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German Pages 218 [220] Year 1968
UNIVERSITÄT HAMBURG
Abhandlungen aus dem
Gebiet der Auslandskunde Band 71 Reihe B (Völkerkunde, Kulturgeschichte und Sprachen) Band 41
Das Amerikabild im russischen Schrifttum bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von
Dieter Boden
HAMBURG CRAM, DE GRUYTER & CO. 1968
Das Amerikabild im russischen Schrifttum zum Ende des 19. Jahrhunderts von
Dieter Boden
HAMBURG CRAM, DE G R U Y T E R & CO. 1968
Die „Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde" (Fortsetzung der Abhandlungen des Hamburgischen Kolonialinstituts) erscheinen in folgenden Reihen: A. Rechts- und Staatswissenschaften (auch politische Geschichte umfassend), B. Völkerkunde, Kulturgeschichte und Sprachen, C. Naturwissenschaften, D. Medizin und Veterinärmedizin. Zuschriften und Sendungen sind zu richten an die Schriftleitung
Hamburg 13 Universität
Gesamtherstellung: J. J.Augustin, Glückstadt
Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit geht auf eine Anregung meines verehrten Lehrers, Herrn Professor Dr. Dietrich Gerhardt zurück. Seiner vielfältigen und geduldigen Förderung gedenke ich mit großer Dankbarkeit. Der Druck in der Reihe der von der Universität Hamburg herausgegebenen „Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde" wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung von Herrn Professor Dr. Waither Schubring, dessen kritischer Anteilnahme als Redaktor die Arbeit manchen Gewinn verdankt. Hamburg 1968
Dieter
Boden
Inhalts verzeichni s EINLEITUNG
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I. A N F Ä N G E E I N E S R U S S I S C H E N A M E R I K A B I L D E S A) Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert 1. Erste Nachrichten 2. Die Wirkung der Kosmographien B) Die russische „Entdeckung" Amerikas 1. Die Blickrichtung auf Alaska 2. Zunahme der allgemeinen Kenntnisse über Amerika C) Amerika-Sujets in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts 1. Die Wirkung des westeuropäischen Exotismus a) Einflüsse der französischen Literatur b) Der Amerika-Exotismus in russischer Übersetzungsliteratur c) Krylovs Oper „Die Amerikaner" d) Anfänge einer russischen Reise- und Abenteuerliteratur über Amerika 2. Die Wirkung des Abbé Raynal a) Antispanische Tendenzen in russischen Literaturwerken des 18. Jahrhunderts b) Raynals „Histoire philosophique" c) Einflüsse auf die zeitgenössische russische Literatur d) Einflüsse auf Radisàev e) Nachwirkungen Raynals im 19. Jahrhundert II. D I E W I R K U N G D E R A M E R I K A N I S C H E N U N A B H Ä N G I G K E I T 1. Die Reaktion der russischen Publizistik 2. Die Amerikareise F. V. K a r ï a v i n s 3. Die Glorifizierung Franklins und Washingtons 4. Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung im Werke Radis ievs 5. Die Bedeutung der amerikanischen Revolution für das russische Amerikabild 6. Die Glorifizierung Washingtons und Franklins im Schrifttum des ig. Jahrhunderts . .
7 8 11 13
14 16 19 20 21 22 24 26 29
31 33 34 38 41 45
III. D I E A N F Ä N G E E I N E R R U S S I S C H E N R E I S E L I T E R A T U R Ü B E R D I E V E R E I N I G T E N STAATEN A ) Die Voraussetzungen 1. Die amerikafreundliche Politik unter Alexander 1 2. Berichte über Nordamerika in der russischen Presse zu Anfang des 19. Jahrhunderts.
49 50
B) P. P. Svinins „Malerische Reise durch Nordamerika" 1. Svinins Stellung im literarischen Leben der Zeit 2. Svinins Amerikaschriften 3. Allgemeiner Charakter des Svininschen Amerikaberichtes 4. Einzelzüge der Darstellung 5. Svinins Kritik an den Vereinigten Staaten 6. Bedeutung und Wirkung des Svininschen Amerikaberichtes
53 57 60 62 67 69
C) Fortsetzungen der Tradition Svinins 1. Das Wirken A. G. Evstaf'evs und P. I. Poletikas 2. Die Amerikaberichte des „Duch zurnalov"
73 76
VII
IV. DAS A M E R I K A B I L D IM SCHRIFTTUM D E R R U S S I S C H E N ROMANTIK A) Die Dekabristen 1. Verfassungsprojekte der Dekabristen und ihre Quellen 2. Die Dekabristen als Propagandisten einer russischen Expansion in Nordwestamerika . 3. Bedeutung und Wirkung des Amerikabildes der Dekabristen
79 82 85
B) Die romantische Dichtung 1. Allgemeine Züge ihres Amerikabildes 87 2. Die Wirkung Chateaubriands 93 3. Die Wirkung J . F. Coopers a) Einflüsse in der romantischen Epoche 96 b) Die spätere Wirkung Coopers 101 4. Die Wirkung W. Irvings 104 5. Sujets Chateaubriands, Coopers und Irvings in der romantischen Amerika-Dichtung . 107 V. DAS R U S S I S C H E A M E R I K A B I L D IN DEN G E I S T I G E N A U S E I N A N D E R S E T Z U N GEN S E I T D E N 1830er J A H R E N M
A) Anfänge einer neuen Debatte im Schrifttum bis 1835 B) Die Amerika-Diskussion um Tocqueville 1. Die Wirkung der „Demokratie in Amerika" 2. Puschkins „ J o h n Tanner" 3. Belinskij. Herzens „William Penn" 4. Die Slavophilen a) A. Chomjakov, K. Aksakov und I. Kireevskij b) Fürst V. F. Odoevskij und Pogodin
116 120 124 127 130
C) Die Auseinandersetzung der Radikalen mit Nordamerika seit den 1840er Jahren 1. Der Ausgangspunkt 2. A. I. Herzen a) Der allgemeine Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten . . b) Ihr zeitlicher Ablauf c) Herzens Amerikabild 3. Die Sozialrevolutionäre a) Die Petraschevzen b) Die Negerfrage. Wirkung des „Onkel T o m " c) Die radikalen Literaturkritiker d) Die Radikalen nach Cernysevskij: Zajcev und Lavrov VI. DAS A M E R I K A B I L D IN R U S S I S C H E R V E R S - U N D P R O S A L I T E R A T U R DER JAHRHUNDERTMITTE
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132 133 134 140 142 144 146 149
SEIT
A) Äußere Voraussetzungen 1. Stand der russisch-amerikanischen Beziehungen 152 2. Amerikanische Literatur in Rußland und russische Reiseberichte über die Vereinigten Staaten 153 3. Die konservative Publizistik 155 B) Widerspiegelung von Zeitereignissen in der russischen Literatur der 1850er bis 1870er Jahre 1. Krimkrieg und Sezessionskrieg 158 2. Neger-und Amerikanergestalten in der Literatur 160 C) Das Weiterwirken des romantischen Amerikabildes 1. Ansätze zur Parodie im Werke Goniarovs 2. Die Wirkung Bret Hartes und Mayne Reids 3. Das Motiv der „Flucht nach Amerika"
VIII
163 164 165
D) Nordamerika in der Sicht I. S. Turgenevs
167
E) Amerika in den großen Romanen Dostoevskijs
169
F) Der Amerikabericht G. A. Maitets 1. Russische Kommunen in Nordamerika während der 1870er Jahre 2. G. A. Maitet a) Seine Amerikaschriften b) Bedeutung und Wirkung von Maitets Amerikabild VII. DAS A M E R I K A B I L D AM E N D E D E S 19. J A H R H U N D E R T S V I I I . ZUSAMMENFASSUNG
173 176 182 184 189
ANHANG Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen Bibliographie über die verwendete Quellen- und Sekundärliteratur Register der Personennamen
193 194 205
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EINLEITUNG i
„Das Verhältnis von Nationen zueinander", schreibt F. Barghoorn, „bietet etwa wie das einzelner Menschen einen verwirrenden und sich stetig wandelnden Komplex von Mythos und Wirklichkeit 1 )." Die Geschichte der Anfänge und Entwicklungen des russischen Amerikabildes ließe sich in diesen Sätzen treffend resümieren. Ihre Einzelphasen fließen zu einem fortwährenden organischen Prozeß zusammen, dessen Auswirkungen bis in die neueste Zeit hinein spürbar sind. Die vorliegende Studie hat es sich zum Ziel gesetzt, einen bestimmten Bereich dieses Komplexes aufzuhellen, indem sie die Äußerungen des russischen Schrifttums über Nordamerika von ersten Anfängen im 16./17. Jahrhundert bis in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts einer kritischen Untersuchung unterwirft. Sie wäre damit Teil einer umfassenderen Darstellung der Geschichte russisch-amerikanischer Geistesbeziehungen, die jedoch bis heute ungeschrieben ist. Erst die Ereignisse des zweiten Weltkrieges haben dauerhaft bewirkt, daß man dem historischen Verlauf der Beziehungen zwischen Nordamerika und Rußland nachzugehen begann. Ein derartiges systematisches Interesse läßt sich sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der Sowjetunion bis zum Ende der 1930er Jahre zurückverfolgen 2 ). Indessen tragen viele der damaligen Veröffentlichungen allzu offensichtlich den Stempel eines zeitbedingten Engagements. Es mag überaus bezeichnend für den augenblicklichen Zustand sein, wenn die Historiker bei der Untersuchung der frühesten russisch-amerikanischen Kontakte auch heute noch weitgehend von einer Studie abhängig sind, die bereits im Jahre 1906 entstand 3 ). Auch in der neueren sowjetischen Fachliteratur wird mit Bedauern vermerkt, daß die Geschichte der russisch-amerikanischen Wechselbeziehungen unzureichend erfaßt sei4). Selbst an Einzelstudien zu diesem Fragenkreis herrscht ein auffallender Mangel. Die wenigen Versuche, die bisher von westlichen Autoren ausgeführt wurden, leiden unter verschiedensten Unzulänglichkeiten. A. Tarsaidzes „Czars and Presidents" ist eher als ein Feuilleton von Anekdoten denn als eine fundierte wissenschaftliche Analyse zu betrachten 6 ). Die Arbeit des F . C. Barghoorn, „ T h e Soviet Image of the United States" (1950), S. 3 : „ T h e attitudes of nations toward one another — somewhat like those of individuals — present a bewildering and ever changing complex of myth and reality." 2 ) Seit Juli 1939 veröffentlichte A . Yarmolinsky im „Bulletin of the N e w Y o r k Public L i b r a r y " seine „Studies in Russian-Americana"; ein J a h r zuvor erschien A . M. Babeys Dissertation „Americans in Russia (1776—1917)". In der Sowjetunion ging der Anstoß hauptsächlich von der Geschichtswissenschaft aus. Zunächst richtete man die Aufmerksamkeit auf die früheren russischen Kolonien in Nordwestamerika. Bereits 1 9 2 4 hatte sich L . S. Berg mit den Bering-Expeditionen befaßt („Otkrytie K a m Catki i ekspedicii Beringa 1725—I742gg."; Neuauflagen 1 9 3 5 , 1946); 1939 widmete sich S. B . Okun' der „Russisch-Amerikanischen Kompagnie" („Rossijsko-amerikanskaja kompanija"); im selben J a h r erschien das Standardwerk von M. M. Malkin über die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland während des Sezessionskrieges („Grazdanskaja vojna v S S A i carskaja Rossija"). — Z u den genauen bibliographischen Angaben siehe jeweils den Anhang dieser Arbeit. 3 ) J . Hildt, „ E a r l y Diplomatie Negotiations of the United States with R u s s i a " ; dazu vgl. die jüngste Würdigung bei N . N . Bolchovitinov, „Stanovlenie russko-amerikanskich otnoienij ( 1 7 7 5 - 1 8 1 5 ) " (1966), S. 8. 4
) Bolchovitinov, op. cit., S. j f . , 10, 2 1 . ) „Czars and Presidents. The Story of a Forgotten Friendship" (1958).
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deutschen Historikers E . Hölzle über „Aufbruch und Begegnung" Amerikas und Rußlands ist namentlich durch ihren reichen bibliographischen Anhang als Einführung wertvoll. Von schwankender Zuverlässigkeit sind jedoch jene Partien, in denen sich Hölzle mit den geistesgeschichtlichen und literarischen Wechselbeziehungen zwischen beiden Ländern beschäftigt 6 ). Ausführlicher dargestellt sind die Zusammenhänge der Ideengeschichte in einem grundlegenden Buch des Amerikaners M. Laserson, das die Einwirkung Amerikas auf Rußland im Zeitraum zwischen 1784 und 1917 untersucht. Auch Laserson sind jedoch Flüchtigkeiten unterlaufen; zudem ist seine Arbeit von der Atmosphäre einer Zeit gezeichnet, die in bewußter Opposition zu der antiamerikanischen Ausrichtung der damaligen sowjetischen Geschichtsund Literaturwissenschaft auftrat 7 ). Von V. Kiparsky stammt eine der wenigen Rahmenuntersuchungen, die dem Amerikabild der russischen Literatur außerhalb der Sowjetunion bislang zugedacht worden sind8). Kiparsky ist der Hinweis auf manches vordem unbeachtete Material zu danken. In seinem Buch ist jedoch wiederum nur ein bestimmter Teilaspekt des Themas berührt. Im übrigen sind die von ihm konstruierten Verbindungslinien nicht immer überzeugend belegt. Auch von Fehlern ist Kiparskys Werk leider nicht frei 9 .) Dagegen ist der hohe dokumentarische Wert einer von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler A. Yarmolinsky verfaßten Untersuchung zu den Anfängen des russischen Amerikabildes unbestritten. Auch von sowjetischer Seite wurde die Kompetenz dieser Studie mehrfach gewürdigt 10 ). Außer Yarmolinsky und Kiparsky haben westliche Verfasser das Thema des russischen Amerikabildes höchstens im Zusammenhang mit einzelnen Schriftstellerpersönlichkeiten, wie Radiäcev, Puschkin oder Turgenev aufgegriffen. Auch solche Initiativen gingen zumeist von der Absicht aus, die Darstellung gewisser sowjetischer Standardinterpretationen zurechtzurücken. In dieser Hinsicht kam vor allem den Studien zum Amerikabild Herzens und der nachfolgenden Sozialrevolutionäre Bedeutung zu. D. Hechts 1947 erschienene Untersuchung „Russian Radicals Look to America" kann das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, eine maßgebliche Orientierung der russischen Radikalen am Vorbild der Vereinigten Staaten erstmals detailliert nachgewiesen zu haben. Hecht, Laserson und einige andere amerikanische Gelehrte veröffentlichten ihre Arbeiten zuerst in den 1940er Jahren, als sich im Gefolge der Weltkriegsereignisse das Interesse einer breiten Öffentlichkeit auf das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion konzentrierte. Damals hatte soeben auch die sowjetische Wissenschaft das Gebiet der russisch-amerikanischen Geistesbeziehungen für sich erschlossen. Ihre Interpretationen, die im Laufe von nur wenigen Jahren abrupten Schwankungen unterworfen waren, schienen vornehmlich von bestimmten Erfordernissen der Tagespolitik auszugehen. Unter den Auspizien der Kriegskoalition waren die sowjetischen Forscher zunächst bemüht, nach Material zum Beleg einer „historischen Freundschaft" mit den Vereinigten Staaten zu e ) „Rußland und Europa. Aufbruch und Begegnung zweier Weltmächte" ( 1 9 5 3 ) ; zu einigen Unstimmigkeiten bei Hölzle vgl. die Rezension von A . Dallin in A S E E R X V I (1957), S. 402—3.
' ) „ T h e American Impact on Russia — Diplomatie and Ideological ( 1 7 8 4 — 1 9 1 7 ) " ( 1 9 5 0 ; 1 9 6 2 ; in dieser Arbeit wird stets die erste Ausgabe zitiert). Sachliche Unrichtigkeiten bei Laserson kritisierte neuerlich Bolchovitinov, op. cit., S. 10. 8 ) „English and American Characters in Russian Fiction" (1964); siehe dazu die Besprechung von E . Bristol in S E E J I X (1965), 4, S. 4 4 5 - 7 . 9 ) Kiparsky, op. cit., S. 1 1 5 . A n dieser Stelle macht der Autor Angaben zum Amerikabericht P. Svinins. A u s seinen Ausführungen geht jedoch unzweifelhaft hervor, daß ihm in Wirklichkeit das Werk und die Biographie eines anderen russischen Amerikareisenden, P. Poletika, vorlagen, die er unter dem Namen Svinins abhandelt. 10 ) Yarmolinskys „Studies in Russian-Americana" erschienen vom Juli 1939 bis J a n u a r 1943 im „Bull, of the N. Y . Publ. L i b r . " , 1943 außerdem als Einzelausgabe. Sowjetische Würdigungen vgl. bei L . S. Berg, „OCerki po istorii russkich geografifeskich otkrytij" (1949), S. 7 2 ; in letzter Zeit bei Bolchovitinov, op. cit., S. 10—11.
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fahnden. Der Erfolg solcher Anstrengungen zeigte sich in den Arbeiten A . I. Starcevs und M. M. Malkins, sowie in zahlreichen Zeitschriftenartikeln von N. Lazarev, B . Kameneckij, E . Eggert und anderen 11 ). In einer Studie mit dem vielsagenden Untertitel „die Wurzeln der historischen Freundschaft des amerikanischen und russischen Volkes" unternahm es Starcev 1942 erstmals, eine Gesamtdarstellung der geistesgeschichtlichen Einwirkungen Amerikas auf Rußland zu verfassen. Sie basierte vornehmlich auf einer literarischen Dokumentation und bot eine Fülle fruchtbarer Anregungen 12 ). Fragwürdig bleibt hingegen die absichtsvolle methodische Konzeption Starcevs und anderer damaliger Sowjetwissenschaftler: mit Bedacht wurden von ihnen ausschließlich solche Quellen ausgewertet, die eine wohlwollende Deutung des Themas erlaubten. Es kann daher kaum verwundern, wenn der für die russisch-amerikanischen Beziehungen besonders delikate Abschnitt vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Oktoberrevolution in solchen Darstellungen fast völlig übergangen wird. Dafür stößt man in den Ausführungen häufig auf eindringliche Beschwörungen einer althergebrachten Verbundenheit mit den Vereinigten Staaten. Im Zeichen der aufkommenden weltpolitischen Rivalität zu den U S A vollzog die sowjetische Interpretation seit 1946 einen radikalen Umschwung. Mit der gleichen Folgerichtigkeit wie zuvor, nur unter veränderten Prämissen, wurde nun eine traditionell amerikafeindliche Orientierung des russischen Geisteslebens postuliert und durch verschiedenste Zeugnisse des Schrifttums belegt. Indem man immer wieder bestimmte Äußerungen Radiäöevs, Puschkins, Belinskijs, Herzens, Cernyäevskijs, Korolenkos, Gor'kijs und Majakovskijs zur Auslegung heranzog, wurde beharrlich eine antiamerikanische Linie der russischen Literatur konstruiert. Zeugnisse, die dieser Linie nicht ohne weiteres einzugliedern waren, wurden nun bewußt ignoriert. In einer Reihe von populärwissenschaftlichen Kompilationen und zahllosen Einzelstudien fand die gezielte Polemik der sowjetischen Verfasser ihren Niederschlag 13 ). Mit besonderer Vehemenz verwahrte man sich gegen die Darstellungen jener westlichen Verfasser, die durch die Verwertung eines weniger selektiven Quellenmaterials zu gegenteiligen Schlüssen gelangt waren. Regelrechte Kontroversen entspannen sich über das Amerikabild Radiäievs sowie das der Sozialrevolutionäre um Herzen und CernySevskij. Noch im Jahre 1957 — nachdem die amerikafeindliche Kampagne bereits spürbar an Elan verloren hatte 14 ) — ließ sich S. A. Pokrovskij zu einem Protestpamphlet gegen die „Fälschung der Geschichte des russischen politischen Denkens in der zeitgenössischen reaktionären bourgeoisen Literatur" herbei, in dem er gegen jedes Unterstellen proamerikanischer Ansichten Stellung bezog 16 ). Pokrovskijs polemischer Hader mit dem „komparativistischen Geist" bestimmter westlicher Autoren übertrug sich weiter auf einen kürzlich veröffentlichten Artikel von E . G. Plimak 16 ). u
) Siehe unter diesen Namen in der Bibliographie.
12
) „ A m e r i k a i russkoe obsCestvo. Korni istoriCeskoj d r u i b y russkogo i amerikanskogo narodov", Taäkent 1942. Die erste Ausgabe ohne den zitierten Untertitel erschien im selben J a h r in Moskau; auf sie beziehen sich meine Zitate im folgenden. 13 ) Zu den Einzelstudien siehe die Angaben zu den betreffenden Kapiteln dieser Arbeit. Unter den Gesamtdarstellungen sind zu erwähnen:
V . A . Putincev, „Velikie russkie revoljucionnye demokraty o burzuaznoj Amerike" (1949) I. N . Uspenskij, „Russkie pisateli ob Amerike" ( 1 9 5 2 ) G. S. Ceremin, „Russkie pisateli 0 S S A " ( 1 9 5 2 ) N . Travulkin, „Russkie i sovetskie pisateli ob Amerike" (1953). 14 ) In der Sowjetliteratur riß die Polemik gegen die Vereinigten Staaten im Jahre 1 9 5 5 , dem J a h r der Genfer Konferenzen, schlagartig a b ; vgl. Kiparsky, op. cit., S. 8. 15 ) „Fal'sifikacija istorii russkoj politifeskoj mysli v sovremennoj reakcionnoj buriuaznoj literature". Die schwerfällige Argumentation P.s richtet sich namentlich gegen Lasersons und Hechts Ausführungen zu Radiäiev, den Dekabristen, Belinskij, Herzen und Cernyäevskij. le ) „ F a l ' s i f i k a c i j a . . . " , op. cit., S. 64 („komparativistskij duch"). Plimaks Schrift, die sich hauptsächlich mit den Beziehungen zwischen Radiäiev und Raynal auseinandersetzt, trägt den Titel „Zlokljuienija buriuaznoj komparativistiki"; erschienen in „Istorija S S S R " V I I (1963), 3, S. 1 8 3 - 2 1 3 .
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Auch heute noch stehen sowjetische Abhandlungen über das Amerikabild des russischen Schrifttums überwiegend im Zeichen einer Zweckdeutung, die dem Rahmen der marxistischleninistischen Geschichtsauslegung angepaßt ist17). Obwohl in neuester Zeit Anzeichen zu einer weniger dogmatischen Einstellung sichtbar geworden sind18), ist das Engagement der sowjetischen Literaturwissenschaft vorerst noch zu stark betont, als daß eine objektive Klärung der hier behandelten Zusammenhänge von dorther in näherer Zukunft zu erwarten wäre. Es sind Unterlagen darüber vorhanden, daß manches aufschlußreiche Material zur Geschichte des russischen Amerikabildes bis heute unveröffentlicht in sowjetischen Archiven zurückgehalten wird. Das mag darauf hinweisen, als wie heikel die Beschäftigung mit diesem Fragenkreis in der Sowjetunion nach wie vor angesehen wird. 2
Es liegt auf der Hand, daß die Einzelentwicklungen des russischen Amerikabildes oftmals erst aus dem größeren geistigen Zusammenhang der jeweiligen Epochen verständlich werden können. In den literarischen Dokumenten über Nordamerika spiegelt sich von Anfang an auch eine Stellungnahme der betreffenden Betrachter zu Problemen des eigenen Landes; aus der negativen oder positiven Bewertung Amerikas wird zumeist der geistige Standort der Autoren in ihrer Zeit ersichtlich. Man sollte sich gewiß davor hüten, diese Zeitbezogenheit der Zeugnisse über Gebühr zu bewerten, wie das von sowjetischen Forschern nicht selten versucht worden ist. Ebenso sinnentstellend müßte es jedoch sein, die Entwicklungen des russischen Amerikabildes völlig getrennt vom allgemeinen geietesgeschichtlichen Hintergrund der Epochen beurteilen zu wollen. Die Frage, ob überhaupt von einem definierbaren „Amerikabild" des russischen Schrifttums die Rede sein kann, ist hier durchaus legitim. Erst nach näherem Studium der Quellen wird man zu dem Ergebnis gelangen, daß in den Aussagen der Verfasser aus verschiedensten Epochen bestimmte Grundelemente und Grundhaltungen immer wiederkehren. Das methodische Prinzip einer Untersuchung muß darauf ausgerichtet sein, solchen Leitmotiven in einem möglichst umfassenden Bereich des russischen Schrifttums nachzugehen und sie zu fixieren. Erst von dorther lassen sich schließlich gewisse verallgemeinernde Feststellungen treffen. Die Bemühungen um eine Definition werden oftmals von der Fragestellung auszugehen haben, in welchem Maße die Amerikaurteile russischer Autoren von Affekten und anderen gefühlsbedingten Voreingenommenheiten gesteuert worden sind. Man wird in ihnen folglich manche jener typischen Züge auffinden, die ein Merkmal auch des westeuropäischen Schrifttums über Amerika darstellen 18 ). Die Auseinandersetzung mit Amerika begann für Rußland nachweislich lange vor einer unmittelbaren Berührung mit der Neuen Welt; sie vollzog sich, wie zunächst auch in Deutschland 20 ), vor allem über französische oder englische Vermittlung. Für die Bestimmung des russischen Amerikabildes ist es daher von wesentlichem Belang, welche konkreten Quellen auf 17 ) Dieser Tatbestand trifft auch für die Behandlung des südamerikanischen Themenkreises zu. Zum Beispiel rekonstruieren die Sowjetwissenschaftler L . J u . Slezkin („Rossija i vojna za nezavisimost' v Ispanskoj Amerike", M. 1964) und L . A . Sur („Rossija i Latinskaja A m e r i k a " , M. 1964) die Fäden einer alten kulturellen Verbundenheit zwischen Rußland und den ehemals spanischen oder portugiesischen Kolonien Südamerikas vordringlich zu dem Zweck, um eine durch ausgewählte zeitgenössische Zeugnisse belegte Sympathie der „fortschrittlichen" russischen Öffentlichkeit gegenüber den iberoamerikanischen Autonomiebestrebungen zu illustrieren. Als hervorragendes Beispiel dieser Haltung werden bei Slezkin und Sur immer wieder Äußerungen der Dekabristen zitiert. ls ) Insbesondere die gehaltvolle Arbeit Bolchovitinovs bietet dafür ein Beispiel, obwohl auch in sie der Affekt gegen die „spitzfindige Komparativistik" des Westens eingedrungen ist (op. cit., S. 267). M
) Zum Vergleich werden in dieser Arbeit vor allem Beispiele aus dem deutschen Schrifttum herangezogen, dessen Äußerungen über Amerika besonders eingehend untersucht worden sind. *•) Siehe R . Engelsing, „Deutschland und die Vereinigten Staaten im 19. J h . " in „ D i e Welt als Geschichte" X V I I I (1958), S. 138.
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seine Gestalt Einfluß genommen haben. Gerade hier ist von sowjetischen Interpreten beharrlich versucht worden, bestehende Zusammenhänge zu verschleiern oder gar zu verfälschen. Über die Frage der Wechselbeziehungen zwischen Radiäcev und dem Abbé Raynal kam es zu einer grundlegenden Kontroverse mit der westlichen Literaturwissenschaft, die bis in die neueste Zeit fortdauert 21 ). Eine leidenschaftslose Auseinandersetzung mit den hier behandelten Zusammenhängen wird sich allerdings kaum der Einsicht verschließen können, daß gewisse Schöpfungen westlicher Literaturen auf die Entwicklung des russischen Amerikabildes einen dauerhaften Einfluß ausgeübt haben. Diejenigen Kapitel der vorliegenden Arbeit, die die russische Reaktion auf Werke Raynals, Franklins, Tocquevilles und Beecher-Stowes nachzuzeichnen versuchen, möchten dieser Tatsache Rechnung tragen. Für den Bereich der russischen Belletristik war die bisher kaum zur Kenntnis gelangte Einwirkung Chateaubriands, J . F. Coopers, W. Irvings und F. Bret Hartes bedeutsam, die hier ebenfalls behandelt werden wird. Wenn diese Einflußlinien im Detail nicht erschöpfend erfaßt sind, so mag berücksichtigt werden, daß nur die für die Geschichte des russischen Amerikabildes relevanten Tatbestände festgehalten werden sollten. Es wäre sicherlich illusorisch, die Veränderungen des russischen Amerikabildes im Laufe der Geschichte bis in die feinsten Faserungen registrieren zu wollen. Die vorliegende Arbeit teilt zwangsläufig die Unzulänglichkeit aller ähnlichen Versuche, in denen es unternommen ist, aus dem komplexen Ganzen eines Schrifttums einen abgegrenzten Teilaspekt der Ideen- oder Motivgeschichte herauszuheben, eine Methode, die überdies dazu führen muß, die Literatur weitgehend nur außerliterarisch, nämlich als Dokument und Illustration zu betrachten 22 ). Es kann allein aus diesem Grunde kein Anspruch auf Vollständigkeit geltend gemacht werden. Man mag selbst die vorgenommene Auswahl des Stoffes als subjektiv bezeichnen, während doch stets der Gesichtspunkt vorangestellt wurde, durch die Einbeziehung verschiedenster Zeugnisse einen möglichst breiten Ausschnitt des Themas zu beleuchten. Indessen werden die Äußerungen des russischen Schrifttums über Amerika schon zum Ende des hier behandelten Zeitraums zu vielfältig und weitverzweigt, als daß sie noch lückenlos zu erfassen wären. Die scheinbar unsystematische Anlage dieser Arbeit erklärt sich aus dem Bemühen, die ungleichartigen Zonen des Schrifttums möglichst umfassend in die Betrachtung einzuschließen. Die Beispiele umspannen einen Bogen, der von der hohen Verslyrik bis zu den Niederungen der politischen Tagespublizistik reicht. Ein weiterer Abschnitt (Kap. III) widmet sich den bisher wenig beachteten Anfängen einer russischen Reiseliteratur über die Vereinigten Staaten. Vor allem zwischen den Bereichen des politischen Schrifttums und der reinen Belletristik sind die Wechselbeziehungen für das hier behandelte Thema zu intensiv, um die Beschränkung auf einen engeren Rahmen zu rechtfertigen. Gerade im literatur- und sozialkritischen Schrifttum formen sich viele jener Ansichten und Vorurteile, die für die Entwicklung des russischen Amerikabildes bestimmend geworden sind. Die Zäsur, die diese Arbeit zum Ende des 19. Jahrhunderts setzt, mag gleichfalls als willkürlich empfunden werden. Unverkennbar beginnt jedoch mit den Berichten Mactets, Korolenkos und Gor'kijs eine neue Phase in der Geschichte des russischen Amerikabildes, die durch eine Verstärkung des subjektiven Erlebnismoments und die Zunahme dogmatischer antiamerikanischer Affekte gekennzeichnet ist. Im Bereich der Belletristik war damit die Entstehung einer autobiographischen Erzählliteratur über die Vereinigten Staaten vorgezeichnet. Eine Untersuchung, die den divergierenden Linien des Amerikabildes in der Sowjetzeit nachzugehen versuchte, könnte sinnvollerweise hier einsetzen. 21 ) Siehe den erwähnten Artikel von Plimak (Anm. 16). Noch Bolchovitinov ist von der alten Polemik infiziert, wenn er gegen etwaige Entlehnungen Radis£evs bei R a y n a l eifert: „ E s gibt nichts Dümmeres und Gefährlicheres als einen solchen primitiven S t a n d p u n k t . " (op.cit., S. 120) 22 ) Zur Erörterung der hier angeschnittenen Beziehungen zwischen Literatur und Ideengeschichte siehe Wellek/Warren, „Theorie der L i t e r a t u r " (1966), S. 94.fi., bes. S. 96.
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Naturgemäß waren bei der Dokumentation dieser Arbeit erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden. Nicht alle Mängel gelang es vollkommen zu beseitigen. Im Verlaufe mehrerer kurzer Reisen in die Sowjetunion konnte der überwiegende Teil des erforderlichen Materials schließlich doch erreicht werden. Als besonders gewinnbringend erwies sich ein dreiwöchiger Aufenthalt in Leningrad und Moskau, der dem Verfasser zur Förderung seines Arbeitsvorhabens dankenswerterweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht wurde, nachdem zuvor zwei Bewerbungen um ein Austauschstipendium an die Leningrader Universität durch die sowjetischen Behörden abschlägig beschieden worden waren. Bei dieser Gelegenheit wurde dem Verfasser manche wertvolle Hilfe zuteil, für die er Lehrenden und Mitarbeitern namentlich der Leningrader literaturwissenschaftlichen Institute und Bibliotheken seinen Dank sagen möchte. Da es sich bei vielen der russischen Amerika-Zeugnisse um schwer zugängliches Quellenmaterial handelt, das bisher nur lückenhaft oder unzuverlässig bekannt ist, wurde auf eine exakte Dokumentation hier großer Wert gelegt. Der voluminöse, bisweilen etwas „fußlastige" Apparat von Anmerkungen ist diesem Umstand zuzuschreiben. Daneben sollte in den Fußnoten, soweit möglich und sinnvoll, eine kritische Auseinandersetzung mit den bisher vorliegenden sowjetischen Interpretationen zu den betreffenden Einzelfragen aufgenommen werden.
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I. ANFÄNGE EINES RUSSISCHEN AMERIKABILDES A) Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert I. E r s t e
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L a n g e vor seiner E n t d e c k u n g ist Amerika unter den Völkern Europas als Idee, als Geisteszustand lebendig gewesen 1 ). A u c h nach der Kenntnisnahme der Neuen W e l t dominierten im europäischen Amerikabild utopische Konzeptionen, die sich oftmals mit dem T r a u m v o n einem Verlorenen Paradies und einem Goldenen Zeitalter verbanden. Die E n t d e c k u n g Amerikas als realen Machtfaktors beginnt sich erst seit der nordamerikanischen Revolution v o n 1776 durchzusetzen. Der in den europäischen Anschauungen über die Neue W e l t seither sichtbar werdende Dualismus resultiert aus der Zerstörung der alten Legende, die einem neuen, zeitbezogenen Verständnis weichen mußte 2 ). Die Geschichte des russischen Amerikabildes ist unzweifelhaft in den größeren R a h m e n dieser gemeineuropäischen E n t w i c k l u n g e n einzugliedern. R u ß l a n d empfing die Nachricht v o n der E x i s t e n z Amerikas über Westeuropa. O b w o h l durch die E x p e d i t i o n S. Deznevs im Osten seit Mitte des 17. Jahrhunderts eine direkte Verbindung z u m amerikanischen K o n t i n e n t hergestellt war 3 ), stand die Auseinandersetzung R u ß l a n d s mit A m e r i k a auch während der folgenden Jahrhunderte g a n z im Zeichen der westlichen Vermittlung. B e v o r sich das russische S c h r i f t t u m z u m E n d e des 18. Jahrhunderts erstmals systematisch mit amerikanischen Ereignissen z u befassen begann, wurde das Bild über den neuen K o n t i nent lange Zeit v o n widersprüchlichen und phantastisch ausgemalten Berichten bestimmt. D a s R u ß l a n d des 16. und 17. Jahrhunderts bildet darin, auch im Vergleich zu den meisten seiner europäischen Nachbarn 4 ), k a u m eine auffallende A u s n a h m e , wenngleich im moskovitischen Zarenreich die Verbindungen zu A m e r i k a noch unzureichender, das geographische V o r stellungsvermögen über den neuentdeckten Erdteil noch begrenzter waren als in der Mehrzahl der übrigen europäischen Länder. Erst die Regierungszeit Peters des Großen, die generell die K o n f r o n t a t i o n mit der westlichen K u l t u r u n d Zivilisation einleitete, konnte die Grundlagen zu einer umfassenderen Auseinandersetzung schaffen 6 ). Die Nachrichten über A m e r i k a , die zuvor in die Isolation des moskovitischen Reiches eindrangen, h a t t e n zumeist abenteuerliche W e g e zurückzulegen. Z u m E n d e des 16. Jahrhunderts
*) Siehe G. Chinard, „The American Dream" in „Literary History of the United States" I (1948), S. 192; B. Fabian, „ A . de Tocquevilles Amerikabild" (1957), S. 90. 2 ) Eine Gesamtdarstellung der Geschichte des europäischen Amerikabildes ist mir nicht bekannt. Dieser Schluß läßt sich jedoch durch die Entwicklung in einzelnen europäischen Ländern, namentlich Frankreichs, belegen; siehe D. Echeverria, „Mirage in the West: A History of the French Image of American Society to 1815" (1957). ®) Zur Expedition S. Deinevs über die Beringstraße im Jahre 1648 siehe ausführlich V. A. Samojlov, „Semen Deïnev i ego vremja", M. 1945. 4 ) Erstaunlich rege ist bereits früh das Interesse an Amerika in der französischen Literatur. Dort bildete sich im 16. Jahrhundert erstmals ein festumrissenes Amerikabild heraus, das vor allem an den exotischen Besonderheiten der Neuen Welt orientiert war; vgl. G. Chinard, „L'exotisme américain dans la littérature française au X V I e siècle" (1911). 6 ) Russisch-amerikanische Beziehungen vor dem 18. Jahrhundert sind nicht nachweisbar. Die historischen Untersuchungen setzen frühestens zur Zeit Peters d. Gr. ein (siehe z. B. Hölzle).
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gelangten solche Informationen in der Regel von Westeuropa aus über Polen und Litauen nach Moskau 6 ). Waren schon die zugrundeliegenden westeuropäischen Quellen nicht immer verläßlicher Natur und bereits mit sehr viel Erfindungsgabe der jeweiligen Autoren durchsetzt, so wurden die spärlichen Berichte über die Neue Welt, die der kleinen Schicht russischer Gebildeter damals zur Kenntnis gelangten, durch diesen beschwerlichen Weg der Übermittlung manchen zusätzlichen Verzerrungen unterworfen. Die Auswirkungen auf das russische Amerikabild der folgenden Jahrhunderte sind unübersehbar: der Mangel an zuverlässiger Unterrichtung bedingte geradezu, daß sich mit der Darstellung Amerikas in der Literatur seit Anbeginn eine Vielzahl von Fabeln verquickte, die zu einem guten Teil bis ins 19. Jahrhundert fortbestanden.. Bezeichnenderweise wurde die erste Nachricht von der Existenz Amerikas in der russischen Literatur von einem Mönch albanischer Herkunft, Maksim Grek, gleichsam nach Rußland importiert. Grek hatte vor seiner Tätigkeit in Rußland lange Jahre in Italien zugebracht und flocht 1530 — offensichtlich aus der Erinnerung, denn westliche Quellen dürften ihm damals in Moskau kaum zugänglich gewesen sein — eine verschwommene Erwähnung Amerikas in seinen Kommentar über Gregor den Theologen ein7). Das nächste Zeugnis über Amerika, die russische Übersetzung von Bielskis „Chronik der gesamten Welt" vom Ende des 16. Jahrhunderts, enthielt bereits jene Mischung aus Legende und Wirklichkeit, die für die kommende Zeit charakteristisch werden sollte. Bielski fabulierte von Menschenfressern, die den neuen Erdteil bevölkerten, und von ungeheuren Goldvorkommen, deren Ausbeutung schon König Salomon betrieben habe. Daneben vermittelte sein Bericht dem russischen Leser aber auch eine Anzahl bedeutender faktischer Kenntnisse über die Neue Welt. Die Benennung „Amerika" tauchte hier zum ersten Mal in russischer Sprache auf 8 ). 2. D i e W i r k u n g d e r K o s m o g r a p h i e n Ubersetzungen westlicher Werke bleiben in Rußland auch während des 17. Jahrhunderts die maßgebliche Informationsquelle über die Neue Welt 9 ). Insgesamt war jedoch die Verbreitung solcher Kenntnisse erstaunlich gering, was dem Fehlen einer bedeutenderen weltlich aus*) So im Falle von M. Bielskis „ K r o n i k a wszystkiego s w i a t a " ( 1 5 5 1 ff.), die zuerst um 1564, dann erneut 1 5 8 4 aus dem Polnischen ins Russische übertragen wurde („Letopis' vsego m i r a " ) ; siehe Y a r molinsky, „Studies in Russian-Americana", in B N Y P L (1939fr.) II, S. 895ff-, insbes. S. 900; ders., „ T h e Earliest Reference to the N e w World in Polish Literature" u. „Bibliographical Studies in E a r l y Polish Americana" I - V , in B N Y P L ( 1 9 3 3 ff.). Vgl. auch L . S. Berg, „Oierki po istorii russkichgeografiieskich otkrytij" (1946), S. 61 ff. ( „ P e r v y e russkie svedenija ob Amerike"). N . Lazarevs Artikel „ P e r v y e svedenija Russkich o Novom svete", I i , 1943, Nr. 1, S. 7 2 - 5 , folgt bis ins Detail der Darstellung Yarmolinskys, ohne ihr Wesentliches hinzuzufügen. ' ) „Inoka Maksima Greka skazanie otCasti nedoumennych nekich refenij v slove Grigorija Bogoslova"; dazu s. Yarmolinsky, „ S t u d i e s " I, S. 5 3 9 - 4 3 ; Lazarev, op. cit., S. y z i . ; Berg, op. cit., S. 6r—3. Maksims Vorstellung von Amerika — ohnehin erwähnt er als geographischen Anhaltspunkt lediglich K u b a — ist reichlich unklar; so verwechselt er die Entdeckungen in Amerika mit denen in Ostindien und stellt K u b a in eine Linie mit Indien und den Molukkeninseln. Der gleiche Fehler findet sich wenig später bei Bielski. Die Stelle über Amerika lautet bei Maksim: „ . . . (die Portugiesen und Spanier) fanden viele Inseln, von denen die einen von Menschen bewohnt, die anderen verlassen sind, und außerdem fanden sie ein sehr ausgedehntes Land, K u b a genannt, dessen Ende den dortigen Bewohnern nicht bekannt ist." („Soiinenija prepodobnogo Maksima Greka, izdannye pri Kazanskoj duchovnoj Akademii", Kazan' 1862, I I I , S. 4 4 ; hier zitiert nach dem modernisierten T e x t bei Berg, op. cit., S. 73.) 8 ) Z u Bielskis „Chronik", die ihrerseits auf Darstellungen Münsters und Grynaeus' beruht, vgl. Yarmolinsky, „ S t u d i e s " I I . Bielskis Fabel von den Menschenfressern beweist eine erstaunlich lange Lebensdauer und ist, mehr oder weniger modifiziert, in fast alle russischen Amerikaberichte des 17. und 18. Jahrhunderts übernommen worden. • ) Yarmolinsky, „ S t u d i e s " I I I (1940), S. 6 4 3 - 6 4 8 .
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gerichteten Literatur u n d der Ausschließlichkeit kirchlicher Bildung zugeschrieben werden m u ß . N e u e A k z e n t e setzte hier seit der Mitte des 17. Jahrhunderts das A u f k o m m e n einer geographisch-beschreibenden Literatur. A u c h sie war zunächst vollkommen v o n westeuropäischen Vorbildern abhängig. I m Jahre 1637 erschien die erste russische A u s g a b e des berühmten Mercator-Atlasses v o n 1606, der eine R e i h e weiterer Übertragungen, namentlich aus den Holländischen, folgte 1 0 ). A u s ihnen schöpfte der russische Leser z u m ersten Male detaillierte A n g a b e n über die Geographie Amerikas, wenngleich auch diese Darstellungen noch mit manchen fiktiven Z u t a t e n angereichert waren. B e i der erwähnten Übersetzerliteratur handelte es sich zumeist u m W e r k e mit einer eng umrissenen wissenschaftlichen Zielsetzung, die nur einem ausgewählten Kreis v o n Gebildeten zugänglich waren. Bis zum E n d e des 17. Jahrhunderts bildete sich in R u ß l a n d jedoch aus solchen A n f ä n g e n eine wissenschaftliche Populärliteratur von zunehmender B e d e u t u n g heraus. Sie trug durchaus eigenständige Züge und erfüllte, obwohl vornehmlich didaktisch ausgerichtet, immer mehr einen reinen Unterhaltungszweck. Z u dieser G a t t u n g zählen in erster Linie die sogenannten Chronographen, historische Miszellen in annalistischer Anlage, die seit dem 15. Jahrhundert zirkulierten und seitdem in immer neuer A b w a n d l u n g erschienen. In ihrem R a h m e n stößt man erstmals auf geographische Erdbeschreibungen, die „ K o s m o g r a p h i e n " . I m 17. und 18. Jahrhundert wurden sie in R u ß l a n d immer häufiger als selbständige W e r k e herausgegeben und rückten so zu einem eigenen literarischen Genre auf 1 1 ). In der F o r m der „poteänye l i s t y " fanden sie auch Eingang in die unteren Volksschichten, soweit diese bereits für die Bildung erschlossen waren1®). In der Geschichte des russischen Amerikabildes bezeichnen die Kosmographien den eigentlichen B e g i n n : hier wurde aus fremden Quellen Entlehntes zum ersten Mal in eigener Sicht k o m m e n t i e r t und zusammengefaßt. Entsprechend der B e d e u t u n g der Kosmographien — sie stehen damals mit a m A n f a n g einer säkularen Literatur und bilden daher das R o h m a t e r i a l für deren Weiterentwicklung im 18. und 19. Jahrhundert — behält das durch sie vermittelte Amerikabild für lange Zeit seine Gültigkeit. D i e Kosmographien beweisen anschaulich, d a ß in der Darstellung der Neuen W e l t durch russische A u t o r e n das Element der F a b e l zunächst überwiegt. Die geographischen A n g a b e n bleiben unpräzise und sind zum großen T e i l k a u m identifizierbar 1 3 ). D a f ü r wird bei der Schilderung der fremden amerikanischen Szenerie der Phantasie breitester R a u m gelassen. E i n Beispiel bietet die bekannteste aus der Reihe der Kosmographien, die 1670 wahrscheinlich nach einer gekürzten Fassung des Mercator-Atlasses angefertigt wurde. Dort heißt es über Amerika:. „ V o r kurzem entdeckten lateinische Philosophen im W e s t e n auf dem Ozean in einem weiten Meeresabgrund verschiedene Inseln. ( . . . ) und sie belegten diese Inseln mit dem N a m e n A m e r i k a . ( . . . ) Die Menschen sind wild, sie ernähren und kleiden sich v o n wilden Tieren und Fischen. H e u t e aber sind sie dem spanischen K ö n i g Untertan. Die dortigen Bewohner haben verschiedene Sitten und Gebräuche, auch Sprachen haben sie verschiedene. Ihre Lebensweise ist unerquicklich, beständig bekriegen sie sich mit Eisenwaffen. ( . . . ) A l l e beten sie Götzen an." 1 4 ) Eine Kosmographie v o m Beginn des 18. Jahrhunderts, die offensichtlich a m Modell v o n 1670 orientiert ist, stellt A m e r i k a in ähnlicher Weise als einen Kontinent exotischer Bizarre10 )
ibid. Ebenso Berg, op. cit., S. 64fr. ) Zu den Kosmographien s. Yarmolinsky, „Studies" IV (1941), S. 685-92; Berg, op. cit., S. 64ff. 12 ) S. N. Brailovskij, „Odin iz pestrych XVII-go stoletija" in ZIAN V (1902), 5, S. 314. 13 ) Eine Kosmographie aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts notiert bei der Aufzählung amerikanischer Regionen neben Florida und Kuba eine „Kalijakanskaja zemlja", wo „die Menschen nackt herumlaufen und von Krieg und Plünderung leben". (Yarm., „ S t u d . " IV, S. 686) 1 4 ) „Kniga glagolemaja kozmografija sirei' opisanie sego sveta zemel' i gosudarstv velikich"; zit. bei Brailovskij, op. cit., S. 316. n
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rien dar 16 ). Immer neue Abschriften der Kosmographien vermittelten in der Folgezeit ein sich immer weiter vergröberndes Bild von der Neuen Welt, bis schließlich ein Gewebe von Legenden die Tatsachen überlagerte. Diesen Prozeß veranschaulicht insbesondere die Kosmographie von 1670. Ihrer Verbreitung wegen war sie, wie Yarmolinsky nachweist, lange Zeit für die russischen Amerika-Vorstellungen von grundlegender Bedeutung und wirkte bis ins 19. Jahrhundert fort. In stark vereinfachender und verkürzter Form sei sie in dieser späteren Zeit namentlich unter den weniger Gebildeten, die an der Grenze zum Analphabetentum standen, aufgenommen worden 18 ). Aus den Kosmographien wurden bisweilen auch schon im 17. Jahrhundert zusammenhanglose, widersprüchliche Züge herausgelöst 17 ). Auf die Tradition dieser langen volkstümlichen Legendenbildung mag es zurückzuführen sein, wenn sich bis in die Neuzeit manche pittoreske Mythen um bestimmte Amerika betreffende geschichtliche oder literarische Ereignisse ranken. Daß der Einfluß der Kosmographien auch während der petrinischen Epoche bestimmend blieb, sei durch zwei Zeugnisse belegt. Das eine, eine populärwissenschaftliche Enzyklopädie des Jahres 1694 mit dem Titel „Polis", war in Anlehnung an ältere Chronographen von einer der herausragenden literarischen Gestalten im Rußland des ausgehenden 17. Jahrhunderts, dem Geistlichen Karion Istomin verfaßt worden. Neben verifizierten Charakteristiken der zwölf Wissenschaften unternahm Istomin darin eine Zusammenfassung der zeitgenössischen Kenntnisse über Amerika: „Amerika ist der vierte Teil, Ein neues Land, dem Wissen erschlossen. Das freiheitshungrige Amerika, Dessen Menschen, Sitten und Herrschaftsformen wild sind. Mehrere Tausend Jahre lang war es unbekannt, Durch das Meer völlig abgetrennt. Man verehrt dort verschiedene Götzen, und die Menschen bewegen sich in zuchtloser Nacktheit. Sie haben unvernünftige Herrschaftsformen, Kennen keinen Gott und haben wenig Geist. Niemand kann jedoch gedeihen, Wo Dummheit, Sünde und Laster herrschen 18 )." Die Ubereinstimmung der „Polis" mit den bereits aus den Kosmographien bekannten Angaben ist eklatant. Eindeutiger als die bisherigen Zeugnisse war jedoch die Schilderung Istomins auf eine Tendenz angelegt; sie warnte nachdrücklich vor den Folgen von Unkultur und 15 ) „ K n i g a glagolemaja kozmografija perevedena byst' s rimskogo jazyka . . . " ; T e x t bei A . Rovinskij „Russkie narodnye kartinki", I I ( 1 8 8 1 ) , S. 2 6 3 f r . ; Reproduktion bei A . V . Efimov, „ A t l a s otkrytij v Sibiri i v Severo-zapadnoj Amerike X V I I - X V I I I v v . " (1964), A b b . i . Im wesentlichen stimmt dieser Bericht mit der Kosmographie von 1670 überein. Wiederum wird der Goldreichtum des Kontinents hervorgehoben mit dem Zusatz, daß sich die fremden Eroberer an diesen Schätzen „überaus bereichert" hätten. " ) „ S t u d i e s " I V , S. 690. 17 ) In einem volkstümlichen Moskauer Bänkelvers ( „ r a e k " ) des 1 7 . Jahrhunderts ist von „amerikanischen Ländern" die Rede, „ a u s denen die Damenschuhe eingeführt werden". (P. N . Berkov, „ R u s s k a j a narodnaja drama X V I I - X X v v . " [ 1 9 5 3 ] , S. 1 2 8 ) 18 ) „Polis siest' grad carstva nebesnogo imuSCij uienie, molenie i premudrost' v ego ze iitel'stve vsetvorjasiij Bog znaem i ljubim est . . . " ; zit. bei Brailovskij, op. cit. S. 465.
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Gottlosigkeit, wie sie als Wesenszüge Amerikas hervorgehoben wurden. Der gleiche didaktische Tonfall beginnt damals auch in die Kosmographien einzudringen 19 ). In die beginnende russische Romanliteratur führt die etwa 1725 entstandene. „Erzählung vom russischen Kavalier Alexander." Sie verzeichnet eine in Amerika spielende Episode: der Held Alexander wird nach einer Fülle farbiger Abenteuer in den verschiedensten europäischen und außereuropäischen Ländern schließlich zu einem wilden Stamm von Menschenfressern nach Florida verschlagen. Man mästet ihn „wie ein Stück Vieh", bevor er entkommen kann 20 ). Auch bei der Schilderung dieses Abenteuers haben, wie im einzelnen nachgewiesen worden ist, Angaben aus einer Kosmographie von 1 7 1 6 zugrundegelegen 21 ). Ihr Erscheinungsjahr wird hier geradezu zum entscheidenden Kriterium für die Datierung des Werkes. Die Ansiedlung der Handlung in Florida, das stellvertretend für Amerika steht, geht auf die häufige Nennung gerade dieser Region in den Kosmographien zurück 22 ). Im übrigen herrscht die bereits bekannte Verwirrung geographischer Begriffe: aus Florida flieht Alexander „über Neuspanien und Äthiopien" nach Ägypten, von dort weiter nach Malta.
B) Die russische „Entdeckung" Amerikas 1. D i e B l i c k r i c h t u n g a u f A l a s k a Das einzige Gebiet des russischen Schrifttums, das in der Darstellung Amerikas zunächst feststehende Traditionen herausbildete, waren die Kosmographien. Sie kursierten zu einer Zeit, während der in Rußland weder ein exakter geographischer Begriff von dem neuen Kontinent, noch Beziehungen irgendwelcher greifbarer Art zu diesem bestanden. Aus versprengten Berichten, die sämtlich von Westeuropa her einsickerten, fügte sich ein widersprüchliches Bild voll Wunderglauben und Legenden. Die Rolle Amerikas als Schauplatz in der beginnenden russischen Romanliteratur führt bereits ins 18. Jahrhundert. Indessen weist die Herkunft des darin verwerteten Quellenmaterials immer noch weit in die vorausgegangenen Epoche zurück. Das 18. Jahrhundert schuf in mancher Hinsicht die Voraussetzungen zu bedeutenden Veränderungen. Mit der Hinwendung Rußlands zum Westen seit der Regierung Peters des Großen treten die russisch-amerikanischen Beziehungen in ein konkretes Stadium ein 23 ). Gleichzeitig kommt es durch die Initiative des Zaren zu einem energischen Vorstoß im Osten, der w ) Die 1 7 1 9 erschienene russische Übersetzung eines deutschen Werkes, des Hamburger Pädagogen Johann Hübner „ K u r z e Fragen aus der alten und neuen Geographie", führt Amerika mit dem Vers ein: „ W a s nützt ihnen aller Reichtum, Wenn sie der erhabenen Weisheit ermangeln." (Zit. bei Yarmolinsky, „ A n E a r l y Russian Geography" in B N Y P L X X X V I I [ 1 9 3 3 ] , r, S. 6 2 - 3 ) M ) „Povest' 0 rossijskom kavalere Aleksandre" in „Russkie povesti pervoj treti X V I I I v e k a " (1965), S. 269. 21 ) G. N . Moiseeva in „Russkie povesti . . . " , S. 1 2 3 - 4 .
**) Noch im ersten russischen Kartenwerk, der „Geografija, ili kratkoe zemnogo kruga opisanie" des Jahres r 707, wird Florida gesondert behandelt. Durch die Einwirkung von A b b é Prévosts Roman „L'histoire de Cleveland" ( 1 7 3 1 ff.), der zum großen Teil in Florida unter dem imaginären Indianerstamm der Abaquis spielt, wurde diese Tradition bestärkt (zur Wirkungsgeschichte der „Histoire" s. V . V . Sipovskij, „Oierki iz istorii russkogo romana" [1909], S. 359(1.). Ihre Linien reichen bis in die Poesie des 19. Jahrhunderts. Eine Version zu Puschkins Gedicht „ O s e n ' " entwirft das Bild von den „jungfräulichen Wäldern des jungen Amerika — Floridas." (Werke [ 1 9 3 7 0 . ] , I I I , S. 9 3 5 ) 23 ) Hölzle, S. I9ff., in dem Kapitel „William Penn und Peter d. G r . " . Die Beziehungen zwischen Penn und dem Zaren, die auf einer persönlichen Begegnung beider im Jahre 1698 beruhen, bleiben größtenteils ungeklärt; vgl. auch E . Dvoichenko-Markov, „William Penn and Peter the G r e a t " in P A P S X C V I I (1953), S. i 3 f f .
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eine bleibende räumliche Berührung der beiden „Flügelmächte Europas 24 )" im Pazifik herbeiführt. Diese Politik wird von den Nachfolgern Peters konsequent fortgesetzt, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die dauerhafte Niederlassung der Russen in Alaska gesichert ist. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts datieren auch russisch-amerikanische Handelsbeziehungen, die zunächst allerdings über England abgewickelt werden 25 ). Es scheint, daß es, Jahrhunderte nach Kolumbus, erst einer zweiten schöpferischen Entdeckertat aus dem eigenen Lande heraus bedurft hat, um das russische Interesse endgültig auf die Neue Welt zu lenken. Der vage Glaube an eine Landbrücke zwischen Asien und Amerika hatte sich in Rußland schon mit den seit Ivan IV. einsetzenden sibirischen Expeditionen verbreitet 26 ). Doch erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die „russische Entdeckung Amerikas" planmäßig vollzogen. Amerika begann bereits damals in den außenpolitischen Erwägungen der Zaren eine bedeutende Rolle zu spielen27). Zahlreiche Anspielungen auf die Kolonisationspolitik im Pazifik drangen in die russische Literatur des 18. Jahrhunderts ein, die gerade erst begann, sich von geistlicher Bevormundung zu emanzipieren und eigene weltliche Formen zu entwickeln. Als Herold der russischen Entdeckertaten in Nordwestamerika trat M. V. Lomonosov hervor. Eine geographische Abhandlung Lomonosovs aus den Jahren 1762-3 weist auf die Vorteile hin, die Rußland durch das Auffinden eines Seeweges über das Eismeer nach Indien entstünden 28 ). Indigniert vermerkte Lomonosov zu einem von Voltaire verfaßten Geschichtswerk über Rußland, daß der französische Autor darin den russischen Leistungen um die Erforschung des amerikanischen Nordwestens nicht gerecht werde 29 ). Ahnliche Tendenzen haben sich in seinem Dichtwerk niedergeschlagen. In plastischer Bildersprache preist er die Anstrengungen russischer Herrscher bei der Durchdringung des Pazifikraumes. Ein Poem auf Peter den Großen schwelgt : „Russische Kolumbusse, das widrige Geschick verachtend, Eröffnen inmitten von Eisschollen einen neuen Weg nach Osten, Und unsere Macht reicht bis nach Amerika hinein 30 )." u ) Nach Hölzle, S. 1 1 . Über die russische Aktivität am Pazifik siehe F. A. Golder, „Russian Expansion on the Pacific 1641—1850" ( 1 9 1 4 ) ; A. I. Andreev, „Russkie otkrytija v Tichom okeane i Severnoj Amerike v X V I I I — X I X v v . " (1944); A. V. Efimov, „ I z istorii velikich russkich geografifeskich otkrytij v Severnom ledovitom i Tichom okeanach" (1949). Die Anregung zu den Expeditionsunternehmen nach Ostsibirien und Alaska war von Leibniz ausgegangen, der „als erster europäischer Gelehrter auf die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Erforschung der russisch-amerikanischen Grenzgebiete (wies)"; nach E . Benz, „Leibniz u. Peter d. G r . " (1947), S. 49; siehe auch L . Richter, „Leibniz und sein Rußlandbild" (1946), S. 22. In Denkschriften aus den Jahren 1697 und 1 7 1 2 trug Leibniz dem Zarensein Anliegen vor; vgl. Benz, op. cit., S. 48ff. Besonders blühte der Handel mit Virginia-Tabaken, bis ein Ukas das Rauchen verbot; vgl. Efimov, op. cit., S. 2 2 1 ff. ; O. J . Frederiksen, „Virginia Tobacco in Russia Under Peter the G r e a t " , S E E R X X I (1943), 1, S. 40-56. M ) Yarmolinsky, „ S t u d i e s " I I I , S. 640. Die Möglichkeit einer Nordostpassage durch das Eismeer nach China hatte im 16. Jahrhundert englische Kauffahrer zu intensiven Anstrengungen um Kontakte mit dem Zarenhof veranlaßt; s. K . - H . Ruffmann, „ D a s Rußlandbild im England Shakespeares" (1952), S. 62 u. pass. 2? ) Auf diese Tatsache machte erstmals Efimov aufmerksam; „ I z istorii velikich . . . o t k r y t i j " , S. 10, 18, 233. Peter d. Gr. scheint in seine machtpolitischen Ambitionen auch bereits die südamerikanische Hemisphäre einbezogen zu haben. In Denkschriften, die englische und holländische Autoren zu Beginn des 18. Jahrhunderts an ihn richteten, wurde er offen zur Intervention ermutigt, um sich an der Ausbeutung der in Südamerika vermuteten enormen Schätze zu beteiligen. Diese Pläne wurden schließlich aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten Englands nicht weiter verfolgt; vgl. L . A. Sur, „ R o s s i j a i Latinskaja A m e r i k a " (1964), S. roff. **) „ K r a t k o e opisanie raznych putesestvij po Severnym morjam i pokazanie vozmoznogo prochodu Sibirskim okeanom v Vostoinuju I n d i j u " ; Werke (1950fr.), V I , S . 4 i 7 f f . Siehe auch Berg, op. cit., S. 25 ff. 28 ) „Zameianija na pervyj tom 'Istorii Rossijskoj Imperii priPetre V'elikom'Vol'tera", Werke, VI, S.363. ®°) „ P e t r Velikij. Geroiceskaja p o è m a " ( 1 7 6 1 ) , Werke, V I I I , S. 703.
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In seinen „Brief über den Nutzen des Glases" flocht Lomonosov erneut eine Hymne auf russische Entdeckertaten „in der Nachfolge des Kolumbus" ein, ein Motiv, das ihn auch sonst wiederholt beschäftigt hat 31 ). Lomonosovs Terminologie vom „Russischen Kolumbus" verkörperte einen Machtanspruch der damaligen Zaren; das russische Amerika-Schrifttum nahm in dieser frühen Epoche erstmals politisierende Züge an. Die Verherrlichung der angewachsenen russischen Machtfülle wurde ein konventioneller Topos der von Lomonosov initiierten panegyrischen Odendichtung. Andere Literaten folgten in der vorgezeichneten Manier. Das Bild von dem gegen Eisschollen nach Amerika vordringenden Kolumbus wurde später von G. Derzavin in einem Gedicht auf den Alaskapionier Selichov wiederaufgenommen 32 ). Die gleiche Diktion wie bei Lomonosov findet man auch in einem Dithyrambus A . V . Sumarokovs auf Katharina II., in dem die Zarin als Beherrscherin „dreier Weltteile" hingestellt wird 33 ). Uber ein halbes Jahrhundert später hat sich noch Puschkin dieser Apostrophe zur Charakterisierung Katharinas bedient34).
2. Z u n a h m e der a l l g e m e i n e n K e n n t n i s s e ü b e r A m e r i k a Mit der Blickrichtung auf Alaska schien sich zur Mitte des 18. Jahrhunderts im russischen Amerikabild eine realistische Betrachtungsweise anzukündigen. Tatsächlich zogen die Reformen Peters Entwicklungen nach sich, die geeignet waren, eine gründlichere Unterrichtung über die Neue Welt zu ermöglichen. Von Bedeutung wurde der im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker anschwellende Strom von Literatur, der aus Westeuropa einfloß. Damit wurde dem russischen Leserpublikum neues aufschlußreiches Material zugänglich gemacht. Obwohl die übermittelten Quellen wie schon im Falle der Kosmographien bisweilen zweifelhafter Natur waren, ist doch unter dem Einfluß westlicher Werke im Rußland des 18. Jahrhunderts eine erhebliche Zunahme der Kenntnisse über Amerika zu verzeichnen. Die Angaben in der geographisch-wissenschaftlichen Literatur werden nun präziser und zuverlässiger. Mit der Herausgabe des ersten Kartenwerkes im Jahre 1707 wird ein neues Feld der Unterrichtung
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) „Pis'mo o pol'ze stekla . . . " ( 1 7 5 2 ) ; Wke., V I I I , S. 5 1 8 : „ I n der Nachfolge des Kolumbus, des Magellan, Durchfahren wir bereits den großen Ozean rund um die Welt Und sehen dort eine Vielzahl göttlicher Dinge, Länder, Inseln, Menschen, Städte und Dörfer, Uns zuvor unbekannter seltsamer Tiere, Bestien und Vögel, Fische, ungezählter Früchte und Pflanzen."
Ähnliche Bilder kehren wieder in „Oda na den' vossestvija na Vserossijskij prestol . . . Elisavety Petrovn y " (1747); Wke., V I I I , S. 205; im „Slovo pochval'noe blazennoj pamjati Gosudarju Imperatoru Petru Velikomu . . . " ( 1 7 5 5 ) ; Wke., V I I I , S. 598. 32 ) „Nadgrobie Selechovu" ( 1 7 9 5 - 6 ) ; in „Stichotvorenija" (1957), S. 234 („Hier ist ein russischer Kolumbus begraben . . . " ) . Ein ähnliches Bild taucht in Derzavins Poem auf den tragischen Tod der Alaskafahrer Davydov und Chvostov auf, worin von beiden als „Nachahmern Kolumbus'" die Rede ist; „ V pamjat' Davydova i Chvostova" (1809); Werke (1847), S. 692-5. **) „Difiramb Gosudaryne Imperatrice Ekaterine Vtoroj" (Ende der 1760er Jahre); „ R a z n y e stichotvorenija" (1769), S. 1 3 9 : „ D e m russischen Szepter Sind drei Weltteile Untertan Von asiatischen Ufern Sehe ich ein russisches Amerika
..."
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) „Istorija Pugaievskogo bunta" (1834); I X , S. 106. Ii. einer Fußnote zitierte P. hier einen Huldigungsbrief Derzavins, in dem dieser Katharina als „in drei Weltteilen die Herrschaft innehabende" tituliert.
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erschlossen35). Nur wenige Jahre später ist ein russischer Verfasser, V. Kiprijanov, in der Lage, eine sachkundig kommentierte Amerikakarte vorzulegen, die von einem hohen Stand geographischer Kenntnisse zeugt 34 ). Im Jahre 1737 erschien der erste Schulatlas unter der Schirmherrschaft der Petersburger Akademie der Wissenschaften. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden insgesamt etwa dreißig geographische Werke, darunter zwei Lexika ediert 37 ). Ein Atlas aus dem Jahre 1793 widmete Amerika nicht weniger als zehn Karten. Auch die seit 1703 erscheinende russische Presse ist wiederholt mit der Lage in Amerika beschäftigt. Im Vordergrund stand hier zunächst die Berichterstattung über das spanische Amerika, das jenseits des pazifischen Ozeans der Interessensphäre der russischen Politik am nächsten lag. Eine Darstellung über die Entdeckung und Kolonisierung Amerikas wurde 1735 in der wissenschaftlichen Beilage der „Sankt-Peterburgskie Vedomosti" publiziert 38 ). Hier wurde Amerika noch in herkömmlicher Art als ein einheitlicher Themenkreis abgehandelt, ohne daß die inzwischen vollzogene Aufteilung in einen iberischen und einen anglo-amerikanischen Zivilisationsbereich im einzelnen erfaßt war. Mit der Lage in Südamerika war erstmals eine 1729 erschienene Meldung der „Vedomosti" befaßt; ein Artikel im gleichen Organ des Jahrgangs 1 7 3 1 war Chile gewidmet. Die Orientierung an der geographischen und politischen Realität der Gegenwart zeichnete sich seither immer deutlicher ab. Auf die Stoßrichtung russischer Interessen in Nordamerika wies eine Berichtfolge der „Vedomosti" vom Jahre 1 7 4 1 , die sich mit den Verhältnissen im spanischen Kalifornien auseinandersetzte 39 ). Einen noch breiteren Raum nimmt die Berichterstattung der russischen Presse über Amerika während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Wie schon zuvor stammen auch die damaligen Nachrichten nahezu ausschließlich aus Westeuropa 40 ).
C) Amerika-Sujets in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts 1. D i e W i r k u n g d e s w e s t e u r o p ä i s c h e n
Exotismus
a) Einflüsse der französischen Literatur In Frankreich hatte sich bereits seit dem 16. Jahrhundert eine Amerika-Literatur mit feststehenden Traditionen entwickelt. Nachdem sich das Französische als Bildungssprache in Rußland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hatte 41 ), begannen diese Traditionen auch dorthin auszustrahlen. Von gewissem Einfluß, jedoch ebenfalls von der französischen Vermittlung abhängig, ist der exotische Roman Englands, vor allem Mrs. Aphra Behns „Oroonoko, or the Royal Slave" (1678) und Defoes „Robinson Crusoe" (1719) 42 ). K ) Yarmol. „ S t u d i e s " V (1942), S. 3 7 4 - 5 ; E . Dvoichenko-Markov „ T h e American Philosophical Society and E a r l y Russian-American Relations" in P A P S X C I V ^ 9 5 0 ) , S. 554. 36 ) Im Jahre 1 7 1 3 ; Abbildung bei Efimov, „ I z istorii " S. 138—9; s. auch L. M. Lebedev, „ G e o grafija v Rossii Petrovskogo vremeni" (1950), S. 197. »') Yarmol. „ S t u d i e s " V , S. 3 7 8 - 9 . 38 ) Dv.-Markov, op. cit., S. 554. ^ Vgl. dazu insgesamt Sur, op. cit., S. 2 2 f f . , insbes. S. 23 („Izvestija o Kalifornii"). 40 ) Siehe A . N . Neustroev, „UkazateP k russkim povremennym izdanijam i sbornikam za 1703—1802 g g . " (1898); unter den Stichworten „ A m e r i k a " und „Severnaja Amerika". 41 ) M. Laserson, op. cit., S. i f f . („The Three Circles of Foreign Cultural Influence in Russia: German, French and English"). 42 ) Zum englischen Einfluß allgemein: E . J . Simmons, „English Literature and Culture in Russia (1553—1840)" ( 1 9 3 5 ) ; M. P. Alekseev, „Anglijskij jazyk v Rossii i russkij j a z y k v Anglii" in „ U i . Zap. Len.-ogo Gos.-ogo Un.-ta; ser. fil.-ich n a u k " , 1944, 9, S. 77—137. — „Oroonoko" wurde übertragen zu „Pochoidenie Oronoko, knjazja Afrikanskogo", SPb. 1796 (Sopikov, „ O p y t rossijskoj bibliografii" I, I I [1904—5], Nr. 8613). „Robinson Crusoe" wurde in zahlreichen Übertragungen bekannt und zählte zum elementaren Bestand jeder russischen Bibliothek (Sipovskij, op. cit., S. 5). Der Einfluß Defoes führte zu einer ganzen Serie russischer „Robinsonaden"; zur Wirkungsgeschichte s. Simmons, S. 1 3 g f . ; russische „Robinsonaden" verzeichnet Sopikov, Nr. 9 7 5 1 , 9753—4.
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Im französischen Amerikabild dominierte seit langem das Interesse für die Exotismen der Neuen Welt, insbesondere für die üppige Natur des Landes und die in ursprünglicher Wildheit lebenden indianischen Einwohner. Mit dem Eintreten für die unverbildeten Existenzformen des Naturzustandes verband sich eine Reaktion gegen den dürren Rationalismus der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Der Exotismus verzehrte sich im Verlangen nach einer geheimnisvollen Ferne. Bewußt wurde hier eine Schicht irrationaler menschlicher Sehnsüchte angesprochen — der ewige Wunschtraum, aus der Gebundenheit einer Epoche und ihrer Zivilisation in eine bessere Scheinwelt zu entkommen 43 ). J . J . Rousseau faßte diese Strömungen der Zeit in einem prägnanten Programm zusammen. Gegen die äußere Kultur Europas, die damals einem Höhepunkt zustrebte, setzte er die Verherrlichung des einfachen Lebens. Amerika wurde ihm zu einer Verkörperung dieses Ideals 44 ). Gleich ihm erhofften sich andere Schriftsteller der Zeit von der Neuen Welt die Erfüllung all jener Aufgaben, an denen Europa angeblich infolge der Laster seiner überfeinerten Zivilisation gescheitert war. Eine sehr alte Sozialidee, die Vorstellung vom Goldenen Zeitalter, wird auf dem Grunde dieser Verherrlichung Amerikas sichtbar48). Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verlegten französische Theaterstücke und Romane den Ort ihrer Handlung immer häufiger in die exotische Kulisse Amerikas. Dabei stand als Schauplatz zunächst Südamerika eindeutig im Vordergrund, auf das die Schilderungen spanischer Schriftsteller in den vorangegangenen Jahrhunderten aufmerksam gemacht hatten 46 ). Der amerikanische Indianer wurde literaturfähig als Gegenspieler des durch die Zivilisation verderbten Europäers. Die Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Exotismus ist kennzeichnend für die französische Literatur des 18. Jahrhunderts. Auch ein Schriftsteller wie Voltaire, der sich gegenüber dem Enthusiasmus für die Wilden sonst wenig anfällig zeigte, zollte dem allgemeinen Zeitgeschmack Tribut. Seine 1736 aufgeführte „Alzire", eine „Tragödie über die Eroberung Perus", wurde zu einem der großartigsten Bühnenerfolge der Epoche. „Alzire" ist trotz der vordergründigen exotischen Staffage ein klassisches Konfliktdrama im Stile Racines. Über das speziell amerikanische Lokalkolorit Perus gibt es kaum Aufschluß 47 ). Für die französische Romanliteratur, die sich besonders seit Abbé Prévost immer häufiger amerikanischer Sujets bediente, gilt die gleiche Feststellung wie für die Bühne: ein immer abgeschmackter wirkendes Beiwerk konventioneller Exotismen und schematische Charaktere überwogen zu-
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) Chinard, „L'exotisme américain dans l'oeuvre de Chateaubriand" (1918), S. V I :
„ A la base même de l'exotisme se trouve en effet un désir éternel d'échapper à son temps, à la civilisation qui nous entoure, de changer de milieu . . . " Zur Definition des Exotismus siehe außerdem P. Jourda, „L'exotisme dans la littérature française depuis Chateaubriand" (1938), S. 1 0 - 1 7 (S- 1 7 : „ l'expression d'une sensibilité tourmentée qui cherche à s'évader vers de nouveaux climats"). 44 ) Chinard, „ L ' A m é r i q u e et le rêve exotique . . . " ( 1 9 1 3 ) , S. 341 fï. Ch. nennt Rousseau einen „ v u l garisateur de génie", der Gedanken seiner Vorgänger, der französischen Jesuitenmissionare in Amerika, „ d e façon plus éloquente" wiederaufgenommen habe, um sie, frei von Widersprüchen und Einschränkungen, neu zu formulieren. 45 ) Siehe R . Gonnard, „ L a légende du bon sauvage" (1946), S. 15. Gonnard nennt die Legende vom edlen Wilden eine „Schwesterlegende" („légende-soeur") derjenigen vom Goldenen Zeitalter. 46 ) Chinard, „ R ê v e " , S. 2 2 1 ff. 47 ) Z u „ A l z i r e " s. „ R ê v e " , S. 2 3 6 - 4 2 ; zu Voltaires genereller Einstellung ibid., S. 367—74. Voltaire war der Ansicht, daß sich das Los der Indianer („une espèce dégénérée de l'humanité") seit dem E i n dringen der Europäer zum Guten gewendet habe. Den gleichen Stoff wie die „Alzire", den Zusammenstoß zwischen Europäern und Inkas in Südamerika, behandeln Rameaus außerordentlich erfolgreiches Ballett „ L e s Indes galantes" ( 1 7 3 5 ) , sowie Marmontels einflußreicher philosophischer Roman „ L e s I n c a s " ( 1 7 7 7 ) , der sich vehement gegen das Zerstörungswerk der spanischen Eroberer in Amerika ausspricht; vgl. „ R ê v e " , S. 2 3 3 f f . bzw. S. 385ff.
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meist echtes Lokalkolorit und psychologische Einfühlung. Eine Änderung deutete sich jedoch mit B . de Saint-Pierres Idylle „ P a u l et Virginie" (1787) an 48 ). Das Amerikabild der russischen Literatur ist während dieser Epoche ganz vom Vorbild französischer Muster abhängig. Rousseau, dessen Name seit etwa 1760 nicht mehr von den Seiten der russischen Journale verschwand, vermittelte das Bild vom „edlen Wilden" Amerikas und leitete eine Welle des Sentimentalismus ein49). Voltaires „Alzire" erlebte binnen kurzer Zeit drei Auflagen 5 0 ). De Saint-Pierres Indianeridylle „ L a chaumière indienne" (1790) und „ P a u l et Virginie", sowie Marmontels „ L e s Incas" wurden gleichfalls mehrere Male ins Russische übertragen. Neben anderen Übersetzungen führten diese Werke dazu, daß sich auch in der russischen Literatur das Interesse zunächst auf Südamerika konzentrierte 81 ). b) Der Amerika-Exotismus in russischer Übersetzungsliteratur 62 ) Den übersetzten Werken der maßgeblichen französischen und englischen Autoritäten hat die russische Literatur anfänglich kaum gleichwertige eigenständige Schöpfungen entgegenzusetzen. Der amerikanische Exotismus des 18. Jahrhunderts ist daher überwiegend ein westliches Lehnelement. Die russischen Schriftsteller begnügten sich mit Übersetzungen oder Imitationen, die immer obskurere Quellenangaben lieferten 63 ). In den übersetzten Romanen, besonders in den Erzählungen und Anekdoten der russischen Zeitschriftenpresse, deren Blütezeit mit dem ungehinderten Einströmen des westeuropäischen Schrifttums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzte, spielt die exotische Kulisse Amerikas eine bedeutende Rolle. Den Titeln war nach französischem Vorbild häufig das Etikett „amerikanskaja povest'" zur näheren Genre-Bestimmung beigeordnet 64 ). Eine derartige „amerikanische Erzählung" plante noch 1804—• damals sicherlich schon durch Chateaubriand beeinflußt — der Dichter V . A . Ëukovskij 6 5 ). Diese russischen Amerikadarstellungen teilten natürlicherweise die Mängel ihrer westeuropäischen Vorbilder; sie konnten außer einem schablonenhaften Umriß des amerikanischen 48 ) Beispiele für die damalige Massenproduktion an französischer Amerikaliteratur (zit. in „ R ê v e " , S. î8off., 399fï.): „ L a Péruvienne" (1747), „ L a Canadienne" (1761), Chamforts „ L a jeune indienne" (1764), „Hirza, ou les Illinois" (1767), „Les deux amis, conte iroquois" (1770), „Inkle et Iarico, histoire américaine" (1778). 4B ) Der Einfluß Rousseaus für Rußland wurde bestätigt von V. Orlov, „Pnin-poèt" in „ I . Pnin. Sofinenija" (1934), S. 41-2. „Tragedija Al'zira, ili amerikancy", SPb. 1786 (dazu mehrere wohlwollende Rezensionen, u.a. in „Zerkalo sveta" Nr. 26 [1786], S. 165—8); ibid. 1794; M. 1811 (Sopikov Nr. 2609-11). Voltaires „Aventure indienne" wurde in der Zeitschrift „Smes'", Nr. 3, als „Indejskaja povest'" publiziert (V. V. Sipovskij, „Iz istorii russkogo romana i povesti" I [1903], Nr. 221). Auf Voltaire als Quelle bezieht sich auch eine Erzählung „Guron, ili prostodusnyj. Spravedlivaja povest' iz sofinenij G. Vol'tera", SPb.
1789.
51 ) „Pavel i Virginia . . . " , M. 1793 (Sopikov Nr. 8034; daneben auch in mehreren Journalen erschienen s. Sipovskij, „Iz istorii "). „Chizina indejskaja" M. 1794 (Sopikov Nr. 12458 u. 9261 ; auch im Journal PPPV, 1794, Tl. I I ; nach Sipovskij Nr. 1563). — „Inki, ili razrusenie Peruanskoj Imperii " M. 1778; ibid. 1782 (Sopikov Nr. 4563—4). Motive aus Südamerika enthielt auch die Märchensammlung „Tysjaïa i odin ias; skazki Peruanskie", SPb. 1778, die ebenfalls auf einem frz. Original beruhte (Sopikov Nr. I2 °45)52 ) Eine detailliertere Studie des russischen Amerikabildes in der Übersetzungsliteratur des 18. Jahrhunderts, die vom Quellenvergleich mit den jeweiligen Originalen auszugehen hätte, würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausführen. Es ist daher eine Beschränkung auf Einzelbeispiele vorgenommen worden, die das Typische der Manier wiedergeben mögen. M ) „The Russian editors had something of the Elizabethan's simple unscrupulousness in wholesome borrowing and plagiarizing." (Simmons, op. cit., S. 112) 54 ) Gelegentl. definiert als „Indejskaja povest'"; s. das Beispiel in Anm. 50. 65 ) V. Rezanov, „ I z razyskanij o soï.-jach V. A. 2.-ogo" in 2MNP LV (1915), S. 344.
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Schauplatzes wenig echtes Lokalkolorit vermitteln. Die amerikanische Szene wurde als ein farbenprächtiges Dekor geschätzt, das die Neugier der Leser zusätzlich anstacheln sollte. Die Elemente ihrer Ausstattung stimmten außerdem mit den vertrauten Angaben aus den Kosmographien überein, die ebenfalls die üppige, gleichsam ins Riesenhafte entwickelte Vegetation Amerikas besonders betont hatten. Die Verherrlichung des natürlichen Lebens im Stile Rousseaus hatte in der europäischen Literatur zur ästhetischen Entdeckung des Indianers geführt 66 ); ihr schloß sich Rußland an. Spätestens seit den 1760er Jahren drang auch dort das Interesse für den amerikanischen Wilden durch87). Hatten die „Geschichte über Alexander" und mehr noch Istomins „Polis" die Indianer als rohe Kannibalen geschmäht, so erhob sich der Ureinwohner Amerikas in der Belletristik des späten 18. Jahrhunderts zum Repräsentanten edelster Menschlichkeit. Die Europäer werden demgegenüber als grausame Unterdrücker und Abkömmlinge einer verderbten Zivilisation angeprangert. Der Kult des „edlen" amerikanischen Wilden in den Beiträgen verschiedener russischer Journale zeigt wenig Abweichungen von den geläufigen westeuropäischen Mustern. Wiederholt veröffentlicht wurde eine Episode, die die „Empfindsamkeit" eines Indianers vom Stamme der Abenaken und dessen großmütiges Verfahren mit einem englischen Gefangenen beschreibt68). Die wundersame Frömmigkeit eines amerikanischen Prinzen ist das Thema einer weiteren Erzählung, die den Unterschied zwischen der Sittenverderbnis „aufgeklärter Europäer" und der unverbildeten Menschlichkeit in der amerikanischen Wildnis demonstrativ hervorhebt 69 ). An anderer Stelle werden eloquente Lobpreisungen eines weißen amerikanischen Siedlers über den Edelmut eines Indianers wiedergegeben60). Das literarische Bild des amerikanischen Wilden ist indessen weniger einheitlich, als es von diesen Beispielen her den Anschein haben könnte. Auch die exemplarische Darstellung indianischer Grausamkeit ist aus einer russischen Zeitschriften Veröffentlichung bezeugt 61 ). Freilich
5e ) R . Gonnard, „ L a légende du bon sauvage", S. 7 9 f f . ; G. Cocchiara, „ I I mito del buon selvaggio" (1948), pass. ; für Frankreich außerdem Chinard, „ R ê v e " , pass. Diese Entwicklung war auch in der deutschen Literatur eingetreten. Indianerpoesie berücksichtigte bereits Herders Volksliedersammlung des Jahres 1778 ; derselbe Autor war später, in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" ( 1 7 8 4 ff.), um eine Charakteristik der Indianer bemüht. C. F . D. Schubart schuf 1 7 7 4 nach englischer Vorlage das Gedicht „ D e r sterbende Indianer an seinen Sohn". 1 7 7 8 verfaßte Ch. Krauseneck das „ L i e d eines Wilden", 1798 Schiller die Nadowessische Totenklage", die nach der deutschen Übersetzung von Carvers amerikanischer Reisebeschreibung entstand (nach H . Meyer, „Nord-Amerika im Urteil des Deutschen Schrifttums bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts" [1929], S. 7). Typisch für die Gattung idealisierender Indianerpoesie ist auch J . G. Seumes Gedicht „ D e r Wilde", das von einem Kanadier berichtet,
„ der noch Europens Übertünchte Höflichkeit nicht kannte, Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben von Kultur noch frei, im Busen fühlte, . . . " „Sämtliche W e r k e " ( 1 8 5 3 ) V I I , S. 72. 57 ) S. des Grafen Artemij Voroncov „Dissertacija o verojatnejsem sposobe, kakim obrazom v Severnoj Amerike pervye ziteli pojavilis' " , in „ S o b r . luisich soC.-ij" I V (1762), S. 1 7 3 . 58 ) „Velikodusie dikogo ieloveka. P o v e s t ' " in „ N i to ni sio" Bl. 1 4 (30. 5. 1 7 6 9 ) ; später erschienen unter dem Titel „Abenaki, ili primer iuvstvitel'nosti indejcov" in „Ctenie dlja v k u s a " X I I ( 1 7 9 5 ) , S. 2 9 6 - 3 0 1 ; s. auch „Abenaki. Amerikanskaja p o v e s t ' " in P P P V X I X (1798), S. 1 5 1 - 6 . Die Übersetzungen beziehen sich einmal auf ein deutsches (1769), dann auf ein französisches Original (1798). 5B ) „Trogatel'nyj primer naboznosti odnogo molodogo indejca" in „Detskoe ütenie" I I (1785), S. 97— 102. 8 °) „Dikoj amerikanec" in „Dets. f t . " I V (1785), S. 4 6 - 8 . 81 ) „Primer iestokosti indejcov" in „ C t . dlja v k u s a " X I I (1795), S. 2 8 2 - 9 5 . Zugrunde liegt eine deutsche Quelle (Campe).
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wird die dort geschilderte Kriegslüsternheit weniger auf einen angeborenen martialischen Instinkt der Indianer als auf den verderblichen Einfluß der Europäer zurückgeführt. I n einem „ G e s p r ä c h im T o t e n r e i c h " zwischen Merkur, einem Tagelöhner und einem Indianer wird die gleiche K r i t i k noch zugespitzter formuliert. A n den Mordtaten eines Indianers wurde hier veranschaulicht, welche verhängnisvollen Folgen die Berührung mit den W e i ß e n für einen Naturmenschen nach sich ziehen mußte 6 2 83 ). Z u einem literarischen Gemeinplatz entwickelte sich die Technik der Gegenüberstellung v o n amerikanischen Wilden mit Europäern, die stets die Überlegenheit der natürlichen Lebensweise sichtbar zu machen hatte 6 4 ). Maßgeblich ist wiederum der französische E i n f l u ß ; eine Komödie K o t z e b u e s vermittelte weitere Anregungen 6 6 ). I n durchsichtiger Weise wurden hier die Indianer als Vehikel zeitkritischer Aussagen herangezogen. Ihren Tiraden gegen die Ü b e l europäischer Zivilisation h a f t e t e jedoch viel von der Künstlichkeit intellektueller K o n s t r u k tion an. A u f überzeugendes Lokalkolorit w u r d e hier erst recht keine R ü c k s i c h t g e n o m m e n ; vielmehr war m a n auf die philosophisch-didaktische Erörterung des Gegensatzes zwischen natürlicher und zivilisatorischer Ordnung konzentriert. Eine Schablone für dieses Sujet prägte Voltaires mehrfach ins Russische übersetztes Streitgespräch zwischen einem Baccalaureus und einem amerikanischen Wilden. 6 6 ) A l s ein weiteres Muster boten sich Montesquieus „ L e t t r e s persanes" an, auf die die W u r z e l n des amerikanischen Exotismus in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts zurückführen 6 7 ). I n ihrer Tradition etablierte sich eine fiktive indianische Reiseliteratur über Europa, wie sie in russischen Zeitschriften z u m Ende des 18. Jahrhunderts nachweisbar ist 68 ). Die Räsonnements der „ B r i e f e eines aus der Neuen in die A l t e W e l t überführten Indianers" zeugen allerdings wenigei von Wildheit im herkömmlichen Sinne als von dem feinen, hypersensiblen Gemüt ihres anonymen Verfassers. Die Gestalt des Indianers ist hier bereits zu einer bloßen Formel der Mystifikation geworden 6 9 ).
