gar als ‘treue Nation’ bezeichnet wurden, im Krieg mit den Feinden kollaboriert, die Osmanen hinterrücks angegriffen und mit Massenmorden in den östlichen Provinzen Grausamkeiten begangen. Aus diesem Grunde wurden sie von der osmanischen Regierung zwangsweise umgesiedelt. Es ist allgemein anerkannt, dass diese Umsiedlung in Richtung der südlichen Territorien des Osmanischen Reiches erfolgte und dass es dabei aus unvermeidbaren Gründen [...] zu massenhaften Todesfällen gekommen ist. Es wird also eine andere These aufgestellt, die der vom Angeklagten vertretenen These zur Gänze 34 widerspricht.“
5. Einflüsse auf Anwendungshäufigkeit a) Allgemein Die These steht im Raum, dass gesellschaftspolitische Ereignisse, wie z.B. Krisen oder bürgerkriegsähnliche Zustände, Einfluss auf das Staatsschutzstrafrecht und damit auch auf die Anwendung der hier untersuchten Vorschriften genommen haben könnten. Krisenzeiten bietet die türkische Geschichte zuhauf. Die neu gegründete Republik stand noch auf tönernen Füßen, als der Übergang zur Mehrparteiendemokratie gewagt wurde, und so folgten mehr als drei Jahrzehnte militärischer Interventionen und bewaffneter Auseinandersetzungen konkurrierender politischer Lager. Diese über drei Jahrzehnte währende Krisenzeit ist im Hinblick auf die statistische (Einzel-)Erfassung unserer Vorschriften jedoch nur teilweise dokumentiert. Die Betrachtung der statistisch erfassten Zeiträume hingegen erfordert eine genauere Differenzierung: So ist zwischen Einflüssen auf die Anwendungshäufigkeit aus gesetzgeberischen Gründen und außergesetzgeberischen Gründen zu unterscheiden. Denn die Ausweitung des Tatbestands einer Strafvorschrift etwa ermöglicht den Strafverfolgungsbehörden die Ahndung eines größeren Kreises von Taten. Hier können Wahrscheinlichkeits-Aussagen gemacht werden, wenn beispielsweise die Ausweitung des Tatbestands und die Zunahme der Anwendungshäufigkeit in einem zeitlichen Zusammenhang stehen. Aussagen über andere Einflüsse, etwa gesellschaftliche Unruhen, sind grundsätzlich spekulativ. Sie sind fehleranfällig, weil ihr nicht selten das Vorgehen zugrundeliegt, Zeiträume mit Anwendungszunahmen mit der Suche nach besonderen Ereignissen zu erklären. Dieses Vorgehen ist methodisch jedoch bedenklich, da Anwendungsabnahmen stillschweigend als Folge „ruhigerer“ Zeiten quit-
34
Kassationshof, Urteil vom 11.7.2006, E. 9–169, K. 184; Çetin, a.a.O., S. 177.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
tiert werden, ohne kritisch zu überprüfen, ob nicht auch in diesen Zeiträumen besondere Ereignisse stattgefunden haben. Im Rahmen der Würdigung möglicher außergesetzgeberischer Gründe gilt es dann noch näher zu konkretisieren, was genau unter dem Einfluss auf die Anwendungshäufigkeit zu verstehen ist. Denn auch hier kann man zwischen zwei Ebenen unterscheiden: Einer ersten, unmittelbaren Ebene liegt der Gedanke zugrunde, dass bei Unruhen und in Krisenzeiten die Begehungswahrscheinlichkeit für Staatsschutzdelikte ansteigt, sich also die Anlässe für Beschimpfungen und Verächtlichmachungen bzw. Herabsetzungen von Verfassungsorganen mehren oder etwa bei Zunahmen von Demonstrationen Angriffe auf Hoheitszeichen wahrscheinlicher sind. Eine zweite, mittelbare Ebene betrachtet die Dinge globaler. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, dass die Justiz nicht (immer oder vollständig) unabhängig ist und sich durch staatliche oder andere Kräfte beeinflussen lässt. Auf die letzte Untersuchungsebene soll hier nicht eingegangen werden, da sich Aussagen dieser Art nicht hinreichend oder nur schwer belegen lassen35.
b) Gesetzgeberische Einflüsse Der Zusammenhang zwischen der Erweiterung des Tatbestands und der Zunahme der Anwendungshäufigkeit lässt sich insbesondere an Art. 159 verdeutlichen. Nach der Rocco-Angleichung 1936 und 1938 und dem Änderungsgesetz im Jahre 1946, in der sich der Tatbestand unter anderem um jeweils drei Schutzobjekte erweiterte36, nahm die Anwendung der Vorschriften gemessen an den Verurteilungszahlen deutlich zu37. Im Gegensatz hierzu kann ein vergleichbarer gesetzgeberischer Einfluss auf Art. 145 nicht festgestellt werden. Art. 300 tStGB 2004 hingegen nahm – verglichen mit Art. 145 – deutlich an Relevanz zu, nachdem die subjektiven Voraussetzungen herabgesetzt wurden und die Vorschrift mit dem Unabhängigkeitsmarsch ein neues Schutzobjekt erlangte. Die nunmehr verlangte Öffentlichkeit steht dazu offenbar nicht im Widerspruch. Jedoch erstaunt, dass die Abnahme der Anwendungshäufigkeit des Art. 301 zumindest teilweise im Widerspruch zu seiner gesetzgeberischen Entwicklung steht, die mit der Herabsetzung der subjektiven Voraussetzungen und der weiteren Tathandlung den Anwendungsbereich ausdehnt und anstelle einer Abnahme die Zunahme der Anwendungshäufigkeit vermuten lässt.
c) Die Amnestie als besonderer gesetzgeberischer Einfluss Einen besonderen gesetzgeberischen Einfluss auf die Anwendungshäufigkeit von Strafvorschriften bilden Amnestien. In der türkischen Rechtsgeschichte 35 36 37
Einen Versuch wagt: �enol, Unabhängigkeit der Justiz und Rechtspraxis, S. 97 ff. Siehe oben: Viertes Kapitel, D) I. 2. und 3. Oben: Viertes Kapitel, D) VIII. 1.
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hat es relativ häufig Amnestiegesetze gegeben, die neben einem Straferlass für rechtskräftig Verurteilte auch zur Einstellung der öffentlichen Klage führen konnten38. Unterschieden wird insoweit zwischen Amnestien (genel af), die das Strafverfahren beenden und im Falle einer schon erfolgten Verurteilung die Strafe erlassen, und dem Straferlass (özel af), der laufende Verfahren unberührt lässt, aber die verhängte Strafe aufhebt, mildert oder umwandelt39. Von Interesse ist hier die Amnestie, da sie zur Einstellung der öffentlichen Klage führen kann und sich in diesen Fällen in den Justizstatistiken unter den Einstellungen (dü�me) niederschlägt40. Daneben existieren noch die „schwebenden“ Amnestiegesetze, die einen Aufschub (erteleme) sowohl für bereits verhängte Strafen als auch für die Strafverfolgung vorsehen41. In den Statistiken kann sich der Aufschub bei den Anklagezahlen (dava aç�l�� say�lar�) verringernd bemerkbar machen, da diese Gesetze auch die Klageerhebung aufschieben. Die in der tVerf 1924, 1961 und 1982 der Großen Nationalversammlung zuerkannte 42 Befugnis, über Amnestiegesetze zu entscheiden , wurde nicht selten bei besonderen gesellschaftlichen Ereignissen in Anspruch genommen43. So erging etwa anlässlich des zehnjährigen Gründungsjubiläums der Türkischen Republik das Amnestiegesetz Nr. 2330 vom 26. Oktober 1933. Das Amnestiegesetz Nr. 4943 vom 14. Juni 1946 für Straftaten des Pressegesetzes steht im Kontext zu der Kritik an den Wahlen von 1946. Auch das unter der Regierung der Demokratischen Partei (DP) erlassene Amnestiegesetz Nr. 5677 vom 14. Juli 1950 sollte dazu dienen, das noch neue Mehrparteiensystem in der Türkei zu stärken. Ebenfalls der Stärkung der neuen Ordnungen nach dem Militärputsch von 1960 diente das Amnestiegesetz Nr. 113 vom 26. Oktober 1960. Schon diese Beispiele zeigen, dass die Amnestiegesetze aus dem jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext heraus zu interpretieren sind.
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42 43
Akyaz� (u.a.) (Hrsg.), Türkiye’de Dünden Bugüne Af, S. 11 ff.; Önder, Das türkische Strafrecht, S. 490 f.; Tellenbach, Begnadigung, Amnestie, Aufhebung der Strafbarkeit in der Türkei, S. 699. Umfassend: Keyman, Türk Hukukunda Af, S. 42 ff. Art. 97 tStGB 1926 regelte, dass die Amnestie die öffentliche Klage und die bereits erfolgte Verurteilung mit allen Wirkungen zum Erlöschen bringt. Diese Regelung ist mit Art. 65 Abs. 1 tStGB 2004 beibehalten worden. Art. 98 Abs. 1 S. 1 tStGB 1926 regelte, dass der Straferlass die Strafe aufhebt, sie herabsetzt oder umwandelt. Auch diese Regelung wurde im tStGB 2004 mit Art. 65 Abs. 2 beibehalten. Zum Ganzen: ebd.; Tellenbach, a.a.O., S. 698 ff. Vgl. Keyman, a.a.O., S. 6 f. Vgl. Erem, Türk Ceza Hukuku, Bd. 1, S. 553 ff., insbesondere S. 556 ff. Seit 2005 werden neben Anklage, Verurteilung und Freispruch lediglich „andere Entscheidungen“ (di�er kararlar) dokumentiert, so dass hier schon eine zweifelsfreie Erfassung der Einstellungen nicht möglich ist. Der Unterschied zwischen Aufschub und Amnestie besteht darin, dass die Amnestie endgültige Wirkung entfaltet, während die aufschiebende Wirkung beim Aufschub entfallen kann, wenn der Betroffene Täter innerhalb einer vom Gesetz bestimmten Frist erneut straffällig wird. Önder, a.a.O., S. 491 f. Dazu: Akyaz� (u.a.) (Hrsg.), a.a.O., S. 6; Keyman, a.a.O., S. 91 ff. Mit Blick auf Inhalt und historischen Kontext aller Amnestiegesetze bis 1999 und zu den folgenden Ausführungen des Absatzes: Akyaz� (u.a.) (Hrsg.), a.a.O., S. 16 ff.
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Schaut man sich die Amnestiegesetze an, die die Einstellung oder den Aufschub der Klage nach den Artt. 145, 159 tStGB 1926 bzw. nach den Artt. 300, 301 tStGB 2004 herbeigeführt haben könnten, ergibt sich kein eindeutiges Bild: Denn die meisten Amnestiegesetze galten zwar grundsätzlich für alle Straftaten, enthielten aber Ausnahmen für politische oder solche Straftaten, die einen hohen Strafrahmen vorsahen. Die Amnestiegesetze, die in die statistisch erfassten Zeiträume fallen, sahen häufig vor, die Strafe bei Straftaten mit einem Strafrahmen von mehr als fünf Jahren zu mildern, laufende Verfahren aber unberührt zu lassen. Art. 159 hatte bis in die EU-Harmonisierungsphase nach der Jahrtausendwende einen Strafrahmen von einem Jahr bis zu sechs Jahren Gefängnis und wurde daher von vielen Amnestien nur im Hinblick auf das Strafmaß erfasst. Nach dem Amnestiegesetz vom 14. Juli 1950 wurde Art. 159 erst wieder durch die „schwebenden“ Amnestiegesetze Nr. 4454 vom 28. August 199944 und Nr. 4616 vom 21. Dezember 200045 eine relevante Vorschrift für den amnestiebedingten Aufschub der öffentlichen Klage. Anders verhielt es sich mit Art. 145, der einen niedrigeren Strafrahmen vorsah und so in den laufenden Verfahren durch die Amnestiegesetze häufiger erfasst wurde. So erloschen die laufenden Verfahren nach Art. 145 durch die Amnestiegesetze Nr. 5677 vom 14. Juli 1950 und Nr. 113 vom 26. Oktober 196046. Von dem „schwebenden“ Amnestiegesetz Nr. 4454 wurde Art. 145 ebenfalls erfasst, nicht hingegen von demjenigen aus dem Jahr 2000, der Art. 145 ausdrücklich ausschloss47. Nach Inkrafttreten des tStGB 2004 wurden zwar noch weitere Amnestiegesetze erlassen. Sie betreffen aber die Artt. 300, 301 weder im Hinblick auf den Aufschub der Klageerhebung noch im Hinblick auf die Einstellung der öffentlichen Klage. Der Einfluss der Amnestiegesetze auf die statistisch erfassten Daten lässt sich nicht immer zweifelsfrei verifizieren. Die Amnestie von 1950 machte sich bei Art. 145 allenfalls durch einen Rückgang der Verurteilungen gegenüber dem Vorjahr bemerkbar. Art. 159 hingegen verzeichnete sowohl einen Rückgang der Verurteilungszahlen im Jahr 1950 als auch einen weiteren Rückgang in den Folgejahren, in denen aufgrund der Einstellungen über eine geringere Zahl von Verfahren zu entscheiden war. Einen vergleichbaren Einfluss mag die Amnestie von 1960 auch auf Art. 145 genommen haben. Dass die Amnestie von 1999 für Straftaten durch Pressemittel hingegen zu keiner erkennbaren Reduzie44 45 46 47
Dieses Gesetz wurde durch Gesetz Nr. 4809 vom 6. Februar 2003 erweitert. Nachdem Teile dieses Gesetzes durch das Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt wurden, wurde es durch das Gesetz Nr. 4758 vom 21. Mai 2002 angepasst. Die Amnestiegesetze, die in den Zeitraum fallen, in denen die Artt. 145, 159 statistisch nicht erfasst wurden, werden hier nicht berücksichtigt. Die schwebende Amnestie von 1999 bezog sich auf Straftaten, die durch Pressemittel begangen wurden.
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rung der Anklagen nach Art. 145 nahm, überrascht nicht. Denn zwar konnte Art. 145 grundsätzlich durch Pressemittel begangen werden. Dies stellt aber nur eine von vielen denkbaren Begehungsformen dar. Die 1999er Amnestie macht sich bei dem für die Begehung durch Pressemittel relevanteren Art. 159 hingegen deutlicher bemerkbar, bei dem die Anklagezahlen im Jahre 1999 stark abnehmen. Die „schwebende“ Amnestie von 2000 mag im Hinblick auf Art. 159 schließlich noch vor einer Anklageflut wie im Jahre 2001 abgehalten haben.
d) Die Ermächtigung zur Strafverfolgung als politischer Einflussfaktor Neben dem gesetzgeberischen Einfluss auf die Strafverfolgung in Gestalt der Amnestien hat der türkische Gesetzgeber bei einigen Straftaten auch eine besondere Ermächtigung für die Strafverfolgung vorgesehen. Sowohl Art. 301 als auch der Vorläufer sahen solche Ermächtigungen vor48. Art. 159 verlangte für einige Schutzobjekte die Ermächtigung des Justizministers, eine zeitlang die Ermächtigung des Präsidenten der Großen Nationalversammlung und ebenfalls eine zeitlang für die militärischen Streitkräfte und Sicherheitskräfte die Ermächtigung des Verteidigungsministers. Diese Ermächtigungen ermöglichen vor dem Beginn der eigentlichen Strafverfolgung eine Zweckmäßigkeitsoder Nutzenabwägung49. Einige Autoren sprechen der Ermächtigung die Eigenschaft einer administrativen Entscheidung (idari karar), andere die einer politischen Entscheidung (siyasi karar) und einige wiederum eine janusköpfige Eigenschaft zu50. Sie kann als Aufweichung des Legalitätsgrundsatzes kritisiert werden. Wenn sie als Instrument des Opportunitätsgedankens eingesetzt werden muss, um eine unerwünschte Anwendungsrelevanz einer Vorschrift zu reduzieren, stellt sich jedoch schon die Frage nach der Zweckmäßigkeit. Denn vor dem Hintergrund von Grundrechten kann die Anwendungsrelevanz eines Straftatbestandes am effektivsten durch die gesetzgeberische Verengung des Tatbestandes verringert werden. Ein Eingriff in die Strafverfolgungsbefugnis verfehlt hier das eigentliche Problem. Die aktuelle Fassung des Art. 301 sieht mit Absatz 4 ebenfalls die Ermächtigung des Justizministers vor. Die Erstfassung des Art. 301 enthielt keine Voraussetzung für die strafrechtliche Verfolgung. Im Jahr 2009 haben die Anklagen nach Art. 301 erneut abgenommen und mögen hiermit in einem Zusammenhang stehen. Die mögliche Motivation des Justizministeriums, weitere Anklagefluten zu verhindern, erklärt sich wohl mit dem durch die EUAnnäherung entstandenen öffentlichen Druck. Das Verfahren gegen den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, das ebenfalls wegen der fehlenden Er48 49 50
Für Art. 159 im Überblick siehe Anhang Nr. 1 unter Art. 160 sowie Art. 301 in der Fassung von 2008. Sancar, a.a.O., S. 249 ff.; Senkeri, a.a.O., S. 280 ff. Sancar, a.a.O., S. 254 m.w.N.
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mächtigung des Justizministers eingestellt wurde, ist ein prominentes Beispiel für das Zusammenspiel von Öffentlichkeit, EU-Beitritt und dem drohenden Schaden bei einer Verurteilung. In diesem Grenzbereich scheint die Vorschrift selbst die Gefahr für das Ansehen der Türkei zu sein.
e) Sonstige außergesetzgeberische Einflüsse Als sonstiger außergesetzgeberischer Einfluss drängt sich zunächst die mit der Einführung des Mehrparteiensystems einhergehende Krisenzeit in den Vordergrund. Dass der Anstieg der Verurteilungen nach Art. 159 seit 1948 so auch auf die innenpolitische Lage zurückgeführt werden kann, also auch in einem Zusammenhang mit der öffentlichen Kritik an den Parlamentswahlen von 1946 steht, ist nicht auszuschließen. Denn auch der Gesetzgeber begründete die Aufnahme des Schutzes der Legitimität der Großen Nationalversammlung von 1946 damit, dass im Vorfeld dieser gesetzgeberischen Entscheidungen „viele Behauptungen aufgestellt“ wurden, nach der „die Große Nationalversammlung nicht legitimiert sei“51. Ob aber die Zunahme der Anwendungshäufigkeit zu Art. 145 auch auf die mit der Einführung des Mehrparteiensystems einhergehenden inneren Unruhen52 zurückgeführt werden kann, ist fraglich. Zwar ist es denkbar, dass bei den in dieser Zeit vermehrten Protestaktionen auch Angriffe auf die in Art. 145 bezeichneten Hoheitszeichen erfolgten. Aber im Hinblick darauf, dass die Verurteilungszahlen allgemein niedrig sind, könnte die Aussage, dass die Erhöhung ausschließlich oder zum Teil auf die Protestaktionen um die Wahlen von 1946 und 1950 zurückzuführen sind, nicht als gegen den Zufall oder mögliche Fehler abgesichert bezeichnet werden. Nach den militärischen Interventionen weisen beide Vorschriften im Vergleich zum Zeitraum vor dieser Krisenzeit eine gesteigerte Anwendungsrelevanz auf. Bei dem relativ hohen Anklageniveau des Art. 145 Mitte der 1980er Jahre mag noch der Militärputsch von 1980 nachwirken, nach dem bis 1987 in der gesamten Republik der Ausnahmezustand verhängt worden war und die inneren Unruhen anhielten. Zum Anstieg der Anklage- und Verurteiltenzahlen in den 1990er Jahren kann die Eskalation des Konflikts mit der PKK53, 54 beigetragen 51 52 53
54
T.B.M.M. Tutanak Dergisi v. 18.9.1946, RNr. 50, S. 2. Vgl. Steinbach, Geschichte der Türkei, S. 42 f. Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) ist eine unter anderem in der Türkei und der EU verbotene, als terroristisch eingestufte Organisation, die mit Waffengewalt und Anschlägen auch auf zivile Ziele für Autonomie der Kurden in der Region Türkei, Syrien, Irak und Iran einsteht. Das türkische Militär liefert sich mit der PKK seit etwa drei Jahrzehnten bewaffnete Auseinandersetzungen. Die seit 1984 anhaltenden bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der militanten PKK (und dem türkischen Militär) und die sich häufenden Terroranschläge auf zivile Ziele führten im Jahr 1991 überdies zum Antiterrorgesetz, das in der Entwurfsphase als „Panikvorschrift“ (Panik Mevzuat�) bezeichnet wurde und als direkte Reaktion auf die
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haben, die in den mehrheitlich von Kurden besiedelten Teilen der Türkei regelmäßig zu Protestaktionen führte. In jüngerer Zeit führte noch die Flaggenkrise (bayrak krizi) im Jahr 2005 zu einer breiten medialen Aufmerksamkeit, als es bei einem kurdischen Volksfest in Mersin zur öffentlichen Verbrennung der türkischen Flagge kam und diese Aktion im Fernsehen direkt übertragen wurde55. Durch welche Ereignisse die z.T. erheblichen Schwankungen der Anwendungshäufigkeit56 von Art. 159 hervorgerrufen sein könnten, darüber kann nur spekuliert werden. Die zunehmenden Aktivitäten der PKK auch gegenüber zivilen Zielen unter anderem in touristisch relevanten Gebieten der Türkei, insbesondere aber auch der Anschlag im Jahr 1993 auf ein Dorf in Erzincan, bei dem 31 Menschen ums Leben kamen57, hatten in den Medien eine breite Aufmerksamkeit erfahren und mögen die Kritik an der Haltung der Türkei zur Kurdenfrage bestärkt haben. Das gleiche gilt für den Susurluk-Skandal von 199658. Die hohen Anklagen aus dem Jahre 2001 könnten sich durch den wachsenden Unmut über die Unfähigkeit der türkischen Regierung, die Wirtschaftskrise der Jahre 2000–2001 und den drohenden Staatsbankrott aus eigenen Kräften59 zu überwinden, erklären. Zuletzt ist als ein möglicher außergesetzgeberischer Einfluss auf die Anwendungshäufigkeit noch auf die Beitrittsverhandlungen mit der EU hinzuweisen, die schon Einfluss auf die (Straf-)Gesetzgebung seit 2002 nahmen. Sie könnten die trotz der tatbestandlichen Erweiterungen festzustellende Abnahme des Art. 301 erklären. Denn wie sich aus den parlamentarischen Diskussionen ergibt, sind sich Politik und Gesetzgeber sehr wohl bewusst, dass die europäische Öffentlichkeit die Entwicklungen der Meinungs- und Pressedelikte, insbesondere die Entwicklungen im Zusammenhang mit Art. 301
55 56 57 58
59
Eskalation des Kurdenkonflikts zu sehen ist. Tellenbach, Zum Straf- und Strafprozeßrecht, S. 152. Siehe hierzu: Arslan, Der Mythos der Nation im transnationalen Raum, S. 12. Die Schwankungen betreffen insbesondere die Anklagezahlen. S.o. Siehe Onlineausgabe der Yeni �afak, abrufbar unter: http://yenisafak.com.tr/arsiv/ 2000/temmuz/05/g3.html (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Im November 1996 ereignete sich bei Susurluk ein Verkehrsunfall, bei dem Hüseyin Kocada�, der damalige stellvertretende Polizeipräsident Istanbuls, Abdullah Çatl�, ein Mitglied der türkischen Mafia und dessen Lebensgefährtin Gonca Us ums Leben kamen. Sedat Bucak, Mitglied der Partei des rechten Weges (DYP), überlebte diesen Unfall, wurde aber schwer verletzt. Im Auto fand man gefälschte Pässe, Geld, Betäubungsmittel, Waffenscheine und mehrere Faustwaffen. Das Ereignis steht seitdem symbolhaft für die Verwicklungen illegaler Einrichtungen mit dem türkischen Staat. Sie stürzten die Regierung von Tansu Çiller in eine Krise. Vgl. Tellenbach, Einführung in das türkische Recht, S. 7 f. Die Türkei erhielt im Jahre 2001 Kredite vom Internationen Währungsfond (IWF), um die Krise zu überwinden.
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beobachten und dieses Themenfeld einen Gegenstand der EU-Beitrittsverhandlungen (Justiz und Grundrechte60) darstellt. Zwar können gesellschaftliche Unruhen und Krisenzeiten in Medien und Öffentlichkeit zu starker Kritik am Establishment führen, auf die die Strafverfolgungsbehörden mit Anklagen reagiert haben könnten. Ohne einen Einblick in die Umstände aller oder zumindest einen Großteil der Verfahren kann jedoch nicht sicher gesagt werden, welche Ereignisse die Zahl der Anklageerhebungen beeinflusst haben könnten. So bleiben Interpretationen über mögliche außergesetzgeberische Einflüsse auf die Anwendungshäufigkeit im Bereich der Spekulationen.
C) Folgerungen I. Ansehen des Staates und Nationalgefühl – Rechtsgüter mit ausufernder Tendenz? Die stetigen, tatbestandlichen Erweiterungen insbesondere in der Gesetzgebungsgeschichte von Art. 159, der Umgang mit Völkermordbehauptungen, die Einschränkung der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit, unbestimmte Rechtsetzung und die extensiven Auslegungsformen werfen die Frage auf, ob den Vorschriften zum Schutze des Ansehen des Staates und des Nationalgefühls eine ausufernde Tendenz anhaftet.
1. Nationalgefühl Wenn – wie der Gesetzgeber vorgibt – der Zweck des Nationalgefühls darin liegt, die Zugehörigkeit der Menschen zum Staatsvolk zu erhalten und die „Vaterlandsliebe“ zu fördern61, werden grundsätzlich unsichere Bewertungsmaßstäbe zur Auslegung der Tatbestände aufgestellt. Denn die Verletzung dieses personalisierten und subjektiven Kollektivrechtsgutes ist grundsätzlich nicht positiv feststellbar. Es ist dann nur konsequent, dass die Straftatbestände zum Schutz des Nationalgefühls als Gefährdungsdelikte konzipiert sind. Dabei soll das Nationalgefühl aber den Bestand des Staatsvolkes und damit mittelbar den Bestand des Staates schützen62. Ob die Zugrundelegung eines so bedeutenden Zieles einer Vorverlagerung der Strafbarkeit aber gerecht wird, darüber mag man im türkeipolitischen Kontext zwar streiten. Dies steht aber im Zu60 61 62
„Judiciary and Fundamental Rights“, Kapitel 23 der Verhandlungsgegenstände. Abrufbar unter: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/st20002_05_tr_framedoc_en.pdf (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Protokoll des Justizausschusses vom 1.8.1951, teilweise abgedruckt bei: Ça�layan, Türk Ceza Kanunun 159. Maddesi, S. 1172 f.; siehe auch bei: Sancar, a.a.O., S. 78; Senkeri, a.a.O., S. 60. Vgl. Rumpf, Ehre und Würde, S. 13 f.
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sammenhang mit den vom Kemalismus aufgestellten Verfassungswerten und wird daher wohl regelmäßig als gedeckt betrachtet63. Die Bedeutung des Nationalgefühls als Instrument zur Erhaltung des Staatsbestandes ist aber in der Lage, zu weiten Auslegungen und zu einer häufigen Anwendung der entsprechenden Vorschriften einzuladen. Denn es liegt auf der Hand, dass jedes Individuum sich stets zu einem moralisch unbedenklichen Kollektiv bekennen wollen wird und ein Gesetzgeber, der sich durch den verfassungsmäßigen Auftrag die von Atatürk geforderte Nation zu fördern und zu erhalten, verpflichtet fühlt, einen möglichst effektiven Schutz des Nationalgefühls anzustreben. Damit stehen insbesondere Meinungsäußerungsfreiheit und Nationalgefühl in einem problematischen Spannungsverhältnis – auch wenn der Gesetzgeber vorgibt, die Meinungsäußerungsfreiheit als „Grundvoraussetzung für [...] das Fortkommen einer demokratischen Gesellschaft“ zu sehen64.
2. Das Ansehen des Staates Das Ansehen des Staates bewegt sich in einem vergleichbaren Spannungsverhältnis zu Grundrechten. Denn der Schutz des Ansehens der Verfassungsorgane soll dazu dienen, die Achtung bzw. den „Gehorsam der Bevölkerung gegenüber der Autorität“ zu bewahren, mit anderen Worten die Duldung der Herrschaftsmacht aufrechtzuerhalten65. Die Verletzung des Staatsansehens durch eine geschmälerte Achtung in der Bevölkerung ist als kollektiv-subjektive Komponente – wie auch das Nationalgefühl – grundsätzlich nicht positiv feststellbar. So sind auch die Tatbestände zum Schutz des Staatsansehens als Gefährdungstatbestände konzipiert. Der politische Meinungskampf setzt jedoch voraus, dass Gesetzgeber und Regierung für die Politik kritisiert werden dürfen. Neben dem Ansehen des Staates im internen Sinne, also im Verhältnis zu seinen Bürgern, ist auch ein Blick auf das Ansehen im externen Sinne zu werfen. Hier möchte man das Ansehen des Staates im Ausland bewahren. Ein solches Verständnis liegt insbesondere der Regelung des Art. 159 und dem Nachfolger zugrunde, für Beschimpfungen und Verächtlichmachungen bzw. Herabsetzungen des Türkentums im Ausland eine Strafschärfung um ein Drittel vorzusehen. Problematisch am externen Ansehensschutz ist, dass er je nach außenpolitischer Lage zu restriktiver und häufiger Anwendung der Vorschrift verleiten kann. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass die Türkei spätestens seit 1923 gen Westen strebt und Europa und seinen Bündnissen gefallen möchte. So verwundert es nicht, dass Türkentum, Völkermordbehauptungen und die Rolle der EU-Beitrittsverhandlungen in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen. 63 64 65
Siehe oben: Viertes Kapitel C) VII. 5759 Say�l� Kanunun Madde Gerekçeleri, S. 2. Siehe oben: Viertes Kapitel D) VII. 1.; Senkeri, a.a.O., S. 30.
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II. Rechtspolitische Anmerkungen zur Rechtsgüterkonzeption des Art. 300 und des Art. 301 1. Legitimer Rechtsgüterschutz im Staatsschutzstrafrecht Zwar wurden zumindest Art. 301 und sein Vorgänger im Schrifttum im Hinblick auf die Bestimmtheit der Tatbestandsmerkmale kritisch hinterfragt. Auch das Spannungsverhältnis zwischen oben bezeichneten Grundrechten und der Strafbarkeit waren Gegenstand von Diskussionen66. Ein Bewusstsein von der Funktion des Rechtsgüterschutzes als Limitierung und Eingrenzung von Strafrecht aber schien in der türkischen Rechtswissenschaft lange keinen ausgeprägten Stellenwert einzunehmen67. Ein prinzipieller Diskurs über die Zulässigkeit der Rechtsgüter der Artt. 145, 159 tStGB 1926 oder der Artt. 300, 301 tStGB 2004 kann dem bisherigen Schrifttum daher nicht entnommen werden. Dabei wäre die Entwicklung eines solchen Limitierungsverständnisses wünschenswert. Denn unbestimmte Tatbestände, die die Ausübung von Grundrechten verhindern, mögen einen Indikator für ein Strafrecht bilden, das liberalen Standards nicht genügen kann, jedoch fehlt bei solchen punktuellen und sektoralen Diskussionen die grundsätzliche Frage nach der Legitimität von Strafrecht. Erfreulicherweise scheint sich seit einigen Jahren ein Bewusstsein für diese Frage zu entwickeln. Alacakaptan etwa fordert die prinzipielle Verhältnismäßigkeit (orant�l�k) für die Strafbarkeit bestimmter Verhaltensweisen bzw. ein ultima-ratio-Verständnis über Strafe68 und spricht Gefährdungsstraftatbeständen wegen des Ausbleibens einer Verletzung des rechtlichen Vorteils (Rechtsgut69) ihre Daseinsberechtigung ab: „Freiheitlich orientiertes Strafrecht lehnt Gefährdungsstraftatbestände ab, die einen Schaden anzurichten nicht in der Lage sind, weil sie vordergründig gegen den Grundsatz der Rechtmäßigkeit verstoßen. Denn nur Tathandlungen, die den durch das Recht geschützten Vorteil verletzen, sind strafwürdig. Wenn die Tathandlung eine solche Wirkung nicht erzeugt, stellt sie auch kein Verbrechen dar.“70
Dieser Maßstab von Alacakaptan ist deutlich an der Rechtsverletzungslehre71 orientiert, bei der sich die Frage nach der Zulässigkeit der Strafe an dem Vor66 67 68 69 70 71
Viertes Kapitel D) III. 2.; fünftes Kapitel D) V.; Koca, a.a.O., S. 583 f.; Senkeri, a.a.O., S. 190 ff.; Sancar, a.a.O., S. 218 ff.; Tellenbach, Zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, S. 79; Arslan, Meinungsfreiheit, S. 281 ff.; Can, a.a.O., S. 39 ff. Vgl. die Feststellung Tellenbachs, der Begriff des Rechtsguts sei erst vor Kurzem in die türkische Lehre eingeführt worden: Grundlagen des Strafrechts in der Türkei, S. 756. Alacakaptan, Ceza Hukukunda Tamamlay�c� Kurallar, S. 18. Vgl. Tellenbach, a.a.O., S. 756 f. Toroslu, Ceza Hukuku, S. 65 f.; ders., Suçun Hukukî Konusu, S. 88 ff. Alacakaptan, a.a.O., S. 19. Zur Rechtsverletzungslehre u.a. mit Blick auf Italien und Deutschland siehe: Toroslu, Suçun Hukukî Konusu, S. 87 ff. Zusammenfassend: Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 53 ff.
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liegen einer Rechtsverletzung, d.h. an dem Vorliegen eines subjektiven Rechtes orientiert72. Legt man nämlich diesen Maßstab für die Zulässigkeit oder Legitimität von Strafe zugrunde, so 1) müsste die zu bestrafende Handlung in der Lage sein, einen Schaden anzurichten, d.h. die Verletzung des aus dem Recht erwachsenden rechtlichen Vorteils herbeizuführen, weshalb (a) ein Recht ersichtlich sein muss, aus dem sich ein rechtlicher Vorteil ergibt und (b) der rechtliche Vorteil durch die zu bestrafende Handlung überhaupt verletzt werden kann und es 2) dürften keine außerstrafrechtlichen – also relativ milderen – Mittel des Gesetzgebers vorliegen. Im Bereich des Staatsschutzstrafrechts stellt sich – von diesem Ausgangspunkt aus betrachtet – die Frage, wer Inhaber des subjektiven Rechts ist, ob also der Staat, die Gemeinschaft oder die in dieser Gemeinschaft lebenden Individuen Inhaber der betroffenen Rechte sind. Dies wiederum führt zur Grundsatzfrage, ob der Staat selbst subjektive Rechte haben kann oder nicht. Da hier Alacakaptan als Maßstab herangezogen wurde, sei vorweg erwähnt, dass dieser dem Staat im Strafrecht abspricht, eigene subjektive Rechte geltend machen können. Für ihn kann der Staat zwar Gegenstand strafrechtlicher Regelungen sein. Der Staat ist dann passives Subjekt (pasif süje) eines Straftatbestandes; er tritt tatbestandlich als Schutzobjekt in Erscheinung. Niemals aber stehe dies gleich mit der Rechtsposition, Inhaber von subjektiven Rechten zu sein: „Der Staat kann in einigen Straftaten passives Subjekt sein. Die Eigenschaft, passives Subjekt zu sein, führt aber nicht zu dem Ergebnis, dass der Staat zugleich ein subjektives Recht erlangt. Denn spricht man dem Staat subjektive Rechte zu, dann verleiht man dem Staat als Inhaber von subjektiven Rechten eine Persönlichkeit, die mit dem subjektiven Rechtsinhaber, also mit dem Individuum, das eine Persönlichkeit besitzt, in eine im Hinblick auf Eigenschaften und Interessen kollidierende Situation gerät; die Frage, welche Seite aus dieser Kollision als Sieger hervorgeht, ändert sich je nach dem, ob der Staat sich seinem Bürger gegenüber als unantastba73 re Größe betrachtet oder nicht.“
Wenn man aber erklärt, dass der Staat durch strafrechtlichen Schutz und selbst bei ausdrücklicher tatbestandlicher Erfassung nicht Inhaber von subjektiven Rechten wird, hat man noch keine Kriterien gewonnen, wie weit ein strafrechtlicher Schutz des Staates gehen darf. Betrachtungen hierüber findet man unter anderem bei Ünver. Er beschäftigt sich auch eingehender mit der Frage, wel72
73
Ohne die Anmerkungen zum deutschen Recht vorwegnehmen zu wollen, ist es erwähnenswert, dass in der deutschen Rechtsordnung bei der Diskussion um die Limitierungsfunktion der Rechtgüterlehre gefordert wird, das Rechtsgüterverständnis wieder näher an die Rechtsverletzungslehre heranzuführen, um so den Radius legitimer Rechtsgüter zunächst zu verringern und auch für die Zukunft gering zu halten. Dazu: Vormbaum, Politisches Strafrecht, S. 46 f. Alacakaptan, Devletevin Güvenli�i, S. 651 f.
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che Rechtsgüter (bei ihm suçun hukuki de�eri) überhaupt für eine mit Strafe zu bedrohende Handlung legitim sind: Zwar sei die Grundlage für das Rechtsgut die Freiheit des Individuums (bireyin özgürlü�ü) und damit das Individuum selbst74. Dies bedeute aber nicht, dass Gemeinschaftsrechtsgüter illegitim und damit unzulässig seien. Ünver verwirft den Ansatz, der Kollektivrechtsgüter per se ablehnt75. Aber auch vermittelnden Ansätzen, wie den von Hassemer76, die zwar Gemeinschaftsrechtsgüter nicht vornherein als unzulässig betrachten, aber eine Beurteilung vom Individuum her verlangen, folgt Ünver nicht ohne Vorbehalte77. Zwar sei es richtig, dass der Staat mit der Aufstellung von Straftatbeständen dem Individuum zu dienen habe und nicht eigene, vom Individualschutz abstrahierte Interessen verfolgen dürfe. Denn anderenfalls könne man jeden Straftatbestand mit staatlichen Interessen legitimierend vermitteln, was eine unkontrollierbare Expansion von Strafrecht zur Folge hätte. Das Individuum könne aber in dieser Interessenlage von der Gemeinschaft nicht isoliert herangezogen werden, da es in der Gemeinschaft lebe und gerade dieser Zustand nach Regelungen auch auf dem Gebiete des Strafrechts verlange78. Ünver möchte daher nicht auf den Inhaber (sahib) sondern vielmehr auf den Träger (ta��y�c�) von Rechten oder rechtlichen Vorteilen abstellen, da sich auch die vermittelnden Positionen – wie die von Hassemer – Kritik ausgesetzt sehen müssten79. Hiernach wären neben Individualrechtsgütern auch Rechtsgüter der Gemeinschaft zulässig, solange und sofern sie dem (freilich in der Gemeinschaft lebenden) Individuum zu dienen in der Lage sind80. Özek vertritt eine ähnliche Position. Auch für ihn besteht das legitime Interesse am Staatsschutz darin, dass die staatliche Kollektivierung idealtypisch dem Schutz einzelner Gemeinschaftsmitglieder dient81. Dass bei den Straftaten zum Schutz des Staates als strafrechtlich geschütztes Schutzobjekt – also als passives Subjekt – der Staat in Erscheinung tritt, ändere nichts daran, dass diese Straftaten individuell-subjektive Rechte und damit Individualrechtsgüter schützen82. Der Schutz des Staates als Ordnungseinheit bekommt bei Özek so die Gestalt von gebündelten Individualrechten. Während Ünver begrifflich aber zwischen Trägern und Inhabern von Rechten trennt, unterscheidet Özek zwischen dem passiven Subjekt und den subjektiven Rechten: Bei Ünver soll 74 75 76 77 78 79 80 81 82
Ünver, Hukuksal De�er, S. 1056; ders., Das Rechtsgut im Strafrecht, S. 94. Ünver, Hukuksal De�er, S. 1062. Ünver zitiert: Hassemer, ZRP 1992, 378, 383. Ünver, Hukuksal De�er, S. 581 f. Ebd. Ünver, Hukuksal De�er, S. 580, 582. Ünver, Hukuksal De�er, S. 579 f. Özek, „1997 Türk Ceza Yasas� Tasar�s�“, S. 43. Ebd.
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der Staat Träger von Rechten und rechtlichen Vorteilen in der Gestalt sein dürfen, dass er diese für den Einzelnen zu erhalten versucht. Bei Özek hingegen tritt der Staat lediglich als passives Subjekt tatbestandlich in Erscheinung, sozusagen als begriffliches Nebenprodukt; dahinter stünden aber stets individuell-subjektive Rechte: „Das geschützte Rechtsgut besteht unmittelbar oder zumindest mittelbar aus individuell-subjektiven Rechten. Selbst wenn das passive Subjekt einer Straftat nicht der Einzelne ist, steht sie doch im Zusammenhang mit dem Einzelnen. Beispielsweise ist bei den ‘Straftaten gegen den Staat’ das passive Subjekt nicht der Einzelne. Da der Staat aber keine eigene Persönlichkeit besitzt, hat er auch keine spezifischen eigenen Interessen. Die Terrorstraftaten etwa richten sich gegen das Recht des Einzelnen, in einer verfassungsrechtlich garantierten demokratischen Ordnung zu leben. Die politische Macht ist verpflichtet, die gegen Menschenrechte verstoßenden Straftaten zu streichen und sich auf die aus der Verfassung ergebenden In83 dividualrechte schützenden Straftatbestände zu beschränken.“
2. Das Ansehen des Staates Die den mittelbaren Ansehensschutz bildenden Schutzobjekte, also die im Art. 301 geschützten Verfassungsorgane und staatlichen Einrichtungen sind durch die (Verfassungs-)Rechtsordnung ausdrücklich mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet. Im Schrifttum fordern einige Stimmen daher, dass die Organe und staatlichen Einrichtungen den Gehorsam der Bevölkerung einfordern dürfen, um diese Rechte und Pflichten auszuüben84. Das Ansehen dieser Schutzobjekte zu schmälern, bedeute daher, die Rechtsausübung der jeweiligen Organe und staatlichen Einrichtungen zu beeinträchtigen. Solange diese Einrichtungen eine verfassungsgemäß demokratische Lebensumgebung schaffen sollen, könne ein strafrechtlicher Ansehensschutz der Verfassungsorgane und staatlicher Einrichtungen vor dem Hintergrund des oben Gesagten nicht beanstandet werden. Beim unmittelbaren Ansehen des Staates hingegen, der durch das Schutzobjekt der Republik begründet wird, wurde der Zusammenhang zwischen Tathandlung und Rechtsverletzung bzw. Rechtsbeeinträchtigung lange durch den Rückgriff auf die ideelle Persönlichkeit des Staates (devletin manevi �ahsiyeti) hergestellt. Dies ermöglichte die Behandlung des Staates als analog-individuelles Rechtssubjekt, das in Widerstreit mit seinen Bürgern tritt und das durch diesen Status einerseits das Recht auf Wahrung seines Ansehens genießt und andererseits die Pflicht zur Wahrung des sozialen Friedens (sosyal bar��) wahrnimmt85. Dieser Ansatz stammt aus der italienischen Rechtswissenschaft, in der die Persönlichkeit des Staates (personalità dello stato) u.a. den öffentli83 84 85
Özek, „1997 Türk Ceza Yasas� Tasar�s�“, S. 40. Senkeri, a.a.O., S. 30; Sancar, a.a.O., S. 65. Vgl. Sancar, a.a.O., S. 65.
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chen Frieden (ordine pubblico) gewährleisten soll86. Die Auslegungsgrundlage für die Persönlichkeit des Staates bildete im Geltungszeitraum des tStGB 1926 lange die Titelüberschrift „Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates“, die nach dem Rocco-Angleichungsgesetz von 1936 (Gesetz Nr. 3038) an die Stelle der „Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates“ trat, im tStGB 2004 jedoch keine Entsprechung mehr findet, da hier im Allgemeinen von „Straftaten gegen Nation und Staat“ und im Speziellen von „Straftaten gegen Hoheitszeichen des Staates und gegen das Ansehen von Staatsorganen“ (Artt. 299– 301) die Rede ist. Dieser Umstand kann nicht ohne Grund als Abkehr von dem Modell der ideellen Persönlichkeit des Staates betrachtet werden. Denn schon im E tStGB 1997 hatte die Beibehaltung der Titelüberschrift zu Kritik geführt. Özek schreibt: „Das italienische Strafgesetzbuch von 1930 hat [...] die Straftaten gegen die ‘Interessen des Staates’ unter der Überschrift ‘Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates’ zusammengeführt. [...] Dem Staat eine Persönlichkeit zuzusprechen, bildet die rechtliche Grundlage für den vom italienischen Faschismus bezweckten Schutz des vom Individuum abstrahierten Staats- und Volkssinnes, für die beliebige Einschränkung der persönlichen Freiheiten und für die Macht der Regierung und des Staates. [...] In dem Ministerial-Protokoll zum iStGB 1930 wird die Ausrichtung des Gesetzes an der faschistischen Ideologie betont und der Liberalismus und Individualismus aufgrund ihrer schwächenden Wirkung auf den Staat kritisiert. Es wird ausgeführt, dass die Interessen des Volkes von der faschistischen Partei vorgegeben werden und der Einzelne sich an diese Vorgaben zu halten hat. Und der Staat wird – gewissermaßen zur Heiligkeit stilisiert – als höchste, zu schützende Größe betrachtet. [...] Die 1936 am tStGB vorgenommenen Änderungen stellen für nahezu das gesamte Strafrecht eine Angleichung an das iStGB 1930 dar“87.
Im Meinungsbild über die Herleitung des unmittelbaren Ansehens des Staates verabschiedet man sich so allmählich von der Persönlichkeit des Staates88. Dies führt jedoch nicht etwa zu der Überzeugung, dass Art. 301 einen unzulässigen Strafschutz für das Ansehen des Staates konstituiert. Denn wie bereits erwähnt, soll der Staat auch nach liberaleren Autoren wie Özek als passives Subjekt eines Straftatbestandes oder bei Ünver als Träger von Rechten in Erscheinung treten dürfen. Die Grenze für den legitimen strafrechtlichen (Ansehens-)Schutz des Staates ist vielmehr eine Frage der Rollenzuweisung. Sie darf nicht dazu führen, dass Bürger und Staat als widerstreitende Größen betrachtet werden89. Solange aber dieser Maßstab Beachtung findet, kann eine prinzipiel86 87 88 89
Sancar zitiert unter anderem: Zuccala, Personalità dello stato, in: Rivista Italiana di Diritto Penale 1966, 1165, a.a.O., S. 65. Özek, „1997 Türk Ceza Yasas� Tasar�s�“, S. 42. Ünver etwa betrachtet dies im Hinblick auf die Rechtsgüterlehre als „unakzeptabel“. Siehe: Das Rechtsgut im Strafrecht, S. 102. Ünver, Das Rechtsgut im Strafrecht, S. 96. Eine besondere Problematik kann sich hieraus im Verfassungsrecht ergeben. Denn verfassungsrechtlich gewährleistete Individu-
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le Unzulässigkeit des strafrechtlichen Ansehensschutzes des Staates aus rechtsgütertechnischer Sicht nicht begründet werden.
3. Nationalgefühl Der strafrechtliche Schutz des Türkentums, der türkischen Fahne, des Unabhängigkeitsmarsches und der Hoheitszeichen sollen unter anderem das Nationalgefühl wahren90. Das Nationalgefühl kann als Zugehörigkeitsempfinden der Bevölkerung zur türkischen Nation bezeichnet werden91. Hier kann es grundsätzlich um die kollektive Zugehörigkeit der Gemeinschaft und um das individuelle Zugehörigkeitsempfinden Einzelner gehen. Eine Betrachtung vom Individuum her ist beim Nationalgefühl daher möglich. Der gemeinschaftliche Gefühlsschutz tritt als gebündelter Schutz von Individualinteressen in Erscheinung und ist – selbst bei Berücksichtigung der problematischen Vorfeldverlagerung beim Gefühlsschutz –, gemessen an der ansehens- und staatsbestandsschützenden Komponente nach dem oben Gesagten prinzipiell unbedenklich. Das Nationalgefühl ist jedoch ideologisch im Kemalismus eingebettet und rückt mit seinem Bezug auf das Staatsvolk das Kollektiv in den Vordergrund. Das Nationalgefühl hat in der türkischen Rechtsordnung durch den Kemalismus und dem ideologisch (mit)erfassten Nationalismus einen festen, einen ausdrücklichen Platz. Gemäß der Präambel der 1961er Verfassung sollte die türkische Nation „begeistert und beseelt vom türkischen Nationalismus, der alle einzelnen, Schicksalsgenossen in Glanz und Elend, zu einem unteilbaren Ganzen um das nationale 92 Bewußtsein und um die nationalen Ideale schart“
das Ziel verfolgen, als Mitglied der Völkerfamilie seinen Geist nationaler Einheit ständig zu erhöhen93. Die kollektivrechtliche Stellung der Nation und des Nationalbewusstseins hängen also mit dem kemalistischen Nationalismus zusammen. Hirsch schreibt: „Die Nation als Schicksalsgemeinschaft besitzt trotz der für ein demokratisches Regime unentbehrlichen Parteien [...] eine innere Einheit, die sich als Nationalbewußtsein (Nationalgefühl) an bestimmten nationalen Idealen orientiert“94.
90 91 92 93 94
alrechte sollen die Bürger vor dem Staat schützen. Eine Umkehr dieses Prinzips sieht Ünver in der tVerf 1982. Vgl. ebd. Vgl. auch: Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, S. 95 f. Siehe oben: Viertes Kapitel, C) VII.; D) VII. 1. sowie fünftes Kapitel, C) IV.; D) VI. Protokoll des Justizausschusses vom 1.8.1951, teilweise abgedruckt bei: Ça�layan, Türk Ceza Kanunun 159. Maddesi, S. 1172 f.; siehe auch bei: Sancar, a.a.O., S. 78; Senkeri, a.a.O., S. 60. (Hervorhebungen diesseits) Hirsch, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 80. Ebd. Hirsch, a.a.O., S. 81.
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Auch die geltende 1982er Verfassung enthält in der Präambel entsprechende Zielvorstellungen95. Das in dieser Weise ideologisch eingefärbte Nationalgefühl stellt das Individuum tendenziell in den Hintergrund und verlangt in dieser Lesart nach den oben genannten Maßstäben Zurückhaltung und ist in der jeweiligen Ausprägung als Schutzobjekt problematisch. Es ist daher insbesondere begrüßenswert, dass das „Türkentum“ als ethnisch-kulturell geprägte Form des Nationalgefühls nicht länger strafrechtlich geregelt ist. Ob die „türkische Nation“ als Ersatz für diese Streichung aber die Bedenken zu mildern in der Lage ist, erscheint zumindest fraglich.
III. Fazit Ein derartiges Geflecht zwischen Kemalismus, Nationalismus, Nationalgefühl und Strafrecht erweckt einige Zweifel. Denn es kann schon an der Zweckmäßigkeit fehlen, wenn etwa das Verbrennen der türkischen Fahne unter Strafe gestellt wird. Diese Handlung kann etwa bei denjenigen Teilen der Gesellschaft, die sich in ihrem Nationalgefühl verletzt fühlen könnten, regelmäßig zu einer Empörung führen, die die Solidarität untereinander und das Zugehörigkeitsgefühl zur türkischen Nation noch bestärken könnte. Dies kann auch für den Schutz des Türkentums bzw. der türkische Nation, der Verfassungsorgane und der übrigen staatlichen Einrichtungen gelten. Neben dieser fraglichen Zweckmäßigkeit ist auch zweifelhaft, ob insbesondere der strafrechtliche Schutz der Verfassungsorgane und staatlichen Einrichtungen für ein gesellschaftliches Fortkommen geeignet ist. Denn – wie oben bereits erwähnt – kann das gemeinschaftliche Zusammenleben durch Kritik an Justiz, Verwaltung und Gesetzgebung verbessert werden. Die Bekämpfung von vermeintlich sozialschädlichem Verhalten kehrt sich also dann um, wenn die Strafe selbst sozialschädliche Qualität erreicht, etwa derart extensiv angewendet wird, dass eine Meinungsdiktatur entsteht, in der der Ansehensschutz von Regierung und Staat im Vordergrund stehen und im gesellschaftspolitischen Raum Meinungen generell unerwünscht sind, es sei denn, sie sind establishmentfreundlich. Gökcen schreibt: „Wo keine Meinungsfreiheit existiert, kann man keine wirkliche Demokratie und Weiterentwicklung erwarten. Wo man nicht denken, vielmehr seine Gedanken nicht frei zum Ausdruck bringen kann, entwickeln sich weder die [...] Sozial- und Politikwissenschaften noch die politischen Meinungen und Strömungen fort.“96 95
96
„Im Bewußtsein, daß kein Gedanke und keine Meinung Unterstützung finden kann, die gegen die nationalen türkischen Interessen, das Prinzip der unteilbaren türkischen Ganzheit im Staatswesen und Staatsgebiet, gegen die mit dem türkischen Volk festverbundenen geschichtlichen und moralischen Werte, den Nationalismus, die Grundsätze, die Reformen und Modernisierungen Atatürks gerichtet sind. [...]“; mit Erläuterungen: Wedekind, Die Verfassung der Türkischen Republik, S. 27 ff. Gökcen, Dü�ünce Özgürlü�u, S. 265.
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Zumindest der hier untersuchte Bereich des türkischen Staatsschutzstrafrechts verhält sich wie das Blatt an einem Ast: Denn es hängt nicht von dem Blatt ab, in welche Richtung es sich neigen wird. Vielmehr ist es der Wind, der darüber entscheidet, ob und in welche Richtung das Blatt sich wendet. Sowohl die Rechtssetzung als auch die Rechtsanwendung stehen unter dem Einfluss des jeweiligen gesellschaftspolitischen „Windes“, der die Straftatbestände erweitern und verengen lässt. Dabei braucht es bei den denkbar intensivsten Eingriffen des Staates in die Rechte des Einzelnen feste Regeln und klare Grenzen, die unter anderem in Gestalt des Grundsatzes nullum crimen sine lege nicht lediglich aufzustellen, sondern auch anzuwenden sind. Relativieren Gesetzgeber und Gerichte diejenigen Grundsätze, die sich der Gesetzgeber einst selbst zur Einschränkung seiner Befugnisse gesetzt hat, indem sie Tatbestände nicht bestimmt formulieren oder großzügig auslegen, verliert Strafrecht seine Legitimation. Wieder ist Sancar zuzustimmen; sie schreibt: „Die Geschichte und Gegenwart zeigen, dass durch weite Tatbestände insbesondere die Grenzen der Straftaten gegen den Staat aufgeweicht worden sind und den Gerichten die Möglichkeiten eingeräumt wurde, bis hin zur Analogie auszulegen und sich so die Regierung – unter dem Deckmantel des Schutzes der politischen Vorteile des Staates – bis auf die Grenze der Aufhebung von Individualfreiheitsrechten berufen hat.“97
Diesen allgemeinen Problemen folgt die Frage, ob bestimmte Rechtsgüter überhaupt strafwürdig sind. Sicherlich spielen die gesellschaftlichen Ansichten oder, wie es Tellenbach ausdrückt, die „Mentalität“ eine Rolle98, wenn es darüber zu entscheiden gilt, was als strafwürdiges Verhalten anzusehen ist und was nicht. Die obigen Ausführungen haben skizzieren können, dass dem türkischen Staatsschutzstrafrecht lange das Modell der ideellen Persönlichkeit des Staates zugrundelag und dieses aus dem Strafrecht des faschistischen Italien übernommen wurde. Zwar wird die ideelle Persönlichkeit des Staates im tStGB 2004 nicht länger berücksichtigt. An seine Stelle mag nun ein entmythifiziertes Staatsverständnis treten. Damit ist aber noch nicht gewährleistet, dass in der Anwendung eine vorsichtige Zurückhaltung zur Gewohnheit wird. Denn ein zusätzliches Problem ist, dass die Verletzung der Rechtsgüter des Ansehens des Staates und des Nationalgefühles nicht messbar, also nicht positiv feststellbar sind. Die Strafbarkeit dann sogar noch weiter in das Vorfeld zu rücken, indem man die öffentliche Begehung beispielsweise extensiv auslegt oder auf die Öffentlichkeit zur Gänze verzichtet, wird der Problematik der Rechtsgüter daher nicht gerecht. Wenn nicht durch die Rechtsetzung ausgeschlossen werden kann, dass eine Strafvorschrift willkürlich ausgelegt wird, sollte auf Strafbarkeit besser verzichtet werden. 97 98
Sancar, a.a.O., S. 69. Tellenbach, Zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, S. 79.
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Zweiter Teil: Türkisches Recht
D) Ausblick I. Gesetzgebung Im Hinblick darauf, dass die letzte Änderung des Art. 301 im Jahre 2008 erfolgte und dieser Artikel (wie auch Art. 300) nach Inkrafttreten des tStGB 2004 eine noch „junge“ Vorschrift darstellt, erscheint es unwahrscheinlich, dass in naheliegender Zukunft weitere gesetzgeberische Änderungen erfolgen werden. Zwar gibt es noch immer Stimmen, die eine Streichung oder eine weitere Entschärfung des Art. 301 verlangen99. Andererseits führte aber schon die tatbestandliche Verengung des Art. 301 gegenüber dem Vorläufer, insbesondere die Streichung des Türkentums und die Einführung der türkischen Nation zu einiger Kritik100. Eine Streichung auch der türkischen Nation oder gar der gesamten Vorschrift erscheint daher unwahrscheinlich. Schließlich beschäftigt sich der Gesetzgeber bereits seit der EU-Harmonisierungsphase mit der Vorschrift bzw. ihrem Vorläufer. Aber auch die Tatsache, dass die Strafrechtsordnungen anderer europäischer Länder zumindest im Hinblick auf den Tatbestand ähnliche Strafvorschriften aufweisen wie Artt. 300, 301, verringert noch die Motivation des türkischen Gesetzgebers, weitere, liberalisierende Schritte zu unternehmen. Denn die türkische Strafrechtswissenschaft ist sehr rechtsvergleichend ausgerichtet101 und der Blick auf die Nachbarrechtsordnungen lässt die Entscheidungen des Gesetzgebers nicht unbeeinflusst. In einer von der Großen Nationalversammlung in Auftrag gegebenen Untersuchung, die Art. 301, vergleichbare Vorschriften europäischer Strafrechtsordnungen und den Zusammenhang zur Meinungsäußerungsfreiheit zum Gegenstand hat, heißt es: „Vor allem in den EU-Mitgliedsstaaten Deutschland, Italien und Österreich finden sich auch mit Art. 301 vergleichbare Vorschriften, die Schutzobjekte wie die verfassungsmäßige Grundordnung, die Republik, die Fahne, die Nationalhymne oder 102 die konstitutionellen Staatseinrichtungen erfassen.“
Der Maßstab der europäischen Strafrechtsordnungen hat durch die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei noch an Bedeutung zugenommen. Daher ist es unwahrscheinlich, dass sich der Gesetzgeber kurz- bis mittelfristig noch einmal die Art. 300 oder Art. 301 vornehmen wird103. 99 Arslan, Meinungsfreiheit, S. 287; vgl. Algan, New Version of Article 301, S. 2251. 100 Siehe oben: Fünftes Kapitel, D) II. 1. 101 Tellenbach, Einführung in das türkische Strafrecht, S. 9; dies., Grundlagen zum Strafrecht in der Türkei, S. 774. 102 Türk Ceza Kanunu 301.madde ve AB Uygulamalar�, S. 11; siehe auch: Asar, A�HM Kararlar� I����nda 301. Maddenin De�erlendirilmesi, S. 294 f. 103 Im vierten Gesetzespaket zur Reform der Gerichtsbarkeit (Dördüncü Yarg� Reform Paketi), das u.a. das Terrorismusstrafrecht entschärfen sollte, war ursprünglich auch die
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II. Anwendung Wie oben erwähnt, sind sich einige Autoren offenbar darüber einig, dass die Probleme insbesondere mit Art. 301 in der Rechtsanwendung liegen104. Dass hier ein Handlungsbedarf besteht, ist also bekannt. Dass sich an der extensiven Anwendung der Vorschriften in Zukunft etwas ändern wird, hängt aber von verschiedenen Faktoren ab. Oben wurde bereits der Versuch unternommen, einige mögliche außergesetzgeberische Einflüsse auf die Anwendung der Artt. 300, 301 bzw. der Vorläufer zu diskutieren. Zwar musste festgehalten werden, dass bei außergesetzgeberischen Gründen nur spekuliert werden kann, ob sie Einfluss auf die Rechtsanwendung genommen haben. Dass aber Unruhe- bzw. Krisenzeiten die Anwendungsrelevanz der Vorschriften zumindest nicht verringern, liegt auf der Hand. So bilden die EU-Annäherung und die einhergehende politische und wirtschaftliche Stabilität der Türkei gute Voraussetzungen für eine liberale Anwendung von Staatsschutzstrafrecht und Strafrecht insgesamt. Auch der Rückgang der Anwendungsrelevanz des Art. 301 – der wohl auch auf das Erfordernis der Ermächtigung des Justizministers (Abs. 4) zurückzuführen ist – zeigt womöglich, dass das Spannungsverhältnis zur Meinungsäußerungsfreiheit allmählich ernster genommen wird. Andererseits verursachte der gesellschaftspolitische Kurswechsel der durch die islamisch-konservative AKP regierten Türkei in jüngerer Zeit gewisse Auseinandersetzungen zwischen den alten Eliten und neuen Gesellschaftsstrukturen. Welche langfristigen Konsequenzen dies auf die Anwendung der Artt. 300, 301 tStGB 2004 haben wird, bleibt abzuwarten.
Streichung des Art. 301 tStGB 2004 vorgesehen, wurde aber nach öffentlicher Kritik wieder aus dem Entwurf gestrichen. Siehe hierzu die Berichterstattung auf Hürriyet, abrufbar unter: http://hurarsiv.hurriyet.com.tr/goster/ShowNew.aspx?id=22022736 (zuletzt abgerufen: Juli 2013). 104 Sözüer, Das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 36; Tellenbach, Zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, S. 79; siehe auch: Birtek, �fade Özgürlü�ü ve TCK’nun 301. Maddesi, S. 627; Asar, a.a.O., S. 294.
DRITTER TEIL: DEUTSCHES RECHT
Siebtes Kapitel: Vorläufer „Montesquieu sagt: nichts sey gefährlicher für einen Staat, als wenn die Majestätsverbrechen unbestimmt seyen. Ich glaube diese Behauptung bestätigt sich durch Vernunft und Erfahrung. Was vermag nicht der Regent, der das Privilegi1 um hat, alles zu strafen?“
A) Die Entwicklung der Staatsverbrechen Das Strafrecht zum Schutze des Staates hat sich im deutschen Rechtsraum insbesondere durch zwei Wendepunkte, der Rezeption des römischen Rechts und der Aufklärung, beeinflussen lassen. Während durch die Rezeption des römischen Rechts die ersten Ansätze von Staatsschutzstrafrecht des germanischen bzw. fränkischen Rechts abgelöst wurden, brachte die Aufklärung – wenn auch mit einiger Verzögerung – ein über das römische Rechtsverständnis hinausgehendes, neues Verständnis für Staatsschutz und Strafrecht.
I. Die Rezeption der Staatsverbrechen des römischen Rechts Als der deutsche Rechtsraum seit dem 13. Jahrhundert allmählich mit der Rezeption des römischen Staatsschutzstrafrechts begann, stand bereits eine Fülle von römischen Staatsverbrechen zur Verfügung, auf die zurückgegriffen werden konnte2. Vorher waren dem germanischen und fränkischen Recht zwar staatsschützende Elemente des Strafrechts bekannt, diese betrafen jedoch überwiegend das Verhältnis der Untertanen zum Lehnsherren oder König und waren daher von einer personalisierten Eigenschaft gekennzeichnet3. Die Staatsverbrechen der Germanen erfassten auch Angriffe gegen die Wehrkraft und Feindbegünstigung4 und die Franken stellten mit der Infidelität – ihrem „Kerntatbestand des politischen Strafrechts“5 – einige die Gemeinschaft betref1 2
3 4 5
Feuerbach, Hochverrath, S. 1. Schroeder weist darauf hin, dass die Rezeption auf dem Gebiete der Staatsverbrechen früher begann als auf den übrigen Rechtsgebieten, weil es verlockend gewesen sei, sich „unter dem Deckmantel der Tradition“ an einem umfangreichen Arsenal an Staatsschutzdelikten zu bedienen, Staat und Verfassung, S. 12 f. m.w.N. Ritter, Verrat und Untreue, S. 3 ff., 7 ff.; Schroeder, Staat und Verfassung, S. 7 ff. m.w.N. Sowohl Ritter als auch Schroeder unterstreichen die vorrangige Bedeutung der Treuepflichten gegenüber den Gefolgsherren bzw. gegenüber dem König. Diese Delikte können zugleich als die ältesten Staatsverbrechen bezeichnet werden. Siehe: Schroeder, a.a.O., S. 7; vgl. Ritter, a.a.O., S. 3 f.; vgl. Bisoukides, Hochverrat, S. 37 ff. Dieser Formulierung bei: Schroeder, a.a.O., S. 8.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
fende Handlungen unter Strafe6. Die perduellio und das (später die Perduellion verdrängende) crimen (laesae) majestatis7 aus dem römischen Recht hingegen gingen lange über die Person des Staatsoberhauptes hinaus und umfassten ein überaus breites Spektrum an Tatbeständen zum Schutze des Staates8. Die (zu frühe) Orientierung am römischen Recht führte aber zugleich zu einer gewissen Strukturlosigkeit der Staatsverbrechen9. Dies wurde noch dadurch bestärkt, dass nur der Begriff crimen majestatis – ohne das entsprechende Recht – zur Bezeichnung der eigenen Staatsschutzdelikte schon vor der Rezeption des römischen Rechts übernommen wurde, also mit denjenigen aus dem römischen Recht nicht übereinstimmte10.
II. Der Einfluss der Aufklärung auf die Staatsverbrechen Mit dem aufgeklärten Absolutismus brachte die Aufklärung für die politischen Strukturen entpersonalisierende Tendenzen hervor: Dies äußerte sich zum einen durch die Verlagerung der Herrschaftsmacht auf staatliche Institutionen, die schon in der Forderung Lockes11 und Montesquieus12 nach Gewaltenteilung deutliche Züge annimmt. Schroeder verweist auf den Gesellschaftsvertrag – die neue, rechtsphilosophische Legitimation für Strafe13: „Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, die in der Aufklärung zur Begründung der Strafe herangezogen wird, führt auch zu einem grundsätzlichen Wandel in Begriff, Stellung und Systematik der politischen Delikte. Sie rücken an die Spitze der Legalordnung, weil sie die bürgerliche Freiheit aufgeben und die Gesellschaft in den 14 Stand der Natur zurückversetzen.“
6 7
8 9 10 11 12 13 14
Ritter, a.a.O., S. 7 ff.; Schroeder, a.a.O., S. 8 ff.; Bisoukides, a.a.O., S. 37 m.w.N. Das Römische Recht entwickelte seine Staatsverbrechen freilich weiter fort. Zu Beginn existierten zwar die proditio (Landesverrat) und perduellio (Anmaßung der Königsherrschaft). In der Zeit (3. Jh. v.Chr.), in der daneben das crimen majestatis trat, betraf die perduellio aber Angriffe gegen die Verfassung und das crimen majestatis Angriffe gegen den Staatsbestand. In der (römischen) Kaiserzeit schließlich entwickelt sich das crimen laesae majestatis heraus. Schroeder, a.a.O., S. 13 ff.; Ritter, a.a.O., S. 78 ff.; Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 537 ff.; zusammenfassend: Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 2, § 82 , Rn. 2. Mommsen, a.a.O., S. 540 f., 546 ff.; Knitschky, Hochverrath, S. 37 ff.; Bisoukides, a.a.O., S. 14; vgl. Schroeder, a.a.O., S. 12. Schroeder, a.a.O., S. 12 f.; Aus Sicht der crimen laesae majestatis siehe: Hartmann, Majestätsbeleidigung, S. 10 f. Vgl. Ritter, a.a.O., S. 72; Knitschky, a.a.O., S. 41 f.; Schroeder, a.a.O., S. 13. Locke, Of Civil Government, Kapitel 12–14, S. 324 ff. Textauszüge auf deutsch: Vormbaum, Strafrechtstheorie der Neuzeit, S. 81 ff. Literaturangaben u.a. zum Leben und Werk, ebd., S. 317 f. Montesquieu, De l’Esprit des Loix, Buch XI, Kap. VI, S. 244 ff. Vgl. Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 53 f. Schroeder, a.a.O., S. 33 f.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
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Der Naturzustand – der in der Philosophie unterschiedliche Deutungen und inhaltliche Bestimmungen erfährt15 – kann als Fehlen des durch die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft erzeugten Gesellschaftszustandes verstanden werden16; und da der Übergang zum Gesellschaftszustand das friedliche Zusammenleben der Einzelnen durch Sicherung ihrer Rechte gewährleisten soll17, rückt der Schutz der bürgerlichen Gesellschaft noch vor den Schutz des Staatsoberhauptes18. So verstehen v. Globig / Huster19 unter den Staatsverbrechen „alle Beleidigungen der ganzen bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. Diese bringen nun entweder sogleich unmittelbar die Zerstöhrung des Staats mit sich, oder sie greiffen doch die Grundsäulen desselben an [...]. Man zerstöhrt entweder die Staats-Verfassung, indem man sich, oder einen andern zum Tyrannen aufwirft, oder man liefert den Staat in feindliche Gewalt. In beyden Fällen verliehrt die Gesellschaft ihre bürgerliche Freyheit, um deren ruhigen Genusses willen sie sich vereinigt, und die natürliche Freyheit aufgeopfert hatte. Die Ursache ihres Daseyns hört auf. [...] Diese [...] Art ist also ohnstreitig unter allen 20 Verbrechen das gröste“ .
Dieses Verständnis vom Schutz des Staates forderte innerhalb der Kodifikationsbewegung an der Wende zum 19. Jahrhundert seinen Platz ein und nahm so Einzug in die Gesetze. Im deutschen Rechtsraum beeinflusste die Aufklärung sowohl die Rahmenrechtsetzung des Deutschen Bundes als auch die Partikulargesetzgebung. So wurde im ALR erstmals zwischen Hoch- und Landesverrat unterschieden –, was von Feuerbach und Kleinschrod später noch weiter differenziert und präzisiert wurde21 – und es bildete sich nun auch eine besondere, auf das Staatsoberhaupt bezogene Majestätsbeleidigung ab22. Auch für das Ansehen von Staatseinrichtungen und Hoheitszeichen blieb in dieser (presse-)strafrechtlichen Entwicklung Raum. 15
16 17 18 19
20 21 22
Hobbes versteht den Naturzustand als Krieg aller gegen alle. Locke hingegen sieht im Naturzustand den Zustand der vollkommenen Freiheit „innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes“. Hobbes, Leviathan, Kapitel 13, S. 113 ff.; Locke, Of Civil Government, Kapitel 2, S. 195 ff., deutsche Übersetzung bei: Vormbaum, Strafrechtstheorie der Neuzeit, Bd. 1, S. 81. Näher: Schottky, Vertragstheorie, S. 18 ff. Vgl. Schroeder, a.a.O., S. 34. Vormbaum, a.a.O., S. 54. Schroeder, a.a.O., S. 33 f. m.w.N. Hans Ernst v. Globig (1755–1826) (Leben und Werk: Lieberwirth, Globig, Hans Ernst von, S. 456 f.) und Johann Georg Huster (gest. 1803) führten mit ihrer „Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung“ eine neue Systematik der politischen Delikte ein. Diese nahm Einfluss auf die Kodifikationsbewegung in der Aufklärungszeit. Näher dazu: Schroeder, a.a.O., S. 34 ff.; Schmidt, Criminal-Gesetzgebung, insbes. S. 199 ff. v. Globig / Huster, Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung, S. 167 f., Hinw. bei: Schroeder, a.a.O., S. 34. Vormbaum, a.a.O., S. 71 m.w.N. Ritter, a.a.O., S. 270 ff.; zusammenfassend: Maurach / Schroeder / Maiwald, a.a.O., Rn. 4; Vormbaum, a.a.O., S. 71 m.w.N. Vgl. Hartmann, Majestätsbeleidigung, S. 11 ff.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
B) Das Rahmenrecht des Deutschen Bundes und die Pressegesetze der Partikularstaaten I. Das Recht des Deutschen Bundes Als ein Ergebnis des Wiener Kongresses wurde im Jahr 1815 der Deutsche Bund gegründet und war ein Staatenbund für (zunächst) 39 Mitgliedstaaten23. Im Bereich des Strafrechts nahm der Bund zwar lediglich Einfluss auf das Vereins-, Urheber- und Presserecht24. Gerade im Presserecht existierte aber ein bedeutendes Regelungsinteresse zur Eindämmung liberal-demokratischer und nationaler Bestrebungen25. Die mit den Karlsbader Beschlüssen im Jahre 1819 eingeführte Vorzensur für Druckschriften, die „nicht über 20 Bogen Druck stark“ waren26, bildet ein deutliches Beispiel für diese insbesondere von Metternich forcierte Entwicklung27. Die im Vormärz vordringenden liberalen und nationalen Strömungen führten im Revolutionsjahr 184828 zwar dazu, dass die Bundesstaaten die Vorzensur abschafften und vom präventiven Polizeisystem in ein repressives Justizsystem wechselten29. Der Fall der Vorzensur und die Steigerung der Presseproduktionen konnten aber einen „Rückfall in vormärzliche Methoden“30 nicht verhindern. Nach dem Scheitern der Revolution beschloss der Bund am 6. Juli 1854 „Allgemeine Bundesbestimmungen, die Verhältnisse des Mißbrauchs der Preßfreiheit“31. Die Bundesstaaten hatten nach § 17 Abs. 1 „gegen [...] Angriffe durch die Presse ausreichenden Schutz zu gewähren und solche mit angemessenen Strafen zu bedrohen“. Nach § 17 Abs. 3 sollte auch Schutz gegen „Angriffe auf die Grundlagen des Staates und der Staatseinrichtungen, auf die letzteren selbst, auf die Anordnungen der Obrigkeit, auf die zur Handhabung derselben berufenen Personen“ 23 24 25 26 27
28 29 30 31
Siehe: Angelow, Der Deutsche Bund, S. 3 ff.; Müller, Der Deutsche Bund, S. 1 ff. Näher: Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 328 ff. m.w.N. Rohrßen, Von der „Anreizung zum Klassenkampf“ zur „Volksverhetzung“, S. 17. Vgl. Heffter, Einfluß der Deutschen Bundesverfassung, S. 223 ff. Eisenhardt, Zensur, S. 20 ff. Vgl. Müller, Deutsche Geschichte, S. 147. S. „Provisorische Bestimmungen hinsichtlich der Freiheit der Presse“ vom 20. September 1819, abgedruckt bei: Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 102 ff. Klemenz Wenzel Lothar von Metternich-Winneburg (1773–1859) (Leben und Werk: v. Aretin, Metternich-Winneburg, Clemens Graf von, S. 236 ff.) spielte bei den Karlsbader Beschlüssen eine tragende Rolle. Eisenhardt, Zensur, S. 21. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 732 ff. Zur Märzrevolution von 1848 siehe zusammenfassend: Müller, Deutsche Geschichte, S. 156 f. Zur Reaktionszeit siehe: ebd., S. 162 ff. Siehe den „Bundesbeschluß über die Einführung der Preßfreiheit“ vom 3. März 1848, abgedruckt bei: Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 329; Koszyk, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, S. 120 ff.; vgl. Rohrßen, a.a.O., S. 14. vgl. Eisenhardt, Zensur, S. 8 f. Dieser Formulierung bei: Koszyk, a.a.O., S. 124. Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 3 ff. Siehe auch: Koszyk, a.a.O., S. 120.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
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gewährt werden. Strafbare Tathandlung in diesem Sinne sollte nach § 17 Abs. 4 jeder Angriff sein, „welcher durch Kundgabe erdichteter oder entstellter Thatsachen oder durch die Form der Darstellung den Gegenstand des Angriffs dem Hasse oder der Mißachtung auszusetzen geeignet ist.“
Der Deutsche Bund forderte damit einen strafrechtlichen Schutz für die Grundlagen des Staates, Grundlagen der Staatseinrichtungen, Staatseinrichtungen, Anordnungen der Obrigkeit und der zur Handhabung dieser Anordnungen berufenen Personen vor der (dem Hass und der Missachtung auszusetzen geeigneter) Kundgabe erdichteter oder entstellter Tatsachen.
II. Das Presserecht der Partikularstaaten Mit den Pressegesetzen vom 17. März 1850, 12. Mai 1851 bzw. 27. Mai 1852 genügten die Staaten Bayern, Preußen und Österreich den Vorgaben des Bundes schon vor diesem Beschluss; kleinere Staaten – darunter Braunschweig, Schaumburg-Lippe, Waldeck, Lippe und Schwarzburg-Rudolstadt – folgten der Bundesbestimmung in den darauf folgenden Jahren32. Aber auch § 18 der (oktroyierten33) Preußischen Verordnung über die Presse vom 30. Juni 1849 sah schon vor der Rahmenrechtsetzung des Deutschen Bundes folgende Regelung vor34: „Wer erdichtete oder entstellte Thatsachen öffentlich behauptet oder verbreitet, welche in der Voraussetzung ihrer Wahrheit die Einrichtungen des Staates oder die Anordnungen der Obrigkeit dem Hasse oder der Verachtung aussetzen, wird mit Geldbuße von zwanzig bis zu zweihundert Thalern, oder mit Gefängniß von vier 35 Wochen bis zu zwei Jahren bestraft.“
Die Vorschrift enthielt mit den Einrichtungen des Staates und den Anordnungen der Obrigkeit zwei Schutzobjekte, die vor der öffentlichen Behauptung oder Verbreitung erdichteter oder entstellter Tatsachen geschützt wurden. Ähnlich wie das spätere Rahmenrecht des Bundes sollten diese erdichteten oder entstellten Tatsachen die Schutzobjekte dem Hass oder der Verachtung ausset32 33 34 35
Koszyk, ebd. Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 2, S. 116. Zum Einfluss des französischen Pressegesetzes vom 25. März 1822 auf § 18 prVO siehe: v. Hippel, Die sog. Staatsverleumdung, S. 69: v. Hippel betont, dass das Merkmal der Erregung von Haß und Verachtung aus dem französischem Gesetz stammt. Pr.GS. 1849, 226 (230). Die mit der Prüfung dieser Verordnung beauftragte Kommission der II. Kammer sah in § 18 der Verordnung eine Schranke für die „täglich klar hervortretende Tendenz eines Theiles der öffentlichen Blätter [...] durch stets wiederkehrende Schmähungen und Verhöhnungen aller Einrichtungen des Staates, nicht blos diese selbst anzugreifen, sondern überhaupt alle gesetzliche Autorität zu vernichten und dadurch jede Grundlage für das Staatsleben und dessen gedeihliche Entwicklung zu entfernen“, Drucks. II. Kammer 1849–50/524, 17. Hinw. bei: Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 2, S. 116.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
zen. In dieser Form bildete die Vorschrift die Grundlage für den späteren § 101 des preußischen StGB von 185136.
C) Preußisches Recht Im 19. Jahrhundert verabschiedeten viele deutsche Partikularstaaten eigene Strafgesetzbücher37 und lösten sich so vom gemeinen Recht38. In der Partikulargesetzgebung lassen sich Tatbestände finden, die das Ansehen von Staatseinrichtungen und Hoheitszeichen zum Gegenstand haben. Insbesondere aber rückt die Strafgesetzgebung aus Preußen in den Vordergrund – und zwar als Vorbild für das spätere RStGB.
I. Allgemeines Landrecht Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (ALR) enthielt mit § 151 ALR II 2039 den Schutz der „Landesgesetze und Anordnungen im Staate“ vor Missvergnügen gegen die Regierung40 und damit einen mittelbaren Ansehensschutz der (rechtsetzenden) Obrigkeit. Daneben kannte das ALR mit den §§ 210, 211 II 20 auch den Schutz von einfachem und besonderem Eigentum der Öffentlichkeit, darunter auch solcher Sachen, die dem Staat zuzuordnen waren41. Doch enthalten die Vorschriften keine den 36 37
38
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40
41
v. Hippel, a.a.O., S. 69. Siehe unten. Für diese Kodifikationsbewegung gab es verschiedene Ursachen. Vormbaum schreibt, dass das Bedürfnis nach Rechtssicherheit als Ausdruck des politischen Liberalismus und das nach der Positivierung des Rechts (Feuerbach, Rechtspositivismus) eine wichtige Rolle gespielt haben, a.a.O., S. 74 f. In vier Bundesstaaten des Norddeutschen Bundes galt das Gemeine Recht allerdings bis zum Jahre 1866 fort. Eine andere Besonderheit bildet der französischen Code pénal von 1810, der seit dem 1. Januar 1811 in den linksrheinischen Departements und in vier hanseatischen Departements des Münsterlandes sowie im Großherzogtum Berg Geltung fanden und bis zum Inkrafttreten des preußischen Strafgesetzbuches von 1851 in Kraft blieben. Hierzu: Schubert, Der Code pénal, S. 7. „Wer durch frechen unehrerbietigen Tadel, oder Verspottung der Landesgesetze und Anordnungen im Staate, Mißvergnügen und Unzufriedenheit der Bürger gegen die Regierung veranlaßt, der hat Gefängniß oder Festungsstrafe auf sechs Monathe bis zwey Jahre verwirkt.“; ALR, Bd. 4, S. 1196. Durch Zensuredikt v. 18. Oktober 1819 (§ XVI Nr. 2; Pr.GS. 1819, 224 [232]) wurde die Vorschrift jedoch dahingehend erweitert, „daß es bei frechem und unehrerbietigem Tadel und Verspottung der Landesgesetze und Anordnungen im Staate nicht darauf ankommen solle, ob Mißvergnügen und Unzufriedenheit veranlasst worden sei, sondern [...] ohne Rücksicht auf den Erfolg“ eine Strafbarkeit bejaht werden sollte. Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 2, S. 115 ff. Hierzu: v. Hippel, a.a.O., S. 68. „§. 210. Wer die von der Obrigkeit angeschlagenen Patente, Verordnungen, und öffentliche Anzeigen, aus Muthwillen abreißt, beschädigt, oder sonst schimpflich behandelt: der soll, nach Beschaffenheit des verübten Muthwillens, seines Alters, Standes, und Vermögens, mit körperlicher Züchtigung, Strafarbeit, Gefängniß auf vier Wochen bis ein Jahr, oder verhältnißmäßiger Geldstrafe belegt werden.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
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Staat symbolisierenden Hoheitszeichen, auch wenn § 212 ALR II 2042 eine Strafverschärfung bei der „Verletzung der dem Staate schuldigen Ehrfurcht“ vorsieht.
II. Strafgesetzbuch von 1851 1. § 101 prStGB 1851 Das preußische Strafgesetzbuch von 1851 (prStGB) – Bezugsquelle für das spätere Reichsstrafgesetzbuch43 – enthielt mit § 101 unter dem Titel „Verunglimpfung des Staates“ folgende Regelung: „Wer durch öffentliche Behauptung oder Verbreitung erdichteter oder entstellter Thatsachen, oder durch öffentliche Schmähungen oder Verhöhnungen die Einrichtungen des Staates oder die Anordnungen der Obrigkeit dem Hasse oder der Verachtung aussetzt, wird mit Geldbuße bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefäng44 45 niß bis zu zwei Jahren bestraft.“ ,
Wie der Vorläufer – § 18 der prVO 1849 – enthielt auch § 101 prStGB den Schutz der Einrichtungen des Staates und der Anordnungen der Obrigkeit. Allerdings stellte § 101 prStGB neben der öffentlichen Behauptung oder Verbreitung erdichteter oder entstellter Tatsachen auch die Tathandlungsvariante der Schmähung oder Verhöhnung unter Strafe. Die Voraussetzung, dass die Angriffsobjekte durch die jeweilige Tathandlung dem Hass oder der Verachtung ausgesetzt werden müssen, bleibt hingegen erhalten.
42 43 44
45
§. 211. Eine gleiche Strafe trifft denjenigen, welcher öffentliche Denkmäler, Statuen, Stadtthore, Meilenzeiger, Warnungstafeln, Spaziergänge, oder andere zum Gebrauche des Publici bestimmte Werke und Gebäude verunstaltet, oder beschädigt.“ ALR, Bd. 4, S. 1205 f. „§. 212. Die Strafe eines jeden gemeinen Verbrechens wird geschärft, wenn damit zugleich eine Verletzung der dem Staate schuldigen Ehrfurcht verbunden war.“ ALR, Bd. 4, S. 1206. Eb. Schmidt, Strafrechtspflege, S. 336. Pr.GS. 1851, 101 (122). Zwar lehnt sich die preußische Gesetzgebung im Falle des § 101 an das französische Recht. Jedoch wird in den Aktenstücken des Reichsstages des Norddeutschen Bundes und später auch in den Beratungen zur Übernahme des § 101 prStGB in einem Entwurf für den Norddeutschen Bund betont, dass das französische Recht wiederum eine „Nachahmung“ des englischen Rechts darstelle. Siehe so im Anhang V der Motive zum Entwurf vom 14. Februar 1870 (Reichstagsvorlage): Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 2, S. 116 f. Das oben bezeichnete französische Pressegesetz vom 25. März 1822 stellt demnach eine Reaktion auf das Statut König Georg III. vom 18. Dezember 1795 und dasjenige vom 28. Juni 1798 dar. Dem § 101 prStGB folgten schließlich auch in anderen Partikularstaaten entsprechende Regelungen; so etwa in Mecklenburg-Schwerin und Strelitz, Oldenburg, Lübeck, Bremen und Hamburg; einen Katalog der entsprechenden Regelungen dieser und anderer Partikularstaaten und ein Blick auf das Ausland findet sich bei: Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 1, S. 257 ff. Vgl. v. Hippel, a.a.O., S. 69 f.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
2. § 93 Nr. 3 prStGB 1851 Neben dem Ansehensschutz für die Einrichtungen des Staates und die Anordnungen der Obrigkeit enthielt das prStGB mit § 93 Nr. 3 auch den Schutz der öffentlichen Zeichen der königlichen Autorität: „Mit Geldbuße bis zu zweihundert Talern oder Gefängnis von vier Wochen bis zu zwei Jahren wird bestraft: [...] 3. wer in böswilliger Absicht die öffentlichen Zeichen der königlichen Autorität wegnimmt, zerstört oder beschädigt.“46
Die „Zeichen der königlichen Autorität“ bildeten den Oberbegriff für alle Hoheitszeichen47 und sollten vor einigen Realinjurien48 – und zwar der Wegnahme, Zerstörung oder Beschädigung in böswilliger – Absicht geschützt werden.
D) Reichsstrafgesetzbuch49 I. Ausgangslage und Entstehungsgeschichte Während der Übergang vom Gemeinen Recht zum Partikularrecht getragen war von dem durch die Aufklärung geförderten Liberalismus50, bekommt die Idee eines einheitlichen Strafrechts in Gestalt des Reichsstrafrechts durch die Entstehung des Norddeutschen Bundes am 1. Juli 1867 unter der Präsidentschaft Preußens und durch die Herstellung Zuständigkeit des Bundes für die Strafgesetzgebung am 20. März 1867 greifbare Konturen51. Im Frühjahr 1868 wurde von Bundestag und Bundesrat der Beschluss gefasst, „ein allen Staaten des Norddeutschen Bundes gemeinsames Strafrecht zu schaffen“52. Mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Entwurfs (am Vorbild des preußischen StGB von 1851) wurde Heinrich Friedberg, der damalige vortragende Rat des preußischen Justizministeriums, beauftragt53. Diese als Entwurf Friedberg be46 47 48
49 50 51 52 53
Pr.GS. 1851, 101 (120). Kleinfeller, Die Verletzung von Hoheitszeichen, S. 305. Es wird zwischen den Realinjurien und Verbalinjurien unterschieden: Im Gegensatz zu der Realinjurie, die ein physisches Einwirken (nicht unbedingt mit einer Substanzverletzung einhergehend) auf das Schutzobjekt verlangt, besteht bei der Verbalinjurie die Tathandlung in herabsetzenden Äußerungen. Zur Entstehung des RStGB siehe: Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 85 f. m.w.N.; Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 3, S. 8 ff.; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 341 ff.; Rüdorff, Strafgesetzbuch für das Deutsch Reich, S. 1 ff. Vgl. Vormbaum, a.a.O., S. 74 f. Vormbaum, a.a.O., S. 85; v. Hippel, a.a.O., S. 341 f. Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 1, Vorbemerkung, S. IV. Vgl. Vormbaum, a.a.O., S. 85; vgl. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 341. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 342. v. Hippel merkt an, dass es sich bei der Schaffung eines Einheitsstrafrechts um eine Aufgabe von höchster nationaler und wissenschaftlicher Bedeutung handelte. Nach Ansicht von v. Hippel konnte die rasche
Siebtes Kapitel: Vorläufer
163
zeichnete Fassung vom Juli 1869 wurde durch eine Kommission54 überarbeitet und nach geringfügigen Änderungen durch den Bundesrat am 14. Februar 1870 dem Reichstag vorgelegt und ist als „Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund“ vom 31. Mai 1870 am 1. Januar 1871 in Kraft getreten; nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und der Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Deutschen Reich am 18. Januar 1871 wurde dieses Gesetz am 15. Mai 1871 mit einigen Änderungen als „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“ verkündet55.
II. § 131 RStGB 1. Revision des preußischen Vorbildes Bei den Kommissionsberatungen über den Entwurf Friedberg vom Juli 1869 wurde über die Übernahme entsprechender Regelungen nach dem Vorbild des § 101 prStGB diskutiert56. Obwohl man § 101 prStGB unter anderem aufgrund des weiten Tatbestandes eine missbräuchliche Anwendungsgeschichte vorwarf57, hielt man doch die Gefahren, die durch eine „Strafbarkeitslücke“ entstehen könnten, für zu groß, um auf eine entsprechende Vorschrift gänzlich zu verzichten: „Die §§. 100. und 101., die vielleicht am meisten angefochtene Bestimmung des ganzen Gesetzbuches, sind in den §§. 112. und 113. einer durchgreifenden Umgestaltung unterzogen worden, so daß der Entwurf damit nicht minder die Einwürfe glaubt beseitigt zu haben, die den preußischen Vorschriften entgegenstanden, als der Gefahr eine Lücke vorzubeugen, welche bei einer einfachen Weglasssung jener Strafbestimmung in dem Norddeutschen Strafgesetzbuche für die öffentliche Si58 cherheit zu besorgen stände.“
54 55 56 57
58
Umsetzung dieser Aufgabe „nur im Anschluß an ein vorhandenes Vorbild erfolgen.“ Dies sei „im Preußischen StrGB“ zu sehen gewesen. Siehe hierzu auch: Vormbaum, a.a.O., S. 85 m.w.N. Zur Zusammensetzung der Kommission (Liste der Mitglieder mit biografischen Grunddaten, m.w.N.) siehe: Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 3, S. 12 ff. Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 86; v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 345. v. Hippel, Die sog. Staatsverleumdung, S. 69 f. Abgeordeter Twesten: „Er ist einer derjenigen Parapgraphen, welcher durch die Praxis vieler Gerichte in hohem Grade mißbräuchlich angewendet worden ist, und wiederholt Anstoß erregt hat. Die Bestimmung [...] sollte dadurch, daß kräftige Ausdrücke gebraucht wurden: ‘Haß und Verachtung, Schmähung und Verhöhnung’ dagegen sichern, daß nicht bloßer Tadel, bloßer Widerspruch gegen Einrichtungen und Anordnungen der Obrigkeit bereits für strafbar erachtet werden. Die Praxis aber vieler Gerichte hat in der That diese Worte ungefähr so angewendet, wie in den einstigen Censur-Verordnungen die Rede war von anständig und wohlmeinend und erklärt jeden Tadel, jeden Widerspruch für strafbar“, Sten. Ber. 1867, Bd. 1, S. 666. Vgl. Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 1, S. 250. Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 1, S. 247 f.; vgl. v. Hippel, a.a.O., S. 48, 70.
Dritter Teil Deutsches Recht
2 Erweiterung durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts einrichtungen auf alle Staatseinrichtungen
Schubert ¡ Vormbaum ¢ ¢ Schubert £ ders ¡ Vormbaum ¢¢¢ ¢ ¢ Schroeder ¤ £ ders Schroeder ¥ Schroeder Binding ¢ ¢¢ Schroeder
165
Siebtes Kapitel: Vorläufer
übrigens rechtlich keineswegs einwandfrei. Hat sich die Absicht des Artikels wirklich gerichtet auf Herabwürdigung des preußischen Staates in seiner konkreten Gestaltung und folgeweise auf Verächtlichmachung der in Preußen thatsächlich bestehenden Staatseinrichtungen in ihrer Gesamtheit, so würde [...] kein ausreichender Grund vorliegen, die Strafbarkeit [...] anders zu beurteilen, wie dann, wenn nur 66 einzelne Staatseinrichtungen den Gegenstand des Angriffes bilden.“
3. Verfolgungsstatistische Entwicklungen 35
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Abb. 7: Anklagen (l.), Verurteilungen (m.l.), Freisprüche (m.r.) und die Einstellungen (r.) nach § 131 RStGB von 1882 bis 189967
Die Strafverfolgung nach § 131 RStGB wurde von 1882 bis 1936 in der „Kriminalstatistik“ (Statistik für das Deutsche Reich) dokumentiert. Die Zahlen lassen sich in die Zeiträume vor und nach der Jahrhundertwende einteilen. In den frühen Jahren nach Inkrafttreten des RStGB weist § 131 RStGB eine im Vergleich zur Folgezeit höhere Relevanz auf. Im Zeitraum von 1882 bis 1899 liegt die durchschnittliche Anklagezahl bei über 18 Anklagen im Jahr. Diese führten im Schnitt jährlich zu einer Zahl von über 8 Verurteilungen. Freisprüche ergingen mehr als 10 pro Jahr. Insgesamt wurde nach § 131 RStGB also (geringfügig) häufiger freigesprochen als verurteilt. Daneben findet sich lediglich eine Einstellung aus dem Jahre 189968. 66 67 68
RGSt 30, 263 (267); ablehnend: Binding, a.a.O., S. 875. Siehe Anhang Nr. 2. Dies wird zumindest auch ein Ausdruck der geringen Bedeutung des Opportunitätsprinzips in der damals noch jungen Strafprozessordnung sein. Vgl. Rieß, Entwicklung der StPO, S. 10 ff.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
10 9 8 7 6 5 4 3 2
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Abb. 8: Anklagen (l.), Verurteilungen (m.l.), Freisprüche (m.r.) und die Einstellungen (r.) nach § 131 RStGB von 1900 bis 193669
Nach der Jahrhundertwende nimmt die Relevanz der Vorschrift deutlich ab. Es ergehen von 1900 bis 1936 stets weniger als 10 Anklagen im Jahr. Mit durchschnittlich sogar weniger als 4 Anklagen und ca. 2 Verurteilungen pro Jahr und einigen wenigen Einstellungen weist § 131 eine konstant geringe Anwendung auf. Diese Konstanz sollte schließlich auch der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, der Weimarer Krise und den Umwälzungen der 1930er Jahre trotzen.
III. § 135 RStGB 1. Anpassung an veränderte staatsrechtliche Verhältnisse Auch das Vorbild des § 93 Nr. 3 prStGB findet in dem Entwurf Friedberg Berücksichtigung70. Als § 135 lautet die endgültige Fassung im RStGB: „Wer ein öffentliches Zeichen der Autorität des Reichs oder eines Bundesfürsten oder ein Hoheitszeichen eines Bundestaats böswillig wegnimmt, zerstört oder beschädigt, wird mit Geldstrafe bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß bis 71 zu zwei Jahren bestraft.“ 69 70
71
Siehe Anhang Nr. 2. Dort als § 98: „Mit Geldbuße bis zu zweihundert Thalern oder Gefängniß bis zu zwei Jahren wird bestraft, wer in böswilliger Absicht die öffentlichen Zeichen der Autorität des Norddeutschen Bundes oder eines Bundesfürsten, oder die Hoheitszeichen eines Bundestaates wegnimmt, zerstört oder beschädigt.“ Schubert / Vormbaum, a.a.O., Bd. 1, S. 18. RGBl. 1871, 127 (153).
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Siebtes Kapitel: Vorläufer
Gegenüber dem Vorbild § 93 Nr. 3 prStGB musste sich die Vorschrift an die veränderten staatsrechtlichen Verhältnisse anpassen, d.h. den Weg vom Einheitsstaat Preußen zum Bundestaat des Norddeutschen Bundes gehen72. Dies ist in dem Entwurf Friedberg vom Juli 1869 schon berücksichtigt. So ist dort nicht mehr von „öffentlichen Zeichen der königlichen Autorität“, sondern von den „öffentlichen Zeichen der Autorität des Norddeutschen Bundes oder eines Bundesfürsten oder die Hoheitszeichen eines Bundesstaats“ die Rede73.
2. Verfolgungsstatistische Entwicklungen 20 18 16 14 12 10 8 6 4
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Abb. 9: Anklagen (l.), Verurteilungen (m.l.), Freisprüche (m.r.) und die Einstellungen (r.) nach § 135 RStGB von 1902 bis 193674
Die Strafverfolgung nach § 135 RStGB ist erst ab 1902 durch Einzelstatistiken dokumentiert worden. Die Vorschrift weist in diesem Zeitraum insgesamt eine noch geringere Relevanz auf als § 131 RStGB. Zwischen 1920 und 1936 nimmt die Vorschrift zwar geringfügig an Relevanz zu. Mit Ausnahme von 1929 bleiben die Anklagezahlen aber in jedem Jahr unter 10. Insgesamt wur72 73
74
Vgl. Kleinfeller, a.a.O., S. 305. Während im Einheitsstaat die Zeichen der königlichen Autorität zugleich alle denkbaren Hoheitszeichen bilden, existieren in einem Bundestaat zwei Gruppen von Hoheitszeichen: die Gruppe der Zeichen des Bundestaates selbst („Zeichen der Autorität des Norddeutschen Bundes“) und die Gruppe der Hoheitszeichen der einzelnen Gliedstaaten, also hier diejenigen des Bundesfürsten oder derjenigen der einzelnen Bundestaaten. Kleinfeller merkt noch an, dass die Hoheitszeichen eines Bundestaates im Hinblick auf die freien Städte besonders genannt sind, a.a.O., S. 305. Siehe Anhang Nr. 2.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
den gemäß § 135 RStGB durchschnittlich weniger als 3 Anklagen erhoben und ca. 2 Verurteilungen gestützt. Einstellungen bilden die Ausnahme.
E) Weimarer Republik I. Rechtshistorischer Kontext Auf das Ende des Ersten Weltkrieges und die Ausrufung der Weimarer Republik75 am 9. November 1818 folgten politische und gesellschaftliche Krisenjahre. Die angespannte Atmosphäre zeichnete sich unter anderem auch durch eine Reihe von Ereignissen aus, die für die politische Strafrechtsrechtsprechung von Bedeutung waren76. Trotz dieser Ausgangslage suchte die deutsche Rechtswissenschaft keinen Bruch zur der damaligen Vorläuferrechtsordnung. Diese blieb weitgehend unberührt. Gemäß Art. 178 WRV sollten die bestehenden Gesetze mit Ausnahme der Verfassung von 1871 in Kraft bleiben, soweit ihnen nicht die Verfassung entgegenstand77. Dies galt unter anderem auch für das RStGB, das insbesondere im staatsschützenden Teil aber Vorschriften enthielt, die auf die Staatsordnung des Deutschen Reiches Bezug nahmen, so dass gesetzgeberische Anpassungen erforderlich wurden78. Da dem Gesetzgeber bis 1933 jedoch eine solche Anpassung im Bereich des Staatsschutzstrafrechts nicht gelang, versuchte man sich zunächst der vorkonstitutionellen, monarchistisch orientierten Strafvorschriften der §§ 80 ff. RStGB durch entsprechende Auslegung zu bedienen79. Dem durch die Rechtsanwendung „angepassten“ Rückgriff auf die Regelungen folgten aber – nicht zuletzt aufgrund des im Vergleich zur Zeit des Kaiserrei75
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Die Geltungsdauer der Weimarer Republik wird im Schrifttum häufig auf den Zeitraum von 1918–1933 datiert. Dabei haben die Umwälzungen von 1933 – formal betrachtet – kein Außerkrafttreten der Weimarer Verfassung herbeigeführt. Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges und der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den Kontrollrat der Alliierten hat die Weimarer Verfassung ihre Geltung verloren und wurde später durch das Bonner Grundgesetz ersetzt. Schroeder weist auf die mit der Gründung der Republik einhergehenden gesteigerten Relevanz der politischen Kriminalität hin und untermauert dies durch die Benennung einer Reihe von Hochverratsfällen wie dem Spartakusaufstand (1919), die Errichtung der Räterepublik in Bayern (1919), dem gescheiterten Kapp-Putsch (1920), die Arbeiterunruhen unter Max Hölz (1921), den Thälmannaufstand (1923), Adolf Hitlers Putschversuch (1923) u.a., a.a.O., S. 109 f. m.w.N. „Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 und das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 sind aufgehoben. Die übrigen Gesetze und Verordnungen des Reichs bleiben in Kraft, soweit ihnen diese Verfassung nicht entgegensteht. [...]“. RGBl. 1919, 1383 (1417). Siehe: Gusy, Weimarer Republik, S. 107 f.; Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 164 f. Besondere Bedeutung erlangten in diesem Zusammenhang die Strafvorschriften, die auf den Monarchen Bezug nahmen (§§ 80 ff. StGB). Hierzu eingehend: Gusy, a.a.O., S. 109 ff.; siehe auch: Schroeder, a.a.O., S. 115 ff.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
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ches gesteigerten Interesses am Staatsschutz80 – einige Wellen von Republikschutzverordnungen81 auf Grundlage des Art. 48 Abs. 2 WRV, der den Reichspräsidenten ermächtigte, die „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen zu treffen“82. Im Gegensatz zu der späteren Republikschutzgesetzgebung können die Notverordnungen jedoch als Reaktionen auf konkrete umstürzlerische bzw. staatsgefährdende Einzelfälle – u.a. auf die Mordanschläge gegen republikanische Politiker wie Matthias Erzberger83 und Walter Rathenau84 bezeichnet werden85. Die Notverordnungen enthielten einschränkende Maßnahmen gegen die Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, darunter teilweise Strafbestimmungen86. Erst im Jahre 1921 begann die (freilich von den Notverordnungen geprägte) Republikschutzgesetzgebung, die auch Vorschriften zum Schutze von staatlichen Einrichtungen sowie zum Schutze der Staatsform hervorbrachte87.
II. Erstes Republikschutzgesetz (RepSchG 1922)88 1. § 8 RepSchG 1922 a) Allgemeines und Tatbestand Das erste Republikschutzgesetz vom 23. Juli 1922 errichtete einen Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik, der für Strafvorschriften des RepSchG 1922 (§§ 1–8) ausschließlich zuständig war und enthielt Vorschriften zu ver80 81 82
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84
85 86 87 88
Gusy, a.a.O., S. 126; Schroeder, a.a.O., S. 109 ff. Vgl. Vormbaum, a.a.O, S. 165. Wegbereiter der späteren Republikschutzgesetzgebung sind die Notverordnungen vom 29. August 1921, vom 28. September 1921, vom 26. Juni 1922 und vom 29. Juni 1922, Gusy, a.a.O., S. 128 ff. Zum Wortlaut: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“; RGBl. 1919, 1383 (1392). Matthias Erzberger (1875–1921), Mitglied der Zentrumspartei, war Reichsfinanzminister. Am 26. August 1921 wurde er von zwei ehemaligen Marineoffizieren erschossen. Die Tat wurde wurde vom Germanen-Orden geplant. Seiner Ermordung gingen Hetzschriften in der rechten Presse voran. Siehe: Epstein, Erzberger, Mattias, S. 638 ff. Walter Rathenau (1867–1922), Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, war Reichsaußenminister. Am 24. Juni 1922 wurde er von Anhängern der rechtsextremen Organisation Consul getötet. Auch seiner Ermordung gingen Hetzschriften voran. Siehe: Gall, Walter Rathenau, S. 243 f. Vgl. Sabrow, Rathenau, Walther, S. 174 ff. Gusy, a.a.O., S. 128, 134 f. Zum ereignisbezogenen Kontext der jeweiligen Verordnungen und einem inhaltlichen Überblick: Gusy, a.a.O., S. 128 ff. Vgl. Gusy, a.a.O., S. 128 ff. RGBl. 1922 I, 585. Zur Entstehungsgeschichte siehe: Gusy, a.a.O., S. 139 ff.; Jasper, a.a.O., S. 56 ff.
170
Dritter Teil: Deutsches Recht
botenen Vereinigungen, zum Verbot und zur Beschlagnahme von Druckschriften, zu Mitgliedern ehemals landesherrlicher Familien sowie Strafbestimmungen zum Schutze der Republik (1. Abschnitt). Gustav Radbruch89, in dessen Amtszeit als Reichsjustizminister die Ausarbeitung des RepSchG 1922 fiel, erklärte bei den Beratungen der dem Gesetz als Grundlage dienenden Verordnung zum Schutze der Republik90, dass diese aus einer Notlage erwachsen und „durch Ausschreitungen und Kundgebungen rechtsextremer Kreise entstanden“91 sei92. Die Verordnungen und auch das RepSchG 1922 sollten sich danach also nicht gegen Linksextremisten, sondern gegen Rechtsextreme richten93. § 8 RepSchG 1922 sah folgende Regelung vor: „Mit Gefängnis bis zu fünf Jahren, neben dem auf Geldstrafe bis zu einer Million Mark erkannt werden kann, wird bestraft, 1. wer öffentlich oder in einer Versammlung die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reichs oder eines Landes beschimpft oder dadurch herabwürdigt, daß er Mitglieder der republikanischen Regierung des Reichs oder eines Landes beschimpft oder verleumdet; 2. wer öffentlich oder in einer Versammlung die Reichs- oder Landesfarben be94 schimpft; [...]“
Die Vorschrift enthielt mit der „verfassungsmäßig festgestellte[n] republikanische[n] Staatsform des Reichs oder eines Landes“ und den „Reichs- oder Landesfarben“ zwei Gruppen von Schutzobjekten. Während die „Farben“ aber schon in § 135 RStGB strafrechtlichen Schutz (vor Realinjurien) genossen, sofern sie als öffentliche Zeichen der Autorität des Reiches verwendet wurden, war hingegen der Schutz der verfassungsmäßig festgestellten republikanischen Staatsform eine tatbestandliche Neuheit. Wie bereits erwähnt, kannte das deutsche Staatsschutzstrafrecht bis dahin nur den Schutz der Staatseinrichtungen, nicht hingegen den der Staatsform oder des Staates selbst95.
89
90 91 92 93
94 95
Gustav Radbruch (1878–1949) (Leben und Werk: Spendel, Radbruch, Gustav Lambert, S. 83 ff.) war Strafrechtler und Reichsjustizminister in der Weimarer Republik. Er war Mitglied der SPD. Sein im Jahre 1946 veröffentlichter Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ (zuerst in: SJZ 1946, 105 ff.) findet noch große Beachtung. Dazu: Vassalli, Radbruchsche Formel und Strafrecht, S. 7 ff. u. passim. Vgl. Gusy, a.a.O., S. 134 f., S. 139. Sten. Ber. 1922, Bd. 356, S. 8050. Hinweis bei: Krutzki, „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“, S. 295 f. Siehe auch folgende Aussagen Radbruchs: „Die Fassung ‘Gewalttaten gegen die republikanische Staatsform’ ist nach eingehender Prüfung gewählt worden, um klarzustellen, daß rechtsradikale Gewalttaten gemeint sind.“, in: Sten. Ber. 1922, Bd. 356, S. 8050. Siehe: Krutzki, a.a.O., S. 295 f., zitiert nach: H. Hannover / Hannover-Drück, Politische Justiz, S. 115. RGBl. 1922 I, 585 (586 f.). Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 89.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
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b) Anwendung Obwohl die neu gegründete Republik sich nach dem Krieg in einer gespannten Atmosphäre befand und die innere Sicherheit wegen drohender Auseinandersetzungen gefährdet war, wird dem RepSchG 1922 eine zu „zaghafte“ Anwendungsgeschichte bescheinigt. Schroeder schreibt: „[...] es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß die Rechtsprechung weithin Angriffe auf das Ansehen der Verfassung und der Staatssymbole nicht so intensiv verfolgt hat, wie es möglich und geboten gewesen wäre. Die Rechtsprechung von 96 Weimar ist hierfür später hart getadelt worden.“
Dies mag unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Morde durch nationalistische Täter an linksstehenden Politikern, insbesondere die Ermordung des Reichsaußenministers Rathenau, die gerade die der Republikschutzgesetzgebung vorangehende Republikschutzverordnungswelle begründet hatten97, überraschend erscheinen. Die richterliche Zurückhaltung wird gleichwohl damit begründet, dass die Richterschaft nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Gründung der Weimarer Republik nicht durch republiktreue Anhänger ersetzt wurde und diese personelle Kontinuität der monarchistischen, teilweise nationalistischen Richterschaft eine beherzte Republikschutzrechtsprechung nicht habe ermöglichen können98. Schon der damaligen Reichskanzler Wilhelm Marx99 äußerte sich 1926 zum Verhalten der Richterschaft: „Ich muss [...] von den Richtern verlangen, nicht daß sie Sympathie mit der bestehenden Staatsverfassung haben [...], aber daß sie auf dem Boden der Verfassung stehen, und daß sie ihr hohes Amt als ein solches auffassen, das mit in erster Linie berufen ist, für den Schutz gerade der bestehenden Verfassung einzutreten. Von diesen Gesichtspunkten, glaube ich, müssen sich die Richter nun einmal leiten lassen. Das haben wir allerdings von ihnen zu beanspruchen. [...] Ich will, um ganz objektiv zu sein, auch zugeben, daß in einzelnen Fällen wohl der Verdacht begründet gewesen ist, daß nicht alle Richter sich so in den Dienst der Republik und der 100 republikanischen Verfassung stellten, wie es wünschenswert wäre.“ Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 90 m.w.N. bei Kübler, der gar von Sabotage der Richter spricht, in: Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, S. 104 ff., S. 118 m.w.N. bei: Bauer, Justiz als Symptom, S. 221 f., 225. 97 Vgl. Gusy, a.a.O., S. 128 ff., 139 ff. 98 Vgl. �opi�, Grundgesetz und politisches Strafrecht, S. 251; Mit eingehendem Blick auf die Urteile des Strafgerichtshofes zum Schutz der Republik: Jasper, Schutz der Republik, S. 196 ff., 209; Gusy, a.a.O., S. 159 ff.; siehe auch: Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 32 ff.; kritisch: Krutzki, a.a.O., S. 301. Krutzki untermauert seine kritische Haltung gegenüber dieser These mit Nachweis bei Jasper, a.a.O., S. 285 ff. Dieser spricht sich an anderer Stelle aber im Sinne dieser Annahme aus (S. 209). Vgl. auch: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 27. 99 Wilhelm Marx (1863–1946) war Jurist, Mitglied der Zentrumspartei und Reichskanzler in der Weimarer Republik. Siehe: Stehkämper, Marx, Wilhelm, S. 348 ff. 100 Sten. Ber. 1926, Bd. 389, 5662 f. Auf diese und andere Aussagen des Reichskanzlers Marx macht Jasper aufmerksam, a.a.O., S. 209 (siehe dort auch in Fn. 70).
96
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Dritter Teil: Deutsches Recht
2. Geltungsdauer und verfolgungsstatistische Entwicklungen Das RepSchG 1922 war gemäß § 27 Abs. 2 auf fünf Jahre befristet. Mit dem Gesetz vom 2. Juli 1927101 wurde es um zwei weitere Jahre verlängert. In der Kriminalstatistik wurde § 8 nur zusammen mit § 7 erfasst. Die Zahlen zeigen insbesondere in den Jahren 1923 und 1924 einen dramatischen Anstieg102.
III. Zweites Republikschutzgesetz (RepSchG 1930)103 1. § 5 RepSchG 1930 Das zweite Republikschutzgesetz vom 25. März 1930 brachte eine Reihe von Veränderungen für den strafrechtlichen Schutz der Republik. Insgesamt zeichnet sich das Nachfolgergesetz z.T. durch einige Erweiterungen u.a. im Ehrenschutz aus104. Mit § 5 RepSchG 1930 trat auch eine dem Vorläufer in wesentlichen Zügen nachgezeichnete Vorschrift in Kraft: „Mit Gefängnis nicht unter drei Monaten, neben dem auf Geldstrafe erkannt werden kann, wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung 1. die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reiches oder eines Landes beschimpft oder böswillig und mit Überlegung verächtlich macht oder dadurch herabwürdigt, daß er den Reichspräsidenten oder ein Mitglied der Reichs- oder einer Landesregierung beschimpft oder verleumdet; 2. die Farben oder Flaggen des Reiches oder eines Landes beschimpft oder bös105 willig und mit Überlegung herabzusetzen sucht; [...]“
Gegenüber dem Vorläufer besteht die wesentliche Neuerung des § 5 RepSchG 1930 darin, dass neben die Beschimpfung die Verächtlichmachung trat. Die Verächtlichmachung erforderte die „böswillige“ Begehung „mit Überlegung“. Ferner findet nunmehr auch der Reichspräsident Schutz. Auf Rechtsfolgenseite erhält der Nachfolger eine Mindeststrafe von drei Monaten.
2. Geltungsdauer Das zweite Republikschutzgesetz war gemäß § 15 bis zum 31. Dezember 1932 befristet, trat aber – im Rahmen des von Kurt von Schleicher106 eingeschlagenen „Kurses der Versöhnung“107 – durch § 12 Abs. 2 der Verordnung zur Er101 102 103 104 105 106
RGBl. I, 125. Siehe Anhang Nr. 2. RGBl. 1930 I, 91. Schroeder, a.a.O., S. 130. Vgl. Gusy, a.a.O., S. 188. RGBl. I, 91 (92). Kurt von Schleicher (1882–1934) (Leben und Werk: Pyta, Schleicher, Kurt von, S. 50 ff.) war Offizier und Politiker. Von 1932 bis Anfang 1933 war er Reichskanzler. Während des sog. Röhm-Putsches wurde er erschossen. 107 Zum Begriff: Gusy, a.a.O., S. 212 m.w.N.; Schroeder, a.a.O., S. 147 m.w.N.
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Siebtes Kapitel: Vorläufer
haltung des inneren Friedens vom 19. Dezember 1932108 schon am 21. Dezember 1932 außer Kraft.
3. Verfolgungsstatistische Entwicklungen 400 350 300 250 200 150 100 50 0
1930
1931
1932
1933
Abb. 10: Anklagen (l.), Verurteilungen (m.l.), Freisprüche (m.r.) und die Einstellungen (r.) nach § 5 Nr. 1 RepSchG 1930 von 1930 bis 1933109
Im Gegensatz zu § 8 RepSchG 1922 wurden §§ 5 Nr. 1, Nr. 2 RepSchG 1930 gesondert in der Kriminalstatistik erfasst. Das Jahr 1933 ist aber nicht mehr repräsentativ. Denn hier wurde über die Anklagen entschieden, die das Außerkrafttreten des Gesetzes Ende 1932 überdauert haben. Entsprechendes gilt für 1930, das kein vollständiges Anwendungsjahr für das im laufenden Jahr in Kraft getretene RepSchG 1930 darstellt. Ein Blick auf die übrigen zwei Jahre verrät, welche Relevanz der Ansehensschutz der verfassungsmäßig festgestellten republikanischen Staatsform hatte. Denn während die Zahlen im Jahr des Inkrafttretens noch moderat waren, steigen Anklagen und Verurteilungen 1931 und 1932 mit 650 Anklagen und 470 Verurteilungen drastisch an. Dies stellt, gemessen an den im weiteren Sinne vergleichbaren Ansehensschutz von Staatsorganen nach § 131 RStGB – nach dem im gleichen Zeitraum „lediglich“ 7 Anklagen ergingen – eine hohe Anwendungshäufigkeit dar und zeigt, welchen temporär-offensiven Charakter die Republikschutzgesetze haben sollten. Dass angesichts dieser Zahlen der Vorwurf, die konservative Richterschaft habe durch das Versäumnis einer „beherzten“ Anwendung der Republikschutzgesetze das Scheitern der Weimarer Republik mitverursacht, relativiert wird, offenbart wohl nur, dass ein strafrechtlicher Ansehensschutz der Staatsform zur Abwehr feindlicher, etwa rechtsradikaler Tendenzen ungeeignet war110. 108 RGBl. I, 548. 109 Siehe Anhang Nr. 2. 110 Vgl. Krutzki, a.a.O., S. 301; vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 27.
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Dritter Teil: Deutsches Recht 140 120 100 80 60 40 20 0
1930
1931
1932
1933
Abb. 11: Anklagen (l.), Verurteilungen (m.l.), Freisprüche (m.r.) und die Einstellungen (r.) nach § 5 Nr. 2 RepSchG 1930 von 1930 bis 1933111
Die Statistiken zu § 5 Nr. 2 RepSchG 1930 zeigen ein vergleichbares Bild. Auch hier fiel die höchste Anwendungsrelevanz auf die Jahre 1931 und 1932. So wurden in diesen Jahren wegen der Beschimpfung oder der böswilligen Herabsetzung der Farben oder Flaggen des Reiches oder eines Landes insgesamt 226 Anklagen erhoben und 161 Verurteilungen ausgesprochen.
IV. Notverordnungswelle der 1931/32er Jahre 1. Verordnung gegen politische Ausschreitungen (AusschrVO 1932)112 a) § 16 AusschrVO 1932 Schon vor der Republikschutzgesetzgebung erließ der damalige Reichspräsident Friedrich Ebert113 bis 1921 auf Grundlage des Art. 48 WRV eine Reihe von Verordnungen zum Schutze der Republik, durch die die innere Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten werden sollten. Dem folgte in den Jahren 1931/32 eine erneute Welle von Notverordnungen, die unter Reichspräsident Paul von Hindenburg114 erlassen wurden, unter anderem die Verordnung gegen politische Ausschreitungen vom 14. Juni 1932. Die AusschrVO 1932 fiel somit in die letzte Welle von Notverordnungen der Weimarer Zeit, in der die Re111 Siehe Anhang Nr. 2. 112 RGBl. 1932 I, 297. Der AusschrVO 1932 gingen im Jahre 1931 andere Verordnungen mit gleichem Titel voran. 113 Friedrich Ebert (1871–1925) war Mitglied der SPD und amtierte von 1919 bis 1925 als erster Reichspräsident der Weimarer Republik. Siehe: Kotowski, Ebert, Friedrich, S. 254 ff. 114 Paul von Hindenburg (1847–1934) wirkte vor und während des Ersten Weltkrieges als Mitglied des Militärs und war später Politiker. Er war der zweite Reichspräsident der Weimarer Republik. 1933 ernannte er Adolf Hitler zum Reichskanzler. Siehe: Conze, Hindenburg, Paul von, S. 178 ff.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
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publik sich bereits in der Auflösung befand und die Regelungsschwerpunkte auf die Bekämpfung innenpolitischer Ausschreitungen insbesondere durch einschränkende Maßnahmen für Versammlungen und die Presse gesetzt wurden115. So enthielt auch die AusschrVO 1932 Regelungen zu Versammlungen und Aufzügen, periodischen Druckschriften, politischen Verbänden sowie Strafbestimmungen. § 16 AusschrVO 1932 lautete: „Wer eine auf Grund des § 6 dieser Verordnung verbotene periodische Druckschrift herausgibt, verlegt, druckt oder verbreitet, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft, neben dem auf Geldstrafe erkannt werden kann.“116
Zwar war die nach § 16 AusschrVO 1932 vorgesehene Strafe auf die Begehung durch Herausgabe, Verlegen, Drucken oder Verbreiten von periodischen Druckschriften begrenzt. Der Verbotskatalog nach § 6 AusschrVO 1932 umfasste nach Abs. 1 Nr. 2 aber auch Druckschriften, in denen „Organe, Einrichtungen, Behörden oder leitende Beamte des Staates beschimpft oder böswillig verächtlich gemacht werden“117.
b) Geltungsdauer Die AusschrVO war nicht befristet. Sie wurde aber wie das RepSchG 1930 im Rahmen des „Kurses der Versöhnung“ durch § 1 der Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens vom 19. Dezember 1932 außer Kraft gesetzt.
2. Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens118 a) § 134a StGB Auch bei der Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens vom 19. Dezember 1932 machte Reichspräsident Hindenburg von seiner Befugnis aus Art. 48 Abs. 2 WRV Gebrauch. Unter anderem wurde § 134a in das StGB eingefügt: „Wer öffentlich das Reich oder eines der Länder, ihre Verfassung, ihre Farben oder Flaggen oder die deutsche Wehrmacht beschimpft oder böswillig mit Überlegung verächtlich macht, wird mit Gefängnis bestraft.“119
115 Hierzu können die Verordnung zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 28. März 1931 (RGBl. I, 79), die Zweite Verordnung zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 17. Juli 1931 (RGBl. I, 371), die Dritte Verordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 6. Oktober 1931 (RGBl. I, 537), die Verordnung zum Schutze des inneren Friedens vom 8. Dezember 1931 (RGBl. I, 699) sowie die hier noch näher zu behandelnde Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens vom 19. Dezember 1932 gezählt werden. Siehe hierzu: Schroeder, a.a.O., S. 144 ff.; Gusy, a.a.O., S. 191 ff. 116 RGBl. I, 297 (299). 117 RGBl. I, 297 (298). 118 RGBl. 1932 I, 548. 119 RGBl. I, 548 (549).
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Dritter Teil: Deutsches Recht
Durch die Verordnung wurde der Ansehensschutz des Staates also erweitert. Denn während durch die Republikschutzgesetzbung der Jahre 1922 und 1930 die republikanisch festgestellte Staatsform Schutz finden sollte, erhält das politische Strafrecht mit § 134a StGB nun auch einen Ansehensschutz für das Reich (und die Länder) selbst120.
b) Geltungsdauer § 134a StGB blieb in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft erhalten. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hob der Alliierte Kontrollrat121 das politische Strafrecht Deutschland allerdings auf. Auch § 134a StGB wurde durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 (Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts) vom 30. Januar 1946 gestrichen122.
c) Verfolgungsstatistische Entwicklungen 500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0
1932
1933
1934
1935
1936
Abb. 12: Anklagen (l.), Verurteilungen (m.l.), Freisprüche (m.r.) und die Einstellungen (r.) nach § 134a StGB von 1932 bis 1936123
Wie schon die Republikschutzgesetze von 1922 und 1930, ist auch § 134a StGB von einer erheblichen Anwendungshäufigkeit gekennzeichnet. Die Vorschrift, die innerhalb der letzten Notverordnungswelle vor der Zeit der NSHerrschaft erging, wurde im Jahre 1932 zwar nicht mehr angewendet. Nach den Umbrüchen von 1933 entfaltete die Vorschrift dann aber ihre Relevanz. So wurden von 1933 bis 1936 durchschnittlich mehr als 419 Anklagen im Jahr er120 Vgl. Schroeder, a.a.O., S. 147 f. 121 Der Alliierte Kontrollrat war nach dem Kriegsende in Deutschland gemäß Artikel 2 der Proklamation Nr. 1 „die oberste Machtgewalt in Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes angehen [...].“, KRABl. 1945, 4. Hierfür konnte der Rat verbindliches Recht setzen. Siehe ergänzend: Benz, Potsdam 1945, S. 67 ff. 122 Durch Art. 1, KRABl. 1946, 55. 123 Siehe Anhang Nr. 2.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
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hoben. Darauf wurden im Jahr mehr als 349 Verurteilungen gestützt. Im Vergleich zu den Republikschutzgesetzen stellt § 134a StGB eine Besonderheit dar: Denn als Vorschrift zum Schutze des Weimarer Systems ins Leben gerufen, wurde sie – im Gegensatz zum RepSchG 1922 oder RepSchG 1930, die vor der NS-Herrschaft noch außer Kraft traten – von den Gerichten nach 1933 mit bemerkenswertem Nachdruck angewendet. So verwundert nicht, dass der Alliierte Kontrollrat mit Kontrollratsgesetz Nr. 11 § 134a StGB aufhob.
F) Zeit der NS-Herrschaft124 I. Gesetzgebung in der NS-Zeit125 Das Strafrecht der NS-Zeit hat Regelungen mit unterschiedlichem Rechtscharakter hervorgebracht. Während (die formelle) Rechtsetzung126 wie gewohnt durch Reichsgesetze erfolgen konnte, gab es auch eine Reihe von Regelungen, die den Charakter von Reichsregierungsgesetzen127 oder Verordnungen hatten. Im Hinblick auf die Verordnungen bewegte sich das NS-Recht zunächst aber durchaus innerhalb der durch die Weimarer Reichsverfassung aufgestellten Rahmenbedingungen für die Gesetzgebung im „Notstand“128. Denn wie bereits erwähnt, beruhte eine Reihe von strafrechtlich relevanten Gesetzen vor 1933 schon auf der Befugnis des Reichspräsidenten, die notwendigen Maßnahmen für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung zu treffen. Auch der mögliche Einwand, dass Verordnungen oder Gesetze in der NS-Zeit nicht lediglich auf Art. 48 Abs. 2 WRV, sondern später vermehrt auf das Ermächtigungsgesetz129 gestützt wurden, macht die NS-„Gesetzgebung“ noch zu keiner Besonderheit, da Ermächtigungsgesetze keine lediglich nationalsozialistische Erscheinung darstellten: Gesetze, die im Notstand das Erfordernis der formel124 Unter Zeit der NS-Herrschaft wird hier der Zeitraum von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 bis Kriegsende verstanden. 125 Einen Gesamtüberblick mit umfassenden Erläuterungen unter anderem zum NSStrafrecht gibt: Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, S. 57 ff. 126 Der Begriff Recht wird hier als Überbegriff für Gesetze, Reichsregierungsgesetze, Verordnungen, Erlasse, Führer-Befehle etc. verwendet. Er stellt keine Einordnung in die materiellen Kategorien Recht oder Macht dar. Zu dieser Unterscheidung vgl. Asholt, Feindstrafrecht, S. 180 m.w.N. 127 Die Reichsregierungsgesetze wurden durch das Ermächtigungsgesetz ermöglicht. Art. 1 ErmG bestimmte, dass Reichsgesetze neben dem in der Verfassung bestimmten Verfahren auch von der Reichsregierung beschlossen werden konnten. Damit waren die Reichsregierungsgesetze ranggleich mit formellen Gesetzen. 128 Die Notstandslage erforderte nach Art. 48 Abs. 2 WRV die erhebliche Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Deutschen Reiche. 129 RGBl. 1933 I, 141. Siehe: Laufs, Einführung, S. V ff. Zum Zusammenhang der Rechtssetzung im Strafrecht siehe: Werle, a.a.O., S. 59 f.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
len Gesetzgebung130 aufhoben, also neben anderen Maßnahmen auch die Notrechtsetzung zuließen, kannte das deutsche Recht durchaus schon vorher131.
1. Zeitraum von 1933 bis 1935 Ein großer Teil des politischen Strafrechts der NS-Zeit stammt aus dem Zeitraum von 1933 bis 1935. Die hier erlassenen Strafvorschriften ergingen größtenteils als Verordnungen auf Grundlage des Art. 48 Abs. 2 WRV132. In dieser frühen Phase der NS-(Straf-)Gesetzgebung finden sich klare Tendenzen zur Erhaltung und Stabilisierung der neuen Machtverhältnisse und so fallen in diesen Zeitraum, neben dem Ermächtigungsgesetz, auch die für den Ansehensschutz des Staates relevanten Verordnungen zum Schutze des deutschen Volkes und die Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung sowie das Gesetz zum Schutze nationaler Symbole und das Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutze der Parteiuniformen. In dieser Phase sind Parallelen zum (Republikschutz-)Strafrecht der Weimarer Republik erkennbar. Dies betrifft auch einen Teil der hier relevanten Regelungen. Vogel konstatiert, die „sog. Schutz-, Verrats- und Heimtückegesetzgebung zum politischen und Staatsschutz-Strafrecht“ habe „strukturell und bis in den Normtext hinein an Weimarer Entwürfen und sogar am Weimarer Republikschutzstrafrecht selbst“ angeknüpft133.
2. Zeitraum von 1936 bis Kriegsende Während sich der Zeitraum 1936 bis Kriegsausbruch als „Atempause der Strafgesetzgebung“134 erwies, ergingen in Kriegszeiten viele neue Strafbestimmungen. Sie ergingen zunächst als Reichsregierungsgesetze, später als Verordnungen und Erlasse, die sich teilweise auf sog. Führervollmachten stützten, teils vom „Führer“ selbst beschlossen wurden135. Inhaltlich legte die Strafrechtsetzung dieser Zeit zwar einen Fokus auf kriegs- und wehrmachtsgefährdende Handlungen, beschränkte sich aber nicht lediglich auf das „zeitbedingte Notrecht“136. Unter anderem galt es, Kriegsmüdigkeit zu verhindern. Dazu wurde beispielsweise auch das Abhören des ausländischen und reichs130 Unter formeller Gesetzgebung werden parlamentarisch zustande gekommene Gesetze i.S.d. verfassungsrechtlich vorgegebenen Gesetzgebungsverfahrens verstanden. 131 Vormbaum benennt Beispiele aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik, Strafrechtsangleichungsverordnung, S. 6 f. m.w.N. 132 Werle, a.a.O., S. 58. 133 Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, S. 47 mit Hinweis auf Schroeder, Staat und Verfassung, S. 150 ff. 134 Werle, a.a.O., S. 193. 135 Ebd. 136 Werle, a.a.O., S. 202.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
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feindlichen Rundfunkes unter Strafe gestellt137. Einen Ansehensschutz des Staates im engeren oder weiteren Sinne enthält die Strafgesetzgebung dieser Zeit nicht mehr. Das mag auch daran liegen, dass die geltende Rechtslage des RStGB und die ergänzende Rechtsetzung im Zeitraum von 1933 bis 1935 aus Sicht der NSDAP ausreichend war und sich die Prioritäten zwischenzeitig verlagert hatten.
II. Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes (VolksSchutzVO) 1. § 18 VolksSchutzVO Die Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933138 erging auf dem Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten (Hindenburg) nach Art. 48 Abs. 2 WRV. Die VolksSchutzVO enthielt Regelungen zu Versammlungen und Aufzügen, Druckschriften, Sammlung zu politischen Zwecken und Strafbestimmungen. Nach § 18 VolksSchutzVO war folgende Regelung vorgesehen: „Wer eine auf Grund der §§ 9 oder 11 verbotene periodische Druckschrift herausgibt, verlegt, druckt oder verbreitet, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten 139 bestraft, neben dem auf Geldstrafe erkannt werden kann. [...]“
§ 9 Abs. 1 Nr. 5 VolksSchutzVO verbot unter anderem Druckschriften, in denen „Organe, Einrichtungen, Behörden oder leitende Beamte des Staates beschimpft oder böswillig verächtlich gemacht werden“140.
Die VolksSchutzVO weist offenkundige Parallelen zur AusschrVO 1932 auf141. Dies gilt einerseits für die Systematik der Verordnung als auch für die hier relevanten Vorschriften. § 18 VolksSchutzVO entspricht inhaltlich § 16 AusschrVO 1932. § 9 Abs. 1 Nr. 5 VolksSchutzVO stimmt überdies mit § 6 Abs. 1 Nr. 2 AusschrVO 1932 wörtlich überein.
2. Geltungsdauer Für die VolksSchutzVO wurde keine Befristung vorgesehen. Sie galt bis zum Kriegsende fort. Der strafrechtliche Teil der Verordnung (Abschnitt IV) wurde 137 Die Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939 (RGBl. I, 1683). Näher dazu: Werle, a.a.O., S. 214 ff. 138 RGBl. I, 35. 139 RGBl. I, 35 (38). 140 RGBl. I, 35 (37). Nach § 9 Abs. 1 Nr. 7 sollten auch Druckschriften, in denen „offensichtlich unrichtige Nachrichten enthalten sind, deren Verbreitung geeignet ist, lebenswichtige Interessen des Staates zu gefährden“ verboten sein. 141 „Die Verordnung bewegte sich nicht nur im Hinblick auf die autoritäre Form ihres Erlasses in vertrauten Bahnen: Sie folgte auch mit ihren Tatbeständen fast durchweg Vorbildern aus der Weimarer Notverordnungspraxis der Jahre 1931/1932.“, Werle, a.a.O., S. 64 m.w.N. Vgl. Backes, Rechtsstaatsgefährdungsdelikte, S. 55.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
durch das Kontrollratsgesetz Nr. 55 (Aufhebung von Vorschriften auf dem Gebiet des Strafrechts) vom 20. Juni 1947142 gestrichen143.
III. Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung (HeimtückeVO) 1. § 3 HeimtückeVO a) Tatbestand Die Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933144 erging als letzte auf Art. 48 Abs. 2 WRV beruhende, strafrechtliche Notverordnung der NS-Zeit145. Mit § 3 Abs. 1 HeimtückeVO – dem sog. „Greuelpropaganda“-Tatbestand146 – war folgende Regelung vorgesehen: „Wer vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reiches oder eines Landes oder das Ansehen der Reichsregierung oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbände schwer zu schädigen, wird, soweit nicht in anderen Vorschriften eine schwerere Strafe angedroht ist, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und, wenn er die Behauptung öffentlich aufstellt oder 147 verbreitet, mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.“
§ 3 Abs. 3 HeimtückeVO ließ für die Strafbarkeit auch die grob fahrlässige Begehung genügen, milderte den Strafrahmen in diesen Fällen aber herab auf „Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe“. In dieser Form weicht § 3 HeimtückeVO deutlich von den zeitgenössischen Vorschriften zum Schutze des Staatsansehens ab. Dies gilt insbesondere für die Tathandlung, die nunmehr die Aufstellung oder Verbreitung unwahrer oder gröblich entstellter Behauptungen tatsächlicher Art erforderte, die die Schutzobjekte schwer zu schädigen geeignet war. Auffällig unbestimmt sind die Schutzobjekte des Wohles des Reiches bzw. des Wohles der Länder. Bemerkenswert und neu ist zudem, dass die Vorschrift das Ansehen der Reichsregierung bzw. das Ansehen der Landesregierungen als Schutzobjekt direkt benennt. Ebenfalls neu ist, dass neben dem Schutz der Regierungen die hinter den Regierungen stehenden Parteien und Verbände Schutz finden sollten.
142 Durch Art. 1 Nr. 1, KRABl. 1947, 284. 143 Der übrige Teil der VolksSchutzVO wurde erst durch Art. 123 Abs. 1 i.V.m. Art. 5 und 8 GG aufgehoben. 144 RGBl. I, 135. 145 Werle, a.a.O., S. 71. 146 Ebd., S. 71; Schroeder, Staat und Verfassung, S. 154. 147 RGBl. I, 135.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
181
b) Kritik Der „Greuelpropaganda“-Tatbestand fand aufgrund seiner Unbestimmtheit im neueren Schrifttum eine kritische Würdigung. So bezeichnet Werle § 3 HeimtückeVO als „bemerkenswerten ‘Tat’bestand“148. Auch Schroeder kritisiert die Vorschrift: „Am gravierendsten war [...] die vorsätzliche oder grob fahrlässige (!) Aufstellung unwahrer oder gröblich entstellter (!) Tatsachenbehauptungen, die geeignet sind (!), das Wohl des Reiches oder eines Landes oder das Ansehen (!) der Reichs- oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbände (!) schwer zu schädigen (§ 3). Dieser Tatbestand knüpfte offensichtlich 149 an § 6 der VO vom 14.6.1932 [...] an.“
Damit spricht auch Schroeder die offenkundige Parallele zum Verbotskatalog für periodische Druckschriften aus der AusschrVO 1932 an, also diejenige Verordnung, die offenbar auch schon als gesetzgeberisches Vorbild für die VolksSchutzVO gedient hatte. Anzumerken bleibt dennoch, dass in § 3 Abs. 1 HeimtückeVO einige Merkmale auftauchen, die im deutschen Rechtsraum so schon vorher Geltung beansprucht hatten. Dies gilt für die „Aufstellung und Verbreitung falscher oder gröblich entstellter Behauptungen tatsächlicher Art“: Diese Tathandlung kann in einer ähnlichen Form nämlich schon in der preußischen Strafrechtsgeschichte – und zwar sowohl im Pressestrafrecht als auch im prStGB 1851 wiedergefunden werden. Dort wurde unter anderem die Behauptung und Verbreitung erdichteter oder entstellter Tatsachen als einschlägige Tathandlung pönalisiert150. § 3 Abs. 1 HeimtückeVO orientierte sich hier also an älteren Vorbildern aus Preußen. Neue und der NS-Herrschaft geschuldete Eigenarten hingegen waren der Schutz des Wohles des Reiches oder eines Landes und die hinter der Regierung stehenden Parteien oder Verbände, mit denen insbesondere die NSDAP, SS und SA Schutz finden konnten.
2. Geltungsdauer Die HeimtückeVO war zwar nicht befristet. Sie wurde allerdings durch § 9 des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934151 ersetzt.
148 149 150 151
Werle, a.a.O., S. 71 m.w.N. Schroeder, Staat und Verfassung, S. 154. Siehe oben unter: B) II. und C) II. 1. RGBl. I, 1269.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
IV. Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen (HeimtückeG) 1. § 1 HeimtückeG Das Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934152 wurde als Reichsregierungsgesetz, also auf Grundlage des Ermächtigungsgesetzes erlassen und ersetzte die HeimtückeVO vom 21. März 1933. § 1 Abs. 1 HeimtückeG regelte: „Wer vorsätzlich eine unwahre und gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen, wird, soweit nicht in anderen Vorschriften eine schwerere Strafe angedroht ist, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und, wenn er die Behauptung öffentlich aufstellt oder verbreitet, mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.“153
Abs. 2 ließ die grob fahrlässige Begehung genügen. Die Vorschrift knüpft in dieser Form offenkundig an § 3 HeimtückeVO an. Den wesentlichen Unterschied zum Vorläufer bildet anstelle der „hinter der Regierung stehenden Parteien und Verbände“ die nunmehr ausdrückliche Bezeichnung der NSDAP154, die inzwischen die einzige noch zugelassene Partei war155.
2. Geltungsdauer Das HeimtückeG war unbefristet und galt bis zum Kriegsende fort. Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20. September 1945 wurde es aufgehoben156.
V. Strafgesetznovelle 1. § 134b StGB Nachdem es die NSDAP geschafft hatte, ein Einparteiensystem zu etablieren, richteten sich die institutionellen Ehrangriffe auch auf die Partei selbst. Diesen 152 RGBl. 1934 I, 1269. 153 Ebd. 154 Im Gegensatz zu der HeimtückeVO, war nach § 2 Abs. 1 HeimtückeG zudem noch folgende, erweiternde Regelung vorgesehen: „Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP., über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, wird mit Gefängnis bestraft.“ Vgl. dazu: Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 4. 155 „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“ vom 14. Juli 1933 (RGBl. I, 479). Weitergehend: „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ vom 1. Dezember 1933 (RGBl. I, 1016). Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 441. 156 Durch Art. 1 Nr. 1 lit. h. KRABl. 1945, 6.
Siebtes Kapitel: Vorläufer
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Angriffen wollte man einerseits durch das SymbSchG157 und andererseits mit § 134b StGB begegnen, der durch das (vierte) Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28. Juni 1935158 eingeführt wurde. Absatz 1 der Vorschrift lautete: „Wer öffentlich die NSDAP, ihre Gliederungen, ihre Hoheitszeichen, ihre Standarten oder Fahnen, ihre Abzeichen oder Auszeichnungen beschimpft oder böswillig 159 und mit Überlegung verächtlich macht, wird mit Gefängnis bestraft.“
Die Vorschrift ist Ausdruck einer durch die Interessen einer Partei geprägten Gesetzgebung160. Sie steht neben dem schon bestehenden Ansehensschutz von Staatseinrichtungen.
2. Geltungsdauer und verfolgungsstatistische Daten § 134b StGB wurde durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30. Januar 1946 gestrichen161. Die Strafverfolgung ist nur für das Jahr 1936 dokumentiert worden. Nach ihr wurden in diesem Jahr 150 Anklagen erhoben und es ergingen 133 Verurteilungen162.
157 158 159 160 161 162
„Gesetz zum Schutz der nationalen Symbole“ vom 19. Mai 1933 (RGBl. I, 285). RGBl. I, 839. RGBl. I, 839 (841). Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 13. Durch Art. 1, KRABl. 1946, 55. Siehe Anhang Nr. 2.
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB „[Wir werden] die grausamen, harten und ungerechten Rechtsätze und Einrichtungen, die von der NSDAP geschaffen worden sind, aufheben.“1
A) Rechtshistorische Kontexte I. Ausgangslage für die zweite deutsche Republik Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 übernahmen die Siegermächte durch den Alliierten Kontrollrat die Regierungsgewalt. Mit einer Reihe von Kontrollratsgesetzen hob man einen Teil der NS-Gesetze auf: Durch das KRG Nr. 1 vom 20. September 19452 wurden Gesetze politischer Natur oder Ausnahmegesetze, auf welchem das Naziregime beruhte (Art. 1 Nr. 1), durch das KRG Nr. 11 vom 30. Januar 19463 einzelne Bestimmungen des deutschen Strafrechts und durch das KRG Nr. 55 vom 20. Juni 19474 Vorschriften auf dem Gebiet des Strafrechts – teilweise mehrfach5 – aufgehoben6: „Die Bundesrepublik fand somit auf dem Gebiet des Staatsschutzrechts eine tabula rasa vor und hatte die große Chance, ohne Rücksicht auf Überkommenes ein ihr gemäßes Staatschutzrecht zu schaffen.“7
Diese große Chance – wie es Schroeder ausdrückt – hatte der noch junge westdeutsche Gesetzgeber jedoch unter dem Eindruck einer bedrohlichen Atmosphäre wahrzunehmen. Es galt mit der personellen Kontinuität8 fertigzuwerden, die den gesamten Staatsapparat und damit auch die Justiz betraf. Eine durch „Nationalsozialisten im Amt“ getragene Gefahr von „rechts“, also eine nationalistische Reaktion9, andererseits aber auch die durch den Kalten Krieg verstärkte Sorge von einer aufkommenden kommunistischen Gefahr prägten 1 2 3 4 5 6
7 8 9
Dwight D. Eisenhower, Proklamation Nr. 1 der Militärregierung; ABl. der Militärregierung Deutschland 1944, 1. KRABl. 1945, 6. KRABl. 1946, 55. KRABl. 1947, 284. Schiffers, Staatsschutz in der BRD, S. 595; Schroeder, Staat und Verfassung, S. 176. Differenzierend: Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, S. 22 ff.; siehe auch: Etzel, Aufhebung von NS-Gesetzen, insbes. S. 80 ff.; mit Blick auch auf die Beseitigung des NS-Unrechts und auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit siehe: Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 223 ff. Schroeder, Staat und Verfassung, S. 176. Dazu: Vogel, a.a.O., S. 28 ff. m.zahlr.N. Rudolf, „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst, S. 209 ff., S. 217 ff.
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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das Klima, durch das ein zunehmender Druck zu gesetzgeberischen Entscheidungen entstand10. „Schutzbedürftig erschien die zweite Republikgründung zum einen im Rückblick auf das Scheitern der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Rechtsverformung, zum andern unter dem Eindruck der kommunistischen Machtübernahmen in den ostmitteleuropäischen Staaten, des Korea-Krieges und rechtsextremer Umtriebe. [...] Diese Umstände legten eine Wiederherstellung und Neufassung auch des politischen Strafrechts nahe [...]“11.
II. Die wehrhafte Demokratie12 Der Eindruck vom Scheitern der Weimarer Republik sorgte früh für nachdrückliche Forderungen nach einem verfassungsrechtlichen, teilweise sogar für einen verfassungsstrafrechtlichen Staatsschutz13. Allgemein machte man die fehlende demokratische Mehrheit und die zurückhaltende Neutralität der WRV gegenüber Verfassungsfeinden für den Niedergang der ersten Republik verantwortlich14. Daraus ergab sich zugleich die Annahme, dass man eine Verfassung zu schaffen hatte, die sich gegenüber Systemfeinden, d.h. auch gegenüber Verfassungsfeinden zur Wehr setzen konnte. Schiffers schreibt, dass die „wertneutrale“ Weimarer Verfassung „wohl verfassungswidrige Methoden, aber keine verfassungswidrigen Ziele gekannt und so in der Form legale ‘Machtergreifungen’ in den Ländern und im Reich ermöglicht hatte. Lehren aus dieser Erfahrung zogen nach 1945 zunächst die Verfassungsgeber in den westdeutschen Ländern. An die Stelle der wertneutralen Verfassung setzten die Verfassungsgeber von 1946 das Staatsziel der wehrhaften Verfassung und der streitbaren Demokratie“15.
Wenn Josef Goebbels16 im Jahre 1928 also ankündigte, die Demokratie mit ihrer eigenen Unterstützung lahm legen zu wollen17, ist in der „wehrhaften Demokratie“ das Gegenkonzept als Antwort auf Verfassungsfeinde zu erblicken. 10 11 12 13 14 15 16 17
Vgl. Vormbaum, a.a.O., S. 235. Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 8. Schiffers, a.a.O., S. 589 f. Siehe Sammelband von: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie. 1948 schlug Max Becker (FDP) vor, Strafvorschriften u.a. zum Schutze der Verfassung in das Grundgesetz aufzunehmen. Dieser Vorschlag mündete in Art. 143 GG 1949 – eine Kurzfassung der §§ 86–89 E 1927. Schroeder, a.a.O., S. 176 ff. m.w.N. Schiffers erwähnt die einseitig gegen links gerichtete Rspr., a.a.O., S. 593 m.w.N. Vgl. �opi�, Grundgesetz und politisches Strafrecht, S. 251. Siehe auch schon oben: Siebtes Kapitel, E) II. 1. b). Schiffers, a.a.O., S. 593 f. Josef Goebbels (1897–1945) war von 1933–1945 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda. Zum Kriegsende nahm er sich das Leben. Siehe: Fraenkel, Goebbels, Paul Joseph, S. 500 ff. „Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahm zu legen.“, in: Der Angriff vom 30. April 1928 („Was wollen wir im Reichstag?“), S. 1 f.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
Konkrete Anlässe und gesellschaftspolitische Ereignisse führten in der Politik vermehrt zu der Auffassung, dass das neue Konzept durch entsprechende Strafvorschriften zu flankieren sei: Rechtsextreme Kundgebungen im September 1949 führten zur Forderung der Zentrumspartei, einen strafrechtlichen Schutz für die Bundesflagge bzw. die Bundesfarben einzuführen18. Auch der sozialdemokratische Entwurf zum Gesetz gegen die Feinde der Republik19 ist die Reaktion auf den wiedererstarkenden Rechtsradikalismus der Jahre 1949/50, die einen medialen Höhepunkt in den antisemitischen Äußerungen von Wolfgang Hedler20 fanden21. Schon vor den Vorstößen der Zentrumspartei und der SPD zeigte der hessische Entwurf zum Staatsschutzgesetz – der später in das Gesetz zum Schutze der demokratischen Freiheit umbenannt wurde –, dass das staatsschutzstrafrechtliche Vakuum zu füllen sein sollte22.
III. Das frühe Staatsschutzstrafrecht 1. Staatsschutzstrafrechtliche Grundlegung a) StÄG 1951 Die sich in der Ausgangslage schon andeutende Forderung nach einer Grundlegung des Staatsschutzstrafrechts realisierte sich schließlich durch das (1.) Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951 (StÄG 1951)23. Obwohl dem Regierungsentwurf zum Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches24 der o.g. liberalere SPD-Entwurf voranging, brachte das vereinzelt als „Blitzgesetz“25 bezeichnete StÄG 1951 einen umfassenden Strafrechtsschutz des Staates. In der allgemeinen Begründung zum Regierungsentwurf heißt es: „Wenn es in Deutschland zur Herrschaft des Nationalsozialismus kommen konnte und wenn es dem deutschen Volk nicht gelang, dieses Joch aus eigener Kraft abzuschütteln, so liegt die Ursache für ein solches Versagen in soziologischen Strukturwandlungen des gesamten Abendlandes, die in Deutschland nach dem ersten 18 19 20 21 22
23 24 25
Schiffers, a.a.O., S. 597; ders., Bürgerfreiheit und Staatsschutz, S. 89 ff. Siehe ferner: Bundestagsdrucksache I/25. Bundestagsdrucksache I/563. Schiffers, a.a.O., S. 597 f. Dazu näher: ders., Bürgerfreiheit und Staatsschutz, S. 94 ff. Wolfgang Hedler (1899–1986) war Mitglied der NSDAP und nach dem Krieg Mitglied der Deutschen Partei (DP). 1950 wurde er wegen antisemitischer Äußerungen von der DP ausgeschlossen. Näher: Buschke, Nationalsozialistische Vergangenheit, S. 115 ff. Schiffers, a.a.O., S. 94 m.w.N.; vgl. Schroeder, Staat und Verfassung, S. 179. Zum Staatsschutzgesetz: Drucksachen (Abt. I) des Hessischen Landtages I/592, Bericht des Rechtsausschusses zum Gesetz zum Schutz der demokratischen Freiheit: Drucksachen (Abt. II) des Hessischen Landtages I/557; Schiffers, a.a.O., S. 594; Dazu näher: ders., Bürgerfreiheit und Staatsschutz, S. 39 ff. BGBl. 1951 I, 739. Bundestagsdrucksache I/1307. Zu der Bezeichnung eingehend: Schiffers, Bürgerfreiheit und Staatsschutz, S. 206 ff.
Achtes Kapitel §§ 90a 90b §§ 96 97 StGB
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188
Dritter Teil: Deutsches Recht
widrigkeit des damaligen § 90a StGB36 und die vorübergehende Entspannung der weltpolitischen Lage ermöglichten nach den Entwürfen des „Reformzeitalters“37 ein liberaleres Staatsschutzstrafrecht38. Der gesetzgeberische Vorbote einer grundlegenderen Novellierung des Staatsschutzstrafrechts war das Vereinsgesetz vom 5. August 196439, das eine Reaktion auf die Rechtsprechung des BVerfG zum § 90a StGB darstellte40.
2. Entschärfungen durch das StÄG 1968 Das (8.) Strafrechtsänderungsgesetz vom 25. Juni 1968 (StÄG 1968)41 kann schließlich als ein „entschärfendes Intermezzo“ im politischen Strafrecht bezeichnet werden42. Das Gesetz, das in der Amtszeit von Gustav Heinemann43 ausgearbeitet wurde, brachte die Streichung bzw. Entschärfung einiger durch das StÄG 1951 eingeführter Tatbestände des politischen Strafrechts. So heißt es in der allgemeinen Begründung zum Regierungsentwurf von 1966: „Eines der Hauptziele des vorliegenden Entwurfs ist es, die Tatbestände des Staatsschutzstrafrechts unter größtmöglicher Präzisierung so weit, wie es kriminal44 politisch vertretbar erscheint, einzuschränken“ .
Dazu gehörte neben der Streichung der Geheimbündelei (§ 128) und der Verbreitung von fahrlässig nicht als hochverräterisch erkannter Publikationen (§ 84) auch die Entschärfung der landesverräterischen Fälschung (§ 100a) und die Beseitigung der verräterischen Beziehung (§ 100e)45, die bis dahin den Kontakt zu DDR-Funktionären und Einrichtungen unter Strafe stellte46. In einem Bericht des BT-Sonderausschusses heißt es, das StÄG 1968 verfolge das Ziel 36 37 38 39 40
41 42 43 44 45 46
§ 90a Abs. 1 StGB i.d. damaligen Fassung pönalisierte die Gründung verbotener Vereinigungen. Scheffler, Das Reformzeitalter 1953–1975, S. 176 ff., S. 192 ff. Schroeder, Staat und Verfassung, S. 216 ff. BGBl. 1964 I, 593. Das Urteil des BVerfG erklärte den § 90a in jenen Teilen für verfassungswidrig, die das Gründen und Fördern politischer Parteien betrafen. Daraufhin erfuhr das Vereinsgesetz 1964 eine Umgestaltung. Schroeder, Staat und Verfassung, S. 221. Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 10. BGBl. 1968 I, 741. Vgl. Scheffler, a.a.O., S. 235 ff.; vgl. Paeffgen, NK-StGB, Vor. §§ 80 bis 101a, Rn. 8; vgl. Lampe / Hegmann, MK-StGB, Vor. §§ 93 ff., Rn. 4; vgl. Asholt, Hinweise, S. 151 f. Gustav Heinemann (1899–1976) war Bundespräsident, Innenminister in der Regierung Adenauer und Justizminister in der Großen Koalition. Siehe: Vinke, Gustav Heinemann, S. 7 ff. (59 ff., 93 ff., 129 ff.). Bundestagsdrucksache V/898, 15. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 12 ff.; Scheffler, a.a.O., S. 235 ff.; Paeffgen, NK-StGB, Vor. §§ 80 bis 101a, Rn. 8 f. § 100e StGB lautete: „(1) Wer zu einer Regierung, einer Partei, einer anderen Vereinigung oder einer Einrichtung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Geset-
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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„das zukünftige Strafrecht von Bestimmungen zu entlasten, die begrüßenswerte Kontakte zwischen den Menschen beider Teile Deutschlands oder die geistige Auseinandersetzung mit dem Kommunismus behindern würden.“47
Hintergrund dieser Zielsetzung bilden aber auch die olympischen Sommerspiele in München 1972, deren Austragung ohne die Streichung der verräterischen Beziehungen des damaligen § 100e StGB –, der Kontakte zu den Sportlern der DDR pönalisierte – gefährdet war: Denn die DDR-Athleten waren überwiegend Mitglieder des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR und damit in einer Nachfolgeorganisation der (i.S.d. damaligen §§ 90a, 90b StGB) verbotenen KPD48. Obwohl aber in dem Gesetz ein Gegentrend zum StÄG 1951 gesehen werden kann, brachte es nicht ausschließlich entschärfende Tendenzen, sondern auch die umstrittene Regelbeispieltechnik bei besonders schweren Fällen, die an durch richterliches Ermessen näher zu konkretisierende Umstände schwerere Strafen knüpft und dadurch in Konflikt mit dem Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 101 Abs. 2 GG und § 1 StGB gerät49.
B) Verhältnis zu Freiheitsrechten aus höherrangigem Recht I. Systematik des Staatsschutzstrafrechts50 Die Systematik des heutigen Staatsschutzstrafrechtes ist – trotz einiger Erweiterungen und Ergänzungen der Straftatbestände – noch immer durch das StÄG 1968 geprägt51. Der erste Abschnitt des StGB, der bei der Grundlegung des Staatsschutzstrafrechts der BRD durch das StÄG 1951 Vorschriften zum Hochverrat erfasste, erhielt durch das StÄG 1968 den Titel „Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates“. Der zweite Abschnitt, der durch das StÄG 1951 Tatbestände der Staatsgefährdung erfass-
47 48 49 50 51
zes oder zu einer Person, die für eine solche Regierung, Partei, Vereinigung oder Einrichtung tätig ist, Beziehungen aufnimmt oder unterhält, welche die Mitteilung von Staatsgeheimnissen oder eine der in § 100d Abs. 1 bezeichneten Maßnahmen zum Gegenstand haben, wird mit Gefängnis bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer für eine Regierung, eine Partei, eine andere Vereinigung oder eine Einrichtung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes tätig ist und Beziehungen der in Absatz 1 bezeichneten Art zu einem anderen aufnimmt oder unterhält.“ Bundestagsdrucksache V/2860, 1. Diese Erläuterungen finden sich bereits nahezu wortgleich in der Begründung zum Regierungsentwurf von 1966 wieder. Siehe hierzu: Bundestagsdrucksache V/898, 15. Scheffler, a.a.O., S. 235 f.; vgl. Paeffgen, NK-StGB, Vor. §§ 80 bis 101a, Rn. 9; Asholt, Hinweise, S. 151 f. Maiwald, Zur Problematik der „besonders schweren Fälle“ im Strafrecht, S. 433 ff. Diese Anmerkungen sind hier auf die ersten beiden Abschnitte des Besonderen Teils des StGB beschränkt. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 18.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
te, erhielt durch das StÄG 1968 den Titel „Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit“. Diese Systematik der beiden ersten Abschnitte des Besonderen Teils ist bis heute unverändert erhalten geblieben. Das StGB kennt beim Staatsschutzstrafrecht verschiedene Rechtsgüter: Hierbei handelt es sich um den Schutz des Bestandes der BRD, den Schutz von Verfassungsgrundsätzen und den Schutz der inneren und äußeren Sicherheit der BRD52. Systematisch hat also der Schutz des eigenen Staates Vorrang; nur in besonderen Tatbeständen wird auch der Schutz ausländischer Staaten erfasst53.
II. Grundgesetz Bei dem Schutz dieser Rechtsgüter schränkt das Staatsschutzstrafrecht die Freiheitsrechte Einzelner ein und steht damit in einem Spannungsverhältnis insbesondere zum Grundgesetz, das vor allem mit den Grundrechten die Freiheit des Bürgers gewährleisten soll. Die Grundrechte sind als Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert. Da Staatsschutztatbestände „weitgehend nur die Bestrafung fehlgeschlagener Angriffe ermöglichen können“, also in erster Linie als Vorbereitungs- und Gefährdungshandlungen ausgestaltet sind54, kollidiert das Staatsschutzinteresse mit dem Interesse an Bürgerfreiheit. Die Grundrechte stehen zwar in der Normenhierarchie als Teil der Verfassung über dem (einfachen) Strafrecht. Weil aber Grundrechte durch Gesetze und aufgrund von Gesetzen einschränkbar sind, existiert ein Zwischenraum, in welchem sich die Grundrechte und das einfache (Straf-)Recht antagonistisch gegenüberstehen. Der Bestandsschutz und insbesondere der Ansehensschutz des Staates kollidieren unter anderem mit der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit und das Geheimhaltungsinteresse mit der Informationsfreiheit55. Im Gefüge dieser Interessenkollision ist der Staat als Recht setzende und damit potenziell Grundrechte einschränkende Größe gegenüber seinen Bürgern im Vorteil. Je weitreichender der Schutz des Staates ist, desto stärker ist grundsätzlich die Einschränkung der Freiheitsrechte. Geht der strafrechtliche Staatsschutz zu weit, widerspricht dies der (verfassungsrechtlich verbürgten) Freiheit56. Daher ist beim Schutz des Staates durch die Mittel des Strafrechts Zurückhaltung geboten. Im Zusammenhang mit dem insbesondere für den politischen Meinungskampf relevanten Bereich der Grundrechte (Art. 5 GG) hat sich so bei der Anwendungsgeschichte die sog. Wechselwir52 53 54 55 56
Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 20; Paeffgen, NK-StGB, Vor. §§ 80 bis 101a, Rn. 12; vgl. Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 2, § 82, Rn. 10 ff. Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 2, § 82, Rn. 22. Siehe den dritten Abschnitt „Straftaten gegen ausländische Staaten“. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 22. Siehe: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 22. Siehe: Brähler, Staatlicher Strafanspruch, S. 264 ff.; �opi�, Politisches Strafrecht, S. 4, 20; vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 22.
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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kungslehre57 herausgebildet. Diese im „Lüth-Urteil“58 begründete und spöttisch als „Schaukeltheorie“ bezeichnete Konstruktion knüpft an die Dogmatik der Schrankentrias das Erfordernis, die allgemeinen (und die Meinungsfreiheit einschränkenden) Gesetze i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG im Lichte der Meinungsfreiheit auszulegen59. Dieser auf die Meinungsfreiheit beschränkte Gedanke kann gerade auch im Staatsschutzstrafrecht Geltung für die übrigen Grundrechte beanspruchen: So bilden die Vorschriften des Staats- und Verfassungsschutzstrafrechts allgemein freiheitsbegrenzende Vorschriften und sollen hiernach im Lichte der Freiheit ihrerseits begrenzt bleiben60. Allgemeiner formuliert darf der Staat bei der Verteidigung seiner Existenz und seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht die grundgesetzlich verbürgte freiheitliche Grundausrichtung aus dem Blick verlieren.
III. EMRK Auch die Europäische Menschenrechtskonvention enthält einen Katalog von Rechten, der für das Staatsschutzstrafrecht relevant ist. Die BRD hat die EMRK im Jahre 1953 ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt61. Die EMRK hat in Deutschland zwar den Rang von einfachem Bundesrecht. Unter Beachtung des Grundsatzes der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ wird sie vom BVerfG jedoch bei der Interpretation der vom Grundgesetz gewährten Individualrechte und des Rechtsstaatsgrundsatzes herangezogen62. In der besonderen Ausprägung des politischen Meinungskampfes ist für das Staatsschutzstrafrecht insbesondere die in Art. 10 EMRK gewährte Meinungsäußerungsfreiheit daher zumindest nicht auszublenden.
C) Systematik der Ehrverletzungstatbestände I. Die §§ 185 ff. und die §§ 90a, 90b Das deutsche Strafrecht behandelt allgemeine und besondere Ehrverletzungstatbeständen grundsätzlich voneinander getrennt. Die Vorschriften über die Beleidigung finden (als allgemeine) nicht auf alle sonstigen Vorschriften Anwendung, die beispielsweise einen institutionellen oder sonstigen Ehrschutz konstituieren. Die im 14. Abschnitt „Beleidigung“ aufgeführten Vorschriften 57 58 59 60 61 62
BVerfGE 7, 198 (210 f.); BVerfGE 12, 113 (125); BVerfGE 47, 198 (232); BVerfGE 93, 266 (294). BVerfGE 7, 198 (210 f.) Maunz / Dürig, GG, Art. 5 Abs. 1, 2, Rn. 256 ff. Vgl. BVerfG NJW 2012, 1273 (1274). Siehe schon: BVerfGE 7, 198 (208). Zuletzt: BGBl. 2002 II, S. 1054; Weigend, LK-StGB, Einleitung, Rn. 86 (Fn. 236). Siehe dazu: Weigend, LK-StGB, Einleitung, Rn. 86. So der Fall etwa in: BVerfGE 74, 358 (370); BVerfGE 111, 307 (316 ff.). Hinweis bei: ebd.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
(§§ 185 ff.) bilden also grundsätzlich einen geschlossenen Teil des StGB. Hier finden sich unter anderem die Beleidigung (§ 185), die üble Nachrede (§ 186), die Verleumdung (§ 187), die üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens (§ 188) und die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189). Die §§ 185 ff. stellen nach allgemeiner Auffassung Angriffe auf die Ehre unter Strafe63. Der Ehrbegriff ist wiederum von einer (inter-)personalisierten Eigenschaft gekennzeichnet, denn er erfasst in den unterschiedlichen Auslegungen und inhaltlichen Eingrenzungen des Ehrbegriffs64 grundsätzlich das Individuum (und seine Beziehung zu anderen)65. Die §§ 90a, 90b betreffen hingegen einen öffentlich-kollektiven Rahmen, der das Verhältnis Einzelner zur Umwelt verlässt. Der Schutz des Staates und seiner Symbole vor herabwürdigenden Äußerungen und die verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen weisen zwar eine tathandlungsspezifische Parallele zu den §§ 185 ff. auf, die gelegentlich auch als „kleine Staatsschutzdelikte“ bezeichnet werden66. Die Schutzgüterkonzeption der §§ 90a, 90b rückt diese aber näher an den Staatsschutz und lagert sie so aus dem Abschnitt Beleidigung aus. In gewisser Weise überschneiden sich der kollektiv-öffentliche und der individuelle Rahmen in § 90 – der Beleidigung des Bundespräsidenten –, der Amt und Person des Bundespräsidenten schützen soll67.
II. Der Wahrheitsbeweis von Tatsachenbehauptungen Aus dem 14. Abschnitt ergeben sich einige Grundsätze bei der Behandlung von wahren Tatsachenäußerungen. Gelingt dem Gericht oder dem Angeklagten nämlich der Wahrheitsbeweis, kann keine Verleumdung (§ 187) und ebensowenig eine üble Nachrede (§ 186) vorliegen68. § 192 regelt aber, dass eine wahre Tatsachenäußerung zwar in ihrem faktenbezogenen Inhalt keine strafbare Beleidigung darstellt, eine Strafbarkeit (wegen einfacher Beleidigung nach § 185) sich aber auch aus einer wahren Tatsachenäußerung dann 63
64 65 66 67 68
Einigen Vorschriften werden jedoch auch andere Rechtsgüter zugeordnet. Siehe im Einzelnen: Zazcyk, NK-StGB, Vor. §§ 185 bis 200, Rn. 1 ff.; Regge, MK-StGB, Vor §§ 185–200, Rn. 7; Fischer, StGB, Vor. §§ 185–200, Rn. 1 ff.; Lenckner / Eisele, Sch/Sch-StGB, Vor. §§ 185 ff., Rn. 1. Vgl. Hilgendorf, LK-StGB, Vor § 185, Rn. 1. Andere Rechtsgüterzuordnungen (Persönlichkeitsverletzung, Seelenschmerzzufügung, öffentlicher Friede) bei: Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs, S. 16 ff. Zu den unterschiedlichen Ehrbegriffen siehe eingehender: Tenckhoff, a.a.O., S. 35 ff.; Hirsch, Ehre und Beleidigung, S. 1 ff. Siehe auch: BGHSt, 11, 67 (70 f.). Lenckner / Eisele, Sch/Sch-StGB, Vor. §§ 185 ff., Rn. 1; Regge, MK-StGB, Vor §§ 185–200, Rn. 25; Zazcyk, NK-StGB, Vor. §§ 185 bis 200, Rn. 1. Winter, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in Deutschland, S. 130 mit Hinweis auf: Arzt, Der strafrechtliche Ehrenschutz, S. 727. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90, Rn. 1. Vgl. Winter, a.a.O., S. 111. Bei § 186 ist der Beweis der Wahrheit Strafausschließungsgrund, bei § 187 ist die Unwahrheit Tatbestandsmerkmal. Vgl. Hilgendorf, LK-StGB, § 186, Rn. 12; § 187, Rn. 2.
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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ergeben kann, wenn Form oder Umstände einer ehrenrührigen Äußerung über den ehrrelevanten Erklärungswert der beweisbaren und bewiesenen Tatsachen hinausgehen und eine zusätzliche Missachtung, Nichtachtung oder Geringschätzung enthalten, also „ein Plus an Herabsetzung der Ehre des Betroffenen“ darstellen69. Wie später näher zu erläutern sein wird, war nicht immer klar, ob ein Wahrheitsbeweis bei den §§ 90a, 90b zulässig sein sollte, ob also die beleidigungsspezifischen Grundsätze bei der Behandlung wahrer Tatsachenäußerungen auch bei Vorschriften Anwendung finden, die außerhalb der §§ 185 ff. geregelt sind70.
III. Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 Die Systematik des Abschnitts „Beleidigung“ bietet mit § 193 – der Wahrnehmung berechtigter Interessen – ferner besondere Rechtfertigungsgründe71. Die geschlossene Systematik des Beleidigungsabschnitts hat im Schrifttum zu der überwiegenden Auffassung geführt, dass § 193 grundsätzlich nur auf die Ehrverletzungsdelikte der §§ 185 ff. Anwendung findet. Von dieser Auffassung wird allerdings bei der Beleidigung des Bundespräsidenten eine Ausnahme gemacht72. Vereinzelt wird aber auch gefordert, § 193 im Wege der täterfreundlichen Analogie auch auf die §§ 90a, 90b anzuwenden73. Darauf wird noch einzugehen sein. Die weitgehend unterschiedliche Behandlung des § 193 mag sich dadurch erklären, dass die personalisierte Eigenschaft der Rechtsgüterkonzeption der §§ 185 ff. sich (teilweise) mit § 90 – der den Schutz eines von einem einzelnen Amtswalter zu bekleidenden Amtes und damit einer Einzelperson – deckt, aber keine vollumfängliche Entsprechung in dem Organ-, Institutionen- und Symbolschutz der §§ 90a, 90b findet.
D) Der Schutz des Staates und seiner Symbole nach § 90a I. Gesetzgebungsentwicklung 1. Erstfassung des § 96 In der Begründung zum Regierungsentwurf von 1950 – der mit Änderungen als (1.) StÄG 1951 in Kraft treten sollte – wird auf die Notwendigkeit hinge69 70 71
72 73
Hilgendorf, LK-StGB, § 192, Rn. 1. Siehe unten: Achtes Kapitel, D) II. 2 c). und E) II. 2. b). Siehe: RGSt 59, 414 (415); RGSt 65, 333 (335); BGHSt 12, 287 (293); BGHSt 18, 182 (184); Fischer, StGB, § 193, Rn. 1; Lenckner / Eisele, Sch/Sch-StGB, § 193, Rn. 1; vgl. Hilgendorf, LK-StGB, § 193, Rn. 1; Rudolphi / Rogall, SK-StGB, § 193, Rn. 1; Zazcyk, NK-StGB, § 193, Rn. 1. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90, Rn. 20; Fischer, StGB, § 90, Rn. 6; Paeffgen, NK-StGB, § 90, Rn. 15; Steinmetz, MK-StGB, § 90, Rn. 29. Roggemann, Von Bären, Löwen und Adlern, S. 941.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
wiesen, „die Gesetzeslücken, die im Jahre 1945 durch die Kontrollratsgesetzgebung [...] in das Strafgesetzbuch gerissen wurden“74 wieder zu schließen. Dabei ging man von folgender Ausgangslage aus: „Die demokratische Grundordnung ist noch nicht als Selbstverständlichkeit in die Vorstellungswelt aller deutschen Staatsbürger eingegangen. Sie ist noch Angriffen aus dem Lager der unbelehrbaren verbrecherischen Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie ausgesetzt. Bei der angespannten politischen und wirtschaftlichen Situation Europas und bei der Übervölkerung Deutschlands muß mit Gruppen neuer verblendeter Gegner gerechnet werden. Der freiheitlichen demokratischen Grundordnung können auch aus den Reihen der demokratischen Parteien Gefahren erwachsen, wenn politische Leidenschaften den Blick trüben und zu Intoleranz 75 führen.“
Diese Gefahren für die freiheitlich demokratische Grundordnung sollten die Einführung „spezialisierter Staatsschutzbestimmungen, wie sie hauptsächlich in den §§ 99 und 100 des Entwurfs gegen die Verächtlichmachung von Staatsorganen und gegen die Staatsverleumdung vorgesehen sind“76 erforderlich machen. Auf Grundlage des E 1950 wurde § 90a ursprünglich durch das (1.) StÄG 1951 als § 96 in das StGB eingefügt. Diese Vorschrift fand im zweiten Abschnitt des Besonderen Teils mit dem Titel „Staatsgefährdung“ Platz und lautete in der Erstfassung: „Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften, Schallaufnahmen, Abbildungen oder Darstellungen 1. die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht, 2. ihre Farben, ihre Flagge, ihr Wappen oder ihr Hymne verunglimpft oder dazu auffordert, wird mit Gefängnis bestraft. Ebenso wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ein von einer Behörde öffentlich angebrachtes Zeichen der Hoheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder entfernt, zerstört, beschädigt oder unkenntlich macht oder wer beschimpfenden Unfug daran verübt. Der Versuch ist strafbar. Hat der Täter eine der in Absatz 1 und 2 genannten Taten in der Absicht begangen, Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen einen der in § 88 bezeichneten Verfassungsgrundsätze zu fördern, so ist die Strafe 77 Gefängnis nicht unter drei Monaten.“ 74 75 76
77
Bundestagsdrucksache I/1307, 28. Ebd. Ebd. In der Begründung zum § 99 des Regierungsentwurfes von 1950 wird auf frühere Vorbilder verwiesen: „Die Vorschrift knüpft trotz vieler Abweichungen in gewisser Beziehung an § 94 Abs. 2 und § 134a StGB i.F. der Verordnung vom 19. Dezember 1932 [...] an.“; Bundestagsdrucksache I/1307, 37. Zur Verordnung siehe oben im siebten Kapitel zu den Vorläufern. BGBl. 1951 I, 739 (742).