62) „Razgovor v carstve mertvych. Merkurij, poden5£ik i dikoj amerikanec" in P P P V X I X (1798), S. 73—80 (aus dem Engl.). 64) Nach Chinard („Rêve", S. VI) geht diese Tendenz im Kern auf die französischen Jesuitenschriftsteller des 17. Jahrhunderts zurück, die durch die Verherrlichung der natürlichen Lebensweise bei den Indianern gegen bestimmte unchristliche Sitten ihrer Zeit aufgetreten seien. Siehe auch Gonnard, op. cit., S. 54ff. („La légende au X V I I e siècle"). 65 ) „Indejcy v Anglii. Komedija v 5-i dejstvijach" Smol. 1800. Auf Kotzebue als Quelle könnte auch die „freie Ubersetzung" einer Komödie zurückführen, die 1805 in Voronei unter dem Titel „Amerikancy v Europe" erschien (verfaßt von A. M. Elin; siehe E. P. fon Berg, „Russkaja komedija do pojavlenija A. N. Ostrovskogo" in „Russ. Fil. Vestn." L X V [1911], 1, S. 29). S6) „Razgovor dikogo s Bakkalaprom" in „ N i to ni sio" Bl. 6 (28. 3. 1769), S. 43—8. Die gleiche Übersetzung erschien in der Ausgabe „Dikij ielovek, smejuâîijsja uïenosti inravamnyneänego sveta" SPb.1781. ®7) Chinard, „Rêve", S. 222. 68) Siehe u.a. „Pis'mo indejca o nravach Evropejcov" in N. Novikovs „Pokojaäüijsja trudoljubivec" II (1785), S. 161—3; „Pis'mo putesestvujusiego po Evrope Indejca" in „ C t o nibud' ot bezdel'ja', 1800 S.152-;. Vgl. auch „Pis'mo odnogo putesestvujuäiego amerikanca iz Ekaterinograda" in V E I X (1803), S. 3 off. 69) „Pis'mo dikogo amerikanca, privezennogo v Staroj svet iz Novogo" in „Delo ot bezdel'ja" I (1792), S. 10-16, 42—52. Die Briefe zeichnen die einzelnen Phasen der Desillusionierung eines Wilden über Europa nach. Die Lebensweise des aufgeklärten Europa wird verächtlich gemacht:
„Diese Menschen, die wir zuerst als Götter ansahen, sind nichts anderes als wahrhafte Barbaren und Tyrannen; nicht nur uns gegenüber, sondern auch gegenüber ihren eigenen Landsleuten handeln sie roh und grausam." (S. 11) Als Lösung eröffnet sich die Flucht in die Wildnis. Verzückt ruft der Indianer auf dem Tiefpunkt seiner Enttäuschung aus : „Mit welcher Freude würde ich in unsere wilden Wüsten zurückkehren!" (S. 16)
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c) Krylovs Oper „Die Amerikaner" Die gemeinhin dem Fabeldichter I. A. Krylov zugeschriebene komische Oper „Die Amerikaner" ist vielleicht die bekannteste Schöpfung des russischen Amerika-Exotismus 70 ). Bei ihr hat ganz offensichtlich Voltaires „Alzire" Pate gestanden. Die Parallelen in der Thematik, Technik und Handlungsführung sind unübersehbar; sogar der Name von Krylovs Helden Don Gusman ist mit dem einer Hauptperson bei Voltaire identisch 71 ). So ist es kaum verwunderlich, wenn die „Amerikaner" den Konfliktstoff eines klassischen französischen Dramas präsentieren. Antagonisten sind der spanische „Magnat und Heerführer" Don Gusman sowie der Indianerführer Acem. Die Handlung hält es mit dem konventionellen Schema. Das obligate Liebesmotiv des Stückes wird durch allerlei Intrigen kompliziert, die hier vor allem auf die Liaison zwischen diversen Europäern und Indianern zurückzuführen sind. Die thematische Substanz der Oper Krylovs zehrt von der Kontrastierung des „verderbten Spanien" („razvratnaja Giäpanija") mit dem unverbildeten Leben in der amerikanischen Wildnis. Die Scheingüter europäischer Zivilisation, die sich in der Heuchelei und Verschlagenheit spanischer Charaktere manifestieren, werden an der tugenhaften Unschuld der amerikanischen Indianer entlarvt. Der „Wilde" Acem, der eigentliche Heros des Stückes, ist sich seiner charakterlichen Auszeichnung wohl bewußt. Sein Kampf gegen die spanischen Eindringlinge, die gekommen sind, die ursprüngliche Reinheit seiner Landsleute zu untergraben, wird gleichsam zur heiligen Sache erklärt. Acems gefühlvolle Ausbrüche gegen die europäischen Verderber zählen daher zu den Höhepunkten der Oper 72 ). Gegenüber dieser zentralen Problematik sind Krylovs Aussagen über seine amerikanische Szene nicht nur dürftig und undifferenziert, sondern auch gemeinplätzig. Grotesk muten solche Sentenzen an, in denen der Autor ein Eindringen in die Psychologie der Indianer glaubhaft machen will73). Andererseits spart er nicht mit Andeutungen von derbem Realismus: eine Szene, in der Vorbereitungen zum Massaker zweier gefangener Spanier durch amerikanische Wilde beschrieben wurden, scheint seinerzeit die Aufführung der Oper verhindert zu haben 74 ). Die Landschaft Amerikas bleibt in Krylovs Werk wie bei Voltaire wenig ausgeführt. Exotismen, beispielsweise Naturbeschreibungen oder farbige Eingeborenenszenen, fehlen fast völlig76). Aus dem Auftritt eines „Chores bewaffneter Amerikaner", der eine Hymne an die Sonne darbringt, ist lediglich zu schließen, daß die Handlung wahrscheinlich unter den Inkas 70 ) „Amerikancy. Opera komiieskaja v dvuch dejstvijach" ( 1 7 8 8 ) ; in Krylovs Werken (1945f.), I I , S. 631—686. E s handelt sich um ein Frühwerk Krylovs, das nach einer Überarbeitung durch A . I. Kluäin 1800 als Auftragsoper neu erschien. 71 ) Zu gleicher Zeit versuchte sich auch Kotzebue mit einer Nachahmung der „ A l z i r e " ; seine Tragödie „ D i e Spanier in Peru, oder Rolla's T o d " (Lpz. 1 7 9 7 ) machte sich ebenfalls deren Effekte zunutze. 72 ) In einem Dialog mit Folet, der Karikatur spanischen Erobererturas mit den skurrilen Zügen eines Falstaff, ereifert sich A c e m (Akt I I , 3 ; op. cit., S. 668):
„ E i n Spanier spricht von Menschlichkeit. Wende diesen heiligen Namen, den ihr mit Schrecken bedeckt habt, nicht unrechtmäßig an. W a s für Recht habt ihr, uns, unsere Unschuld, unsere Sitten zu verfolgen l Das Recht der Grausamkeit und Unmenschlichkeit. — Der Amerikaner ist gut und menschenfreundlich; doch bei den Spaniern — bei Ungeheuern — wird selbst die Gnade zur F u r i e . " 7S ) Acems Schwester gibt einmal von sich: „ W i r Amerikanerinnen lieben nicht zu zögern: je schneller, desto besser." (Akt I, 6 ; op. cit., S. 636). A n anderer Stelle verkündet A c e m : „ D e r Amerikaner ist so furchtbar im Zorn, wie er zärtlich in der Liebe i s t . " (I, 6 ; S. 646) 74 ) Diese Version ist einem Brief K r y l o v s an den Petersburger Theaterleiter P. A . Sojmonov vom Februar 1789 zu entnehmen, in dem der Autor darüber klagt, daß man es abgelehnt habe, seine „ A m e rikaner" zu inszenieren, solange darin dargestellt werde, „daß man zwei Europäer zum Opfer bringen w i l l " ; Werke, I I I , S. 336. 75 ) Die Szenenanweisungen verlegen die Handlung ohne weiteren Kommentar in eine „öde Gegend" (Akt I, 1 ) ; ein anderes Mal ist von einer „amerikanischen Ansiedlung" die Rede, die „ v o n allen Seiten von Bergen und Wäldern umgeben ist und weit draußen vom Meer." (II, 1 ; S. 665)
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Südamerikas spielt76). Im übrigen bleiben diese „Amerikaner" eine undifferenzierte Masse, aus der sich nur Acem und dessen Schwester abheben. Sie allerdings sind nach herrschendem literarischem Brauch mit allzuviel Reichtum an Gefühl und Sensibilität ausgestattet, um noch glaubhaft als Wilde zu gelten. d) Anfänge einer russischen Reise- und Abenteuerliteratur über Amerika Die Analyse der „Amerikaner" erbrachte, daß sich das Amerikabild der russischen Belletristik im 18. Jahrhundert überwiegend auf Traditionen fremder Literaturen gründete, die wesentliche Aspekte der Wirklichkeit ignorierten. Gerade aus diesem Grunde macht Krylovs komische Oper einen hölzernen, unfertigen Eindruck, ist sie voller Widersprüche und logischer Brüche. Sie gibt jedoch die Klischees der damaligen Anschauungen treffend wieder: Amerika wurde als eine Stätte wunderbarer natürlicher Harmonie empfunden, die durch europäische Eroberer gefährlich bedroht war. Das Charakteristikum dieser Betrachtungsweise ist die Retrospektive; die Neue Welt wurde immer noch im Zustand der bereits Jahrhunderte zurückliegenden Entdeckung und Eroberung angenommen. Bedingt durch westliche Einflüsse blieb diese Thematik noch lange Zeit vorherrschend. Ein neues Element kündigte sich mit den seit den 1750er Jahren immer zahlreicher einströmenden Reiseberichten über Amerika an, bei denen es sich zumeist um Übersetzungen aus dem Französischen, Englischen oder Deutschen handelte. Gerade das Genre des „PuteSestvie" hat auf den Leser des 18. Jahrhunderts eine unwiderstehliche Anziehung ausgeübt 77 ). Es wird berichtet, daß die Reisekompilationen Laharpes und des Abbé de la Porte in keiner der größeren russischen Privatbibliotheken gefehlt haben 78 ). Weite Verbreitung erlangte auch die „Beschreibung der Länder Nordamerikas", die 1765 als Übertragung einer anonymen deutschen Version in Petersburg erschien. Sie ist eine der frühesten nachweisbaren Darstellungen Nordamerikas in russischer Sprache 79 ). Für die russischen Romanautoren des 18. Jahrhunderts, die wiederum auf den Traditionen westeuropäischer Literaturen fußten, besaßen die Reisekompendien einen wichtigen Quellenwert. Aus ihnen entnahmen sie umfängliches Material, um ihre Leser durch geographische und ethnographische Beschreibungen zu ergötzen80). Ähnliche Ziele verfolgte die Abenteuer7
«) Vgl. Szenen II, 2 und I I , 5. " ) Diese Reiseberichte tragen die damals üblichen zopfigen Titel; z . B . „Putesestvija (novye) v Z a padnuju Indiju, soderïasïee v sebe opisanie raznych narodov, iivuäiich v okruznostjach bol'äoj reki Sent Lui; ich zakony, pravlenie, nravy, vojny i otpravlenie torgovli . . . " M. 1 7 8 3 , eine Ausgabe von N . Novikov (aus dem Frz.); zu weiteren Berichten s. Yarmolinsky, „ S t u d i e s " V , S. 452—3. 78 ) Sipovskij, „ O i e r k i " , S. 5. Laharpes Werk erschien als „Vsemirnyj putesestvovatel', ili poznanie starogo i novogo sveta . . . " SPb. 1778—94 (Sopikov Nr. 9 2 6 3 ) ; es ist seinerseits eine komprimierte Bearbeitung der „Histoire générale des v o y a g e s " ( 1 7 4 6 0 . ) des Abbé Prévost. Dieses Werk wurde in 2 2 Teilen herausgegeben unter dem Titel „Istorija o stranstvijach voobsie po vsem krajam zemnogo kruga ( . . . ) 0 nravach ïitelej, o verach, obyêajach, naukach, chudoiestvach, torgovle i rukodelijach, s priobäieniem zemleopisatel'nych ïertezej i izobraïenij vesîej ljubopytnych . . . " M. 1782—7 (Sop. Nr. 9263). 7S ) „Opisanie zemel' Severnoj Ameriki, i tamoänich prirodnych ï i t e l e j " übers, durch A . Razumov. Das Original, erschienen 1 7 5 7 in Erfurt, trägt den Titel „Abbildung Nordamerikanischer Länder und eingebohrener Wilder". 80 ) Sipovskij, „ O i e r k i " , S. 666. Ein typisches Produkt dieser Epoche ist F . Emins Roman „Nepostojannaja fortuna, ili pochozdenie Miramonda" (1763), einer der beliebtesten russischen Romane des 18. Jahrhunderts überhaupt (D. D. Blagoj, „Istorija russkoj literatury X V I I I v e k a " [19g 1], S. 455). Darin erscheinen alle gebräuchlichen Abenteuermotive und dazu eine verwirrende Vielzahl geographischer Schauplätze. Die Handlung wechselt unmotiviert von Malta nach Tunis, Lissabon, Rom, Dresden, Kairo und verschiedenen anderen europäischen und außereuropäischen Orten. Der gleiche „roman géographique" florierte damals in Frankreich; vgl. „ R ê v e " , S. 282. In diese Linie gehört schließlich auch der parodistische Reiseroman des Deutschen Johann CarlWezel „Belphegor" (1776). Darin wird die Hauptperson gleichen Namens, ähnlich dem russischen Helden Alexander, von Europa nach Tunis, Abessinien, Persien und bis in die „chinesische T a r t a r e y " , von dortaus nach Kalifornien und Virginien gewirbelt.
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literatur, die zunächst ebenfalls scliematiscli aus fremden Quellen adaptiert wurde 81 ). Einen bemerkenswerten Ansatz zur Eigenständigkeit bot der Bericht des russischen Kaufmanns Vasilij Baranäiikov, der es in den Jahren 1787, 1788 und 1793 zu drei dicht aufeinanderfolgenden Auflagen brachte. Man hat ihn den „Embryo des russischen Abenteuerromans" genannt 82 ) und als „erstes originales russisches Werk über Spanisch Amerika" gepriesen83). Baransiikov schildert, wie er 1780 durch eine Kette von Mißgeschicken auf die amerikanische Insel Puerto Rico verschlagen wurde. Später gelingt es ihm erst auf abenteuerlichen Irrwegen durch orientalische Länder, in die Heimat zurückzukehren. Seine Geschichte beweist, daß die phantastischen Abenteuerhandlungen aus den Romanen des 18. Jahrhunderts damals tatsächlich in Einzelfällen möglich waren. Baranäcikovs Beschreibung der tropischen amerikanischen Szenerie reicht allerdings über konventionelle Gemeinplätze nicht hinaus. Das Vorstellungsvermögen über Amerika blieb auch in den meisten anderen Reise- und Abenteuerschilderungen weit mehr an der Phantasie als an der Realität orientiert. Diese Anschauungen zu persiflieren unternahm ein versifizierter „Erziehungs- und Reiseplan des Herrn X " , der 1769 in der Zeitschrift „ N i to ni sio" erschien84). Die anonyme Dichtung ist eines der wenigen Werke des 18. Jahrhunderts, die das Amerikathema parodistisch abzuhandeln versuchen. Inmitten einer Vielzahl von weiteren Kuriositäten teilt der Erzähler mit, daß amerikanische Fliegen die Größe von Adlern erreichten — eine Anspielung auf die allzu übertriebenen Ausmalungen der exotischen Literatur. Ebenso bizarr sind die Reiseprojekte, die der Verfasser in seinen Versen anvisiert : von Arabien aus möchte er „das amerikanische L a n d " erreichen, wo „der Himmel sich sehr nah zur Erde herabneigt", um von dortaus in die Sphäre zu Saturn und Mond vorzustoßen85). Die nebulöse Geographie Amerikas, wie sie zu dieser Zeit in Rußland geläufig war, ist hier treffend ironisiert. 2. D i e W i r k u n g d e s A b b é R a y n a l a) Antispanische Tendenzen in russischen Literaturwerken des 18. Jahrhunderts Die Darstellung insbesondere der Spanier als blutrünstiger Conquistadoren war in Europa seit längerem ein beliebter Topos antipapistischer Propaganda. Derartige Tendenzen hatten auch nach Rußland ausgestrahlt, wo sie durch die Übersetzung kosmographischer Werke verbreitet worden waren 86 ). Die antispanische Anklageliteratur war einst von den Schriften des Bischofs Las Casas (1474-1566) ausgegangen, die die Grausamkeiten der iberischen Eroberer gegenüber der indianischen Urbevölkerung Amerikas vor allem aus menschlichen Gründen verworfen hatten. Diese Literatur war im Europa des 18. Jahrhunderts zu neuer Blüte gelangt; sie wurde vor allem in jenen Ländern gefördert, deren koloniale Interessen — wie die Englands oder Frankreichs — in scharfem Gegensatz zu Spanien standen. Damals begann sich auch schon die Kollision russisch-spanischer Machtansprüche um Nordwestamerika abzuzeichnen. Zum Anfang des 19. Jahrhunderts erreichte diese Rivalität mit einer diplomatischen Kontroverse um das von Russen in Kalifornien errichtete Fort Ross ihren Höhepunkt 87 ). 81 ) Siehe das von I. Bogaevskij aus dem Deutschen (Johann G. Pfeil) übertragene „ P o c h o i denie dikogo amerikanca", M. 1 7 7 3 ; ibid. 1 7 7 9 . E i n „Pochoidenie dikogo gottentota, ili dikogo afrikanca", SPb. 1780 (Sop. Nr. 8598) zeigt, wie mechanisch damals eine bestimmte Titelschablone verwendet wurde. 82 ) Sipovskij, " O i e r k i " , S. 699. Die Ausgabe war betitelt: „NesCastnye prikljuÉenija Vasilija Baransfikova v Amerike, Azii i E v r o p e s 1780 po 1 7 8 7 god", SPb. 1 7 8 7 (S. ioff. Beschreibung Puerto Ricos). Z u den Details von Baranlïikovs Lebensgeschichte vgl. den Aufsatz in R B S , I I , S. 487. 83 ) Sur, op. cit., S. 1 7 . 84 ) „ P l a n vospitanija i vojaza g. X , im samim napisannyj" in „ N i to ni sio" Bl. 1 1 (9. 5. 1769), S. 81—4. 85 ) „ P l a n . . . " , S. 83. 8e ) Zum Beispiel durch die Übersetzung der Geographie Hübners; vgl. Anm. 19 und Yarmolinsky, „ S t u d i e s " V , S. 375 f. 8 ' ) Siehe dazu S. Okun', „Rossijsko-amerikanskaja kompanija" (1939), S. 1 2 1 ; Slezkin, op. cit., S. 156.
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Vor dem Hintergrund solcher politischer Entwicklungen sind Zeugnisse zu verstehen, die man bei russischen Schriftstellern um die Mitte des 18. Jahrhunderts trifft. Antispanische Untertöne waren schon in Krylovs „Amerikanern" vernehmlich. Die gleiche Tendenz klingt an, wenn in der russischen Presse vom menschlichen Wirken des Bischofs Las Casas zugunsten der von Spaniern unterdrückten amerikanischen Indianer die Rede ist88). Eine andere künstlerische Form für das gleiche Thema wählte A. V . Sumarokov. Sein „Gespräch im Totenreich zwischen Cortez und Montezuma", verfaßt in Anlehnung an Fontenelles „Dialogues des morts modernes", dramatisiert die Ereignisse um die Eroberung des Aztekenreiches in Dialogform. E s bringt den herkömmlichen Katalog von Vorwürfen gegen die Spanier vor, tadelt aber auch Montezuma wegen seiner tyrannischen Herrschaft 88 ). Den gleichen Grundton schlägt Sumarokovs zehnzeiliges Gedicht „Uber Amerika" an, das in der Grausamkeit der Europäer gegenüber den amerikanischen Urbewohnern gleichsam einen exemplarischen Zug in der Geschichte des neuen Kontinents erkennt90). E s bleibt bemerkenswert als eine der ersten eigenständigen Schöpfungen der russischen Dichtkunst über Amerika, obwohl der Autor natürlich wiederum weitgehend von westeuropäischen Interpretationen abhängig ist. Lomonosovs intensives Interesse an Amerika wurde schon aus seiner Beschäftigung mit Alaska ersichtlich. Eine Digression seines „Briefes über den Nutzen von Glas" ist erneut diesem Thema gewidmet. Ähnlich Voltaire und anderen Philosophen der Aufklärung ist Lomonosov abgeneigt, die Wilden über Gebühr zu idealisieren, wenn er aus der geschichtlichen Rückschau die Zerstörungen der Europäer verurteilt : „ I n Amerika, so meinen wir, leben einfache Menschen, Die dort teures Metall aus Silberflüssen Gern europäischen Kaufleuten geben Und dafür Unmengen an Glasperlen nehmen ; Doch sind sie, denke ich, vernünftiger als wir darin, Daß sie Ursachen des Elends von sich fernhalten. E s sind ihnen die Zeiten unvergessen, Als ihre Väter fielen, des Goldes wegen erschlagen. O wie schrecklich ist das Böse ! Nahm deswegen Der Mensch die gefahrvolle Fahrt in unbekannte Meere auf sich, Hat er deswegen von der Natur gesetzte Grenzen überwunden und auf fauligem Holz die ganze Welt umfahren, Ist er deswegen an herrliche Ufer herabgestiegen, Um sich dort als wütender Feind zu gebärden ?" 91 ) b) Raynals „Histoire philosophique" Lomonosovs und Sumarokovs Anklagen gegen die Folgen spanischer Ausrottungspolitik kündigen einen Einfluß an, der für das russische Amerikabild des 18. Jahrhunderts von grundlegender Bedeutung wurde: das Erscheinen der von Abbé Raynal ( 1 7 1 3 - 1 7 9 6 ) herausgegebenen sechsbändigen „Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce dans les deux Indes" im Jahre 1770. 88
) In einem Artikel der „Sankt-Peterburgskie Vedomosti" des Jahres 1 7 3 5 ; nach Sur, op. cit., S. 24. Zum E n d e des Jahrhunderts erschien die Abhandlung „ R a z g o v o r Kolumba v carstve mertvych s L a s K a z a s o m " ; in N E S L X X , S. 7 8 ; nach Neustroev, op. cit., S. 3 0 3 . 89 ) „ R a z g o v o r v carstve mertvych: Kortec i Montecuma: Blagost' i miloserdie potrebny gerojam";
Werke (1787), IX, S. 232-244. 90
) „ 0 Amerike", zuerst in dem Journal „Trudoljubivaja p£ela", Nov. 1 7 5 9 ; Werke, I X , S. 1 5 6 - 7 . ) „ P i s ' m o o pol'ze stekla", op. cit., S. 5 1 3 ! . —• Vor allem die französischen Enzyklopädisten widersetzten sich dem Sentimentalismus um den „edlen Wilden". In der „Encyclopédie" findet man unter dem Stichwort „ s a u v a g e " den Kommentar: „ u n e grande partie de l'Amérique est peuplée de sauvages, la plupart encore féroces et qui se nourissent d e chair humaine"; zit. in „ R ê v e " , S. 366. B1
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Raynals Werk gab sich als eine seriöse wissenschaftliche Untersuchung aus. Sein über Amerika handelnder vierter Teil befaßt sich vor allem mit der Entdeckungs- und Eroberungsgeschichte92). In immer neuen Aufzählungen beklagt der Autor die Verbrechen der Europäer, durch die in seinen Augen alle Kolonisationsleistungen ihren Glanz eingebüßt hätten. Hier verficht er allzu unverhüllt die Interessen des bourbonischen Frankreich; sein Bemühen um einen neuen Realismus der Amerikaberichterstattung tritt hinter dieser Tendenz zurück. In äußerstem Gegensatz zu den Mordtaten spanischer und portugiesischer Eroberer schildert Raynal das friedliche Wirken der Siedler im nordamerikanischen Pennsylvanien. Seine „Histoire philosophique" steht am Scheitelpunkt jener Linie antispanischer Amerikaliteratur, die im Europa des 18. Jahrhunderts Aufsehen erregte. Gleichzeitig wirft die Schilderung des französischen Autors erste Schatten der in Nordamerika heraufziehenden Umwälzung voraus. Im einzelnen reproduzierte Raynals Amerika-Darstellung lediglich eine handliche Zusammenfassung traditioneller Fehlurteile und Voreingenommenheiten, wie sie im Laufe des 18. Jahrhunderts in Europa heimisch geworden waren 93 ). Raynal verstand es, sein Leserpublikum durch eine auf den Zeitgeschmack zurechtgeschnittene Dosierung moralisierender Sentenzen and antiklerikaler Tiraden zu ködern. Die geschickte journalistische Aufmachung garantierte den Erfolg seines Werkes94). In der Geschichte des modernen russischen Amerikabildes, deren Phasen immer wieder durch literarische Ereignisse gelenkt worden sind, bildet das Werk Raynals den ersten Festpunkt. Die Wirkung der „Histoire philosophique" war tiefgreifender als die aller vorausgegangenen Amerikaberichte. Beschränkte sich die Auseinandersetzung mit Amerika in der russischen Kulturgeschichte bis dahin auf einen zufälligen und vergleichsweise unerheblichen Rahmen, so führte Raynals Einfluß nun dazu, daß die Neue Welt in den Blickpunkt der geistigen und literarischen Interessen rückte. Zum Ende des 18. Jahrhunderts gab es kaum eine bedeutende Büchersammlung in Rußland, in der die „Histoire philosophique" gefehlt hätte 95 ). Zahlreiche Auszüge aus ihr wurden seit den 1780er Jahren in russischen Zeitschriften publiziert. Erst zum Anfang des 19. Jahrhunderts durfte allerdings eine Gesamtausgabe des Werkes erscheinen, die aus Zensurgründen zudem auf die Hälfte des ursprünglichen Umfanges reduziert werden mußte96). Im Jahre 1783 nahm der Publizist N. I. Novikov eine Charakteristik Raynals in eine Serie von Biographien berühmter Zeitgenossen auf 97 ). Noch zu Beginn des neuen Jahrhunderts war das Interesse so
92 ) Zur kritischen Beurteilung der „Histoire" s. Chinard, „ R ê v e " , S. 389-398; die Dissertation von K . Liedtke, „Die Darstellung Amerikas durch den Abbé Raynal und damit verbundene Zeitprobleme" (1954); D. M. Lang, „Some Western Sources of Radisiev's Political Thought in R E S X X V (1949), S. 76ÎÏ. ; ders., „The First Russian Radical" (1959), S. 105—8; Gonnard, op. cit., S. 100-2 (zur Schilderung der amer. Indianer bei R.); über Raynal siehe A. Feugère, „Un précurseur de la Révolution Française" (1922). 9S ) Die Geschichte dieser Irrungen des europäischen Amerika-Urteils wurde gleichfalls von Chinard geschrieben: „Eighteenth Century Theories on America as a Human Habit" in P A P S X C I ( i 9 4 7 ) , S. 27—57 (zu Rayn. : S. 36 ff.). Raynal vertrat die damals generell von der Wissenschaft anerkannte These von der klimabedingten Degeneration Amerikas, deren Wirkung noch auf Tocqueville nachweisbar ist. Davon ausgehend hält R. es für unmöglich, daß sich jemals mehr als 10 Millionen Menschen in der Neuen Welt ausreichend ernähren könnten. 94 ) 1780 erschien bereits die dritte Auflage der „Hist.", die jedoch im Jahr darauf auf Geheiß des Parlaments wieder eingestampft werden mußte. Trotzdem existierten bis 1800 schon 55 Ausgaben in allen Kultursprachen; vgl. R. Palmer, „Der Einfl. d. am. Rev. auf E u r . " in „Propyl. Weltgesch." V I I I (r 9 6o), S. 35. 95 ) Zur Wirkungsgesch. s. L. Lechtblau in „Ist.-Marksist" (1939), I, S. 199ff.; Bolchovitinov, op. cit., S. 9 7 - 9 ; A . I. Starcev, „O zapadnych svjazjach Radis£eva" in IL, 1940, 7 - 8 , S. 2^6ff. 96 ) In den Jahren 1 8 0 5 - 1 1 ; s. Lechtblau, op. cit., S. 203 f. 9 ') Erschienen in den „Moskovskie Vedomosti", 1783. Siehe den Text bei G. Makogonenko, „ N . Novikov i russkoe prosvesienie X V I I I veka" (1952), S. 39t.
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rege, daß ein einflußreicher schöngeistiger Zirkel, die Petersburger „ F r e i e Gesellschaft v o n Liebhabern der L i t e r a t u r " , über die Thesen R a y n a l s debattierte. Mitglieder dieses Kreises fertigten Übersetzungen der „ H i s t o i r e " an, die während der Sitzungen verlesen wurde. Z u den begeistertsten Anhängern R a y n a l s gehörte der Schriftsteller V . V . Dmitriev 9 8 ). I m R a h m e n der „ F r e i e n Gesellschaft" wurde auch K . N . B a t j u s k o v mit dem W e r k R a y n a l s b e k a n n t " ) .
c) Einflüsse auf die zeitgenössische russische Literatur D i e Auseinandersetzung mit der „Histoire philosophique" war in R u ß l a n d seit den 1780er Jahren ein obligatorischer Bestandteil jeder literarischen Bildung. D a s Amerikabild der Zeit wurde durch diese L e k t ü r e entscheidend geprägt. Einige Zeugnisse des Staatsmannes und Schriftstellers Fürst D m i t r i j P . G o r f a k o v (1758—1824.) mögen das belegen. G o r c a k o v , um die Jahrhundertwende eine der herausragenden Gestalten der Petersburger literarischen Gesellschaft, machte sich vor allem durch Verssatiren und Opernlibretti einen N a m e n . Sein Gedicht „ M e i n jetziges L e b e n " , das die Vorzüge eines ganz den Wissenschaften gewidmeten Daseins preist, nennt R a y n a l inmitten der maßgeblichen literarischen A u t o r i t ä t e n der Epoche 1 0 0 ). Eine Lesefrucht aus R a y n a l ist offenkundig Gorcakovs „ A n meinen F r e u n d " v o m Jahre 1790. Diese Verse wiederholen die K l a g e R a y n a l s über Gewalttaten in den Kolonialreichen der W e l t , namentlich in Indien und A m e r i k a : „ S e h t A m e r i k a , jenen reichen Weltteil, W o h i n der Eigennutz die Herzen zieht, die dem Golde Untertan sind, ( . . . ) H a i t i ! Thron ewigen Sommers! Vergeblich bist du v o n weiten Meeren umgeben! Der Ozean ist dem Eigennutz ein schwaches Hindernis. A u c h zu dir ist der schreckliche A r i m a n gekommen, U n d die gierigen Einwohner der T h e m s e und Seine K o n n t e n dir die W u n d e n des Antillen-Leids zufügen 1 0 1 )." R a y n a l s Einfluß machte sich hauptsächlich in thematischer Hinsicht bemerkbar. Seine Darstellung war überwiegend mit der L a g e in der iberoamerikanischen W e l t b e f a ß t ; v o n den Vorgängen in den englischen Kolonien Nordamerikas nahm sie demgegenüber nur am R a n d e Notiz. D a s Interesse für südamerikanische T h e m e n dominierte folglich a u c h unter den russischen Schriftstellern der Z e i t . A u ß e r d e m w u r d e die A u f m e r k s a m k e i t wiederum auf die E n t deckungsgeschichte Amerikas gelenkt, mit der sich schon die A u t o r e n der Kosmographien bevorzugt auseinandergesetzt h a t t e n . D i e Gestalt des K o l u m b u s stand hier im Mittelpunkt
08) Zum Einfluß auf das 1801 gegründete „Vol'noe obsiestvo ljubitelej slovesnosti" vgl. Lechtblau, S. 200; V. Orlov, „Russkie prosvetiteli 1790-1800-ch godov" (1950), S. 203 s . " ) L. N. Majkov, „ O zizni i soiinenijach K . N. B.-a" in Batjuskovs Werken (1885 fr.), I, S. 37fr. l0 °) „Teperesnjaja moja zizn'" (1788), in „Poety-satiriki k o n c a X V I I I - n a i a l a X I X v . " (1959), S. 103:
„Raynal, der im Altertum Ohne Beispiel ist, und der Mit kühner Stimme Das leidvolle Geschick von Völkern zu beklagen wagt, Die der Sklaverei unterworfen sind, Die zu Unrecht verheert worden sind, Von denen die durch finsteres Elend bedrückte Neue Welt voll ist." 101 ) „ K drugu moemu N. P. N. Beseda pervaja" in „Poety-satiriki . . . " , S. 123. In Fußnoten weist Goriakov auf seine Quellen hin, unter denen neben Raynals „Hist." Laharpes Reisekompilation von 1780, sowie die Werke Cooks und Bougainvilles („Voyage autour du monde" [1771]) genannt werden.
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der Erörterungen 108 ). Die Interpretation Raynals bildete eine eigentümliche Moral heraus, wie sie sich beispielsweise in einem Gedicht Karamzins vom Jahre 1794 findet: „Der Wagemutige, der Amerika entdeckte, Entdeckte keinen W e g zum Glück; Der die Indianer in Ketten sperrte Wurde selbst in Ketten gefangen; E r führte und beschloß sein Leben leidend 103 )." Neben der Faszination, die die Entdeckungsgeschichte der Neuen Welt immer noch ausstrahlte, rückte durch den Einfluß Raynals ein neues Motiv in den Vordergrund der Betrachtungen: das Motiv des unterdrückten Negers in den amerikanischen Kolonien. Die Artikel aus der russischen Zeitschriftenpresse des ausgehenden 18. Jahrhunderts behandelten diesen Gegenstand in immer neuen Variationen, in geschichtlichen Uberblicken, Tatsachenberichten, oder in der künstlerischen Erzählform 104 ). Die Heroisierung des Negers wurde um diese Zeit zu einem literarischen Gemeinplatz. Anregungen gingen sowohl von Raynal als auch von anderen westeuropäischen Vorbildern aus 106 ). Die Formen, die sich zur Behandlung dieses Sujets herausbildeten, wurden auch während des 19. Jahrhunderts noch lange beibehalten. Bevorzugt wurde der dramatische Monolog, wie in dem „Grablied einer Negerin", einer 1798 erschienenen Übertragung aus dem Deutschen 106 ). Eine grobe Schwarz-Weiß-Zeichnung ist das feststehende Requisit der Personendarstellung; der Neger erscheint als Ausbund an Tugend und Demut, während ihm gegenüber der Europäer stets in der Rolle des Scharlatans auftritt. In die Darstellung mischte sich zuweilen ein Unterton der Kritik an bestimmten Praktiken der Leibeigenschaft in Rußland 107 ). Nicht alle russischen Schriftsteller, die sich auf Raynals Anregung hin mit der Lage der Neger in Amerika befaßten, hielten am üblichen Schema fest. N . I. Novikovs Artikelserie über den Negerhandel wählte zum Beispiel die journalistisch wirksamere Methode der Mystifika-
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) Kolumbus hatte um die Jahrhundertmitte schon die Aufmerksamkeit A. D. Kantemirs auf sich gezogen ; siehe Yarmolinsky, „ Studies" V, S. 45 5.1786 erschien in Kaluga das Werk „Kolumb v Amerike", eine gekürzte Übersetzung des Poems „ L a Colombiade, ou la foi portée au Nouveau Monde" der Anne Marie Lepage. Weitverbreitet war damais eine Übersetzung aus dem Deutschen ( J . H. Campe) mit dem Titel „Otkrytie Ameriki; prijatnoe i poleznoe ïtenie dlja detej i molodych ljudej" (Sop. Nr. 1787—8). Im „Vest. E v r . " erschien „Pis'mo Ch. Kolomba k GiSpanskomu korolju, nedavno najdennoe"; Nr. 16 (1802), S. 28off. 103 ) „Poslanie k A. A. Plesieevu" (1794); Werke (1917) I," S. 104. Sipovskij bemerkt kommentierend zu diesem Gedicht, daß es Karamzins „bedrückendes Gefühl der Enttäuschung über die Menschen" widerspiegele (ibid., S. 428). 104 ) Vgl. das bei Neustroev (op. cit., S. 4 3 0 - 1 ) aufgeführte Verzeichnis von Zeitschriftenartikeln zu dem Stichwort „negr". 105 ) Eine „ R e t ' negra k svoim muciteljam" erschien in N E S X X I (1792), Nr. 5, als Übersetzung aus dem Frz. Aus dem Frz. des J . Lavallée erschien 1797—8 in Moskau der Titel „Negr, ili iernoj, kakich malo byvaet belych". Auszüge aus einem englischen Buch wurden im Moskauer „ Ë u r n a l novostej" (1805, Nr. 3, S. 45—53) als „Amerikanec v nevole" veröffentlicht. Von Einfluß war daneben auch Kotzebues „Die Negersklaven. Ein historisch-dramatisches Gemälde in drei Aufzügen", Lpz. 1795. Im Vorwort zu seinem Stück, „einer Art vorweggenommenen Onkel T o m " (so Ch. Rabany, „Kotzebue. Sa vie et son temps" [1893], S. 173), bezog sich der Autor ausdrücklich auf Raynal. Die „Negersklaven" erschienen russisch 1802 (übers, durch P. M. Ivanov) und 1803 (übersetzt von A. Turgenev unter dem Titel „Negry v nevole"); s. Orlov, op. cit., S. 266. 106 ) „Nadgrobnaja pesn' negritjanki; pri pogrebenii molodogo negra v Vest-Indii" in P P P V X V I I (1798), S. 88-91. 107 ) Lechtblau (op. cit., S. 200) stellte fest, daß auch manche zeitkritische Polemiken damaliger russischer Autoren (genannt werden P. Celiäievs „Putesestvie po severu Rossii" und Aufsätze von A. I. Klusin) am Vorbild Raynals geschult waren.
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tion 108 ). Demgegenüber weist V. V. Popugaevs 1801 verfaßte Abhandlung „Der Neger" alle Züge des typischen Klischees auf. Popugaev zählte zu den aktivsten und radikalsten Mitgliedern der erwähnten „Freien Gesellschaft", in deren Mitte die Kenntnis Raynals besonders gründlich gewesen sein soll. Bevor er das Gebiet der politisch-sozialen Publizistik für sich entdeckte, hatte er sich ziemlich erfolglos im Genre des Sentimentalismus versucht. Seine Abhandlung über den Neger ist dieser Richtung verwandt; ihr Inhalt erschöpft sich im pathetischen Monolog des Negers Amru, der von einem brutalen Europäer, „wütender als ein Tiger", in Ketten geworfen wird, um auf einer amerikanischen Plantage Zwangsarbeit zu leisten 109 ). Verbittert klagt er die Unmenschlichkeit seiner Unterdrücker an. Popugaev schließt mit einem hoffnungsvollen Ausblick auf die Zeit, da sich der Neger vom Weißen die volle Freiheit erkämpft haben werde. Das Sujet des unterdrückten Schwarzen ist auch in der damaligen russischen Dichtung geläufig. Als bekanntestes Beispiel ragt hier N. I. Gnedics Ode „Der Peruaner an den Spanier" heraus, ein Werk, das dem bis dahin relativ unbeachteten Autor erstmals breitere Anerkennung eintrug. Wiederum steht der Monolog eines gefangenen Schwarzen gegen europäische Bedrücker im Mittelpunkt. Die Übereinstimmungen, die zwischen Gnedii und Popugaev sowohl im Sujet als auch in der Metaphorik bestehen, lassen die gemeinsame westeuropäische Quelle ahnen 110 ).
d) Einflüsse auf Radiscev Für das Schaffen A. N. Radiäcevs war die „Histoire philosophique" von besonderer Bedeutung. Ihr verdankt das Werk des russischen Schriftstellers „den Akzent, die Leidenschaft, die es beseelt, den revolutionären Glauben, der es durchatmet 1 1 1 )." Die zahlreichen Untersuchungen, die diesen Gegenstand erörtern, mögen in der Bewertung der Einwirkung Raynals zum Teil' beträchtlich differieren — unbestritten bleibt die Tatsache eines solchen Einflusses
108 ) „Ponjatie o torge nevol'nikami" ; in den „Pribavlenija k 'Moskovskim Vedomostjam'", 1784, Nr. 72—74, S. 521—64. E s handelt sich dabei möglicherweise um eine Übertragung aus dem Engl, oder Amerikan., denn der Artikel ist von der W a r t e eines Sklavenhändlers geschrieben. Die Unmenschlichkeit des Negerhandels wird hier gerade durch die absurden und zynischen Argumente eines Beteiligten aufgedeckt. 10l> ) „ N e g r " , erschienen zuerst 1804 im Bulletin des „Vol'noe o b s i e s t v o " („Periodiieskoe izdanie"); später erneut im Sammelband „ T a l i j a " , SPb. 1807, S. 57—60. Ich beziehe mich auf die letztgenannte Ausgabe. — Zum Schaffen Popugaevs s. Orlov, op. cit., S. 2 5 1 ff. Popugaev verfaßte in der Manier des Sentmentalismus die Erzählung „Aptekarskij ostrov, ili bedstvija ljubvi (1800) und das Gedicht „ K aptekarskomu ostrovu." uo ) „Peruanec k ispancu" (1805); in „Stichotvorenija" (1956), S. 6 9 - 7 2 :
„Zerstörer meines lieben Vaterlandes, meiner Heimat, O du, der du dem Lande als Beispiel unerhörter Schandtaten erschienst, Indem du die heiligen Gesetze der Natur verhöhntest Doch du bist stärker als ich, soll ich aber — nur weil ich schwach bin, Nur deshalb, weil ich schwarz bin, dein Sklave sein ? Ich bin ein Wilder, unglücklich durch meine Einfachheit, Dein Geist ist aufgeklärt, doch dein Herz ist ein schrecklicher T i g e r . " lu ) Fr. de Labriolle, „ R a d i s £ev, lecteur des philosophes français du X V I I I e siècle" in „Cahiers du monde russe . . . " V (1964), 3, S. 2 7 1 . ( „ A l'abbé Raynal, enfin, il [i. e. R a d i s ï e v ] doit ce qui est peutêtre l'essentiel, c'est-à-dire l'accent de son oeuvre, la passion qui l'anime, la foi révolutionnaire qui l'inspire.")
26
s e l b s t 1 1 2 ) . A n r e g u n g e n scheinen a u c h v o n der d a m a l s sehr p o p u l ä r e n „ H i s t o r y of A m e r i c a " des S c h o t t e n W . R o b e r t s o n auf R a d i ä i e v a u s g e g a n g e n zu s e i n 1 1 3 ) . N a c h d e n E r m i t t l u n g e n n a m h a f t e r L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l e r scheint es n u n m e h r
festzu-
stehen, daß R a d i § £ e v die dritte R a y n a l - A u s g a b e des J a h r e s 1 7 8 0 v o r g e l e g e n h a t , die in ihrer antiabsolutistischen T e n d e n z d u r c h I n t e r p o l a t i o n e n u n d K o m m e n t a r e D i d e r o t s
wesentlich
v e r s t ä r k t w o r d e n w a r 1 1 4 ) . B e r e i t s in der „ F r e i h e i t s o d e " a u s den J a h r e n 1 7 8 1 - 3 ist dieser E i n fluß e v i d e n t . N i c h t nur d e m allgemeinen g e d a n k l i c h e n G e h a l t n a c h , sondern bis in einzelne F o r m u l i e r u n g e n ist hier d a s V o r b i l d R a y n a l s m a ß g e b l i c h g e w e s e n . S o h a t z u m B e i s p i e l die vielzitierte 46.
S t r o p h e des G e d i c h t s , in der
sich R a d i ä f e v enthusiastisch an das
heißungsvolle L a n d " A m e r i k a w e n d e t , ihr M u s t e r in einem gleichen begeisterten
„verAufruf
Raynals116). N a c h d e m Z e u g n i s ihres A u t o r s v e r d a n k t die b e r ü h m t e „ R e i s e v o n P e t e r s b u r g n a c h M o s kau"
dem
Studium
R a y n a l s wesentliche I m p u l s e 1 1 6 ) .
Gerade
die E n t l e h n u n g e n aus der
„ H i s t o i r e " in dieses W e r k sind R a d i ä c e v s p ä t e r v o n K a t h a r i n a I I . besonders übel v e r m e r k t w o r d e n 1 1 7 ) . R a y n a l s H a u p t t h e m a , die A n p r a n g e r u n g j e d e r F o r m v o n S k l a v e r e i in d e n europäischen K o l o n i e n , w u r d e in der „ R e i s e " w i e d e r a u f g e n o m m e n u n d v a r i i e r t , z u m T e i l u n t e r u n m i ß v e r -
112
) In Bezug auf das Ausmaß von Raynals Einfluß bleiben die Aussagen bis in die jüngste Zeit kontrovers. Bei den sowjetischen Literaturwissenschaftlern überwiegt das Bestreben, die Wirkung Raynals möglichst zu bagatellisieren, um den „revolutionären Demokraten" Radisêev von dem französischen „ A u f k l ä r e r " deutlich abzuheben; s. S. A. Pokrovskij, op. cit., S. 64fr.; E . G. Plimak, op. cit., S. 183. In ihrem Geiste argumentierte noch kürzlich Bolchovitinov, op. cit., S. i2off. Weniger polemisch sind frühere sowjetische Studien. E i n starker Einfluß Raynals wird konzediert von Lechtblau, op. cit., S. 204; desgleichen schon von dem russischen Forscher A. Veselovskij, „Zapadnoe vlijanie v novoj russkoj literature" (1906), S. 1 0 3 - 5 . Ausgewogen ist die Untersuchung dieser Frage auch bei V. P. Semennikov, „Radisòev. Oferki i issledovanija" (1923), S. 5f., 36, 342, 3 6 1 ; sowie bei Starcev, „ O zapadnych svjazjach . . . " , S. 2Öoff. E i n Artikel D. M. Längs („Some Western Sources . . . " , op. cit.) knüpfte an die Erkenntnisse Semennikovs und Starcevs an, indem er die Einflußlinien zwischen R a y n a l und Radis iev näher festlegte. E r rief den Unmut der sowjetischen Forschung, insbesondere Pokrovskijs und Plimaks hervor. Die Feststellungen Längs wurden neuerdings erhärtet durch die erwähnte Studie des Franzosen Labriolle, die bisher gründlichste Arbeit zu diesem Thema. Indem er das Einwirken Raynals und anderer französischer Philosophen zum „Ausgangspunkt" erklärt, „ u m den (Radiâïev) ein persönliches Werk errichtete", ist Labriolle um eine differenzierende Betrachtung bemüht (op. cit., S. 285). Den Thesen Längs widersprechend erachtete dagegen A. McConnell die Einwirkung Raynals im Vergleich mit der anderer westeuropäischer Autoritäten für geringfügig; „ A b b é R a y n a l and a Russian Philosophe" in J G O (N. F . ) X I I (1964), S. 4 9 9 - 5 1 2 , bes. 5 1 1 ; ders. „Radishchev's Politicai Thought" in A S E E R X V I I (1958), S. 4 3 9 f f . 113 ) Die „History of America" war ein Modewerk der Zeit, das ebenfalls in alle Kultursprachen, sogar ins Armenische (1784) übertragen wurde; vgl. Palmer, op. cit., S. 3 5 ; zu den Verzerrungen darin s. Chinard in P A P S , op. cit., S. 38f. Sie erschien russisch als „Istorija 0 Amerike" SPb. 1784 (nur Teil I). Zum Einfl. Roberts, auf Rad. s. R . P . Thaler, „ R a d i ä f e v , Britain and America" in H S S I V (1957), S. 68 f. 114 ) Starcev, „ O zapadnych svjazjach . . . " , S. 260; Lang, op. cit., S. 77. Die abweichende These Semennikovs (op. cit., S. 5) und G. A. Gukovskijs, des Herausgebers der Gesammelten Werke R a d i s ï e v s ( 1 9 3 8 0 . ; im Komm, zu Bd. I, S. 444), R a d . habe nicht Raynals „ H i s t . " sondern vielmehr dessen 1781 erschienene Abhandlung „ L a Révolution de l'Amérique" verwertet, ist von Starcev widerlegt worden. 115 ) Semennikov, op. cit., S. 5f.5 Lang, op. cit., S. 8 o f . ; Labriolle, op. cit., S. 283 (Zitat der R a y n a l Stelle). 116 ) Aus dem Gefängnis schrieb Radis £ev : „Dieses Buch ( . . . ) kann ich als Anfang meiner gegenwärtigen elenden Lage betrachten" (gemeint ist die „ H i s t . " ; zit. bei Semennikov, op. cit., S. 36). 117 ) In einer Randbemerkung der inkriminierten „ R e i s e " findet sich aus Katharinas Hand die Notiz : „Geistreichelei, die jedoch aus verschiedenen Halbklugen dieses Jahrhunderts, wie Rousseau, Abbé R a y n a l und ähnlichen Hypochondern, entlehnt ist." (Zit. bei Starcev, „ R a d i s i e v v gody 'Puteäestv i j a ' " [i960], S. 2 1 1 )
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ständlichem B e z u g auf die russische Version der Sklaverei 1 1 8 ). A m e r i k a wurde darüberhinaus zum Sinnbild allen Unheils, das die menschliche Gier nach Gold- und Silberschätzen in der W e l t angerichtet habe 1 1 9 ). O b w o h l nur wenige direkte B e z ü g e auf R a y n a l offenbar werden 1 2 0 ), verraten gerade jene Passagen die L e k t ü r e der „Histoire philosophique", die auf die elende L a g e der Sklaven in A m e r i k a eingehen. So ereifert sich Radiäcev im K a p i t e l „ C h o t i l o v " der „Reise'': „ N a c h d e m sie einmal die Indianer verdrängt haben, schicken sich die grausamen Europäer, die Verkünder des Friedens im N a m e n göttlicher W a h r h e i t , an, dem anfänglichen mörderischen W ü t e n der Eroberung noch den kaltblütigen Mord der V e r s k l a v u n g durch den käuflichen E r w e r b Unfreier hinzuzufügen. ( . . . ) U n d wir nennen ein L a n d der Verwüstung gesegnet, weil seine Felder nicht von Gesträuch verwachsen und seine Äcker voll der verschiedensten Pflanzen sind. W i r nennen ein L a n d gesegnet, w o hundert stolze Bürger im L u x u s ertrinken, doch Tausende keine sichere Nahrung, noch eigentlichen Schutz vor H i t z e und Frost haben. O, daß doch diese Überflußländer eher brach lägen 1 2 1 )!" A u s Radiäcevs Tirade ist zweifellos Erbitterung abzulesen 1 2 2 ); sie beruht jedoch weit eher auf spontaner Erregung als auf einer Aversion grundsätzlicher A r t . Seine S y m p a t h i e n für die U 8 ) Siehe den Dialog mit einem „ausländischen" Freund, den der Autor angesichts der Versteigerung russischer Leibeigener wiedergibt. Der Text der Rede macht es wahrscheinlich, daß dieser fiktive Gesprächspartner einen Amerikaner vorstellen soll:
„Sei du nicht Zeuge eines schändlichen Schauspiels. Du hast einmal den barbarischen Brauch des Verkaufs schwarzer Unfreier in entlegenen Siedlungen deines Vaterlandes getadelt ( . . . ) " . „Ich kann das einfach nicht glauben", sagte mir mein Freund; „es ist unmöglich, daß dort, wo jedem zu denken und glauben erlaubt ist, wie er will, eine solch schimpfliche Gewohnheit existiere.." („Putesestvie iz Peterburga v Moskvu" [1790], Werke [op. cit.] I, S. 351; Kap. „Mednoe") 119 ) „Putesestvie " op. cit., S. 384; Kap. „Cernaja grjaz'". Hier schildert R. einen Dialog Lomonosovs mit sich selbst:
„ . . . Möchtest du etwa die große Kunst erwerben, wie man Silber und Gold gewinnt ? Oder weißt du nicht, was für Unheil sie in der Welt verursacht haben ? Hast du die Eroberung Amerikas vergessen?" 12 °) „Putesestvie . . . " op. cit., S. 240 (ein Verweis auf die „Histoire" als Quelle), und S. 391 (Raynal wird hier neben Robertson und Tacitus als höchste Autorität der Geschichtsschreibung genannt). m ) „Putesestvie.. ."op. cit., S. 316—7. Ein weiteres Mal erregt sich der Autor beim Anblick von Schiffen: „ . . . sie bringen uns die Uberschüsse Amerikas und seine kostbaren Pflanzen, wie Zucker, Kaffee, Farben und andere; diese sind noch nicht vom Schweiß, den Tränen und dem Blut getrocknet, die bei ihrer Erzeugung geflossen sind." (Kap. „Vysnij volofok", op. cit., S. 324) Diese Textstelle ist aufschlußreich als Beleg für die Art der damals zwischen Amerika und Rußland abgewickelten Handelsbeziehungen, mit denen RadisCev als leitender Beamter des Peterburger Zolls sicherlich gut vertraut war. 122 ) Auf die Auslegung dieses Zitats stützt sich in der Hauptsache die Argumentation jener Sowjetautoren, die RadisCev zum Stammvater einer russischen Anti-Amerika-Literatur stempeln möchten; vgl. u.a. V. Orlov, „RadisCev i russkaja literatura" (1949), S. I4f.; S. A. Pokrovskij, op. cit., S. 56ÍT. („Popytki izkazenija politiCeskich vzgljadov R.-a") und die erwähnten Sammeldarstcllungen von I. N. Uspenskij, G. S. Ceremin und N. Travuskin. Der gleichen Genealogie werden zumeist Popugaev und Gnedii zugeschlagen, wobei stets besondere Mühe auf den Nachweis verwandt wird, daß es sich bei der Schilderung unterdrückter amerikanischer Neger in Wahrheit um eine Art „äsopischer Sprache" gegen die Leibeigenschaft in Rußland handelte; s. Orlov, „Russkie prosvetiteli . . . " , S. 466. L. A. Sur führt die gleiche Art von Anklageliteratur gegen die Leibeigenschaft bis auf Lomonosov und Sumarokov zurück; das hispano-amerikanische Thema habe sich nach seiner Meinung „aus den Wurzeln der russischen Wirklichkeit genährt"; op. cit., S. 24 t., S. 30. Eine Zeitlang empfahl sich der Bezug auf RadisCev für alle diejenigen sowjetischen Autoren, die sich, wenn auch in noch so entlegener Form, imerikanischer Sujets annahmen. In einem Roman I. Kratts vom Jahre 1950 tritt RadisCev leibhaftig in Erscheinung, um als „Verächter von Sklaverei und Despotismus" seine Geringschätzung darüber kundzutun, daß die Amerikaner Gesetze zur Festigung der Negersklaverei erließen („Kolonija Ross", L. 1950, S. 23f.).
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Entwicklung in Nordamerika hatte der Autor an anderer Stelle in überschwenglichen Lobgesängen formuliert. E s unterstreicht noch seine gefühlsmäßigen Bindungen an dieses Amerika, wenn er hier mit solcher Vehemenz gegen bestimmte Mißstände der dortigen Sozialordnung zu Felde zog. Sie mußten ihm gerade durch die Ähnlichkeit mit den reformbedürftigen russischen Verhältnissen besonders verabscheuungswürdig erscheinen.
e) Nachwirkungen Raynals im 19. Jahrhundert Die Entstehung einer Anklageliteratur gegen Auswüchse der europäischen Kolonialherrschaft in Amerika dokumentiert den Einfluß, den die „Histoire philosophique" im Rußland des 18. Jahrhunderts ausübte. Amerika wurde hier erstmals als Kontinent krasser sozialer Ungerechtigkeiten und rassischer Diskriminierung präsentiert — ein Vorwurf, der später in immer stärkerem Maße gegen die Vereinigten Staaten geltend gemacht werden sollte. Zu diesem Themenkreis wurden im damaligen russischen Schrifttum eine Reihe von Klischees vorgezeichnet. Sie blieben auch im 19. Jahrhundert noch lange eine der Grundlagen jeder Auseinandersetzung mit der Neuen Welt. Von manchen der späteren russischen Schriftsteller wurde die Kritik an Amerika nach Art Radiäcevs vorsichtig in einen Zusammenhang mit der Leibeigenschaft gebracht 123 ). Prononcierter ist diese Tendenz in jenen Zeugnissen, in denen von „weißen Negern" und dem Schacher mit ihnen in Rußland die Rede war. So forderte P. A. Vjazemskij in einem Gedicht des Jahres 1820, „daß doch der Verkauf von weißen Negern Im heiligen Rußland aufhörte 124 )." Von „weißen Negern" in Anspielung auf die russischen Leibeigenen sprach zur gleichen Zeit auch ein Brief des Dichters D. V. Davydov 1 2 5 ). Die Parallele zwischen dem Negerhandel und dem öffentlichen Feilbieten Leibeigener auf russischen Jahrmärkten zog wenig später Lermontov 126 ). Bestimmte Amerika-Topoi aus der russischen Dichtung des beginnenden 19. Jahrhunderts weisen darauf hin, daß der Einfluß Raynals fortbestand 127 ). Die Bezüge im Schrifttum der Zeit vermischen sich häufig mit Anspielungen auf die seit 1810 einsetzenden Autonomiebestrebungen der spanischen und portugiesischen Kolonien in Südamerika. Besonders die Dekabristen wandten sich solcher aktuellen Thematik zu. Der der Dekabristengruppe zugerechnete V. F. Raevskij verfaßte um 1820 ein wehleidiges Gedicht „Weinen eines Negers", in dem ein Schwarzer nach der Manier Popugaevs und Gnediis das Schicksal seiner Rasse beklagt 128 ). Bezeichnenderweise wird in der Memoirenliteratur der Dekabristen Raynal als einer der Namen genannt, der auf die freiheitlichen Ideen der Verschwörer entscheidend eingewirkt 12S ) I. Pnin ( 1 7 7 3 - 1 8 0 5 ) , ebenfalls ein Mitglied der „Freien Gesellschaft", schrieb 1804 in seinem „ O p y t o prosveiienii otnositel'no Rossii" ( „ S o f i n e n i j a " [1934], S. 1 3 9 ) :
„ E s ist schmerzlich, überaus schmerzlich für einen Russen, der sein Vaterland liebt, in ihm Dinge zu sehen, die nur in der Heimat der Neger geschehen . . . " 124
) „Pozdravlenie V . L. Puskinu na novyj g o d " ; in „Izbr. stichotvorenija" (1935), S. 163. ) 7. 8. 1 8 1 9 an P. D. Kiselev; Werke, I I I (1893), S. 2 3 1 . 1M ) Im Jahre 1 8 3 0 ; Werke (1935), I V , S. 402 (Ein Dramenprojekt mit dem Wortlaut: „ P r e z d e ot materej i otcov prodavali doierej kazakam na jarmarkach kak negrov"). 127 ) Siehe die Metapher aus A . A . Del'vigs Gedicht „ P u s k i n u " ( 1 8 1 5 ) ; in „Poln. sobr. stichotv." (1959), S. 109: 125
„ E i n e Flotte mit dem unehrlichen Reichtum Amerikas, Mit schwerem Gold, das durch Blut erkauft wurde, ( . . . ) " . 128
) „ P l a i ' negra" in V. Bazanov, „ V . F. R a e v s k i j " (1949), S. 1 7 7 .
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habe 129 ). Auch in den sozialpolitischen Gedankengängen der Dekabristen spielte folglich der alte Vergleich zwischen amerikanischen Negern und russischen Leibeigenen eine bedeutende Rolle 130 ). Für die Schriftsteller der 1820er und 1830er Jahre blieb die Lage der Neger in Amerika ein aktuelles Thema, mit dem sie durch zahlreiche Zeitschriftenbeiträge vertraut waren. Puschkin griff die „Sklaverei der Neger" als eine der verwerflichsten Seiten der Entwicklung in den Vereinigten Staaten an 131 ). Den gleichen Tenor enthielt ein Brief, den der Dekabrist M. S. Lunin 1839 l n ¿er sibirischen Verbannung verfaßte 1 3 2 ). Mit der Zuspitzung des Rassenkonflikts vor dem Ausbruch des nordamerikanischen Sezessionskriegs rückte um die Jahrhundertmitte die sozialpolitische Komponente des Sujets wiederum in den Vordergrund. Die Wirkung von Mrs. Beecher Stowes „Onkel Toms H ü t t e " führte dazu, daß die sentimentalisierende Darstellung des amerikanischen Negers in der russischen Literatur von neuem auflebte. Diese Entwicklung illustrieren zahlreiche Zeugnisse aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 133 ). In sowjetischer Zeit schenkte man den unterdrückten amerikanischen Negern begreiflicherweise besondere Beachtung, wobei die klassenkämpferische Bedeutung der Rassenfrage unterstrichen wurde. Doch selbst in den Werken sowjetischer Schriftsteller bleiben Rückstände des alten Sentimentalismus nachweisbar 134 ). Sicherlich haben auf die Darstellung des amerikanischen Negers in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl verschiedenster Einflüsse mitgewirkt. Unverkennbar ist jedoch, daß Raynal am Anfang dieser Linie steht und gleichsam ein Muster vorprägte, das weiterüberliefert wurde. Die spezifische Tendenz seiner Darstellung mag, neben anderen Faktoren, zu dem bemerkenswerten Phänomen geführt haben, daß aus dem gesamten späteren russischen Schrifttum keine negative Charakteristik eines amerikanischen Negers bekannt geworden ist 136 ). 129)
M. A . F o n v i z i n s a g t e v o r der U n t e r s u c h u n g s k o m m i s s i o n aus, d a ß sich seine „ f r e i h e i t l i c h e D e n k -
weise ( . . . ) i m A l t e r v o n 17 J a h r e n d u r c h die fleißige L e k t ü r e M o n t e s q u i e u s , R a y n a l s u n d R o u s s e a u s " h e r a u s g e b i l d e t h a b e ; „ O b s C e s t v e n n y e d v i z e n i j a v R o s s i i v p e r v u j u p o l o v i n u X I X v e k a " , I (1905), S. 5 f. Z u E i n f l ü s s e n R a y n a l s auf die B r ü d e r P . u n d A . BestuäSev u n d a u f V . A . D i v o v s. V . I. S e m e v s k i j , „ P o l i t i i e s k i e i o b s E e s t v e n n y e idei d e k a b r i s t o v " (1909), S. 220ff. 130)
V o m „ b a r b a r i s c h e n H a n d e l m i t N e g e r n in R u ß l a n d " s p r i c h t i n einer E i n g a b e v o m J a h r e 1823
B a r o n V . I. S t e j n g e l ' ; „ D e k a b r i s t y .
O t r y v k i iz i s t o f n i k o v " (1926), S. 58. A . A . B e s t u z e v
ä u ß e r t in
einem Brief a u s der F e s t u n g s h a f t , d a ß „ d i e N e g e r auf d e n P l a n t a g e n g l ü c k l i c h e r als v i e l e (russische) G u t s b a u e r n " l e b t e n ; „ I z pisem i p o k a z a n i j d e k a b r i s t o v " (1906), S. 37. 131)
Siehe d e n A r t i k e l „ D z o n T e n n e r " ( 1 8 3 6 ) ; W e r k e , X I I , S. 104. P u s c h k i n , der „ A f r i k a n e r " , h a t t e
d a r ü b e r h i n a u s ein f a s t v e r w a n d t s c h a f t l i c h e s M i t g e f ü h l m i t „ m e i n e n B r ü d e r n , d e n N e g e r n " (aus e i n e m Brief a n V j a z e m s k i j a u s O d e s s a ; W k e . , X I I I , S. 99). 132)
„ P i s ' m a iz S i b i r i " , a m 3. 1 1 . 1839; in „ S o £ i n e n i j a i p i s ' m a " (1923), S. 4 9 :
„ N a c h d e m sie (i. e. die „ a m e r i k a n i s c h e n S t a a t e n " ) feierlich die G l e i c h h e i t der M e n s c h e n v o r d e m G e s e t z als G r u n d p r i n z i p ihrer V e r f a s s u n g a n e r k a n n t h a b e n , b e w e i s e n sie d u r c h d e n G a l g e n das G e g e n t e i l u n d f ü h r e n A b s t u f u n g e n der F a r b e z u r R e c h t f e r t i g u n g v o n G r e u e l t a t e n an, die die M e n s c h h e i t beleidigen. I n d e m sie g a r d a s G r a b eines N e g e r s a b s o n d e r n , w ü r d i g e n diese V e r f e c h t e r der G l e i c h h e i t ihren N ä c h s t e n a u c h ü b e r die G r e n z e n des i r d i s c h e n D a s e i n s h e r a b . " 133)
Siehe die E r z ä h l u n g „ M a k s i m k a " (1896) v o n K . M. S t a n j u k o v i 5 , die die R e t t u n g eines N e g e r -
j u n g e n d u r c h die B e s a t z u n g eines russischen S c h i f f e s s c h i l d e r t ; oder die E r z ä h l u n g „ C e r n y j S t u d e n t " (1899) des S c h r i f t s t e l l e r s T a n , u . a . D a ß die S c h a b l o n e n des S e n t i m e n t a l i s m u s f o r t w i r k t e n , z e i g t die B e s c h r e i b u n g eines N e g e r s in V . G . K o r o l e n k o s A u s w a n d e r r o m a n „ B e z j a z y k a " ( 1 8 9 5 ) : „ S e i n e A u g e n w a r e n t r a u r i g u n d z ä r t l i c h , die L i p p e n g u t . Z w a r s a h er s c h w a r z u n d h ä ß l i c h a u s , d o c h w a r er h ö f l i c h u n d hilfsbereit. ( . . . ) D a s w a r w i r k l i c h n o c h ein ehrliches V o l k . " ( W e r k e [ 1 9 5 3 « . ] I V , S. 8 1 ) 134)
Siehe als Beispiele M a j a k o v s k i j s G e d i c h t „ B l a c k a n d W h i t e " (1925), W e r k e (1955 ff.), V I I , S. 2 0 - 3 ;
oder V . N . B i l l ' - B e l o c e r k o v s k i j s E r z ä h l u n g „ P o § £ e £ i n a " ( 1 9 3 9 ) ; in „ R a s s k a z y i o i e r k i " (1965), S. 190ff. 135)
F ü r d e n B e r e i c h der E r z ä h l l i t e r a t u r e r m i t t e l t e die3 V . K i p a r s k y ; op. cit., S. 161. E i n e
gewisse
A b w e i c h u n g v o n dieser L i n i e rein p o s i t i v e r D a r s t e l l u n g b i l d e t E . Sues „ A t a r - G u l l " , ein a f r i k a n i s c h e r N e g e r u n d S k l a v e a u f J a m a i c a , der d e n russischen L e s e r n z u e r s t d u r c h eine Ü b e r t r a g u n g I. A . G o n Earovs i m „ T e l e s k o p " des J a h r g a n g s 1832 b e k a n n t w u r d e .
30
II. DIE WIRKUNG DER AMERIKANISCHEN UNABHÄNGIGKEIT I. D i e R e a k t i o n d e r r u s s i s c h e n
Publizistik
E s war hauptsächlich dem Einfluß v o n R a y n a l s „Histoire philosophique" zuzuschreiben, wenn das Amerikabild des russischen Schrifttums am A u s g a n g des 18. Jahrhunderts manche widersprüchlichen Züge aufwies. D u r c h westeuropäische Vermittlung war zusätzlich eine verwirrende Fülle v o n Nachrichten über die Neue W e l t eingedrungen. D a jedoch eine organische Grundlage fehlte, wie sie beispielsweise in der französischen Literatur seit langem vorhanden w a r , konnten sich die disparaten Elemente noch nicht zu einem einheitlichen Begriff fügen. Unter der Einwirkung des Rousseauschen Sentimentalismus wucherten die Exotismen der Amerika-Schilderung weiter in der Trivialliteratur. E s bedurfte einer weltgeschichtlichen U m w ä l z u n g wie der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, um die E x i s t e n z A m e r i k a s als geographischer und politischer Realität in R u ß l a n d endgültig b e w u ß t zu machen. Die verstaubten literarischen Traditionen, die sich vor allem um südamerikanische T h e m a t i k aus der E p o c h e der Conquistadoren rankten, verloren damit ihre Glaubwürdigkeit. V o r dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse entwickelte sich ein zeitgemäßes Amerikabild, das in erster Linie auf die nördliche Hemisphäre des K o n tinents ausgerichtet w a r . D a s damalige russische Schrifttum v e r m i t t e l t einen anschaulichen Begriff v o n diesem nun einsetzenden W a n d e l . D e r amerikanische Befreiungskampf rief gegen E n d e des 18. Jahrhunderts überall in E u r o p a einen schwungvollen philosophischen u n d literarischen Enthusiasmus ins L e b e n . Über die Literaturen ergoß sich eine F l u t v o n Gedichten, Essays, Diskursen, T r a k t a t e n und geschichtlichen Darstellungen, in denen A m e r i k a verherrlicht, die amerikanische R e v o l u t i o n erläutert oder mißverstanden wurde 1 ). D i e führende geistige Schicht Frankreichs trieb die Idealisierung a m w e i t e s t e n ; in Deutschland w a r e n es damals vor allem die Stürmer und Dränger, die in den revolutionären amerikanischen Ereignissen den D u r c h b r u c h ihrer eigenen Ideale sehen wollten 2 ). E i n fundiertes russisches Interesse an den mit der U n a b h ä n g i g k e i t s b e w e g u n g verbundenen Fragestellungen ist in den Journalen seit etwa 1775 feststellbar 3 ). D i e Berichterstattung über die amerikanischen Ereignisse nahm damals einen erstaunlichen U m f a n g a n ; selbst Jahrzehnte später erreichte die U n t e r r i c h t u n g der russischen Öffentlichkeit über A m e r i k a nicht einen so hohen S t a n d wie gerade während dieser Epoche. W e n n wenige Jahre später a u c h die A u f merksamkeit gegenüber der R e v o l u t i o n in Frankreich merklich nachließ, so spielten hier allerdings die Zensurbehörden eine wesentliche Rolle 4 ). 1)
Palmer, „Der Einfl. d. am. Rev. auf Europa", op. cit., S. 32. Palmer, op. cit., S. 37ff. (Beispiele aus dem frz. u. dt. Schrifttum); H. St. King, „Echoes of the Am. Revol. in Germ. Literature" in UCPMP X I V (1929), 2, S. 23ff.; H. P. Gallinger, „Die Haltung der dt. Publizistik zu dem am. Unabhängigkeitskriege (1775-83)" Lpz. 1900 (Diss.). Bekanntlich verlegte F. M. Klingers Drama „Sturm und Drang" (1775), das der literarischen Strömung den Namen lieh, einen wesentlichen Teil der Handlung nach Nordamerika. 3 ) P. N. Berkov, „Istorija russkoj iumalistiki X V I I I veka" (1952), S. 316. Eine Überblick über die Berichterstattung geben Bolchovitinov, op. cit., S. 100ff.; A. I. Starcev, „Amerikanskaja vojna za nezavisimost' v russkoj peíati konca X V I I I v . " in „Istoriieskaja literatura", 1940, Nr. 5-6; Yarmolinsky, „Studies" V, S. 453 f. *) Bolchovitinov, S. 91. 2)
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Dank den Bemühungen N. I. Novikovs und anderer an westlichen Vorbildern geschulter Pioniere auf dem Gebiet der Journalistik erlebte die russische Zeitschriftenpresse gerade im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts einen unvermuteten Aufschwung. Durch die Einrichtung aktueller Nachrichtenrubriken anstelle des bislang üblichen Abdrucks stereotyper Regierungserlasse konnte der Leserkreis erheblich ausgeweitet werden8). In den 1780er Jahren war die Berichterstattung über Amerika innerhalb dieser aktuellen Kolumnen bereits selbstverständlich. Besondere Kommentierung fanden die Geschehnisse um die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung in I. F. Bogdanovics „Sobranija novostej" (1786-7), in P. I. Bogdanoviis „Akademiceskie izvestija" (1779-81), in F. O. Tumanskijs „Zerkalo sveta" (1786-7), sowie in dem von P. A. Sochackij redigierten „PolitiCeskij ¿urnal", einer russischen Version des Hamburger „Politischen Journals". Auch der Leserkreis von N. I. Novikovs „Moskovskie Vedomosti" und der „Sankt-Peterburgskie Vedomosti" wurde regelmäßig und ausführlich über Neuigkeiten aus Nordamerika informiert. Im Ton der Berichterstattung überwog eine Note überschwenglicher Zustimmung. Wo antiamerikanische Stellungnahmen geäußert wurden, lag zumeist die propagandistische Darstellung englischer Quellen zugrunde6). Manche Zeugnisse geben darüber Aufschluß, mit welcher Ungeduld damals in Rußland die Nachrichten über Amerika erwartet wurden 7 ). In den Kreisen der Gebildeten wurden sie mit ebensolchem Enthusiasmus aufgenommen wie auch im übrigen Europa. Indessen nahm die offizielle Politik des Zarenhofes damals gegenüber der amerikanischen Unabhängigkeitsforderung eher eine kühl ablehnende Haltung ein. Dieser Reserve ist es zuzuschreiben, daß eine erste zusammenfassende Darstellung über den Verlauf der amerikanischen Revolution erst im Jahre 1790 erscheinen konnte8). Immerhin hatte auch Katharina II. im Zeichen der Rivalität mit England ein bestimmtes Interesse an der Ablenkung der englischen Macht durch die Rebellion in den amerikanischen Kolonien. Es könnte sie dazu bewogen haben, die zustimmenden Berichte der russischen Presse zumindest zu tolerieren9). 5
) Darüber berichtet Karamzins Abhandlung „ O kniznoj torgovle i ljubvi ko £teniju v Rossii" (1802); Wke. (1964), I I , S. 177. Auch darin wird die Leistung Novikovs gewürdigt. Über das allgemeine Interesse heißt es: „Selbst die ärmsten Leute subskribieren, selbst die ärgsten Analphabeten möchten wissen, was man aus fremden Ländern schreibt!" 6
) Yarmolinsky, op. cit., S. 4 5 3 ; Bolchovitinov, S. 105. Der überwiegende Teil der Presseberichte war französischen oder deutschen Ursprungs. Eine Identifizierung wird oft dadurch erschwert, daß von der Mehrzahl der russischen Übersetzer Quellenangaben nicht für nötig erachtet wurden. In anderen Fällen wurden Ubersetzungen zur Irreführung der Zensur fingiert. ' ) In seinen „Reisebriefen" („Pis'ma russkogo putesestvennika" [1790]; Werke [1964], I, S. 589) berichtet Karamzin rückblickend, wie gespannt er die Neuigkeiten von den Schlachtfeldern des amerikanischen Krieges während seiner Pensionatszeit aufgenommen habe. Seine Sympathien lagen damals allerdings auf seiten der englischen Feldherren. — Novikovs „Moskovskoe izdanie" veröffentlichte 1781 eine Anekdote über eine Reise in die Unterwelt mit dem Titel „Snovidenie". Darin tritt ein Greis auf, der mit seinem Tode hadert und klagt, er habe so gern den Ausgang des letzten Krieges erleben wollen, um zu sehen, ob die Amerikaner auch wirklich ihre Unabhängigkeit errungen hätten (nach G. P . Makogonenko, „ N . I. Novikov " [1952], S. 390). 8 ) Nähere Angaben bei Bolchovitinov, S. 100. 9 ) Diese versteckt wohlwollende Haltung der offiziellen russischen Politik gegenüber den nordamerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen wurde zudem noch durch einen russisch-spanischen Gegensatz in Amerika genährt. In den J a h r e n 1 7 8 6 - 7 hielt sich mit Duldung der Zarin der vor den Spaniern geflohene venezolanische Freiheitskämpfer Francisco Miranda in Rußland auf; siehe zu diesen Zusammenhängen V . M. Mirosevskij, „Osvoboditel'nye dvizenija v amerikanskich kolonijach Ispanii ot ich zavoevanija do v o j n y za nezavisimost'. 1492—1810 g g . " (1946), S. 90. Weitaus weniger enthusiastisch war die persönliche Beurteilung der amerikanischen Revolution durch Katharina. Die Zarin betrachtete die Auflehnung der englischen Kolonien als Unbotmäßigkeit gegenüber einer legitimen Obrigkeit; siehe ihre Kommentare im Briefwechsel mit Baron Grimm, den Bevollmächtigten in Paris ( „ S b . Imp.-ogo Russkogo Ist.-ogo O b ä f e s t v a " X X I I I [1878]). Zur Haltung Katharinas vgl. auch
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D a s mannigfaltige Material über Nordamerika, das Petersburger und Moskauer Buchläden damals zum Verkauf bereithielten, umfaßte auch Subskriptionsangebote zum Bezug originaler Verfassungs- und Gesetzessammlungen. E s gibt überdies Hinweise darauf, daß handschriftliche Kopien von amerikanischen Verfassungstexten in Kreisen russischer Gebildeter zirkulierten 10 ). Das konzentrierte Interesse der Allgemeinheit spiegelt sich schließlich in der ersten russischen Gesamtdarstellung Nordamerikas, die 1783 aus der Feder von D . M. L a d y g i n erschien 1 1 ). Ladygins Bericht erschöpft sich in einer trockenen Kompilation von statistischen Angaben ohne wesentliches persönliches Kolorit; er konnte jedoch einen für die Zeit kompetenten Überblick über geographische L a g e , Fläche, Bevölkerung und Gliederung der umkämpften englischen Kolonien vermitteln. Der Verfasser zweifelt nicht am Sieg der Aufständischen; sein erklärtes Ziel ist die Einleitung intensiverer russisch-amerikanischer Handelsbeziehungen. Daneben fehlt es in Ladygins Darstellung aber auch nicht an Passagen, die die Erinnerung an die Tradition des Exotismus wachrufen 1 2 ).
2. D i e A m e r i k a r e i s e F . V . K a r 2 a v i n s In die Zeit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung fällt auch die erste Entdeckung Nordamerikas durch einen russischen Reisenden: von 1 7 7 6 bis 1788 hielt sich F . V . K a r i a v i n (1745—1812), ein von unstetem Abenteuerdrang besessener, begüterter Petersburger K a u f mannssohn, ständig auf dem amerikanischen Kontinent auf 1 3 ). Von der französischen Antilleninsel Martinique wagte er sich zwischen 1777 und 1 7 8 0 zu einer längeren Exkursion in die vom Krieg erschütterten amerikanischen Kolonien Englands, wo er auf die verschiedenste A r t in die Kampfhandlungen verstrickt wurde. Von 1785 bis 1787 kehrte er noch einmal für kürzere Zeit in die neugegründeten Vereinigten Staaten zurück.
F. A. Golder, „Catherine I I and the Amer. R e v . " ; in A H R X X I (1915-6), S. 92-6; Bolchovitinov, S. 83 ff. Um strikte Neutralität zu wahren, lehnte es die Herrscherin ab, den Amerikaner Francis Dana als offiziellen Gesandten des Continental Congress von 1770 zu empfangen (W. P. Cresson, „ F r . Dana", N.Y. 1930). Andererseits besteht kein Zweifel, daß Katharinas Politik der bewaffneten Neutralität, die ebenfalls aus dem Gegensatz zu England geboren war, den amerikanischen Bestrebungen entscheidend zugute gekommen ist. Die historisch nicht haltbare Konstruktion einer angeblichen Sympathie Katharinas für die Unabhängigkeitsbewegung ist wiederholt unternommen worden (z. B. E . DvoichenkoMarkov, „ A Russian Traveler to i8th Century America" in P A P S X C V I I [1953], S. 350; ähnlich bei A. I. Starcev, „Am. i russk. obs£.", S. 8.). Es liegt darin ein weiterer Versuch jener Legendenbildung vor, mit der die Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen im nachhinein angereichert worden ist. Von der deutschen historischen Forschung der wilhelminischen Zeit sind in ähnlicher Weise Bemühungen angestellt worden, die Wohlgeneigtheit Friedrichs II. gegenüber der amerikanischen Revolution zu unterstellen — wohl kaum zum langfristigen Nutzen der deutsch-amerikanischen Beziehungen, wie von E . Fraenkel vermerkt worden ist („Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens" hrgg. u. eingel. von E. Fraenkel [1959], S. 22). 10 ) A. I. Starcev („Amerika . . . " , S. 9) berichtet, daß solche Kopien in sowjetischen Archiven erhalten seien. Die Abschrift einer amerikanischen Dokumentensammlung soll sich unter anderem im Besitz des Grafen Panin befunden haben; Semennikov, op. cit., S. 10. u ) „Izvestie v Amerike o selenijach aglickich, v tom üisle nyne pod nazvaniem Soedinennych Provincij, vybrano pereinem iz novejäich o tom prostranno soiinenij", SPb. 1783 (60 Seiten). 12 ) „Izvestie . . . " , S. 4Öf. Außerdem versuchte sich Ladygin erstmals mit einer Bestimmung des amerikanischen Nationalcharakters (S. 45): „Die sittlichen Eigenschaften der Bewohner jenes Landes bestehen in Mäßigkeit ( . . . ) , einem fleißigen Arbeitssinn, kaufmännischer Versiertheit, Grobheit und unmäßigem Freiheitsstreben." 1S ) Über Kariavin liegen vor: ein Artikel von N. P. Durov in R S X I I (1875), S. 2 7 2 ® . ; ein Artikel in R B S , V I I I , S. 523; E . Dvoichenko-Markov, " A Russian Traveler . . . " , op. cit.; A. I. Starcev, „ F . V. Kariavin i ego amerikanskoe puteäestvie" in „Istorija S S S R " IV (i960), 3, S. 132ff.; Bolchovitinov, op. cit., S. 131 ff. 3
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Vieles an Karzavins Reiseunternehmen bleibt in mysteriöses Dunkel gehüllt 14 ). Auch in den späteren philologischen Abhandlungen Kariavins findet sich nur weniges, was über diese Zusammenhänge Aufschluß geben könnte 16 ). Es scheint indessen, daß Kariavin sich vor allem durch einen wachen Geschäftsinstinkt von den Ereignissen in Nordamerika angezogen fühlte. Selbst Verbindungen mit französischen Waffenhändlerkreisen sind ihm nachgesagt worden. Es mag aus diesem Grunde etwas dubios sein, ihn in eine Linie mit Lafayette, Kosciuszko oder Steuben zu stellen 16 ), die aktiven Anteil am Unabhängigkeitskampf der Amerikaner nahmen. Aus der Korrespondenz Karzavins und seinen philologischen Schriften sind überdies nur spärliche Angaben überliefert, die auf eindeutige Sympathien für die Sache der Aufständischen schließen ließen. Später, in einer Äußerung vom Jahre 1797, bestritt Karfcavin entrüstet jedes Mitgefühl für Freiheit und Gleichheit: „wenn dem so wäre, hätte ich Amerika nie verlassen 17 )." Andererseits weisen gewichtige Indizien auf ein engagiertes Eintreten Karzavins für die Sache der amerikanischen Insurgenten. Zu seinem Bekanntenkreis zählten profilierte Repräsentanten der Unabhängigkeitsbewegung wie J . Madison und C. Bellini. In Kreisen um Jefierson scheint eine Zeitlang ernsthaft ein Proj ekt erwogen worden zu sein, Kariavin als Botschafter des amerikanischen Kongresses in offizieller Mission an den Petersburger Hof zu entsenden18). Durch seine gründliche Kenntnis der Vereinigten Staaten besaß Karzavin nach der Rückkehr in die russische Heimat für eine Vermittlertätigkeit geradezu ideale Voraussetzungen. Die Spuren seines Wirkens sind jedoch im einzelnen schwer faßbar. Sicherlich hat er dazu beigetragen, die proamerikanische Einstellung unter den russischen Liberalen und Freimaurern weiter zu bestärken. Über seinen Bekanntenkreis, zu dem als prominentester Vertreter der Literatur N. I. Novikov gehörte, hat er das russische Interesse für die Belange des neuen nordamerikanischen Staates wirksam anregen können 19 ). Daß Karfcavin sich Amerika auch späterhin eng verbunden fühlte, belegt die Autorensignatur „russkij amerikanec", mit der er das Vorwort einer seiner Schriften aus dem Jahre 1795 versah 20 ).
3. D i e G l o r i f i z i e r u n g F r a n k l i n s u n d W a s h i n g t o n s Eine Kampagne zur Verherrlichung Benjamin Franklins und George Washingtons hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts über ganz Europa verbreitet; von ihr wurde auch Rußland erreicht. In den Namen der beiden Revolutionshelden symbolisierte sich damaligen russischen Betrachtern der Erfolg und die Bedeutung der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Während sich der Ruhm Washingtons vor allem auf dessen Wirken als siegreicher Feldherr gründete, hat die Tätigkeit Franklins in dreifacher Hinsicht ausgestrahlt: auf den Gebieten der Naturwissenschaften, der Literatur und der Politik 21 ). 14
) Bolchovitinov, S. 14.2. ) Dazu siehe M. P. Alekseev, „Filologiäeskie nabljudenija V. F. K a r i a v i n a . . . " in „Romanskaja filologija" (196t) S. 88 ff. M ) S. Dv.-Markov, op. cit., S. 350. 17 ) Bolchovitinov, S. 137 (vage Sympathien für die Aufständischen); S. 140 (Zitat). 18 ) Dv.-Markov, S. 354; Bolchovitinov, S. 138f. 18 ) Dv.-Markov, S. 353, 355. 20 ) „Novojavlennyj vedun, povedujusiij gadanie duchov . . S P b . 1795; S. IV. 21 ) Zur europ. Berühmtheit Franklins und Washingtons siehe Chinard, „The American Dream", op. cit., S. t98ff. Die maßgebliche Bedeutung Franklins für die russische Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts ist auch von sowjetischen Forschern längst anerkannt worden; vgl. M. I. Radovskij, „ V . Franklin i ego svjazi s Rossiej" (1958); A. I. Starcev, „ V . Franklin i russkoe obäCestvo X V I I I veka", in I L (1940), Nr. 3-4, S. 208ff.; Bolchovitinov, op. cit., S. 24öS. Durchweg polemischer im Tonfall ist G. P. Makogonenko, der einen Versuch unternahm, das schriftstellerische Schaffen Novikovs als fundamentale Entgegnung auf den „bourgeoisen Praktizismus" Franklins zu deuten; „ N . Novikov", op. cit., S. 297fr. Diese abschätzige Wertung greift auf Gedanken zurück, die bereits im 19. Jahrhundert von russischen Gegnern Franklins, z. B. dem Kritiker O. I. Senkovskij, vorgebracht wurden. 15
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Lange bevor Franklin als einer der geistigen Wegbereiter der amerikanischen Revolution bekannt wurde, hatten ihm seine Arbeiten über die atmosphärische Elektrizität bereits zu europäischer Berühmtheit verholfen. Auch in der russischen Presse war darüber berichtet worden. Die erste Meldung aus dem J a h r e 1752 drückt ungläubiges Staunen darüber aus, daß gerade aus dem vermeintlich unzivilisierten Amerika Impulse zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen kommen könnten, dem Kontinent, den man bis dahin stets im Zustand ursprünglicher Wildheit angenommen hatte 22 ). Dieses Datum der ersten russischen Veröffentlichung über Franklins Entdeckung ist zum Ausgangspunkt kultureller Beziehungen zu Amerika bestimmt worden 23 ). Sicherlich bezeichnet es den Beginn russisch-amerikanischer Kontakte in der Wissenschaft, die seit etwa 1770 einen ziemlich regen Umfang annahmen. Franklins Ruf als wissenschaftliche Autorität war in Rußland bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts so unangefochten, daß es auch Lomonosov nicht gelang, sich gegen ihn mit einer selbständigen Erfindung aus dem gleichen Sachgebiet durchzusetzen. Die russischen Gelehrten gaben Franklins Entdeckung eindeutig den Vorrang; sie beschuldigten ihren Landsmann gar des Plagiats, wogegen sich dieser entrüstet zur Wehr setzte 24 ). Radiäiev legte das Verhältnis beider fest, indem er Franklin als „Baumeister", doch Lomonosov lediglich als „Handlanger" einstufte. Erst spät im 19. Jahrhundert wurde die Unabhängigkeit der Arbeiten Lomonosovs voll anerkannt 28 ). Auch der Schriftsteller Franklin hatte sich in Rußland schnell einen Namen gemacht; seine Werke waren die ersten eines amerikanischen Autors, die in russischer Übersetzung herausgegeben wurden. Vor allem sein „Poor Richard's Almanach" (1732 ff.) erregte Aufmerksamkeit. Die darin enthaltenen Anleitungen zu moralischer Selbstvervollkommnung fanden sogleich vielfältige Nachahmung 26 ). Nach Franklins T o d im J a h r e 1790 erschien in den russischen
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) ,.Sankt-Peterburgskie Vedomosti", 1752, Nr. 47 (12. 6.), S. 371: „Niemand hätte wohl gedacht, daß man aus Amerika neue Lehren über die Elektrizität hätte erwarten sollen."
*") E. Dv.-Markov, „ B . Franklin, the Am. Philosophical Society, and the Russian Academy of Science", in PAPS XCI (1947), S. 250. Zur Entwicklung der wissenschaftlichen Beziehungen s. ibid. (S. 25off.), sowie eine zweite Studie des gleichen Autors („The American Philosophical Society . . . " op. cit.); Radovskij, S. 5ff.; Bolchovitinov, S. 220ff. 24 ) Vgl. Lomonosovs „Materialy obsuzdenija slova o javlenijach vozdusnych, ot èlektriîeskoj sily proischodjasCich" (1753); Werke, III, S. 147. L. verteidigt sich darin unter anderem mit dem Hinweis, daß die gelehrten Arbeiten von Forschern aus dem Ausland, „besonders aus Amerika", so spät nach Rußland gelangten. — Eine Anspielung auf die Entdeckung Franklins verknüpfte L. mit seiner Ode „Pis'mo o pol'ze stekla" (Wke., VIII, S. 521). 25 ) P. Pekarskij, „Istorija Imp.-oj Akademii Nauk", I I (1873), S. 53off. — Zu Radiäüev: „Puteäestvie" op. cit., S. 391. R.s Geringschätzung gegenüber Lomonosov war nicht frei von persönlicher Mißgunst; s. Lang, „The First Russ. Radical", S. 182—3. Auch später pries die russische Dichtung das Genie Lomonosovs am Beispiel Franklins; s. A. F. Voejkovs „Iskusstva i nauki" (1819), das über Lom. urteilt: „Lob Dir! Du warst für uns Franklin und Newton in einem Und hast in Dir Pindar und Cicero vereint." (zit. in „Puskin. Issled. i mat." I [1956], S. 34 [Fußn.]) 2e ) Zu den uneingeschränktesten Bewunderern des Schriftstellers Franklin zählte Katharina II. Ein Brief an Baron Grimm spricht davon, daß sie einige „pamphlets, sortis de la plume de l'illustre Franklin" gelesen habe und fährt fort : „ j'ai trouvé surtout celui du bonhomme Richard délicieux, et je me suis écriée: Ah! mon Dieu! si on pouvait souvent avoir des lectures pareilles ! Mon secrétaire vous attestera que je fais pour moi des extraits de mes lectures journalières, où il y entre tout ce qui me paraît utile ou d'agrément." (5. 4. 1784; „Sbornik", op. cit., X X I I I , S. 310) 3
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Journalen eine Fülle von Teilausgaben, die vor allem die „Autobiography" ( 1 7 7 1 s . ) berücksichtigten27). Eng verbunden mit der Wirkung Franklins als Schriftsteller ist seine Tätigkeit als Politiker und Staatsmann. Seit den 1780er Jahren schwoll die Zahl der Nachrichten über ihn in den russischen Journalen stark an. Minutiös berichtete die russische Presse über Franklins politische Aktivität während seiner Mission in Frankreich 28 ). Diesen Nachrichten lagen überwiegend französische Quellen zugrunde, in denen Franklin als Widersacher der englischen Macht und Lehrmeister einer sich auch in Frankreich abzeichnenden Revolution gefeiert wurde. Von den russischen Zeitschriften wurden solche Lobeshymnen ziemlich unbedenklich übernommen, obwohl sich dahinter handfeste politische Tendenzen und nicht zuletzt eine von Franklin selbst geschickt in Szene gesetzte Propaganda für die Sache der Amerikaner verbargen. Die 1786 im „Zerkalo sveta" veröffentlichte Huldigung gibt ein Beispiel für den damaligen Tonfall: „Franklin hat sich in unserem Jahrhundert nicht weniger durch seine persönlichen Verdienste hervorgetan als durch die Gaben seines Verstandes. Er war anfangs nur ein einfacher Buchdrucker in Boston, wurde aber schließlich ein wichtiger Mann und das Werkzeug der in Nordamerika vollzogenen großen Veränderung 29 )." Besonders unter den russischen Aufklärern genossen Franklins Verdienste um die amerikanische Unabhängigkeit bald sprichwörtlichen Kredit 30 ). Die Begeisterung nahm immer unvermittelter die Form eines offenen Kultes an. Franklin war von einer dreifachen Aureole des Ruhmes umgeben: einmal verherrlichte man in ihm einen „neuen Prometheus", der das Feuer vom Himmel gerissen habe, andererseits wurde er als origineller Schriftsteller verehrt und als eigentlicher Initiator einer vielgepriesenen Revolution 31 ). Franklin und Washington als Symbole des amerikanischen Befreiungskampfes stehen folglich im Mittelpunkt des Interesses an Amerika, das maßgebliche Persönlichkeiten des literarischen Lebens im Rußland des ausgehenden 18. Jahrhunderts immer wieder bekundeten. Ihre Kommentare sind wiederum vor allem aus der Zeitschriftenpresse überliefert. Dort setzte sich damals namentlich N. I. Novikov als Propagator der amerikanischen Unabhängigkeit ein;
27 ) Mit Franklins literarischem Schaffen wurde die russische Leserschaft erstmals 1778 bekannt, als im „Sankt-Peterburgskij V e s t n i k " die Übersetzung „ 0 cvetach p l a t ' j a " („On the Color of Dresses") erschien. Bald darauf drangen seine Werke bis auf die Seiten des ersten russischen Provinzjournals, des Jaroslavler „Uedinennyj posechonec", vor. 1784 wurde in Petersburg erstmals das „ U i e n i e dobroduänogo R i i a r d a " herausgegeben; bis 1830 erlebte es fünf Neuauflagen. Die „ A u t o b i o g r a p h y " erschien auszugsweise zuerst 1 7 9 1 im „Moskovskij i u r n a l " . 1798 nahm Karamzin drei moralische Erzählungen Franklins in seinen „Panteon inostrannoj slovesnosti" auf. Im J a h r darauf wurde A . Turgenevs Übersetzung aus dem Französischen „ O t r y v o k iz zapisok Franklinovskich, s prisovokupleniem kratkogo opisanija ego zizni i nekotorych ego sofinenij" ediert; 1803 erschien in Moskau eine erste Sammelausgabe („Sobranie raznych sofinenij . . . " ) . Zu weiteren Daten der Veröffentlichungen s. Radovskij, op. cit., S. 46ff>; Starcev, „ F r a n k l i n " , S. 220f. 28 29
) Einzelangaben bei Radovskij, S. 2 4 f f . ; Starcev, „ F r a n k l i n " , S. 2 1 3 f r .
) „Zerkalo s v e t a " II, S. 2 9 9 ; zit. bei Makogonenko, „ R a d i ä f e v i ego v r e m j a " (1956), S. 288. M ) V. Popugaevs Gedicht „ P i s ' m o k B o r n u " nahm diese Haltung zum Anlaß einer Parodie. Darin heißt es vom Prototyp des schönrednerischen Liberalen, daß „Franklin und der weise Sokrates in seinen Augen groß" seien; zit. bei Orlov, „Russkie prosvetiteli . . . " , S. 400. 31 ) Allerdings war diese ungeteilte Idealisierung der Gestalt Franklins wiederum auf die russischen Aufklärerkreise beschränkt. Dem Zarenhof erschien der politische Rebell Franklin überaus suspekt, während man ihn als Wissenschaftler mit höchsten Ehren überschüttete: im J a h r e 1789 wurde der amerikanische Staatsmann auf Betreiben der einflußreichen und resoluten Fürstin Daskova, einer Vertrauten Katharinas, einstimmig in die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen (dazu: Radovskij, S. 4 3 f . ; Dv.-Markov, „ B . Franklin", S. 254fr.). Kennzeichnend für die willkürliche Unterscheidung ist das Urteil Katharinas: ihrer überschwenglichen Würdigung des Schriftstellers Franklin steht dessen Verdammung als „ A u f r ü h r e r " gegenüber.
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sein Schaffen ist später von I. Kireevskij mit dem Franklins verglichen worden 32 ). Die Artikel der von Novikov redigierten „Moskovskie Vedomosti" und der „Pribavlenija k 'Moskovskim Vedomostjam'" widmeten den Ereignissen in Nordamerika breitesten Raum, wobei der Herausgeber seine Sympathien für die Sache der Insurgenten kaum verhehlte. E r bewunderte, daß „die Freiheit in ihrem vollen Umfang die Lieblingsneigung der Amerikaner" sei 33 ). Mitgefühl für die amerikanische Revolution verrät besonders eine Serie von Biographien „berühmter Männer des laufenden Jahrhunderts", die, angeblich als Übertragung aus dem Französischen, 1783 in den „Moskovskie Vedomosti" gedruckt wurde. In ihrem Mittelpunkt stehen die Porträts amerikanischer Freiheitskämpfer, nämlich die Franklins, Adams', Washingtons und Lafayettes. Über Franklin heißt es dort: „Man wird Franklin in einigen Jahrhunderten als Gottheit verehren. Die Elektrizität verwandelt die gesamte Physik, die englischen Siedlungen verwandeln die gesamte Politik. Franklin war das Haupt beider wichtiger Veränderungen und hat sich eben dadurch bei der Nachwelt zwei der besten Plätze verdient 34 )." Diese Worte lassen an die Franklin-Verehrung denken, die in Deutschland zu etwa gleicher Zeit J . G. Herder ausdrückte 36 ). Noch überschwenglicher formulierte Novikov sein Urteil über Washington, das er im Jahr darauf in einer Biographie der „Privablenija" niederlegte: „ F a s t alle Nationen hatten ihre patriotischen Befreier. Die Israeliten hatten Moses, Rom hatte Camillus, Griechenland Leonidas, Schweden Gustav, England ( . . . ) Rüssel und Sidney. Allein, diese berühmten Helden können sich mit Washington nicht messen; er gründete eine Republik, die wahrscheinlich ein Asyl der aus Europa durch Luxus und Laster vertriebenen Freiheit werden wird 36 )." Größere Zurückhaltung in der Kommentierung der amerikanischen Ereignisse mußte sich der Komödiendichter Denis I. Fonvizin auferlegen, als er Ende der 1770er Jahre zu einer diplomatischen Mission in Paris weilte 37 ). Es ist sicher, daß er dort mehrere Male mit Franklin zusammentraf. Über eine dieser Begegnungen mit dem „berühmten Minister der Vereinigten Amerikanischen Provinzen" berichtet ein Brief vom Jahre 1778. Aus weiteren Äußerungen
32 ) I . V . Kireevskij, „Obozrenie russkoj slovesnosti za 1829 g o d " (1830), Werke ( 1 9 1 1 ) , I I , S. 16. — Zu den Äußerungen Novikovs s. M. N . Sprygova, „ V o j n a Ameriki za nezavisimost' v osvessäenii 'Moskovskich Vedomostej' N . I. N o v i k o v a " in „ N a u i n y e doklady vyssej skoly. Ist. nauki" (1961), Nr. 3, S. 7 4 - 8 9 . In seine aktuelle Berichterstattung bezog Novikov auch südamerikanische Ereignisse ein; vgl. insbes. den Artikel „Vladenija Portugal'cev v Amerike", in den „Pribavlenija" des Jahrgangs 1 7 8 3 (nach Sur, op. cit., S. 27). 33
) „ O obraze pravlenija u amerikancov i o grazdanskom ich ustanovlenii" in „Pribavlenie 178+, Nr. 68, S. 5 1 6 .