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2. StÄG 1968 Durch das (8.) StÄG 1968 wurde § 96 in § 90a umbeziffert. Es brachte neben einigen redaktionellen Änderungen eine entschärfende Tendenz. Im Abs. 1 wurde die Formulierung „Schallaufnahmen“ durch „Tonträger“ ersetzt, Abs. 1 Nr. 1 durch eine bestimmtere Formulierung redaktionell verändert und die Tathandlungsvariante der Aufforderung zu Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 gestrichen. Im Regierungsentwurf wird erklärt, dass nach dem Wegfall dieser besonderen Strafbarkeit grundsätzlich § 111 Anwendung finden sollte: „Ist in der Aufforderung eine selbständige Verunglimpfung nicht enthalten, greift 78 in aller Regel die Vorschrift des § 111 StGB über die Aufforderung zu Straftaten ein. Daß dies in verhältnismäßig seltenen Fällen nicht zutrifft, kann in Kauf genommen werden.“79
Auch Abs. 2 wurde redaktionell verändert. So trat an die Stelle der Zeichen der Hoheit die knappere Formulierung „Hoheitszeichen“. Auf Rechtsfolgenseite wurde der Strafrahmen des Abs. 1 und Abs. 2 von ehemals Gefängnis – also nach dem damaligen § 16 Abs. 1 bis zu fünf Jahren – in Gefängnis bis zu drei Jahren herabgesetzt. Während § 96 Abs. 3 ferner noch eine Strafschärfung von Gefängnis nicht unter drei Monaten vorsah, erweitert § 90a Abs. 3 den Strafrahmen lediglich auf den von § 16 Abs. 1 vorgesehenen Rahmen von einem Tag bis fünf Jahre. Auch der Qualifikationstatbestand aus Abs. 380 wurde verändert. Die Förderung von Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen einen der in § 88 bezeichneten Verfassungsgrundsätze wurde bei § 90a Abs. 3 durch das Einsetzen für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze ersetzt81. Daneben änderte das (8.) StÄG 1968 auch den Standort des § 90a, 78
79
80 81
§ 111 i.d. damaligen Fassung lautete: „(1) Wer auf die vorbezeichnete [siehe unten] Weise zur Begehung einer strafbaren Handlung auffordert, ist gleich dem Anstifter zu bestrafen, wenn die Aufforderung die strafbare Handlung oder einen strafbaren Versuch derselben zur Folge gehabt hat. (2) Dasselbe gilt, wenn die Aufforderung ohne Erfolg geblieben ist. Die Strafe kann nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuches gemildert werden.“ § 110 i.d. damaligen Fassung lautete: „Wer öffentlich vor einer Menschenmenge oder wer durch Verbreitung oder öffentlichen Anschlag oder öffentliche Ausstellung von Schriften oder anderen Darstellungen zum Ungehorsam gegen Gesetze oder rechtsgültige Verordnungen oder gegen die von der Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen auffordert, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.“ Bundestagsdrucksache V/898, 26. Ferner wird auf den E 1962 verwiesen, in dessen § 378 sich diese Streichung schon wiederfindet. In der dortigen Begründung heißt es ebenfalls, dass § 292 E 1962 eine Aufforderung entbehrlich macht. Siehe: Bundestagsdrucksache IV/650, 74, 569. Siehe unten: VI. Im Regierungsentwurf wird statt des Einsetzens noch verlangt, dass sich der Täter in den Dienst der staatsgefährdenden Bestrebungen stellt. Der Entwurf nimmt dabei Bezug auf den E 1962. Dort wurde diese Formulierung im Zusammenhang mit dem Tat-
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der nun in den ersten Abschnitt verlagert wurde und unter dem dritten Titel „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates“ Platz fand.
3. Änderungen durch (1.) StRG 1969, (4.) StRG 1973 und EGStGB Durch das (1.) Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juli 196982, das unter anderem durch die Abschaffung der Zuchthausstrafe die Differenzierung zwischen Gefängnis- und Zuchthausstrafe beendete und dadurch die einheitliche Bezeichnung Freiheitsstrafe einführte83, änderte auch die Rechtsfolgenbezeichnung des § 90a für die Absätze 1 und 2 in Freiheitsstrafe bis zu drei Jahre. § 90a Abs. 3 –, der nicht länger auf den die Gefängnisstrafe näher konkretisierenden § 16 Abs. 1 verweisen konnte – wurde in Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren umgefasst84. Durch das (4.) Strafrechtsreformgesetz vom 23. November 197385 wurde die Verbreitungsvariante der Tonträger des § 90a Abs. 1 um Bildträger erweitert86. Durch das EGStGB vom 2. März 197487 erhielt § 90a eine eigene Überschrift mit dem Titel „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“88. Ferner wurde durch das EGStGB die Erweiterung um die Bildträger wieder dadurch gestrichen, dass § 90a Abs. 1 nunmehr auf den durch das (2.) Strafrechtsreformgesetz vom 4. Juli 196989 eingeführten ausgelagerten Schriftenbegriff des § 11 Abs. 3 verweisen sollte90, der seinerseits in der Fassung vom 2. März 1974 den Schriften die Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen gleichstellte und in der Fassung vom 22. Juli 199791 um die Datenspeicher92 erweitert wurde. Hiernach wurde § 90a nicht weiter verändert.
82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92
bestandsmerkmal „Dienen“ gebracht. Bundestagsdrucksache V/898, 20 m. Hinw. auf: Bundestagsdrucksache IV/650, 550. Aus den Protokollen des BT-SondA zur großen Strafrechtskommission lässt sich entnehmen, dass sowohl die Tathandlung der Förderung als auch diejenige des Dienens als zu weit empfunden wurden und daher durch einen das Sich-in-den-Dienst-stellen einerseits und das Verfolgen andererseits ersetzt werden sollte. Da beide Elemente zueinander aber nicht zufriedenstellend abgegrenzt werden konnten, setzte sich das Einsetzen durch. BT-SondA, BT V, S. 964 ff., 973 ff. BGBl. I, 645. Siehe: Utsch, Hinweise, S. 152; Scheffler, Das Reformzeitalter 1953–1975, S. 214 ff. Siehe Art. 3, 4, 5 Abs. 4 (1.) StRG 1969, BGBl. I, 645 (657). BGBl. I, 1725. Art. 1 Nr. 4 (4.) StRG 1973, BGBl. I, 1725. BGBl. I, 469. Art. 207 EGStGB; BGBl. I, 469 (500). BGBl. I, 717. Art. 19 Nr. 11 EGStGB; BGBl. I, 469 (479). Geändert durch das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz (IuKDG); BGBl. I, 1870. Siehe Art. 4 Nr. 1 IuKDG; BGBl. I, 1870 (1876).
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II. Tatbestandsmäßigkeit nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 1. Schutzobjekte: BRD, Bundesländer und verfassungsmäßige Ordnung § 90a Abs. 1 Nr. 1 führt über den gesamten Geltungszeitraum hinweg die Schutzobjekte Bundesrepublik Deutschland, eines ihrer Länder und ihre verfassungsmäßige Ordnung. Während die Systematik der Vorschriften des dritten Titels „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates“ dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Zweiteilung zwischen dem (Bestands-)Schutz des Staates und dem der Verfassung angestrebt wird, findet sich in der Schutzobjektskonzeption des § 90a Abs. 1 Nr. 1 eine Vereinigung dieser beiden Elemente93. Denn Nr. 1 führt neben der BRD und den Ländern ausdrücklich die verfassungsmäßige Ordnung auf. Wie zu zeigen sein wird, hat dieser Umstand in Lehre und Rechtsprechung zu Meinungsverschiedenheiten geführt.
a) Bundesrepublik Deutschland und Bundesländer Schon die nähere Konkretisierung des Schutzobjekts der Bundesrepublik Deutschland hat aus verschiedener Sicht Schwierigkeiten verursacht, da neben allgemeinen Auslegungen der Staat, nach näheren Konkretisierungen aber auch die Staatsform subsumierbar erscheinen. „Das Angriffsobjekt ‘Bundesrepublik Deutschland’ ist mehrdeutig. Es kann sich um das geographische oder das politische Gebilde handeln, das z.Z. die Bezeichnung ‘Bundesrepublik Deutschland’ trägt. Es kann sich aber auch um das politische System handeln, das mit dem Grundgesetz und auf seinem Boden errichtet 94 wurde.“
Bei der Auslegung galt es insgesamt aber zu berücksichtigen, dass in § 90a Abs. 1 Nr. 1 neben der BRD und den Ländern auch die verfassungsmäßige Ordnung Schutz finden sollte, so dass auch eine abgrenzende Auslegung zu diesem Schutzobjekt erforderlich erscheint. Ein Teil der Lehre sieht die BRD und ihre Länder als Staat(en) geschützt95. Sie bilden die „Gesamtheit einer staatlichen Ordnung“96, und zwar – wie Schroeder schreibt97 – im Sinne eines „Sozialwesens“ oder wie Paeffgen es ausdrückt, als „rechtlich verfasster Sozialverband“98. Die Rechtsprechung des BGH und ein Teil der Lehre bilden dazu einen restriktiven Gegenansatz, der jedoch zu Lasten einer Abgrenzung zum 93 94 95 96 97 98
Vgl. Schroeder, Staat und Verfassung, S. 349. Vgl. Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 90. Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 4; vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 3; vgl. Rudolphi, SK-StGB, § 90a, Rn. 3. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 3; vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 45 f. Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 91. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 17.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
Schutzobjekt der verfassungsmäßigen Ordnung geht99. Nach einer vielzitierten Entscheidung des BGH schützt die Vorschrift nicht die BRD und ihre Länder als Staaten schlechthin; „Sinn der Vorschrift“ sei es, „die Bundesrepublik und ihre Länder in ihrer besonderen Wesenheit und Gestalt als auf eine freiheitlich-demokratische gegründete Staatswesen [...] zu schützen.“100
In der fraglichen Entscheidung war die Aussage „Das ist Deutschland, dieser Miststaat, für diesen Staat zahlt man noch Steuern. Man hätte lieber die Beamten vergasen sollen statt der Juden.“ zu beurteilen. Das Gericht lehnte die Tatbestandsmäßigkeit ab, weil der Täter mit der Aussage die „umständliche und schwerfällig Bürokratie“, also „die staatliche Verwaltung“101 habe treffen wollen, die für sich keinen Angriff auf die BRD darstellen könne. Obwohl eine derart restriktive Auslegung der „BRD oder eines ihrer Länder“ auch Zustimmung gefunden hat102, wurde die Entscheidung des BGH im Hinblick auf den Wortlaut des § 90a Abs. 1 Nr. 1 stark kritisiert: Ein Hauptkritikpunkt bildet die Auffassung, dass die Reduzierung auf die freiheitlich repräsentative Demokratie eine Abgrenzung zur verfassungsmäßigen Ordnung erschwert103. Weitgehende Einigkeit herrscht sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung hingegen darüber, dass mit der BRD und den Ländern nicht der Staatsapparat, einzelne Staatsorgane oder gar einzelne Beamte Schutz finden können104. So führte der BGH im Jahre 1957 aus, dass es „dem Wesen einer freiheitlich-demokratischen Ordnung“ entspricht, den Staat im Gegensatz etwa zum Nationalsozialismus und „der völligen ‘Einheit von Partei und Staat’, von ‘Führer und Reich’“ über die Staatsorgane zu stellen105. Doch sollen mittelbare Angriffe nicht ausgeschlossen sein: Vielmehr könne auch, „wenn mit einer beschimpfenden Äußerung, die sich rein äußerlich gegen ein Staatsorgan richtet, in Wirklichkeit nur oder zugleich [der] Staat“ betroffen sein106. Dies sei jedoch 99 100 101 102 103
104 105 106
Sonnen hingegen lobt (mit Abschlägen) die Auslegung des BGH, da „sie der [...] Notwendigkeit einer restriktiven Interpretation Rechnung“ trage, AK-StGB, § 90a, Rn. 46. BGHSt 6, 324 (325) (hiernach auch die folgenden Ausführungen). Die Entscheidung erging 1954 noch zum damaligen § 96. BGHSt 6, 324 (326). Fischer, StGB, § 90a, Rn. 2; Lackner / Kühl, StGB, § 90a, Rn. 2. Mit Bedenken: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 46. So deutlich: Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 90; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 3; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 17; Steinmetz, MKStGB, § 90a, Rn. 4. Siehe dazu auch: Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 2, § 84, Rn. 72. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 2; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 3; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 17; Maurach / Schroeder / Maiwald, a.a.O., Rn. 72. BGHSt 6, 324 (326); BGHSt 11, 11 (13); BGH NStZ 2000, 643 (644). BGHSt 11, 11 (13). BGHSt 11, 11 (14).
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„Tatfrage“ und am Einzelfall zu würdigen107 und es gehe nicht an, „die Verunglimpfung eines Organs [...] stets oder auch nur im Regelfalle zugleich als Beschimpfung oder Verächtlichmachung des Staates zu bewerten“108.
b) Verfassungsmäßige Ordnung Das dritte Schutzobjekt des § 90a Abs. 1 Nr. 1 ist die verfassungsmäßige Ordnung. Hierunter ist die Rechtsordnung als Ganzes zu verstehen, die auf der Verfassung beruht und von dieser geprägt ist109. Nicht erfasst sind daher einzelne Verfassungsrechtssätze oder -grundsätze110. Abzugrenzen ist aber zwischen den auf der Verfassung beruhenden Prinzipien und Grundsätzen und der Verfassungswirklichkeit111. „[Es ist] der Schutz der Prinzipien und Grundsätze des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes bezweckt, nicht dagegen in erster Linie die konkrete Ausprägung [...]. Von daher versteht es sich von selbst, dass eine Beschimpfung tatsächlich vorhandener verfassungswidriger Zustände vom Tatbe112 stand nicht erfasst wird“ .
Während Schroeder betont, dass bei unwahren Vorwürfen verfassungswidriger Zustände in aller Regel der Staat getroffen werden soll113 und daher wohl regelmäßig von einer tatbestandsmäßigen Handlung ausgeht, behandelte die höchstrichterliche Rechtsprechung das Kriterium der Wahrheit lange auf andere Weise: Mit einer Entscheidung aus dem Jahre 1961 nämlich erklärte der BGH, dass es nicht darauf ankomme, ob eine Äußerung wahr oder unwahr sei, sondern lediglich, ob ihr eine Maßlosigkeit innewohnt oder nicht: „Die dem Angekl. zur Last gelegten Sätze kann ein unbefangener Durchschnittsleser in diesem Zusammenhang nur dahin verstehen, daß im heutigen Deutschland im Gegensatz zum nationalsozialistischen Staat nur Negatives vorhanden sei: So würden in der Bundesrepublik Verräter wider alles Recht belohnt, eidgetreue Offiziere aber zu Unrecht bestraft; die Repräsentanten des heutigen Staates erwiesen irregulären Gegnern (Partisanen) wider jede nationale Würde Ehrungen, die sie entgegen gebotener Pflicht und Dankesschuld den eigenen Soldaten verweigerten. In Äußerungen dieser Art liegt inhaltlich der Vorwurf eines schimpflichen Verhaltens und Zustandes. Sie sind wegen ihrer Maßlosigkeit besonders ver107 BGHSt 11, 11 (12). Vgl. Laufhütte / Kuschel, bei denen diese Aussage des Gerichts als Gebot zur „Zurückhaltung“ bezeichnet wird. LK-StGB, § 90a, Rn. 3. 108 BGHSt 11, 11 (13). 109 Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 91; ders., Staat und Verfassung, S. 427 ff.; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 4; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 18; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 5. Vgl. BVerfGE 6, 32 (37 ff.). 110 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 4; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 18. 111 Schroeder, a.a.O., S. 91; Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 47. 112 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 4. Siehe ferner: Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 5; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 18. 113 Schroeder, a.a.O., S. 91. Zustimmend: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 47.
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Dritter Teil: Deutsches Recht letzend und damit eine Beschimpfung [...]. Entgegen der Auffassung der Rev. kommt es weder auf eine Formalbeleidigung noch auf eine Unwahrhaftigkeit der Äußerung an“114.
Diese Vorgehensweise der Rechtsprechung fand in der Lehre einige Kritik115. Vor allem Krutzki, der das „Scheitern einer verfassungskonformen Auslegung“116 konstatiert, schreibt, „daß die Justiz mit § 90a StGB vornehmlich den ‘Wertungsexzess’ des Täters sanktioniert, so daß die von Schröder [sic!] vorgeschlagene restriktive Auslegung leerläuft.“117 Inwiefern eine verfassungskonforme Auslegung überhaupt in der Lage sein kann, einen im Hinblick auf unsere Verfassung problematischen Straftatbestand zu entschärfen, ist fraglich. Diese Frage verdient daher später noch einige Aufmerksamkeit118. Mittlerweile hat aber auch der BGH den Versuch einer „Korrektur“ der oben genannten Entscheidung unternommen. Hiernach ist ein Wahrheitsbeweis bei einer Tatsachenbehauptung nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Das Gericht argumentiert, bezugnehmend auf die Entscheidung von 1961, folgendermaßen: „Der Entscheidung [...] [kann] auch nicht entnommen werden, dass [sie] den Wahrheitsbeweis bei Tatsachenbehauptungen im Rahmen des § 90a Nr. 1 StGB nicht zulässt. Denn der [...] Satz aus jener Entscheidung ‘Entgegen der Auffassung der Revision kommt es weder auf eine Formalbeleidigung noch auf eine Unwahrhaftigkeit der Äußerung an [...]’ bezieht sich nicht auf eine konkrete, mit Mitteln des Beweisrechts überprüfbare Tatsachenbehauptung, sondern auf wertende Aussagen, die den Vorwurf eines schimpflichen Verhaltens und Zustandes enthalten und die in ihrer Verallgemeinerung dem Wahrheitsbeweis gar nicht zugänglich sind.“119
2. Tathandlung: Beschimpfung oder böswillige Verächtlichmachung Tathandlung des § 90a Abs. 1 Nr. 1 ist die Beschimpfung oder die böswillige Verächtlichmachung. Lehre und Rechtsprechung haben beide Tathandlungsvarianten im Hinblick auf ihre Schwere als gleichstehend gewertet: Zwar sei die Verächtlichmachung weiter als die Beschimpfung, also von der Tatschwere her betrachtet schwächer, jedoch stelle sich die Verächtlichmachung durch die zusätzlich erforderliche Böswilligkeit mit der Beschimpfung gleich120.
114 115 116 117 118 119 120
BGH NJW 1961, 1932 (1933). Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 9 m.w.N. Krutzki, „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“, S. 303 f. Ebd. Neuntes Kapitel: Würdigung. BGHSt NStZ 2000, 643 (644). Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 8; Rn. 14. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 64. BGHSt 7, 110 (111).
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a) Beschimpfung Die Tathandlungsvariante der Beschimpfung erfordert eine durch Form oder Inhalt besonders verletzende Äußerung der Missachtung121. Das besonders Verletzende der Äußerung der Missachtung ist entweder in der äußerlichen Rohheit des Ausdrucks oder inhaltlich in dem Vorwurf eines schimpflichen Verhaltens oder Zustandes zu sehen122. Dabei kann das Beschimpfen in einzelnen Formulierungen, aber auch im Gesamtzusammenhang liegen, wobei harte politische Kritik, sei sie auch offenkundig unberechtigt, unsachlich oder uneinsichtig, noch kein Beschimpfen darstellt123. Den Beurteilungsmaßstab bildet hierbei der objektive Sinngehalt, also die Frage, wie ein unbefangener Dritter die Tathandlung verstehen musste124. Generell gilt, dass bei der Subsumtion von Äußerungen unter den gesetzlichen Tatbestand der Beschimpfung Zurückhaltung geboten ist125. Dies wurde ausdrücklich für Äußerungen gefordert, die aus Unmut, Gedankenlosigkeit oder Oberflächlichkeit getätigt wurden126. Aber auch in Fällen harscher Kritik soll eine Tatbestandsmäßigkeit nicht ohne Weiteres angenommen werden dürfen. „Selbst polemische Äußerungen, drastische, auch unsachliche Formulierungen der gar offenkundig unberechtigte Kritik begründen für sich genommen jedenfalls noch keine Tatbestandsmäßigkeit. Erst, wenn die Kritik objektiv massiv übersteigert, ohne nachvollziehbaren Tatsachenkern oder ohne sachlichen Inhalt ist, und sie subjektiv nicht bezweckt, die angeprangerten, angeblich bestehenden Missstände zu beheben, sondern es primär oder gar ausschließlich auf das Beschimpfen ankommt, ist die Grenze des Tatbestandes überschritten.“127
aa) Rechtsprechung Dieser Ansatz wird von der Rechtsprechung des BGH geteilt. 1964 heißt es: „Für sich allein erfüllt politische Kritik niemals einen Straftatbestand, mag sie auch hart und scharf und, wie dies bei politischer Polemik leicht unterläuft, offenkundig unberechtigt sein [...]. Insbesondere ist es nicht entscheidend, ob ‘unsachliche und uneinsichtige Kritik geübt worden ist’. In diesem Sinne hat der Senat [...] ausge-
121 Fischer, StGB, § 90a, Rn. 4; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 12; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 8; Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 92; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 2, § 84, Rn. 74. Vgl. Steinmetz, MKStGB, § 90a, Rn. 11. Kühl, Lack/Kü-StGB, § 90a, Rn. 6; Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 55. 122 BGHSt 7, 110. BGHSt NStZ 2000, 643 (644). 123 BGHSt NStZ 2000, 643 (644). 124 BGHSt 7, 110 (111); BGH NJW 1961, 1932 (1933). 125 Vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 8. Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 55 ff. 126 BGHSt 7, 110 (110 f.). 127 Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 8 m.w.N. Vgl. auch: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 55.
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Dritter Teil: Deutsches Recht sprochen, daß gerade auch die Vorschriften über den Ehrenschutz des Staates [...] 128 im Geiste des freiheitlich-demokratischen Grundgesetzes auszulegen sind.“
„Die Grenze der Strafbarkeit wird aber überschritten, wenn die Kritik beleidigt, beschimpft, verächtlich macht oder verunglimpft; Angriffe in solcher Form sind durch das Recht zur Kritik nicht gedeckt“129. Für das BayObLG kam dies bei der Behauptung in Betracht, der deutsche Staat habe 19 Mitglieder der RAF ermordet und versuche seit Jahren diese als Selbstmorde darzustellen130. Die Aussage „Ein Staat, in dem Länderminister solche Maßnahmen ungestraft durchführen dürfen, hat aufgehört, ein Rechtsstaat zu sein, sondern ist ein Unrechtsstaat“ war für den BGH tatbestandsmäßig131. Andere Beispiele bildet u.a. die Behauptung, in der BRD herrschten Lüge, Rechtlosigkeit und Terror sowie Verbrecher und Vaterlandsverräter132 und die Behauptung die Wahlen in der BRD seien „Betrugsmanöver“, „sie dienen der Unterdrückung der Arbeiterklasse und des Volkes“133. bb) Rechtsprechung des RG Im Schrifttum wird bei der Auslegung der Beschimpfung auch die Rechtsprechung des RG herangezogen; sie bezieht sich auf die Beschimpfung der verfassungsmäßig festgestellten republikanischen Staatsform nach den Republikschutzgesetzen. So zeigen Laufhütte / Kuschel anhand von Entscheidungen des RG, dass der bloße Gebrauch von Schimpfwörtern genügen konnte, der verwendete Begriff aber eine gewisse Qualität aufweisen musste134. So wurde die Bezeichnung der damaligen „sozialistischen Minister“ als „Spitzbuben“ nicht als Beschimpfung gewertet135. Die Behauptung die Regierungsmitglieder seien „Massenmörder“ und die Regierung trete die Ehre des deutschen Volkes mit Füßen, wurde vom RG hingegen als tatbestandsmäßig gewertet136.
b) Böswilliges Verächtlichmachen Das Verächtlichmachen umfasst jede auch wertende Äußerung, durch die die Schutzobjekte des § 90a Abs. 1 Nr. 1 als der Achtung unwert und unwürdig
128 129 130 131 132 133 134 135 136
BGHSt 19, 311 (317). BGHSt 19, 311 (317 f.). BayObLG NStZ-RR 1996, 135. BGHSt 7, 110. Die Entscheidung erging noch zum § 96 a.F. BGH MDR 1979, 705 (707) mit Anm. Schmidt. VGH Mannheim NJW 1976, 2177. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 13 m.w.N. RGSt 57, 185. RGSt 57, 209 (211).
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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hingestellt werden137. Wie bereits erwähnt wurde, ist die Verächtlichmachung im Vergleich zur Beschimpfung erheblich weiter. Weil aber neben die eigentliche Tathandlung das (subjektive) Erfordernis der böswilligen Begehung tritt, hat der BGH im Jahre 1955 ausgeführt, dass eine Gleichwertigkeit zwischen beiden Tathandlungsvarianten besteht138. Ein Verächtlichmachen nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 a.F. wurde vom BGH für den Vergleich der BRD mit einer „frisch gestrichenen Coca-Cola-Bude“ angenommen139. In einem anderen Fall wurde die Bundesrepublik als „Bimbes-Republik“ und als „käuflicher Saustall“ bezeichnet140. Die nähere Konkretisierung der Böswilligkeit hat dabei zu einiger Schwierigkeit geführt. Das Merkmal stammt aus dem Gesetz, betreffend die Bestrafung der Majestätsbeleidigung vom 17. Februar 1908141 und wurde später im Republikschutzgesetz übernommen. Das RG verstand unter der Böswilligkeit die Bekundung der feindseligen Gesinnung des Täters142. Diese Auslegung wurde in den Folgejahren und der darauf folgenden gesetzgeberischen Entwicklung bis hin zum § 90a Abs. 1 Nr. 1 beibehalten. Nach ständiger Rechtsprechung ist böswillig ein Handeln aus niederträchtiger, feindseliger Gesinnung143. Diese Auslegung hat in der Lehre zu einiger Kritik geführt. Schroeder kritisiert sie im Hinblick auf ihre (Un-)Beweisbarkeit: „Es ist in Rechnung zu stellen, daß sich bei der Verächtlichmachung des Staates der Einwand des Täters, er habe letztlich zu einer Verbesserung der Zustände im Staat beitragen wollen, niemals wiederlegen läßt. Die erwähnte Auslegung würde daher diese Tatbestandsalternative zu einem mehr oder weniger schönen Dekorationsstück im Strafgesetzbuch degradieren.“144
Er möchte für die Böswilligkeit daher schon genügen lassen, „daß der Täter hartnäckig Erkenntnisquellen, die seine Behauptung widerlegen, oder Mög137 Vgl. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 5; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 14; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 14; Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 92; Maurach / Schroeder / Maiwald, a.a.O., Rn. 74. Vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 12. Kühl, Lack/Kü-StGB, § 90a, Rn. 6. BGHSt 3, 346 (348); BGHSt 7, 110 (111). 138 BGHSt 7, 110 (111): „Die Angleichung der beiden Begehungsformen im Grade des Unrechtsgehaltes ist dadurch herbeigeführt, daß das Gesetz für den Fall des Verächtlichmachens die Feststellung böswilligen Handelns [...] fordert.“ 139 BGHSt 3, 346 (347). Kritisch: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 65. 140 BGH NStZ 2003, 145. Hinw. bei: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 17 (vgl. auch dortige Ausführungen). 141 RGBl. 1908, 25. Siehe: Schroeder, a.a.O., S. 92. 142 RGSt 48, 174 (176): „Nicht jedes absichtliche Handeln wird als ein ‘böswilliges’ bezeichnet. Dazu gehört vielmehr, daß der Täter etwas von ihm als Unrecht Erkanntes gerade zu dem Zwecke tut, um einem anderen zu schaden oder ihn zu kränken, und damit seine feindselige Gesinnung gegen den Verletzten bekundet.“ 143 RGSt 48, 174 (176); RGSt 72, 118 (118 f.); Wagner, BGH GA 1961, 19 (Nr. 11 zu § 96); BGH NStZ 2003, 145. 144 Schroeder, a.a.O., S. 92.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
lichkeiten zu einer weniger anstößigen Formulierung ausschlägt.“145 Dies erscheint zweifelhaft, wenn der Grund für diese Auslegung allein in der zu geringen Beweisbarkeit liegt. Denn wenn der Gesetzgeber – wie schon das RG ausführt146 – ein weiter als die Absicht gehendes subjektives Merkmal aufstellen wollte, kann sich der Ansatz für eine weitere Auslegung nicht auf die Kritik stützen, dass ein solches Merkmal nur selten bewiesen werden kann. Dies stünde in einem offensichtlichen Missverhältnis zum Gesetzeswortlaut und zu den übrigen Lehransichten, die schließlich die Rechtsprechung des BGH übernommen haben, weil nach dieser die hohen Anforderungen der Böswilligkeit gerade als Einschränkung der unerwünschten Weite der einfachen Verächtlichmachung dienen sollten147. Paeffgen möchte dem Ansatz Schroeders daher nicht im Hinblick auf die „Absenkung der Beweisanforderungen“ zustimmen148. Laufhütte / Kuschel verfolgen einen anderen Ansatz: Sie stellen darauf ab, ob der Täter sich der Rechtswidrigkeit seiner Handlung und ihrer verderblichen Handlung freue149 – eine Umschreibung, die in dieser Form schon in den Beratungen zum Gesetz betreffend der Bestrafung der Majestätsbeleidigung vom 17. Februar 1908 auftaucht150 und später in der Reichstagskommission einige Zustimmung fand. Während Steinmetz die staatsfeindliche Gesinnung des Täters als wesentliches Indiz für die Böswilligkeit des Täters zulassen will151, wird dies bei Paeffgen abgelehnt: „Die richterliche Zuschreibung niedriger Gesinnung verlangt zumindest, sich argumentativ an äußerlich nachprüfbaren (obj.) Momenten festmachen zu können. Deshalb genügt die allg. staatsfeindliche Gesinnung des Täters eben nicht als wesentliches Indiz für die Böswilligkeit des Handelns.“152
c) Wahrheitsbeweis Nachdem auch die Rechtsprechung des BGH eine „korrigierende Deutung“ seiner Entscheidung von 1961 vorgenommen hat153, herrscht auch wegen der vorherigen weit verbreiteten Kritik in der Lehre mittlerweile ein deutliches Meinungsgewicht zugunsten einer Zulässigkeit des Wahrheitsbeweises bei
Ebd. Siehe auch: Maurach / Schroeder / Maiwald, a.a.O., Rn. 74. RGSt 48, 174 (175). Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 66. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 14. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 15. Sten. Ber. 1907, Bd. 229, 1735, 1737; Sten. Ber. 1908, Bd. 230, 2603. Vgl. dazu die Anmerkungen aus RGSt 48, 174 (175). Hinweis bei: Schroeder, a.a.O., S. 92. 151 Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 13; siehe auch Wagner, BGH GA 1961, 18 (Nr. 4 zu § 96); Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 10. 152 Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 14. 153 BGH NJW 1961, 1932 (1933); nun: BGH NStZ 2000, 643 (644).
145 146 147 148 149 150
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Tatsachenbehauptungen154. Das bedeutet, dass entsprechend § 186 der Wahrheitsbeweis geführt werden kann; gelingt dies, kann sich ein tatbestandsmäßiges Handeln allenfalls noch aus der Form der Äußerung ergeben155.
III. Tatbestandsmäßigkeit nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 1. Schutzobjekte: Farben, Flagge, Wappen und Hymne der BRD oder Bundesländer Einen weiteren Tatbestand bildet § 90a Abs. 1 Nr. 2, der die Farben, die Flagge, das Wappen und die Hymne der BRD oder der Bundesländer vor Verunglimpfungen schützen soll. Alle Schutzobjekte sind durch das (1.) StÄG 1951 in den damaligen § 96 eingefügt worden und § 90a bis heute erhalten geblieben. Für die Auslegung und Konkretisierung der in Nr. 2 aufgeführten Staatssymbole hat man in Lehre und Rechtsprechung nach Bestimmungen gesucht, die die Existenz entsprechender Schutzobjekte und ihre genauere Gestalt darzulegen in der Lage waren. Dies hat – wie zu zeigen sein wird – insbesondere bei der Hymne zu gewissen Schwierigkeiten geführt.
a) Farben, Flaggen und Wappen § 90a Abs. 1 Nr. 2 schützt unter anderem die Farben, Flaggen und Wappen der BRD oder eines ihrer Länder156. Art. 22 Abs. 2 GG regelt, dass die Bundesflagge „schwarz-rot-gold“ ist. Neben dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe für die Bundesflagge existieren im Hinblick auf den Bund die „Anordnung [des Bundespräsidenten] über die deutschen Flaggen“ vom 7. Juni 1950157, die „Anordnung [des Bundespräsidenten] über die Stiftung der Truppenfahnen für die Bundeswehr“ vom 18. September 1964158, die „Anordnung des Bundespräsidenten über die Dienstflagge der Seestreitkräfte der Bundeswehr“ vom 25. Mai 1956159, die „Bekanntmachung [des Bundespräsidenten] betreffend das Bundeswappen und den Bundesadler“ (BWappenBek) vom 20. Januar
154 Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 56; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 5; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 19; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 16. 155 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 19. Sonnen betont aber, dass Form und Inhalt häufig in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen und die Kommunikationsfreiheit im Grundsatz auch die Beachtung der Freiheit der Wahl der Äußerungsform verlange, AK-StGB, § 90a, Rn. 57. 156 Die Farben, Flaggen und Wappen der Bundesländer ergeben sich aus den entsprechenden Landesverfassungen bzw. aus den entsprechenden landesgesetzlichen Vorschriften. Laitenberger / Bassier, Wappen und Flaggen, S. 37 ff. 157 BGBl. I, 205. Siehe ferner den Erlass des Bundespräsidenten zur Ausführung der Anordnung über die deutschen Flaggen vom 14. April 1964 (BGBl. I, 285). 158 BGBl. I, 817. 159 BGBl. I, 447.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
1950160, der „Erlaß [des Bundespräsidenten] über die Dienstsiegel“ vom 20. Januar 1950161 sowie der „Erlaß [des Bundesministers des Innern] über die Amtsschilder der Bundesbehörden“ vom 25. September 1951162, die nähere Regelungen enthalten163. Aus ihnen ergeben sich zahlreiche Dienstflaggen, die die Farben schwarz-rot-gold tragen und von § 90a Abs. 1 Nr. 1 erfasst werden164. Im Gegensatz zu der durch die zahlreichen Erlasse und Anordnungen erfolgten klareren Eingrenzung zu den Flaggen führte die nähere Spezifizierung der Wappen zu Schwierigkeiten. Denn es stellt sich die Frage, ob bei der Auslegung der einzelnen Schutzobjekte ein Rückgriff auf die näheren rechtlichen Konkretisierungen (etwa durch Erlasse und Anordnungen) aus Gründen der Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot erforderlich ist oder eine freie Auslegung zulässig sein darf. Laufhütte / Kuschel etwa sind der Auffassung, dass § 90a Abs. 1 Nr. 2 ausdrücklich das Wappen der Bundesrepublik, also unter Rückgriff auf die BWappenBek daher „den Bundesadler auf goldgelbem Grund mit Umrahmung“ schützen soll – nicht aber den Bundesadler als solchen165. Lippold hingegen schreibt: „Die Strafbestimmung des § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB ist [...] keine Blankettbestimmung im engeren Sinne, d.h. eine Strafbestimmung, welche auf anderweitige rechtliche Bestimmungen verweist. Es handelt sich hierbei vielmehr um den Fall eines ‘normalen’ auslegungsbedürftigen Tatbestandes.“166
Ein ähnlich unklares Bild gibt die einschlägige Rechtsprechung wieder. Während in einer Darstellung der „Umrisse eines Bundesadlers mit dem Foto von Gefängnismauern mit vergitterten Fenstern, hinter denen Gefangene sichtbar sind“, unter welcher sich der Satz „in den Gefängnissen der BRD wird durch Isolation gefoltert“ befindet, ein tatbestandsmäßiger Angriff gesehen wurde167, lehnte das Oberlandesgericht Frankfurt die Tatbestandsmäßigkeit für einen Angriff lediglich auf den Bundesadler ab. Dort168 war eine Darstellung des Reichsadlers mit Hakenkreuz und des Bundesadlers zu würdigen: Unter der Überschrift „ungebrochene Tradition“ legt hierbei der Reichsadler seine 160 161 162 163 164 165
BGBl. I, 26. BGBl. I, 26. Neugefasst durch Erlass vom 28. August 1957 (BGBl. I, 1328). BGBl. I, 927. Vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 19; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 5. Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 7. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 6; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 21; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 8; sowie: OLG Frankfurt NJW 1991, 117 (117 f.). 166 Lippold, Staatssymbole, S. 49. 167 Vgl. OLG Köln, JR 1979, 338 (338 f.). In der Revision hat das LG Köln die Angeklagten allerdings freigesprochen und wurde mit Urteil des OLG Köln bestätigt, ebd. 168 Siehe zum Folgenden: OLG Frankfurt NJW 1991, 117 f.
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Schwinge um die des Bundesadlers. Beide Wappentiere neigen den Kopf einander zu und haben ihre Zungen verschlungen. Während die Vorinstanz die Darstellung dahingehend interpretierte, „daß sie beim Betrachter den Eindruck erweckt, ‘daß sich der Reichsadler und der Bundesadler in enger und geradezu intimer Innigkeit verbunden sind, und daß das durch den Bundesadler repräsentierte Staatssystem dem durch das Hakenkreuz repräsentierten System sympathisch und ähnlich ist’“, lehnte das Oberlandesgericht eine solche Würdigung ab. In der Entscheidung heißt es: „Zwar verkennt der Senat nicht, daß im alltäglichen Leben gerade der Bundesadler die Bundesrepublik Deutschland verkörpert, etwa durch seine Verwendung in Ausweisdokumenten und anderen amtlichen Veröffentlichungen. Dies läßt aber nicht den Schluß zu, daß deswegen die Symbolwirkung des Bundesadlers der des Wappens gleichkomme, sondern kann auch ohne weiteres darauf beruhen, daß die tatsächliche Verwendung des Wappens einer besonderen Hervorhebung der Staatsgewalt vorbehalten ist. Das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland wird bei dieser Bewertung nicht preisgegeben, weil die Verunglimpfung des Bundesadlers häufig als Beschimpfung oder böswillige Verächtlichmachung der Bundesrepublik anzusehen sein wird“169.
Das Gericht nimmt in der Urteilsbegründung auch Bezug auf die BWappenBek, bei der „schon in der Überschrift (‘Bekanntmachung betreffend das Bundeswappen und den Bundesadler’) [zwischen] Wappen und Adler als Hoheitssymbole unterschieden“ werden, weshalb eine symbolmäßige Gleichstellung ausscheiden müsse170.
b) Hymne aa) Die Bundeshymne: Allgemeine und strafrechtliche Begründung Während Art. 22 Abs. 2 GG eine ausdrückliche Regelung zur Bundesflagge aufstellt, existiert eine solche verfassungsrechtliche Regelung für die Hymne der BRD nicht. Dennoch geht – wie Lippold kritisch anmerkt171 – die Rechtsprechung unter anderem des Bundesverfassungsgerichts stillschweigend von ihrer Existenz aus. Während bei den Farben, Flaggen und Wappen zumindest noch Erlasse, Anordnungen und Bekanntmachungen insbesondere durch den Bundespräsidenten ergangen sind, lag ursprünglich zu der Frage, was die Hymne der Bundesrepublik Deutschland ist, nur ein Schriftwechsel zwischen dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer172 und dem Bundespräsiden-
169 170 171 172
OLG Frankfurt NJW 1991, 117 (118). OLG Frankfurt NJW 1991, 117. Lippold, Staatssymbole, S. 38 ff. Konrad Adenauer (1876–1967) war Mitglied der CDU und der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Siehe: Berglar, Konrad Adenauer, S. 7 ff. (79 ff.).
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Dritter Teil: Deutsches Recht
ten Theodor Heuss173 vor, der im Bulletin der Bundesregierung174 veröffentlicht wurde175: Unter anderem, weil „es doch der Reichspräsident Friedrich Ebert [war], der das ‘Deutschland-Lied’ durch eine staatsmännische Entscheidung zur Nationalhymne erklärte“, formulierte Adenauer in einem Brief an Heuss die erneute „Bitte der Bundesregierung, das Hoffmann-Haydnsche Lied als Nationalhymne anzuerkennen.“ „Bei staatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe gesungen werden“176, schrieb er. Heuss antwortete: „Da ich kein Freund von pathetischen Dramatisierungen bin und mit mir selber im reinen bleiben will, muß ich nach meiner Natur auf eine ‘feierliche Proklamation’ verzichten. Wenn ich also der Bitte der Bundesregierung nachkomme, so geschieht das in der Anerkennung des Tatbestandes.“177 Diese Korrespondenz wurde zusammen mit einem Kommentar vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung veröffentlicht. Dort wird dem Schriftwechsel genügend konstituierende Wirkung für die „Anerkennung“ des Deutschlandliedes als Nationalhymne –, das von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung mit „innerer Zustimmung“ getragen werde – zugesprochen und der Verzicht auf eine anderweitige Proklamation mit der „deutschen Situation“ erklärt: „Denn einmal bedurfte es einer solchen Proklamation nicht, weil das Lied niemals aus dem Bewußtsein des Volkes geschwunden war; aus diesem Grund handelt es sich tatsächlich nur um die offizielle Anerkennung eines Tatbestandes, der immer wieder offensichtlich in Erscheinung getreten ist. Auf der anderen Seite aber ist es nicht die Zeit, nationalen Symbolen eine demonstrative Bedeutung zu geben. Die deutsche Politik orientiert sich nicht mehr an einem Nationalismus“178.
Die Beschränkung auf die dritte Strophe sollte „vor aller Welt“ dokumentieren, „daß mit der Anerkennung des Deutschlandliedes als Nationalhymne keine Anknüpfung an nationalistische Vorstellungen verbunden ist.“179 Obwohl die Nationalhymne in der Praxis so Verwendung fand, gab es in der Rechtswissenschaft Zweifel an der Eindeutigkeit und Verbindlichkeit des Schriftwechsels, vereinzelt sogar die Auffassung, dass es an einer rechtswirksamen Setzung der National-
173 Theodor Heuss (1884–1963) war nach Gründung der BRD Mitglied der FDP und der erste Bundespräsident. Siehe: Pikart, Heuss, Theodor, S. 52 ff. 174 Das Bulletin der Bundesregierung ist ein allgemeines, von der BReg herausgegebenes Informationsorgan, das nicht zur Verkündung bestimmt ist. Vgl. Lippold, a.a.O., S. 41. 175 Lippold, a.a.O., S. 40 f. Hierzu und zum folgenden vgl. Häberle, Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, S. 13 f. 176 Brief des Bundeskanzlers vom 29. April 1952, in: Bulletin der Bundesregierung Nr. 51 vom 6. Mai 1952, 537. Siehe ferner Hellenthal, Kein Gesetzesvorbehalt für Nationalhymne!, S. 1297. 177 Brief des Bundespräsidenten vom 2. Mai 1952, in: Bulletin der Bundesregierung Nr. 51 vom 6. Mail 1952, 537. 178 Bulletin der Bundesregierung Nr. 51 vom 6. Mai 1952, 539. Hellenthal, a.a.O., S. 1298. 179 Ebd.
Achtes Kapitel §§ 90a 90b §§ 96 97 StGB
¡ bb Landeshymnen ¢ ¡
2 Tathandlung Verunglimpfung £ ¤ £
¥ Hümmerich¤Beucher ¦Hellenthal¢ § ¥ ¨ ¥ ¥© ©¥©§Gusy ¥ ¨ ¥ ¥© ¥ Lippold¢§ ¥§ Laitenberger ¤Bassier¨ ¦¥ªSteinmetz« ¡ ¦ ¥ Laufhütte¤Kuschel ¡ ¥© Fischer ¡© ¡ªLaufhütte¤Kuschel ¡ ªPaeffgen ¡ªMaurach¤Schroeder¤Maiwald
210
Dritter Teil: Deutsches Recht
Saloppheiten oder Geschmacklosigkeiten sollen daher nicht als tatbestandsmäßig zu werten sein187. In der frühen Rechtsprechung des BGH wurden Verunglimpfungen schon bei der Aussage die Bundesfarben seien „schwarz-rotgelb“ angenommen188. Eine tatbestandsmäßige Verunglimpfung wurde auch in einem Aufkleber mit der auf dem Kopf stehenden Bundesflagge und den Worten „Legal?, Illegal?, Scheißegal!“ gesehen189. Das OLG Frankfurt zog eine Verunglimpfung ferner bei der Darstellung des hessischen Landeswappens in Betracht, in welcher der in dem Wappen enthaltene Löwe einen Polizeihelm trägt und einen Gummiknüppel schwingt, von dem Blut heruntertropft190. Eine Verunglimpfung kommt ferner in Betracht bei der öffentlichen Verbrennung einer Flagge191 oder beim Aufbringen eines Hakenkreuzes auf die Bundesfarben192. Keinen Fall der Verunglimpfung bilden hingegen Pfui-Rufe während des Absingens der Nationalhymne bei einer Wahlveranstaltung193. Ein interessantes Beispiel für die Berücksichtigung der sich stetig verändernden Wahrnehmung in der Bevölkerung bildet die Bezeichnung „schwarz-rot-senf“. Das Bundesverfassungsgericht sah in den Worten im Gegensatz zu den Vorinstanzen keine Verunglimpfung, denn mit dem Ausspruch „schwarz-rot-senf“ haben Rechtsradikale zwar in der Weimarer Republik gegen die Reichsfarben und damit gegen den durch diese repräsentierten freiheitlich republikanischen Staat protestieren wollen194. Dieser Kontext sei jedoch nicht mehr aktuell und werde daher von der Öffentlichkeit auch nicht mehr in dieser Weise aufgefasst: „[Es] ist nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass diese historische Verknüpfung im Bewusstsein der Bevölkerung präsent ist und daher in der konkreten Situation auch so erfasst wurde. Auch bedarf es einer eingehenden Würdigung, ob – selbst wenn man der Äußerung diesen historischen Bezug beimisst – die Umschreibung der Farbe ‘Gold’ als Senf in der konkreten Situation eine empfindliche Schmähung beziehungsweise besondere Verächtlichmachung bedeutet, welche ge-
187 188 189 190 191 192 193 194
BT 2, § 84, Rn. 66. Vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 14. Kühl, Lack/Kü-StGB, § 90a, Rn. 6 (§ 90, Rn. 3). Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 69; BGHSt 12, 364 (366). Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 9; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 15; Vgl. Steinmetz, der auch systemkritische und verfehlt erscheinende Polemiken erlaubt sowie eine Immunisierung des Staates vor Kritik ausschließen will, MK-StGB, § 90a, Rn. 14. („[...] Ich sage schwarz-rot-gelb, weil Gold ja bekanntlich keine Farbe ist“) BGH Urt. v. 16. November 1959 – 3 StR 45/59. Dagegen: Laufhütte, LK-StGB, § 90a, Rn. 11. Siehe auch: Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 15. Vgl. Vorinstanzen bei: BayObLG, NJW 1987, 1711. OLG Frankfurt NJW 1984, 1128, (1129 f.). Hinweis bei: Laufhütte / Kuschel, LKStGB, § 90a, Rn. 10. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 10. BGH NJW 1970, 1693 (1693 f.). Hinw.: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 10. OLG Hamm, GA 1963, 28 (29). BVerfG NJW 2009, 908 (908 f.) (= BVerfG JR 2009, 125 [127 ff.] mit Anm. M. Vormbaum).
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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eignet war, die Achtung der Bürger für den Bestand der rechtsstaatlich verfassten 195 Demokratie in der Bundesrepublik auszuhöhlen und zu untergraben.“
IV. Öffentlichkeit (i.w.S.) Nach § 90a Abs. 1 ist erforderlich, dass die Tat im weiteren Sinne öffentlich begangen wird, also eine Begehung öffentlicher Art im engeren Sinne, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) vorliegt.
1. Öffentlichkeit (i.e.S.) Der Begriff „öffentlich“ wird als Tatmodalität in verschiedenen Straftatbeständen im gleichen Sinne verwendet. Dazu zählen unter anderem die dem § 90a nahe stehenden §§ 90, 90b oder etwa die §§ 80a, 86a. Die Rechtsprechung des RG hat den Begriff der Öffentlichkeit schon früh von örtlichen Eigenschaften separiert und es nur darauf ankommen lassen, ob eine nach Zahl und Zusammensetzung unbestimmte Mehrheit von Personen die Tat wahrgenommen hat oder „wenigstens hat wahrnehmen können“196. In einer Entscheidung des RG zur Anwendung der Öffentlichkeit im RepSchG 1922 heißt es: „[Es] entscheidet nicht Öffentlichkeit des Ortes der Äußerung, es kommt vielmehr darauf an, ob eine nach Zahl und ‘Individualität’ nicht bestimmte Mehrheit von Personen die Äußerung verstehen konnte und ob sich der Täter bei Äußerung dieser Sachlage bewußt war.“197
Um von einer Personenmehrheit ausgehen zu können, ist nicht bloß ausreichend, dass eine Mehrheit von Personen anwesend ist, sondern vielmehr erforderlich, dass die Personen untereinander nicht verbunden sind: „Die das Wesen der Öffentlichkeit bildende Unbestimmtheit des Personenkreises findet [...] ihre begriffliche Begrenzung in dem Gegensatze, wonach die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist, wenn die Äußerung thatsächlich oder nach dem Willen des Thäters beschränkt war oder beschränkt bleiben sollte auf die Wahrnehmung einer einzelnen Person oder eines engeren, vermöge der besonderen Umstände des Falles als in sich verbunden und bestimmt abgeschlossen anzusehenden Kreises von Personen. Wesentlich [...] ist danach das Bestehen eines inneren Bandes, von wechselseitigen persönlichen Beziehungen, welche zwischen den einzelnen, diesen Personenkreis bildenden Personen vorhanden sind und dem letzteren den Charakter eines in sich geschlossenen, nach außen bestimmt abgegrenzten geben.“198
Wieviele Personen für eine Mehrheit von Personen erforderlich sind, wurde unterschiedlich beantwortet: Das Vorliegen von lediglich mehreren, d.h. mindestens zwei Personen, wollen Laufhütte / Kuschel sowie Paeffgen nicht genügen 195 196 197 198
BVerfG NJW 2009, 908 (909). RGSt 73, 90. RGSt 57, 343 (344). RGSt 21, 254 (256).
Dritter Teil Deutsches Recht
mindestens fünf
anwesend
2 Versammlung
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Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
213
cken und Zielen, also auf einem gemeinsamen Willen beruht211. Bei einer Versammlung kann es sich also beispielsweise um künstlerische oder wissenschaftliche Veranstaltungen handeln212. Die überwiegende Ansicht möchte Versammlungen zu privaten Zwecken – etwa private Feste – jedoch nicht als tatbestandsmäßig anerkennen213. Formalisierende, organisatorische Anforderungen – wie etwa ein Versammlungsleiter oder eine Tages- oder Geschäftsordnung sind für das Vorliegen einer Versammlung unerheblich214. Für Fischer soll die Versammlung nichtöffentlich sein, da sonst bereits die öffentliche Begehung im oben genannten Sinne gegeben sei215. Wieviele Teilnehmer eine Versammlung erfordert ist unklar. Laufhütte / Kuschel weisen darauf hin, dass die zum Versammlungsgesetz (VersG) vertretene Ansicht, dass eine Gruppe von drei Personen bereits eine Versammlung darstellen kann, nicht für alle Vorschriften Geltung beanspruchen kann, in denen von „Versammlung“ die Rede ist216. Sie halten einen Rückgriff auf die Öffentlichkeit i.S.d. VersG zu eng; vielmehr fordern sie eine größere Zahl von Personen, was dem RG217 und durchaus auch der Ansicht Paeffgens entspricht: „[Die] Idee ist die Multiplikation der Nachricht durch eine beachtliche, nicht notwendig unüberschaubare, Personenvielheit. Deshalb ist zB eine Sitzung eines Vereinsvorstands mit wenigen Personen keine ‘Versammlung’. Im Grundsatz sind deshalb ca. 10 Personen vorauszusetzen.“218
3. Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) Wie der Begriff der Öffentlichkeit ist auch das Verbreiten von Schriften in unterschiedlichen Vorschriften enthalten. § 11 Abs. 3 regelt, dass den Schriften Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen in den Vorschriften gleichstehen, in denen auf § 11 Abs. 3 verwiesen wird. Das Merkmal „Schriften“ wird im StGB also als Begriff pars pro toto verwen211 RGSt 21, 71 (73); RGSt 29, 161 (165); Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90, Rn. 10; Paeffgen, NK-StGB, § 90, Rn. 8 m.w. Hinweis u.a. auf BayObLG NJW 1979, 1895 und LG Freiburg NJW 1976, 2175. 212 Paeffgen, NK-StGB, § 90, Rn. 8; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90, Rn. 10. Vgl. Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90, Rn. 5. 213 Siehe: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90, Rn. 10; Kühl, Lack/Kü-StGB, § 80a Rn. 2; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90, Rn. 5; Paeffgen möchte dies nicht gelten lassen, sofern nur ein genügend großer Personenverband zusammentritt (zustimmend aber bzgl. „Äußerungen im engsten Familienkreis“), NK-StGB, § 90, Rn. 8. 214 Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90, Rn. 5; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90, Rn. 10; Paeffgen, NK-StGB, § 90, Rn. 8. Siehe auch: RGSt 21, 71 (73); OLG Hamburg GA 1965, 155. 215 Fischer, StGB, § 111, Rn. 5. 216 Hierzu und zum Folgenden: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90, Rn. 11. 217 RGSt 63, 136 (137�f.). 218 Paeffgen, NK-StGB, § 90, Rn. 8; vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90, Rn. 11.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
det219. Weil § 11 Abs. 3 aber keine Legaldefinition für die gleichgestellten Medien enthält, sind diese in dem jeweiligen Kontext der verweisenden Norm auszulegen220. Dabei ist zu beachten, dass der in § 11 Abs. 3 verwendete Begriff der Darstellungen als Oberbegriff für die dort aufgeführten Medien gilt, worunter stoffliche oder sonst auf Dauer fixierte Zeichen zu verstehen sind, die sinnlich wahrnehmbar sind und einen Vorgang oder einen sonstigen gedanklichen Inhalt vermitteln sollen221. Für die Verbreitung – die in mehreren Straftatbeständen des StGB Verwendung findet und deshalb im Lichte der jeweiligen Norm auszulegen ist222 – gilt grundsätzlich, dass es nicht ausreicht, die Schrift an einen anderen weiterzugeben oder mitzuteilen223. Laufhütte / Kuschel verlangen mit Blick auf Propagandamittel (§ 86), dass der Begriff der Verbreitung eine körperliche Weitergabe der Schrift an einen größeren Personenkreis erfordert, wobei dieser nach Zahl und Individualität so groß sein muss, dass er für den Täter nicht mehr kontrollierbar ist224. Sie bedienen sich für die nähere Umschreibung der Verbreitung (allerdings ausdrücklich bei § 86) nach § 74d Abs. 4225. Dieser enthält mit dem Ausstellen, Anschlagen und Vorführen selbst wiederum Modalitäten für das Verbreiten von Schriften. Die Rechtsprechung hat hingegen mit dem vom BGH aufgestellten „Körperlichkeitskriterium“ einige Schwierigkeiten bereitet. Denn der BGH hielt in einer Entscheidung aus dem Jahre 1962 das „bloße wörtliche Vorlesen einer Druckschrift“ für kein Verbreiten i.S.d. §§ 3, 22 PresseG; die Verbreitung sei vielmehr „die Druckschrift als Gedankenverkörperung, nicht bloß ihr geistiger Inhalt.“226 Zwei Jahre danach hatte der BGH über einen Fall zu entscheiden, in dem die Tathandlung im Plakatieren bestand. Um ein Verbreiten i.S.d. damaligen § 93 StGB (verfassungsfeindliche Bestrebungen) annehmen zu können, argumentierte das Gericht folgendermaßen: „Gewiß trifft die Strafdrohung [...] nur eine solche Weitergabe, die durch ‘Verbreitung der Schrift’ selbst erfolgt [...]. Daher enthält das Vorlesen aus einer Schrift kein Verbreiten [...]. Plakate werden allerdings ihrem Wesen nach ebenfalls nicht durch Weitergabe ihrer stofflichen Verkörperung verbreitet, sondern durch Anschlag einem größeren Personenkreis zugänglich gemacht. Durch den Anschlag wird jedoch
219 220 221 222 223 224 225 226
Bundestagsdrucksache IV/650, 121. Hinw. bei: Saliger, NK-StGB, § 11, Rn. 73. Vgl. Hilgendorf, LK-StGB, § 11, Rn. 115. Ebd., Rn. 125; Radtke, MK-StGB, § 11, Rn. 141. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 86, Rn. 19. Paeffgen, NK-StGB, § 86, Rn. 27. Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 86, Rn. 19. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 86, Rn. 19. Ebd. BGHSt 18, 63 (64).
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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nicht nur der gedankliche Inhalt des Plakats vermittelt, sondern auch seine Verkör227 perung, namentlich seine Formgebung, Farbe und sonstige Aufmachung“ .
Schon dieses Beispiel zeigt, dass je nach Medium naturgemäß unterschiedliche Verbreitungsbegriffe existieren, die das Körperlichkeitskriterium relativieren. So soll es bei den Ton- und Bildträgern genügen, sie vor einem insgesamt größeren Personenkreis vorzuspielen228. Insgesamt ist es jedoch schwierig, für jedes Medium ein genaues Abbild einer für § 90a (oder auch § 90b) verbindlichen Dogmatik wiederzugeben. Das liegt einerseits daran, dass sich die Rechtsprechung bei der Auslegung auf unterschiedliche Strafvorschriften bezieht und andererseits auch daran, dass sich die den Schriften gleichstehenden Medien weiterentwickeln. Letzteres wird besonders deutlich bei den elektronischen Verbreitungsmöglichkeiten durch das Internet. „Im Hinblick auf [...] die Weiterentwicklung der technischen Verbreitungsmöglichkeiten [ist] die Gewahrsamsübertragung kein grundsätzliches Erfordernis des Verbreitungsbegriffs. Auch durch die massenhafte Versendung tatbestandsmäßiger Symbole per SMS oder E-Mail kann demnach die Tathandlung des Verwendens erfüllt werden.“229
Der BGH vertrat im Zusammenhang mit § 184 Abs. 3 Nr. 1 StGB (Verbreiten von Kinderpornographie) die Auffassung, dass ein Verbreiten im Internet vorliegt, „wenn die Datei auf dem Rechner des Internetnutzers angekommen ist“; dabei sei es unerheblich, „ob dieser die Möglichkeit des Zugriffs auf die Daten genutzt oder ob der Anbieter die Daten übermittelt hat“230. Für diesen spezifischen Verbreitungsbegriff ist es ferner nicht von Bedeutung, ob die Daten „im (flüchtigen) Arbeitsspeicher oder auf einem (permanenten) Speichermedium“ des Internetnutzers ankommen231. Kurzfristige Zwischenspeicherungen zum Zwecke der Echtzeitübermittlung sollen jedoch ausgenommen sein232.
227 BGHSt 19, 308 (310). 228 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 86, Rn. 27; vgl. Sonnen, AK-StGB, § 86, Rn. 28; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 86, Rn. 30; BGH NStZ 2011, 577 (578); vgl. Eser / Hecker, Sch/Schr-StGB, § 11, Rn. 67; 229 Steinmetz, MK-StGB, § 86a, Rn. 28. 230 BGHSt 47, 55 (59). 231 BGHSt 47, 55 (59). Siehe auch: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 86, Rn. 28. Ablehnend aber Eser / Hecker: „Bei den sog. Schriftenverbreitungs-Delikten [...] ist zu beachten, dass durch die Klarstellung in § 11 III Objekt dieser Delikte zwar auch ein Datenspeicher sein kann, diese aber weiterhin nur durch eine körperliche Übergabe ‘verbreitet’ werden können [...], nicht aber durch einen elektronischen Transport des Dateninhaltes selbst“, Sch/Sch-StGB, § 11, Rn. 67. 232 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 86, Rn. 28. Steinmetz, MK-StGB, § 86, Rn. 31 u.a. mit Hinw. auf Bundestagsdrucksache XIII/7385, 36. Dort heißt es: „Kurzfristige Zwischenspeicherungen z.B. im Telekommunikationsnetz zum Zwecke der Echtzeitübermittlung fallen [...] nicht unter den Begriff des Datenspeichers.“
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Dritter Teil: Deutsches Recht
V. Tatbestandsmäßigkeit nach § 90a Abs. 2 1. Schutzobjekte a) Öffentlich gezeigte Bundes- oder Landesflagge Für die Bundesflagge (Art. 22 GG) oder Landesflagge gilt grundsätzlich das oben Gesagte. Es soll nicht darauf ankommen, ob die Flaggen amtlich oder von privater Seite angebracht worden sind233. Öffentlich gezeigt ist eine Flagge, wenn sie nach der erkennbaren Intention desjenigen, der sie angebracht hat, für einen größeren, nicht durch persönliche Beziehungen miteinander verbundenen Personenkreis wahrnehmbar sein soll und auch wahrgenommen werden kann234. Es kommt – vergleichbar mit der öffentlichen Begehung nach Absatz 1 – auf die Möglichkeit der Wahrnehmung an, nicht hingegen auf die tatsächliche Wahrnehmung235. Ebenfalls parallel dem Öffentlichkeitsbegriff des Absatz 1 soll es nicht auf die Öffentlichkeit des Ortes ankommen, an dem die Flagge gehisst wird: Die Flagge kann auch in Gebäuden öffentlich angebracht werden, wenn sie nur den dort Einlassfindenden sichtbar gemacht wird236.
b) Von einer Behörde öffentlich angebrachtes Hoheitszeichen Hoheitszeichen sind die Zeichen, die die Autorität des Staates öffentlich dauerhaft symbolisieren sollen237. Dies kann der Fall sein bei Fahnen, Standarten, Schildern, Wappen, Skulpturen, Grenzpfählen oder Schlagbäumen238. Die Rechtsprechung des RG verlangte im Hinblick auf § 135 RStGB, dass das Zeichen die „Handhabung der Staatsgewalt äußerlich erkennbar zu machen“ in der Lage sein sollte und lehnte dies etwa für den Markierungsstein für den Wasserstand ab239. Auch für die Hoheitszeichen i.S.d. § 90a Abs. 2 wird daher verlangt, dass das Hoheitszeichen nach dem erkennbaren Willen der zuständigen Organe des Bundes oder eines Landes dazu bestimmt oder verwendet wird, das Bestehen der Staatsgewalt öffentlich zum Ausdruck zu bringen und
233 Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90a, Rn. 14. Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 19; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 34; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 9; Burkiczak, Staatssymbole, S. 52. 234 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 34; Wagner, BGH GA 1961, 18 (Nr. 3 zu § 96); Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 30. 235 Das ergebe sich aus dem Merkmal „gezeigt“. Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 19. Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 34; Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 19; Burkiczak, Staatssymbole, S. 52; vgl. OLG Braunschweig NJW 1953, 875. 236 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 34; Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 19; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 19; vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 30. 237 RGSt 63, 286 (287). Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 75. 238 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 35; Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 20. 239 RGSt 31, 143 (147). Hinw. bei: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 35.
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damit kundzutun, dass der betreffende Ort oder die betreffende Sache dieser Staatsgewalt unterworfen und gewidmet sei240. § 90a Abs. 2 verlangt ferner, dass die Zeichen öffentlich angebracht worden sind. Das OLG Braunschweig sah es für dieses Merkmal als erforderlich an, dass das Zeichen öffentlich sichtbar sein muss, also „daß die geschützte Flagge öffentlich gezeigt und das geschützte Hoheitszeichen öffentlich angebracht ist, und zwar in dem Sinne, daß sie für jedermann öffentlich 241 sichtbar sind“ .
In der Lehre wurde dieser Ansatz hingegen kritisiert, weil – wie Paeffgen meint – „angesichts der systematischen Gleichstellung“ unklar sei, weshalb bei den Hoheitszeichen etwas anderes gelten soll als bei den Flaggen242. Laufhütte / Kuschel lassen es genügen, wenn das Zeichen so angebracht ist, dass es an dem jeweiligen Ort von beliebigen Personen wahrgenommen werden kann243.
2. Tathandlungen Die Tathandlung nach § 90a Abs. 2 besteht im Entfernen, Zerstören und Beschädigen, Unbrauchbarmachen, Unkenntlichmachen und dem beschimpfenden Unfug. Das Entfernen ist jedes Wegnehmen von dem Ort, an dem die Flagge oder das Zeichen angebracht ist, wobei es auf einen etwaigen Zueignungswillen nicht ankommen soll244. Ein Entfernen ist schon gegeben, wenn der Täter das Zeichen in der Nähe des vorgesehen Platzes liegen lässt245. Bei einer Flagge genügt nach überwiegender Ansicht schon das Einholen246. Ein Entfernen liegt jedoch nicht vor, wenn es von einem Depot oder einem anderen Aufbewahrungsort entfernt wird, um eine zukünftige öffentliche Anbringung zu verhindern247. Nach überwiegender Ansicht ist das Zerstören und Beschädi240 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 35; Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 20; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 20; vgl. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 9; Kühl, Lack/Kü-StGB, § 90a, Rn. 4; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90a, Rn. 15; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 31; Burkiczak, Staatssymbole, S. 52; RGSt 63, 286 (287); OLG Braunschweig NJW 1953, 875. 241 OLG Braunschweig NJW 1953, 875. 242 Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 31. 243 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 36. 244 Vgl. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 10; vgl. Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90a, Rn. 17; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 37; Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 21; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 33; vgl. Burkiczak, Staatssymbole, S. 52. 245 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 37. 246 Fischer, StGB, § 90a, Rn. 10; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90a, Rn. 17; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 37; Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 33; Burkiczak, Staatssymbole, S. 52. 247 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 37; Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 33; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 21.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
gen i.S.d. § 90a Abs. 2 synonym zu § 303 zu verstehen248. So ist das Beschädigen eines Hoheitszeichens eine nicht unerhebliche Verletzung der Substanz des jeweiligen Zeichens, durch welche die bestimmungsgemäße Brauchbarkeit des Zeichens (zur öffentlichen und dauerhaften Symbolisierung der Autorität des Staates) beeinträchtigt wird249. Zerstört ist das Zeichen, wenn diese Gebrauchsfähigkeit völlig aufgehoben wird250. Da Hoheitszeichen zur Verkörperung und Symbolisierung der staatlichen Autorität aller Lebenserfahrung nach ein repräsentatives, d.h. adäquates, sauberes und gepflegtes Erscheinungsbild aufzuweisen haben, ist bei einer Substanzbeschädigung häufig mit einer völligen Aufhebung der Brauchbarkeit zu rechnen. Das wirft dann aber die Frage auf, wann ein Unbrauchbarmachen i.S.d. § 90a Abs. 2 gegeben ist251. Nach der überwiegenden Ansicht liegt Unbrauchbarmachen vor, wenn die Tauglichkeit beseitigt wird, wobei eine wesentliche Beeinträchtigung des Tatobjekts in seiner Funktion als Hoheitszeichen genügt252. Unkenntlichmachen wird überwiegend schon in jeder vorübergehenden Einwirkung gesehen, durch welche die Erkennbarkeit des Zeichens aufgehoben wird253. Dies kann etwa der Fall sein 248 Fischer, StGB, § 90a, Rn. 10; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90a, Rn. 17; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 38; Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 34; Burkiczak, Staatssymbole, S. 52. 249 Vgl. Fischer, StGB, § 303, Rn. 6 250 Vgl. Fischer, StGB, § 303, Rn. 14 m.w.N. 251 Konsequent wäre es, die Substanzverletzung als Abgrenzungskriterium heranzuziehen. Dann wäre Unbrauchbarmachen gegeben, wenn die Funktionstüchtigkeit des Zeichens beseitigt wird, wenn also das Hoheitszeichen seine Tauglichkeit als Hoheitszeichen im Wesentlichen (und um zum Unkenntlichmachen abzugrenzen, m.E. auch dauerhaft) verliert (vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 35; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 39; Laufhütte, LK-StGB [1992], § 90a, Rn. 22. Beide ohne das Kriterium der Dauerhaftigkeit), und zwar unabhängig davon, ob die Substanz des Tatobjekts verletzt wurde (wohl ebenfalls dahin tendierend: Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 21 mit Verweis auf: § 87, Rn. 17). Denkbar ist dies, wenn das Zeichen derart beschmutzt oder bemalt wird, dass eine Beseitigung dieses Zustandes nicht vollständig gelingen kann. (Zwar nimmt die Rechtsprechung zumindest in denjenigen Fällen eine Substanzverletzung, und damit eine Beschädigung oder Zerstörung i.S.d. § 303 Abs. 1 an, wenn die überdeckende Substanz sich mit der Sache derart verbindet, dass eine Beseitigung ohne Substanzverletzung nicht gelingen kann. Legt man dies auch bei § 90a zugrunde, würde dies eine Abgrenzung zwischen Unbrauchbarmachen und Beschädigen bzw. Zerstören verhindern. Dies spricht für eine „§ 90a-spezifische Auslegung“ der Tathandlungen. Vgl. Fischer, StGB, § 303, Rn. 9 m.w.N.) Nach diesem Ansatz läge bei einer Substanzverletzung sowohl eine Beschädigung bzw. Zerstörung als auch ein Unbrauchbarmachen vor. Liegt eine Verletzung durch Bemalen mit Lackfarbe vor, die die Substanz des Hoheitszeichen nicht durch Auftragen der Farbe unmittelbar verletzt, ist (dauerhaftes) Unbrauchbarmachen gegeben. 252 Vgl. Fischer, StGB, § 316b, Rn. 6; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90a, Rn. 17; vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 39; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 87, Rn. 17; vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 35. 253 Vgl. Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90a, Rn. 17; vgl. Laufhütte / Kuschel, LKStGB, § 90a, Rn. 40; vgl. Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 22; vgl. Steinmetz,
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beim teilweise Einziehen einer Flagge, wodurch die Sichtbarkeit eingeschränkt wird254, oder auch beim Überkleben oder Beschmieren mit leicht abwaschbarer Farbe255. Beschimpfender Unfug ist die Kundgabe einer rohen, im Sinne einer Herabwürdigung verletzenden Form der Missachtung in Bezug auf das geschützte Zeichen256, die sich räumlich unmittelbar gegen das Zeichen richten muss, aber nicht erfordert, dass eine Substanzverletzung oder eine Funktionsstörung eintreten muss257. Der BGH zog beschimpfenden Unfug beispielsweise beim Umsägen eines Fahnenmastes mitsamt der Fahne in Betracht258. Das OLG Braunschweig nahm beschimpfenden Unfug schon beim verächtlichen Antippen an die Kokarde einer Dienstmütze verbunden mit einer abfälligen Bemerkung über die Bundesfarben („schwarz-rot-mostrich“) an259, wurde aber in der Lehre kritisiert260.
VI. Der Qualifikationstatbestand nach § 90a Abs. 3 § 90a Abs. 3 enthält mit der Androhung von Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe einen gegenüber Absatz 1 und 2 schärferen Strafrahmen. Dafür ist erforderlich, dass sich der Täter durch die Tat absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt. Für den BGH handelt es sich hierbei um einen selbstständigen Qualifikationstatbestand, nicht hingegen um ein bloßes Strafschärfungsmerkmal261. § 90a Abs. 3 umschreibe „in Verbindung mit dem Grundtatbestand des § 90a Abs. 1 StGB, einen gegenüber diesem selbständigen Straftatbestand [...]; entsprechendes gilt für das Verhältnis des § 90a Abs. 3 zu dessen Absatz 2.“262
254 255 256 257 258 259 260 261 262
MK-StGB, § 90a, Rn. 21; vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 36; vgl. Sonnen, AKStGB, § 90a, Rn. 76. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 40; vgl. Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 22; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 36. Vgl. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 10; vgl. Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90a, Rn. 17; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 40; Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 22; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 36. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 10; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 41; vgl. Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 23; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 37. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 41; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 37; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 10. Wagner, BGH GA 1961, 18 (Nr. 3 zu § 96). OLG Braunschweig NJW 1953, 875 (875 f.). Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 41; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 37. BGHSt 32, 332 (333). Diese Unterscheidung erlangt praktische Auswirkungen, wenn sich ein Rechtsmittel nur auf den Strafausspruch beschränkt. Dieser Hinw. bei: Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 39. BGHSt 32, 332 (333).
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Dritter Teil: Deutsches Recht
1. Bestrebungen Der Begriff der Bestrebungen ist in § 92 gesetzlich näher umschrieben worden. Ursprünglich – im Geltungszeitraum des (1.) StÄG 1951 – enthielt das StGB keine derartige Regelung. Paeffgen weist darauf hin, dass dies „zu gewissen Differenzen“ in der Auslegung geführt habe263. Die mit dem (8.) StÄG 1968 eingeführten Begriffsbestimmungen des § 92 sollten in dieser Form das erklärte Ziel verfolgen, der Gefahr einer zu weiten Auslegung vorzubeugen264. Für die Bestrebung i.S.d. § 92 Abs. 3 ist erforderlich, dass – unabhängig von der Person des Täters – existierende Bestrebungen Dritter (Träger) vorliegen müssen265. Im Falle von § 90a Abs. 3 müssen sich diese Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze richten und der Täter sich ihnen anschließen oder sie zumindest unterstützen266. Hierbei soll es nach einer Ansicht genügen, wenn lediglich ein Einzelner Träger dieser Bestrebung ist267. Paeffgen hingegen fordert aus teleologischen Gesichtspunkten mindestens fünf Personen268.
2. Gegen den Bestand der BRD § 92 Abs. 3 Nr. 1 verweist zur genauen Bestimmung der Beeinträchtigung des Bestandes der BRD auf § 92 Abs. 1. Dort wird bestimmt, dass den Bestand der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt, wer ihre Freiheit von fremder Botmäßigkeit aufhebt, ihre staatliche Einheit beseitigt oder ein zu ihr gehörendes Gebiet abtrennt.
a) Aufheben der Freiheit von fremder Botmäßigkeit Die Aufhebung der Freiheit von fremder Botmäßigkeit verlangt die Beseitigung der völkerrechtlichen Souveränität oder auch nur der faktischen Handlungsfähigkeit269. Auch die Bundesrepublik unter die Entscheidungsgewalt außerdeutscher Mächte zu bringen, soll erfasst sein270. Dazu gehört neben der 263 Paeffgen, NK-StGB, § 92, Rn. 10. 264 Bundestagsdrucksache V/2860, 1 (13). Vgl. Hinw. bei: Sonnen, AK-StGB, § 92, Rn. 1. Siehe auch: Paeffgen, NK-StGB, § 92, Rn. 11. 265 Paeffgen, NK-StGB, § 92, Rn. 10. 266 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 92, Rn. 7; Paeffgen, NK-StGB, § 92, Rn. 10. 267 Fischer, StGB, § 92, Rn. 7; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 92, Rn. 7; SternbergLieben, Sch/Sch-StGB, § 92, Rn. 13. 268 Paeffgen, NK-StGB, § 92, Rn. 10. 269 Fischer, StGB, § 92, Rn. 2; vgl. Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, NK-StGB, § 81, Rn. 8; vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 81, Rn. 3; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 92, Rn. 3; vgl. Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 92, Rn. 3. 270 Fischer, StGB, § 92, Rn. 2; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 81, Rn. 3; Steinmetz, MKStGB, § 92, Rn. 3; Kühl, Lack/Kü-StGB, § 92, Rn. 2; Sternberg-Lieben, Sch/SchStGB, § 92, Rn. 3
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Totalannexion der Bundesrepublik auch das „Herabdrücken Deutschlands zum Vasallen-Staat“ oder das Einsetzen einer Regierung, die einer fremden Macht hörig ist271. Die Übertragung von Hoheitsrechten – etwa auf die Europäische Union – durch völkerrechtliche Verträge, die im Rahmen des Art. 24 GG erfolgen, stellen keine fremde Botmäßigkeit nach § 92 Abs. 1 dar272.
b) Beseitigung der staatlichen Einheit Die Beseitigung der staatlichen Einheit ist auf unterschiedliche Weise denkbar. Im Schrifttum wird zwischen folgenden Fallgruppen unterschieden: Einerseits sei die Schaffung mehrerer Staaten denkbar, die durch die Aufhebung des bundesstaatlichen Zusammenhalts entstünde273. Aber auch die Lockerung des Zusammenhalts zwischen den Bundesstaaten soll die Bundesrepublik in einen Staatenbund verwandeln und so die staatliche Einheit beseitigen können274. Davon wird im Schrifttum der Fall abgegrenzt, in dem ein Einheitsstaat gegründet werden soll: Dies wird tendenziell eher als Verletzung der verfassungsmäßigen Integrität i.S.d. § 92 Abs. 1 Nr. 2 betrachtet275.
c) Gebietsabtrennung Unter Gebietsabtrennung versteht man die Einverleibung eines Gebietes in einen anderen Staat oder die Konstituierung eines eigenständigen Staates276. Dies ist etwa denkbar in Form eines „befreiten“ Bayern277. Bei dem „Gebiet“ muss es sich aber nicht um ein vollständiges Bundesland handeln.
3. Gegen Verfassungsgrundsätze § 92 Abs. 3 Nr. 3 regelt, dass Bestrebungen gegen Verfassungsgrundsätze solche Bestrebungen sind, bei denen die Träger der Bestrebungen darauf hinarbeiten, einen Verfassungsgrundsatz zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben. Die Verfassungsgrundsätze sind in § 92 Abs. 2 näher bestimmt worden. Sie erfassen die freiheitlich demokratische Grundordnung (Artt. 18, 271 Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 92, Rn. 3. Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 81, Rn. 3. 272 Fischer, StGB, § 92, Rn. 2; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 81, Rn. 3; Steinmetz, MKStGB, § 92, Rn. 3; Kühl, Lack/Kü-StGB, § 92, Rn. 2. 273 Fischer, StGB, § 92, Rn. 3; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 81, Rn. 4; Steinmetz, MKStGB, § 92, Rn. 4. 274 Vgl. Fischer, StGB, § 92, Rn. 3; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 81, Rn. 4; vgl. auch: Steinmetz, MK-StGB, § 92, Rn. 4; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 92, Rn. 4. 275 Fischer, StGB, § 92, Rn. 3; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 81, Rn. 4; Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, NK-StGB, § 81, Rn. 9. 276 Fischer, StGB, § 92, Rn. 4; Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, NK-StGB, § 81, Rn. 10; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 81, Rn. 5; Steinmetz, MK-StGB, § 92, Rn. 5. 277 Paeffgen, NK-StGB, § 81, Rn. 10.
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21 Abs. 2 GG) und im Einzelnen die Volkssouveränität, das Prinzip der Gewaltenteilung, die allgemeinen Grundsätze für Wahlen zur Volksvertretung (Nr. 1), das Rechtsstaatsprinzip (Nr. 2), das Recht auf parlamentarische Opposition (Nr. 3), die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung (Nr. 4), die Unabhängigkeit der Gerichte (Nr. 5) und den Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft (Nr. 6)278. Bei § 92 Abs. 2 Nr. 6 handelt es sich um eine Generalklausel, die diejenige „Kontrastfolie“ (Paeffgen) benennt, von der sich die bundesrepublikanische Verfasstheit in historischer sowie (verfassungs-)rechtlicher Hinsicht abgrenzen will279.
4. Absichtliches Sicheinsetzen Nach § 90a Abs. 3 ist ferner erforderlich, dass sich der Täter für die Bestrebungen der Träger absichtlich einsetzt. Der Begriff des „Einsetzens“ wird neben § 90a Abs. 3 auch bei der Agententätigkeit zu Sabotagezwecken (§ 87) verwendet. Im Schrifttum wird häufig auf entsprechende Ausführungen verwiesen. Das Sicheinsetzen ist danach als ein finaler, gewisserweise als ein gemischt subjektiv-objektiver Rechtsbegriff aufzufassen: Daher muss es dem Täter schon unabhängig von der daneben erforderlichen Absicht darauf ankommen, die jeweiligen Bestrebungen zu fördern280. Dass aber auch Absicht verlangt wird, will Paeffgen nicht als unnötige Tautologie auffassen. Er vertritt die Auffassung, dass „der Gesetzgeber deutlich machen [wollte], dass an den subj. Tb [...] bes. hohe Anforderungen zu stellen sind.“281
Im Einklang mit der vom Gesetzgeber ausgedrückten Zielsetzung, durch die Tathandlung des Sicheinsetzens „nur den durch seine aktive kämpferische Haltung herausgehobenen Täter“282 erfassen zu wollen, möchten einige Autoren bloße Mitläufer nicht als „sich absichtlich für die Bestrebungen einsetzende“ Täter ansehen283.
278 Dazu: Paeffgen, NK-StGB, § 92, Rn. 8 f.; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 92, Rn. 4. 279 Paeffgen, NK-StGB, § 92, Rn. 6; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 92, Rn. 8; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 92, Rn. 3 ff. 280 Vgl. Fischer, StGB, § 87, Rn. 10; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 87, Rn. 18; vgl. Kühl, Lack/Kü-StGB, § 92, Rn. 8. Vgl. BGHSt 32, 332 (333). 281 Paeffgen, NK-StGB, § 92, Rn. 14. 282 Bundestagsdrucksache V/2860, 10. 283 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 92, Rn. 12; siehe schon: Güde, BT-SondA-Prot., BT V, S. 974. Vgl. aber kritisch: Paeffgen, NK-StGB, § 92, Rn. 14.
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VII. Subjektiver Tatbestand Für § 90a Abs. 1 und Abs. 2 soll – außer im Falle der böswilligen Verächtlichmachung nach Abs. 1 Nr. 1, der Absicht voraussetzt284 – nach der überwiegenden Lehrmeinung schon der bedingte Vorsatz genügen285. Auch der BGH vertritt diese Auffassung286. Für tatbestandsmäßige Schriften gilt nach der Auffassung des BGH: „Für den Vorsatz ist nur entscheidend, ob der Täter sich der Bedeutung seiner Äußerungen, wie sie von einem unbefangenen Leser verstanden werden können, bewußt war oder ob er mit dieser Möglichkeit rechnete und sie billigend in Kauf nahm.“287
Erforderlich ist, dass der Täter Kenntnis von den inkriminierenden Inhalten hat288.
VIII. Rechtswidrigkeit und Schuld Da es sich bei den §§ 185 ff. – wie bereits erwähnt – um ein grundsätzlich geschlossenes System mit eigenen Rechtsgüterschwerpunkten handelt, kann dem Schrifttum kein Meinungsgewicht entnommen werden, welches die Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 als besonderen Rechtfertigungsgrund bei den Ehrdelikten auch bei § 90a Anwendung finden lassen will289. Insbesondere die Kollision mit der Meinungsäußerungs- und Kunstfreiheit wird vielmehr auf der Ebene der Tatbestandsinterpretation berücksichtigt.
IX. Versuch Da es sich bei § 90a nicht um ein Verbrechen i.S.d. § 12 Abs. 1, sondern um ein Vergehen i.S.d. § 12 Abs. 2 handelt, ist der Versuch nach § 23 Abs. 1 nur dann strafbar, wenn dies gesetzlich bestimmt ist. Eine ausdrückliche Versuchsstrafbarkeit stellen § 90a Abs. 1 und Abs. 3 nicht auf. Nach Abs. 2 S. 2 ist lediglich in den Fällen des Abs. 2 der Versuch strafbar. Paeffgen bezeichnet dies als inkonsistent, da die Absätze 1 und 2 den gleichen Strafrahmen von Frei284 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 43 (15); Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 38 (4); Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 25. 285 Fischer, StGB, § 90a, Rn. 12; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 43; vgl. Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 24; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 25; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 38; Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 77. 286 BGH NJW 1961, 1932 (1933). 287 BGH NJW 1961, 1932 (1933). Vgl. auch: Wagner, BGH GA 1961, 19 (Nr. 11 zu § 96). 288 Vgl. für den Fall, dass ein Buchladeninhaber entsprechende Druckschriften zum Verkauf anbietet. KG StV 1987, 436; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 38. 289 Siehe aber Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 112 ff.
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heitsstrafe bis zu drei Jahre haben, bei dem die Strafbarkeit eines Versuches nicht üblich sei290. Ein im Hinblick auf § 90a straffreies Wahndelikt soll gegeben sein, wenn der Täter einen zutreffend als solchen eingeordneten Gegenstand in der irrigen Meinung beschädigt, es handele sich um ein von Abs. 2 geschütztes Hoheitszeichen291. Ein nach § 90a Abs. 2 strafbarer untauglicher Versuch liegt hingegen vor, wenn der Täter einen nicht durch § 90a Abs. 2 geschützten Gegenstand für einen solchen hält, der, wenn seine Vorstellung zuträfe, dem Schutz des § 90a Abs. 2 unterfiele292. Für Paeffgen oder auch Steinmetz läge danach beispielsweise ein Wahndelikt vor, wenn der Täter ein Stadtwappen für mitgeschützt hält; ein untauglicher Versuch läge hingegen vor, wenn der Täter das Stadtwappen für ein geschütztes Hoheitszeichen (etwa ein Landeswappen) hält293. Zu beachten sind aber noch §§ 303, 104294: Denn ein für § 90a straffreies Wahndelikt schließt die Strafbarkeit nach § 303 nicht aus. Wenn der Täter ferner ein inländisches Hoheitszeichen für ein ausländisches hält, liegt ein untauglicher Versuch nach § 104 vor.
X. Meinungsäußerungs- und Kunstfreiheit Die Anwendung des § 90a stand regelmäßig in Konflikt mit der verfassungsrechtlich gewährten Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG sowie der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Dies hat zu einigen Einschränkungen bzw. zu der Forderung nach einer verfassungskonformen Auslegung des § 90a geführt295.
1. Meinungsäußerungen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gewährt das Recht auf freie Meinungsäußerung. Meinungen sind Werturteile, aber auch Tatsachenbehauptungen; nicht umfasst sind Tatsachenbehauptungen jedoch, wenn sie bewusst oder erwiesen unwahr
290 Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 40. 291 Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 45; vgl. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 11; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 40; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 26. 292 Ebd. 293 Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 40; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 26. 294 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 26; vgl. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 11. 295 Vgl. zum Ganzen und zu den folgenden Ausführungen: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 22 ff.; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 13 ff.; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 24 ff.; Volk, Staatssymbole, S. 441 ff.; Würtenberger, Staatsverunglimpfung, S. 309 ff.; Schroeder, Staatsverunglimpfung, S. 89 ff.; Roggemann, Von Bären, Löwen und Adlern, S. 934 ff.; Krutzki, „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“, S. 294 ff.; Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 121 ff.
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sind296. Dieser Schutzbereich findet seine Schranken nach Art. 5 Abs. 2 GG unter anderem in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch § 90a zu zählen ist297. Nach der sog. Wechselwirkungslehre sind sie aber als grundrechtseinschränkendes Gesetz im Lichte des (eingeschränkten) Grundrechts auszulegen298. Beim politischen Meinungskampf ist daher zu berücksichtigen, dass die Meinungsäußerungsfreiheit – auch wegen der geringen plebiszitären Mitwirkungsrechte – gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist299.
a) Anwendungsgrundsätze für § 90a Hieraus ergibt sich einerseits für § 90a die Forderung einer restriktiven Auslegung der Tatbestandsmerkmale300. Daneben hat Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG aber auch Einfluss auf die Erfassung und Würdigung der möglicherweise die Strafbarkeit begründenden Äußerungen selbst301. Denn bei mehrdeutigen Aussagen soll es zu keiner Verurteilung kommen dürfen, wenn nicht alle anderen straflosen Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen werden können302. Kriterien für eine solche Auslegung sind der Wortlaut, der sprachliche Kontext der Äußerung sowie die für die Zuhörer erkennbaren Begleitumstände, unter denen die Äußerung fällt303. Auch muss in die Deutung mit einfließen, ob für das abwertende Urteil selbst ein Anlass gegeben wurde304. Tatsachenbehauptungen in Form von wahren Aussagen müssen in der Regel hingenommen werden müssen – unwahre Tatsachenbehauptungen hingegen nicht305. Im öffentlichen Meinungskampf spricht eine Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede306. Für den politischen Meinungskampf gilt, dass 296 BVerfGE 61, 1 (7 ff.). 297 BVerfGE 47, 198 (231). Ablehnend: Deiters, Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, S. 317. 298 BVerfGE 7, 198 (210 f.) (Lüth); BVerfGE 12, 113 (124 f.); BVerfGE 47, 198 (232). 299 BGH NStZ 2003, 145 (146), mit Hinw. auf BVerfG NJW 1995, 3303 (3304); BVerfG NJW 1999, 204 (205). Fischer, StGB, § 90a, Rn. 13. S. auch: BVerfGE 7, 198 (208, 210 f.), BVerfGE 93, 266 (292 f.). 300 Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 25 f.; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 13 ff.; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 24. 301 Siehe: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 25. 302 BVerfGE 82, 43 (52); BVerfGE 93, 266 (295 f.); BVerfG NJW 1994, 2943 (2944); BVerfGE NJW 1999, 204 (205); BVerfG NJW 2001, 596 (596 f.); BGH NStZ 2003, 145; vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 25; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 14. 303 BGH NStZ 2002, 592; vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 25. 304 BVerfG NJW 1984, 1741 (1746). Laufhütte / Kuschel betonen, dass dies speziell für in der Öffentlichkeit stehende Personen gilt, LK-StGB, § 90a, Rn. 25. 305 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 25. BGH NStZ 2002, 592 (593). 306 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 25; BVerfG NJW 1994, 2943; BVerfGE 7, 198 (208). Siehe: Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 24.
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harte und unsachliche Kritik ebensowenig wie ablehnende, scharfe Kritik am Staat dem Tatbestand des § 90a unterfällt307 –, was auch dann gilt, wenn die Kritik mit der Propagierung verfassungsfeindlicher Ziele verbunden wird308. Mit Blick auf die Beschimpfung und böswillige Verächtlichmachung des Staates, also der BRD und ihrer Länder nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 hat sich in der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG noch ergeben, dass ein mit der Meinungsfreiheit abwägbares Schutzgut von vornherein fehle, wenn nicht die Schwelle der Rechtsgutsverletzung im Sinne des § 90a Abs. 1 Nr. 1 überschritten ist309. Dies sei erst dann der Fall, „wenn auf Grund der konkreten Art und Weise der Meinungsäußerung der Staat dermaßen verunglimpft wird, dass dies zumindest mittelbar geeignet erscheint, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, die Funktionsfähigkeit seiner staatlichen Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden [...]. Dies wäre bei entsprechender Form der Meinungsäußerung etwa denkbar, wenn der Bundesrepublik Deutschland jegliche Legitimation abgespro310 chen würde und dazu aufgerufen würde, sie zu ersetzen.“
In der der Beschwerde zugrunde liegenden amtsgerichtlichen Verurteilung war über die Verbreitung eines Flugblattes anlässlich der Uraufführung des Theaterstücks „Goerg Elser – Allein gegen Hitler“ zu entscheiden, in dem unter der Überschrift „Georg Elser – Held oder Mörder?“ unter anderem folgender Text abgedruckt war: „Der militante Kommunist Georg Elser [...], dem die Nationalsozialisten trotzdem kein Haar gekrümmt hatten, plante bereits 1938, den demokratisch gewählten Reichskanzler, Adolf Hitler, zu ermorden. Am 8.11.1939 explodierte seine durch einen Zeitzünder ausgelöste Bombe im Münchener Bürgerbräukeller. Sie riss acht unschuldige Menschen in den Tod. Weitere 63 Menschen wurden verletzt, 16 davon schwer. Unter den Opfern befanden sich auch Mütter und Familienväter, wodurch ihre Kinder zu Waisen wurden. Wie sehr ist dieses BRD-System schon verkommen, dass es für seinen ‘K(r)ampf gegen Rechts’ (und damit alles Deutsche!) eines solchen Vorbildes bedarf? Ihn in Filmen und Theaterstücken bejubelt, Schüler zwingt, ihn zu verehren, und sogar Briefmarken für den Kommunisten Elser herausgibt? Werden bald die kommunistischen RAF-Terroristen ebenso geehrt und ihre Opfer verhöhnt? Mörder unschuldiger Menschen können keine Vorbilder sein!“311
Das BVerfG sieht in dem Inhalt eine historischen Auseinandersetzung um Georg Elser, die sich nicht schwerpunktmäßig mit der Verkommenheit des „BRD-Systems“, sondern mit dem „K(r)ampf gegen Rechts“, also mit einem 307 BGH 19, 311 (317); BGH JZ 1963, 402 (403); BVerfG NJW 1999, 204 (205); Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 26; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 24; vgl. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 13. 308 BVerfGE 47, 198 (232); BGH NStZ 2002, 592 (593); BGH NStZ 2003, 145 (146). 309 BVerfG NJW 2012, 1273 (1274). 310 Ebd. 311 BVerfG NJW 2012, 1273.
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politischen Einzelaspekt beschäftigt312. Daher sei die Grenze von Polemik zur Rechtsgutsverletzung noch nicht überschritten, da eine (auch nur mittelbare) Eignung des Flugblatts den Bestand des Staates und seiner Einrichtungen oder die Friedlichkeit in BRD zu gefährden, ausgeschlossen erscheint313.
b) Schmähkritik Die Rechtsprechung sieht bei Meinungsäußerungen eine nicht schutzbedürftige Schmähkritik, wenn sie derartig übertrieben ist, dass nicht die Kritik, sondern die Herabsetzung im Vordergrund steht314. Auch im Zusammenhang mit § 90a wurde zwar die insoweit ähnliche Auffassung vertreten, dass die Grenze der zulässigen Kritik überschritten sein kann, wenn „bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht“315. Ob die Grundsätze der Schmähkritik aber auch auf § 90a Anwendung finden sollen, wurde vom BVerfG aber offengelassen316. Es hat vielmehr betont, dass Schmähkritik in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage nur ausnahmsweise vorliegen wird317. In dem zu entscheidenden Fall rief der nach § 90a Verurteilte in einem Flugblatt anlässlich des sich zehn Jahre zuvor ereigneten „neonazistischen Bombenanschlages“ im Jahre 1980 zu einer „Mahnund Schutzwache“ vor dem Gelände des Münchener Oktoberfestes auf: „Kurz vor der Bundestagswahl [...] sollte durch Verbreitung von Angst und Schrecken der starke Mann herbeigebombt werden, einer der Deutschland wieder zu dem machen sollte, was Hitler auf seine Fahnen geschrieben hatte: ‘Ruhe und Ordnung‘ nach innen, Großdeutschland nach außen. Die Blutspuren waren von den Wasserwerfern noch nicht weggespült, da gab Franz Josef Strauß die Parole aus, bei den Tätern handle es sich um Linke aus der DDR. Eine ‘Panne’, die Strauß nicht ins Konzept paßte: Der blutdurchtränkte Ausweis Gundolf Köhlers, eines Mitglieds der neonazistischen Wehrsportgruppe Hoffmann, wurde gefunden. Was tut die bayerische Staatsregierung, was tut das Bundeskriminalamt? Man setzte eine Einzeltätertheorie in die Welt: Gundolf Köhler war ein Verrückter, er hat die Bombe allein fabriziert und geworfen. Politischer Hintergrund: Keiner...“318.
312 BVerfG NJW 2012, 1273 (1275). 313 BVerfG NJW 2012, 1273 (1274). Auch der BGH verlangt vor dem Hintergrund der Rspr. des BVerfG nunmehr die genauere Prüfung der Gefährdung des Bestandes der BRD, die Funktionsfähigkeit seiner staatlichen Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der BRD. Siehe: BGH NStZ 2012, 564. 314 BVerfGE 93, 266 (294). 315 BVerfG NJW 1999, 204 (206). 316 Hinweis bei: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 26 (Fn. 38). 317 Im Ergebnis Zurückverweisung an die Fachgerichte: BVerfG NJW 1999, 204 (206). 318 BVerfG NJW 1999, 204.
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2. Kunst Auch künstlerische Auseinandersetzungen mit Belangen des öffentlichen Lebens mit Relevanz für § 90a stehen regelmäßig in einem Spannungsverhältnis zu Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Anders als bei der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, die gemäß Art. 5 Abs. 2 einschränkbar ist, ist für die Freiheit der Kunst aber keine förmliche Verfassungsgrenze benannt. Das heißt zwar nicht, dass Kunst schrankenlos gewährleistet wird319. Der berühmte Ausspruch Tucholskys „Satire darf alles“ erfährt vielmehr eine Einschränkung in kollidierendem Verfassungsrecht, also in Grundrechten Dritter oder in anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern320. Doch ergeben sich – im Vergleich zur Meinungsäußerungsfreiheit – aus der schrankenrechtlich privilegierten Stellung der Kunstfreiheit und ihrer Wechselwirkung zum einschränkenden Strafrecht „weitergehende strafrechtliche Freiräume“ – etwa „in den Fällen, in denen die staatskritische Äußerung in der Gestalt eines Kunstwerkes vorgebracht wird“321. „Ihre jeweilige Grenze ist [...] durch Verfassungs- und Strafrechtsinterpretation zu ermitteln: Nicht jedes Strafrechtsgut, sondern nur ein solches, dem gleich- oder höherrangige Verfassungsrechtsgüter zugrunde liegen, rechtfertigt eine strafrecht322 liche Begrenzung der Kunstfreiheit.“
a) Kunstbegriff und Reichweite In Lehre und Rechtsprechung existieren unterschiedliche Begriffsumschreibungen für Kunst. In jüngerer Zeit setzt sich die Einsicht durch, dass eine nähere Begriffsbestimmung für Kunst nicht möglich sei323. Das BVerfG verwendet einen materiellen, einen formalen324 und einen offenen Kunstbegriff325 nebeneinander326. Im Strafrecht sollte aber nur ein täterfreundlicher, also ein weiter Kunstbegriff zugrundegelegt werden. So stellt Paeffgen darauf ab, ob das
Maunz / Dürig, GG, Art. 5 Abs. 3, Rn. 51. Vgl. Maunz / Dürig, GG, Art. 5 Abs. 3, Rn. 57. Roggemann, a.a.O., S. 941. Ebd. Maunz / Dürig, GG, Art. 5 Abs. 3, Rn. 22 ff. Beim formalen Kunstbegriff wird darauf abgestellt, ob das fragliche Werk durch einen kompetenten Dritten unter einen bestimmten Werktyp der Kunst (Malerei, Bildhauerei, Dichtung, Theater etc.) kategorisierbar ist. BVerfGE 67, 213 (226 f.). 325 Der offene Kunstbegriff sieht „das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung darin [...], daß es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt“. BVerfGE 67, 213 (227). 326 Vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 26
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fragliche Verhalten einem der Kunstbegriffe entspricht327. Laufhütte / Kuschel möchten es aber auch zulassen, wenn man zunächst von dem materiellen Kunstbegriff ausgeht328. Diese im Mephisto-Beschluss des BVerfG aufgestellte Begriffsbestimmung umschreibt Kunst wie folgt: „Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.“329
Zur Reichweite der Kunst gilt, dass Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG sowohl den Werkals auch den Wirkbereich der Kunst schützt330 und eine Niveaukontrolle nicht stattfindet331. Die Kunsteigenschaft soll nicht dadurch wegfallen, dass der Urheber keine ästhetischen oder politischen Zwecke, sondern finanzielle Interessen verfolgt oder nur handelt, um öffentlich Aufsehen zu erregen332.
b) Anwendungsgrundsätze für § 90a Für § 90a wird verlangt, dass das für den Tatbestand relevante Verhalten nicht isoliert, sondern im Wege einer Gesamtschau zu betrachten und danach zu entscheiden sei, ob die Herabwürdigungen bloße Übertreibungen, Entstellungen und Geschmacklosigkeiten darstellen oder ihnen ein darüber hinausgehendes Gewicht zukommt und sie dadurch nicht mehr durch die Kunstfreiheit gedeckt sind333. Ähnlich wie bei Meinungsäußerungen wird auch bei Vorliegen von Kunst verlangt, dass bei mehreren Interpretationsmöglichkeiten des Gesamtwerks die Strafbarkeit entfällt, wenn auch nur eine von ihnen die Grundwerte der Verfassung nicht in aggressiv kämpferischer Weise in Frage stellt334.
Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 26. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 86a, Rn. 27. BVerfGE 30, 173 ( 188 f.). Maunz / Dürig, GG, Art. 5 Abs. 3, Rn. 17 f.; BVerfGE 30, 189. Maunz / Dürig, GG, Art. 5 Abs. 3, Rn. 39; BVerwGE 23, 104 (105). Vgl. aber auch die relativierende, jüngere Rechtsprechung: BVerwG 39, 197 (207); ablehnend aber: Maunz / Dürig, ebd. 332 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 86a, Rn. 30. BVerfGE 82, 1 (6). 333 BGH NStZ 1998, 408; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 29; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 16; vgl. Steinberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90a, Rn. 19. 334 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 29. BVerfGE 81, 298 (307).
327 328 329 330 331
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Dritter Teil: Deutsches Recht
c) Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Verfassungsgütern Da die Kunstfreiheit nicht schrankenlos gewährleistet wird, verlangt die überwiegende Ansicht, dass bei Vorliegen von Kunst und tatbestandsmäßigem Verhalten eine Abwägung zwischen der Kunstfreiheit und den Verfassungsgütern erfolgt335. Dass § 90a Rechtsgüter mit Verfassungsrang schütze, wird überwiegend bejaht bzw. nicht ernsthaft in Frage gestellt336. Zumindest der Bestand der BRD und die freiheitlich demokratische Grundordnung werden vom Bundesverfassungsgericht als Rechtsgüter mit Verfassungsrang anerkannt, die mit der Kunstfreiheit in gleichwertigem Verhältnis stehen337. Das BVerfG ist der Auffassung, dass auch § 90a Abs. 1 Nr. 2 den Schutz verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechtsgüter bezwecke: „§ 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB [...] schützt die Flagge der Bundesrepublik Deutschland als staatliches Symbol. Dieser Schutz ist in der Verfassung begründet. Dies läßt sich allerdings weder unmittelbar noch ausschließlich aus Art. 22 GG folgern. Dessen normative Aussage beschränkt sich auf die Festlegung der Bundesfarben. Eine darüber hinausgehende Bedeutung kommt dieser Grundgesetzbestimmung jedoch insoweit zu, als sie das Recht des Staates voraussetzt, sich zu seiner Selbstdarstellung solcher Symbole zu bedienen.“338
Nach überwiegender Ansicht hat daher eine Verhältnismäßigkeitsprüfung stattzufinden, bei der ein verhältnismäßiger Ausgleich der gegenläufigen, in gleicher Weise verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Zweck ihrer Optimierung zu suchen ist339. Das BVerfG vertritt die Ansicht, dass die Kunstfreiheit eher zurückzutreten habe, wenn sie vorrangig in ihrem Wirkbereich berührt ist bzw. ein größeres Gewicht erlangen soll, je intensiver der Werkbereich betroffen ist340. Es betont, dass eine Einzelfallabwägung zu erfolgen habe und weder der Kunstfreiheit noch den durch § 90a geschützten Verfassungswerten von vornherein Vorrang eingeräumt werden darf341. In der 335 BVerfGE 30, 173 (193); BVerfG NJW 1990, 1982 (1883); BVerfG NJW 2001, 596 (596 f.). Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 31; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 17; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 26. 336 OLG Frankfurt NJW 1984, 1128 (1130). Vgl. Volk, a.a.O., S. 442 ff.; Würtenberger, a.a.O., S. 310 ff.; BVerfG JZ 1990, 638 (639) mit Anm. Gusy (640 f.); BVerfGE 81, 278 (293). 337 Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 34. BVerfG NJW 1972, 1934 (1937) (= BVerfGE 81, 278 [293 f.]). Siehe auch Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 132 ff. 338 BVerfG NJW 1990, 1982 (1983), (u.a.) m.N. bei Würtenberger, a.a.O., S. 309, 311. 339 BVerfGE 30, 173 (193); BVerfGE 81, 278 (292); BVerfG NJW 2001, 596 (596 f.). Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 31; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 26. 340 BVerfGE 77, 240 (254), BVerfG NJW 1988, 325 (328) mit Anm. Würkner; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 31; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 26; Henschel, Die Kunstfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG, S. 1942. 341 BVerfGE 81, 278 (297); BVerfGE 83, 130 (143); Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 31.
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Lehre gab es hingegen vereinzelt Ansätze für den Vorrang der Kunstfreiheit342. So möchte Roggemann in § 86 Abs. 3 einen analogiefähigen Rechtsgedanken zugunsten der Kunstfreiheit sehen: § 86 Abs. 3 stelle eine tatbestandsausschließende Wirkung343 für die Strafbarkeit der Herstellung und Verbreitung verfassungswidriger Propagandamittel auf, wenn das inkriminierte Werk oder die Handlung der Wissenschaft, der Forschung, der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient; dies soll auch bei denjenigen Tatmodalitäten des § 90a gelten, die „als Gefährdungsdelikte den Schutz abstrakter, abgeleiteter Gemeinschaftsrechtsgüter (Staat, Staatssymbole, Staatsorgane, verfassungsmäßige Ordnung) mittels Schutzes des Staatsansehens bezwecken“344. Auch Volk ist im Zweifel für die Kunstfreiheit: „[...] die Gewichte der Interessen und Schutzgüter im Einzelfall auszutarieren, steht nivellierenden Entscheidungen genereller Art entgegen. Der Kompromiß sollte darin bestehen, im Zweifel – es ist jener grundsätzliche, im Einzelfall schwer zu 345 behebende Zweifel – für die Kunst zu entscheiden.“
d) Beispiele Auf einige Beispiele mit künstlerischen Berührungspunkten wurde oben bereits eingegangen. Erwähnenswert ist auch die Entscheidung des BVerfG, eine Verurteilung der Gruppe „Slime“ nach § 90a wegen des Vorspielens des Liedes „Deutschland muss sterben“ während einer Demonstration aufzuheben: „(Ref.) Wo Faschisten und Multis das Land regiern, wo Leben und Umwelt keinen interessieren, wo alle Menschen ihr Recht verliern, da kann eigentlich nur noch eins passieren: Deutschland muss sterben, damit wir leben können (4x) Schwarz ist der Himmel und rot ist die Erde, stolz [richtig: gold] sind die Hände jener Bonzenschweine, doch der Bundesadler stürzt bald ab, denn Deutschland, wir tragen Dich zu Grab. (Ref.) Deutschland muss sterben, damit wir leben können (8x). Wo Raketen und Panzer den Frieden sichern, AKW’s und Computer das Leben verbessern, bewaffnete Roboter überall, doch Deutschland, wir bringen Dich zu Fall.
342 343 344 345
Sonnen für Vorrang der Kunstfreiheit: AK-StGB, § 90a, Rn. 35. Steinberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 86, Rn. 17. Roggemann, a.a.O., S. 941. Volk, Staatssymbole, S. 445. Zustimmend: Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 138.
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Dritter Teil: Deutsches Recht Deutschland muss sterben, damit wir leben können (8x). Deutschland verrecke, damit wir leben können, Deutschland!“346
Zur Begründung führt das BVerfG an, dass das verurteilende Gericht die künstlerische Qualität und den satirischen Gehalt des Liedes zu wenig gewürdigt habe und stützt sich dabei unter anderem auf einen Vergleich zu dem „Weberlied“ von Heinrich Heine von 1842, dem das Gericht „eine kaum weniger radikale und bittere Kritik an den Zeitumständen“ bescheinigt347. Im Gegensatz hierzu könne es sich jedoch anders verhalten, wenn ein inkriminiertes Lied im „Zusammenwirken mit den vom Angekl. über Lautsprecher verbreiteten Parolen [...] die im Lied enthaltenen groben Mißachtenskundgebungen verstärkt“348. Das LG Aachen entschied, dass das Stecken einer deutschen Bundesfahne in einen Haufen Pferdemist von der Kunstfreiheit gedeckt sein kann, wenn hiermit das Bewusstsein gegen provokatives Zeigen der Reichskriegsflagge geschärft werden soll349. In der Darstellung des Bundesadlers als Skelettvogel wurde wiederum eine durch Art. 5 GG gedeckte politische Karikatur gesehen350.
XI. Geschützte Rechtsgüter 1. Rechtsgüterauffassungen Dem Gesetz lässt sich nicht unmittelbar entnehmen, welche Rechtsgüter durch § 90a geschützt werden sollen. In Lehre und Rechtsprechung existieren unterschiedliche Rechtsgüterauffassungen. In der Vorschrift wird zwar überwiegend der Schutz des Ansehens (guter Ruf bzw. Geltung im Urteil der Mitmenschen351) der Bundesrepublik, der Bundesländer, der verfassungsmäßigen Ordnung und bestimmter Staatssymbole gegen Herabwürdigungen gesehen352. Da aber ein reiner Ehrenschutz des Staates vor dem „säkularisierten“ und „entmy-
346 347 348 349 350
Vgl. BVerfG NJW 2001, 596. BVerfG NJW 2001, 596 (597). BGH NStZ 1998, 408. LG Aachen NJW 1995, 894. LG Heidelberg, Beschluss v. 10.2.1993, Az. NStE Nr. 8 zu § 90a StGB; Hinw. bei: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 32. 351 Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 1, § 24, Rn. 2 („guter Ruf“). Für Roggemann: „Vorstellung von der real gegebenen Wertigkeit im Bewußtsein der Zeitgenossen“, a.a.O., S. 938. 352 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 1; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 2; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 2; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 1; Schroeder, Staatsverunglimpfung, S. 89 f.; vgl. Roggemann, a.a.O., S. 937; eingehend: Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 43 ff.; Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 14 ff., 16. Vgl. K.A. Fischer, Strafrechtliche Beurteilung von Werken der Kunst, S. 114 f. BVerfGE NJW 1978, 1043 (1045).
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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thifizierten“ Staatsverständnis353 und wohl auch vor der Verfassung keinen Bestand haben könnte354, rechtfertigt ein großer Teil des Schrifttums die Vorschrift mit den hinter der Ehre bzw. hinter dem Ansehen stehenden Rechtsgütern: „[Es] liegt doch auf der Hand, daß auch hinter der ‘Ehre’ von Staat und Verfassung viel ernstere Rechtsgüter stehen. Es ist zum einen das Ansehen von Staat und Verfassung. Dieses ist aber den Rechtsgütern Bestand des Staates und Verfassung vorgelagert, ist ihr Vorfeld. Das Ansehen insbesondere der Verfassung ist für deren Existenz lebensnotwendig. Mehr noch: da die Demokratie nicht auf Bajonetten ruht, sondern auf der Zustimmung ihrer Staatsbürger, kommen Angriffe auf diese 355 Zustimmung bereits einem Angriff auf die Existenz der Demokratie gleich.“
Dieser Ansatz findet sich bei einer Reihe von Autoren und auch in der Rechtsprechung wieder: Die Vorschrift soll den Bestand der Bundesrepublik, ihrer Länder und ihrer verfassungsmäßigen Ordnung gewährleisten356 und sich dabei – weit ins Vorfeld eingreifend – dem Ansehensschutz jener Schutzobjekte und anderer bedienen357. Denn dieser Bestand werde auch durch die straflose Hinnahme von herabsetzenden Tathandlungen gefährdet, die ein Klima der Nichtachtung des Staates und seiner Symbole verbreiten können358. Ein solcher Bestandsschutz lasse sich – so Steinmetz – einerseits aus der Qualifikation des § 90a Abs. 3 (bei Bestrebungen gegen den Bestand der BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze) und andererseits aus der systematischen Stellung der Vorschrift ableiten359. Auch Roggemann schreibt: „Der Staat, die Bundesrepublik, kann durch die Verletzung seines Ansehens gar nicht als solcher verletzt, sondern allenfalls in seinem Bestand, d.h. in seinen Institutionen, Funktionen, Funktionsträgern und Integrationsprozessen als eine Art integrales Gesamtobjekt mittelbar gefährdet werden durch Verweigerung der Akzeptanz von seiten seiner Staatsbürger, die ihn nicht weiter ‘mittragen’“360.
Dieses Rechtsgüterverständnis weicht insbesondere von den ansehensschützenden Vorschriften aus der Weimarer Republik und aus der frühen Phase der NS-Zeit ab. Diese ergingen größtenteils als Maßnahmen auf Grundlage von Art. 48 Abs. 2 WRV und bezweckten damit schon nach ihrer verfassungsrechtlichen Konzeption die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der öffentlichen SiPaeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 2; vgl. Krutzki, a.a.O., S. 299. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 2; vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 1. Schroeder, Staatsverunglimpfung, S. 90. Vgl. BVerfG NJW 2012, 1273 (1274). Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 1; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 2; Paeffgen, NKStGB, § 90a, Rn. 2; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 1; Roggemann, a.a.O., S. 938. 358 BGH NStZ 1998, 408; BGH NStZ 2000, 643 (643 f.); Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 1; M. Vormbaum, Anm. BVerfG JR 2009, 125 (128). 359 Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 1. 360 Roggemann, a.a.O., S. 938. Sonnen spricht von der „Zustimmung“ der Bürger zum Staat bzw. zur staatlichen Autorität, AK-StGB, § 90a, Rn. 1. 353 354 355 356 357
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Dritter Teil: Deutsches Recht
cherheit und Ordnung. Die Vorschriften erschienen vordergründig als Reaktion auf schon bestehende Gefährdungen des öffentlichen Friedens und mögen daher eine andere Qualität aufweisen als die heutigen Vorschriften zum Schutze des i.w.S. staatlichen Ansehens. Diese Frage verdient daher später noch einige Aufmerksamkeit361. Vereinzelt findet sich aber auch heute noch die Auffassung, dass § 90a als Rechtsgut (zumindest auch) den öffentlichen Frieden enthalte362. Nach der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG und dieser folgend ebenso des BGH soll zumindest bei § 90a Abs. 1 Nr. 1 die Schwelle der Rechtsgutsverletzung erst dann überschritten werden, wenn zumindest mittelbar der Bestand der Bundesrepublik Deutschland, die Funktionsfähigkeit ihrer staatlichen Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der BRD gefährdet wird363. Der Friedensschutz erscheint hier zumindest als ein Teilelement. Schroeder hingegen zieht eine Parallele zu § 166, der Beschimpfung des religiösen Bekenntnisses: Denn Verunglimpfungen von Staat und Verfassung würden von Menschen als Kränkung ihrer Ideale aufgefasst, gerade auch weil durch die Geschichte Deutschlands „ein besonderes Engagement an Staat und Verfassung“ und „eine besondere Empfindlichkeit für deren Anerkennung“ bestehe364. Hier drängt sich denn auch der Übergang zu den nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 erfassten Staatssymbolen – oder wie Schroeder / Maiwald betonen – Verfassungssymbolen365 auf, die ein „Wir-Gefühl“, einen „Verfassungspatriotismus“366 oder ein Staatsgefühl367 erfassen sollen. Paeffgen konstatiert, dass hinter alledem sich ein „zentraler Streit über das einer parlamentarischen Demokratie Gemäße, Notwendige und Würdige an Symbolik – und die Befriedigung von diesbezüglich verbreitet bestehenden volkspsychologischen Bedürfnissen“ verberge368. Im Sonderausschuss des Bundestages zur Großen Strafrechtsreform (BT-SondA) meinte der SPD-Abgeordnete Müller-Emmert, dass die Symbole des Staates „im Interesse der Erziehung des deutschen Volkes zur Demokratie“ unter besonderen Schutz gestellt werden und durch diesen Schutz daher die Demokratie selber geschützt werden solle369. Der Vorsitzende des BT-SondA Güde bemerkt, dass die Staatssymbole auctoritas et dignitas des
361 Siehe dazu unten: Neuntes Kapitel A). 362 Schroeder, a.a.O., S. 90; K.A. Fischer, a.a.O., S. 116 f.; eingehender: Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 90 ff. 363 BVerfG NJW 2�12, 1273 (1274); BGH NStZ 2012, 564. 364 Schroeder, a.a.O., S. 90. 365 Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 2, § 84, Rn. 69. 366 Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 2. 367 BVerfG NJW 1990, 1982 (1983); vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 14 m.w.N. 368 Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 2. 369 Müller-Emmert, BT-SondA-Prot., BT V, S. 975, 976. Hinw. bei: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 4.
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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Staates schützten370. Roggemann vertritt hingegen ein dynamisches Verständnis vom Ansehensschutz, denn er verbindet das Rechtsgut und die an der Auslegung des Rechtsgutes anknüpfende Frage nach dem zulässigen (straffreien) Maß an Staats- und Verfassungskritik mit der Variabilität gelebter politischer Realitäten: „‘Ansehen’ [...] [ist] keine konstante Größe, sondern dieses Ansehen [wird] in variabler Abhängigkeit von den Leistungen, Verhaltensweisen und gegebenenfalls Rechtsverletzungen und politischen Regelverstößen der staatlichen Funktionsträger und Verfassungsorgane gesehen [...]: Offenkundige und allgemein bekannte Fehlentwicklungen und Mißstände, insbesondere Rechtsverletzungen von Regierungsmitgliedern oder hochrangigen Beamten, aber auch Bruch von ‘Wahlversprechen’ und andere Fehlverhaltensweisen im vorrechtlichen Raum, erweitern dementsprechend den Spielraum zulässiger, tiefgreifender, gegebenenfalls als ‘verletzend’ empfundener Staats- und Verfassungskritik, gerade auch in scharf satirischer 371 Form.“
2. Verfassungskonforme Auslegung Die Vorfeldstrafbarkeit und Ausgestaltung als abstraktes Gefährdungsdelikt372 haben teilweise noch innerhalb der Diskussion um die geschützten Rechtsgüter zu der Forderung einer verfassungskonformen Auslegung des § 90a geführt: Die Vorschrift sei nicht verfassungswidrig373, sondern verfassungskonform auszulegen374. Dies ist zum Teil auf Kritik gestoßen: Insbesondere Schroeder kritisiert die Allgemeinheit der Forderung. Er möchte aufgrund der Wechselwirkungslehre zwar eine Prüfung vornehmen, nicht aber per se Abstriche am Wortlaut des § 90a zulassen, denn das würde bedeuten, „daß die Sorge des Gesetzgebers für eine Verfassungsmäßigkeit der von ihm erlassenen Straftatbestände schlecht belohnt würde. Er müßte jedesmal noch einen zusätzlichen ‘Abschlag’ hinnehmen, was im Ergebnis geradezu zu der unsinnigen Forderung führen würde, daß der Gesetzgeber bei dem Erlaß seiner Tatbestände von vornherein den ‘Abschlag’ einkalkuliert und damit zunächst einmal verfassungswidrige Gesetze erläßt.“375
Schroeder spricht sich vielmehr für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit aus und betont, dass der Gesetzgeber bei den Beratungen zum (1.) StÄG 370 Güde, BT-SondA-Prot., BT V, S. 976. Hinw. bei: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 15. 371 Roggemann, a.a.O., S. 937. 372 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 1; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 2; Roggemann, a.a.O., S. 941. 373 BVerfGE 81, 278 (290 ff.); BVerfG NJW 2009, 908 (908 f.) (= BVerfG JR 2009, 125 mit Anm. M. Vormbaum); vgl. Burkiczak, Staatssymbole, S. 51; vgl. Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 121, 227 ff. 374 Vgl. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 13 ff.; vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 24 ff.; krit. Schroeder, a.a.O. , S. 92; vgl. Roggemann, a.a.O., S. 941 f.; vgl. Krutzki, a.a.O., S. 303 f. 375 Schroeder, a.a.O., S. 92.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
1951 den Ausdruck „Verunglimpfen“ (Abs. 1 Nr. 1) deshalb durch „Beschimpfen und böswillig Verächtlichmachen“ ersetzt habe, um eine progressive Kritik aus dem Tatbestand herauszunehmen376.
XII. Verfolgungsstatistische Entwicklungen 18 16 14 12 10 8 6 4
1960
1959
1958
1957
1956
1955
0
1954
2
Abb. 13: Verurteilungen (l.), Freisprüche (m.) und die Einstellungen (r.) nach § 96 StGB von 1954 bis 1960377
Als Veröffentlichung der „Statistik der Bundesrepublik Deutschland“ ergibt sich aus den Zahlen zu den „Abgeurteilten und Verurteilten“ für die Jahre 1954 bis 1959 und aus der Statistik zur „Rechtspflege“ für das Jahr 1960 eine relativ niedrige Anwendungsrelevanz für § 96. Im Zeitraum von 1954 bis 1960 ergehen aufgrund der Vorschrift durchschnittlich ca. 9 Verurteilungen, weniger als eine Einstellung und weniger als 2 Freisprüche pro Jahr.
376 Ebd. m.w.N. Kritisch: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 58. 377 Siehe Anhang Nr. 2.
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Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
18 16 14 12 10 8 6 4
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
0
1995
2
Abb. 14: Verurteilungen (l.), Freisprüche (m.) und die Einstellungen (r.) nach § 90a StGB von 1995 bis 2009378
Aus den Off-Site-Files der Strafverfolgungsstatistik ergibt sich ein vergleichbares Bild für § 90a. In einem Zeitraum von 15 Jahren ergehen im Schnitt weniger als 9 Verurteilungen und ca. 5 Einstellungen jährlich. In nur acht Anwendungsjahren wurde nach § 90a dagegen freigesprochen. Die höchste Zahl von in einem Jahr ergangenen Verurteilungen bildet das Jahr 1996 mit insgesamt 17 Verurteilungen.
E) Der Schutz der Verfassungsorgane nach § 90b I. Gesetzgebungsentwicklung 1. Erstfassung des § 97 Wie § 90a (§ 96) ist auch § 90b (ursprünglich als § 97) durch das (1.) StÄG in das StGB eingefügt worden. Die Vorschrift fand im zweiten Abschnitt des Besonderen Teils mit dem Titel „Staatsgefährdung“ Platz. In dieser Fassung lautet die Vorschrift: „Wer in der Absicht, Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen einen der in § 88 bezeichneten Verfassungsgrundsätze zu fördern, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften, Schallaufnahmen, Abbildungen oder Darstellungen ein Gesetzgebungsorgan, die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes oder eines Landes insgesamt 378 Siehe Anhang Nr. 2.
238
Dritter Teil: Deutsches Recht oder in einem ihrer Mitglieder als verfassungsmäßiges Organ in einer das Ansehen des Staates gefährdenden Weise verunglimpft oder dazu auffordert, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft, soweit nicht in anderen Vorschriften eine schwerere Strafe angedroht ist. Die Tat wird nur mit Ermächtigung des betroffenen Staatsorgans oder Mitglieds verfolgt.“379
2. (8.) StÄG 1968 Durch das (8.) StÄG 1968 wurde § 97 in § 90b umbeziffert und einigen Änderungen unterzogen. Die Schallaufnahmen wurden durch „Tonträger“ ersetzt. Die „Mitglieder als verfassungsmäßiges Organ“ wurden durch die „Mitglieder in dieser [verfassungsorganschaftlichen] Eigenschaft“ ersetzt380. Wie beim § 90a wurde auch im § 90b die Tathandlungsvariante des Aufforderns gestrichen, so dass allenfalls noch § 111 Anwendung finden konnte. Die in subjektiver Hinsicht geforderte staatsgefährdende Absicht des § 97 Abs. 1381 wurde durch ein aus objektiven und subjektiven Merkmalen bestehendes Tatbestandselement ersetzt. Hiernach sollte die Tathandlung mit dem absichtlichen Einsetzen für Bestrebungen gegen den Bestand der BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze verbunden sein. Im Regierungsentwurf, in dem anstelle von „Einsetzen“ noch von „Sich-in-den-Dienst-Stellen“ die Rede ist und der insoweit auf den E 1962382 Bezug nimmt, heißt es: „Nach dem Vorbild des E 1962 gestaltet der Entwurf das in einer Reihe von Strafvorschriften des geltenden Rechts [...] enthaltende Merkmal der staatsgefährdenden Absicht [...] um. Es wird dahin umschrieben, daß der Täter durch die Tat Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze verfolgt oder sich in ihren Dienst stellt. Im Begriff des Verfolgens ist bereits die finale Zielrichtung in dem Sinne enthalten, daß es dem Täter darauf ankommen muß, die Bestrebungen zum Erfolg zu führen oder ihm näher zu bringen. Er handelt insoweit ‘absichtlich’. Im Gegensatz zu den einschlägigen Bestimmungen des E 1962 [...] begnügt sich der Entwurf daher damit, Absicht [...] nur auf die Tathandlung des ‘Sich-in-den-Dienst-Stellens’ zu beziehen.“383
Zwar sollte sich das Sich-in-den-Dienst-Stellen genauso wenig wie das Verfolgen von Bestrebungen gegen die BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze durchsetzen. Doch kann man bereits in der Begründung des Regierungsentwurfes erkennen, dass eine Objektivierung der vorher rein subjektiven staatsgefährdenden Absicht beabsichtigt war. Ferner blieb es bei Gefängnis nicht unter drei Monaten. Die Formulierung „soweit nicht in anderen Vorschriften eine 379 BGBl. 1951 I, 739 (742). 380 Dazu Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 3. 381 „Absicht, Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen einen der in § 88 bezeichneten Verfassungsgrundsätze zu fördern, [...]“ 382 Siehe etwa: § 379 E 1962; Bundestagsdrucksache IV/650, 75. 383 Bundestagsdrucksache V/898, 20.
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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schwerere Strafe angedroht ist“ fiel weg. Absatz 2 blieb erhalten, wobei das betroffene „Staatsorgan“ durch „Verfassungsorgan“ ersetzt wurde.
3. Änderungen durch (1.) StRG 1969, (4.) StRG 1973 und EGStGB Wie bereits erwähnt, wurde mit dem (1.) Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juli 1969384 die Differenzierung zwischen Gefängnis und Zuchthaus aufgehoben und die einheitliche Bezeichnung der Freiheitsstrafe eingeführt. So heißt es im § 90b nicht länger Gefängnis nicht unter drei Monaten385, sondern Freiheitsstrafe von drei Monaten bis fünf Jahren. Durch das (4.) Strafrechtsreformgesetz vom 23. November 1973386 wurde § 90b um die Verbreitungsvariante der Bildträger ergänzt, so dass nunmehr die Formulierung „Ton- und Bildträger“ an die Stelle der Tonträger trat387. Das EGStGB vom 2. März 1974388 verlieh § 90b eine eigene Überschrift mit dem Titel „Verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen“389. Durch das EGStGB erhielt § 90b den Verweis auf § 11 Abs. 3390, der in der Fassung vom 22. Juli 1997391 um die Datenspeicher392 erweitert wurde. § 90b blieb hiernach unverändert.
II. Tatbestandsmäßigkeit 1. Schutzobjekte § 90b Abs. 1 soll bestimmte Verfassungsorgane – und zwar die Gesetzgebungsorgane, die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes oder eines Landes oder eines ihrer Mitglieder in dieser Eigenschaft – vor Verunglimpfungen schützen.
a) Institutioneller Schutzumfang Zum institutionellen Schutz des § 90a Abs. 1 gehört zunächst der Schutz der Gesetzgebungsorgane des Bundes oder eines Landes. Dazu sind der Bundestag (Art. 38–48 GG), der Bundesrat (Art. 50–53 GG) und die Länderparlamente – in Bayern früher bis 1999 auch der Bayerische Senat, in Hamburg und Bre384 BGBl. I, 645. 385 Die Obergrenze des Strafrahmens ergab sich aus dem damaligen § 16 Abs. 1, der den Rahmen der Gefängnisstrafe von einem Tag bis fünf Jahre begrenzte. 386 BGBl. I, 1725. 387 Art. 1 Nr. 4 (4.) StRG 1973, BGBl. I, 1725. 388 BGBl. I, 469. 389 Art. 207 EGStGB; BGBl. I, 469 (500). 390 Art. 19 Nr. 11 EGStGB; BGBl. I, 469 (479). 391 Geändert durch das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz (IuKDG); BGBl. I, 1870. 392 Siehe Art. 4 Nr. 1 IuKDG; BGBl. I, 1870 (1876).
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Dritter Teil: Deutsches Recht
men deren Bürgerschaften und in Berlin das Abgeordnetenhaus393 – zu zählen394. Auch geschützt sind die Bundesregierung, die Landesregierungen395 und die Senate der Stadtstaaten396 sowie das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsgerichte der Länder397.
b) Personeller Schutzumfang Zum personellen Schutzumfang ist der Schutz der Mitglieder der oben bezeichneten Verfassungsorgane zu zählen. Sie werden jedoch nur in dieser Eigenschaft, also – im Gegensatz zu der Verunglimpfung des Bundespräsidenten nach § 90 – nicht als Privatperson geschützt398. Während vor dem (8.) StÄG 1968 noch erforderlich war, dass sich ein Angriff gegen ein Mitglied als verfassungsmäßiges Organ richtet, – also in dem Angriff auf das Mitglied zugleich ein Angriff auf die Körperschaft im Ganzen liegt – reicht es nunmehr aus, dass allein das Mitglied betroffen ist399. Laufhütte / Kuschel weisen darauf hin, dass zwar beides „meist zusammentreffen“ wird, die derzeitige Fassung jedenfalls nicht so auszulegen ist, dass es genügt, wenn dieser sich lediglich auf die Eigenschaft als „Privatmann oder Politiker“ beschränkt400.
2. Tathandlung a) Das Ansehen des Staates gefährdende Verunglimpfung Die Tathandlung des § 90b besteht in der Verunglimpfung der Schutzobjekte. Die Verunglimpfung erfordert eine nach Form, Inhalt, Begleitumständen oder Beweggrund gewichtige Ehrenkränkung401. Geringere, unwesentliche Entglei-
393 Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 4; Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 9. 394 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 3; vgl. Fischer, StGB, § 105, Rn. 2; Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 4; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 4; Sonnen, AKStGB, § 90b, Rn. 9. 395 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 3; Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 4; Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 4. 396 Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 9. 397 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 3; Fischer, StGB, § 90b, Rn. 2; Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 4; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 4; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90b, Rn. 2; Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 10. 398 BGHSt 8, 191 (193). Siehe ferner auch: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 3; siehe auch: Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 4; Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 5; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90b, Rn. 2; siehe auch: Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 10. 399 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 3; Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 10. 400 Ebd. 401 BGHSt 12, 364 (366); BGHSt 16, 338 (339); Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 4; Fischer, StGB, § 90, Rn. 2; Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 5; Steinmetz, MKStGB, § 90, Rn. 5; Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 12.
Achtes Kapitel §§ 90a 90b §§ 96 97 StGB
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Dritter Teil: Deutsches Recht
Das LG Bamberg sah in der Bezeichnung der Bundesregierung als „Rasselbande“, „Verbrecherbande“ und „Lügnerpack“ eine tatbestandsmäßige Verunglimpfung nach dem damaligen § 97413. Der BGH sah in einem Artikel eine tatbestandsmäßige Handlung, in dem der damalige Bundesverteidigungsminister Strauß für ein Manöverunglück verantwortlich gemacht wurde: „Wir meinen jenen Mann, der ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Rücksicht auf jegliche allgemein gültigen Sicherheitsmaßnahmen die Bundesarmee übereilig aus dem Boden stampfte. Wir meinen Herrn Bundesminister S. In seinem Drang, die Politik der Stärke mit einem Dutzend Divisionen und mit der Wehrpflicht zu forcieren und zu verhärten, mißachtete S. sämtliche realen Voraussetzungen. Bedenkenlos lieferte er unsere Jugend unfertigen und manchmal auch zweifelhaft erscheinenden Ausbildern aus, nur um den von den amerikanischen Nato-Herren festgesetzten Termin zur Aufstellung deutscher Nato-Kontingente einhalten zu können. Diesem hastigen Treiben und der maßlosen Stärkepolitik fielen an der Iller 414 15 junge Männer zum Opfer“ .
b) Wahrheitsbeweis Auch für § 90b wird gefordert, den Wahrheitsbeweis bei Tatsachenbehauptungen zuzulassen415. Das bedeutet, dass entsprechend § 186 der Wahrheitsbeweis geführt werden kann; gelingt dies, kann sich ein tatbestandsmäßiges Handeln allenfalls noch aus der Form der Äußerung ergeben416. Dies ist vor dem Hintergrund der jüngeren Rechtsprechung des BGH417 konsequent.
III. Öffentlichkeit Die Verunglimpfung muss – wie bei § 90a – öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) erfolgen418.
IV. Subjektiver Tatbestand Hinsichtlich aller Tatumstände des § 90b Abs. 1 ist Eventualvorsatz erforderlich419. Durch seine Verunglimpfung muss sich der Täter ferner für Bestrebungen Dritter gegen den Bestand der BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzen420. Dieser Einsatz erfordert Absicht: Während die staats- und verfas413 LG Bamberg NJW 1953, 675. 414 BGHSt 12, 364 (365). 415 Siehe schon: Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 12; Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 5; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90b, Rn. 3 mit Verw. auf 90, Rn. 2. 416 Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 19. 417 BGH NJW 1961, 1932 (1933); nun: BGH NStZ 2000, 643 (644). 418 S.o. unter D) IV. 419 Wagner, BGH GA 1961, 21 (Nr. 2 zu § 97); Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 7; Fischer, StGB, § 90b, Rn. 4; Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 9; Steinmetz, MKStGB, § 90b, Rn. 9; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90b, Rn. 6. 420 Siehe oben: D) VI.
Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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sungsfeindliche Absicht bei § 90a im Rahmen des Qualifikationstatbestandes (Abs. 3) verlangt wurde, ist sie hier notwendiges subjektives Tatbestandsmerkmal421. Der BGH trennt die Tathandlung von den Bestrebungen, so dass sich etwa aus der verunglimpfenden Schrift nicht gleichzeitig der Einsatz für die oben bezeichneten Bestrebungen ergeben muss422 und das Gericht bei der Ermittlung der Absicht des Täters beispielsweise nicht auf den Inhalt von ihm hergestellter oder verbreiteter Schriften beschränkt ist423. Es soll ausreichen, wenn der Täter die verunglimpfende Schrift als Mittel zur Verfolgung der verfassungsfeindlichen Ziele einsetzt424. Auch das OLG Düsseldorf vertritt die Auffassung, dass die Absicht nicht in der konkreten Schrift zu Tage treten müsse, sondern eine Gesamtbetrachtung maßgeblich sei: „Bei der Beurteilung der mit dem Flugblatt verfolgten Bestrebungen kann dessen Inhalt nicht isoliert gesehen werden. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, daß mit anderen Ausgaben der ‘Kommunistischen Volkszeitung’ und sonstigen Aktivitäten des KBW [Kommunistischen Bundes Westdeutschland] möglicherweise dasselbe verfassungsfeindliche Gesamtziel verfolgt wird [...]. Erst eine Gesamtbetrachtung aller Einzelaktionen läßt einen zuverlässigen Schluß auf die Bedeutung der den Gegenstand dieses Verfahrens bildenden Schrift zu. In diesem Zusammenhang bildet bereits das im September 1977 verteilte frühere Flugblatt mit ähnlichem Inhalt ein wichtiges Indiz.“425
Auf der anderen Seite betont das Gericht aber auch, dass die Absicht der Tathandlung zugrunde liegen müsse, was sich aus der Formulierung „dadurch“ ergebe426. Daher reiche die Mitgliedschaft in einer Vereinigung nicht aus, die „allgemein das Ziel verfolgt, die geltende Verfassung abzuschaffen“; vielmehr müsse sich konkret feststellen lassen, dass einer bestimmten, von einem Mitglied der Vereinigung „durchgeführten Aktion – wie hier dem Druck und der Verteilung von Flugblättern – unmittelbar verfassungsfeindliche Bestrebungen zugrunde liegen“427.
421 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 7; vgl. Fischer, StGB, § 90b, Rn. 4; vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 9; Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 9. Kritisch: Roggemann, a.a.O., S. 938 f. 422 BGHSt 29, 159 (160 f.). Maurach / Schroeder / Maiwald kritisieren allerdings die Formulierung des BGH, der Einsatz brauche sich „nicht bereits aus der Tathandlung selbst“ ergeben, a.a.O., Rn. 64 (Hervorhebungen diesseits). 423 Wagner, BGH GA 1961, 21 (Nr. 4 zu § 97); Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 7; Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 9; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 9. 424 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 7. 425 OLG Düsseldorf NJW 1980, 603 (604). 426 Ebd. 427 Ebd.
Dritter Teil Deutsches Recht
V Rechtswidrigkeit und Schuld
VI Meinungsäußerungs und Kunstfreiheit
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Achtes Kapitel: §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB
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Gegenstand gerichtlicher Beurteilung sein kann437. Laufhütte / Kuschel nehmen diesen Gedanken auch bei der Kritik an den in § 90b bezeichneten Verfassungsorganen oder deren Entscheidungen, einschließlich der Entscheidungen der Verfassungsgerichte, an438. Insgesamt sei der Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG besondere Beachtung zu schenken439. Welche der zu § 90a durch Lehre und Rechtsprechung erarbeiteten Grundsätze auch auf § 90b Anwendung finden, lässt sich jedoch nicht abschließend feststellen. Laufhütte / Kuschel betonen zumindest, dass es von den Umständen des Einzelfalls abhänge, wann eine von der Meinungsäußerungsfreiheit nicht mehr gedeckte Schmähung eines Verfassungsorgans oder eines seiner Mitglieder vorliegt440. Roggemann möchte bei Vorliegen von Kunst eine mögliche Rechtfertigung nach §§ 86 Abs. 3, 193 annehmen441.
VII. Geschützte Rechtsgüter Ähnlich wie bei § 90a, wird auch bei § 90b, das „eigentlich“ geschützte Rechtsgut im Bestand der Bundesrepublik Deutschland und der verfassungsmäßigen Ordnung gesehen, soweit diese sich in § 92 Abs. 2 genannten Verfassungsgrundsätze Ausdruck wiederfindet442. Während der Bestandsschutz bei § 90a (auch) aus der Qualifikation des § 90a Abs. 3 (bei Bestrebungen gegen den Bestand der BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze) und aus der systematischen Stellung der Vorschrift abgeleitet wird443, tritt diese Ausrichtung besonders durch die im Tatbestand des § 90b Abs. 1 geforderte Absicht, sich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einzusetzen, in Erscheinung444. Dass – wenngleich auf den Rahmen dieses Bestandsschutzes beschränkt445 – § 90b ebenfalls das Ansehen des Staates durch den Schutz bestimmter Verfassungsorgane und ihrer Mitglieder bewahren soll, zeigt sich wiederum deutlich in der nach dem Tatbestand erforderlichen Gefährdung für das Ansehen des BGH JZ 1963, 402 (403), Hinw. bei: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 4. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 4. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 4. Vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 5. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 4. Roggemann, a.a.O., S. 941 f. Vgl. BGH StV 1982, 218 (218 f.) („dort Schutz des demokratischen Rechtsstaates“); Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 1; vgl. Fischer, StGB, § 90b, Rn. 1 („staatliche Ordnung der Bundesrepublik“); Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 2; Steinmetz, MKStGB, § 90b, Rn. 1. 443 Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 1. 444 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 1; Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 1. 445 Vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 1. 437 438 439 440 441 442
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Dritter Teil: Deutsches Recht
Staates446, also in der Gestaltung der Vorschrift als abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt447. Das Mitglied des Bundesjustizministeriums Krauth erklärte im BT-SondA, dass Verunglimpfungen der den Staat repräsentierenden Organe „zu den typischen Methoden des Angriffs verfassungsfeindlicher Kräfte gehören“ und dass diese versuchten, „die Treue zur Verfassung und die Bereitschaft zu ihrer Verteidigung zu untergraben“448.
. Verfolgungsstatistische Entwicklungen Eine noch niedrigere Anwendungsrelevanz als § 90a weist § 90b auf. Zwischen 1995 und 2009 ergehen – in den Jahren 1998, 2001, 2002 und 2007 – lediglich 6 Verurteilungen und – im Jahre 1995 – eine Einstellung449. Für den Zeitraum vor 1995450 wurden keine nichtaggregierten Daten veröffentlicht451.
446 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 1; vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90b, Rn. 2; vgl. Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 1. Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 5. 447 Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 2. Für Sonnen konkrete Gefährdung erforderlich, AKStGB, § 90b, Rn. 13. Siehe auch: Fischer, StGB, § 90b, Rn. 3; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90b, Rn. 3; Kühl, Lack/Kü-StGB, § 90b, Rn. 3. 448 Krauth, BT-SondA-Prot., BT V, S. 960. Hinweis bei: Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 1. 449 Siehe Anhang Nr. 2. 450 Im Gegensatz zu den für § 90a ermittelten Statistiken wurde § 90b (§ 97) von Beginn der statistischen Erfassung an (1950) lediglich in aggregierter Form, d.h. zusammen mit anderen Straftatbeständen erfasst. 451 Siehe aber Daten bei: Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 6. Die Zahl der Verurteilungen betrug danach im Jahr 1957 = 3, 1959 = 4, 1961 = 23 und 1963 = 7.
A Vorläufer I Vom Institutionenschutz zum abstrakten Schutz des Staates
konstitutioneller Staat Weimarer Zeit Institutionen Staats
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Winston Churchill Voltaire
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Dritter Teil Deutsches Recht
II Von der Tatsachenverbreitung zur Beschimpfung Herabwürdigung und Verächtlichmachung
III Rechtsgüterschwerpunkte schwer £
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Neuntes Kapitel: Würdigung
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punkte zugrunde. Dies wird – wie bereits oben ausgeführt – teilweise dadurch untermauert, dass einige Vorschriften der Weimarer und NS-Zeit auf Grundlage des Art. 48 Abs. 2 WRV ergingen und dadurch schon nach der verfassungsrechtlichen Vorgabe vordergründig zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dienen sollten. Die Republikschutzgesetze von 1922 und 1930 ergingen zwar nicht auf Grundlage des Art. 48 Abs. 2 WRV, sind aber aus der den Gesetzen vorangehenden Notverordnungswelle erwachsen und daher ebenfalls ein Teil dieser allgemeinen gesetzgeberischen Zweckorientierung9. Dass dieser Umstand einige praktische Bedeutung hatte, lässt sich besonders deutlich an der im Verhältnis zu den im Hauptstrafrecht aufgeführten und i.w.S. vergleichbaren Vorschriften (§§ 131, 135 RStGB) gesteigerten Relevanz der Notstandsvorschriften veranschaulichen. So wurde nach (§ 8 RepSchG 1922), § 5 RepSchG 1930 und § 134a relativ häufig angeklagt und verurteilt10. Diese Vorschriften, die auch in der Anfangsphase der NS-Zeit auf Grundlage des Art. 48 Abs. 2 WRV – wie etwa in Gestalt der VolksSchutzVO 1933 – ergingen, stellen gewisserweise gesetzgeberische Reaktionen auf schon bestehende und teilweise freilich bedrohliche Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Diese akuten Gefährdungen mussten zwar nicht unbedingt aus ansehensgefährdenden Schriften oder öffentlichen Äußerungen gegen den Staat heraus entstanden sein, doch glaubte man sie offenbar auch dadurch unter Kontrolle bringen zu müssen, indem man den öffentlichen Raum der Meinungskundgaben strafrechtlich regulierte. Aus ähnlichen Erwägungen sind auch die frühen Vorschriften des Pressestrafrechts ergangen: Die mit der Prüfung der preußischen PresseVO 1849 beauftragte Kommission sah in § 18 eine Schranke für die „täglich klar hervortretende Tendenz eines Theiles der öffentlichen Blätter [...] durch stets wiederkehrende Schmähungen und Verhöhnungen aller Einrichtungen des Staates, nicht blos diese selbst anzugreifen, sondern überhaupt alle gesetzliche Autorität zu vernichten und dadurch jede Grundlage für das Staatsleben und dessen 11 gedeihliche Entwicklung zu entfernen“
gerichtet ist. Zwar sind die §§ 131, 135 RStGB im siebten Abschnitt „Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche Ordnung“ aufgeführt. Im Gegensatz zu der reaktiv-repressiven Ausrichtung bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung treten die §§ 131, 135 RStGB – zwar vergleichbare Handlungsweisen unter Strafandrohung stellend – tendenziell aber eher als Reservevorschriften in Erscheinung. Hier steht als Schutzausrichtung vor dem Hintergrund akuter Gefährdungsmomente also nicht die Wiederherstellung der öf9 10 11
Vgl. oben: Siebtes Kapitel, E) I. Siehe oben: Siebtes Kapitel, E) II. 2., III. 3. und IV. 2. c). Siehe auch Anhang Nr. 2. Drucks. II. Kammer 1849–50/524, 17. Hinw. bei: Schubert, Kodifikationsgeschichte, Bd. 2, S. 116.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
fentlichen Sicherheit und Ordnung im Vordergrund. Sie fungieren vielmehr als Vorschriften mit präventiv-repressiver Ausrichtung und sind dem Ansehensschutz (staatlicher Einrichtungen oder des Staates selbst) näher. Denn nach der Logik des Gesetzgebers ist bei bestehenden Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung schon das Ansehen des Staates verletzt worden, die Autorität des Staates also bereits in Frage gestellt, weshalb der strafrechtliche Ansehensschutz des Staates auch immer stets als Vorfeldbestandsschutz des Staates konzipiert ist. Wenn im Schrifttum nun die Annahme geäußert wird, dass die §§ 90a, 90b rechtsgütertechnisch dem öffentlichen Frieden dienen, dann ist dies zwar durchaus richtig12. Denn diese Aussage lässt sich nach dem Gesagten also schon relativ klar durch die Tatsache stützen, dass einige Vorschriften aus den Vorläuferrechtsordnungen im Hinblick auf Wortlaut klare Parallelen mit den §§ 90a, 90b aufweisen und ihrer systematischen Stellung nach dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dienen. Genauer ist aber, dass die §§ 90a, 90b auch dem öffentlichen Frieden dienen, und zwar präventiv durch Vorfeldstrafbarkeit bzw. Vorfeldschutz für das Ansehen des Staates und der Autorität. Das bedeutet jedoch zugleich, dass der Schwerpunkt der Rechtsgüterkonzeption bei den §§ 90a, 90b nicht im Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegt, da diese allgemeinen Rechtsgüter durch die speziellere Schutzausrichtung – dem Ansehensschutz staatlicher Institutionen und des Staates – verdrängt wird. Dies bestätigt sich auch durch die jüngste Rechtsprechung des BVerfG, nach der die Schwelle der Rechtsgutsverletzung im Sinne des § 90a Abs. 1 Nr. 1 erst überschritten sein soll, „wenn auf Grund der konkreten Art und Weise der Meinungsäußerung der Staat dermaßen verunglimpft wird, dass dies zumindest mittelbar geeignet erscheint, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, die Funktionsfähigkeit seiner staatlichen Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden [...]. Dies wäre bei entsprechender Form der Meinungsäußerung etwa denkbar, wenn der Bundesrepublik Deutschland jegliche Legitimation abgesprochen würde und dazu aufgerufen würde, sie zu ersetzen.“13
Zwar erwähnt das Gericht den Friedensschutzaspekt ausdrücklich; er ist hier aber lediglich ein Teilelement der allgemeinen Rechtsgüterausrichtung der Staatsschutzdelikte, welcher darin bestehe, „den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Länder und ihrer verfassungsgemäßen Ordnung zu gewährleisten und zu erhalten“14. Die Vorläufer mit der vordergründig friedensschützenden Ausrichtung – insbesondere die Republikschutzgesetze von 1922 und 1930 bzw. § 134a, der durch die Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens von 1932 in das StGB Eingang fand – mögen zwar, wie unten zu zeigen sein wird, Einfluss auf die Staatsschutzgesetzgebung in der noch jungen BRD 12 13 14
Vgl. oben: Siebtes Kapitel, D) XI. und E) VIII. BVerfG NJW 2012, 1273 (1274) (Hervorhebungen diesseits). BVerfG NJW 2012, 1273 (1274).
Neuntes Kapitel: Würdigung
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genommen haben15. Im fortgeschritteneren Entwicklungsstadium der BRD hatte sich aber die Intention des Gesetzgebers geändert und so war es nicht mehr der Friedensschutz, der die Strafgesetzgebung rechtsgütertechnisch prägen sollte, da keine akute Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorlag, wie etwa noch in der Endphase der Weimarer Republik. Vielmehr änderte sich die gesetzgeberische Zweckausrichtung zur Aufnahme der §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) in das StGB – und zwar zu den oben skizzierten präventivrepressiven Erwägungen. Dies ergibt sich schließlich auch aus der Begründung zum Regierungsentwurf 1950, der als (1.) StÄG 1951 in Kraft treten sollte: „Die demokratische Grundordnung ist noch [...] Angriffen aus dem Lager der unbelehrbaren verbrecherischen Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie ausgesetzt. Bei der angespannten politischen und wirtschaftlichen Situation Europas und bei der Übervölkerung Deutschlands muß mit Gruppen neuer verblendeter Gegner gerechnet werden. Der freiheitlichen demokratischen Grundordnung können auch aus den Reihen der demokratischen Parteien Gefahren erwachsen, wenn 16 politische Leidenschaften den Blick trüben und zur Intoleranz führen.“
B) Entwicklungstendenzen I. Gesetzgebung Bei Mitberücksichtigung der Vorläufer der §§ 90a, 90b kann eine stetige Erweiterung des strafrechtlichen Ansehensschutzes des Staates beobachtet werden. Während dieser anfänglich noch auf das Pressestrafrecht beschränkt war, hielt der Schutz von Staatseinrichtungen, Anordnungen der Obrigkeit und Hoheitszeichen vor i.w.S. Herabwürdigungen bzw. vor Realinjurien Einzug in das prStGB 1851 und von dort aus in das RStGB. Zu den §§ 131, 135 RStGB gesellten sich nach Gründung der Weimarer Republik in den Republikschutzgesetzen von 1922 und 1930 die Schutzobjekte der verfassungsmäßig festgestellten republikanischen Staatsform und die Reichs- und Landesfarben. Während die Republikschutzgesetze aber noch befristet waren, sollte der im Dezember 1932 eingeführte § 134a den Ansehensschutz des Reiches und der Länder, der Verfassung, der Farben und Flaggen und der deutschen Wehrmacht in das StGB bringen. Dem folgten in der Zeit der NS-Herrschaft zahlreiche Variationen des Ansehensschutzes für das Einparteienregime. So führte § 134b in das StGB den Ansehensschutz für die NSDAP selbst ein und erfasste damit auch ihre Gliederungen, Hoheitszeichen, Standarten oder Fahnen und Abzeichen oder Auszeichnungen17. Zahlreiche Nebengesetze flankierten die Expansion 15 16 17
Siehe unten: B) I. 2. Bundestagsdrucksache I/1307, 28. In der amtl. Begr. heißt es dazu: „Eine derartige Vorschrift bringt zunächst zusammen mit dem bisherigen § 134a die Einheit von Partei und Staat sinnfällig zum Ausdruck. Sie scheint aber auch sonst erforderlich, da das bisherige Recht [...] weder für die Partei und ihre Gliederungen selbst noch insbesondere für ihre Standarten, Fahnen, Hoheits-
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Dritter Teil: Deutsches Recht
des Ansehensschutzes18. Nachdem Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als Verlierer dastand und nahezu das gesamte politische Strafrecht außer Kraft gesetzt wurde, führte man mit dem StÄG 1951 die §§ 96, 97 ein, die schon bekannte Schutzobjekte berücksichtigten, jedoch – insbesondere im § 97 – mit den Gesetzgebungsorganen, der Regierung, dem Verfassungsgericht oder einem ihrer Mitglieder auch neue Schutzobjekte einführten.
1. Vergleichbare Interessenlage für den Ansehensschutz Dass der Ansehensschutz des Staates von einer systemunabhängigen Interessenlage geprägt ist, kann anhand der deutschen Gesetzgebungsgeschichte gut verdeutlicht werden. Denn wenn die Interessenlage für den Ansehensschutz für die verfassungsmäßig festgestellte Staatsform darin zu sehen war, die noch auf tönernen Füßen stehende Weimarer Republik zu stärken, gilt nichts anderes für die Notverordnungen zu Beginn der NS-Herrschaft, die anfänglich, wie schon in der Weimarer Zeit, auf Art. 48 Abs. 2 WRV gestützt wurden. Auch hier ging es um den Schutz der mit der Regierung Hitler in Gang gesetzten Umwälzungen und gesellschaftspolitischen Veränderungen. Aber auch die Wiedereinführung des Staatsschutzstrafrechts, darunter des strafrechtlichen Ansehensschutzes des Staates, in der BRD kann im Grunde nicht aus einem neuen oder wesentlich abweichenden Regelungsbedürfnis entsprungen sein. Einzig die Argumentation für die Begründung des Staatsschutzes änderte sich in der BRD, die nun zudem das „Scheitern der Weimarer Republik“19 als ein Zentralargument für die wehrhafte Demokratie oder für die Stärkung der „inneren Abwehrkräfte“ des Staates heranzog. Im Schrifttum wird auch aus dieser argumentativen Intention heraus insbesondere dem RepSchG 1922 eine zu zaghafte Anwendung vorgeworfen, die das Scheitern der ersten Republik mitgetragen habe – freilich ein Vorwurf, der nicht ohne Pikanterie ist, läuft er doch auf die Forderung nach einem intensiven Staatsschutz hinaus und wird daher von kritisch-liberaleren Autoren wie Sonnen und Krutzki bekämpft20. Im Grunde aber bleibt die Interessenlage gleich: Es gilt, das herrschende System
18 19 20
zeichen, Abzeichen und Auszeichnungen einen zweifelsfreien Schutz gegen öffentliche Verunglimpfung gewährt. [...] Es entspricht auch keineswegs der Bedeutung der NSDAP und ihrer Gliederungen, wenn der Schutz ihrer Symbole erst mittelbar durch Auslegung von Vorschriften gefolgert werden müßte, die an sich anderen Zwecken dienen.“ Amtl. Begr., S. 38. Vgl. Hinw. bei: v. Olshausen, StGB, § 134b, S. 586. Siehe oben: Siebtes Kapitel F). Schiffers, Staatsschutz in der BRD, S. 589 f.; vgl. Bundestagsdrucksache I/1307, 27. Siehe: Krutzki, „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“, S. 301 (Krutzki untermauert seine Kritik zwar mit Belegen bei Jasper, Schutz der Republik, S. 285 ff. Dieser wirft den Weimarer Gerichten an anderer Stelle aber ausdrücklich vor, sich zu wenig mit der bestehenden Staatsordnung identifiziert zu haben. Dies sei aber Voraussetzung jeder politischen Gerichtsbarkeit, a.a.O., S. 209). Siehe ferner: Sonnen, AKStGB, § 90a, Rn. 27.
Neuntes Kapitel Würdigung
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Dritter Teil: Deutsches Recht
Nachdem ein materielles Gesetz so die Reichsverfassung brach und § 134a „vollumfängliche Auslegung“ erfuhr, erlangte er im Gegensatz zu § 135 einige Anwendungsrelevanz27. Es verwundert daher nicht, dass § 134a nach Kriegsende durch den Alliierten Kontrollrat aufgehoben wurde28. Es ist aber auch nicht unbedingt abwegig, dass § 134a in der später vorangetriebenen neuen Grundlegung des Staatschutzstrafrechts der BRD für Entwurfsarbeiten Beachtung fand. Im Regierungsentwurf zum (1.) StÄG heißt es nämlich: „Bei den besonderen Verhältnissen, wie sie in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg herrschten, erwies sich § 135 StGB, der die öffentlich angebrachten Autoritäts- und Hoheitszeichen schützt, als nicht ausreichend [...]. Die Verordnung des Reichspräsidenten zur Erhaltung des inneren Friedens [...] fügte als § 134a eine Vorschrift über den Schutz der Farben und Flaggen in das Strafgesetzbuch ein. [...] Der vorliegende Entwurf knüpft an den früheren § 134a StGB an und faßt ihn mit dem § 135 [...] in einer Vorschrift (§ 101) zusammen.“29
Der § 101 des Entwurfs entspricht im Wesentlichen dem zum Gesetz erhobenen § 96 Abs. 1 Nr. 2. Dass § 134a in der Entwicklungsgeschichte des § 90a gelegentlich verschwiegen wird30, ist verwunderlich. Dabei untermauert diese Kontinuität, dass die Interessenlage des strafrechtlichen Ansehensschutzes des Staates regime- und systemunabhängig ist. Der Vorwurf, der nationalsozialistische Gesetzgeber habe gerade im Staatsschutz das Recht pervertiert, wird durch historische Figuren wie § 134a nicht entkräftet. Schließlich war der im Jahre 1935 mit § 134b eingeführte explizite Ansehensschutz der NSDAP, ihrer Gliederungen, Hoheitszeichen etc. schon genügender Beleg für den Missbrauch des Strafrechts. Dieser betraf aber mehr den Regimeschutz als den Staatschutz. Letzteres war keineswegs eine Besonderheit der NS-Zeit.
3. Gesetzgebungspraxis Wie der Staatschutz im Allgemeinen wurde auch der strafrechtliche Ansehensschutz des Staates in den deutschen Krisenzeiten häufig als „Sonderrecht“ geregelt. Diese Tendenz macht sich deutlich nach der Gründung der Weimarer Republik bemerkbar und hält in der NS-Zeit an. Vor und nach diesem Zeitraum treten entsprechende Vorschriften als Teile des Hauptstrafrechts in Erscheinung. Hierzu sind die §§ 131, 135 RStGB sowie die heutigen §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) zu zählen. Diese Vorschriften zeichnen sich durch eine moderate Anwendungsrelevanz aus31. Im Gegensatz dazu stehen zahlreiche Notverordnungen der Weimarer Zeit, ebenso die Republikschutzgesetze 1922 und 1930 27 28 29 30 31
Siebtes Kapitel E) IV. 2. Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30. Januar 1946, KRABl. 1946, 55. Bundestagsdrucksache I/1307, 38. S. aber: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 12; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 2, § 84, Rn. 69. Schroeder, Staat und Verfassung, S. 404. Krutzki, a.a.O., S. 296. Siebtes Kapitel D) sowie Achtes Kapitel D) XII. und E) I.
Neuntes Kapitel: Würdigung
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und Notverordnungen aus der NS-Zeit: In der Weimarer Zeit wurden die den Republikschutzgesetzen vorangehenden Notverordnungen auf Grundlage des Art. 48 Abs. 2 WRV erlassen und waren in der Regel auf einen relativ kurzen Zeitraum befristet. Zwar ergingen die Republikschutzgesetze 1922 und 1930 nicht als Notverordnungen, doch waren auch diese befristet. Eine Besonderheit bildet noch der Umstand, dass für die Anwendung der Strafvorschriften des RepSchG 1922 der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik, mithin ein Sondergericht, zuständig sein sollte32. Auch die Notverordnungswelle der 1931/32er Jahre stützte sich auf Art. 48 Abs. 2 WRV. Von dieser verfassungsrechtlichen Möglichkeit zur Rechtsetzung machte man schließlich auch zu Beginn der NS-Zeit Gebrauch. Hierzu sind die VolksSchutzVO und HeimtückeVO zu zählen. Sie zeichnen sich aber gegenüber der Weimarer Zeit durch den Verzicht auf eine Befristung aus, die aus Art. 48 Abs. 2 WRV vorher noch verbindlich herausgelesen wurde33. Die später erlassenen Vorschriften zum Schutze des Staats- bzw. Regimeansehens ergingen – auf Grundlage des Ermächtigungsgesetzes34 – als Reichsregierungsgesetze und waren ebenfalls nicht befristet.
II. Anwendung 1. Extensive Auslegungsformen a) Frühe Rechtsprechung Last, der die Rechtsprechung zu den §§ 90–90b – mit den 1950er und 1960er Jahren und der Phase seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1978 (BVerfGE 47, 198) bis in die Gegenwart – in drei Zeiträume einteilt35, ordnet einige Einzelfälle extensiver Auslegungsformen insbesondere der Frühphase der 1950er Jahre zu36. Und in der Tat fällt es nicht schwer, die Strafbarkeit bejahenden Fälle für den Vergleich der BRD mit einer „frisch gestrichenen Coca-Cola-Bude“37 oder für die Bezeichnung der Bundesfarben als 32
33
34 35 36 37
Die Sondergerichte sind also keine Besonderheit des Nationalsozialismus. Doch durchlebte die Sondergerichtsbarkeit ihre „Blütezeit“ in der NS-Zeit. Der Volksgerichtshof in Leipzig, der anfangs für Hoch- und Landesverrat zuständig war, erweiterte seine Kompetenzen im Laufe der Zeit erheblich. Ausführlich: Wagner, Der Volksgerichtshof, S. 59 ff. m.w.N. Vgl. Gusy, Weimarer Reichsverfassung, S. 110. Vgl. Wortlaut: „Der Reichspräsident kann [...] die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen [...]. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“ (Hervorhebung diesseits). RGBl. 1933 I, 141. Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 35 ff. Last, a.a.O., S. 35. BGHSt 3, 346.
256
Dritter Teil: Deutsches Recht
„schwarz-rot-gelb“38 als deutliche Beispiele für extensive Auslegungserscheinungen anzusehen. Ebenfalls als extensiv muss aber auch die Entscheidung des OLG Braunschweig bezeichnet werden, welche tatbestandsmäßigen beschimpfenden Unfug schon beim verächtlichen Antippen an die Kokarde einer Dienstmütze, verbunden mit einer abfälligen Bemerkung über die Bundesfarben („schwarz-rot-mostrich“) annahm39. Aber auch in einem Aufkleber mit der auf dem Kopf stehenden Bundesflagge und den Worten „Legal?, Illegal?, Scheißegal!“ eine Verunglimpfung zu sehen40, kann man nicht unbedingt als zurückhaltend bezeichnen. Generell wird man aber sagen dürfen, dass eine Einteilung in eine Periode extensiver oder restriktiver Auslegung schwierig ist, da in die Bewertung der Einzelfälle zum Teil erhebliche Wertungsunterschiede miteinfließen und unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen können41.
b) Mittelbare Begehungsformen Eine besonders problematische und im Schrifttum daher kritisierte Extensität wird in den Fallgruppen der mittelbaren Staatsverunglimpfung gesehen: Obwohl mit der BRD und den Ländern in § 90a Abs. 1 Nr. 1 nicht der Staatsapparat, einzelne Staatsorgane oder gar einzelne Beamte Schutz finden42, können mittelbare Verunglimpfungen strafbar sein, „wenn mit einer beschimpfenden Äußerung, die sich rein äußerlich gegen ein Staatsorgan richtet, in Wirklichkeit nur oder zugleich [der] Staat“43 gemeint war. Auch wenn es aber nicht angeht, dies „stets oder auch nur im Regelfalle“ anzunehmen44, ist eine derartige Auslegung der Schutzobjekte im Hinblick auf das Analogieverbot bedenklich. Mittelbare Staatsverunglimpfungen können jedoch in unterschiedlicher Intensität in Erscheinung treten. Krutzki unterscheidet grundsätzlich zwischen drei Fallgruppen45: 1) Eine mittelbare Staatsverunglimpfung kann durch die unmittelbare Kritik an den Verfassungsorganen des § 90b vorliegen. Vorwürfe gegen die Regierung beispielsweise können in diesen Fällen als mittelbar auf die BRD 38 39 40 41 42
43 44 45
BGH Urt. v. 16. November 1959 – 3 StR 45/59. OLG Braunschweig NJW 1953, 875. Vgl. Vorinstanzen bei: BayObLG NJW 1987, 1711. So auch Last selbst, a.a.O., S. 39 f. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 2; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 3; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 17; Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 2, § 84, Rn. 72. Siehe auch: BGHSt 6, 324 (326); BGHSt 11, 11 (13); BGH NStZ 2000, 643 (644). BGHSt 11, 11 (14). BGHSt 11, 11 (13). Vgl. Laufhütte / Kuschel, bei denen diese Aussage des Gerichts als Gebot zur „Zurückhaltung“ bezeichnet wird. LK-StGB, § 90a, Rn. 3. Siehe hierzu und zu den folgenden Ausführungen in der Auflistung: Krutzki, a.a.O., S. 309 ff.
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und die Länder selbst gerichtet gesehen werden. Krutzki wirft dieser Anwendungspraxis vor, die Verfassungsorgane aus § 90b als Symbole der BRD als solcher oder der verfassungsmäßigen Ordnung zu benutzen. 2) Eine zweite Fallgruppe sieht Krutzki in der Stilisierung der Polizei oder Justiz zu Symbolen für die BRD oder für die verfassungsmäßige Ordnung. In diesen Fällen werden in der Kritik an der Praxis von Polizei und Justiz mittelbare Angriffe auf die Schutzobjekte des § 90a Abs. 1 Nr. 1 erblickt. 3) In der Staatsverunglimpfung durch Kritik an gesellschaftlichen Missständen sieht Krutzki eine dreifache Mittelbarkeit. Er verdeutlicht dies am Buback-Nachruf: In diesem Fall hatten 48 Universitätsprofessoren und Rechtsanwälte eine Dokumentation über Siegfried Buback46 herausgegeben, in der sie unter anderem beklagten, dass sich in Deutschland „faschistoide Tendenzen ungehindert breitmachen“ würden. Der „Inkriminierung“47 liegt nach Krutzki folgende Auslegung zu Grunde: Die Kritik an Missständen in der Gesellschaft würde als mittelbare Kritik etwa an den Verwaltungsbehörden und Gerichten verstanden. Dies sei mittelbare Kritik an einem bestimmten Zustand in der BRD und dies würde wiederum als tatbestandsmäßige Handlung gegenüber der BRD als solche gewertet. Auch wenn man über die konkrete Aufteilung in die von Krutzki gebildeten Fallgruppen streiten mag, kann man in der Tat zwischen extensiven Auslegungsgraden unterscheiden. Sie sind besonders bedenklich in dem unter 3) bezeichneten Fall. Denn noch unabhängig von der Frage, was vom Recht auf Kritik gedeckt ist und was eine strafbare Tathandlung darstellen kann, strapaziert die Kriminalisierung von Kritik an gesellschaftlichen Missständen als Staatsverunglimpfung den Wortlaut des Straftatbestandes. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass im Allgemeinen über das Spannungsverhältnis des § 90a zu Art. 5 GG die Einsicht zur zurückhaltenden Anwendung bzw. verfassungskonformen Auslegung entstanden war und dies erst recht für Fälle der mittelbaren Staatsverunglimpfung gelten muss.
2. Einflüsse auf die Anwendungshäufigkeit Die Betrachtung der Statistiken zu §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) lässt aufgrund der allgemein niedrigen Relevanz keine Spekulationen im Hinblick auf Einflüsse auf die Anwendungshäufigkeit zu. In den Krisenjahren Ende der 1960er Jahre und im einsetzenden Terrorismus der RAF wird die Relevanz der Staats46 47
Siegfried Buback (1920–1977) war von 1974 bis zu seiner Ermordung durch Mitglieder der RAF Generalbundesanwalt. Vgl. Eintrag auf http://de.wikipedia.org (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Krutzki zielt hierbei auf die Bejahung des hinreichenden Tatverdachtes durch das Kammergericht Berlin, a.a.O., S. 312 f.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
schutzdelikte wohl im Allgemeinen zugenommen haben48. Mit Blick auf die §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) sind derartige Aussagen mit Gewissheit nicht möglich. Es fehlt an statistischem Material. In der Geschichte der Vorläufer lässt sich anhand der ermittelten Statistiken hingegen leichter nachweisen, in welchem ereignisbezogenenen Kontext die Anwendung von Staatsschutzvorschriften durchaus auch zum Schutze des Staatsansehens oder -systems zugenommen haben. Besonders auffällig verhält es sich mit den Republikschutzgesetzen von 1922 und 1930, die nach Gründung der Weimarer Republik erstmals auch die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform schützen sollten. Die Statistiken zu §§ 7, 8 RepSchG 1922 und § 5 Nr. 1, Nr. 2 RepSchG 1930 weisen eine beträchtliche Anwendungsrelevanz auf, während die Vorschriften zum Schutze von Staatseinrichtungen, Anordnungen der Obrigkeit und Hoheitszeichen (§§ 131, 135 RStGB) im gleichen Zeitraum ihre weiterhin geringe Relevanz beibehielten. Diese besondere Stellung der Republikschutzgesetze lässt sich gut aus der gleichfalls besonderen historischen Situation heraus erklären, in der die erste deutsche Demokratie das Ziel verfolgte, sich vor einer monarchistischen Reaktion zu schützen. Dass man tatsächlich glaubte, den Bestand von Staat und System effektiv auch durch den Ansehensschutz schützen zu können, zeigen sowohl die damaligen Diskussionen um die Republiktreue der Richterschaft als auch die zeitgenössischen Beurteilungen zu der Frage, wie das Scheitern der Weimarer Republik im Zusammenhang mit der Verfolgung nach den Strafvorschriften der Republikschutzgesetze steht. Das Interesse am System- und Regimeschutz während der NS-Zeit macht sich durch die vergleichbar hohe Anwendungsrelevanz des in der Weimarer Zeit eingeführten Ansehensschutzes für Reich und Länder sowie für Verfassung, Farben und Flaggen und deutsche Wehrmacht (§ 134a StGB) und des Ansehensschutzes für die NSDAP selbst und ihre Gliederungen, Hoheitszeichen, Standarten oder Fahnen und Abzeichen oder Auszeichnungen (§ 134b StGB) bemerkbar.