",
34 ) „Primefanija 0 nekotorych slavnych ljudjach nynesnego stoletija"; in „Mosk. V e d . " Nr. 68ff.; zit. bei Makogonenko, op. cit., S. 3 9 1 . Über Washington schreibt N. in der gleichen Serie (Makog., S. 392):
„ E i n solcher Mann wie General Washington war für die in Amerika erfolgte Wandlung überaus nötig, denn wenn das Volk sich erhebt und sich Anführer wählt, die in sich nicht den gleichen Freiheitsgeist hegen, von dem es selbst beseelt ist, so nutzen sie diese Gelegenheit zu seiner Unterdrückung. ( . . . ) " 35
) Siehe Herders „Briefe zur Beförderung der H u m a n i t ä t " ; zit. bei E . Fraenkel, op. cit., S. 74—77. ) „ K r a t k o e opisanie zizni i charaktera Vasgingtona" in „Pribavlenie . . . " , Nr. 47 (1784), S. 372. 37 ) Zu den Einzelheiten dieses diplomatischen Auftrags, dessen Hintergründe immer noch nicht vollständig ausgeleuchtet worden sind, vgl. Makogonenko, „ D . Fonvizin . . . " (1961), S. i8off. Mak. vermutet, daß Fonvizins Pariser Aufenthalt in erster Linie den Ereignissen in Amerika gegolten habe. Fonvizin war ein Vertrauter des Staatsmannes Graf Panin, der wiederum einer der engsten Berater Katharinas war. M
37
ist zu schließen, daß Fonvizin damals von Paris aus gespannt den Verlauf des amerikanischen Befreiungskampfes verfolgte 38 ). Man darf annehmen, daß die amerikanische Revolution und die Bekanntschaft mit einem ihrer Hauptakteure auf Fonvizin einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Die Hypothese, Franklin könne das Modell für den Typ des Starodum in der kurz nach Fonvizins Pariser Mission geschaffenen Komödie „Nedorosl'" abgegeben haben, ist daher nicht ganz von der Hand zu weisen39). In den Enthusiasmus um Franklin und die amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung stimmte auch N . M . Karamzin ein. Seine „Briefe eines russischen Reisenden" führen Zitate aus einer Leipziger Vorlesung Platners an, in der Franklin als vorbildlichem Wohltäter der Menschheit gehuldigt wird 40 ). Selbst nach dem Ausbruch der französischen Revolution war Karamzins Begeisterung zunächst kaum abgekühlt. Ein Gedicht des Jahres 1791 reiht Franklin und Washington unter die glanzvollsten Gestalten des Jahrhunderts ein 41 ). Zum Erscheinen der französischen Franklin-Biographie verfaßte Karamzin im gleichen Jahr eine kurze Einführung, die in einer Laudatio auf den amerikanischen Staatsmann gipfelt: „ . . .Franklin wurde nach wenigen Jahren in zwei Weltteilen gerühmt und verehrt; er besänftigte den britannischen Stolz, schenkte fast ganz Amerika die Freiheit und bereicherte die Wissenschaften durch großartige Entdeckungen 42 )!" Im Unterschied zu Karamzin sah Fürst Gorcakov— offenbar ein Anhänger jener offiziellen Richtung, die der politischen Aktivität des amerikanischen Staatsmannes mit Vorbehalten gegenüberstand — die Verdienste Franklins allein auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Sein erwähntes Gedicht „Mein jetziges Leben" nennt Franklin einen „wagemutigen Physiker", der den Schrei der Unwissenheit verachtete, „Gleich dem alten Perun Hielt er den Donner in seiner Rechten, Um ihm den Weg zu weisen, der ihm genehm war 4 3 )."
4. D i e a m e r i k a n i s c h e U n a b h ä n g i g k e i t s b e w e g u n g im W e r k e R a d i ä c e v s Bereits bei der Aufnahme Raynals in Rußland war A . N. Radiäcev als einer der führenden Vermittler hervorgetreten. Von noch größerer Bedeutung ist die Rolle, die ihm als Verfechter der Ideen der amerikanischen Unabhängigkeit in der russischen Literatur zukommt.
®®) Im August 1778 an die Angehörigen; Werke (1959), I I , S. 450—1 (Rendezvous mit dem „berühmten Franklin"); weitere Äußerungen s. in diversen Briefen an Panin, ibid., S. 460, 464, 468. In der K o r respondenz mit Panin, die bisher nur unvollständig herausgegeben wurde, dürften weitere Kommentare F.s zu den amerikanischen Ereignissen enthalten sein. Das Zusammentreffen Fonvizins mit Franklin faßte später Vjazemskij in eine bemerkenswerte Allegorie (in „ F o n - V i z i n " [ 1 8 2 8 - 3 0 ] , Werke, V [1880], S. 9 1 ) : „ . . . der Vertreter der jungen Aufklärung Rußlands war Gesprächspartner des Repräsentanten des jungen Amerika. In ihrer Person kamen zwei neue Welten im Angesicht der alten zusammen, gleich einer erhabenen Ankündigung, daß im Schicksal des Menschengeschlechts noch viel K o m mendes sei." 39 40
) E . Dvoichenko-Markov," B. Franklin and L. T o l s t o y " in P A P S X C V I (1952), S. 1 1 9 .
) A m 16. 7. 1789 aus Leipzig; „ P i s ' m a russkogo puteiestvennika"; Werke (1964), II, S. 1 6 1 . ) „ K tekusCemu stoletiju", in den Werken ( 1 9 1 7 ) , I, S. 3 3 3 . Franklins Name steht hier in der Nachbarschaft Voltaires und Cooks; Washingtons Bedeutung wird mit der Rumjancevs verglichen. 42 ) „ Z i z n ' V . Franklina, im samim opisannaja dlja syna ego" im „Moskovskij z u m a l " , Dez. 1 7 9 1 ; zit. in den Werken (1964), II, S. 1 1 7 . 4S ) „Tepereänjaja moja zizn', op. cit., S. 1 0 3 ; vgl. S. 24 dieser Arbeit, A n m . 100. 41
38
Man hat Radiäievs „Freiheitsode" als Ausgangspunkt einer freundschaftlichen Bindung zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten gerühmt 44 ). Bei ihrer Abfassung stand der Autor zweifellos unter dem unmittelbaren Eindruck der revolutionären amerikanischen Geschehnisse. Schon seine Themenwahl, die Verherrlichung der Freiheit als kostbarsten menschlichen Gutes, weist auf den aktuellen Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitskrieg, wo eben dieses Ideal zur Entscheidung stand. Mit einer Apostrophe an das „verheißungsvolle L a n d " erreicht Radiäievs Enthusiasmus hier einen Höhepunkt: „Zu Dir, verheißungsvolles Land, Strebt meine entflammte Seele, Wo die Freiheit, durch das Joch gebeugt, Mißachtet dalag; Du triumphierst! Doch wir hier leiden! An dem, wonach auch wir alle dürsten; Dein Beispiel hat ein Ziel offenbart; Deines Ruhmes bin ich nicht teilhaftig, Doch erlaube, solange mein Geist noch unabhängig ist, Daß Deine Gestade wenigstens meine Asche bedecken 46 )." An anderer Stelle wird Washington als Führer der Freiheitsbewegung besungen: „Oh unerschütterlicher Krieger, Du bist und bleibst unbesiegbar, Dein Führer ist die Freiheit, Washington 46 )." Wegen der Zensurbestimmungen konnte es Radiäiev damals kaum wagen, Nordamerika als Land seiner Sehnsucht namentlich zu nennen. Die Hymne auf das „verheißungsvolle L a n d " ist daher auch von manchen Interpreten fälschlicherweise auf die französische Revolution bezogen worden47). Indessen bestehen kaum Zweifel, daß es die amerikanische Unabhängigkeit war, die die Phantasie des Dichters bei der Abfassung seiner „Freiheitsode" beflügelte. Für den russischen Leser des 18. Jahrhunderts war dieser Bezug trotz der verschleiernden Formulierung ohnehin klar genug angedeutet48). Es ist anzunehmen, daß sich Radiäiev in den 1780er Jahren einem intensiven Studium amerikanischer Verfassungsunterlagen hingegeben hat, deren Beschaffung durch die russischen Behörden damals kaum behindert wurde. Dabei dürften ihm seine guten Englischkenntnisse zustatten ge-
44
) A . I. Starcev, „ A m e r i k a . . . " , S. 4.
46
) „ O d a V o l ' n o s t ' " ( 1 7 8 1 - 3 ) ; Strophe 4 6 ; Werke, I, S. 45. In der folgenden 47. Strophe gibt R . den Gedanken an die Flucht jäh auf: „ D o c h nein! Wohin einen das Schicksal geboren hat, Dort soll man auch seine Tage beenden." 46
) , Oda V o l ' n o s t ' " ; Str. 3 4 ; op. cit., S. 1 1 . ) Beispielsweise noch von V . I. Semevskij, „Vopros o preobrazovanii gosudarstvennogo stroja Rossii v X V I I I i pervoj ietverti X I X v e k a " in „ B y l o e " I (1906), 1 ,S. 23« E r s t die Untersuchung Semennikovs aus dem Jahre 1 9 2 3 hat diesen Irrtum endgültig ausgemerzt. Für die sowjetische Literaturwissenschaft ergab sich damit die kuriose Tatsache, daß das erste Muster „revolutionärer" russischer Dichtung (Semennikov, S. 1) durch die amerikanische Unabhängigkeitbewegung inspiriert wurde. 45 ) Die neuere Literaturforschung entdeckte in der „Freiheitsode" weitere Anspielungen auf amerikanische Ereignisse; P . Miljukov wollte in bestimmten dichterischen Bildern erkennen, daß Rad. darin für ein bundesstaatliches Ideal nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten plädiere („Oierki po istorii russkoj k u l ' t u r y " I I I [ 1 9 3 0 ] , S. 4 6 3 ) ; Bolchovitinov (op. cit. S. 1 2 3 ) sah in Radisievs Schilderung eine Vorausschau der künftigen Agrarstruktur Nordamerikas; Starcev (Amerika in russ. obsä.", S. 5) interpretierte die gleiche Textstelle als Kritik an der Leibeigenschaft. 47
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kommen sein 49 ). In der „ R e i s e " lassen sich zahlreiche Spuren dieser Lektüre nachweisen. Die Vertrautheit des Autors mit der amerikanischen Menschenrechtserklärung manifestiert sich hier in leidenschaftlichen Anklagereden, die die Unverletzlichkeit des Individuums postulieren. Darüberhinaus gibt es in der „ R e i s e " auch Passagen, die ganz unverhüllt auf Amerika als Beispiel verweisen. I m Kapitel „Torzok" unternahm es Radiäcev einmal, bestimmte Statuten aus den Verfassungen amerikanischer Bundesstaaten im Wortlaut zu zitieren. Inmitten eines Uberblicks über die betrübliche Geschichte der europäischen Zensur, vom Autor als T r a k t a t eines fiktiven Mitreisenden verkleidet, werden die Vereinigten Staaten als das Ideal wahrer Pressefreiheit gerühmt. Hier wurde die russische Leserschaft erstmals mit übersetzten Dokumenten der amerikanischen Staatsgründung im Druck bekannt gemacht 6 0 ). Vorbildlich nannte Radiäcev in einer erläuternden Fußnote die Haltung des Präsidenten von Pennsylvanien, J o h n Dickinson, der es nicht unter seiner Würde befunden habe, eine verleumderische Schrift gegen ihn sachlich zu widerlegen. I m Hinblick auf die russischen Zensoren wurde Dickinsons Tätigkeit im Befreiungskampf nur vorsichtig berührt: „ . . . der an der in Amerika geschehenen Umwandlung teilnahm und dadurch Ansehen erwarb 8 1 )." Ebenso behutsam formulierte Radiäcev seine Bewunderung für Franklin. Eine einzige Bemerkung, die auf Franklins Rolle im Unabhängigkeitskampf anspielte, sollte genügen, um den Zorn Katharinas hervorzurufen 8 8 ). Katharina stempelte Radiäcev zum „Aufrührer schlimmer als Pugaöev". Der Auszug amerikanischer Verfassungsartikel war dem Autor der „ R e i s e " nur zu leicht als Propaganda revolutionären Gedankengutes anzulasten. Mit R e c h t ist darauf hingewiesen worden, daß es gerade dieser ideell-politische Gehalt gewesen sei, der das Verbot des Werkes provoziert habe 6 3 ). D a ß Radiäcev die Vereinigten Staaten als Ideal wahrer staatsbürgerlicher Freiheit pries, mußte als ein massiver Angriff auf die zaristische Autokratie erscheinen. Auch nach der Rückkehr aus sibirischer Verbannung war Radiscevs Bewunderung für die Einrichtungen der jungen amerikanischen Republik ungebrochen. Sein Memorandum „Über die Gesetze" aus den Jahren 1 8 0 1 - 2 lobte erneut Pennsylvanien wegen dessen vorbildlicher Strafrechtsjustiz 8 4 ). 49 ) Der Sohn P. A . Radisïev berichtet in der Biographie über seinen Vater, daß dieser um 1780 mit dem Erlernen des Englischen begonnen habe. Der Anlaß sei gewesen, daß Radisïev als einer der leitenden Petersburger Zollbeamten bei der Abwicklung von Geschäften mit England unabhängig von einem Dolmetscher habe sein wollen. Später habe er sich „frei und korrekt in dieser Sprache ausdrücken" können; „Biografija A . N . Radisïeva, napisannaja ego s y n o v ' j a m i " (1959), S. 56. 50 ) Diese Stellen sind zusammengestellt und identifiziert bei M. Laserson, op. cit., S. 66f. Durch sie läßt sich auch die Quelle Radisïevs ermitteln: ein 1 7 7 8 in Philadelphia und Paris erschienener „Recueil des lois constitutives des colonies angloises, confédérées sous la dénomination d'Etats-Unis . . . " ; vgl. Starcev, „ R a d i s ï e v v gody . . . " , S. 1 1 3 f f . ; R . P. Thaler, op. cit., S. 64. 51
) „Putesestvie . . . " op. cit., S. 334. R a d i s ï e v schließt seinen E x k u r s : „ D a s ist ein nachahmenswertes Beispiel, wie man sich rächen soll, wenn einer jemanden vor der Welt durch ein Druckwerk beschuldigt."
52 ) „Putesestvie " op. cit., S. 3 9 1 . R a d i s ï e v führt hier die russische Ubersetzung einer französischen Inschrift an, die Franklin verherrlicht, weil er „den Donner dem Himmel entrissen hat und das Szepter aus der Hand der Zaren." Über die Reaktion Katharinas berichtet deren Staatssekretär Chrapovickij :
„ S i e geruhten zu sagen, daß er (i.e. Rad.) ein Aufrührer schlimmer als P u g a ï e v sei und bedeuteten mir, daß er zum Schluß Franklin verherrliche und sich selbst als ebensolchen darstelle. Sie sprachen mit Eifer und Empfindsamkeit." (A. V . Chrapovickij, „ P a m j a t n y e zapiski", SPb. 1874, S. 340. Hier zitiert nach den Werken Puschkins, X I I , S. 37. Katharinas Ausspruch erlangte Berühmtheit und wurde unter anderem auch von Puschkin aufgegriffen.) 53
) Laserson, op. cit., S. 67.
54
) „ O zakonopoloienii", Werke, I I I , S. 145fr., insbes. S. 163. Über die gesetzgeberische Arbeit R.s
im Zusammenhang mit dieser Denkschrift s. D. M. Lang, „Radishchev and the Legislative Commission of Alexander I " in A S E E R V I (1947), S. 1 1 ff.
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Dem Wirken des deutschen Dichters und Publizisten F. Chr. Schubart vergleichbar 55 ), ragt Radiäcev im Rußland des ausgehenden 18. Jahrhunderts als Exponent einer radikalen proamerikanischen Richtung hervor. Neben Novikov war er der erste russische Schriftsteller, der sich mit den neuzeitlichen Entwicklungen auf dem nordamerikanischen Kontinent systematisch befaßte. Seine „Freiheitsode" und die „Reise" werden mit einiger Berechtigung zu den profiliertesten Schöpfungen gerechnet, die die Literatur seinerzeit zum Thema der amerikanischen Revolution hervorgebracht hat 56 ). In der genauen Kenntnis der Grundlagen der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und in der breiten Verwendung dieses Materials für sein Werk ist Radiäcev jedenfalls eine Ausnahmeerscheinung für das Rußland des 18. Jahrhunderts. Ein gleiches detailliertes Sachinteresse für die verfassungsmäßige Verankerung der Vereinigten Staaten, wie er es bekundete, ist im damaligen Europa höchstens noch unter der führenden geistigen Schicht Frankreichs feststellbar 57 ).
5. D i e B e d e u t u n g der a m e r i k a n i s c h e n R e v o l u t i o n für das russische A m e r i k a b i l d In der Geschichte russisch-amerikanischer Beziehungen kennzeichnet die Unabhängigkeitsbewegung den ersten bedeutenden Markstein 58 ). Für das russische Amerikabild kündigen sich damit tiefgreifende Wandlungen an : es vollzieht sich der Übergang aus dem Bereich der Fiktion und Legende in den einer wirklichkeitsbezogenen Gegenwartsbetrachtung. Mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten wurde das Amerikabild des russischen Schrifttums erstmals von einem aktuellen Element der Politik bestimmt, nachdem es bis dahin hauptsächlich durch die buchmäßigen Traditionen des Exotismus geformt worden war. Die gemütvolle Darstellung vom „edlen Wilden" inmitten der amerikanischen Natur wurde gleichsam überlagert durch die Nachricht von den in Nordamerika vor sich gehenden Umwälzungen. Die russische Publizistik war der Schrittmacher dieser neuen Entwicklung. Wie den französischen Enzyklopädisten erschien den russischen Aufklärern die Attraktivität der Wildnis gegenüber den Leistungen der modernen amerikanischen Zivilisation vordergründig. In diesem Sinne wehrte sich Karamzin in seinem betont nationalen Rückblick auf die russische Geschichte gegen ein Verhalten, „als ob wir eben erst aus den dunklen amerikanischen Wäldern getreten wären 58 )." Dagegen behaupteten sich die älteren Traditionen des Amerikabildes in der russischen Belletristik, vor allem dank der Einwirkung von Trivial- und Übersetzungsliteratur. Auch hier hatte jedoch eine Tendenz zur Abwertung des „edlen Wilden" im Genre der Reisebriefe eingesetzt, die sich des Indianers nur noch als bloßer Formel der Zeitkritik bedienten60). Bevor der sentimentale Exotismus unter dem Einfluß von Schöpfungen Chateaubriands und Coopers neu belebt wurde, zehrte er von einer schmalen Substanz und erstarrte immer mehr in konventionellen Schablonen. Die Neuorientierung des russischen Amerikabildes war vorbereitet worden durch Raynal und eine sich seit den 1770er Jahren kontinuierlich entfaltende Sachliteratur aus Westeuropa. Ihrem überwiegenden Gehalt nach war jedoch die „Histoire philosophique" zu sehr auf eine weit zurückliegende Vergangenheit, die Epoche der Eroberung, ausgerichtet, als daß sie das ganze Ausmaß der sich auf dem nordamerikanischen Kontinent abzeichnenden Umwälzung 55
) Zu Schubart s. Fraenkel, op. cit., S. 20f., 4 9 - 5 3 . ) Bolchovitinov, op. cit., S. 41 f., 1 1 8 . 57 ) Das Interesse an der amerikanischen Verfassungsordnung fehlt beispielsweise damals in Deutschland; vgl. Palmer, op. cit., S. 47fr. 5S ) Bolchovitinov, S. 14. Zum Verlauf der Beziehungen insgesamt s. F . P. Renaut, „ L e s relations diplomatiques entre la Russie et les Etats-Unis ( 1 7 7 6 - 1 8 2 5 ) " (1923). M ) „Zapiska o drevnej i novoj Rossii" ( 1 8 1 1 ) ; ed. R . Pipes (1959), S. 64. 60 ) Zum Verfall der Legende vom „edlen W i l d e n " Amerikas vgl. Gonnard, op. cit., S. io4f. ( „ L e déclin de la légende"). M
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hätte erfassen können. Ein Verdienst der Schriften Raynals bleibt, daß sie die Diskussion um Amerika dauerhaft stimulierten. Die Kenntnisnahme der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und die Aufnahme kultureller Verbindungen zu den Vereinigten Staaten setzten neue Akzente in das Gemisch widerstrebender Elemente, das bis dahin die russischen Anschauungen über Amerika geprägt hatte. Das Amerikabild nahm schärfere, markantere Konturen an. Eine realistische Blickrichtung setzte sich durch, die durch die machtpolitische Konzentration Peters des Großen auf Nordwestamerika bereits vorgezeichnet schien. Während jedoch damals, zu Beginn und Mitte des 18. Jahrhunderts, lediglich der pazifische Raum berücksichtigt worden war, schwenkte nun das Interesse auf die bis dahin völlig ignorierte atlantische Seite des nordamerikanischen Kontinents. Zusammen mit ganz Europa vollzog Rußland am Ende des 18. Jahrhunderts eine zweite, politische Entdeckung der Neuen Welt, die im wesentlichen einer Entdeckung der angloamerikanischen Hemisphäre gleichkam. Demgegenüber mußte das ältere Interesse an Südamerika zunächst verblassen. Die Bedeutung dieses geschichtlichen Vorganges ist auch im sprachlichen Bereich des Russischen fixiert. Bis zur ersten Loslösung einer Kolonie von europäischer Vormundschaft war die Benennung „Amerika" im russischen Sprachgebrauch nur vage skizziert; sie wurde ziemlich wahllos einmal auf den Kontinent, dann wieder auf dessen Einzelpartien bezogen. Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts setzte hier eine bezeichnende Revision ein: „Amerika" wurde nun gemeinhin als Synonym für die Vereinigten Staaten empfunden. Entsprechend galten künftig als „Amerikaner" nicht mehr nur die Eingeborenen des Kontinents sondern in erster Linie die weißen Siedler der nördlichen Hemisphäre. Diese Verwendung ist in russischen Literaturwerken des 19. Jahrhunderts durchgehend anzutreffen. In unserer Zeit mußte sich noch Majakovskij energisch gegen die Einseitigkeit eines solchen Amerikabildes wenden, das die Existenz der iberischen Länder, bewußt oder unbewußt, allzu leicht übersah 61 ). Die Wandlung des russischen Amerikabildes am Ende des 18. Jahrhunderts vollzog sich in Ubergängen. Rückstände der alteingewurzelten retrospektiven Betrachtungsweise bleiben in vielen Schichten des Schrifttums weiter nachweisbar. Manche Zeugnisse verzeichnen damals die Viten zeitgenössischer amerikanischer Staatsmänner neben den sentimentalen Ergüssen amerikanischer Wilder 62 ). Die alte Thematik über das Amerika aus der Epoche der Conquistadoren mischte sich zum Teil mit neuen, aktuellen Zügen 83 ). RadiäCevs literarisches Werk zeigt das Nebeneinander dieser beiden gegensätzlichen Momente in anschaulicher Weise. Seine Tiraden gegen die Sünden der europäischen Eroberung ließen das alte Amerikathema anklingen; gleichzeitig aber zeigte sich RadiSiev fasziniert von den neuen revolutionären Geschehnissen auf dem amerikanischen Kontinent 64 ). Als Bahnbrecher der neuen russischen Entdeckung Amerikas sind die Aufklärer Radiääev und Novikov anzusehen. Ihre Begeisterung für die amerikanische Revolution verbreitete sich rasch unter den liberalen Schriftstellern der Zeit. Das Entstehen einer republikanischen Staatengemeinschaft, die ihren Bürgern erstmals demokratische Menschenrechte garantierte, mußte von ihnen als ein Vorgang von unerhörter Bedeutung empfunden werden. Es verkör61 ) In seinem Erlebnisbericht „Moe otkrytie Ameriki" (1926) bemerkte Majakovskij lapidar, daß „das Wort 'Amerika' nun endgültig annektiert" sei (nämlich durch die Vereinigten Staaten); Werke, V I I , S. 3 2 1 . 6a ) Siehe z . B . die von P.Zeleznikov redigierte „Sokrasiennaja biblioteka v pol'zu Gospodam Vospitannikam pervogo kadetskogo korpusa", SPb. 1 8 0 0 - 4 (4 Tie.). Darin finden sich Biographien Washingtons, Franklins und Jeffersons neben einer „ R e í ' dikogo v aglickich selenijach v Amerike" (I, S. 265—7). e3 ) Zu Presseberichten über Südamerika s. L . A . Sur, „Ispanskaja i portugal'skaja Amerika v russkoj pefati X V I I I — pervoj íetverti X I X v . " in „Latinskaja Amerika v proslom i v nastojasiem" (i960).
* 4 ) Auf dieses Nebeneinander wies zuerst Starcev bin ( „ O zapadnych svjazjach . . . " , S. 262f.). Dagegen polemisierte neuerdings Bolchovitinov (op. cit., S. 126). Ihm erschien die Interpretation Starcevs zu willkürlich, da sie Radis Cevs Kritik an amerikanischen Mißständen einseitig auf Lateinamerika festlege und die Ver. Staaten verschone.
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perte sich darin die einzige bis dahin erfolgreiche Erhebung gegen jene Art von herrscherlicher Willkür, die auch in Rußland zunehmend auf Ablehnung und mehr oder minder verhüllte Kritik stieß. Folglich sahen die revolutionär gesinnten russischen Schriftsteller in den Kreisen um Novikov und Radiäiev den Staat Washingtons und Franklins als eine Bestätigung ihrer persönlichen Freiheitsideale an. Ihr Interesse für dieses neue Staatswesen wurde weitgehend von dem Verlangen nach einer Bespiegelung der Verhältnisse im eigenen Land genährt. Schon früh neigte hier die russische Amerikaliteratur dazu, am Beispiel der Vereinigten Staaten die politische und soziale Problematik Rußlands zu erfassen. Wie in Deutschland trug sie daher zunächst „ein ideales und programmatisches, kein reales und feststellendes Gepräge" und enthüllte in den amerikanischen Eigenarten letztlich immer die eigenen85). Der eigentliche Beginn russisch-amerikanischer Beziehungen, die Zeit der Unabhängigkeitsbewegung der Vereinigten Staaten, bezeichnet so zugleich die schwärmerischste Phase in der Geschichte des russischen Amerikabildes. Wie in Deutschland zu gleicher Zeit die „Stürmer und Dränger" fühlten sich die russischen Aufklärer in spontanem Gefühlsüberschwang zu Amerika hingezogen. Dieser aus dem Westen, vor allem aus Frankreich importierte Enthusiasmus legte damals den Grundstein zu einer neuen dauerhaften Legende, die neben den utopischen Traum vom Goldenen Zeitalter tritt: die Vereinigten Staaten rückten in den Rang eines absoluten politischen Modells auf. Manches an dieser Schwärmerei mag auf den ersten Blick wirklichkeitsfremd und exaltiert wirken. Im volkstümlichen Schritftum der späteren Zeit wurde sie schließlich bis dahin getrieben, daß man Amerika als Land aller positiven Werte, als Inkarnation aller Hoffnungen und Wunschträume ausmalte. Im literarischen Werk Radiäcevs werden die Motive der damaligen russischen Begeisterung für Amerika greifbar: Protest gegen den Rationalismus vereint sich mit Rousseauschem Freiheitsdrang und Abscheu vor dem Tyrannenregime. Vom gleichen Autor stammen außerdem erste Ansätze zu einer begrifflichen Auswertung der amerikanischen Revolution. Indem er ausgewählte Passagen aus einzelnen Verfassungen zitierte, war Radiäcev bemüht, die Tragweite des gesamten historischen Vorganges zu erhellen. Auch die zwiespältige emotionelle Seite des Engagements für die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung wird an Radiäiev sichtbar. E r ist, soweit feststellbar, der erste russische Schriftsteller gewesen, der die Möglichkeit des Auswanderns in die Neue Welt ernsthaft erwog66). Im 19. Jahrhundert sollte er unter seinen Landsleuten viele Nachfolger finden. Man hat treffend bemerkt, daß Radi§cev „am Morgen der amerikanischen Unabhängigkeit Rußlands Mythos über Amerika zu spinnen begann67). E s ist tatsächlich nicht zu verkennen, daß er sich durch spontane Sympathiegefühle für die Vereinigten Staaten bisweilen dazu verleiten ließ, die in Rußland aufgrund der sozialen Gegebenheiten praktisch durchführbaren Möglichkeiten zu überschätzen. In Westeuropa gab es damals zahlreiche Schriftsteller, die gemütvolle Traktate, Bücher oder Gedichte über die Vereinigten Staaten verfaßten, zu Hause aber viel zu gut situiert waren, um das harte Leben in der amerikanischen Wildnis auf sich zu nehmen68). Eine derartige gefühlsmäßige Übersteigerung lag beispielsweise den Auswanderungsplänen der englischen Dichter Coleridge und Southey zugrunde, die zu Beginn der 1790er Jahre an den Ufern des Susquehanna ein utopisches Staatswesen einzurichten beabsichtigten, worin „die Unschuld des patriarchalischen Zeitalters mit der Kenntnis und dem echten Raffinement europäischer Kultur" verbunden sein sollte69). K
) Diese Feststellung traf für das deutsche Schrifttum Engelsing, op. cit., S. 140. **) Diese Absicht äußerte R . erstmals um 1770, als er in Leipzig zusammen mit seinen Studienkollegen den Drangsalierungen eines russischen Aufpassers ausgesetzt war („Biografija " , S. 5 5 ; vgl. auch die Schild, in Rad.s halbautobiographischem „ 2 i t i e U s a k o v a " , Wke., I, S. 172). ,? ) M. Laserson, op. cit., S. 70. • 8 ) R . Palmer, op. cit., S. 43. •») R . J . White, „ T h e Political Thought of S. T . Coleridge" (1938), S. 35. Aus den Briefen C.s geht hervor, daß er sich in seinen Plänen durch rein subjektive Empfindungen, wie den melodischen Klang des Namens „Susquehanna", bestärkt fühlte („Collected Letters" [1956fr.], I, S. 99, 114—5).
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Die russische Amerika-Schwärmerei des 18. Jahrhunderts setzte ein, als das geistige Leben des Landes von einer Kontroverse zwischen Gallomanen und Anglomanen beherrscht wurde. Durch die weitverbreitete Aufgeschlossenheit gegenüber der englischen Kultur ist das Interesse für die Vereinigten Staaten damals sicherlich bestärkt worden 70 ). Daneben mag aber ebenso der alte geschichtsbedingte Gegensatz zu Europa eine gewisse Rolle gespielt haben. Derzavin empfahl in diesen J a h r e n die Hinwendung zu Amerika mit der Begründung, sich von E u r o p a , „den Räubern unserer Sitten und Reichtümer", zu distanzieren 71 ). Eine ähnliche gegen Europa gerichtete Tendenz wies auch Novikovs Washington-Biographie des Jahres 1784 auf. Der noch geschichts- und traditionslose Kontinent jenseits des Ozeans erschien für die Z u k u n f t ein aussichtsreicherer Partner als das alte, in feste Konventionen eingezwängte Europa. Hier kündigen sich bereits Gedankengänge an, denen später das Werk Tocquevilles allgemeine Beachtung sicherte 72 ). Die Diskussion um die Unabhängigkeitsbewegung schuf in Rußland elementare Voraussetzungen für jede künftige Auseinandersetzung mit Nordamerika. Auf dem Gebiet des Schrifttums schälten sich neue Traditionen heraus; sie waren am ausgeprägtesten in der Publizistik, in der damals eine aktuelle Berichterstattung über amerikanische Ereignisse eingeleitet wurde. I n der Belletristik schlugen Radiäcevs „ R e i s e " und „Freiheitsode" eine völlig neuartige politisch-soziale Amerika-Thematik an. Ladygins Schrift stand am Anfang einer eigentlich russischen Sachliteratur über die Vereinigten Staaten, die sich in den folgenden Jahren jedoch nur zögernd weiterentwickelte. I m i g . Jahrhundert blieb das Gedankengut des amerikanischen Freiheitskampfes besonders für das politische Denken Rußlands ein maßgeblicher Richtpunkt 7 3 ). Die Ausstrahlung des amerikanischen Exempels steigerte sich noch einmal, nachdem die demokratischen Prinzipien der französischen Revolution in der Praxis nicht gegen das autoritäre napoleonische Regime behauptet werden konnten. Bis über die Jahrhundertmitte hinaus sah auch die radikale Linie des russischen Denkens das Vermächtnis der amerikanischen Revolution noch als verpflichtend an. B e i d e n Marxisten ist schließlich in der Bewertung der Unabhängigkeitsbewegung jenes eigentümliche Schwanken zwischen heimlicher Bewunderung und krasser Ablehnung festzu-
70
) Z u r A n g l o m a n i e der Zeit s. S i m m o n s , op. cit., S. 7 3 ff- — Die Anglophilie R a d i s c e v s schloß zum
Beispiel sowohl E n g l a n d als auch N o r d a m e r i k a ein. W ä h r e n d er in diesem ein politisches Idealbild v e r ehrte, galt seine B e w u n d e r u n g E n g l a n d s v o r allem den kulturellen Leistungen. I n der englischen S p r a c h e berührten sich beide S p h ä r e n ; eine Szene der „ R e i s e " legt das S t u d i u m des E n g l i s c h e n m i t der B e g r ü n d u n g nahe, in ihm spiegele sich die „ G e s c h m e i d i g k e i t des Geistes der F r e i h e i t " . ( „ P u t e s e s t v i e
...",
op. cit., S. 2 8 9 ; K a p . „ K r e s t ' c y " , das die belehrenden W o r t e eines V a t e r s an seine Sohne enthält.) 71
) „ M n e n i e o postrojke m o r e c h o d n y c h sudov c a s t n y m i l j u d ' m i " ( 1 8 0 0 ) ; W e r k e , V I I I ( 1 8 7 2 ) , S. 3 3 9 .
N e b e n A m e r i k a nennt D. im gleichen Z u s a m m e n h a n g China, Indien und die L e v a n t e . ,2
) D e n gleichen H o f f n u n g e n in B e z u g auf R u ß l a n d hing damals der amerikanische Dichter
Joel
B a r l o w in seinem als Nationalepos konzipierten W e r k „ T h e Vision of C o l u m b u s " ( 1 7 8 7 ) nach. E r schrieb ( „ T h e V i s . of C o l . " ; 1 7 8 7 , 2. A u f l . , S. 1 8 2 ) : „ F a i r on her throne, r e v o l v i n g distant f a t e , I m p e r i a l K a t h a r i n e majestic s a t e ; Courts throng around her, kings and heroes stand, R e c e i v i n g swords and sceptres from her hand. She w a i t s the d a y , a n d bids the nations rest, Till t h a t new empire, rising in the west, Shall sheathe the sword, the liberal m a i n ascend, A n d , j o i n ' d w i t h her, the scale of power suspend; B i d arts arise, a n d v e n g e f u l factions cease, A n d commerce lead to universal p e a c e . " 73
) P . Sorokin, „ R u s s i a and the U n i t e d S t a t e s " ( 1 9 5 0 ) , S. 1 2 5 : „ T h e v e r y f a c t of the emergence and existence of the U n i t e d States, w i t h its political constitution and organisation, has continually influenced R u s s i a n political thought and political a c t i v i t i e s . "
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stellen, das in der sowjetischen Zeit zu einem M e r k m a l der Einstellung gegenüber den Vereinigten S t a a t e n geworden ist. Immerhin haben selbst Lenins Schriften das Vorbild der amerikanischen Revolution wiederholt beschworen 7 4 ). 6. D i e G l o r i f i z i e r u n g W a s h i n g t o n s u n d F r a n k l i n s im S c h r i f t t u m des 19. J a h r h u n d e r t s I m R u ß l a n d des 1 9 . J a h r h u n d e r t s blieben die L e i s t u n g e n der amerikanischen R e v o l u t i o n v o r allem durch die W i r k u n g Washingtons u n d F r a n k l i n s gegenwärtig. A n ihre Seite t r a t etwas später T h o m a s J e f f e r s o n . D i e neue L e g e n d e u m A m e r i k a ist eng mit ihren N a m e n v e r quickt. I n zahllosen Darstellungen wurden später die Heldentaten dieser Männer gerühmt und als beispielhaftes erzieherisches I d e a l g e w ü r d i g t . F ü r die Generationen des 1 9 . J a h r h u n derts w a r e n sie in gleichem Maße Vorbild, wie schon zur Zeit ihres unmittelbaren W i r k e n s ' 5 ) . N o c h im J a h r e 1 9 0 6 konnte sich M . G o r ' k i j bei seinem A m e r i k a b e s u c h brüsten, daß die Biographien Washingtons und F r a n k l i n s überall in R u ß l a n d f ü r wenige K o p e k e n zu k a u f e n seien 78 ). R a d i ä i e v s „ F r e i h e i t s o d e " h a t t e Washington als F ü h r e r eines V o l k s a u f s t a n d e s gegen die T y r a n n e n h e r r s c h a f t hervorgehoben. Diese W e r t u n g des amerikanischen S t a a t s g r ü n d e r s , die v o r allem seine Feldherrneigenschaften unterstrich, w u r d e auch in mehreren Z e i t s c h r i f t e n veröffentlichungen u m die Wende des 19. J a h r h u n d e r t s ausgedrückt 7 7 ). T i e f e E h r f u r c h t empf a n d P . Svinin, dessen Reisebericht über die Vereinigten S t a a t e n den „unsterblichen W a s h i n g t o n " als A u s b u n d aller staatsmännischen T u g e n d e n preist. Washingtons G r a b m a l auf dem Mount V e r n o n w u r d e v o n Svinin in einer stimmungsvollen Zeichnung seines Skizzenbuches festgehalten 7 8 ). Besondere Wertschätzung wurde W a s h i n g t o n v o n den D e k a b r i s t e n entgegengebracht. D i e L e k t ü r e seiner Biographie galt ihnen o f f e n b a r als wesentlicher B e s t a n d t e i l ihrer politischen Bildung 7 9 ). Die E i n f l ü s s e haben sich bis in die persönliche L e b e n s f ü h r u n g einzelner Dekabristen niedergeschlagen: so äußerte P . I. P e s t e l ' einmal die Absicht, nach vollbrachter R e v o l u t i o n 74 ) In seinem Artikel „ O brosjure J u n i u s a " (1916) stellt L. die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung als Vorbild für einen „nationalen Befreiungskrieg" hin (Werke [1941 ff.], X X I I , S. 297). An anderer Stelle schreibt er, daß „die Geschichte des modernen, zivilisierten Amerika mit einem jener großen, wirklich befreienden und wirklich revolutionären Kriege (beginnt), deren es so wenige g a b . " (Pis'mo k amerikanskim rabodim" [1918], Werke, X X V I I I , S. 44) 75 ) Baron R . Rosen erinnert sich an seine Jugend, die er in Rußland um die Mitte des 19. Jahrhunderts verbrachte: „George Washington, Benjamin Franklin, Thomas Jefferson, Patrick Henry, were my boyhood's heroes, and I could recite by heart the Declaration of Independence." („Twenty Years of Diplomacy" [1922], S. 67) 7e ) S. J a . Brodskaja, „ O dejatel'nosti M. Gor'kogo v Amerike v 1906 godu" in „M. Gor'kij v epochu revoljucii 1905—1907 godov" (1957), S. 403. 77 ) Siehe u.a. das Loblied auf den „großen Washington", den „unsterblichen Heerführer" in dem Artikel „Vasgington", in „ M u z a " IV (1796), S. 29-31 (aus dem Frz.); „ O Vasingtone" in V E , Nr. 16 (Aug. 1802), S.309-10 (aus dem Frz.); der Hinweis auf eine Washington-Biographie in „Zurnal novostej", Nr. 1 (1805), S. 42. Ein erbaulicher Traktat über die Tugenden Washingtons ist enthalten in der Kompilation Zeleznikovs, op.cit., I, S. 136—8 („Vasgington"; aus dem Frz.). 78 ) Reproduktion in A. Yarmolinskys „ A Memoir on Paul Svinin" (1930); Abb. 43. — Zur Rühmung W.s siehe Svinins „Vzgljad na respubliku Soedinennych Amerikanskich Oblastej" (1814), S. 5f. r „ D a erschien auf der Szene Amerikas und zog auf sich aller Welt Augen ein Mann, der durch und durch von militärischen Talenten und hohen Tugenden erfüllt war: der unsterbliche Washington. Als er seinen Landsleuten nach achtjährigem blutigem Krieg den Frieden und die Freiheit gegeben hatte, schrieb er ihnen weise Gesetze vor, deren Exekutor er sich anschickte zu sein. Das dankbare, ihn vergötternde Volk bewegte ihn darauf vergeblich, die Zügel der Regierung für immer zu übernehmen — Washington ließ sich durch die Krone nicht verlocken, und wie der alte Cincinnatus kehrte er zu seinen Feldern zurück." ™) Siehe das Zeugnis N. A. Krjukovs, eines Mitglieds des südlichen Kreises; zit. bei V. I. Semevskij, „Politiieskie i obSiestvennye idei dekabristov", S. 225 (Fußn.).
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„ g e m ä ß dem Vorbild W a s h i n g t o n s " zu handeln und sich ins Privatleben zurückzuziehen 8 0 ). Pestel's Plan, z u m Schutze der revolutionären Errungenschaften zeitweilig ein autokratisches Regime aufzurichten, sollte sich gleichfalls auf die Praxis Washingtons stützen 8 1 ). Die gleiche enthusiastische Einstellung gegenüber dem „ g r o ß e n " Washington dokumentieren Aufzeichnungen K . F. Ryleevs 8 2 ). Für V . F. R a e v s k i j h a t t e der N a m e Washington mit Schlagworten wie „ F r e i h e i t " , „ G l e i c h h e i t " , „ V e r f a s s u n g " synonymen Klang 8 3 ). D i e unter den D e kabristen weitverbreitete Stimmung kennzeichnet der A u s z u g aus einem Brief P . G . K a c h o v s k i j s : „ D e r N a m e Washingtons, des Freundes und Volkswohltäters, wird v o n Generation zu Generation überliefert werden; bei der Erinnerung an ihn wird in der Brust der Bürger die Liebe zu guten T a t e n und zum Vaterland erwachen 8 4 )." Der W i r k u n g Washingtons stand die Resonanz B e n j a m i n Franklins k a u m nach. I n F r a n k lins R u h m waren alle drei A s p e k t e seines Schaffens berücksichtigt, die, wie schon im Falle Lomonosovs, nicht immer klar unterschieden wurden. Diese Popularität erreichte ihren H ö h e p u n k t erst nach dem T o d e des „ersten Bürgers A m e r i k a s " im Jahre 1790. Eine L a u d a t i o nahm damals P . Z e l e z n i k o v in seine 1800 erschienene Anthologie a u f : „ F r a n k l i n ist eines der bedeutendsten Phänomene unseres Jahrhunderts; die elektrische K r a f t und die Amerikanischen Vereinigten Gebiete werden ein unauslöschlicher Eindruck seines schöpferischen Verstandes und seiner Unsterblichkeit bleiben. ( . . . ) E r liebte die Einfachheit, die Menschheit, die W a h r h e i t , und aufrührerische Leidenschaften haben niemals seine stille Seele bewegt 8 6 )." Die wissenschaftlichen Leistungen Franklins bewogen A . Ch. V o s t o k o v in einem Gedicht über die „ E r b a u e r des Tempels des W i s s e n s " den amerikanischen Gelehrten neben K a p a z i t ä ten wie Galilei, N e w t o n und K a n t in die Galerie „unsterblicher Geister" aufzunehmen 8 4 ). A u f dem Sektor des politischen Denkens w a r Franklin wiederum den Dekabristen ein gültiges Vorbild. N a c h dem Zeugnis N . I. Lorers gehörten seine W e r k e neben den philosophischen Schriften der Franzosen zur Pflichtlektüre der aus den napoleonischen Feldzügen heimkehrenden russischen Intelligenz 8 7 ). Der den Dekabristen nahestehende spätere General V . D . V o l ' chovskij, ein L y z e u m s f r e u n d V . K . Küchelbeckers, nannte den amerikanischen Staatsmann „meinen Lieblingshelden 8 8 )." Unter dem literarischen W e r k Franklins wurde v o n den russischen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts namentlich das „ P o o r Richard's A l m a n a c h " beachtet. Indirekter, k a u m greifbarer A r t sind die Einflüsse, die auf R a d i ä f e v und N o v i k o v angenommen werden können 8 9 ). 80) „Materialy po istorii vosstanija dekabristov" (1925 ff.), IV, S. 160. Unter Privatleben verstand P. allerdings hier den Rückzug ins Kiever Höhlenkloster. 81 ) Semevskij, op. cit., S. 508. 82) Brief an J. U. Niemcewicz, am 11. 9. 1822; Wke. (1934), S. 467. 83) Semevskij, op. cit., S.432; s. auch S.109. An anderer Stelle schreibt Raevskij (nachRadovskij,S-37): „Nicht Buonaparte machte die Revolution: er nutzte sie nur aus für seine Herrschsucht. ( — ) Washington und Franklin haben die Vereinigten Staaten von der Knechtschaft befreit." 84 )
Brief an General Levaäev aus der Festungshaft; zit. in „ I z pisem i pokazanij dekabristov", S. 12. „Sokrasfennaja biblioteka ", I (1800), S. 204—5. 86) „ K stroiteljam chrama poznanij" (1802-3); i n „Poety-Radis£evcy" (1952), S. 267. 87 ) „Zapiski dekabrista N. I. Lorera" (1931), S. 57. 88) Bf. an Küchelbecker am 7. 3. 1823; zit. in LN, Bd. 59 ^954), S. 483. 89 ) Radisievs „Dnevnik odnoj nedeli", dessen Entstehungszeit etwa 1771-85 vermutet wird, könnte neben englischen Vorbildern sehr wohl der „Poor Richard" als Muster gedient haben. Dieses Werk Franklins war, wie Makogonenko feststellte, lange Zeit vor seiner Übersetzung ins Russische in Kreisen der Moskauer Freimaurer und Rosenkreuzler bekannt („N. Novikov . . . " , S. 401). Im Falle Radisievs ist allerdings die Wirkung Lavaters wahrscheinlicher; siehe D. Gerhardt, „Stil und Einfluß" in „ Stilund Formprobleme der Literatur" (1959), S. 54-7. Als bestimmt ist ein negativer Einfluß Franklins auf Novikovs „Christianskij kalendar' na 1784 god" anzusehen, in dem Makogonenko Polemik gegen die „Berechnungsmoral" des „Poor Richard" erkennen will („N. Novikov . . . " , S. 402s.). 85 )
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Zu einem festen Begriff wurde wenig später die „Autobiography", die auch als allgemeines Quellenwerk zum Aufschluß über amerikanische Lebensumstände zurategezogen wurde. E s war ein bezeichnender Irrtum, wenn eine obskure Passage über bestimmte Indianerbräuche in P. Svinins Amerikabericht fälschlicherweise auf „Aufzeichnungen" Franklins verwies 90 ). Um 1805 widmete sich Zukovskij der Lektüre von Franklins Memoiren, zu denen er einen — allerdings nie verwirklichten — literarischen Plan entwarf 91 ). Gerade unter den Dichtern und Schriftstellern der Romantik erfreute sich Franklin hoher Wertschätzung. In den Statuten der literarischen Vereinigung „Arzamas" figurierte er als eine Art Ehrenmitglied 92 ). Von den beiden Dekabristen 1 . 1 . Pu§£in und Baron V. I. Stejngel' wurde eine Übertragung seiner Memoiren während der sibirischen Verbannung in Angriff genommen93). Die Veröffentlichung eines Franklinschen Werkes in einem russischen Journal der 1820er Jahre hat, wie man nachzuweisen versuchte, wahrscheinlich Puschkin auf die zentrale Idee seines Dramenfragments „Mozart and Salieri" geführt 94 ). Weiterhin sollen Franklins moralische Maximen noch auf Fürst Vjazemskij, seine Anschauungen zur Wirtschaft auf N. V. Gogol' gewirkt haben 96 ). Der einflußreiche Kritiker V. G. Belinskij stellte Franklin mit weltliterarischen Koryphäen wie Puschkin, Schiller, Goethe und Rousseau zusammen. An anderer Stelle wandte er sich gegen einen Schmähartikel, mit dem sein Kritikerkollege Senkovskij gegen Franklin zu Felde gezogen war 96 ). Der Einfluß Franklins war noch um die Jahrhundertmitte so mächtig, daß ein wesentlicher Teil des Schaffens von L . N. Tolstoj davon betroffen ist. Wie im einzelnen untersucht worden ist97), hat Tolstoj manche Gedanken des amerikanischen Aufklärers eigenständig ergänzt oder weiterentwickelt. Die Wirkungsgeschichte Franklins zeigt, daß sein Werk im Rußland des 19. Jahrhunderts zum allgemeinen Bildungsgut zählte. Seine Biographie fand Eingang in viele Almanache und
90 ) „ O p y t zivopisnogo puteSestvija po Severnoj Amerike" (1815), S. 199—200. Die Widerlegung von Svinins Quellenbezug unternahm Yarmolinsky, „Memoir", S. 29, ohne jedoch die Entlehnung genau zu identifizieren. Wahrscheinlich bezog sich Sv. auf die „ Z a m e i a n i j a o dikich Severnoj Ameriki", die 1803 als Teil einer Ausgabe von Franklins Werken erschienen waren. 91 ) V. Rezanov, op. cit., S. 337, 344. 92 ) „Arzamas i arzamasskie protokoly" (1933), S. 2 2 1 . (A. I. Turgenev tituliert ihn in einer Rede als „Unser verstorbenes Mitglied Franklin".) 93 ) L N , B d . 59, S. 744. Die Übersetzung wurde anläßlich einer Durchsuchung von Puäiin aus Sicherheitsgründen vernichtet. Kopien sind nicht erhalten. Die Initiative scheint von P u s f i n ausgegangen zu sein. In einem Brief an den Lyzeumsdirektor E . A. Engel'gardt vom 29. 4. 1845 spricht er von der Arbeit an der Übersetzung und bemerkt: „ S i e haben mich noch im Lyzeum mit diesem gehaltvollen Buch bekanntgemacht" („Zapiski o Puskine. P i s ' m a " [1956], S. 201). Seine Äußerung bestätigt, daß die Lektüre Franklins auch den Zöglingen des Lyzeums in Carskoe Selo vermittelt wurde. 94 ) Es soll sich um die Franklin-Übersetzung „PuteSestvie v Ermenonvil'" handeln, die im „Moskovskij telegraf", 1827, Nr. 4, S. 1 3 3 - 1 5 0 erschien. Die These entwickelte M. I. Gillel'son, „ P i s ' m o A. Ch. Benkendorfa k P. A. Vjazemskomu 0 'Moskovskom telegrafe'" in „Puäkin. Issl. i m a t . " I I I (i960),
s. 419-
9S ) Zu Gogol' s. D. Tschiievskij, „ R u s . Literaturgeschichte" I (1964), S. 1 1 0 (bezogen vor allem auf Gedankengänge in Gogol's „ V y b r a n n y e mesta iz perepiski s druz'jami"). — Zu V j a z . : Dv.-Markov, „ B . Franklin and L . Tolstoy", S. 1 2 3 , Fußn. Die Vermutung läßt sich belegen durch FranklinZitate, die Vjazemskij in seinen Aufzeichnungen verwendete; vgl. in „Zapisnye k n i z k i " (1963), S. 58, 3 3 3 . M ) Werke Belinskijs (1953fi.), I V , S. 148 (Zusammenst. mit Goethe u.a.); ibid., I X , S. 575 (gegen Senkovskij, der Franklin „ i n Wahrheit ein Ideal von Hinterlist und Egoismus" genannt hatte; in dessen „Biblioteka dlja ütenija" X L I X [ 1 8 4 1 ] , 3, S. 49-72). 97 ) Dv.-Markov, „ B . Franklin and L . Tolstoy", op. cit.
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literarische Sammelbände 9 8 ). Der v o n den Schriftstellern der Zeit R a d i s i e v s inaugurierte K u l t wurde zur permanenten E i n r i c h t u n g . B i s in die sowjetische Zeit hinein w u r d e n die F r a n k l i n J u b i l ä e n unter a k t i v e r A n t e i l n a h m e v o n Wissenschaft u n d Forschung b e g a n g e n " ) . Ü b e r den Einfluß in bestimmten Teilbereichen hinaus muß die W i r k u n g F r a n k l i n s w i e auch Washingtons immer in einem größeren Z u s a m m e n h a n g gesehen werden. B e i d e N a m e n hatten in R u ß l a n d S y m b o l k r a f t ; in ihnen verkörperten sich die w ä h r e n d der amerikanischen U n a b hängigkeitsbewegung errungenen freiheitlichen R e c h t e . Besonders in der faszinierenden K a r riere Franklins, d e m A u f s t i e g eines A u t o d i d a k t e n v o m Buchdruckerlehrling bis zu höchsten S t a a t s ä m t e r n , sah m a n einen A u s d r u c k der neuen demokratischen L e b e n s o r d n u n g i n den Vereinigten Staaten 1 0 0 ). I n diesem Sinne stellt die Ausstrahlung der Revolutionshelden stets auch einen bedeutsamen Abschnitt in der E n t w i c k l u n g des russischen Amerikabildes dar.
88 ) U.a. in den Sammelband „Kapitolij, ili sobranie zizneopisanij velikich muzej s ich portretami" SPb. 1841, S. 239-44. Unter den späteren Monographien, die die Tradition der Biographien aus den Zeitschriften des 18. Jahrhunderts fortführten, ragt ein besonders wohlwollendes Porträt durch J a . V. Abramov heraus: „ V . Franklin. Ego zizn', obsiestvennaja i nauinaja dejatel'nost'" SPb. 1891 (79 S.). Daß Franklin „zur Entwicklung gesellschaftlicher Aktivität unter seinen Landsleuten beitrug", wird darin dem amerikanischen Staatsmann als unvergleichliches Verdienst angerechnet. Nach Abramovs Meinung war der Lebenslauf Franklins lehrreicher als die meisten der von Plutarch aufgezeichneten klassischen Biographien (op. cit., S. 5, 6). S9 ) Anläßlich der 200jährigen Wiederkehr seines Geburtstages sandte die russische Akademiegesellschaft 1906 eine Glückwunschadresse an die „American Philosophical Society", in der hervorgehoben wurde, daß für die russische Schuljugend die Karriere Franklins immer noch „ein Muster an Tugend" darstelle (zit. bei Dv.-Markov, „ . . . L . Tolstoy", S. 121). Zum 125jährigen Todestag erschien 1915 u.a. ein Gedenkartikel im „Vestnik znanija" (S. 172-8). Zu Ehren des 250. Geburtstages Franklins wurden 1956 in der Sowjetunion zahlreiche festliche Veranstaltungen abgehalten; vgl. Radovskij, S. 56ff. Zur Haltung der sowj. Forschung vgl. die Einleitung von M. P. Baskin in „ V . Franklin. Izbrannye proizvedenija" (1956), S. 5-50. 10 °) Die Biographien zeigen, daß gerade die Tatsache dieses erstaunlichen Aufstiegs von den russischen Autoren immer wieder mit Bewunderung vermerkt worden ist. Karamzin schilderte Franklin in sentimentalisierender Ausmalung, wie er „ i n einem schlechten Rock durch die Straßen Philadelphias zog, ohne Geld, ohne Bekannte, nur mit der Kenntnis der englischen Sprache und des armen Typographenhandwerks ausgestattet"; „ Z i z n ' V. Franklina . . . " , op. cit., S. 1 1 6 . Den gleichen Kontrast hob später Abramov hervor, indem er unterstrich, daß Franklin seine Laufbahn „auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Leiter" begonnen habe, um sie „auf der Höhe gesellschaftlicher Ehrungen" zu beenden; op. cit., S. 6.
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III. DIE ANFÄNGE EINER RUSSISCHEN REISELITERATUR ÜBER DIE VEREINIGTEN STAATEN A ) Die Voraussetzungen I. D i e a m e r i k a f r e u n d l i c h e P o l i t i k u n t e r A l e x a n d e r
I.
Obwohl Ereignisse wie die französische Revolution und die napoleonischen Kriege die A u f merksamkeit wieder auf den europäischen Kontinent konzentrierten, blieb in R u ß l a n d das Interesse an Nordamerika auch nach dem A n b r u c h des neuen Jahrhunderts w a c h . Mit dem Regierungsbeginn des Zaren A l e x a n d e r I. traten die russisch-amerikanischen Beziehungen damals in ein Stadium offener Herzlichkeit. A n g e f a c h t durch die Verherrlichung des U n a b hängigkeitskampfes in den oppositionellen Literatenkreisen um R a d i ä i e v und N o v i k o v , griff die Begeisterung nun auch auf die offizielle Ebene über. A u f vielen Gebieten ist damals eine fortschreitende Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und R u ß l a n d zu beobachten. Der H a n d e l nahm seit 1806, dem Beginn der napoleonischen Kontinentalsperre, einen sprunghaften Aufschwung 1 ). I m Zusammenhang damit gewannen auch die kulturellen Verbindungen immer mehr an Bedeutung. Ihre A n f ä n g e gehen auf den Briefwechsel zurück, den K a t h a r i n a I I . mit dem amerikanischen Präsidenten Washington über die A u f n a h m e bestimmter Indianermundarten in ein von ihr konzipiertes Universallexikon geführt hatte 2 ). In der Person Alexanders fand die russisch-amerikanische A n n ä h e r u n g ihren eifrigsten Befürworter. V o n Zeitgenossen wurde der Z a r im Scherze als „halber A m e r i k a n e r " charakterisiert; sicherlich zählte er zu denjenigen in R u ß l a n d , die über die Verhältnisse auf dem nordamerikanischen Kontinent a m besten informiert waren®). I m ersten Jahrzehnt seiner Regierung, das mit Plänen liberaler Verfassungsreformen angefüllt ist, waren die Vereinigten Staaten stets das Vorbild aller Anregungen und Verbesserungen 4 ). D e n H ö h e p u n k t v o n Alexanders Amerika-Schwärmerei bezeichnet seine Korrespondenz mit dem Präsidenten Jefferson in den Jahren 1804-1806. Einer der Briefe an das amerikanische Staatsoberhaupt formuliert in ü b e r schwenglichen W e n d u n g e n die „ h o h e A c h t u n g gegenüber eurer Nation, die ihre Unabhängigkeit auf die edelste Weise zu nutzen verstand, indem sie sich eine freie und weise Verfassung
J)
Einzelheiten bei Bolchovitinov, S. 182fr., 382ff.; Hölzle, S. 63t. Die Korrespondenz wurde über die Vermittlung Lafayettes abgewickelt und ging in einem so diskreten Rahmen vor sich, daß sie nur wenige Jahre später von der Nachwelt mit ungläubiger Skepsis zur Kenntnis genommen wurde; s. Dv.-Markov, „The Amer. Phil. Soc.", S. 559ff; Bolchovitinov, S. 232 fr. Washington sprach in Worten höchster Verehrung von Katharina als „that singular great character" und wünschte ihrem Unternehmen Erfolg mit der Bemerkung: „ T o know the affinity of tongues seems to be one step towards promoting the affinity of nations." (10. 1. 1788 an Lafayette; in „Writings of G. Washington", X X I X [1939], S. 374) 3 ) Hölzle (op. cit., S. 76) zitiert den Ausspruch eines englischen Diplomaten auf der Genter Konferenz von 1814: „ I fear the Emperor of Russia is half an American." 4 ) Die von Czartoryski 1807, später von Novosil'cev 1817—20 vorgelegten Entwürfe orientierten sich hauptsächlich am Muster der Vereinigten Staaten; s. G. Vernadsky, „Reforms Under Czar Alexander I . . . " , in R P I X (1947), S . 4 7 f f . 2)
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schuf 8 )." Noch, im Jahre 1825, als seine Bewunderung für die Vereinigten Staaten bereits merklich abgekühlt war, bedauerte Alexander reuevoll, daß er nicht schon lange zuvor in der Neuen Welt „glückliche Zuflucht" gesucht hätte 8 ). Die freundschaftliche Annäherung, die die russische Politik seit Beginn des 19. Jahrhunderts gegenüber Nordamerika verfolgte, wurde dadurch begünstigt, daß bis dahin noch keinerlei ernsthafte Interessengegensätze zwischen den beiden Mächten aufgetaucht waren. Dieser Abschnitt der russisch-amerikanischen Beziehungen ist daher geprägt von unverbindlichen Freundschaftsdeklarationen und einem vagen Gemeinschaftsgefühl, das jedoch ebenso einer tragfähigen Grundlage entbehrte wie der Enthusiasmus zur Zeit der Unabhängigkeitsbewegung. Immerhin wurden damals manche Voraussetzungen zu intensiveren Kontakten geschaffen. Mit der Einrichtung einer offiziellen russischen Gesandtschaft in den Vereinigten Staaten wurde 1808 ein langgehegter Plan realisiert7). 2. B e r i c h t e ü b e r N o r d a m e r i k a in d e r r u s s i s c h e n P r e s s e z u A n f a n g d e s 19. J a h r h u n d e r t s In den Zeitschriftenartikeln der Jahrhundertwende spiegeln sich die Wandlungen, denen das russische Amerikabild im Gefolge der amerikanischen Unabhängigkeit unterworfen war. Eine Tendenz zur realistischen Beschreibung der amerikanischen Szene hat sich nun allenthalben durchgesetzt. Das weiterhin bestehende Interesse an den Exotismen ist weniger vordergründig; es verband sich mit mehr oder minder sublimierter Zeitkritik. So intendierte A. E . Izmajlovs Dichtwerk „Sonett eines Irokesen" mit der Darstellung der unwirtlichen kanadischen Natur weniger einen poetischen Selbstzweck als den Hinweis auf die Lage der notleidenden Literaten im eigenen Lande 8 ). In ähnlicher Manier drückte ein Artikel über „Indianerfrauen an den Ufern des Orenoko" Mißfallen über die mangelnde Emanzipation der Frau aus9). Gleichzeitig wandten die Zeitschriften ihre Aufmerksamkeit immer häufiger der Schilderung konkreter Lebensumstände in Nordamerika zu. Dabei stützten sich die Verfasser weiterhin auf westeuropäische Quellen. In einem führenden russischen Journal wurde 1798 eine Reisereportage publiziert, die nach französischer Vorlage über „das Leben der Amerikaner, ihre Sitten, Gebräuche, Handel usw." informieren wollte 10 ). Darin wird unter ständiger Bezugnahme auf die Ereignisse des Unabhängigkeitskampfes mit England ein Porträt der Stadt Boston entworfen. Es sollte repräsentativ für die Zeitprobleme des jungen nordamerikanischen Staates stehen. Der Bericht konnte indessen nur eine begrenzte Auswahl an faktischen Daten vorlegen, die außerdem vielfach von den Traditionen der sentimentalen Reiseschilderung überwuchert waren. Die hohe Meinung, die der Reisebericht über die Lebensweise der Bostoner äußert, war offensichtlich aus einem antibritischen Affekt geboren. Der Verfasser zeichnet das Genrebild s ) Über diese Episode der russisch-amerikanischen Beziehungen ist ausgiebig recherchiert worden; vgl. J . C. Hildt, „ E a r l y Diplomatie Negotiations of the United States W i t h R u s s i a " (1906), S. 36t!. (auch zu den ersten rs.-am. Beziehungen allgemein); V . M. Kozlovskij, „ C a r ' Aleksandr I i Diefferson" in RusMys X (1910), S. 7 9 f f . ; E . Hölzle, „ Z a r A l e x a n d e r l . und T . Jefferson" in A K X X I V ( 1 9 5 1 ) , S. 167fr.; N . Hans, „ T s a r Alexander I and Jefferson . . . " in S E E R X X X I I (1953), S. 2 1 5 f f . ; Bolchovitinov, op. cit., S. 2 5 8 f f . Zitat nach Semevskij, op. cit., S. 69.
®) Nach Tarsaidze, op. cit., S. 87. — Eine Tagebucheintragung Puschkins vom Jahre 1 8 3 4 zählt die Amerika-Schwärmerei Alexanders zu den „kindischen" Zügen des Herrschers (Wke., X I I , S. 330). 7 ) Zur Aufnahme dieser diplomatischen Beziehungen s. Bolchovitinov, op. cit., S. 346fr. („Ustanovlenie diplomati£eskich otnoäenij m e i d u Rossiej i S S A [1808—1809 SS-]")8 ) „Sonet odnogo irokejca, napisannyj na egoprirodnom j a z y k e " , zuerst erschienen im „Periodiieskoe izdanie" der „Freien Gesellschaft", 1804. In ,,Po£ty naCala X I X v e k a " ( 1 9 6 1 ) , S. 456. 9 ) „ 2 e n y indejcov na beregach Orenoko" in „ I p p o k r e n a " V I I I (1801), S. 401—6. 10 ) „Pis'mo o gorode Bostone. Zizn' Amerikancov, ich nravy, obyfai, torgovlja, i p r . " in P P P V X I X (1798), S. 1 7 7 - 1 8 8 ; 1 9 3 - 2 0 2 .
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einer durch Handel und Künste aufblühenden Stadt und lobt die reine, tiefe Religiosität ihrer Bewohner, „die heutzutage in den Kirchen Europas so selten ist 1 1 )." In den Sitten der Bostoner, ja selbst in ihrem Äußeren schien ihm die gepriesene Simplizität der Alten wiedererstanden. Hier wurde ein Topos berührt, den die Amerika-Literatur des 18. Jahrhunderts wiederholt bekräftigt hatte. Dem 18. Jahrhundert war der Autor auch in manchen seiner Vorurteile verhaftet, zum Beispiel, wenn er die irrige These vom vorzeitigen physischen Verfall der europäischen Siedler in Amerika vertrat 12 ). Außerordentliche Verdienste um die Unterrichtung über die Vereinigten Staaten erwarb sich der von N. M. Karamzin 1802 ins Leben gerufene „Vestnik E v r o p y " . Die Fülle an Nachrichten, die namentlich in die ersten beiden Jahrgänge des Journals aufgenommen wurde, läßt auf eine anhaltende Beschäftigung Karamzins mit amerikanischen Angelegenheiten schließen. Es fällt allerdings schwer, aus den heterogenen, oftmals widersprüchlichen Veröffentlichungen des Journals die Anschauungen seines Herausgebers zuverlässig rekonstruieren zu wollen 13 ). Durch Beiträge wie die phantastische Anekdote über den „Negerkönig Cäsar" kultivierte der „Vestnik E v r o p y " die alte Amerika-Legende 14 ). Mit der aktuellen Lage der amerikanischen Neger waren dagegen zahlreiche Artikel befaßt, die über blutige Auseinandersetzungen auf San Domingo berichteten 16 ). Während in ihnen unmißverständlich gegen die Unterdrückung der Schwarzen Stellung genommen wurde, bekundete ein weiterer Beitrag Wohlgefallen über die Sklaverei in Nordamerika: der dortige Neger sei „ein glücklicher Arbeiter, der alles Notwendige für sich, seine Frau und seine Kinder hat und ohne jedwede Sorgen lebt 1 6 )." Besondere Sorgfalt verwendete Karamzin auf eine aktuelle Berichterstattung in der Rubrik „Nachrichten und Bemerkungen". Auch hier war wiederholt von Amerika die Rede, allerdings durchweg von den neuzeitlichen Vereinigten Staaten, die seit ihrer geglückten Revolution in den Mittelpunkt mancher Betrachtungen und Spekulationen gerückt waren. In einem Artikel über „die Zunahme der Einwohner und die großen Handelserfolge in Nordamerika" war Karamzin bemüht, den Aufstieg des nordamerikanischen Staates durch eine exakte statistische Dokumentation zu belegen 17 ). Wie in manchen anderen Publikationen dieser Zeit klingt darin unüberhörbar das Bestreben nach intensiveren Handelsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten an. Die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Vereinigten Staaten war im „Vestnik E v r o p y " bei weitem überwiegend; in einer Folge von Reisebriefen wurde sie fortgeführt. Verschiedenste Sujets wurden hier in einem zwanglosen formalen Rahmen abgehandelt. Die Thematik folgte den etablierten Mustern: in den Worten eines Amerikaners wurden zunächst die Errungenschaften der amerikanischen Revolution verherrlicht:
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) „Pis'mo . . . " , op. cit., S. 186. ) „Pis'mo . . . " , op. cit., S. 194. 13 ) Allzu einfach macht es sich Bolchovitinov (op. cit., S. 249), wenn er bestimmte Widersprüche, die diese Artikel in der politischen Haltung Karamzins sichtbar werden lassen, mit dem Hinweis auf eine „reaktionär-monarchische" Gesinnung ihres Autors auflöst. 14 ) „ K o r o F Cesar, Negr v Amerike; V E I (1802), S. 3 5 - 7 . Darin wird berichtet, wie ein geflohener amerikanischer Schwarzer auf den Bahamas unter seinesgleichen ein terroristisches Regime ausübte. Weiter wird erzählt, wie man diesen „Negerkönig" eines Tages gefaßt und erschossen habe und dabei in seinem Unterschlupf auf Manuskripte stieß, die in einer rätselhaften Sprache, ähnlich dem Chinesischen, abgefaßt seien. Siehe u.a. „ O nynelnej vojne Francuzov v Sen-Domingo", V E I I (1803), Nr. 10, S. 1 4 1 - 4 ; „ O ne sfastnom sostojanii Sen-Domingskoj kolonii", ibid., Nr. 20, S. 3 0 8 - 1 1 ; außerdem Nachrichten in der Kolumne „Izvestija i zameianija". ie ) „ P i s ' m o iz Bal'timora", V E I (1802), Nr. 3, S. 89. 17 ) „ U m n o i e n i e i i t e l e j i velikie uspechi torgovli v Severnoj Amerike", V E I (1802), Nr. 14, S. 1 5 5 - 6 . u
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„Unser Vaterland stellt heute ein seltenes Phänomen in der Geschichte der Völker dar; das Phänomen einer Regierung, die einzig auf das allgemeine höchste Wohl ausgerichtet ist 1 8 )." Anknüpfend an die vorausgehende biographische Literatur über Washington und Franklin wurde nun der neue Präsident Jefferson zu einem Symbol republikanischer Tugenden verklärt. Gegenüber seiner idealisierten Gestalt verlor selbst das Porträt Washingtons an Glanz: Washington, so heißt es in einer aus dem Deutschen übertragenen Würdigung vom Jahre 1803, habe es an „feiner Herzensbildung" mangeln lassen; er sei außerdem geizig, grob und prunksüchtig gewesen. Dagegen zeichne sich Jefferson, „einer der berühmtesten Männer unserer Zeit", gerade dadurch aus, daß er „einfach im Umgang, doch sanft und angenehm" sei; „mit einem Wort, er ist des hohen Ehrentitels und der Vorrangstellung in einer starken Republik würdig 19 )." Die Beiträge des „Vestnik E v r o p y " erschöpften sich jedoch nicht in der einseitigen Glorifizierung der amerikanischen Revolution und ihrer Urheber. Sie sparten auch nicht mit kritischen Bemerkungen. Gegen die Klischees des Exotismus gehen einleitende Worte an, die einer Beschreibung Louisianas vorausgestellt sind: „Aus verschiedenen Gründen wird Louisiana sowohl in England wie in Frankreich als irdisches Paradies dargestellt, in das man nur einzutreten hat, um glücklich zu sein; doch es ist in Wahrheit nichts anderes als ein wildes Land 2 0 )." Bemerkenswert als erstes Beispiel einer engagiert antiamerikanischen Haltung ist der Artikel „Gesellschaftsbeziehungen in Amerika", der gleichfalls 1802 auf den Seiten des „Vestnik E v r o p y " erschien. Darin wird mit zuvor kaum gekannter Schärfe die Lebensweise der Vereinigten Staaten als grob, widersprüchlich und unkultiviert zurückgewiesen. Wiederum macht die Tirade auch vor der persönlichen Integrität Washingtons keinen Halt: „Der Handelsgeist ist der Hauptcharakterzug Amerikas. Alle streben nach Erwerb. Der Reichtum steht mit der Armut in einem frappierenden Kontrast. Das sogenannte Volk besitzt eigentlich überaus wenig Mittel zum Vergnügen. Doch selbst die Reichen kennen keine wahren Annehmlichkeiten des Zusammenlebens. ( . . . ) „Die Leute sind reich und grob; besonders in Philadelphia, wo die Reichen nur unter sich leben; in langweiliger Eintönigkeit essen sie und trinken. ( . . . ) „Das Haus des Präsidenten Washington galt als das erste; da er jedoch in allem auf peinlichste Pedanterie achtete, konnte er die Menschen nicht auf angenehme Art unterhalten; er war trocken, kalt und glich mit seiner Erhabenheit einem asiatischen Herrscher. . . » ) . " Ausgehend von verschiedensten westlichen Quellen verband Karamzins „Vestnik E v r o p y " die Berichterstattung über Nordamerika mit einer durchaus eigenständigen Kommentierung, deren Spektrum von unduldsamer Polemik bis zu spontaner Zustimmung reichte. In den Reisebriefen der Zeitschrift war bereits das Rohmaterial vorgeformt, das einer umfassenderen Darstellung als Entwurf dienen konnte. Von P . P. Svinin wurde diese größere Zusammenfassung nur wenig später in Angriff genommen.
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) „Pis'mo iz Soedinennych Amerikanskich Oblastej", V E I (1802), Nr. 2, S. 7 5 . ) „Diefferson, Prezident Soedinennych Oblastej Amerikanskich", V E I I (1803), Nr. 10, S. 1 3 7 , 140. Die gleiche Würdigung nahm P. 2eleznikov in seine „Sokraäfennaja biblioteka . . . " auf ( I V [1800], S. 285-9). le
">) „Pis'mo iz Bal'timora", V E I (1802) Nr. 16, S. 323. 21 ) „Obäiestva v Amerike", V E I (1802), Nr. 23, S. 3 1 5 , 3 1 6 , 3 1 7 .
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B ) P . P . Svinins „Malerische Reise durch N o r d a m e r i k a " I. S v i n i n s S t e l l u n g i m l i t e r a r i s c h e n L e b e n d e r
Zeit
V o n einem Mitglied der ersten russischen Mission in den Vereinigten Staaten, dem Diplomaten und Künstler P a v e l P . Svinin (1787-1839) 2 2 ) s t a m m t der erste russische Augenzeugenbericht über A m e r i k a , der in der Geschichte der kulturellen Beziehungen zwischen beiden Ländern einen bedeutenden P l a t z einnimmt. Svinin, dessen W i r k e n heute nahezu vergessen ist, war ein M a n n vielfältiger Neigungen und Interessen. H e r k u n f t , Erziehung und Karriere charakterisieren ihn als zur Oberschicht der Petersburger Gesellschaft zugehörig 2 3 ). W i e 2 u k o v s k i j w a r er ein Zögling des Moskauer Adelspensionats; wie dieser debütierte er mit ersten literarischen Versuchen im H a u s b l a t t des Pensionats, der „Morgenröte" 2 4 ). A u f die Schulzeit scheinen auch Svinins dauerhaftes Interesse an den Fremdsprachen und insbesondere seine Vorliebe für die englische Sprache u n d K u l t u r zurückzugehen. N a c h dem glänzenden A b s c h l u ß seiner Schulbildung besuchte Svinin eine Zeitlang Zeichenund Malkurse an der Petersburger A k a d e m i e der Schönen K ü n s t e , bevor er 1805 als Sekretär des greisen Kanzlers Voroncov in das Ministerium für Auswärtiges eintrat. V o n 1806-1807 unternahm er eine ausgedehnte Europareise, zunächst an Bord eines russischen Kriegsschiffes unter dem Befehl A d m i r a l D . N . Senjavins, dem der Achtzehnjährige bereits als Offizier zugeteilt w a r . Svinin sah damals verschiedene Mittelmeerländer, sowie Portugal, Frankreich u n d Deutschland. In Portsmouth betrat er erstmals englischen Boden. In den Reiseaufzeichnungen, die er zu führen begann, bekennt er, d a ß ihm Deutschland unter allen fremden L ä n d e r n a m wenigsten behage. D i e folgenden Jahre verschrieb sich Svinin vor allem den Schönen K ü n s t e n . D u r c h ein patriotisches Gemälde, das eine militärische Szene u m Suvorov darstellt, w u r d e ihm 1811 die Mitgliedschaft der Petersburger A k a d e m i e der K ü n s t e zuteil. I m gleichen Jahre lenkte ihn eine neue wichtige diplomatische A u f g a b e v o n seinen schöngeistigen Betätigungen a b : durch U k a s Alexanders w u r d e er zum Sekretär des russischen Generalkonsuls Graf Pahlen in Philadelphia ernannt. Die Zeit v o m September 1811 bis Juni 1813 verbrachte er in den V e r -
2 2 ) Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird bei der Schreibung des Namens generell auf die Wiedergabe des „weichen Zeichens" vor dem zweiten „ i " verzichtet (eigentl.: „ S v i n ' i n " ) . In den zeitgenössischen Zeugnissen trifft man alle denkbaren Verstümmelungen des Namens an; sie reichen von der französischen Version „ S v i g n i n e " bis zu Fanny Tarnows hybrider Schreibweise „ S s w i n j i e " („Briefe auf einer Reise nach Petersburg" [1819], S. 153). **) Als Quelle für Svinins Biographie dienen: E . I. Tarasovs Artikel in R B S , X V I I I , S. 218-21; ein Kommentar V. I. Saitovs in „Ostaf'evskij archiv knjazej Vjazemskich", I (1899), S. 508-11; ein Nekrolog in Greis „ S y n O t e i e s t v a " I X (1839), 4> S. 78-80; Yarmolinskys „Memoir on Paul Svinin", S. 3ff. Eine neuzeitliche Monographie über Svinin fehlt; das über ihn bisher veröffentlichte Material ist spärlich. Indessen zeigen die vorliegenden Dokumente an, daß Svinin einen umfangreichen Nachlaß hinterlassen haben muß. Der Nekrolog des Jahres 1839 spricht davon, daß er „ v o n jüngsten J a h r e n a n " Aufzeichnungen geführt habe und sorgfältig eine „voluminöse Korrespondenz" aufbewahrt habe (SO, op. cit., S. 80). Von diesen Unterlagen ist bislang annähernd nichts ediert worden. Die Angaben aus neueren sowjetischen Untersuchungen lassen jedoch vermuten, daß noch manches Material in den Archiven lagert; siehe L N , B d . 58 (1952), S. 30 (Verweis auf einen I R L I - F o n d über Svinin; im gleichen B a n d werden zwei Briefe Svinins veröffentlicht); Bolchovitinov, op. cit., S. 27 (Verweis auf einen Leningrader Svinin-Fond in der GPB). Weiteren Aufschluß über sowjetische Sv.-Archive geben die Sammelbände „ L i f n y e archivnye f.-y v gosudarstvennych chranilisiach S S S R " (1963), II, S. 151 (dort wird 1788 als Svinins Geburtsjahr genannt), und „Central'nyy gosudarstvennyj archiv lit.-y i isk.-a S S S R " (1963), S. 402. 2 4 ) R B S , X V I I I , S. 218. In der „Utrennjaja z a r j a " veröffentlichte Svinin Fabeln, Verse und eine aus dem Französischen übertragene Abhandlung „ S o k r a t pered smert'ju".
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einigten Staaten, wobei seine dienstlichen Verpflichtungen ihm Muße genug ließen, u m ausgiebig im L a n d e zu reisen und eine fruchtbare literarische T ä t i g k e i t zu entfalten. N a c h der R ü c k k e h r aus A m e r i k a blieb Svinin bis zu seinem T o d e in R u ß l a n d . E r unternahm während der folgenden Jahre zahlreiche Reisen im eigenen Lande, über die ebenfalls A u f z e i c h nungen vorliegen. 1824 quittierte er den Regierungsdienst. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit verlagerte sich nun immer mehr auf das Gebiet der Literatur und der Schönen K ü n s t e . Z u den Streitfragen der Zeit nahm er wiederholt Stellung; als Mitglied der „ T a f e l r u n d e v o n Freunden des russischen W o r t e s " g a b er sich dabei als dezidierter Siäkovist. 1830 schließlich zog er sich endgültig aus dem öffentlichen L e b e n auf sein L a n d g u t bei GaliC zurück. W ä h r e n d Svinin v o n offizieller Seite glanzvollste Ehrungen angetragen wurden, ist es ihm nie gelungen, in den maßgeblichen literarischen Kreisen der 1820er Jahre als Schriftsteller allgemein anerkannt zu werden. Immerhin schuf er sich m i t den „OteCestvennye z a p i s k i " ein vielbeachtetes Organ, das mit einer A u f l a g e v o n 1400 E x e m p l a r e n eine Zeitlang unter den erfolgreichsten Journalen der Epoche rangierte. Svinin wollte diese Zeitschriftengründung, für die er v o n 1818 bis 1830 als Herausgeber verantwortlich zeichnete, „allein dem Russen und R u ß l a n d " gewidmet sehen 26 ). Im Tonfall überwog folglich die N o t e eines gefühlsbetonten Patriotismus. Über die A r t i k e l in den „ O t e i e s t v e n n y e zapiski" hinaus t r a t Svinin noch mit zahlreichen weiteren literarischen Schöpfungen hervor. E s scheint indessen, d a ß seine A m b i t i o n e n das schriftstellerische Vermögen bei weitem übertrafen. A u s seinem voluminösen Werkeverzeichnis 26 ) ragen höchstens einige der Reise- und Ortsbeschreibungen über ein biederes Mittelmaß oder pures Epigonentum hinaus. Die Definition, Svinin sei ein „ h o m m e universel" in kleinem Maßstab gewesen 8 7 ), ist deshalb dahingehend einzuschränken, daß er in allen schöngeistigen Studien, deren er sich annahm, im Grunde k a u m das Stadium des Dilettierens überwand. Svinins weitgestreute geistige Interessen werden glaubwürdig bezeugt durch das wertvolle „ P r i v a t m u s e u m " , das er sich im L a u f e der Jahre anschaffte. E s enthielt seltene alte H a n d schriften ebenso, wie eine Sammlung v o n Gemälden, Skulpturen, altem Silber, Medaillen, Goldstücken und Mineralien. Die Bibliothek soll sich vor allem aus Fremdsprachenliteratur über R u ß l a n d zusammengesetzt haben. A l l e diese Schätze wurden schließlich v o n der Moskauer „ G e s e l l s c h a f t der Freunde alten S c h r i f t t u m s " erworben.
* ) SO, op. cit., S. 79. Die Artikel der „Ot. zap." waren vor allem um die Aufklärung historischer und kulturgeschichtlicher Zusammenhänge bemüht; u.a. veröffentlichte Svinin erstmals die Aufzeichnungen Chrapovickijs, des Sekretärs Katharinas II. M ) Von Svinin stammen u.a. verschiedene Biographien, ein Führer zur Moskauer Rüstkammer, sowie eine erbauliche Erzählung über die Zweckmäßigkeit der Frauenbildung („Toriestvo vospitanija, ili ispravlennyj suprug"). Sein Werk ließe sich in drei große Kategorien gliedern: a) Reise- und Ortsbeschreibungen „Dostopamjatnosti Sanktpeterburga i ego okrestnostej" (i8i6ff.); das fundierteste und anerkannteste Werk Svinins. Zu den Amerikawerken s.u. b) Historische Romane „Jakup Skupalov, ili ispravlennyj m u z " (1830); „Semjakin sud, ili mezdousobie knjazej russkich" (1832); „Ermak, ili pokorenie Sibiri" (1834). Außerdem das historische Drama: „Aleksandr Men'äikov" (1839). c) Memoirenwerke „Eiednevnye zapiski v Londone" (1817); „Vospominanija na flöte" (1818-9). Ein großangelegtes Werk, das Svinins Erfahrungen während seiner Reisen durch Rußland verwerten sollte („Kartiny Rossii i byt raznoplemennych ee narodov", I, SPb. 1839) blieb ebenso unvollendet wie der Plan einer Geschichte Peters des Großen. 27 ) Yarmolinsky, „Memoir", S. 44.
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Den zeitgenössischen Schriftstellern und Dichtern bot Svinin eine ideale Zielscheibe für Spott- und Schmähverse. Man belächelte seine literarischen Aspirationen als Schreibereien eines einfältigen Patrioten und bornierten Siäkovisten. Der Vorwurf mangelnder Gewissenhaftigkeit war noch der mildeste Einwand, den man gegen ihn zu erheben pflegte. Die mindere Qualität seiner literarischen Schöpfungen galt als sprichwörtlich 28 ). Wiederholte Kontroversen um Plagiatsverdächtigungen hatten seinen Ruf bald beeinträchtigt 29 ). Einige Autoren gingen offen dazu über, ihn der Fälschung und rückhaltsloen Lügnerei zu bezichtigen. Das Bild, das Zeitgenossen von ihm entwarfen, stellt ihn dementsprechend als Charakter von kaum zu übertreffender Beschränktheit dar: D. N. Sverbeev diffamierte ihn als raffinierten Plagiator, dessen „leidenschaftliches Mitgefühl mit dem vorpetrinischen Rußland und Abscheu vor allen ausländischen Neuerungen" ihn in den Augen aller Nicht-Siäkovisten verfemt habe 30 ). Als „Lügenbaron" wurde Svinin endgültig durch ein Pasquill des Dichters A. E. Izmajlov abgestempelt, das in der fatalen Feststellung gipfelt: „Mir scheint, schon in der Wiege hat er gelogen 31 )". Izmajlovs Verse wurden in der literarischen Öffentlichkeit eifrig kolportiert. An sie knüpft eine Parodie aus Puschkins „Kinderbuch" mit dem Titel „Der kleine Lügner" an, die Svinin gleichfalls einen notorischen Hang zum Lügen nachsagt: „Pavluäa (i.e. Svinin) war ein adretter, guter, fleißiger Knabe, doch hatte er ein großes Laster — er konnte keine drei Worte sagen, ohne zu lügen. ( . . . ) Anfangs glaubten ihm alle Freunde, doch bald hatten sie es erraten und niemand wollte ihm glauben, selbst dann nicht, wenn er zufällig einmal die Wahrheit sagte 32 )." Svinins zweifelhafter Ruf wurde weiter erhärtet durch eine Strophe aus dem satirischen Gedicht „Das Irrenhaus" von A. F. Voejkov, das ihn als „Verfasser fremder Aufsätze" und Aussätzigen der literarischen Gesellschaft verunglimpfte 33 ). Um die gleiche Zeit schrieb Fürst Vjazemskij eine maliziöse Parodie auf Svinin, indem er dessen Epigraph über dem Bericht einer „Reise nach Gruzino", dem Gut des berüchtigten ArakCeev, in die unterwürfige Diktion seines Autors „übersetzte 84 )". M
) Über einen Artikel im „ S y n Ote£estva" urteilte N . I. Turgenev überspitzt: „ M i t einem W o r t , auch Svinin hätte nicht schlechter geschrieben" („Dnevniki i p i s ' m a " [ 1 9 1 1 ff.], I I I , S. 180). *•) Besonders peinlich war ein Disput mit V . B. Bronevskij, der die Beschuldigung erhob, Svinin habe seine, Bronevskijs, „Zapiski morskogo flota" in den „Vospominanija na flöte" kopiert (vgl. „Ost. arch.", I, S. 554). — Der Kritiker F . V . Bulgarin sammelte seine Vorwürfe gegen Svinin in den „Uliki Bulgarina S v i n ' i n u " ; „ S e v e r n y j archiv", V I (1823), S. 299; V I I I , S. 247. ä») „Zapiski D. N . Sverbeeva" (1899), I, S. 254. al ) „ L g u n " (1823), in „Poity-satiriki . . S . 3 5 1 - 2 . „Malen'kij l i e c " (r83o); in Puschkins „Detskaja k n i g a " ; Wke., X I , S. 101. Das Pseudonym „ P a v l u s a " entnahm P. Izmajlovs „ L g u n " . In einem Epigramm des gleichen Jahres, der „Insektensammlung" („Sobranie nasekomych"), tritt Sv. als „russischer K ä f e r " („rossijskij z u k " ) auf, eine Bezeichnung, mit der Puschkin auf Svinins Durchtriebenheit anspielte (Wke., X I , S. 1 3 1 ) . M ) „ D o m sumasSedsich" (1814—25), Variante; in „Poity-satiriki " , S. 6 7 1 : „ D a haben wir den Schriftsteller fremder Aufsätze, Den Maler fremder Gemälde, Den Herausgeber von Analphabetenbüchern, Den Adler des Nordens — Svinin. E r hat ein ganzes Zeitalter Mit Falschgeld überzogen Und dann, von aller Welt bespuckt, A n der Kette Unterschlupf gesucht." 34 ) Der Epigraph zu Svinins „Poezdka v Gruzino", erschienen im SO, Bd. 49 (1818), Nr. 39-40, lautet im Original: „ I c h habe die ganze weite W e l t bereist, Sah London, Lissabon, Rom, Troja, Habe vieles im Geiste bewundert, Doch war ich allein in Gruzino A n Herz und Seele glücklich, Und ich bedaure, kein Dichter zu sein."
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Die Schmähverse seiner Schriftstellerkollegen hatten Svinins Stellung in der literarischen Öffentlichkeit schließlich bedenklich untergraben. A u c h die Reputation der „Otecestvennye zapiski" begann darunter zu leiden; im J a h r e 1 8 3 1 mußte das Journal aus Mangel an Subskribenten sein Erscheinen einstellen. Svinins Kredit war derart hoffnungslos zerrüttet, daß man sogar beim Ankauf seiner alten Handschriften argwöhnte, es befänden sich Fälschungen darunter 36 ). Andererseits unterstreichen die Zeugnisse bedeutender Zeitgenossen, daß Svinin in den literarischen Kreisen der 1820er J a h r e eine gewisse Schlüsselstellung einnahm, wenngleich seine Persönlichkeit durch manche zwielichtigen und skurrilen Züge in Frage stand. A l s Protégé des Hofes verfügte er über einflußreiche Beziehungen, die sich viele zunutze machten. Die Liebe zur Literatur und zu den Künsten führte ihn mit den Berühmtheiten seiner Epoche zusammen, darunter auch mit Puschkin 3 6 ). Artikel aus seiner Feder erschienen in fast allen maßgeblichen Zeitschriften; Korrespondenz mit ihm führten unter anderen F . V . Bulgarin, M . N . Zagoskin, N . A . Polevoj, V . F . Odoevskij und I. I. Dmitriev 3 7 ). Z u seinen Freunden
zählte
eine Zeitlang N . I. Turgenev, dessen Wohlwollen in späteren Jahren allerdings bald einer drastisch formulierten Abneigung wich 3 8 ). Schließlich wird die einflußreiche Stellung Svinins auch durch die Berücksichtigung seines „Men'§ikov"-Dramas in einer repräsentativen Anthologie russischer Literatur bezeugt, die 1 8 3 9 durch Smirdin herausgegeben wurde. Svinin genoß darin die E h r e , seinen bescheidenen Beitrag neben Schöpfungen Puschkins und anderer anerkannter Autoritäten gestellt zu sehen, eine Koinzidenz, die Belinskij sogleich zum Anlaß einer scharfzüngigen Kritik nahm 3 9 ). Vjazemskijs „Übersetzung", enthalten in einem Brief an A. I. Turgenev vom 13. 10. 1 8 1 8 : „ W a s nützt es, spricht der berechnende Svinin, Mich vor den fruchtlosen Ruinen Palmyras, Trojas oder Athens zu verneigen. Soll doch der Bürger des Parnass In edelmütiger Erinnerung erschauern; Kein Dichter bin ich, sondern Edelmann Und reise besser auf einträglichem Weg nach Gruzino. Dort kann ich mich durch Bücklinge hinaufdienern." (Zit. in „Ost. arch.", I, S. 1 2 9 - 3 0 ) **) Darüber berichten Tagebuchaufzeichnungen Puschkins; Werke, X I I , S. 325. * ) In einem Brief an A. I. Michajlovskij-Danilevskij vom J a h r e 1827 gibt Svinin an, er habe Puschkin zu einer Lesung des „Onegin" bei sich empfangen (in L N , Bd. 58, S. 67). 37 ) Nach einer Mitteilung A. A. Floridovs sollen allein 77 Briefe Dmitrievs an Svinin existieren, von denen seinerzeit nur eine beschränkte Auswahl in die Werkausgabe Dmitrievs aufgenommen wurde („SoÉinenija I. I. D . - a " , I I [1895], S. 331). M ) Turgenev kannte Svinin von der gemeinsamen Schulzeit im Moskauer Pensionat her. Später traf er mit ihm während der napoleonischen Feldzüge zusammen. Damals urteilt er, bereits mit einem Anflug von Spott : „ I n Svinin habe ich einen guten Kameraden gefunden, denn er kann Suppe kochen, eine K u n s t , woran uns sehr, sehr gelegen ist." („Dnevniki i pis'ma", I I , S. 240) E t w a s später äußert T. erste kritische Vorbehalte: „Die großen Reisen haben den Verstand dieses jungen Mannes wenig gebildet." (ibid., I I , S. 450) 1820 schließlich spricht T. in etymologischer Anspielung von dem „Schwein S v i n i n " und wirft ihm vor, hinterhältig gegen ihn intrigiert zu haben (ibid., I I I , S. 246). 39 ) „ S t o russkich literatorov", SPb. 1 8 3 9 , 1 , S. 275-447 (mit einem Porträt Svinins). Belinskij wetterte 18391
„Men'sikov bietet reichen Stoff für ein Drama. ( . . . ) Doch was Herr Svinin daraus gemacht hat, ist eine Schande." (Werke, I I I , S. 103) 1845 kam Belinskij auf diese Kritik zurück: „ D a s Porträt des Herrn Svinin ist entschieden unangebracht, da Herr Svinin zwar ein Literat war> doch ein überaus unbedeutender. ( . . . ) Ist es nach all dem verwunderlich, daß Herrn Svinins Drama mehr als schlecht i s t ? " (ibid., I X , S. 253)
56
D i e verschiedenen Urteile über Svinin stimmen in wesentlichen Zügen überein. Svinins offensichtliches E n g a g e m e n t f ü r die offizielle Politik des Zarenhofes und die „ g e r ä u s c h v o l l rührselige Variation v o n P a t r i o t i s m u s 4 0 ) " , die er unter Billigung seiner hohen Gönner als Schriftsteller entfaltete, boten m a s s i v e A n g r i f f s p u n k t e zur K r i t i k . A u c h der väterlichwohlwollende A u t o r eines Nekrologs v o m J a h r e 1 8 3 9 konnte ihm den Vorwurf nicht ersparen, er habe sich aus „ M a n g e l an gelehrter B i l d u n g , bald Ubereiltheit, bald Gutherzigkeit, bald überflüssigem S a c h e i f e r " zu Fehlern hinreißen lassen 4 1 ). Z u einem ähnlichen Schluß k o m m t N . A . P o l e v o j , den Svinin einst in den „ O t e c e s t v e n n y e z a p i n s k i " als talentierten A u t o d i d a k ten gefeiert h a t t e : „ E r w a r ein schlechter L i t e r a t , doch ein durch seine G e w a n d t h e i t , Schlagfertigkeit und Dienstfertigkeit unschätzbarer Mensch, bereit, in allen Kleinigkeiten zu verpflichten. E r konnte kein Mäzen sein und hielt sich auch nicht f ü r einen solchen, doch d a er über weitreichende Verbindungen u n d zahllose B e k a n n t s c h a f t e n v e r f ü g t e , konnte er denen nützlich sein, die Mittel f ü r eine künstlerische oder literarische T ä t i g k e i t benötigten. ( . . .) D o c h d a er weder genügend B i l d u n g noch einen Scharfblick f ü r sie besaß, verfiel er o f t in lächerliche Fehler, unterstützte Talentlosigkeit, schuf sich Feinde unter u n d a n k b a r e n Menschen und g a b sich in der F o l g e als Gegenstand dieser S p ä ß e h e r ; gerade das m a c h t e seine Protektion u n a t t r a k t i v 4 2 ) . " 2. S v i n i n s
Amerikaschriften
D a s W i r k e n Svinins legte in der zweiten D e k a d e des 19. J a h r h u n d e r t s den Grundstein f ü r eine eigenständige russische Reiseliteratur über die Vereinigten Staaten 4 3 ). I n seinen A m e r i k a 40 ) Yarmolinsky, „Memoir", S. 44. — Seine aufdringliche patriotische Tonart kultivierte Svinin auch in den Reiseführern. Über den Bau der Kazaner Kathedrale heißt es in den „Dostopamjatnosti Sanktpeterburga . . . " , I , S. 42, dieses Werk sei „aus den Händen russischer Künstler" hervorgegangen, „ohne irgendwelche Mitwirkung von Ausländern, wie auch gleichermaßen alles Material, das zur Errichtung des Tempels verwendet wurde, aus dem Schöße unseres Vaterlandes entsprungen ist" (zit. in L N , Bd. 60, S. 21). 41 ) SO, op. cit., S. 79. 42 ) Zit. in „Ost. arch.", I, S. 509—10. 43 ) Umso erstaunlicher ist die Tatsache, daß diese Leistung bis in die jüngste Zeit hinein vergessen ist. Das Verdienst der Wiederentdeckung der „Malerischen Reise" kommt dem Amerikaner A. Yarmolinsky zu. Mit seiner 1930 veröffentlichten Studie („Memoir") legte er erstmals einen Kommentar zu den Svininschen Amerikaschriften vor; er war vor allem auf eine kritische Wiedergabe ihres Inhalts konzentriert. Auch von anderen amerikanischen Autoren ist daraufhin die Rolle Svinins gewürdigt worden, zum Beispiel von E . Dvoichenko-Markov („The Am. Phil. Society " , op. cit., S. 57of.), M. Laserson (op. cit., S. 1 4 1 - 5 ) und A. Tarsaidze (op. cit., S. 55f.). Unberücksichtigt blieb Svinin dagegen in O. Handlins repräsentativer Kompilation von europäischen Reiseberichten über Amerika, worin von russischer Seite P. A. Tverskoj, ein Autor des späten 19. Jahrhunderts, zu Wort kommt („This Was America. True Accounts of People and Places, Manners and Customs, as Recorded by European Travelers to the Western Shorein the i8th, igth, and 2othCenturies", 1949). Die sowjetische Literaturforschung hat begreiflicherweise wenig unternommen, um Svinin der Vergessenheit zu entreißen. Ihr galt dieser Autor schlicht als „reaktionärer Journalist" (A. G. Cejtlin in der Einführung zu Ryleevs Werken, op. cit., S. 53). Erst in neuester Zeit zeichnet sich eine volle Rehabilitierung Svinins auch in der sowjetischen Forschung ab. Bolchovitinov nennt den Verfasser der „Malerischen Reise" „eine in der Geschichte russischer Kultur ganz und gar ungewöhnliche Persönlichkeit" und hebt insbesondere seinen Amerikabericht als „bedeutendes Ereignis in der russischen Literatur" hervor; op. cit., S. 384, 588. E r bewundert den „Scharfblick", den Svinin mit seinen Urteilen über die Vereinigten Staaten bewiesen habe, fügt freilich einschränkend hinzu, daß man Svinins Ansichten wegen der „begrenzten Weltsicht" ihres Autors nicht immer beipflichten könne (op. cit., S. 587, 42). Über solche allgemeinen Wendungen hinaus geht Bolchovitinov nicht näher auf Svinins Amerikaschriften ein, sondern verwendet sie pauschal zur Rekonstruktion der frühen russisch-amerikanischen Beziehungen. In diesem Zusammenhang avancieren sie immerhin zu einem „wesentlichen Faktor in der Festigung und Entwicklung freundschaftlicher Bande zwischen dem russischen und dem amerikanischen Volk" (op. cit., S. 590).