C) Verfassungsrechtliche und kriminalpolitische Bedenken I. Verfassungsrechtliche Probleme Im Schrifttum hat es einige Autoren gegeben, die die Verfassungsmäßigkeit der §§ 90a, 90b in Frage gestellt haben. Dies hat gerade im Zusammenhang mit der Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zumindest für 48
Vgl. Strafverfolgungsstatistik zu den §§ 84–90b StGB: Während zu Beginn der 1970er Jahre noch weniger als 100 Verurteilungen nach dem gesamten Abschnitt der „Gefährdung des demokratischen Rechtstaates“ ergingen, stiegen die Zahlen seit dem „Deutschen Herbst“ – also spätestens ab 1977 – dramatisch an und pendelten sich bis in die 1990er Jahre im mehrfach-dreistelligen Bereich ein. Siehe ergänzend Anhang Nr. 2.
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§ 90a zu der Annahme von „verfassungsrechtlichen Begrenzungen“49 geführt, die teilweise in der Forderung nach einer „einschränkenden“ Auslegung50 oder einer verfassungskonformen Auslegung51 in Erscheinung getreten sind. Aber auch im Zusammenhang mit den Artt. 18, 21 GG sowie dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG wurden verfassungsrechtliche Bedenken geäußert.
1. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG Aus dem Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG hat sich die Frage ergeben, ob die §§ 90a, 90b als die Meinungsäußerungsfreiheit einschränkenden Strafvorschriften „allgemeine Gesetze“52 im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG sind. Denn da sie nicht als Gesetz zum Schutze der Jugend oder der persönlichen Ehre konzipiert sind53, könnten sie verfassungsrechtlich nur in der Eigenschaft als allgemeines Gesetz zulässig sein. Dies wird insbesondere durch �opi�54 und im jüngeren Schrifttum von Deiters55 abgelehnt: Deiters sieht in der Strafbarkeit für Verunglimpfungen die Verfolgung von Meinungsäußerungen. Es handele sich auch um keine Gesetze zum Schutz der persönlichen Ehre, da sich diese aus der Würde des Einzelnen (Art. 1 GG) ableite und diese in den §§ 90a, 90b gerade keinen Schutz finden sollte. Daher genügten die §§ 90a, 90b nicht den Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 GG. �opi� bezeichnet die damaligen §§ 96 Abs. 1 und 3, 97 als Sondergesetze, die speziell die staatliche Ehre schützen sollen. Sie würden die normalen Folgen der Ausübung des Grundrechts der öffentlichen Meinungsfreiheit pönalisieren und seien damit grundgesetzwidrig. Beide Autoren folgern aus ihren Ansichten also die Unvereinbarkeit mit der Meinungsäußerungsfreiheit56.
49 50 51 52
53 54 55 56
Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 24 ff. Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 22 ff., 25, 26. Vgl. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 13 ff.; vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 24 ff.; krit. Schroeder, Staatsverunglimpfung, S. 92; vgl. Roggemann, a.a.O., S. 941 f.; vgl. Krutzki, a.a.O., S. 303 f. Das BVerfG sieht in den allgemeinen Gesetzen nach Art. 5 Abs. 2 solche, die „‘nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten’, die vielmehr ‘dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen’ dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat“. Siehe BVerfGE 7, 198 (209 f.). Dazu eingehender: Lücke, Die „allgemeinen“ Gesetze, S. 4 ff. Näher: Deiters, Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, S. 317 f.; Siehe auch: �opi�, Politisches Strafrecht, S. 253 f. Das Folgende nach: �opi�, a.a.O., S. 253 f. Das Folgende nach: Deiters, a.a.O., S. 317 ff. Deiters, a.a.O., S. 319; �opi�, a.a.O., S. 253 f.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
Mit Blick auf § 90a führte das BVerfG hingegen aus, dass es sich bei dieser Strafvorschrift um „ein allgemeines Gesetz i.S. des Art. 5 Abs. 2 GG“ handelt, denn sie richte „sich nicht gegen eine bestimmte Meinung, sondern stellt jeden unter Strafe, der – unabhängig von einer politischen Überzeugung – öffentlich die Bundesrepublik Deutschland oder ihre verfassungsmäßige Ordnung herabwürdigt.“57 Diese Entscheidung erfuhr ihrerseits Kritik58. Insbesondere zu § 90a hat sich jedoch aus der Rechtsprechung des BVerfG zur Wechselwirkung zwischen allgemeinem Gesetz und Strafvorschrift die Meinung etabliert, der Tatbestand des § 90a sei verfassungskonform auszulegen59. Wann aber schon verfassungskonform oder „lediglich“ – wie vom BVerfG gefordert – im Lichte der Meinungsfreiheit ausgelegt wird, ist im Einzelfall nur schwer voneinander abgrenzbar60.
2. Art. 5 Abs. 3 GG Während der Streit um die Verfassungsmäßigkeit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG bei der Frage nach dem Vorliegen eines allgemeinen Gesetzes ausgetragen wird, kulminiert der Streit um die die Zulässigkeit im Verhältnis zur Kunstfreiheit in der näheren Konkretisierung der Verfassungswerte oder Rechtsgüter von Verfassungsrang. Anders ausgedrückt: Die §§ 90a, 90b sollen mit Art. 5 Abs. 3 GG nur vereinbar sein, wenn sie den Schutz von Verfassungswerten verfolgen. Das wird in Rechtsprechung und in Teilen der Lehre zumindest zum Teil mit dem Rechtsgüterschutz des Staats- und Verfassungsbestandes bejaht61. Diese seien in Gestalt des Ansehensschutzes auch im staatlichen Symbolschutz enthalten62. Aber auch hier – insbesondere beim Schutz der Staatssymbole – 57 58 59 60
61 62
BVerfGE 47, 198 (232). Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 122 ff. Vgl. oben: Achtes Kapitel, D) XI. 2. Während Schroeder den Urteilen des OLG Bremen und des LG Berlin zum Wiederabdruck des Buback-Nachrufes eine allzu weitgehende Zurückhaltung vorwirft, die den zusätzlichen Abschlag vom Tatbestand offenbar durch verfassungskonforme Auslegung begründet, meint Sonnen, die Entscheidungen der Gerichte beruhten auf der „folgerichtigen Anwendung“ der Wechselwirkungstheorie. Tatsächlich ist eine eindeutige Zuordnung der Urteile nicht möglich, da die Gerichte sich häufig nicht auf Begriffe wie „verfassungskonforme Auslegung“ festlegen. Siehe: Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 92 f.; Sonnen, AK-StGB, 90a, Rn. 58. Vgl. BVerfG NJW 1972, 1934 (1937); krit.: Sonnen, AK-StGB, 90a, Rn. 34 m.w.N.; vgl. Volk, Staatssymbole, S. 442 ff.; vgl. Würtenberger, Staatsverunglimpfung, S. 310 ff. So zumindest mit Blick auf § 90a Abs. 1 Nr. 2: BVerfG NJW 1990, 1982 (1983) (= BVerfGE 81, 278 [293 f.]). Auch Zwiehoff verneint einen grundsätzlichen Ausschluss der Strafbarkeit nach § 90a bei Vorliegen eines Kunstwerkes. Zwar könne aus Art. 22 GG nicht geschlossen werden, dass staatlichen Symbolen der Rang oberster Verfassungswerte zukommt, doch stehe hinter den Symbolen das Ansehen des Staates und diesem sei – gegenüber anderen ausdrücklich in der Verfassung angesprochenen, obersten Grundwerten eine „logische Priorität“ zuzuerkennen. Daher könne dem Anse-
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gibt es Gegner: Gusy kritisiert das BVerfG für seinen Anspruch auf „eine wertsetzende Kompetenz“. Denn was Rechtsgüter mit Verfassungsrang sind, richte sich danach, ob diese „verfassungsrechtlich positiviert“ seien63. Wenn die Bundesflagge und damit die Bundesfarben noch durch Art. 22 GG in der Verfassung ausdrückliche Erwähnung finden, also verfassungsrechtlich positiviert sind, kann dies, so Gusy, zumindest nicht ohne Weiteres bei der Hymne64 angenommen werden. Gusy verwirft damit offenkundig die Annahme des BVerfG, aus Art. 22 GG ergebe sich „das Recht des Staates“, „sich zu seiner Selbstdarstellung solcher Symbole zu bedienen“65. Denn „wo gesetzlich positivierte Rechtsgüter ohne Begründung in ‘verfassungsrechtliche’ aufgewertet werden“, bestehe zwischen der Wertsetzungskompetenz, die nur dem Verfassungsgeber zustehe und der Werterkenntniskompetenz, die nur der Verfassungsgerichtsbarkeit zustehe, „keine Differenz mehr“66. Dem Argument, in den §§ 90a, 90b werde (auch) der Staats- und Verfassungsbestand geschützt, können ebenso Bedenken entgegengebracht werden67: Selbst wenn man annehmen muss, dass diese Strafvorschriften den Bestand des Staates und der Verfassung schützen sollen, sind ihr spezielles Vorfeld das Ansehen und beim Symbolschutz das Staatsgefühl68 oder diverse andere schwer fassbare Kollektiv-Gefühle mit subjektiven Komponenten. Wenn das BVerfG erklärt, es sei zu beachten, „daß sich Einschränkungen dieses vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts nicht formelhaft mit allgemeinen Zielen wie etwa dem ‘Schutz der Verfassung’ oder der 69 ‘Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege’ rechtfertigen lassen“ ,
leidet der Rückgriff auf die allgemeine Rechtsgüterkonzeption an jenem Fehler, den das Gericht selbst vermeiden will – verlangt es doch, dass „vielmehr [...] anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen diejenigen verfassungsrechtlich geschützten Güter konkret herausgearbeitet werden“70. Wenn dies nun nicht über dasjenige hinausgehen darf, das sich aus der Verfassung selbst ergibt, verwundert es, dass der Konflikt mit der Kunstfreiheit nicht zu folgenreicheren Entscheidungen geführt hat. Gusy schreibt:
63 64 65 66 67 68 69 70
hen des Staates die Qualität eines obersten Grundwertes nicht abgesprochen werden, Der Schutz der Staatssymbole, S. 107 ff. Gusy, Anm. BVerfG JZ 1990, 638 (641) m.N. bei: Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität“, S. 157. Problematisch erscheint neben der Hymne auch das ebenfalls verfassungsrechtlich nicht positivierte Wappen der BRD oder eines ihrer Länder i.S.d. § 90a Abs. 1 Nr. 2. BVerfGE 81, 278 (293). Gusy, Anm. BVerfG JZ 1990, 638 (641). Vgl. Zwiehoff, a.a.O., S. 108. BVerfGE 81, 278 (293). Ebd. Ebd.
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Dritter Teil: Deutsches Recht „Dogmatisch wird die Aussage, wonach Art. 5 Abs. 3 GG nur von ‘verfassungsrechtlich geschützten Gütern’ eingeschränkt werden darf, sinnlos, wenn das BVerfG jeden gesetzlich oder von der ‘Staatspraxis’ anerkannten Belang konstitu71 tionalisieren darf.“
Dieser Vorwurf gegen die Verfassungsdogmatik erlangt noch größere Tragweite auf dem Felde des Strafrechts. Denn dort, wo der Gesetzgeber für die Ausübung eines Rechtes, dem die Rechtsordnung eine überragende Bedeutung beimisst, eine Strafe vorsieht, muss er die individuellen Verfassungsrechte, die als Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert sind, besonders achten. Akzeptiert man aber den Bestand des Staates oder der Verfassung schlechthin als Güter, die mit der die Kunstfreiheit in Widerstreit treten können, verliert jede spezielle Rechtsgüterbestimmung an Bedeutung. Denn Staatsschutzstrafrecht kann prinzipiell immer Staats- und Verfassungsbestandsschutz sein72. Daraus darf nicht geschlossen werden, dass Grundrechte, die keine förmlichen Verfassungsgrenzen kennen, ohne besondere Würdigung übergangen werden dürfen.
3. Art. 18 GG Verfassungsrechtliche Bedenken ergeben sich überdies aus Art. 18 GG. Danach verwirkt man die Meinungsäußerungs-, Lehr-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, sowie das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Eigentum oder das Asylrecht, wenn man diese zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht. Art. 18 S. 2 GG stellt ein Entscheidungsmonopol des BVerfG auf73. Nach einer Ansicht stellt die Verurteilung unter anderem nach §§ 90a, 90b daher eine (vorweggenommene) Verwirkungsentscheidung eines Strafgerichts dar und verstößt damit formell gegen das Entscheidungsmonopol und materiell gegen die Sperrwirkung des Art. 18 S. 1 GG74. Denn die Strafrechtsnormen zur Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen seien nur Rechtsfolgentatbestände, die an eine vorherige Grundrechtsverwirkung erst anknüpfen können75.
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73 74 75
Gusy, Anm. BVerfG JZ 1990, 638 (641). Dies zeigt sich an der allgemeinen Rechtsgüterkonzeption des Staatsschutzstrafrechts, der dem Schutz des Bestandes der BRD, dem Schutz von Verfassungsgrundsätzen und dem Schutz der inneren und äußeren Sicherheit der BRD dient. Siehe dazu: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 20; vgl. Paeffgen, NK-StGB, Vor. §§ 80 bis 101a, Rn. 12; vgl. Maurach / Schroeder / Maiwald, Strafrecht BT 2, § 82, Rn. 10 ff. Siehe dazu: Thiel, Die Verwirkung von Grundrechten, S. 129 ff. m. zahlr. w.N., insbesondere: S. 152 f.; �opi�, a.a.O., S. 109 ff. Siehe auch: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 38. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 38 f. m.w.N.; Backes, Rechtsstaatsgefährdungsdelikte, S. 184 f.; siehe auch: Deiters, a.a.O., S. 319. Siehe etwa: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 38. Anderer Ansicht etwa: Last, a.a.O., S. 139 f.
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4. Art. 21 Abs. 2 GG a) § 90a Abs. 1 Art. 21 Abs. 2 GG gewährleistet das sog. Parteienprivileg. Darunter versteht das BVerfG, dass sich niemand – auch hinsichtlich einzelner Mitglieder – auf die Verfassungsfeindlichkeit einer Partei berufen darf, solange nicht ein Parteienverbot durch das BVerfG (Abs. 2 S. 2) ausgesprochen wurde76. Im Hinblick auf die §§ 90a, 90b stellt sich danach die Frage, ob die Vorschriften Sonderrecht zu Lasten von Parteien bzw. Parteimitgliedern oder allgemeine Gesetze darstellen. § 90a Abs. 1 wurde vom BVerfG bereits auf die Vereinbarkeit mit dem Parteienprivileg geprüft: Das Gericht hat dabei festgestellt, dass sich der Tatbestand an jeden richtet „und nicht nur an Funktionäre, Mitglieder und Anhänger von politischen Parteien“; § 90a Abs. 1 StGB setze „keine Verfassungsfeindlichkeit voraus“77. Dies fand weitgehend Zustimmung78.
b) § 90a Abs. 3 Anders verhält es sich mit der Qualifikation aus Abs. 3, der als einziges Tatbestandsmerkmal das Einsetzen für staats- und verfassungsfeindliche Bestrebungen voraussetzt. Wenn sich auch Abs. 3 an jedermann richtet, könnte es sich auch hier um ein allgemeines Gesetz handeln. Eine solche Ansicht würde jedoch verkennen, dass Funktionäre und Mitglieder von Parteien im politischen Meinungskampf natürlicherweise politische Äußerungen tätigen und durch die Anwendung von § 90a Abs. 3 schärfer bestraft würden als im Grundtatbestand nach Abs. 1. Einige verlangen daher, dass Abs. 3 auf Parteimitglieder keine Anwendung finde79. Dies würde zwar dazu führen, dass der parteienmäßig nicht organisierte Bürger schlechter dasteht80. Daraus abzuleiten, dass die Nichtanwendung von Abs. 3 auf Parteienmitglieder die Bildung von verfassungsfeindlichen Parteien noch verstärken würde und so aus (kriminal-)politischen Gründen abzulehnen sei, widerspricht jedoch der Bedeutung des Parteienprivilegs81. 76 77
78 79 80 81
BVerfGE 12, 296 (304 ff.). BVerfGE 47, 198 (231). Die Annahme, allgemeine Gesetze seien unter anderem solche, die in subjektiver Hinsicht keine Verfassungsfeindlichkeit voraussetzen, führte auch zu der Annahme, dass § 90a Abs. 2 als allgemeines Gesetz einzustufen ist. Siehe statt Vieler nur: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 29. Fischer, StGB, § 90a, Rn. 19; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 22. Sowohl § 90a Abs. 1 und 2 als auch § 90b als allgemeines Gesetz einstufend: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 29 f. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 41; Stree / Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, Vorbem. zum 1. und 2. Abschn., Rn. 7; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 22; Laufhütte / Kuschel, LKStGB, Vor § 80, Rn. 31; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 19. BGHSt 19, 311 (319). Vgl. Last, a.a.O., S. 144; Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 30. Siehe dazu unten die Stellungnahme unter 6.
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c) § 90b Abs. 1 § 90b Abs. 1 unterscheidet sich von § 90a Abs. 3 dadurch, dass neben dem Einsetzen für staats- und verfassungsfeindliche Bestrebungen auch andere Tatbestandsmerkmale erfüllt werden müssen. Die Annahme, es handele sich um ein allgemeines Gesetz und nicht um Sonderrecht zu Lasten von Parteien bzw. Parteimitgliedern, hat sich daher etablieren können82. Teilweise wird aber auch hier die Unanwendbarkeit des § 90b Abs. 1 für Mitglieder von Parteien angenommen83. Die frühere Rechtsprechung des BGH stellte sich zu dem damaligen § 97 ebenfalls noch auf diesen Standpunkt: „Denn auch bei Anwendung des § 97 StGB müßte der Strafrichter, soweit es sich um Förderung der Bestrebungen einer nicht verbotenen politischen Partei handelt, die Verfassungsfeindlichkeit dieser Bestrebungen selbst feststellen und dadurch – mittelbar – die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfas84 sungswidrigkeit der Partei vorwegnehmen“ .
Dies wurde von dem BGH aber bald darauf revidiert. Denn nachdem das BVerfG mit Entscheidung aus dem Jahre 1975 die Heranziehung der „Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt“ bei der Beurteilung der Frage, ob die Persönlichkeit eines Bewerbers für das Beamtenverhältnis „die Gewähr bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten“ zugelassen hatte und dies nicht länger von der Frage abhängig machte, ob es sich um eine i.S.d. Art. 21 Abs. 2 GG verbotene Partei handelt oder nicht85, änderte schließlich auch der BGH – bezugnehmend auf diese Relativierung des Parteienprivilegs – die Rechtsprechung über die Anwendbarkeit des § 90b: Denn „das Schwergewicht der Tat“ liege „bei der öffentlichen, das Ansehen des Staates gefährdenden Verunglimpfung der dort im einzelnen bezeichneten Verfassungsorgane, die allgemein verboten ist.“86
5. Art. 103 Abs. 2 GG Im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG ergeben sich für die §§ 90a, 90b Bedenken insbesondere bei den Tathandlungen der Beschimpfung, böswilligen Verächtlichmachung und Verunglimpfung. Zwar liegt es in der Natur der Ehrverletzungsdelikte, dass die Frage danach, was schon strafbare Verletzung oder was noch eine durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gedeckte, mithin straffreie Meinung ist, von Fall zu Fall unterschiedlich sein 82 83 84 85 86
Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 30. Siehe: BGHSt 29, 50 (52 ff.) (= BGH NJW 1979, 2572). Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 7 m. Nachw. bei: Backes, a.a.O., S. 185. BGHSt 20, 115 (115 f.). Hinw. bei: Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 7. BVerfGE 39, 334 (359). BGHSt 29, 50 (53). Dagegen: Rudolphi, SK-StGB, § 90b, Rn. 6. Zweifel bei: Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 7.
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kann. Nicht von ungefähr wird bei der Verunglimpfung auch auf besondere Begleitumstände abgestellt bzw. verlangt, dass bei mehreren Deutungsmöglichkeiten einer Aussage, tätergünstig auszulegen sei87. Richtig ist aber auch, dass das Bestimmtheitsgebot klare Straftatbestände erfordert und der Adressat der Strafnorm erkennen muss, wann sein Verhalten strafbar ist. Besonders Sonnen kritisiert daher zumindest § 90a für die unklare Trennlinie zwischen straffreiem und strafbarem Verhalten und stellt in Frage, ob dem Bestimmtheitsgrundsatz insoweit genüge getan wird88.
6. Stellungnahme a) Allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG? Wenn das BVerfG im Jahre 1978 in § 90a ein allgemeines Gesetz sah, weil es sich an jedermann richte, dann wirft dies die Frage nach der Vereinbarkeit mit der zu Art. 5 Abs. GG entwickelten Dogmatik auf. Denn das Gericht hatte das Vorliegen eines allgemeinen Gesetzes i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG zwanzig Jahre zuvor an deutlich engere Voraussetzungen gebunden. Dort verlangte es nämlich nicht lediglich, dass es sich um eine abstrakt-generelle Vorschrift handelt89, sondern vielmehr um eine solche, die nicht eine spezielle Meinung verbietet und sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richtet90. Für die Annahme eines allgemeinen Gesetzes hätte es daher zumindest weiterer Begründungen bedurft91.
b) Kunstprivileg? Die schrankenrechtliche Privilegierung der Kunstfreiheit verlangt nach einem Niederschlag auch im Strafrecht. Nur wenn man veranschaulicht, dass die Tatbestände der §§ 90a, 90b Rechtsgüter mit Verfassungsrang schützen, wird man der Kunstfreiheit mitsamt ihren verfassungsimmanenten Schranken gerecht werden. Eine pauschalisierende Rechtsgüterbestimmung, die §§ 90a, 90b dienten dem Staats- und Verfassungsbestand und diese Schutzrichtung korrespondiere mit der Verfassung in einer Weise, die eine konkrete Prüfung der Schutzobjekt nach ihrem Verfassungsrang entbehre, kann keine Zustimmung finden. Auch wenn die §§ 90a, 90b nicht den Ehrschutz des Staates dienen – und dies lässt sich durchaus gut begründen –, enthalten sie zumindest auch den Schutz von Staatsgefühlen oder Verfassungspatriotismus bzw. den Ansehens87 88 89 90 91
Siehe oben: Achtes Kapitel, D) X. 1. a). Vgl. auch E) VI. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 42. So aber noch in der Weimarer Zeit. Maunz / Dürig, GG, Art. 5 Abs. 1, 2, Rn. 253. BVerfGE 7, 198 (209 f.). Vgl. Last, der die Ausweisung der §§ 90–90b als abstrakt-generelle Vorschriften für die Annahme als allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG nicht genügen lassen will, i.E. diese Eigenschaft jedoch bejaht, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 122 ff.
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schutz des Staates. Diese – wenn auch durch einzelne Schutzobjekte konkretisierte – Schutzkonzeption muss sich aus Verfassungsvorschriften explizit ergeben. Es darf – wie Gusy bereits kritisiert92 – nicht mit der Begründung zu einer analogen Anwendung von Art. 22 GG etwa auf die Hymne (oder das Wappen) geschlossen werden, die Vorschrift setze voraus, dass der Staat das Recht habe, sich durch Symbole selbst zu verkörpern. Denn „der Staat“ hätte auch die grundsätzliche Kompetenz, neue, zusätzliche Verfassungswerte zu schaffen. Solange diese aber keinen Eingang in die Verfassung finden, sind sie nicht Verfassungswerte und dürfen nicht in Strafvorschriften geschützt werden, die in dieser Gestalt mit der Kunstfreiheit in Widerstreit treten. Daher verstößt die Kriminalisierung von Verhaltensweisen, die durch künstlerische Erscheinungsformen die Tathandlungen der §§ 90a, 90b erfüllen, gegen die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG.
c) Parteienprivileg Soweit es sich um Sonderrecht gegen Parteien handelt, verstoßen die §§ 90a, 90b auch gegen Art. 21 Abs. 2 GG. Meines Erachtens kann in § 90a Abs. 1 und 2 kein Sonderrecht gegen Parteien gesehen werden. Der Qualifikationstatbestand nach § 90a Abs. 3 verstößt jedoch gegen Art. 21 Abs. GG und daher ist es folgerichtig, die Vorschrift nicht auf Parteizugehörige anzuwenden. Bei § 90b Abs. 1 tritt zwar die in subjektiver Hinsicht geforderte verfassungsfeindliche Absicht neben andere Tatbestandsmerkmale und ist nicht einziges unrechtsbegründendes Merkmal; insoweit besteht in der Tat ein Unterschied zu § 90a Abs. 3. Dass aber die verfassungsfeindliche Absicht deshalb nicht den Kern des Unrechtsvorwurfs bilde93, vermag nicht zu überzeugen. Denn § 90b zielt klar auf denjenigen Täter ab, der „seinen Beitrag“ zu anderen verfassungsfeindlichen Bestrebungen leistet. Im BT-Sonderausschuss bemerkte der Vorsitzende Güde (mit Blick auf die Qualifikation des heutigen § 90a Abs. 3), dass das Einsetzen für Bestrebungen gegen den Bestand der BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze darauf abziele, „durch aktives Handeln herausgehobene Täter“ zu erfassen, „nicht aber bloße Mitläufer“94. Schon die in diesem Zusammenhang eröffnete Diskussion, die die Ausschussmitglieder mehr als eine Sitzung beschäftigt hat, zeigt, dass die verfassungsfeindliche Absicht (auch) für die in § 90b bezeichneten Tathandlungen wesentliches Element darstellt. Die verfassungsfeindliche Absicht soll beim Kreis der verfassungsfeindlichen Aktivisten, der wie in einer Rangordnung aus „Offizieren“, „Unteroffizieren“ und dem einfachen „Fußvolk“ besteht, zumindest das Fußvolk und nach Mög92 93 94
Gusy, Anm. BVerfG JZ 1990, 638 (641). BGHSt 29, 50 (53). Siehe ferner: Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 30; Last, a.a.O., S. 145. Güde, BT-SondA-Prot., BT V, S. 974.
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lichkeit die Unteroffiziere zu erfassen in der Lage sein95. Der genauere Blick auf den Tatbestand des § 90b kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Denn für die verfassungsfeindliche Absicht ist erforderlich, dass reale Träger von Bestrebungen gegen die BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze existieren, für die sich der Täter absichtlich einsetzt. Die Verunglimpfung von Verfassungsorganen soll ihn als einen Teil dieser Bestrebungen „entlarven“. Wenn nun die Verfassungsfeindlichkeit dieser Bestrebungen mit etwaiger Parteitätigkeit zusammenfällt, die betreffende Partei aber durch das BVerfG nicht verboten wurde, verstößt der nach § 90b verurteilende Richter gegen das Parteienprivileg aus Art. 21 Abs. 2 GG. Die Vorschrift darf daher nicht auf Parteizugehörige angewendet werden. Das Argument, der einzelne, parteimäßig nicht organisierte Bürger würde dadurch schlechter gestellt96 und dies lade förmlich zu einer verfassungsfeindlichen Parteibildung ein, kann nicht überzeugen. Denn es ist gerade das Wesen des Art. 21 Abs. 2 GG, die Parteien zu privilegieren; dies beinhaltet zugleich und natürlicherweise eine Schlechterstellung der Einzelbürger.
d) Bestimmtheitsgrundsatz Das ins Feld geführte Argument, die Grenze zwischen dem durch die Meinungsfreiheit gedeckten und bereits strafbarem Verhalten sei in den Tatbeständen der §§ 90a, 90b derart unbestimmt, dass sie auch gegen Art. 103 Abs. 2 GG und dem dort normierten Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen97, verdient ebenfalls Beachtung. Denn in der Tat verlangt die Bestimmtheit von Straftatbeständen auch, dass ihre Adressaten klar und offen erkennen können, wann ihr Verhalten strafbar ist98. Bei Tathandlungen, die im Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit und damit insbesondere auch mit Werturteilen stehen, lässt sich eine derartige Grenze niemals mit Gewissheit bestimmen. Es bleibt stets die Würdigung am Einzelfall. Dies ist nicht lediglich ein Problem der Staatsschutzstraftatbestände, sondern etwa auch bei den §§ 185 ff. der Fall. Ob dadurch die Vorschriften verfassungswidrig sind, lässt sich daher also bezweifeln. Wenn das BVerfG aber betont, die Meinungsfreiheit sei „für eine Demokratie schlechthin konstituierend“99, dann soll dies auch die politische Dimension abdecken. Denn die Kritik an öffentlichen Belangen und politischen Ereignissen steht häufig in einem direkteren Bezug zur demokratischen Weiterentwicklung als die Beleidigung von Privatpersonen. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass die deutsche Verfassungsordnung geringe ple95 96 97 98 99
Ebd. Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, Vor § 80, Rn. 30. Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 42. Siehe statt Vieler: Roxin, Strafrecht AT 1, insbes. S. 172 ff. m.w.N. BVerfGE 7, 198 (208).
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biszitäre Mitwirkungsrechte gewährt. Für die Würdigung der §§ 90a, 90b ergibt sich zu Art. 5 GG also ein besonderes Gefälle zwischen Meinung und Strafe. Gerade dort, wo Meinungsäußerungen für die Demokratie in erhöhtem Maße konstituierend sind, muss die Grenze des Erlaubten leicht zu erkennen sein. Diese Differenz zu den §§ 185 ff. rechtfertigt daher grundsätzlich, zumindest hier von einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG auszugehen. Andererseits ist kein Straftatbestand ersichtlich, der in der Lage wäre, eine genaue Grenzziehung zwischen straffreier Kritik und strafbaren Beschimpfungen, Verächtlichmachungen oder Verunglimpfungen vorzunehmen100, so dass sich die Frage um eine verfassungskonforme Auslegung aufdrängt101. Bedenken ergeben sich aber nicht nur zu diesem Teilaspekt, sondern auch zu der Tathandlungsvariante des beschimpfenden Unfugs aus § 90a Abs. 2. Dieser wird als Kundgabe einer rohen, im Sinne einer Herabwürdigung verletzenden Form der Missachtung in Bezug auf das geschützte Zeichen gesehen102, die sich räumlich unmittelbar gegen das Zeichen richten muss, aber nicht erfordert, dass eine Substanzverletzung oder eine Funktionsstörung eintritt103. Er fungiert gegenüber den übrigen, äußerungsneutralen104 Tatmodalitäten des § 90a Abs. 2 als Auffangtatbestand und enthält eine herabsetzende Komponente. In dieser Form ist der beschimpfende Unfug zu unbestimmt, da auch hier nicht erkennbar ist, welche Handlungen schon strafbare Missachtung und beschimpfender Unfug sind und was noch als erlaubtes Verhalten betrachtet werden kann.
e) Verfassungskonforme Auslegung? Das Problem bei der verfassungskonformen Auslegung wurde bereits von Schroeder angesprochen; während er sich aber für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit ausspricht105, sollte sich nach dem Gesagten hier vielmehr die Frage stellen, ob eine verfassungskonforme Auslegung noch in der Lage ist, die Tatbestände „zu retten“. Dieser Frage vorgelagert ist aber die generelle Forderung nach Zurückhaltung bei der Konstruktion der „verfassungskonformen Auslegung“ – und zwar durchaus mit der von Schroeder ausgedrückten Besorgnis, der Gesetzgeber könne in Erwartung des durch die verfassungskonforme Auslegung erfolgenden „Abschlages“ vom Tatbestand motiviert wer100 So deutlich: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 42. 101 Siehe dazu untern: e). 102 Fischer, StGB, § 90a, Rn. 10; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 41; vgl. Laufhütte, LK-StGB (1992), § 90a, Rn. 23; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 37. 103 Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 41; Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 21; Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 37. 104 Dieser Hinweis bei: Last, a.a.O., S. 182. 105 Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 92 f. Kritisch: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 58.
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den, zunächst verfassungswidrige Straftatbestände zu erlassen106. Wenn nun alle Bedenken hinsichtlich der Artt. 5, 18, 21 und 103 GG zusammengenommen werden, ergeben sich in der Tat Zweifel, ob die verfassungskonforme Auslegung noch erwünscht sein kann oder ob die (Teil-)Streichung der Tatbestände nicht bereits überfällig erscheint. Zunächst ist nämlich zweifelhaft, ob die §§ 90a, 90b tatsächlich als allgemeine Gesetze i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG angesehen werden können. Wäre dies nicht der Fall, wären sie insgesamt verfassungswidrig und daher zu streichen. Eine Nichtanwendung von Tatbeständen erscheint zumindest aber für die mit der Kunstfreiheit kollidierenden Schutzobjekte, die nicht dem Schutz von Verfassungswerten dienen, geboten. Hierzu ist die Hymne (§ 90a Abs. 1 Nr. 2) zu zählen107. Aber auch das Wappen (§ 90a Abs. 1 Nr. 2) ergibt sich nicht ohne Weiteres aus Verfassungsvorschriften. Eine Nichtanwendung ist auch hier notwendig. Dies kann durch eine analoge Anwendung des Kunstprivilegs aus § 86 Abs. 3 – wie schon von Roggemann gefordert108 – oder durch eine positivrechtliche Umsetzung umgangen werden. Eine Fallwürdigung würde dann danach sehen, ob Kunst vorliegt oder nicht109: Kunst entfaltet tatbestandsausschließende Wirkung. Während die verfassungsrechtliche Bedenklichkeit hinsichtlich des Parteienprivilegs noch dadurch gelöst werden kann, dass die gegen Art. 21 Abs. 2 GG verstoßenden Tatbestände der §§ 90a, 90b auf Parteimitglieder oder -funktionäre nicht angewendet werden, bleiben die Probleme im Hinblick auf Art. 18 GG bestehen: Denn wenn die §§ 90a, 90b an eine Verwirkungsentscheidung des BVerfG nach Art. 18 S. 2 GG nur anknüpfen können, ist jede vorherige Bestrafung eine vorweggenommene Entscheidung über die Verwirkung von den in Art. 18 GG bezeichneten Grundrechten. Die Bedenken hinsichtlich des Bestimmtheitsgebotes aus Art. 103 Abs. 2 GG können bei dem beschimpfenden Unfug durch eine ersatzlose Streichung110 gelöst werden. Das Problem der unmöglichen Grenzziehung bei den Tathandlungen der Beschimpfung, Verächtlichmachung und Verunglimpfung bleibt dagegen bestehen. Denkbar ist jedoch der Rückgriff auf ein zusätzliches, einschränkendes Kriterium – nämlich dasjenige der Unwahrheit111. Man könnte Schroeder, ebd. Vgl. Gusy, Anm. BVerfG JZ 1990, 638 (641). Roggemann, Von Bären, Löwen und Adlern, S. 941. Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 31. Dagegen aber: Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 133. 110 Auch Last fordert die Streichung des beschimpfenden Unfugs, nicht aber wegen etwaiger Bedenken hinsichtlich des Bestimmtheitsgrundsatzes, sondern vordergründig aus systematischen Erwägungen, a.a.O., S. 181 ff. 111 Siehe schon: Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 220 ff. Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 47.
106 107 108 109
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tatbestandlich die Beschimpfung, Verächtlichmachung und Verunglimpfungen „durch unwahre Tatsachenbehauptungen“ verlangen. Hierdurch hätte man ein objektives Kriterium zur genaueren Bestimmung der Grenze zwischen strafbarem und straffreiem Verhalten gewonnen.
f) Einschränkung auf unwahre Tatsachenbehauptungen In der Tat ließe sich ein Teil der Probleme – nicht lediglich die Bestimmtheit, sondern auch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG betreffend – durch die Einschränkung der Tathandlung auf unwahre Tatsachenbehauptungen lösen112. Denn der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erfasst nicht bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen113. Nun wird für die §§ 90a, 90b die Anwendbarkeit des Wahrheitsbeweises nach § 192 zumindest teilweise bejaht114. Gelingt dieser Beweis, kann sich die Strafbarkeit aber noch aus einer Formalbeleidigung ergeben. Die Forderung nach einer Einschränkung auf unwahre Tatsachenbehauptung geht also weiter als es der Wahrheitsbeweis zulässt. Es stellt sich somit folgende Frage: Sollten auch wahre Tatsachenbehauptungen nach den §§ 90a, 90b strafbar sein? Wahre Tatsachenbehauptungen im politischen Meinungskampf zu pönalisieren, bedeutet, die demokratische oder rechtsstaatliche Entwicklung zu hemmen – im Grade freilich davon abhängig, welche Zielrichtung die Kritik aufweist. Den Vorwurf wahrer Tatsachenbehauptungen als solcher muss der Staat immer hinnehmen. Diese Annahme steht nicht im Widerspruch zur übrigen Verfassungs- und Strafrechtsordnung. Denn der Schutz der persönlichen Ehre (§§ 185 ff.) wird in Art. 5 Abs. 2 GG explizit erwähnt. Sie leitet sich aus der Würde des Individuums ab115. Eine Analogie zur Ehre des Staates ist mit dem Staatsverständnis und der Abwehrfunktion der Grundrechte gegenüber staatlichen Eingriffen aber nicht vereinbar116. Eine tatbestandliche Einschränkung auf unwahre Tatsachenbehauptungen ließe sich also begründen und würde neben der allgemeinen Kollision mit Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zugleich die Frage erledigen, ob die §§ 90a, 90b als allgemeine Gesetze i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG zu qualifizieren sind oder nicht. Nicht schutzwürdig und für eine konstruktive Diskussion bei öffentlichen und politischen Belangen entbehrlich sind hingegen unwahre Tatsachenbehauptungen. Wie bereits erwähnt, findet dies seinen Ausdruck auch im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit117. Vgl. Last, a.a.O., S. 220 ff. Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 47. BVerfGE 85, 1 (15). Siehe oben unter: Achtes Kapitel, D) II. 2. c) und E) II. 2. b). Deiters, a.a.O., S. 318 m.w.N. Vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 2; vgl. Krutzki, a.a.O., S. 299. Siehe auch: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 14; Deiters, a.a.O., S. 317 f. 117 BVerfGE 85, 1 (15).
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II. Kriminalpolitische Würdigung 1. Taugliches Rechtsgüterkonzept? Es bestehen schon Zweifel daran, ob die (speziellen) Rechtsgüter der §§ 90a, 90b – der Ansehensschutz i.w.S. des Staates bzw. das „Wir-Gefühl“ oder „Staatsgefühl“ o.ä.118 – überhaupt eine taugliche Schutzrichtung aufweisen. Wenn das Ansehen, also die Geltung im Urteil der Mitmenschen, mit gelebten politischen Realitäten in Beziehung steht und dieses Urteil – wie Roggemann zutreffend meint – von den „Leistungen, Verhaltensweisen und gegebenenfalls Rechtsverletzungen und politischen Regelverstößen“ des Staates abhängig ist119, dann wird die Bestrafung von Verunglimpfungen, Beschimpfungen und Verächtlichmachungen von politischen Funktionsträgern oder abstraktverallgemeinernden Größen wie dem Staat das Urteil der Mitmenschen nicht verbessern. Im Gegenteil kann die Pönalisierung von Äußerungen, die innerhalb der Herabsetzung auch einen variablen Anteil an Kritik enthalten können, als Zensur verstanden werden. Krutzki geht noch weiter: „Der ‘Täter’ wird regelmäßig in seiner Verurteilung nur eine Bestätigung dafür erblicken können, daß er mit seinen wertenden Äußerungen über die Bundesrepublik oder ihre Verfassung recht hatte.“120
Diese Fremdzensur kann sich in einem ungünstigen Fall auch zu einer Selbstzensur umkehren. Denn den Tathandlungen der §§ 90a, 90b liegt die Eigenheit zugrunde, dass die Grenze zwischen straffreier Kritik und strafbarem Verhalten nicht eindeutig gezogen werden kann und durch äußere Bedingungen, Umstände des Einzelfalls beeinflusst wird und nicht zuletzt aus dem Blickwinkel der jeweiligen Epoche betrachtet, unterschiedlich gewertet werden kann121. Sonnen warnt deshalb, dass die Pönalisierung von Beschimpfungen, Verächtlichmachungen und Verunglimpfungen sozusagen zu einem „vorauseilenden Gehorsam“ der Bürger führen kann und dadurch die Wahrnehmung der Meinungsäußerungsfreiheit vereitelt122. In der Tat erscheint dies vor dem Hintergrund, dass die Wahrnehmung der Meinungsäußerungsfreiheit für die lebendige Demokratie notwendig ist123, überaus widersprüchlich. Es stellt sich näm118 119 120 121
Siehe oben unter: Achtes Kapitel, D) XI. und E) VII. Roggemann, a.a.O., S. 937. Krutzki, a.a.O., S. 300. Die besonderen historischen Momente der Weimarer Zeit, der NS-Zeit und der frühen BRD wurde oben bereits behandelt: C)II. sowie im siebten Kapitel: E)–F). 122 Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 6 („Schere im Kopf“). 123 „Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist [...]. Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, ‘the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom’ (Cardozo).“ Siehe: BVerfGE 7, 198 (208).
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lich die Frage, wie bei Bestrafung der Teilnahme an gemeinsamer Demokratie – sei sie in einigen Fällen noch so nutzlos124 – zugleich die „Erziehung des deutschen Volkes zur Demokratie“125 bewerkstelligt werden kann.
2. Zwischen Staats- und Regimeschutz Die bereits behandelte Diskussion darüber, was unter dem Schutzobjekt der Bundesrepublik und ihrer Länder nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 zu verstehen ist126, korrespondiert bei genauerer Betrachtung mit der Frage, ob § 90a neben dem Staatsschutz auch dem „Regimeschutz“ dienen kann. Anders ausgedrückt: Wenn das heutige politische System in Deutschland durch Umwälzungen seine Grundlage verliert und eine Diktatur errichtet wird, können dann die §§ 90a, 90b und insbesondere der nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 geregelte begriffliche Ansehensschutz des Staates selbst auch für den Schutz des neuen Regimes, also für den Schutz der Diktatur genutzt werden? Wenn der BGH ausführt, dass der „Sinn“ des damaligen § 96 Abs. 1 Nr. 1, also des heutigen § 90a Abs. 1 Nr. 1 darin besteht, „die Bundesrepublik und ihre Länder in ihrer besonderen Wesenheit und Gestalt als auf eine freiheitlich-demokratische Ordnung gegründete Staatswesen [...] zu schützen.“127, dann geht der Ansehensschutz des Staates nur so weit, wie der Staat als freiheitlich repräsentative Demokratie in Erscheinung tritt. Eine Diktatur, die nicht freiheitlichdemokratisch legitimiert ist, kann vom Schutzumfang der Vorschrift also nicht erfasst sein. Dieser Ansatz ist also durchaus begrüßenswert128. Nun wurde oben bereits angedeutet, dass diese Auslegung jedoch zu Lasten einer Abgrenzung zur ebenfalls nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 erfassten „verfassungsmäßigen Ordnung“ geht und in der Lehre daher häufig auf Ablehnung gestoßen ist129. Dort hat man die BRD und ihre Länder vielmehr als Staat geschützt betrachtet130. Diese Auslegung kollidiert zwar nicht mit dem Schutzobjekt der verfassungsmäßigen Ordnung, doch ist sie anfälliger für den Missbrauch einer nach Umwälzungen errichteten Diktatur. Denn nach einem Systemwechsel bräuchte sich der neue Machtapparat nicht an Maßstäben wie der Freiheitlichkeit oder Demokratie messen zu lassen. 124 Aber auch die auf den ersten Blick unberechtigte oder überflüssige Kritik kann Diskussionen anstoßen, die sonst möglicherweise ausgeblieben wären. 125 Müller-Emmert, BT-SondA-Prot., BT V, S. 975. Hinw. bei: Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 4. 126 Siehe oben: Achtes Kapitel, D) II. 1. 127 BGHSt 6, 324 (325). 128 Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 46. 129 Schroeder, a.a.O., S. 90; Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 3; Paeffgen, NKStGB, § 90a, Rn. 17. 130 Steinmetz, MK-StGB, § 90a, Rn. 4.
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3. Rechtsgüterlehre a) Allgemein In unserer Rechtsordnung wird überwiegend die Meinung vertreten, dass das Strafrecht dem Schutz von Rechtsgütern dient131. Was dies für die Rechtsanwendungs- und Rechtsetzungspraxis im Einzelnen bedeutet, ist überaus umstritten. Denn die vielfach geäußerte Kritik am Rechtsgutsbegriff lässt Zweifel über die Funktionen des Rechtgüterschutzes aufkommen. Eine zentrale Frage ist, ob die Rechtsgüterlehre von systemimmanenter Bedeutung ist – also nach Feststellung des geschützten Rechtsgutes eines Straftatbestandes der tatbestandlichen Auslegung und der systematischen Einordnung dient – oder darüber hinaus auch eine systemkritische Wirkung erzielen soll, also den Gesetzgeber beim Setzen von neuem Strafrecht an den Schutz von Rechtsgütern bindet132. Eine solch limitierende Wirkung für die Rechtsetzung könnte der Rechtgüterschutz nur dann entfalten, wenn dem Rechtgutsbegriff eine enge inhaltliche Bestimmung zugrunde liegt. Dies wird jedoch bezweifelt. Vormbaum meint, dass die Kant/Feuerbachsche Rechtsverletzungslehre – die später von Birnbaum133 durch den Begriff des „Gutes“ erweitert134 und durch Binding135 dann als der heute vorherrschende Begriff „Rechtsgut“ geprägt wurde136 – für eine limitierende Funktion besser geeignet ist, als die Gutsverletzung137. Denn die Rechtsverletzungslehre bindet die Zulässigkeit der Strafe an die Verletzung eines subjektiven Rechtes138 und bietet dadurch ein engeres Kriterium für die Legitimation von Straftatbeständen139. Welche Probleme ein weiter Rechtsgutsbegriff auslösen kann, zeigte zuletzt die umstrittene Inzestentscheidung
131 Roxin, AT 1, S. 13 ff.; Weigend, LK-StGB, Einl., Rn. 7; Hassemer / Neumann, NKStGB, Vor. § 1, Rn. 108 ff. 132 Roxin, Strafrecht AT 1, S. 18. 133 Johann Michael Franz Birnbaum (1792–1877) war ein deutscher Rechtswissenschaftler. Zu seiner Biografie zusammenfassend: Guzmán Dalbora, Bedeutung der Rechtsgutstheorie im Werke Birnbaums, S. 72 ff. 134 Birnbaum, Ueber das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens, in: Archiv des Kriminalrechts 1834, 149 ff. Text bei: Vormbaum (Hrsg.), Moderne deutsche Strafrechtsdenker, S. 148 ff. Vollständiger Wiederabdruck mit anschließenden Kommentaren bei: Guzmán Dalbora / Vormbaum (Hrsg.), Zwei Aufsätze. Dazu eingehend: Guzmán Dalbora, a.a.O., S. 67 ff.; Vormbaum, Birnbaum und die Folgen, S. 93 ff. 135 Karl Binding (1841–1920) war ein deutscher Straf- und Staatsrechtler. Siehe: Triepel, Binding, Karl Ludwig Lorenz, S. 244 f. 136 Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 62. Zum Ganzen: Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 38 ff. 137 Vormbaum, Politisches Strafrecht, S. 46 f.; ders., Fragmentarisches Strafrecht, S. 673. 138 Vormbaum, a.a.O., S. 54 f. 139 Vgl. Vormbaum, Fragmentarisches Strafrecht, S. 673.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
des BVerfG, bei der der Straftatbestand zum Beischlaf zwischen Geschwistern (§ 173 Abs. 2) als verfassungsgemäß eingestuft wurde140.
b) Der Schutz von Gefühlen und der öffentlichen Ordnung nach § 90a Trotz der Uneinigkeit über Inhalt und Reichweite der Rechtsgüterlehre finden sich im Schrifttum aber auch Stimmen, die zumindest für eine Reihe von Rechtsgütern die Strafwürdigkeit verneinen: Hierzu werden unter anderem der „öffentliche Friede“141 und „Gefühle“142 gezählt, was auch Berührungspunkte zumindest mit § 90a aufweist: Denn der Ansicht unter anderem von Schroeder, nach der in § 90a (auch) der öffentliche Friede geschützt werden soll143, könnten danach Bedenken entgegengebracht werden. Doch handelt es sich hierbei um eine Mindermeinung. Die vorherrschende Ansicht sieht in dem § 90a andere Rechtsgüter geschützt als die öffentliche Ordnung. Ein weniger vereinzeltes Meinungsgewicht kommt dem „Staatsgefühl“ oder dem „Wir-Gefühl“ zu. Diese sollen nämlich dem Symbolschutz des § 90a Abs. 1 Nr. 2 sowie Abs. 2 zugrunde liegen144. Hörnle unterscheidet bei der Beurteilung der Strafwürdigkeit des Gefühlsschutzes zwischen reinen Gefühlsdelikten, also solchen, die ausschließlich dem Schutz von Gefühlen dienen, und den unechten Gefühlsdelikten, die neben dem Gefühl auch den Schutz anderer Rechtsgüter bezwecken145 und zeigt auf, dass sich der Gefühlsschutz und der Schutz des öffentlichen Friedens nicht klar voneinander trennen lassen146. Hieran gemessen wird man § 90a Abs. 1 Nr. 1 wohl als unechtes Gefühlsdelikt einstufen müssen. Denn auch dem Symbolschutz liegt (mittelbar) der Ansehensschutz des Staates zugrunde147. Eine Bedenklichkeit prinzipieller Art ergibt sich hieraus also noch nicht.
c) Personale Rechtsgüterlehre Problematischer könnte sich aber die konkrete Ausprägung des Ansehens der in den §§ 90a, 90b bezeichneten Schutzobjekte als Kollektivrechtsgut bzw. als Universalrechtsgut erweisen. Denn vor allem die Anhänger der personalen Rechtsgüterlehre148 betrachten die Interessen der Allgemeinheit oder des Staa140 BVerfGE 120, 224 mit kritischen Sondervotum von Hassemer. 141 Roxin, Strafrecht AT 1, S. 28. 142 Mit Ausnahme von Bedrohungsgefühlen: Roxin, Strafrecht AT 1, S. 22 f.; Hörnle, Der Schutz von Gefühlen im StGB, S. 268 ff. 143 Schroeder, a.a.O., S. 90. 144 Siehe: Achtes Kapitel D) XI. 145 Hörnle, a.a.O., S. 268 ff. 146 Vgl. ebd., S. 270. 147 Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 17. 148 Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, S. 166 f.; Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, S. 79 ff. vgl. auch: Roxin, Strafrecht AT 1, S. 17 f.
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tes vom Einzelnen her. Dies bedeutet, dass Universalrechtsgüter nicht per se unzulässig, jedoch nur dann legitim sind, wenn sie als mittelbarer Interessenschutz der die Gemeinschaft bildenden Individuen in Erscheinung treten. Für Hassemer ergibt sich aus diesem Grundsatz: „Rechtsgüter der Allgemeinheit müssen sich in einer besonderen Weise legitimieren, und ihr strafrechtlicher Schutz unterliegt besonderen Geboten der Zurückhaltung. Sie führen nämlich, streng genommen, zu einer Kriminalisierung im Vorfeld. Dies wiederum muß zur Folge haben, daß der Anlaß besonders dringlich sein muß und daß die Modalitäten der Schutztechnik (Strafrahmenwahl, Versuchs- und Fahrlässigkeitsbestrafung etc.) vergleichsweise milde ausfallen müssen. Je mehr Schritte man gehen muß, um eine Strafdrohung mit einem menschlichem Interesse legitimierend zu vermitteln, desto vorsichtiger muß man im Ob und Wie der Strafdro149 hung sein.“
Im Gegensatz zu einer monistischen (oder etatistischen) Betrachtung lehnt die personale Rechtsgüterlehre den Staat als Selbstzweck ab150. Der Ansehensschutz der BRD, der Länder und der verfassungsmäßigen Ordnung (§ 90a Abs. 1 Nr. 1) kann vom Individuum her betrachtet als der Schutz des geteilten Ansehens angesehen werden. Auch beim Ansehensschutz von Verfassungsorganen (§ 90b Abs. 1) kann die Individualität im Interesse des Einzelnen an einer funktionsfähigen Legislative, Exekutive und Judikative bestehen. Dieser Konstruktion liegt danach eine einfache Mittelbarkeit zugrunde. Der Symbolschutz der Farben, der Flaggen und der Hymne (§ 90a Abs. 1 Nr. 2) und derjenige der Hoheitszeichen (§ 90a Abs. 2) geht hingegen noch einen Schritt der Abstraktion weiter: Die Farben, Flaggen und die Hymne symbolisieren den Staat; die Hoheitszeichen sind die körperliche Versinnbildlichung der Obrigkeit. Dahinter verbirgt sich bereits eine Ableitung. Das mitgeschützte Ansehen beim Symbolschutz bringt uns aber erst durch eine zweite Ableitung zum Individuum (geteiltes Ansehen, s.o.). Hier ergibt sich also eine doppelte Mittelbarkeit. Gemessen an der personalen Rechtgüterlehre nach Hassemer ist in der letzteren Fallgruppe die größere Zurückhaltung geboten, wenn nicht gar schon das „Ob“ der Strafbarkeit in Zweifel zu ziehen. Denn hier muss man mindestens zwei Schritte gehen, um die „Strafdrohung mit einem menschlichem Interesse legitimierend zu vermitteln“. Aber auch schon die Konstruktion der einfachen Mittelbarkeit verlangt nach dem Gesagten Zurückhaltung. Eine generelle Unzulässigkeit der §§ 90a, 90b folgt aus der personalen Rechtsgüterlehre jedoch nicht.
4. Strafbegrenzungswissenschaft Worin aber besteht ein „geteiltes“ Ansehen der BRD, der Länder, der verfassungsmäßigen Ordnung, der Verfassungsorgane und ein (abgeleitetes) „geteiltes“ Ansehen der Staatssymbole und Hoheitszeichen? Ist es tatsächlich die 149 Hassemer, a.a.O., S. 168. 150 Hassemer, a.a.O., S. 166.
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Dritter Teil: Deutsches Recht
„Kränkung der Ideale“151 des Bürgers, die er in die Schutzobjekte der §§ 90a, 90b hineinprojiziert, so stellt sich die Frage, ob nicht letztlich ein bloßes Gefühl oder ein Empfinden geschützt werden soll. Ist es der Gehorsam, die Achtung gegenüber den Schutzobjekten, die die Funktionsfähigkeit staatlicher Strukturen aufrechterhalten soll, dann drängt sich die Annahme auf, es handele sich um ein Friedensschutzdelikt. Diese Gesamtschau ergibt, dass sich hinter der Konstruktion des geteilten Ansehens abermals das Gefühl und der öffentliche Friede verbergen, also sogar zwei Problemfelder zusammentreffen – und zwar dasjenige des Allgemeinrechtsguts und dasjenige des Scheinrechtsguts bzw. Nichtrechtsguts. Damit stellt sich erneut die Frage nach der Strafwürdigkeit, die erfordert, beide Problemfelder zu berücksichtigen. Dies verlangt nun tendenziell nach einer Betrachtung von der Metaebene her, läuft dabei aber Gefahr, in einer strukturlosen Zweckmäßigkeitsprüfung zu verwässern, in denen aufgrund fehlender Kriterien beliebige Ergebnisse erzielt werden können. Vormbaum bietet im Anschluss an Naucke152 mit der Strafbegrenzungswissenschaft153 und anhand der Radbruchschen Trias Gerechtigkeit (a), Zweckmäßigkeit (b) und Rechtssicherheit (c) indes eine „operative Anleitung i.S. eines Prüfmodells“154. Danach sollen „Straftatbestände und ihre Interpretation [...] weder ungerechte noch unzweckmäßige Ergebnisse noch solche Ergebnisse produzieren, die dem Erfordernis der Rechtssicherheit nicht genügen; die Kontrolle hat somit im Sinne einer ‘Meistbegünstigung’ zu erfolgen; kann eines der drei Gebote nicht erfüllt werden, so hat die legislative oder interpretative Kriminalisierung zu unterbleiben.“155
a) Radbruch versteht Gerechtigkeit im Strafrecht als „ausgleichende Gerechtigkeit“ zwischen Verbrechen und Strafe; dem Verbrechen soll „die Strafe entsprechen – als Vergeltung“156. Dieser Ansatz betrifft das Strafensystem, seine Abstufungen und seine Beziehung zur der jeweils strafbaren Handlung. Die Frage nach dem „Ob“ der Strafbarkeit oder dem „Was“ des Ausgleichs führt uns sogleich zurück zur Frage nach der Legitimität der Strafe. Immerhin hat die kurze Würdigung der Rechtsgüter der §§ 90a, 90b ergeben, dass ihr zwei Problemfelder innewohnen. Ihre Bedenklichkeit wurde also bereits angedeutet. Wie bereits erwähnt, fordert Vormbaum in der Kategorie der Gerechtigkeit eine Annäherung an die Rechtsverletzungslehre, die die Strafwürdigkeit an das Vorliegen eines subjektiven Rechtes bindet: 151 Schroeder, a.a.O., S. 90. 152 Naucke, Autobiographie, S. 442 f. m.w.N. 153 Vormbaum, Politisches Strafrecht, S. 39 ff., 45 ff.; zuletzt: ders., Fragmentarisches Strafrecht, S. 687 ff. 154 Vormbaum, Fragmentarisches Strafrecht, S. 687. 155 Ebd. 156 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 264.
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„Damit kommt neben der Verletzung und unmittelbaren Gefährdung der klassischen Rechte – vor allem Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum – nur ein enger Cordon weiterer Rechtsgüter in Betracht, in erster Linie Individualrechtsgüter, 157 daneben einige Kollektivrechtsgüter“ .
Das führt uns bei dem Ansehensschutz des i.w.S. Staates zur Zulässigkeit von Allgemeinrechtsgütern, die selbst in der personalen Rechtsgüterlehre nicht per se abgelehnt werden. Die Frage um Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit bringen uns jedoch einer Antwort näher: b) Denn gemessen an dem Satz nullum crimen sine lege erwecken die §§ 90a, 90b in der Kategorie der Rechtssicherheit große Bedenken. In der Sache wurden die Probleme bereits im Zusammenhang mit Art. 103 Abs. 2 GG angesprochen: Der Adressat der Strafnormen kann nicht erkennen, wann er mit der Beschimpfung, Verächtlichmachung oder Verunglimpfung der in §§ 90a, 90b aufgeführten Schutzobjekte die Grenze zur Strafbarkeit übertritt. Diese Grenze ließe sich bei den erforderlichen Tathandlungen auch nicht endgültig festlegen. In der geltenden Fassung verstoßen die Vorschriften daher gegen die Rechtssicherheit. c) Auch in der Kategorie der Zweckmäßigkeit wurden bereits Argumente vorgetragen158. Wenn Vormbaum für eine zweckmäßige Kriminalisierung verlangt, dass sie mehr Nutzen bewirkt als Schaden anrichtet159, muss dies für die §§ 90a, 90b bezweifelt werden. Denn wenn die demokratische und politische Weiterentwicklung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet wird, setzt sie Rahmenbedingungen voraus, die politische Partizipation, Meinungskundgaben oder andere Formen der Teilnahme zulassen. Die Pönalisierung derartiger Handlungen richtet dann mehr Schaden an, da sie Fremd- oder gar Selbstzensur fördert. Zwar zeigt die (aktuell) geringe Anwendungsrelevanz der Vorschriften160, dass sie nicht missbräuchlich Anwendung finden. Die bloße Existenz der Strafvorschriften bietet aber dem Rechtsanwender – sozusagen auf Abruf – ein Instrument, das je nach Bedarf zur Repression genutzt werden kann. Die §§ 90a, 90b verstoßen somit auch gegen die Zweckmäßigkeit.
III. Unwahre Tatsachenbehauptungen? Die Forderung nach einer tatbestandlichen Einschränkung der §§ 90a, 90b auf unwahre Tatsachenbehauptungen161 wurde bereits vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund – insbesondere auf Grund des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG – er157 158 159 160 161
Vormbaum, „Politisches“ Strafrecht, S. 46 f. Siehe oben zur Tauglichkeit des Rechtsgüterkonzepts der §§ 90a, 90b (unter 1.). Vormbaum, „Politisches“ Strafrecht, S. 54. Siehe oben: Achtes Kapitel D) XII. sowie E) I. Siehe oben: C) I. 6. e) a.E. sowie f)
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Dritter Teil: Deutsches Recht
wähnt. Auch im Hinblick auf die rechtspolitische Würdigung erscheint eine solche Einschränkung geboten.
D) Ausblick Die Forderung nach einer ersatzlosen Streichung der §§ 90a, 90b162 und die geringe Anwendungsrelevanz der Vorschriften mag den Eindruck erwecken, eine Streichung sei denkbar oder gar beabsichtigt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Vorschriften erhalten bleiben, da die Sorge, die Streichung der Vorschriften könne bei den Adressaten der Straftatbestände den Eindruck erwecken, dass Beschimpfungen, Verächtlichmachungen und Verunglimpfungen der §§ 90a, 90b nunmehr erlaubt seien, zu groß sein wird. Dies ist einem entscheidenden Maße auf die Anwendung der §§ 90a, 90b zurückzuführen. Die verfassungskonforme Auslegung wird als eine Möglichkeit der Heilung verstanden, durch die die Tatbestände ihre Daseinsberechtigung wahren. Obwohl diese Art der Auslegung bedenklich ist163, kann mit einer Streichung allein aufgrund der verfassungsrechtlichen und kriminalpolitischen Bedenken nicht gerechnet werden. Dass die Nichtanwendung von Teilen der Tatbestände164 und zumindest eine Teilstreichung geboten sind165, sowie einschränkende, tatbestandliche Veränderungen166 einige der Bedenken zumindest schmälern könnten, wurde darzulegen versucht.
162 Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 27; Bemmann, Meinungsfreiheit und Strafrecht, S. 19; verfassungswidrig: Deiters, a.a.O., S. 319; �opi�, Politisches Strafrecht, S. 253 f.; für § 90a: Grünwald, Meinungsfreiheit und Strafrecht, S. 296 f. 163 Siehe oben: I. 6. 164 So bei Tathandlungen, die durch Kunst in Erscheinung treten. Siehe oben unter: I. 6. b). 165 Ersatzlose Streichung des beschimpfenden Unfugs; im Hinblick auf die Grundsätze der personalen Rechtsgüterlehre fakultativ auch die Streichung des Symbolschutzes nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 sowie Abs. 2. 166 Insbesondere die tatbestandliche Einschränkung auf unwahre Tatsachenbehauptungen. Siehe oben unter 6. f).
VIERTER TEIL: VERGLEICH
Zehntes Kapitel: Historischer Vergleich A) Vergleichsausschnitt Wenn in der Darstellung des türkischen und deutschen Rechts die Vorläuferrechtsordnungen untersucht worden sind, dann geschah dies mit dem Wissen, dass in einem späteren Vergleich geschriebenes Strafrecht, also gesetzlich festgelegte Straftatbestände, miteinander in Bezug gebracht werden. Gegenstand des folgenden Vergleichs kann nicht etwa sein, willkürliches Vorgehen gegen Täter, die sich deviant oder delinquent verhalten haben, zu untersuchen. Denn richtig ist zwar, dass ein strafrechtlicher Schutz des Staates in einer den Artt. 145, 159 tStGB 1926 ähnlichen Form vor der Reformepoche der tanzimat nicht existierte. In öffentlichen Belangen verfolgten jedoch die Polizei- und Sicherheitskräfte sozialschädliches Verhalten administrativ (d.h. willkürlich1)2, und die Belange des Herrschers und des Osmanischen Reiches fanden schon vorher durch Anwendung von auf den Erlass des Sultans (ferman) gründende Todesstrafen Berücksichtigung (siyaseten katl)3. Das bedeutet, dass der Staatsschutz dem Osmanischen Reich vor der tanzimat nicht fremd war – im Gegenteil sogar extensiv Anwendung finden konnte –, aber in einer für den vorliegenden Vergleich nicht relevanten Form existierte. Die Untersuchung muss sich daher auf jenen Teil des Strafrechts beschränken, der nach der Reformperiode der tanzimat entstand4. Denn erst hier bildete sich allmählich ein Katalog von Straftatbeständen heraus, der im Hinblick auf Umfang und Systematik vergleichbar war mit denen der Strafgesetzbücher, die durch die Kodifikationsbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa entstanden waren. Hierdurch konnte der willkürlichen Strafe ein gewisser Grad an Rechtssicherheit entgegensetzt werden und unter anderem mit der Einführung der Egalität die Todesstrafe auf Grundlage des Sultanerlasses aufgehoben werden5. Begrenzt man den Vergleich also auf diesen Ausschnitt, lassen sich einige Gemeinsamkeiten hervorheben, die sich zum Teil durch eine vergleichbare staatsrechtliche Ent1 2 3 4 5
v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 427. Heyd, Eski Osmanl� Ceza Hukukunda Kanun ve �eriat, S. 633 f.; ders., Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 1 ff. Dazu grundlegend: Mumcu, Siyaseten Katl, insbes. S. 49 ff. Siehe oben: Zweites Kapitel, B) III. Siehe die einleitende Bestimmung des oStGB 1840: „[...] kein Beamter des Osmanischen Staates oder sonst jemand darf versuchen, eine andere Person zu töten; zum Beispiel soll, wenn ein Wesir einen Schäfer getötet hat, gegen den Wesir die Talion [qisas] angewendet werden.“ Siehe dazu: Mumcu, a.a.O., S. 157 ff. Vgl. Miller, Sin and Crime, S. 28.
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Vierter Teil: Vergleich
wicklung erklären lassen, zum Teil aber auch durch gemeinsame gesetzgeberische Vorbilder begründet sind.
B) Von der Staatwerdung zum Staatsansehen I. Allgemein: Über Dezentralisierung zur Republik In der Entwicklung eines strafrechtlichen Ansehensschutzes des Staates ist der türkischen und der deutschen Rechtsordnung gemeinsam, dass bis zur Herausbildung entsprechender strafrechtlicher Schutzobjekte zwei gesellschaftspolitische und staatsrechtliche Wendepunkte durchlaufen worden sind: der Übergang von absolut-monarchischen zu konstitutionell-monarchischen Strukturen und die Gründung der ersten Republiken. 6
Während in der preußischen Geschichte der Übergang zur konstitutionellen – also durch eine Verfassung beschränkten – Monarchie mit Inkrafttreten der revidierten Fassung der prVerf 1848 am 31. Januar 1850 erfolgte7, sollte in der osmanischen Geschichte der Konstitutionalismus erst fast drei Jahrzehnte später mit der oVerf 1876 errichtet werden. Auch die Gründung der Republik erfolgte mit der Ausrufung der Weimarer Republik im Jahre 1918 zuerst in Deutschland. Die Türkische Republik wurde im Jahre 1923 gegründet.
Sowohl das deutsche als auch das türkische (osmanische) Strafrecht haben vor dem strafgesetzlichen Ansehensschutz des Staates i.w.S. zunächst eine Phase der Dezentralisierung politischer Macht durchlaufen. Diese Phase kennzeichnet sich durch Bildung staatlicher Einrichtungen und Organe, die teilweise in einer konstitutionellen Verfassungsstruktur eingebettet waren, wodurch für den Rechtsetzer ein neues Regelungsinteresse entstand. Die Legitimation dieser Einrichtungen führte zunächst zu einem strafrechtlichem Ansehensschutz dieser Einrichtungen und Organe (– und zwar zunächst im Pressestrafrecht8). Vor der Dezentralisierung, also vor der Entpersonalisierung der Machtstrukturen der absolut-monarchischen Zeit, in der sich die Regierungsgewalt im Monarchen (und seiner Familie) konzentrierte, war mit dem Ehrschutz des Königs bzw. des Sultans bereits ein weitgehender Ansehensschutz des Staates gewährleistet. Dieser wurde durch den Schutz der Hoheitszeichen vor Realinjurien flankiert, wobei der Schutz der Hoheitszeichen prinzipiell als körperliche Versinnbildlichung der Herrschaftsmacht erscheint und von deren Beschaffenheit 6
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Auf die preußische Geschichte beschränken sich die vorliegenden Betrachtungen, weil die preußische Strafgesetzgebung mit dem prStGB 1851 Vorbild für das spätere RStGB war und daher einen direkten Entwicklungsstrang zurück bis in das 19. Jahrhundert bietet. Vgl. oben: Siebtes Kapitel, C). Eisenhardt weist jedoch darauf hin, dass die revidierte Verfassung von 1850 Preußen zwar „nach außen der Charakter einer konstitutionellen Monarchie, in Wirklichkeit jedoch den eines konservativen Obrigkeitsstaates verliehen“ habe, Deutsche Rechtsgeschichte, Rn. 342 f. m.w.N. Siehe dazu näher unten: III.
Zehntes Kapitel: Historischer Vergleich
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unabhängig ist9. Während dieser strafrechtliche Ansehensschutz jedoch noch nicht unmittelbarer Art ist, also nicht das Ansehen des Staates selbst Schutzgegenstand wird, bildet sich nach den Gründungen der Republiken ein solcher unmittelbarer Ansehensschutz heraus. Idealtypisch werden in beiden Rechtsordnungen – ausgehend von dem Ehrschutz des Herrschers und dem Schutz der Hoheitszeichen während der absoluten Monarchien – zwei Schritte durchlaufen, die in einen unmittelbaren Ansehensschutz des Staates münden. Der erste Schritt ist entpersonalisierender Natur. Er führt zu der Verlagerung der (zuvor personal konzentrierten) Macht in Räte, Parlamente und andere Einrichtungen. Der zweite Schritt ist deinstitutionalisierender Natur. Er führt mit der Gründung der Republiken – über staatliche und konstitutionelle Einrichtungen hinaus – zu der Herausbildung der abstrakten Größe Staat10.
II. Der Ansehensschutz des Staates in der absoluten Monarchie: Ehrschutz des Monarchen und Schutz der Hoheitszeichen vor Realinjurien Vor dem Ansehensschutz staatlicher Einrichtungen entwickelt sich im deutschen Strafrecht seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Majestätsbeleidigung als eigenständiges Delikt heraus11 und diese war für ein Verständnis, in dem der Regent gewisserweise mit dem Staat gleichzusetzen war, ein relativ deckungsgleicher Regelungsbereich zu dem Ansehen des Abstraktum Staat. Und obwohl auch im osmanischen Strafrecht erst mit dem oStGB 1858 ein strafrechtlicher Schutz des Herrschers konstituiert wurde12, existierte – wie oben angedeutet – schon vorher ein überaus umfangreiches Material an Fällen, in denen Handlungen gegen die Belange des Herrschers und des Reichs mit der Todesstrafe sanktioniert wurden (siyaseten katl). Hierunter fand sich – neben einer Vielzahl von Handlungen gegen den Staat und den Sultan – auch die Ehrverletzung des Sultans13. Dem Begriff des Staatsoberhauptes wurde ein Begriff von der körperlichen Versinnbildlichung der Macht zugeordnet. Die Zeichen der Ho9
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11 12 13
Denn durch Hoheitszeichen können sowohl die Autorität absoluter Herrschaftsformen als auch diejenige konstitutionell-monarchischer Systeme körperlich versinnbildlicht werden. Es mag sich das Zeichen ändern: Das Prinzip der Versinnbildlichung der Herrschaftsmacht hingegen bleibt dadurch unberührt. Dies soll nicht heißen, dass vorher der Staat als Abstraktum unbekannt gewesen wäre. Im konkreten Zusammenhang der Äußerungsdelikte des Staatsschutzstrafrechts aber, entscheiden diese idealtypischen Entwicklungsstufen über die Herausbildung neuer strafrechtlicher Schutzobjekte, gegen die sich möglicherweise verunglimpfende oder herabsetzende Handlungsweisen richten können und für die daher ein neues Regelungsinteresse entsteht. Dazu: Hartmann, Majestätsbeleidigung, S. 11 ff. Vgl. Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 71 m.w.N. Siehe oben: Zweites Kapitel, B) III. 2. Mumcu, Siyaseten Katl, S. 77.
Vierter Teil Vergleich
III Gemeinsamer Ursprung des konstitutionellmonarchischen Institutionenschutzes Das Pressestrafrecht Frankreichs
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staatlichen Einrichtungen und Organen. Vorher war beiden Rechtsordnungen ein solcher institutioneller Schutz vor Angriffen aus der Presse fremd. Die Bedeutung dieser relativ deutlichen Gemeinsamkeit mag sich zwar dadurch schmälern, dass sich das französische Vorbild im deutschsprachigen Raum bereits mehr als ein Jahrzehnt früher durchsetzen konnte als im Osmanischen Reich. Doch würde eine derartige Bewertung außer Acht lassen, dass vor Beginn der Reformperiode der tanzimat eine derartige Hinwendung zu westlichen Vorbildern aus osmanischer und insbesondere islamrechtlicher Sicht noch nicht denkbar war und es umso bemerkenswerter ist, dass sich der osmanische Gesetzgeber gleich zu Beginn der Reformzeit (auch) auf dem Gebiet des Pressestrafrechts mit großer Entschiedenheit Frankreich zuwandte.
IV. Zum Ansehensschutz des Staates der republikanischen Phase Nach dieser den institutionellen Ansehensschutz begründenden Phase entwickelt sich die deutsche Rechtsordnung relativ unabhängig weiter. Sowohl der osmanische als auch der republikanisch-türkische Gesetzgeber werden hingegen weiterhin maßgeblich durch das Ausland beeinflusst. Denn neben dem Vorbild Frankreich für das Presse(straf)recht wurde auch das Hauptstrafrecht – insbesondere das oStGB 1858 – zunächst durch das französische Strafrecht geprägt. Gesetzgeberisches Vorbild für das oStGB 1858 war der Code pénal von 181018. Spätestens seit 1909 nahm zudem das italienische Strafrecht in Gestalt des Codice Zanardelli Einfluss auf den osmanischen Gesetzgeber, der das Gesetzbuch bereits übersetzen ließ und sich somit allmählich vom französischen Strafrecht entfernte19. So wurde der strafrechtliche Schutz der Hoheitszeichen aus Absatz 3 des „Zusatzes“ zu Art. 55 oStGB 1858 i.d.F. von 1911 bereits durch das italienische Recht beeinflusst20. Die Übersetzung des italienischen Codice Zanardelli sollte später auch als Vorbild für das erste republikanische tStGB 1926 dienen, in dem die Artt. 145 und 159 aufgeführt waren21. So werden dem Art. 145 tStGB der Art. 115 des Codice Zanardelli22 und dem 18
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Siehe oben: Zweites Kapitel, B) III. 2. Der Code pénal von 1810 bildet zwar auch aus deutscher Sicht eine Besonderheit. Dieser galt nämlich seit dem 1. Januar 1811 in vier linksrheinischen Departements, vier hanseatischen Departements des Münsterlandes und im Großherzogtum Berg und wurde erst 1851 durch das prStGB abgelöst. Doch waren die Vorschriften zum Schutze des Ansehens des i.w.S. Staates im prStGB 1851 durch das prPresseG 1849 beeinflusst und daher ist der Code pénal einem von dem hier vorliegenden Untersuchungssausschnitt abweichenden Entwicklungsstrang zugehörig. Vgl. Schubert, Der Code pénal, S. 7. Vgl. Tellenbach, Zum Straf- und Strafprozeßrecht, S. 146 f., m.w.N. Vgl. ebd., S. 147. Siehe oben: Drittes Kapitel, A) I. 1. Vgl. Art. 115 des Codice Zanardelli: „Wer zur Bezeigung seiner Verachtung an öffentlichem oder dem Publikum zugänglichen Orte die Flagge oder ein anderes Staatsabzei-
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Vierter Teil: Vergleich
Art. 159 tStGB die Artt. 123 und 126 des Codice Zanardelli23 als gesetzgeberische Vorbilder zugewiesen24. Obwohl sich beide Rechtsordnungen aber nach der gemeinsamen Beeinflussung durch das französische Presserecht auseinanderentwickelten, münden beide Strafrechtsordnungen in der republikanischen Phase, also nach der Gründung der Weimarer Republik bzw. nach der Gründung der Türkischen Republik, in den strafrechtlichen Schutz des Staatsansehens. Während dieser in der Weimarer Republik durch die Republikschutzgesetzgebung zunächst auf die „verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform“ beschränkt war, fand mit § 134a im Jahre 1932 auch der Ansehensschutz des Reiches und der Länder selbst Einzug in das StGB25. Im türkischen Strafrecht fand der unmittelbare Ansehensschutz des Staates mit der Aufnahme des Schutzobjekts der „Republik“ in den Art. 159 tStGB im Jahre 1936 eine Entsprechung zu der deutschen Entwicklung26. Diese Änderung erfolgte im Zuge der Anpassung an den im Jahr 1930 in Italien in Kraft getretenen Codice Rocco27. Dort hatte sich mit den Verbrechen gegen die „Persönlichkeit des Staates“ (personalità dello stato) ein neuer Maßstab im Staatsschutzstrafrecht herausgebildet, und dieser blieb für den türkischen Gesetzgeber nicht ohne Auswirkungen. Mit dem RoccoAngleichungsgesetz von 1936 passte der türkische Gesetzgeber die Titelüberschrift unter anderem des Art. 159 tStGB 1926 in „Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates“28 an und fügte dem Tatbestand des Art. 159 neben anderen Schutzobjekten auch die „Republik“ hinzu. Welche Kritik diese Hinwendung zur italienisch geprägten Auffassung von der „(ideellen) Persönlichkeit des Staates“ im Rahmen der Rechtsgüterkonzeption ausgelöst hat, wurde bereits dargelegt29. Auf welche Art diese Auffassung das türkische Recht vom deutschen unterschied, ist eine Frage, die uns im kriminalpolitischen Vergleich beschäftigen soll30.
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chen wegnimmt, zerstört oder verunziert, [...]“; Teichmann, Das italienische Strafgesetzbuch, S. 40 f. Art. 123: „Wer öffentlich den Senat oder das Abgeordnetenhaus herabwürdigt, [...].“ und Art. 126: „Wer öffentlich die konstitutionellen Staatseinrichtungen verächtlich macht, [...]“. Vgl. Teichmann, Das italienische Strafgesetzbuch, S. 42. Erem, Ceza Hukukunda Türk Bayra��, S. 115; Sancar, Alenen Tahkir ve Tezyif Suçlar�, S. 46 (43). Siehe dazu oben: Siebtes Kapitel, E) II. und IV. 2. Siehe dazu oben: Viertes Kapitel, D) II. 2. Der italienische Einfluss blieb so bis zum Inkrafttreten des tStGB 2004 erhalten. Das tStGB 2004 ist zwar nicht länger nur durch eine Rechtsordnung geprägt. Die Nachfolger – die Artt. 300, 301 tStGB 2004 – sind aber noch in wesentlichen Zügen den Artt. 145, 159 tStGB 1926 nachgezeichnet und so setzt sich zumindest in diesem besonderen tatbestandlichen Rahmen der italienische Einfluss bis heute fort. Vgl. oben unter: Drittes Kapitel, A). Siehe dazu oben: Viertes Kapitel, C) I. und D) I. Siehe dazu oben: Sechtes Kapitel, C) II. Siehe unten: Dreizehntes Kapitel, C).
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C) Gesetzgebungspraxis Ins Auge fällt, dass sich in der deutschen Gesetzgebungspraxis eine deutlichere Tendenz zur Verabschiedung von Nebengesetzen abzeichnet. Ein konstanter Ansehensschutz des Staates, seiner Symbole, Hoheitszeichen und Einrichtungen bzw. Organe im Hauptstrafrecht war zwar spätestens durch die §§ 131, 135 RStGB gewährleistet. Doch wurden aktuelle Ereignisse und gesellschaftliche Unruhen häufig zum Anlass genommen, zusätzliche Vorfeldtatbestände in Nebengesetzen zu verabschieden. Diese flankierten den Schutz durch die Vorschriften des RStGB. Hierzu müssen die Notverordnungen und Republikschutzgesetze der Weimarer Zeit, die Notverordnungen in der frühen Phase der NS-Zeit sowie die darauf folgenden Reichsregierungsgesetze gezählt werden31. Diese Tendenz zu nebengesetzlichem Strafrecht erklären sich wohl zu einem wesentlichen Teil durch die Verordnungsbefugnisse des Reichspräsidenten. Denn nach Art. 48 Abs. 2 WRV konnte der Reichspräsident, „wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten.“
Zumindest die Notverordnungen versprachen eine schnellere Reaktion auf gesellschaftspolitische Veränderungen als möglicherweise langwierige Gesetzgebungsverfahren; durch die Zunahme von gesellschaftlichen Notlagen wurden ständig die Anforderungen für die Rechtsetzung nach Art. 48 Abs. 2 WRV verringert: „Solche ‘wirtschaftlichen Notstände’ führten zu einer Neuinterpretation der Diktaturvoraussetzungen. Gefordert wurde jetzt nur noch die Gefährdung einer wichtigen Staatsaufgabe, welcher nicht rechtzeitig mit den Mitteln der regulären Gesetzgebung oder Vollziehung begegnet werden konnte. Dazu reichte aus, daß ein Ge32 setzgebungsverfahren zu langwierig sein würde.“
Hinzu kam, dass ein großer Teil der Notverordnungen – zumindest diejenigen aus der Weimarer Zeit – befristet war33. Tatsächlich regelte Art. 48 Abs. 2 S. 2 WRV, dass „vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft“ gesetzt werden durften. Ob daraus eine vollumfängliche Pflicht zur Befristung entnommen werden musste, war umstritten34, und tatsächlich wurden noch in der 31 32 33
34
Siehe oben unter: Siebtes Kapitel, E) und F). Gusy, Weimarer Reichsverfassung, S. 108. Dies gilt etwa für die den Republikschutzgesetzen von 1922 und 1930 vorangehende Republikschutzverordnungswelle. Aber auch das RepSchG 1922 und das RepSchG 1930 waren befristet, wobei das RepSchG 1930 sogar noch früher außer Kraft trat, als gesetzlich zunächst vorgesehen. Siehe oben: Siebtes Kapitel, E) II. und E) III. Gusy, Weimarer Reichsverfassung, S. 110.
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Vierter Teil: Vergleich
Weimarer Zeit dauerhafte Maßnahmen aufgrund befristeter Notverordnungen getroffen35. Für die befristeten Verordnungen aber war im Hinblick auf Straftatbestände die Regelung neben dem Hauptstrafrecht praktikabler als eine Ergänzung des Abschnitts, in dem auch die §§ 131, 135 RStGB Platz fanden. So verwundert nicht, dass ausgerechnet die Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens vom 19. Dezember 1932, die eine ansehensschützende Vorschrift für Reich und Länder (§ 134a) ausnahmsweise in das StGB brachte, unbefristet war. Obwohl ein Teil der einschlägigen Notverordnungen der NS-Zeit ebenfalls auf Grundlage von Art. 48 Abs. 2 WRV (und später dann vermehrt als Reichsregierungsgesetz auf Grundlage des Ermächtigungsgesetzes ergingen), aber – anders als die der Weimarer Zeit – unbefristet waren, hält sich auch in der NS-Zeit der Trend zur Regelung im Nebenstrafrecht. Lediglich § 134b findet mit der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 Einzug in das StGB. Dass zwischen den also hauptsächlich als Nebenstrafrecht aufgestellten und auf Grundlage des Art. 48 Abs. 2 WRV erlassenem Normen und den §§ 131, 135 RStGB auch ein wahrnehmbarer praktischer Unterschied bestand, wurde oben bereits ausgeführt36. Im Gegensatz zu diesem Trend zeichnet sich in der türkischen Gesetzgebungsgeschichte ein erkennbar abweichendes Bild ab. Hier setzte sich das etwaige Regelungsinteresse beim strafrechtlichen Schutz von Hoheitszeichen bzw. beim Ansehensschutz des Staates i.w.S. durch die Einwirkung auf die Tatbestände der Artt. 145, 159 tStGB 1926 um, nicht hingegen durch Verabschiedung von flankierendem Nebenstrafrecht. Dies äußert sich vordergründig in der zum Teil aktuell veranlassten Erweiterung der Tatbestände, insbesondere derjenigen des Art. 159 tStGB: Hierzu kann etwa die Einführung des Schutzobjekts der „Legitimität der Großen Nationalversammlung“, die im Zusammenhang mit möglichen Vorwürfen der Wahlfälschung stand37, gezählt werden. Ähnliche Vorgänge brachten zudem das Schutzobjekt der „Beschlüsse der Großen Nationalversammlung“ oder etwa den Schutz der Ministerien, da sich – wie schon in der amtlichen Begründung verdeutlicht wird38 – in der Rechtsanwendung eine „Strafbarkeitslücke“ aufgetan hatte, also ein neues Regelungsinteresse entstanden war. Was für unseren Untersuchungsbereich Geltung beanspruchen mag, muss aber nicht auch für das übrige (Staatsschutz-)Strafrecht gelten: Insbesondere kann nicht etwa die Beobachtung gemacht werden, dass Nebengesetze in der türki35 36 37 38
Ebd.; so auch die Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens vom 19. Dezember 1932 (RGBl. I, 548), mit der u.a. § 134a in das StGB eingefügt wurde. Zur höheren Anwendungsrelevanz des Nebenstrafrechts: Siebtes Kapitel, E) und F). T.B.M.M. Tutanak Dergisi v. 18.9.1946, RNr. 50, S. 2. T.B.M.M. Tutanak Dergisi v. 18.9.1946, RNr. 50, S. 1 f. Siehe oben: Viertes Kapitel, D) I. 3.