57
Schriften ist eine w a h r h a f t erstaunliche Fülle an Material zusammengetragen: es u m f a ß t vier gewichtige Zeitungsartikel und ein Resümee in Buchform 4 4 ). Die Tatsache, daß Svinins Buch zwei kurz aufeinanderfolgende A u f l a g e n erlebte, spricht allein für das Informationsbedürfnis über Amerika, das zu dieser Zeit in R u ß l a n d bestanden haben muß. D a m a l s begann sich ein vielversprechender A n f a n g für die literarische Karriere des jungen A u t o r s anzubahnen. Durch Übersetzungen ins Deutsche und Holländische wurde sein N a m e auch über die russischen Grenzen hinaus bekannt 4 5 ). Eine während zahlreicher früherer Auslandsaufenthalte geübte Beobachtungsgabe schien Svinin für das Gebiet der Reiseliteratur zu prädestinieren. I n den Vereinigten Staaten h a t t e er sich erstmals im topographisch-beschreibenden Genre versucht — bezeichnenderweise in einem englischsprachigen W e r k über die beiden russischen H a u p t s t ä d t e , das er mit reichlichem deklamatorischem Pathos zubereitete und als Schaustück mit einem farbigen Porträt Alexanders I. dekorierte. E i n ausgeprägtes nationales Sendungsbewußtsein gab somit den unmittelbaren Anstoß zu Svinins literarischer Tätigkeit. Z u seinem Vorhaben fühlte er sich durch einen edlen patriotischen U n m u t über die „lächerlichen Wunderdinge und seltsamen U n w a h r h e i t e n " veranlaßt, die die Berichte fremder Reisender über R u ß l a n d zierten 46 ). Ganz ähnliche Motive bewegen Svinin wenig später bei seinen W e r k e n über die Vereinigten Staaten. E r wollte die Legimitation seiner A u f g a b e darin erkennen, das Amerikabild der Allgemeinheit v o n den Verzerrungen und Legenden der pittoresken Romanliteratur zu befreien: „ E s ist viel über die Vereinigten amerikanischen Gebiete geschrieben worden, doch ich kann k ü h n behaupten, daß all diese Bücher Steine des Anstoßes sind für jeden, der eine gründliche Kenntnis über dieses L a n d erstrebt. ( . . . ) Viele schrieben unter dem V o r w a n d einer Revolutionsgeschichte R o m a n e . ( . . . ) Die ungestümen Veränderungen in allen Teilen und die Riesenschritte dieses Landes zu Macht und A u f k l ä r u n g im L a u f e der letzten 10 Jahre haben auch die zutreffendsten Einzelheiten, die vor dieser Epoche geschrieben wurden, unwahrscheinlich gemacht 4 7 )." « ) Die Artikel: 1. „Nabljudenija russkogo v Amerike" (über das Dampfboot Fultons); in SO X V I (1814), S. 135-144; 2. „Vzgljad na respubliku Soedinennych Amerikanskich Oblastej"; in SO X V I I (1814), S. 253-70; X V I I I , S. 3-16; 41-48; 81-97. 3. „Torgovye snoäenija Rossii s Soedinennymi Amerikanskimi Oblastjami i vzgljad na general'nuju torgovlju poslednich"; in OZ IV (1820), S. 89-107; V, S. 87-93, 200-209. 4. „Nabljudenija russkogo v Amerike" (Überblick über die Schönen Künste); OZ X X X V I I I (1829), S. i45-r64, 289-312; X X X I X , S. 181-193. Das Buch: „Opyt zivopisnogo puteäestvija po Severnoj Amerike", SPb. 1815 (219 S.); SPb. 1818. Kap. I. u. III dieses Werkes sind identisch mit den Artikeln Nr. 2 bzw. Nr. 1. Das Kernstück des Svininschen Amerikaberichtes, der Artikel Nr. 2, erschien außerdem in einer Separatausgabe (SPb. 1814). — Meine Aufstellung der Artikel folgt den Angaben Yarmolinskys, die im Detail jedoch auch Fehler enthalten. So wendet sich Y . gegen eine angeblich falsche Behauptung Tarasovs, daß Art. Nr. 2 getrennt als Buch erschienen sei („Memoir", S. 11); diese Ausgabe existiert und hat mir vorgelegen. 45 ) „Malerische Reise durch Nordamerika von Paul Swinin." Riga (Hartmann) 1816 (168 S.) Die Übertragung verfährt sehr freizügig mit dem Original; sie ist oftmals oberflächlich und unpräzise. „Tafereelen uit eene Reis naar Noord-Amerika. Door Paul Swinin. Uit het Russisch volgens de Hoogduitsche Vertaling", Haarlem 1818. 4e ) „Sketches of Moscow and St. Petersburg, Ornamented With Nine Colored Engravings Taken from Nature. B y Paul Svenin." Philadelphia 1813 (Th. Dobson). Neuauflagen des Werkes wurden 1814 und 1843 (unter dem generalisierenden Titel „Sketches of Russia") ediert. Die „Sketches" bestehen großenteils aus Artikeln, die Svinin zuvor in amerikanischen Journalen, namentlich dem „Port Folio" in Philadelphia, veröffentlicht hatte. Auch das Porträt Alexanders war dort zuerst erschienen; s. „Memoir", 5. 6. Aus den „Sketches" exzerpierte Sv. später wiederum bestimmte Partien für seine „Dostopamjatnosti"; s. Dv.-Markov, „The Am. Phil. Soc. . . . " , S. 570. 47 )
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»Vzgljad" (SPb. 1814), S. 63-4.
Svinins „Versuch einer malerischen Reise durch Nordamerika" ist das Resultat seiner Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Amerika, das er während eines fast zweijährigen Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte. Das Buch enthält sieben Kapitel; in ihnen hat der Autor unterschiedlichstes Material zu einer nur lose gefügten Einheit zusammengeschweißt. Einem generellen Überblick über Geschichte, Institutionen und Lebensbedingungen in den Vereinigten Staaten (Kapitel I) folgen Abschnitte über das religiöse Leben (Kap. II), das Dampfboot Fultons (Kap. III), die Geschichte des Generals Moreau (Kap. IV), die Niagarafälle (Kap. V), die Indianer (Kap. VI) und eine Schilderung des Fischfangs vor den Neufundlandbänken (Kap. VII). Als Illustration zu diesem Bericht lieferte Svinin außerdem 52 Wasserfarbenzeichnungen, die verschiedene Sehenswürdigkeiten, Landschaften, aber auch Genreszenen fixieren48). Unter ihnen sind Abbildungen, die selbst heutigen amerikanischen Kommentatoren Bewunderung abnötigen49). Bereits die Kapiteleinteilung macht deutlich, daß Svinins Reiseschilderung auf einer unsystematischen, willkürlichen Auswahl basiert. Reine Erlebnisberichte, wie das Kapitel über Neufundland, wechseln unmotiviert mit objektiv-beschreibenden Passagen. Ganz und gar irrelavant für den behandelten Zusammenhang ist der Abschnitt über den General Moreau50). Das Zustandekommen dieses Konglomerats ist weitgehend bedingt durch die unterschiedliche Entstehungszeit der einzelnen Kapitel. Svinin hat die größere Hälfte der Arbeit nach der Rückkehr in Petersburg verfaßt. Andere Partien, darunter das wichtige erste Kapitel, stammen sicherlich aus der Zeit des Aufenthalts in den Vereinigten Staaten 51 ). Kernstück in Svinins Amerika-Analyse ist das erste Kapitel der „Malerischen Reise". In ihm ist eine zusammenfassende Betrachtung zur Lebensweise der Vereinigten Staaten enthalten. Die weiteren Kapitel wie auch die späteren Artikel Svinins sind im wesentlichen nur Ausschmückungen, die bestimmte Aspekte dieses Gesamtzusammenhanges im Detail beleuchten.
**) Die Wasserfarbenzeichnungen wurden erstmals durch Y a r m o l i n s k y herausgegeben ( „ M e m o i r " , Part II). Auf abenteuerlichen Wegen gelangten sie nach dem E r s t e n W e l t k r i e g in eine amerikanische Privatsammlung. 4S ) R . T . H . Halsey bemerkt im Vorwort zu Yarmolinskys „ M e m o i r " (S. X V I I I ) : „ N o other such illuminating pictures of the life of our ancestors at so early a period are k n o w n to u s . " E r bezieht sich auf Svinins Genreszenen, die vor allem das Alltagsleben Philadelphias reproduzieren. M ) Dieser Exkurs gilt einer diplomatischen Mission Svinins, bei der er im J a h r e 1 8 1 3 den französischen General ins Lager der Russen auf den europäischen Kriegsschauplatz geleitete. Moreau, ein alter R i v a l e Napoleons, war 1805 nach Nordamerika geflohen. E r kam bald nach der R ü c k k e h r auf dem Schlachtfeld bei Dresden um. Svinin bezeichnet sich selbst als „ V e r t r a u t e n " des Generals, den er im amerikanischen E x i l kennenlernte. E r sei in seiner Begleitung „ m e h r m a l s in den dichten Gebüschen und W ä l d e r n der neuen Welt umhergestreift"; „ R e i s e " , S. 123. Gleich nach dem T o d e Moreaus publizierte S v i n i n in französischer und englischer Sprache Aufzeichnungen über gemeinsame E r l e b n i s s e : „ S o m e Details Concerning General Moreau and his Last Moments, F o l l o w e d b y a Short B i o g r a p h i c a l Memoir of General Moreau," Boston r 8 i 4 (2 Auflagen). „ A Sketch of the Life of General Moreau", N . Y . 1 8 1 4 . Die Schriften über Moreau, die später in zahlreichen Neuauflagen erschienen, trugen ihrem A u t o r beiderseits des Atlantiks große Popularität ein. Svinins Darstellung verklärte den General z u m M ä r t y r e r des Kampfes gegen Napoleon. Sie kam darin den aufgewühlten patriotischen E m p f i n d u n g e n dieser J a h r e sehr entgegen. Durch Zeitschriftenartikel bemühte sich Svinin später, die E r i n n e r u n g an seine Erlebnisse mit dem General wieder aufzufrischen (z.B. in O Z X V I I [1824]), da m a n auch in R u ß l a n d seinen Namen häufig mit der Schrift über Moreau verband. Zur Charakterisierung des Schriftstellers Svinin schrieb N . I. Turgenev damals an seinen Bruder Alexander: „ S i e kennen, denke ich, Svinins Opus über Moreau mit dem P o r t r ä t " ; „Dnevniki i p i s ' m a " I I , S. 450. Mit dem Kapitel in der „ M a l e r i schen R e i s e " wollte Svinin offensichtlich an seinen vorhergehenden literarischen Erfolg a n k n ü p f e n . 51
) „Memoir", S. 18.
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3. A l l g e m e i n e r C h a r a k t e r d e s S v i n i n s c h e n
Amerikaberichtes
Svinins Reisebericht ist aus der Stimmung jener Epoche erwachsen, in der Rußland gegen die Hegemoniebestrebungen Napoleons in Europa ankämpfte. Der Patriotismus ist folglich die erklärte Weltanschauung des Autors der „Malerischen Reise"; mit größter Genugtuung konstatiert er auch die vaterländischen Regungen der Amerikaner 52 ). Seine Absicht, ein erstes tendenzfreies Werk über die Vereinigten Staaten als Entgegnung auf die Schwarzweißmalerei der englischen Propaganda zu schaffen 53 ), wird dadurch zwangsläufig beeinträchtigt. Svinins Streben nach unparteiischer Distanz bleibt ein redlicher, aber irrealer Vorsatz. Sein Engagement für die Interessen Rußlands läßt sich nur stellenweise durch den Willen zur Objektivität verdrängen. Ein Unterton der „Malerischen Reise" bezweckte unzweideutig, die zu weltweiter Bedeutung aufstrebenden Vereinigten Staaten als Bundesgenossen Rußlands gegen England und das verhaßte Frankreich zu gewinnen — ein Ziel, das im Einklang mit der offiziellen russischen Politik dieser Zeit stand. Svinins Verhältnis zu England ist von Groll und Ressentiments getrübt. Immer wieder polemisiert sein Bericht gegen die Versäumnisse der Engländer beim Verfahren mit den ehemaligen amerikanischen Kolonien. Entsetzt äußert sich der Verfasser über ihre barbarische Kriegsführung in Nordamerika, um die rhetorische Frage anzuschließen, ob sie diesem „aufgeklärten, großen Volk" eigentümlich sei54). Einen antibritischen Akzent wies außerdem die überschwengliche Würdigung auf, die den Geschehnissen des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes gewidmet war 55 ). Noch schroffer war Svinins Absage an Frankreich. Ziemlich unvermittelt stößt man in seinem Reisebericht über Nordamerika auf Ausfälle gegen den „Feind der Menschheit" Napoleon. Der amerikanische Präsident Madison muß sich einen heftigen Tadel Svinins gefallen lassen, weil er zeitweilig mit der Intervention zugunsten Napoleons kokettierte 56 ). Im Rahmen dieser gegen den französischen Usurpator gerichteten Tendenz wird schließlich auch die Aufnahme des Kapitels über Moreau in die Schilderung verständlich. Die „Malerische Reise" ist überdies in mancher anderen Hinsicht das Werk eines höchst subjektiven Betrachters. Das Temperament des Autors drängte häufig zu empfindsamen Ausrufen und gefühlsinnigen Schwelgereien, die auf die von Karamzin begründete Tradition einer sentimentalen russischen Reisebriefliteratur zurückleiten. Die stilistische Eigenart Svinins, eine blumige, von beschreibenden Epitheta, rhetorischen Figuren und tautologischen Wendungen überschwemmte Prosa, entspricht dieser Gemütsverfassung. Die patriotische Gesinnung des Autors und seine erklärt amerikafreundliche Haltung steigerten noch die Empfindsamkeit der Darstellung. Das kritische Element fehlt zwar nicht völlig; es wird jedoch von der dominierenden Tonart fast ständig überspielt. Von der Gemütslage Svinins und den stilisti52
) E r billigt beispielsweise entzückt, w e n n amerikanische Maler einen „ e d e l m ü t i g e n
Patriotismus"
pflegten ( „ V z g l j a d " , S. 39). A n anderer Stelle rechnet er es der „ E h r e der A m e r i k a n e r " zu, daß sie „ m i t größtem E i f e r alles unterstützen, w a s über ihr V a t e r l a n d erscheint." ( „ V z g l j a d " , S . 3 8 ) 53
) S v . verurteilt die weitverbreiteten Darstellungen englischer oder englisch beeinflußter A u t o r e n ,
die alles in den Vereinigten S t a a t e n „ i n schwarzes, verächtliches L i c h t " rückten ( „ V z g l j a d " , S . 64). D a s Ü b e r w i e g e n solcher Tendenzliteratur ist ihm ein weiterer wichtiger A n l a ß f ü r seinen B e r i c h t . 54
) „ V z g l j a d " , S . 4 6 - 7 . Charakteristisch f ü r die A b n e i g u n g S v i n i n s ist eine I n f o r m a t i o n im V o r w o r t
seiner S c h r i f t . D o r t berichtet er v o n verlockenden A n g e b o t e n , die ihm in E n g l a n d f ü r die V e r ö f f e n t lichung seiner Reiseeindrücke g e m a c h t worden seien. E r habe alle derartigen Offerten ausgeschlagen, u m sich nicht als „ W e r k z e u g ihres Hasses gegen die Vereinigten S t a a t e n " mißbrauchen zu lassen ( „ O p y t " , S P b . 1 8 1 5 , S . 3). 55
) „ V z g l j a d " , S. 4 f f . Sie b e g i n n t : „ D i e amerikanische R e v o l u t i o n k a n n m i t keiner anderen gleichgesetzt werden, und waren
ungewöhnliche U r s a c h e n nötig, u m jenes bewundernswerte,
allgemeine
natürlich
Einvernehmen
hervorzubringen, durch das die A m e r i k a n e r alle unüberwindlichen Hindernisse ü b e r w a n d e n ! " M
) „ V z g l j a d " , S. 4 6 , 4 7 . S v i n i n w i r f t d e m P r ä s i d e n t e n u n v e r b l ü m t vor, daß er „ i n seinen politischen
T a t e n nicht allzuviel W e i t s i c h t g e z e i g t " habe.
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sehen Eigenheiten seiner „Malerischen Reise" vermitteln schon die ersten Sätze einen Vorgeschmack : „Die Vereinigten Staaten bieten dem Betrachter ein Beispiel, das in den Annalen der Geschichte ungewöhnlich ist. Jeder, der in die Ursachen dieser Erscheinung eindringt, wird von ihrer Größe überrascht sein. Die Amerikaner haben sich als völlig würdig erwiesen, jene Rechte der wahren Freiheit und des Glücks zu genießen, die die erste Grundlage des Geistes ihrer Regierung sind. Nach meiner Meinung übertreffen sie diesbezüglich alle alten und neuen Republiken. Die amerikanischen Gesetze scheinen für ein gutes, weises Volk bestimmt 57 )." Diese Einleitung kennzeichnet die „Malerische Reise" als eine jener unausgewogenen Kompositionen von belegten Fakten und subjektiven Meinungen, von trivialen Beiläufigkeiten und sachdienlichen Informationen, in denen Svinin eine unübertreffliche Meisterschaft nachgesagt wurde. Verläßlich ist seine Darstellung, wo sie sich auf statistisches Zahlenmaterial stützt, das dem russischen Diplomaten in Philadelphia verhältnismäßig leicht zugänglich gewesen sein muß. Allerdings befolgte Svinin eine verwirrende Methode, den Schwall von Fakten mit subjektiven Wertungen zu durchsetzen. Das Dokumentarische seines Amerikaberichtes ist immer verquickt mit lebendigem Erlebniskolorit. Eine Mischung aus subtiler dichterischer Inspiration und trockener Statistik ist beispielsweise charakteristisch für Svinins Schilderung der Niagarafälle. Immerhin kann der Autor exakten Aufschluß über Fläche, Bevölkerung, geographische Lage und sogar die Höhe der Staatsschuld der Vereinigten Staaten geben. Auch die Bezeichnungen der Seen, Flüsse und Berge, sowie die Namen der 22 Einzelstaaten werden in ungefährer lautlicher Entsprechung ins Russische transkribiert. Von dokumentarischem Wert sind Svinins pedantisch belegte Ausführungen zum Militärwesen und die Abhandlung über russischamerikanische Handelsbeziehungen. Seine Sachkenntnis auf diesem Sektor drängt ihn zum Vorschlag einer umfangreichen Warenliste, durch die eine weitere Intensivierung des Güteraustausches angeregt werden soll88). Wertvolle Beiträge zur Zeitgeschichte sind gleichfalls jene Partien des Reiseberichtes, in denen Skizzen der fünf größten Städte des Landes entworfen werden. Hier knüpfte Svinin sicherlich an die Traditionen der Briefliteratur aus Karamzins „Vestnik E v r o p y " an. Es ist ihm in anschaulicher Weise gelungen, die damaligen Physiognomien Washingtons, New Yorks, Philadelphias, Bostons und Baltimores zu rekonstruieren. Im Vordergrund seiner Schilderung steht das Interesse für architektonische Konzeptionen, wie auch die Städte- und Gebäudeansichten unter seinen Wasserfarbenzeichnungen erweisen69). Svinins Erläuterungen zu diesem Abschnitt wirken sachbezogen und diskret. Nur einmal verfällt der Autor in den abschätzigen Jargon, wenn er über das Weiße Haus in Washington urteilt, es verdiene „in den Augen eines Einwohners von Petersburg keine Beachtung" 60 ). Bemerkenswert ist der Scharfblick, mit dem Svinin die charakteristischen Eigenarten der jeweiligen Stadt durchdringt. So registriert er treffend, wie Boston auf die Anfänge amerikanischer Geschichte zurückgewandt sei und sagt in kühner Prognose den Aufschwung New Yorks voraus 61 ). In Philadelphia, das er zur „weiträumigsten und schönsten Stadt" der Vereinigten Staaten erklärt, meint er eine allgegenwärtige „Strenge und Herbheit" der Quäkersitten zu » ) „ V z g l j a d " , S. 1. ) „ V z g l j a d " , S. 21—7. Von Bolchovitinov sind diese Angaben wie auch die Ausführungen zum Militärwesen ( „ V z g l j a d " , S. I9f.) zur Untersuchung der frühen russisch-amerikanischen Beziehungen herangezogen worden. In seiner kritischen Prüfung kommt B. zu dem Schluß, daß die betreffenden Informationen der „ M . Reise" durchaus als vertrauenswürdig anzusehen seien; op. cit., S. 386, 500. 59 ) Drei Abbildungen halten Sehenswürdigkeiten New Yorks fest („Memoir", Part I I , N r . 2, 3, 5), dreizehn Abbildungen zeigen Philadelphia (Nr. 1 3 - 2 5 ) , eine Ansicht gibt Washington wieder (Nr. 42). ) „ V z g l j a d " , S. 52. 61 ) „ V z g l j a d " , S. 60ff. (Boston); S. 47 (New York). M
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verspüren 62 ). Baltimore schließlich erregt seine Aufmerksamkeit als „eines der frappierendsten Bilder für das schnelle Wachstum dieses Landes" 63 ). Erheblich allgemeinplätziger sind demgegenüber die Porträts, die Svinin den führenden amerikanischen Staatsmännern seiner Zeit zudachte. Er behandelt hier in lapidarer Kürze den Präsidenten Madison, Finanzminister Gallatin, Außenminister Monroe, Heeresminister Armstrong, Marineminister Jones und General Izard. Naiv-geschwätzig muten jene Abschnitte der „Malerischen Reise" an, in denen Svinin episodenhafte Abschweifungen einflocht. E r mag es für unerläßlich gehalten haben, eine gewisse Anzahl von Hörensagenberichten in die Darstellung aufzunehmen, um dem Unterhaltungsbedürfnis seiner Leser entgegenzukommen. Die Schilderung der Niagarafälle ist offenbar von solchen Erzählelementen durchsetzt64). Mit der Mitteilung, Amerika habe bereits den Phöniziern als Stützpunkt gedient, wagt sich der Autor einmal in die Gefilde der historischen Spekulation vor 65 ). Gelegentlich verschmäht er es auch nicht, aus den Traditionen der volkstümlichen Legende zu schöpfen. Mit ergötzlichem Behagen trägt er eine Fabel vor, die beschreibt, wie einmal durch einen wundersamen Zufall das Gegengift gegen den Klapperschlangenbiß entdeckt worden sei64). Svinins Freude am Fabulieren brachte es mit sich, daß sich auch in seinen Angaben zur Chronologie bisweilen Unrichtigkeiten einschlichen67). Die unzuverlässige Dokumentation ist dem Autor schon von den zeitgenössischen Kritikern besonders schwer angekreidet worden68). Zur weiteren Konfusion trug bei, daß es Svinin nicht für nötig befand, seine Quellen kenntlich zu machen, wenn er Passagen aus den Werken fremder Autoren für seinen Reisebericht auswertete 69 ). 4. E i n z e l z ü g e d e r D a r s t e l l u n g Angesichts der politischen Orientierung des Autors ist es wenig überraschend, wenn sein Urteil über die Vereinigten Staaten außerordentlich positiv ausfällt. Für seine Wertschätzung führt Svinin eine Vielzahl von Gründen an. Von besonderer Attraktivität ist auch in seinen Augen das Pionierleben Amerikas: „Mit einem Mal sind die lautlosen Wüsten und ewigen Wälder verschwunden; an ihrer Stelle wuchsen Städte heran, die nach Größe und Pracht den ältesten Hauptstädten Europas nicht nachstehen; undurchdringliche Sümpfe verwandelten sich in reiche Felder und Wiesen, die mit ihren Erzeugnissen die Hälfte der alten Welt ernähren, und die amerikanischen Flüsse ließen Schiffe entstehen, die die Meere aller Weltteile bedeckten und bald über das Recht der zweiten Handelsnation auf der Erde verfügten 70 )." Der Formen- und Farbenreichtum der nordamerikanischen Natur regt Svinin zu ungezügelten Schwelgereien an. Der Autor ist sichtlich vom Natur-Pantheismus der Romantik infiziert. " ) „ V z g l j a d " , S. 5 3 - 4 . ) „ V z g l j a d " , S. 62. 64 ) „Memoir", S. 24. « 5 ) „ V z g l j a d " , S. 3 1 . 66 ) „ V z g l j a d " , S. 1 3 ; vgl. den Kommentar in „Memoir", S. 1 2 - 3 . 67 ) Nachweise in „Memoir", S. 8, 14, 26, 3 0 L 68 ) Den Anfang machte ein Artikel von M. T . Kaienovskij im „Vestnik E v r o p y " , der aut Entstellungen in den „Sketches of Moscow and St. Petersburg" weist, gleichzeitig aber dem Autor als „einem unserer verehrtesten Schriftsteller" schmeichelt und ihn für die hervorragende künstlerische Gestaltung seines Werkes lobt („Izvestie o novoj Amerikanskoj k n i i k e " , V E X I V ( 1 8 1 3 ) , S. 1 4 9 - 1 5 1 ) . — Sehr ungnädig ging der deutsche Übersetzer mit Svinin ins Gericht. E r sah sich zu Verbesserungen solcher Stellen veranlaßt, „die im Originale durch Druck- oder Schreibfehler gänzlich verstümmelt sind" und wies auf diese Verzerrungen des russischen Werkes im einzelnen hin („Reise", S. II, I I I , I V ) . E i n anderes Mal beklagt er, daß „der Verfasser von den neuesten Nachrichten, die ihm bei seinem Aufenthalte in A m e rika müssen zu Gebote gestanden haben, dem Leser fast nichts mitgeteilt h a t " ( „ R e i s e " , S. 7 1 , Fußn.). 69 ) Yarmolinsky wies mehrere Entlehnungen nach. Sie stammen insbesondere aus dem Reisebericht des Charles William Janson, „ T h e Stranger in America", London 1807 („Memoir", S. 2 1 , 3off.). ™) „ V z g l j a d " , S. 2. 63
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Wie manche Betrachter früherer Jahrhunderte hing er außerdem dem Aberglauben an, daß in der Neuen Welt alle Erscheinungen der Fauna und Flora gleichsam ins Riesenhafte über höht seien. Das Beispiel der Niagara-Fälle dient ihm als Beweis: „ D i e Natur dieses Teils von Amerika ist völlig neuartig und ungewohnt für einen Europäer; alle Gegenstände sind hier sozusagen in größtem Maßstab geschaffen! E s gibt deren so viele, und sie frappieren die Blicke des Betrachters durch ihre Großartigkeit und Pracht. In den hiesigen Grenzen befindet sich der wunderbare, ungeheuer großartige Niagara-Wasserfall 7 1 )." Die Niagara-Fälle haben die Phantasie des Malers Svinin zu drei stimmungsvollen Schöpfungen inspiriert. Das separate Kapitel der „Malerischen Reise" unterstreicht, wie sehr sie den Autor fasziniert haben müssen. Beim Anblick dieses Naturschauspiels verfällt er wiederholt in ekstatische Verzückungszustände, die ihm zuerst die Sprache zu verschlagen scheinen, dann aber zu wahren Katarakten von Superlativen bewegen 72 ). Ähnlich war Svinins Reaktion bei der Schilderung einer natürlichen Brücke in Virginia: „Welches Studienobjekt für einen Erforscher der Natur, welches Feld für die Mutmaßungen eines Philosophen 7 3 )!" An der Bevölkerungsstruktur der Vereinigten Staaten fiel Svinin die Dreiteilung in Weiße, Neger und die indianischen Urbewohner auf. Die L a g e der Neger beurteilt er optimistisch. Er äußert die Hoffnung, „daß in Bälde alle befreit sein werden, da bereits sechs der Nordstaaten die Sklaverei aufgehoben haben 7 4 )." Betont realistisch und unsentimental ist seine Einschätzung der Indianer: „Die Indianer, die für die grausame Krankheit der Pocken und den unmäßigen Genuß starker Getränke anfällig sind, nähern sich mit erstaunlicher Schnelligkeit der Bedeutungslosigkeit. Es scheint, daß es ihnen bestimmt ist, vor der Überlegenheit der Weißenzu weichen! Schon jetzt sind von einigen ihrer starken Völker nur noch wenige Familien übrig 7 5 )." Mit keinem Wort streift Svinin hier die ethnischen Besonderheiten der amerikanischen Urbevölkerung, die bis dahin in der Literatur stets breit ausgeschmückt worden waren. Allerdings wurden die Leser der „Malerischen R e i s e " im sechsten Kapitel reichhaltig für dieses Versäumnis entschädigt. Unter dem Titel „Lustbarkeiten der Indianer, der eingeborenen Bewohner Amerikas" handelt der Autor dort ausführlich über Sitten und Gebräuche der Urbevölkerung. Das Kapitel war offenbar als Konzession an den Zeitgeschmack gedacht, der maßgeblich durch die pittoresken Indianererzählungen Chateaubriands geformt worden war. Doch selbst hier hielt es Svinin für angebracht, auf die fragwürdigen Eigenschaften der Indianer hinzuweisen: „ . . . sie verbinden grausame Bestialität mit Edelmut, Eigensucht mit Uneigennützigkeit, einen durchdringenden Verstand und Scharfsinn mit niederen tierischen Instinkten und grimmige Gewalttätigkeit mit Demut 7 6 )." 71
) „ V z g l j a d " , S. 8. Spätestens seit der „Beschreibung der Niagarafälle", einer Chateaubriand-Übertragung im „Vestnik E v r o p y " , Febr. 1808, war dem russischen Leser diese Sehenswürdigkeit als Symbol der verschwenderischen amerikanischen Natur vertraut. 72 ) Zu den Zeichnungen s. „Memoir", Pt. II, Abb. 3 7 - 9 (Nr. 4 0 - r zeigen weitere amerikanische Wasserfälle). Svinin schließt seine Betrachtungen zu diesem Thema: „ W i e einen tätigen Vulkan kann man die Niagarafälle, wenn man sie einmal erlebt hat, nie wieder aus der Erinnerung tilgen, oder, um es treffender zu sagen, die Erinnerung an sie gleicht einem jener zauberhaften Träume, die fest im Gedächtnis haften bleiben, ohne daß man sie jemand anderem mitteilen k a n n . " ( „ O p y t " , op. cit., S. 1 7 3 ) 75 ) „ V z g l j a d " , S. 9. Die Brücke hielt S. gleichfalls in einer Zeichnung seines Skizzenbuches fest ( „ M e m o i r " , Abb. Nr. 44). 74
) „ V z g l j a d " , S. 1 6 - 7 . '*) „ V z g l j a d " , S. 1 7 . 76 ) „ O p y t " , S. 1 7 5 - 6 (Kap. „Uveselenija Indejcev, prirodnych zitelej Ameriki").
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Ähnliche kritische Vorbehalte unterbrechen auch weiterhin den Erzählfluß Svinins, wenn er über farbenprächtige Tänze und Riten bei den nordamerikanischen Indianern referiert. Von einer Indianerdelegation heißt es, sie sei „mehr aus Eigennutz als wegen politischer Zwecke" abgesandt worden; an anderer Stelle wirft der Autor mißbilligend ein, daß unter den Indianern „die Begierde nach Gewinn" immer mehr überhandnehme"). Der Inhalt des sechsten Kapitels besteht im wesentlichen aus der Nachzeichnung von vier Tänzen, die nach Svinins Angaben eine Indianerdelegation 1812 in Philadelphia dargeboten habe. Die einzelnen Bewegungen der Tänze werden minutiös beschrieben und phantasiereich ausgemalt. Der Autor bedauert es, wenn die Vorführenden gewisse kuriose Einzelheiten unterschlagen, die ihm aus der Literatur geläufig sind78). Von philologischem Interesse ist Svinins russische Version eines indianischen Liedes, das angeblich von den Angehörigen desCherokesenStammes zu den Qualen des Marterpfahles gesungen zu werden pflegte. Nach Absicht des Verfassers sollte es „die Barbarei und Seelenstärke dieser Menschen" demonstrieren 79 ). Mit der Chronologie des Indianerfestivals verfolgte Svinin das Ziel, seinen Schilderungen eine authentische Grundlage zu sichern. Inzwischen ist jedoch ermittelt worden, daß eine Festlichkeit der beschriebenen Art zumindest während Svinins Aufenthalt in den Vereinigten Staaten nicht stattgefunden haben kann. Als Quellenunterlage hat der Autor wahrscheinlich auf zeitgenössische Berichte über ähnliche Ereignisse zurückgegriffen. Schließlich sind auch die sechs Wasserfarbenzeichnungen mit indianischen Sujets, die durch den anspruchsvollen Zusatz „nach der Natur geschaffen" etikettiert sind, nachweislich Kopien zeitgenössischer Werke 80 ). Man muß es als zweifelhaft ansehen, ob Svinin das Leben der Indianer jemals mit eigenen Augen kennengelernt hat. Seine Kommentare lassen vielmehr vermuten, daß er von bestimmten Stämmen des Ostens gehört hatte, die unter dem Einfluß der Zivilisation bereits degeneriert waren. Von zwiespältigen Gefühlen zeugen Svinins Ausführungen zu dem aus Europa stammenden Bevölkerungsanteil in den Vereinigten Staaten. Während er volles Verständnis für die „unglücklichen, elenden und unternehmenden Menschen" bekundet, die „der Naturreichtum, die Freiheit und ein offenes Feld für betriebsame Betätigung" nach Amerika getrieben haben, hat er andererseits größte Bedenken gegen das Auswandern, das er als eine A r t Verrat am Vaterland brandmarkt. Mit besonderer Genugtuung vermerkt er daher, daß er in den Vereinigten Staaten keinem Emigranten russischer Abstammung begegnet sei, ein Augenblick, zu dem ihn patriotische Emotionen ganz und gar übermannen: „Welches Vergnügen für einen Russen, welche Nahrung für sein Ehrgefühl, welcher Ruhm für seine Regierung, wenn er beim Durchstreifen dieser weiten Territorien Amerikas Siedler aus allen wohlgeordneten Ländern Europas sieht, ( . . . ) und er auch nicht einen Russen darunter antrifft, der nach dem Beispiel aller anderen hierher geflohen wäre, sei es vor ungerechten Gesetzen seines Vaterlandes, sei es vor der Verfolgung seines Glaubensbekenntnisses, sei es, um Freiheit und ein breiteres Feld für seine Betriebsamkeit zu finden." „ I c h gestehe, daß ich das mit höchstem Vergnügen und Stolz Ausländern gegenüber bemerkt habe! Der Mensch ist von Natur aus mit dem Wunsch ausgestattet, sein Bestes, sein Glück zu suchen. Und wo kann es besser für einen Russen sein als in seinem Vaterland 81 ) ?"
" ) „ O p y t " , S. i 8 6 f . , S. 193. 78 ) Beispielsweise steuert Sv. aus eigener Erinnerung das Begraben des Kriegsbeils bei, wobei er fälschlicherweise auf Franklin als Quelle v e r w e i s t ; „ O p y t " , S. i g g f . 7 9 ) „ O p y t " , S. 190. N a c h Y a r m o l i n s k y ( „ M e m o i r " , S. 28 f.) soll es sich bei diesen Versen u m das erste bekanntgewordene Beispiel eines indianischen Musikstücks handeln. Svinin übertrug das indianische Gedicht aus dem Englischen, wo es ihm in einer Ü b e r s e t z u n g des Originals zugänglich war. D e m deutschen Ubersetzer der „ R e i s e " lag diese russische Version vor ( „ R e i s e " , S. 161 f.). Als vierte Station der Ü b e r t r a g u n g dürfte der deutsche T e x t nur noch wenig m i t dem Original gemein haben. 80 ) „ M e m o i r " , S. 30-2. 8 1 ) „ V z g l j a d " , S. 15—6 (der zweite A b s a t z gibt eine F u ß n o t e Svinins wieder).
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Den beiden russischen Einwanderern, denen Svinin schließlich doch in Amerika begegnete, machte er das Recht streitig, sein Vaterland zu vertreten. Ihr Schicksal liefert ihm Stoff für eine didaktische Tirade, durch die seine Landsleute eindringlich an ihre erzieherischen Pflichten gemahnt werden. Man entnimmt daraus, daß sengender Haß gegen alles Fremde eine Komponente von Svinins Patriotismus gewesen sein muß: „ I n diesen beiden russischen Siedlern kann man das frappierendste Beispiel dafür sehen, wohin eine verderbliche ausländische und andersgläubige Erziehung führen kann. Gestehen wir uns ein, daß man die Schuld nicht so sehr bei diesen unglücklichen Russen als bei ihren Eltern suchen muß 8 2 )!" Lobende Worte findet Svinin für den staatlichen Aufbau und die Regierung des Gastlandes. Es behagt ihm, daß der Initiative des einzelnen so reichlicher Spielraum zugestanden werde. Wiederholt zollt er seine Anerkennung dem „Unternehmungsgeist" der Amerikaner und ihrer „Kunstfertigkeit im Handel". Er meint klar vorauszusehen, daß die Engländer diesem neuen Rivalen auf den Weltmärkten eines Tages Platz machen müßten 83 ). Durch einen Bericht über das private Expeditionsunternehmen des New Yorker Kaufmanns Astor illustriert Svinin die Dynamik, mit der sich Einzelinitiative in Nordamerika entfalten könne 84 ). Als eine segensreiche Auswirkung des amerikanischen Unternehmergeistes betrachtet Svinin die fortschreitende Mechanisierung des Arbeitsprozesses, von der er in einigen Betrieben des Landes erstaunt Kenntnis nimmt: , , . . . in allem, bei dem Erfindungsgeist nötig war, errangen sie außerordentliche Erfolge. Mechanische Vorrichtungen haben in den Vereinigten Staaten die Menschenhand vollständig ersetzt. Dort wird alles durch Maschinen betrieben 8 5 )." Mit kindlicher Freude macht sich der Verfasser an die Beschreibung technischer Anlagen. Über ihre Anwendungsmöglichkeiten schwelgt er bereits in kühnsten Zukunftsvisionen. Für Rußland sieht er besondere Vorteile durch die Einführung des Dampfbootes gewährleistet: „Frohsinn, eheliche Liebe und Treue werden sich in den verödeten Dörfern niederlassen, und der Bauer wird, anstatt unter der Peitsche beim Schiffsziehen dahinzusiechen und oftmals zugrundezugehen, hinterm Pflug wahren Reichtum und Gesundheit finden88)." Dem Dampfboot widmete Svinin ein weiteres Kapitel seiner „Malerischen Reise". E s scheint, daß er selbst einmal als Passagier an einer Testfahrt der „ P a r a g o n " auf dem Hudson teilgenommen hat. Der Bericht über diese revolutionierende Neuerung bietet ihm erneut Anlaß, seinen Landsleuten die technischen Fertigkeiten der Amerikaner vor Augen zu führen. Daneben verfolgt er hier handfeste propagandistische Absichten, die sich auf die Erwartung gründeten, aus der Erfindung Fultons persönlichen Profit zu schlagen. Seine Bemühungen um ein Monopol für den Dampfschiffbau in Rußland, die er durch Korrespondenzen mit dem amerikanischen Erfinder und dem russischen Minister Rumjancev forcierte, blieben allerdings ohne Erfolg 8 7 ). Svinin verdrängt seine Enttäuschung mit patriotischen Betrachtungen. Er 82 ) „ V z g l j a d " , S. 16 Fußn. Von den beiden russischen Emigranten gibt Svinin lediglich die Initialen preis ( „ K . G . " und „ D . " ) . Ihre Herkunft und Tätigkeit berührt er nur kurz. Trotzdem ist in einem der beiden unschwer Fürst Dmitrij Golicyn („¿Cnjaz* Golicyn") zu identifizieren, der Sohn des vermaligen russischen Botschafters in Den Haag. Unter dem Einfluß seiner fanatisch gläubigen Mutter, einer gebürtigen Deutschen, konvertierte Fürst D. Golicyn früh zum Katholizismus und brachte danach 40 Jahre als Priester in Pennsylvanien zu. E r starb 1840. Zu seiner Geschichte s. T . Heyden, „ D e r Missionar Fürst Gallitzin", Hmb. 1859. 8S
) ) 85 ) 8 «) 87 ) Abb. 84
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„Vzgljad", „Vzgljad", „ O p y t " , S. „ O p y t " , S. „Memoir", Nr. 7).
S. 22. S. 2 8 f f . ; dazu der kritische Kommentar in „Memoir", S. 1 4 L 83 ( K a p . : „Stimbot ['Parovoe sudno']"). 104. S. 9 f. Das Dampfboot Fultons zeigt auch eine Zeichnung Svinins („Memoir
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findet Trost in dem Bewußtsein, als erster die Übernahme des Dampfbootes zum Wohle seines Vaterlandes angeregt zu haben. Beeindruckt war Svinin von der Art, wie die Amerikaner ihre erworbenen Reichtümer anlegten. Er stellt fest, daß es kein L a n d gäbe, „wo die Regierung weniger an der Verbesserung ihres Staates teilhätte 8 8 )". Das führe dazu, daß Einzelpersonen das Straßen- und Wegenetz erbauen ließen und daß wohltätige Einrichtungen, wie Krankenhäuser oder Altersheime, von privaten Geldgebern unterhalten würden. Verblüfft bemerkt er das Fehlen eines sozial deklassierten Bettlerstandes in den Vereinigten Staaten, was er gleichfalls darauf zurückführt, daß eine tätige Fürsorge aller untereinander Abhilfe schaffe 89 ). Zu den demokratischen Einrichtungen Amerikas, die Svinin als vorbildlich hervorhebt, gehören das Erziehungswesen und die Justiz. Besonders beifällig sind seine Äußerungen zur Strafgesetzgebung, die bekanntlich schon die Bewunderung Radiäievs erregt hatte. Sein Vergleich enthielt einen vielleicht ungewollten Anflug von Kritik an den Verhältnissen in Rußland: „Die hiesigen Gefängnisse ähneln eher Fabriken. Hier leidet die Menschheit nicht, sondern hier wird sie bestraft; sie wird nicht erniedrigt, sondern es wird ihr die Freiheit, das höchste Gut, entzogen 9 0 )." Den unverhältnismäßig hohen Bildungsstand, den er in den Vereinigten Staaten antraf, schreibt Svinin der egalitären Erziehungspraxis zu: „Der Bankierssohn geht in eine Schule mit dem Sohn des ärmsten Tagelöhners. Jeder lernt die Geographie seines Landes, kennt die Grundbegriffe der Arithmetik und hat allgemeine Vorstellungen von den anderen Wissenschaften. ( . . . ) Alle Kinder gehen in öffentliche Schulen, was ihre Begriffe eher entwickelt 9 1 )." Dem geistigen Leben Amerikas konzediert Svinin, daß es alle Voraussetzungen für einen hoffnungsvollen Aufschwung in der Zukunft biete. In der Malerei wirkten bereits manche talentierten Meister 92 ). Bemerkenswert ausgeprägt nennt er das allgemeine Interesse am Schrifttum. Als positives Anzeichen wertet er auch das Florieren der Tagespresse, deren künftige Bedeutung er ahnungsvoll voraussieht. E s erscheint ihm durchaus einleuchtend, daß „jeder Bürger, der eine Stimme in der Regierung hat, mit dem Lauf der Staatsangelegenheiten bekanntgemacht werden möchte 9 3 )". Aus verschiedenen Gründen fühlt sich Svinin von den Eigenarten des religiösen Lebens in den Vereinigten Staaten angezogen. Zwei Züge löst er als Charakteristika heraus: die Verschiedenheit der Bekenntnisse und eine trotzdem allerseits praktizierte Toleranz: „Ungeachtet der Verschiedenheit der Dogmen, ihrer entgegengesetzten Meinungen und Ansichten, gereicht das unter ihnen herrschende Einvernehmen der amerikanischen Regierung zur hohen Ehre 9 4 )." «») „ V z g l j a d " , S. 3 1 . ««) „ V z g l j a d " , S. 40. » ) „ V z g l j a d " , S. 4 1 . •i) „ V z g l j a d " , S. 36. 82 ) Zu den Entwicklungen auf dem Gebiet der Schönen Künste verfaßte Svinin 1829 den erwähnten Artikel (vgl. A n m . 44), der als eine A r t „ W h o ' s W h o zeitgenössischer Künstler" („Memoir", S. 33) von einigem dokumentarischen Wert ist. Einleitend wird darin gewürdigt, daß „die Amerikaner von Natur aus eine große Gabe für die K u n s t " besäßen und daß das Land trotz seiner Jugend schon eine erstaunliche Vielzahl an künstlerischen Schöpfungen hervorgebracht habe. E s folgt ein Überblick über die Leistungen amerikanischer Künstler in den verschiedenen Zweigen der Malerei, Graphik, Architektur und Skulptur. Als Ehrenmitglied der New Yorker Akademie der Schönen Künste war Svinin mit dieser Materie hervorragend vertraut; s. den Komm, in „Memoir", S. 33—43. »») „ V z g l j a d " , S. 38. 94 ) „ V z g l j a d " , S. 17. Mit dem gleichen Ausdruck der Bewunderung für das „beispielhafte Einvernehmen" unter den amerikanischen Glaubensbekenntnissen schließt Svinin das Kapitel der „ M . Reise" über die Religion ( „ O p y t " , S. 7 9 - 8 0 ; K a p . „Veroispovedanie v Soed.-ych Am.-ich Obl.-jach").
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In einem weitschweifigen Kapitel, dem zweiten der „Malerischen Reise", führt der Autor diese Bemerkungen weiter aus. Es ist kaum verwunderlich, wenn er in den Riten der vorgestellten religiösen Gemeinschaften — er handelt über die Methodisten, Quäker, Shaker und Anabaptisten — vor allem eine Ansammlung absonderlichster Exzentrizitäten sah. Svinin wollte sich und seinen Lesern mit der Schilderung absurder Glaubensbräuche „ein Vergnügen machen", wie er einmal eingesteht96). Er scheint sich eine Wirkung auf die russischen Leser gerade davon versprochen zu haben, daß er besonders makabre Elemente aus der Religionsausübung amerikanischer Sektierer für seinen Bericht destillierte. Mit sichtlichem Genuß frönte er der Neigung, ausgefallene irrationale Erscheinungen und Stimmungen zu reproduzieren. Die Wiedergabe gespenstischer Nachtszenen während einer Methodistenkongregation bildet einen Höhepunkt der Schilderung. Bei all dem bleibt es Svinins erklärtes Bestreben, die Religion fremder Bekenntnisse niemals verächtlich herabzusetzen. Tatsächlich enthält seine Darstellung auch Passagen von bemerkenswertem Interesse. Als einer der ersten Chronisten überhaupt hat er einen methodistischen Feldgottesdienst festgehalten 94 ). Angesichts des merkwürdigen Verhaltens der Shaker erbittet er jedoch Dispens von seinem Vorsatz neutraler Berichterstattung und findet sich zu dem Geständnis bereit, er habe „die Absonderlichkeiten dieser Gläubigen nie ohne Lachen ansehen" können97). Verständnislos steht er auch der religiösen Raserei der Methodisten gegenüber98). 5. S v i n i n s K r i t i k a n d e n V e r e i n i g t e n
Staaten
Verglichen mit den zahllosen beifälligen Kommentaren fallen die kritischen Äußerungen der „Malerischen Reise" kaum ins Gewicht. Sein politisches Werben um die Vereinigten Staaten verbot es Svinin, die Polemik zu überspitzen. Wenn er überhaupt Kritik vorbrachte, so mit bagatellisierenden Einschränkungen, indem er sie durch positive Bemerkungen zum gleichen Sinnzusammenhang ausbalancierte. Man muß daher mache der Einwände des Autors zwischen den Zeilen zu lesen verstehen. Die Technik Svinins wird durch ein Beispiel aus seinen Ausführungen zum geistigen Leben in Amerika veranschaulicht. Als Einleitung zu diesem Abschnitt wird zunächst vermerkt, daß man „in Amerika nicht nach tiefsinnigen Philosophen und berühmten Professoren suchen" sollte99). Wenig später heißt es, daß „die freien Künste etwas zurückgeblieben" seien100). Durch die jeweils folgenden Hinweise auf positive Entwicklungen, beispielsweise in der Malerei, schwächt der Autor selbst beide Feststellungen wieder ab. Das Schwanken zwischen Beifall und versteckter Kritik ist gleichfalls charakteristisch für Svinins Aussagen über die regen Handelsbeziehungen der Amerikaner. Beim Bericht über das E x peditionsunternehmen Astors bedauert er lebhaft, „daß sein Ziel einzig der Handel" sei 101 ). Mißstände schien Svinin vor allem von der anwachsenden Prosperität im Lande zu befürchten. Wenig vorteilhaft klingen daher seine Auslassungen über die wohlhabenden Bürger Philadelphias: „Die Reichen, deren es viele in dieser Stadt gibt, legen es darauf an, sich gegenseitig zu übertreffen in der Eleganz ihrer Equipagen, der Verzierung ihrer Häuser, üppigen Diners und Festen 1 0 2 )." « ) „ O p y t " , S. 76. "•) „ O p y t " , S. 5 4 f f . ; dazu „Memoir", S. 2 1 .
) „Briefe auf einer Reise nach Petersburg", op. cit., S. 1 5 3 :
„Auch der 'Versuch einer pittoresken Reise in Nord-Amerika' von Sswinjie (sie!), dem Reisegefährten Moreaus auf der Rückreise nach Europa zeichnet sich aus." m ) Eine Rede S. S. Uvarovs vor dem „Arzamas" verzeichnet einmal die „Aufzeichnungen des Amerikaners Svinin" („Arzamas . . . " , S. 122). 122 ) Am 20. ir. 1818 an Vjazemskij; in „Ost. arch." I, S. 151. 123
) »Vzgljad na staruju i novuju slovesnost' v Rossii" in „Pol. Zvezda" (i960), S. 27—28: „Svinin, der Verfasser der Malerischen Reise durch Amerika und vieler Zeitschriftenaufsätze, schreibt über alles Russische, was der Aufmerksamkeit der Patrioten wert ist. Sein Stil ist nachlässig, doch ausdrucksvoll."
1M ) „Literaturnaja gaz." II, Nr. 45, S. 77. Es handelt sich um eine Fußnote zu dem Amerikaartikel P. I. Poletikas, die offenbar vom Herausgeber, Baron A. A. Del'vig, stammt. — Wie hartnäckig sich Svinins schlechter Ruf hielt, ist aus einem 1855 publizierten Aufsatz Cernysevskijs zu ersehen, wo es unter Bezugnahme auf den „wunderlichen Stil" in Svinins „ J a k u p Skupalov" heißt, daß „seit der Zeit Svinins keiner ( . . . ) die Sprache so schlecht beherrscht hat wie Herr Sevyrev"; „Oferki gogolevskogo perioda russkoj literatury"; Werke (1939s.), III, S. 105. Der „ J a k u p Skupalov" diente Cernyäevskij noch an anderer Stelle als Beispiel für die minderwertigen Literaturschöpfungen russischer Autoren (ibid., S. 14; in Bezug auf die Romane Nareinins).
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C ) Fortsetzungen der Tradition Svinins
i . D a s W i r k e n A. G. E v s t a f ' e v s u n d P. I. P o l e t i k a s Es scheint, daß das Klima an den neugegründeten russischen diplomatischen Vertretungen in den Vereinigten Staaten der Entfaltung schriftstellerischer Neigungen äußerst förderlich gewesen ist. Zu gleicher Zeit wie Svinin zeichnete sich damals dessen Amtskollege A. G. Evstaf'ev (1779-1857), russischer Konsul in Boston und später in New York, durch eine rege publizistische Tätigkeit aus 125 ). Evstaf'ev, ein gebürtiger Kosak, erlag allerdings den Gefahren der Assimilierung in einem Maße, das Svinin alarmiert haben müßte. In den Spalten der Bostoner Zeitungen wurden seine literarischen Rezensionen bald zu einer regelmäßigen Einrichtung. Das Englische erlernte Evstaf'ev wie eine zweite Muttersprache. Bereits während seiner ersten diplomatischen Mission in London hatte er durch eine Reihe anonymer englischer Schriften, in denen mit Uberzeugung die Interessen russischer Politik vertreten worden waren, die Aufmerksamkeit vorgesetzter Stellen auf sich gezogen. Er brachte es im Englischen schließlich zu derartiger Meisterschaft, daß er sogar seine offiziellen Meldungen nach Petersburg in dieser Sprache abgefaßt haben soll. Auch die von ihm in Amerika konzipierten Schriften liegen sämtlich in englischer Ausgabe vor. Wie Svinins englischsprachige „Sketches" setzten es sich Evstaf'evs Werke zum Ziel, die amerikanische Öffentlichkeit über bestimmte Zusammenhänge der russischen Kulturgeschichte zu unterrichten. Ihr Titelverzeichnis umfaßt eine Studie zu Peter dem Großen ebenso wie eine Untersuchung über „die Hilfsmittel Rußlands im Falle eines Krieges mit Frankreich 126 )." Mit Vorliebe scheint sich Evstaf'ev allerdings der Darstellung der Kosaken angenommen zu haben, ein Gegenstand, dem sich auch Svinins „Sketches" bereits zugewandt hatten 127 ). Die Einflüsse, die von Evstaf'evs Werken auf die damalige amerikanische Literatur ausgingen, sind als so erheblich angesehen worden, daß man den Autor als „russisch-amerikanischen Schriftsteller" klassifizieren konnte 128 ). Im Unterschied zu Svinin ist Evstaf'evs Wirken jedoch einseitig auf die Propagierung russischer Interessen in den Vereinigten Staaten beschränkt; seine Bedeutung für die kulturelle Annäherung zwischen den beiden Mächten ist dementsprechend hoch veranschlagt worden 129 ).
1 2 5 ) Ü b e r E v s t a f ' e v liegt bis heute nur lückenhaftes Material v o r ; siehe vor allem M. P . A l e k s e e v , „ A . G. E v s t a f ' e v — russko-amerikanskij pisatel' n a f a l a X I X v e k a " in „ N a u £ n y j bjulletin' Len.-ogo Gos.-ogo U n . - t a " , 1946, Nr. 8, S. 22—7. N u r spärliche A n g a b e n zu E v . finden sich bei B o l c h o v i t i n o v , op. cit., S. 564, 570, 572, 582f., und bei Tarsaidze, op. cit., S. 56. 1 2 e ) Der folgende T i t e l k a t a l o g f u ß t auf A n g a b e n aus dem Register der Moskauer Leninbibliothek:
1. „ R e f l e c t i o n s , Notes and Original A n e c d o t e s , Illustrating the Character of P e t e r the Great. T o W h i c h is A d d e d a T r a g e d y in 5 A c t s E n t i t l e d 'Alexis, the Czarewitz' ( . . . ) " , Boston (Monroe & Francis) 1812 (215 S.). 2. „ T h e Resources of Russia, in the E v e n t of a W a r W i t h F r a n c e ; W i t h a Short Description of the Cozacks ( . . . ) " , Boston 1813 (2. A u f l . ; 196 S.). 3. „ R e p l y to the E d i n b u r g h Reviewers. B y the A u t h o r of ' T h e Resources of Russia ' " , Boston 1813 (36 S.). 4. „ M e m o r a b l e Predictions of the L a t e E v e n t s in E u r o p e , E x t r a c t s f r o m the Writings p h i é v e " , Boston 1814 (108 S.). ; . „ D e m e t r i u s , the Hero of the Don. A n E p i c k P o e m " , B o s t o n 1818 (256 S.). 1 2 7 ) A m 24. i. 1813 veröffentlichte E . in der „ B o s t o n G a z e t t e " einen A r t i k e l über v o n D o n k o s a k e n auf dem europäischen Kriegsschauplatz (Bolchovitinov, op. cit., „ M e m o i r on the Cossacks" mit einem Gemälde „ A Cossack of the D o n in his Military Bestandteil v o n Svinins „ S k e t c h e s " ( „ M e m o i r " , S. 6). M. P . Alekseev weist solche Einflüsse im einzelnen n a c h ; op. cit., S. 25f. 128 ) W ü r d i g u n g e n bei A l e k s e e v , S. 27; B o l c h o v i t i n o v , S. 572.
of Alexis E u s t a -
die Heldentaten S. 578). — Ein D r e s s " war auch
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Wie Svinin machte sich damals auch ein anderer Diplomat, P. I. Poletika (1778—1849), um die Weiterentwicklung einer russischen Literatur über Amerika verdient 130 ). Poletika hat der Gesandtschaft in Philadelphia zweimal innerhalb eines Jahrzehnts angehört: in den Jahren 18091 1 als Sekretär, danach 1 8 1 7 - 2 2 als Botschafter. In Anerkennung seiner Verdienste um die Erweiterung kultureller Kontakte wurde ihm 1822 eine bedeutsame Ehrung angetragen: man wählte ihn zum Mitglied der „American Philosophical Society 1 3 1 )." Seine Eindrücke über die „innere Verfassung" der Vereinigten Staaten formulierte Poletika zuerst 1 8 1 1 in einem Memorandum für zaristische Regierungsstellen; sie wurden 1821 in einer anonymen französischen Schrift veröffentlicht, die wenig später auf Englisch, doch erst 1830 auszugsweise in russischer Fassung erschien 132 ). Es ist nicht undenkbar, daß der unmittelbare Anstoß zu dieser Schrift von dem Amerikabericht Svinins ausgegangen ist. Indessen ist Poletika peinlich bemüht, die Fehler seines Vorgängers zu vermeiden. Sein Werk kann als eine sachliche Erwiderung auf die mit subjektiven Urteilen und Empfindungen überladene Darstellung Svinins verstanden werden 133 ). Der Übergang von der sentimentalen Erlebnisschilderung zum objektiv-informierenden Reisebericht beginnt sich hier zu vollziehen. In der generellen Einstellung gegenüber den Vereinigten Staaten gibt es zwischen Svinin und Poletika nur unwesentliche Unterschiede: beide hegen als begeisterte Anglophilen 134 ) tiefe Ehrfurcht für die in Nordamerika vollbrachten Leistungen; beide vertreten überzeugt die offizielle politische Linie ihres Landes, die eine russisch-amerikanische Entente anstrebte 136 ). Bei Poletika erreichte die Achtung vor den demokratischen Einrichtungen des Gastlandes einen Grad, der die anonyme Veröffentlichung seiner Schrift unbedingt ratsam erscheinen ließ. Aus dem Vergleich mit Svinins „Uberblick" über die Vereinigten Staaten geht der Bericht Poletikas durchaus vorteilhaft hervor. In vieler Hinsicht ist er homogener, überlegter konzipiert; sein Stil ist schmuckloser, seine Wertungen aber sind fundierter und ausgewogener. Es wird jederzeit spürbar, daß Poletika über eine reichhaltigere Kenntnis des behandelten Gegenstandes verfügt 136 ). Es gelingt ihm, eine durchgehende kritische Distanz einzuhalten, die ihn davor bewahrt, in die gefühlsseligen Schwelgereien Svinins oder dessen Hang zu geschwätzigen Anekdoten abzugleiten. l30 ) Zu Pol. s. neuerdings die Ausführungen Bolchovitinovs, op. cit., S. 5 8 7 - 5 9 0 ; zu seiner Biographie s. den Artikel von B. Modzalevskij in R B S , X I V , S. 327—9. 1S1 ) Bereits zuvor, im J a h r e 1 8 1 2 , hatte Poletika der „ A m . Phil. Society" ein wertvolles Exemplar der „Russkaja P r a v d a " zum Geschenk gemacht ; vgl. E . Dv.-Markov, „ T h e A m . Phil. Soc " op.cit., S.çôgf. 132 ) „Aperçu de la situation intérieure des Etats-Unis d'Amérique et de leurs rapports politiques avec l'Europe, par un Russe", London, 1 8 2 1 ; „ A Sketch of the Internai Condition of the United States of America . . . " , Baltimore 1 8 2 6 ; Auszüge aus dem „ A p e r ç u " erschienen 1 8 2 5 im „ J o u r n a l de Saint Pétersbourg" (Nr. 8 1 , 88—90); ins Russische übersetzt erschien der Titel: „Sostojanie obsiestva v Soedinennych AmerikanskichOblastjach", in „Literaturnaja gazeta" I I (1830), Nr. 45, S. 6 5 - 8 ; Nr. 46, S. 73—7; vgl. die Erscheinungsdaten bei E . M. Blinova, „'Literaturnaja Gazeta' . . . Ukazatel' soderzanija" (1966), Nr. 3 3 7 u. 3 4 8 ; S. I 7 4 f . (zur Person Poletikas). Außer diesem Fragment, auf das sich meine Darstellung ausschließlich gründet, ist eine vollständige russische Ausgabe nicht erschienen. 133 ) Diesen Gedanken legt auch die Fußnote des Herausgebers der „ L i t . g a z . " nahe, in der behauptet wird, das Werk Poletikas könne im Vergleich zu Svinin „trotz seiner Kürze dem Leser überaus befriedigende Angaben vermitteln"; op. cit., S. 77. 134
) F. F . Vigel' charakterisierte diesen Zug Poletikas; in R B S , X I V , S. 3 2 7 : „ Z u meinem Leidwesen war er von einer starken Anglomanie besessen, und dieser Mangel machte ihn in gewissem Maße einem Methodisten oder Quäker ähnlich, verlieh ihm jedoch viel von einer komisch-ehrfurchtgebietenden Originalität."
135 ) Als Botschafter fiel Poletika später der delikate Auftrag zu, die Vereinigten Staaten für die Heilige Allianz zu gewinnen, doch blieben seine Bemühungen erfolglos (Tarsaidze, op. cit., S. 78 fï.). 13S ) Bolchovitinov (op. cit., S. 589) bezeichnet es als Verdienst Poletikas, daß er erstmals, noch vor Hegel oder Tocqueville, die „bewegliche" Grenze der amerikanischen Zivilisation, d.h. ihr Gefälle von Osten und Westen, hervorgehoben habe. — Die Sachkenntnis Poletikas wurde im übrigen auch von seinem amerikanischen Verleger bescheinigt ( „ A Sketch . . . " , Publisher's Préfacé).
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Wie der „Überblick über die Vereinigten amerikanischen Gebiete" handelt die Schrift Poletikas einleitend über die Geschichte der jungen Republik, um daran eine Erörterung der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse anzuschließen. Besonders in diesem letzteren Teil ist die Untersuchung Poletikas bei weitem durchdringender als die Svinins. Seine Ausführungen zu den Religionsgemeinschaften sind von gemessener Sachlichkeit. Ohne Beschönigung äußert sich der Autor über bestimmte Symptome einer verfallenden sittlichen Disziplin, wie er sie zum Beispiel in den Ausschweifungen der Jugend östlicher Großstädte wahrnimmt 137 ). Als eigentliches Erbübel der amerikanischen Gesellschaftsstruktur jedoch wird die Negersklaverei geb randmarkt 138 ). Viel akuter als Svinin empfindet Poletika die fehlende geistige Verfeinerung im Leben der Vereinigten Staaten, die in ihm die Sehnsucht nach Europa wachruft 139 ). Seine Bemerkungen zum Nationalcharakter der Amerikaner verraten Reserve. Er hält es für „unwiderlegbar", daß „die Amerikaner wenig Maß in ihren Lobsprüchen einhalten, mit denen sie sich bei jeder Gelegenheit überhäufen". „Doch andererseits", fügt er entschuldigend hinzu „,wo finden wir ein Volk, das nicht seine Eitelkeit hat 140 ) ?" Polemischer wird der Tonfall des Autors, wo er zur Sprache bringt, daß in den Vereinigten Staaten die leitenden Positionen durchweg von Advokaten besetzt seien: „ K a n n denn das auch anders sein in einem Land, wo sozusagen ein unaufhörliches Bedürfnis nach der Gabe der Eloquenz besteht 141 ) ?" Durch die Veröffentlichung von Poletikas Artikel in einem der führenden Journale Rußlands ist damals die Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit nachdrücklich auf Amerika gelenkt worden. Überdies spielte Poletika auch selbst in den Schriftstellerkreisen der 1820er Jahre eine bedeutende Rolle, die ihn mit vielen prominenten Literaten zusammenführte. Besonders eng waren seine Beziehungen zum Kreis um Karamzin; er war mit Vjazemskij, Batjuskov, Kozlov, Karamzin und den Brüdern Turgenev befreundet und wurde gleich nach der Gründung des „Arzamas" dessen Mitglied. 142 ) Auch mit Puschkin ist Poletika wiederholt zusammengetroffen 143 ). Poletikas Amerikabericht stand damit eine Möglichkeit offen, die der „Malerischen Reise" infolge der Diskreditierung ihres Autors verschlossen bleiben mußte: er fand gerade unter den literarischen Persönlichkeiten der russischen Romantik eine interessierte Aufnahme und hat deren Ansichten über die Vereinigten Staaten sicherlich vielfältig beeinflußt. Auch Puschkin dürfte durch ihn Anregungen empfangen haben, als er sich 1836 in seinem Aufsatz „ J o h n Tanner" über die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten ausließ 144 ).
137
) „Sostojanie", op. cit., S. 75. ) „Sostojanie", S. 73. 139 ) „Sostojanie", S. 7 7 : 13s
„ E s wird aber noch viel Zeit vergehen, bis dieses Land zu einem Ort der Wissenschaften, der freien Künste und der Geistesgenüsse wird, die den Reiz des gesellschaftlichen Lebens in Europa ausmachen." 14
°) „Sostojanie", S. 76. ) „Sostojanie", S. 68. 142 ) Sein „Arzamas"-Pseudonym war einem Zukovskij-Gedicht entnommen (er hieß „ O f a r o v a n n y j ieln"). Zum Urteil Zukovskijs vgl. dessen Brief an A . I. Turgenev vom 20. 1 1 . 1 8 2 7 , wo über Poletika geurteilt wird: „ . . . er ist kein Kenner der Literatur, doch er hat gesunden Menschenverstand ( . . . ) " ; „ P i s ' m a V . A . Zukovskogo . . . " , S. 229. 141
143 ) Über zwei dieser Begegnungen berichten Tagebuchaufzeichnungen Puschkins vom J a h r e 1 8 3 4 ; Werke, X I I , S. 329, 330. 144
) Das vermutet J . T . Shaw, „Puäkin on America . . . " , in „Orbis Scriptus" (1966), S. 7 4 1 .
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2. D i e A m e r i k a b e r i c h t e d e s „ D u c h
äcurnalov"
Bei der Unterrichtung über die Vereinigten Staaten fiel den russischen Journalisten weiterhin eine bedeutende Vermittlerrolle zu. Die Traditionen aktueller Amerikaberichterstattung, die zu Beginn des Jahrhunderts durch den „ V e s t n i k E v r o p y " geschaffen worden waren, stagnierten jedoch in der Folgezeit. E r s t im Jahre 1820 wurden die unterbrochenen F ä d e n durch eine Artikelreihe des „ D u c h z u r n a l o v " wiederaufgenommen, einer Zeitschrift konservativer Färbung, die es in den Jahren v o n 1815 bis 1820 unter der R e d a k t i o n von G . M. Jacenkov zu beachtlichen Auflageziffern gebracht hatte 1 4 5 ). Schon in einem A r t i k e l des Jahrgangs 1815 hatte Jacenkovs Journal S y m p a t h i e n für die Verfassungsordnung der Vereinigten Staaten bekundet 1 4 8 ). F ü n f Jahre später w a g t e der Herausgeber den A b d r u c k einer zusammenhängenden Serie v o n Berichten, deren Absicht offenbar auf einen enzyklopädischen A b r i ß amerikanischer Lebensverhältnisse hinauslief 1 4 7 ). D e m A b schluß der Fortsetzungsreihe k a m allerdings ein V e r b o t der Zeitschrift mit der N u m m e r 22 des laufenden Jahrgangs zuvor. E s ist durchaus wahrscheinlich, daß dieser Eingriff der Zensurbehörden durch die allzu freimütige Berichterstattung über die Vereinigten Staaten hervorgerufen wurde. I n der T a t machte Jacenkov nur schüchterne Versuche, um seine Mitgefühle für die Vereinigten Staaten zu kaschieren. Seine D o k u m e n t a t i o n w a r umfassend und mit peinlicher Akribie belegt; mit dem erstmaligen A b d r u c k der amerikanischen Verfassung in russischer Sprache beschritt J a c e n k o v einen für sie gesamte Publizistik seines L a n d e s revolutionierenden W e g , der nicht ohne Aufsehen bleiben konnte. Die Amerikaberichte des „ D u c h z u r n a l o v " sind, wie zuvor die A r t i k e l Karamzins, größtenteils aus westeuropäischen Nachrichtenquellen adaptiert 1 4 8 ). D e n W u s t an F a k t e n und statistischem Zahlenmaterial versah der Herausgeber mit sporadischen Fußnoten und einer knappen Vorbemerkung. A u s ihnen wird seine persönliche Einstellung zu der zur Diskussion
145 ) Jacenkov war vor allem durch Übersetzungen aus dem Frz. und Dt. hervorgetreten; s. die Angaben in R B S , X X V , S. 208. Zum „Duch zurnalov" vgl. den Titel in „Russkaja periodiEeskaja pefat'. 1702-1894 gg." (1959), S. i49-5r, sowie bei N. M. Lisovskij, „Russkaja periodiieskaja pei. 1703-1894 gg." Vyp. I (1895), Nr. 218. 146 ) „Pis'mo odnogo nemca iz Filadel'fii", Nr. 31—33 (1815); nach „Russkaja per. peiat'", S. 150. 147 ) „Kartina Ameriki, pisannaja s natury" in „Duch zurnalov", Tie. X X X V I I I bis X L I I I (1820) mit folgenden Einzeltiteln (u. a.): 1. „Tablica Amerikanskich Soedinennych Oblastej s pokazaniem prostranstva i Cisla zitelej"; Hft. 1, S. 5-8. 2. „Amerika v istinnom ee vide"; ibid., S. 9-24. 3. „Konstitucija Severo-Amerikanskich Soedinennych Oblastej"; Hft. 2, S. 33-40; Hft. 3, S. 41—60; Hft. 4, S. 61-68. 4. „ O vnutrennej promyslennosti Sev.-Amer.-ich Soed.-ych Ob.-ej"; Hft. 7, S. 69-84. 5. „Nravy, obyEai, obraz zizni i narodnyj Charakter Severnych Amerikancev"; Hft. 9, S. 85-106. 6. „ O bankach i torgovom balanse Am.-ich Soed.-ych Ob.-ej"; Hft. 12, S. 107-118. 7. „Gorod N o v y j Orlean"; ibid., S. 119-122. 8. „Zameianija odnogo putesestvennika o Severo-Am.-ich Soed.-ych Ob.-jach"; Hft. 14, S. 149-162. 9. „Gosudarstvennyj kalendar' Am.-ich Soed.-ych Statov na 1819 god"; Hft. 17/18, S. 187-199. 10. „Flot Am.-ich Soed.-ych Statov"; ibid., S. 200—214. ir. „Desevizna v Severnoj Amerike"; ibid., S. 215-218. 12. „Suchoputnaja sila Am.-ich Soed.-ych Statov"; Hft. 19, S. 219-242. 13. „Nynesnee ustrojstvo Am.-ich Soed.-ych Statov"; Hft. 20, S. 249-58. 14. „ 0 poitach v Soed.-ych Statach Ameriki"; ibid., S. 259-274. 148 ) Es handelt sich zumeist um deutsche (angegeben wird das „Morgenblatt") zum Teil auch um amerikanische und französische Quellen. Die englische Berichterstattung dagegen wird vom Herausgeber als tendenziös zurückgewiesen („Kartina Ameriki", op. cit., S. 9).
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gestellten Thematik greifbar. In bewährter Manier stimmte Jacenkov zunächst ein Loblied auf das freiheitliche Nordamerika an, in dem auch Mißmut über die trüben russischen Mißstände mitschwang: „Will man ein Land nennen, wo das Volk über alle Vorteile einer weisen, freiheitsliebenden, auf unveräußerlichen Gesetzen gegründeten Regierung verfügt, so nennt man Nordamerika. Während in Europa der Kampf zwischen Eigenmacht und Selbstherrschaft die Völker in die Unwissenheit barbarischer Zeiten zu stürzen droht, blüht Nordamerika immer mehr unter der Ägide der Gesetzesherrschaft auf. In dieser Hinsicht verdient es die Aufmerksamkeit aller, die die sittliche und politische Erhöhung der Menschheit lieben 149 )." An anderer Stelle, anläßlich der Wiedergabe der amerikanischen Verfassung, sieht sich Jacenkov zu einer nachdrücklichen Distanzierung gezwungen. Hier geht es ihm offenbar darum, das Mißtrauen der Zensoren einzuschläfern: „Wir halten es für nötig zu bemerken, daß hier die Verfassung der Vereinigten amerikanischen Gebiete so beschrieben wird, wie sie ist, ohne jedes Urteil über sie und ohne Anwendung auf andere Staaten. Es versteht sich von selbst, daß sich die Verfassung einer Republik von der einer Monarchie unterscheidet, und daß die Regierungsform, die für das eine Volk vortrefflich ist, für ein anderes ganz und gar untauglich sein kann. Das mag genügen, um falschen Auslegungen zuvorzukommen 160 )." Es war wohl kaum zu umgehen, daß sich der Leser des „Duch zurnalov" durch die wohlwollende Beschreibung der amerikanischen Lebensbedingungen zu einer Gegenüberstellung mit den entsprechenden russischen Verhältnissen herausgefordert fühlte. Wo zum Beispiel von der „Billigkeit in Nordamerika" die Rede war, mußte sich die Kritik an der in Rußland weitverbreiteten Teuerung geradezu aufdrängen. Indessen ließen es Jacenkovs Publikationen keineswegs bei einer einseitig euphemistischen Darstellung Nordamerikas bewenden. Schon der Gedanke an den Argwohn der Zensurbehörden mußte den Herausgeber zur Vorsicht mahnen. Darüberhinaus sträubte sich aber auch sein kritisches Empfinden gegen eine Kolportage geläufiger Klischees, die die Neue Welt als „Paradies auf Erden" ausmalten, als „Gelobtes Land, wo Milch und Honig fließen"161). Mit der Stellungnahme gegen die „übermäßigen Lobgesänge", wie sie nach Ansicht Jacenkovs im bisher zugänglichen Schrifttum vorherrschten 152 ), mag auf schwärmerische Berichte in der Art der Svininschen „Malerischen Reise" angespielt worden sein. Demgegenüber ließ die Serie des „Duch zurnalov" auch Skeptiker zu Wort kommen. In manchen Aufsätzen wurde unmißverständlich Kritik an bestimmten Entwicklungen in den Vereinigten Staaten ausgedrückt. In überwiegend mißbilligendem Tonfall ist beispielsweise eine Untersuchung über Sitten und Gebräuche der Nordamerikaner gehalten. Sie gipfelt in der fatalen Feststellung, daß es kein Land der Welt gäbe, „wo man mit solcher Gier dem Reichtum nachjagt wie hier 1 6 3 )". Daneben sind allerdings auch positive Züge des amerikanischen Wesens — Fehlen des Standesdünkels, Einfachheit und Ungezwungenheit der Umgangsformen — vermerkt.
14s
) ) läl ) 152 )
Me
„Kartina „Kartina „Kartina „Kartina
Ameriki", Ameriki", Ameriki", Ameriki",
S. S. S. S.
3 („Preduvedomlenie"). 33 (Fußn.). 9. 149 (Fußn.):
„ B i s heute fließt alles, was über Nordamerika geschrieben wird, von solchen Lobsprüchen über, daß der vorsichtige Leser nicht umhin kann, an ihrer Richtigkeit zu zweifeln." 15S
) „ K a r t i n a Ameriki", S. 86.
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Kurz nach der „Malerischen Reise" Svinins und noch vor dem Erscheinen des Berichtes Poletikas bezeichnet die Fortsetzungsreihe des „Duch zurnalov" einen weiteren wichtigen Markstein in der Entwicklung eines russischen Schrifttums über Nordamerika. Jacenkov sah die Legitimation seiner Veröffentlichungen in dem akuten Mangel an geeignetem Material, das zu diesem Gebiet in Rußland bis dahin verfügbar w a r ; dem russischen Leserpublikum wurde mit dem „Amerikabild" des „Duch ¿urnalov" tatsächlich eine neue zuverlässige Informationsquelle über die Vereinigten Staaten erschlossen. Zu einer Zeit, da sich die ersten Geheimbünde der Dekabristen formierten, dürfte sie besonders auf Kreise der Opposition ihre Wirkung nicht verfehlt haben.
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IV. DAS AMERIKABILD IM SCHRIFTTUM DER RUSSISCHEN ROMANTIK A ) Die D e k a b r i s t e n I. V e r f a s s u n g s p r o j e k t e d e r D e k a b r i s t e n u n d i h r e
Quellen
D a s russische A m e r i k a b i l d wurde auch in der zweiten und dritten D e k a d e des 19. Jahrhunderts weitgehend v o n Erinnerungen an die Zeit der Unabhängigkeitsbewegung beherrscht, obw o h l sich eine neue Epoche ankündigte, die ihre Ideale immer seltener mit den nordamerikanischen Verhältnissen in Verbindung setzte. D i e apologetische Literatur über den Befreiungskampf in den Vereinigten Staaten, die z u m T e i l mit Billigung oder versteckter Unterstützung durch hohe amerikanische Regierungsrepräsentanten v e r f a ß t worden war, wurde erst allmählich nach Europa hineingetragen. Z u einem bedeutenden F a k t o r für das geistige Leben R u ß lands wurde sie in der Zeit nach den napoleonischen Kriegen. Ihre Auswirkungen berühren nicht nur die unter Alexander I. in Angriff genommenen konstitutionellen Reformbestrebungen. A u c h unter den Gegnern der Selbstherrschaft, die mit der reaktionären Politik des Zaren in dessen späterer Regierungszeit an Z a h l zunahmen, stieß die freiheitliche Ordnung der Vereinigten Staaten auf offene Zustimmung. V o n den S y m p a t h i e n der aus den Freiheitskriegen heimkehrenden russischen Jugend zeugen Erinnerungen des Dekabristen S. G . Volkonskij. I m Jahre 1814 fuhr V o l k o n s k i j mit dem festen V o r satz aus Petersburg fort, „besonders die Vereinigten Staaten zu besuchen, die damals die Geister ( . . . ) wegen ihrer selbständigen Lebensweise und ihrer demokratischen politischen Ordnung beschäftigten 1 )." V o n den Dekabristen, der herausragenden oppositionellen Gruppe, wurden solche Ideale enthusiastisch aufgegriffen und mit eigenen Vorstellungen über die künftigen U m w a n d l u n g e n in R u ß l a n d verwoben. Eine nahezu kritiklose Begeisterung für die demokratischen Einrichtungen der Vereinigten Staaten, wie sie ähnlich schon in der E p o c h e Radiäcevs vorherrschend gewesen w a r , kennzeichnet die Geisteshaltung der meisten Verschwörer 2 ). I n Washington und Franklin feierte m a n die Helden einer beispielhaften Revolution, v o n der man ungeduldig hoffte, daß sich ihr Schwung auch auf R u ß l a n d übertragen würde 3 ). *) „Zapiski S. G. Volkonskogo" (1902), S. 327. Wegen der Rückkehr Napoleons aus Elba konnte Volkonskij seine Pläne nicht verwirklichen. — Bereits im Jahre 1806 hatte der spätere Dekabrist N. I. Turgenev den Wunsch geäußert, die Vereinigten Staaten im Verlauf einer mehrjährigen Reise kennenzulernen; „Dnevniki i pis'ma", I, S. 27. 2 ) Über den Einfluß der Vereinigten Staaten auf das politische Denken der Dekabristen bestehen differierende Ansichten. Während sich die neuere sowjetische Forschung gegen das Unterschieben amerikafreundlicher Anschauungen verwahrt (u.a. S. A. Pokrovskij, op. cit., S. 82ff.), nahmen früher Starcev („Amerika . . . " , S. 9 t.) und Kameneckij (op. cit., S. 73) einen solchen Einfluß definitiv an. Der Amerikaner M. Laserson wies die politische Orientierung der Dekabristen am amerikanischen Vorbild detailliert nach (op. cit., S. 1150.; „Decembrism: Its American Leanings"). Ältere russische Darstellungen ignorieren diese Einflußspuren zumeist; siehe M. V. Dovnar-Zapol'skij, „Idealy dekabristov" (1907), der das amerikanische Modell nur gelegentlich der Verfassung Murav'evs anführt s ) Zu Washington/Franklin s. Kap. II/6 dieser Arbeit. — Zeugnisse über die Diskussion der amerikanischen Unabhängigkeit geben u. a. N. I. Turgenev („Dnevniki i pis'ma", III, S. 311; das amerikanische Beispiel als Muster einer „geglückten" Revolution) und P. G. Kachovskij in seinem Brief aus dem Kerker an den General Levaäev ("Iz pisem i pokasanij dekabristov", S. 12).
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D a s Beispiel der Vereinigten S t a a t e n wurde den Dekabristen außerdem nahegebracht durch aktuelle Ereignisse, die sich d a m a l s auf dem südamerikanischen K o n t i n e n t abspielten. Seit 1 8 1 0 begannen sich die Kolonien Südamerikas gegen das spanische und portugiesische R e g i m e aufzulehnen. Diese E n t w i c k l u n g e n wurden in der russischen Presse v e r f o l g t u n d u m f a s s e n d kommentiert 4 ). D i e U m w ä l z u n g e n in Iberoamerika wurden ebenfalls a u f m e r k s a m registriert v o n russischen Seefahrern, die dort seit B e g i n n des 1 9 . J a h r h u n d e r t s wiederholt B e s u c h e abgestattet h a t t e n . B e r i c h t e über solche Reiseeindrücke wurden seit 1809 fortlaufend v e r ö f f e n t licht u n d trugen dazu bei, die russische Öffentlichkeit mit den Verhältnissen in A m e r i k a besser bekanntzumachen 6 ). U n t e r den Teilnehmern der Seeexpeditionen tauchen auch die N a m e n einiger späterer Dekabristen auf 8 ). I n der russischen Öffentlichkeit wurden die südamerikanischen F r e i h e i t s k ä m p f e weitgehend als eine Wiederholung des nordamerikanischen Vorganges interpretiert. Ziemlich unverhohlen nahm m a n damals f ü r die Sache der Insurgenten Stellung. Diese A n t e i l n a h m e k a m indirekt zum A u s d r u c k , indem m a n , w i e Puschkins Onegin, einen „ H u t ä la B o l i v a r " trug 7 ). D e r L i t e rat N . A . P o l e v o j bekannte sich o f f e n als Bewunderer des südamerikanischen R e v o l u t i o n ä r s . Z u s a m m e n mit seinem B r u d e r und mit S. D . Poltorackij g a b er d a m a l s eine handschriftliche
4
) Diese Berichte werden im einzelnen angeführt und ausgewertet bei L. J u . Slezkin, „Rossija i vojna za nezavisimost' v Ispanskoj Amerike"; S. 44ff. (für die Jahre 1810-2), S. 9off. (1814—5), S. 189fr. (1817—9), S. 244ff. (1820-3), S. 328fr. (1822—5). l m „Moskovskij telegraf" des Jahrgangs 1825 finden sich dazu zum Beispiel die folgenden Titel: „Opisanie Kolumbii" (Tl. I); „Obozrenie Kolumbii" (Tl. I I ) ; „ N r a v y i obyiai gaitjan" (ibid.); „Putesestvie Bjulloka v Meksiku v 1823 god" (Tie. IV, V); „Vospominanija o Chili" (Tl. VI). Interesse wurde weiterhin der Lage der Neger in den amerikanischen Kolonien, namentlich auf K u b a und Haiti, entgegengebracht; vgl. dazu die Titel: „ N a ostrove Kube buntujut negry" und „Pis'mo s ostrova Sen Domingo"; beide im SO, Nr. X X bzw. X X I I (1820), S. 48 u. S. 122ff. Zum Negerhandel vgl. außerdem die Abhandlung „Severo-amerikanskaja kolonija v A f r i k e " ; MT V (1825), S. 3 0 9 - 3 1 6 ; desgleichen „Opyt Severnych amerikancev pereselit' fernych sootCicej svoich cbratno v A f r i k u " ; SO C I I I (1825), S. 478-487. 5 ) Der erste in der Reihe russischer Weltumsegier war I. F. Kruzenstern, der im Verlauf seiner 1803-6 unternommenen Reise auch in Südamerika landete; siehe seinen Bericht „Putesestvie vokrug sveta v 1803, 1804, 1805 i 1806 godach po veleniju ego Imperatorskogo Veliiestva Aleksandra Pervogo na korabljach 'Nadezde' i 'Neve' pod nafal'stvom flota kapitana i-go ranga Kruzensterna"; I—III, SPb. 1809—12; neuverlegt M. 1950. Ein weiterer Bericht des zweiten Kommandeurs der Kruzenstern-Expedition, der ebenfalls Eindrücke aus Südamerika festhielt, erschien 1 8 1 2 ( J u . F. Lisjankij, „Putesestvie vokrug sveta", Tie. 1, 2 ; SPb.; Neuausgabe M. 1947). In den Jahren 1815—6 wurden Kalifornien und Südamerika angelaufen von dem Schiff „ S u v o r o v " , das im Auftrag der Russisch-Amerikanischen Kompagnie" verkehrte; Aufzeichnungen über diese Reise liegen von dem Offizier Unkovskij vor (veröffentlicht in dem Band „M. Lazarev. Dokumenty", ed. A. Samarov, M. 1952). Kurz darauf, zur Jahreswende 1 8 1 5 - 6 , stattete das Schiff „ R j u r i k " unter dem Kommando von O. Kotzebue Südamerika einen Besuch ab; siehe „Puteäestvija vokrug sveta", M. 1948 (O. Kocebu). In den Jahren 1817—8 wurde Spanisch-Amerika auf der Weltumsegelung des Schiffes „ K a m f a t k a " berührt, das unter dem Befehl von Admiral V. M. Golovnin stand. Aufzeichnungen darüber erschienen im „ S y n OteCestva", Nr. 1 7 - 5 2 des Jahrganges 1 8 1 8 ; Nr. 2off. des Jahrganges 1820; siehe auch V. Golovnin, „SoCinenija", M.-L. 1949. In Brasilien legten der in russischen Diensten stehende Admiral F. G. Bellingshausen und A. Lazarev im Jahre 1819 an; siehe F. Bellinsgauzen, „Dvukratnye iskanija v Juznom i Ledovitom okeane i plavanie vokrug sveta", SPb. 1 8 3 1 ; A. Lazarev, „Zapiski o plavanii voennogo sljupa 'Blagonamerennogo'", M. 1850. Neue Weltumsegelungen, die auch nach Südamerika führten, unternahmen 1823—6 O. Kotzebue (auf der „Predprijatie") und A. Lazarev (auf der „ L a d o g a " ) ; siehe ihre Berichte „Novoe putesestvie vokrug sveta v 1823—1826 gg.", M. 1959 (O. Kocebu), und „Plavanie vokrug sveta na sljupe 'Ladoge' v 1822, 1823 i 1824 godach", SPb. 1832 (A. Lazarev). 6 ) D. I. Zavalisin und F. V. Visnevskij besuchten Amerika in den Jahren 1822-4 a u f der Fregatte „ K r e j s e r " ; K . P. Torson nahm an der Weltreise Bellingshausens teil. Um die gleiche Zeit waren M. K . Küchelbecker und F. S. Lutkovskij auf der „Apollon" in Südamerika, V. P. Romanov auf der „ K u t u z o v " in Russisch-Amerika und Kalifornien; siehe Slezkin, op. cit., S. 348. ' ) „Evgen' Onegin" (1823ff.), Kap. 1, X V ; Werke, VI, S. 1 1 .
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Zeitung heraus, die den Epigraphen „ B o l i v a r — ein großer M a n n " verbreitete 8 ). Bolivar wurde in Polevojs „ M o s k o v s k i j telegraf" als „südamerikanischer W a s h i n g t o n " gefeiert, „einer der bemerkenswertesten Männer der neuesten amerikanischen Geschichte 9 )." D u r c h solche W e n dungen wurde die Verbindung zur nordamerikanischen R e v o l u t i o n explizit hergestellt. Sie wurde gleichfalls heraufbeschworen in einem 1825 erschienenen A r t i k e l des „ M o s k o v s k i j teleg r a f " über Kolumbien, in dem es unter Hinweis auf die erfolgreiche Erhebung gegen das spanische Kolonialregime hieß: „ D a s war auch einmal der A n f a n g der Vereinigten Staaten v o n Amerika 1 0 )". D i e Dekabristen bekundeten besondere Aufgeschlossenheit für die südamerikanischen Ereignisse; zahlreiche Diskussionen waren diesem T h e m a gewidmet 1 1 ). Mit einem vielbeachteten Beitrag schaltete sich N . A . Bestuzev im Jahre 1825 in die K a m p a g n e zugunsten der spanischen Kolonien ein 12 ). A m Beispiel der Unabhängigkeitsbewegungen in Südamerika waren die Dekabristen bestrebt, Anleitungen für eigene revolutionäre Konzeptionen zu finden 1 3 ). W i e schon R a d i ä i e v bezeugten sie auch lebhaftes Interesse für Verfassungsfragen, das sich sowohl auf das Studium nordamerikanischer als auch südamerikanischer Unterlagen stützte. R y l e e v , Zavaliäin und die Brüder Bestuzev sollen mit den Verfassungen Haitis und Brasiliens gut vertraut gewesen sein. I n Gesprächen mit ihren K a m e r a d e n stellten sie Vergleiche zwischen der brasilianischen und der nordamerikanischen Verfassung an 14 ). Nachweislich h a t das Muster der Vereinigten Staaten die politischen Konzeptionen der Dekabristen in vielen Einzelheiten bestimmt. Unter den meisten Mitgliedern der Verschwörergruppe herrschte Einigkeit darüber, daß m a n sich in R u ß l a n d die Verfassung und Staatsform der nordamerikanischen Republik z u m Maßstab nehmen sollte 1 5 ). Die weitreichendsten K o n sequenzen zog ein Verfassungsentwurf N . Murav'evs, dessen Entlehnungen aus dem amerikanischen Modell bis auf einzelne Formulierungen zu belegen sind. Sein Grundgedanke —- die Einteilung R u ß l a n d s in dreizehn Bundesstaaten — spiegelt e x a k t den föderativen A u f b a u der Vereinigten Staaten zur Gründungszeit. A b e r auch andere P r o j e k t e dieser A r t , wie die von P . I. Pestel' u n d M. N . N o v i k o v , orientierten sich unverkennbar am Vorbild der Vereinigten Staaten 1 6 ). K . F . R y l e e v v e r t r a t im Kreise der Verschwörer die Ansicht, daß die amerikanische Verfassung für R u ß l a n d „geeigneter als alle anderen" sei, wobei er allerdings auf bestimmten Modifizierungen bestehen wollte 1 7 ). Die intensive Beschäftigung mit Fragen der künftigen verfassungsmäßigen Ordnung in R u ß l a n d läßt vermuten, daß den Dekabristen umfangreiches Material zur Unterrichtung über 8)
Nach Sur, op. cit., S. 63.