Zehntes Kapitel: Historischer Vergleich
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schen Gesetzgebungspraxis unüblich wären. Im Gegenteil traten gerade im Staatsschutzstrafrecht die Gesetzespakete häufig als Nebenstrafrecht in Erscheinung39. Doch wurde in der Gesetzgebung zum Ansehen des Staates häufig erweiternd auf die Vorschriften aus dem Hauptstrafrecht zurückgegriffen. Dies trifft auf das deutsche Recht nicht zu und verdient daher, festgehalten zu werden.
39
Erwähnung verdienen insbesondere das Gesetz über strafbare Handlungen gegen Atatürk (Gesetz Nr. 5816 vom 25. Juli 1951), das Gesetz zum Schutz der „Mai-Revolution“ (Gesetz Nr. 38 vom 5. März 1962) oder in jüngerer Zeit auch das Antiterrorgesetz (Gesetz Nr. 3713 vom 12. April 1991). Vgl. auch: Özek, Devlete Kar�� Suçlar, S. 18 ff.
Elftes Kapitel: Dogmatischer Vergleich „In der bloßen Aufforderung zum ‘Umsturz’ durch gewaltfreie Beseitigung der bisherigen staatlichen Ordnung und Ersetzung durch ein anderes politisches System allein liegt 1 noch keine böswillige Verächtlichmachung.“
A) Vorüberlegungen Der dogmatische Vergleich der geltenden Artt. 300, 301 tStGB 2004 und der §§ 90a, 90b StGB hat sich an der Gliederung auszurichten, die der jeweiligen Untersuchung der Vorschriften zugrunde gelegt worden ist. Die vergleichende Betrachtung der dort untersuchten Teilstücke gewährleistet nämlich eine möglichst lückenlose, vergleichende Würdigung des Vergleichsmaterials. Die Gliederung richtete sich sowohl im türkischen als auch im deutschen Recht ihrerseits an dem jeweiligen Verbrechensaufbau aus. Dieser nähert sich im geltenden Recht weitgehend aneinander an: Denn während der klassische Verbrechensaufbau in der türkischen Strafrechtswissenschaft einen vierstufigen Aufbau hat und hierbei das legale Element (kanuni unsur), das objektive Element (maddi unsur), die Rechtswidrigkeit (hukuka ayk�r�l�k) und das subjektive Element (manevi unsur) umfasst, zeigt sich in jüngeren Strömungen die Tendenz, sowohl die objektiven als auch die subjektiven Merkmale als Bestandteile des Tatbestandes anzusehen und daneben die Rechtswidrigkeit und Schuld (kusurluluk) zu stellen2. Die neue Strömung kennzeichnet sich also zu einem erheblichen Teil dadurch, den Tatbestandsvorsatz nicht länger als Schuld- sondern als Verwirklichungsform von Unrecht zu betrachten3. Dieser Übergang, der in der Untersuchung der Artt. 300, 301 tStGB 2004 gliederungstechnisch Berücksichtigung findet, weist Ähnlichkeiten zu der Entwicklung der deutschen Strafrechtswissenschaft auf, in der zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die finale Handlungslehre der Tatbestandsvorsatz aus der Schuld in den subjektiven Tatbestand überführt wurde4 und in dieser Form 1 2
3 4
BGH NStZ 2002, 592 (593). Siehe oben: Drittes Kapitel, B) I. Vgl. jüngere Darstellungen des Schrifttums bei: Koca / Üzülmez, Türk Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 144 ff., 171 ff.; Özgenç, Türk Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 225 ff.; den Vorsatz noch immer als Schuldform bezeichnend etwa: Centel / Zafer / Çakmut, Türk Ceza Hukukuna Giri�, S. 388 ff. Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 6; Sözüer, Das neue türkische Strafgesetzbuch, S. 18; ders., Die Reform des türkischen Strafrechts, S. 720. Als Begründer des Finalismus gilt Welzel (Das neue Bild des Strafrechtssystems). Roxin nennt als frühen Einfluss noch v. Weber (Zum Aufbau des Strafrechtssystems) und zu Dohna (Der Aufbau der Verbrechenslehre), Strafrecht AT 1, S. 202.
Elftes Kapitel: Dogmatischer Vergleich
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bis heute weiterwirkt. Für den dogmatischen Vergleich bietet sich somit die vergleichende Betrachtung – der erfassten Schutzobjekte, – der Tathandlungen, – der Anforderungen an die Öffentlichkeit der Tathandlungen bzw. der Schutzobjekte, – der subjektiven Anforderungen, – der Rechtswidrigkeit unter Berücksichtigung möglicher Rechtfertigungsgründe und – der dogmatischen Einbindung verfassungsrechtlicher, insbesondere grundrechtlicher Anforderungen an. Da die Schuld in der jeweiligen Rechtsordnung nach der Überführung des Vorsatzes in den subjektiven Tatbestand keine weiteren Besonderheiten ergibt5, braucht sie im dogmatischen Vergleich nicht separat berücksichtigt zu werden. Ausführungen zu verfassungsrechtlichen Berührungspunkten hingegen sind zwar nicht verbechensaufbautypisch, jedoch eine aufgrund der Grundrechte tangierenden Natur der Artt. 300, 301 tStGB 2004 und §§ 90a, 90b StGB erforderliche Auseinandersetzung.
Diesen vergleichenden Betrachtungen schließt sich die Würdigung von Einzelfallbeispielen an. Hier erst nämlich finden alle zuvor besprochenen dogmatischen Eigenheiten zusammengeführt Ausdruck.
B) Schutzobjekte I. Staatssymbole und Hoheitszeichen 1. Allgemein 6
Einen besonderen strafrechtlichen Schutz von Staatssymbolen und Hoheitszeichen kennt das türkische Strafrecht mit Art. 300 tStGB 2004 und das deutsche Strafrecht mit § 90a Abs. 1 Nr. 2 bzw. § 90a Abs. 2 StGB. Ausdrücklich erfasst das türkische Recht damit die türkische Fahne, jedes andere Zeichen, das die rote Fahne mit weißem Mond und weißem Stern trägt und als Hoheitszeichen verwendet wird (Abs. 1), sowie den Unabhängigkeitsmarsch (Abs. 2). Das deutsche Recht erfasst ausdrücklich die Farben, die Flagge, das Wappen und die Hymne der BRD oder eines ihrer Länder (Abs. 1 Nr. 2) sowie die öffentlich gezeigten 5 6
Siehe oben: Fünftes Kapitel, C) und D) sowie: Achtes Kapitel, D) und E). Da der Vergleich darauf angelegt ist, besondere Ehrschutztatbestände miteinander zu vergleichen, ist auf die allgemeinen Ehrschutztatbestände generell nicht einzugehen, obwohl diese möglicherweise Auffangregelungen beinhalten.
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Vierter Teil: Vergleich
Flaggen der BRD oder eines ihrer Länder und die öffentlich angebrachten Hoheitszeichen der BRD oder eines ihrer Länder (Abs. 2). Eine Gemeinsamkeit lässt sich also darin erkennen, dass beide Rechtsordnungen die Flagge (bzw. Fahne) als Staatssymbol an oberer Stelle nennen. Dass in der deutschen Rechtsordnung noch vor der Flagge die Farben Erwähnung finden, ist ein Umstand, welcher wohl den gestalterischen Unterschieden beider Flaggen geschuldet ist, da die türkische Fahne über die Farbe(n) hinaus auch grafische Symbole (Mond und Stern) enthält7. Abgesehen von der Hymne besteht ein Unterschied wiederum darin, dass Art. 300 tStGB 2004 über die Fahne hinaus alle als Hoheitszeichen verwendeten Zeichen erfasst, die die Merkmale der türkischen Fahne enthalten, wodurch der türkische Gesetzgeber sich zu einer relativ allgemeinen Tatbestandsformulierung entschieden hat, während der deutsche Gesetzgeber neben den Farben und der Flagge das Wappen erwähnt (Abs. 1 Nr. 2) und im Übrigen die öffentlich gezeigte Flagge und öffentlich angebrachten Hoheitszeichen erfasst (Abs. 2). Dieser Unterschied erklärt sich auch durch die unterschiedliche Systematik der Tathandlungen8 im deutschen Recht, in der Verunglimpfungen von Staatssymbolen strafbar sind, im Übrigen aber – also im Hinblick auf Flaggen und Hoheitszeichen – lediglich Realinjurien pönalisiert werden, während im türkischen Recht die Realinjurien mit der Herabsetzung gleichgestellt sind9, es also keinen Unterschied macht, ob ein Hoheitszeichen oder ein Staatssymbol betroffen ist oder ob eine Verbalinjurie oder Realinjurie Gegenstand der Tathandlung ist10. Insgesamt tritt im türkischen Recht die Unterscheidung zwischen Staatssymbolen und Hoheitszeichen also nicht in der Form in Erscheinung, wie im deutschen Recht. Schon zum tStGB 1926 kritisierte Erem: „Die Begriffe ‘Zeichen’ und ‘Symbol’ sollten nicht im gleichen Sinne aufgefasst werden. Gegenstände, die die Idee vom türkischen Staat in körperlicher Weise zum Ausdruck bringen, haben die Eigenschaft von Zeichen. Auch nicht körperliche Gegenstände können die Idee vom türkischen Staat zum Ausdruck bringen. Ihnen gegenüber wird die Herabwürdigung aber nicht unmittelbar begangen, sondern mittelbar durch andere Straftaten.“11
7
8 9 10 11
Art. 145 tStGB 1926 erfasste hingegen die Nationalfarben (millî renkler) (rot-weiß). So sollten auch Gegenstände in diesen Farben (etwa Kopftücher, Schals etc.) taugliche Angriffsgegenstände darstellen (Gözübüyük, Türk Ceza Kanunun Aç�lamas�, Bd. 2, S. 648). Siehe: Erem, Ceza Hukukunda Türk Bayra��, S. 118 m.w.N. Näheres zu den Tathandlungen siehe unten: C). So auch schon im Geltungszeitraum des tStGB 1926: Art. 145 pönalisierte das Abreißen, Zerreißen oder Beschädigen oder die Herabwürdigung der dort bezeichneten Schutzobjekte auf eine andere Weise. Siehe oben: Viertes Kapitel, C) III. Art. 301 tStGB 2004: „Wer die türkische Fahne durch Zerreißen, Verbrennen oder auf andere Weise öffentlich verunglimpft, [...]“. Siehe oben: Fünftes Kapitel, C) I. 2. Erem, a.a.O., S. 117. Hoheitszeichen können danach zugleich Staatssymbol sein. Umgekehrt hingegen erfordert das Zeichen das Vorliegen eines körperlichen Gegenstandes. Demgemäß sprach sich Erem also auch gegen die Erfassung der nicht körperlichen
Elftes Kapitel Dogmatischer Vergleich
devletin egemenlikalametlerinia�a��lama
2 Private Gegenstände
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Vierter Teil: Vergleich
öffentlich gezeigt sein müssen, ist eine Anbringung seitens einer Behörde nicht erforderlich14. Auch privat angebrachte Flaggen können also nach § 90a Abs. 2 erfasst sein15. Damit ist die Behandlung von privaten Gegenständen im türkischen und deutschen Recht auf vergleichbare Weise geregelt worden.
3. Hymne Während im türkischen Recht lange darüber gestritten wurde, ob die Nationalhymne – der Unabhängigkeitsmarsch – überhaupt ein taugliches Angriffsobjekt i.S.d. Art. 145 tStGB 1926 sein kann16, hat man sich mit der geltenden Vorschrift für eine ausdrückliche Regelung im Art. 300 Abs. 2 tStGB 2004 entschieden und den Streit beendet; allerdings hatte der Kassationshof in der Nationalhymne schon relativ früh einen tauglichen Angriffsgegenstand des Art. 145 tStGB 1926 gesehen17. Im deutschen Recht hat sich diese Frage erst gar nicht gestellt, da die Hymne stets ausdrücklich Erwähnung gefunden hat und für die Verunglimpfung nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB einen tauglichen Angriffsgegenstand bildet. Beiden Rechtsordnungen ist also über einen langen Zeitraum hinweg der besondere Ansehensschutz der Hymne bekannt gewesen, und so findet dieser Schutz auch im geltenden Recht Anwendung.
II. Staat, Staatseinrichtungen, konstitutionelle Einrichtungen, Verfassung und Nation 1. Der Staat als Schutzobjekt Der Staat tritt als Schutzobjekt ansehensschützender Vorschriften sowohl im türkischen als auch im deutschen Recht in Erscheinung. Er findet im deutschen Recht mit der „BRD oder eines ihrer Länder“ in § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB und im türkischen Recht mit dem „Staat der Türkischen Republik“ in Art. 301 tStGB 2004 Regelung. Beiden Rechtsordnungen ist ebenfalls gemeinsam, dass sich sowohl Lehre als auch Rechtsprechung über die Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale gestritten haben. Während aber im deutschen Recht die Auslegung zumindest in der Rechtsprechung auf die einschränkende Auslegung als freiheitlich repräsentative Demokratien18 beschränkt war, tendierte man im türkischen Recht sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung (lange19) 14 15 16 17 18 19
Vgl. hingegen Wortlaut von § 90b Abs. 2 Alt. 2 StGB: „von einer Behörde [...] angebrachtes Hoheitszeichen“. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) III. 2. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 34; Fischer, StGB, § 90a, Rn. 9; Burkiczak, Staatssymbole, S. 52. Vgl. Wortlaut des Art. 145 tStGB 1926: „sonstiges Hoheitszeichen des Staates“. Siehe oben: Viertes Kapitel, C) II. 2. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) II. 1. BGHSt 6, 324. So auch schon zum Art. 159 tStGB 1926. Kassationshof, Urteil vom 1.6.1977, E. 2025, K. 1952, teilweise abgedruckt bei: Özel, �çtihatl� Türk Ceza Kanunu, S. 83. Siehe auch:
Elftes Kapitel: Dogmatischer Vergleich
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zu der Gleichsetzung mit dem Staat schlechthin20. Dies ist ein relativ bedeutender Unterschied, da sich bei der limitierenden Auslegung nach dem BGH der Staat selbst stets an seiner Freiheitlichkeit und Demokratie messen lassen muss21. Dieser Maßstab wird bei der Rechtsprechung des türkischen Kassationshofes nicht angelegt.
2. Staatseinrichtungen und konstitutionelle Einrichtungen a) Institutionell Eine Vielzahl von Staatseinrichtungen bzw. konstitutionellen Einrichtungen (Verfassungsorgane) haben in den ansehensschützenden Vorschriften des türkischen und deutschen Rechts Regelung gefunden. Der türkische Gesetzgeber ist aber mit der Aufnahme von Schutzobjekten großzügiger gewesen als der deutsche Gesetzgeber. So sind einige Einrichtungen im Art. 301 tStGB 2004 enthalten, die im deutschen Recht in dieser Form keine Entsprechung finden22. Im deutschen Recht finden staatliche Einrichtungen, die nicht zugleich konstitutionelle Einrichtungen darstellen, keinen Schutz. § 90a StGB enthält nämlich gar keine Staatseinrichtungen, § 90b StGB hingegen schützt ausdrücklich nur Verfassungsorgane. Das türkische Recht bezeichnet die in Art. 301 tStGB 2004 aufgeführten Schutzobjekte weder als Staatseinrichtungen noch als Verfassungsorgane, sondern als „staatliche Institutionen und Organe“ (devletin kurum ve organlar�) und lässt offen, ob es sich bei den Schutzobjekten um Verfassungsorgane handelt. Dies ist nicht lediglich ein begrifflicher Unterschied: Hierdurch ist nämlich möglich, dass die staatlichen Streit- und Sicherheitskräfte, deren Funktionen teilweise durch die tVerf 1982 bestimmt sind, deren Status als Verfassungsorgan aber insgesamt abzulehnen sein wird, im Art. 301 tStGB 2004 aufgeführt sind. Ebenfalls können hierdurch über die einzelnen, in der tVerf 1982 näher bestimmten, obersten Gerichte hinaus die staatlichen Justizorgane, also die Gesamtheit der Justiz, Schutz finden23. Die Tatsache, dass der deutsche Gesetzgeber sich mit § 90b Abs. 1 StGB ausdrücklich auf Verfassungsorgane beschränkt, führt also zu einer engeren Auswahl der Schutzobjekte24. So sind es nicht die staatlichen Justizorgane, sondern das
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Kassationshof, Urteil vom 5.5.1998, E. 70, K. 156, abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�, S. 188 ff. Siehe ferner oben: Viertes Kapitel, D) II. 2. Siehe oben: Viertes Kapitel, D) II. 2. sowie fünftes Kapitel, D) II. 1. b). Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) II. 2. Siehe auch unten: Dreizehntes Kapitel, C) II. Siehe unten unter 3. Diese Frage ergibt sich nicht bei der Regierung der Türkischen Republik oder der Großen Nationalversammlung der Türkei, die den Rang von Verfassungsorganen genießen. Darauf weist auch Tellenbach hin: „All die sonstigen [über die §§ 90a, 90b StGB hinausgehenden] Werte und Organe (z.B. die Justiz oder die Streitkräfte), die heute in dem heutigen Art. 159 tüStGB genannt sind, genießen im deutschen Recht keinen erhöhten Schutz.“ Tellenbach unterstreicht aber noch § 188 StGB: „Hinzuweisen ist dagegen auf
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Vierter Teil: Vergleich
Bundesverfassungsgericht bzw. die Verfassungsgerichte der Länder, die als Schutzobjekte aufgeführt sind. Während darüber hinaus im türkischen Recht als Ausdruck des Zentralismus nur ein oberstes Gesetzgebungsorgan25 – die Große Nationalversammlung – existiert, sind es im föderalistischen Deutschland die Gesetzgebungsorgane des Bundes (Bundestag und Bundesrat) und der Länder (Länderparlamente26), die durch § 90b Abs. 1 StGB erfasst werden. Ebenfalls ein den Unterschieden zwischen Zentralismus und Föderalismus geschuldeter Umstand ist, dass im türkischen Recht die (eine) Regierung, im deutschen Recht die Bundesregierung und daneben aber auch die Landesregierungen Schutz finden27.
b) Personell In personeller Hinsicht ergibt sich sowohl im deutschen als auch im türkischen Recht die Frage nach dem Umgang mit einzelnen Mitgliedern von staatlichen Einrichtungen: Im deutschen Recht existiert mit dem besonderen Schutzobjekt „Mitglieder in dieser [verfassungsorganschaftlichen] Eigenschaft“ aus § 90b Abs. 1 StGB eine ausdrückliche Regelung. Dies findet im türkischen Recht zwar keine Entsprechung, jedoch kann auch im türkischen Recht zum Teil von einem mittelbaren Schutz einzelner Mitglieder gesprochen werden28. Während aber im türkischen Recht bei einem Angriff auf einzelne Mitglieder (auch einzelne Ministerien oder einzelne Gerichte oder Gerichtssenate etc.) darauf geschlossen werden muss, dass der Angriff über die eigentliche Angriffsfläche hinaus dem übergeordneten tatbestandlichen Schutzobjekt (etwa der Großen Nationalversammlung, den staatlichen Justizorganen etc.) in ihrer Gesamtheit gegolten haben muss, ist es nach § 90b Abs. 1 StGB ausreichend, dass allein das Mitglied betroffen ist29. Auch wenn das einzelne Mitglied insoweit in seiner verfassungsorganschaftlicher Eigenschaft geschützt wird, hat das deutsche Recht hier einen weiteren Tatbestand.
25
26 27 28 29
den besonderen Beleidigungstatbestand des Art. 188 dtStGB, der die üble Nachrede bzw. Verleumdung gegen eine im politischen Leben des Volkes stehenden Person erhöht bestraft, wenn diese aus Beweggründen begangen wird, die mit der Stellung des Angegriffenen im öffentlichen Leben zusammenhängt und geeignet ist, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren.“, Staatsschutzdelikte im Entwurf eines Türkischen Strafgesetzbuchs, S. 637. Vgl. auch: Sancar, Alenen Tahkir Ve Tezyif Suçlar�, S. 42. Dies soll nicht heißen, dass in einem zentralistischem Staat notwendigerweise nur ein Gesetzgebungsorgan existiert. Auch in der Türkei gab es im Geltungszeitraum der tVerf 1961 neben der Großen Nationalversammlung den Senat. Beide waren nach Art. 63 tVerf 1961 gemeinsam am Gesetzgebungsverfahren beteiligt. S. oben: Viertes Kapitel, D) II. 3. Die Landtage, in Bayern der Bayerische Senat, in Hamburg und Bremen die Bürgerschaften und in Berlin das Abgeordnetenhaus. Siehe oben: Achtes Kapitel, E) II. 1. a). Siehe oben: Achtes Kapitel, E) II. 1. a). Siehe oben: Viertes Kapitel, D) II. 3. ff. sowie: Fünftes Kapitel, D) II. 1. Siehe oben: Achtes Kapitel, E) II. 1. b).
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3. Inkongruenzen und Unterschiede Die bisherigen Ausführungen zu den Schutzobjekten unserer Vergleichsvorschriften haben bereits deutlich gemacht, dass trotz teilweise abweichender Tatbestände eine ähnliche Rechtslage vorliegt. Auch hat sich der umgekehrte Fall gezeigt, in dem trotz weitgehend übereinstimmender bzw. ähnlicher Tatbestände unterschiedliche Rechtslagen existieren. Legt man Tatbestand und Dogmatik der Rechtsordnungen wie Folien übereinander, so ergeben sich sowohl Überschneidungen als auch Bereiche, die sich nicht decken. Diese Bereiche kann man aufgrund der insgesamt in Erscheinung tretenden Ähnlichkeiten aber noch als Inkongruenzen bezeichnen. Sie sind abzugrenzen von denjenigen Bereichen, die weder inkongruent noch ähnlich sind –, die sich also vom jeweiligen Bezugspunkt aus betrachtet als qualitativ unterschiedlich erweisen und deshalb keinerlei Entsprechung im Vergleichsrecht aufweisen können. Solches unterschiedliches Recht liegt bzw. lag im türkischen Recht vor bei – dem Schutz der Türkentums, das sowohl im Geltungszeitraum des tStGB 1926 als auch im Geltungszeitraum des tStGB 2004 (bis 2008) strafrechtlich erfasst war, – dem Schutz der türkischen Nation, wie er im geltenden Art. 301 Abs. 1 tStGB 2004 Regelung gefunden hat, – dem Schutz der staatlichen Streitkräfte und der staatlichen Sicherheitskräfte nach Art. 301 Abs. 2 tStGB 200430 bzw. dem Schutz entsprechender Einrichtungen im Geltungszeitraum des tStGB 1926, – dem Schutz der Legitimität der Großen Nationalversammlung nach Art. 159 Abs. 1 tStGB 1926, – dem Schutz der Gesetze und dem Schutz der Beschlüsse der Großen Nationalversammlung nach Art. 159 tStGB 1926 sowie – dem Schutz der Ministerien nach Art. 159 Abs. 1 tStGB 192631. Auch das deutsche Recht hat mit dem Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB ein Schutzobjekt vorzuweisen, das in dieser Form keine Entsprechung in der Vergleichsrechtsordnung aufweist. Die verfassungsmäßige Ordnung erfasst die auf der Verfassung beruhende und von dieser geprägte Rechtsordnung32. In den Ansehensschutz wird so das geltende 30
31 32
Einen besonderen Ehrschutz der deutschen Wehrmacht gab es hingegen in der Weimarer Zeit mit § 134a StGB. Diese Vorschrift blieb auch in der NS-Zeit erhalten und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Alliierten Kontrollrat abgeschafft. Siehe dazu oben: Siebtes Kapitel, E) IV. Für die einzelnen Fassungen sowohl im Geltungsbereich des tStGB 1926 als auch im Geltungsbereich des tStGB 2004 siehe Anhang Nr. 1. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) II. 1. b).
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Vierter Teil: Vergleich
verfassungspolitische System einbezogen. Der Schutz der türkischen Verfassungsordnung hingegen ist im fünften Abschnitt des tStGB 2004 „Straftaten gegen die Verfassungsordnung und ihr Funktionieren“ (Artt. 309–316) geregelt. Art. 309 tStGB 2004 setzt die Schwelle für den Schutz der Verfassungsordnung jedoch bei gewaltsamen Handlungen. Ein in das Vorfeld verlagerter Ansehensschutz der Verfassungsordnung ergibt sich aus den Vorschriften nicht. Zwar mögen sich durch die zeitweise Übernahme des „Türkentums“ und der darauffolgenden Streichung und Ersetzung durch die „türkische Nation“ zumindest Elemente der sechs kemalistischen „Grundpfeiler“ (alt� ok) (insbesondere der Nationalismus33) im Schutzumfang des Art. 301 tStGB 2004 erhalten haben. Da nämlich die tVerf 1982 auf dem Kemalismus beruht34, ist durch die türkische Nation teilweise auch die türkische Verfassungsordnung vom Anwendungsbereich des Art. 301 tStGB 2004 erfasst. Dies ist aber weit von dem Schutzumfang des § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB entfernt. Ebenfalls keine Entsprechung findet zudem der Schutz der einzelnen Mitglieder von Verfassungsorganen nach § 90b Abs. 1 StGB; doch wie bereits erwähnt, deckt sich das türkische Recht damit durch die Auslegung, dass auch Angriffe auf einzelne Mitglieder etwa der Großen Nationalversammlung mittelbare Angriffe auf das Organ in seiner Gesamtheit darstellen können. Doch reicht – im Gegensatz zum deutschen Recht – nicht aus, dass allein das Mitglied betroffen ist. Das türkische Recht hat den Schutz (auch) von Mitgliedern von Verfassungsorganen vielmehr lange separat geregelt. Im tStGB 1926 wurde die Ehre von Beamten in dienstlicher Eigenschaft durch Art. 266 erfasst. Auch das tStGB 2004 lagert den Ehrschutz der Mitglieder von Verfassungsorganen in den Bereich des Personalehrschutzes aus, führt diesen aber noch näher an die allgemeinen Ehrdelikte heran. Art. 125 tStGB 2004, der die Ehrverletzung regelt, enthält mit Art. 125 Abs. 2 lit. a die Qualifikation für den Fall, dass die Ehrverletzung gegen einen öffentlichen Amtsträger wegen seiner Amtspflichten erfolgt.
C) Tathandlungen I. Realinjurien Sowohl das türkische als auch das deutsche Recht kennen die Realinjurie. Art. 300 Abs. 1 tStGB 2004 pönalisiert das Zerreißen, das Verbrennen und die 33 34
Siehe oben: Viertes Kapitel, D) II. 1. Siehe Präambel der tVerf 1982: „Diese Verfassung, die die ewige Existenz des türkischen Vaterlandes und der türkischen Nation sowie die unteilbare Einheit des Großen Türkischen Staates zum Ausdruck bringt, wird, um entsprechend der Auffassung vom Nationalismus, wie sie Atatürk, der Gründer der Republik Türkei, der unsterbliche Führer und einzigartige Held, verkündet hat; [...] von der Türkischen Nation der Liebe der der Demokratie innig verbundenen türkischen Kinder zu Vaterland und Volk übergeben und anvertraut.“ Diese Übersetzung bei: Rumpf, Die Verfassung der Republik Türkei, S. 6.
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Herabsetzung auf andere Weise. Damit stellt der Gesetzgeber zwar bereits einen Übergang zur Verbalinjurie her, lässt aber noch Raum für andere Realinjurien35. So sollen auch Handlungsweisen, wie z.B. das Zertrampeln u. dergl. weitere tatbestandsmäßige Handlungen darstellen können36. Im deutschen Recht haben die Realinjurien in § 90a Abs. 2 StGB eine Regelung erfahren37. Sie beziehen sich jedoch lediglich auf öffentlich gezeigte Flaggen oder durch Behörden öffentlich angebrachte Hoheitszeichen und nicht – wie im türkischen Recht – auch auf Staatssymbole. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die in § 90a Abs. 2 StGB bezeichneten Realinjurien abschließend aufgeführt sind. Über das Entfernen, Zerstören, Beschädigen, Unbrauchbarmachen oder Unkenntlichmachen und den beschimpfenden Unfug hinaus ist – im Gegensatz zum türkischen Recht – also keine andere Tathandlung strafbar. Jedoch fungiert der beschimpfende Unfug gewisserweise als „Auffangregelung“38. Dies ist mit der offenen Formulierung des Art. 300 Abs. 1 tStGB 2004 (der „Herabsetzung auf andere Weise“) teilweise vergleichbar, da hier grundsätzlich Platz ist, neue Fallgruppen zu subsumieren.
II. Verbalinjurien Das türkische Recht kennt mit der Herabsetzung (a�a��lama) in den Artt. 300, 301 tStGB 2004 auch die Verbalinjurie. Die Tathandlung bezieht sich sowohl auf Hoheitszeichen und Staatssymbole als auch auf die türkische Nation und die staatlichen Einrichtungen. Das deutsche Recht hat neben der genaueren Differenzierung bei den Schutzobjekten hingegen auch eine genauere Unterscheidung bei den Verbalinjurien erfahren: So pönalisiert § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB – bezogen auf die BRD, ihre Länder und die verfassungsmäßige Ordnung – die Beschimpfung und böswillige Verächtlichmachung, und § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB – bezogen auf die Staatssymbole – die Verunglimpfung. Sieht man von dem Qualifikationstatbestand des § 90a Abs. 3 StGB – der das Einsetzen für Bestrebungen gegen den Bestand der BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze verlangt – ab, bleibt mit § 90b Abs. 1 StGB noch die das Ansehen des Staates gefährdende Verunglimpfung. Im deutschen Recht ist die Zahl der Tathandlungen also größer, da diese differenzierter in Erscheinung treten und innerhalb dieser nicht – wie im Art. 300 Abs. 1 tStGB 2004 – die Real- und Verbalinjurie miteinander vermengt wird. 35 36 37 38
Dies ergibt sich schon aus der amtlichen Begründung: Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri, S. 285. Oben: Fünftes Kapitel, C) I. 2. Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 140; Parlar / Hatipo�lu, Hakaret Suçlar�, S. 468; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler6, S. 575. Es lässt sich jedoch darüber streiten, ob § 90a Abs. 2 StGB nur Realinjurien pönalisiert, da der beschimpfende Unfug wohl als Mischform der Verbal- und Realinjurie bezeichnet werden kann. Siehe kritisch: Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 181 ff. Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) I. 6. d).
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Vierter Teil: Vergleich
Über diese Inkongruenzen hinaus ist vom türkischen Recht verschieden, dass der deutsche Gesetzgeber an die eigentliche Tathandlung noch weitere, zusätzliche Voraussetzungen knüpft: So ist die Verächtlichmachung nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB durch das Adjektiv böswillig39 eingeschränkt und die Verunglimpfung nach § 90b Abs. 1 StGB erfasst ein zusätzliches „Erfolgs“kriterium, denn es hat in einer das Ansehen des Staates gefährdenden Weise zu erfolgen. Ferner erfordert § 90b Abs. 1 StGB, dass sich der Täter durch die Tat (absichtlich) für Bestrebungen Dritter gegen den Bestand der BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt.
III. Konkretisierungen Der Vergleich der Konkretisierung dieser Tathandlungen durch Lehre und Rechtsprechung ergibt deutlich, dass im deutschen Schrifttum eine inhaltlich differenziertere Betrachtung der Tathandlungen erfolgt ist als im türkischen Recht. Dies ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass mit dem tStGB 2004 noch ein relativ junges Gesetzeswerk vorliegt, das für höchstrichterliche Judikate noch einen größeren Anwendungszeitraum beanspruchen wird. Andererseits führt die Tatsache, dass in vielen Entscheidungen des Kassationshofes nicht darauf eingegangen wird, weshalb eine Handlungsweise den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, sondern lediglich, ob der Tatbestand erfüllt wurde oder nicht40, tendenziell zu einer Konkretisierung durch Fallbeispiele und weniger durch Grundsatzdefinitionen. Der Lehre kommt im türkischen Recht daher eine besondere Aufgabe zu. Im jüngeren Schrifttum findet sich aber (bislang) vor allem der Vergleich mit der alten Rechtslage und der Rückgriff auf lexikalische Werke: So besteht die Herabsetzung nach Art. 300 Abs. 1 und Abs. 2 tStGB 2004 in einer kleinmachenden, missachtenden Handlung41. Auch die Herabsetzung nach Art. 301 Abs. 1 und Abs. 2 tStGB 2004 ist in dieser Weise aufzufassen. Die amtliche Begründung enthält noch die näher konkretisierende Angabe, dass mit der Tathandlung „das Ansehen der in der Vorschrift aufgeführten Schutzobjekte verringert“ werden soll42. Im deutschen Recht hingegen konnte durch Auswertung der Entscheidungen des BGH eine im Vergleich zum türkischen Recht „grundsatzorientierte“ Konkretisierung der Tathandlungen erzielt werden: So wird unter der Beschimpfung nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB eine durch Form oder Inhalt besonders verletzende Äußerung der Missachtung verstanden43. Die ebenfalls nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB pönalisierte 39 40 41 42 43
Dazu unten unter E). Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht der Türkei, S. 642. Vgl. Artuk, Türklü�ü, Cumhuriyeti, Devletin Kurum Ve Organlar�n� A�a��lama Suçu, S. 231 m.N. bei: Türk Dil Kurumu. Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri, S. 285. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) II. 2. a).
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Verächtlichmachung erfasst jede auch wertende Äußerung, durch die die Schutzobjekte als der Achtung unwert und unwürdig hingestellt werden44. Die Verunglimpfung nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB sowie nach § 90b Abs. 1 StGB wiederum erfordert einen nach Form, Inhalt, Begleitumständen oder Beweggrund schweren Ehrenangriff45. Da die Gegenüberstellung beider Rechtsordnungen also zu dem Ergebnis führt, dass die dogmatische Würdigung im deutschen Schrifttum in ihrer inhaltlichen Tiefe weiter geht, ist der bloße Vergleich mit der lexikalischen Bedeutung der Herabsetzung im türkischen Recht inhaltsleer. Auch da sich das jüngere türkische Schrifttum aber bei der Erläuterung der Artt. 300, 301 tStGB 2004 teilweise auf das Schrifttum der Vorläufer stützt, bietet es sich an, auf das Vorläuferschrifttum unter besonderer Berücksichtigung der Vorläuferjudikate des Kassationshofes einzugehen46. Dies führt zwar zu einem (teilweise historischen) Vergleich auf Einzelfallebene47. Eine weitergehende inhaltliche Würdigung wäre aber nicht tatsachengestützt und daher spekulativ. Denn auch wenn die Dogmatik zu den Tathandlungen im deutschen Recht dichter ist, stellt sich doch stets die Frage, wann die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten ist. Diese Frage wird unten im Zusammenhang mit den Berührungspunkten zum Verfassungsrecht noch einige Anmerkungen erfordern48, ergibt im Ergebnis sowohl im türkischen als auch im deutschen Recht aber eine einzelfallabhängige und subjektive Würdigungspraxis49.
D) Öffentlichkeit Die Tathandlungen der Vergleichsvorschriften erfordern die Öffentlichkeit des Verhaltens. Während die Artt. 300, 301 tStGB 2004 aber allgemein die öffentliche Herabsetzung verlangen, pönalisieren die §§ 90a, 90b StGB die öffentliche Begehung, die Begehung in einer Versammlung und die Begehung durch 44 45 46
47 48 49
Siehe oben: Achtes Kapitel, D) II. 2. b). Siehe oben: Achtes Kapitel, D) III. 2. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass die Herabsetzung nach Art. 301 Abs. 1 und Abs. 2 tStGB 2004 sogar eine weitere Tathandlung darstellt, als die Beschimpfung und Verächtlichmachung nach Art. 159 tStGB 1926. Auch entfällt die nach h.M. für Art. 159 erforderliche Beschimpfungsabsicht für Art. 301. Ähnliches gilt für Art. 145 tStGB 1926 und Art. 300 tStGB 2004: Zwar ist die Tathandlung des Art. 300 im Verhältnis zu Art. 145 wohl nicht weiter, doch spricht auch hier einiges dafür, dass die Tathandlung der geltenden Vorschrift im Verhältnis zu seinem Vorläufer zumindest nicht als enger aufzufassen ist. Ebenfalls fällt beim Art. 300 die nach Art. 145 ausdrücklich erforderliche Beschimpfungsabsicht weg. Siehe dazu oben: Viertes Kapitel, C) III., D) III. Ferner: Fünftes Kapitel, C) I. 2., D) II. 2. Siehe unten unter ) II. Unten: F). Vgl. Tellenbach, a.a.O., S. 642.
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Vierter Teil: Vergleich
Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3). Der Öffentlichkeitsbegriff teilt sich in den §§ 90a, 90b StGB also in drei unterschiedliche Begehungsvarianten. Beide Strafrechtsordnungen verwenden den jeweiligen Begriff der Öffentlichkeit aber parallel in mehreren Straftatbeständen. Hierdurch erlangt das Merkmal auf beiden Seiten eine über die Vergleichsvorschriften hinausgehende dogmatische Bedeutung.
I. Möglichkeitsansatz und Öffentlichkeitsbegriff Für die öffentliche Begehung benutzen beide Strafrechtsordnungen den Möglichkeitsansatz: Es ist nicht etwa erforderlich, dass die Öffentlichkeit von der jeweiligen Tathandlung positiv Kenntnis genommen hat, sondern lediglich, dass die Öffentlichkeit die Tathandlung hat wahrnehmen können50. Hierdurch entfernt sich der Begriff der öffentlichen Begehung von einem etwaigen Erfolgseintritt. Die Öffentlichkeit erscheint vielmehr als bloße Konkretisierung der Gefährdungsqualität der Delikte. Wenn aber nicht die positive Wahrnehmung der Tathandlungen erforderlich ist, sind noch keine Kriterien darüber gewonnen, wann die öffentliche Begehung öffentlich ist. Denklogisch bieten sich zwei Ansätze an: 1. Die Öffentlichkeit richtet sich nach dem Ort der Begehung, was zur Folge hat, dass die Frage nach der Anwesenheit eines Publikums impliziert beantwortet wird und in der Fallprüfung in den Hintergrund rückt bzw. rücken kann. 2. Die Eigenschaft (Größe, Zufälligkeit u.ä.) des (anwesenden) Publikums entscheidet über die Öffentlichkeit. Nun haben die türkische und deutsche Strafrechtsordnung ihre Wahl unterschiedlich ausfallen lassen. Die türkische Dogmatik tendierte schon unter der Geltung des tStGB 1926 zu einer Beurteilung des Ortes. Man unterschied zwischen privaten und öffentlichen Orten und solchen, in denen eine öffentliche Begehung von vornherein ausgeschlossen sein sollte51. Da die Öffentlichkeit im tStGB 2004 nicht legal definiert wurde, wird auch im Geltungszeitraum des geltenden Strafgesetzbuches auf diese Dogmatik Bezug genommen52. Das deutsche Recht53 hingegen verlangt für die öffentliche Begehung, dass bei der Tathandlung eine nicht näher bestimmte Personenmehrheit anwesend ist. Für die öffentliche Begehung i.e.S. (Alt. 1) ist ferner erforderlich, dass diese Personenmehrheit untereinander nicht verbunden ist. Sowohl bei der öffentli50 51 52 53
Für das türkische Recht siehe im Geltungsbereich des tStGB 1926: Viertes Kapitel, C) III. 3. sowie D) III. 3. Im Geltungsbereich des tStGB 2004: Fünftes Kapitel C) I. 2. b). Für das deutsche Recht siehe: Achtes Kapitel, D) IV. sowie E) III. Siehe oben: Viertes Kapitel, D) III. 3. Für das Folgende siehe oben: Achtes Kapitel, D) IV. Siehe oben: Viertes Kapitel, D) III. 3.
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chen Begehung i.e.S. als auch bei der Begehung in Versammlungen wird zudem über die erforderliche Größe bzw. Zahl der Anwesenden gestritten – eine Frage also, über die im türkischen Recht kein bedeutender Streit besteht, da hier der Ort der Begehung den Maßstab der Öffentlichkeit bildet54. Auch wenn die Frage eines anwesenden Publikums durch das Abstellen auf die Öffentlichkeit des Ortes nicht separate Prüfung erfährt und hierzu keine nähere Auslegung herausgebildet wurde, ist doch die Öffentlichkeit des Ortes nicht vollständig von der Frage des Publikums zu trennen. Auf technischer Seite ist dieser Unterschied regelmäßig nicht allzu groß: Denn wird an einem als öffentlich anerkannten Ort eine Tat begangen, von der niemand Notiz genommen hat, wird diese regelmäßig auch nicht Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen werden. Der Umstand, dass im deutschen Recht teilweise über die erforderliche Größe des Publikums gestritten wird, wirkt sich aber insgesamt täterfreundlicher aus, da selbst bei Wahrnehmung der Tat – etwa einer Äußerung des Täters – durch Dritte nach diversen Ansichten55 noch nicht unbedingt auch die öffentliche Begehung bejaht werden muss.
II. Schriften und Internet Ein weiterer Unterschied zwischen dem deutschen und türkischen Recht besteht darin, dass auf türkischer Seite die Heranziehung von Nebengesetzen dann eine größere Rolle spielt, wenn es darum geht, die Begehung durch bestimmte Kommunikationsmittel (Schriften, Rundfunk u.ä.) zu konkretisieren. Im Schrifttum wird der Begehung durch Pressemittel insoweit ein besonderer Platz eingeräumt, die unter anderem durch Auslegung presserechtlicher Vorschriften näher bestimmt wird. Im deutschen Recht bildet hingegen der Schriftenbegriff aus § 11 Abs. 3 StGB die Grundlage der Auslegung. Dieser Unterschied äußert sich schließlich auch in den besonderen Fällen der Begehung durch Verbreiten von Schriften und im Internet.
1. Verkörperte Gedankenerklärungen Bei der Begehung durch Pressemittel im türkischen Recht bzw. bei der Begehung durch Verbreiten von Schriften im deutschen Recht nähert sich die Dogmatik beider Vergleichsrechtsordnungen zwar einander an. Beide Seiten verlangen nämlich das Vorliegen einer verkörperten Gedankenerklärung bzw. eines Druckerzeugnisses, welche verbreitet werden muss, d.h. in Umlauf zu gelangen hat. Der Streit über die Frage, ob auch die Weitergabe des Inhalts einer verkörperten Gedankenerklärung (Körperlichkeitskriterium56) Verbreiten von Schriften darstellen kann, ist aber auf die deutsche Dogmatik begrenzt. Der 54 55
56
Vgl. Gözübüyük, Türk Ceza Kanunun Aç�lamas�, Bd. 2, S. 696. So verlangen Laufhütte / Kuschel, dass für eine Personenmehrheit mehr als zwei Personen erforderlich sind, LK-StGB, § 90, Rn. 7. Paeffgen verlangt mindestens fünf Personen, NK-StGB, § 90, Rn. 6. Wird die Tat von einer (aus weniger Personen bestehenden) Personenmehrheit wahrgenommen, ist die Tathandlung also noch nicht öffentlich. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) IV. 3.
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Vierter Teil: Vergleich
weite Schriftenbegriff des § 11 Abs. 3 StGB hat andererseits auch dazu geführt, dass die deutsche Dogmatik insgesamt differenzierter über die Verbreitung auch anderer Medien, insbesondere Bild- und Datenträger, geführt hat, während auf türkischer Seite ein enger am Presserecht ausgerichteter Begriff von Schriften existiert57.
2. Internet Während die Verbreitung durch Pressemittel im türkischen Recht eine durch die Lehre wesentlich mitbeeinflusste Unterform der Öffentlichkeit darstellt, ist im deutschen Recht der ausgelagerte Schriftenbegriff aus § 11 Abs. 3 StGB maßgeblich. Für das deutsche Recht wird überdies auch die Frage nach den digitalen Verbreitungsmöglichkeiten durch moderne Formen der Kommunikation – insbesondere über das Internet – durch den Schriftenbegriff zu klären versucht. Da die türkische Dogmatik auf den Ort der Begehung abstellt, ist im türkischen Recht die Frage zu klären, ob das Internet einen öffentlichen Raum darstellt. Trotz unterschiedlicher Herangehensweisen kommen beide Seiten – aufgrund fehlender gesetzlicher Regelungen – zu vergleichbar offenen Ergebnissen58. Hieraus folgt die ebenfalls beiden Rechtsordnungen gemeinsame Forderung nach einer Anpassung durch den Gesetzgeber59.
E) Subjektive Tatseite Auf subjektiver Seite ergibt sich ein folgendes Bild: Für die Begehung der Artt. 300, 301 tStGB 2004 genügt schon der gesetzlich definierte Eventualvorsatz60. § 90a Abs. 1 und Abs. 2 StGB verlangen – außer in den Fällen der böswilligen Verächtlichmachung nach Abs. 1 Nr. 1, der nach überwiegender Auffassung Absicht verlangt – ebenfalls Eventualvorsatz61. Nach § 90b Abs. 1 StGB hingegen ist zwar hinsichtlich der Tatumstände Eventualvorsatz ausreichend, jedoch muss sich der Täter mit der Verunglimpfung für Bestrebungen Dritter gegen den Bestand der BRD oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzen, wobei dieser Einsatz Absicht verlangt62. Das bedeutet, dass die niedrigste gemeinsame Schwelle subjektiver Voraussetzungen im Eventualvorsatz be57
58 59 60 61 62
Dies gilt für die Begehung durch Verbreiten von Printmedien aller Art. Ein anderes Nebengesetz, das für die Begehung der in Artt. 300, 301 tStGB 2004 bezeichneten Tathandlungen relevant sein dürfte, ist das Gesetz für türkisches Radio und Fernsehen (Türkiye Radyo ve Televizyon Kanunu) (Gesetz Nr. 2954 v. 11. November 1983). Oben: Viertes Kapitel, D) III. 3. c); fünftes Kapitel, C) I. 2. b); achtes Kapitel, D) IV. 3. Özen, Hakaret Suçu ve �nternet Yoluyla ��lenmesi, S. 104 f.; Laufhütte / Kuschel, LKStGB, § 86, Rn. 28. Siehe oben: Fünftes Kapitel, C) I. 3. und D) II. 3. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) VII. und E) IV. Siehe oben: Achtes Kapitel, E) IV.
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steht, während das deutsche Recht sonst – für § 90a Abs. 1 StGB teilweise und für § 90b Abs. 1 StGB vollständig – weitergehende Voraussetzungen aufstellt. Um eine Vergleichbarkeit für die Schwelle des Eventualvorsatzes anzunehmen zu können, müssen beide Rechtsordnungen diesen Begriff auf zumindest vergleichbare Weise auffassen: Nach Art. 21 Abs. 2 tStGB 2004 liegt Eventualvorsatz vor, wenn eine Person eine Tat begeht, obwohl sie vorhersieht, dass sie die Merkmale des gesetzlichen Straftatbestandes verwirklichen könnte. Für die Artt. 300, 301 tStGB 2004 ist also die Tatbegehung bei (bzw. vielmehr trotz) Voraussehbarkeit (öngörme) des Erfolgseintritts (kanunî tan�m�ndaki unsurlar�n gerçekle�ebilmesi) erforderlich. Das deutsche Recht hingegen hat den Begriff des Eventualvorsatzes nicht legal definiert. Er ist höchst umstritten63. Nach der vom BGH vertretenen Billigungstheorie handelt der Täter in Abgrenzung zur (bewussten) Fahrlässigkeit (noch) vorsätzlich, „wenn er den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und damit in der Weise einverstanden ist, daß er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Zieles willen wenigstens mit ihr abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein“64.
Für die §§ 90a Abs. 1, Abs. 2, (und hinsichtlich der Merkmale auch bei) 90b Abs. 1 StGB ist erforderlich, dass sich der Täter der Bedeutung seiner Äußerungen bzw. Handlung für den unbefangenen Dritten bewusst war oder zumindest mit dieser Möglichkeit rechnete und dies billigend in Kauf nahm oder sich hiermit zumindest abfand65. Mit dem Kriterium der Voraussehbarkeit verlangt das türkische Recht vom Täter das Vorliegen eines Elements kognitiver Art. Er muss voraussehen, ob seine Handlung die Tatumstände des gesetzlichen Tatbestandes erfüllen könnte. Das deutsche Recht verlangt mit dem Für-möglich-Halten des tatbestandlichen Erfolges und der billigenden Inkaufnahme oder mit dem Abfinden mit diesem – zumindest nach der Rechtsprechung66 – sowohl ein Element kognitiver als auch ein Element voluntativer Art. Das türkische Recht verzichtet also bei der Definition des Eventualvorsatzes auf die Voraussetzung eines voluntativen Elements67. Insgesamt verlangt das türkische Recht demnach auch auf der 63 64 65 66 67
Siehe eingehender: Vogel, LK-StGB, § 15, Rn. 96 ff.; Roxin, Strafrecht AT 1, S. 445 ff.; Puppe, NK-StGB, § 15, Rn. 14 ff. BGHSt 36, 1 (9) m.w.N. Vgl. oben: Achtes Kapitel, D) VII. Der Umkehrschluss aus § 16 Abs. 1 StGB ergibt zwar lediglich, dass das kognitive Element notwendig ist. Streitig ist jedoch, ob dies (beim Eventualvorsatz) auch hinreichend ist. Zu den untersch. Ansichten: Roxin, Strafrecht AT 1, S. 445 ff., insbes. S. 452 ff. Kritisch dazu: Roxin / Isfen, Der Allgemeine Teil des neuen türkischen Strafgesetzbuches, S. 234 (Fn. 5), sowie 234 f. Siehe auch: Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 6 (Fn. 22).
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Vierter Teil: Vergleich
niedrigsten gemeinsamen Schwelle subjektiver Art weniger als das deutsche Recht. Die §§ 90a, 90b StGB enthalten also (die Absichten berücksichtigend teilweise deutlich) engere Voraussetzungen die subjektive Tatseite betreffend, als die Artt. 300, 301 tStGB 2004.
F) Rechtswidrigkeit und Grundrechte I. Rechtfertigungsgründe Die Dogmatik zur Rechtswidrigkeit weist einige Unterschiede auf. Denn schon im Geltungszeitraum des tStGB 1926 kannte das türkische Recht den (noch) ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund der Ausübung eines Rechtes (hakk�n icras�), der im geltenden tStGB 2004 eine ausdrückliche Normierung gefunden hat und die Heranziehung auch subjektiv-öffentlicher Rechte ermöglicht. Der Rechtswidrigkeit kommt daher im türkischen Recht auch bei den Artt. 300, 301 tStGB 2004 eine relativ große prüfungsrelevante Bedeutung zu. Im deutschen Recht weisen die §§ 90a, 90b StGB im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit keine großen Besonderheiten auf. Zwar wird vereinzelt die Auffassung vertreten, dass die Wahrnehmung berechtigter Interessen aus § 193 StGB –, der besondere Rechtfertigungsgründe aufstellt – zumindest auch bei § 90b Abs. 1 StGB, wo einzelne Mitglieder von Verfassungsorganen Schutz finden, Anwendung finden sollte68 bzw. die Wahrnehmung berechtigter Interessen generell die Grundlage für eine allgemeine Rechtfertigung bilden soll69. Doch wird diesen Ansichten kein bedeutendes Gewicht beigemessen, da der überwiegende Teil des Schrifttums die Ansicht vertritt, dass § 193 StGB für den Abschnitt der Ehre (§§ 185 ff.) konzipiert ist und für Vorschriften, die nicht dem Schutz der Ehre dienen, keine (auch nicht analoge) Anwendung finden können70. Da die §§ 90a, 90b StGB vor dem Hintergrund des herrschenden Staatsverständnisses gerade nicht dem Ehrschutz (des Staates) dienen71, wird eine Anwendbarkeit des § 193 StGB überwiegend nicht vertreten.
II. Würdigung von Grundrechten Dieser die Rechtfertigungsebene betreffende dogmatische Unterschied zum deutschen Recht hat auch Einfluss darauf, wie relevante Grundrechte gewür68 69
70 71
Insbesondere: Roggemann, Von Bären, Löwen und Adlern, S. 941 ff. Eser forderte – wohl auch unter dem Eindruck der Unruhen Ende der 1960er Jahre –, dass die Wahrnehmung berechtigter Interessen auch im Aufbegehren der Gesellschaft gegen das Establishment liegen kann: Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner Rechtfertigungsgrund, S. 9 ff. Siehe mit Blick auf Entfaltung und Meinungsfreiheit insbes. S. 40 ff., 55 ff. Zaczyk, NK-StGB, § 193, Rn. 12; Joecks, MK-StGB, § 193, Rn. 6; Lenckner / Eisele, Sch/Schr-StGB, § 193, Rn. 3; Hilgendorf, LK-StGB, § 193, Rn. 11. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) XI. 1.
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digt werden. Das türkische Recht bietet nämlich mit der Heranziehung von subjektiv-öffentlichen Rechten – und damit auch von Grundrechten – im Rahmen der Ausübung eines Rechtes die Möglichkeit, alle straftattypischen Grundrechte im Rahmen der Rechtfertigungsebene zu würdigen. So können im türkischen Recht Grundrechte grundsätzlich bei der Auslegung der Tathandlungen und auf Ebene der Rechtswidrigkeit Würdigung erfahren72. Da dem deutschen Recht eine derartige Rechtfertigungssystematik fremd ist, erfolgt die Würdigung von Grundrechten auf Tatbestandsebene. Dies hat dann gelegentlich zur Folge, dass bei problematischen Tatbeständen eine verfassungskonforme Auslegung gefordert wird oder ein verfassungsrechtliches Gebot der Zurückhaltung aufgestellt wird73.
III. Die Bedeutung der Meinungs- und Kunstfreiheit 1. Meinungsfreiheit Unabhängig davon, ob die sowohl für die §§ 90a, 90b StGB als auch für die Artt. 300, 301 tStGB 2004 relevanten Grundrechte auf Tatbestandsebene oder auf Ebene der Rechtswidrigkeit Würdigung erfahren, ist beiden Rechtsordnungen gemeinsam, dass die Tatbestände zum Ansehensschutz des Staates i.w.S. regelmäßig im Konflikt insbesondere74 mit der Meinungsfreiheit stehen und diese Ausgangslage nach Kriterien verlangt, durch welche man näher bestimmen kann, wann Tathandlungen noch durch die Wahrnehmung der Meinungsfreiheit gedeckt sind und wann bereits die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten ist. Obwohl der Vergleich hier nicht darin bestehen kann, die verfassungsrechtliche Dogmatik beider Rechtsordnungen miteinander in Bezug zu bringen, ist dennoch anzumerken, dass sie auf die Auslegung der beiderseitigen Vorschriften Einfluss ausgeübt haben wird. Entscheidend sind aber diejenigen (konkret entwickelten) strafrechtlichen Kriterien, die sich aus der Dogmatik der Artt. 300, 301 tStGB 2004 sowie der §§ 90a, 90b StGB ergeben. Im Schrifttum beider Rechtsordnungen findet man zu diesem Thema klauselartige Herangehensweisen. Das deutsche Recht ist bei der Berücksichtigung aber dogmatisch grundsatzorientierter vorgegangen: So soll bei mehrdeutigen Aussagen grundsätzlich straflosen Deutungsmöglichkeiten Vorrang eingeräumt werden75. Ferner soll im öffentlichen Meinungskampf grundsätzlich eine Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede sprechen76. Eine derartige RegelAusnahme-Dogmatik („im Zweifel für die Straffreiheit“) lässt sich in den Dar72 73 74 75 76
Siehe oben: Drittes Kapitel, B) I. 3. und inbes. E). Dies ist m.E. problematisch. Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) I. 6. e). Auf andere grundrechtlich relevanten Fälle (Wissenschafts- und Kunstfreiheit) wurde oben hingewiesen: Drittes Kapitel, E) III. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) X. 1. a). Ebd.
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Vierter Teil: Vergleich
stellungen der Artt. 300, 301 tStGB 2004 (Artt. 145, 159 tStGB 1926) hingegen nicht vorfinden. Die Ausführungen zum Umgang mit (politischer) Kritik sind teilweise miteinander vergleichbar. Die türkische Seite zieht das Recht auf Kritik als Bestandteil der Meinungs- bzw. Pressefreiheit heran und gewährt innerhalb dieses Rahmens das Recht auch auf harte Kritik. Auch das deutsche Recht möchte im politischen Meinungskampf harte bzw. scharfe Kritik zulassen; sie darf aber zudem unsachlich, ablehnend und polemisch sein und sogar mit der Propagierung von verfassungsfeindlichen Zielen verbunden werden77. Zwar gewährt das Recht auf Kritik im türkischen Recht ebenfalls einen polarisierenden Umgang. Hier werden aber höhere Maßstäbe für die Annahme einer zulässigen Kritik aufgestellt. Zum einen muss die Kritik ein systematisches Verständnis zum Thema aufweisen, und selbst der Umgang mit Tatsachen soll nicht missbräuchlich angewendet werden78. Ein gewisser Grad an Sachlichkeit wird im Gegensatz zum deutschen Recht also sehr wohl erwartet. Besonders hohe Anforderungen werden im türkischen Recht zudem an die Ausübung des Rechts auf Verbreitung von Nachrichten geknüpft. Hier verlangt man, dass die Nachricht wahr79 ist, aktuell ist und an der Nachricht ein öffentliches Interesse besteht80. Dies findet im deutschen Recht keine Entsprechung.
2. Kunstfreiheit Das deutsche Schrifttum misst der Kunstfreiheit eine besondere Bedeutung bei. Denn die Tathandlungen der §§ 90a, 90b StGB können durch Darstellungen und andere Ausdrucksformen erfüllt werden, die in den Schutzbereich der Kunstfreiheit fallen. Hierdurch unterscheidet sich das deutsche Recht aber noch nicht von den Artt. 300, 301 tStGB 2004. Denn auch diese Straftatbestände können durch Handlungsweisen erfüllt werden, die als Kunst aufzufassen sind (Karikaturen, Skulpturen etc.). Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass die deutsche Verfassungsdogmatik die Kunstfreiheit als Grundrecht ohne förmliche Verfassungsgrenze auffasst. Dies bedeutet zwar nicht, dass die Kunstfreiheit schrankenlos gewährleistet wird81, doch verlangt dieser Umstand in verschiedener Hinsicht Berücksichtigung bzw. wirft bei der Auslegung der §§ 90a, 90b StGB einige Fragen auf82. Im türkischen Recht ergibt sich eine solche einschränkende Besonderheit nicht. 77 78 79 80 81 82
Zum türkischen Recht: Viertes Kapitel, D) III. 2.; fünftes Kapitel, D) V. Zum deutschen Recht: Achtes Kapitel, D) X. 1.; vgl. E) VI. Siehe oben: Drittes Kapitel, E) I. Zum Umgang mit der Wahrheit eingehender unten: IV. Siehe oben: Drittes Kapitel, E) II. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) X. 2. a). Siehe oben: Achtes Kapitel, D) X. 2. a) sowie neuntes Kapitel, C) I. 2.
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IV. Das Kriterium der Wahrheit Eine besondere Frage ergeben die Vergleichsvorschriften insbesondere im Rahmen der Meinungs- und Pressefreiheit bei dem Umgang mit der Wahrheit bzw. Unwahrheit behaupteter Tatsachen. Oben wurde bereits angedeutet, dass die Strafbarkeitsschwelle der Tathandlungen deshalb so schwer zu bestimmen ist, weil es an klaren Kriterien zur Abgrenzung von strafbarem und straffreiem Verhalten fehlt. Die Würdigung ist in beiden Rechtsordnungen subjektiv und einzelfallabhängig83. Das Kriterium der Wahrheit hingegen böte ein klares Kriterium, wenn es etwa zur Straflosigkeit führen würde. Auf diese Möglichkeit hat man – trotz vereinzelter Forderungen84 – jedoch nicht zurückgegriffen. Umgekehrt verlangt das türkische Recht sowohl (teilweise) für die Ausübung des Rechts auf Kritik als auch (überwiegend) für die des Rechts auf Verbreitung von Nachrichten, dass die Behauptung wahr ist. (Erwiesen) unwahre Tatsachenbehauptungen sind danach also nicht Kritik oder Nachricht. Dies bedeutet, dass die Tatwürdigung im türkischen Recht überhaupt erst in das Stadium einer Berücksichtigung der Meinungs- und Pressefreiheit kommt, wenn nicht erwiesene Unwahrheit vorliegt. Tatsachenbehauptungen, die weder erwiesen unwahr noch erwiesen wahr sind, konnten ebenfalls die Tatbestände erfüllen. Hier scheint die Rechtsprechung auf die Wirkung der Tathandlung abzustellen85. Aber auch bei wahren Tatsachenbehauptungen gilt, dass diese nicht mißbräuchlich angewendet werden dürfen86. Auch wenn es im deutschen Recht für die §§ 90a, 90b StGB keine allgemeine Straffreiheit bei wahren Behauptungen gibt, geht die deutsche Seite bei Vorliegen wahrer Tatsachenbehauptungen liberaler vor als die türkische Dogmatik, stellt es bei Wahrheit der Tatsachenbehauptung doch den Zweifelssatz zugunsten der Straffreiheit auf87. Unwahre Tatsachenbehauptungen sollen hingegen in der Regel nicht hingenommen werden müssen88. In jenem Bereich, in dem die Tatsachenbehauptung nicht erwiesen unwahr, aber auch (noch) nicht erwiesen wahr ist, lässt das deutsche Recht bei § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB und auch bei § 90b Abs. 1 StGB den Wahrheitsbeweis89 zu. Das bedeutet, die 83 84 85 86 87 88 89
Vgl. Tellenbach, Die Rolle der Ehre im Strafrecht in der Türkei, S. 642. Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 220 ff. Vgl. Sonnen, AK-StGB, § 90a, Rn. 47. Siehe oben: Viertes Kapitel, D) III. 2. b). Siehe oben: Drittes Kapitel, E) I. und II. Oben: Achtes Kapitel, D) X. 1. a). Ebd. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) II. 2. c) und E) II. 2. b). Zwar kennt das türkische Recht mit Art. 127 tStGB 2004 (vgl. Art. 481 tStGB 1926) ebenfalls den Wahrheitsbeweis. Dieser führt aber zur generellen Straffreiheit. Damit geht der Wahrheitsbeweis im türkischen Strafrecht weiter als im deutschen Recht, da sich hier noch eine Strafbarkeit aus der Form der Äußerung ergeben kann. Vgl. Wortlaut des § 192 StGB: „Der Beweis der Wahrheit [...] schließt die Bestrafung nicht aus, wenn [...].“ Das türkische Recht
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Vierter Teil: Vergleich
Strafbarkeit kann sich dann allenfalls noch aus der Form der Äußerung ergeben90. Das Kriterium der Wahrheit hat im deutschen Recht damit eine stärkere, d.h. eine täterfreundliche Würdigung erfahren, denn im Bereich unklarer Wahrheitslage wird der Wahrheitsbeweis zugelassen. Die stärkste Würdigung der Wahrheit, nämlich die generelle Straffreiheit, hat aber auch im deutschen Recht keine Umsetzung erreichen können, obwohl sich dies m.E. aus verschiedenen Gründen anbietet91. Geht man also idealtypisch von drei Würdigungsstufen wahrer Tatsachenbehauptungen aus, in dem die erste die Wahrheit als Voraussetzung einer Würdigung etwa vom Recht auf Kritik und Verbreiten von Nachrichten darstellt, die zweite im Bereich unklarer Wahrheitslage zumindest den Wahrheitsbeweis zulässt und der dritte und zugleich täterfreundlichste Bereich die Wahrheit als Kriterium der Straflosigkeit versteht, befindet sich das türkische Recht auf der niedrigsten Würdigungsstufe und das deutsche Recht immerhin auf der zweiten Stufe.
) Ergebnisse und einige Einzelfallbeispiele I. Ergebnisse Die Betrachtung der einzelnen Elemente, insbesondere der Schutzobjekte, der Tathandlungen und der subjektiven Tatseite sowie diejenige Dogmatik zur Abgrenzung straffreier und strafbarer Handlungsweisen mit Berührungspunkten insbesondere der Meinungsfreiheit ergeben, dass das deutsche Recht mit den §§ 90a, 90b StGB tatbestandlich (teilweise erheblich) enger gestaltet ist, als das türkische Recht mit den Artt. 300, 301 tStGB 2004. Folgende Ergebnisse sind festzuhalten: – In den türkischen Vorschriften sind insgesamt mehr Schutzobjekte erfasst, d.h. es sind Schutzobjekte aufgeführt, die im deutschen Recht keine Entsprechung finden92. – Die Herabsetzung als Tathandlung der Artt. 300, 301 tStGB 2004 erweist sich unter Berücksichtigung der Dogmatik zu denjenigen Handlungsweisen, die mit der Ausübung von Grundrechten kollidieren, weiter als diejenigen Tathandlungen, die durch die §§ 90a, 90b StGB pönalisiert werden.
90 91 92
könnte Straffreiheit bei Wahrheit der behaupteten Tatsache durch (ausdrückliche) Anwendbarkeit des Art. 127 auf die Tathandlungen der Artt. 300, 301 tStGB 2004 umsetzen. Die allgemeinen Ehrverletzungsdelikte würden also bereits eine entsprechende Systematik anbieten. Vgl. Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90a, Rn. 19. Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) I. 6. f). Umgekehrt findet lediglich der Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB der Schutz der Mitglieder von Verfassungsorganen nach § 90b Abs. 1 StGB keine Entsprechung auf türkischer Seite.
Elftes Kapitel: Dogmatischer Vergleich
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Zwar bietet die türkische Rechtfertigungsdogmatik durch Berücksichtigung der Ausübung eines (auch subjektiv-öffentlichen) Rechts die Möglichkeit, die den Tatbestand erfüllende Handlungsweise etwa durch die Ausübung des Rechts auf Kritik oder des Rechts auf Verbreiten von Nachrichten zu rechtfertigen. Die Anforderungen für eine rechtfertigungstaugliche Handlung sind aber relativ hoch. – Die für die Tathandlung erforderliche Öffentlichkeit wird im türkischen Recht auf bedenkliche Art und Weise ausgelegt. Entscheidend ist hier nämlich die Öffentlichkeit des Ortes. Dadurch scheint die Anwesenheit eines die Öffentlichkeit bildenden Publikums zweit- bzw. nachrangig zu sein. – Auf subjektiver Tatseite sind die Tatbestände der §§ 90a, 90b StGB bereits durch Aufstellung zusätzlicher subjektiver Voraussetzungen enger als die Artt. 300, 301 tStGB 2004, die lediglich bedingten Vorsatz voraussetzen. Aber auch die deutsche Dogmatik zum Eventualvorsatz verlangt mehr, als die türkische Seite. – Dass die Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG keine förmliche Verfassungsgrenze kennt, hat im deutschen Recht zumindest zur Diskussion weitergehender Einschränkungen geführt. Dies (schon verfassungsrechtliche) Ausgangslage hat im türkischen Recht hingegen eine derartige Entwicklung verhindern können.
II. Einzelfallbeispiele Nachdem alle dogmatischen Unterschiede erläutert worden sind, erscheint es nunmehr angemessen, einige Einzelfallbeispiele gegenüberzustellen. Denn auch die dogmatische Ausgestaltung geschriebener Straftatbestände muss subjektive Würdigung vor Gerichten erfahren. Dass diese Würdigung schon innerhalb der Entwicklung nur einer Rechtsordnung von Epoche zu Epoche unterschiedlich ausfallen kann, wurde bereits gezeigt93. Auch wenn also die einzelnen Teilstücke der Vergleichsvorschriften miteinander vergleichbar (oder unterschiedlich) sind, kann doch die Gegenüberstellung von Einzelfallbeispielen noch überraschen. Zu berücksichtigen ist aber, dass die hier erwähnten Beispiele aus der türkischen Rechtsprechung größtenteils Judikate aus dem Geltungsbereich des tStGB 1926 darstellen, da seit Inkrafttreten des tStGB 2004 nicht genügend Zeit verstrichen ist, um bedeutendes Material in Form höchstrichterlicher Judikate herauszubilden94. 93 94
Vgl. oben: Sechstes Kapitel, B) II. 1. Dass dies die Aussagekraft der vorliegenden Einzelfallvergleiche nicht schmälern muss, ergibt sich – wie oben bereits erwähnt – daraus, dass die Tathandlungen der Artt. 145, 159 tStGB 1926 auf objektiver und subjektiver Tatseite (teilweise) enger gestaltet sind.
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Vierter Teil: Vergleich
1. Fahne und Hymne Beispiele für Tathandlungen, die sich gegen Hoheitszeichen bzw. Staatssymbole richten, sind in der vergleichenden Betrachtung im Wesentlichen auf den Schutz der Fahne und den Schutz der Nationalhymne beschränkt, da hier auf beiden Seiten Judikate ermittelt wurden. Bei dem Schutz der Fahne fällt auf, dass in beiden Rechtsordnungen Verbalangriffe auf die Fahne häufig mit einer systemablehnenden Haltung gegenüber dem jeweiligen Staat verbunden wurden. Die Frage aber, ob die jeweilige Handlung schon strafbar war, wurde unterschiedlich bewertet. Denn während es nach dem mit dem geltenden Recht im Wesentlichen vergleichbaren95 Art. 145 tStGB 1926 strafbar war, zu behaupten, die türkische Fahne werde bald durch eine Hadschi-Fahne ersetzt96, etablierte sich in der deutschen Rechtsprechung die Ansicht, dass das Recht auf Kritik auch ablehnend sein, sogar mit verfassungsfeindlichen Zielen verbunden werden dürfe97. Dieser Maßstab geht zwar deutlich großzügiger mit der Meinungsfreiheit um, doch konnte auch auf deutscher Seite eine nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB tatbestandsmäßige Verunglimpfung schon in der Verbreitung eines Aufklebers gesehen werden, auf dem sich die auf den Kopf gedrehte Bundesflagge mit der Aufschrift „Legal? Illegal? Scheißegal?“ befand98. Ebenfalls wurde in der frühen Rechtsprechung der noch jungen BRD die Aussage, die Bundesfarben seien „schwarz-rot-gelb“ („weil Gold ja bekanntlich keine Farbe ist“) als nach § 90 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar angesehen99. Die Strafbarkeit für das Antippen der Kokarde einer Dienstmütze mit der „abfälligen“ Bemerkung „schwarz-rot-mostrich“ nach § 90 Abs. 2 StGB ist im Grad der Intensität ebenfalls als niedrig anzusehen100. Beim Schutz der jeweiligen Hymnen erkennt man hingegen deutliche Unterschiede in der Bewertung strafbaren Verhaltens: Während es nach Art. 145 tStGB 1926 schon strafbar war, sich beim gemeinschaftlichen Singen der Nationalhymne rauchend an die Wand zu lehnen und einen „respektlosen Eindruck“ zu machen101 oder nur andere dazu aufzufordern, die Hymne schlecht zu singen102, wurden nach § 90a Abs. 1 Nr. 2 StGB sogar Pfui-Rufe beim Ab95 96
Siehe oben: Fünftes Kapitel, C). Kassationshof, Urteil vom 11.3.1953, E. 1401, K. 2603, abgedruckt bei: Gözübüyük, Türk Ceza Kanunun Aç�lamas�, Bd. 2, S. 649. 97 BVerfGE 47, 198 (232); BGH NStZ 2002, 592 (593); BGH NStZ 2003, 145 (146). 98 Vgl. Vorinstanzen bei: BayObLG NJW 1987, 1711. 99 BGH Urt. v. 16. November 1959 – 3 StR 45/59. 100 OLG Braunschweig NJW 1953, 875. 101 Kassationshof, Urteil vom 16.6.1982, E. 4487, K. 4112, abgedruckt bei: Yarg�tay Kararlar Dergisi 1982, 1334 f. 102 Kassationshof, Urteil vom 17.6.1981, E. 2229, K. 2352, abgedruckt bei: Kurt, Terör Suçlar�, S. 92 f.
Elftes Kapitel: Dogmatischer Vergleich
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singen der Hymne als straffrei betrachtet103. Diese sich aus diesen konkreten Beispielen ergebende unterschiedliche Bewertung war aus türkischer Sicht aber nicht immer notwendig. Auch hier gibt es Beispiele für einen großzügigeren Umgang mit staats- bzw. systemkritischer Haltung. So wurde die Verweigerung, sich zum Erklingen der Nationalhymne zu erheben, als nicht strafbar betrachtet, da die Täter (Insassen eines Gefängnisse) den Wärter der Anstalt erklärt hatten, dass der Unabhängigkeitsmarsch nicht ihren Anschauungen entspreche und sie nicht länger beabsichtigen, sich für ihn zu erheben104.
2. Der Staat (i.w.S.) Bei unmittelbaren Tathandlungen mit systemkritischer Haltung, also solchen Handlungsweisen, die sich nicht gegen Hoheitszeichen oder Symbole des Staates, sondern direkt gegen den Staat (oder gegen die Republik, Regierung, die Nation [auch Türkentum] etc.) richten, weisen die ermittelten Judikate einen vergleichbaren Umgang mit strafbarem Verhalten auf. Eine tatbestandsmäßigen Handlung nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB bei der Behauptung in Betracht zu ziehen, der Staat habe 19 RAF-Mitglieder ermordet105, ist so durchaus vergleichbar mit der Verurteilung nach Art. 159 Abs. 1 tStGB 1926 für die Behauptung, der Staat stehe hinter 13 Morden an Journalisten106, oder die Behauptung, der Imperialismus und sein verlängerter Arm vor Ort – die USamerikanische Central Intelligence Agency (CIA) oder der türkische Geheimdienst, die Millî �stihbarat Te�kilat� (M�T) – würden Morde gegen zivile Einrichtungen inszenieren107. Ebenfalls vergleichbar sind die Verurteilungen für die Bezeichnung der BRD als „Bimbes-Republik“ und „käuflicher Saustall“108 bzw. als „Unrechtsstaat“109 mit der Verurteilung für die Aussage, die Türkei sei ein „Mörderstaat, Ausbeuterstaat, völkermordender Staat“110. Ob die Aussage „Nieder mit Deutschland“ nach § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar wäre, kann zumindest in Zweifel gezogen werden, da nach der Rechtsprechung des BVerfG eine ablehnende Haltung auch bei verfassungsfeindlichen Zielen nicht verboten sein soll. So wird der nach Art. 159 Abs. 1 tStGB 1926 strafbare An103 OLG Hamm, GA 1963, 28 (29). 104 Kassationshof, Urteil vom 2.9.1987, E. 9/552, K. 93, abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 140 f. 105 Vgl. BayObLG NStZ-RR 1996, 135. 106 Kassationshof, Urteil vom 16.5.1994, E. 2201, K. 2820, abgedruckt bei: Özel, �çtihatl� Türk Ceza Kanunu, S. 82; vgl. Tellenbach, a.a.O., S. 643. 107 Kassationshof, Urteil vom 26.11.1979, E. 1979/9–316, K. 1979/513, abgedruckt bei: Gündel, Hakaret Suçlar�, S. 107 ff. 108 BGH NStZ 2003, 145. 109 BGHSt 7, 110. 110 Kassationshof, Urteil vom 5.12.1995, E. 6495, K. 6456, abgedruckt bei: Çetin, Hakaret Suçlar�2, S. 204 f.
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Vierter Teil: Vergleich
griff auf das Türkentum (!)111 durch die Aussage „Nieder mit der Türkei“112 wohl eine Besonderheit der türkischen Dogmatik darstellen.
3. Demokratische Herrschaftslegitimation Einen auf Rechtsetzungsebene unterschiedlichen, aber auf Anwendungsebene vergleichbaren Umgang offenbaren die Vergleichsvorschriften bei der Legitimität der politischen Herrschaft. Während der türkische Strafgesetzgeber nach der Einführung der Mehrparteiendemokratie auf vermehrte Vorwürfe der Wahlfälschung mit der Aufnahme des Schutzobjekts der Legitimität der Großen Nationalversammlung in Art. 159 Abs. 1 tStGB 1926 reagierte113, sind der Vorwurf der Wahlfälschung bzw. Angriffe auf die Legitimität deutscher Gesetzgebungsorgane nicht ausdrücklich pönalisiert worden. Dennoch konnte eine entsprechende Behauptung – etwa die Aussage, die Wahlen in der BRD seien „Betrugsmanöver“ und sie würden der „Unterdrückung der Arbeiterklasse und des Volkes“ dienen114 – als Verstoß gegen § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB angesehen werden.
4. Inkongruenzen und Unterschiede Dass die Beschimpfung oder böswillige Verächtlichmachung der Farben der BRD keine Entsprechung im türkischen Recht finden konnte, ist – wie bereits erwähnt – wohl eine Frage der Gestaltung der Nationalflaggen. Aber der Umstand, dass nach § 90b Abs. 1 StGB auch einzelne Mitglieder von Verfassungsorganen Schutz finden konnten, unterscheidet sowohl den Tatbestand als auch die Judikate von der Vergleichsrechtsordnung. So finden sich unter den Beispielen der deutschen Rechtsprechung auch Behauptungen bzw. Aussagen, die sich gegen konkrete Mitglieder von Verfassungsorganen – etwa gegen den damaligen Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß115 oder den Bundessozialminister Herbert Ehrenberg116 – richten. Dies ist im türkischen Recht in dieser Form nicht der Fall. Umgekehrt sind Angriffe gegen Streitkräfte lediglich im türkischen Recht durch die besonderen Ehrschutztatbestände geschützt. Daher findet man unter den deutschen Judikaten keine Beispiele, die vergleichbar wären mit den Verurteilungen für Behauptungen, das türkische 111 Dass zwischen Türkentum und Staat nicht immer klar getrennt wurde, dies unter anderem auf die Unbestimmtheit des Merkmals zurückzuführen war und auch daher in der Vergangenheit zu Kritik geführt hat, wurde oben bereits erwähnt: Viertes Kapitel, D) II. 1. c) und d). 112 Kassationshof, Urteil vom 28.5.1980, E. 1980/1281, K. 1980/2368, abgedruckt bei: Gündel, Hakaret Suçlar�, S. 144. 113 Siehe oben: Viertes Kapitel, D) I. 3. 114 VGH Mannheim NJW 1976, 2177. 115 BGHSt 12, 364 (365). 116 OLG Düsseldorf NJW 1980, 603.
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Militär habe im Kampf gegen die PKK Frauen sexuell missbraucht117 oder hinter den Lynchaktionen und Attentaten gegen Zivilisten stehe der Generalstabchef118. Auch die bereits näher dargestellte Strafbarkeit für Völkermordbehauptungen119 ist eine Besonderheit des türkischen Rechts.
117 Freedom of Speech, S. 3. Vgl. Amnesty International, 44/035/2006, S. 7. 118 Ebd. 119 Siehe oben: Viertes Kapitel, D) II. 1. d) und fünftes Kapitel, D) V.
Zwölftes Kapitel: Statistischer Vergleich „Die europäischen Staaten, die eine dem Art. 301 ähnliche Schutzvorschrift gegen die Herabsetzung staatlicher Institutionen kennen, wenden sie viel weniger an.“1
A) Art und Weite des statistisches Vergleichs Innerhalb der Betrachtungen zum türkischen bzw. deutschen Recht wurde das ermittelte justiz-statistische Material vorgestellt und ausgewertet. Die obigen Ergebnisse sind miteinander zu vergleichen. Hierfür bietet sich ein Vorgehen auf zwei Ebenen an. Einerseits erscheint es erstrebenswert, die jeweilige Entwicklung der Anwendungsrelevanz ansehensschützender Vorschriften mit Blick auf mögliche Einflüsse miteinander in Bezug zu bringen; dabei sind die jeweiligen Längsschnittdarstellungen gegenüberzustellen und zu vergleichen (erste Ebene). Andererseits können durch die Gegenüberstellung der absoluten Werte Vermutungen darüber angestellt werden, in welcher Rechtsordnung die jeweiligen Vorschriften eine verhältnismäßig größere Bedeutung für die Anwendung haben (zweite Ebene). Die Betrachtung auf diesen unterschiedlichen Ebenen hat Einfluss auf die Anforderungen zur Vergleichbarkeit der statistischen Werte: Denn bei dem Vergleich auf der ersten Ebene kann auf Ausführungen zur Vergleichbarkeit der absolut-statistischen Werte verzichtet werden. Es bedarf also keines Vergleiches der Dogmatik der Vergleichsvorschriften, ebensowenig der Bevölkerungszahl bzw. -dichte der Türkei und Deutschlands, der jeweiligen Gerichtsdichte oder der Bedeutung der formellen Instanzen sozialer Kontrolle u.ä., da sich der Vergleich auf dieser Ebene auf längsschnitt-typische Aussagen bezieht, d.h. auf solche Aussagen, die sich für die jeweilige Rechtsordnung und für einen beliebigen Zeitpunkt aus der Betrachtung des Vorjahreszeitraums bzw. des Nachfolgezeitraums ergibt. Das statistische Kriterium, nach welchem Ausschau gehalten wird, besteht also in der Zu- oder Abnahme von Anklagen, Verurteilungen, Einstellungen und Freisprüchen. Der Vergleich absoluter Zahlen hingegen erfordert eine Auseinandersetzung mit der Vergleichbarkeit der statistischen Werte, da Faktoren wie dogmatische Unterschiede, Bevölkerungszahl, Gerichtsdichte u.ä. Einfluss etwa auf die Zahl der Verurteilungen nehmen können. Möchte man also Aussagen darüber herausarbeiten, in welcher Rechtsordnung ein bestimmtes Verhalten häufiger bestraft wird, kann dies nur nach Bereinigung der Werte von verfälschenden Faktoren geschehen. 1
Tellenbach, Zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, S. 79.
Zwölftes Kapitel: Statistischer Vergleich
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Hierbei ist die Bevölkerungszahl (neben den dogmatischen Unterschieden) m.E. das aussagekräftigste Kriterium zur Vergleichbarkeit absolut-statistischer Werte. Denn auch wenn man ergänzend die Gerichtsdichte berücksichtigen würde, wäre noch keine Klarheit über die Verteilung der übrigen formellen Instanzen sozialer Kontrolle (Staatsanwaltschaften, Polizei- und Sicherheitsbehörden etc.) sowie der Aufklärungsarbeit und Ermittlungsintensität dieser einzelnen Einrichtungen gewonnen. Es mag dann auch noch einen Unterschied ergeben, dass die Türkei zentralistisch verwaltet wird und dies möglicherweise zu einer vergleichsweise geringen Präsenz offizieller Behörden in dünn besiedelten Teilen der Provinzen führt. Bevor also tief in einen solchen Bereich der Spekulationen vorgestoßen wird, erscheint die Bevölkerungszahl als Indikator für die Begehungshäufigkeit und Aufklärungswahrscheinlichkeit als valides Kriterium, da es als einziges auch alle speziellen Kriterien (Dichte und Arbeitsweise einzelner Einrichtungen) mitprägt und diese implizit berücksichtigt. Wenn unten der Vergleich auf zweiter Ebene erfolgt, werden einleitend also vergleichende Betrachtungen über die Bevölkerungszahlen beider Länder angestellt, um das ermittelte statistische Material besser, d.h. bereinigter, bewerten zu können2.
B) Vergleich auf erster Ebene I. Allgemein Der Vergleich auf erster Ebene kann nicht in der Weise erfolgen, die Anwendungsrelevanz einzelner (spezieller) Vorschriften zum Schutze des Staates i.w.S. miteinander zu vergleichen3. Auch kann nicht durch induktives Vorgehen von einzelnen Einflüssen auf eine allgemeine Annahme geschlossen werden. Vielmehr muss die Herangehensweise allgemein-deduktiver Art sein: Denn wenn man davon ausgehen kann, dass 1. in beiden Strafrechtsordnungen ein variables, von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen abhängiges Regelungsinteresse für Straftatbestände zum Ansehensschutz des Staates existiert,
2 3
Siehe dazu unten: C) I. Die Anwendungsrelevanz einzelner Vorschriften miteinander zu vergleichen, wäre nicht hinreichend gegen den Zufall abgesichert. Vergleicht man nämlich etwa die Statistiken zu §§ 131, 135 RStGB mit den Statistiken zu den Artt. 145, 159 tStGB 1926, würde man zu dem Ergebnis kommen, dass die Vorschriften aus dem RStGB eine relativ konstante Anwendungsrelevanz aufweisen, während die Vorschriften aus dem tStGB 1926 sehr anfällig waren für die Zu- oder Abnahme der Anwendungsrelevanz. Dies Betrachtung wäre aber unvollständig, da sie für das deutsche Staatsschutzstrafrecht die gesteigerte Besonderheit des Nebenstrafrechts ausblenden würde. Siehe hierzu schon oben: Zehntes Kapitel, C).
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Vierter Teil: Vergleich
2. dieses Interesse Niederschlag in Strafgesetzen (sei es im Haupt- oder Nebenstrafrecht) gefunden hat und 3. die entsprechenden Straftatbestände in ihrer Anwendungsrelevanz, abhängig von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingen, Zu- oder Abnahmen erfahren haben, dann könnten sowohl im türkischen als auch im deutschen Strafrecht relativ vergleichbare Aussagen darüber angestellt werden, wie der Ansehensschutz des Staates gesetzgeberisch und anwenderisch an Bedeutung hinzugewonnen hat. Bestehen diese den Rechtsetzer und Rechtsanwender beeinflussenden, gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen schließlich in der Krise, d.h. in Gefahren für das herrschende System, dann müssten in gesellschaftspolitischen Krisenzeiten strafgesetzgeberische Verdichtungen und zudem – teilweise hierdurch bedingte4 – Zunahmen in der Anwendung entsprechender Strafvorschriften zu beobachten sein. Wenn diese erste Betrachtung nun die Frage nach dem „Ob“ des statistischen Vergleichs bildet und man zu dem Ergebnis gelangt, dass die theoretische Annahme sich durch das ermittelte statistische Material verifizieren lässt, kann man anschließend Bewertungen darüber anstellen, wie intensiv ein solcher Einfluss auf Rechtsetzer und Rechtsanwender zum Ausdruck gekommen ist, also nach dem „Wie“ des Einflusses forschen.