») M T I I ( 1 8 2 5 ) , N r . 10, S. 1 8 7 . 10 )
„Obozrenie Kolumbii"; MT II ( 1 8 2 5 ) , Nr. 7 , S. 2 1 0 . ) Nach der Aussage A. P. Arbuzovs, V. A. Divovs und A. P. Beljaevs vor der Untersuchungskommission erzählte Zavalisin „bei jedem Treffen irgendwelche Neuigkeiten: einmal über eine neue Republik, die in Amerika gebildet worden war, oder irgendeine Anekdote aus Spanien oder Griechenland" („Materialy", op. cit., III, S. 3 2 1 , 342). 12 ) Siehe „ O novejsej istorii i nynesnem sostojanii Juznoj Ameriki. I. Paragvaj"; in SO, Tl. 100 ( 1 8 2 5 ) , S. 2 6 9 f r . ; zur Auswertung des Artikels s. Sur, op. cit., S. 58s., Slezkin, op. cit., S. 3 4 4 f r . 18 ) Dieser Gesichtspunkt wird verständlicherweise von sowjetischen Interpreten übermäßig betont. Slezkin kommt zu dem Schluß, die Dekabristen hätten „leidenschaftlich mit der Sache der Patrioten Spanisch-Amerikas sympathisiert, ihren Kampf studiert und ihn für die Propagierung revolutionärer Ideen verwendet"; op. cit., S. 360. 14 ) Semevskij, op. cit., S. 2 5 0 . l s ) S. G. Volkonskij sagte aus („Materialy", IV, S. 2 0 6 ) : „ E s wurde unter den Mitgliedern (i. e. der Verschwörung) beständig darüber gesprochen, daß die amerikanische Verfassung das beste Muster für Rußland sei." 16 ) „Proekt konstitucii Nikity Murav'eva"; in „Dekabristy. Otryvki iz istoinikov", S. 2 3 6 - 4 9 ; die Einflüsse erörtert Laserson, op. cit., S. I 2 4 f f . ; siehe auch P. Gronskij, „L'idée fédérative chez les décabristes" in MonSl III ( 1 9 2 5 ) , 2 , S. 375s. " ) „Materialy", I, S. 183. u
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die Vereinigten S t a a t e n zur V e r f ü g u n g gestanden h a t . D i e B e s c h a f f u n g derartiger Quellenunterlagen stieß k a u m auf Schwierigkeiten. P e s t e l ' versuchte der Untersuchungskommission später seine Vorliebe f ü r die republikanische R e g i e r u n g s f o r m damit zu erklären, daß d a m a l s „ a l l e Zeitungen und politischen W e r k e so stark das wachsende Wohlleben in den N o r d a m e r i kanischen S t a a t e n priesen u n d dies ihrem staatlichen A u f b a u zuschrieben 1 8 )". H i e r waren sicherlich die Veröffentlichungen des „ D u c h ü u r n a l o v " angesprochen. D e n Einflüssen dieser L e k t ü r e w a r e n auch die politischen G e d a n k e n vieler anderer Dekabristen unterworfen. U n t e r den ausländischen Quellen w a r e n es v o r allem die apologetischen W e r k e v o n A u t o r e n wie F r a n k l i n , Mazzei, oder Comte D e s t u t t de T r a c y , die zurate gezogen wurden 1 9 ). Mit den B e stimmungen der amerikanischen R e g i e r u n g s p r a x i s konnten sich die D e k a b r i s t e n durch die betreffenden A r t i k e l des „ D u c h z u r n a l o v " , außerdem durch eine sechsbändige französische S a m m e l a u s g a b e aus den J a h r e n 1 8 2 1 - 3 v e r t r a u t machen 2 0 ). E s ist anzunehmen, daß sich die Dekabristen auch a n h a n d der Reiseberichte Svinins u n d Poletikas über die Vereinigten S t a a t e n informiert haben. Darüberhinaus standen einige v o n ihnen, darunter R y l e e v , in Verbindung mit a k t i v e n Förderern der amerikanischen U n a b h ä n g i g keitsbewegung 2 1 ). D i e L e k t ü r e der Dekabristen w a r allerdings nicht allein auf zeitgemäße Quellen beschränkt. A u c h m a n c h e der pseudowissenschaftlichen K o m p i l a t i o n e n aus dem 1 8 . J a h r h u n d e r t erfreuten sich damals unverändert einer regen N a c h f r a g e . Z u m i n d e s t v o n zwei der Verschwörer, P . I . Pestel' u n d N . A . K r j u k o v , ist b e k a n n t , daß sie noch die „ G e s c h i c h t e A m e r i k a s " v o n R o b e r t s o n eifrig studiert haben. D a n e b e n f a n d auch das W e r k R a y n a l s weiter Zuspruch 2 2 ). 2. D i e D e k a b r i s t e n a l s P r o p a g a n d i s t e n e i n e r r u s s i s c h e n E x p a n s i o n in N o r d w e s t a m e r i k a D i e A u f m e r k s a m k e i t , die die Dekabristen dem nordamerikanischen K o n t i n e n t widmeten, w u r d e noch durch einen anderen aktuellen A n l a ß b e s t ä r k t : eine einflußreiche G r u p p e unter ihnen setzte sich damals im R a h m e n der „ R u s s i s c h - A m e r i k a n i s c h e n K o m p a g n i e " f ü r ausge18
) „Materialy", IV, S. 91. ) 1788 veröffentlichte der Italiener Filippo Mazzei, ein enger Freund Jeffersons, seine vierbändigen „Recherches historiques et politiques sur les Etats-Unis, par un citoyen de Virginie". Man hat in manchen Passagen dieses Buches „die feine Hand Jeffersons" sehen wollen (Chinard in P A P S , op. cit., S. 44). Mazzei begab sich 1802 selbst nach Petersburg, vermutlich auch, um die bevorstehenden Reformen im amerikanischen Sinne voranzutreiben. Zur Wirkung seines Werkes in Rußl.: M. V. DovnarZapol'skij, „ I z istorii obsiestvennych teienij v Rossii" (1905). — Comte A. Destutt de Tracy verfaßte den „Commentaire sur 'L'Esprit des Lois' de Montesquieu", Philadelphia 1 8 1 1 ; Lüttich 1 8 1 7 ; Paris 1 8 1 9 ; 1822. Wegen der vielen Jeffersonschen Gedankengänge hat man auch hier auf eine Mitautorschaft des amerikanischen Präsidenten geschlossen; vgl. E . Dvoichenko-Markov, „Jefferson and the Russian Decembrists" in A S E E R I X (1950), S. 162-8. Dv.-Markov schätzt den Einfluß dieses Werkes auf den Enthusiasmus der Dekabristen für Amerika sehr hoch ein. Eine bedeutende Einwirkung der Regierungslehre Jeffersons auf Pestel's „Russkaja p r a v d a " wird auch von Chinard angenommen; „The American Dream", op. cit., S. 208 f. ^ Semevskij, op. cit., S. 514 (Fußn.). 21 ) Ryleev korrespondierte mit dem polnischen Freiheitskämpfer und Schriftsteller Julian U. Niemcewicz (1757—1841); siehe die Dissertation von M. Berndt (Woehlk), „ J . Niemcewicz und K . R y l e e v " (1962). Niemcewicz hatte an der Seite Kosciuzkos am polnischen Aufstand teilgenommen. Danach emigrierte er in die Vereinigten Staaten, wo er insgesamt vierzehn Jahre zubrachte und mit den Führern der Unabhängigkeitsbewegung, u. a. mit Washington und Jefferson, bekannt wurde. E r trat auch als Mittler in den russisch-amerikanischen Kulturbeziehungen hervor und wurde in die „ A m . Philosophical Society" aufgenommen; vgl. Dv.-Markov, „The Am. Phil. Society . . . " , S. 565-6. Seine Reiseaufzeichnungen sind veröffentlicht als „Podröze po Ameryce 1797-1807", Breslau/Warschau 1959 (ed. A. Wellman-Zalewska). ^ Zu Raynal s. Kap. I, 3 dieser Arbeit; zu Robertson vgl. Semevskij, op. cit., S. 225 (Fußn.). Pestel' fertigte Exzerpte aus der „Geschichte Amerikas" für sein Merkbuch an, die erhalten sind. 19
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dehnte Expansionsprojekte entlang der pazifischen Küste Nordamerikas ein. Da diese Politik zu Spannungen mit den Vereinigten Staaten führen mußte, wurde sie von offizieller Seite in Rußland mißbilligt. Die Zurücksetzung der russischen Belange im Pazifik hat den Geist der Auflehnung unter den nationalbewußten Dekabristen zweifellos neu angefacht. Der russischamerikanische Vertrag des Jahres 1824, der die Einflußsphären in Nordwestamerika unter offensichtlicher Bevorteilung der Vereinigten Staaten festlegte, nährte diese Unzufriedenheit noch23). Unter dem Patronat des Zaren war im Jahre 1799 die „Russisch-Amerikanische Kompagnie" gegründet worden. Ihre Einrichtung galt dem Schutz nationaler Handelsinteressen in „Russisch-Amerika", wie man die nordwestamerikanischen Territorien damals zu nennen pflegte. In der Folgezeit setzten sich in der russischen Politik vorübergehend Tendenzen durch, die für eine konsequente Expansionsbewegung entlang der amerikanischen Westküste plädierten24). Zahlreiche Literaturwerke der Zeit waren mit den Entdeckertaten in diesem entfernten Winkel des Imperiums befaßt 25 ). Während des starren Arakceev-Regimes verlockte die Mitarbeit in der russisch-amerikanischen Handelsgesellschaft vor allem deshalb, weil dort abseits von pedantischer Regierungskontrolle noch freie Initiative und ein gewisses Maß an Beweglichkeit gesichert schienen. Seit K . F. Ryleev Anfang 1824 auf Betreiben des Admirals Mordvinov zum Kanzleileiter in der „Kompagnie" ernannt worden war, waren ihre Aktionen eng mit der konspirativen Tätigkeit des nördlichen Dekabristenkreises verzahnt. Der energische Einsatz, mit dem Ryleev die russischen Interessen in Alaska betrieb, fand auch in hohen Regierungsstellen Beachtung, obwohl nur wenige seiner weitreichenden Vorschläge berücksichtigt wurden 26 ). Das Haus der „Kompagnie" am Mojka-Kai in Petersburg entwickelte sich bald zur einer geheimen Kommandostelle der Verschwörung. Man traf dort zu Diskussionen zusammen und lernte sich untereinander kennen. Die Verhältnisse in Amerika dürften mehr als einmal im Mittelpunkt der Gespräche gestanden haben 27 ). Für die Wahrnehmung der russischen Interessen in Nordamerika wirkten insbesondere die „Marinedekabristen", eine zunächst separate Verschwörergruppe in Petersburg, die ihre her**) Hildt, op. cit., S. 1 5 7 f f . (Vertrag von 1824); S. B. Okun', „Rossijsko-amerikanskaja kompanija" (1939); Hans Pilder, „ D i e russisch-amerikanische Handels-Kompagnie bis 1 8 2 5 " ( 1 9 1 4 ) ; zur außenpolitischen Einstellung der Dekabristen s. A . N. Sebunin, „Dekabristy i voprosy vnesnej politiki" in „Russkoe prosloe" I V (1923), S. 21—35. 24 ) Solche Expansionsbestrebungen werden literarisch reflektiert in A . Kotzebues „ G r a f B e n i o w s k y " ; vgl. A . P . Coleman, „Kotzebue and R u s s i a " in „ T h e Germanic R e v . " V (1930), S. 3 4 1 . 25 ) Siehe u. a. „Dvukratnoe putesestvie v Amerike morskich oficerov Chvostova i D a v y d o v a " , SPb. 1810—2 (4 Tie.); darin werden posthum die Verdienste zweier russischer Alaska-Pioniere gewürdigt, die „Russisch-Amerika" 1802 und 1806 erforscht hatten und 1809 durch einen aufsehenerregenden Unfall in Petersburg ums Leben kamen. Daneben verzeichnet die russische Literatur dieser J a h r e Übersetzungen der Entdeckerfahrten von Cook (1805), Laperouse (i8ooff.), Mackenzie (1808) u.a. (siehe Sopikov, Nr. 9207, 9208, 9262). Siehe auch Darstellungen in der A r t des „ K r a t k o e opisanie ob amerikanskom ostrove K a d ' a k e " ( 1 8 0 5 ; Sopikov Nr. 7614), das die Hauptniederlassung der Russen in Alaska beschrieb. Das Interesse an Nordamerika wurde außerdem bestärkt durch Schilderungen der russischen Weltumsegler (vgl. Anm. 5). 2e ) Über Ryleevs Arbeit für die „ K o m p a g n i e " berichtet der Dekabrist E . P. Obolenskij in seinen Memoiren („ObsEestvennye dvizenija v Rossii . . . " , I, S. 236—7; vgl. auch Okun', op. cit., S. 103—5).— Ryleev widersetzte sich energisch den im Vertrag von 1824 vorgesehenen Konzessionen an die Vereinigten Staaten. E r verfaßte zu diesem Zweck eine Denkschrift „Zapiska o nedopusienii inostrannych kupcov k zanjatiju na territorii, upravljaväejsja Rossijsko-amerikanskoj kompaniej", in L N , Bd. 59 S. 1 6 6 - 7 . 27 ) S. P. Trubeckoj gab später vor der Untersuchungskommission an, er sei V . K . Küchelbecker zum ersten Mal bei Ryleev begegnet, wo dieser unter anderem „über unsere Kolonie in Amerika namens R o s s " berichtet habe; „Materialy", I, S. 2 1 . Fort Ross war der südlichste russische Vorposten in Amerika nahe dem heutigen San Francisco.
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ausragende Persönlichkeit in D. I. Zavaliäin besaß. Über die Bekanntschaft Ryleevs, die von Admiral Mordvinov vermittelt worden war, fanden Zavaliäin und seine Gefährten Anschluß an den Nördlichen Kreis der Dekabristen 2 8 ). Zavaliäin, einer der besten Kenner RussischAmerikas und Kaliforniens, verfocht eine kompromißlose Expansionspolitik für den pazifischen R a u m . Seiner Ansicht nach war die Annexion Kaliforniens und Oregons zur Erhaltung der russischen Position in Amerika unbedingt erforderlich. Er entwarf zu diesem Zweck ein detailliertes Programm, das die Besitznahme der amerikanischen Westküste vorbereiten sollte 29 ). Über die „ K o m p a g n i e " fanden weitere Personen Aufnahme im Verschwörerkreis der Dekabristen, unter ihnen G. S. Baten'kov, der als Verwaltungsleiter der amerikanischen Kolonien vorgesehen war, O. M. Somov und Leutnant V. P. Romanov, der weite Gebiete Amerikas aus eigener Anschauung kannte und eine Reihe von Schriften über die dortigen Verhältnisse verfaßt hatte 3 0 ). Der „ K o m p a g n i e " nahe standen A. A. Bestuiev und Baron V. I. Stejngel'. Gemeinsam mit Ryleev bewohnten sie eine Zeitlang das Petersburger Haus der russisch-amerikanischen Handelsgesellschaft 31 ). Das Wirken der Dekabristen für die machtpolitischen Interessen ihres Landes auf dem amerikanischen Kontinent weist auf ein charakteristisches Element im russischen Amerikabild dieser Jahre. Bereits der Terminus „Russisch-Amerika" mußte die Assoziation an die Neue Welt wecken, unter der hier freilich eine Provinz des eigenen Imperiums verstanden war. Die Bezeichnung „Amerika", die so gegensätzliche geographische Bereiche wie die Vereinigten Staaten und die iberische Hemisphäre zu einer vagen begrifflichen Einheit zusammenschichtete, wurde durch diese Anspielung noch schillernder in ihrem Gehalt. Auswirkungen dieser mangelnden definitorischen Übereinkunft haben sich bis in die Bezirke volkstümlicher Wortbildung niedergeschlagen 32 ). Die Blickrichtung auf Alaska erinnert an ältere Traditionen aus dem 18. Jahrhundert. Auch damals wurde das Interesse an Amerika belebt, weil reale Aussichten bestanden, dieses Territorium dem Machtbereich Rußlands einzuverleiben. Die Dekabristen sind hinsichtlich Amerikas von den gleichen nationalen Gefühlen erfüllt, wie sie in den Dichtungen Lomonosovs und Sumarokovs zum Ausdruck gekommen waren. Auch diesmal haben sich Spuren im Schrifttum der Zeit erhalten. Eine Huldigung der russischen Entdeckertaten im Pazifik ist beispielsweise in der Einleitung zu A . A . Bestuievs „See-
M ) Siehe dazu S. J a . S t r a j c h , „Morjaki-dekabristy" (1946), S. 3 1 ff. *") Noch in einem Memorandum an den Zaren aus der H a f t setzte sich ZavaliSin für diese Ziele ein; „Zapiski dekabrista", I I (1904), S. 14. In der sibirischen Verbannung hielt er unbeirrt an seinen Vorstellungen fest. Die Artikel, die er darüber in Zeitschriften der 1850er und 1860er J a h r e veröffentlichte, verwickelten ihn in eine Kontroverse mit dem Gouverneur von Ostsibirien, N . N . Murav'ev-Amurskij; siehe A . G. Mazour, „ D . Zavalishin: Dreamer of a Russian-American E m p i r e " in „Pacific Hist. R e v . " , 1 9 3 6 (March), S. 2 6 - 3 4 . Siehe Romanovs „Mysli 0 putesestvii, kotoroe moino predprinjat' ot reki Mednoj po suchomu puti do Ledovitogo morja i do Gudzonova zaliva", in „ S e v e r n y j archiv", X V I I (1825), 3, S. i 2 9 f f . ; „ P r e d nafertanie putesestvija ot zapadnych beregov Severnoj Ameriki do Ledovitogo morja i do Gudzonova zaliva", in M T V (1825), Nr. 18, S. 89-99. 3 1 ) S t r a j c h , op. cit., S. 7 1 f. Baron S t e j n g e l ' hatte seine Jugend auf KamCatka verbracht und war aus dieser Zeit mit dem Alaska-Pionier N . P. Rezanov bekannt. Nach der Rückkehr aus sibirischer Verbannung veröffentlichte er noch Anfang der 1860er Jahre Artikel in russischen Journalen, die sich mit der Geschichte der „ K o m p a g n i e " und der russischen Besiedlung Alaskas befaßten; s. „Obäiestvennye dvizenija", op. cit., I, S. 3 1 9 . * 32 ) „Amerikanskij zitel'" nannte man in Rußland eine Puppe nach Art indianischer Totems, die von den Ureinwohnern Alaskas übernommen worden war. Sie war bis 1 9 1 7 ein beliebtes Handelsobjekt auf den Jahrmärkten russischer Dörfer und Städte; vgl. Kiparsky, op. cit., S. 104. Dieser Sprachgebrauch erinnert an die ältere Zeit, als die Bezeichnung „Amerikaner" ausschließlich auf die Eingeborenen des amerikanischen Kontinents bezogen wurde.
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fahrer Nikitin" vorangestellt 33 ). Die propagandistische Aktivität der Dekabristen hat damals allgemein das Interesse an den pazifischen Grenzgebieten Rußlands anregen helfen 34 ). Die zivilisatorische Arbeit, die die ehemaligen Verschwörer später in ihren sibirischen Verbannungsorten vielfach leisteten, setzte den Gedanken einer verstärkten Kolonisation im Osten folgerichtig in die Tat um.
3. B e d e u t u n g u n d W i r k u n g d e s A m e r i k a b i l d e s d e r D e k a b r i s t e n Die Mitglieder der Dekabristenbewegung kamen aus allen Bezirken des öffentlichen und geistigen Lebens. Unter ihnen findet man hohe Verwaltungsbeamte und Offiziere ebenso wie Schriftsteller und Künstler. Sie repräsentieren eine gesellschaftliche und geistige Elite, die den Anschauungen ihrer Zeit ein Gepräge gegeben hat. Auf dem Gebiet der Literatur sind die Wechselbeziehungen besonders intensiv. Einige Dekabristen, wie Ryleev, wirkten selbst schöpferisch in der Dichtkunst; andere unterhielten enge Verbindungen zu führenden Schriftstellern dieser Epoche 38 ). Die Bedeutung der Dekabristen für das geistige Leben der Jahre zwischen 1 8 1 5 und 1825 wird aus solchen Zusammenhängen sinnfällig. Repräsentativ für einen weiten Bereich des damaligen russischen Schrifttums steht auch ihr Amerikabild, dessen Elemente aus zwei unterschiedlichen Betrachtungsweisen resultierten: einmal schaute man voll hochfliegenden Idealismus auf das politische Experiment der Vereinigten Staaten, das sich an den erfolgreichen Erhebungen in Südamerika noch einmal zu bestätigen schien, und ließ sich durch ihr Vorbild zu eigenen revolutionären Projekten anspornen; andererseits sollte ein Teil des nordamerikanischen Kontinents den machtpolitischen Ambitionen aus dem eigenen Land zum Ziel ausersehen sein. In diesem Dualismus vereinte sich die betont nationale Haltung der Dekabristen mit einer schwungvollen demokratischen Begeisterung. Inwieweit beide Elemente miteinander verschmolzen, läßt sich nur mutmaßen. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß die Dekabristen zu ihren nordamerikanischen Expansionsplänen gerade durch die räumliche Nähe der Vereinigten Staaten veranlaßt wurden. Von einer derartigen Nachbarschaft erhoffte man sich offenbar, daß durch sie die soziale und politische Entwicklung der künftigen russischen Territorien günstig beeinflußt würde. Zavaliäins Kolonisationsprogramm für Nordamerika, das unter anderem die Besiedlung des kalifornischen Fort Ross als Stützpunkt „russischer Freiheit" vorsah 34 ), legt diesen Idealismus als einen der Beweggründe der Dekabristen nahe. Später, nach der Verbannung, richteten sich ähnliche Hoffnungen vielfach auf Sibirien. In den politischen Leitbildern der Dekabristen tritt das Weiterbestehen einer alten Bewunderung für die Errungenschaften der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung zutage, die sich, wie schon zur Zeit RadiäCevs, zwischen den Polen bloßer irrationaler Schwärmerei und nüchterner nationaler Zweckmäßigkeitserwägungen bewegt. Von diesem Amerika-Enthusiasmus und seinen Hintergründen entwerfen die Erinnerungen A. P. Beljaevs ein stimmungsvolles Bild. Seine Züge sind freilich schon vielfach durch den kurzsichtigen Antiamerikanismus des späten 19. Jahrhunderts verzerrt: M
) „Morechod Nikitin" ( 1 8 3 4 ) ; Werke (1958), I I , S. 2 8 1 - 2 .
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) Durch die Lehrtätigkeit Zavalisins am Kronstadter „Morskoj Kadetskij K o r p u s " wurde beispielsweise die Aufmerksamkeit des späteren Alaska-Forschers L . A . Zagoskin auf Russisch-Amerika gelenkt; M. B. Cernenko in der Einleitung zu „Putesestvija i issledovanija lejtenanta L . Zagoskina . . . " (1956), S. 19. Die Lektüre über Ostsibirien und Alaska beschäftigte in den Jahren 1 8 3 6 - 7 auch Puschkin, wie dessen ,,Zametki pri Ctenii 'Opisanija zemli KamCatki' S. P. Krasennikova" bezeugen (Werke, X , S. 343). Puschkins Tod verhinderte die Weiterarbeit an einer Abhandlung, die den russischen Pioniertaten im Pazifik gegolten haben dürfte. Über die Beziehungen zu Puschkin s. G. Vernadsky, „Pushkin and the Decembrists" in „Centennial Essays for Pushkin" (1937), S. 4 5 - 7 6 ; M. V . Neükina, „ O Puskine, dekabristach i ich obsiich svjazj a c h " in „ K a t o r g a i ssylka", I V (1930). M ) Nach dem Bericht eines Kameraden Zavalisins, des Dekabristen A . P. Beljaev; „Vospominanija 0 perezitom i pereEuvstvannom s 1803 goda", in R S X X X (1881), S. 492.
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„Wir alle träumten von einer Republik, wir alle stellten uns diese goldene Zeit der Volksversammlungen vor, wo eine flammende Liebe zum Vaterland herrschen würde und ein Volkswohl, das durch nichts und niemanden außer dem Gesetz begrenzt war. Natürlich träumten wir auch von der Befreiung der Völker durch ein mächtiges Rußland. Kurzum, in unseren Träumen realisierte sich ein wunderbares Ideal vollständigen menschheitlichen Glückes auf Erden, ein Ideal, das, wie wir dachten, Amerika erreicht hatte, das damals als Paradies der Liberalen galt. M. Brun stellte in seinem damals erschienenen Atlas die Freiheit als eine schöne Jungfrau dar, die mit der Hand auf Amerika wies." (Fußnote: „Zur gleichen Zeit übersetzte ich aus dem Französischen eine Begegnung Lafayettes in Amerika.") „Wir argwöhnten damals noch nicht, daß es unsere Ideale — die stolzen Republikaner — in idealer Weise verstanden, sich ihre Taschen auf Kosten ihres großen Vaterlandes zu füllen . . . 3 7 )." Die Zwiespälte der Dekabristen führten zu einer eigentümlichen Unbeständigkeit der Meinungen. Für Pestel's Wankelmut ist es kennzeichnend, daß er sich während einer Begegnung mit Ryleev im Verlauf von nur zwei Stunden sowohl als Anhänger der amerikanischen Republik, als auch als Napoleonist, Terrorist, als Verfechter der englischen Verfassung und als Verteidiger der spanischen gebärdete 38 ). Auch Ryleev war in seinen politischen Ansichten nicht frei von Inkonsequenzen. Er, der in Privatgesprächen begeistert äußerte, daß unter allen Ländern nur Amerika eine wahre Regierung kenne 39 ), schwankte unentschlossen, ob der konstitutionellen Monarchie oder der republikanischen Staatsform der Vorzug zu geben sei. Zur Verwirrung der Dekabristen trug jenes Konglomerat aus veraltetem und zeitgemäßem Quellenmaterial bei, das sie zu ihrer Unterrichtung über die Vereinigten Staaten heranzuziehen pflegten. Eine derartige Mixtur war charakteristisch für die Amerikalektüre der russischen Romantiker. Damals fehlte es in Rußland immer noch an einer gültigen, objektiven Darstellung der Vereinigten Staaten, die mit den traditionellen Mißverständnissen aufgeräumt hätte. Dieser Umstand trug dazu bei, daß das Amerikabild der Dekabristen, wie schon das Radiäcevs und seiner Zeitgenossen, eher an Idealvorstellungen als an der Wirklichkeit orientiert war. Man neigte auch jetzt wieder dazu, die amerikanische Wirklichkeit durch Projektionen auf russische Verhältnisse zu überspielen. Hinsichtlich der Kenntnis der Vereinigten Staaten überragten die Dekabristen dennoch ihre von einseitigen literarischen Schablonen befangenen Zeitgenossen. Ihre Blickrichtung blieb stets auf die politisch-soziale Problematik Amerikas konzentriert. Das Studium, das einige Dekabristen amerikanischen Verfassungen zuwandten, bezeugt die Ernsthaftigkeit dieses Interesses. Die Argumente verraten bisweilen erstaunlichen Weitblick. Die Annahme der republikanischen amerikanischen Staatsform wurde von einigen Verschwörern unter anderem mit der Überzeugung verfochten, daß die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Ausdehnung, der Bevölkerungsstruktur, des Klimas und der topographischen Gegebenheiten Rußland am ehesten glichen 40 ). Diese Theorie von den Parallelen zwischen Rußland und Nordamerika ist unter den Dekabristen hitzig debattiert worden. Die Fürsprecher der Vereinigten Staaten, zu denen als prominenteste Vertreter Ryleev und Pestel' zählten, machten sie sich zueigen. Von Pestel' wird berichtet, das er sich bei einer Auseinandersetzung mit Glinka mit eben diesem Hinweis auf die geographischen und ethnographischen Übereinstimmungen für
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) „Vospominanija . . . " , op. cit., S. 4 9 2 - 3 .
M
) „ M a t e r i a l y " , I, S. 178. Über ein ähnlich widersprüchlich verlaufenes Gespräch mit Pestel' berichtet N . I. Lorer; „ Z a p i s k i " , S. 74. "•) Nach N . A . Kotljarevskij, „ R y l e e v " (1908), S. 148 (Kap. „Politiieskie vzgljady i plany R y l e e v a " S. 145 ff.). 40
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) Nach dem Bericht M. A . Fonvizins in „ObsCestvennye dvizenija", I, S. 44.
das republikanische Muster Amerikas eingesetzt habe. Von ähnlichen Prämissen ging auch die Argumentation Ryleevs aus 41 ). Manchem unter den Dekabristen mögen die Parallelen zwischen beiden Kontinenten erst während der Verbannung bewußt geworden sein. Das reiche, ungenutzte Sibirien erinnerte in vielem an die Vereinigten Staaten. Baron A. E . Rozen äußerte später in Spekulationen über die Zukunft Sibiriens: „ I n seiner Art steht Sibirien möglicherweise die Bestimmung Nordamerikas bevor, wohin ebenfalls wegen politischer und religiöser Meinungen, willentlich oder unwillentlich, Vertriebene übersiedelten, um in einer neuen Welt durch Gebet und Arbeit all jene Güter hervorzubringen, die die alte, erfahrene Welt schon so lange und vergeblich sucht 42 )." Der Dekabrist N. V. Basargin schloß aus dem freiheitlichen Geist der Sibirjaken ebenfalls auf eine innere Verwandtschaft zu den Vereinigten Staaten, von denen er freilich nur vom Hörensagen erfahren hatte 43 ). Den gleichen Grundgedanken verband 1 . 1 . Pu5cin mit einer beziehungsreichen historischen Anspielung: wie die Vereinigten Staaten, schreibt er in einem Brief des Jahres 1845, so könnte sich eines Tages auch das mit allen Naturreichtümern gesegnete Sibirien vom Mutterland lösen44). Die Gedankengänge der verbannten Dekabristen wurden zu gleicher Zeit von dem Kritiker Belinskij nachvollzogen, dem Sibirien als ein „russisches Amerika" vorschwebte 46 ). A. P. Cechov kam noch zum Ende des Jahrhunderts auf diesen Vergleich zurück, als er anläßlich einer Reise durch die Amurregion feststellte, daß ihn die Lebensart der dortigen Bewohner frappierend an „Erzählungen aus dem amerikanischen Genre" erinnere46).
B ) Die romantische Dichtung 1. A l l g e m e i n e Z ü g e i h r e s A m e r i k a b i l d e s Die Dekabristen hatten sich den Vereinigten Staaten zugewandt, weil sie sich von diesem Modell Anregungen zu einer grundlegenden sozialen Revolution im eigenen Lande erhofften. 41 ) Zu Pestel' s. A . G. Mazour, „ T h e First Russian Revolution 1 8 2 5 " (1961), S. 78. Ryleev erläuterte vor der Untersuchungskommission („Materialy", I, S. 1 7 5 ) :
„ . . . in meinem Innersten ( . . . ) zog ich ( . . . ) die Regierungsform der Vereinigten Staaten vor, da ich annahm, daß die Regierungsform dieser Republik die geeignetste für Rußland sei wegen seiner Ausdehnung und der Vielzahl der es besiedelnden Völker. Darüber habe ich mit verschiedenen Mitgliedern gesprochen, unter anderem auch mit N. Murav'ev, den ich dazu bewog, in der von ihm niedergeschriebenen Verfassung einige Veränderungen vorzunehmen, die sich an der Ordnung der Vereinigten Staaten orientierten." 42 43
) „Zapiski dekabrista" (1907), S. 2 1 3 . ) „Zapiski N. V . Basargina" ( 1 9 1 7 ) , S. 94:
„ J e weiter wir uns nach Sibirien hinein bewegten, desto mehr gewann es in meinen Augen an Vorzügen. Das einfache Volk erschien mir weitaus freier, verständiger, sogar gebildeter als unsere russischen Bauern und besonders die Gutsbauern. E s verstand mehr von der Würde des Menschen, es schätzte seine Rechte mehr. In der Folge hörte ich mehrmals von denen, die die Vereinigten Staaten besucht hatten und dort gelebt hatten, daß die Sibirjaken viel Ähnlichkeit mit den Amerikanern haben in ihren Sitten, Gebräuchen und sogar in ihrer Lebensweise." 44 ) „Zapiski 0 Puskine" (1934), S. 1 7 8 - 9 (an E . A . Engel'gardt): . . . es gibt keine Leibeigenen. Das ist der Vorzug ganz Sibiriens und ein Vorzug, der einen ungewöhnlich wohltätigen Einfluß auf das Land ausübt und es zweifellos von Rußland fortbewegen wird. Sibirien ist in meinen Augen wie die Vereinigten Staaten. E s könnte sich auf der Stelle von der Metropole lösen und würde in nichts Not leiden — ist es doch reich gesegnet mit allen Gaben der N a t u r . " 45 ) In dem Artikel „Literaturnye m e i t a n i j a " ( 1 8 3 4 ) ; Werke, I, S. 23. 4 «) Brief vom 23-/26. 6. 1 8 9 2 ; Werke (i944ff.), X V , S. 1 1 8 - 9 .
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Ihre politisch motivierte Begeisterung für Amerika bezeichnet einen Höhepunkt jener Strömung, die mit der Verherrlichung der Unabhängigkeitsbewegung in den Literatenkreisen um Radiscev und Novikov ihren Ausgang genommen hatte. Selbst in der Dichtung der Dekabristen haben sich damals Spuren einer bewegten Auseinandersetzung mit amerikanischen Ereignissen niedergeschlagen: Verse von V. F. Raevskij aus der Zeit um 1820 bekunden die Anteilnahme des Autors gegenüber den unterdrückten Freiheitskämpfern „in Mexiko, Peru, Brasilien, Kanada 4 7 )." Nach dem Scheitern der Dekabristen wurde die Erörterung zeitgemäßer sozialpolitischer Amerika-Thematik im Schrifttum der Romantik zurückgestellt. Die anspruchsvolle russische Literatur ließ, wie in Deutschland damals die Klassik 48 ), die mit dem Beispiel der Vereinigten Staaten verbundenen Fragen unbehandelt. Unter dem Einfluß Tocquevilles setzte erst in den späten 1830er Jahren eine neue Diskussion um diese Zusammenhänge ein. Die romantischen Schriftsteller hatten auch in Rußland ihrer Zeit geistig den Rücken gekehrt; ihre Staatsideale waren an einer entfernten Vergangenheit der nationalen Geschichte orientiert. Das pragmatische amerikanische Modell der Gegenwart konnte den Idealismus kaum mehr beflügeln. Nachdem die Vereinigten Staaten in den Umsturzplänen der Dekabristen eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hatten, tat auch die restaurative Politik unter Zar Nikolaj I. das Ihre, um jede unerwünschte Information zu unterdrücken. Wie zur Zeit Katharinas fürchtete die Obrigkeit das Einfließen freiheitlichen amerikanischen Gedankengutes. Unter diesen Umständen konnte es kaum ausbleiben, daß die Unterrichtung über die laufenden Ereignisse auf dem nordamerikanischen Kontinent lange Jahre hindurch bedauerlich unzureichend blieb. Für die Kenntnisse der Zeit wird eine Kombination von Ignoranz und Halbwissen typisch 49 ). Während Nachrichten über südamerikanische Ereignisse vor allem in der russischen Presse der Zeit ausgiebig behandelt wurden, stagnierte das Wissen über die Vereinigten Staaten weithin bei den Informationen, die die Berichte Svinins und Poletikas vermittelt hatten, wobei Poletika in der Gunst des breiten Leserpublikums bereits unverkennbar abfiel. Schmucklose Sachdarstellungen in der Art seines Überblicks waren damals unzeitgemäß; unter solchen Umständen wollte sich kein Verleger bereit finden, das Risiko eines vollständigen Abdrucks auf sich zu nehmen60). Einer objektiven Berichterstattung über Amerika stellten sich außerdem die kleinlichen Reglementierungen der nikolaitischen Zensur in den Weg. Der Einspruch der Behörden mußte Veröffentlichungen nach Art des „Duch zurnalov" von vornherein illusorisch machen. Indessen fühlten sich die Schriftsteller der russischen Romantik auch weiterhin von der nordamerikanischen Szene angezogen, wenngleich das politische Element aus ihrem Gesichtskreis weitgehend eliminiert war. Es lag damals erst wenige Jahrzehnte zurück, daß man sich der Existenz der Vereinigten Staaten als geographischer und politischer Realität voll bewußt geworden war. Gegen diese Entwicklung setzte schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ein Rückschlag ein. Unter starkem Einfluß westlicher Vorbilder kündigte sich eine zweite ästhetische Entdeckung Nordamerikas an, die vornehmlich auf den Bereich der romantischen Dichtung ausstrahlte. In Anlehnung an die Traditionen des 18. Jahrhunderts wurde der nordamerikanische Kontinent wiederum als ein gigantischer exotischer Naturgarten ausgemalt, dessen Konturen im Ungewissen verschwammen. Alle vermeintliche Fortschrittlichkeit der Vereinigten Staaten mußte demgegenüber einen Beigeschmack von fadem Materialismus annehmen. 4
' ) „ S m e j u s ' i p l a f u " ( 1 8 1 9 - 2 1 ) ; „SoCinenija" (1961), S. 78. ) Siehe im einzelnen Engelsing, op. cit., S. 1 4 1 . 49 ) Tarsaidze, op. cit., S. 1 1 6 . — Der Amerikaner James Buchanan, der sein Land von 1832—7 als Botschafter in Petersburg vertrat, klagte: „ T h e y know but little of our country and probably desire to know still less, as they are afraid of the contamination of liberty." (Zit. bei Dv.-Markov, „ T h e A m . Phil. Society . . . " , S. 5 7 3 ) 48
50 ) Nach Modzalevskij ( R B S , X I V , S. 329), scheiterte die Ausgabe des ungekürzten Poletika-Berichtes „aus Mangel an Verlegern", obwohl der T e x t vollständig ins Russische übertragen worden war.
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Kulturpessimismus und ein sublimiertes Naturgefühl, in der Romantik vorherrschende Stimmungen, drängten zum Wiedererstehen des alten exotischen Amerikabildes, das die Entwicklungen der neuzeitlichen Zivilisation bewußt ignorieren wollte. Die Vision eines farbenüberfließenden „smaragdenen Brasilien, wo in ewigem Regenbogen das Himmelsgewölbe spielt und dunkler Wald von der Pracht wundersamer Vögel erfüllt ist", gestalten Verse 1 . 1 . Kozlovs vom Jahre 1838 5 1 ). Als Inbegriff einer ersehnten Ursprünglichkeit sahen die romantischen Dichter jedoch insbesondere die nordamerikanische Urwelt an. Es ist bezeichnend, wenn K . N. Batjuäkov sogar zur Beschreibung Finnlands einmal Passagen aus einem zeitgenössischen Werk über die Natur amerikanischer Polarregionen heranzog62). Die Schauplätze der großartigen romantischen Naturschilderungen stimmten ohnehin in manchen Merkmalen überein. Die Verse, in denen beispielsweise Ryleevs „Vojnarovskij" die Wildheit der sibirischen Urlandschaft pries, waren ohne weiteres auf Nordamerika übertragbar 53 ). Zu Vergleichen mit der amerikanischen Szenerie bot sich jedoch insbesondere die Naturwelt des Kaukasus an, die in der russischen Dichtung dieser Epoche eine so hervorragende Rolle spielte54). Schon Svinins „Malerische Reise" hatte auf die „verwunderliche Ähnlichkeit" zwischen nordamerikanischen Indianern und kaukasischen Bergbewohnern hingewiesen. Anspielungen solchen Inhalts erlangten in der Folgezeit weite volkstümliche Verbreitung 55 ). Das romantische Interesse an der Natur Nordamerikas förderte eine Renaissance von Klischees aus vergangenen Jahrhunderten. Wie zur Zeit des Rousseauschen Exotismus wurde die Neue Welt mit einer undifferenzierten Masse von Ureinwohnern, den „Amerikanern", besiedelt; wie schon im Bericht Svinins wird ihre Naturszenerie mit einer üppigen Farbpalette ausgestattet. In der Betrachtungsweise ist, wie schon zuvor, die Retrospektive vorherrschend. Die Kontinuität mit dem 18. Jahrhundert ist auch in anderer Hinsicht gewahrt: als Quellenmaterial wurden erneut die alten Amerika-Kompilationen aus der Zeit der Aufklärung bevorzugt, die historischen Anekdoten und phantasiereich ausgeschmückten Naturwundern mehr Beachtung gegönnt hatten als den konkreten gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen ihrer Epoche. Robertsons „Geschichte Amerikas" gehörte weiterhin zur Modelektüre der russischen Gebildeten 56 ). Daneben waren aber auch moderne Kompendien gefragt, wenn sie über die Besonderheiten der amerikanischen Fauna und Flora Aufschluß geben konnten87). 51 ) In dem Gedicht „ K P. F . Balk-Polevu", das einem früheren russischen Gesandten in Brasilien gewidmet ist; Werke (i960), S. 295. 52 ) „ O t r y v o k iz pisem russkogo oficera o Finljandii" (1809); Werke ( 1 8 8 5 3 . ) , I I , S. 1. Batjuskov entwirft hier, ähnlich Izmajlov in seinem „Sonett eines Irokesen", das Bild einer kargen Polarvegetation, das er aus einem Werk des französischen Zoologen B . G. Lacépéde (1756—1825) entlehnte. Seine E n t lehnung wurde schon von Belinskij nachgewiesen; vgl. dessen „ S t a t ' i o Puskine" ( 1 8 4 3 - 6 ) ; Werke, V I I , S. 254. M
) „ V o j n a r o v s k i j " ( 1 8 2 5 ) ; Werke, S. 2 0 3 : „ F ü r den Ankömmling war alles neu: Die Schönheit der wilden Natur, Das grausame, rauhe Klima, Die Einfachheit wilder Sitten."
54 ) E . G. Vejdenbaum, „ K a v k a z v russkoj poézii" in „ K a v k a z s k i e é t j u d y " (1901), S. 2 7 4 - 2 8 1 ; zuerst in der Zeitung „ K a v k a z " , Nr. 185 vom 16. 7. 1898. 55 ) Siehe Svinins „ O p y t " ; op. cit., S. 1 7 6 ; zur Geläufigkeit des Vergleichs Tarsaidze, op. cit., S. 1 1 6 . 56 ) N . P. Pavlov-Sil'vanskij, „SoCinenija", I I (1910), S. 270. Die damalige Popularität Robertsons unterstreicht eine Variante zu Puschkins „Onegin". Dort wird im Inventar von Onegins Bibliothek neben den großen Namen des 18. Jahrhunderts (u.a. Voltaire, Rousseau, Holbach, Diderot) auch der Name des schottischen Schriftstellers genannt; Variante zu Kap. 7, Strophe X X I I , Puschkins Werke, V I , S. 438. 57 ) In Europa wurde damals die Herausgabe eines reichausgestatteten vierbändigen Werkes über die amerikanische Vogelwelt, des amerikanischen Zoologen J o h n J . Audubon „ T h e Birds of A m e r i c a " (1828—39; mit 448 Tafeln und 1065 Abbildungen), mit großem Interesse aufgenommen; vgl. H. Zbindens Anmerkungen zur Einleitung von Tocquevilles „ I n der Nordamerikanischen Wildnis" (i960), S. 1 1 5 .
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Der R ü c k g r i f f auf die Quellenwerke des 1 8 . J a h r h u n d e r t s zog ein Wiederaufleben der archaischen A m e r i k a - T h e m a t i k beinahe zwangsläufig nach sich. Den abenteuerlichen E r e i g n i s sen um die E n t d e c k u n g und Durchdringung der Neuen W e l t , die sich um die N a m e n K o l u m b u s ' und die Pioniertaten der Conquistadoren rankten, wurde erneut übermäßige A u f m e r k samkeit zuteil 5 8 ). E i n e übersetzte A b h a n d l u n g des italienischen Schriftstellers Francesco A l g a r o t t i ( 1 7 1 2 - 1 7 6 4 ) , die sich mit dem U n t e r g a n g der I n k a s b e f a ß t , erschien 1 8 2 5 in der Zeitschrift „ S o r e v n o v a t e l ' " 5 9 ) . D u r c h zwei aus dem Französischen übertragene D i c h t w e r k e im „ S y n O t e c e s t v a " des J a h r g a n g s 1 8 2 0 w u r d e das M o t i v des unterdrückten amerikanischen Negers wieder geläufig, das zur gleichen Zeit in der Berichterstattung der Presse eine bedeutende R o l l e spielte 6 0 ). K u r z zuvor h a t t e ein erbaulicher T r a k t a t B a t j u ä k o v s das Wirken des B i s c h o f s L a s Casas f ü r die notleidenden amerikanischen Indianer als V o r b i l d eines „ g r o ß e n Menschen im vollen sittlichen S i n n e " heraufbeschworen. Diese Darstellung folgte ganz offensichtlich Anregungen bei R a y n a l und R o b e r t s o n 6 1 ) . A u s dem Themenbereich des berühmten Werkes v o n Marmontel w ä h l t e D e r z a v i n um 1 8 1 5 das Sujet zu einer großangelegten I n k a tragödie 6 2 ). Hier wirkten die Traditionen des 1 8 . J a h r h u n d e r t s noch übermächtig ein. Mit unerschöpflicher P h a n t a s i e konstruierten die romantischen Dichter ein A m e r i k a b i l d , fern aller Wirklichkeit. D i e K l u f t zwischen Inspiration u n d R e a l i t ä t wurde bisweilen auch mithilfe v o n Legenden überbrückt 6 3 ). In dem „ A m e r i k a n e r " Graf F . I . Tolstoj schufen sich 58 ) Siehe das Stück „Christofor Kolumb. Istoriieskaja melodrama", SPb. 1821 (nach dem Anhang bei G. I. Cudakov, „Otnosenie tvor£estva N. V. Gogolja k zapadno-evropejskim Iiteraturam" [1908], S. 176); 1828 verfaßte A. I. Pisarev eine Komödie „ K o l u m b " , die jedoch Fragment blieb. Auch in den Zeitschriften wurde solche Thematik gepflegt; siehe u. a. „Otiizna i proischoi denie Christofora Kolumba" in MT I I I (1825), Nr. 12, S. 285—90. Das gleiche Interesse an Kolumbus und der amerikanischen Entdeckungsgeschichte findet man seit Anfang der 1830er Jahre in der deutschen Literatur; vgl. Meyer, op. cit., S. 37. 59 ) Einzelheiten bei Slezkin, op. cit., S. 344. Slezkin will diese Veröffentlichung allerdings als Beispiel einer von den Dekabristen lancierten Tendenzliteratur gegen jede Art von Unterdrückung verstanden wissen. eo ) „Negr v nevole" in SO, Nr. X I I I (1820), S. 2 1 9 - 2 0 (übers, von D. Glebov); eine nur unwesentlich abweichende Version des gleichen Werkes wurde wenig später als „ B e d n y j negr" veröffentlicht; SO, Nr. X X (1820), S. 33-5. 61 ) „ 0 luisich svojstvach serdca" (1815); Werke, II, S. 146; vgl. auch den Kommentar von V. I. Saitov, ibid., S. 457t. Batjuskovs dichterische Eingebung verlegt die Tätigkeit des spanischen Bischofs in die Schneewüste Kanadas. Kurz zuvor, um 1810, war Batjuskov mit dem Studium Robertsons beschäftigt, wie ein Brief an N. I. Gnedii zeigt (am 30. 9. 1 8 1 0 ; Werke, I I I , S. 103). 62 ) „Atablibo, ili razrusenie Peruanskoj Imperii. Tragedija s chorami"; Werke (1864ff.), IV, S. 4 7 3 512. Das Stück handelt von der Auseinandersetzung zwischen dem Eroberer Pizarro („Pizar") und seinen Gegenspielern, den „Kaziken, Blutfürsten." *") Aus dem Bereich der volkstümlichen Legende hat die Fiktion einer Begegnung zwischen dem amerikanischen Dichter E . A. Poe und Puschkin bis in seriöse wissenschaftliche Darstellungen Eingang gefunden und sich in dieser Form bis weit ins 20. Jahrhundert erhalten. V. P. Kataev hat sie in seinem Roman „Vremja vpered" (1933) einer seiner Amerikanergestalten, dem vertrottelten, dollarschweren Touristen Mr. R a y Rupp, in den Mund gelegt. Es heißt (Werke [1956t.], I, S. 4 1 1 ) :
„Noch als junger Mann hat Edgar Poe seinerzeit zu Schiff Petersburg besucht. Man sagt, daß er in einer Kneipe Puschkin getroffen habe. Sie haben eine ganze Nacht lang bei einer Flasche Wein geplaudert. Und der große amerikanische Dichter schenkte dem großen russischen Dichter das Sujet zu seinem entzückenden Poem 'Der Eherne Reiter'". Diese Darstellung ist beispielsweise in das „EnciklopediSeskij slovar'" (ed. Brokgauz/Efron, Bd. X L V I I I [1898], S. 830) übernommen worden, wenngleich ohne die Details der Begegnung zwischen Puschkin und Poe. In Wirklichkeit hat der amerikanische Dichter Petersburg niemals besucht, wohl aber sein Bruder William H. L. Poe, der im Jahre 1829 zusammen mit russischen Truppen aus Griechenland in die russische Hauptstadt verschlagen wurde. Dort warf man ihn bald wegen Vagabundierens ins Gefängnis. Der amerikanische Gesandte Middleton konnte ihm schließlich zur Rückreise in die Heimat verhelfen; s. Kiparsky, op. cit., S. 130.
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die russischen R o m a n t i k e r eine schillernde S y m b o l g e s t a l t ihres Geschmacks. D e n B e i n a m e n h a t t e Tolstoj durch die unrühmliche Aussetzung auf einer Aleuteninsel w ä h r e n d der W e l t u m segelung mit dem A d m i r a l Kruzenätern erworben; sein wahrer Ursprung w a r jedoch im L a u f e der J a h r e immer mehr in Vergessenheit geraten. Die russische Gesellschaft der 1820er J a h r e bezeichnete mit dem E p i t h e t o n „ A m e r i k a n e c " v o r allem jenes F l u i d u m v o n ungezügeltem D r a u f g ä n g e r t u m , f ü r das Tolstoj ein so unübertreffliches Beispiel bot. B e r ü h m t e Schriftsteller sind v o n seinem T y p immer wieder gefesselt worden. A u c h auf solche Weise verehrte m a n in A m e r i k a das Ungewöhnliche, Pittoreske, Abenteuerliche 8 4 ). I n seinem K e r n w a r das A m e r i k a b i l d der R o m a n t i k immer wieder auf den K u l t vitaler N a t u r k r ä f t e konzentriert. Die T e n d e n z richtete sich gegen eine ständig zunehmende Materialisierung der L e b e n s f o r m e n und insbesondere gegen die Fesseln der europäischen Zivilisation, die immer stärker empfunden w u r d e n . S y m p t o m e solcher E u r o p a m ü d i g k e i t machten sich damals v o r allem in der deutschen L i t e r a t u r bemerkbar 6 6 ). V o n ihren A u s w i r k u n g e n w u r d e auch R u ß l a n d erfaßt. I n den ekstatischen Dichtungen V . S. Pecerins (1807—1885) fanden sie
• 4 ) Zur abenteuerlichen Lebensgeschichte des „Amerikanec" s. S. L. Tolstoj, „Fedor Tolstoj Amerikanec" (1926). — Graf F. I. Tolstoj (17S2—1846) ist in die Literaturgeschichte vor allem durch seine wiederholten Händel mit Puschkin eingegangen. Puschkins Zareckij („Evgen' Onegin") und Sil'vio („Vystrel") tragen die Züge Tolstojs. In Griboedovs „Gore ot uma" tritt der „Amerikaner" ungenannt als Leiter eines geheimen Zirkels auf, von dem es heißt: „Doch ein Kopf ist unter uns, den es in Rußland nicht noch einmal gibt, Es ist müßig ihn zu nennen, er ist vom Porträt zu erkennen, Der nächtliche Räuber, Duellist, Nach K a m i a t k a war er verbannt, kam als Aleute zurück Und ist ein ganz und gar unsauberer Bursche." (Auftritt des Repetilov; IV, 4; Werke Griboedovs [1953], S. 91) L. N. Tolstoj, ein Großneffe des „Amerikaners", schuf Gestalten aus seinen „ D v a gusara" und „Vojna i m i r " nach dem Bilde dieses Vorfahren. In den literarischen Kreisen der 1820er und 1830er Jahre war F. Tolstoj wohlbekannt. Zu seinen Freunden zählten Vjazemskij und Zukovskij. Vjazemskij widmete ihm das Gedicht „Tolstomu" (1818); in „Stichotvorenija" (1958), S. 1 1 4 („Ein Amerikaner und Zigeuner, auf sittlichem Gebiet ein Rätsel "). 65 ) Sie finden sich unter anderem in frühen Dichtungen Heines, Platens und Lenaus; s. Meyer, op.cit., S. 2Öff., 3 6 s . — Goethe äußerte bereits 1819 im Gespräch mit Freunden, daß er, wäre er zwanzig Jahre jünger, sich noch nach Amerika aufmachen würde (Werke [Artemis], X X I I I , S. 54). Die Idealisierung Amerikas nimmt in Goethes Entwurf des Auswanderstaates („Wilhelm Meisters Wanderjahre") einen bedeutenden Platz ein; vgl. K . J . R . Arndt, „The Harmony Society and Wilhelm Meisters Wanderj a h r e " in CLit X (1958), 3, S. 193-202. In seinem berühmten Gedicht „Den Vereinigten Staaten" (1827) kehren ähnliche Gedanken wieder: „Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent, das alte, Hast keine verfallenen Schlösser Und keine Basalte. Dich stört nicht im Innern, Zu lebendiger Zeit, Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit. ( . . . ) " (Werke, II, S. 405-6) Herzen griff die Verse Goethes wiederholt auf; in seiner Schrift „Vom anderen U f e r " zitiert er die zweite Strophe mit der Bemerkung, daß der Ausspruch sehr gut auf Rußland anwendbar sei ( „ S togo berega" [ 1 8 3 7 5 . ] ; Werke [1954ff.], VI, S. 188); noch einmal paraphrasiert er die gleichen Goethe-Verse in dem späten Artikel „Prolegomena" (i868); Werke, X X , S. 33. E . A. Willkomm verfaßte 1838 eine Programmschrift der deutschen Amerikaenthusiasten mit dem Roman „Die Europamüden. Modernes Lebensbild". In den weitschweifigen Dialogen seiner Hauptpersonen polemisierte Willkomm gegen die abgenutzten Sitten der europäischen Zivilisation.
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einen ausdrucksvollen literarischen Niederschlag 88 ). E i n zentrales Thema bewegt Pecerin in seinen frühen Schöpfungen: das Thema der absterbenden alten Ordnung und der Wiedergeburt einer neuen Welt. Sein mystisches Poem „Triumph des T o d e s " erkennt diese neue Lebenskraft jenseits des Ozeans in der Spur, die Kolumbus einst gewiesen hatte 9 7 ). Manche Äußerungen Pederins zeigen an, daß er sich das Amerika seiner Weltflucht ganz nach den geläufigen Klischees der Romantik als „jungfräuliches" Naturparadies vorstellte 88 ). Die Europamüdigkeit der Romantiker wurde durch unterschiedlichste Motivationen genährt. N . V . Gogol' erwog die Flucht nach Amerika aus trivialem Anlaß, nachdem sein E r s t ling „ H a n s Küchelgarten" im J a h r e 1 8 2 9 von der Kritik vernichtend aufgenommen worden war 6 9 ). V . S. Pecerin suchte in Amerika, nachdem er schon in die westeuropäische Emigration geflohen war, das unbestimmte Ideal einer „christlichen R e p u b l i k " . Sein Enthusiasmus gründete sich noch auf manche der alten demokratischen Leitbilder aus der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung 70 ). Fürst Vjazemskij formulierte seine Sehnsüchte zu einer magischen T r a u m -
**) Zu Pecerin siehe M. O. Gersenzon, „ Z i z n ' PeEerina" ( 1 9 1 0 ) ; A. Saburov, „ I z biografii V. S. PeEerina" in L N , Bd. 41/2 (1941), S. 471 ff.; P. Scheibert, „ V o n Bakunin zu Lenin", I (1956), S. 2 1 - 3 5 , bes. S. 25t. PeEerin, ein heute weithin vergessener russischer Romantiker, war 1835—6 Professor für griechische Philologie an der Moskauer Universität. 1836 emigrierte er für immer nach Westeuropa, konvertierte 1840 zum Katholizismus und trat in den Redemptoristenorden ein. Von 1862 bis zu seinem Tode wirkte er als Kaplan an einem Dubliner Hospital. 1853 traf er in London mit Herzen zusammen, der in seinen Memoiren einen Bericht von dieser Begegnung gibt („Byloe i d u m y " Abschn. „ P a t e r V. Petcherine"; Werke, X I , S. 391 ff.). PeEerins Bedeutung für die Literatur beruht auf einem in der Manier Schillers verfaßten Historiendrama „ V o l ' d e m a r " (1833) und dem Poem „Torzestvo smerti" (1833). 67 ) „Torzestvo smerti"; zit. bei Gersenzon, op. cit., S. 80. In dieser dramatischen Einzelszene des Werkes wird die unerfüllte Liebe einer Gräfin zu einem in ihren Diensten stehenden J ä g e r geschildert. Die Gräfin äußert: „Alle Hindernisse besiegt Die allgewaltige Liebe! Doch wenn im Kampf mit der Welt Ihr der Sieg versagt bleibt, So fliegt sie wie Kolumbus Aus der verfallenden Welt, Und, sich durch den dräuenden Orkan Einen kühnen Weg bahnend, Entdeckt sie eine neue Welt Jenseits des Grabesozeans." Auch im „ V o l ' d e m a r " ist es die Absicht des Helden, die alte Welt einzureißen, um „ a u s dem brodelnden Chaos mit machtvollem Wort eine neue Welt hervorzurufen"; zit. bei Gersenzon, op. cit., S. 7 1 . 68
) Der Gedanke an die „jungfräulichen Wälder Amerikas" überfällt PeEerin einmal, als er auf der Fahrt nach Berlin 1833 bei Memel erstmals das offene Meer erblickt (zit. bei Geräenzon, op. cit., S. 43). 69 ) Siehe V. Setchkareff, „ N . V . Gogol. Leben und Schaffen" (1953), S. 25. 70 ) In seinen autobiographischen „Aufzeichnungen nach dem T o d e " schreibt PeEerin über Jugendträume, die sich auf die Zeit seines Militärdienstes um das J a h r 1825 zurückbeziehen: „ I n England und Amerika nimmt ein junger Mann von 18 Jahren, im Stahlbad der Freiheit frühzeitig gereift, inmitten seiner Mitbürger bereits einen bedeutenden Platz ein. Ist er auch in irgendeinem Kalifornien oder Oregon geboren, so hat er doch alle Stützen der Zivilisation zur Hand. Alle Wege sind ihm offen: Wissenschaften, Kunst, Industrie, Handel, Landwirtschaft und schließlich die Politik mit ihren herrlichen K ä m p f e n und hohen Auszeichnungen — wähle, was dir beliebt, es gibt kein Hindernis! Selbst der untätigste und talentloseste junge Mann muß sich einfach entfalten, wenn die quirlende Aktivität eines ganzen Volkes ihm unaufhörlich zuruft: voran, go ahead! E r beginnt als Holzfäller in seinem kleinen Dorf und endet als Präsident in Washington!" „Zamogil'nye zapiski" (1934), S. 34-5. An gleicher Stelle schildert P. die Illusionen, die ihn um 1837 in Zürich zur Flucht nach Amerika bewogen hätten'(ibid., S. 1 3 0 ; das Ideal einer „christlichen Republik".) Der Mangel an Kapital habe ihn damals gehindert, seine Pläne auszuführen.
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Vorstellung, die die traditionelle Glorifizierung des Unabhängigkeitskampfes mit Schwärmereien über die Naturwelt Amerikas verknüpfte: „Qui n'a tourné les yeux dans ces moments, où la patrie fatigue, vers la république de Washington? Qui ne s'est uni dans la pensée à l'ombre des forêts et des bois de l'Amérique 71 )?" Vjazemskijs Räsonnement gab den weltschmerzlichen Amerika-Illusionen der russischen Romantiker treffende Gestalt. Im Werke Lermontovs ist das gleiche Fluchtmotiv nur wenig später zur leeren Floskel herabgesunken. Durch eine Reise „nach Amerika, Arabien, Indien", gaukelt sich Pecorin, der „Held unserer Zeit", Erlösung von seinem metaphysischen Langeweilegefühl vor 72 ). Das Ende der romantischen Amerika-Sehnsucht zeichnet sich seitdem immer deutlicher ab. 2. D i e W i r k u n g
Chateaubriands
Die Schwärmerei für die nordamerikanische Natur in der romantischen russischen Dichtung muß zu einem wesentlichen Teil als Produkt fremder literarischer Einflüsse angesehen werden. Anregungen gingen namentlich von Schöpfungen des Franzosen François René de Chateaubriand (1768-1848), später von denen des Amerikaners James Fenimore Cooper aus. Im gleichen Zusammenhang ist auch das Werk Washington Irvings von Bedeutung, dessen Name dem russischen Zeitschriftenleser durch zahlreiche Übertragungen seit 1825 zu einem festen Begriff wurde. Chateaubriands Indianerromanzen „ A t a l a " und „ R e n é " , die in den Jahren 1801 und 1802 als Fragmente des Zyklus' „ L e génie du Christianisme" herausgegeben worden waren, riefen in der gesamten europäischen Literatur ein vielstimmiges Echo hervor. Die beiden Dichtungen knüpfen unmittelbar an die reichen Traditionen des französischen Amerika-Schrifttums an 73 ). „ R e n é " erzählt die Geschichte eines zivilisationsüberdrüssigen Europäers, der unter amerikanischen Indianern vergeblich Heilung von seinem Weltschmerz sucht. Die unglückliche Liebe zu einem Indianermädchen trägt zur Tragik seines Schicksals bei. Eine ähnliche Liebesbeziehung zwischen zwei Indianergestalten wird in „ A t a l a " entfaltet 74 ). Chateaubriand hatte es zu seiner Absicht erklärt, ein Epos des Naturmenschen und seiner Sitten zu verfassen 78 ). Diese Konzeption schrieb der Wahl Nordamerikas als Handlungsort eine festumrissene Funktion zu: inmitten der überwältigenden amerikanischen Naturszenerie mußte die Nichtigkeit der Romangestalten viel stärker durchscheinen als in einer vertrauteren Umgebung. Im Einklang mit den Traditionen des sentimentalen Exotismus bot sich daher das Amerika Chateaubriands vor allem als ein großartiges Naturparadies dar. Mit der harmoni71 72
) „Zapisnye knizki", S. 140 (Eintragung unter dem 12. 7. 1831). ) „Geroj nasego vremeni" ( 1 8 3 8 - 9 ) ; Werke (1954ÎÏ.), V I , S. 2 3 2 : , , . . . es ist nur ein Mittel geblieben: das Reisen. Sobald möglich fahre ich ab, nur nicht nach Europa, Gott bewahre! Ich werde nach Amerika, Arabien, Indien fahren, vielleicht komme ich unterwegs irgendwo u m ! "
7S
) Chinard schreibt über die „ A t a l a " („The American Dream", op. cit., S. 203): „ . . . the prose-poem ( ) may be considered not as a révélation of an unknown world, but as a final and perfect expression of the various sorts of exotism which had flourished during the previous three centuries."
• 7 4 ) „ A t a l a " und „ R e n é " waren als Teile eines größeren Epos vorgesehen, das 1827 unter dem Titel „ L e s Natchez" erschien und von der Ausrottung eines in Louisiana ansässigen Indianerstammes durch Europäer handelte. —• Das Amerikabild Chateaubriands und seine einzelnen Entwicklungslinien wurden analysiert durch G. Chinard, „L'exotisme américain dans l'oeuvre de C h . " (1918). 75 ) Vorwort zu „ L e s Natchez": „ . . . je conçus l'idée de faire l'épopée de l'homme de la nature, ou de peindre les moeurs des sauvages, en les liant a quelque événement connu." (Zit. bei Chinard, „Chateaubriand. „ L e s Natchez . . . " in U C P M P V I I [1919], S. 209)
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sehen Lebensweise der indianischen Ureinwohner wurde ein A s y l vorgezeichnet, an d e m der Weltschmerz der E u r o p a m ü d e n wiedergenesen konnte. D e m E x o t i s m u s überkommener P r ä g u n g h a t t e C h a t e a u b r i a n d eine neue künstlerische V e r tiefung verleihen können 7 6 ). Seine Indianerromanzen trugen ihm in ganz E u r o p a einen spontanen literarischen E r f o l g ein. D i e allgemeine Verzückung griff schnell auch auf R u ß l a n d über. Ubersetzungen machten den russischen Leser unverzüglich mit den S c h ö p f u n g e n C h a t e a u briands vertraut 7 7 ). Seit B e g i n n des J a h r h u n d e r t s wurden die J o u r n a l e v o n einer F ü l l e v o n W e r k e n Chateaubriands überschwemmt. A l s Vermittler traten f ü h r e n d e Schriftstellerpersönlichkeiten der Zeit hervor, darunter F ü r s t P . I . Salikov, V . V . I z m a j l o v , N . A . P o l e v o j und M . P . Pogodin 7 8 ). A n d e r e , w i e Z u k o v s k i j , V j a z e m s k i j , A . I . T u r g e n e v und der K r i t i k e r N . I . Grec, wurden darüberhinaus auch persönlich mit C h a t e a u b r a n d bekannt 7 9 ). Chateaubriands W i r k u n g in R u ß l a n d , die hauptsächlich mit den beiden Indianerromanzen verbunden bleibt, erreichte ihren H ö h e p u n k t in der Zeit der V o r r o m a n t i k bis 1 8 1 5 . W i e Z u k o v s k i j schreibt, wurden damals seine Neuerscheinungen gleichsam im F l u g e v o n H a u s zu H a u s getragen 8 0 ). D a n a c h erlosch das Interesse f ü r ihn allmählich, obwohl seine W e r k e noch bis in die 1840er J a h r e hinein zum regelmäßigen B e s t a n d der J o u r n a l e zählten 8 1 ). Äußerungen ,6 ) Gleichzeitig hielt Ch. an manchen Stereotypen des Exotismus, zum Beispiel an der Stilisierung der Indianer, fest. Chinard nennt seine Indianer „des Européens mal déguisés en Peaux-Rouges" „L'exotisme . . . de Chat.", S. 199. 77 ) „Atala, ili ljubov' dvuch dikich v pustyni", M. 1 8 0 1 ; M. 1802; SPb. 1802. „René, ili sledstvie strastej", M. 1803 (Sopikov Nr. 2080-2; Nr. 9735). 7S ) Eine Wirkungsgeschichte Chateaubriands für Rußland war nicht ausfindig zu machen. Zu den Ubersetzungen in den russischen Journalen siehe die verstreuten Angaben in „Russkaja periodiieskaja peCat'", op. cit.; im Anhang (Tl. I I ) zu G. I.Cudakovs erwähntem Werk; I. I. Zamotin, „Romantizm 20-ch godov X I X stol. v russkoj literature" I (1915); V. I. Kulesov, „Literaturnye svjazi Rossii i Zapadnoj Evropy v X I X veke" (1965), S. 385 (Anmerk.). Als erste russische Würdigung Chateaubriands verfaßte Karamzins „Vestnik E v r o p y " im Jahre 1802 eine überschwengliche Rezension des „Génie du Christianisme" ( V E I, Nr. 1 1 , S. 242-4). Der „Vestnik E v r o p y " setzte sich auch in der Folgezeit in besonderem Maße für den französischen Autor ein. Sehr früh erschienen Werke Chateaubriands in der „Utrennjaja z a r j a " ; seit etwa 1805 finden sich Beiträge in allen maßgeblichen Zeitschriften, u.a. in „Zurnal dlja serdca i uma", „Amfion", „Ukrainskij vestnik", „Novosti literatury". 79 ) Zukovskij soll den französischen Autor 1827 in Paris getroffen haben. Über diese Begegnung liegen jedoch keine verläßlichen Zeugnisse vor; M. Ehrhard, „ V . A. Joukovski et le préromantisme russe" (1938), S. 254. — Vjazemskij wurde mit Chateaubriand während eines Paris-Aufenthaltes im Jahre 1839 bekannt; V. S. Neiaeva/S. Durylin, „ P . A. Vjazemskij i Francija", in L N , Bd. 31/2 (1937), S. 77ff., insbes. S. 146. — A. I. Turgenev, der seit 1825 beständig in Westeuropa lebte, traf mit Chateaubriand wiederholt in Paris zusammen. Darüber berichten seine Tagebücher und Briefe; vgl. insbes. „Chronika Russkogo" (Neuausg. 1964). — Greï begegnete dem Franzosen ebenfalls auf einer Europareise und entwarf in Aufzeichnungen dessen Porträt; s. „ P u t e v y e pis'ma iz Anglii, Germanii i Francii", SPb. 1839. 80 ) Vergleich aus einem Brief vom Jahre 1 8 1 7 an A. I. Turgenev; „Pis'ma V. A. Zukovskogo ", S. 175 („ . . . nosit'sja [ . . . ] kak s novoju Satobrianovoju brosjuroju iz domu v dorn"). 81 ) Das Journal „ L e Conservateur Impartial" (SPb. 1813-24) betrachtet den Einfluß Chateaubriands bereits als ein Stück Geschichte (nach Kulesov, op. cit., S. 108): „Anfangs gab es viele Mitteilungen über Chateaubriand und seinen Roman „ A t a l a " ; doch seit 1815 verringerte sich das Interesse für diesen Schriftsteller beträchtlich und verschwand bald gänzlich." 1818 gab N. A. Polevoj sein Debüt als Schriftsteller mit einer Übertragung Chateaubriands im „Vestnik E v r o p y " . M. P. Pogodin zählte zu Beginn der 1820er Jahre zu den begeisterten Verehrern Chateaubriands; siehe N. Barsukov, „Zizn' i trudy M. P. Pogodina" (i888fï.), I, S. 1 1 6 , 140, 154; eine „ R e n é " Übertragung von ihm wurde 1822 im „Vestnik E v r o p y " veröffentlicht. Im gleichen Journal erschien 1823 „ A t a l a " ; den „ R e n é " nahm Pogodin 1827 in seinen „Moskovskij telegraf" auf. Ende der 1840er Jahre erregten noch einmal Chateaubriands „Mémoires d'Outretombe" Aufsehen, die unter dem Titel „Zamogil'nye zapiski Satobriana" gleichzeitig von den „Oteäestvennye zapiski", der „Biblioteka dlja itenija" und dem „Moskvitjanin" abgedruckt wurden (Kulesov, op. cit., S. 24).
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aus dieser späteren Zeit lassen auf eine zunehmend kritische Einstellung schließen. Belinskijs ungnädiges Urteil besiegelte schließlich die A b w e r t u n g Chateaubriands 8 2 ). A u f die Dichter der russischen V o r r o m a n t i k h a t C h a t e a u b r i a n d bedeutenden Einfluß ausgeübt. Seine L e k t ü r e beschäftigte Z u k o v s k i j bereits in frühen J a h r e n . F ü r den „ V e s t n i k E v r o p y " übertrug Z u k o v s k i j zahlreiche Prosastücke des französischen A u t o r s . I h m v e r d a n k e n namentlich seine Naturbeschreibungen wesentliche A n r e g u n g e n ; dagegen ist unter seinen Gedichten lediglich eine Ü b e r t r a g u n g Chateaubriands bekannt 8 3 ). K . N . B a t j u ä k o v s t a n d während der J a h r e 1 8 1 0 - 1 vollkommen im B a n n e Chateaubriands. In B r i e f e n aus dieser Zeit gesteht er seine Besessenheit f ü r den französischen Schriftsteller ein, der seine E i n g e b u n g mit Geistern, Miltonschen D ä m o n e n und anderen P h a n t o m e n erfüllte. Die L e k t ü r e Chateaubriands regte die Phantasie B a t j u ä k o v s zu fieberhafter A k t i v i t ä t an und ließ in ihr die verschiedensten P l ä n e entstehen. D a s P r o j e k t eines „ G e d i c h t e s in P r o s a " mit einem Helden nach A r t des R e n é n a h m zeitweilig reale Gestalt an 84 ). Die Begeisterung B a t juäkovs klingt noch aus manchen späteren Schriften nach, in denen Z i t a t e Chateaubriands verwendet werden 8 5 ). D e r L i t e r a t u r der 1820er J a h r e w a r C h a t e a u b r i a n d weiterhin ein gültiges Vorbild. P u s c h k i n titulierte ihn ehrfurchstvoll als „ e r s t e n Schriftsteller F r a n k r e i c h s " u n d „ e r s t e n Schriftsteller seines Zeitalters und hohen K ü n s t l e r 8 6 ) . " Sein „ O n e g i n " bezeugt, daß zumindest der „ R e n é "
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) M. I. Murav-ev-Apostol bemerkte bereits 1814 zu Chateaubriands „Génie du Christianisme", daß er nicht nur das Ziel dieses Buches, sondern auch seine Titelüberschriften nicht begreife; „Pis'ma iz Moskvy v Niznij-Novgorod", erschienen 1814 im „ S y n Otefestva"; zit. in den Werken Batjuskovs, II, S. 560. — Vjazemskij schrieb am 24. 7. 1819 an A. I. Turgenev: „Natürlich, Chateaubriand ist der schönrednerischste unter den französischen Schriftstellern unserer Zeit, doch seine Stimme überzeugt nicht, da sie nicht vom Gewissen geleitet ist, oder wenn von einem Gewissen, so von keinem reinen, sondern von einem, das von Vorurteilen oder dem Dunst erboster Eigenliebe umnebelt ist." (zit. in „Ost. arch.", I, S. 273) Polevojs „Mosk. telegraf" kritisierte Chat. 1827 w e g e n seines „genialischen Getues" („genial'niîanie") und seines „schwülstigen Stils" (nach Kulesov, op. cit., S. 25). Belinskij schließlich galten die Helden der „ A t a l a " und des „ R e n é " als Abkommen eines fatalen literarischen Leitbildes von „schwächlichen krankhaften Naturen", an deren Anfang Goethes Werther stehe (Werke, I X , S. 685; Rezension vom Jahre 1847). Das Verdikt Belinskijs wurde sicherlich durch eine Abneigung gegen den Politiker Chateaubriand, den „Ritter der Restauration", präjudiziert (Werke, I I , S. 467; Rezension von 1838). S3
) Siehe M. Ehrhard, op. cit., S. 252, 254. Zukovskijs Gedicht „Tarn nebesa i vody j a s n y " (1816) ist eine freie Übersetzung von Worten des Lautrec, des Helden in Chateaubriands „ L e s aventures du dernier des Abencérages". (Werke, I [1959] S. 74-5) 84 ) Batjuskov schrieb an E . G. Puskina im Frühjahr 1 8 1 1 ; Werke, I I I , S. 130: „Schicken Sie noch einen Band dieses verrückten Chateaubriand; ich liebe ihn sehr, besonders in den Nächten, wenn man der Inspiration freien Lauf lassen kann." An N. I. Gnedii schrieb er im August 1 8 1 1 (ibid., S. 135): „ . . . (Chateaubriand) hat mir im vergangenen J a h r die Inspiration verdunkelt mit Geistern, Miltonschen Dämonen, mit der Hölle und Gott weiß womit sonst noch. Seine Hypochondrie hat mein Fieber verstärkt: ( ) ich war schon bereit, ein Poem in Prosa zu schreiben, eine Tragödie in Prosa, Madrigale in Prosa, Epigramme in Prosa, in poetischer Prosa. Lies du Chateaubriand bloß nicht!" 85
) Zum Beispiel in der Abhandlung „ N e i t o o morali, osnovannoj na filosofii i religii" ( 1 8 1 5 ) ; Werke, II, S. 1 4 1 . An anderer Stelle (ibid., S. 347) bemerkte B. zu einem Zitat aus „ R e n é " : „Das kann man alles Wort für Wort Derzavin zuschreiben, diesem großen Genius." — Als Batjuskov 1823 in einem Anfall geistiger Umnachtung seine gesamte Bibliothek verbrannte, verschonte er neben der Bibel allein „ R e n é " und „ A t a l a " ; D. D. Blagoj in der Einführung zu Batjuskovs Werken (1934), S. 1 1 . 86 ) „O Mil'tone i Satobrianovom perevode 'Poterjannogo r a j a ' " (1836); Werke, X I I , S. 137, 380 (Variante). — Den Einfluß auf Puschkin untersuchte A. L. Bern, „ K voprosu o vlijanii Satobriana na Puskina" in „Puskin i ego sovremenniki", X V , SPb. 1 9 1 1 .
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damals noch zu den meistbeachteten Romanen gehörte 8 '). Die Verehrung für Chateaubriand hat Puschkin allerdings nicht davon abhalten können, dessen Manier gelegentlich auch in parodistischer Absicht aufzugreifen 88 ). Einwirkungen Chateaubriands lassen sich auch auf das Werk Lermontovs und Gogol's feststellen89). Der Dekabrist V. K . Küchelbecker beschwor die „wilden, harmonischen Weisen der 'Atala'" als Beispiel einer sublimen Poesie90). Seit den 1830er Jahren, der Spätzeit der Romantik, verlieren sich solche Einflußspuren immer mehr. Indessen blieb der Chataubriandsche Typus des übersättigten, zivilisationsenttäuschten Helden schon unter dem Eindruck der gleichartig veranlagten byronistischen Gestalten weiterhin ein aktuelles Thema der Literatur. Noch in Tolstojs Olenin aus den „Kosaken" hat man einen „authentischen Enkel" des René sehen wollen 91 ). 3. D i e W i r k u n g J . F. C o o p e r s a) Einflüsse in der romantischen Epoche In den 1820er Jahren trat die Bedeutung Chateaubriands als maßgeblichen Mittlers des literarischen Amerikabildes jäh hinter der Autorität eines anderen Schriftstellers zurück: damals erlangten die Indianergeschichten des Amerikaners J . F . C o o p e r (1789-1851) über ganz Europa hin weite Popularität 92 ). Der Erfolg Coopers beruhte zum großen Teil darauf, daß er ein etabliertes literarisches Schema, das Schema des Scottschen historischen Romans, mit neuem Inhalt aufzufüllen verstand 93 ). An die Stelle der geschichtsträchtigen Szenerie des europäischen Mittelalters setzte Cooper die natürliche Farbenfülle der nordamerikanischen Urlandschaft. Statt der historischen Persönlichkeiten Scotts treten in seinen Romanen die ebenso heroischen Gestalten der amerikanischen Pionierbewegung auf: indianische Naturmenschen im steten Kampf mit den weißen „Fronteers", die im Gegensatz zu den passiven Helden byronistischer Prägung, dem Modetyp der Romantik, voll von ungestümem Tatendrang steckten. In zahllosen Abwandlungen hat Cooper diesen dramatischen Konfliktstoff 8 ' ) „ E v g e n ' Onegin", K a p . V I I , Variante zu Strophe X X I I ; Werke, V I , S. 4 3 8 - 9 . Eine Zusammenstellung der modischen Romanliteratur nennt unter anderen Werken den „ R e n é " . Zitate aus dem „ R e n é " verwendete Puschkin zweimal, in „ R o s l a v l e v " ( 1 8 3 1 ) und in einem Brief vom 10. 2. 1 8 3 1 an N . I. Krivcov ; Werke, V I I I , S. 1 5 4 ; bzw. X I V , S. 1 5 1 . 88 ) Hauptsächlich in seiner fragmentarischen Reiseschilderung „Putesestvie v A r z r u m " ( 1 8 3 0 ff.), wo er unter anderem den Chateaubriandschen „Itinéraire" und Motive aus der „ A t a l a " parodierte; vgl. V. L . Komarovii, „ K voprosu o zanre 'Putesestvija v A r z r u m ' " in „Vremennik Puskinskoj komissii", I I I ( 1 9 3 7 ) , S. 3 3 3 f f . Eine parodistische Anspielung auf Chateaubriands sentimentale Naturbeschreibungen enthält auch „ O n e g i n " ; K a p . I V , Str. X X V I ; Werke, V I , S. 84. 88 ) Hauptsächlich Gogol's Erstling „ H a n s Küchelgarten" ist davon betroffen; siehe G. I. Cudakov, op. cit., S. 74, 7 8 ; V. Setchkareff, op. cit., S. 2 3 . —• Zu Lermontov: S. V . Suvalov, „Vlijanija na tvorîestvo Lermontova . . . " ; in „ V e n o k M. J u . L . - u " ( 1 9 1 4 ) , S. 3 2 7 - 9 ; A. Fedorov, „ T v o r ï e s t v o L . - a i zapadnye literatury" in L N , Bd. 43/4 ( 1 9 4 1 ) , S. 196. 80
) In „Poêzija i proza" ( 1 8 3 5 - 6 ) ; in L N , B d . 59, S. 394. ) Chinard, „ L ' A m é r i q u e et le rêve exotique . . . " , S. 4 3 3 . 92 ) 1820 erschien Coopers „ P r é c a u t i o n " ; zu seinem ersten bedeutenden Erfolg wurde der zur Zeit der amerik. Unabhängigkeitsbewegung spielende Roman „ T h e S p y " . 1 8 2 3 und 1828 folgten „ T h e Pilot" und „ T h e Red R o v e r " , Erzählungen aus dem Seefahrermilieu. Höchstes Ansehen sicherte sich Cooper schließlich durch die „Leatherstocking T a l e s " : 91
„ T h e Pioneers" ( 1 8 2 3 ) ; „ T h e Last of the Mohicans" (1826), „ T h e Prairie" ( 1 8 2 7 ) ; „ T h e Pathfmder" (1840); „ T h e Deerslayer" (1841). Über Cooper liegen Monographien von T . R . Lounsbury (1882), J . Grossman (1950), D. A . Ringe ^ 9 6 2 ) vor; zu seiner Wirkung in Deutschland, die bis in die Bezirke des wissenschaftlichen Schrifttums reicht, vgl. Meyer, op. cit., S. 23 ff. M
) E . J . Simmons, op. cit., S. 265 („Cooper had the good fortune to bring to the historical novel a
différent setting and a new type of character.").
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immer wieder neu gestaltet. D a b e i galt sein M i t g e f ü h l den Indianern, deren tragischen U n t e r gang er v o r a u s a h n t e . E r zeichnete sie, indem er „ m i t Mäßigung und R e s e r v e die s y m p a t h i sche Tradition des primitiven M e n s c h e n " fortführte 9 4 ). E i n e bedeutende Neuerung im literarischen A m e r i k a b i l d E u r o p a s gelang Cooper jedoch v o r allem mit der S c h ö p f u n g seiner „ b ü r g e r l i c h e n " Pioniere als V o r k ä m p f e r der Zivilisation und Gegenspieler der primitiven Indianer. Diese Tradition wurde wenig später in den amerikanischen Erzählungen Ch. Sealsfields und G . F . Gerstäckers weiterentwickelt 9 5 ). D u r c h die Faszination, die v o n dem Cooperschen A m e r i k a b i l d ausging, wurde auf dem europäischen K o n t i n e n t j e d e ernsthafte B e s c h ä f t i g u n g mit den Vereinigten S t a a t e n f ü r lange J a h r e zurückgedrängt 9 6 ). Diese Anziehung strahlte f r ü h auch nach R u ß l a n d aus 97 ). D o r t w a r m a n auf das S c h a f f e n des amerikanischen Schriftstellers erstmals 1 8 2 5 durch eine Ü b e r t r a g u n g des „ S p y " a u f m e r k s a m geworden. W ä h r e n d der folgenden J a h r e wurden die meisten N e u erscheinungen Coopers übersetzt und entweder in J o u r n a l e n oder in B u c h a u s g a b e n veröffentlicht 9 8 ). F ü r ihre Propagierung setzten sich namentlich anglophile K r i t i k e r wie Belinskij u n d später A . V . D r u i i n i n ein 99 ). A u f Veranlassung Belinskijs waren u m 1840 hervorragende Persönlichkeiten des literarischen L e b e n s , unter ihnen M. N . K a t k o v , M . A . J a z y k o v , N . Ch. K e t f e r , I . I . V v e d e n s k i j u n d I . I . P a n a e v mit der Übersetzung Coopers befaßt 1 0 0 ). U n t e r den Zeitschriften machten sich v o r allem die „ O t e i e s t v e n n y e z a p i s k i " und S e n k o v s k i j s auflagenstarke „ B i b l i o t e k a dlja ¿ t e n i j a " u m die Vermittlung Coopers verdient. B i s in die Mitte des J a h r h u n d e r t s ist das Interesse der J o u r n a l e f ü r sein W e r k ungebrochen. Anläßlich seines Todes erschienen weitere W ü r d i g u n g e n ; im J a h r 1848 v e r f a ß t e A . V . Druzinin ein literarisches P o r t r ä t des amerikanischen R o m a n c i e r s 1 0 1 ) . 94
) Gonnard, op. cit., S. 108. ) Auch die Werke Sealsfields und Gerstäckers wirkten in Rußland, obwohl bei weitem nicht im gleichen Maße wie die Coopers. Zu einigen Daten russischer Ubersetzungen Gerstäckers s. den Namen des Schriftstellers in „ K r a t k a j a Literaturnaja Enciklopedija", I I (1964), S. 162. m ) T. R . Lounsbury, „ J . F. Cooper", S. 87: „The attitude of the Continent towards America was that of supreme ignorance and indifference." — Eine gewisse Ausnahme bildet, wie L. nachweist, England. "') Auch zur russischen Wirkungsgeschichte Coopers fehlt meines Wissens bisher eine zusammenfassende Darstellung. A m ergiebigsten, wenn auch bei weitem nicht erschöpfend, ist der Kommentar, den M. P. Alekseev anläßlich des Abdrucks einiger Cooper-Briefe an P. A. und M. A. Golicyn zu dieser Frage verfaßt hat (in: „Neizdannye pis'ma inostrannych pisatelej X V I I I — X I X v e k o v " [i960], S. 265 bis 270); außerdem siehe die — leider nur spärlichen —• Angaben von I. Kaskov in der „Literaturnaja Enciklopedija" (19298.), V, S. 742, und von A. N. Nikoljukin in der „ K r a t k a j a Literaturn. E n c . " , I I I , S. 907. Die Veröffentlichungen in den Journalen sind am vollständigsten registriert bei Cudakov, op. cit., S. 136 (Anhang I I ) ; unzureichend sind die Angaben in „Russ. per. p e i a t ' " (s. „Cooper" im Index). 98 ) „ Spion", M. 1825 (übers, von I. Krupennikov). Sehr zahlreich sind die Übersetzungen, die Polevojs „Moskovskij telegraf" aufnahm. In ihm erschienen 1825 der„Spion", 1831 eine ganze Serie von Werken Coopers (darunter „Pionery", „ S t e p i " , „Amerikanskij puritanin") und 1833 der „Poslednij iz mogikan". " ) Das geistige und literarische Leben in Rußland der 1820er Jahre stand, wie schon zur Zeit Katharinas, im Zeichen einer Welle der Anglomanie; vgl. Simmons, op. cit., S. 237 ff. Durch sie ist zweifellos das Interesse für Cooper und für W. Irving bestärkt worden. 10 °) Das Werk eines Kollektivs (Katkov, Panaev, Jazykov) war eine vielbeachtete Herausgabe des „Pathfinder" unter dem Titel „PutevoditeF v pustyni, ili Ozero-more" in OZ, 1840, X I - X I I , Nr. 7-8, Abschn. 3. Panaev berichtet in seinen Memoiren („Literaturnye vospominanija" [1950], S. 255) über die näheren Umstände der Übersetzung. Nach seiner Darstellung hat Katkov zunächst die beiden ersten Teile des Werkes aus dem englischen Original, er selbst jedoch den Schluß teil aus der französischen Version („Le lac Ontario") übertragen. 101 ) Erschienen im „ Sovremennik", Nr. 7 (30. 4. 1848), I I I , S. 1-20. In der gleichen Zeitschrift wurde 1851 ein ebenfalls von Druzinin verfaßter „biographischer Abriß" zum Tode Coopers publiziert (Nr. 1 1 , IV, S. 42—6). 1853 rezensierte Druzinin im „Sovremennik" die russische Ausgabe des Cooperschen Seefahrerromans „Morskie l ' v y , ili korablekruäenie ochotnikov za tjulenjami"; siehe V. Bograd, „ 2 u r n a l 'Sovremennik' 1847-1866" (1959), Nr. 554, 1679, 2317. 95
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Auf die Lektüre Coopers weisen spätestens seit 1 8 2 6 die Zeugnisse von Zeitgenossen 102 ). Innerhalb weniger J a h r e zählte sein N a m e zu den meistgelesenen Autoren der Epoche. In einer „ R o m a n m a s k e r a d e " des Bühnenschriftstellers A . A . Sachovskoj v o m J a h r e 1 8 2 9 defilieren der „ S p i o n " und der „ L e t z t e Mohikaner" neben den Verkleidungen der übrigen Modeliteratur 103 ). Anspielungen auf Cooper gehörten damals schon zum Gemeingut literarischer Gesellschaften 104 ). Neben Scott wurde Cooper um 1 8 3 0 bereits ein Platz unter den Klassikern der Romankunst zugebilligt. W i e viele andere seiner Zeitgenossen hat damals Puschkin die Novitäten des amerikanischen Schriftstellers mit Spannung erwartet, ohne daß ihm allerdings die Lektüre Coopers mehr als triviale Unterhaltung bedeutet hätte 1 0 5 ). Der Vergleich mit Scott fiel für ihn noch eindeutig zugunsten des englischen Romanciers aus; Cooper dagegen konnte ihm höchstens Anregungen zu parodistischen Abschweifungen vermitteln 1 0 4 ). Die Mehrzahl der zeitgenössischen Schriftsteller brachte dem Werke Coopers indessen mehr Anerkennung entgegen als Puschkin. Sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht wurde der amerikanische Autor als Vorbild herangezogen. Lermontov, der schon dem Reiz der rührseligen Indianerromanzen Chateaubriands erlegen war, faßte unter dem Eindruck der Lektüre Coopers den Plan zu einer weitgespannten Trilogie aus dem russischen Leben 1 0 7 ). Im Urteil der russischen Kritik rückte Cooper sehr bald zu absoluter Geltung auf. Seit A n fang der 1830er J a h r e ging man häufig dazu über, die literarischen Produktionen aus dem eigenen L a n d e an seiner Romankunst zu messen. Die Zusammenstellung mit Scott, von A . I.
102 ) Beljaev berichtet in seinen Erinnerungen, daß er und seine mitgefangenen Kameraden nach der Verurteilung in der Peter-und-Pauls-Festung „viele Romane W. Scotts und Coopers auf Französisch" lasen („Vospominanija", op. cit., S. 516). Später, während der Verbannung im sibirischen Cita, übersetzte Beljaev zusammen mit seinem Bruder Werke Coopers, um sich in der englischen Sprache zu üben (ibid., S. 8 1 1 ) . 103 ) „ E 5 £ e Merkurij, ili romannyj maskarad. Prazdnik-vodevil'" (1829); in „Komedii i stichotvorenija" ( 1 9 6 1 ) S. 173 ff. 104 ) Im Tagebuch der Anna A. Olenina wird Puschkin einmal als „ R e d R o v e r " typisiert, nach dem Helden des gleichnamigen Cooperschen Romans, den im J a h r e 1828 zahlreiche Journalrezensionen besprochen hatten; vgl. T. G. Cjavlovskaja, „ D n e v n i k Oleninoj" in „Puäkin. Issl. i m a t . " , I I (1958), S. 267. 105 ) Eine dreizehnbändige französische Cooper-Ausgabe befand sich in Puschkins Bibliothek. Seine Beschäftigung mit Cooper fällt in das J a h r 1830. In einer autobiographischen Skizze seines alltäglichen Junggesellenlebens notierte er damals („U£ast' moja reSena. J a J e n j u s ' " [1830], Werke, V I I I , S. 407):
„ ich esse im Restaurant, wo ich entweder einen neuen Roman oder die Journale lese; doch wenn W. Scott oder Cooper nichts geschrieben haben und in den Zeitungen kein neuer Kapitalprozess ist, bestelle ich eine Flasche eisgekühlten Champagner . . . " loe ) In einer Variante zu Puschkins Abhandlung über Zagoskins „ J u r i j Miloslavskij, ili Russkie v 1 6 1 2 godu" (1830) heißt es (Wke., X I , S. 363):
„ W . Scott hat eine ganze Legion von Nachahmern nach sich gezogen. Aber wie weit blieben sie doch alle, außer Cooper und Manzoni, hinter dem schottischen Zauberer zurückl" In der Originalfassung (ibid., S. 92) ließ P . die namentliche Einschränkung fort. — Eine Parodie auf Cooper findet sich wiederum im „Puteäestvie v A r z r u m " : „Wenn ich auf die Manöver der Kutscher sah, so parodierte ich aus Langeweile den Amerikaner Cooper in seinen Beschreibungen von Meeresbewegungen." (op. cit., S. 1002—3; Variante) 107 ) Diese Darstellung gibt Belinskij 1841 in seiner Rezension des „Helden unserer Zeit". Dort schreibt er über Lermontov (Werke Belinskis, V, S. 455):
„ . . . er selbst sagte uns, daß er eine Romantrilogie zu schreiben beabsichtige; drei Romane aus drei Epochen des Lebens der russischen Gesellschaft (der Zeit Katharinas I I . , Alexanders I. und der gegenwärtigen Epoche), die untereinander Verbindung und eine gewisse Einheit hätten, nach dem Vorbild der Cooperschen Trilogie."
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Herzen als „alter ego" des Amerikaners charakterisiert 108 ), entwickelte sich zu einer Konvention. Hier kopierte die russische Literaturkritik einen Brauch, der auch im übrigen Europa grassierte 109 ). 1830 stellte ein Artikel des „Atenej" Coopers Namen bereits gleichberechtigt neben den Scotts 110 ). Ein Rezensent der „Severnaja pcela" äußerte 1833 die Ansicht, daß sich BestuzevMarlinskij zu einem „glücklichen und gefährlichen Kontrahenten" für Cooper entwickelt habe 1 1 1 ). V. K . Küchelbecker, der sich von der Kunst des „herrlichen Malers" Coopers unwillkürlich mitgerissen fühlte, machte seine Kritik eines neuerschienenen Romans Laiecnikovs ebenfalls vom Vorbild des amerikanischen Schriftstellers abhängig 112 ). Vergleiche solchen Inhalts sind im Schrifttum der 1830er Jahre überaus geläufig 113 ). Daß sich Cooper schließlich gegenüber seinem englischen Konkurrenten als Autorität durchsetzen konnte, verdankte er der Parteinahme des einflußreichen Kritikers V. G. Belinskij. Seit frühen Jahren zählte Belinskij zu den eifrigsten Konsumenten der Cooperschen Romane. Er maß ihnen universelle Bedeutung bei; für ihre Lektüre, in der er einen hohen erzieherischen Wert pries, warb er unermüdlich unter allen Leserkreisen 114 ). Über Belinskijs kritische Aufsätze aus den 1830er und 1840er Jahren sind eine Fülle von Kommentaren zum Werk des amerikanischen Schriftstellers verstreut, die anschaulich beweisen, daß ihr Autor für Romantik nach der Manier Coopers in hohem Maße anfällig war. Seine Äußerungen zeugen von einer fast gläubigen Bewunderung. Belinskij scheint in ihnen weniger um kritisches Abwägen bemüht als um den Ausdruck seines subjektiven Gefühlsüberschwanges, der ihn bei der Lektüre Coopers stets ergriff. Kein noch so mittelmäßiges Werk konnte seinem Glauben an die künstlerische Aussagekraft dieses „großen Meisters" 116 ) Abbruch tun. Selbst bald vergessene literarische Routineübungen Coopers wurden von ihm eingehender Besprechungen für wert erachtet 116 ). Seine Begeisterung erreichte ihren Kulminationspunkt, los ) Herzen schreibt in seinem Artikel „ G o f m a n " (1833—4), einer seiner ersten literarischen Arbeiten (Werke, I, S. 69):
„ W a l t e r Scott hat einen Doppelgänger ( . . . ) das ist Cooper, sein 'alter ego' — ein Romancier der Vereinigten Staaten, dieses 'alter ego' Englands. Die amerikanische Repetition W . Scotts ist ihm völlig ähnlich; bisweilen ist er interessanter als sein Prototyp, da Amerika bisweilen interessanter als Schottland i s t . " 109
) T . R . Lounsbury, op. cit., S. 5 8 - 9 .
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) „ A t e n e j " , Nr. 1 ; in einer Rezension über Zagoskins „ J u r i j Miloslavskij"; nach I. I. Zamotin, op cit., I I , S. 306. ul ) „Severnaja p£ela", Nr. 39; Coopers Name wird hier zusammen mit dem des Franzosen. E . Sue genannt; nach Zamotin, I I , S. 270. 112 ) „Dnevnik V . K . Kjuchel'bekera" (1929), S. 1 7 5 . Diese Stelle enthält kritische Gedanken zu L a i e i nikovs „Poslednij n o v i k " (1831—2), der schon im Titel Anklänge an den „Letzten Mohikaner" verrät, sich jedoch in der Thematik vor allem an Coopers „ S p y " anlehnt (vgl. D. D. Blagoj im Kommentar zu „Poslednij novik", M. 1962, S. 605). Küchelbecker beschäftigte sich im J a h r e 1 8 3 4 eingehend mit dem W e r k des amerikanischen Romanciers; über sein Urteil geben Tagebuchnotizen aus jener Zeit A u f schluß. In seine Äußerungen mischt sich bereits Kritik, die der stereotypen Charakterzeichnung der Cooperschen Gestalten gilt („Dnevnik . . . " , op. cit., S. 191—3). 113) Weitere Beispiele bei M. P. Alekseev, op. cit., S. 2 6 5 - 6 (Fußn.). 114
) Siehe die Rezension „ O detskich knigach" (1840); Wke., I V , S. 98: „ J u n g e Leute sollten ausnahmslos alle Romane W . Scotts und Coopers lesen, die ( . . . ) auf die Jugend zweifellos erzieherisch wirken müssen, wenn sie auch gleichermaßen für die Erwachsenen und das reife Alter da sind."
A n anderer Stelle empfahl Belinskij, Kindern von zwölf Jahren an die Lektüre Coopers und Scotts zugänglich zu machen, wenn sich in ihnen das Bedürfnis rege, die Phantasie nicht mehr nur durch Spielzeuge zu beschäftigen (Rezension des Jahres 1 8 4 5 ; Werke, I X , S. 4 1 8 ) . 116
) Wke., I I I , S. 160 (1839).
ll6
) 1 8 3 9 besprach B . wohlwollend das Coopersche Werk „ B r a v o , ili Venecianskij bandit" (Wke., I I I ,
S. 158 ff).
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als 1840 eine von ihm angeregte russische Übersetzung des „Pathfinder" erschien, die er in Rezensionen als epochales literarisches Ereignis feierte 1 1 7 ). Damals schickte er sich gerade an, ein großangelegtes Projekt zur Herausgabe des Gesamtwerkes Coopers in russischer Sprache zu realisieren 118 ). Belinskijs Eintreten für Cooper streifte zuweilen die Grenzen der Idolatrie. Auf der Suche nach einer treffenden Einschätzung des amerikanischen Autors stellte er diesen unbedenklich mit weltliterarischen Größen vom Range Dantes, Shakespeares, Goethes, Cervantes' oder Gogol's zusammen 119 ). Seinem Freunde Ketcer empfahl er, sich bei der Ubersetzung von Shakespeares Dramen der Sprache des „Pathfinder" zu befleißigen 120 ). Beim Vergleich der beiden „ewigen künstlerischen Giganten" Cooper und Scott neigte sich die Gunst seines Urteils immer unverkennbarer dem amerikanischen Schriftsteller zu. Den Ausschlag gab ein Rencontre mit Lermontov. In der enthusiastischen Wertschätzung Coopers zuungunsten Scotts fanden diese beiden entgegengesetzten Naturen ein verbindendes Gesprächsthema 1 2 1 ). Demgegenüber ließen Belinskij reserviertere Urteile, wie das des Dichters A . V . Kol'cov, unberührt 122 ). In Cooper sah Belinskij die Erfüllung seines künstlerischen Ideals, den Schöpfer eines neuen originellen Erzähltypus' „amerikanischer Steppenromane 1 2 3 )". Hier war für ihn ein Gipfel wahrer Romankunst erreicht, die den Menschen in der komplexen Welt seiner Beziehungen darstellte. Das Erfassen der Natur als gewaltigster K r a f t in diesem Gewebe von Beziehungen betrachtete Belinskij als die einzigartige Leistung des amerikanischen Schriftstellers. Das Coopersche Nordamerika erschien ihm als eine Widerspiegelung seines eigenen Naturbegriffs 1 2 4 ). n? ) Belinskijs Artikel über den „Putevoditel' v pustyni, ili Ozero-more" überbietet sich in wortgewaltigen Superlativen:
„ . . . unter allen bekannten Romanen wird man kaum eine Schöpfung finden, die sich durch solche Gedankentiefe, kühne Planung, Lebensfülle und Geniereife auszeichnete!" (Wke., IV, S. 459) 118 ) Diese Projekt zerschlug sich später. In einem Brief an A. A. Kraevskij schreibt Belinskij am 24. 8. 1839, daß er in Moskau eine Gesellschaft gründen wolle, um eine Bibliothek aller bedeutenden ausländischen Romane herauszugeben. Zuerst sollten aus dem Englischen Scott und Cooper übersetzt werden, „vom ersten bis zum letzten Roman, alle — sowohl die übersetzten als auch die nicht übersetzten." (Wke., XI, S. 375) 119 ) U.a. in einer Rezension zu Gogols „Toten Seelen" im Jahre 1842; Wke., VI, S. 256. Auch die Epigonen Coopers fanden Gnade vor Belinskijs Augen. In einer Rezension des Jahres 1845 bedenkt er den ins Russische übersetzten Roman „Amerikancy" des deutschen Autors R. Wesselhöft mit wohlwollender Kritik. Allerdings ordnet er diese Schöpfung in künstlerischer Hinsicht weit unter Cooper ein (Wke., IX, S. 398). Der Fürsprache Belinskijs wird es sicherlich zuzuschreiben sein, daß die Amerikaberichte Wesselhöfts damals in die „Oteiestvennye zapiski" aufgenommen wurden; z.B. „Semejnaja iizn' v Soedinennych Statach" (OZ X X I X [1843], S. 74); „Nravy, oby£ai i ponjatija v SeveroAmerikanskich Soedinennych Statach" (OZ X L [1845], S. 80-91). uo ) Wke., XI, S. 35. Vgl. auch die Renzension des „Pathfinder", wo Belinskij darauf verweist, daß viele Szenen dieses Romans jedem beliebigen Drama Shakespeares zur Ehre gereichen würden; Wke., IV, S. 459. 121 ) Wke., III, S. 7 („ew. künstl. Giganten"; 1839). Über die Begegnung mit Lermontov berichtet ein Brief Belinskijs an Botkin vom 16. 4. 1840 (Wke., XI, S. 509): „Ich war von Herzen froh, als er mir sagte, daß Cooper höher stehe als W. Scott, daß in seinen Romanen mehr Tiefe und künstlerische Ganzheit sei. Ich habe das schon lange gemeint und traf den ersten Menschen, der genauso dachte." Einen nur leicht abweichenden Bericht über die gleiche Begegnung gibt I. I. Panaev in den Worten Belinskijs; „Literaturnye vospominanija", op. cit., S. 136f. Werke Kol'covs (1909), S. 213. Nach der Lektüre Coopers schrieb K. an Belinskij am 28. 4. 1840: „Auch Cooper ist genial, doch er ist kein Walter Scott." 123 ) Wke., III, S. 158 (1839). 124 1 ) 8 3 5 schreibt er in einem Artikel (Wke., III, S. 135): „Die Kunst ist die Darstellung der Erscheinungswelt des Lebens; dieses Leben manifestiert sich nicht allein in der Menschheit, sondern auch in der Natur; daher können auch die Erscheinungen der Natur Gegenstand eines Romans sein. Doch inmitten ihrer Bilder muß der Mensch unbedingt einen Platz einnehmen. Das höchste Beispiel hierfür ist Cooper . . . "
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Bei diesem Urteil verharrte Belinskij allerdings nicht immer konsequent. Es gab auch Momente, zu denen ihm Zweifel über die künstlerische Kompetenz Coopers kamen. Vor allem die fehlende sozialkritische Tendenz in dessen Werk wies auf einen bedenklichen Mangel 126 ). Dennoch wollte Belinskij das Werk Coopers als eine gültige Selbstinterpretation der Vereinigten Staaten aufgefaßt wissen. Seine Kritik unternahm verschiedene Ansätze, in den Cooperschen Schilderungen die „noch ungeformte Staatlichkeit" Nordamerikas zu identifizieren186). Er selbst wiegte sich in dem Glauben, daraus „die Elemente der nordamerikanischen Gesellschaft vollauf verstehen" zu können 127 ). Allerdings hat es Belinskij stets versäumt, diese soziale Funktion des Cooperschen Werkes näher zu definieren. Belinskijs Fürsprache hat entscheidend dazu beigetragen, das Coopersche Amerikabild in Rußland zu popularisieren. Viele der späterhin unausrottbaren Gemeinplätze über Nordamerika sind auf das Wirken dieses Kritikers zurückzuverfolgen. Er vor allem suggerierte seinen Zeitgenossen immer wieder das Bild von der symbolhaften „Jungfräulichkeit" der amerikanischen Natur, indem er aus den Beschreibungen Coopers das Konzentrat einer reichen urweltlichen Landschaft destillierte: „Große Originalität verleiht dem Genie Coopers noch, daß Cooper Bürger eines jungen Staates ist, der auf junger Erde entstanden ist und unserer alten Welt nicht im geringsten ähnelt. Infolgedessen liegt auf den Schöpfungen Coopers in gewissem Maße ein besonderes Gepräge: beim Gedanken an sie wird man sogleich in die jungfräulichen Wälder Amerikas versetzt, in diese unermeßlichen Steppen, ( . . . ) auf denen Bisonherden umherstreifen und sich die rothäutigen Kinder des Großen Geistes verbergen, die einen unversöhnlichen Streit unter sich und mit den übermächtigen Bleichgesichtern austragen 188 )." b) Die spätere Wirkung Coopers Uber die Jahrhundertmitte hinaus zählten die Romane Coopers zur Standardlektüre aller literarisch Interessierten. Äußerungen Dobroljubovs und ternyäevskijs aus den 1850er Jahren lassen zwar darauf schließen, daß die Attraktion des amerikanischen Romanciers damals hinter aktuelleren literarischen Ereignissen zurücktrat 129 ); diese Zurücksetzung war jedoch nur temporär. Wenn Cooper um die Jahrhundertwende von A. Veselovskij gar als „vergessener" Autor eingestuft wird, so ist dem nur mit Vorbehalt zuzustimmen. 130 ) In derartigen Klassifizierungen spiegelt sich die auch außerhalb Rußlands feststellbare Praxis, das Werk Coopers als Jugendlektüre abzuwerten und demgemäß in der seriösen literarischen Kritik zu übergehen.
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) Siehe „Razdelenie poizii na rody i v i d y " ( 1 8 4 1 ) ; Wke., V , S. 2 5 : „ . . . es gibt (bei Cooper und Scott) einen bedeutenden Mangel ( . . . ) > das ist das entschiedene Uberwiegen des epischen Elements und das Fehlen eines inneren, subjektiven Prinzips. Infolgedessen erscheinen die beiden großen Schöpfer in Bezug auf ihre Werke wie irgendwelche kühlen unpersönlichen Wesen, für die alles so gut ist, wie es ist, deren Herzschlag sich anscheinend nicht beschleunigt, sei es beim Anblick von Gutem oder Bösem, von Schönheit oder Häßlichkeit."
129
) ,,Re£' 0 kritike" ( 1 8 4 2 ) ; Wke., V I , S. 278. ) A m 16. 8. 1 8 3 7 an Bakunin; Werke, I X , S. 167. Belinskij gibt hier an, er habe zum besseren Verständnis der Vereinigten Staaten eine Fülle von Romanen, darunter einige von Cooper, zurategezogen. 128 ) „Pathfinder"-Rezension ( 1 8 4 1 ) ; Wke., I V , S. 458. Fast identische Amerikabilder wiederholt B. in mehreren anderen Artikeln; siehe Wke., I, S. 1 3 5 ( 1 8 3 5 ) ; I I I , S. 1 5 8 - 9 (1839); X , S. 106 (1847). 129 ) Cernysevskijs „Oierki gogolevskogo perioda russkoj literatury" (1856) sprechen davon, daß „die historischen Romane Scotts, die ethnographischen Romane Coopers und die fashionablen Erzeugnisse Bulwers" durch die Dickensschen Romane abgelöst worden seien (Wke., I I I , S. 181—2). — Dobroljubov bemerkt in einer Rezension des Jahres 1859, daß „die Romane Coopers, dann die Gerstäckers, bei uns früher einmal in Mode w a r e n " ; Werke (1876), I I , S. 489. 13 °) A . Veselovskij, „Zapadnoe vlijanie v novoj russkoj literature" (1906; 3. Aufl.), S. 2 2 3 . 127
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Cooper war jedoch nur scheinbar vergessen. Sein Vorbild wirkte in der russischen Literatur auch während der zweiten Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts noch lange fort 1 3 1 ). Die „amerikanischen Steppenromane", wie sie von Belinskij getauft worden waren, wurden weiterhin als eine festumrissene literarische Kategorie empfunden 1 3 2 ). Als G. P. Danilevskij ( 1 8 2 9 - 1 8 9 0 ) in den 1860er Jahren eine Trilogie halbethnographischer Romane verfaßte, in denen das ungebundene Leben russischer Steppenbewohner beschrieben war, wurde dem Autor von der Kritik sogleich der Spitzname „russischer Cooper" angetragen 1 3 3 ). Die Nachfrage nach solchem Lesestoff war unverändert groß. Namentlich für die breiteren Volksschichten blieb die Lektüre der „Lederstrumpf'-Geschichten Coopers eine Hauptinformationsquelle über Amerika; sie mußte den russischen Leser weiterhin dazu verleiten, sich die Neue W e l t mit allen Farben der Phantasie als Naturparadies auszumalen 134 ). D a s Weiterwirken Cooperscher Einflüsse wird auch in der Ableitung bestimmter literarischer Schablonen spürbar. Der „ P a t h f i n d e r " w a r im russischen Schrifttum bald als ein feststehender T y p geläufig 1 3 5 ). Ebenso ging der „ L e t z t e Mohikaner" in ein geflügeltes W o r t über, das zur Kennzeichnung eines Aussterbeprozesses schlechthin herangezogen wurde 1 3 8 ). A u c h solche Prägungen zeigten an, daß die Auseinandersetzung mit dem Amerikabild Coopers fortdauerte.
U1 ) Beispielsweise fanden Coopers Seefahrergeschichten zum Ende des Jahrhunderts eine russische Nachfolge in K. M. Stanjukoviis populären „morskie rasskazy". In ihnen tauchen Gestalten auf, die als „Cooperscher Seewolf" typisiert sind (in „Vokrug sveta na'Koräune'" [1895]; Werke [1958t.], II, S. 332)132 ) Herzen nannte später die Chronik S. Aksakovs „einen richtigen Roman Coopers", insofern als in ihr die russische Kolonisationsarbeit in Sibirien dargestellt werde („Lettera a G. Mazzini . . . " (1857); Werke, XII, S. 350). lss ) Die Trilogie, bestehend aus den Partien „Beglye v Novorossii", „Beglye vorotilis'" und„Novye mesta", erschien unter dem Pseudonym A. Skavronskij in den Jahren 1862—3. „Russkij Kuper" wurde Danilevskij zum Beispiel 1864 von E. F. Zarin in einer Rezension der OZ getauft; siehe Muratova, „Istorija russkoj literatury X I X veka. Bibliografiieskij ukazatel'" (1962), Nr. 6110. Später setzte sich dieser Beiname allgemein durch. Er wurde von S. Vengerov mit dem Hinweis auf die „romantische Färbung" der Kunst Danilevskijs ausdrücklich verteidigt; vgl. den Artikel im „Enc. Slovar'" (ed. Brokgauz/Efron); X (1893), S. 76. 134 ) Aus den Erinnerungen Korolenkos ist bezeugt, daß die Romane Coopers noch um 1870 zum gängigsten Bestand ukrainischer Straßenbuchhändler gehörten; s. seine autobiogr. Erzählung „Moe pervoe znakomstvo s Dikkensom" (1912); Werke (1953ff.), V, S. 365. — Der spätere Diplomat Baron R. Rosen schrieb über seine Kindheit im Rußland der 1850er Jahre („Twenty Years of Diplomacy", S. 67): „Fed as a boy very much on Fenimore Cooper's delightful stories, it had then already been my favourite dream of finding myself one day in the wondrous land that had been the home of the 'Leatherstocking', of his friend the 'Big Serpent' and of the 'Last of the Mohicans'". 135 ) „Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Cooperschen Pathfinder" wollte Cernysevskij an seinem Bekannten A. K. Serebrjakov feststellen („Teorija i praktika" [1848]; Werke, XI, S. 642). — Herzen gab in seinem Memoirenwerk „Byloe i dumy" eine Charakteristik Ketiers, die sich aus verschiedenen Elementen literarischer Typen zusammensetzte, darunter auch „einer Beimischung des Pathfinder und des Robinson" (Wke., VIII, S. 360). — Den „Pathfinder"bemühte auch I. S. Turgenev zur Skizzierung einer Gestalt in seinen „Otcy i deti" (1861); Werke (1960ff.), VIII, S. 260. 186 ) Siehe die Definition in „Krylatye slova" von N. S. Asukin/M. G. Asukina (i960, 2. Aufl.), S. 485, unter dem Stichwort „Poslednij iz mogikan": „Letzter Vertreter von irgend etwas — einer gesellschaftlichen Gruppe, Generation, einer absterbenden sozialen Erscheinung." Herzen verglich Ketier in dem erwähnten Passus (wie Anm. 135) ebenfalls mit dem „Letzten Mohikaner". Sein Artikel „Francija ili Anglija" (1858) spielt in übertragener Bedeutung auf die „Letzten Mohikaner" an (Wke., XIII, S. 250). In einem Versöhnungsbrief an I. A. Gonäarov vom 14. 3. 1864 äußert I. S. Turgenev in vertraulichem Tone: „Wir beide sind doch auch ein bißchen letzte Mohikaner" (Wke.
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Für den Bereich der Literaturkritik hatte Belinskijs Urteil über Cooper einen Maßstab gesetzt, der für viele Nachfolger verbindlich blieb. Die Ausstrahlungen lassen sich auf verschiedene Strömungen des Geisteslebens nachweisen. Sogar ein profilierter Vertreter des liberalen Westlertums wie T . N . Granovskij führte seine kritische Auseinandersetzung mit Amerika ganz und gar im Zeichen der von Cooper vermittelten Vorstellungen. Das Ergebnis war, wie schon im Falle Belinskijs, ein „unvollständiger subjektiver Eindruck 1 3 7 )". Auch im Amerikabild des Schriftstellers und Soziologen K . N . Michajlovskij, der sich zum Ende des 19. J a h r hunderts in kenntnisreicher Weise mit den Entwicklungen der Vereinigten Staaten befaßte, nahmen die „Helden der Wüsten und jungfräulichen Wälder Coopers" noch einen hervorragenden Platz ein 138 ). In besonderem Maße wirkte das Erbe Belinskijs auf die radikale Richtung des russischen Denkens. Nach seinem Vorbild machte sich N . G. CernySevskij in den 1850er Jahren daran, den sozialen Stellenwert der Cooperschen Romane am Kriterium eines ästhetischen Realismus' neu zu bestimmen. E r erkannte ihren Nutzen darin, daß sie mehr als ethnographische Erzählungen oder Erwägungen zur Lebensweise der Wilden dazu beigetragen hätten, die Gesellschaft mit dem Leben der Indianerstämme bekanntzumachen 139 ). Ähnlich urteilte noch M. Gor'kij in einer 1923 verfaßten neuerlichen Würdigung, die das Coopersche Werk in der Linie Belinskijs als traditionelles erzieherisches Ideal der revolutionären russischen Bewegung rühmte 140 ). Gor'kijs Äußerung läßt es verständlich erscheinen, daß man Spuren des Cooperschen A m e rikabildes auch in der neueren Sowjetliteratur begegnet 141 ). Besonders handgreiflich werden Turgenevs, X I X [1963]; S. 239). Das gleiche Bild verwendet Turgenev zuvor im Epilog des „ R u d i n " (1855) anläßlich eines Gesprächs zwischen Rudin und Leinev (Wke., I I [1954], S. 136: „ E s sind unserer doch nur wenige übrig, Bruder; wir beide sind doch letzte Mohikaner."). A. K . Tolstoj stellt in einem Brief an B. M. Markevii vom 5. 12. 1873 den letzten Mohikanern in einer neuen Wortschöpfung „letzte Huronen" gegenüber (Wke. [1963 f.], IV, S. 418). Zu weiteren Beispielen aus der Literatur vgl. die Hinweise in „ K r y l a t y e slova", op. cit., S. 485, und in „Slovar' sovremennogo russkogo literaturnogo j a z y k a " (19503.), V I , S. 1 1 2 1 . — Auch Coopers Titelschablone fand weitere Verwendung. 1859 verfaßte P. V. Sumacher eine Zeitsatire mit dem Titel „Poslednij iz mogikan", der ohne ersichtlichen thematischen Zusammenhang von Cooper entlehnt war („Stichotvorenija i satiry" [1937], S. 45f.). A. Fadeev schrieb 1930-41 über einen sibirischen Volksstamm die Erzählung „Poslednij iz u d i g e " (nach Kiparsky, op. cit., S. 156). 1S7 ) D. Hecht, „Granovskij and American L i f e " in A S E E R I X (1950), S. 103. 188 ) D. Hecht, „Mikhajlovskij and the United States" in H S S I V (1957), S. 265. 11B ) „Esteti£eskie otnoäenija iskusstva k dejstvitel'nosti" (1853); Werke, I I , S. 85 — Die Lektüre Coopers rief bei Cernysevskij zunächst Verdrossenheit hervor. Seine Tagebuchaufzeichnungen vermerken zum 3 1 . 10. 1848 (Wke., I, S. 160): „ . . . ich las . . . Coopers 'Letzten Mohikaner'. Das ist alles gut, wenn man so will, doch darin ist nichts, keine Charaktere, das heißt Typen, nichts; nur Sonderlinge und Helden in verschiedener Ausstattung. Nichts erinnert an Gogol', und man kann es nur einmal lesen." 14
°) „Predislovie k knige Kupera 'Sledopyt'" (1923); Werke (1949ff.), X X I V , S. 225, 227: „Die Romane Coopers haben bis zum heutigen Tag nicht an Interesse verloren als wahrhaftige und schön ausgestattete Bilder zur Geschichte der Besiedlung der Nordamerikanischen Staaten ( . . . ) . Der erzieherische Wert der Bücher Coopers ist unzweifelhaft. ( . . . ) Wir stoßen häufig auf Hinweise, daß die Bücher Coopers ihnen (d.h. russischen Revolutionären) als gute Erziehung zu Ehrgefühl, Mannesmut und Tatkraft dienten." In der autobiographischen Skizze „ O tom kak j a uiilsja pisat'" (1928) schildert Gor'kij, wie er selbst in den 1880er Jahren von der Lektüre Coopers und anderer „Boulevardromane" fasziniert gewesen sei; Wke., X X I V , S. 486. U1 ) Dafür sprechen auch die hohen Auflageziffern der Werke Coopers in sowjetischer Zeit. Die Liste meistgelesener amerikanischer Autoren verzeichnet Cooper an fünfter Stelle, nach J . London, M. Twain, T. Dreiser und O. Henry; vgl. M. Hindus, „Haus ohne Dach" (1962), S. 1 0 1 - 2 (Hindus stellte nach Angaben der Moskauer Schrifttumskammer eine Ubersicht über die sowjetischen Auflagen bekannter Autoren der Weltliteratur zusammen.).
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solche Einflüsse im Werke Majakovskijs. Er sei bis zum Alter von etwa zwölf Jahren von den Indianern Coopers und Mayne Reids hingerissen gewesen, gestand Majakovskij einmal 142 ). Als er schließlich im Jahre 1925 den amerikanischen Kontinent selbst betrat, waren seine Erwartungen immer noch ganz auf dieses literarische Modell zugeschnitten. Mit Erschütterung registrierte der russische Schriftsteller bei seiner Ankunft in Mexiko das Elend der Indianer, in denen jede Ähnlichkeit mit den „legendären Helden Coopers" verlorengegangen war 143 ).
4. D i e W i r k u n g W. I r v i n g s Im gleichen Jahr, in dem die russische Öffentlichkeit mit den ersten Ubersetzungen Coopers bekannt wurde, begann die Auseinandersetzung mit dem Werk Washington Irvings (1783— 1859). Nachdem die Äußerungen einer amerikanischen Literatur bisher kaum zur Kenntnis gelangt waren oder ohne Differenzierung als Teil der englischen Uberlieferung abgehandelt worden waren, löste das Wirken dieser beiden Schriftsteller eine Entdeckung eigener Art aus: mit dem Jahr 1825 gewann in Rußland der Begriff einer nordamerikanischen Nationalliteratur Geltung 144 ). Als erster russischer Kritiker, der diese Entdeckung machte und sie zielstrebig propagierte, muß N. A. Polevoj genannt werden 146 ). Schon bei der Rezeption Chateaubriands und Coopers hatte sein Eintreten einen Ausschlag gegeben; im Falle Irvings war das Engagement Polevojs noch betonter als zuvor. Mit der von Polevoj initiierten Übersetzung der Abhandlung „The Art of Making Books" beginnt die russische Wirkungsgeschichte Irvings im Frühjahr 1825. 148 ) Konnte der Herausgeber bei dieser ersten Veröffentlichung von einem „bei uns fast unbekannten Schriftsteller" sprechen, so waren wenige Jahre später die Erzählungen Irvings aus den Seiten der Journale bereits nicht mehr wegzudenken. Fast alle seiner bedeutenden Werke wurden damals in russi-
14a
) „Moe otkrytie Ameriki" (1926); Werke, V I I , S. 272. — Ähnlich äußert sich in seiner Autobiographie V. N. Bill'-Belocerkovskij (geb. 1885), der von 1 9 1 1 - 7 sechs J a h r e in den Vereinigten Staaten zubrachte und darüber später in Erzählungen berichtete (siehe „ R a s s k a z y i oEerki", S. 5). —• V . P. Nekrasov (geb. 1 9 1 1 ) schreibt in seinem Reisebericht „ A u f beiden Seiten des Ozeans" (i960), daß er Amerika „ i n der Hauptsache durch Cooper" daneben noch „durch Briefmarken und die kondensierte Milch der A R A " gekannt habe (dt. Ausgabe, S. 77). 14S ) Die Ankunft schildert M. in dem Gedicht „ M e k s i k a " (Wke., V I I , S. 4 1 ) : „Gleich werde ich das Land der Mokassins betreten, (...) Und das Land Fenimore Coopers und Mayne Reids Wird vor mir zu Leben erstehen." In dem Artikel „ M e k s i k a " drückt M. seine Desillusion aus (ibid., S. 347): „Wie unähnlich sind die gepäcktragenden Indianer den legendären ( . . . ) rothäutigen Helden Coopers." 144 ) Auch auf die Literatur Südamerikas wurde man damals in Rußland aufmerksam: in die J a h r e 1 8 2 6 - 7 fällt die Beschäftigung Puschkins mit brasilianischer Dichtung; siehe M. P. Alekseev, „ P u s k i n i brazil'skij p o é t " , in „NauCnyj bjulleten' L G U " , 1947, Nr. 1 4 - 1 5 . Der „Teleskop" veröffentlichte 1834 einen Artikel, in dem die Vermutung geäußert wurde, daß Nordamerika auf dem Gebiet der Künste und Literatur bald von Brasilien überflügelt werde; s. L. A. Sur, „ Z u r n a l 'Teleskop' o brazil'skoj literature. V. G. Belinskij i brazil'skaja literatura", in „Chudozestvennaja literatura Latinskoj Ameriki v russkoj p e i a t i " (i960), S. 2 2 3 f f . 145 ) In einer redaktionellen Anmerkung schrieb Polevoj im Februar 1825 (MT I, Nr. 4, S. 297):
„ I r v i n g Washington (sie!) und Cooper haben Europa mehr als alle ihre Landsleute veranlaßt, sich dem Schrifttum der Nordamerikaner zuzuwenden." 146
) „Iskusstvo delat' k n i g i " ; MT I, 4, S. 297-306. — Zu Irvings Wirkungsgeschichte siehe vor allem die Angaben in M. P . Alekseevs Artikel „ K 'Istorii sela Gorjuchino'" in „ P u s k i n . Stat'i i materialy" (1926), S. 85. Einen Katalog der Übersetzungen führt auch Cudakov an; op. cit., S. 1 3 5 - 6 .
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scher S p r a c h e b e k a n n t 1 4 7 ) . N a c h der A n z a h l der Ü b e r s e t z u n g e n n a h m I r v i n g neben E . T . A . H o f l m a n n , L . T i e c k u n d P . de K o k b a l d einen f ü h r e n d e n R a n g ein. B e k a n n t e K r i t i k e r schmeichelten i h m in besonders wohlgesonnenen A r t i k e l n ; N . I. G r e c b e k a n n t e sich zu i h m als seinem Lieblingsschriftsteller 1 4 8 ). A b e r a u c h in den literaturinteressierten Z i r k e l n , z u m B e i s p i e l unter den D e k a b r i s t e n , w u r d e er v e r e h r t u n d übersetzt 1 4 9 ). I n m a n c h e n schriftstellerischen Z e u g n i s s e n der russischen R o m a n t i k h a t die L e k t ü r e I r v i n g s ihre S p u r e n hinterlassen. D a s literarische L e b e n zu B e g i n n der 1 8 3 0 e r J a h r e ist v o l l v o n A n spielungen, die die D i s k u s s i o n u m d a s W e r k des a m e r i k a n i s c h e n A u t o r s v e r r a t e n . D a s M o t i v des „ R i p v a n W i n k l e " m a c h t e sich z u m B e i s p i e l F . V . B u l g a r i n zunutze, als er in einer satirischen E r z ä h l u n g des J a h r e s 1 8 3 0 die K o n t r o v e r s e mit P u s c h k i n w i e d e r a u f n a h m 1 5 0 ) . A . A . B e s t u z e v g e s t a n d e t w a s widerwillig ein, daß er sich, z u m i n d e s t in f o r m a l e r H i n s i c h t , an I r v i n g s V o r b i l d angelehnt h a b e . D e n zeitgenössischen K r i t i k e r n , n a m e n t l i c h V . K . K ü c h e l b e c k e r , blieben diese E i n f l ü s s e nicht v e r b o r g e n 1 5 1 ) . D a s F r ü h w e r k G o g o l ' s läßt gleichfalls auf b e s t i m m te A n r e g u n g e n a u s I r v i n g s E r z ä h l u n g e n schließen 1 5 2 ), E r s t s p ä t h a t m a n die E i n w i r k u n g des a m e r i k a n i s c h e n S c h r i f t s t e l l e r s auf d a s S c h a f f e n P u s c h k i n s v e r f o l g t . S o w o h l die „ G e s c h i c h t e des D o r f e s G o r j u c h i n o " als a u c h das r o m a n t i s c h e „ M ä r c h e n v o m G o l d e n e n H a h n " weisen auf die K e n n t n i s I r v i n g s 1 5 3 ) . D i e zeitgenössische K r i 147 ) Ubersetzungen erschienen unter anderem im „Mosk. tel.", in „Vestnik E v r o p y " , „ A t e n e j " , „ S y n O t e i e s t v a " , „Literaturnaja gazeta", sowie in dem durch Polevoj bearbeiteten Sammelband „Povesti i literaturnye o t r y v k i " (M. 1829—30) und in Nadezdins „Sorok odna povest' luisich inostrannych pisatelej" (M. 1836). Ubertragen wurde Verschiedenes aus dem „Sketch B o o k " (1820), dem Erzählband „Bracebridge H a l l " (1822); außerdem „ L i f e and Voyages of Chr. Columbus" (1828) und „ T h e Conquest of G r a n a d a " (1829). Allein Irvings Erstling „History of New Y o r k to the E n d of the Dutch Dynasty, by Dietrich Knickerbocker" (1809) erschien, vielleicht aus Zensurgründen, nicht in Rußland; es wurde jedoch in den kritischen Artikeln oftmals auf dieses Werk verwiesen; vgl. Alekseev, op. cit., S. 86. 149 ) Nach Alekseev, op. cit., S. 85. — Gelegentlich wurde Irving in den Kritiken immer noch als hervorragender Repräsentant einer „europäischen Erzählkunst" klassifiziert; z . B . im „Mosk. tel.", 49 (1833), S. 328 (nach Zamotin, op. cit., I I , S. 270). 149 ) A. A. Bestuzev übersetzte Irvings berühmte Novelle „ R i p van Winkle", die im „ S y n OteCestva", CIV (1825), 22, S. 1 1 5 - 4 5 gedruckt wurde. — Während der Verbannung im sibirischen Minusinsk bearbeitete A. P. Beljaev Irvings „Conquest of G r a n a d a " , „ u m nicht völlig in materiellen Sorgen zu versinken" (Vospominanija" op. cit., R S X X X I [ 1 8 8 1 ] , S. 346). — W ä h r e n d der Verbannung im J a h r e 1833 beschäftigte sich auch V. K . Küchelbecker mit dem Werk Irvings. Seine Tagebücher haben einige Eindrücke dieser Lektüre festgehalten ( „ D n e v n i k " , op. cit., S. 153-4). 150 ) In „Predok i potomki"; zu den Einzelheiten vgl. V . Gippius, „ P u s k i n v bor'be s Bulgarinym v 1 8 3 0 - 1 8 3 1 g g . " in „Vremennik", V I (1941), S. 242. 151 ) Küchelbecker bemerkt, daß Bestuzev „einige Techniken" Irvings entlehnt habe. Gleiche Einflüsse ermittelt er auf das Werk des Schriftstellers A. F. Vel'tman (Dnevnik", op. cit., S. 167, 281). •— Bestuzev selbst schreibt an seine Brüder am 1. 12. 1835 (Werke, I I , S. 667):
„ O f t , sehr oft treffe ich bei guten Autoren auf meine Gedanken, meine Ausdrücke; doch warum soll ich sie unbedingt gestohlen haben ? Irving habe ich in der Form, nicht im Wesen imitiert." 152
) Diese Einflüsse sind sowohl stilistischer („Hans Küchelgarten") als auch thematischer Art („No£' pered rozdestvom", „ P r o p a v s a j a gramota"); siehe Cudakov, S. 88f., S. 17. 153 ) In der Bibliothek Puschkins wurden fünf Werke Irvings, zumeist französische Ausgaben, ermittelt; unter ihnen die „History of New Y o r k " und die Sammlung „ A l h a m b r a " . Auf gewisse thematische und stilistische Übereinstimmungen zwischen der „Geschichte des Dorfes Gorjuchino" und der „History of New Y o r k " wies erstmals M. P. Alekseev in der erwähnten Studie des Jahres 1926 (op. cit., S. 77—87). Ausgehend von der damaligen Popularität Irvings hält Alekseev es für wahrscheinlich, daß Puschkin sich mit dem Werk des amerikanischen Autors um 1828, zum Zeitpunkt seiner ernsthaften Beschäftigung mit der englischen Literatur, vertraut gemacht habe. Die Parallelen in der Technik — Einführung eines fiktiven Chronisten, Verwendung eines hochwissenschaftlichen historischen Stils zum Zwecke der Parodie — seien zu auffallend, um auf einer Zufälligkeit zu beruhen. Alekseevs Theorie, die erstmals den Versuch unternahm, die Bedeutung Irvings für das Werk Puschkins zu rekonstruieren, war jedoch
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tik zog jedoch den Kreis dieses Einflusses noch weiter. Polevoj maß die Belkin-Erzählungen Puschkins sogleich nach deren Erscheinen an den Schöpfungen des amerikanischen Autors, um sie als einen etwas mißratenen Abklatsch hinzustellen 154 ). Die gleiche Abhängigkeit wurde von Polevoj auch Gogol's „Abenden auf einem Vorwerk bei D i k a n k a " unterschoben 155 ). Der Ruhm Irvings hatte um die Mitte der 1830er J a h r e seinen Zenit überschritten. Den kritischen Maßstäben Belinskijs konnte er bereits nicht mehr standhalten. Belinskij wollte dem „Zeitalter der Märchen", das von den Erzählungen Irvings mitgeprägt worden war, ein Ende bereiten. Wohl konzedierte er, daß Irving ein ungewöhnlich begabter Erzähler sei, doch forschte er in dessen Werk vergeblich nach dem erwünschten sozialen Engagement 1 5 6 ). Trotz der überspitzten Kritik Belinskijs dauerte es weitere Jahrzehnte, bis der Name Irvings endgültig der Vergangenheit anheimfiel. Vereinzelt tauchen seine Werke auch noch in den nach 1850 herausgegebenen literarischen Sammelbänden auf. Der Kritiker Druzinin erkannte ihm in einem Artikel des Jahres 1854 nachdrücklich den hohen Rang früherer J a h r e zu 1 5 7 ). Ähnlich befand noch 1858 N. A . Dobroljubov 1 5 8 ). Als eines der langlebigsten Werke Irvings entpuppte sich das „ L i f e and Voyages of Christopher Columbus", das bereits in den 1830er Jahren das Interesse mehrerer russischer Ubersetzer in Anspruch genommen hatte. E s ging als allgemein akzeptierte Darstellung der amerikanischen Entdeckungsgeschichte in die Quellenliteratur ein und wurde in dieser Form noch in einer Chrestomathie des Jahres 1879 verwertet 169 ).
nur hypothetisch zu belegen und blieb daher strittig (siehe die Rezension von D. P. Jakuboviü in „Vremennik", I [1936], S. 308). A. A. Achmatova entdeckte in einem Artikel aus dem Jahre 1933 Irvings „Legend of the Arab Astrologer" aus dessen Sammlung „Legends of the Alhambra" (1832) als Quelle für Puschkins „Märchen vom Goldenen Hahn" („Poslednjaja skazka Puskina" in „Zvezda", 1, S. 161—176). Die wohlfundierte Theorie der Achmatova wurde in der Folgezeit von der sowjetischen Puschkin-Forschung, darunter Kapazitäten wie B. V. Tomasevskij, anerkannt und übernommen. M. K . Azadovskij nannte 1936 die Version Achmatovas „völlig richtig und unbestreitbar" („Istoïniki skazok Pulkina" in „Vrem.", I, S. 149). Die gleichen Einflüsse deckte damals ein Artikel von André Mazon auf („Le Conte du Coq d'or; Pouchkine, Klinger et Irving" in „Mélanges en l'honneur de Jules Legras" [1939], S. 207-14). Im Zeichen der widersinnigen 2 danov-Direktiven hatte die sowjetische Literaturwissenschaft seit 1946 einen genau entgegengesetzten Kurs einzuschlagen, der die Frage der Einwirkung Irvings auf Puschkin in eine brisante Kontroverse auf politischem Hintergrund einmünden ließ ; siehe John C. Fiske, „The Soviet Controversy over Pushkin and Washington Irving" in CLit VII (1955), S. 25-31. 1M ) In MT X L I I (1831), 21, S. 255-6: „ I . P. Belkin war offensichtlich bestrebt, in die Spur W. Irvings zu treten. Doch so wenig der 'Eugen Onegin' an den 'Don Juan' heranreicht, so wenig können die 'Erzählungen Belkins' an die Schöpfungen Irvings heranreichen." 155
) MT X L I (1831); nach Zamotin, op. cit., I, S. 228. ) In einer Rezension des Jahres 1835 verkündet Belinskij ohne Ehrfurcht vor dem „berühmten Namen" des Amerikaners, daß „das Zeitalter des Märchens vorbei" sei (Werke, I, S. 339-40). Eine Besprechung des Jahres 1839 verwahrt sich dagegen, den „talentierten Erzähler" Irving auf eine Stufe mit dem „großen genialen Künstler" Hoffmann zu stellen (Bd. III, S. 74). In der Abhandlung „Razdelenie poèzii na rody i vidy" (1841) konstatiert Belinskij, daß Irving wohl „ein ungewöhnlich begabter Erzähler" sei, „aber nicht mehr" (Bd. V, S. 427). 157 ) „W. Scott i ego sovremenniki"; Werke (1865 ff.), IV, S. 728. Dort leitet Druzinin die Nacherzählung einer Begegnung zwischen Scott und Irving mit einer kurzen redaktionellen Notiz ein, in der er den amerikanischen Autor mit dem Prädikat des „ersten Novellisten unserer Zeit" auszeichnet. 158 ) In einer Rezension über Irvings übersetzte „Zizn' Magometa"; Werke, I, S. 558 (u.ff.). 1M ) Aus dem Französischen übertrug N. Bredichin 1836-7 eine vierbändige „Istorija zizni i putesestvij Chr. Kolomba". D. PaskeviS übersetzte aus dem Englischen die „Istorija zizni i putesestvij, otkrytij i prikljufenij v Novom svete" (2 Tie.; SPb. 1839). Beiden Bearbeitungen lag das Werk Irvings zugrunde. — In der von J a . G. Gurevic edierten „Istorifeskaja chrestomatija po novoj i novejsej istorii", SPb. 1879, erschien „Chr. Kolomb i otkrytie Novogo sveta. Po Valingtonu Irvingu"; S. 88ff. 156
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5- S u j e t s C h a t e a u b r i a n d s , C o o p e r s u n d I r v i n g s in der r o m a n t i s c h e n A m e r i k a - D i c h t u n g Die Dichtung der russischen Romantik hat sich wiederholt amerikanischer Motive angenommen. Es war jedoch immer das unwirkliche, schwärmerische Amerika Chateaub riands und Coopers, das die Phantasie der Autoren gefangennahm. Das Amerikabild ihrer Vorstellung ist darum bis in die Details mit den Beschreibungen dieser literarischen Vorbilder identisch. Die Indianerromanzen Chateaubriands hatten Nordamerika als ein Refugium für Enttäuschte, als Stätte edler Naturmenschen und einer überwältigenden Landschaft gepriesen. Zur Schilderung seiner Idylle hatte Chateaubriand originelle dichterische Ausdrucksmittel vorgeprägt. Die russischen Romantiker entnahmen seinem Entwurf vielfältige Anregungen. Ein späterer Kritiker des „Teleskop" rechnete es Chateaubriand als Hauptverdienst an, daß er „aus den Wäldern Nordamerikas die ersten geradewegs der Natur entnommenen Bildmuster herbeigebracht" habe 180 ). Diese amerikanische Natur wurde in der romantischen Dichtung Rußlands zu einem Symbol großartiger Ursprünglichkeit verklärt. Darauf deutete bereits 1804 die erste Strophe des „Sonetts eines Irokesen" von A. E . Izmajlov, die die Landschaft Kanadas heraufbeschwor. Eine im gleichen Jahr von Zukovskij projektierte „amerikanische Erzählung" wurde nicht verwirklicht. Aus dem Zusammenhang mit den zur selben Zeit entworfenen Skizzen ist jedoch zu schließen, daß auch hier die Verherrlichung des natürlichen Lebens behandelt werden sollte 161 ). In ihrem Werk waren die Romantiker bemüht, die preziösen poetischen Bilder und Stimmungen Chateaubriands nachzugestalten. Aus solcher dichterischen Metaphorik schöpfte Batjuäkovs Gedicht „Der Glückliche", dessen zwölfte Strophe ein exotisches Naturbild aus dem „ R e n é " aufnahm: „Unser Herz ist ein düsterer Brunnen: Still und ruhig ist sein Anblick von oben, Doch furchtbar ist es, läßt man sich zum Grund hinab ! Auf ihm liegt ein Krokodil verborgen 182 ) !" Dieses Bild aus der amerikanischen Natur wurde von den Zeitgenossen bald als ein eigenttümliches Kennzeichen der Dichtkunst Batjuäkovs empfunden, besonders nachdem es in einer Parodie A . F. Voejkovs zur Charakterisierung seines Autors herangezogen worden war 183 ). Batjuäkov selbst verwendete es erneut in einem Gedicht vom Jahre 1821. Für einen späten 1M
) N . I. Nadeidin im „Teleskop", X X I ( 1 8 3 4 ) ; zit. bei Zamotin, op. cit., I, S. 335.
M1
) Zu Izmajlov s. S. 50 (Anm. S); zu Zukovskij S. 16 (Anm. 55). Der Plan Zukovskijs steht neben Projekten wie „ Ü b e r das Glück des Landmannes", „ D e r Dorfgesetzgeber", „ D i e Insel", u. a. M2 ) „ S f a s t l i v e c " ( 1 8 1 0 ) ; Werke, I, S. 124. Batjuskov gestaltet hier die Worte Chactas' an René nach dem Begräbnis der A t a l a : „ L e coeur le plus serein en apparence ressemble au puits naturel de la savane Alachua; la surface en parait calme et pure, mais, quand vous regardez au fond du bassin, vous apercevez un large crocodile que le puits nourrit dans ses e a u x . " (Komm, von V . I. Saitov; ibid., S. 344) 1M
) Die 32. Strophe von Voejkovs „ D o m sumassedsich", einer Satire auf die zeitgenössische Literatur,
ist Batjuäkov gewidmet (zit. in „Poéty-satiriki . . . " , op. cit., S. 305): „Wundersam! Unterm Fenster auf einem Zweig Hängt der Wicht Batjuäkov In einem hellen Drahtkäfig; Auf ein kleines Wassergefäß blickend Singt er mit lieblicher Stimme : 'Still und ruhig ist der Anblick von oben, Doch furchtbar, läßt man sich auf den Grund hinab, E i n Krokodil liegt auf ihm verborgen'."
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Nachruhm seiner Chateaubriand-Verse sorgte Belinskij, der sie 1843 in einem kritischen Artikel als beispielhaft für die Klangschönheit der Poesie Batjuäkovs anführte 1 6 4 ). Batjuäkovs dichterisches Gleichnis aus der amerikanischen Naturwelt hat nachhaltig an die Inspiration der Romantiker appelliert. M. J u . Lermontov griff es auf, um es in zwei Passagen seines frühen Prosawerkes einzuflechten. F ü r seinen R o m a n „ V a d i m " schmückte er den Vergleich frei aus und klassifizierte ihn erstmals auch nominell als Bild aus der amerikanischen Sphäre 1 6 5 ). Mit der Verwendung des gleichen Bildes in dem Fragment „ F ü r s t i n L i g o v s k a j a " verfolgte der Autor bereits einen parodistischen Verfremdungseffekt 1 6 6 ). Gerade Lermontov ist in seinem Schaffen früh durch die Amerikathematik Chateaubriands angeregt worden. Aus einer Notiz seines Skizzenbuches vom J a h r e 1830 geht hervor, daß er den K a m p f zwischen Eroberern und wilden Ureinwohnern in Amerika nach dem Muster der „ A t a l a " als Vorlage für eine Tragödie aufzunehmen gedachte 1 6 7 ). E r hat dieses Projekt später nicht weiterverfolgt. D a s gleiche Sujet soll Lermontov schon zuvor, in einem verschollenen Gedicht mit dem Titel „ I n d i a n k a " , behandelt haben 1 6 8 ). Von der Ausstrahlung der Chateaubriandschen Amerikathemen nach Rußland zeugt insbesondere eine französischsprachige Dichtung des Dekabristen Fürst A . P . Barjatinskij mit dem Titel „ L e vieillard du Meschacebé", die erstmals 1824 in einem Bändchen von Miszellen erschien. Sie schildert die elegische Klage eines alten Natchez-Indianers über den von ihm selbst verschuldeten Tod seines Sohnes. Das Gedicht ist ganz von der weltschmerzlichen Stimmung der Indianerromanzen Chateaubriands durchweht; nach ihrer Manier stellt es das menschliche D r a m a in den Rahmen einer gewaltigen amerikanischen Naturszene, deren Bild gleich zu Beginn entworfen wird : „ D a n s la Louisianie, en ces heureux climats Qui virent les amours et les pleurs de Chactas; De la rive opposée aux savanes profondes Que le Meschacebé couronne de ses ondes: S'avance dans ses eaux un immense rocher. L a biche bondissante en craindrait d'approcher. C'est là qu'un vieux Natchez pleurant sa destinée, L a tête sur son sein tristement inclinée, E t courbé sous le poids du chagrin et des ans, Mêlait au bruit des flots ses longs gémissemens 1 6 9 )" : W4 ) Batjuskov wiederholt das Amerikabild in Strophe V I seiner „Podrazanija drevnim"; Werke (1934), S. 189. — Belinskijs „ S t a t ' i o Puskine" ( 1 8 4 3 ) zitieren die Verse des „ S ï a s t l i v e c " ; Werke, V I I , S. 253. Die gleichen Verse Batjuskovs paraphrasierte später I. S. Turgenev in einem Brief an N . V . Chanykov (am 16. 9. 1866; Werke, X X [1963], S. 104). 165 ) „ V a d i m " ( 1 8 3 3 - 4 ) ; Werke, V I (1957), S. 35. Lermontov gibt hier Grübeleien seines Helden wieder; sie beschreiben die Emotionen eines Menschen, der als Gast zu einem Festmahl in sein ehemaliges Haus geladen ist:
„ . . . auf dem Grunde dieses Vergnügens regt sich ein unerklärlicher Schmerz, wie das giftige Krokodil in der Tiefe eines reinen, durchsichtigen amerikanischen Brunnens." 16i ) „ K n j a g i n j a L i g o v s k a j a " (1836); Werke, V I , S. 140. Hier war das amerikanische Bild mit der Beschreibung eines Stubenmädchens verbunden: „ S o ein Stubenmädchen, das in der Hinterkammer eines ordentlichen Hauses bei der Arbeit sitzt, ist dem Krokodil auf dem Grunde eines klaren amerikanischen Brunnens ähnlich." 187 ) Projekt Nr. 3 im Skizzenheft für 1 8 3 0 ; Werke, I V (1935), S. 402. Von sowjetischer Seite ist diese Absicht als Entgegnung auf die „christliche Propaganda" Chateaubriands in der „ A t a l a " interpretiert worden; B. Ejchenbaum, „ S t a t ' i o Lermontove" (1961), S. 1 5 3 . 168 ) Siehe S. V. Suvalov, op. cit., S. 328. 169 ) „ L e vieillard du Meschacebé"; in „Quelques heures de loisir à Toulchin, par le Prince A . Bariatinskoy . . . " (1824), S. 39. — Der Verfasser, Fürst Barjatinskij ( 1 7 9 8 - 1 8 4 4 ) , war ein enger Freund Pestel's und gleich diesem führend in der Tul'iiner Militärverwaltung tätig. Wegen Teilnahme an der
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D a s durch Chateaubriands Indianerromanzen v e r m i t t e l t e A m e r i k a b i l d w u r d e in vielen Z ü gen durch die Schilderungen der Cooperschen R o m a n e ausgeführt u n d ergänzt. Coopers amerikanische H e r k u n f t schien die A u t h e n t i z i t ä t seines Berichts über jeden Z w e i f e l zu erheben. Seine Darstellung präsentierte jenen spezifischen „ a m e r i k a n i s c h e n " Geist, wie ihn die R o m a n tiker als ein M e r k m a l des neuen Kontinents anzusehen geneigt w a r e n : den Geist des „ w i l d e n " A m e r i k a mit all seinen Naturschönheiten und rätselhaften Ureinwohnern. Belinskij h a t t e das Coopersche A m e r i k a b i l d m i t einer ästhetischen V e r b r ä m u n g versehen und es der nationalen L i t e r a t u r nachdrücklich als Muster empfohlen. In dieser F o r m senkte es sich in die Vorstellungswelt der romantischen Schriftsteller und Dichter. V . K . K ü c h e l b e c k e r pries das „ w i l d e A m e r i k a in seinen riesenhaften A b r i s s e n 1 7 0 ) " . V o m Zauber des „ j u n g f r ä u l i c h e n " A m e r i k a f ü h l t e sich P u s c h k i n beim E n t w u r f seines Gedichts „ H e r b s t " b e r ü h r t ; sein A r t i k e l „ J o h n T a n n e r " beschwor wenig später noch einmal das B i l d der „ w e i t e n Steppen und unermeßlichen F l ü s s e " h e r a u f , u m deren B e w a h r u n g v o r der Zivilisationswut amerikanischer Pioniere er sich sorgte 1 7 1 ). T a p f e r k e i t und E d e l m u t des Indianers als Heroen der amerikanischen Szene waren v o r allem v o n Cooper besungen worden. I h m setzte A . I . PoleZaev mit seinem „ L i e d eines gefangenen I r o k e s e n " ein dichterisches D e n k m a l . D a s W e r k w u r d e schnell b e r ü h m t ; es zeigt, mit welcher A n t e i l n a h m e m a n d a m a l s in R u ß l a n d das Schicksal der nordamerikanischen Eingeborenen v e r f o l g t e 1 ' 2 ) . P o l e i a e v variierte das T h e m a v o m T o d e s m u t der Indianer, das wenige J a h r e zuvor schon durch Svinins „ C h e r o k e s e n l i e d " gestaltet worden w a r 1 7 3 ) . Mit seiner Darstellung des gefangenen Irokesen wurde die Verherrlichung des nordamerikanischen Ureinwohners als eines positiven, menschlichen Helden, a n k n ü p f e n d an die Traditionen des 18. J a h r h u n d e r t s , neu belebt 1 7 4 ).
Dekabristenverschwörung wurde er lebenslang nach Sibirien verbannt. Während der Kerkerzeit trat er literarisch als einer der Hauptvertreter der sogenannten „Kasemattenpoesie" hervor, die nur zum geringen Teil erhalten ist (M. K . Azadovskij, „Zaterjannye i utraiennye proizvedenija dekabristov" in L N , Bd. 59, S. 707-8). Die Persönlichkeit Barjatinskijs war unter den verbannten Dekabristen ziemlich umstritten. Während der Haft scheint er immer mehr in materialistischen Anschauungen Zuflucht gesucht zu haben, was ihm die Verachtung vieler ehemaliger Kameraden eintrug. D. I. Zavalisin nennt ihn als abstoßendes Beispiel für den sittlichen Verfall mancher Dekabristen während der Verbannung („Zapiski dekabrista", I I , S. 238 ff.). Demgegenüber würdigte ihn Beljaev als einen „sehr gescheiten und gebildeten Menschen" („Vospominanija", op. cit., R S X X X , S. 814). — Die sowjetische Forschung sieht in Barjatinskij einen Repräsentanten der „fortschrittlichen" Literaturtradition; siehe V. Bazanov, „Oferki dekabristskoj literatury" (1961), S. 133-4. 17 °) „Dnevnik", op. cit., S. 175. m ) Zu dem Gedicht „Osen'", s. S. 1 1 (Anm. 22). — „Dzon Tenner" (1836); Werke, X I I , S. 104. Wie J . T. Shaw ermittelte, handelt es sich bei dem zitierten Naturbild um eine der wenigen Stellen aus der Einleitung des Artikels, die nicht unmittelbar auf fremde literarische Vorlagen zurückzuführen sind („Puskin on America", op. cit., S. 747). 172 ) „Pesn' plennogo irokezca" (1828); in „Stichotvorenija" (1933), S. 154-5. — Belinskij nannte das Werk im Jahre 1839 „eine poetische Schöpfung, die eines großen Dichters würdig ist" (Wke., I I I , S. 29). 1863 bediente sich Musorgskij dieses Sujets für eine Arie seiner unvollendeten Oper „ S a l a m b o " . Von sowjetischen Interpreten wird das Gedicht Poleiaevs gelegentlich als eine Anspielung auf den Kampf gegen die Leibeigenschaft ausgelegt; siehe I. D. Voronin, „ A . Polezaev . . . " (1954), S. 32f. 173 ) Siehe S. 64, Anm. 79. 174 ) Es gibt im russischen Schrifttum, besonders in der Dichtung des beginnenden 19. Jahrhunderts, kaum Beispiele für eine leidenschaftslose Behandlung des indianischen Sujets. Die Rousseauschen und Chateaubriandschen Traditionen, an die Cooper anschloß, waren zu mächtig. Dagegen vermochte auch das Urteil jener Aufklärer wenig auszurichten, die auf den Indianer als einen ungebildeten Barbaren herabsahen. Eine Zeile aus Puschkins erstem Gedicht „ A n Natalia" (1813), die den „Amerikaner" als „ g r o b " beschreibt, geht indessen auf diese Überlieferung der Aufklärung zurück ( „ K N a t a l ' e " ; Werke, I, S. 7). In seinem „Tanner"-Artikel fand Puschkin später umso größeren Gefallen an den pittoresken Zügen des amerikanischen Indianerlebens.
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Ein Spätwerk der russischen Romantik, N. P.Ogarevs Gedicht „Amerika" des Jahres 1842, verwebt die Welt der nordamerikanischen Wildnis noch einmal zu einer poetischen Vision. Ogarevs Verse sind von Wehmut über ein verlorenes Paradies überschattet; sie belegen jene „Empfänglichkeit für Bilder der Zerstörung", die man als ein Spezifikum seiner Dichtung hervorgehoben hat 176 ). Coopers breites episches Amerikagemälde wird in diesen Versen zu einem balladesken Abriß zusammengerafft, der von der idyllischen Lebensweise der Indianer und dem zerstörerischen Eindringen der Europäer in ihre Welt berichtet: „Inmitten des Ozeans Lag ein Land Und seine Stämme Waren friedlich. Unter einem Azurhimmel Wuchsen dort Palmen Auf reichem Boden Eines herrlichen Stücks Erde. Sorglos und frei Waren dort die Väter, Frauen, Kinder Und die wehrhaften Männer. Es kamen die Europäer: Und sie begannen Die ansässigen Stämme zu verjagen.
Und alle rotteten sie aus, Der letzte floh, Irrte in den Wäldern umher Und verschwand spurlos. Nicht einmal Überlieferungen blieben! Es verging jene Zeit, Und wie sie lebte, Weiß niemand zu sagen. Und wir wissen allein, Daß sie jetzt nicht mehi ist! Wozu hat es sie gegeben ? Wer gibt mir eine Antwort ? 1 7 9 )"
Ein Nachklang des Cooperschen Amerikabildes hat sich im Frühwerk L . N. Tolstojs niedergeschlagen. Tolstoj widmete sich der Lektüre Coopers um 1853, nachdem Gedenkausgaben zum Tode des amerikanischen Schriftstellers diesem noch einmal Beachtung verschafft hatten 177 ). Seine um 1852 entstandenen „ K o s a k e n " sind dem Eindruck solcher Lektüre zugeschrieben worden 178 ). Eine Assoziation des Werkes weist einmal auf den „Pathfinder" hin, als die Hauptgestalt Olenin während der J a g d plötzlich Menschenspuren entdeckt zu haben glaubt 179 ). In „Oazis", einer fragmentarischen Erzählung des Jahres 1863, flocht Tolstoj einen erneuten Bezug auf Cooper ein. Wiederum stellt die Erinnerung einer handelnden Person die Verbindung mit der amerikanischen Urwelt her: „Diese Jagdausflüge erweckten in mir noch stärkere und unerfüllbarere Wünsche. Coopers „Pathfinder", die jungfräulichen amerikanischen Wälder und die darin möglichen großartigen Taten stellten sich mir dar 1 8 0 )." 1,s ) V . A . Boikarev, „Poezija Ogareva 40-ch i 50-ch g o d o v " in „ U S . zap. Kujb.-ogo Gos.-ogo Ped.-ogo i U£it.-ogo In.-ta (Fak. jazyka i lit.-y)"; 2 (1938), S. 42. 17B
) „ A m e r i k a " ; Werke (1956), I, S. 1 5 3 . ) 1 8 5 1 erschien in Paris eine dreibändige französische Ausgabe Coopers, die Tolstoj benutzte. Das Erstlingswerk „Precaution" verwarf T . allerdings in einer Tagebucheintragung vom 22. 7. 1 8 5 3 als „dummen R o m a n " ; Werke (1928ff.), X L V I , S. 169. 177
17S
) H. Zbinden im Kommentar zu Tocqueville; op. cit., S. 1 1 7 . Für diese Hypothese war allerdings in der weiteren Literatur keine Bestätigung zu finden. „ K a z a k i " ; Werke, V I I , S. 7 4 : „Unwillkürlich schoß ihm die Erinnerung an Coopers 'Pathfinder' und an die Abreken durch den Kopf." Der gedankliche Zusammenhang, den Tolstoj hier zwischen der Indianerwelt Nordamerikas und dem wilden Kaukasusvolk der Abreken konstruiert, entsprach durchaus den in der Romantik üblichen Auffassungen, die den Kaukasus als eine A r t „russisches A m e r i k a " ansahen. 180 ) „ O a z i s " ; Werke, V I I , S. 1 4 t . —• Tolstoj verwertet das gleiche Sujet noch einmal in einem ähnlich assoziativen Zusammenhang; in der einführenden Szene der „ A n n a Karenina" taucht Amerika inmitten der wirren Traumphantasien Oblonskijs auf (Werke, X V I I I , S. 4).
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Die Romane Coopers hatten der Amerika-Sehnsucht der Romantiker die reinste Verkörperung gegeben. Wie das Beispiel L . N. Tolstojs zeigt, blieb ihre Thematik in der Literatur weiterhin aktuell. Auch die Schriftsteller des Realismus haben sich von der Lektüre Coopers noch anregen lassen, wenngleich sie darin, wie Goncarov oder Dostoevskij, schon Anlaß zu Parodien erblickten. Durch die populären Werke F. Bret Hartes und T. Mayne Reids wurde das Amerika Cooperscher Schöpfung zum Ende des 19. Jahrhunderts in Rußland schließlich noch einmal mit neuem Leben erfüllt. W. Irvings Bedeutung für Rußland erschöpfte sich nicht allein darin, daß sein Werk das Bewußtsein für eine eigenständige amerikanische Nationalliteratur weckte. Durch Irving wurde das Tableau geläufiger Amerika-Thematik um einen weiteren Aspekt bereichert: sein Werk über Kolumbus ließ ein neues Interesse für die amerikanische Entdeckungsgeschichte und ihren Helden aufkommen, ein Interesse, das in seinen Wurzeln auf die literarischen Traditionen vergangener Jahrhunderte zurückreichte. Seit etwa 1830 hatten Übersetzungen des „ L i f e and Voyages of Chr. Columbus" neben einigen einheimischen Produktionen die Aufmerksamkeit auf die Gestalt des Amerikaentdeckers gelenkt. In den Spuren Irvings folgte Polevoj mit seinem 1835 herausgegebenen Buch „Christofor Kolumb". Das Gedicht „Kolumbus mit seinen Freunden" von I. S. Aksakov spielte nur allegorisch in der Titelzeile auf die amerikanische Thematik an, ohne auf sie tatsächlich Bezug zu nehmen 181 ). Für die Folgezeit ist aus Gor'kijs Biographie bekannt, daß sich KolumbusStücke bis spät ins 19. Jahrhundert im Repertoire russischer Volksbühnen gehalten haben 182 ). Als ein bemerkenswertes Zeugnis für das damals durch Irving initiierte Interesse ist eine kurze, Ende der 1830er Jahre verfaßte Erzählung A. K . Tolstojs zu nennen, die davon handelt, „wie aus dem jungen Präsidenten Washington binnen kurzer Zeit ein Mensch wurde 183 )." Sie ist gleichzeitig eine der wenigen Parodien, die die russische Amerika-Literatur in der Epoche der Romantik hervorgebracht hat. Tolstojs Erzählung schildert, wie der spätere amerikanische Präsident durch seine Pfiffigkeit in der europäischen Heimat ein Vermögen erwirbt und eines Tages kurzerhand den Entschluß faßt, nach Amerika zu segeln. Nachdem er sein wagemutiges Unternehmen in die Tat umgesetzt hat, sieht er sich bei der Ankunft in der Neuen Welt dem Herrscher „Kazik-Inka" gegenüber, dessen Gunst er sich schnell zu gewinnen versteht, indem er das gesamte amerikanische Land von einer verheerenden Mäuseplage befreit und anschließend den Kaziken und seine Mannen, die „amerikancy", zu deren äußerstem Entzücken nach europäischer Art rasiert. Als adäquate Belohnung für seine Taten begehrt Washington vom Inkaherrscher nichts Geringeres, als daß man ihm die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten verleihe. Dieser Wunsch wird ihm auch prompt erfüllt. Die Geschichte, die Tolstoj eigens mit einigen beschaulichnaiven Zeichnungen ausstaffierte, schließt mit einem verblüffenden Verwandlungsakt: der junge Präsident fährt zur Alhambra, um dort alsbald die Gestalt des „Menschen" Washington Irving anzunehmen. Den Kronbeweis der Identität beider liefert eine scherzhafte Namensanalyse 184 ). Tolstojs im Tone eines Märchens vorgetragene und mit vielen umgangssprachlichen Wendungen gewürzte Erzählung enthielt nahezu alle Elemente der volkstümlichen russischen Amerikalegende. Seine Darstellung präsentiert die Neue Welt als eine groteske urweltliche 181 ) „Christofor Kolumb s prijateljami" (1844); in „Stichotvorenija i p o i m y " (1960), S. 64—8. — Das Werk Polevojs war mir nicht zugänglich; der Hinweis ist der Sekundärliteratur entnommen. — Auf den damaligen K u l t um Kolumbus läßt auch eine Tagebucheintragung A . K . Tolstojs schließen, der berichtet, wie sein Vater im Jahre 1 S 3 1 ein Porträt des Amerikaentdeckers erwarb (Werke; I V , S. 14). 182 ) Gor'kij schildert, wie er während der 1880er Jahre in einem volkstümlichen Drama „Christofor K o l u m b " aufgetreten sei und sich dabei peinlich bemüht habe, „wie ein rechter, ordentlicher Indianer" zu agieren (zit. in I. Gruzdev, „ G o r ' k i j i ego v r e m j a " [1962], S. 55). 183 184
) „ O tom, kak j u n y j prezident Valington v skorom vremeni stal felovekom"; Werke, I I I , S. 5 5 5 - 8 . ) op. cit., S. 558 (,,/nke iJezal i'olosy /nostrannyj TVegociant Georgij").
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Idylle, in die sich nur wenige vage Reminiszenzen an die neuzeitliche Entwicklung mischen. Zahlreiche Ingredienzen des nordamerikanischen wie auch des südamerikanischen Themenkreises sind hier zu einer wirkungsvollen Parodie verknüpft. Gerade in der Widersprüchlichkeit der Schilderung, dem Verquicken von legendärem mit zeitgemäßem Stoff, scheint das tatsächliche Amerikabild der Epoche getroffen. Darüberhinaus bot Tolstoj in der Gestalt Washingtons erste Ansätze zur russischen Typisierung des Nordamerikaners. Zielstrebiger Geschäftssinn und Unternehmergeist werden als dessen charakteristische A t t r i b u t e herausgestellt, ohne daß allerdings diese Wesenszüge schon durch abschätzige Kommentare diskreditiert wären.
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V. DAS RUSSISCHE AMERIKABILD IN DEN GEISTIGEN AUSEINANDERSETZUNGEN SEIT DEN 1830er JAHREN A) Anfänge einer neuen Debatte Im Schrifttum bis 1835 Während sich in der Literatur Deutschlands schon seit 1830 ein Umschwung vollzog, während Heinrich Heine die Vereinigten Staaten als „großen Freiheitsstall" diffamierte und über „die amerikanische Lebensmonotonie, Farblosigkeit und Spießbürgerei" lästerte 1 ), fuhr die Dichtung der russischen Romantik, getragen von einer vagen Stimmung der Europamüdigkeit, fort, Amerika als einen Hort natürlicher Lebensharmonie zu preisen. Die ekstatischen Verse Pecerins hatten dieser Schwärmerei die eindrucksvollste Gestalt gegeben. Eine Reaktion begann sich damals jedoch auch in Rußland abzuzeichnen. Sie betraf zunächst weniger den Bereich der schönen Literatur als das geschichtsphilosophische und politisch-soziale Schrifttum. Seit Anfang der 1830er Jahre wurde das geistige Leben in Rußland von neuem Leben erfüllt. Es setzte eine rege Diskussion um die zukünftige Bestimmung Rußlands ein, die schließlich in die Kontroverse zwischen Slavophilen und Westlern ausmündete. Kulturphilosophische, aber auch konkrete soziale und politische Themen standen im Mittelpunkt dieser Diskussion. Ihr Hauptstreitobjekt war die Haltung gegenüber dem Westen, insbesondere gegenüber Europa2). Das Verhältnis zu Nordamerika war jedoch in die Fragestellung vielfach mit einbezogen. Die Maßstäbe, die der neuen russischen Amerika-Debatte zugrundelagen, waren größtenteils ein von der deutschen romantischen Philosophie rezipiertes Lehnelement 3 ). Gemäß der Konzeption ihres Gedankengebäudes war die nationale Kultureinheit als oberstes Kriterium jedes Letzteres Zitat aus „Französische Zustände" (1832); Werke (1890), V , S. 38. Heines Gedicht „ J e t z t w o h i n ? " (1830), das Betrachtungen über die Möglichkeiten einer Emigration anstellt, bemerkt zu Amerika (Wke., I, S. 4 1 2 ) : „Manchmal kommt mir in den Sinn, Doch es ängstet mich ein Land, Nach Amerika zu segeln, Wo die Menschen Tabak käuen, Nach dem großen Freiheitsstall, Wo sie ohne König kegeln, Der bewohnt von Gleichheitsflegeln — Wo sie ohne Spucknapf speien." Auch Heine hatte sich ja anfänglich der Stimmung der Europamüdigkeit hingegeben. Noch 1829 hatte er Trost darin gefunden, daß es aus dem „ K e r k e r E u r o p a " immer ein „ L o c h zum Entschlüpfen", nämlich Amerika, gäbe („Reisebilder" I I I ; Werke, I I I , S. 279). Seine plötzliche Sinnesänderung ist symptomatisch für den Zusammenbruch der romantischen Amerikaideale in Deutschland. In „ L u d w i g Börne —• eine Denkschrift" (1840) erläutert er zu seinen ursprünglichen Illusionen über Nordamerika, daß er dieses Land „einst liebte, als ich es noch nicht kannte" (Wke, V I I , S. 45). — Eine weitere Bestärkung der aufkommenden Enttäuschung waren die Erfahrungen des Dichters Lenau, der 1833 nach einjährigem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten ernüchtert und abgestoßen von der dortigen Zivilisation nach Europa zurückkehrte. Die Briefe Lenaus drücken eine Aversion von geradezu pathologischer Intensität aus, wenn sie von Amerika als „wahrem Land des Untergangs", „Westen der Menschheit" sprechen (am 5. 3. 1 8 3 3 ; zit. bei Fraenkel, op. cit., S. 104). — Außerdem gab es in Deutschland — im Gegensatz zu Rußland — schon Anfang der 1830er J a h r e realistische Reiseberichte und Auswandererbriefe, die die Entbehrungen des Lebens in Nordamerika ohne Beschönigung darstellten; siehe Meyer, op. cit., S. 2 1 ff. 2 ) Vgl. u.a. A. von Schelting, „ R u ß l a n d und Europa im russischen Geschichtsdenken" (1948); V. Zen'kovskij, „Russkie mysliteli i E v r o p a " (1955). 3 ) Namentlich bei den Slavophilen; vgl. F. Stepun, „Nemeckij romantizm i russkoe slavjanofil'stvo"; in RusMys (März 1910), S. 65—91. 8
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Selbstverständnisses festgelegt. Der S t a a t wurde zum Kulturproblem schlechthin. E s eröffneten sich damit auch für die Beurteilung der Vereinigten Staaten neuartige Perspektiven, die einem völligen U m b r u c h des bisherigen idealistischen Amerikabildes aus der Zeit der U n a b hängigkeitsbewegung gleichkamen. Indem die R o m a n t i k e r das organisch E n t w i c k e l t e über das revolutionär Entsprungene stellten und die Forderungen v o n 1776 und 1789 als R a t i o n a lismus u n d Materialismus zurückwiesen, „ s c h u f e n sie die Formel v o n der bloßen Zivilisation als Gegensatz der K u l t u r und taten damit eine K l u f t zwischen einer europäischen und einer westlich amerikanischen W e l t auf, die bis heute nicht wieder völlig überdeckt worden ist 4 )". Prominentester E x p o n e n t dieser neuen H a l t u n g war der Philosoph G . W . F. Hegel. In seinen Betrachtungen über die Vereinigten Staaten geht er nach wie vor v o n manchen der althergebrachten Vorurteile des 18. Jahrhunderts aus, die die abträgliche W i r k u n g der inhärenten physischen Schwächen Amerikas prophezeit hatten 5 ). A u c h die neuen E n t w i c k l u n g e n der nordamerikanischen Republik beurteilt er bei weitem mit mehr Skepsis als Zuversicht. I n dem transozeanischen Staatswesen sieht H e g e l das L a n d einer noch unfertigen Zivilisation, die erst in Z u k u n f t K r ä f t e freisetzen werde, um in den Kreis der etablierten K u l t u r s t a a t e n hineinzuwachsen. E r rügt namentlich das „ Ü b e r w i e g e n des particularen Interesses", in dem er einen Anreiz z u ungebührlicher Eigensucht erkennen will, und v e r w i r f t das T r a c h t e n nach Erwerb und Profit als Kernprinzip des amerikanischen Gesellschaftsaufbaus. Seine K r i t i k zielt darüberhinaus noch tiefer: das Fehlen historischer K o n t i n u i t ä t und einer „religiösen E i n h e i t " erscheint ihm das Grundübel der Ordnung in den Vereinigten Staaten 6 ). Sein abschließendes Urteil über diese Ordnung ist a m b i v a l e n t : H e g e l verbindet seine H o f f n u n g auf eine ungewisse Z u k u n f t mit der apodiktischen Zurückweisung des gegenwärtigen Zustandes 7 ). Der Wirkungskreis Hegels auf das russische Geistesleben der 1830er Jahre ist außerordentlich weit gezogen worden 8 ). I m Zuge dieses Einflusses haben auch die Ä u ß e r u n g e n des deutschen Philosophen über A m e r i k a einen Widerhall gefunden. Seine geschichts- und kulturmetaphysische Fragestellung löste eine grundlegende Revision der Einstellung gegenüber Nordamerika aus, die m a n in Zeugnissen des russischen Schrifttums aus den frühen 1830er Jahren bestätigt findet. Die künftigen Theoretiker der Slavophilie und des Westlertums w a n d t e n sich den Vereinigten Staaten zu, weil dieses Beispiel ihren Glauben an die Bestimmung R u ß l a n d s zu bekräftigen schien. So wird Nordamerika in einer Schrift P . Ja. Caadaevs v o m Jahre 1833 g a n z im Sinne Hegels als „ L a n d der Z u k u n f t " anerkannt. V o n ihm erhofft sich Caadaev, daß es, genau wie R u ß l a n d , einst „ d i e Reichtümer der europäischen K u l t u r " erben würde 9 ). D i e Parallele, durch 4)
R. Engelsing, „Deutschland und die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert"; op, cit., S. 1 4 3 . Die Gedanken Hegels zu Nordamerika sind vor allem in der Einleitung der „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" ( 1 8 2 2 8 . ) niedergelegt. Zu Hegels Rückgriff auf das 1 8 . Jahrhundert s. Chinard, „Eighteenth Century Theories . . . " , op. cit., S. 5 2 — 3 . e ) „Vorlesungen . . . " ; Werke (Faks. 1 9 4 9 ) , I X , S. J 2 7 , 128. 7 ) ibid., S. 1 2 9 : 6)
„Amerika ist somit das Land der Zukunft ( . . . ) : ein Land der Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt. ( . . . ) Was sich bis jetzt hier (i. e. in den Ver. St.) ereignet, ist nur der Widerhall der alten Welt, und der Ausdruck fremder Lebendigkeit." 8 ) D. Tschizevskij, „Hegel in Rußland", in „Hegel bei den Slaven" ( 1 9 6 1 ) , S. 1 6 5 ff. ' ) 1 8 3 3 erschien in Moskau eine Abhandlung „ 0 sisteme nauk, priliSnych v naäe vremja detjam, naznaiaemych k obrazovannejsemu klassu obäiestva", die von einem Doktor Jastrebcev, Freund und Mitarbeiter Caadaevs, verfaßt war. Der Abschnitt des Werkes, der von der Zukunft Rußlands handelte, war nach Caadaevs Eingeständnis unter seinem eigenen Diktat entstanden. Darin wird der Gedanke entwickelt, daß die Frucht aller kollektiven Leistungen vergangener Kulturen jedem Neuankömmling („prislec") in der Geschichte sozusagen gratis zur Verfügung stehe (zit. bei M. O. Gersenzon, „ P . Ja. Caadaev. 2izn' i myälenie" [ 1 9 0 8 ] , S. 1 5 0 ) :
„Das ist die Lage Rußlands: es ist in vieler Hinsicht jung, verglichen mit dem alten Europa, und kann wie Nordamerika die Reichtümer der europäischen Kultur unentgeltlich erben."
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die kurz darauf Tocqueville Berühmtheit erlangte, ist bereits hier im K e r n vorgeprägt. A u c h die A n s ä t z e zu N . I. Danilevskijs späterer Kulturzyklentheorie werden offenbar. I . V . Kireevskij, ein H a u p t der slavophilen R i c h t u n g , aber zunächst durchaus v o n westlerischen Ideen beeinflußt, war sich im Grundgedanken mit Caadaev einig. Sein U r t e i l über die Vereinigten Staaten war allerdings mehr als das Caadaevs a m nationalen Geschichtsdenken orientiert. I m Entwicklungsgang des amerikanischen Staates entdeckt K i r e e v s k i j erste bedenkliche A n z e i c h e n : „ E u r o p a bietet heute den A n b l i c k einer gewissen E r s t a r r u n g ; die politische und die sittliche Vervollkommnung stagnieren gleichermaßen. ( . . . ) Unter der gesamten aufgeklärten Menschheit haben zwei Völker nicht am allgemeinen Absterbeprozeß teil: zwei junge, frische Völker blühen hoffnungsvoll a u f : das sind die Vereinigten Staaten u n d unser Vaterland. D o c h die räumliche und politische Entfernung, u n d mehr noch die Einseitigkeit der englischen Bildung der Vereinigten Staaten verlegen alle H o f f n u n g Europas auf Rußland110)." K i r e e v s k i j und Caadaev betrachteten die Vereinigten Staaten schon nicht mehr als politisches Modell v o n exemplarischer Bedeutung sondern eher als einen unverbindlichen geschichtlichen Parallelfall. Zugleich riefen bestimmte Erscheinungen der amerikanischen Zivilisation ihre Entrüstung hervor. Sie war vor allem gegen jenen vermeintlich vorherrschenden Materialismus gerichtet, den schon H e g e l als einen hervorstechenden Grundzug der dortigen Lebensordnung erkannt haben wollte. Die A n k l a g e gegen den Materialismus in den Vereinigten S t a a t e n machte sich Caadaev bereits im ersten seiner „Philosophischen B r i e f e " zueigen. I n d e m er seine S y m p a t h i e n für die nordamerikanischen Indianerstämme ausdrückt, polemisiert er gegen die „materielle K u l t u r der Vereinigten S t a a t e n " , die es so eifrig auf deren Vernichtung abgesehen habe 1 1 ). D a s Beispiel v o n der A u s r o t t u n g der amerikanischen V o l k s s t ä m m e kehrt im zweiten Brief Caadaevs wieder 1 2 ). N . P . Ogarev trieb diese K r i t i k 1832 weiter auf die Spitze. Seine eigenwillige Beweisführung — er veranschaulicht die Uniformität der Vereinigten Staaten anhand der aristokratischen Vielfalt E u r o p a s — ist offensichtlich wiederum v o n Vorstellungen Hegels abgeleitet. Z w a r h a t t e Ogarev anfänglich noch Bewunderung für die hochentwickelte „ S t a a t l i c h k e i t " ( „ g r a i d a n s t v e n n o s t ' " ) der nordamerikanischen R e p u b l i k empfunden, doch tadelte er w e n i g später umso heftiger den notorischen H a n g ihrer Bewohner zur Geschäftigkeit 1 3 ). Die Äußerungen Ogarevs belegen, daß die Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten als sozialpolitischem P h ä n o m e n damals auch in radikalen studentischen Zirkeln Moskaus wiederauflebte. W i e sehr die Ansichten Ogarevs für die Stimmung dieser Kreise repräsentativ waren, zeigt ein früher A r t i k e l Herzens v o m Jahre 1833. A m e r i k a w u r d e darin charakterisiert
10 )
„Obozrenie russkoj slovesnosti za 1829 god" (1830); Werke (19:1), II, S. 38-9. ) „Filosofiieskie pi'ma", Brief I (1829 verfaßt; zuerst 1836 veröffentlicht); zit. bei Gersenzon, op. cit., S. 2r4—5. Im Gegensatz zum Mitgefühl Caadaevs hatte Hegel das Zurückdrängen der Indianer als eine unvermeidliche Folge des Zivilisationsfortschritts mit Gleichmut hingenommen („Vorlesungen . . . " , op. cit., S. 123). 12 ) Gerienzon, op. cit., S. 243. Hier führt Caadaev die „Ausrottung der amerikanischen Volksstämme" als scheinbaren Gegenbeweis gegen seine These an, daß sich die Gesellschaft und die einzelnen Völker seit dem Bestehen des Christentums im wesentlichen nicht verändert hätten. 13 ) Ogarevs anfängliche Bewunderung für die „Staatlichkeit" wurde hervorgerufen durch die Lektüre von J. F. Coopers „Notions of the Americans, Picked Up by a Travelling Bachelor" (1828). Seine Äußerungen sind enthalten in einem Brief an Herzen vom 3. 9. 1832 (zit. in LN, Bd. 61 [1953], S. 708): u
„ in Europa ist mehr Leben, gerade deswegen, weil es eine Aristokratie besitzt; infolgedessen ist immer eine starke Opposition vorhanden. ( . . . ) Das wirst du kaum in Amerika finden; sieh doch selbst, dort dreht sich alle geistige, sogar alle politische Tätigkeit um einen Punkt, oder besser, sie wird von einem Gegenstand absorbiert: der Geschäftigkeit."
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als „Land ohne Geschichte, ohne aristokratische Herkunft, ein Parvenü, der nur die Statistik kennt 14 )." Selbst unter der radikalen Jugend hatte sich also zu Beginn der 1830er Jahre eine reserviertere, skeptischere Einstellung gegenüber den Vereinigten Staaten ausgebreitet. Diese Entwicklung unterstreicht, welchen tiefgreifenden Wandlungen das russische Amerikabild durch die romantische Kultur- und Geschichtsphilosophie ausgesetzt war. Ein neues Selbstverständnis hatte dem traditionellen Amerika-Enthusiasmus aus der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung, der noch bis auf die Dekabristen ausgestrahlt hatte, die Grundlage entzogen. Das Bewußtsein für den wesensmäßigen Gegensatz zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten prägte sich immer deutlicher heraus. E s schlug sich nieder in affektbestimmten Vorurteilen Caadaevs, Kireevskijs und Ogarevs gegen Materialismus und Geistlosigkeit der amerikanischen Zivilisation. Von dort war es nur noch ein Schritt bis zu den antiamerikanischen Simplifikationen einer späteren Literatur.
B ) Die Amerika-Diskussion um Tocqueville I. D i e W i r k u n g d e r „ D e m o k r a t i e in A m e r i k a " Zur Unterrichtung über die Vereinigten Staaten waren die russischen Gebildeten bis zur Mitte der 1830er Jahre immer noch auf völlig unzureichende Quellen angewiesen. Coopers Romane, von Belinskij als eine realistische Selbstinterpretation Nordamerikas gepriesen, hatten diese Lücke weitgehend ausgefüllt. Caadaevs Sympathie für die Indianerstämme beweist, daß ihr Bild auch auf seriöse geisteswissenschaftliche Untersuchungen abgefärbt hatte. Über bescheidene Anfänge hinaus hatte sich eine eigenständige russische Reise- oder Sachliteratur über die Vereinigten Staaten nicht entwickeln können. Lediglich die vielfach unzuverlässige Schilderung Svinins und das Bruchstück des Poletika-Berichts waren verfügbar. Die Möglichkeiten, die darüberhinaus zu Gebote standen, erschöpften sich in gelegentlichen Zeitschriftenartikeln oder fremdsprachlichen Darstellungen. Der objektive Informationswert dieser Publikationen war begrenzt, da es sich vielfach um mehr oder weniger ausgeprägte Tendenzwerke handelte 16 ). Abhilfe schuf hier das Erscheinen eines berühmten französischen Werkes: 1835 wurden in Paris die ersten beiden Bände von A. de Tocquevilles „Demokratie in Amerika" verlegt. Tocqueville gab eine Darstellung der politischen und sozialen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten, die in manchen Zügen bis heute gültig geblieben ist 16 ). Ihr erster Teil gilt der Aufgabe, in die Prinzipien der amerikanischen Demokratie einzudringen, um ihre Arbeitsweise, ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Beschränkungen nach allen Seiten hin auszuleuchten. Diesem praktisch-politischen ersten Teil ließ Tocqueville 1840 einen zweiten Bericht folgen, in dem er über „den Einfluß der Gleichheit gesellschaftlicher Bedingungen und der demokratischen
14
) „ G o f m a n " ( 1 8 3 3 - 4 ) ; Werke, I, S. 69. ) Zum Beispiel erschien 1 8 3 5 im „Moskovskij nabljudatel'" eine umfangreiche Rezension, die aus dem deutschen „Morgenblatt" übernommen war und sich mit Amerikawerken Dudens und Hamiltons auseinandersetzte („Sofinenija ob Amerike", M N I I [ 1 8 3 5 ] , S. 124—147)- Durch diesen Artikel zog sich eine versteckte Polemik gegen die damals in Deutschland um sich greifende Auswanderbewegung. — Im Gegensatz dazu trugen Coopers „Notions of the Americans" (1828) und des Franzosen A . Murat „Lettres sur les Etats-Unis à un de mes amis d ' E u r o p e " (1830) den Charakter von Apologien Amerikas. Beide Werke wurden im frühen Briefwechsel zwischen Ogarev und Herzen diskutiert (s. Anm. 13). 16 ) „ D e la Démocratie en Amérique", Paris 1 8 3 5 ; 1840 (Tl. II). „Alexis de Tocquevilles Amerikabild" ist eine Studie von B. Fabian aus dem J a h r e 1 9 5 7 gewidmet, die in einem reichhaltigen Anhang auf weitere Literatur zu diesem Thema verweist. Zur russischen Wirkungsgeschichte T.s fehlt eine Einzeluntersuchung. 15
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Regierung auf die bürgerliche Gesellschaft, die Gewohnheiten, das Denken und die Sitten in Amerika" handelt 17 ). Tocquevilles epochemachende Arbeit, das Ergebnis einer Reise in die Vereinigten Staaten während der Jahre 1831—2, setzte eine Zäsur in die Entwicklung nicht nur das russischen, sondern des gesamten europäischen Amerikabildes 18 ). Neu und ungewöhnlich an diesem Werk waren sowohl die Art der darin behandelten Probleme als auch seine wissenschaftliche Methodik. Tocqueville nahm erstmals die Gesamtheit der gesellschaftlichen und politischen Tatbestände in den Vereinigten Staaten auf. In seiner Analyse ist er um kritisches Abwägen bemüht, das dem Leser jede Möglichkeit zu objektiver Information und unabhängiger Urteilsbildung offenlassen soll. Uber seine demokratische Grundhaltung läßt er dennoch wenig Zweifel 18 ). Indessen bietet Tocquevilles Darstellung weniger „ein lebendiges und vollständiges Bild des amerikanischen Lebens, sondern eher eine Art von Diagramm darüber, wie das Leben Amerikas aussehen könne, falls die Prinzipien, die seine Entwicklung leiteten, weiterhin Anwendung fänden 20 )." Stets hat der Autor die französischen Zustände vor Augen; sein Werk ist ein weiterer Beitrag zu jener Linie von programmatischer Amerika-Literatur, die sich mit der Unabhängigkeitsbewegung der ehemals englischen Kolonien seit dem Ende des 18. Jahrhunderts über ganz Europa verbreitet hatte. Von der wirklichkeitsbezogenen Schilderung Tocquevilles zerstob jener poetisierende Romantismus, mit dem das Amerikabild der Epoche bis dahin gewöhnlich ausgeschmückt wurde. Obwohl der Autor gegenüber den Reizen der amerikanischen Natur durchaus nicht unempfänglich war 21 ), unterdrückte er in seinem Hauptwerk über die Vereinigten Staaten jede gefühlsmäßige Übertreibung. Der den Indianern gewidmete Abschnitt der „Demokratie in Amerika" gibt einen in seiner Sachlichkeit erschütternden Bericht über das Elend der Urbevölkerung, deren unausweichlichen Untergang Tocqueville ohne Sentimentalisierung voraus-
17 ) „ Ü b e r die Demokratie in Amerika", Einleitung des Autors, „ W e r k e und Briefe" Tocquevilles ( i 9 5 9 f f . ) , I, S. 17. 18 ) In Bezug auf Deutschland siehe T . Eschenburgs E s s a y „Tocquevilles Wirkung in Deutschland"; „ W e r k e und Briefe", op. cit., I, S. X V I I - L X V I I . Gleich nach seinem Erscheinen wurde Tocquevilles Buch in Frankreich durch L. Faucher, Sainte-Beuve, Louis Blanc, in England durch J . S. Mill und Sir R . Peel besprochen. In Frankreich führte die Wirkung Tocquevilles damals zum Einsturz des alten idealisierenden Amerikabildes aus der Zeit der nordamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung; vgl. im einzelnen Fabian, op. cit., S. 22. 19 ) „ D i e Demokratie belehren, wenn möglich ihren Glauben beleben, ihre Sitten läutern, ihre Bewegungen ordnen, nach und nach ihre Unerfahrenheit durch praktisches Wissen, die blinden Regungen durch die Kenntnis ihrer wahren Vorteile ersetzen; ihre Regierungsweise den Umständen der Zeit und des Orts anpassen; sie je nach Verhältnissen und Menschen ändern; das ist die erste Pflicht, die heute den Lenkern der Gesellschaft auferlegt ist." („Über die Demokratie in Amerika", Einleitung des Autors, op. cit., S. 9) 20 ) Chinard, „ T h e American D r e a m " , op. cit., S. 2 1 0 :
„ . . . 'Democracy in America' does not present a vivid and complete picture of American life, but rather a sort of diagram of what American life might become if the principles which directed its development continued to a p p l y . " 21 ) Tocqueville, ein Neffe Chateaubriands, war in seiner Jugend selbst von Vorstellungen des AmerikaExotismus befangen. Sein Reisebericht „ I n der Nordamerikanischen Wildnis" (verfaßt um 1 8 3 1 ) läßt solche Einflüsse ahnen. Dort ist sein „ H e r z von sanften und schmerzlichen Gefühlen bewegt" angesichts des „unsagbaren Zaubers", der „wilden Größe" der Natur ( „ I n der Nordam. Wildnis", op. cit., S. n r , 97, 85). Bezeichnend ist Tocquevilles Anmerkung zu einer Szene, die die Begegnung mit einem indianisch gekleideten Europäer im Urwald wiedergibt. E r notiert: „ I c h glaube, dies ist zu streichen, es sieht zu sehr nach Cooper a u s " (ibid., S. 64, S. 1 2 2 ) .
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zeichnet 22 ). In gleichem Maße entzaubert er das Pionierleben der „ F r o n t e e r s " ; als Antrieb zu ihrer Tätigkeit legte er einen höchst prosaischen Drang zur Selbstbestätigung frei 2 3 ). In einer vielzitierten Schlußbetrachtung bringt Tocqueville das Schicksal der Vereinigten
Staaten
ausdrücklich mit dem Rußlands in Verbindung. Beiden Ländern sagt er als jungen aufstrebenden Kräften eine große Z u k u n f t voraus 2 4 ). Hier wurde eine Auffassung präzisiert, durch deren Vordeutungen seit den 1820er Jahren eine Krise des europäischen Selbstbewußtseins angezeigt worden war 2 8 ). In Rußland dagegen mußte die Prognose Tocquevilles weniger eine E r schütterung als eine Bestätigung des nationalen Hochgefühls hervorrufen. Bereits
Svinin
hatte, als er im J a h r e 1 8 1 3 erstmals auf die Parallelen zwischen Nordamerika und Rußland aufmerksam machte, diese Reaktion erkennen lassen. Tocquevilles Vergleich deckte einen aktuellen Bezugspunkt auf, der im russischen Schrifttum seit den 1830er Jahren immer wieder zu Spekulationen und eigenwilligsten Zweckdeutungen Anlaß gegeben hat. Die Auseinandersetzung mit der „Demokratie in A m e r i k a " hatte bereits unmittelbar nach Erscheinen der französischen Ausgabe auf Rußland übergegriffen. A u s manchen Zeugnissen spricht die Bestürzung, mit der man die revolutionierende Darstellung des französischen Autors aufnahm. Puschkin bemerkt 1 8 3 6 im Entwurf eines Briefes an C a a d a e v : „ A v e z - v o u s lu Tocqueville ? Il m ' a effrayé. J e suis encore tout chaud et tout effrayé de son livre 2 6 )." U m die Förderung Tocquevilles in Rußland war besonders eifrig A . I. Turgenev bemüht. In seinem damaligen Aufenthaltsort Paris verfaßte er Reportagen des europäischen Geistes-
22
) „ Ü b e r die Demokratie in A m e r i k a " ; I, S. 3 7 2 f f . ( K a p . : „Gegenwärtiger Zustand und wahrscheinliche Zukunft der Indianerstämme, die das Gebiet der Union bewohnen"): „ V o n welcher Seite immer man das Schicksal der Eingeborenen Nordamerikas betrachtet, man sieht nur unheilbare Übel: bleiben sie Wilde, so stößt man sie im Vorrücken vor sich her, wollen sie Kultur annehmen, so liefert sie die Berührung mit Menschen, die zivilisierter sind als sie, der Unterdrückung und dem Elend aus. Irren sie weiter von Wildnis zu Wildnis, so gehen sie zugrunde ; versuchen sie seßhaft zu werden, so gehen sie ebenfalls zugrunde. Sie können sich nur mit Hilfe der Europäer bilden, und das Nahen der Europäer verdirbt sie und stößt sie in die Barbarei zurück." **) „ Ü b e r die Demokratie in A m e r i k a " , op. cit., I I , S. 87: „ M a n befaßt sich in Europa viel mit den Wildnissen Amerikas, aber die Amerikaner denken keineswegs daran. Die Wunder der unbeseelten Natur lassen sie unberührt, und sie bemerken die herrlichen Wälder, die sie umgeben, sozusagen erst im Augenblick, da sie unter ihren Schlägen fallen. E i n anderer Anblick erfüllt ihr Auge. Das amerikanische Volk sieht sich selbst, wie es durch diese Wildnisse schreitet ( . . . ) . " 24
) Diese Bemerkungen Tocquevilles, in denen er vor allem die Alternative zwischen freiheitlicher Demokratie und Tyrannei an einem praktischen Beispiel veranschaulichen wollte, sind oft genug mißverstanden worden; siehe Fabian, op. cit., S. 80ff. Tocqueville schreibt unter anderem („Demokratie", Werke, I, S. 478-9): „ E s gibt heute auf Erden zwei große Völker, die, von verschiedenen Punkten ausgegangen, dem gleichen Ziel zuzustreben scheinen : die Russen und die Angloamerikaner. ( . . . ) Alle anderen Völker scheinen die Grenzen ungefähr erreicht zu haben, die ihnen die Natur gezogen hat, und nur noch zum Bewahren da zu sein; sie aber wachsen: alle anderen stehen still oder schreiten nur mit großer Mühe weiter ; ( . . . ) . Dem einen ist Hauptmittel des Wirkens die Freiheit; dem anderen die Knechtschaft. Ihr Ausgangspunkt ist verschieden, ihre Wege sind ungleich; dennoch scheint jeder von ihnen nach einem geheimen Plan der Vorsehung berufen, eines Tages die Geschicke der halben Welt in seiner Hand zu halten." 25 ) Siehe D. Groh, „ R u ß l a n d und das Selbstverständnis E u r o p a s " (1961), S. I 2 4 f f . Zur Entstehung dieser Prognose aus den Anschauungen der Zeit siehe auch Fabian, op. cit., S. 82 ff. 26 ) Brief vom 19. 10. 1836; Werke, X V I , S. 261. Die ersten beiden Bände der „Demokratie in A m e r i k a " befanden sich in Puschkins Bibliothek.