II. Die Krise als Einfluss auf Rechtsetzer und -anwender? 1. Zum Begriff der Krise In den obigen Ausführungen zu möglichen Einflüssen auf die Anwendungshäufigkeit der ansehensschützenden Vorschriften wurde der Begriff der Krise bereits näher erläutert. Beispielhaft wurden dort etwa bürgerkriegsähnliche Zustände, Terrorismus u.ä. behandelt, und diese Beispiele kennzeichnen sich dadurch, dass das herrschende System öffentlich in Frage gestellt wird oder zu befürchten ist, dass es in naher Zukunft vermehrt in Zweifel gezogen wird. Während die Aussagen zu den Statistiken aus der Türkei aber vollständig Statistiken nach der Gründung der Türkischen Republik darstellen, also Statistiken innerhalb eines politischen Systems sind, wurden im deutschen Strafrecht auch einige Betrachtungen über die Statistiken aus der Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland angestellt. Im deutschen Teil kann somit auch auf die statistische Entwicklung einiger Vorschriften zwischen den politischen Systemen, d.h. auf Statistiken vor der Gründung der Weimarer Republik, in4
Auf den Unterschied zwischen gesetzgeberischen und außergesetzgeberischen Gründen für die Zunahme der Anwendungsrelevanz wurde oben bereits hingewiesen (siehe: Sechtes Kapitel, A) II. 5). Dass die gesetzgeberische Erweiterung der Tatbestände als Reaktion des Strafgesetzgebers auf eine in der Krise empfundenen Strafbarkeitslücke zugleich den Anwendungsbereich einer Vorschrift ausdehnt, liegt auf der Hand. Dies ist bei der Bewertung des statistischen Materials zu berücksichtigen.
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nerhalb der Weimarer Zeit und auch innerhalb der NS-Zeit eingegangen werden. Und wie bereits skizziert worden ist, konnte auch der Systemwechsel von der absoluten in die konstitutionelle Monarchie bzw. von der Monarchie in die Republik ein gesetzgeberisches Regelungsinteresse für neues Strafrecht wecken5, so dass die Annahme nicht fern liegt, dass die Veränderung des politischen Herrschaftssystems Einfluss auf die Anwendung des (auch hier untersuchten) Staatsschutzstrafrechts nehmen muss. Das bedeutet, dass der Systemwechsel ebenfalls „Krise“ sein kann, da das herrschende System nach seiner Erstkonstitution noch nicht etabliert ist und stets einem Lager von Konservativen oder gar Konterrevolutionären ausgesetzt ist.
2. Rechtsetzung Dass in beiden Strafrechtsordnungen ein variables, von der Krise abhängiges Regelungsinteresse für Straftatbestände zum Ansehensschutz des Staates i.w.S. existiert, und dass dieses Interesse Niederschlag in Strafgesetzen gefunden hat, wurde bereits oben dargelegt6. Da die türkische und deutsche Geschichte im gesellschaftspolitischen Kontext aber unterschiedlich verlaufen ist, also unterschiedliche Krisen durchlaufen wurden, haben die Einflüsse auf den Gesetzgeber ebenso unterschiedliche Gestalt angenommen. Zwar ist der gesetzgeberischen Entwicklung beider Rechtsordnungen gemeinsam, dass eine Gefahr für das herrschende System im Systemwechsel von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie und im Übergang von der Monarchie zur Republik angenommen wurde und zu der Regelung neuer Straftatbestände führte7. Doch verlief die Geschichte beider Nationen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges recht unterschiedlich: Während die Weimarer Republik durch die NSHerrschaft beendet und Deutschland in den Zweiten Weltkrieg getrieben wurde, vollzog die Türkei unter Atatürk einen gesellschaftspolitischen Wandel und blieb im Zweiten Weltkrieg lange neutral8. Erst die Einführung des Mehrparteiensystems Mitte des 20. Jahrhunderts führte in der Türkei wieder zu einer bedeutenderen, gesellschaftspolitisch brisanten Schwebephase. Diese historischen Unterschiede sind es, die erklären, weshalb in der deutschen Gesetzgebungsgeschichte mit der NS-Zeit eine Besonderheit darin bestand, dass zumin5 6 7
8
Siehe oben: Zehntes Kapitel, B). Siehe oben: Sechtes Kapitel, B) I. sowie neuntes Kapitel, B) I. Im zehnten Kapitel wurde aber ebenso erläutert, dass die Krise in der Weimarer Zeit und der NS-Zeit tendenziell eher zu der Zunahme entsprechender Straftatbestände im Nebenstrafrecht und nur vereinzelt zur Aufnahme in das Hauptstrafrecht geführt hat, während im türkischen Strafrecht vordergründig die Ausweitung bestehender Tatbestände im Hauptstrafrecht vorangetrieben wurde. Die Türkei verfolgte während des Zweiten Weltkrieges eine Politik der Neutralität. Erst im Februar 1945 erklärte die Türkei Deutschland (symbolisch) den Krieg und hatte sich damit „qualifiziert, im April 1945 [...] Gründungsmitglied der Vereinten Nationen zu werden.“, Steinbach, Geschichte der Türkei, S. 40. Siehe auch: �en, Türkei, S. 42.
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Vierter Teil: Vergleich
dest kurzzeitig ein Übergang vom Staatsschutz zum Regimeschutz vollzogen wurde und zur Entstehung neuer Formen des strafrechtlichen Ansehensschutzes führte9. Ebenso erklären sich hierdurch die Erweiterungen des strafrechtlichen Ansehensschutzes in der Türkei im Jahre 1946, die teilweise ausdrücklich mit der durch den Übergang zum Mehrparteiensystem einhergehenden Gefahr für die Legitimität der gewählten Organe (siehe „Legitimität der Großen Nationalversammlung“) in Verbindung stehen10. Auch die „tabula rasa“11 des bundesdeutschen Staatsschutzstrafrecht und der daraus resultierende Neubeginn (auch) des strafrechtlichen Ansehensschutzes des Staates i.w.S. ist Ausdruck der Teilnahme Deutschlands am Zweiten Weltkrieg. Doch war es nicht stets die Krise, die den Gesetzgeber zu Erweiterung bewegte. Auch andere Umstände konnten unterschiedliche gesetzgeberische Entwicklungen herbeiführen: In der türkischen Strafrechtsgeschichte kam es zu einer gesetzgeberischen Verdichtung der ansehensschützenden Straftatbestände auch durch den Einfluss gesetzgeberischer Vorbilder aus dem Ausland. So stellen die gesetzgeberischen Erweiterungen im Zuge der Rocco-Angleichung12 Anpassungen an das Vorbild aus Italien dar. Nachdem ferner die Erweiterungen im Jahre 1946 zu einer relativ weiten Fassung des Art. 159 tStGB 1926 geführt hatten, wurde die Vorschrift im Jahre 1961 – trotz anhaltender Krise mit einhergehendem Militärputsch – wieder entschärft. Und dass der deutsche Strafgesetzgeber an den §§ 90a, 90b StGB seit dem (8.) StÄG 1968 – trotz vorhandener gesellschaftspolitischer Krisen – keine wesentlichen Veränderungen mehr vorgenommen hat, stellt eine ebenso bemerkenswerte gesetzgeberische Zurückhaltung dar. Insgesamt verdeutlichen die Betrachtungen, dass 1. die Krise Auslöser für gesetzgeberische Erweiterung ansehensschützender Vorschriften sein konnte, sogar ziemlich häufig in dieser Form Einfluss ausübte, 2. dass aber zwischen der Krise und der gesetzgeberischen Erweiterung entsprechender Tatbestände kein notwendiges Ursachen-Wirkungs-Verhältnis bestehen musste und 3. dass der umgekehrte Einfluss, also die Abwesenheit der Krise nicht – wie man annehmen könnte – als tendenzieller Auslöser für eine gesetzgeberischen Entschärfung ansehensschützender Vorschriften Wirkung entfalte9 10 11 12
Siehe oben: Siebtes Kapitel, F). Siehe oben: Viertes Kapitel, D) I. 3. Dieser Ausdruck bei: Schroeder, Staat und Verfassung, S. 176. Gesetz Nr. 3038 vom 11. Juni 1936 und Gesetz Nr. 3531 vom 29. Juni 1938. Siehe oben: Drittes Kapitel, A) I. 1. a).
Zwölftes Kapitel: Statistischer Vergleich
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te, sondern im Gegenteil eher festzustellen ist, dass eine gesetzgeberische Erweiterung einmal durchgesetzt nur selten wieder rückgängig gemacht wurde13.
3. Rechtsanwendung Betrachtet man nun die Entwicklung der Rechtsanwendung, so zeigt sich, dass das ermittelte statistische Material in beiden Rechtsordnungen die Annahme stützt, dass die entsprechenden Straftatbestände in ihrer Anwendungsrelevanz, abhängig von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingen, Zu- oder Abnahmen erfahren haben. Da das statistische Material aber ungleich gelagert ist, die Statistiken in ungleichen Zeiträumen und zu unterschiedlichen Vorschriften ermittelt worden sind, kann diese Aussage für die vergleichende Betrachtung nur unter Hinzunahme aller Statistiken, insbesondere auch der Statistiken zu den deutschen Vorläuferrechtsordnungen, Geltung beanspruchen. Denn das statistische Material aus der deutschen Rechtsordnung, bezogen auf die §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB in separat, nicht aggregiert erfasster Form findet sich – im Gegensatz zum statistischen Material aus der türkischen Rechtsordnung – nur sehr lückenhaft vor und ist in den erfassten Zeiträumen relativ konstant. Wollte sich der statistische Vergleich auf die Statistiken zu den Kernvorschriften des Vergleichs (also den Artt. 300, 301 tStGB 2004 bzw. Artt. 145, 159 tStGB 1926 sowie den §§ 90a, 90b StGB) beschränken, ließe sich die These, dass die Krise bei der Anwendung der Vorschriften zu Zunahmen geführt hat, nicht verifizieren. Denn hierfür fehlte es an einem kongruentem Vergleichsmaterial. In der deutschen Rechtsordnung wurden aber relativ umfangreiche Statistiken zu den Vorschriften aus den Vorläuferrechtsordnungen14, insbesondere auch des Nebenstrafrechts ermittelt. Bezieht man diese in die Betrachtungen mit ein, kann ein relativ vergleichbares Entwicklungsbild nachgezeichnet werden. Dass die Betrachtung der Gesamtheit des statistischen Materials im deutschen Falle aber sogar geboten ist, wurde oben in einem anderen Zusammenhang bereits verdeutlicht: Da der deutsche Gesetzgeber in der Krise zu einer Regelung im Nebenstrafrecht tendierte15, kann die Ausblendung dieses Bereiches nämlich die falsche (d.h. unvollständige) Annahme ergeben, das deutsche Strafrecht habe sich in dem Ansehensschutz des Staates „krisenblinder“ erwiesen als das türkische Strafrecht, bei dem sowohl die Artt. 145, 159 tStGB 1926 als auch die Artt. 300, 301 tStGB 2004 relativ stark fluktuiert haben. Bei der Gesamtbetrachtung des statistischen Materials ergibt sich ein den skizzierten Tendenzen 13
14 15
Dass die Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei solche Entschärfungen gefördert hat, wurde bereits dargelegt: Drittes Kapitel, A) I. 1. d). Aber auch hier waren die Widerstände, insbesondere im Zusammenhang mit der Streichung des Türkentums, groß. Siehe dazu oben: Fünftes Kapitel, D) II. 1. a). Siehe oben: Siebtes Kapitel, D) ff. Siehe oben: Zehntes Kapitel, C).
322
Vierter Teil: Vergleich
in der Gesetzgebungspraxis entsprechendes, statistisches Bild. Im Einzelnen bedeutet dies: 1. „Krisenblind“ waren die Rechtsanwender weder in der türkischen noch in der deutschen Rechtsordnung. 2. Während sich in der deutschen Rechtsordnung aber die Zunahmen der Anwendungsrelevanz vordergründig im Krisenrecht bemerkbar machten16, kann eine solche Unterscheidung im türkischen Recht nicht gemacht werden. Hier wirkte sich die Krise schon bei der Rechtsetzung auf die Vorschriften aus dem Hauptstrafrecht aus, und so nahm auch die Anwendungsrelevanz bei den Vorschriften im Hauptstrafrecht zu17. 3. Im türkischen Recht hält der mit der Einwirkung der Krise auf die Vorschriften im Hauptstrafrecht einhergehende Trend zu teilweise dramatischen Fluktuationen bis heute an. Das deutsche Recht weist hingegen zumindest seit 1995 bis heute eine relativ konstante Anwendung auf, was im Übrigen auch mit der sich aus den Statistiken zu den §§ 131, 135 RStGB ergebenden Konstanz weitgehend vergleichbar ist18.
III. Intensität der Einflüsse Mit den Ausführungen zum „Ob“ des Einflusses wurde bereits einiges über das „Wie“ des Einflusses gesagt. Zu zwei Punkten lassen sich prägnantere Ergebnisse festhalten: 1. Als ein besonders gut nachvollziehbarer Einfluss auf die Anwendungsrelevanz ansehensschützender Vorschriften hat sich im deutschen Recht der Systemwechsel zur Weimarer Republik und zur NS-Zeit erwiesen. Hier lassen sich bei den Vorschriften, die oben als Krisenrecht bezeichnet wurden, relativ starke Unterschiede einerseits zu den Vorschriften aus dem Hauptstrafrecht erkennen und andererseits starke verändernde Zu- und Abnahmen in der Anwendungshäufigkeit feststellen19. Dies hat zumindest auch etwas mit der Konzeption des Weimarer Notstandsrechts zu tun. Hierauf wurde bereits eingegangen20. 2. Im türkischen Recht lassen sich derartige Aussagen nicht machen, da mögliche Systemwechsel übergreifendes statistisches Material nicht vorhanden 16 17 18 19 20
Siehe insbesondere das Weimarer Krisenrecht und dasjenige der NS-Zeit. Siehe oben: Siebtes Kapitel, E) sowie F). Auf die Wechselwirkung der tatbestandlichen Erweiterungen und die Zunahme der Anwendungsrelevanz wurde bereits eingegangen: Sechtes Kapitel, B) II. 5. b). Siehe oben: Siebtes Kapitel, D) II. 3. sowie E) III. 2. Siehe oben: Siebtes Kapitel, E) II. 2.; E) III. 3.; E) IV. 2. c) sowie F) V. 2. Siehe oben: Neuntes Kapitel, A) III.
Zwölftes Kapitel: Statistischer Vergleich
323
ist. Nun ist im türkischen Recht aber auch das Krisenrecht weniger vom übrigen Recht separiert worden, als auf deutscher Seite etwa in der Weimarer Zeit. Die Bedeutung der Krise ist daher lediglich an den Vorschriften im Hauptstrafrecht zu verifizieren. Und hier sind einige Einflüsse relativ gut nachvollziehbar, andere hingegen spekulativ21. Diese Ergebnisse sind jedoch nur für einen gewissen Rahmenausschnitt zutreffend: Denn wie bereits erwähnt, konnte für die deutschen Kernvorschriften des Vergleichs – die §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB – über große Zeiträume hinweg kein statistisches Material ermittelt werden. Das bedeutet, dass es grundsätzlich denkbar ist, dass in diversen Krisenzeiten, insbesondere Ende der 1960er Jahre und auch danach, stärke Fluktuationen zu beobachten gewesen wären22. Da dies mit Sicherheit nicht ausgeschlossen werden kann, kann für diesen Zeitraum also auch nicht die sichere Feststellung gemacht werden, dass die entsprechenden Vorschriften aus dem deutschen Strafrecht eine konstantere Anwendungsrelevanz aufweisen als die Vorschriften im türkischen Strafrecht. Auch die Konstanz des § 96 StGB in den 1950er Jahren und die recht deutliche Konstanz der §§ 90a, 90a StGB seit 1995 bis heute23 lassen keine sicheren Rückschlüsse auf die Vorjahre zu.
C) Vergleich auf zweiter Ebene I. Vergleichbarkeit des statistischen Materials Für den Vergleich der absolut-statistischen Werte ist zu überprüfen, ob und wie weit das ermittelte statistische Material miteinander vergleichbar ist. Besteht nämlich ein deutlicher Unterschied etwa in der dogmatischen Weite der Strafvorschriften, in den strafprozessualen Besonderheiten oder etwa in der Bevölkerungszahl beider Länder, so kann den statistischen Werten nicht dasselbe Gewicht beigemessen werden. Vorweg sei erwähnt, dass bei dem dogmatischen Vergleich der Kernvorschriften – also den §§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB sowie den Artt. 300, 301 tStGB 2004 (Artt. 145, 159 tStGB 1926) – bereits die dogmatischen Besonderheiten der Vergleichsvorschriften herausgearbeitet wurden. Diese Betrachtungen haben ergeben, dass die türkischen Vorschriften – und zwar sowohl die geltenden als auch die Vorschriften aus dem Geltungszeitraum des tStGB 1926 – dogmatisch weiter gestaltet sind und ausgelegt werden als die deutschen Vergleichsvorschriften24. Dieser Umstand muss in die Bewertung des Vergleichs absoluter Zahlen also mit einfließen. 21 22 23 24
Siehe oben: Sechtes Kapitel, B) II. 5. e). Dies war im übrigen Staatsschutzstrafrecht nämlich durchaus der Fall. Siehe dazu oben: Neuntes Kapitel, B) II. 2. Oben: Achtes Kapitel, D) XII. sowie D) IX. Siehe oben: Elftes Kapitel, ) I.
324
Vierter Teil: Vergleich
1. Bevölkerungszahlen Für den hier relevanten Vergleich liegen uns übereinstimmend statistisch dokumentierte Zeiträume vor von 1954 bis 1960 sowie von 1995 bis 2009. Die übrigen Zeiträume sind im Hinblick auf die türkischen Vergleichsvorschriften zwar teilweise weitergehend dokumentiert, decken sich aber nicht mit dem deutschen Material. Für die an der Bevölkerungszahl gemessene Vergleichbarkeit ergibt sich je nach Zeitraum Folgendes:
a) 1954 bis 1960 Im Zeitraum zwischen 1954 und 1960 weist Deutschland25 eine deutlich größere Bevölkerungszahl auf als die Türkei: 1954 lebten in der Bundesrepublik Deutschland 52.943.000 Menschen; in den darauffolgenden Jahren stieg die Bevölkerungszahl (mit Ausnahme von 1956) in jedem Jahr an und erreichte 1960 eine Bevölkerungszahl von 55.958.00026. In der Türkei ergaben die allgemeinen Volkszählungen27 im Jahre 1950 eine Gesamtbevölkerung von 20.947.000, im Jahre 1955 eine Bevölkerungszahl von 24.065.000 und im Jahre 1960 eine Bevölkerung von 27.755.00028. Das bedeutet, dass in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1954 bis 1960 ca. doppelt so viele Menschen lebten wie in der Türkei.
b) 1995 bis 2009 Zwischen 1995 und 2009 weist Deutschland29 zwar immer noch eine größere Bevölkerungszahl auf. Dieser Unterschied ist aber längst nicht mehr so deutlich, wie noch Mitte des 20. Jahrhunderts: Die Bevölkerungszahl beträgt im Jahre 1995 in Gesamtdeutschland 81.817.000, im früheren Bundesgebiet 66.342.000; nach diversen Zu- und Abnahmen sowohl im gesamtdeutschen als auch im früheren Bundesgebiet, pendelt sich die Bevölkerungszahl im Jahre 25 26 27 28 29
Gemeint ist das frühere Bundesgebiet (, welches mit den Erhebungsraum der ermittelten Statistiken übereinstimmt). Zu berücksichtigen ist aber, dass das Saarland in den Erhebungen der Strafverfolgungsstatistik erst ab 1961 erfasst worden ist. Angaben nach: Statistisches Bundesamt, Lange Reihe, Bevölkerung insgesamt nach dem Gebietsstand, abrufbar unter: www.destatis.de (zuletzt abgerufen: Juli 2013). In der Türkei wurden von 1935 bis 1990 in fünfjährigem Abstand allgemeine Volkszählungen (genel nüfus say�m�) durchgeführt. Seit 1990 findet die Volkszählung nunmehr in einem 10-jährigen Turnus statt. Angaben nach: Türkische Gesellschaft für Statistiken (Türkiye �statistik Kurumu), Nüfus 1927–2000 (y�ll�k nüfus art���, h�z� ve y�l ortas� nüfus tahmini), abrufbar unter: www.tuik.gov.tr (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Da die Strafverfolgungsstatistik seit 1992 Sachsen, seit 1994 Brandenburg, seit 1995 Gesamtberlin, seit 1997 Thüringen, seit 2001 Mecklenburg-Vorpommern und seit 2007 Sachsen-Anhalt erfasst, erscheint es für 1995 bis 2009 nicht angemessen, nur auf die Bevölkerungszahl des früheren Bundesgebietes abzustellen. Sie wird dennoch mitgenannt, da ab 1995 nicht schon alle neuen Bundesländer statistisch miterfasst worden sind.
Zwölftes Kapitel: Statistischer Vergleich
325
2009 bei 81.802.000 (65.422.000) ein30. In der Türkei ergaben die Völkszählungen im Jahre 1990 eine Bevölkerung von 56.473.000 und im Jahre 2000 einen Anstieg auf 67.804.00031. Die seit 2007 neben der generellen Völkszählung erhobenen und auf Adressdaten beruhenden Erhebungen (Adrese Dayal� Nufüs Kay�t Sistemi) ergaben für 2007 eine Bevölkerungszahl von 70.586.256, im Jahre 2008 einen Anstieg auf 71.517.100 und im Jahre 2009 einen erneuten Anstieg auf eine Bevölkerung von 72.561.31232.
2. Statistische Kategorien Der Vergleich des statistisch ermittelten Materials erfordert ferner einige vergleichende Betrachtungen zum Zustandekommen der Anklagezahlen, der Verurteilungen, der Freisprüche und Einstellungen: In beiden Rechtsordnungen sehen die strafprozessualen Vorschriften zwar Regelungen zur Erhebung der Klage vor. Die Anklagezahlen sind aber lediglich auf türkischer Seite ermittelt worden. Für die (deutsche) Strafverfolgungsstatistik ist nämlich zu berücksichtigen, dass sie Aburteilungen (auch Strafbefehle) dokumentiert. Entscheidungen vor Eröffnung des Hauptverfahrens werden also nicht erfasst, d.h. die Zahl der Anklagen ergibt sich nicht aus der schlichten Addition der Verurteilungen, Freisprüche und Einstellungen, da die StPO etwa mit den §§ 153 ff. einige Möglichkeiten zur vorzeitigen Verfahrenseinstellung vorsieht, diese in der Strafverfolgungsstatistik aber nicht dokumentiert sind33. Im türkischen Strafverfahrensrecht galt vor Inkrafttreten der geltenden tStPO 200534 – also im Geltungszeitraum der tStPO 192935 – hingegen die starre Legalität (kovu�turma mecburiyeti ilkesi)36. Nach Art. 148 Abs. 2 tStPO 1929 musste bei genügend Beweismitteln die Anklage erhoben werden. Das bedeutet, dass die Zahl der Anklagen in der Türkei vor Inkrafttreten der tStPO 2005 mit der Strafverfolgungsstatistik nicht vergleichbar ist, da es denkbar ist, dass in Deutschland relevante Fälle nicht dokumentiert worden sind. Auch nach Klageerhebung können Unterschiede in der strafprozessualen Ausgestaltung des Legalitäts- und Opportunitätsprinzips Auswirkungen auf die Zahl der Freisprüche und Verurteilungen haben. Prinzipiell lässt sich nämlich 30 31 32 33 34 35 36
Statistisches Bundesamt, a.a.O. Türkische Gesellschaft für Statistiken, a.a.O. Angaben nach: Türkische Gesellschaft für Statistiken, Adrese Dayal� Nufüs Kay�t Sistemi, abrufbar unter: http://tuikapp.tuik.gov.tr/adnksdagitapp/adnks.zul (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Nur ausnahmsweise enthält die Strafverfolgungsstatistik aber auch Entscheidungen gemäß § 59 StGB, §§ 27, 45 Abs. 3 JGG. Siehe: Heinz, Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882–2006, S. 32 f. Gesetz Nr. 5271 vom 4. Dezember 2004. Gesetz Nr. 1412 vom 4. April 1929. U�ur, Maslahata Uygunluk �lkesine, S. 257 f., 269 f. m.w.N.
Vierter Teil Vergleich
�ahsi dava
ön ödeme
ara�t�rma mecburiyeti
kamu davas�n� açma mecburiyeti
kamu davas�n� yürütme mecburiyeti
maslahata uygunluk ilkesi
erteleme
kovu�turmaya yer olmad���na karar
Lex Emminger ¡¡
U�ur U�ur U�ur ¢
Vormbaum £
Zwölftes Kapitel: Statistischer Vergleich
327
kontinuierlich ausgebaut wurden43, insbesondere führte 1974 das erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrens44 den § 153a StPO ein. Dem deutschen Recht kommt zumindest bis 2005 daher eine größere Bedeutung bei den Einstellungen zu als im türkischen Recht. Nach Inkrafttreten der tStPO 2005 wird sich diese Situation wohl allmählich ändern, mögliche vorzeitige Verfahrensbeendigungen sind aber – wie bereits erwähnt – lediglich aggregiert erfasst und daher nicht zweifelsfrei nachvollziehbar.
II. Vergleich der absolut-statistischen Werte45 1. 1954 bis 1960 Im Zeitraum von 1954 bis 1960 liegen uns auf türkischer Seite lediglich die Zahlen der Verurteilungen vor. So ergingen aufgrund Art. 145 tStGB 1926 im Schnitt 3 Verurteilungen und aufgrund Art. 159 tStGB 1926 über 102 Verurteilungen jährlich. Auf deutscher Seite liegen im gleichen Zeitraum separat lediglich Statistiken zu § 96 StGB vor; § 97 StGB ist zusammen mit § 95 StGB (Beleidigung des Bundespräsidenten) dokumentiert. Addiert man aber selbst die Zahlen nach § 95 StGB hinzu, ist nach § 97 (und § 95) StGB im Schnitt 5 Mal verurteilt, über 7 Mal freigesprochen und mehr als 7 Mal eingestellt worden. Nach § 96 StGB ergingen durchschnittlich mehr als 10 Verurteilungen, mehr als ein Freispruch und weniger als eine Einstellung jährlich. Insgesamt treten die §§ 96, 97 StGB im Vergleich zu den Artt. 145, 159 tStGB 1926 also als deutlich weniger anwendungsrelevant in Erscheinung. Dies würde sogar dann Geltung beanspruchen, wenn man auf deutscher Seite alle Freisprüche und Einstellungen als Verurteilungen verbuchen würde. Dass dieser Unterschied also auf die strafprozessualen Besonderheiten zurückzuführen wäre oder die Zahl der nicht dokumentierten Fälle auf der deutschen Seite als besonders hoch einzustufen wäre, kann nicht angenommen werden. Auch können für eine derartige Relevanz der türkischen Vergleichsvorschriften keine demografischen Besonderheiten als Begründung herangezogen werden. Im Gegenteil wurde oben gezeigt, dass die Bevölkerung in der Türkei im Zeitraum von 1954 bis 1960 nur halb so groß war wie in Deutschland. Die Artt. 145, 159 tStGB 1926 wurden in der Türkei schlicht häufiger angewandt, was teilweise auch auf die dogmatische Weite der Vorschriften zurückgeführt werden muss, die insbesondere nach den Rocco-Angleichungsgesetzen und nach den Änderungen im Jahr 1946 eine bedeutende Ausprägung erlangte46. 43 44 45 46
Rieß, Entwicklung der StPO, S. 10 f. Vormbaum, Lex Emminger, S. 171 ff., 172 f.; Dettmar, Legalität und Opportunität, S. 195 ff., S. 249 ff., 255 ff. BGBl. I, 3393. Zu den Statistiken auf türkischer Seite siehe oben: Viertes Kapitel, C) VIII.; D) VIII.; fünftes Kapitel, C) V.; D) VII. Auf deutscher Seite: Achtes Kapitel, D) XII; E) I. Siehe oben: Viertes Kapitel, C) I. 2.; D) I. 2 sowie D) I. 3.
328
Vierter Teil: Vergleich
2. 1995 bis 2009 Im Zeitraum von 1995 bis 2009 ist auf türkischer Seite in zweierlei Hinsicht zu unterscheiden: Zum einen sind ab 2006 die geltenden Artt. 300, 301 tStGB 2004 dokumentiert, die ihre Vorläufer aus dem tStGB 1926 abgelöst haben. Zum anderen gilt für die statistischen Angaben mit der tStPO 2005 eine neue strafprozessuale Grundlage. Im Zeitraum von 1995 bis 200547 wurde aufgrund Art. 145 tStGB 1926 im Schnitt jährlich über 19 Mal angeklagt, über 6 Mal verurteilt, über 11 Mal freigesprochen und es erging weniger als eine Einstellung. Aufgrund Art. 159 tStGB 1926 wurde im gleichen Zeitraum im Schnitt jährlich über 397 Mal angeklagt, über 132 Mal verurteilt, über 150 Mal freigesprochen und es ergingen über 18 Einstellungen. Im Zeitraum von 2006 bis 2009 wurde aufgrund des Art. 300 tStGB 2004 im Jahresdurchschnitt ca. 96 Mal angeklagt, 29 Mal verurteilt und ca. 37 Mal freigesprochen. Aufgrund des Art. 301 tStGB 2004 wurde im Schnitt pro Jahr ca. 316 Mal angeklagt, ca. 115 Mal verurteilt und 129 Mal freigesprochen. Im Zeitraum von 1995 bis 2009 ergingen nach § 90a StGB durchschnittlich mehr als 11 Verurteilungen, mehr als ein Freispruch und 7 Einstellungen. Nach § 90b ergingen im gleichen Zeitraum insgesamt (!) 6 Verurteilungen und eine Einstellung, also im Jahresdurchschnitt weniger als eine Verurteilung und nahezu keine Freisprüche und Einstellungen. Auch dieser Vergleichszeitraum weist eine deutlich höhere Anwendungsrelevanz der türkischen Vergleichsvorschriften auf. Auch hier kann der Unterschied nicht durch soziodemographische Besonderheiten erklärt werden. Auch im Zeitraum von 1995 und 2009 hat sich die Bevölkerung der Türkei nicht in einer Weise vergrößert, die einen derartigen Unterschied erklären könnte. Auch hier wird die Relevanz wohl einerseits auf die dogmatische Weite der türkischen Vergleichsvorschriften und auf ein gesteigertes Anwendungsinteresse zurückzuführen sein.
D) Ergebnisse Der hier auf zwei Ebenen angestrebte statistische Vergleich ergibt folgende Ergebnisse: 1. Die These, dass die Krise im oben bezeichneten Sinn zu Fluktuationen der Anwendungsrelevanz von Staatsschutzvorschriften zum Ansehensschutz des Staates i.w.S. führen konnte, hat sich sowohl in der deutschen als auch in der türkischen Rechtsordnung bestätigt. Die deutschen Kernvergleichsvorschriften erweisen sich insgesamt jedoch als deutlich konstanter, da das deutsche Recht zur Verabschiedung von Krisenrecht tendierte. 47
Für 2002 sind die Verurteilungszahlen, Freisprüche und Einstellungen unbekannt.
Zwölftes Kapitel: Statistischer Vergleich
329
2. Insgesamt weisen die türkischen Vorschriften eine deutlich höhere Anwendungsrelevanz auf als die Vorschriften aus dem deutschen Recht48. Dies ist auch auf die dogmatische Weite der türkischen Vorschriften zurückzuführen, erklärt sich aber wohl nicht allein durch diesen Gesichtspunkt49. Neben der dogmatisch engeren Gestaltung der deutschen Vergleichsvorschriften, stellen auch die verfassungsrechtlichen Hürden des GG – insbesondere der Stellenwert der Meinungs- und Kunstfreiheit – anwendungshemmende Faktoren dar50.
48 49 50
Vgl. schon: Tellenbach, Staatsschutzdelikte im Entwurf eines Türkischen Strafgesetzbuches, S. 637 f. Siehe unten: Vierzehntes Kapitel, B). Vgl. Tellenbach, Zur Meinungsfreiheit in Deutschland, S. 379 ff., 384 ff.
Dreizehntes Kapitel: Kriminalpolitischer Vergleich „Da Erhaltung der Rechte überhaupt Zweck der Strafgesetze ist, so sind sowohl die Rechte der Unterthanen, als auch die dem Staate (als moralischer Person) zukommenden Rechte, 1 Gegenstand ihrer schützenden Drohungen.“
A) Vorbemerkungen Der kriminalpolitische Vergleich bezieht sich vordergründig auf die jeweiligen Würdigungen des türkischen und deutschen Teils2. Wenn es dort (u.a.) noch darum ging, die jeweiligen Rechtsgüter der Vorschriften kritisch zu hinterfragen, sind nun die Ergebnisse dieser Untersuchungsabschnitte miteinander in Bezug zu bringen. Dies erfordert auch Ausführungen darüber, welches Verständnis über die Funktion von Rechtsgütern in der jeweilige Rechtsordnung vorherrscht. Im Bereich des Staatsschutzstrafrechtes ist dies ferner eng mit dem Verständnis von der Stellung des Staates im staatsschutzstrafrechtlichen Gefüge verbunden. Kriminalpolitisch ist dieser Abschnitt auch, weil hier ein Vergleich darüber angestrebt werden soll, welche Forderungen im Zusammenhang mit den Vergleichsvorschriften zum Ausdruck gebracht werden, ob beispielsweise Forderungen existieren, die Vergleichsvorschriften abzuschaffen oder ihre Tatbestände zu verändern. Dies enthält dann auch Betrachtungen darüber, auf welcher Grundlage diese Forderungen artikuliert worden sind, ob etwa verfassungsrechtliche, strafrechtstheoretische (beispielsweise anhand der Rechtsgüterlehre) oder sonstige Maßstäbe (insbes. Zweckmäßigkeit) die Grundlage derartiger Forderungen bilden. In eine sinnvolle Reihenfolge gebracht, erscheint die vergleichende Betrachtung folgender Punkte angebracht: – Verständnis über die Funktion der Rechtsgüter im Strafrecht – geschützte Rechtsgüter der Artt. 300, 301 tStGB 2004 bzw. der §§ 90a, 90b StGB – Reichweite der Vorfeldkriminalisierung – die Stellung des Staates im Staatsschutzstrafrecht – Forderungen
1 2
Feuerbach, Lehrbuch, S. 49, Text aus: Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, S. 108. Siehe oben: Sechstes Kapitel und neuntes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel: Kriminalpolitischer Vergleich
331
B) Zulässiger Rechtsgüterschutz I. Verständnis über die Funktion der Rechtsgüter Auch wenn Teile der türkischen Rechtswissenschaft die Funktion des Strafrechts im Schutz der Gemeinschaftsordnung (sosyal düzen) sehen3 und dies mit der deutschen Strafrechtswissenschaft, welche vordergründig den Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrecht sieht4, nicht deckungsgleich ist, kennen doch beide Rechtsordnungen einen Begriff von strafrechtlich geschützten Rechtsgütern. An diesen kann sich zeigen, was der Strafgesetzgeber mit einem Straftatbestand oder etwa einem Abschnitt von Straftatbeständen zu schützen bezweckt. Kriterien für zulässige Rechtsgüter können ferner als Grundlage für legitimes Strafrecht herangezogen werden. Die sich aufdrängende Frage ist also, welche Funktion das Rechtsgüterverständnis einnimmt: Soll es sich nur an den Rechtsanwender richten, ihm als Auslegungshilfe dienen und helfen, bestimmte Rechtsgüter nach ihrer Bedeutung zu klassifizieren (systemimmanente Funktion)? Oder soll es sich zudem an den Rechtsetzer wenden und ihm Maßstäbe zur Zulässigkeit von Strafrecht bieten (systemkritische Funktion)? Wenn oben in den würdigenden Teilen darüber Betrachtungen angestellt worden sind, ob es sich bei den durch die Artt. 300, 301 tStGB 2004 und die §§ 90a, 90b StGB geschützten Rechten um taugliche bzw. zulässige Rechtsgüter handelt, dann geschah dies mit einer gewissen Zustimmung für die systemkritische Funktion. Wie aber bereits näher ausgeführt, ist der Rechtsgüterlehre eine limitierende Funktion in der türkischen Rechtswissenschaft lange nicht zuerkannt worden bzw. ließ sich aus dem Schrifttum kein Meinungsgewicht zugunsten eines solchen Ansatzes finden5. Bedeutende Autoren haben im Gegenteil lange die Auffassung vertreten, dass das subjektive Recht des Staates auf Setzung von Recht eine hinreichende Legitimation für Strafrecht darstelle6. In der deutschen Rechtswissenschaft existieren hingegen seit geraumer Zeit Befürworter einer systemkritischen Funktion der Rechtsgüterlehre7. Dass bei der Untersuchung zu den §§ 90a, 90b StGB also eine kritischere Haltung zur Frage der Zulässigkeit der geschützten Rechtsgüter herausgearbeitet werden konnte und dies im türkischen Schrifttum in dieser Form keine Entsprechung findet, ist auch ein Ausdruck dieses Unterschiedes. Nun scheinen sich in der 3 4 5 6 7
Dönmezer / Erman, Nazarî Ve Tatbikî Ceza Hukuku13, S. 1. Demirba�, Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 52 f.; �çel / Donay, Ceza Hukuku, Bd. 1, S. 3. Vgl. Tellenbach, Grundlagen des Strafrechts in der Türkei, S. 756 f. Roxin, Strafrecht AT 1, S. 13 ff.; Weigend, LK-StGB, Einl., Rn. 7; Hassemer / Neumann, NK-StGB, Vor. § 1, Rn. 108 ff. Siehe oben: Drittes Kapitel, F). Dönmezer / Erman, Nazarî Ve Tatbikî Ceza Hukuku13, S. 112 f. Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) II. 3. a).
332
Vierter Teil: Vergleich
türkischen Strafrechtswissenschaft in jüngerer Zeit neue Strömungen herauszubilden, die auch limitierende Elemente im Rechtsgüterschutz bejahen8. Zwar wird abzuwarten sein, ob diese strafrechtstheoretischen Entwicklungen sich auch mit Blick auf das besondere Schrifttum werden etablieren können. Doch kann die jüngere Entwicklung als eine hinreichende Basis für die vergleichende Betrachtung entsprechender Auseinandersetzungen zu den Vergleichsvorschriften aufgefasst werden, was im Falle des Ansehensschutzes des Staates möglicherweise sogar geboten erscheint.
II. Geschützte Rechtsgüter Da der Gesetzgeber das geschützte Rechtsgut sowohl im türkischen als auch im deutschen Strafrecht nicht ausdrücklich in den Straftatbeständen verankert hat, sind sie auf beiden Seiten durch Auslegung zu ermitteln9. Obwohl sich die Tatbestände in ihrer dogmatischen Weite unterscheiden, sind die Artt. 300, 301 tStGB 2004 und die §§ 90a, 90b StGB doch durchaus vergleichbar. Denn die Vergleichsvorschriften schützen den Staat, Staatseinrichtungen, Staatssymbole und Hoheitszeichen, so dass die Annahme nicht fern liegt, dass man in beiden Rechtsordnungen vergleichbare Rechtsgüter ermittelt haben könnte.
1. Besonderer Bestandsschutz Tatsächlich kann man dem Schrifttum beider Seiten den Ansatz entnehmen, dass die Vergleichsvorschriften allgemein dem Bestandsschutz des Staates (bzw. im deutschen Recht darüber hinaus der verfassungsmäßigen Ordnung) dienen sollen10. Weit in das Vorfeld dieser allgemeinen Schutzausrichtung ausgedehnt, sollen die Vergleichsvorschriften besondere bestandsschützende Elemente enthalten: Diese sind im türkischen Recht das Ansehen des Staates und das Nationalgefühl. Und auch im deutschen Recht wird die Auffassung vertreten, dass die Vorschriften dem Schutz des Staatsansehens dienen und im Symbolschutz das Wir-Gefühl, das Staatsgefühl bzw. der Verfassungspatriotismus enthalten sind. Die Rechtsgüterauffassungen sind – was die Einordnung des Ansehensschutzes des Staates und staatlicher Einrichtungen angeht – also miteinander vergleichbar. Unterschiede ergeben sich hingegen bei der näheren Qualifizierung der Rechtsgüter beim Symbolschutz, welche im türkischen Recht lange durch das Türkentum und seit 2008 durch das Schutzobjekt der türkischen Nation geprägt worden sind. In der türkischen Rechtsordnung hat 8 9
10
Siehe oben: Drittes Kapitel, F). Insofern muss sich die systemimmanente Funktion grundsätzlich der Zirkularität bewusst sein, dasjenige Kriterium durch Auslegung zu ermitteln, dessen man sich zur weiteren Auslegung des Gesetzes bedienen möchte. Siehe: Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 63. Siehe oben: Viertes Kapitel, C) VII. und D) VII.; fünftes Kapitel, C) IV. und D) VI. sowie achtes Kapitel, D) XI. und E) VI.
Dreizehntes Kapitel: Kriminalpolitischer Vergleich
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nämlich der besondere Stellenwert des ideologisch im Kemalismus eingebetteten Nationalismus dazu geführt, dass die Rechtsgüter beim Schutz der türkischen Fahne, des Unabhängigkeitsmarsches und des Türkentums auf das Nationalgefühl projiziert worden sind, während das deutsche Recht einen solchen besonderen Einfluss auf die Rechtsgüterauslegung nicht erfahren hat. Daher hat die Auslegung des durch die Individuen gemeinsam geteilten Gefühls sich auf das Staats-, Verfassungs- oder Wir-Gefühl beschränkt11, nicht hingegen das Nationalgefühl zur Grundlage genommen12. Dieser Umstand korrespondiert auch mit der Frage, welches Staatsverständnis in einer Rechtsordnung vorherrscht und wie dieses Verständnis auf das Staatsschutzstrafrecht Einfluss nimmt13.
2. Friedensschutz Im Schrifttum der türkischen und der deutschen Vergleichsvorschriften finden sich zudem Befürworter des Friedensschutzes. Das türkische Recht hat diesen Ansatz aus der italienischen Strafrechtswissenschaft (ordine pubblicco) übernommen14. Das deutsche Recht vertrat im Zusammenhang mit § 90a StGB lange nur vereinzelt die Auffassung, dass durch die Vorschrift der öffentliche Friede geschützt werden sollte15. In jüngerer Zeit hat aber auch die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH diese Annahme untermauert16. Einen Unterschied macht es aber, ob die Vergleichsvorschriften auch (!) dem Schutz der Friedlichkeit dienen, also nicht vielmehr andere Rechtsgüter den Schwerpunkt bilden. Zwar kann ein friedensschützender Schwerpunkt in für beide Seiten vergleichbare Weise für einige Vorläufervorschriften17 bejaht werden, ist aber für die geltenden Vergleichsvorschriften insgesamt zu verneinen. Im Hinblick auf die Bedeutung des Friedensschutzes unterscheidet sich das Schrifttum der Vergleichsvorschriften also nicht voneinander.
III. Reichweite der Vorfeldkriminalisierung Aus dem Verhältnis des allgemeinen und besonderen Bestandsschutz des Staates ergab sich bereits, dass der besondere dem allgemeinen Bestandsschutz 11 12 13 14 15 16 17
Siehe oben: Achtes Kapitel, D) XI. Siehe oben: Viertes Kapitel, C) VII. und D) VII.; fünftes Kapitel, C) IV. und D) VI. Siehe dazu unten: C). Vgl. Sancar, Alenen Tahkir ve Tezyif Suçlar�, S. 65 m.w.N. Insbesondere: Schroeder, Probleme der Staatsverunglimpfung, S. 90. BVerfG NJW 2�12, 1273 (1274); BGH NStZ 2012, 564. Dies gilt im türkischen (osmanischen) Recht für die Pressegesetze und auch im deutschen Recht für die Vorschriften des Presserechts sowie für das „Krisenrecht“ der Weimarer und NS-Zeit, das teilweise auf Grundlage von Art. 48 Abs. 2 WRV erging. Siehe dazu oben: Sechstes Kapitel, A) II. sowie neuntes Kapitel, A) III.
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Vierter Teil: Vergleich
vorgelagert ist. Dies gilt für beide Rechtsordnungen. Doch hat die besondere dogmatische Umsetzung des besonderen Bestandsschutzes Auswirkungen darauf, wie weit diese Kriminalisierung in das Vorfeld des Staatsbestandes hineingreift. Beurteilt man die Artt. 300, 301 tStGB 2004 und die §§ 90a, 90b StGB unter diesem Gesichtspunkt, ergeben sich einige Unterschiede.
1. Öffentlichkeit Ein die Vorfeldverlagerung in dogmatischer Hinsicht prägendes Merkmal ist die Öffentlichkeit. Denn wenn niemand von einer ansehensgefährenden Tathandlung Kenntnis nimmt, ist das Rechtsgut des Ansehens oder eines geteilten Gefühles auch nicht gefährdet. Doch haben sich beide Rechtsordnungen in der Öffentlichkeitsdogmatik für den Möglichkeitsansatz18 entschieden, nach dem die Wahrnehmung durch das Publikum nur möglich zu sein braucht. Dies qualifiziert die Vergleichsvorschriften als Gefährdungsdelikte auf beiden Seiten zu Vorfeldtatbeständen. Der Grad der Vorfeldverlagerung hängt aber auch von der dogmatischen Ausprägung des Möglichkeitsansatzes ab: Denn eine Beurteilung der Öffentlichkeit vom Ort der Tathandlung her ist durchaus problematischer als die Beurteilung des anwesenden Publikums, so dass die türkischen Vergleichsvorschriften eine stärkere Vorfeldqualität aufweisen und daher als abstrakte Gefährdungsdelikte eingestuft werden können19. Schaut man sich zudem die Vorläufer an, so fällt auf, dass Art. 145 tStGB 1926 als einziger Tatbestand seit 1936 überhaupt keine Öffentlichkeit mehr voraussetzte und somit einen sehr hohen Grad an Abstraktheit aufweist. Eine derartige Vorverlagerung der strafrechtlichen Erfassung entsprechender Tathandlungen findet sich im deutschen Strafrecht in dieser Form nicht.
2. Sonstige Merkmale Keine Entsprechung im türkischen Recht findet hingegen die nach § 90b Abs. 1 StGB erforderliche „Erfolgsqualität“, nach der die Verunglimpfung in einer das Ansehen des Staates gefährdenden Weise erfolgen muss. Für das OLG Düsseldorf muss infolge der Verunglimpfung eine konkrete Gefährdung des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland insgesamt eintreten20. Auch in der Lehre sehen einige Autoren aufgrund dieses Merkmals in § 90b Abs. 1 StGB ein konkretes Gefährdungsdelikt21. Dies wird von anderen jedoch ver18 19 20 21
Siehe oben: Elftes Kapitel, D) I. Siehe oben: Sechstes Kapitel, B) II. 2. b). OLG Düsseldorf NJW 1980, 603. Fischer, StGB, § 90b, Rn. 3; Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB, § 90b, Rn. 3; Kühl, Lack/Kü-StGB, § 90b, Rn. 3. Sonnen, AK-StGB, § 90b, Rn. 13. Vgl. Schroeder, Staat und Verfassung, S. 312.
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neint: Sie sprechen der Vorschrift eine Doppelnatur zu, die sie zu einem abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikt klassifiziere22. Last erklärt die Doppelnatur mit der Rechtsgüterkonzeption, die mit dem allgemeinen Bestandsschutz und dem speziellen Ansehensschutz ein abstraktes und ein konkretes Gefährdungselement beinhalte23. Eine Erklärung durch das Kriterium der Öffentlichkeit findet aber – anders als im türkischen Recht, wo die Auslegung der öffentlichen Begehung teilweise als Gefährdungsmaßstab betrachtet wird24 – offenbar nicht statt. Dies verwundert: Denn, wenn sich abstrakte Gefährdungsdelikte dadurch kennzeichnen, dass eine Rechtsgutsbeeinträchtigung durch Verletzung oder konkrete Gefährdung gerade nicht erforderlich ist, sondern es ausreichen soll, dass eine Handlungsweise typisch, also generell gefährlich ist25, kann nicht einleuchten, weshalb bei Äußerungsdelikten, die ansehensmindernder Art sein sollen – also negativ auf das Geltungsbewusstsein der Mitmenschen einwirken müssen – etwas anderes gelten soll, wenn eine positive Wahrnehmung der Tat grundsätzlich nicht erforderlich ist.
C) Der Staat im Staatsschutzstrafrecht Oben wurde in den türkischen und deutschen Teilen der Untersuchung bereits darauf eingegangen, dass das Staatsverständnis auf die Frage der Zulässigkeit des strafrechtlichen Staatsschutzes Einfluss nehmen kann. Denn beide Rechtsordnungen teilen die Auffassung, dass Strafrecht beim Rechtsgüterschutz individuellen, d.h. menschlichen Interessen dienen soll26. Der Schutz von Gemeinschaftsrechtsgütern verlangt nach einer besonderen Legitimierung. Ausgehend von einer am Ursprung der Rechtsgutsverletzungslehre – der Rechtsverletzungslehre27 – orientierten Betrachtung stellt sich insbesondere die Frage, ob der Staat Inhaber von subjektiven Rechten sein kann. Denn würde man dies bejahen, stände der strafrechtliche Schutz des kollektivierten Abstraktums Staat möglicherweise dem Schutz von Individuen gleich. Dies wird sowohl in der türkischen28 als auch in der deutschen Rechtswissenschaft bezweifelt29. 22 23 24 25 26 27 28 29
So etwa: Steinmetz, MK-StGB, § 90b, Rn. 2. Last, Staatsverunglimpfungsdelikte, S. 115 ff. Vgl. Sancar, a.a.O., S. 177 f. Vgl. oben: Sechtes Kapitel, B) II. 2. Roxin, Strafrecht AT 1, S. 338. Vgl. Roxin, Strafrecht AT 1, S. 16; Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, S. 160 ff., 166 ff.; Ünver, Das Rechtsgut im Strafrecht, S. 94; ders., Hukuksal De�er, S. 1055 ff. Vgl. Özek, „1997 TCK Yasas� Tasar�s�“, S. 40. Vormbaum, Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 53 ff. Özek, a.a.O., S. 40; Alacakaptan, Devletin Güvenli�i, S. 651 f., Ünver, Das Rechtsgut im Strafrecht, S. 95 ff. Vgl. Paeffgen, NK-StGB, § 90a, Rn. 2. Vgl. Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, S. 160 ff.
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I. Persönlichkeit des Staates Auf türkischer Seite betrachtete man den Staat – im Gegensatz zu jüngeren Strömungen im Schrifttum – lange als subjektiv-rechtsfähige Person, man sprach ihr eine ideelle Persönlichkeit (manevi �ahsiyet) zu. Dies hängt mit der Orientierung des türkischen Gesetzgebers am italienischen Strafrecht, insbesondere an den Rocco-Angleichungsgesetzen aus den 1930er Jahren, zusammen, in der dem Staat eine Persönlichkeit (personalità dello stato) zugesprochen wurde. Dies ermöglichte dem Rechtsanwender eine individuellanaloge Betrachtung des Staates, denn die Vorschriften des Staatsschutzstrafrechts wurden im tStGB 1926 unter dem Titel „Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates“ zusammengefasst. Dieses „Rocco-Erbe“ hielt sich bis zum Außerkrafttreten des tStGB 1926 im Jahre 2005. Erst durch das tStGB 2004 trat an die Stelle der „Persönlichkeit des Staates“, die „Straftaten gegen Nation und Staat“30. Im Schrifttum gab es jedoch schon vor Inkrafttreten des tStGB 2004 teils heftige Kritik an dem Konzept der (als eine Typisierung des Faschismus betrachteten31) staatlichen Persönlichkeit, da man befürchtete, dass Individuum und Staat hierdurch in ein widerstreitendes Verhältnis geraten und so ein totalitäres Rechtssystem geschaffen werde32. Da der Staat vielmehr den Interessen der Individuen zu dienen habe, dürfe er sich im Strafrecht also nicht als eine vor den Bürgern zu schützende Größe betrachten33. Sancar schreibt: „Zwischen dem Verfassungsrecht und dem Strafrecht finden wir die größte Reibungsfläche im Bereich der ‘Verbrechen gegen die Persönlichkeit des Staates’. So, wie es richtig ist, dass das Recht des Staates auf Selbstverteidigung nicht schrankenlos ist, ist ebenfalls richtig, dass die Rechte der Bürger gegenüber dem Staate nicht schrankenlos sind. Zwischen diesen beiden Werten ist vorsichtig Waage zu halten, denn wenn die Waage zugunsten des Staates ausschlägt und der Staat mit nahezu paranoider ‘Vorsicht’ seine Interessen zu schützen pflegt, verlässt das System in entsprechender Weise den Status einer Demokratie.“34
Obwohl aber die türkische Strafrechtswissenschaft sich bei der Kritik gegen die Persönlichkeit des Staates auf die faschistisch gefärbte Motivation des Rocco-Staatsschutzstrafrechts stützte, entspringt doch die Staatspersönlichkeit nicht dem Faschismus. Schon Feuerbach –, der wie Kant von der Rechtsverletzung als Maßstab für legitimes Strafrecht ausging35 – unterschied zwischen 30 31 32 33 34 35
Vierter Teil des tStGB 2004, in dem auch der Abschnitt (3.) „Straftaten gegen Hoheitszeichen des Staates und gegen das Ansehen von Staatsorganen“ Platz findet. Siehe inbes. Özek, „1997 Türk Ceza Yasas� Tasar�s�“, S. 42. Özek, a.a.O., S. 42 f. Vgl. hierzu auch: Ünver, Das Rechtsgut im Strafrecht, S. 94 ff. Diese grundsätzlich kritische Haltung gegenüber einem sich vor seinen Bürgern schützenden Staat wurde auch der Konzeption der tVerf 1982 vorgeworfen. Siehe Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, S. 95 ff.; Ünver, a.a.O., S. 96. Sancar, a.a.O., S. 31. Vormbaum, a.a.O., S. 44 f.
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Handlungsweisen gegen Individuen und gegen den Staat und sprach dem Staat insofern ebenfalls eine „moralische Persönlichkeit“ mit eigenen Rechten zu: „Da Erhaltung der Rechte überhaupt Zweck der Strafgesetze ist, so sind sowohl die Rechte der Unterthanen, als auch die dem Staate (als moralischer Person) zukommenden Rechte, Gegenstand ihrer schützenden Drohungen. Wer nun durch Uebertretungen eines Strafgesetzes unmittelbar die Rechte des Staates verletzt, begeht ein öffentliches Verbrechen (Staatsverbrechen, delictum publicum): ist aber das Recht eines Unterthans unmittelbarer Gegenstand der Uebertretung, so ist dies ein Privatverbrechen (delictum privatum).“36
Während aber Feuerbach Übertretungen gegen den Staat als notwendig strafwürdig betrachtet, weil der Staat die Rechte der Bürger zu schützen übernommen hat, verhält sich im italienischen Vorbild die Persönlichkeit des Staates antagonistisch gegenüber den Individuen innerhalb der Gemeinschaft: Individualismus und Liberalismus werden hier wegen „der schwächenden Wirkung auf den Staat“ als schädlich betrachtet37. Feuerbach hingegen verwendet den Begriff der moralischen Person wertfrei, sie ist das, was heute unter dem Begriff der juristischen Person (personne morale) zu verstehen ist38. Die Grundlage des Streitgegenstandes der türkischen Strafrechtswissenschaft – die Frage nach der Beziehung zwischen Individuum und Staat – hat sich in der jüngeren deutschen Rechtswissenschaft in diesem Kontext offenbar nicht gestellt; möglicherweise auch deshalb, weil die individuelle Konnotation, also die Funktion des Staates in der Erhaltung der Rechte der Einzelnen zu sehen, schon früh zu Tage trat und die Auffassung, im Staat, eine juristische Person zu sehen, nicht Grundlage für eine Überladung des Staates durch den Volkssinn geworden war: „Die Staatsverbrechen bestehen in solchen Handlungen, bei denen der Staat selbst der unmittelbare Gegenstand der Beleidigung ist. Daß diese schwerer als Privatverbrechen sind, ist wohl leicht zu begreifen. Denn der Staat ist eine nothwendige Bedingung des rechtlichen Zustandes und des Schutzes aller Rechte der gesammten Bürger. Die Rechte des gesammten Staats, durch welche die Ausübung der Rechte aller Einzelnen möglich wird, sind daher viel heiliger und ihre Verletzung weit strafbarer, als die Beleidigung, welche blos die Rechte der Privatpersonen zum Gegenstand hat.“39
Die deutsche Rechtswissenschaft hat zwar während der NS-Zeit mit dem italienischen Recht vergleichbare Auffassungen zum Rechtsverhältnis zwischen dem Staat und der Volksgemeinschaft herausgebildet40, doch beruhen die 36 37 38 39 40
Feuerbach, Lehrbuch, S. 49, Text aus: Vormbaum (Hrsg.), Moderne deutsche Strafrechtsdenker, S. 108 f. Özek, a.a.O., S. 42 m.w.N. Vgl. Becker, Juristische Person, in: HRG, Bd. II, Sp. 1456 ff. Feuerbach, Hochverrath, S. 14. Auch hier kennzeichnete sich das Verhältnis des Individuums dadurch, dass es zugunsten der Volksgemeinschaft verdrängt wurde. Siehe: Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 444.
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§§ 90a, 90b (§§ 96, 97) StGB nicht auf einer strafphilosophischen Annahme, der Staat besitze seinen Bürgern gegenüber eine Persönlichkeit, weil dieser nicht Individualinteressen, sondern vordergründig Gemeinschaftsinteressen zu schützen verpflichtet sei. Insbesondere hat sich der deutsche Gesetzgeber – im Gegensatz zum türkischen Strafgesetzgeber während der Rocco-Angleichung aus den Jahren 1936 und 1938 – nicht zu einer bis in die jüngste Vergangenheit reichenden Aufnahme einer entsprechend ideologisch beeinflussten Gesetzessystematik in das StGB verleiten lassen. Dies mag auch daran liegen, dass im Faschismus der Staat prioritäre Behandlung erfährt, während im Nationalsozialismus die „Volksgemeinschaft“ in den Vordergrund tritt.
II. Individual-funktionaler Staatsbegriff 1. Lehre Das kritische türkische Schrifttum hingegen weist deutlichere Parallelen zur deutschen Seite auf. Insbesondere die im deutschen Schrifttum vertretene personale Rechtsgüterlehre, welche – im Gegensatz zur einer monistischen Betrachtung – ein personifiziertes Schutzinteresse des Staates ablehnt und für die Zulässigkeit von Gemeinschaftsrechtsgütern eine Betrachtung vom Individuum her verlangt41, ist mit den kritischen Stimmen der türkischen Rechtswissenschaft, insbesondere mit Özek42 und Ünver43, vergleichbar. Denn ihnen ist gemeinsam, dass sie von einem funktionalen Staatsbegriff ausgehen. Dies soll nicht heißen, dass im Faschismus der Staatsbegriff ein nicht-funktionaler sei. Doch geht etwa Hassemer (aber auch schon Feuerbach44) davon aus, dass der Staat den Interessen seiner einzelnen Bürger dient45: Es handelt sich also um einen individual-funktionalen Begriff vom Staate.
2. Praxis Was in der Lehre (teilweise) übereinstimmend gefordert wird, wurde in der Rechtsanwendung hingegen unterschiedlich umgesetzt: Während nämlich das türkische Recht im Schutzobjekt der Türkischen Republik den Staat selbst erblickt46 und dies schon in der Rechtsprechung des Kassationshofes lange vor Inkrafttreten des tStGB 2004 eine Entsprechung gefunden hat47, begrenzt der 41 42 43 44 45 46 47
Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, S. 166. Özek, a.a.O., S. 42 f. Ünver, a.a.O., S. 94 ff Feuerbach schreibt, der Schutz des Staates sei „heiliger“, weil er die Bedingung für die Gewährleistung der Rechte der Einzelnen in der Gemeinschaft darstellt, a.a.O., S. 14. Hassemer, a.a.O., S. 166: Der Staat ist nicht Selbstzweck, sondern hat die Entfaltung und Sicherheit der Lebensmöglichkeiten von Menschen zu befördern. Siehe oben: Fünftes Kapitel, D) II. 1. b). Siehe oben: Viertes Kapitel D) II. 2.
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BGH den Begriff der BRD und ihrer Länder auf die besondere „Wesenheit und Gestalt als eine auf eine freiheitlich-demokratische Ordnung gegründete Staatswesen“48. Hierdurch ist der deutsche Staat in Freiheitlichkeit und Demokratie zu messen49 und enthält so auch die individual-funktionale Konnotation der Verfassungsordnung50. Dies gilt für die türkischen Vergleichsvorschriften nicht, was auch dadurch gefördert worden sein mag, dass die aus dem Militärputsch von 1980 heraus entstandene tVerf 1982 – im Gegensatz zum Grundgesetz – die Verfassung nicht als Freiheitsgarantie für Individuen vor Eingriffen des Staates versteht, sondern tendenziell eher einen Schutz des Staates vor seinen Bürgern konstituiert51.
III. „Starker Staat“ kraft Ideologie? Das Gesagte lässt folgende Frage bereits erahnen: Wie konnte sich das faschistisch gefärbte Verständnis von der Persönlichkeit des Staates derartig lange im türkischen Strafrecht halten, wo sich doch schon in den früheren Entwurfsarbeiten lautstarke Kritik an dieser Form des Staatsschutzstrafrechts äußerte? Die Antwort auf diese Frage scheint sich zumindest teilweise durch die ideologisch orientierte türkische Rechtsordnung zu erklären. Denn, wenn es richtig ist, dass das Verhältnis zwischen Bürger und Staat von dem jeweiligen Verständnis vom Staat abhängig ist, dieses Verständnis über die Stellung des Individuums entscheidet, dann berührt dies auch das ideologische Selbstverständnis einer verstaatlichten Gesellschaft. Tatsächlich zeigt sich in den Artt. 300, 301 tStGB 2004 und den Artt. 145, 159 tStGB 1926, insbesondere in den Schutzobjekten des Türkentums bzw. der türkischen Nation sowie in dem Schutz der Streit- und Sicherheitskräfte ideologisch orientiertes Strafrecht. Das Türkentum erscheint als Ausdruck des kemalistischen Nationalismus52 und die Streitkräfte begreifen sich als Hüter des
48 49 50 51
52
BGHSt 6, 324 (325). Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) II. 2. Denn dem Grundrechteverständnis des GG liegt die Statuslehre zugrunde, in der die Grundrechte u.a. dem Bürger als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates dienen (status negativus). Siehe: Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, S. 457 ff. Rumpf schreibt, in europäischen Staaten „bilden die Menschenrechte als Individualrechte die Grundlage des Gemeinwesens, das sich am Bürger und seinen Freiheiten zu orientieren hat und in dem die Freiheit des Bürgers sich im Verhältnis zum Staat als Recht gegen staatliche Eingriffe darstellt. Das sozialistische Grundrechteverständnis dagegen sieht die Freiheit als Funktion sozialistischer Gerechtigkeit und der sozialistischen Gesellschaft; die Freiheitsnorm enthält kein Abwehrrecht gegen den Staat [...]. [...] auch das türkische Grundrechteverständnis [weist] Besonderheiten auf, die [...] eine Abgrenzung gegenüber demjenigen westeuropäischer Verfassungssysteme erlaubt.“, Das türkische Verfassungssystem, S. 95 f. Siehe auch: Ünver, Das Rechtsgut im Strafrecht, S. 96. Siehe oben: Viertes Kapitel, D) II. 1. a).
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Kemalismus53. Wie bereits aufgezeigt wurde, hatte dies durchaus auch Einfluss auf die Rechtsgüterauslegung (Nationalgefühl)54. Ob diese ideologische Unterfütterung aber notwendigerweise zu einem Verständnis von einem starken Staat führt und dies Einfluss auf die Anwendung von Strafrecht nimmt, lässt sich schwer sagen. Sie äußert sich möglicherweise in der höheren Anwendungsrelevanz der türkischen Vorschriften. Doch bleiben Aussagen dieser Art spekulativ. Sicher ist lediglich, dass ein derartig präsenter ideologischer Unterbau anfälliger ist, sowohl für die Expansion als auch für die übermäßige Anwendung von Staatsschutzstrafrecht55. All dies findet im deutschen Recht keine Entsprechung und so stellt dies eine türkische Besonderheit dar.
D) Forderungen In beiden Rechtsordnungen haben sich im Schrifttum Autoren hervorgetan, die im Hinblick auf die Vergleichsvorschriften Forderungen zu ihrer Änderung bzw. (teilweise) zu ihrer Streichung artikuliert haben. Diese kritische Haltung gegenüber den Vergleichsvorschriften hat sich auf der deutschen Seite insgesamt als ausgeprägter erwiesen. Dies liegt zum einen an den zahlreichen verfassungsrechtlichen Problemen, die den §§ 90a, 90b StGB innewohnen, und andererseits an teilweise liberaleren kriminalpolitischen Maßstäben deutscher Autoren.
I. Verfassungsrechtlich gestützte Forderungen Während auf der türkischen Seite die Artt. 300, 301 tStGB 2004 bzw. die Artt. 145, 159 tStGB 1926 in verfassungsrechtlicher Sicht vordergründig im Zusammenhang mit der Meinungsäußerungsfreiheit problematisiert worden sind56 und diese Kritik schließlich zu der Aufnahme einer entsprechenden Regelung in den Tatbestand des Art. 159 tStGB 1926 und in den Art. 301 tStGB 2004 geführt hat57, ist auf deutscher Seite eine großflächigere Diskussion an53 54 55 56
57
Siehe oben: Viertes Kapitel, D) II. . a). Siehe oben: Viertes Kapitel, C) VII. und D) VII.; fünftes Kapitel, C) IV. und D) VI. sowie sechstes Kapitel, C) I. 1. Einen Ausdruck hierfür bildet etwa das Gesetz über strafbare Handlungen gegen Atatürk (Gesetz Nr. 5816 vom 25. Juli 1951). Vgl. Sancar, a.a.O., S. 231 ff. m.w.N. Immerhin wird aber auf Grundlage dieser verfassungsrechtlichen Kritik die Daseinsberechtigung zumindest des Art. 301 tStGB 2004 angezweifelt: Can, Der Schutz der staatlichen Ehre, S. 46. Siehe auch: Arslan, Meinungsfreiheit im Lichte der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, S. 287. Art. 301 Abs. 3 tStGB 2004: „Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind, stellen keine Straftat dar.“ Siehe schon Art. 159 Abs. 4 tStGB 1926 i.d.F. von 2002: „Die Beschimpfung und Verächtlichmachung der in Absatz 1 genannten Organe und Institutionen, die ohne Vorsatz der Beschimpfung und Verächtlichmachung
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gestrebt worden, da das deutsche Grundgesetz für die §§ 90a, 90b StGB ein breiteres Feld an verfassungsrechtlich kollidierenden Regelungen enthält als die türkischen Vergleichsvorschriften. Vereinzelt wird hier schon bezweifelt, dass die §§ 90a, 90b StGB allgemeine Gesetze i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG darstellen58. Hiermit korrespondiert auch die Forderung, die Tatbestände auf unwahre Tatsachenbehauptungen zu beschränken59. Ferner wurde – gestützt auf ein Kunstprivileg auf Grundlage von Art. 5 Abs. 3 GG – vereinzelt gefordert, dass die Tatbestände bei Vorliegen von Kunst (teilweise) keine Anwendung finden sollen60. Nach Ansicht einiger Autoren verstoßen die §§ 90a, 90b StGB zudem gegen Art. 18 GG und gegen das Parteienprivileg aus Art. 21 Abs. 2 GG61.
II. Kriminalpolitisch gestützte Forderungen Obwohl sich in der türkischen und der deutschen Strafrechtswissenschaft die Rechtsgüterschutzlehre und selbst ihre im Hinblick auf Gemeinschaftsrechtsgüter strengere Form der personalen Rechtsgüterlehre als untauglich erwiesen haben, eine generelle Unzulässigkeit der Vergleichsvorschriften zu begründen, hat man auf deutscher Seite mit der Strafbegrenzungswissenschaft ein Instrument zur Hand, das die §§ 90a, 90b StGB eine kritischeren Untersuchung zu unterwerfen in der Lage ist. Wie bereits dargelegt worden ist, kann man auf ihrer Grundlage eine Streichung der Vorschriften verlangen62. Ein solcher Prüfungsmaßstab scheint der türkischen Strafrechtswissenschaft (noch) fremd zu sein.
E) Ergebnisse Der kriminalpolitische Vergleich der Vorschriften ergibt im Ergebnis relativ deutliche Unterschiede zwischen der türkischen und deutschen Rechtsordnung: 1. Das türkische Recht hat ein weniger stark ausgeprägtes Verständnis von der Begrenzung legitimer Rechtsgüter herausgebildet. Das jüngere Schrifttum zeigt jedoch eine sich der deutschen Rechtswissenschaft annähernden Tendenz. 2. Zwar wird im Schrifttum zu den Vergleichsvorschriften sowohl auf türkischer als auch auf deutscher Seite das Ansehen des Staates als geschütztes Rechtsgut betrachtet. Im Bereich des Symbolschutzes hat die Auslegung in
58 59 60 61 62
als schriftliche, wörtliche oder visuelle Meinungsäußerung lediglich zum Zwecke der Kritik erfolgt, rechtfertigt keine Strafe.“ Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) I. 1. Oben: Neuntes Kapitel, C) I. 6. f) Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) I. 6. b) und e). Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) I. 3.; C) I. 4. und 6) c). Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) II. 4.
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der türkischen Rechtswissenschaft die Autoren aber zum Nationalgefühl geführt, während auf deutscher Seite auf das Wir-Gefühl, das Staatsgefühl oder etwa der Verfassungspatriotismus Erwähnung finden. 3. Die mit dem legitimen Rechtsgüterschutz korrespondierende Auffassung von der Stellung des Staates im staatsschutzstrafrechtlichen Gefüge wurde im türkischen Strafrecht lange von der italienischen Rechtswissenschaft beeinflusst, bei der im Geltungszeitraum des Codice Rocco dem Staat eine ideelle Persönlichkeit zugesprochen wurde und dies auf bedenkliche Art mit einer das Individuum verdrängenden Ideologie verbunden wurde. Dieser Einfluss wirkte auf das türkische Strafrecht bis zum Inkrafttreten des tStGB 2004 fort. Die zuvor in der Lehre wiederholt geäußerte Kritik fand in der Gesetzgebung also lange keine Berücksichtigung. Ein solcher Maßstab war dem deutschen Recht zumindest seit der staatsschutzrechtlichen Grundlegung, also im Geltungszeitraum der Vergleichsvorschriften, fremd. 4. Zwar wird im Schrifttum beider Rechtsordnungen ein individal-funktionaler Staatsbegriff vertreten. In der Praxis hat sich eine diesem Begriff im weiteren Sinne angenäherte Rechtsprechung lediglich auf deutscher Seite herausgebildet. 5. Sowohl verfassungsrechtlich motivierte als auch kriminalpolitisch motivierte Forderungen gehen im deutschen Recht weiter als in der türkischen Rechtswissenschaft.
FÜNFTER TEIL: SCHLUSS
Vierzehntes Kapitel: Zusammenfassende Würdigung und Ausblick „Die deutsche Politik orientiert sich nicht mehr an einem Nationalismus, der einer vergangenen Epoche angehört und zu der Katastrophe des Jahres 1945 mit beigetragen hat.“1
A) Unterschiede und Untersuchungskategorien Die Untersuchung der Vergleichsvorschriften hat einige Gemeinsamkeiten und in wesentlichen Fragen deutliche Unterschiede ergeben. Betrachtet man die Vorschriften von dem Kriterium der nicht näher definierten gesellschaftspolitischen Bedeutung her, so wird man sagen dürfen, dass die Artt. 300, 301 tStGB 2004 den §§ 90a, 90b StGB gegenüber einiges mehr an Gewicht aufweisen. Sie sind dogmatisch weiter2 und weisen eine höhere Anwendungsrelevanz auf3. Dies kann zwar teilweise erklären, weshalb die türkischen Vergleichsvorschriften gesellschaftspolitisch bedeutender sind. Es stellt sich aber die Frage, ob Dogmatik und Anwendungsrelevanz allein genügend Erklärungsansätze bieten, um den Bedeutungsunterschied zur deutschen Rechtsordnung zu begründen. In der Einführung4 wurde erklärt, dass dieser Rechtsvergleich Jeschecks Stufenaufbau5 folgt. Die vierte und letzte Stufe dieser Methode fordert eine rechtspolitische Bewertung. Jescheck spricht hier von den „großen Wertkategorien der Gerechtigkeit, der kriminalpolitischen Zweckmäßigkeit, der Praktikabilität, der Tradition, der Volksüberzeugung [...].“6 Die gesonderte Frage nach Unterschieden in der Tradition und in den Volksüberzeugungen – man kann diese als sozio-kulturelle Unterschiede bezeichnen – wurde bislang nicht gestellt. Es ist daher nun der rechte Platz, sich auch diesen Aspekten anzunähern. In der Einführung wurde bereits erklärt, dass es sich bei dem Strafrechtsvergleich um Grundlagenforschung handelt7. Denn sie ist in der Lage, dem Strafgesetzgeber bei der Reform des Strafrechts einen Lösungsvorrat zur Verfügung zu stellen8. Sofern man eine Haltung zugunsten der Entkriminalisie1 2 3 4 5 6 7 8
Das Deutschlandlied. Kommentar, in: Bulletin der Bundesregierung Nr. 51 vom 6. Mai 1952, S. 539. Siehe oben: Elftes Kapitel, E) I. Siehe oben: Zwölftes Kapitel, D). Siehe oben: Erstes Kapitel, D) II. Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 38 ff. Jescheck, a.a.O., S. 43. Kaiser, Strafrechtsvergleichung und vergleichende Kriminologie, S. 82. Siehe oben: Erstes Kapitel, D) I.
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Fünfter Teil: Schluss
rung einnimmt, drängt sich wohl die Annahme auf, dass man in der türkischen Strafrechtsordnung, die sich in den Vergleichsvorschriften zugunsten der Strafbarkeit als großzügiger erwiesen hat, keinen Lösungsvorrat finden wird. Dieser kann jedoch auch in einer Sammlung an Negativbeispielen, welche denklogisch ebenfalls Grundlagenkenntnisse darstellen, bestehen. Sie enthalten Aussagen darüber, welche Veränderungen sich für diesen Bereich des besonderen Strafrechts nicht anbieten. Zwar ist dieser Strafrechtsvergleich ein aus deutscher Sicht verfasster. Er hat also perspektivisch die Grundlagenforschung für das deutsche Recht im Auge. Es wäre jedoch möglich, aus der Arbeit umgekehrt auch einen Lösungsvorrat für den türkischen Strafgesetzgeber zu extrahieren. Diesen im Einzelnen herauszuarbeiten, ist jedoch nicht Aufgabe dieser Arbeit.
B) Sozio-kulturelle Unterschiede I. Meinungs- und Verfassungstabuisierungen Können gesellschaftliche Besonderheiten Unterschiede in der Bedeutung der Vergleichsvorschriften begründen? Steht hinter dem geschriebenen, womöglich im Wortlaut ähnlichem Recht nämlich eine andere gesellschaftliche Überzeugung, etwa eine größere Sensibilität, dann fließt dies in die Strafverfolgung und Strafrechtsanwendung mit ein. Eine solche Sensibilität wird von einigen Autoren für die türkische Gesellschaft angenommen. Tellenbach meint, dies sei eine Frage „der Mentalität und des Denkens“9: „Manches an Äußerungen, was in der Türkei [...] noch als strafwürdig angesehen wird, wird in anderen europäischen Staaten kaum beachtet, vielleicht als Ungezogenheit, Geschmacklosigkeit oder Übertreibung eingestuft, jedenfalls nicht als strafbar.“10
Für Goehrlich ist der Grund für die Auslegungsunterschiede in gesellschaftlichen Tabus zu sehen, die einen Umgang mit bestimmten Themen im öffentlichen Meinungskampf erschweren oder verhindern11. Unter Tabuisierungen versteht er, dass „bestimmte Repräsentanten, Grundprinzipien und Symbole des Gemeinwesens als unberührbar oder unantastbar empfunden und auch begriffen werden. Hierdurch erlangen sie einen Schutz, der sie auch weithin von Kritik freistellt [...]“12. Wenn man annehmen darf, dass die Ausprägung solcher Tabuisierungen in der türkischen Gesellschaft größer ist, stellt sich die Frage, welche Ursachen dies haben kann. Goehrlich liefert folgenden Hinweis: 9 10 11 12
Tellenbach, Zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, S. 79. Ebd. Goehrlich, Meinungsfreiheit und strafrechtliche Sanktionen, S. 309 ff. Goehrlich, a.a.O., S. 309.
Vierzehntes Kapitel Würdigung und Ausblick
freedom of speech Verfassungs
II Republikanischkemalistische Tabuisierung?
Goehrlich
Vorländer Tellenbach¡
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Fünfter Teil: Schluss
schiedlichen Bewertungen führen konnte. Dass das Rechtsgut des Nationalgefühls in einem engen Zusammenhang mit dem kemalistischen Nationalismus steht und die laizistische Republik nach dem Niedergang des Osmanischen Reich bis in die jüngste Zeit noch durch den Hüter des Kemalismus (Militär) bewahrt werden sollte, wurde bereits erwähnt17. Obwohl also die Türkische Republik vor 90 Jahren gegründet wurde, sieht sie sich doch immer noch in einem Spannungsverhältnis zu republikfeindlichen Traditionalisten, denen sie vorwirft, den modernen Staat durch eine „Islamisierung“ verdrängen zu wollen. Angriffe auf bestimmte Schutzobjekte werden daher in einer Weise ausgelegt, die in der deutschen Rechtsprechung keine Entsprechung finden, weil der Kontext der Tabuisierung der deutschen Rechtsordnung fremd ist. So erklären sich Verurteilungen für Aussagen wie „die türkische Fahne“ werde „bald von ihrem Platz entfernt [...] und durch einen Hadschi-Fahne ersetzt“18. Wenn diese republikanisch-kemalistische Tabuisierung noch viele der hier herausgearbeiteten Judikate in einen sozialen Ursachenkontext zu bringen in der Lage ist, stellt sich wohl schon in naher Zukunft der Türkei noch die Frage, ob diese Tabuisierung nicht allmählich abgebaut wird. Denn die islamisch-konservative Partei AKP fährt in vielerlei Hinsicht einen von den herkömmlichen (nicht verbotenen19) Parteien abweichenden Kurs. Unklar ist jedoch, ob dies nicht allein zu einer Enttabuisierung der kemalistischrepublikanischen Gesellschaftsstrukturen führt. Denn die Lage der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei wird von NGOs in jüngerer Zeit wieder verstärkt kritisiert20. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht lediglich eine Tabuisierung der anderen weicht: Die Verurteilung des international bekannten Pianisten Fazil Say21 nach Art. 216 Abs. 3 tStGB 200422 für das „re17 18 19
20 21
22
Siehe oben: Viertes Kapitel, D) II. . a). Kassationshof, Urteil vom 11.3.1953, E. 1401, K. 2603, abgedruckt bei: Gözübüyük, Türk Ceza Kanunun Aç�lamas�, Bd. 2, S. 649. Schon vor der AKP gab es in der Türkei islamisch orientierte Parteien. Dazu zählte zuletzt auch die Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) mit dem Vorsitzenden Necmettin Erbakan (1926–2011), die die Wahlen vom 25. Dezember 1995 gewann und später die Regierung stellte, aber noch während ihrer Legislatur abgesetzt wurde und sich einem Verbotsantrag stellen musste. Die Wohlfahrtspartei ist der Nachfolger der zuvor bereits verbotenen Nationalen Heilspartei (Millî Selamet Partisi). Die Tugendpartei (Fazilet Partisi) bildet wiederum den Nachfolger der Wohlfahrtspartei, der auch Recep Tayyip Erdo�an angehörte. So insbesondere Amnesty International. Siehe im Internet unter: http://www.amne sty.de/kurzinfo/2010/12/laenderbericht-tuerkei (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Fazil Say (*1970) ist Pianist und Komponist und kann als politischer Gegner eines islamisch orientierten Traditionalismus bezeichnet werden. Ende 2007 kritisierte Say die politischen Situation in der Türkei und verkündete öffentlich, dass er ernsthaft über seine Auswanderung aus der Türkei nachdenke. Wortlaut: „Wer die religiösen Werte, die ein Teil der Bevölkerung für sich anerkennt, öffentlich herabsetzt, wird, wenn die Tat geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stö-
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tweeten“23 eines Gedichtes, das auf Omar Khayyam24 zurückgeht und einige Bemerkungen zur islamisch-religiösen Gemeinschaft in der Türkei25 enthält, zeigt möglicherweise, um welche neue Art von Tabuisierung es sich handelt.
III. Ansehensschutz im Lichte der Geschichte Historische Ereignisse oder Wendepunkte können ebenfalls zur einer gesellschaftspolitischen Tabuisierung beitragen. Dies kann dann auch Einfluss auf das Strafrecht nehmen – sowohl, was die Gesetzgebung als auch, was die Anwendung angeht. Während es beispielsweise in der Türkei als strafbar angesehen wird, Völkermordbehauptungen aufzustellen, ist es in Deutschland strafbar, den Holocaust zu leugnen26. In beiden Fällen liegen Tabuisierungen vor, sie betreffen aus dem jeweiligen Blickwinkel betrachtet aber den umgekehrten Fall. Isfen konstatiert mit Blick auf die §§ 90a, 90b StGB: „So sehr sich [...] diese Art von Vorschriften auch einander ähneln, so sehr trifft man in der Anwendung auf ein breites Spektrum an Auslegungen. Ein Hauptgrund für diesen Umstand ist, dass jede Gesellschaft sich als in bestimmter Hinsicht als sensibel erweist. Um wieder ein Beispiel zu nennen, wird das Leugnen, das Billigen oder Verharmlosen der vom Nazi-Deutschland begangenen Völkermorden nach § 130 Abs. 3 StGB als eine besondere Erscheinungsform der Volksverhet27 zung als strafbar angesehen.“
Wenn nun diese Sensibilität im Falle des Holocausts in das deutsche Gesellschaftsbewusstsein eingedrungen sein mag, ist der Weg zu einem Bewusstsein doch stets ein allmählicher Prozess: Die deutsche Hymnenfrage nach dem Zweiten Weltkrieg verdeutlicht dies in besonderer Weise, zeigt sie doch, wie gesellschaftspolitische Wendepunkte ein neues Interesse für Geltungsbewusstsein weckten und mit welchen Schwierigkeiten dies verbunden sein konnte.
23 24 25
26 27
ren, mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft.“, Tellenbach, Das türkische Strafgesetzbuch, S. 139. Ein tweet ist eine Nachricht des Kurzmeldungsdienstes Twitter. Ein re-tweet ist eine Wiederveröffentlichen eines bereits zuvor gesendeten Tweets. Omar Khayyam (1048–1131) war ein bedeutender persischer Philosoph, Dichter, Mathematiker und Astronom. Siehe Eintrag auf: http://de.wikipedia.org (zuletzt abgerufen: Juli 2013). Say tweetete Teile des Khayyam-Gedichts: „Du sagst, durch Bäche wird Wein fließen, ist das Paradies etwa eine Schänke? Du sagst, du wirst jedem Gläubigen zwei Jungfrauen geben, ist das Paradies etwa ein Freudenhaus?“ Über einen Muezzin schrieb Say dann: „Der Muezzin trägt seinen Gebetsruf zum Abendgebet in 22 Sekunden vor. Prestissimo con fuco!!! Warum diese Eile? Eine Geliebte? Der Rak�-Tisch?“ Das Urteil bezog sich ferner auf folgenden tweet: „Ich weiß nicht, ob ihr es bemerkt habt? Überall wo es Schwätzer, Gemeine, Sensationsgierige, Diebe, Scharlatane gibt, sie alle sind Allah-Anhänger. Ist dies paradox?“. Siehe: Cumhuriyet vom 19. April 2013, S. 6. Hierzu: Fronza, Holocaust-Leugnung, S. 243 ff. Isfen, „Almanya Ölmeli, Bizim Ya�ayabilmemiz �çin“, S. 299.