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lebens, die unter dem Titel „Chronik eines Russen in P a r i s " zu wesentlichen Teilen in Puschkins „ S o v r e m e n n i k " veröffentlicht wurden. Der russische Leser konnte ihr verschiedenste Hinweise auf das W e r k Tocquevilles entnehmen und unter anderem dort die Parallele zwischen R u ß l a n d und A m e r i k a im Originaltext nachverfolgen. D i e v o n T u r g e n e v hinzugesetzten Erläuterungen m u ß t e n allerdings auf Geheiß der Zensoren größtenteils gestrichen werden 2 7 ). O b w o h l die Zensur erst 25 Jahre nach der französischen Erstausgabe eine russische Übersetzung der „ D e m o k r a t i e in A m e r i k a " zuließ 28 ), konnte sie doch nicht verhindern, daß die Gedanken Tocquevilles inzwischen z u m Gemeingut der gebildeten Kreise aller Richtungen wurden. Schon bald war Tocquevilles Schrift als klassisches Quellenwerk über A m e r i k a anerkannt, das für die Anschauungen des 19. Jahrhundert v o n großem Einfluß blieb. Besonders von den Sozialrevolutionären Debattierklubs, zum Beispiel den A n h ä n g e r n Petraäevskijs, wurde es als Informationsmittel geschätzt 2 9 ). Die „ D e m o k r a t i e in A m e r i k a " rückte die Vereinigten Staaten seit der Mitte der 1830er Jahre wieder in das Zentrum der geistigen Interessen Rußlands. D a b e i wurde an jene Fragestellungen angeknüpft, die unter dem Einfluß der romantischen Geschichtsphilosophie kurz zuvor a k u t geworden waren. N a c h d e m die Voraussetzungen für eine sachliche Auseinandersetzung geschaffen waren, riß der Streit der Meinungen über die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen Nordamerikas für lange Zeit nicht mehr ab. Sowohl die Gegner als auch die Befürworter der Vereinigten Staaten stützten sich dabei auf Tocqueville, der so reichhaltige Anregungen gegeben und eine Fülle an Material zur Interpretation freigestellt hatte. Die L e k t ü r e Tocquevilles führte allenthalben zu der Erkenntnis, daß die romantischen Naturschilderungen Coopers und Chateaubriands eine Illusion begründet hatten, die der E r klärung des zeitgemäßen A m e r i k a nicht mehr gerecht werden konnte 3 0 ). U m s o mehr wurde m a n sich des eminent politischen Kerns der Thesen Tocquevilles b e w u ß t . Schon angesichts der reformbedürftigen gesellschaftlichen Zustände R u ß l a n d s ließ die „ D e m o k r a t i e in A m e r i k a " eine neutrale akademische Beschäftigung k a u m zu, sondern forderte geradewegs zur Parteinahme heraus. D u r c h die weltanschauliche Orientierung der jeweiligen Interpreten und ihre Stellung gegenüber den nationalen Fragen w u r d e diese Parteinahme mehr denn j e präjudiziert. Sie äußerte sich nicht so sehr in einer grundsätzlichen A n n a h m e oder A b l e h n u n g Tocquevilles als in der A r t , welche Partien seines W e r k e s m a n zur Kommentierung heranzog u n d wie m a n sie auslegte. Die geistigen Fronten jener Jahre werden unter anderem an dieser stets v o n T o c queville abgeleiteten Einstellung gegenüber den Vereinigten Staaten sichtbar. Seit den 1860er Jahren wurde Tocquevilles Schrift durch die F l u t des nun einsetzenden russischen Schrifttums über die Vereinigten Staaten zusehends entwertet. W ä h r e n d der Kritiker N . A . D o b r o l j u b o v , eine für die damaligen Verhältnisse hervorragend über A m e r i k a informierte Persönlichkeit des literarischen Lebens, das W e r k noch 1859 unentbehrliche Stand s rdlektüre empfohlen hatte 3 1 ), veröffentlichte N . G . Cernyäevskij 1860 eine wenig schmeichel27 ) „Chronika Russkogo v Parize" in „Chronika Russkogo" (1964); S. 73-4. In den von der Zensur beanstandeten Passagen (ibid., S. 515—6) bekräftigt Turgenev die Hoffnungen Tocquevilles auf ein weiteres Anwachsen demokratischer Bestrebungen. Nach eigenen Angaben traf Turgenev in Paris mehrmals mit Tocqueville zusammen und hörte den Amerikabericht zum Teil aus dessen Munde („Chronika Russkogo", S. 86, 231). Ein Exemplar der „Demokratie in Amerika" sandte er damals an A. N. Tatarinov, einen Bekannten in Rußland („Ost. arch.", III, S. 298—9). M ) „Demokratija v Amerike", Kiev 1860 (übers, von A. JakuboviS; in 4 Bdn.). Eine Neuauflage erschien seither nur noch einmal (Moskau 1897). 2a ) Eine Variante zu Tolstojs „Anna Karenina" (1873—6) wies Tocqueville immer noch einen Platz unter den „ernsten" Modeschriftstellern der Zeit zu (Werke, X X , S. 487). Inzwischen war allerdings Tocquevilles zweites berühmtes Werk, „L'Ancien Régime et la Révolution" (1856), erschienen. 30) Diese Einsicht formulierte aus der Rückschau Dobroljubov, wenn er zur früheren Popularität Coopers und Gerstäckers in Rußland bemerkt, daß sie „mehr mit der Natur des Landes als mit dem staatsbürgerlichen Leben ihrer Bewohner bekanntmachten"; Rezension von 1859; Werke, II, S. 489. 81 ) Rezension im „Sovremennik"; Werke, II, S. 490.
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hafte Rezension, die die Gültigkeit der „Demokratie in Amerika" erheblich einschränkte und mit ihrer Zeitgebundenheit und Widersprüchlichkeit kritisch ins Gericht ging. Cernyäevskij machte schon im Titel seines Artikels klar, daß er Tocqueville vom Podest des „genialen Denkers" stoßen wolle 32 ). Seither hatte der Nimbus Tocquevilles zumindest unter den radikalen Intellektuellen manches von seiner Unfehlbarkeit eingebüßt.
2. P u s c h k i n s „ J o h n
Tanner"
Durch A .1. Turgenevs „Chronik eines Russen in Paris" war Puschkin sogleich auf das neue Werk Tocquevilles aufmerksam geworden. Die Frucht seiner Beschäftigung mit der „Demokratie in Amerika" ist in der kritischen Besprechung „ J o h n Tanner" vom Jahre 1836 enthalten, die der französischen Ausgabe eines amerikanischen Erlebnisberichtes über die Indianer zugedacht war 33 ). Der Artikel Puschkins bietet ein aufschlußreiches Zeugnis für den Umbruch, der sich im russischen Amerikabild gegen Ende der 1830er Jahre anzubahnen beginnt. Eine disparate Komposition läßt bereits die Widersprüchlichkeit seiner Aussage erahnen: im Anfangs- und Schlußteil der Besprechung legt Puschkin seine zeitgemäßen Ansichten über die Vereinigten Staaten dar; der Mittelteil, bei weitem der voluminöseste Abschnitt des Werkes, zeichnet liebevoll Details aus dem Schicksal des John Tanner nach, eines verschleppten Weißen, der dreißig Jahre lang das Leben nordamerikanischer Indianer teilte. Zu diesem Zweck versah Puschkin seinen Bericht mit einer reichen Auswahl von übersetzten Zitaten aus der französischen Vorlage. Das Schwanken zwischen Realismus und Romantik, zwischen einer gefühlsmäßigen Vorliebe für das exotische Nordamerika Chateaubriands und Coopers und einer rationalen Durchdringung der Wirklichkeit, ist charakteristisch für Puschkins Verständnis Amerikas, wie es sich in der „Tanner"-Rezension offenbart. Bei der Niederschrift stand der Autor augenscheinlich im Spannungsfeld jener gegensätzlichen Literatur, die das Amerikabild seiner Zeit maßgeblich bestimmte. Der Einblick in die von ihm herangezogenen Quellen erlaubt heute eine zuverlässige Rekonstruktion seiner Methodik34). Mit der Einleitung des Artikels schien Puschkin zunächst nahezulegen, daß er sich die Auseinandersetzung mit dem irrealen Amerikabild Chateaubriands und Coopers zum Ziel setze:
32 ) Cernyäievskijs Artikel, der der Übersetzung Jakubovics gewidmet war, (vgl. Anm. 28) erschien im „Sovremennik" des Jahrgangs 1861 unter dem Titel „Nepoititel'nost' k avtoritetam"; siehe Werke, V I I , S. 6 8 5 - 7 0 6 . Zwar erkannte £ . den Rang Tocquevilles als berühmter Autorität an, die auch in Rußland geschätzt werde, und bescheinigte ihm, daß sein Werk „einen bedeutenden P l a t z " in der politischen Literatur einnehme, doch findet er auch, daß man ihm bei weitem mehr Ruhm zugemessen habe, als ihm in Wahrheit zukomme. Über die „Demokratie" sagt er:
„ . . . man muß hinzufügen, daß ihre faktische Seite — die Erläuterung der Gesetze der Vereinigten Staaten — gut ist; auch darüberhinaus kann man darin vielleicht viele nützliche Seiten finden, die von einem anscheinend nicht dummen Menschen geschrieben sind. ( . . . ) Im Kopf des Autors herrscht ein solcher Wirrwarr, daß keine Möglichkeit besteht, seiner Denkweise auch nur die geringste Bedeutung beizumessen." (op. cit., S. 702) *") „ A Narrative of the Captivity and Adventures of John Tanner Düring Thirty Years Residence Among the Indians", New Y o r k 1830. Ernest de Blosseville gab diesen Bericht 1 8 3 5
einer Einleitung
und kommentierenden Anmerkungen in französischer Übersetzung heraus. Dieser Ausgabe galt Puschkins „ D z o n Tenner", der 1 8 3 6 im „Sovremennik" erschien (III, S. 2 0 5 - 5 6 ; hier stets zitiert nach Puschkins Werken, X I I , S. 104—132). 34
) Zum Verständnis dieser Zusammenhänge ist die neueste Studie von J . T . Shaw von grundlegender
Bedeutung; „ P u l k i n on America" in „Orbis Sciptus" (1966), S. 7 3 9 - 5 6 .
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„Die Sitten der nordamerikanischen Wilden sind uns aus der Beschreibung berühmter Romanciers bekannt. Doch Chateaubriand und Cooper haben uns beide die Indianer von ihrer poetischen Seite dargestellt und die Wahrheit mit den Farben der Inspiration überdeckt. ,Die in den Romanen präsentierten Wilden', schreibt Washington Irving, ,sind den echten Wilden ebenso ähnlich wie idyllische Schäfer den gewöhnlichen Schäfern' 3 5 ). Genau das haben auch die Leser geargwöhnt, und da man den Worten der verführerischen Erzähler nicht glaubte, verminderte sich auch das Vergnügen, das sie durch ihre brillanten Werke bereiteten 3 6 )." Puschkins Kampfansage gegen das Amerikabild der romantischen Literatur mündete jedoch in einem vielsagenden Kompromiß. Der Verfasser konnte sich selbst dem Reiz der nordamerikanischen Exotismen zu wenig entziehen, um nicht wiederholt in breite Schilderungen des urtümlichen Lebens der Indianer, ihrer Jagden, Fehden und Kriegszüge zu verfallen. Gerade die abenteuerlichen und pittoresken Ingredienzen seines Sujets fesseln ihn sichtlich. Die idealisierte Naturwelt romantischer Vorstellung erstand hier zu neuem Leben. Auch das „Atala"-Motiv griff Puschkin für seine Schilderung heraus, wenngleich er es in einer trivialen Abwandlung beschrieb 37 ). In diesen deskriptiven Teil des Tanner-Artikels sind nur gelegentlich Kommentare eingelassen, die auf das Bemühen des Autors um einen neuen Realismus der Amerikadarstellung schließen lassen könnten. Abweichend vom Fluß seiner Nacherzählung vertraut Puschkin dem Leser einmal an, daß „Leichtsinn, Haltlosigkeit, Hinterlist und Grausamkeit die Hauptlaster der wilden Amerikaner" seien 38 ). An anderer Stelle will er verdeutlichen, daß die Geschichte Tanners auf ihn selbst lediglich einen vordergründigen Reiz der Primitivität ausstrahle: „Die Aufzeichnungen' Tanners bieten ein lebendiges und trauriges Bild. In ihnen ist eine gewisse Einförmigkeit, eine gewisse traumhafte Inkohärenz und Gedankenarmut, die einen Begriff vom Leben des amerikanischen Wilden geben 3 9 )." Seine Gedanken über das moderne nordamerikanische Staatswesen legte Puschkin im einleitenden und abschließenden Rahmen des „Tanner"-Artikels nieder. Sie sind im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit der „Demokratie in Amerika", die jedoch auf eine nur mehr dürftig verbrämte Bausch-und-Bogen-Verdammung der Vereinigten Staaten hinausläuft:
M ) Dieses Zitat entnahm Puschkin der Einführung Blossevilles, wohin es — in leicht entstellter Form — übernommen worden war. Als Quelle nennt Shaw (op. cit., S. 745) Irvings Essay „Traits of Indian Character" aus dem „Sketch Book". B . Mar'janov, der inzwischen eine Geschichte der Irrungen über die Kommentierung dieser Textstelle schrieb, weist dagegen Irvings „ A Tour on thc Prairie" als ultimative Quelle aus („Ob odnom primecanii k stat'e A . S. Puskina 'Dzon Tenner'" in „ R u s s k a j a Literatura", 1962, I, S. 64—7). In den Kommentaren zu sowjetischen Puschkin-Ausgaben findet man, wie Mar'janov für viele Fälle nachweist, bis heute unzutreffende Angaben. So wird in der von B. V . Tomasevskij kommentierten 10-bändigen Akademie-Ausgabe aus den Jahren 1956—8 diese Stelle als „ Z i t a t aus dem Vorwort W . Irvings zu den 'Aufzeichnungen' John Tanners" definiert (Bd. V I I , S. 7 1 1 ) . M ) „ D i o n Tenner", op. cit., S. 105. 37 ) „ D z o n Tenner", op. cit., S. 122ÍT. Puschkin erzählt hier die erste Liebe Tanners zu einem jungen Indianermädchen nach, von der er befindet, daß sie „einen wilden R e i z " ausstrahle. Diese Liebesgeschichte nimmt allerdings einen recht prosaischen Verlauf, da Tanner seine erste Frau nach kurzer E h e bald wieder verläßt. M 39
) „ D i o n Tenner", op. cit., S. 1 1 6 . ) „ D i o n Tenner", op. cit., S. 1 1 0 .
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„Seit einiger Zeit lenken die Nordamerikanischen Staaten die Aufmerksamkeit äußerst weitblickender Leute in Europa auf sich. Nicht politische Vorträge tragen daran die Schuld: das blühende und bis heute ungefährdete Amerika widmet sich in Ruhe seinem Wirkungsfeld ( . . . ) • Doch einige tiefblickende Geister haben sich kürzlich mit der Erforschung der amerikanischen Sitten und Bestimmungen befaßt, und ihre Beobachtungen warfen erneut Fragen auf, die man schon längst entschieden wähnte. Die Achtung vor diesem neuen Volk und seiner Gesetzesordnung, der Frucht der jüngsten Aufklärung, begann heftig zu schwanken. Mit Verwunderung haben wir die Demokratie in ihrem abscheulichen Zynismus gesehen, in ihren grausamen Vorurteilen, in ihrer unerträglichen Tyrannei. Alles Edle, Selbstlose, die menschliche Seele Erhebende wird durch unerbittlichen Egoismus und das Streben nach materiellem Wohlstand (comfort) erdrückt; eine Mehrheit, die in unverschämter Weise die Gesellschaft knechtet ; die Negersklaverei inmitten von Bildung und Freiheit; genealogische Verfolgungen inmitten eines Volkes, das keinen Adelsstand kennt; auf Seiten der Wähler Habgier und Neid; auf Seiten der Herrschenden Zaghaftigkeit und Kriecherei; Talente, die, um die Gleichheit zu achten, zu freiwilligem Ostrazismus gezwungen sind; ( . . . ) so sieht das Bild der Vereinigten Staaten aus, wie es uns vor kurzem dargestellt wurde 40 )." Die Analyse dieser Ausführungen hat inzwischen überzeugend erwiesen, daß Puschkin darin in recht einseitiger, manchmal gar sinnentstellender Weise die Kritik verschiedener französischer Sekundärquellen kompilierte. Unter ihnen ragt Tocqueville als die bedeutendste und zugleich auch seriöseste Quelle heraus. Den kurzgefaßten Anklagen des „Tanner"-Artikels gegen die Vereinigten Staaten liegen zumeist bestimmte kritische Bemerkungen der „Demokratie in Amerika" zugrunde, die Puschkin aufgriff, verabsolutierte und mit einem neuen emotionellen Gehalt ausstattete 41 ). Daß er das Werk Tocquevilles gelesen hatte, hatte Puschkin selbst bestätigt; aus ihm hatte er auch die Anregung zur Lektüre des Tanner-Buches entnommen42). Auch jene Passagen der Einleitung, in denen über die zynischen Mittel zur Ausrottung der indianischen Urbevölkerung gehandelt wird, gehen zweifellos auf die „Demokratie in Amerika" zurück. Puschkin teilte den Pessimismus Tocquevilles, daß die Indianer bald völlig vernichtet sein würden; „so oder so, durch Feuer und Schwert oder Rum und Verleumdung, oder durch 40
) „ D i o n Tenner", op. cit., S. 104. ) Shaw, op. cit., S. 749 s . , weist im einzelnen nach, wie Puschkin die Terminologie Tocquevilles „emotionalisierte". Zu Puschkins weiteren Quellen siehe Shaw, S. 740 ff. Danach sind Entlehnungen vor allem aus G. de Beaumonts „Marie, ou l'Esclavage aux E t a t s - U n i s " ( 1 8 3 5 ) anzunehmen. Beaumont, der Reisebegleiter Tocquevilles in Amerika, schrieb eine A r t von vorweggenommenem „Onkel T o m " über die Not der amerikanischen Neger. Zwei weitere Darstellungen Amerikas wurden in Puschkins Bibliothek ermittelt: M. G. Lewis, „ J o u r n a l of a West Indian Proprietor" (1834), außerdem ein Werk des Colonel T . Hamilton in der französ. Version „ L e s hommes et les moeurs aux Etats-Unis d'Amérique" (1834). 42 ) „ D e m o k r a t i e " ; op. cit., I, S. 3 8 4 - 5 (Fußn.). Hier hatte Tocqueville seinen Lesern das Erscheinen der „Tanner"-Aufzeichnungen mitgeteilt und auf die Ausgabe Blossevilles verwiesen; sie sei ein unentbehrliches Requisit für alle, „die den jetzigen Zustand und das künftige Los der indianischen Rassen Nordamerikas kennenzulernen wünschen." Darauf scheint Puschkin Bezug zu nehmen, wenn er feststellt, daß die Glaubwürdigkeit des „Tanner"-Berichtes über jeden Zweifel erhaben sei ( „ D z o n Tenner", op. cit., S. 105). Indessen stand Tocqueville dem Werk Tanners mit weit größeren kritischen Vorbehalten gegenüber als Puschkin. E r bemängelte, daß man darin „weder Ordnung noch Geschmack" finde, daß aber „der Verfasser, ohne es selbst zu wissen, ein lebhaftes Bild der Vorurteile, der Leidenschaften, der Laster und vor allem des Elends derer (gibt), in deren Mitte er lebte." Diese Äußerung Tocquevilles wandelte Puschkin in seinem Sinne ab (s. Anm. 39). Auf Puschkin anwendbar ist die Feststellung Tocquevilles, daß das abenteuerliche Indianerleben nach A r t des „ J o h n Tanner" „eine unwiderstehliche Anziehungskraft (ausübt), die das Herz des Menschen ergreift und ihn trotz Vernunft und Erfahrung mitreißt." 41
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M i t t e l sittlicherer A r t 4 3 ) " . D u r c h einen ironischen S c h l u ß a b s a t z , der die A m e r i k a n i s i e r u n g T a n n e r s n a c h dessen R ü c k k e h r a u s der W i l d n i s als einen b e d a u e r n s w e r t e n C h a r a k t e r v e r f a l l darstellt, w u r d e die g e g e n die zeitgenössische n o r d a m e r i k a n i s c h e Z i v i l i s a t i o n g e r i c h t e t e T e n denz des A r t i k e l s noch e i n m a l b e k r ä f t i g t : „ E r h a t seine interessanten A u f z e i c h n u n g e n ' sehr v o r t e i l h a f t v e r k a u f t u n d w i r d w a h r scheinlich in K ü r z e M i t g l i e d der , G e s e l l s c h a f t f ü r M ä ß i g u n g ' w e r d e n . K u r z , es b e s t e h t H o f f n u n g , daß T a n n e r m i t der Z e i t ein echter Y a n k e e w i r d , w o z u w i r ihn a u c h a u f r i c h t i gen Herzens beglückwünschen44)." D i e R e c h e r c h e n h a b e n ergeben, daß eine W a n d l u n g T a n n e r s z u m „ e c h t e n Y a n k e e " nie stattgefunden hat. Diese Tatsache hätte Puschkin im übrigen auch dem Werk Tocquevilles e n t n e h m e n können 4 5 ). Sein W i l l e zur S a c h l i c h k e i t w u r d e hier w i e d e r u m v o n der polemischen A b s i c h t überspielt. H i n t e r P u s c h k i n s A t t a c k e auf die gesellschaftlichen Z u s t ä n d e in den V e r e i n i g t e n
Staaten
t r i t t schließlich eine b e s t i m m e n d e M o t i v a t i o n h e r v o r : die g e r a d e z u p a t h o l o g i s c h e A b n e i g u n g ihres A u t o r s gegen j e d e A r t v o n G e m e i n w e s e n , die die S c h r a n k e n v o n G e b u r t u n d H e r k u n f t zug u n s t e n eines rein egalitären P r i n z i p s aufgebe 4 6 ). D e r T e r m i n u s „ D e m o k r a t i e " w u r d e v o n P u s c h kin in dieser einseitig n e g a t i v e n R i c h t u n g i n t e r p r e t i e r t . Seine V o r s t e l l u n g v o n den V e r e i n i g t e n S t a a t e n , w i e er sie aus d e m T o c q u e v i l l e s c h e n W e r k ersah, v e r b a n d sich m i t d e m A l p t r a u m einer t o t a l e n sozialen N i v e l l i e r u n g . D i e L e k t ü r e der „ D e m o k r a t i e in A m e r i k a "
vergegenwärtigte
i h m u n w i l l k ü r l i c h die G e f a h r e n , die die E n t w i c k l u n g der V e r e i n i g t e n S t a a t e n a u c h f ü r sein L a n d m i t sich b r ä c h t e , eine Ü b e r l e g u n g , die ihn so sehr b e s t ü r z t e , d a ß sie i h m selbst die A u t o k r a t i e als eine w ü n s c h e n s w e r t e A l t e r n a t i v e erscheinen ließ 4 7 ).
4S ) „ D z o n Tenner", op. cit., S. 104. Tocqueville äußert mit der gleichen Bitternis („Demokratie", op. cit., I, S. 393): „ M a n könnte die Menschen nicht mit mehr Ehrfurcht vor den Gesetzen der Menschlichkeit vernichten." 44 ) „ D z o n Tenner", op. cit., S. 132. 45 ) Zum Beweis s. Shaw, op. cit., S. 755. — Tocqueville bezeugt („Demokratie", op. cit., I, S. 384): „ I c h selbst traf Tanner am Ende des Oberen Sees. E r schien mir weit eher einem Wilden als einem Kulturmenschen zu gleichen." 4e ) Siehe Shaw, op. cit., S. 7 5 3 f . 47 ) In dem zitierten Briefentwurf des Jahres 1836 (vgl. Anm. 26) schreibt Puschkin: „ . . . c'est L'Empereur actuel, qui le premier a posé une digue (bien faible encore) contre le débordement d'une démocratie, pire que celle de l'Amérique." Es entbehrt nicht der Ironie, daß Puschkin, dessen Einstellung zu Nordamerika eine nach marxistischer Terminologie eher „reaktionäre" Haltung zugrundelag, von der sowjetischen Literaturwissenschaft immer wieder als „fortschrittlicher" Gegner der Vereinigten Staaten zitiert worden ist, der die Praxis der amerikanischen „Scheindemokratie" früher als alle anderen durchschaut habe. Bis 1945 allerdings wurde dem „Tanner"-Artikel nur bescheidene Beachtung zuteil. Der Puschkin-Forscher A. S. Orlov klassifizierte das Werk schlicht als „Journalnacherzählung der exotischen Biographie J o h n Tanners" („Puskin — sozdatel' russkogo literaturnogo j a z y k a " in „Vremennik", I I I [1937] S. 41). — V. M. Zirmunskij dagegen vermeinte schon, darin „tiefe kritische Bemerkungen über die bourgeoise Ordnung der jungen amerikanischen Zivilisation" festzustellen, die Puschkin gleichsam „ i m Vorübergehen" vorgebracht habe („Puskin i zapadnye literatury" in „ V r e m . " , I I I , S. 93). Die proamerikanischen Sammeldarstellungen Starcevs (1942) und Kameneckijs (1943) übergingen den Artikel völlig. Unter den Vorzeichen einer zunehmenden politischen Spannung mit d e n U S A kam es seit 1946 zu einer regelrechten Neuentdeckung und Neueinschätzung des „ J o h n Tanner". Die antiamerikanischen Äußerungen Puschkins drangen bald bis in die Lehrbücher der Schulen vor (siehe z. B . „ P u s k i n v portretach i illjustracijach. Posobie dlja uCitelej srednej s k o l y " [ 1 9 5 1 ] , S. 261). Seither rangiert der „ T a n n e r " Artikel unter den meistzitierten, freilich auch — wie kürzlich von B . Mar'janov (op. cit., S. 64) bemängelt wurde — unter den am dürftigsten kommentierten Werken Puschkins. Von der damals inszenierten Kampagne wurde auch die sowjetische Literaturforschung dauerhaft erfaßt. Sie begann nun systematisch, Puschkins „scharfe Kritik an der amerikanischen Pseudodemokratie" hervorzuheben;
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Mit Puschkins Artikel wurde ein Exempel statuiert, das anzeigte, welche Möglichkeiten die „Demokratie in Amerika" einem voreingenommenen Betrachter zur Interpretation offenließ. Aus der wohlausgewogenen Darstellung Tocquevilles, die sowohl die positiven als auch die negativen Anzeichen der sozialen und politischen Entwicklung in den Vereinigten Staaten registriert hatte, exzerpierte Puschkin einen Katalog von Entartungserscheinungen. Eine allzu flüchtige Lektüre ließ ihn die demokratische Ordnung Amerikas als System gesellschaftlicher Uniformität mißverstehen, gegen das sein aristokratisches Bewußtsein ungestüm revoltierte. Seine Polemik kündigte die affektgeladene geistige Atmosphäre der Folgezeit an, die schließlich das Bemühen um Objektivität durch schematische Schlagworte verdrängte.
3. B e l i n s k i j . H e r z e n s „ W i l l i a m
Penn"
Puschkins „Tanner"-Rezension läßt erkennen, in welchem Maße das Werk Tocquevilles sofort nach seinem Erscheinen als Plattform einer neuen Diskussion akzeptiert war. Veröffentlicht in einem führenden Journal der damaligen Zeit 48 ), mußte der Artikel Puschkins das Interesse der russischen Öffentlichkeit für Nordamerika nachdrücklich bestärken. Sein Wirkungskreis ist gelegentlich allzu weitläufig beschrieben worden 49 ); ein Einfluß gerade auf die Zirkel der literarisch Gebildeten ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Es war sicherlich mehr als bloßer Zufall, wenn sich in Belinskijs und Herzens Stellungnahmen zum Werk Tocquevilles nur wenig später die gleichen Mißverständnisse wie bei Puschkin wiederholen. Von Belinskij liegt kein eindeutiger Hinweis darauf vor, daß er die „Demokratie in Amerika" je gelesen habe. Aus verschiedenen Zeugnissen geht jedoch hervor, daß auch er um 1836, dem Zeitpunkt der allgemeinen Debatte um Tocqueville, mit den Entwicklungen in den Vereinigten Staaten intensiv befaßt war. Bei seiner Urteilsbildung verfuhr Belinskij nach schon bewährtem Muster. Indem er einen Katalog von Voreingenommenheiten verfaßte, kopierte er das Vorgehen Puschkins. Seine Ableitungen legen die Vermutung nahe, daß auch er das Werk Tocquevilles zumindest aus kursorischer Lektüre oder von einer sekundären Quelle her kannte. Indessen ist Belinskijs Resümee noch vernichtender als das Puschkins. E s zeugt von jener seine Polemik gegen die Ausrottung der Indianer wurde als Anspielung auf die Kolonisationspraktiken der russischen Zaren ausgelegt (siehe V. G. Berezina, „ I z istorii 'Sovremennika' P u s k i n a " in „Puskin. Issl. i m a t . " , I [ 1 9 5 6 ] , S. 2 8 7 ; in neuerer Zeit noch N . Smirnov-Sokol'skij, „ R a s s k a z y o priziznennych izdanijach Puskina" [1962], S. 439). Neben anderen „fortschrittlichen" Literaten wie Belinskij, Herzen, Cernysevskij, Gor'kij und Majakovskij wurde Puschkin in die Avantgarde der Amerika-Feinde eingereiht (siehe die zitierten Kompilationen von I. N . Uspenskij, G. S. Ceremin [beide 1 9 5 2 ] und N . T r a vuskin [t953]). Von dem sterilen propagandistischen Niveau, auf dem sich diese Debatte zumeist bewegte, zeugt eine außerordentlich oberflächliche Studie von V . M. Tamachin, „Puskin o 'Zapiskach Dzonna Tennera'" (in „Puskinskij Sbornik" [1949], S. 547—51), die weniger den Rang einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung beanspruchen kann als den eines politischen Pamphlets. A u c h von Seiten der sowjetischen Ethnographie wurde der „Tanner"-Artikel ausgeschlachtet als „glänzendes Beispiel der Verwendung ethnographischer Beschreibungen zum Kampf gegen Sklaverei und koloniale Unterdrückung" (V. K . Sokolova, „Puskin i narodnoe tvorCestvo" in „ S o v e t s k a j a etnografija", 1949, 3, S. 10). Daß die Nachwirkungen dieser Kampagne bis in die neueste Zeit fortdauern, zeigt die Darstellung bei M. P. Eremin, „Puskin-publicist" ( 1 9 6 3 ; S. 2 7 6 - 8 1 ) , die noch einmal alle Gemeinplätze der orthodoxen sowjetischen Interpretation handlich zusammenfaßt. 48 ) Der „Sovremennik" war damals mit einer durchschnittlichen Auflage von 900 Exemplaren eine der meistgelesenen Zeitschriften, die nur von der „Biblioteka dlja itenija" (5000 Exempl.), der „ S e v e r naja p£ela" (3000 Exempl.) und dem „ S y n O t e f e s t v a " übertroffen wurde; siehe N . Smirnov-Sokol'skij, op. cit., S. 447. 49 ) Das geschah häufig im Zeichen der sowjetischen Anstrengungen, Puschkin der antiamerikanischen Ahnenlinie der russischen Literatur zuzuordnen. Darüberhinaus wurden Hypothesen der allgemeinsten A r t aufgestellt. M. B. Cernenko registriert den „ J o h n T a n n e r " neben Reiseberichten russischer Seefahrer als einen möglichen Anlaß, der den Blick des späteren Alaska-Forschers L . A . Zagoskin auf Amerika gelenkt haben könnte (op. cit., S. 2 1 ) .
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„inquisitorischen Intoleranz", die man als ein generelles Merkmal seiner kritischen Einstellung ermittelt hat 80 ): „ I n Pjatigorsk habe ich eine Vielzahl an Romanen, darunter einige von Cooper gelesen, aus denen ich die Elemente der nordamerikanischen Gesellschaft vollauf verstand: mein erstarrtes ( . . . ) , doch noch nicht erkaltetes Blut brauste auf vor Unwillen gegen diese schändlich tugendhafte und ehrenwerte Gesellschaft von Händlern und neuen Juden, die sich vom Evangelium abgewandt haben, um das Alte Testament anzuerkennen. Nein, besser die Türken, als Amerika; nein, besser ein gefallener Engel, also ein Teufel zu sein, als ein unschuldiger, doch kalter und schleimiger Frosch! Besser, sich ewig in Schmutz und Sumpf zu wälzen, als sich adrett zu kleiden, zu kämmen und zu denken, daß darin allein die ganze menschliche Vollkommenheit bestehe 51 )!" Das Nordamerika Coopers, zu dem er immer wieder Zuflucht suchte, mußte Belinskij weitaus sympathischer erscheinen als der komplizierte Mechanismus scheinbar widersinniger sozialer und politischer Strukturen, über den Tocqueville berichtet hatte. Die wenigen Gedankenflüge, die Belinskij über das Coopersche Schema hinaus unternahm, deuten im übrigen darauf hin, daß er sich die kurzsichtigen Vorurteile der romantischen Geschichtsphilosophie voraussetzungslos zueigen gemacht hatte. Im Materialismus der Lebensformen erkannte er, wie schon Hegel, den entscheidenden Mangel der nordamerikanischen Zivilisation. Seine Anklage gegen diesen Ungeist formulierte er in einem Artikel des Jahres 1836 zu neuer zwingender Schärfe: „Mag das staatsbürgerliche Wohlergehen in den Nordamerikanischen Staaten florieren, mag die Zivilisation bis zum letzten Grad gediehen sein, mögen die Gefängnisse dort leer, die Gerichte ohne Beschäftigung sein; doch wenn es dort, wie man uns versichert, keine Kunst, keine Liebe zum Schönen gibt, verachte ich dieses Wohlleben, vertraue ich dieser Zivilisation nicht, glaube ich dieser Sittlichkeit nicht, da dieses Wohlleben künstlich, diese Zivilisation steril, diese Sittlichkeit verdächtig ist. Wo die Kunst nicht herrscht, dort sind die Menschen nicht tugendhaft, sondern nur vernünftig; sie kämpfen nicht gegen das Böse, sondern sie vermeiden es, vermeiden es nicht, weil sie das Böse hassen, sondern aus Berechnung 52 )." A. I. Herzen unterzog sich der Lektüre Tocquevilles während der Verbannung in Vjaz'ma im Jahre 1838 63 ). Seine Aufmerksamkeit richtete sich besonders auf die Prophezeihung über den künftigen Aufstieg Amerikas und Rußlands. Die Reaktion war auch bei ihm Niedergeschlagenheit. Aus seinen bitteren Worten ist wiederum die Übereinstimmung mit dem Urteil Hegels auffallend, dessen Philosophie gerade in jenen Jahren auf ihn einzuwirken begann 54 ): „Das Werk Tocquevilles hat mich deprimiert und traurig gestimmt. Er sagt zum Schluß: ,Zwei Länder tragen in sich die Zukunft, Amerika und Rußland'; aber wo denn gibt es in Amerika den Ansatz einer in die Zukunft weisenden Entwicklung ? Es ist ein kaltes, berechnendes Land. Doch die Zukunft Rußlands ist unermeßlich — oh, ich glaube an seine Fortschrittlichkeit 55 )." M
) P. Scheibert, „ V o n Bakunin zu Lenin", S. 172.
51
) Brief an Bakunin; 16. 8. 1 8 3 7 ; Werke, X I , S. 1 6 7 - 8 . ) „NiCto o nifem . . . " ; Werke, I I , S. 47. Wie Hegel vertrat Belinskij die Überzeugung vom unfertigen Charakter der amerikanischen Zivilisation; so spricht er einmal von der „nicht herausgebildeten Staatlichkeit des Landes der Z u k u n f t " ( 1 8 4 2 ; Werke, V I , S. 278), an anderer Stelle wiederum von der „noch nicht gefestigten Zivilisation der Nordamerikanischen Staaten" ( 1 8 4 7 ; Werke, X , S. 106). 5S ) Über die Umstände seiner Beschäftigung mit der „Demokratie in Amerika" berichtet Herzen später in „ B y l o e i d u m y " . Dort gibt er an, er habe die beiden Tocqueville-Bände von A . A . Kornilov, dem Gouverneur in V j a z ' m a und früheren Lyzeumskollegen Puschkins, erhalten (Wke., V I I I , S. 296). 54 ) Siehe R . L a b r y , „ A . I. Herzen" (1928), S. 1 9 4 s . ; P. Scheibert, op. cit., S. 1 0 7 ; Tschiievskij, „Hegel in Rußland", S. 263 ff. 55 ) 20. 8. 1838 an N . Ch. K e t i e r ; Werke, X X I , S. 386. 52
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Der Eindruck Tocquevilles war anhaltend genug, um Herzen in der Thematik seines Fragment gebliebenen Versdramas „William Penn" vom Frühjahr 1839 z u beeinflussen. Die unsichere Beherrschung des Metrums und vor allem einige eklatante Abweichungen von der historischen Kongruenz kennzeichnen diese Dramenskizze als Frühwerk Herzens. An ihren Mißerfolg, für den er hauptsächlich den kritischen Verriß Belinskijs verantwortlich machte, hat sich der Autor später mit einem Anflug spöttischer Selbstbezichtigung zurückerinnert 68 ). Das Stück griff ein Sujet auf, das in der russischen Geistesgeschichte seit der Epoche Peters des Großen eine gewisse Tradition hinterlassen hatte. Kurze Zeit nach dem „William Penn", im Jahre 1847, handelte eine Studie T. N. Granovskijs erneut vom Wirken der Quäker und ihren Verdiensten um die Kolonisation Nordamerikas 57 ). Herzens Drama schildert die Begründung der Quäkersekte und ihren Aufbruch aus der Alten in die Neue Welt. In der Form diente dem Autor das Schillersche Historiendrama als Modell. Leider fehlt gerade der abschließende sechste Akt des Werkes, der, wie aus der 1862 nachträglich verfaßten Szenenanweisung hervorgeht, auf amerikanischem Boden spielen sollte. Bereits im vorangehenden fünften Akt läßt Herzen jedoch den jungen Penn seine hochgespannten Erwartungen über das Leben auf dem neuen Kontinent äußern. Mit dem gleichen Enthusiasmus wie zuvor bei Pecerin wird Nordamerika als Land biblischer Verheißung besungen: „Dort ist uns das gelobte Land, Wo wir dem Wort Jesu Geltung verschaffen werden In all seiner Schönheit und seinem ewigen Ruhm. Dort werden wir eine Gemeinschaft gründen Auf Gleichheit, Brüderlichkeit und Liebe, Nicht wie die Spanier fahren wir dorthin Mit dem Schwert und dem schändlichen Ziel des Goldes, Nicht mit der Habgier britannischer Händler, Um die Erde mit Negerblut zu düngen, Sondern als Apostel des lebendigen Wortes 68 )." Den Schwärmereien Penns stellt Herzen skeptische Gegenreden des Fox gegenüber59). Betont realistisch ist auch der Schluß des Dramas, der nach dem „Scénario" vorgesehen war. M ) T e x t des „ W . P e n n " in den Werken; I, S. 196ff. Herzen nannte seinen Gründer der Quäkersekte K a r l F o x , nicht George, wie er richtig heißen müßte. — In einem später verfaßten Szenarium zu seinem Stück bekannte Herzen, daß er über den historischen Penn seinerzeit nur „die allgemeinsten Vorstellungen" gehabt habe („Scénario dvuch dramatiieskich o p y t o v " [1862]; Wke., I, S. 340). — Der K r i t i k Belinskijs gedachte Herzen in seinen Memoiren bereits ohne Bitternis und machte sich selbst lustig, weil er sein Drama „aus irgendeinem unerfindlichen Grunde" in Versen abgefaßt habe; „ B y l o e i d u m y " (um 1852); Wke., V I I I , S. 288-9. 5 ' ) Die Idealisierung des Wirkens der Quäker in Nordamerika geht wiederum vor allem auf Überlieferungen aus dem 18. Jahrhundert zurück. Bereits Voltaires „Lettres Anglaises" (r 734) hatten die Aufbauleistungen Penns in Neuengland gepriesen ; diese Würdigung sprach später auch der Bericht des Abbé R a y n a l aus; vgl. S. 23 dieser Arbeit und Chinard, „ T h e American D r e a m " , op. cit., S. 195 („The noble Quakers had inherited all the virtues of the noble Indians."). Zur Geschichte des Sujets in der russ. Literatur s. Dv.-Markov, „ P e n n and Peter the Great", op. cit., S. 18 f. N. Novikov übersetzte 1783 Penns „Fruits of Solitude" ; Radis ievs „ R e i s e " hebt die Quäker als Vorbild hervor. N. I. Turgenev übertrug aus dem Englischen einen Dialog zwischen Penn und Cortez im Totenreich („Dnevniki i pis'ma", I , S. 27). I m J a h r e 1820 schließlich übersetzte Polevoj für den „ V e s t n i k E v r o p y " einen französischen Roman „William P e n n " der Madame Montolieu. — Mit zwei aus Amerika stammenden Quäkern, Stephen Grellet und William Allen, traf Zar Alexander I. wiederholt zusammen; siehe H. von Eckardt, „Russisches Christentum" (1947), pass. — Zu Granovskijs Studie s. Hecht, „Granovskij and American L i f e " , op. cit., S. 96ff. 5S ) „William P e n n " , op. cit., S. 243. 59 ) Ein amerikanischer Interpret, Martin Malia, sieht in den Entgegnungen F o x ' „Herzen's réservations about the purely political democracy of thinkers, such as Tocqueville, whom Penn symbolizes" ( „ A . Herzen and the Birth of Russian Socialism" [ 1 9 6 1 ] , S. 196). Ob in Penn wirklich eine Verkörperung Tocquevilles gesehen werden kann, ist füglich zu bezweifeln. Herzen selbst gab darauf keinerlei Hinweise.
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Zwar wird das Bild einer in raschem Aufbau befindlichen, blühenden Kolonie präsentiert, doch die idealen Vorstellungen Penns von der Gründung einer Gesellschaft in wahrhaft brüderlich-christlichem Geiste haben sich zerschlagen. Als eigentliche Abschlußszene plante Herzen allerdings ein effektheischendes Finale „rein französischen Stils": auf dem Grabe Penns sollten sich die Gründer der Vereinigten Staaten, Washington, Franklin und Lafayette, treffen, um dem Toten zu huldigen60). „William Penn" dokumentiert die geistige Entwicklung des jungen Herzen; die Elemente seines reifen Denkens sind bereits hier im Keim vorhanden. Der politische Romantiker Herzen, der sich in seiner Gegenwart nicht gefordert sah, hatte sein Dasein früh auf die Zukunft abgestellt 61 ). Unter dem Einfluß von Gedanken Saint Simons und Pierre Leroux' entwarf er im „William Penn" die Lösung für das erstrebte Wunschbild eines sozial ausgerichteten Christentums, die Synthese zwischen Religion und wirklichem Leben 62 ). Die fourieristischen Projekte Cabets und Considérants um mehrere Jahre vorausnehmend, wählte er als Schauplatz solcher Experimente Nordamerika, das er nach alter Überlieferung als Land eines verheißungsvollen Neubeginns zeichnete. Sozialutopische Vorstellungen, die von der Realisierung des „Goldenen Zeitalters" auf amerikanischem Boden träumten, nahmen in seiner Schilderung neue Gestalt an. Hinsichtlich der Verwirklichung seiner Ideale war Herzen jedoch, ausgehend von der Interpretation Tocquevilles, bereits von heftigem Zweifel geplagt 63 ). Wie auf Puschkin hatte auch auf ihn die Lektüre der „Demokratie in Amerika" eine desillusionierende Wirkung. Der „Demokratie in Amerika" entnahm Herzen zugleich den Problemstoff zu seinem Drama. Tocqueville hatte die Bedeutung umrissen, die die Religion auf die Gründung und Entwicklung des jungen amerikanischen Staatswesens ausgeübt hatte 64 ). Eben diesen sozialen Inhalt der religiösen Idee gedachte Herzen im „William Penn" darzustellen. Die Problematik seines Stoffes fesselte ihn gerade durch die Unvereinbarkeit der Gegensätze. Die Verhältnisse in Nordamerika schienen ihm den Zusammenprall divergierender Ordnungen besonders eindringlich zu illustrieren66). Herzens spätere Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten hat auf gleiche Fragestellungen wiederholt Bezug genommen.
4. D i e
Slavophilen
a) A. Chomjakov, K . Aksakov und I. Kireevskij Die russischen Slavophilen, die vielfach vom Ideengut der deutschen Romantik, vor allem Hegels und Schellings zehrten, hatten eine Rückbesinnung auf die nationalen Kulturwerte in
60
) „ S c e n a r i o " , op. cit., S. 3 4 2 . A n gleicher Stelle ( S . 3 4 0 ) gestand Herzen, daß er gerade diesen S c h l u ß
f ü r besonders mißraten halte. 61
) Scheibert, op. cit., S . 99, 1 0 7 ( „ D e r j u n g e A . H e r z e n " ) .
62
) L a b r y , op. cit., S . 2 0 1 ; Scheibert, op. cit., S . 1 0 7 ; Malia, op. cit., S . 9 9 f f . (über den Einfluß S a i n t
Simons und seiner Schüler). E i n Brief Herzens an O g a r e v v o m 7. 4. 1 8 3 9 erläutert ( W k e . , X X I I , S . 2 1 ) : , , I n ' L i c i n i u s ' ist es die E r s c h e i n u n g des Christentums in der I d e e ; hier (i.e. im „ P e n n " ) ist es die E r s c h e i n u n g in der W i r k l i c h k e i t , das Q u ä k e r t u m . " ( „ L i c i n i u s " ist ein e t w a gleichzeitig m i t dem „ P e n n " verfaßtes D r a m a , das den V e r f a l l des heidnischen R o m und die H e r a u f k u n f t des Christentums darstellen soll.) 63
) Sowjetische K o m m e n t a t o r e n b e v o r z u g e n es, auf diese skeptische Seite des A m e r i k a b i l d e s
im
„ W i l l i a m P e n n " zu v e r w e i s e n ; siehe J a . E . f i l ' s b e r g , „ G e r c e n . Z i z n ' i t v o r i e s t v o " ( 1 9 6 3 ; 4 . A u f l . ) , S. 7 9 . 64
) „ Ü b e r die D e m o k r a t i e in A m e r i k a " , op. cit., I , S. 3 3 2 f f . ( K a p . „ Ü b e r die Religion als politische
E i n r i c h t u n g b e t r a c h t e t ; w i e sie zur E r h a l t u n g des demokratischen S t a a t s w e s e n s in den Vereinigten Staaten machtvoll beiträgt"). 85
) Z u dieser P r o b l e m a t i k schreibt H . im „ S c e n a r i o " (op. cit., S. 3 4 0 ) : „ . . . wieder das A u f b r e c h e n zweier W e l t e n , wieder b e d r ä n g t das weichende A l t e ein entstehendes N e u e s , wieder blicken zwei Moralen haßerfüllt a u f e i n a n d e r . "
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das Zentrum ihres geschichtsphilosophischen Gedankengebäudes gestellt68). Im Vordringen der westeuropäischen Einflüsse seit Peter dem Großen erkannten sie ein Element der Zersetzung, das die Entfremdung von den einheimischen Traditionen bewirkt habe. Ihre radikale Absage an Europa dehnten die Slavophilen unbedenklich auf die Vereinigten Staaten aus. Für sie war dieses Staatswesen schon ganz Bestandteil des „verfaulten Westens 67 )." In ihren Betrachtungen über die Vereinigten Staaten entwickelten die Slavophilen den Denkansatz Hegels bis zu seinen extremen Konsequenzen. Zur Information stand ihnen im Werk Tocquevilles eine Quelle von nahezu unbegrenzter Auslegungsfähigkeit zur Verfügung, derer sie sich bereitwillig bedienten68). Ihr System der Auswertung stimmte mit dem Puschkins wie auch mit dem der konservativen Kritiker Tocquevilles in Deutschland völlig überein69). Aus der Darstellung des französischen Autors lösten sie vorzugsweise jene Passagen heraus, die die Schattenseiten und Auswüchse der amerikanischen Demokratie illustrieren halfen. Die berühmte Parallele Tocquevilles zwischen Rußland und Amerika, durch die die Alternative zwischen Demokratie und Despotismus am Beispiel der beiden künftigen Weltmächte verdeutlicht werden sollte, erfuhr bei ihnen eine bezeichnende Umkehrung: aufgrund einer unerschöpften lebendigen Kulturtradition wurde allein Rußland zum auserwählten Land der Zukunft proklamiert, während Nordamerika nun den Kreis der absterbenden alten Ordnung anführen sollte. Eine derartige Polarität beider Ordnungen konstatierte A . S. Chomjakov, einer der brillantesten Streiter der Slavophilie in den Moskauer philosophischen Salons. Obwohl er ein Bewunderer Englands war, konnte Chomjakov der Lebensweise der Vereinigten Staaten nur wenig Geschmack abgewinnen. Den unsteten amerikanischen Kolonisatoren — von ihm abschätzig als „Squatter" disqualifiziert —• hielt er die friedfertigen russischen Siedlungsbewegungen des 16. Jahrhunderts entgegen70). Im äußersten Gegensatz zu dem „auf Sittlichkeit und christlichen Glauben" gegründeten russischen Staat sah er das amerikanische Staatswesen allein als „Handelsvereinigung von Personen und ihrer natürlichen Interessen 71 )." Durch Konstantin S. Aksakov wurde Chomjakovs Absage an die Vereinigten Staaten bekräftigt. In der nordamerikanischen Demokratie verurteilte Aksakov das Musterbeispiel eines pervertierten Verfassungsformalismus. Nach seiner Meinung bedurfte ein echtes Gemeinwesen, sofern es vom Volke getragen werde, keines ausgeklügelten Apparates von Kontrollen
M ) Zu den Slavophilen siehe N . V . Riazanovsky, „Rußland und der Westen" ( 1 9 5 4 ; mit reichhaltigen weiteren Literaturangaben); A . Gratieux, „ A . Khomiakov et le Mouvement Slavophile" I, I I ( 1 9 3 9 ) ; einen größeren Zusammenhang behandelt A . Koyré, „ L a philosophie et le problème national en Russie au début du X I X siècle" (1929). 67 ) Das vielzitierte Schlagwort vom „verfaulten W e s t e n " („gniloj zapad") wurde von S. P. S e v y r e v , einem slavophilen Literaturhistoriker mit starken nationalistischen Neigungen, geprägt; siehe dessen programmatischen Artikel „Vzgljadrusskogo na sovremennoe obrazovanie E v r o p y " ; in „Moskvitjanin", I (1841), S. 2 1 9 - 2 9 6 . 6S ) Die Gedanken Tocquevilles erreichten Rußland damals noch durch andere Vermittlung. S. P. S e v y r e v übernahm in seinem vielbeachteten Aufsatz des Jahres 1841 (s. Anm. 67) einen Vergleich des französischen Kritikers Philarète Chasles ( 1 7 9 8 - 1 8 7 3 ) , der offensichtlich von Tocqueville entlehnt w a r : „ G i b t es ( . . . ) auf der Erde nicht frische, junge Länder, die unser Erbe übernehmen werden und schon üb ernehmen, wie einst unsere Väter das Erbe Roms übernahmen, als Rom sein Schicksal erfüllt hatte ? Sind etwa Amerika und Rußland nicht da ? Beide dürsten nach dem Ruhm, auf die Bühne hinauszutreten . . . " („Moskvitjanin", I [ 1 8 4 1 ] , S. 2 4 4 ; zit. bei P. N . Sakulin, „ I z istoriii russkogo idealizma. Knjaz' V . F .
Odoevskij " [ 1 9 1 3 ] , I, S. 3 6 3 ; siehe ibid., S. 3581!., zum bedeutenden Einfluß Chasles' auf das damalige russische Geistesleben.) 69 ) Zu Deutschland siehe Eschenburg, op. cit., S. X X V I I ff. 70 ) „ E s £ e o sel'skich uslovijach" (1842); Werke (1860), I, S. 395 („Das Squattertum ist dem russischen Geist zuwider."). 71 ) „ O b obsiestvennom vospitanii v Rossii" (um 1858); Werke (1900ff.), I, S. 352.
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und Garantien 72 ). Im Jahre 1858 —• zu einer Zeit, da die Slavophilen immer gradliniger in das Lager der nationalistischen Rechten geschwenkt waren — brachte Aksakov seine Einwände gegen die Vereinigten Staaten noch einmal auf einen bündigen Nenner: „Westeuropa ging den Weg des Staates und hat die Staatsorganisation mit außergewöhnlichen Nuancierungen großartig ausgebaut, um sie in Amerika zur höchsten Stufe des Liberalismus zu entwickeln. Doch dieser liberale Staat ist trotzdem Unfreiheit, und je weiter er sich über das Volk ausbreitet, desto mehr ergreift er das Volk und versteinert es durch den Geist des Gesetzes, der Institution, der äußeren Ordnung.. , 7 3 )." Unter den slavophilen Theoretikern war I. V. Kireevskij derjenige, der die Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten am intensivsten fortführte. In einem Vorausgriff der Tocquevilleschen Parallele hatte Kireevskij einst Rußland und die nordamerikanische Republik als aufstrebende Mächte der Zukunft ausgerufen. Doch bereits damals, im Jahre 1830, klang durch seine Prophezeiung bezüglich der Vereinigten Staaten Skepsis hindurch. Nur wenige Jahre später ist sie einer offen bekundeten Abneigung gewichen. Ein Aufsatz des Jahres 1845, der der Literaturkritik gewidmet war, interpretierte in einem weitläufigen E x kurs die Entwicklung der Vereinigten Staaten als einen Abfall von hohen Anfängen in die Niederungen einer zweifelhaften materialistischen Lebensweise: „Welch glänzendes Los schien den Vereinigten Staaten bevorzustehen, die auf einer so vernünftigen Grundlage, nach so großem Anfang errichtet wurden! Und was kam denn heraus ? Es entwickelten sich nur die äußeren Formen der Gesellschaft, und da sie einer inneren Lebensquelle entbehrten, erdrückten sie den Menschen unter einer äußeren Mechanik. Die Literatur der Vereinigten Staaten bietet nach dem Bericht sehr unparteiischer Autoritäten einen klaren Ausdruck dieses Zustands. Eine riesige Fabrik talentloser Verse, ohne den geringsten Schatten von Poesie; formale Epitheta; ( . . . ) völlige Gefühllosigkeit gegenüber allem Künstlerischen; offene Verachtung für alles Denken, das nicht am materiellen Vorteil orientiert ist; nichtige Persönlichkeiten ohne Allgemeinbildung, aufgedunsene Phrasen mit engster Sinnbedeutung; Entweihung heiliger Worte, als da sind Menschenliebe, Vaterland, Gemeinwohl, Volkstum, die bis dahin geht, daß ihre Anwendung sogar nicht zur bloßen Heuchelei, sondern zur einfachen allgemeinverständlichen Schablone eigennütziger Berechnungen wurde; scheinheilige Achtung vor der äußerlichen Seite der Gesetze; ( . . . ) ein Gemeinschaftsgeist wegen persönlicher Vorteile ( . . . ) bei offenkundigster Nichtachtung aller sittlichen Prinzipien, sodaß allen diesen geistigen Regungen augenscheinlich das oberflächlichste Leben zugrundeliegt, von allem abgeschnitten, was das Herz über den persönlichen Eigennutz erhebt; das in der Aktivität des Egoismus ertrinkt und als sein höchstes Ziel den materiellen Komfort mit allen seinen dienstbaren Geistern anerkennt. Nein 74 )!" Da Kireevskij in einer Fußnote Cooper und Irving als „Reflexe englischen Schrifttums" 78 ) ausdrücklich von seiner Betrachtung ausnahm, bleibt einigermaßen rätselhaft, aus welchem Bereich des amerikanischen Schrifttums er hier sein Verdikt über die Vereinigten Staaten herleitete. Auch im weiteren Text unterließ er es, seine literarischen Unterlagen konkret zu bestimmen. Offensichtlich war jedoch die Form der Aussage nur ein Vorwand. So sehr Kireevskijs Katalog negativer Verallgemeinerungen über den Bereich der reinen Literatur hinauszielte, so wenig gründete er sich auf eine eigentlich literarische Untersuchung. Der Autor machte es sich hier vielmehr zur Aufgabe, ein handliches Elaborat von Vorurteilen über
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) „ Ü b e r Rußlands inneren Z u s t a n d " ( 1 8 5 5 ) ; in „Östliches Christentum" (1923), I, S. 88ff. ) „ P o povodu V I I toma Istorii Rossii, G. Solov'eva" ( 1 8 5 8 ) ; Werke ( 1 8 6 1 ff.), I, S. 2 4 9 - 5 0 (Fußn.). ) „Obozrenie sovremennogo sostojanija literatury" ( 1 8 4 5 ) ; Werke, I, S. 153—4. ) „Obozrenie . . . " , op. cit., S. 1 5 3 (Fußn.).
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die Vereinigten Staaten zu erstellen, für das Puschkin das methodische Vorbild, die slavophile Ideologie den weltanschaulichen Rahmen abgaben. Im Text hatte sich Kireevskij ausdrücklich auf den Bericht „unparteiischer Autoritäten" als Grundlage seines Urteils berufen. Eine dieser Autoritäten, den Philosophen Hegel, hatte er in einer Fußnote namentlich angegeben76). Schon eine flüchtige Analyse der folgenden Ausführungen erweist als seine eigentliche Hauptquelle das Werk Tocquevilles, dessen 1840 erschienener zweiter Teil eine umfängliche Untersuchung über das amerikanische Geistesleben enthalten hatte. Aus ihm schöpfte Kireevskij zahlreiche Informationen. Seine Bemerkungen über die Abgeschmacktheit der Literatur 77 ), über die Verachtung für alles nicht geschäftsbezogene Denken 78 ), über den Materialismus als inhärentes Lebensprinzip der Vereinigten Staaten 79 ), haben bei Tocqueville beinahe wörtliche Entsprechungen. Kireevskij hat seine Verallgemeinerungen in späterer Zeit eher noch vergröbert als modifiziert. In einem Brief des Jahres 1853 formulierte er noch einmal die Lehrmeinung der Slavophilen, daß die Vereinigten Staaten auf der äußersten Stufe eines untergangsbestimmten Liberalismus ständen: „Das (i.e. die Ver. St.) ist kein Staat, sondern die zufällige Vereinigung ungleichartiger Massen, die beständig zu fallen drohen. Sie halten sich nur deshalb, weil sie noch nicht zur Selbsterkenntnis gelangt sind. Sobald die Selbsterkenntnis sie vom Herzen bis in die Teile durchdringt und von den Teilen ins Herz, werden sie in viele Stücke auseinanderbrechen. ( . . .) Der gegenseitige Widerspruch vieler Religionen stellt die Bedingung ihrer Unabhängigkeit dar. ( . . . ) Doch ( . . . ) es werden dort in jedem Teilstaat gesellschaftliche Überzeugungen ohne Gesetz aufrechterhalten, durch eine besondere gesellschaftliche Eigenmacht, die nicht besser als das Gesetz scheint. ( . . . ) Gegen Beleidiger ihrer Überzeugungen handelt die Menge willkürlich und ungesetzlich 80 )." b) Fürst V. F. Odoevskij und Pogodin Unter den Wortführern der verschiedenen konservativen Strömungen, die seit den 1840er Jahren durch die slavophile Ideologie zu einer geistigen Bewegung zusammengefaßt wurden, ragt Fürst V. F. Odoevskij (1803-1869) als ein origineller Literaturschöpfer und Haupt des schellingianischen Philosophiekreises der „Ljubomudry" hervor. Mit den Slavophilen einte ™ ) „Obozrenie " , op. cit., S. 1 5 4 (Fußn.). Den Einfluß Hegels auf Kireevskij untersuchte Tschizevskij, „Hegel in Rußl.", op. cit., S. 151—60. 77 ) „Demokratie . . o p . cit., II, S. 68 ff. (Kap. „ D a s literarische Gesicht der demokratischen Zeitalter"). Zur Rolle der Literatur im amerikanischen Leben bemerkt Tocqueville, daß es „genaugenommen noch keine Literatur" gäbe, da alle bedeutenden Werke aus England importiert würden. Die einzigen Schriftsteller, die er den Vereinigten Staaten zugestehen könne, seien die Journalisten (ibid., S. 69). Schon im ersten Band seines Werkes hatte Tocqueville beobachten wollen, daß die Nordamerikaner auf die eigentliche Literatur „ m i t einer A r t Übelwollen" blickten; op. cit., I, S. 348. 78 ) „Demokratie", op. cit., II, S. 15 ff. A n anderer Stelle erläutert Tocqueville, wie bei den Amerikanern „das Nützliche im Herzen des Menschen über die Liebe zum Schönen den Sieg davonträgt"; ibid., S. 61.
™) „Demokratie", op. cit., II, S. 145 ff. (Kap. „ V o n der Liebe zum materiellen Wohlergehen in Amerika"): „ I n Amerika herrscht die Leidenschaft zu materiellem Wohlergehen nicht immer ausschließlich, sie ist aber allgemein. ( . . . ) Die Sorge für die Befriedigung der geringsten leiblichen Bedürfnisse und für die kleinen Bequemlichkeiten des Daseins füllt die Gemüter dort gänzlich a u s . " (S. 145) 80 ) 1 5 . 10. 1 8 5 3 an A . I. Koselev; Werke, I I , S. 2 6 9 - 7 0 . Kireevskij urteilt hier über Amerika im Z u sammenhang mit einem Buch des protestantischen Theologen A . Vinet, der in slavophilen Kreisen eine der meistdiskutierten theologischen Autoritäten war (vgl. Riazanovsky, op. cit., S. 164). In einem weiteren Brief an Koselev Ende Okt./Anf. Nov. 1 8 5 3 bekräftigt Kireevskij seine Überzeugung, daß die Vereinigten Staaten „ein zufälliger ( . . . ) Abdruck uneinheitlicher Völkerschaften" seien, der niemals „als Beispiel eines harmonischen Staatsaufbaus dienen" könne; Wke., II, S. 278.
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Odoevskij der messianische Glaube an die Auserwähltheit R u ß l a n d s , für den er erstmals eine philosophische Grundlage schuf 8 1 ). In seinen geschichtsphilosophischen Gedankengängen erreichte Odoevskij nicht immer die gleiche Tiefe wie die führenden slavophilen Theoretiker. Mit ihnen übereinstimmend deutete er Nordamerika als eine monströse Fortentwicklung jener E r b ü b e l , in denen ihm der Verfall der westlichen Kulturtraditionen verkörpert schien. I m besonderen tadelte er, daß die Amerikaner trotz ihrer immensen Reichtümer kein Vergnügen außer dem Geld kennten und einem hemmungslosen Egoismus frönten 8 2 ). A l l e seine Vorbehalte komprimierte Odoevskij schließlich in einer knappen Formel: A m e r i k a war ihm „ d a s L a n d der K n e c h t s c h a f t und des Merkantilismus 8 3 )." D a s Bemühen, die Sozialstruktur des eigenen L a n d e s auf K o s t e n der in den Vereinigten Staaten z u idealisieren, verleitete Odoevskij zu wundersamen Konstruktionen. So machte er sich allen Ernstes daran, die Leibeigenschaft in R u ß l a n d gegenüber der amerikanischen Negersklaverei als „ E r s c h e i n u n g einer total verschiedenen O r d n u n g " z u rechtfertigen 8 4 ). I m übrigen blieb auch die K r i t i k Odoevskijs in manchen ihrer sachlichen Voraussetzungen v o n den Gedankengängen der „ D e m o k r a t i e in A m e r i k a " abhängig. A u f die Tocquevillesche Problematik der „ T y r a n n e i der Mehrheit" spielt Odoevskij einmal an, als er eine Proklamation des amerikanischen Präsidenten Jackson im Jahre 1837 v e r u n g l i m p f t : „ U n d solche Ignoranten trägt die Demokratie an die erste Stelle im S t a a t e ; wie soll m a n danach nicht mit jenen übereinstimmen, die meinen, d a ß die Stimmenmehrheit immer auf Seiten der D u m m h e i t ist, aus dem einfachen Grunde, weil es auf der W e l t mehr D u m m köpfe als Gescheite gibt 8 6 )." Literarischen R u h m erlangte Odoevskij durch einen B a n d philosophischer Erzählungen m i t dem T i t e l „ R u s s k i e N o c i " , dessen einzelne Partien im L a u f e der 1830er Jahre v e r f a ß t wurden und 1844 erstmals zyklisiert erschienen. Hier führte er seine Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten in neuem R a h m e n f o r t ; seine A r g u m e n t a t i o n folgte indessen den schon bekannten Leitlinien. In der Utopie „ S t a d t ohne N a m e n " entwarf Odoevskij das Zerrbild eines auf den Prinzipien B e n t h a m s gegründeten utilitaristischen Staatswesens, das nach kurzer Scheinblüte unter dem D r u c k v o n Interessengegensätzen auseinanderfällt. A l s aktuelles Muster eines solchen Verfallstaates schwebte ihm das Beispiel der Vereinigten Staaten vor A u g e n ; seine Schilderung spielte in einer leicht durchschaubaren Allegorie auf die vermeintliche Brüchigkeit der nordamerikanischen Demokratie an 86 ). N o c h unzweideutiger ist der B e z u g auf die Vereinigten Staaten in der um 1835 entstandenen Utopie „ D a s Jahr 4338". Odoevskij stellt darin China u n d R u ß l a n d als die Zentren künftiger W e l t k u l t u r dar. A m e r i k a dagegen wird auf einer Schwundstufe geistigen u n d zivilisatorischen Verfalls präsentiert. Allein im Hinblick auf die ständig drohende Aggression „verwilderter A m e r i k a n e r " sind die beiden W e l t m ä c h t e gezwungen, eine Streitmacht zu unterhalten. Der schließliche U n t e r g a n g dieser Amerikaner, die „ m a n g e l s anderer S p e k u l a t i o n " bereits dazu übergegangen sind, ihre Städte auf öffentlichem Markt feilzubieten, erscheint unausweichlich 8 7 ). 81 )
Riazanovsky, op. cit., S. 26t In dem Ende der 1830er Jahre verfaßten Aufsatz „Anglomanija"; zit. bei Sakulin, op. cit., S. 582. 8S ) ibid., S. 584. 84 ) ibid., S. 586. 85 ) Zit. bei Sakulin, op. cit., S. 583. Über Jackson hatte sich auch Tocquevilles „Demokratie" ausgelassen. 86) „Gorod bez imeni" (1839); in „Povesti i rasskazy" (1959), S. 401 ff. Durch eine später hinzugefügte Fußnote (S. 408) stellt Odoevskij klar, daß er hier die Vereinigten Staaten im Sinn habe. E. Ju. Chin, der sowjetische Kommentator Odoevskijs, betont die Übereinstimmung mit den Ansichten Puschkins. Dem ist insofern beizupflichten, als Odoevskij Puschkins Affekt gegen eine egalitäre Gesellschaftsstruktur sicherlich teilte. Wie aus seinen Utopien ersichtlich wird, stellte er sich seinen Zukunftsstaat ständisch gegliedert und mit einer aristokratischen Spitze vor. 82 )
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Einer ihrer Vertreter, von Beruf „ordentlicher Historiker am Hofe des amerikanischen Dichters Orlij", wird in einem Fragment der gleichen Utopie vorgestellt, wie er zu Anfang des Jahres 4.337 Petersburg besucht. Odoevskij stattet ihn mit den Charakterzügen des perfekten Banausen aus: beim Gespräch mit einem russischen Gastwirt brilliert der Amerikaner durch flache Unbildung, Berechnung und Materialismus 88 ). In die unsachliche Polemik gegen die Vereinigten Staaten stimmte auch M. P. Pogodin ein, ein Wortführer des allslavischen Gedankens, der sowohl der offiziellen Richtung der Volkstümlichkeit als auch dem Kreis der Slavophilen nahestand. Pogodins Schmährede auf Nordamerika bediente sich der geläufigen Schablonen: „Amerika, von dem unsere Zeitgenossen sich eine Zeitlang blenden ließen, hat inzwischen deutlich die Laster seiner illegitimen Geburt an den Tag gelegt. Amerika ist kein Staat, sondern nur eine Kaufmannskompanie nach der Art der ostindischen, die ein Gebiet als Eigentümerin besitzt, nur an Handelsvorteile denkt, Reichtümer sammelt, aber schwerlich etwas Großes, weder im politischen noch im menschlichen Sinne, hervorbringen wird 89 )." Pogodins Worte variierten erneut ein Grundthema der „Demokratie in Amerika" 90 ). Sie weisen bereits in jene spätere Epoche, da die Wertung der Vereinigten Staaten auch in Rußland weitgehend von einem militanten Nationalismus bestimmt wurde. Daß dieses Urteil bei aller Intransigenz ein politisches Paktieren mit Nordamerika nicht auszuschließen brauchte, hat Pogodin durch sein späteres Verhalten klar unterschieden. Als während des Krimkrieges die wohlwollende Neutralität der Vereinigten Staaten wünschenswert erschien, wandelte er sich in Anpassung an die neuen politischen Gegebenheiten zu einem ebenso übereifrigen Fürsprecher Amerikas 91 ).
C) Die Auseinandersetzung der Radikalen mit Nordamerika seit den 1840er Jahren 1. D e r A u s g a n g s p u n k t Nach einer Periode unverbindlicher Schwärmerei für Nordamerika hatte das Werk Tocquevilles die Beschäftigung mit der Wirklichkeit der Vereinigten Staaten eingeleitet. Im Zeichen der Debatte um die Thesen Tocquevilles gewann das russische Amerikabild der Zeit seit 1835 zusehends reale Konturen. Gleichzeitig wurde jedoch die Einstellung gegenüber den Vereinigten Staaten immer mehr zu einer weltanschaulichen Streitfrage. In der Feindschaft gegen oder dem Eintreten für Nordamerika spiegelt sich ein Teil jenes Kampfes zwischen Slavophilen und Westlern, der seit den 1840er Jahren das geistige Leben Rußlands prägte. Die Unduldsamkeit, mit der man auf den einmal eingenommenen Positionen verharrte, stand allerdings allzu oft einer kritischen Erörterung von Sachfragen im Wege. Die allgemeine Radikalisierung des Denkens mußte zwangsläufig auch die Diskussion um die Vereinigten Staaten beeinträchtigen. 87 88
) „ 4 3 3 8 g o d " in „Povesti . . . " ; op. cit., S. 422. ) ibid., S. 4 4 0 - 1 .
89 ) „Politische Briefe aus R u ß l a n d " ; aus dem ersten Brief ( 1 8 3 8 ) ; zit. im Quellenanhang bei V. Gitermann, „Geschichte Rußlands", I I I (1949), S. 579. 80 ) „Demokratie", op. cit., I, S. 329 (u. pa9s.): „Die amerikanischen Republiken der Gegenwart gleichen Handelsgesellschaften, die gegründet wurden, um die unbewohnten Landstriche der Neuen Welt gemeinsam auszubeuten und einen einträglichen Handel zu treiben." 91 ) In der Schrift „ O russkoj politike na budusiee v r e m j a " ( 1 8 5 4 ) ; Werke ( 1 8 7 2 0 . ) , I V , S. 2 3 3 - 4 ; hier unterstützt Pogodin den Vorschlag, „eine feierliche Gesandschaft mit einem klangvollen Namen, einem Fürsten oder Grafen", in die Vereinigten Staaten zu entsenden, um dort für Sympathien zu werben. Noch später, in den 1860er Jahren, gab sich Pogodin als überschwenglicher Befürworter einer russisch-amerikanischen Entente.
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Den kompromißlosen Bruch mit dem Vorbild Nordamerika vollzogen als erste die Anhänger des konservativen Lagers, namentlich die Slavophilen. Zur Bekräftigung ihres Zerrbildes von der „entarteten" Demokratie in Amerika lösten sie aus dem Werk Tocquevilles einen Katalog von verleumderischen Schlagworten heraus. Ihre Absage war weltanschaulich fundiert: die Uberzeugung von der Heilsbestimmung Rußlands mußte die von Tocqueville verkündete Rivalität mit den Vereinigten Staaten von vornherein ausschließen. Wie zu gleicher Zeit die Romantiker in Deutschland verwandelten die russischen Slavophilen die nordamerikanische Geschichte „in eine Pathologie des Wucherns und Entartens bloßer politischer Ideen 92 )." Die nationale Voreingenommenheit der Slavophilen, die durch die spätere Verschmelzung mit dem Panslavismus notorisch wurde, prägte das Muster für den politischen Antiamerikanismus der Folgezeit. Die Schablonen dieser Einstellung waren seit den 1830er Jahren in den Schriften der Slavophilen aufgetaucht; nur wenig später drangen sie, zum Beispiel bei Odoevskij, in den Bereich der schönen Literatur ein. Als Angriffspunkte wurden gewöhnlich die „Krämergesinnung" der Amerikaner und ihre materialistische Unkultur bevorzugt. In der polemischen Literatur Westeuropas hatten sich Verzerrungen dieser Art um die gleiche Zeit eingebürgert93). Differenzierter und undogmatischer war vorerst noch die Haltung der Westler gegenüber Nordamerika, einer Gruppe, die freilich noch viel weniger als die der Slavophilen homogenen Charakter trug. Belinskij spielte trotz seiner zeitweilig durch Tocqueville hervorgerufenen Enttäuschung weiter mit der Hoffnung, daß sich das „junge Amerika" dereinst eine neue, bessere Zivilisation schaffen werde. Von ähnlicher Zuversicht wurde Herzen in seinem Frühwerk „William Penn" beflügelt. Freilich waren solche Erwartungen stets von Zweifeln durchsetzt. Auch späterhin haben die Westler und, in ihrer Nachfolge, die Sozialrevolutionäre der 1850er und 1860er Jahre viel weniger eine einheitliche Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten eingenommen, als dies unter den Slavophilen der Fall war. Die Diskussion wurde daher überwiegend auf einer breiteren, solideren Grundlage geführt. Dieser Rahmen war zunächst weitgespannt genug, um auch extreme Schwankungen zuzulassen. 2. A. I. H e r z e n a) Der allgemeine Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten Aus der Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten hat A. I. Herzen auch in späteren Jahren immer wieder Impulse für sein Denken erfahren94). Insbesondere nach seiner Emigration 82
) Engelsing; op. cit., S. 143. ) In England verursachte 1 8 3 2 ein Buch der Mrs. F . Trollope Aufsehen, in dem gleichfalls ein allgegenwärtiger Materialismus der amerikanischen Lebensweise bloßgestellt worden war („Domestic Manners of the Americans"). E t w a s schmeichellhafter fiel der Bericht der Mrs. H. Martineau vom J a h r e 1 8 3 7 aus („Society in America"). Der in Amerika spielende Teil von Ch. Dickens' „Martin Chuzzlewit" (1843—4) bestärkte dagegen die Vorbehalte der Mrs. Trollope. — Die Kontroverse um den Wert und Unwert des Lebens in den Vereinigten Staaten wurde auch im deutschen Schrifttum der Zeit ausgetragen; vgl. im einzelnen H. Meyer, op. cit., S. 541!. Man überbot sich in unsachlichen Schmähungen. F . J . Grunds Schrift „ D i e Aristokratie in Amerika" ( 1 8 3 9 ) —schon ihrem Titel nach ein Anti-Tocqueville-Pamphlet — beschreibt Nordamerika als Tyrannei der Reichen, die das Volk in einen Zustand moralischer Entwürdigung zwinge. E i n Elaborat von F . Otto („Diesseits und Jenseits des Ozeans"; 1 8 5 2 ) beschimpft Amerika als „Latrine E u r o p a s " und „durch Geldaristokratie verhunzte Republik". 93
94 ) Die Untersuchungen zu Herzens Amerikabild stammen — nach bescheidenen Ansätzen bei Starcev („Amerika i russkoe obsCestvo", op. cit., S. 1 3 f . ) und Kameneckij (op. cit., S. 73)— ausschließlich aus der Zeit nach 1945. A m fundiertesten unterrichtet A . Kucherov, „ A . Herzen's Parallel Between the United States and R u s s i a " (1963), der allerdings nur einen Aspekt aus dem Gesamtzusammenhang des Themas herausgreift. Auf eine beschränktere Auswahl an Material stützen sich D. Hechts Kapitel über Herzen in „Russian Radicals Look to A m e r i k a " (1947), S. 1 6 - 4 0 (Hechts Artikel „ A . Herzen and A m e r i c a " in A S E E R I V [1945], S. 1 9 - 3 2 , verwertet das gleiche Material), sowie die Ausführungen von M. Laserson (op. cit., S. 205—236; „Herzen on Russia and America"). Eine neuere sowjetische Untersuchung von V . A . Putincev ( „ A . I. Gercen ob Amerike", in „Izvestija A N S S S R . Otd. lit. i j a z . " , I X [1950], 3, S. 237—244) ist allzu tendenziös geraten.
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im Jahre 1846 entwickelte er sich zu einem der bestunterrichteten russischen Kenner Amerikas. Gegenüber den Zeitgenossen in Rußland ragt er durch die Ausgewogenheit vieler seiner Urteile und ein ehrliches Bemühen um Objektivität hervor. Herzens Äußerungen über die Vereinigten Staaten sind breit über sein gesamtes Werk verstreut. Sie finden sich vor allem in den tagespolitischen Artikeln des „Kolokol", aber auch in seinen Briefen und Memoiren und in einigen literarischen Skizzen. Durch die ständige Residenz in London seit 1853 standen Herzen naturgemäß ergiebigere Informationsmöglichkeiten zur Verfügung als seinen Landsleuten in Rußland. Es waren ihm dort nicht nur die gesamte reichhaltige Amerikaliteratur Westeuropas und die zahlreichen englischen Presseberichte über die Vereinigten Staaten zugänglich sondern auch die Amerikaschriften russischer Emigranten 96 ). Zusätzliche Kenntnisse bezog Herzen aus mündlichen Berichten der europäischen Revolutionäre, die mit den Verhältnissen in Nordamerika aus eigener Anschauung vertraut waren 96 ). Herzens Beschäftigung mit den Vereinigten Staaten erwuchs weniger aus einem systematischen Interesse als aus spontanen, zufälligen Anlässen. Die Fixpunkte sind zwei herausragende politische Daten: das Scheitern der europäischen Revolutionsbewegungen im Jahre 1848 und der amerikanischen Sezessionskrieg von 1861—1865. Dem Lauf der politischen Ereignisse folgend, sind die Amerika-Urteile Herzens extremen emotionellen Schwankungen unterworfen, die eine einheitliche Bewertung auf den ersten Blick erschweren. Daß das Schreiben in der Art des „sine ira et studio" seine Sache nicht sein könne, hatte sich Herzen selbst einmal freimütig eingestanden97). Daraus erklärt sich die subjektive Exaltiertheit und Zeitgebundenheit mancher seiner Aussagen. In Augenblicken heftiger Gemütsbewegung war er sehr wohl der Karikatur Amerikas fähig 98 ); häufiger waren allerdings solche Momente, in denen er aus Verdrossenheit über die Verhältnisse in Europa die Attraktion Amerikas auf sich wirken ließ.
b) Ihr zeitlicher Ablauf Auch für Herzen hatte die kritische Betrachtung Amerikas einst mit der Lektüre Tocquevilles begonnen. Während der frühen 1840er Jahre wurde dieses Interesse zunächst ganz von weltanschaulich-philosophischen Fragestellungen zurückgedrängt99). Aus der beiläufigen Bemerkung eines 1842 geschriebenen Artikels ist jedoch zu entnehmen, daß Herzen den Ame-
95 ) Hier ist vor allem das Buch „ S t a r s and Stripes, or American Impressions", London 1856, von I. G. Golovin (1816—83) zu nennen; vgl. dazu Laserson, op. cit., S. 1 5 5 - 6 1 . Golovins Bericht entwarf ein insgesamt erstaunlich zutreffendes Bild von den amerikanischen Verhältnissen. Nach der R ü c k kehr aus den Vereinigten Staaten, die er von 1853—55 bereist hatte, gab Golovin eine Zeitung „ R u s s i a and the United States Correspondent" heraus. Herzen begegnete Golovin häufiger in London, entzweite sich aber später mit ihm. Seine Memoiren widmen ihm ein ziemlich unvorteilhaftes Porträt ( „ B y l o e i d u m y " ; Werke, X I , S. 404—27). Der emigrierte Dekabrist N . I. Turgenev nahm in seinem vielbeachteten Werk „ L a Russie et les Russes" (Paris 1 8 4 7 ; dt. Ausgabe Grimma 1847) eine überaus wohlwollende Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten ein (s. Laserson, op. cit., S. 1490.).
® 6 ) Zu Herzens Londoner Bekanntenkreis zählten unter anderen Garibaldi, Kossuth, Mazzini, Bakunin, die alle in den Vereinigten Staaten gewesen waren. Auch mit Carl Schurz traf H. einmal in London zusammen (vgl. „ B y l o e i d u m y " ; Werke, X I , S. 53). Mit einem weiteren nach Amerika emigrierten 1848er Revolutionär, Friedrich K a p p , führte H. Korrespondenz. 97
) In „ L a Russie" (1849) schreibt er (Wke., V I , S. 184): „ E n général, je regarde comme impossible ou comme inutile d'écrire sur un sujet, pour lequel on ne ressent ni amour, ni haine."
" ) Als Golovin nach Amerika abgereist war, jubilierte Herzen ( „ B y l o e i d u m y " ; Wke., X I , S. 4 2 2 ) : „ D a verschwindet er in diesem Ozean von Schwindlern und allen möglichen Glücks- und Abenteuersuchern; mag er dort Pionier oder Digger, Kapitalist („Pooler") oder Sklavenhalter werden; mag er reich werden oder nach dem Lynchgesetz gehängt werden." " ) Siehe dazu G. Spet, „Filosofskoe mirovozzrenie Gercena" ( 1 9 2 1 ) ; pass.
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rikaklischees der überstand 100 ).
romantischen Kulturphilosophie
schon
mit
deutlicher Reserve
gegen-
Herzen w a n d t e sich den Vereinigten Staaten wieder zu, nachdem er 1846 R u ß l a n d verlassen hatte. D a m a l s w a r er erfüllt v o m Glauben an die soziale und politische Fortschrittlichkeit des Westens 1 0 1 ). V o n den tatsächlichen Verhältnissen in Europa zutiefst abgestoßen, begann er nur wenig später seine Zuversicht auf die Jugendkraft der Vereinigten Staaten zu richten, v o n der er hoffte, daß sie den Verfall Europas gemeinsam mit R u ß l a n d überwinden werde 1 0 2 ). Die Kirchhofsruhe der europäischen Monarchien beschwor in ihm Erinnerungen an die V o r züge der nordamerikanischen D e m o k r a t i e herauf. Selbst die lärmende Kulisse amerikanischer W a h l m a n ö v e r erschien ihm nun ein ermutigendes Anzeichen 1 0 3 ). Diese aufkeimende H o f f n u n g Herzens wurde durch die K a t a s t r o p h e der europäischen R e volutionsbewegungen im Jahre 1848 j ä h erstickt. D a m a l s war der T i e f p u n k t seiner Resignation über Europa erreicht; auch der Glaube an die Z u k u n f t s b e s t i m m u n g Amerikas war nachhaltig erschüttert. Selbstkritisch ging der A u t o r mit seinen früheren Idealen ins Gericht. Obw o h l er den Niedergang Europas als unabwendbar ansah, fühlte er sich doch in fataler Weise an diese absterbende W e l t gekettet 1 0 4 ). Die Flucht über den Ozean entlarvte sich ihm nun als eine Illusion; A m e r i k a war nur noch „verbesserte A u s g a b e eines früheren T e x t e s " , nämlich der verhaßten feudal-christlichen Ordnung Europas, „ n o c h dazu in einer groben englischen Ubersetzung 1 0 6 )". Diejenigen, die die Flucht dorthin trotz allem auf sich nehmen wollten, wurden v o n ihm als wirklichkeitsblinde Romantiker v e r h ö h n t ; an sie richtete er einen A p p e l l zur Umkehr 1 0 8 ). Die gescheiterten Kolonisationsprojekte v o n Fourieristen in den Vereinigten Staaten dienten ihm als Illustration seiner Mahnung 1 0 7 ). 10°)
„Diletantizm v nauke" (1842-3); Wke., III, S. 28: „Die Romantiker ( . . . ) fanden einen Stempel des Fluchs in der materiellen Ausrichtung der Epoche und, indem sie von ihrem Kirchturm schauten, übersahen sie die ganze Poesie der industriellen Tätigkeit, die sich beispielsweise in Nordamerika so grandios entwickelt hat." 101 ) Herzens Verhältnis zum Westen behandelt allgemein V. Zen'kovskij, op. cit., S. 95 ff. 102 ) „Pis'ma iz Francii i Itaiii" (1847-52); Wke., V, S. 21: „ F ü r ihn (i. e. den Europäer) ist die Gegenwart das Dach eines vielstöckigen Hauses, für uns und Nordamerika ist sie eine hohe Terrasse, das Fundament; sein Dachboden ist unser Erdgeschoß." 103 ) ibid., S. 173: „ I n den Nordamerikanischen Staaten gehen Wahlen fast nie ohne Lärm ab, die Regierung verschwindet gewöhnlich während dieser Zeit, und darin liegt ihre hohe Ehrlichkeit — hier (i.e. in Europa) gibt es weder solchen Takt, noch solches Verständnis." 1 M ) Siehe die Aufsatzfolge „ S togo berega" (1847—50), die Herzen „meine logische Beichte" nannte (in „Byloe i dumy"; Wke., X , S. 233). Darin schreibt er (Wke., VI, S. 114): „Gehören unsere Tugenden und unsere Laster, unsere Leidenschaften und, was die Hauptsache ist, unsere Gebräuche nicht zu dieser Welt, von der wir uns nur der Uberzeugung nach getrennt haben ?" 105 ) „ S togo berega"; op. cit., S. 68, S. 28. Herzen knüpft hier explizit an Gedanken seines „ P e n n " an („William Penn brachte eine alte Welt auf neuen Boden mit sich"). 106 ) „ S togo berega"; op. cit., S. 114-5: „Was fangen wir in den jungfräulichen Wäldern an, — wir, die wir den Morgen nicht verbringen können, ohne fünf Zeitungen zu lesen ? ( . . . ) Seien wir doch ehrlich, wir sind schlechte Robinsone." 107 ) „ S togo berega"; op. cit., S. 124. Herzen bezog sich hier auf die Erfahrungen des Fourieristen Etienne Cabet. Cabet leitete seit 1848 eine Kommune in Texas, die sich jedoch unter dem Zwang von Mißerfolgen bald auflösen mußte. Die sozialistischen Experimente, die mit den 1840er Jahren einen ersten Höhepunkt erreichten, wurden von Herzen stets aufmerksam verfolgt. Er erwähnt sie vielfach in seinen Schriften; siehe „Byloe i dumy", Wke., I X , 116 (Hinweis auf das Cabet-Experiment); ibid., Wke., X I , S. 228 (das Projekt des Fourieristen V. Considérant); „ K o n c y i naíala" (1862), Wke., X I V , S. 187 (die Texas-Kommune Cabets); „Prolegomena" (1868), Wke., X X , S. 37 (Fourier und Cabet). Außerdem war Herzen mit Robert Owen bekannt, der von 1824—1829 ein genossenschaftliches Experiment in Indiana (Kolonie „ N e w Harmony") durchgeführt hatte; siehe das Porträt Owens in „Byloe i dumy, Wke., X I , S. 205-54.
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Bezüglich Amerikas war Herzens Pessimismus schon bald wieder verflogen. Aus einem Artikel des Jahres 1849 klang wiederum die alte, von Tocqueville inspirierte Zuversicht, daß Amerika und Rußland das absterbende Europa verdrängen würden 108 ). Die Schmähungen gegen Europa blieben jedoch ein Grundzug der Aufsätze Herzens aus diesen Jahren. Symbol des europäischen Verfalls waren ihm die „bourgeoisen Sitten" der Kleinbürger, deren Züge er voll beißendem Sarkasmus analysierte 109 ). Angesichts dieser Erstarrung gewann Herzen zusehends seinen Glauben an die zukünftigen Aufgaben Nordamerikas und Rußlands zurück. Unter dem Eindruck einer Ehekrise faßte er Anfang der 1850er Jahre sogar für kurze Zeit die Emigration in die Vereinigten Staaten ins Auge, ohne daß allerdings solche Absichten jemals das Stadium eines kapriziösen Gedankenspiels überschritten hätten 110 ). In dem Aufsatz „ L a Russie et le Vieux Monde" nahm Herzen 1854 seine grundlegende Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten wieder auf. Er bekräftigte die alte Wunschvorstellung, daß Amerika und Rußland das geschichtliche Erbe Europas dereinst zu neuer schöpferischer Entfaltung bringen würden. Durch die Aufnahme der besten europäischen Traditionen des 18. Jahrhunderts seien die Vereinigten Staaten befähigt, an die Realisierung einer neuen Sozialordnung heranzugehen 111 ). Als Beweis für die latenten Kräfte der zwei künftigen Weltmächte führte Herzen die dynamischen Pionierbewegungen beiderseits des Ozeans an. Er erwartete offensichtlich neue Impulse von der Begegnung Rußlands und Amerikas am Pazifik, den er bereits 1853 als „Mittelmeer der Zukunft" apostrophiert hatte 1 1 2 ). Kurz bevor der Amerika-Optimismus Herzens durch den Sezessionskrieg einer neuerlichen Krise unterworfen wurde, trat ein Ereignis ein, das ihn in seinen kühnsten Visionen zu bestätigen schien: im Jahre 1858 erwarb Rußland durch den Vertrag von Aigun die reichen Amurprovinzen. Die räumliche Annäherung an die Vereinigten Staaten war damit noch enger geworden. Eine Vereinigung der beiden Mächte, der alte Wunschtraum aus der Zeit der Dekabristen, schien nun greifbar vor der Verwirklichung zu stehen. Herzens Kommentar zu diesem Anlaß brach in eine überschwengliche Lobpreisung auf die gesunde demokratische Veranlagung der Amerikaner aus 1 1 3 ) und gipfelte in einer Hymne auf die beiden Mächte um das „Mittelmeer der Z u k u n f t " : 108
) „ L a Russie"; Wke., V I , S. 1 5 3 : „ S i l'Europe ne parvient pas à se relever par une transformation sociale, d'autres contrées se transformeront; il y en a qui sont déjà prêtes pour ce mouvement, d'autres qui se préparent. L'une est connue, je veux dire les Etats de l'Amérique du Nord; l'autre, pleine de vigueur, mais aussi pleine de sauvagerie, on la connaît peu ou mal." 1M ) Z. B. in „ L a Russie et le Vieux Monde" (1854); W k e . , X I I , S. 1 3 4 f f . ; „Première Lettre ( 1 8 5 4 - 5 ) ; Wke., X I I , S. 463 („moeurs bourgeoises") u. ff. ; auch im damals verfaßten Teil von „Byloe i d u m y " ; Wke., X , S. 12g. Siehe die Dissertation von V . Piroschkov, „ D a s Problem des Spießertums bei Herzen" (1951). 110 ) Vgl. „Byloe i d u m y " ; Wke., X , S. 255 („Ich bin bereit [ ], nach Amerika zu gehen, doch sehen wir, was geschieht.") Als weitere Quelle dienen Herzens Briefe vom Jahre 1853 ; Wke., X X V , S.i 18 (20. 9. 1853 an A . Reichel); ibid., S. 90 (15. 8. 1853 an K . Vogt); ibid., S. 45 (6. 4. 1853 an M. K . Reichel: „ . . . soll man mich verfluchen, ( . . . ) doch ich gehe weder nach Amerika noch nach Australien.") — Herzen äußerte seine Auswanderpläne auf dem Höhepunkt des Zerwürfnisses mit G. Herwegh um seine Frau Natalija; vgl. E . H. Carr, „ T h e Romantic Exiles" ( 1 9 3 3 ) , S. 47—121. Seine Pläne wurden zeitweise bestärkt durch die günstigen Eindrücke, die ihm ein in den Vereinigten Staaten lebender Bekannter, V. K . Bodisko, mitteilte (5-/6. 2. 1854 an M. K . Reichel; Wke., X X V , S. 150). U1 ) „ L a Russie et le Vieux Monde"; Wke., X I I , S. 1 3 6 „L'Amérique du Nord présente la dernière conséquence des idées républicaines et philosophiques de l'Europe du X V I I I e siècle . . . " (S. 138) 112 ) In „Kresêennaja sobstvennost'" (Wke., X I I , S. 110) prägt er erstmals den Ausdruck „Mittelmeer der Zukunft", der zu seiner Freude bald von der amerikanischen Presse aufgegriffen wird („Byloe i d u m y " ; Wke., V I I I , S. 256). 113 ) „Amerika i Sibir'" (1858); Wke., X I I I , S. 401 : „Diese einfache, lebendige, gesunde Beziehung des amerikanischen Geistes zu staatlichen und wirtschaftlichen Fragen entspricht vollkommen dem Begriff einer demokratischen Republik."