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Fünfter Teil: Schluss
Wie bereits kurz angeschnitten28, ist die Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Nationalhymne getragen von dem Gedanken, dass die erste Strophe des Deutschlandliedes als Ausdruck des Nationalismus nicht länger als eine adäquate Grundlage für die offizielle Hymne der BRD in Frage kam: „Es [ist] nicht die Zeit, nationalen Symbolen eine demonstrative Bedeutung zu geben. Die Politik orientiert sich nicht mehr an einem Nationalismus, der einer vergangenen Epoche angehört und der zu der Katastrophe des Jahres 1945 mit beigetragen hat. Sie strebt im Gegenteil zu größeren politischen Zusammenschlüssen, in denen die nationalen Eigenheiten der Völker zwar nicht verschwinden sollen, aber doch in einer höheren Weise aufgehoben werden. Deshalb soll auch bei staatlichen Veranstaltungen die dritte Strophe gesungen werden. Dadurch wird vor aller Welt dokumentiert, daß mit der Anerkennung des Deutschlandliedes keine Anknüpfung 29 an nationalistische Vorstellungen verbunden ist.“
Tatsächlich jedoch stellt die Entscheidung, das Deutschlandlied nicht aufzugeben, sich doch aber für eine symbolhafte Abwendung von der ersten Strophe zu entscheiden, einen Kompromiss dar. Zuvor scheiterte der Versuch, die Hymne an Deutschland von Rudolf Alexander Schröder als Nationalhymne einzuführen30. Dass man sich vom Deutschlandlied aber nicht abwandte, stieß auch auf Widerstand: „Das Ausland verhält sich reserviert bis kritisch. Vor allem bei den europäischen Nachbarn weckt die Einführung des Deutschlandliedes keine guten Erinnerungen. Die hohen Kommissare erklären allerdings, dass die Hymnenfrage eine innere Angelegenheit der Deutschen sei. Und John McCloy findet das salomonische und insoweit abschließende Wort. Ausschlaggebend sei nicht, so der US-amerikanische Hochkommissar, ‘was die Völker singen, sondern wie sie handeln’.“31
In das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung war die problematische Symbolwirkung des Deutschlandliedes noch nicht vorgedrungen. Reichel zeigt, dass in der jungen BRD ein großer Teil der Bevölkerung noch keine Kenntnis darüber hatte, dass die erste Strophe nicht länger Nationalhymne war. Die Verwirrung hielt auch in den Jahren danach an: „Die Hoffmann-Gesellschaft, die sich für das Werk des Dichters und sein Nachleben einsetzt, hält die Halbierung der Hymne für unsinnig und veröffentlicht eine Dokumentation mit dem Titel ‘Das ganze Deutschlandlied ist unsere Nationalhymne’. Unsicherheit und Unkenntnis im Umgang mit dem Lied bleiben. Am Ende ist selbst der Dichter betroffen. Anfang der siebziger Jahre weigert sich die Bundespost, ihn mit einer Sondermarke zu ehren. Der Rundfunk löst das Problem auf sei32 ne Weise und verwandelt das Deutschlandlied in eine Hymne ohne Worte.“
28 29 30 31 32
Siehe oben: Achtes Kapitel, D) III. 1. b) aa). Das Deutschlandlied. Kommentar, a.a.O., S. 539. Reichel, Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung, S. 86. Reichel, a.a.O., S. 87 m.w.N. Reichel, a.a.O., S. 88.
Vierzehntes Kapitel Würdigung und Ausblick
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Fünfter Teil: Schluss
cherheitskräfte36. Dass der Schutz des Türkentums und der türkischen Nation bedenklich ist, wurde bereits dargelegt37. Ein Deutschtum oder die deutsche Nation ist daher richtigerweise in den deutschen Vergleichsvorschriften nicht enthalten. Aber ebenso ist es auch angemessen, den Schutz der Staatseinrichtungen auf konstitutionelle Einrichtungen, also auf Verfassungsorgane zu beschränken, um nur denjenigen Einrichtungen einen erhöhten Schutz zuzusprechen, die in ihrer konstitutionellen Eigenschaft als organschaftliche Konkretisierung der Staatsorganisation in Erscheinung treten. Der Bundeswehr sollte schon aus diesem Grund kein erhöhter strafrechtlicher Ansehensschutz zugebilligt werden. Der umgekehrte Fall verdient jedoch mehr Beachtung: Die türkische Strafrechtsordnung setzt beim Schutz der Verfassungsordnung erst an der Schwelle der gewaltsamen Handlungen an. Dies könnte auch für das deutsche Recht ein Vorbild darstellen. Denn auch in der deutschen Strafrechtsordnung ist die verfassungsmäßige Ordnung schon durch andere Straftatbestände geschützt (insbes. §§ 80 ff. StGB), die gewaltsame Handlungsweisen erfordern. Ein derartig weit ins Vorfeld verlagerter Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung erscheint daher nicht notwendig und ist überdies auch aus folgendem Grunde entbehrlich: An der Tatsache, dass der BGH die BRD und ihre Länder i.S.d. § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB als freiheitlich verfasste Demokratien geschützt sieht, wurde stets kritisiert, dass hierdurch die Abgrenzung zu der verfassungsmäßigen Ordnung erschwert wird. Tatsächlich ist aber diese einschränkende Auslegung des BGH begrüßenswert, denn dies führt dazu, dass der Staat sich an seiner Freiheitlichkeit und Demokratie messen lassen muss38, und dass dies zu einem weniger bedenklichen Verständnis von der Stellung des Staates im staatsschutzstrafrechtlichen Gefüge39 führt. Wenn nun die Auslegung des BGH – wie hier auch gefordert – beibehalten wird, dann kann die verfassungsmäßige Ordnung aus § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB unbedenklich gestrichen werden. Ebenfalls Beachtung verdient die Tatsache, dass die türkischen Vergleichsvorschriften den Mitgliederschutz in einer Form, wie er in § 90b Abs. 1 StGB Regelung gefunden hat, nicht kennt. Hiernach ist es schon ausreichend, wenn das einzelne Mitglied eines Verfassungsorgans angegriffen wurde40. Dieser Unterschied mag sich dadurch erklären, dass das deutsche Recht bei Ehrangriffen 36
37 38 39 40
Auf die Unterschiede zu den Vorläufern (Artt. 145, 159 tStGB) braucht nicht eingegangen werden. Sie bieten aufgrund kriminalpolitischer Gesichtspunkte (siehe oben: Sechtes Kapitel, B) II. 1.) keine Alternative für das deutsche Recht bzw. ergibt sich insoweit kein Unterschied zu dem hier Gesagten. Siehe oben: Sechstes Kapitel, C) II. 3. Siehe oben: Neuntes Kapitel, C) II. 2. Siehe oben: Dreizehntes Kapitel, C) II. 2. Siehe oben: Achtes Kapitel, E) II. 1. b).
Vierzehntes Kapitel: Würdigung und Ausblick
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gegen Amtsträger – im Gegensatz zu den Vorschriften des tStGB 192641 – keinen erhöhten Schutz, d.h. keinen besonderen Straftatbestand kennt42. Möglicherweise rechtfertigt auch die Beschränkung des § 90b Abs. 1 StGB auf Verfassungsorgane einen solchen besonderen Mitgliederschutz. Dennoch kam auch die ursprüngliche Fassung der Vorschrift (§ 96 StGB i.d. Erstfassung43) ohne einen besonderen Mitgliederschutz aus. Dort musste sich im Angriff auf ein Mitglied zugleich ein Angriff auf das Verfassungsorgan im Ganzen liegen44. Nun hat sich im türkischen Recht auf der anderen Seite jedoch gezeigt, dass – obwohl der Mitgliederschutz keine ausdrückliche Regelung gefunden hat – in Angriffen etwa auf einzelne Mitglieder auch mittelbare Angriffe auf das entsprechende Schutzobjekt gesehen werden konnten. Oben wurde vor der ausufernden Weite einer solchen Auslegung gewarnt45. Die mögliche Streichung eines Mitgliederschutzes wie im geltenden § 90b Abs. 1 StGB oder eines mittelbaren Mitgliederschutzes wie in der ursprünglichen Fassung soll freilich nicht dazu führen, dass durch eine weite Auslegung der Schutzumfang beibehalten wird. Jedoch stellt sich tatsächlich die Frage, ob dieser Mitgliederschutz notwendig ist: Denn Angriffe auf einzelne Mitglieder von Verfassungsorganen werden häufig in solchen gegen hochrangige Entscheidungsträger vorliegen. Diese sind jedoch schon durch § 188 StGB erfasst.
II. Tathandlung Die Herabsetzung (die Tathandlung sowohl des Art. 300 tStGB als auch des Art. 301 tStGB) stellt aufgrund der noch fehlenden höchstrichterlichen Judikate und aufgrund der (mutmaßlichen) tatbestandlichen Weite kein reformgesetzgeberisches Vorbild für die §§ 90a, 90b StGB dar.
III. Öffentlichkeit Auch die türkische Dogmatik zu der Öffentlichkeit stellt mit der Beurteilung des Ortes keinen nachzuahmenden Umgang mit dem Merkmal dar. Das deutsche Recht ist mit der Beurteilung des Publikums im Zweifel täterfreundlicher46 und wird der Bedeutung der ohnehin schon weiten Vorfeldverlagerung 41 42
43 44 45 46
Vgl. Art. 266 tStGB 1926. Dazu oben: Elftes Kapitel, B) II. 3. Siehe aber § 188 StGB, der besondere Regelungen zur Verleumdungen gegen Personen des politischen Lebens enthält und § 194 Abs. 3 und Abs. 4, welche u.a. Regelungen zur Beleidigung von Amtsträgern sowie Tathandlungen gegen Behörden, Ämtern, Kirchen und anderen Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts, Gesetzgebungsorgane oder andere politische Körperschaften aufstellen. Vgl. Tellenbach, Staatsschutzdelikte im Entwurf eines Türkischen Strafgesetzbuches, S. 637. Siehe Anhang Nr. 2. Dazu Laufhütte / Kuschel, LK-StGB, § 90b, Rn. 3. Siehe oben: Sechstes Kapitel, B) II. 1. Siehe oben: Elftes Kapitel, D) I.
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Fünfter Teil: Schluss
hierdurch gerechter. Dass die Öffentlichkeit im türkischen Schrifttum teilweise als Gefährdungsmaßstab betrachtet wird, verdient hingegen Beachtung. Hierauf wurde bereits eingegangen47. Dass ferner die jüngeren Verbreitungsmöglichkeiten des Internets im Schrifttum beider Rechtsordnungen zu Forderungen gesetzgeberischer Anpassungen geführt haben48, untermauert möglicherweise die Notwendigkeit eines internetspezifischen Verbreitungsbegriffes.
IV. Subjektive Tatseite Die türkischen Vergleichsvorschriften haben auf subjektiver Tatseite geringere Anforderungen als die §§ 90a, 90b StGB49. In Kombination mit den weiten Tathandlungen laufen diese geringen subjektiven Anforderungen Gefahr, dass die Auslegung durch die Weite des Tatbestandes ausufert. Auch hier sind die türkischen Vergleichsvorschriften daher kein Vorbild für die §§ 90a, 90b StGB.
V. Rechtswidrigkeit und Grundrechte 1. Rechtfertigungssystematik Dadurch, dass die türkische Rechtfertigungsdogmatik mit dem Rechtfertigungsgrund der Ausübung eines Rechts die Möglichkeit kennt, subjektiv-öffentliche Rechte und damit auch Grundrechte in die Strafbarkeitsprüfung zu integrieren50, wird die Würdigung von Grundrechten (auch) auf Ebene der Rechtswidrigkeit problematisiert, während das deutsche Recht die Grundrechte tendenziell eher auf Tatbestandsebene würdigt. Eine entsprechende Rechtfertigungssystematik auch im deutschen Recht würde sich womöglich dem Vorwurf aussetzen, dass die Würdigung von Grundrechten (erst) auf Rechtfertigungsebene einen schwereren Unrechtsvorwurf beinhalte, da das Verhalten des Täters zunächst als tatbestandsmäßig betrachtet und diesem dann „lediglich“ noch die Möglichkeit gewährt wird, sich zu rechtfertigen. Doch würde diese Annahme verkennen, dass eine solche Rechtfertigungssystematik nicht notwendig zur Folge hat, dass eine Würdigung von Grundrechten ausschließlich auf Ebene der Rechtswidrigkeit erfolgt. Im Gegenteil kann eine solche kritische Würdigung dann sowohl auf Tatbestands- als auch auf Rechtfertigungsebene erfolgen.
2. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner(er) Rechtfertigungsgrund? Gleichwohl stellt sich die Frage, ob eine der türkischen Rechtfertigungsdogmatik ähnliche Vorgehensweise auch im deutschen Recht notwendig erscheint. 47 48 49 50
Siehe oben: Dreizehntes Kapitel, B) III. 2. Siehe oben: Elftes Kapitel, D) II. 2. Siehe oben: Elftes Kapitel, E). Siehe oben: Drittes Kapitel, B) I. 3. und E).
Vierzehntes Kapitel Würdigung und Ausblick
a Roggemann
Fischer
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Roggemann
356
Fünfter Teil: Schluss
Fälle, in denen das Mitglied eines Verfassungsorgangs selbst betroffen ist und zum anderen lediglich in denjenigen Fällen, in denen die Tathandlung in Ausübung von Kunst i.S.d. Art. 5 Abs. 3 GG erfolgt.
b) Eser Eser geht in seinen Forderungen zur Anwendbarkeit der Wahrnehmung berechtigter Interessen erheblich weiter57. Diese sei als allgemeiner Rechtfertigungsgrund auch über die Ehrverletzungsdelikte hinaus, jedoch nicht auf jeden Tatbestand anwendbar. Vielmehr beschränke sich die Anwendbarkeit auf besondere gemeinschaftsbezogene Rechtsgüter. Bei Schutzgütern mit einer besonders starken Sozialverflochtenheit falle der Wahrnehmung berechtigter Interessen eine evolutive Funktion zu, durch die auch die Schaffung neuer Werte ermöglicht werde. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen sei insofern ein Durchsetzungsrecht zum „status ad quem“. Die entscheidenden Rechtfertigungskriterien fasst Eser in folgende Formel: „Die Tat ist nicht rechtswidrig, wenn sie nach gehöriger Prüfung in erforderlicher und geeigneter Wahrung oder Durchsetzung berechtigter Privat- oder Allgemeininteressen erfolgt, die auch den Täter angehen und nicht außer Verhältnis zu dem verletzten Rechtsgut stehen.“58
Die §§ 90a, 90b StGB stehen in einem Spannungsverhältnis insbesondere mit der Meinungsfreiheit. Nach Eser trägt die Wahrnehmung berechtigter Interessen u.a. gerade die Funktion, die Aktualisierung der Meinungs- und Entfaltungsfreiheit zu gewährleisten. Im gesellschaftspolitischen Kontext gebracht, also unter Berücksichtigung der Sozialverflochtenheit, dient die Wahrnehmung berechtigter Interessen dem Fortkommen der Rechtsgemeinschaft: „Ja, vielleicht besteht eine der bedeutsamsten gesamtpolitischen Funktionen dieser Freiheitsrechte [Meinungs- und Entfaltungsfreiheit] – nicht zu vergessen des Demonstrationsrechts – gerade darin, die gesellschaftliche Entwicklung davor zu bewahren, daß sie – um in einem heute gängigen Jargon zu reden – im dichten Gehege bereits ‘etablierter Interessen’ stecken bleibt. Auch bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen, in der die Aktualisierung dieser Freiheitsrechte mit zum Durchbruch gelangt, darf deren besonderes Gewicht nicht außer Ansatz bleiben. Ebenso wie bei Art. 5 GG, wo eine ‘Wechselwirkung’ zwischen der Meinungsfreiheit und den sie beschränkenden Gesetzen stattfindet, sind daher auch bei Art. 2 GG die Grundrechtsvorbehalte im Lichte eben dieses fundamentalen Freiheitsrechts zu sehen. Um dieser grundrechtlichen Wertentscheidung gerecht zu werden, erscheint es jedenfalls bei den ohnehin stark sozialverflochtenen Schutztatbeständen notwendig und gerechtfertigt, so weit wie möglich Raum zu geben für die Geltendmachung etwaiger legitimer Gegeninteressen. Nur so erhält sich die Rechts-
57 58
Hierzu und zum Folgenden vgl. Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner Rechtfertigungsgrund, S. 66 ff. Eser, a.a.O., S. 68.
Vierzehntes Kapitel: Würdigung und Ausblick
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gemeinschaft das dynamische Moment eines Entfaltungswillens, der sie vor Erstar59 rung bewahrt.“
c) Last Last gesteht zwar ein, dass § 193 StGB keine wesentlich eigenständige Bedeutung zukommt, da es lediglich eine besondere Ausprägung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit darstellt60. Dennoch hält er die zusätzliche Anwendbarkeit des § 193 StGB auf die §§ 90a, 90b StGB für angemessen: „auf den § 193 [könnte] zur Austarierung der Interessen von Täter und Äußerungsziel auch bei den §§ 90–90b größtenteils verzichtet werden, weil Art. 5 I GG in einem solchen Fall direkt als Rechtfertigungsgrund zu wirken in der Lage ist. Trotzdem ist § 193 existent. Er ist trotz seiner weitgehenden Entbehrlichkeit die strafrechtliche Ausprägung des Grundrechts der Meinungsfreiheit und der diesem durch die Verhältnismäßigkeit gesetzten Schranken. Das Abwägungsergebnis im Hinblick auf die widerstreitenden Interessen mag ohne seine Anwendung gleich ausfallen; trotzdem ist er im Verhältnis zu Art. 5 I GG der speziellere strafrechtliche Rechtfertigungsgrund und damit – wenn möglich – auch heranzuziehen, so daß die Feststellung seiner Anwendbarkeit auch auf die §§ 90–90b durchaus von Be61 deutung ist.“
d) Stellungnahme Die Gefahr, dass bei Anwendbarkeit des § 193 StGB auch auf §§ 90a, 90b StGB die allgemeine verfassungsrechtliche Würdigung der Vorschriften gemessen auch an Grundrechten vernachlässigt werden könnte, ist nicht anzunehmen. Solange man die Wahrnehmung berechtigter Interessen als strafrechtliche Konkretisierung des Art. 5 Abs. 1 GG und des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG62 betrachtet, die neben der allgemeinen verfassungsrechtlichen Würdigung der Tatbestände ein zusätzliches Prüfmodell bietet, erscheint eine Anwendung der § 193 StGB auch auf §§ 90a, 90b StGB nicht von vornherein ausgeschlossen. Dass Roggemann, um der besonderen Bedeutung der Kunstfreiheit gerecht zu werden, die Anwendbarkeit im Falle des § 90b Abs. 1 StGB bejaht, ist darauf zurückzuführen, dass dieser den besonderen Mitgliederschutz enthält und dem Schutz der Personalehre im Abschnitt der Beleidigung (§§ 185 ff.) zumindest näher kommt als dies beim Schutz der Institutionen der Fall ist. Im Übrigen ist aber die Beschränkung des § 193 StGB auf Tatbestände zum Schutz (zumindest auch) der Personalehre nicht unbedingt angemessen. Auch wenn man die Staatsehre vor dem Hintergrund des herrschenden Staatsverständnisses als Rechtsgut ablehnt63, ist doch nicht zu übersehen, dass auch die §§ 90a, 90b 59 60 61 62 63
Eser, a.a.O., S. 55 f. Last, a.a.O., S. 115. Vgl. auch Roxin, Strafrecht AT 1, S. 839. Last, a.a.O., S. 115. Vgl. Roggemann, a.a.O., S. 942 m.w.N. Siehe oben: Achtes Kapitel, D) XI. 1.
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Fünfter Teil: Schluss
StGB besondere Ehrschutztatbestände darstellen. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen ist gerade auch dort zu gewähren, wo es sich um einen im Zusammenhang mit Staat, Staatssymbolen oder etwa Verfassungsorganen stehenden öffentlichen Meinungskampf handelt. Dies wird besonders deutlich bei Eser, der der Wahrnehmung berechtigter Interessen sogar eine gesellschaftliche Entfaltungskomponente zubilligen möchte. Doch scheint das Problem nicht darin zu liegen, die Meinungsfreiheit mit samt ihrer gesellschaftsfördernden Funktion zu bestreiten. Vielmehr geht es um das Verhältnis des § 193 StGB zum Art. 5 Abs. 1 GG und damit verbunden auch um die Frage der Anwendbarkeit des § 193 StGB auf die §§ 90a, 90b StGB. Roxin schreibt: „Dort, wo beleidigende Werturteile nach § 185 durch Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt sind, trägt der Gedanke der Risikoabwägung allerdings nicht. Hier geht es um Äußerungen im öffentlichen – vor allem politischen – Meinungskampf, die im Interesse der für eine Demokratie lebensnotwendigen freien Meinungsäußerung (Art. 5 I GG) eine polemische Schärfe erreichen dürfen, die in der privaten Auseinandersetzung schon als strafbare Beleidigung gelten würde. Das ist ein Fall der Interessenabwägung, bei der allerdings § 193 durch Art. 5 GG so völlig ausgefüllt und überlagert wird, dass es seiner im Grunde nicht bedarf.“64
Jedoch stellt § 193 StGB die im StGB positivierte konkrete Ausprägung des Art. 5 Abs. 1 GG dar und sollte daher auch Anwendung finden65. Denn allein der Vorwurf, Art. 5 Abs. 1 GG stelle dem § 193 StGB einen gehaltvolleren Anwendungsbereich zur Verfügung als die einfachgesetzliche Ausprägung, ist nicht überzeugend. Auch andere Rechtfertigungsgründe konkretisieren den Schutz bestimmter Rechtsgüter, die verfassungsrechtliche Würdigung erfahren haben. Auch in ihnen können also besondere strafrechtliche Ausprägungen von Grundrechten gesehen werden. Zwar stellt die Wahrnehmung berechtigter Interessen als konkrete Ausprägung der Meinungsfreiheit einen besonderen Fall dart, der wegen der Wechselwirkungslehre eine besondere Prüfung des die Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetzes erfordert. Doch kann ein Rückgriff als zusätzliches Prüfmodell den Ansprüchen der Meinungsfreiheit besser gerecht werden. Eine Anwendbarkeit des § 193 StGB auch auf die §§ 90a, 90b StGB ist daher zu bejahen.
D) Ausblick Im Hinblick auf die Rechtssetzung (und Anwendung) wurden oben bereits einige Betrachtungen angestellt. In beiden Rechtsordnungen ist danach nicht mit (Teil-)Streichungen der Vergleichsvorschriften zu rechnen. Die vergleichenden Betrachtungen, insbesondere diejenigen zu den sozio-kulturellen Unterschieden werfen aber noch einige andere Fragen auf. In Deutschland nämlich stellt 64 65
Roxin, Strafrecht AT 1, S. 837. Last, a.a.O., S. 112, 115.
Vierzehntes Kapitel Würdigung und Ausblick
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Vierter Teil Vergleich
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Vierzehntes Kapitel Würdigung und Ausblick
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Bemmann
ANHANG
Anhang Nr. 1: Zur türkischen Rechtsordnung 1
Vorschriften aus dem tStGB 1926
1.1
Art. 145
1.1.1
Erstfassung von 1926: „Wer an einem allgemein zugänglichen Orte in der Absicht der Beschimpfung die türkische Fahne, das türkische Wappen oder ein sonstiges Hoheitszeichen des Staates abreißt, zerreißt oder beschädigt oder auf eine andere Weise herabwürdigt, wird mit Gefängnis von einem Jahr bis zu drei Jahren bestraft.“
1.1.2
Fassung von 1936: „Wer in der Absicht der Beschimpfung die türkische Fahne oder ein sonstiges Hoheitszeichen des Staates von den Stellen, an denen sie sich befinden, abreißt, zerreißt, beschädigt oder auf eine andere Weise herabwürdigt, wird mit Gefängnis von einem Jahr bis zu drei Jahren bestraft. Unter türkischer Fahne im Sinne des Strafgesetzes wird die amtliche Fahne des Staates sowie jegliche mit den Nationalfarben geschmückte Fahne verstanden. Wer, abgesehen von den Fahnen, die sich auf irgendeinem Gegenstand befindenden Nationalfarben in der Absicht der Beschimpfung von der Stelle, an der sie sich befinden, abreißt, zerreißt, beschädigt oder auf andere Weise herabwürdigt, wird mit der gleichen Strafe bestraft. Ist das in diesem Artikel genannte Verbrechen von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um mindestens ein Drittel erhöht.“
1.2
Art. 159
1.2.1
Erstfassung von 1926: „Wer die Große Nationalversammlung, die ideelle Persönlichkeit der Regierung, das Heer, die Flotte oder das Türkentum beschimpft und verächtlich macht, wird ebenfalls nach den Bestimmungen des vorhergehenden Paragraphen bestraft. Wer die Gesetze der Türkischen Republik verächtlich macht, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und mit schwerer Geldstrafe von dreißig bis zu hundert Lira bestraft.“
1.2.2
Fassung von 1936: „Wer das Türkentum, die Große Nationalversammlung, die Republik, die ideelle Persönlichkeit der Regierung öffentlich beschimpft und verächtlich macht, wird mit Zuchthaus von einem Jahr bis zu sechs Jahren bestraft. Wer die militärischen Streitkräfte oder die ideelle Persönlichkeit der Justiz öffentlich beschimpft und verächtlich macht, wird auf die gleiche Weise bestraft. Wer die Gesetze der Türkischen Republik öffentlich verächtlich macht, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und mit schwerer Geldstrafe von dreißig bis zu hundert Lira bestraft.
366
Anhang Nr. 1 Ist die Beschimpfung des Türkentums von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um mindestens ein Drittel erhöht.“
1.2.3
Fassung von 1938: „Wer das Türkentum, die Große Nationalversammlung, die Republik, die ideelle Persönlichkeit der Regierung öffentlich beschimpft und verächtlich macht, wird mit Zuchthaus von einem Jahr bis zu sechs Jahren bestraft. Wer die militärischen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte des Staates oder die ideelle Persönlichkeit der Justiz öffentlich beschimpft und verächtlich macht, wird auf die gleiche Weise bestraft. Wer die Gesetze der Türkischen Republik öffentlich verächtlich macht, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und mit schwerer Geldstrafe von dreißig bis zu hundert Lira bestraft. Ist die Beschimpfung des Türkentums von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um mindestens ein Drittel erhöht.“
1.2.4
Fassung von 1946: „Wer das Türkentum, die Republik, die Große Nationalversammlung, die ideelle Persönlichkeit der Regierung, die Ministerien, die militärischen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte des Staates oder die ideelle Persönlichkeit der Justiz öffentlich beschimpft und verächtlich macht oder öffentlich aggressive Taten und Handlungen vornimmt, die die Legitimität der Großen Nationalversammlung in Verdacht bringen, wird mit Zuchthaus von einem Jahr bis zu sechs Jahren bestraft. Auch wenn bei Verübung der in Absatz 1 genannten Vergehen der Name des Beleidigten oder des Angegriffenen nicht ausdrücklich erwähnt oder die Beleidigung oder Aggression bemäntelt worden ist, wird sie, soweit die Umstände keinen Zweifel daran lassen, dass es seiner Natur nach sich gegen eines der im Absatz 1 Genannten richtet, so behandelt, als ob sowohl der Name des Angegriffenen erwähnt wie auch die Beleidigung oder Aggression klar ausgedrückt worden wären. Wer die Gesetze der Türkischen Republik oder die Beschlüsse der Großen Nationalversammlung öffentlich verächtlich macht, wird mit Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu sechs Monaten und mit schwerer Geldstrafe von dreißig bis zu hundert Lira bestraft. Ist die Beschimpfung des Türkentums von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um mindestens ein Drittel erhöht.“
1.2.5
Fassung von 1961: „Wer das Türkentum, die Republik, die Große Nationalversammlung, die ideelle Persönlichkeit der Regierung, die Ministerien, die militärischen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte des Staates oder die ideelle Persönlichkeit der Justiz öffentlich beschimpft und verächtlich macht, wird mit Zuchthaus von einem Jahr bis zu sechs Jahren bestraft. Der Angriff ist auch dann als ausdrücklich geschehen anzusehen, wenn bei Begehung der in Absatz 1 genannten Straftaten die Adressaten nicht ausdrücklich erwähnt worden sind, jedoch Umstände vorliegen, die keinen Zweifel daran lassen, dass der Angriff einem von ihnen gilt.
Zur türkischen Rechtsordnung
367
Wer die Gesetze der Türkischen Republik oder die Beschlüsse der Großen Nationalversammlung öffentlich verächtlich macht, wird mit Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu sechs Monaten und mit schwerer Geldstrafe von dreißig bis zu hundert Lira bestraft. Ist die Beschimpfung des Türkentums von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um einem Drittel bis um ein Halb erhöht.“ 1.2.6
Fassungen von 2002
1.2.6.1
Fassung nach Gesetz Nr. 4744 vom 6. Februar 2002: „Wer das Türkentum, die Republik, die Große Nationalversammlung, die ideelle Persönlichkeit der Regierung, die Ministerien, die militärischen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte des Staates oder die ideelle Persönlichkeit der Justiz öffentlich beschimpft und verächtlich macht, wird mit Gefängnis von einem Jahr bis zu drei Jahren bestraft. Der Angriff ist auch dann als ausdrücklich geschehen anzusehen, wenn bei Begehung der in Absatz 1 genannten Straftaten die Adressaten nicht ausdrücklich erwähnt worden sind, jedoch Umstände vorliegen, die keinen Zweifel daran lassen, dass der Angriff einem von ihnen gilt. Wer die Gesetze der Türkischen Republik oder die Beschlüsse der Großen Nationalversammlung öffentlich verächtlich macht, wird mit Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu sechs Monaten bestraft. Ist die Beschimpfung des Türkentums von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um ein Drittel bis um ein Halb erhöht.“
1.2.6.2
Fassung nach Gesetz Nr. 4771 vom 3. August 2002: „Wer das Türkentum, die Republik, die Große Nationalversammlung, die ideelle Persönlichkeit der Regierung, die Ministerien, die militärischen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte des Staates oder die ideelle Persönlichkeit der Justiz öffentlich beschimpft und verächtlich macht, wird mit Gefängnis von einem Jahr bis zu drei Jahren bestraft. Der Angriff ist auch dann als ausdrücklich geschehen anzusehen, wenn bei Begehung der in Absatz 1 genannten Straftaten die Adressaten nicht ausdrücklich erwähnt worden sind, jedoch Umstände vorliegen, die keinen Zweifel daran lassen, dass der Angriff einem von ihnen gilt. Wer die Gesetze der Türkischen Republik oder die Beschlüsse der Großen Nationalversammlung öffentlich verächtlich macht, wird mit Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu sechs Monaten bestraft. Ist die Beschimpfung des Türkentums von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um ein Drittel bis um ein Halb erhöht. Die Beschimpfung und Verächtlichmachung der in Absatz 1 genannten Organe und Institutionen, die ohne Vorsatz der Beschimpfung und Verächtlichmachung als schriftliche, wörtliche oder visuelle Meinungsäußerung lediglich zum Zwecke der Kritik erfolgt, rechtfertigt keine Strafe.“
1.2.7
Fassung von 2003: „Wer das Türkentum, die Republik, die Große Nationalversammlung, die ideelle Persönlichkeit der Regierung, die Ministerien, die militärischen Streit-
368
Anhang Nr. 1 kräfte oder Sicherheitskräfte des Staates oder die ideelle Persönlichkeit der Justiz öffentlich beschimpft und verächtlich macht, wird mit Gefängnis von sechs Monaten bis drei Jahre bestraft. Der Angriff ist auch dann als ausdrücklich geschehen anzusehen, wenn bei Begehung der in Absatz 1 genannten Straftaten die Adressaten nicht ausdrücklich erwähnt worden sind, jedoch Umstände vorliegen, die keinen Zweifel daran lassen, dass der Angriff einem von ihnen gilt. Wer die Gesetze der Türkischen Republik oder die Beschlüsse der Großen Nationalversammlung öffentlich verächtlich macht, wird mit Gefängnis von fünfzehn Tagen bis zu sechs Monaten bestraft. Ist die Beschimpfung des Türkentums von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um ein Drittel bis um ein Halb erhöht. Meinungsäußerungen ohne Vorsatz der Beschimpfung und Verächtlichmachung lediglich zum Zwecke der Kritik, rechtfertigen keine Strafe.“
1.3
Art. 160
1.3.1
Erstfassung: „Die strafrechtliche Verfolgung in den Fällen der Artt. 157 und 158 findet nur mit Ermächtigung des Justizministers und in den Fällen des Art. 159 nur mit Ermächtigung des Präsidenten der Großen Nationalversammlung statt.“
1.3.2
Fassung von 1931: „Die Befugnis zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die die im Art. 157 genannte Straftat begehen oder die die Gesetze der türkischen Republik beschimpfen, steht den Staatsanwälten zu. Die strafrechtliche Verfolgung nach Art. 158 und der in Art. 159 bezeichneten Beschimpfung der ideellen Persönlichkeit der Regierung hängen von der Ermächtigung des Justizministers und die ebenfalls in Art. 159 bezeichnete Beschimpfung und Verächtlichmachung der Großen Nationalversammlung oder des Türkentums von der Ermächtigung des Präsidenten der Großen Nationalversammlung und wenn dieser nicht verfügbar ist, von der Ermächtigung des vom Präsidenten der Großen Nationalversammlung Bevollmächtigten und die Beschimpfung und Verächtlichmachung des Heeres und der Flotte von der Ermächtigung des Verteidigungsministers ab.“
1.3.3
Fassung von 1936: „Die Befugnis zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die die im Art. 157 genannte Straftat begehen oder die die Gesetze der türkischen Republik beschimpfen, steht den Staatsanwälten zu. Die strafrechtliche Verfolgung nach Art. 158 und der in Absatz 1 und 2 des Art. 159 bezeichneten öffentlichen Beschimpfung und Verächtlichmachung der ideellen Persönlichkeit der Justiz oder Regierung und der öffentlichen Beschimpfung und Verächtlichmachung der Republik hängen von der Ermächtigung des Justizministers ab. Die strafrechtliche Verfolgung der in Art. 159 bezeichneten öffentlichen Beschimpfung und Verächtlichmachung des Türkentums oder der Großen Nationalversammlung hängen von der Ermächtigung des Präsidenten der Großen Nationalversammlung und wenn dieser nicht verfügbar ist, von der Ermächti-
Zur türkischen Rechtsordnung
369
gung des vom Präsidenten der Großen Nationalversammlung Bevollmächtigten und die Beschimpfung und Verächtlichmachung der militärischen Streitkräfte von der Ermächtigung des Verteidigungsministers ab.“ 1.3.4
Fassung von 1938: „Die Befugnis zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die die im Art. 157 genannte Straftat begehen oder die die Gesetze der türkischen Republik beschimpfen, steht den Staatsanwälten zu. Die strafrechtliche Verfolgung nach Art. 158 und der in Absatz 1 und 2 des Art. 159 bezeichneten öffentlichen Beschimpfung und Verächtlichmachung der ideellen Persönlichkeit der Justiz oder Regierung oder Republik und die in Absatz 1 des Art. 159 bezeichneten Beschimpfung und Verächtlichmachung des Türkentums oder der Großen Nationalversammlung oder der militärischen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte hängen von der Ermächtigung des Justizministers ab.“
1.3.5
Fassung von 1946: „Die Befugnis zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die die im Art. 157 genannte Straftat begehen oder die die Gesetze der türkischen Republik und die Beschlüsse der Großen Nationalversammlung öffentlich beschimpfen, steht den Staatsanwälten zu. Die strafrechtliche Verfolgung nach Art. 158 und nach Absatz 1 des Art. 159 hängen von der Ermächtigung des Justizministers ab.“
2
Vorschriften aus dem tStGB 2004
2.1
Art. 300: „(1) Wer die türkische Fahne durch Zerreißen, Verbrennen oder auf andere Weise öffentlich herabsetzt, wird mit einem Jahr bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Diese Vorschrift wird auf jedes Zeichen angewendet, das die Merkmale der in der Verfassung beschriebenen roten Fahne mit weißem Mond und weißem Stern trägt und als Hoheitszeichen der Türkischen Republik verwendet wird. (2) Wer den Unabhängigkeitsmarsch öffentlich herabsetzt, wird mit zwei Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. (3) Werden die Straftaten dieses Artikels von einem türkischen Staatsangehörigen im Ausland begangen, so wird die Strafe um ein Drittel erhöht.“
2.2
Art. 301
2.2.1
Erstfassung von 2005: „(1) Wer das Türkentum, die Republik oder die Große Nationalversammlung der Türkei öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. (2) Wer die Regierung der Türkischen Republik, die staatlichen Justizorgane, die staatlichen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. (3) Ist die Herabsetzung des Türkentums von einem Türken im Ausland begangen worden, so wird die Strafe um ein Drittel erhöht.
370
Anhang Nr. 1 (4) Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind, stellen keine Straftat dar.“
2.2.2
Fassung von 2008: „(1) Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. (2) Wer die staatlichen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte öffentlich herabsetzt, wird gemäß Abs. 1 bestraft. (3) Meinungsäußerungen, die mit der Absicht der Kritik erfolgt sind, stellen keine Straftat dar. (4) Strafrechtliche Ermittlungen wegen dieser Tat hängen von der Ermächtigung des Justizministers ab.“ 1
3
Statistiken
3.1
Zum Zeitraum von 1935 bis 1962
3.1.1
Verurteilungen nach Artt. 145 und 159 Jahr 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954
1
Art. 145 3 1 0 0 0 1 1 3 0 0 0 1 1 1 4 2 2 5 3 3
Art. 159 19 26 55 64 96 47 61 82 46 56 47 59 74 115 135 103 91 100 81 112
Die ermittelten Statistiken basieren für den Zeitraum von 1935 bis 1962 auf den Zahlen der Türkischen Gesellschaft für Statistiken (Türkiye �statistik Kurumu) und für den Zeitraum von 1986 bis heute auf den Zahlen des Amts für Justizstatistiken (Adli Sicil ve �statistik Müdürlü�ü). Im Zeitraum von 1935 bis 1962 wurden die Zahlen unter unterschiedlichen Bezeichnungen veröffentlicht. Neben den Justizstatistiken (Adalet �statistikleri) finden sich unter den Veröffentlichungen auch der Begriff Verurteiltenstatistiken (Mahkûmlar �statisti�i) und Strafgefangenenstatistiken (Hükümlüler �statisti�i). Unbekannte statistische Werte wurden mit einem „–“ kenntlich gemacht. Sie sind nicht zu verwechseln mit einer Null-Angabe, bei der der Wert bekannt war.
371
Zur türkischen Rechtsordnung 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962
2 3 0 7 3 3 1 2
142 108 103 91 91 68 107 118
3.2
Zum Zeitraum von 1986 bis 2009
3.2.1
Anklagen (A), Verurteilungen (V), Freisprüche (F), Einstellungen (E) und andere Entscheidungen (and.) nach Artt. 145 und 159 des tStGB 1926 und Artt. 300 und 301 des tStGB 2004 Jahr 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
A 41 40 29 15 23 6 11 18 17 20 15 24 19 33 26 18 14 16 10 22
2006 2007 2008 2009 2010 2011
A 47 46 64 229 227 190
Art. 145 V F – – – – – – – – – – – – – – – – 5 13 5 16 3 6 10 5 4 7 7 15 5 19 9 6 – – 3 10 4 14 16 17 Art. 300 V F 30 16 23 15 26 31 37 87 12 58 53 57
E – – – – – – – – 0 0 0 0 0 0 0 1 – 5 0 1
A 220 215 240 200 197 139 144 398 563 584 595 234 397 307 324 647 339 283 403 261
and. 21 15 39 64 62 216
A 386 356 276 248 172 140
Art. 159 V F – – – – – – – – – – – – – – – – 124 130 172 145 174 126 57 85 79 151 101 113 82 105 104 161 – – 170 242 190 237 193 163 Art. 301 V F 138 161 171 156 119 127 35 72 20 37 11 38
E – – – – – – – – 6 4 10 23 5 101 10 5 – 10 6 11 and. 198 144 528 405 202 223
Anhang Nr. 2: Zur deutschen Rechtsordnung 1
Vorschriften aus dem Strafgesetzbuch
1.1
§ 90a (§ 96)
1.1.1
Erstfassung von 1951 (§ 96): „Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften, Schallaufnahmen, Abbildungen oder Darstellungen 1. die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht, 2. ihre Farben, ihre Flagge, ihr Wappen oder ihr Hymne verunglimpft oder dazu auffordert, wird mit Gefängnis bestraft. Ebenso wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ein von einer Behörde öffentlich angebrachtes Zeichen der Hoheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder entfernt, zerstört, beschädigt oder unkenntlich macht oder wer beschimpfenden Unfug daran verübt. Der Versuch ist strafbar. Hat der Täter eine der in Absatz 1 und 2 genannten Taten in der Absicht begangen, Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen einen der in § 88 bezeichneten Verfassungsgrundsätze zu fördern, so ist die Strafe Gefängnis nicht unter drei Monaten.“
1.1.2
Fassung von 1968 (§ 90a): „(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften, Tonträgern, Abbildungen oder Darstellungen 1. die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht oder 2. die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ein von einer Behörde öffentlich angebrachtes Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder entfernt, zerstört, beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran verübt. Der Versuch ist strafbar. (3) Die Strafe ist Gefängnis, wenn der Täter sich durch die Tat absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt.“
1.1.3
Fassung von 1969 (§ 90a): „(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften, Tonträgern, Abbildungen oder Darstellungen
Zur deutschen Rechtsordnung
373
1. die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht oder 2. die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ein von einer Behörde öffentlich angebrachtes Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder entfernt, zerstört, beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran verübt. Der Versuch ist strafbar. (3) Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, wenn der Täter sich durch die Tat absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt.“ 1.1.4
Fassung von 1973 (§ 90a): „(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften, Ton- und Bildträgern, Abbildungen oder Darstellungen 1. die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht oder 2. die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ein von einer Behörde öffentlich angebrachtes Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder entfernt, zerstört, beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran verübt. Der Versuch ist strafbar. (3) Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, wenn der Täter sich durch die Tat absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt.“
1.1.5
Fassung von 1974 (§ 90a Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole): „(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) 1. die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht oder 2. die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ein von einer Behörde öffentlich angebrachtes Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder entfernt, zerstört, beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran verübt. Der Versuch ist strafbar.
Anhang Nr 2
375
Zur deutschen Rechtsordnung
(2) Die Tat wird nur mit Ermächtigung des betroffenen Verfassungsorgans oder Mitglieds verfolgt.“ 1.2.5
Fassung von 1974 (§ 90b Verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen) „(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) ein Gesetzgebungsorgan, die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes oder eines Landes oder eines ihrer Mitglieder in dieser Eigenschaft in einer das Ansehen des Staates gefährdenden Weise verunglimpft und sich dadurch absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Die Tat wird nur mit Ermächtigung des betroffenen Verfassungsorgans oder Mitglieds verfolgt.“
1.3
§ 11 Abs. 3
1.3.1
Erstfassung von 1969: „Den Schriften stehen Tonträger, Abbildungen und andere Darstellungen in denjenigen Vorschriften gleich, die auf diesen Absatz verweisen.“
1.3.2
Fassung von 1974: „Den Schriften stehen Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen in denjenigen Vorschriften gleich, die auf diesen Absatz verweisen.“
1.3.3
Fassung von 1997: „Den Schriften stehen Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen in denjenigen Vorschriften gleich, die auf diesen Absatz verweisen.“ 1
2
Statistiken
2.1
Zum Zeitraum von 1882 bis 1936
2.1.1
Anklagen (A), Verurteilungen (V), Freisprüche (F) und Einstellungen (E) nach den §§ 131, 135 RStGB Jahr 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890
1
A 26 15 13 14 13 16 11 24 25
§ 131 V F 16 10 10 5 4 9 11 3 4 9 10 6 7 4 7 17 11 14
E 0 0 0 0 0 0 0 0 0
A – – – – – – – – –
V – – – – – – – – –
§ 135
F – – – – – – – – –
E – – – – – – – – –
Ab 1882 beruhen die Statistiken auf der Kriminalstatistik für das Deutsche Reich, ab 1950 auf der Statistik der Bundesrepublik Deutschland, ab 1960 auf der Rechtspflegeund ab 1974 auf der Strafverfolgungsstatistik. Unbekannte Werte wurden mit einem „–“ kenntlich gemacht (nicht zu verwechseln mit einer Null-Angabe).
376
Anhang Nr. 2 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936
2.1.2
28 26 31 23 17 20 9 10 16 6 4 6 4 2 3 8 6 2 1 3 0 0 3 9 3 2 3 7 3 5 9 4 6 5 4 5 2 2 1 3 3 4 2 2 1 3
13 11 7 6 7 9 5 5 7 4 2 3 3 1 1 3 5 0 0 1 0 0 1 8 2 1 1 3 3 2 7 3 1 1 4 4 1 1 1 2 2 4 1 2 1 2
15 15 24 17 10 11 4 5 8 2 2 3 1 1 2 3 1 2 1 1 0 0 2 1 1 1 2 4 0 3 2 1 0 4 0 1 1 1 0 1 1 0 1 0 0 1
0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 2 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
– – – – – – – – – – – 1 0 1 1 1 1 0 0 0 0 3 1 1 3 0 0 3 5 0 1 8 5 1 4 7 1 2 18 9 6 1 9 4 3 2
– – – – – – – – – – – 0 0 1 1 1 0 0 0 0 0 2 0 1 2 0 0 2 5 0 1 8 5 1 3 6 1 2 8 9 5 1 6 4 2 1
– – – – – – – – – – – 1 0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 1 0 1 0 0 1 0 0 0 0 0 0 1 1 0 0 10 0 1 0 3 0 0 1
– – – – – – – – – – – 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0
Anklagen (A), Verurteilungen (V), Freisprüche (F) und Einstellungen (E) nach den §§ 134a, 134b RStGB Jahr 1932
A 0
§ 134a V F 0 0
E 0
A *
§ 134b V F * *
E *
377
Zur deutschen Rechtsordnung 1933 442 359 1934 413 313 1935 458 410 1936 365 316 * = noch nicht in Kraft getreten. 2.1.3
78 93 47 48
5 7 1 1
* * – 150
* * – 133
* * – 17
* * – 0
Anklagen (A), Verurteilungen (V), Freisprüche (F) und Einstellungen (E) nach den §§ 7, 8 RepSchG 1922 §§ 7, 8 A V F E 1922 29 19 10 0 1923 295 211 83 1 1924 587 375 208 4 1925 761 566 75 120 1926 295 227 28 40 1927 298 230 54 14 1928 237 179 47 11 1929 275 211 61 3 1930 154* 108* 45* 1* 1931 26* 14* 12* 0* 1932 6* 5* 0* 1* 1933 5* 2* 3* 0* * = Das RepSchG 1922 trat im Jahre 1929 außer Kraft. Die markierten statistischen Werte sind Entscheidungen über Restanklagen. Jahr
2.1.4
Anklagen (A), Verurteilungen (V), Freisprüche (F) und Einstellungen (E) nach den § 5 Nr. 1 und § 5 Nr. 2 RepSchG 1930 § 5 Nr. 1 § 5 Nr. 2 A V F E A V F E 1930 24 18 6 0 19 17 2 0 1931 287 230 57 0 122 89 33 0 1932 370 240 118 12 104 72 31 1 1933 18* 9* 4* 5* 15* 8* 5* 2* * = Das RepSchG 1930 trat im Dezember 1932 außer Kraft. Die markierten statistischen Werte sind Entscheidungen über Restanklagen. Jahr
2.2
Zum Zeitraum von 1950 bis 1994
2.2.1
Verurteilungen (V), Freisprüche (F), Einstellungen (E) nach § 96 sowie nach §§ 95, 97 StGB von 1954 bis 1960 Jahr 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960
V – 4 9 11 11 4 10 17
§ 96 F – 5 0 3 1 2 0 1
E – 0 0 1 1 0 1 3
V 3 8 16 5 3 3 0 0
§ 95, 97 F 12 33 14 4 0 3 0 0
E 5 32 14 1 2 1 0 1
378 2.2.2
Anhang Nr. 2 Verurteilungen (V), Freisprüche (F), Einstellungen (E) nach den §§ 95–97, den §§ 90–90b und §§ 84–90b StGB von 1961 bis 1994 Jahr 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968
V 75 43 41 28 45 35 48 49
1969
V 7
1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993
V 29 22 17 16 23 54 89 104 125 207 198 169 184 285 378 311 246 296 310 334 304 275 327 680
1994
V 25
§§ 95–97 F 5 4 4 7 6 1 4 5 §§ 90–90b F 0 §§ 84–90b F 5 1 1 0 5 10 24 38 27 49 62 75 36 5 26 28 25 27 37 29 51 28 14 50 §§ 84, 85, 87–90b F 6
E 1 1 2 0 2 0 10 6 E 9 E 4 4 1 17 6 12 14 26 37 74 81 99 92 149 244 161 174 124 150 167 176 99 157 194 E 21
379
Zur deutschen Rechtsordnung 2.3
Zum Zeitraum von 1995 bis 20092
2.3.1
Verurteilungen (V), Freisprüche (F), Einstellungen (E), Zuchtmittel (Z) und 3 Erziehungsmaßregeln (M) nach den §§ 90a, 90b StGB Jahr 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
2
3
V 12 17 7 10 7 8 5 2 11 8 14 13 5 8 4
F 2 1 5 0 0 0 3 0 1 1 0 0 3 0 1
§ 90a E 8 5 5 4 3 2 2 2 6 3 9 14 10 3 1
Z 9 9 10 2 2 4 2 6 5 2 7 3 2 0 4
M 1 2 0 0 0 0 0 1 1 1 0 0 1 1 1
V 0 0 0 1 0 0 2 2 0 0 0 0 1 0 0
F 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
§ 90b E 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Z 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
M 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Die Zahlen von 1995–2009 beruhen auf den Off-Site-Files des Forschungsdatenzentrums Saarland (EVAS 24311). Folgendes Datenmaterial war nicht verfügbar: Hamburg von 1995–1996; Saarland 1995; Mecklenburg-Vorpommern 1995–2000; SachsenAnhalt 1995–2006 und Thüringen 1995–1997. Die angegeben Werte für die Einstellungen schließen solche, die nach § 47 JGG ergangen sind, mit ein. Zuchtmittel (§ 13 JGG) und Erziehungsmaßregeln (§ 9 JGG) können nebeneinander für sich oder zusätzlich zu einer Einstellung oder gar als eine Voraussetzung, etwa für das Absehen von der Verfolgung (§ 45 JGG), ergehen.
Literatur- und Quellenverzeichnis Die deutsche Kommentarliteratur ist weitgehend bis zum April 2014 berücksichtigt worden. Die türkische Literatur ist hingegen weitgehend auf dem Stand bis Mitte 2013. Um die Quellen- und Literaturangaben in den Fußnoten nicht unnötig zu überfrachten, werden die vielzitierten Werke und diejenigen mit langen Titeln abgekürzt. Die in den Fußnoten verwendeten Abkürzungen sind am Ende des entsprechenden Werkes in Klammern angemerkt. Da die islamische Zeitrechnung erst im Jahre 1925 durch die christliche Zeitrechnung ersetzt wurde, sind einige Quellen mit den islamischen Jahresangaben versehen. Diese sind um die entsprechende christliche Jahresangabe in Klammern ergänzt worden.
A) Quellenverzeichnis 1
Gesetzesquellen, Dokumente, Veröffentlichungsorgane, Amtsblätter
1.1.
Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, herausgegeben von den Schriftleitungen der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft und der Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung.
1.1.1
Bd. 6: Das italienische Strafgesetzbuch vom 30. Juni 1889 nebst dem Gesetze über die öffentliche Sicherheit vom 30. Juni 1889. Deutsche Übersetzung von Albert Teichmann, Berlin 1890. (Das italienische Strafgesetzbuch)
1.1.2
Bd. 34: Das türkische Strafgesetzbuch vom 28. Zilhidje 1274 (9. August 1858) mit Novelle vom 6. Djemazi-ül-achyr 1329 (4. April 1911) und den wichtigsten türkischen Strafnebengesetzen. Deutsche Übersetzung nebst Einleitung und Anmerkungen von Erich Nord, Berlin 1912. (Das Türkische Strafgesetzbuch)
1.1.3
Bd. 46: Das Türkische Strafgesetzbuch vom 1. März 1926. Gesetz Nr. 765 (Türkisches Gesetzblatt Nr. 320 vom 13. März 1926). Das Ausführungsgesetz zum Türkischen Strafgesetzbuch vom 26. April 1926. Deutsche Übersetzung von Kurt Ziemke, Berlin/Leipzig 1927. (Das Türkische Strafgesetzbuch)
1.1.4
Bd. 50: Das italienische Strafgesetzbuch vom 19. Oktober 1930, Deutsche Übersetzung von Karl Bunge, Berlin 1933.
1.1.5
Bd. 67: Das Türkische Strafgesetzbuch vom 1. März 1926. Gesetz Nr. 765 (Türkisches Gesetzblatt Nr. 320 vom 13. März 1926). Übersetzt und mit einer Einführung versehen von Naci �ensoy und Osman Tolun, Berlin 1955. (Das Türkische Strafgesetzbuch)
1.2.
Sammlung ausländischer Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, herausgegeben vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht.
1.2.1
Bd. 110: Das Türkische Strafgesetzbuch vom 1. März 1926 nach dem Stand vom 31. Januar 2001. Deutsche Übersetzung und Einführung von Silvia Tellenbach, 2. Aufl., Freiburg i.Br. 2001. (Das Türkische Strafgesetzbuch)
Anhang
Silvia Tellenbach
Wilhelm Bolland
Ernst E Hirsch
Ernst E Hirsch
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Friedrich von KraelitzGreifenhorst
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Ahmet Akgündüz
HansHeinrich JescheckHeinz Mattes
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Serkiz Karakoç
Serkiz Karakoç
¡ Ba�bakanl�k Osmanl� Ar�ivi
Ernst Rudolf Huber
Ba�bakanl�k Devlet Ar�ivleri Genel Müdürlü�ü Osmanl� Ar�ivi Daire Ba�kanl���
Literatur- und Quellenverzeichnis
383
1.11
Die Belgische Verfassung, angenommen vom National-Congresse am 25. Februar 1831, Berlin 1848.
1.12
Der Code pénal des Königreichs Westphalen von 1813 mit dem Code pénal von 1810 im Original und in deutscher Übersetzung, herausgegeben von Werner Schubert, Frankfurt a.M. (u.a.) 2001. (Der Code pénal)
1.13
Die Verfassung der Türkischen Republik vom 7. November 1982 in deutscher Sprache mit Kommentar, herausgegeben von Rudolf Wedekind, Leuenhagen (u.a.) 1984. (Die Verfassung der Türkischen Republik)
1.14
Die Verfassung der Republik Türkei. Stand 1.1.2012, von Christian Rumpf, abrufbar unter: http://www.tuerkei-recht.de/downloads/verfassung.pdf (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
1.15
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten. Vierter Theil, Berlin 1794. (ALR, Bd. 4)
1.16
Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Mit Commentar von Hans Rüdorff, Berlin 1871.
1.17
Düstur
1.17.1
Pressegesetz von 1865 (Matbuât Nizamnâmesi): Düstur, I. Tertip, Bd. 2, 220.
1.17.2
Strafgesetzbuch von 1858 (Ceza Kanunnâme-i hümâyûnu): Düstur, I. Tertip, Bd. 1, 537.
1.17.3
Pressegesetz von 1909 (Matbuât Kanunu): Düstur, II. Tertip, Bd. 1, 390.
1.18
Türkiye Cumhuriyeti Resmî Gazete (Amtsblatt)
1.18.1
Gesetz Nr. 491 v. 20.4.1924: T.C. Resmî Gazete Nr. 71 v. 24.05.1924.
1.18.2
Gesetz Nr. 698 v. 26.12.1925: T.C. Resmî Gazete Nr. 260 v. 2.1.1926.
1.18.3
Gesetz Nr. 765 v. 1.3.1926: T.C. Resmî Gazete Nr. 320 v. 13.3.1926.
1.18.4
Gesetz Nr. 1412 v. 4.4.1929: T.C. Resmî Gazete Nr. 1172 v. 20.4.1929
1.18.5
Gesetz Nr. 1840 v. 11.6.1931: T.C. Resmî Gazete Nr. 1850 v. 16.7.1931
1.18.6
Gesetz Nr. 1881 v. 8.8.1931: T.C. Resmî Gazete Nr. 1867 v. 8.8.1931.
1.18.7
Gesetz Nr. 2330 v. 26.10.1933: T.C. Resmî Gazete Nr. 2540 v. 28.10.1933.
1.18.8
Gesetz Nr. 2587 v. 24.11.1934: T.C. Resmî Gazete Nr. 2865 v. 27.11.1934.
1.18.9
Gesetz Nr. 2994 v. 29.5.1936: T.C. Resmî Gazete Nr. 3322 v. 5.6.1936.
2
3
2
3
Eine „halbamtliche“ Sammlung von Rechtsvorschriften, die seit 1851 und seit 1863 als „Düstur“ erscheint; siehe: Rumpf, Einführung in das türkische Recht, S. 19. Die Sammlung ist in verschiedenen Reihen (Tertip) erschienen: I. Tertip bis 1908; II. Tertip bis 1920 usw. Die Strafgesetzbücher von 1840 und 1851 sind in die Sammlung nicht aufgenommen worden. �entop, Tanzimat, S. 12. Den im Amtsblatt (T.C. Resmî Gazete) veröffentlichten Gesetzen geht der Zeitpunkt des Parlamentsbeschlusses voran. Die Gesetze werden üblicherweise nach dem Zeitpunkt des Parlamentsbeschlusses zitiert. Die Gesetze sind mittlerweile auch digitalisiert und unter www.resmigazete.gov.tr (zuletzt abgerufen: Juli 2013) zugänglich gemacht worden. Notwendig ist die Angabe der hier zitierten Ausgabe des Amtsblatts.
384
Anhang
1.18.10
Gesetz Nr. 3038 v. 11.6.1936: T.C. Resmî Gazete Nr. 3337 v. 23.6.1936.
1.18.11
Gesetz Nr. 2525 v. 12.6.1936: T.C. Resmî Gazete Nr. 2741 v. 2.7.1934.
1.18.12
Gesetz Nr. 3115 v. 5.2.1937: T.C. Resmî Gazete Nr. 3533 v. 13.2.1937.
1.18.13
Gesetz Nr. 3201 v. 4.6.1937: T.C. Resmî Gazete Nr. 3629 v. 12.6.1937.
1.18.14
Gesetz Nr. 3531 v. 29.6.1938: T.C. Resmî Gazete Nr. 3961 v. 16.7.1938.
1.18.15 Gesetz Nr. 4943 v. 14.6.1946: T.C. Resmî Gazete Nr. 6336 v. 18.6.1946. 1.18.16 Gesetz Nr. 4956 v. 20.9.1946: T.C. Resmî Gazete Nr. 6416 v. 24.9.1946. 1.18.17 Gesetz Nr. 5677 v. 14.6.1950: T.C. Resmî Gazete Nr. 7559 v. 15.7.1950. 1.18.18 Gesetz Nr. 5680 v. 15.7.1950: T.C. Resmî Gazete Nr. 7564 v. 24.7.1950. 1.18.19 Gesetz Nr. 5816 v. 25.7.1951: T.C. Resmî Gazete Nr. 7872 v. 31.7.1951. 1.18.20 Gesetz Nr. 5844 v. 3.12.1951: T.C. Resmî Gazete Nr. 7979 v. 11.12.1951. 1.18.21 Gesetz Nr. 6123 v. 9.7.1953: T.C. Resmî Gazete Nr. 8458 v. 15.7.1953. 1.18.22
Gesetz Nr. 38 v. 5.3.1962: T.C. Resmî Gazete Nr. 11053 v. 7.3.1962.
1.18.23
Gesetz Nr. 113 v. 26.10.1960: T.C. Resmî Gazete Nr. 10641 v. 28.10.1960.
1.18.24 Gesetz Nr. 235 v. 5.1.1961: T.C. Resmî Gazete Nr. 235 v. 12.01.1961. 1.18.25 Gesetz Nr. 1490 v. 28.9.1971: T.C. Resmî Gazete Nr. 13975 v. 3.10.1971. 1.18.26
Gesetz Nr. 2245 v. 7.6.1979: T.C. Resmî Gazete Nr. 16668 v. 16.6.1979.
1.18.27 Gesetz Nr. 2370 v. 7.1.1981: T.C. Resmî Gazete Nr. 17216 v. 10.1.1981. 1.18.28 Gesetz Nr. 2787 v. 21.1.1983: T.C. Resmî Gazete Nr. 17936 v. 22.1.1983. 1.18.29 Gesetz Nr. 2893 v. 24.9.1983: T.C. Resmî Gazete Nr. 18171 v. 24.09.1983. 1.18.30 Gesetz Nr. 2954 v. 11.11.1983: T.C. Resmî Gazete Nr. 18221 v. 14.11.1983. 1.18.31 Gesetz Nr. 3713 v. 12.4.1991: T.C. Resmî Gazete Nr. 20843 v. 12.4.1991. 1.18.32
Gesetz Nr. 4454 v. 28.8.1999: T.C. Resmî Gazete Nr. 23805 v. 3.9.1999.
1.18.33
Gesetz Nr. 4616 v. 21.12.2000: T.C. Resmî Gazete Nr. 24268 v. 22.12.2000.
1.18.34 Gesetz Nr. 4744 v. 6.2.2002: T.C. Resmî Gazete Nr. 24676 v. 19.2.2002. 1.18.35 Gesetz Nr. 4758 v. 21.5.2002: T.C. Resmî Gazete Nr. 24763 v. 23.5.2002. 1.18.36 Gesetz Nr. 4771 v. 3.8.2002: T.C. Resmî Gazete Nr. 24841 v. 9.8.2002. 1.18.37 Gesetz Nr. 4809 v. 6.2.2003: T.C. Resmî Gazete Nr. 25020 v. 10.2.2003. 1.18.38 Gesetz Nr. 4963 v. 30.7.2003: T.C. Resmî Gazete Nr. 25192 v. 7.8.2003. 1.18.39 Gesetz Nr. 5170 v. 7.5.2004: T.C. Resmî Gazete Nr. 25469 v. 22.5.2004. 1.18.40 Gesetz Nr. 5187 v. 9.6.2004: T.C. Resmî Gazete Nr. 25504 v. 26.6.2004. 1.18.41 Gesetz Nr. 5237 v. 26.9.2004: T.C. Resmî Gazete Nr. 25611 v. 12.10.2004. 1.18.42
Gesetz Nr. 5271 v. 4.12.2004: T.C. Resmî Gazete Nr. 25673 v. 17.12.2004.
1.18.43 Gesetz Nr. 5326 v. 30.3.2005: T.C. Resmî Gazete Nr. 25772 v. 31.3.2005. 1.18.44 Gesetz Nr. 5759 v. 30.4.2008: T.C. Resmî Gazete Nr. 26870 v. 8.5.2008.
Literatur- und Quellenverzeichnis
385
1.19
Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz. Gesetze – Entwürfe – Begründungen. Zwanglose Sammlung
1.19.1
Nr. 10. Die Strafrechtsnovellen v. 28. Juni 1935. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches (RGBl. I S. 839). Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes (RGBl. I S. 844) und die amtlichen Begründungen zu diesen Gesetzen, Berlin undatiert.
1.20
Deutsche Justiz. Rechtspflege und Rechtspolitik. Amtliches Organ des Reichsministers der Justiz, des Preußischen Justizministers und des Bayerischen Justizministers (1933) (zit. nach Jahr und Seitenzahl)
1.21
Deutsche Justiz. Rechtspflege und Rechtspolitik. Amtliches Blatt der deutschen Rechtspflege (ab 1934) (zit. nach Jahr und Seitenzahl)
1.22
Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten (Pr.GS.) (zit. nach Jahr und Seitenzahl)
1.22.1
Verordnung, wie die Zensur der Druckschriften nach dem Beschluß des deutschen Bundes vom 20sten September d.J. auf fünf Jahre einzurichten ist. Vom 18ten Oktober 1819. (Pr.GS. 1819, 224)
1.22.2
Verordnung über einige Grundlagen der künftigen Preußischen Verfassung. Vom 6. April 1848. (Pr.GS. 1848, 87)
1.22.3
Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Vom 5. Dezember 1848. (Pr.GS. 1848, 375)
1.22.4
Verordnung, betreffend die Vervielfältigung und Verbreitung von Schriften und verschiedene durch Wort, Schrift, Druck, Zeichen, bildliche oder andere Darstellung begangene strafbare Handlungen. Vom 30. Juni 1849. (Pr.GS. 1849, 226)
1.22.5
Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Vom 31. Januar 1850 [Revidierte Verfassung]. (Pr.GS. 1850, 17)
1.22.6
Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Vom 14. April 1851. (Pr.GS. 1851, 101)
1.23
Reichsgesetzblatt (zitiert nach [Jahr] [Abteilung und] Seitenzahl)
1.23.1
Gesetz betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Vom 15. Mai 1871. (RGBl. 1871, 127)
1.23.2
Gesetz, betreffend die Bestrafung der Majestätsbeleidigung. Vom 17. Februar 1908. (RGBl. 1908, 25)
1.23.4
Die Verfassung des Deutschen Reiches. Vom 11. August 1919. (RGBl. 1919, 1383)
1.23.5
Gesetz zum Schutze der Republik. Vom 21. Juli 1922. (RGBl. 1922 I, 585)
1.23.6
Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege. Vom 4. Januar 1924. (RGBl. 1924 I, 15)
1.23.7
Gesetz zur Verlängerung des Gesetzes zum Schutze der Republik. Vom 2. Juni 1927. (RGBl. 1927 I, 125)
1.23.8
Gesetz zum Schutze der Republik. Vom 25. März 1930. (RGBl. 1930 I, 91)
386 1.23.9
Anhang Verordnung des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen. Vom 28. März 1931. (RGBl. 1931 I, 79)
1.23.10 Zweite Verordnung des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen. Vom 17. Juli 1931. (RGBl. 1931 I, 371) 1.23.11 Dritte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen. Vom 6. Oktober 1931. (RGBl. 1931 I, 537) 1.23.12 Verordnung zum Schutze des inneren Friedens. Vom 8. Dezember 1931. (RGBl. 1931 I, 699) 1.23.13 Verordnung gegen politische Ausschreitungen. Vom 14. Juni 1932. (RGBl. 1932 I, 297) 1.23.14 Verordnung zur Erhaltung des inneren Friedens. Vom 19. Dezember 1932. (RGBl. 1932 I, 548) 1.23.15 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes. Vom 4. Februar 1933. (RGBl. 1933 I, 35) 1.23.16 Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung. Vom 21. März 1933. (RGBl. 1933 I, 135) 1.23.17 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Vom 24. März 1933. (RGBl. 1933 I, 141) 1.23.18 Gesetz zum Schutze der nationalen Symbole. Vom 19. Mai 1933. (RGBl. 1933 I, 285) 1.23.19 Gesetz gegen die Neubildung von Parteien. Vom 14. Juli 1933. (RGBl. 1933 I, 479) 1.23.20 Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat. Vom 1. Dezember 1933. (RGBl. 1933 I, 1016) 1.23.21 Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen. Vom 20. Dezember. (RGBl. 1934 I, 1269) 1.23.22 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches. Vom 28. Juni 1935. (RGBl. 1935 I, 839) 1.23.23 Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen. Vom 1. September 1939. (RGBl. 1939 I, 1683) 1.24
Bundesgesetzblatt (zitiert nach [Jahr], Abteilung und Seitenzahl)
1.24.1
Bekanntmachung betreffend das Bundeswappen und den Bundesadler. Vom 20. Januar 1950. (BGBl. 1950 I, 26)
1.24.2
Erlaß über die Dienstsiegel. Vom 20. Januar 1950. (BGBl. 1950 I, 26)
1.24.3
Anordnung über die deutschen Flaggen. Vom 7. Juni 1950. (BGBl. 1950 I, 205)
1.24.4
Strafrechtsänderungsgesetz. Vom 30. August 1951. (BGBl. 1951 I, 739)
1.24.5
Erlaß über die Amtsschilder der Bundesbehörden. Vom 25. September 1951. (BGBl. 1951 I, 927)
Literatur- und Quellenverzeichnis
387
1.24.6
Drittes Strafrechtsänderungsgesetz. Vom 4. August 1953. (BGBl. 1953 I, 735)
1.24.7
Anordnung des Bundespräsidenten über die Dienstflagge der Seestreitkräfte der Bundeswehr. Vom 25. Mai 1956. (BGBl. 1956 I, 447)
1.24.8
Viertes Strafrechtsänderungsgesetz. Vom 11. Juni 1957. (BGBl. 1957 I, 597)
1.24.9
Erlaß über die Änderung des Erlasses über die Dienstsiegel. Vom 28. August 1957. (BGBl. 1957 I, 1328)
1.24.10 Sechstes Strafrechtsänderungsgesetz. Vom 30. Juni 1960. (BGBl. 1960 I, 478) 1.24.11 Erlaß zur Ausführung der Anordnung über die deutschen Flaggen. Vom 14. April 1964. (BGBl. 1964 I, 285) 1.24.12 Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz). Vom 5. August 1964. (BGBl. 1964 I, 593) 1.24.13 Anordnung über die Stiftung der Truppenfahnen für die Bundeswehr. Vom 18. September 1964. (BGBl. 1964 I, 817) 1.24.14 Achtes Strafrechtsänderungsgesetz. Vom 25. Juli 1968. (BGBl. 1968 I, 741) 1.24.15 Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts. Vom 25. Juni 1969. (BGBl. 1969 I, 645) 1.24.16 Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts. Vom 4. Juli 1969. (BGBl. 1969 I, 717) 1.24.17 Viertes Gesetz zur Reform des Strafrechts. Vom 23. November 1973. (BGBl. 1973 I, 1725) 1.24.18 Einführungsgesetz zum StGB. Vom 2. März 1974. (BGBl. 1974 I, 469) 1.24.19 Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG). Vom 9. Dezember 1974. (BGBl. 1974 I, 3393) 1.24.20 Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste (Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz – IuKDG). Vom 22. Juli 1997. (BGBl. 1997 I, 1870) 1.24.21 Bekanntmachung der Neufassung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Vom 17. Mai 2002. (BGBl. 2002 II, 1054) 1.25
Amtsblatt des Alliierten Kontrollrates
1.25.1
Proklamation Nr. 1. Aufstellung des Kontrollrats (vom 30. August 1945). (KRABl. 1945, 4)
1.25.2
Kontrollratsgesetz Nr. 1. Aufhebung von Nazi-Gesetzen (vom 20. September 1945). (KRABl. 1945, 6)
1.25.3
Kontrollratsgesetz Nr. 11. Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts (vom 30. Januar 1946). (KRABl. 1946, 55)
1.25.4
Kontrollratsgesetz Nr. 55. Aufhebung von Vorschriften auf dem Gebiet des Strafrechts (vom 20. Juni 1947). (KRABl. 1947, 284)
2.
Materialien, Drucksachen, Parlamentaria und Begründungen
2.1
Materialien zur Strafrechtsreform. 15 Bände, Bonn 1954–1962.
388
Anhang
2.2
Entstehung des Strafgesetzbuchs, herausgegeben von Werner Schubert und Thomas Vormbaum, Kommissionsprotokolle und Entwürfe
2.2.1
Bd. 1: 1869, Baden-Baden 2002. (Entstehungsgeschichte des Strafgesetzbuches, Bd. 1)
2.2.2
Bd. 2. 1870, Berlin 2004. (Entstehungsgeschichte des Strafgesetzbuches, Bd. 2)
2.3
Kodifikationsgeschichte Strafrecht, herausgegeben von Werner Schubert
2.3.1
Bd. 1: Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund vom Juli 1869 und Motive zu diesem Entwurf, Frankfurt a.M. 1992. (Kodifikationsgeschichte, Bd. 1)
2.3.2
Bd. 2: Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund. Entwurf vom 14.2.1870 (Reichstagsvorlage), Frankfurt a.M. 1992. (Kodifikationsgeschichte, Bd. 2)
2.3.3
Bd. 3: Verhandlungen des Bundestags und Reichstags des Norddeutschen Bundes über den Entwurf eines Strafgesetzbuches, Frankfurt a.M. 1992. (Kodifikationsgeschichte, Bd. 3)
2.4
Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission. 14 Bände und 1 Registerband, Bonn 1956–1960.
2.5
Sammlung Sämtlicher Drucksachen der Zweiten Kammer (Drucks. II. Kammer) (zit. nach Wahlperiode, laufender Nummer und Seitenzahl)
2.6
Stenographische Berichte des Reichstages (Sten. Ber.) (zit. nach Jahr, Bandnummer und Seitenzahl)
2.7
Stenographische Berichte des Bundestages (Sten. Ber.) (zit. nach Jahr, Sitzung und Seitenzahl)
2.8
Protokolle der Sitzungen des Sonderausschusses des Bundestages zur Großen Strafrechtskommission (BT-SondA) (zitiert nach Wahlperiode und Seitenzahl).
2.9
Drucksachen des Deutschen Bundestags (Bundestagsdrucksache) (zit. nach Wahlperiode, laufender Nummer und Seitenzahl)
2.9.1
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches (Strafrechtsänderungsgesetz 1950) nebst Begründung, Bundestagsdrucksache I/1307, Bonn 1950.
2.9.2
Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB) E 1962 mit Begründung, Bundestagsdrucksache IV/650, Bonn 1962.
2.9.3
Entwurf eines Achten Strafrechtsänderungsgesetzes mit Begründung, Bundestagsdrucksache V/898, Bonn 1966.
2.9.4
Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches V/2860, Bonn 1968.
2.9.5
Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste (Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz – IuKDG) XIII/7385, Berlin 1997.
Literatur- und Quellenverzeichnis
389
2.9.6
Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Sevim Da�delen, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. XVII/8134, Berlin 2011.
2.10
Drucksachen des Hessischen Landtages (zit. nach Abteilung, Wahlperiode, laufender Nummer und Seitenzahl)
2.11
Avrupa Birli�i Uyum Yasa Paketleri, herausgegeben vom Generalsekretariat des Ministerrats der Türkischen Republik für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union (T.C. Ba�bakanl�k Avrupa Birli�i Genel Sekreterli�i), Ankara 2007.
2.12
Zabit Ceridesi (Parlamentszeitschrift)
2.12.1
Z.C. vom 11.6.1936, Bd. 1, 5. Legislaturperiode (Devre), 78. Zusammenkunft (�çtima), Reihen-Nummer (S�ra Say�s�) 250.
2.12.2
Z.C. vom 29.6.1938, Bd. 2, 5. Legislaturperiode (Devre), 83. Zusammenkunft (�çtima) 83, Reihen-Nummer (S�ra Say�s�) 320.
2.13
Türkiye Büyük Millet Meclisi Tutanak Dergisi (Parlamentszeitschrift)
2.13.1
T.B.M.M. Tutanak Dergisi 18.9.1946, Bd. 1, 8. Legislaturperiode (Devre), 17. Zusammenkunft (Birle�im), Reihen-Nummer (S�ra Say�s�) 50.
2.13.2
T.B.M.M. Tutanak Dergisi vom 1.8.2002, Bd. 101, 21. Legislaturperiode (Dönem), 4. Legislaturjahr (Yasama Y�l�), 124. Zusammenkunft (Birle�im), Reihen-Nummer (S�ra Say�s�) 890.
2.13.3
T.B.M.M. Tutanak Dergisi vom 2.8.2002, Bd. 102, 21. Legislaturperiode (Dönem), 4. Legislaturjahr (Yasama Y�l�), 125. Zusammenkunft (Birle�im), 3. Sitzung (Oturum).
2.13.4
T.B.M.M. Tutanak Dergisi vom 30.7.2003, Bd. 25, 22. Legislaturperiode (Dönem), 1. Legislaturjahr (Yasama Y�l�), 113. Zusammenkunft (Birle�im), Reihen-Nummer (S�ra Say�s�) 262.
2.14
Türkiye Cumhuriyeti Millî Birlik Komitesi Genel Kurul Toplant�s� (Generalversammlung des Komitees für Nationale Einheit)
2.14.1
Millî Birlik Komitesi Genel Kurul Toplant�s� vom 5.1.1961, 71. Zusammenkunft (Birle�im), 3. Sitzung (Oturum).
3.
Statistiken
3.1
Kriminalstatistik für das Deutsche Reich der Jahre 1882 ff., aus: Statistik des Deutschen Reichs
3.2
Statistik der Bundesrepublik Deutschland der Jahre 1950 ff. (Bde. 110, 129, 158, 172, 210, 229 und 251)
3.3
Statistisches Bundesamt
3.3.1
Rechtspflegestatistik der Jahre 1960 ff., aus der Fachserie A Bevölkerung und Kultur
4
4
Die Zabit Ceridesi (Z.C.) ist der begriffliche Vorläufer der Parlamentszeitschrift Türkiye Büyük Millet Meclisi Tutanak Dergisi (T.B.M.M. Tutanak Dergisi).
390
Anhang
3.3.2
Strafverfolgungsstatistik (Ausführliche Ergebnisse) der Jahre 1974 ff., vom Statistischen Bundesamt
3.3.3
Bevölkerung nach dem Gebietsstand (Gesamtdeutschland, früheres Bundesgebiet und neue Länder und Berlin-Ost) (Lange Reihe), abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Bevoelke rung/lrbev03.html (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
3.4
Off-Site-Files zur Strafverfolgungsstatistik (EVAS 24311) der Jahre 1995 ff., von den Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder
3.5
Türkische Gesellschaft für Statistiken (Türkiye �statistik Kurumu)5
3.5.1
Mahkûmlar �statisti�i (Ne�riyat No. 170, 214 und 405)
3.5.2
Hükümlüler �statisti�i (Ne�riyat No. 362)
3.5.3
Adalet �statisti�i (Ne�riyat No. 422)
3.5.4
Adalet �statistikleri (Yay�n No. 601)
3.5.5
Nüfus, y�ll�k nüfus art�� h�z� ve y�l ortas� nüfus tahmini, 1927–2000. Abrufbar unter: http://www.tuik.gov.tr (temel istatistikler, nüfüs ve demografi) (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
3.5.6
Adrese dayal� nüfus kay�t sistemi (ADNKS) veri taban�, 2007–2012. Abrufbar unter: http://tuikapp.tuik.gov.tr/adnksdagitapp/adnks.zul (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
3.6
Statistiken des Türkischen Amts für Justizstatistiken (Adli Sicil ve �statistik Genel Müdürlü�ü) der Jahre 1986 ff., abrufbar unter: http://www.adlisicil.ada let.gov.tr/istatistikler/1996/ac_cik.htm (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
4.
Internetressourcen
3.1
Türkei Fortschrittsbericht 2006, Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Brüssel 2006, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_ documents/2006/Nov/tr_sec_1390_de.pdf (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
3.2
Background Information on Freedom of Speech, Cases on Freedom of Speech, Brüssel 2006, abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/meet docs/2004_2009/documents/fd/d-tr20060425_07/d-tr20060425_07en.pdf (zuletzt abgerufen: Juli 2013) (Freedom of Speech)
3.3
Milliyetci Hareket Partisi Ara�t�rma Geli�tirme Merkezi 2006 Y�l� �lerleme Raporu ve Strateji Belgesi (Jahresbericht der MHP 2006), abrufbar unter: http://www.mhp.org.tr/usr_img/_mhp2007/files/raporlar/avrupabirligi/2006ir pdolumsuz.doc (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
3.4
Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri (T.B.M.M. Adalet Komisyonunca Kabul Edilen Madde Gerekçeleri), abrufbar auf der Homepage des türkischen Justiz-
5
Die Türkische Gesellschaft für Statistiken hat ihren Namen im Namen im Jahr 2005 erhalten. Vorher hatte die Einrichtung unterschiedliche Namen: bis 1930 Merkezi �statistik Dairesi, bis 1945 �statistik Umum Müdürlü�ü, bis 1952 �statistik Genel Müdürlü�ü, bis 1962 erneut �statistik Umum Müdürlü�ü. Das im Jahre 1962 gegründete Institut für Statistiken (Devlet �statistik Enstitüsü) tritt in den darauffolgenden Jahren an die Stelle der Vorläufer.
Literatur- und Quellenverzeichnis
391
ministeriums unter: www.ceza-bb.adalet.gov.tr/mevzuat/maddegerekce.doc (zuletzt abgerufen: Juli 2013) (Türk Ceza Kanunu Madde Gerekçeleri) 3.5
Kahramanmara� Milletvekili Veysi Kaynak’�n; Türk Ceza Kanununun Baz� Maddelerinde De�i�iklik Yap�lmas�na Dair Kanun Teklifi ile ��rnak Milletvekili Hasip Kaplan’�n; Türk Ceza Kanununda De�i�iklik Yap�lmas�na �li�kin Kanun Teklifi ve Avrupa Birli�i Uyum ve Adalet Komisyonu Raporu (2/210, 2/27), T.B.M.M. 23. Legislaturperiode (Dönem), 2. Legislaturjahr (Yasama Y�l�), Reihen-Nummer (S�ra Say�s�) 262, abrufbar auf der T.B.M.M.-Homepage unter: http://www.tbmm.gov.tr/sirasayi/donem23/yil01/ss215.pdf (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
3.5.1
5759 Say�l� Kanunun Madde Gerekçeleri: S. 1–5.
3.5.2
Avrupa Birli�i Uyum Komisyonu Raporu: S. 6–10.
3.5.3
Adalet Komisyonu Raporu: S. 11–23.
3.6
European Court of Human Rights. Annual Report 2008 (Jahresbericht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte 2008), abrufbar unter: http:// www.echr.coe.int/Documents/Annual_report_2008_ENG.pdf (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
3.7
Türk Ceza Kanunu 301. Madde ve AB Uygulamalar�, Ankara 2008, herausgegeben von der Großen Nationalversammlung (TBMM), abrufbar unter: http://www.setav.org/ups/dosya/21720.pdf (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
3.8
Amnesty International. Türkei: Artikel 301: Das Gesetz über die „Verunglimpfung des Türkentums“ ist eine Beleidigung der Freiheit der Meinungsäußerung. AI-Index: EUR 44/003/2006, abrufbar unter: http://www2.amne sty.de/internet/deall.nsf/51a43250d61caccfc1256aa1003d7d38/ED0453F26B 07B33EC12571540043E990/$FILE/tuerkei443306.pdf (zuletzt abgerufen: Juli 2013)
392
Anhang
B) Literaturverzeichnis ACAR, �smail: Osmanl� Kanunnameleri Ve Islam Ceza Hukuku I, in: Dokuz Eylül Üniverstitesi �lahiyat Fakültesi Dergisi 2001 (Nr. XIII–XIV), 53–68. AKARSU, Veli: Türk Bayra�i Ve Alt�n Oran �li�kisi, in: Erciyes Üniversitesi Fen Bilimleri Enstitüsü Dergisi 2009, 437–448. AKMAN, Mehmet: Osmanl� Devleti’nde Ceza Yarg�lamas�, Istanbul 2004. AKMAN, Nurettin: Yönetimde �ç Güvenlik ve Jandarma, Ankara 1991 (Diss.). (Jandarma) AKYAZI, Güner (u.a.) (Hrsg.): Türkiye’de Dünden Bugüne Af, Ankara 2000. ALACAKAPTAN, U�ur: Suçun Unsurlar�, Ankara 1961. ALACAKAPTAN, U�ur: Devletin Güvenli�ini �lgilendiren Suçlar, in: Ceza Hukuku Reformu Sempozyumu, Istanbul 2001, S. 651–654. (Devletin Güvenli�i) ALACAKAPTAN, U�ur: Ceza Hukukunda Tamamlay�c� Kurallar Ya Da Öteki Ceza Hukuku, in: Öztürk, Bahri (Hrsg.), Hukuk Devletinde Suç Yarat�lmas�n�n ve Suçun Ayd�nlat�lmas�n�n S�n�rlar� Sempozyumu, Istanbul 2008, S. 13–48. (Ceza Hukukunda Tamamlay�c� Kurallar) ALGAN, Bülent: The Brand New Version of Article 301 of Turkish Penal Code and the Future of Freedom of Expression Cases in Turkey, in: German Law Journal 2008, 2237–2251. (New Version of Article 301 of Turkish Penal Code) ALTERNATIVKOMMENTAR, Kommentar zum Strafgesetzbuch: – Wassermann, Rudolf (Hrsg.), Band 1, §§ 1–21, Neuwied 1990. – Wassermann, Rudolf (Hrsg.), Band 3, §§ 80–145d, Neuwied 1986. AMELUNG, Knut: Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der „Sozialschädlichkeit“ des Verbrechens, Frankfurt a.M. 1972 (Diss.). (Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft) ANGELOW, Jürgen: Der Deutsche Bund, Darmstadt 2003. V.
ARETIN, Karl Otmar Freiherr von: Metternich-Winneburg, Clemens Graf von, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 236–243 (Onlinefassung, abrufbar unter: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118581465.html [zuletzt abgerufen: Juli 2013]).
ARIKAN, Baha: Hakaret Suçlar�nda �htilat Ve Aleniyet, in: Ankara Barosu Dergisi, 1954, 2–7. ARSLAN, Emre: Der Mythos der Nation im transnationalen Raum. Türkische Graue Wölfe in Deutschland, Wiesbaden 2009 (Diss.). ARSLAN, Nejdet: Meinungsfreiheit im Lichte der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, in: Öztürk, Bahri (Hrsg.), Hukuk Devletinde Suç Yarat�lmas�n�n ve Suçun Ayd�nlat�lmas�n�n S�n�rlar� Sempozyumu, Istanbul 2008, S. 281–288. (Meinungsfreiheit) ARTUK, Mehmet Emin: Türklü�ü, Cumhuriyeti, Devletin Kurum Ve Organlar�n� A�a��lama Suçu (5237 Say�l� TCK m. 301), in: Türk Barolar Birli�i Dergisi 2007
Literatur und Quellenverzeichnis
$578.
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