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„Die Reihe war offensichtlich an Amerika und Rußland. Beide Länder fließen über an Kräften, Gestaltungswillen („plasticizm"), Organisationsgeist und Beharrlichkeit, die keine Hindernisse kennt; beide haben eine arme Vergangenheit, beide stellen den völligen Bruch mit der Tradition an den Anfang, beide dehnen sich über unendliche Täler aus und suchen ihre Grenzen, beide durchmessen von verschiedenen Seiten aus ungeheure Räume und bezeichnen ihren Weg überall durch Städte, Dörfer, Kolonien.. . 1 1 4 ) . " Den gleichen Enthusiasmus für die dynamische amerikanische Pionierbewegung, den „ungebrochenen Puls" des amerikanischen Lebens 115 ), bekundete Herzen noch in anderen Artikeln zum Ausgang der 1850er Jahre. Keine Macht der Erde, so äußerte er bewundernd, könne sich dem ungestümen Vorwärtsdrang der amerikanischen Kolonisation entgegenstemmen, die in nächster Zeit sicherlich auch Kuba und Zentralamerika ergreifen werde 116 ). Der Mißmut über die stickigen europäischen Konventionen ließ ihn immer wieder über die Unfertigkeiten der amerikanischen Zivilisation hinweggehen. Nach seiner Meinung waren die Vereinigten Staaten zu einem idealen Partner Rußlands herangewachsen, wenn ihm auch der Anblick der „lawinenartigen" amerikanischen Siedlungsbewegung bisweilen Unbehagen einflößen mochte 117 ). Merklich gedämpfter in ihrem Enthusiasmus sind demgegenüber die Prognosen, die Herzen der sozialen Entwicklung in denVereinigten Staaten stellte. Hier scheint ihn seine schwärmerische Zuversicht oftmals im Stich zu lassen. Zwar erkannte er auch für diesen Bereich eine Uberwindung europäischer Stagnation an, doch nahm er in Nordamerika zu wenig wahr, was seinen Glauben an die ersehnte revolutionäre Umgestaltung der europäischen Ordnung genährt hätte. Die sozialen Bestrebungen der Amerikaner schienen ihm allzu sehr vom Geist des partikularen Interesses infiziert — im Gegensatz zu manchen ungleich günstigeren Voraussetzungen in Rußland 118 ). In einer fragmentarischen literarischen Skizze unternahm es Herzen in diesen Jahren, die geistige Struktur eines amerikanischen Dollararistokraten in ihre Bestandteile zu zergliedern. Es erstand die Gestalt des Amerikaners Barnum, eines „Sokrates des bourgeoisen Zeitalters", der alle seine Mitbürger schlicht als Mittel zur persönlichen Bereicherung taxierte. Mit Barnum eröffnet sich in der russischen Literatur eine Galerie von amerikanischen Kapitalisten; in
114
) „Amerika i Sibir'", op. cit., S. 400. ) „Francija ili A n g l i j a ? " ( 1 8 5 8 ) ; Wke., X I I I , S. 230. 116 ) „ E s i e variacija na staruju t e m u " ( 1 8 5 7 ) ; Wke., X I I , S. 4 2 7 - 8 : 115
„ . . . keine Macht wird die Nordamerikaner mit ihrem Kräfteüberfluß, ihrem Gestaltungswillen, ihrer Unermüdlichkeit, von einer Vereinigung mit Zentralamerika und K u b a abhalten." Ähnliche Elogen auf die amerikanische Pionierbewegung bringt Herzen aus in seinem „Lettera a Giuseppe Mazzini sulla presente condizione della R u s s i a " ( 1 8 5 7 ) ; Wke., X I I , insbes. S. 340—2. 11?
) „ E s £ e variacija . . . " ; op. cit., S. 4 2 8 : „ D i e Vereinigten Staaten schieben alles vor sich her, gleich einer Lawine, die sich vom Berge losgelöst hat; jeder Fußbreit, den sie erwerben, ist für die Indianer verloren."
Wie Chomjakov, nur ohne dessen abschätzigen Unterton, gab Herzen der auf friedliche Assimilierung gerichteten russischen Kolonisation den Vorzug vor der amerikanischen. Das Bündnis mit den Vereinigten Staaten empfahl er in „ F r a n c i j a ili A n g l i j a ? " ; op. cit., S. 2 3 3 : „ wenn (Rußland) sich von der Petersburger Tradition befreit hat, so hat es einen Verbündeten: die Nordamerikanischen S t a a t e n ! " 118
) „ E s £ e variacija
" ; op. cit., S. 4 2 9 :
„ W i e sich Amerika den sozialen Bestrebungen gegenüber verhalten wird, ist schwer zu sagen; der Geist der Teilhaberschaft, der Assoziation, des Gemeinunternehmens ist in ihm überaus entwickelt; doch es gibt kein Gemeineigentum, nichts in der A r t unserer Arteis, keine Dorfgemeinschaft; eine Person verbindet sich mit anderen nur in einer bestimmten Angelegenheit, außerhalb derer man eifersüchtig die vollste Unabhängigkeit verteidigt."
137
ihrer Beschreibung brillierten später Gor'kij und dessen sowjetische Epigonen 119 ). Allerdings wird man bei Herzen noch vergeblich nach der verletzenden Ironie und den Verzerrungen vieler seiner Nachfolger suchen. Sein persönliches Bekenntnis zu den Lebensbedingungen in Nordamerika legte Herzen in einem gleichfalls Ende der 1850er Jahre verfaßten Abschnitt der Memoiren nieder. E s unterscheidet sich in aufschlußreicher Weise von dem Zweckoptimismus der politischen Artikel. Herzen entwarf hier ein melancholisches Stimmungsbild amerikanischer Lebensmonotonie, das den etablierten Klischees der Amerikagegner manche seiner Züge verdankte: „Dieses Volk (i.e. der Verein. St.) ist jung, unternehmend, mehr auf das Geschäft als auf den Geist ausgerichtet, so sehr mit dem Aufbau einer Wohnstätte beschäftigt, daß es unserer quälerischen Schmerzen völlig unkundig ist. Überdies gibt es dort nicht einmal zwei Bildungen. Diejenigen, die eine Schicht in der dortigen Gesellschaft bilden, wechseln beständig; sie steigen auf und fallen nach Maßgabe der Soll- und Habenseite jedes einzelnen. (. . ,) 1 2 0 )" „Amerika — ich achte es sehr, ich glaube, daß es zu einer großen Zukunft bestimmt ist, weiß, daß es heute Europa zweimal näher als früher ist, doch das amerikanische Leben ist mir unsympathisch. ( . . . ) Amerika ist noch nicht seßhaft geworden, es ist unfertig, ( . . . ) . Außerdem ist Amerika, wie Garibaldi sagt, ,das Land des Heimatvergessens'; sollen alle diejenigen dorthin gehen, die keinen Glauben mehr an ihr Vaterland haben. ( . . . ) J e mehr ich meine Hoffnungen auf das romanisch-germanische Europa verlor, ist mein Glauben an Rußland wiedererstanden 121 )." Herzens optimistische Ausblicke auf die künftige Rolle der Vereinigten Staaten wurden seit Ausgang der 1850er Jahre endgültig durch die Problematik des heraufziehenden Bürgerkrieges überschattet. Sein plötzlicher Stimmungsumschwung wurde durch die niedergeschlagenen Briefe eines russischen Auswanderers in Nordamerika, I. V. Turcaninov, bestärkt 122 ). Von 1859 an ergehen sich Herzens Artikel in bitteren Anklagen gegen die Negersklaverei. Zehn Jahre nach der ersten Desillusionierung über die Vereinigten Staaten kehrte er nun zu diesem Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung zurück. Zu Zeiten der Enttäuschung über die europäische Reaktion schwebte Herzen zwar weiterhin die demokratische Entwicklung Amerikas als Leitbild vor, doch verzagte seine Zuversicht bald und wurde mehr und mehr von ätzender Polemik übertönt 123 ). Mit Bestürzung wollte er
1M ) „ O b a I u i s e " ( 1 8 5 6 zuerst in den „Sankt-Peterburgskie Vedomosti" erschienen); Wke., X I I , S. 332—8. Dieses Fragment stellt in G. Sands Romanfiguren Horace und Barnum zwei Prototypen europäischer Verfallskultur zusammen. Kiparskys Typologie zur Gestalt des amerikanischen „businessman" in der russischen Erzählliteratur übergeht den Beitrag Herzens („English and American Characters . . . " , S. 1 1 5 - 2 2 ) . 12 ° ) „ B y l o e i d u m y " ; Wke., X , S. 120. 121
) „ B y l o e i d u m y " ; Wke., X , S. 163. ) I. V . Turianinov ging 1 8 5 6 zusammen mit seiner Frau in die Vereinigten Staaten, wo er sich später im Sezessionskrieg auf Seiten der Nordstaatler auszeichnete. Im J a h r der Abreise war er mit Herzen in London zusammengetroffen. N a c h anfänglichen Mißerfolgen ihrer Niederlassung in Amerika sandten Turianinov und seine Frau 1859 Briefe, in denen sie Herzen über das Elend ihrer neuen Lebensumstände klagten. Die Briefe sind veröffentlicht in L N , B d . 62 (1955), S. 5 9 1 - 6 0 3 (mit einem einführenden Artikel von D. M. Zaslavskij). " » ) Siehe „Rossija i P o l ' s a " ( 1 8 5 9 ) ; W k e . , X I V , S. 9 : 122
„Dort, wo Republik und Demokratie im Einklang mit der Entwicklung des Volkes sind, wo sie nicht nur ein Wort, sondern eine Tatsache sind, wie in den Vereinigten Staaten und der Schweiz, dort ist zweifellos die größte persönliche Unabhängigkeit und Freiheit." Im gleichen Artikel rügt Herzen, daß „ i n den Nordamerikanischen Staaten Briefe undjournale abgefangen, Bürger auf Plätzen ausgepeitscht und freie Neger auf Auktionen verkauft (werden)." (S. 9)
138
wahrnehmen, daß die bis dahin nur geduldete Sklaverei zu einem organischen Gesetz der amerikanischen Demokratie geworden sei 124 ). Der Zynismus, mit der man die Unterdrückung der Neger zur Sache eines heiligen Krieges deklarierte, erschien ihm kaum noch überbietbar 125 ). Resigniert zog Herzen die Konsequenzen aus dieser Lage. Wie schon einmal zuvor schrieb er Amerika als Asyl vor der kleinbürgerlichen Erstarrung Europas ab, um sich über die gescheiterten Auswanderversuche romantischer Illusionisten zu mokieren 128 ). Der polnische Aufstand des Jahres 1861 nahm Herzens publizistische Aktivität eine Zeitlang voll in Anspruch. Wenige Jahre später, nach dem Triumph der Nordstaaten im Sezessionskrieg, ist seine Bitternis über die Vereinigten Staaten wiederum einer schwärmerischen Zuversicht gewichen. Die „Briefe an einen Reisenden" von 1865 markieren den neuen Umschwung. Der amerikanische Bürgerkrieg steht nun symbolhaft für die unverbrauchte Kraft des jungen, „klassenlosen" Kontinents, dem wiederum an der Seite Rußlands eine glanzvolle Zukunft prophezeit wird. Beide Mächte hatten nach Herzens Meinung eine wohltuende Katharsis hinter sich, die sie an die Lösung neuer Aufgaben heranführe. Diese Aufgaben brauchten durchaus nicht der gleichen Art zu sein 127 ). In den „Briefen an einen Reisenden" vertrat Herzen nur mehr eine gemäßigt revolutionäre Konzeption, die am Ideal der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung orientiert war 128 ). Seine Hoffnungen galten nicht so sehr einem radikalen Umsturz als vielmehr dem friedlichen Überflügeln des erstarrten Europa durch Amerika und Rußland. Im Entwicklungsgang der Vereinigten Staaten erkannte er nun die alten Triebe europäischer Zivilisation in einer frischen lebensvollen Entfaltung 129 ). Ihr Beispiel gab ihm auch neuen Mut für seinen Glauben an Rußland. In den folgenden Jahren hielt Herzen unbeirrt an diesen Erwartungen fest. Amerika und Rußland eröffneten ihm einen Ausweg aus der immer noch akut empfundenen europäischen Sackgasse. Seine Gedanken faßte er zuweilen in drastische Vergleiche 130 ); zum Teil nahm er
124 125
) „Russkie nemcy i nemeckie russkie" ( 1 8 5 9 ) ; Wke., X I V , S. 1 8 1 . ) „Mortuos plango" (1862); Wke., X V I , S. 9: „ A u c h vor den Nord- und Südstaaten gab es Sklaverei und Leibeigenschaft (
), doch dieser
Zynismus, diese Frechheit, diese verbrecherische Einfachheit, diese unverschämte Bloßstellung, das ist neu und gehört zu A m e r i k a . " lss
) „ K o n c y i n a i a l a " (1862); Wke., X V I , S. 132. Hier berichtet Herzen von einer Gruppe Europäer,
die enttäuscht aus Amerika zurückgekehrt sei. Aus ihren Erfahrungen entnimmt er: „ I n Amerika schreckte sie mehr als alles die nackte, wilde Natur, an deren Blättern die Schöpfung der Welt noch nicht getrocknet war, und die wir in Bildern und Gedichten so heiß lieben." (S. 1 3 3 ) 127
) „ P i s ' m a k putesestvenniku"; Wke., X V I I I , S. 349 (u.ff.): „ D a s klassenlose demokratische Amerika und das sich auf die Klassenlosigkeit hin entwickelnde bäuerliche Rußland bleiben für mich wie früher die Länder der nächsten Z u k u n f t . "
Adressat der „ B r i e f e " war wahrscheinlich jener V . K . Bodisko, Neffe des damaligen russischen Botschafters in Washington, dem Herzen manche seiner Detailkenntnisse über die Vereinigten Staaten verdankte. V . K . Bodisko bereiste Nordamerika in den Jahren 1854—5 und veröffentlichte darüber 1856 Reiseskizzen im „Sovremennik" (Nr. 3 - 6 ) . la
>) „ P i s ' m a , " op. cit., S. 3 5 7 : „Nordamerika begann mit dem letzten Wort revolutionärer Philosophie, der Algebra der Menschenrechte." „ P i s ' m a . . . " , op. cit., S. 3 5 2 : „Amerika wurde mit fertigem Haupt und in voller Ausrüstung geboren. ( . . . ) Ein neues Prinzip hat es nicht mit sich gebracht, doch es lieferte ein fest gestähltes und gereinigtes altes, ( . . . ) . "
130
) Einmal setzt Herzen Europa einer alten zahnlosen Kurtisane gleich, die er mit Amerika als Ver-
körperung jugendlicher Vitalität kontrastiert; „ P i s ' m a k budusiemu d r u g u " ; Brief 5 (1866); Wke., X V I I I , S. 9 4 - 5 .
139
eigene Prägungen aus früheren Jahren wörtlich wieder auf 1 3 1 ). Die Übereinstimmung mit anderen Kapazitäten des europäischen Geisteslebens, namentlich dem französischen Historiker Edgar Quinet, bestärkte ihn in seiner positiven Wertung 132 ). Unschlüssigkeit steht am Ende von Herzens Auseinandersetzung mit Nordamerika. Trotz aller Gemeinsamkeiten, die er zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten stets herausgestellt hatte, konnte Herzen die innere Gegensätzlichkeit beider Ordnungen nicht versöhnen. Einmal schien ihm Rußland eher zu einer Lösung auf sozialistischer Basis befähigt, während Amerika seinen eigenen Weg in eine andere Richtung getrennt fortsetzen sollte 133 ); dann wieder wies er Rußland den föderativen Aufbau der Vereinigten Staaten nachdrücklich als Muster zu 134 ). Aus diesem Widerspruch blieb ihm nur die mystische Hoffnung auf eine unbestimmte Zukunft, in der er beide Mächte sich zu vereinter Aktion zusammenschließen sah 135 ). c) Herzens Amerikabild Indem er seine Auseinandersetzung mit dem Westen über den bekannten europäischen Kulturkreis hinaus konsequent auf Nordamerika ausdehnte, erschloß Herzen dem radikalen Denken Rußlands eine neue Sphäre. Die Enttäuschung über Europa hatte ihn früh veranlaßt, seinen Blick auf die vielversprechende, von den europäischen Traditionen anscheinend so verschiedene Entwicklung in den Vereinigten Staaten zu lenken. Durch die Hoffnung auf Amerika, die mit einer geheimen Zuversicht auf die Wiedergeburt Rußlands gekoppelt war, fand Herzen oftmals zu einer positiven Sicht der politischen Zeitumstände zurück. Das Verhältnis zu Westeuropa blieb für ihn die eigentlich kardinale Frage, der Ausgangspunkt seines Suchens. Mit diesem Westeuropa, dem er in einer Art Haßliebe zugetan war, trug er eine stete polemische Fehde aus. Von ihr wurde auch die Auseinandersetzung mit Amerika beständig überschattet. Besonders in Augenblicken der Desillusion war sich Herzen sehr wohl darüber im klaren, daß ihm sein europäisches Bewußtsein Grenzen für ein rechtes Verständnis Amerikas setzte. Die Lebensumstände jenseits des Ozeans empfand er persönlich als fremd und bedrückend. Selbst auf dem Höhepunkt der Ehekrise verwarf er darum die Möglichkeit des Auswanderns in die Neue Welt als eine unsinnige Kaprice. Herzens Aufgeschlossenheit gegenüber Nordamerika unterlag darüberhinaus einer weiteren wesentlichen Beschränkung: ein sanguinisches Temperament gab seinen Urteilen allzu gewichtigen Ausschlag. Augenblicksemotionen, die durch Vorgänge der Tagespolitik hervorgerufen waren, trübten oftmals sein kritisches Empfinden 1 3 4 ). Ereignisse wie das räumliche An-
131
) I n dem A r t i k e l „ A m e r i k a i R o s s i j a " ( 1 8 6 6 ; W k e . , X I X , S . 1 3 9 - 4 0 ) , den er anläßlich eines a m e r i k a -
nischen F l o t t e n b e s u c h e s in P e t e r s b u r g v e r f a ß t e , ü b e r n a h m H e r z e n vollständige P a s s a g e n aus d e m früheren „ A m e r i k a i S i b i r ' " . 132
) A u f Quinet bezieht er sich in „ P i s ' m a k b u d u s c e m u d r u g u " , op. cit., S. 9 6 s . Quinet w a r in seinem
W e r k „ L a R é v o l u t i o n " ( 1 8 6 5 ) w i e H e r z e n zu dem Schluß g e k o m m e n , daß allein die Vereinigten S t a a t e n die europäische Misere ü b e r w i n d e n könnten. 133
) „ L a réponse à l'appel du centre républicain polonais a u x R u s s e s " ( 1 8 6 7 ) ; W k e . , X X , S . 8 7 : „ L e s éléments socialistes (
) fermentent en Russie. L ' A m é r i q u e , forte, rude, puissante, persis-
tante, énergique, sans ruines d ' u n passé qui encombraient la route du présent, l ' A m é r i q u e f a r a d a se." 134
) Brief an J . Michelet; 1 1 . 2. 1 8 6 8 ; W k e . , X X I X , S. 2 7 3 : „ L ' E m p i r e russe est une monstruosité, une a b s u r d i t é ; il doit se défaire en une fédération à l ' A m é r i caine. C ' e s t notre v o e u , notre espérance
135
"
) „ P r o l e g o m e n a " (1868) ; W k e . , X X , S. 4 0 : „ L a liberté est a u x E t a t s - U n i s et ce sont e u x qui, bien loin d'une haine contre la Russie, lui tendent une m a i n amicale en v u e de son a v e n i r . "
13e
) Die „ v e h e m e n t emotionale N a t u r " der U r t e i l e Herzens w i r d auch v o n K u c h e r o v unterstrichen
(op. cit., S. 4 1 ) .
140
einanderrücken Rußlands und Amerikas im Stillen Ozean verleiteten ihn zu jähem Enthusiasmus, der wie ein Strohfeuer wieder verlosch 1 3 7 ). Mit der immer wieder verkündeten Prophezeiung über den Aufstieg der Vereinigten Staaten und Rußlands und der Betonung ihrer Gemeinsamkeiten lieferte Herzen eine im Grunde oberflächliche Analyse sozialpolitischer Phänomene, die von der Aktualität wegführte und statt dessen in die Spekulation auf eine ungewisse Zukunft auswich. Dieses Wunschdenken war getragen vom Ressentiment gegen Europa; es ließ Herzen die realen Kräfteverhältnisse bei weitem überschätzen. Hier erwies er sich als „der große politische R o m a n t i k e r " : indem er die eigenen Probleme ständig aus sich heraus in die Umgebung projizierte, erfand er sich seine politische Welt aus Selbsterhaltungstrieb neu 138 ). Uber solche spekulativen Betrachtungen hinaus empfand Herzen eine Notwendigkeit, in die Eigenheiten der demokratischen Ordnung einzudringen, die den Vereinigten Staaten einen so machtvollen Aufstieg erlaubt hatten. Dieses Bemühen verharrte jedoch in Ansätzen. Seine Erläuterungen verraten nicht selten Unbeholfenheit und Allgemeinplätzigkeit; gelegentlich sind sie auch durch begriffliche Unklarheiten verwirrt. Als Aktivposten der amerikanischen Demokratie hob Herzen „ F r e i h e i t " und „Unabhängigkeit" hervor. W o er sich auf konkretere Definitionen einließ, waren solche Gedanken augenscheinlich von Tocqueville abgeleitet, der seine Einsicht in den Zusammenhang demokratischer Strukturen generell bestärkt haben mochte 1 3 9 ). Von Tocqueville übernahm Herzen außerdem die Grundkonzeption, nach der er das künftige Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland einschätzte. Er entlehnte jedoch nur den Rahmen des berühmten Vergleichs, um ihn mit immer neuen Allegorien auszuschmücken 140 ). Dagegen erwuchs Herzens Interesse an der amerikanischen Sozialordnung vor allem aus der Beschäftigung mit den französischen Utopisten. Schon im „William P e n n " , dem frühen Produkt seiner sozialutopischen Begeisterung, hatte er die Debatte darüber eingeleitet, ob Amerika als Vorbild einer künftigen gesellschaftlichen Reorganisation dienen könne. In den folgenden Jahren fühlte er sich immer häufiger dazu gedrängt, die Anwendbarkeit des amerikanischen Modells auf russische Verhältnisse zu überprüfen. Zu einem definitiven Ergebnis ist er schließlich nicht gekommen, ebenso wie er es stets unterlassen hat, seine sozialen Vorstellungen programmatisch zu umreißen 1 4 1 ). 13? ) Das Resümee Hechts („Russian Radicals . . . " , S. 2 1 8 ) simplifiziert, wenn es Herzen uneingeschränkte Bewunderung der Vereinigten Staaten unterstellt. Sowjetische Kommentatoren bevorzugen das andere Extrem. Durch eine manipulierte Zitatenauswahl erreichen sie es, Herzen als Gegner der amerikanischen „Sklavenhalterdemokratie" hinzustellen. Putincevs Studie lieferte eine Anleitung, der I. N . Uspenskij (op. cit., S. 21 f.) und G. S. Ceremin (op. cit., S. Bf.) in ihren Sammeldarstellungen folgten; von der gleichen Geisteshaltung zeugt auch die Polemik Pokrovskijs (op. cit., S. 114—6) gegen Hecht und Laserson. Wenige Jahre vor diesen sowjetischen Interpreten hatten allerdings Starcev und Kameneckij bereits einen Gegenbeweis angetreten. Sie kamen unter Heranziehung des Artikels „Amerika i Sibir'", den Putincev und seine Nachfolger geflissentlich übergehen, zu dem Schluß, daß Herzen „ein leidenschaftlicher republikanischer Amerikophile" gewesen sei („Amerika i russkoe obsíestvo", S. 13). 138 ) Diese Definition nach Scheibert, op. cit., S. 99. Scheibert nennt Herzen an gleicher Stelle (S. 98) „eine letztlich unpolitische, private N a t u r . " F ü r diesen politischen Romantizismus Herzens ist seine Reaktion auf den Tod Lincolns bezeichnend; er rief aus: „ O h Lincoln! Welch herrlicher T o d ! " (im Brief an M. v. Meysenbug am 3. 5. 1 8 6 5 ; Wke, X X V I I I , S. 72) 139 ) Einen Einfluß Tocquevilles in diese Richtung nimmt, ohne nähere Belege, auch Hecht an („Russian Radicals . . . " , S. 23ff.). Der einzige direkte Bezug Herzens auf Tocqueville bleibt der erwähnte Brief vom Jahre 1838 (vgl. S. 1 2 5 ) . 140 ) Unter diesem Einfluß Herzens stand möglicherweise Peierin, der in den 1860er Jahren eine Neuformulierung der Tocquevilleschen Prognose gab, daß „Rußland zusammen mit den Vereinigten Staaten einen neuen Zyklus in der Geschichte beginnt" („ZamogiPnye zapiski", S. 40). Zur Auseinandersetzung zwischen Herzen und Peierin siehe v. Schelting, op. cit., S. 2 3 1 ff.; V . Piroschkow, „ A . Herzen. Der Zusammenbruch einer Utopie" ( 1 9 6 1 ) , S. 1 r g ff. 141 ) Dieser Komplex der sozialen Problematik wurde von Kucherov einleuchtend dargestellt (op. cit., S. 4 2 f., 46).
141
Herzens Dilemma läßt die Erfahrung vorausahnen, die den russischen Radikalen der 1860er und 1870er Jahre bevorstehen sollte: die Vereinigten Staaten waren zu gemäßigt und konventionell geworden, um noch als revolutionäres Muster zu taugen. Zwar fand Herzen sein Ideal der persönlichen Freiheit nirgends so überzeugend verwirklicht wie gerade in Nordamerika, doch vermißte er dort angemessene sozialistische Organisationsformen, die ihm Rußland zu gewähren schien. Die gescheiterten Experimente der Fourieristen mußten seine pessimistische Einstellung gegenüber der nordamerikanischen Sozialordnung noch verstärken. In besonderem Maße richtete sich seine Kritik gegen die Ansprüche, die der einzelne in den Vereinigten Staaten vor der Gesellschaft geltend machen könne. Hier sah er eine Entwicklung heraufkommen, die seinen eigenen sozialistischen Leitbildern fundamental zuwiderlief. Nur gelegentlich fand er sich darum bereit, für Rußland Anleihen aus der amerikanischen Regierungspraxis zu empfehlen. Im Falle des Föderalismus stimmte er überein mit älteren Anregungen der Dekabristen. Solche Einschränkungen hinderten Herzen nicht, manche Eigenarten der amerikanischen Lebensweise einsichtig zu bestimmen. Energisch trat er gegen die willkürlichen Verzerrungen zeitüblicher Interpretationen auf. Zum Beispiel erkannte er im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen die Selbständigkeit eines amerikanischen Nationalcharakters ausdrücklich an 142 ). Die polemische Auseinandersetzung mit der Tradition der romantischen Literatur fortführend, warnte er vor einer Betrachtungsweise, die von Amerika als einem riesigen Naturparadies schwelgte. Erstaunliche Distanz bewahrte er auch dort, wo er die verbohrten Vorurteile von Amerikagegnern analysierte 143 ). Es waren die gleichen Vorurteile, die auch durch manche seiner Bemerkungen durchscheinen. Herzens Äußerungen entziehen sich gerade durch diesen Reichtum an Differenzierungen jeder schematischen Festlegung. An ihrem Beispiel wird sinnfällig, wie durch den Zusammenstoß der traditionellen Anschauungen mit den neuen, durch Tocqueville ausgelösten Fragestellungen eine Revision des russischen Amerikabildes vorbereitet worden war. Diese Neuorientierung Herzens wurde allerdings dadurch begünstigt, daß sie von den in Westeuropa vorgefundenen sachlichen Voraussetzungen ausgehen konnte —- Voraussetzungen, die in Rußland noch lange Zeit illusorisch bleiben mußten. 3. D i e
Sozialrevolutionäre
a) Die Petraschevzen Seit Mitte der 1840er Jahre zeichnete sich in der geistigen Atmosphäre Rußlands ein bedeutungsvoller Wandel ab. Das philosophische Zeitalter war für die russischen Intellektuellen nun endgültig abgeschlossen. Neue Wege wiesen die französischen Utopisten in der Nachfolge Saint Simons und Fouriers, deren Entwürfe eine bis ins letzte sinnvolle Welt ohne metaphysische Anleihen zu garantieren schienen144). In den Kolumnen der Zeitschriften nahm man sich 142
) „ K o n c y i n a í a l a " ; op. cit., S. 1 9 8 : „ N i c h t nur die Lebensweise, die Sitten, die Verfahrensweisen der Amerikaner haben ihren eigenen Charakter entwickelt, der angelsächsische und keltische T y p hat sich jenseits des Ozeans auch äußerlich g e w a n d e l t . . . "
143
) In „ S k u k i radi" (1868) läßt Herzen einen Mann der älteren Generation auftreten, der seiner A b neigung gegen die Amerikaner in einem „Idiotenurteil" Ausdruck gibt: „ I c h verabscheue sie, ich
ich kann sie nicht ausstehen. Leute, die sich allein mit geldlichen
Profiten und mit Gewinnstreben abgeben, das sind keine Menschen. E s ist klar, daß diese Krämerseelen keine Regierung brauchen, ihnen genügen Kontore, Faktoreien. Sie haben keine Seele, kein Herz, nicht diesen E l a n wie w i r . " (Wke., X X , S. 449) 144 ) Scheibert, op. cit., S. 2 3 2 . Zum Fourierismus s. N . V . Riazanovsky, „Fourierism in Russia — " in A S E E R X I I (1953), S. 289fr.; nicht zugänglich waren mir G. Sourine, „ L e Fourierisme enRussie", Paris 1936, und T . Bljumin, „Fur'erizm v Rossii" in „Problemy ékonomiki", Bde. V—VI (1937).
142
immer häufiger der Kommentierung aktueller sozialpolitischer Entwicklungen an. Das rapide anwachsende Informationsbedürfnis über westliche Lebensumstände führte dazu, daß ein Strom fremder Literatur einfloß. Dominierend waren auch hier Bücher über soziale Themen; sie waren vornehmlich französischer Herkunft 146 ). Im Zuge dieses allgemeinen Interesses teilte man damals den Vereinigten Staaten nach wie vor große Aufmerksamkeit zu. An die Fragestellungen Herzens und die mannigfaltigen Erfahrungen von fourieristischen Siedlern in den Vereinigten Staaten anknüpfend wurde in Rußland darüber debattiert, ob die nordamerikanische Demokratie ein Muster für die drängenden sozialen Umwandlungen abgeben könne. Fouriers sozialutopische Lehre hatte damals überall in Europa die Aufmerksamkeit auf Nordamerika gelenkt. Unter dem Eindruck von fourieristischem Gedankengut stand eine Auswanderbewegung, die in Deutschland seit den 1840er Jahren verstärkt um sich griff 146 ). Der alte Traum von Amerika war längst Teil einer europäischen Kulturtradition geworden 147 ). In Rußland wurde die durch den Fourierismus neu ausgelöste Diskussion um Amerika vor allem unter den Petraschevzen geführt. Die Mitglieder dieses sozialutopischen Debattierklubs schickten sich gegen Ende der 1840er Jahre als erste an, fourieristisches Gedankengut zu einem konsequenten Programm für Rußland zu formen 148 ). Ihnen verdanken die späteren Sozialrevolutionäre manche Anregungen. Das Haupt des Kreises, M. V. Butaäevic-Petraäevskij, gab sich als erklärter Fürsprecher einer föderativen Republik nach dem Muster der Vereinigten Staaten aus 149 ). In diesem Ideal wußte er sich mit der Mehrzahl seiner Freunde einig. Die Anstrengungen der Petraschevzen liefen zielstrebig darauf hinaus, Rußland in eine Regierung nach Art der nordamerikanischen umzuwandeln. Als Grundlage sollte das traditionelle Gedankengut des amerikanischen Befreiungskampfes dienen. Tatsächlich gehörte die Verfassung der Vereinigten Staaten, neben dem immer wieder genannten Tocqueville sowie älteren Werken Chateaubriands und Campes, zum Lektüreplan der Petraschevzen 160 ). Man war der Meinung, die „Demokratie in Amerika" erkläre „den gesamten Gesellschaftsaufbau wie er sein soll 161 )". In den Gedanken der Petraschevzen werden letzte Ausläufer jenes alten politischen Enthusiasmus für Amerika sichtbar, der einst mit Radiäcev begonnen und sich über die Dekabristen fortgesetzt hatte. Die Schlußfolgerungen der russischen Sozialutopisten deckten sich zum Teil wörtlich mit Formulierungen aus Radiäcevs „ R e i s e " . Sie besagten, daß „nur eine republikanische, repräsentative Regierung menschenwürdig ist", daß „jedes Volk sich selbst lenken soll, selbst Herrscher sein und sich nicht einer Herrschaft unterwerfen soll 162 )". Wie Radiäcev konnten es jedoch auch die Mitglieder des Petraäevskij-Kreises wegen der rigorosen Strafbestimmungen kaum wagen, ihre Anschauungen offen darzulegen.
145
) A . S. Nifontov, „ 1 8 4 8 god v R o s s i i " ( 1 9 3 1 ) ; S. 74fr., 1 0 0 , 1 0 2 . N a c h Nifontov erreichte der E i n -
strom westlicher Literatur im J a h r e 1 8 4 7 mit einer Gesamtauflage v o n 8 6 3 0 0 0 eine Rekordhöhe. 146
) Siehe die Dissertation von E . Schnitzer, „ D e r Nationalgedanke und die deutsche Auswanderung
nach den Vereinigten Staaten in der ersten H ä l f t e des 1 9 . J a h r h u n d e r t s " ( 1 9 3 5 ) . 147
) Chinard, „ T h e A m e r i c a n D r e a m " , op. cit., S. 2 1 5 .
148
) Z u den Petraschevzen siehe L . R a j s k i j , „ S o c i a l ' n y e vozzrenija P e t r a s e v c e v
..."
(1927);
P.
Sîegolev (ed.), „ P e t r a ä e v c y " I—III ( 1 9 2 6 f f . ) ; „ D e l o P e t r a ä e v c e v " , I—III ( 1 9 3 7 f r . ; Veröffentlichung der Schriften und Prozeßakten). 149
) R a j s k i j , op. cit., S. 79. Zur Person siehe V . I. Semevskij, „ M . V . B u t a s e v i i - P e t r a S e v s k i j i P e t r a -
sevcy" (1922). 160
) Die amerikanische Verfassung und Tocquevilles „ D e m o k r a t i e "
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Bücherbestelliste B.-PetraSevskijs auf. I m Bibliotheksverzeichnis des Petraschevzen N . A . Mombelli finden
sich Campes „ L a découverte de l ' A m é r i q u e " und Chateaubriands „ V o y a g e en A m é r i q u e " ;
vgl. in „ D e l o " , op. cit., I, S. 2 3 4 f . , 5 5 9 - 6 1 , 568. Z u Tocqueville s. auch Rajskij, op. cit., S. 79. 151
) N a c h der Aussage des Agenten P. D. Antonelli; zit. in „ D e l o " , I I I , S. 3 8 7 .
152
) ibid., S. 385.
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Mit ihrem „Fremdwörtertaschenbuch", einem lexikalisch verschlüsselten Sozialprogramm, ersannen die Petraschevzen schließlich ein vorzügliches Mittel zur Täuschung der Zensur. Diejenigen Artikel des Werkes, die mit Begriffsbestimmungen der modernen Politik befaßt waren, stellten sich folgerichtig die Glorifizierung der Vereinigten Staaten zur Aufgabe. Im Abschnitt über „Demokratie" wird Nordamerika neben einigen Schweizer Kantonen und südamerikanischen Republiken als einziger „reiner" Träger dieser Staatsform ausgerufen 163 ). Die gleiche Tendenz enthält das Stichwort „Nationalversammlung", das die Vereinigten Staaten unter die Länder von „höchstentwickeltem gesellschaftlichem Grad" einreiht 154 ). b) Die Negerfrage. Wirkung des „Onkel Tom" Die Negersklaverei in Amerika bot einen Bezugspunkt, an dem sich das Interesse der radikalen russischen Intellektuellen seit den 1840er Jahren fortwährend entzündete 155 ). Unter Nikolaj I. waren 184.5 strenge Gesetzesbestimmungen gegen die Beteiligung russischer Untertanen am Negerhandel erlassen worden. Die Zeitschriften sahen darin sogleich einen Anlaß, die Lage der unterdrückten Schwarzen in allgemeinerem Rahmen zu betrachten 156 ). Sehr bewußt zielte die Beschäftigung mit derlei Thematik auf einen Doppelsinn: die kritische Auseinandersetzung mit den Mißständen der amerikanischen Negersklaverei implizierte Anklagen gegen die Leibeigenschaft in Rußland. Diese Zweideutigkeit hatten sich bereits die Petraschevzen im Artikel „Negrofil" ihres als „Fremdwörterbuch" getarnten Sozialprogramms zunutze gemacht, in dem die politische Gegenwartsbedeutung der „Abschaffung von Unfreiheit" herausgestellt worden war 157 ). Ein literarisches Ereignis verschaffte der Negerfrage im Jahre 1852 von neuem zwingende Aktualität. Gleichzeitig mit I. S. Turgenevs „Aufzeichnungen eines Jägers" erschien damals Mrs. Beecher-Stowes Anti-Sklaverei-Roman „Onkel Toms Hütte". Das Werk fand schnell seinen Weg nach Rußland. Unter bedeutendem finanziellem Risiko ließ N. A. Nekrasov 1858 eine Übersetzung des „Onkel T o m " dem „Sovremennik" als kostenloses literarisches Supplement beifügen, woraufhin die Auflage seiner Zeitschrift sprunghaft anstieg. Nekrasov versprach sich nicht ohne Grund eine möglichst breite Anteilnahme am Schicksal „unserer eigenen Neger 1 5 8 )". Wie er legten die meisten der radikalen Literaturkritiker dem Roman der Mrs. Beecher-Stowe einseitig sozialkritische Maßstäbe an. Sie waren sogleich bemüht, ihn zu einer zugkräftigen politischen Waffe in ihrem Kampf gegen die Leibeigenschaft umzumünzen.
15S ) „ K a r m a n n y j slovar' inostrannych slov, vosedsich v sostav Russkogo j a z y k a " ; SPb. 1 8 4 5 - 6 ( I - I I ) . Die Ausgabe gedieh nur bis zur Vokabel „ O r d e n " , bevor sie von der Zensur konfisziert wurde. Hier: „Demokratija", I, S. 52. 154 ) Stichwort „Nacional'noe sobranie" im Komplementärband „Pribavlenie k slovarju . . . " , der jedoch nicht mehr erscheinen konnte. Zit. bei SCegolev, op. cit., I I , S. 20. 155 ) Nicht zugänglich war mir der Artikel von D. Hecht „Russian Intelligentsia and American S l a v e r y " in „ P h y l o n " I X (1948), Nr. 3, S. 2 6 5 - 7 0 . 15e ) Das „Ulozenie 0 nakazanijach" ( 1 8 4 5 ) setzte den Negerhandel mit der Piraterie gleich. Zahlreiche Berichte über die Negerfrage erschienen z . B . in den „Oteiestvennye zapiski"; siehe die Beiträge „ N e g r y na ostrove K u b e " ; L I V (1847), S. 2 1 1 ; „Pis'mo ob uniftoienii torga negrami"; ibid., S. 2 1 1 - 2 ; „ P i s ' m a Parizskogo Bjuro osvobozdenija negrov"; L V I ( 1 8 4 8 ) ; u. a. 157 ) „Negrofil" in „ K a r m a n n y j slovar' . . . " , op. cit., II, S. 2 2 5 . 168 ) Brief an I. S. Turgenev; am 25. 12. 1 8 5 7 ; Werke ( 1 9 4 8 g . ) , X I I , S. 3 7 5 :
„ I c h muß sagen, das (i. e. der „Onkel T o m " ) kam genau zur rechten Zeit: diese Frage ist jetzt bei uns besonders akut hinsichtlich unserer eigenen Neger." 159
) „Russkoe krepostnifestvo" ( 1 8 5 2 ) ; Wke., X I I , S. 34. Siehe auch Herzens Brief an M. K . Reichel vom 3. 2. 1 8 5 3 ; Wke., X X V , S. 1 5 . Herzen hegte damals die Hoffnung, daß Golovin sein Vorhaben eines „russischen Onkel T o m " ausführen werde. Golovin war augenscheinlich von dem enormen Erfolg der Mrs. Beecher-Stowe beeindruckt worden, verfolgte seinen Plan aber nur zögernd. Obwohl angeblich vollendet, wurde sein Opus nie gedruckt (Komm, zu Herzens Werken, X X V , S. 3 7 1 ) .
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In diesem Sinne berauschte sich Herzen am „Onkel Tom" und war umgehend mit dem Hinweis zur Hand, daß doch auch in Europa, jenseits der Ostsee, „eine ganze Bevölkerung das rechtmäßige Eigentum eines Häufleins von Gutsbesitzern" sei 169 ). Auch die „fortschrittlichen" Menschen in dem utopischen Roman „Was tun ?" wandten sich dem Studium der Mrs. BeecherStowe mit ehrfürchtiger Bewunderung zu. Indessen stand der Autor, Cernyäevskij, der amerikanischen Schriftstellerin bereits mit Vorbehalten gegenüber. E r beschuldigte sie einer versteckten Sympathie mit den Südstaatenpflanzern, seinen eingeschworenen Feinden; die Aussage des „Onkel Tom" erschien ihm allzu gemäßigt und unparteiisch 180 ). Die von den Radikalen protegierte Verbreitung des „Onkel T o m " hat entscheidend dazu beigetragen, den Problemen der Leibeigenschaft und der Sklaverei jene Resonanz zu verschaffen, die sie in der russischen Literatur der 1850er und 1860er Jahre tatsächlich gewannen. Die bedeutende Rolle des Werkes bei der Agitation für die Bauernbefreiung ist später auch von unbefangenen Chronisten der Literaturgeschichte in Rechnung gestellt worden 161 ). Von den radikalen Literaturkritikern wurde die Negerfrage beharrlich zur „wichtigsten und akutesten aller Fragen nicht nur Nordamerikas, sondern wahrscheinlich der ganzen gebildeten Welt" hochgespielt 162 ) und durch Bezüge auf den Roman der Mrs. Beecher-Stowe einschlägig illustriert. Daß sich auch konservative Literaten wie der Dekabrist Baron A. E . Rozen des Vergleichs mit dem „Onkel Tom" bedienten, beweist die Intensität dieser Kampagne 163 ). Von der Beliebtheit der Mrs. Beecher-Stowe zeugt eine Szene aus Turgenevs „ R a u c h " , in der die amerikanische Schriftstellerin leibhaftig auftritt, um einem brutalen russischen Grundbesitzer eine Lektion zu erteilen 164 ). Wenn das Amerikabild der russischen Öffentlichkeit in den 1850er und 1860er Jahren allzu strikt von der Negerfrage determiniert wurde, so hat nicht zuletzt die Wirkung der Mrs. Beecher-Stowe den Ausschlag gegeben. Das damalige Schrifttum erhob den „Onkel T o m " zu einer allgemeinverständlichen Formel, durch die eine bestimmte aktuelle Spielart sozialer Ungerechtigkeit erörtert wurde. Zugleich schwang in diesem Hinweis ein unwägbarer gefühlsmäßiger Gehalt mit, der sich erst mit der zeitlichen Distanz von der Leibeigenen- und Negerbefreiung zu verflüchtigen begann 165 ). Scharfsichtigere Betrachter, wie Dobroljubov, waren sich allerdings schon zuvor darüber im klaren, daß der Roman der Mrs. Beecher-Stowe nur einen begrenzten Ausschnitt aus der amerikanischen Wirklichkeit heraustrennte 166 ).
18 °) „ C t o delat' ? " ( 1 8 6 3 ) ; Werke, X I , S. 1 6 1 . Cernysevskijs ärgerliche Bemerkung zum „Onkel T o m " siehe in „ O t v e t na zameianija g. Provinciala" ( 1 8 5 8 ) ; Wke., V , S. 148. C. erregte sich darüber, daß die Pflanzer als „verdienstvolle, würdige Menschen" dargestellt seien. 1H ) A . Veselovskij, op. cit., S. 2 3 4 - 5 . 162 ) Worte Dobroljubovs im „ Sovremennik" ( 1 8 5 9 ) ; Werke, I I , S. 494. Siehe auch den Anfang des Artikels „ N e g r y na ostrove K u b e (op. cit., S. 2 1 1 ) : „ D i e Frage der Abschaffung der Sklaverei ( . . . ) in Amerika ist eine der wichtigsten Fragen unserer Z e i t . " 163 ) Vgl. Rozens „ K r a t k i j o£erk moej rodiny" (Ende der 1860er Jahre); in „Zapiski dekabrista", S. 2 9 5 :
„ D i e Lage des Esten war unvergleichlich trauriger als die Lage Onkel Toms nach der Beschreibung der Mrs. Beecher-Stowe." 1M ) „ D y m " (1867); Werke (1953fr.), I V , S. 2 1 . Zum Verhältnis Turgenev-Beecher-Stowe s. A . Kaspin, ' " U n c l e Tom's Cabin' and 'Uncle Akim's Inn': More on Harriet B . Stowe and Turgenev", in S E E J I X (1965), S. 4 7 f f . 165 ) A . P. Cechov empfand Übelkeit bei der Lektüre des „Onkel T o m " . 1879 schreibt er, 19 Jahre alt, an seinen Bruder (6./8. 4. 1 8 7 9 ; Wke., X I I I , S. 29):
„Madame Beecher-Stowe hat deinen Augen Tränen entlockt ? Ich habe sie irgendwann einmal gelesen, ein halbes J a h r darauf erneut zu wissenschaftlichem Zweck, und habe nach der Lektüre ein unangenehmes Gefühl verspürt, das uns Sterbliche ergreift, wenn man sich übermäßig mit Rosinen und Korinthen vollgegessen h a t . " 166
10
) Artikel im „Sovremennik" des Jahres 1 8 5 9 ; Wke., I I , S. 489.
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c) Die radikalen Literaturkritiker Unter den Nachfolgern Belinskijs, den Wortführern der radikalen russischen Intelligentsija in den 1850er und 1860er Jahren, wurde die Auseinandersetzung um Amerika fortgeführt. Als bemerkenswert besonnen verdient die Einstellung N. A. Dobroljubovs (1836-1861) hervorgehoben zu werden. Die Erkenntnis der allgemeinen Unwissenheit bewog Dobroljubov im Jahre 1859, seine Leser im „Sovremennik" durch eine Abhandlung über „Institutionen und Lebensweise" in den Vereinigten Staaten zu einem gründlicheren Verständnis der amerikanischen Geschichte und Gegenwart anzuleiten. Seine Darstellung appellierte namentlich an diejenigen, die „absolut nichts" über das behandelte Thema wüßten 187 ); sie war sachkundig und konziliant im Tonfall und beruhte nach Angaben des Autors überwiegend auf nichtrussischen Quellen. Unter ihnen ist wiederum der Einfluß Tocquevilles auffallend. Schon die methodische Konzeption des Artikels war auf das Vorbild der „Demokratie in Amerika" zugeschnitten, wenn sie die Sitten der Vereinigten Staaten von einer Analyse der demokratischen Institutionen her erläutern wollte. Wie Tocqueville kommt Dobroljubov zu dem Schluß, daß Nordamerika trotz aller Zentralisation der Regierungsbehörden eine weitgehende Autonomie der Verwaltung herausgebildet habe 168 ). Gleich Tocqueville bekennt er sich als Bewunderer des „Geistes der Freiheit, durch den sich alle Gemeindeeinrichtungen Nordamerikas auszeichnen 169 )". Andererseits kann der russische Kritiker aber auch seine Empörung über die Negersklaverei nicht völlig unterdrücken. Weniger ausgeprägt war das Interesse für Amerika bei D . I . Pisarev (1840-1868). Aus Unkenntnis der demokratischen Lebensregeln in den Vereinigten Staaten neigte Pisarev bisweilen zu vorschnellen induktiven Verallgemeinerungen. So wollte er einmal aus der Vielzahl religiöser Bekenntnisse auf einen generellen Mangel an Einheit, System und Ordnung in Nordamerika schließen 170 ). Dieses gleiche Amerika erschien ihm freilich in anderer Hinsicht vorbildlich: in Anlehnung an die Lehren des amerikanischen Nationalökonomen Charles Carey, den bereits Herzen als Autorität gepriesen hatte, setzte sich Pisarev für einen aufgeklärten Industriekapitalismus ein 171 ). Der führende Theoretiker des russischen Nihilismus, N. G. Cernyäevskij (1828-1889), entdeckte eine Vorliebe für Nordamerika mit dem Ausbruch des Sezessionskrieges und der Aussicht auf den Sieg der Anti-Sklaverei-Koalition 172 ). Sein publizistisches Interesse an diesem Zeitproblem überstieg noch das Herzens. Unter Cemyäevskijs Redaktion wurde zu Beginn der 167 ) „OCerk uírezdenij i b y t a Severnoj Ameriki" im „ S o v r . " , 1 8 5 9 , Nr. 3 ; hier zit. nach den Werken, I I , S. 4 9 6 - 5 1 1 , insbes. 5 1 1 . Die Fortsetzung Dobroljubovs, die über die Lebensweise ( „ b y t " ) handeln sollte, blieb aus. 168
) „ O i e r k . . . " , op. cit., S. 5 1 1 . ) „OCerk . . . " , op. cit., S. 504. Trotzdem ist von sowjetischer Seite auch im Falle Dobroljubovs ein Versuch unternommen worden, ihn der Avantgarde von Amerikagegnern zuzuschlagen — ein Unternehmen, das hier mehr noch als bei Herzen oder C e r n y ä e v s k i j auf objektive Hindernisse stoßen muß. Siehe V . A . Putincev, „Velikie russkie revoljucionnye demokraty o buriuaznoj Amerike" in „Literatura v skole" X (1949), 4, S. 17. P. ist in diesem Artikel um eine Ahnenlinie des Antiamerikanismus unter den russischen Sozialrevolutionären bemüht. 169
17
° ) „IstoriCeskie idei Ogjusta K o n t a " ( 1 8 6 5 ) ; Werke (1905ff.), V , S. 379. ) In seinen „Oferki iz istorii t r u d a " ( 1 8 6 3 ) popularisierte Pisarev die Gedanken Careys für das russische Publikum. — Herzen unterstützte die Theorien Careys in den Aufsätzen „Russkie nemcy i nemeckie russkie" (Wke., X I V , S. 182), „Amerika i Sibir'" ( X I I I , S. 400), „Prolegomena" ( X X , S. 3 7 Fußn.). E r erhoffte sich von diesem Vorbild eine Lösung des Problems der Seibätverwaltung in der russischen Gemeinde. Die Diskussion um Carey lebte in den 1860er Jahren noch durch einen Artikel C e m y ä e v s k i j s auf: „Politiko-ékonomiceskie pis'ma Prezidentu Amerikanskich Soedinennych S t a t o v , G. K . K é r i " ( 1 8 6 1 ; dazu s. Starcev, „Amerika . . . " , op. cit., S. 17). 171
172 ) C e m y ä e v s k i j s Ansichten über die Vereinigten Staaten waren wiederholt der Gegenstand Untersuchungen; siehe insbes. das Kapitel bei Hecht, „Russian Radicals . . . " , S. 78—r4i (auch Artikel desselben Autors „Chernyshevsky and American S l a v e r y " in A S E E R I V ( 1 9 4 5 ) , S. 1 - 1 9 ) . sowjetische Deutung weist das gleiche Dilemma aus wie schon im Falle Herzens. Für M. M. Malkin
146
von den Die war
1860er Jahre im „ S o v r e m e n n i k " eine regelmäßige K o l u m n e eingerichtet, in der die Wechselfälle des amerikanischen Kriegsschauplatzes und die zur Entscheidung stehenden politischen und sozialen Fragen breit debattiert wurden 1 7 3 ). Cernyäevskij erachtete es geradezu als eine erzieherische Mission, die russische Öffentlichkeit über den Verlauf der Ereignisse auf dem amerikanischen Kontinent aufzuklären. Seine K o m m e n t a r e bevorzugen eine hyperbolische Ausdrucksweise, die sich oft genug in eigenwilligen Wunschvorstellungen verlor. Eine ausgezeichnete Kenntnis des Englischen erlaubte es Cernyäevskij, auch originale amerikanische Quellen zu seiner Information über die Zeitereignisse heranzuziehen 1 7 4 ). B e i der A u s w a h l seines Quellenmaterials befleißigte er sich indessen eines bequemen Eklektizismus. D a sein Amerikabild gleichzeitig als Modell für die radikalen Reformbestrebungen der russischen politischen Opposition herhalten mußte, geriet er nicht selten auf den P f a d kurzsichtiger Voraussagen, sachlicher Inakkuratesse und tendenziöser Verzerrungen 1 7 6 ). D i e Unzulänglichkeiten des nordamerikanischen Staatswesens leitete er allzu doktrinär aus dem einzigen Ü b e l der Negersklaverei her 1 7 6 ); die Auswüchse des expandierenden Industriekapitalismus blieben hingegen außerhalb seines Blickfeldes. W i e schon Herzen lehnte Cernyäevskij das nachrevolutionäre Europa als in der R e a k t i o n und K o n v e n t i o n erstarrt ab. Die Vereinigten Staaten dagegen wurden, besonders mit dem sich anbahnenden Sieg der Nordstaaten, als Bannerträger allen sozialpolitischen Fortschritts verherrlicht. D e n T a g v o n Lincolns Wahlsieg h a t t e Cernyäevskij großartig z u m „ B e g i n n einer neuen Epoche in der Geschichte der Vereinigten S t a a t e n " ausgerufen. Seine Zuversicht ließ ihn den T r i u m p h der Nordstaaten v o n vornherein als eine beschlossene Sache voraussetzen 1 7 7 ). Grenzenlos erschien ihm die K a p a z i t ä t der jungen amerikanischen Zivilisation: „ B e i n a h e jedes Jahr wird dem jungen amerikanischen S t a a t irgendein neues Gebiet hinzugefügt, wird aus wilder W ü s t e ein blühender S t a a t , und immer weiter werden v o n einem aufgeklärten und tüchtigen V o l k jene Stämme zurückgedrängt, die keine Zivilisation annehmen wollen. ( . . . ) Millionen v o n vertrunkenen Iren und nicht weniger heruntergekommenen Deutschen wurden in der Union z u ordentlichen und wohlhabenden Menschen 1 7 8 )." Cernysevskijs proamerikanische Einstellung im Jahre 1941 noch durchaus unzweifelhaft; sie wurde darüberhinaus auch als Merkmal einer fortschrittlichen Haltung gewürdigt („Cernyscvskij i Zaatlantiieskaja Respublika [SSA]" in „1839—1939. N. G. Cernysevskij" [1941], S. 319-337). A. I. Starcev und B. Kameneckij stellten Cernysevskij einmütig als Herold einer russisch-amerikanischen Freundschaft dar. Nach 1945 wurde C. mühelos als „Entlarver der nordamerikanischen Scheindemokratie" uminterpretiert; besonders aufdringlich bei I. Ja. Razumnikova, „ N . G. Cernysevskij 0 burzuaznoj demokratii v S5A" in „Trudy Voron. Gos. Un.-ta" X X I X (1954), S. 89-93; siehe daneben die Studie Putincevs („Velikie russkie revoljucionnye demokraty . . . " , S. 17ff.), die Sammeldarstellungen Uspenskijs, Ceremins, Travuskins, sowie Pokrovskijs Polemik gegen Hecht (op. cit., S. I33ff.). 173 ) Die Erörterung der „ Severo-amerikanskie dela" gehörte seit 1861 zum Inventar des „ Sovremennik". 174 ) Zu den Englischkenntnissen s. Hecht, op. cit., S. 68. £. las regelmäßig den „New York Herald", den er in einer für den „Sovremennik" verfaßten Übersicht über die amerikanische Presse als südstaatenfreundlich tadelte (Wke., VIII, S. 494ff.). 175 ) Einzelbeispiele s. bei Hecht, op. cit., S. 97 ff. 176 ) „Politiko-ikonomiceskie pis'ma . . . " , op. cit., Wke., VII, S. 917: „Jedem Menschen, der nicht geistesgestört ist, wird auf den ersten Blick klar, daß die hauptsächliche und größtenteils sogar einzige Ursache aller Schwierigkeiten und Mängel in den Vereinigten Staaten die Unfreiheit der Neger ist." 177 ) Zu Lincoln s. „Sovremennik", Nov. 1860; Wke., VIII, S. 353. Über den unausweichlichen Fall der Südstaaten handelte C. schon im Januar 1862 im „Sovremennik" unter der Schlagzeile: „Neizbeinoe padenie chlopfatobumainych plantacij v Juinych Statach"; Wke., VIII, S. 584. 178 ) „Antropologiieskie principii v filosofii" (1860); Wke., VII, S. 257—8. Ein ähnliches Bild vom „halbwilden Amerika" entwirft £. in dem 1860 verfaßten Artikel „Nyneänie anglijskie Vigi" (Wke., VII, S. 399). Gerade diese Wildheit, so erläutert er, habe die demokratischen Einrichtungen in Nordamerika ermöglicht. Die demokratische Entwicklung werde jedoch künftig stagnieren in dem Maße, in dem die Vereinigten Staaten in den „Normalzustand" der Zivilisation zurückfielen. 10»
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Die Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten übernahm ternyäevskij auch in die während der Festungshaft niedergeschriebene Erzählung „Was tun ?", eine in Romanform gekleidete sozialpolitische Kampfschrift. Mit dem als Amerikaner vorgestellten Beaumont („B'jumont") schuf er sich hier ein Sprachrohr, dem manche seiner eigenen Anschauungen über die Vereinigten Staaten in den Mund gelegt sind. Indessen ist Beaumont nur bedingt als Amerikanergestalt anzusprechen: hinter dieser Tarnung war nach einem fingierten Selbstmord der russische Radikale Lopuchov, eine zentrale Figur des Romans, in die Heimat zurückgekehrt 179 ). In seinen Äußerungen werden manche Züge greifbar, die Aufschluß über das Amerikabild ternyäevskijs vermitteln können. Der Roman wies dem Beaumont, alias Lopuchov, nicht ohne feste Absicht gerade die amerikanische Herkunft zu 180 ). Dieser Amerikaner sollte des Autors Idealbild vom energischen, tatkräftigen, „fortschrittlichen" Menschen verkörpern, wie ihn Rußland angeblich brauchte und ihn ternyäevskij durch eben dieses Werk schaffen helfen wollte. Das Beispiel der Vereinigten Staaten, wo vieles von der Problematik Rußlands schon erfolgreich in Angriff genommen zu sein schien, erfüllte den Autor mit Zuversicht. Ein Amerikaner wie Beaumont darf es sich deshalb auch herausnehmen, den Russen ihre Rückständigkeit und ihre Neigung zur Untätigkeit vorzuwerfen 181 ). Beaumont besticht durch frische Unbekümmertheit und einen nüchternen, zweckbestimmten Unternehmungsgeist. Hier verkörpert ternyäevskij Züge, die für seinen eigenen unerschütterlichen Glauben an amerikanische Fähigkeiten höchst kennzeichnend sind. Natürlich ist Beaumont Anhänger der „freien Nordstaaten" und „eifriger Abolitionist", wie der Autor an einer Stelle ausdrücklich verlauten läßt. Ebensowenig vergißt er hinzuzufügen, daß sich sein Held auch in der amerikanischen Presse mutig für diese Ziele eingesetzt habe 182 ). Manche Zeitgenossen wären sicherlich versucht gewesen, Beaumont, den Petersburger Agenten eines großen englischen Handelsunternehmens, der materialistischen Profitgier zu bezichtigen. Souverän setzte sich ternyäevskij auch über einen derartigen Vorwurf hinweg. In den Grübeleien des alten Polosov ließ er durchblicken, daß er eher Bewunderung für die pragmatische Gesinnung von Menschen wie seinem Beaumont empfand: „ . . . bei ihnen in Amerika kann ja ein Mensch, der heute Schustergehilfe oder Pflüger war, morgen General, übermorgen Präsident und dann wieder Kontorangestellter oder Advokat sein. Das ist ein ganz besonderes Volk, sie fragen nur nach Geld oder Verstand. ,Das ist auch richtiger', dachte Polosov weiter, ,ich bin ja selbst so einer, der sich mit dem Handel ( . . . ) abgibt 1 8 »)!'" Mit ternyäevskij, dem prominentesten Exponenten des sozialkritischen Schrifttums in den 1860er Jahren, erreichte die russische Bewunderung für die Vereinigten Staaten gerade zum Zeitpunkt einer Schönwetterperiode in den politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern noch einmal einen Höhepunkt. Durch die oberflächliche Übereinstimmung zwischen der Entwicklung auf dem nordamerikanischen Kontinent und eigenen revolutionären Konzeptionen sahen sich Radikale wie ternyäevskij damals veranlaßt, die Vereinigten Staaten in ihrer vormaligen Rolle als politisches Modell zu bestätigen. Diese Rehabilitierung war lediglich durch den gewichtigen Vorbehalt gegen die Negersklaverei eingeschränkt. 179 ) Diese Tatsache der Maskierung ist in Hechts Ausführungen über Beaumont zu wenig berücksichtigt; „Russian Radicals . . . " , S. 94t. 18 °) In einem weiteren positiven Helden des Romans, dem Rigoristen Rachmetov, plante 6 . ein Gegenstück zu seinem Beaumont. Auch Rachmetov, der auf der Suche nach seiner Bestimmung ziellos in Westeuropa herumvagabundiert, empfindet es als „unbedingt notwendig", daß er sich für etwa ein J a h r in die Vereinigten Staaten begebe ( £ t o delat' f I z r a s s k a z o v o n o v y c h l j u d j a c h " [ i 8 6 3 ] ; W e r k e , X I , S.209). m ) „ C t o d e l a t ' ? " ; op. cit., S. 3 1 1 („Sie sehen [in Rußland] eine türkische Unwissenheit, eine japanische Hilflosigkeit.") 182 ) „ C t o delat' ? " ; op. cit., S. 3 1 1 ; S. 325. 18S ) „ C t o delat' ? " ; op. cit., S. 3 1 5 .
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Cernysevskijs Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten war weniger zwiespältig als noch bei Herzen, aber auch weniger differenziert, dafür von einem unbeirrbaren Zweckoptimismus getragen. Der Einfluß seiner Ansichten ist bis ins 20. Jahrhundert hinein beträchtlich gewesen 184 ). E s läßt sich jedoch kaum darüber hinwegsehen, daß dieser Enthusiasmus für Amerika im Vergleich zur Zeit der Dekabristen oder RadiScevs manches von seinem ideellen Schwung eingebüßt hatte. Die Folgezeit entlarvte schnell, wie stark die Affektion der russischen Radikalen bereits von vordergründigen utilitaristischen Motiven durchsetzt war. E s spricht für die Künstlichkeit solcher Schwärmerei, wenn selbst erklärte Nihilisten wie der Anarchist und Berufsrevolutionär M. Bakunin in die Huldigung an Amerika einstimmen 185 ). d) Die Radikalen nach Cernysevskij: Zajcev und Lavrov Unter den Radikalen der 1860er Jahre wich die sachbezogene Debatte um Nordamerika zusehends einer emotionell gefärbten Parteilichkeit. Auch von Cemyäevskij, einem begeisterten Fürsprecher der Vereinigten Staaten, sind krasse antiamerikanische Stellungnahmen bekannt. Symptomatisch für die immer weiter um sich greifende Unsachlichkeit ist die Haltung des radikalen Literaturkritikers V. A . Zajcev (1843-1882), dessen Artikel im „Russkoe slovo" um die Mitte der 1860er Jahre weite Beachtung fanden. Zajcev versuchte sich mit einer neuen Variante pseudowissenschaftlicher Spitzfindigkeit, wenn er es in „kalter und leidenschaftsloser Untersuchung" unternahm, der biologischen Inferiorität des Negers gegenüber dem Weißen das Wort zu reden, um damit die Negersklaverei in den amerikanischen Südstaaten zu rechtfertigen 188 ). Daß man seinen dilettantischen anthropologischen Argumenten überhaupt Glauben schenkte, weist darauf hin, wie anfällig diese Zeit für solche polemische Ungereimtheiten in Wirklichkeit war. Um die ungeheuerlichen Ansichten Zajcevs entspann sich alsbald eine bewegte literatische Kontroverse, in der unter anderen der Schriftsteller D. D. Minaev engagiert war 187 ). Unter dem Druck der allgemeinen Entrüstung sah sich Zajcev wenig später zu einem gewundenen Widerruf eines Teils seiner Thesen genötigt, ohne aber eigentlich vom Kern seiner Behauptung, der Minderwertigkeit der Neger, abzurücken 188 ). 1M ) Die Attraktion, die Nordamerika auf manche der späteren russischen Marxisten ausübte, mag zum Teil auf ternyäevskij zurückgehen. Obwohl die Marxisten die Vereinigten Staaten als Land des Dollarkapitalismus geißelten, sprach aus ihren Äußerungen oft genug ein Unterton heimlicher Bewunderung. Eine solche Haltung ist kennzeichnend für G. Plechanov, den großen Theoretiker der russischen Marxisten (vgl. D. Hecht, „Plekhanov and American Socialism" in R R I X [ 1 9 5 0 ] , S. 2 1 2 - 2 2 3 ) , aber auch für Lenin, dessen Denken in vieler Hinsicht von Cernyäevskij beeinflußt worden ist (s. L . Fischer, „ D a s Leben Lenins" [ 1 9 6 5 ] , S. 608 ff.). 186 ) Z u Bakunins Ansichten über Amerika vgl. das Kapitel bei Hecht, „Russian Radicals . . . " , S. 48 s . 18Ä ) In der Rezension „ K a t r f a z . Edinstvo roda ieloveteskogo" (1864); Werke (1934), I, S. 228ff. Die Theorien Zajcevs beruhen im wesentlichen auf der Manipulation darwinistischer Erkenntnisse. — Z u r Person Zajcevs s. die Einführung von B. P. Koz'min in Zajcevs Werken, S. 7 - 1 4 . Die Wirkung Zajcevs konzentriert sich auf die Jahre 1 8 6 3 - 5 , a ' s e r e ' n führender Mitarbeiter des „Russkoe slovo" war. 1865 wurde er verhaftet, stand seitdem unter Polizeiaufsicht und emigrierte schließlich 1869 nach Westeuropa, wo er vergessen starb. 18 ' ) Minaevs „ E v g e n i j Onegin nasego vremeni" (1865 ff) zeichnet das satirische Porträt eines zeitgenössischen Nihilisten, dem die Fürsprache für Zajcev unterschoben wird: „ . . . und gemäß dem gestrengen Zajcev Meinte er, daß der Neger ein Stück Vieh sei, Der kaum lohne, daß man sich mit ihm abgebe." (Zit. in „Pesni i p o i m y " [1867], S. 3 2 1 ; in „ P o e t y i s k r y " [ 1 9 5 5 ] , II, S. 3 7 7 , wird eine Variante aufgeführt, die die Nennung von Zajcevs Namen vermeidet.) 188 ) „ O t v e t moim obviniteljam po povodu moego mnenija 0 cvetnych plemenach" (1864); Wke., I, S. 234—9. Zajcev legt hier W e r t auf die Feststellung, daß auch er selbstverständlich den Negerhandel aus humanitären Motiven verurteile.
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Von den orthodoxen Lehrmeinungen über die Vereinigten Staaten, die den meisten seiner Mitstreiter aus dem radikalen Lager sakrosankt waren, ließ Zajcev kaum eine unwidersprochen. Zunächst tat er alle Fürreden für die unterdrückten Neger als empfindsame Philanthropien ohne wissenschaftliche Fundierung ab. Mrs. Beecher-Stowe war in seiner Sicht nicht mehr als eine larmoyante Dame, „deren Hymnen und Psalter ( . . . ) keine Zeile wissenschaftlicher Schlüsse wert sind 189 )." Im Kampf zwischen Nord- und Südstaaten riskierte es Zajcev bisweilen vorsichtig, für die Sezessionisten Partei zu ergreifen 190 ). Hier befand er sich, sicherlich ungewollt, in bester Ubereinstimmung mit konservativen Journalisten vom Schlage Katkovs. Den Konservativen pflichtete Zajcev noch in anderer Beziehung bei: wie sie sah auch er in der „staatsbürgerlichen Freiheit" der Vereinigten Staaten nur mehr eine hohle Floskel, die durch den Lauf der Ereignisse längst widerlegt sei 191 ). Zajcevs Ansichten — so konfus sie in manchen Einzelheiten sind — spiegeln die Erschütterung über die Fortschrittlichkeit der Vereinigten Staaten, die sich unter den russischen Radikalen nach dem Ausgang des Sezessionskrieges auszubreiten begann. Von den Illusionen Cernyäevskijs blieb bereits in der Mitte der 1870er Jahre nur noch wenig zurück. Damals schleuderte P. L . Lavrov (1823—1900), der Propagandist des Narodniiestvo, seine Tiraden gegen dieses Amerika, das er anklagte, seine vielversprechenden Anfänge in einen betrüblichen Verfall geführt zu haben 192 ). Freilich offenbarte die korrupte Administration unter dem Präsidenten Grant damals tatsächlich Krisenerscheinungen, die manche Attacken Lavrovs gerechtfertigt erscheinen ließen 193 ). Unter allen Vorzügen, die die Vereinigten Staaten in den Augen seiner Vorgänger besessen hatten, erkannte Lavrov nur noch die Einrichtung der freien Presse als positives Moment an. Ansonsten sah er die schöpferischen Kräfte der amerikanischen Gesellschaft von der Herrschaft des Geldes erstickt. Eindringlich warnte Lavrov vor der Flucht in die Neue Welt, die für ihn jeden Sinn verloren hat. Selbst im föderativen Staatsaufbau Amerikas, dem Ideal der vorhergehenden Generation, entdeckte er bedenkliche Mängel 194 ). Unbehagen flößte ihm die unvermindert dynamische Pionierbewegung auf dem nordamerikanischen Kontinent ein. Im Gegensatz zu den optimistischen Erwartungen Herzens und Cernyäevskijs vermeinte er, darin Anzeichen für einen weltweiten Imperialismus zu erblicken 195 ). Das Urteil Lavrovs ist ebenfalls nicht frei von einer gewissen dogmatischen Verhärtung. E s ist darin charakteristisch für das Denken einer Epoche, die die Grenzen der amerikanischen Demokratie immer sichtbarer festlegte. Auch unter den Radikalen kristallisierte sich endlich 189 ) Rezension „Istorija krest'janskoj vojny v Germanii . . . " ( 1 8 6 5 ) ; Wke., I, S. 4 3 1 ; S. 4 3 9 („plaksivaja Bi£er-Stou"). 19 °) „Istorija krest'janskoj vojny . . o p . cit., S. 424—5. Hier vertritt Z. die Meinung, daß der Nor den die Südstaaten gewaltsam unterdrücke. A n anderer Stelle besteht er darauf, daß die Negersklaverei nicht so sehr den Schwarzen physisch geschadet, wie sie sich für die Weißen in sittlicher Hinsicht nachteilig ausgewirkt habe („KritiCeskie etjudy P. A . B i b i k o v a " [ 1 8 6 5 ] ; Wke., I, 439). m
) „Istorija . . . " , op. cit., S. 4 2 4 : „Solange Europa in Amerika einen freien Staatenbund sah, konnte dieser Gedanke (i.e. an die staatsbürgerliche Freiheit) aufkommen. Doch wenn wir sehen, wie der amerikanische Staat seine Einheit mit Waffengewalt aufrechterhält ( . . . ) , kann man sich da noch bezüglich seiner staatsbürgerlichen Freiheit i r r e n ? "
Z u L a v r o v siehe das Kapitel bei Hecht, op. cit., S. 1 4 2 ff.; sowie den Artikel des gleichen Autors „Peter L a v r o v and the American Labor Movement" in A S E E R V (1946), S. 1 3 8 0 . 183 ) S. E . Morison/H. S. Commager, „ D a s Werden der Amerikanischen Republik", I I (1950), S. 61 ff. („Die Politik der Regierung Grant"). 1M ) „Istorifeskie p i s ' m a " ( 1 8 6 8 - 9 ) ; Brief 13 („Gosudarstvo"); W k e . (1965), II, S. 208. L a v r o v bezeichnet die Ver. St. hier als „Föderation von allzu groben Einheiten." W5
) „Istoriieskie pis'ma", op. cit., S. 2 1 6 : „ . . . ein Staat, der den ganzen amerikanischen Kontinent einnimmt, wird unvermeidlich über alle Staaten der Welt herrschen, folglich wird ihre Selbständigkeit nur eine scheinbare sein; ( . . . ) . "
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die Überzeugung heraus, daß keine einfache Übertragung des amerikanischen Beispiels auf ihr Konzept eines künftigen sozialistischen Staates mehr möglich war. Mit Lavrov hebt sich die Linie klar ab, die über die russischen Marxisten schließlich ins 20. Jahrhundert führt. Verehrten die Radikalen der 1860er Jahre die Vereinigten Staaten vielfach noch als Muster für einen künftigen revolutionären Umschwung in Rußland, bewunderten sie das Land als Hort menschlicher Würde und als Symbol materiellen Fortschritts, so sahen die Marxisten seit den 1890er Jahren nur noch wenig, was ihnen an der amerikanischen Entwicklung vorbildlich oder nachahmenswert erschien196). Bei ihnen dominierte statt dessen die einseitige Schwarzmalerei, die Nordamerika als Heimstätte einer unmenschlichen Ausbeutung brandmarkte. Nach Meinung G. Plechanovs war ein solches Land selbst reif für die Läuterung durch den wahren Sozialismus 197 ). Dennoch wollten die Vereinigten Staaten keinerlei Symptome der angekündigten sozialen Revolution zeigen. Diesen inneren Widerspruch zu überwinden und die Entwicklung eines Landes zu interpretieren, auf das keines der gängigen marxistischen Klassenkampfmodelle zutraf, war bis in die jüngste Zeit eine der Hauptschwierigkeiten für kommunistische Theoretiker. 1W
) E i n wenig übertrieben scheint mir die Deutung Hölzles (op. cit., S. 240), daß „der tiefe Einfluß der amerikanischen Ideen auf den russischen Radikalismus zum Ferment der Auflösung des Zarenreichs (wurde)." U7
) Hecht, „Plekhanov . . . " , op. cit., S. i i 2 f f . (auch zum Marxismus allgemein).
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VI. DAS AMERIKABILD IN RUSSISCHER VERS- UND PROSALITERATUR SEIT DER JAHRHUNDERTMITTE A ) Äußere Voraussetzungen i. S t a n d der r u s s i s c h - a m e r i k a n i s c h e n
Beziehungen
Mit der Jahrhundertmitte begann eine der ereignisreichsten E t a p p e n in der Geschichte russisch-amerikanischer Beziehungen. Geschehnisse wie der Krimkrieg und der amerikanische Sezessionskrieg bewirkten damals durch die Frontstellung gegen führende europäische Mächte eine spürbare Annäherung zwischen beiden Ländern, nachdem in den Jahren des nikolaitischen Regimes lediglich eine „lose und nüchterne Interessengemeinschaft" vorgeherrscht hatte 1 ). Der K r i m k r i e g h a t t e erstmals die Möglichkeit einer russisch-amerikanischen E n t e n t e nahegelegt. W ä h r e n d des Jahrzehnts v o n 1860 bis 1870 wurden die offiziellen Beziehungen v o n einer A t m o s p h ä r e demonstrativer Freundschaft bestimmt. A u f höchster Ebene pflegte m a n das herzliche Einvernehmen durch Flottenbesuche und den A u s t a u s c h v o n Gesandtschaften. Außerordentliche B e a c h t u n g fand im Jahre 1866 die Mission unter L e i t u n g des Marineoffiziers G. F o x , die anläßlich eines mißglückten A t t e n t a t s auf Z a r Alexander I I . eine Gratulationsresolution des amerikanischen Kongresses überbrachte. A u s der Feder v o n M. N . K a t k o v erschien damals in den offiziösen „Moskovskie V e d o m o s t i " ein Leitartikel, der den Amerikanern schmeichelte, sie gälten in R u ß l a n d unbestritten als beliebteste Nation 2 ). A u c h andere Zeugnisse bestätigen, d a ß um diese Zeit ein enthusiastisches Gefühl der Solidarität mit den Vereinigten Staaten u m sich griff. I m Sezessionskrieg hoffte m a n mit den A n h ä n g e r n der Nordstaaten auf den T r i u m p h der Konförderierten und eine menschliche Lösung der Negerfrage. D a s W o r t v o n den „transatlantischen F r e u n d e n " machte die Runde®). E s verbreitete sich eine Hochstimmung, die selbst A k t e politischer R ä s o n z u Legenden verklären half 4 ).
J ) Hölzle, op. cit., S. 168. — Im einzelnen ist diese Phase der Beziehungen bis heute wenig erforscht; siehe Laserson, op. cit., S. iÖ2ff.; Hölzle, op. cit., S. i82ff.; zur Zeit des Sezessionskrieges insbes. M. M. Malkin, „Grazdanskaja vojna v SSA i carskaja Rossija" (1939), sowie A. A. Adamov, „Russia and the United States at the Time of the Civil W a r " in „Journ. of Mod. Hist.", II (1930). 2 ) „Moskovskie Vedomosti", Nr. 6, 1866; zit. bei S. P. Jakovlev, „Crezvyiajnoe amerikanskoe posol'stvo v Moskve . . . " (1866), S. 106:
„Die Amerikaner der Vereinigten Staaten genießen unbestritten unter allen Nationalitäten der Welt in Rußland die größte Popularität." 3 ) Baron R. Rosen kennzeichnet diese Atmosphäre als „strong feeling of solidarity and mutual friendship" (op. cit., S. 21). Er schreibt (S. 22): „The words 'America', 'American friends', transatlantic friends' were household words everywhere." Von „transatlantischen Gästen und Freunden" („zaatlantiieskie druz'ja-gosti") spricht auch der Titel der erwähnten Schrift von S. P. Jakovlev; eine Erzählung gleichen Titels verfaßte etwas später L. Panjutin („Zaatlantiieskie druz'ja", SPb. 1872). 4 ) Das trifft zum Beispiel auf den russischen Flottenbesuch in den Vereinigten Staaten vom Jahre 1863 zu, der als eine demonstrative Geste der Freundschaft gegenüber den Vereinigten Staaten aufgefaßt wurde. In Wirklichkeit ist darin jedoch eine taktische Maßnahme zu sehen, die die bessere Manövrierfähigkeit der russischen Marineeinheiten im Kriegsfall garantieren sollte; vgl. im Detail bei Malkin, op. cit., S. 227ff. („Istorija legendy").
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Indessen blieb die russisch-amerikanische Annäherung der 1860er Jahre eine Episode, die bald wieder einer nüchterneren Einstellung wich. Sie basierte auf einer mehr zufälligen Konstellation der europäischen Politik, während der die russische Diplomatie in den Vereinigten Staaten ein Gegengewicht gegen die englische Hegemonie suchte 5 ). Der Interessengegensatz, der sich zwischen den beiden neuen Mächten vor allem in Ostasien herausbildete, war jedoch zu gravierend, um auf die Dauer durch freundschaftliche Lippenbekenntnisse überspielt zu werden. Die Entfremdung im russisch-amerikanischen Verhältnis trat schon seit den 1870er Jahren ein. Diesen Eindruck widerlegt nur scheinbar die gleichzeitig auf vielen Sektoren der Kultur, Wirtschaft und Politik festzustellende Ausweitung der Beziehungen 6 ). Der reaktionäre, verschärft autokratische Regierungsstil Alexanders I I I . brachte die Verschiedenheit der beiden Staats- und Gesellschaftsordnungen wieder klar zu Bewußtsein. Waren die Vereinigten Staaten eine Zeitlang als potentieller Verbündeter umworben worden, so rückten sie nun zum Rivalen im weltpolitischen Machtkampf auf. Die Phrase von den „transatlantischen Freunden" wurde damit immer doppelsinniger in ihrem Gehalt.
2. A m e r i k a n i s c h e L i t e r a t u r i n R u ß l a n d u n d r u s s i s c h e R e i s e b e r i c h t e über die V e r e i n i g t e n S t a a t e n Neben den Ereignissen der Tagespolitik bewirkte ein verstärkter Import amerikanischer Literatur, daß das russische Interesse für die Vereinigten Staaten seit den 1860er Jahren neu belebt wurde. Die Popularität Coopers und der Mrs. Beecher-Stowe war ungebrochen; daneben fanden allmählich andere amerikanische Schriftsteller wie Poe, Emerson, Longfellow, Hawthorne, Whitman und Mark Twain einen russischen Leserkreis. Beachtung fand auch Bayard Taylor, der eine Zeitlang an der Petersburger Mission der Vereinigten Staaten tätig war und freundschaftliche Beziehungen zu Cernyäevskij unterhielt 7 ). Einen kompetenten Überblick über die zeitgenössische Literatur Nordamerikas verfaßte 1860 der Schriftsteller M. I. Michajlov für den „Sovremennik 8 )". Um die Einführung amerikanischer Autoren machte sich wiederum in hervorragender Weise Cernyievskij verdient, obwohl seine zahlreichen kritischen Rezensionen im „Sovremennik" nicht immer frei von tendenziösen Wertungen waren 9 ). Auch P. L . Lavrov beschäftigte sich eingehend mit amerikanischer Gegenwartsliteratur 10 ).
5 ) Diese Tendenz schlug sich auch in politischen Propagandapamphleten der Zeit nieder, zum Beispiel in A . G. RotCevs offiziell belobigter Schrift „ P r a v d a ob A n g l i i " (SPb. 1854, 1855). Darin werden die „Verbrechen" Englands mit „glänzenden und edelmütigen Heldentaten" der Vereinigten Staaten kontrastiert; siehe „ P r a v d a . . . " , (1854), S. 225, 204ff. R o t i e v ( 1 8 0 6 - 1 8 7 3 ) stand lange Jahre im Dienste der Russisch-Amerikanischen Kompagnie und versah in ihrem Auftrag die letzte Kommandantur des kalifornischen Fort Ross, bevor diese vorgeschobene russische Bastion 1841 an die Vereinigten Staaten abgetreten wurde. In der Folgezeit veröffentlichte R . Artikel über den amerikanisch-englischen Gegensatz im Pazifik und über die russischen Besitzungen in Alaska; siehe den Artikel über ihn in R B S , X V I ,
s- 313756 ) Einzelheiten bei Laserson, op. cit., S. 195, 293 fr. ' ) „ H a n n a h Thurston" ( 1 8 6 3 ) erschien unter dem Titel „Channa Torston. Povest' iz amerikanskoj zizni" 1864 in Petersburg. E s wurde durch A . N . Pypin in einer Rezension des „Sovremennik" sogleich wohlwollend besprochen; siehe „Amerikanskie n r a v y " , „ S o v r . " (1865), Nr. 1, S. 7 3 - 1 0 8 (nach Bograd, op. cit., S. 450). 8 ) „Amerikanskie p o e t y " ; „ S o v r . " , Nr. 10, Nr. 1 2 (1860), S. 2 1 7 - 2 3 2 bzw. 3 0 5 - 3 2 4 (nach Bograd, op. cit., Nr. 4256, 4303). 9 ) Laserson, op. cit., S. 2 4 8 ; Hecht, „Russian Radicals " , S. 88; 1 3 8 f . (im Zusammenhang mit Hawthorne). 10 ) Hecht, „Russian Radicals . . . " , S. 1 8 5 f f . Im J a h r e 1882 verfaßte L a v r o v einen längeren E s s a y über Longfellow. Außerdem schrieb er über Whittier, Lowell und Whitman.
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Von F. M. Dostoevskij ist bekannt, daß er eine Vorliebe für die phantastischen Novellen E . A . P o e s hegte, dessen Werke schon seit Ende der 1830er Jahre in russische Journale Eingang gefunden hatten. Durch den wohlwollend kommentierten Abdruck einiger Erzählungen Poes in seiner Zeitschrift „Vremja" strebte Dostoevskij an, dem amerikanischen Schriftsteller einen weiteren Kreis des russischen Leserpublikums zu erschließen 11 ). Demgegenüber galt die Anerkennung I. S. Turgenevs vor allem dem Werk Hawthornes und Whitmans. Einige Ubersetzungen Whitmans beabsichtigte Turgenev in seine Zeitschrift „Nedelja" aufzunehmen; er konnte sein Vorhaben schließlich nicht realisieren 12 ). E s gibt Anlaß zu der Vermutung, daß manche amerikanischen Autoren des 19. Jahrhunderts in Rußland bekannter gewesen sind als in ihrem Herkunftsland 13 ). Beispielsweise war Turgenevs Belesenheit in der amerikanischen Literatur so außerordentlich, daß sich selbst amerikanische Gesprächspartner verblüfft zeigten. Gor'kij konnte sich noch 1906 bei seinem Besuch in den Vereinigten Staaten unwidersprochen auf den Standpunkt stellen, daß die Russen mit der amerikanischen Literatur im allgemeinen besser vertraut seien als umgekehrt die Amerikaner mit der russischen14). Trotz einer zunehmenden Beschäftigung mit amerikanischen Literatur verharrten jedoch die russischen Kenntnisse über die Vereinigten Staaten auch in den 1860er Jahren auf einem unbefriedigenden Niveau. Die tendenziöse Berichterstattung in der Zeitschriften- und Tagespresse war kaum dazu angetan, ein reales Bild von den Lebensumständen in Amerika zu vermitteln. Man behalf sich mit Schlagworten, die eine Karikatur der Wirklichkeit wiedergaben. Diesen betrüblichen Zustand hatte schon Dobroljubovs Rezension im „Sovremennik" des Jahres 1859 beklagt, die eine äußerst kritische Bilanz des russischen Amerikabilds zog 15 ). Immerhin stand dem interessierten russischen Leser zumindest seit den 1850er Jahren eine ungleich breitere Auswahl an Informationsmaterial über die Vereinigten Staaten zur Verfügung als noch wenige Jahre zuvor. Neben zahlreichen Zeitschriftenveröffentlichungen erschienen damals Sachbücher und Reiseschilderungen in kontinuierlicher Folge. Auch hier dominierten zunächst wieder die Übersetzungen aus westeuropäischen Sprachen — eine notwendige Folge des Umstandes, daß sich ein nennenswerter Reiseverkehr aus Rußland in die Vereinigten
u ) Werke, X X I I (1918), S. 2 3 2 - 3 („Tri rasskazaE. P o " ) ; S. 2 2 6 - 7 (Kommentar von L . P. Grossman; mit Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte Poes). — Zur Popularität Poes in Rußland s. auch S. 90, A n m . 63. Die ersten Übersetzungen Poes waren 1838 und 1 8 3 9 ' m „Sovremennik" erschienen. Früh hat man bestimmte Einflußspuren auf die thematisch verwandten Erzählungen Gogol's aufzudecken versucht (G. I. Cudakov). Auch in Charakter und Veranlagung sind die Übereinstimmungen zwischen Poe und Gogol' herausgestellt worden; vgl. A . Kaun, „ P o e and Gogol. A Comparison" in S E E R X V (1936/7), S. 389—399. — Dostoevskij verfaßte um 1861 für die „ V r e m j a " eine kritische Würdigung Poes, in der er seine Vorliebe für den amerikanischen Autor eingestand, ihn aber unter E . T . A . Hoffmann einordnete. Von den beabsichtigten Veröffentlichungen erschien in der „ V r e m j a " lediglich eine („PrikljuCenija Artura Gordona Pirna"). 12 ) A . Yarmolinsky, „Turgenev, the Man, His A r t and His A g e " (1959), S. 340—1. 13
) Diese Ansicht vertreten u.a. P. Sorokin, op. cit., S. 1 2 8 - 9 ; Tarsaidze, op. cit. S. 244. ) Zit. bei S. J a . Brodskaja, op. cit., S. 398. Von Autoren der Sowjetzeit wurde diese Behauptung bekräftigt; siehe N . N . Michajlov/Z. V . Kosenko, „ A m e r i k a n c y " (1962), S. 2 1 7 . Das gleiche Sowjetklischee gilt auch für andere Bereiche, zum Beispiel den der deutschen Literatur. 15 ) Werke, I I , S. 488. Dobroljubov erkannte mit Unbehagen, daß sich die russischen Kenntnisse über die Vereinigten Staaten in einem Katalog „stereotyper Phrasen" erschöpften, von denen er einige anführt: 14
„ D i e Amerikaner sind ein sehr praktisches Volk; das Geld bedeutet ihnen alles." — „Amerika ist das Land der Kaufleute, das Land des materiellen Lebenskomforts." — „ A m e r i k a hat demokratische Einrichtungen und gibt jeder Person im Leben die volle Freiheit, ohne dabei die Frauen auszuschließen." —• „ I n Amerika gibt es eine bedeutende lebenswichtige Frage — die Sklaverei." Darüber hinaus, so registrierte Dobroljubov, habe „ k a u m jemand grundlegende und detailliertere Kenntnisse bezüglich der amerikanischen Sitten und Institutionen."
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Staaten erst zum Ende des Jahrhunderts entwickelte 14 ). Seit der Veröffentlichung V . K . Bodiskos im „Sovremennik" von 1856 trifft man unter den Autoren der Amerikaberichte jedoch immer häufiger auf russische Namen. Der erste, der die lange unterbrochene Tradition Svinins und Poletikas fortführte, war im Jahre 1 8 5 9 A . Lakier 1 5 ). Einer besonderen Beliebtheit unter seinen Nachfolgern erfreute sich E . R.Cimmerman. Seine vielfach neuaufgelegten Erlebnisschilderungen setzten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als ein maßgebliches Quellenwerk über Nordamerika durch 18 ). Neben den Reiseberichten wuchs seit den 1860er Jahren auch die russische Sachliteratur über die Vereinigten Staaten zu immer bedeutenderem Umfang an. In ihr setzte man sich vornehmlich mit den sozialpolitischen Verwicklungen des Sezessionskrieges auseinander 19 ).
3. D i e k o n s e r v a t i v e
Publizistik
Nach dem Tod Dobroljubovs und Pisarevs und der Arretierung Cernyäevskijs hatten die radikalen Kritiker ihre bis dahin dominierende Stellung im literarischen Leben eingebüßt. In den Zeitschriften kamen seit Mitte der 1860er Jahre immer häufiger jene Autoren zu Wort, die sich mehr oder weniger offen mit der offiziell gestützten konservativ-nationalen Richtung identifizierten. Das geistige Erbe der Slavophilen, das sich in den Anschauungen der Konservativen offenbarte, hatte inzwischen eine bedeutsame Wandlung durchlaufen: von den Panslavisten und Nationalisten waren vor allem seine säkularen Elemente aufgenommen und verwertet worden 20 ). Die Einstellung dieser Kreise gegenüber den Vereinigten Staaten war ganz von den Erfordernissen der nationalen Politik geleitet. Während des Sezessionskrieges ließen die Interessen Rußlands zunächst eine Parteinahme für die Belange der amerikanischen Union ratsam erscheinen, eine Haltung also, die den von den Slavophilen formulierten grundlegenden Einwand gegen den materialistischen Charakter der amerikanischen Zivilisation stillschweigend 16 ) Weitaus früher wurde Rußland von den Amerikanern als Reiseland entdeckt. Zu den seit den 1860er Jahren immer zahlreicher erscheinenden Besuchern gehören auch angesehene Schriftsteller wie N. Appleton, W. Longfellow, M. Twain; vgl. A. Babey, „Americans in Russia" (1938; Diss.). 17 ) Zu Bodisko s. S. 139 (Anm. 127). — Lakiers Buch war betitelt: „PuteSestvie po Severo-Amerikanskim Statam, Kanade i ostrovu K u b e " . In der erwähnten Besprechung Dobroljubovs wurde der Bericht Lakiers als erster eigenständiger russischer Beitrag auf diesem Gebiet hervorgehoben (Wke., II, S. 488). ls ) Zuerst erschienen als „Putesestvie po Amerike v 1869-1870 gg.", M. 1870; 1 8 7 1 ; 1872. Die erweiterte Auflage (M. 1873) trug den Titel „Soedinennye Staty Severnoj Ameriki. Iz putesestvij 1857—8 i 1869—70 godov E . Cimmermana". An das Erfolgswerk Campes aus dem 18. Jahrhundert anknüpfend ließ Cimmerman 1892 eine Bearbeitung als Jugendbuch unter dem Titel „Otkrytie Ameriki. Dlja russkogo junoäestva" folgen. 1897 veröffentlichte er noch „OCerki amerikanskogo sel'skogo chozjajstva." Unter den weiteren russischen Amerika-Autoren verdienen Erwähnung: P. I. Ogorodnikov („V strane svobody", SPb. 1872; zuvor 1870 in der Zeitschrift „ Z a r j a " veröffentlicht); M. M. Vladimirov (Russkij sredi amerikancev"; 1877); V. I. Alekseev („Po Amerike. Poezdka v Kanadu i Soedinennye S t a t y " ; M. 1888); P. A. Tverskoj (Pseud. für P. A. Demens) („Oferki Severo-Amerikanskich Soedinennych S t a t o v " ; SPb. 1895; zuvor im „Vest. E v r . " unter dem Titel „Desjat' let v Amerike" erschienen). — Unter der Übersetzungsliteratur war von besonderem Einfluß W. H. Dixons „New Amerika" (London 1867; im gleichen J a h r in SPb. als „ N o v a j a Amerika" erschienen). u ) Auch hier überwogen Übersetzungen; siehe M. Lange, „ A v r a a m Linkol'n i velikaja bor'ba mezdu Severnymi i J u z n y m i Amerikanskimi Statami", SPb. 1867; G. Fletier, „Istorija amerikanskoj v o j n y " , SPb. 1867; D. Dreper, „Istorija Severo-Amerikanskoj meidousobnoj v o j n y " , SPb. 1872; W. Dikson, „ B o r ' b a ras v Amerike", SPb. 1876. 1863—4, während des Sezessionskrieges, veröffentlichte B . Ciferin zahlreiche Artikel in russischen Journalen, die sich mit den offenbar gewordenen Schwächen des demokratischen Staatsaufbaus in den Vereinigten Staaten beschäftigten. Einer der ersten russischen Beiträge zur amerikanischen Geschichte ist das von I. Gausman in den Jahren 1877—8 verfaßte Buch „ V o j n a v Soedinennych Statach Ameriki" (siehe Kameneckij, op. cit., S. 74). *•) Scheibert, op. cit., S. 282ff. („1848 — die politische Wendung der Slawophilen").
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zurückstellen mußte. Die Umstellung gelang jedoch beinahe mühelos. Eine durchweg amerikafreundliche Kommentierung herrschte beispielsweise in der russischen Presse der 1860er J a h r e vor, und zwar nicht nur in den radikalen Blättern, sondern auch in den Organen der Konservativen 2 1 ). Ein Höhepunkt war mit der Fox-Mission des Jahres 1866 erreicht. Die zu diesem Anlaß herausgegebenen Propagandabroschüren preisen die Freundschaft mit dem „transatlantischen Verbündeten" in den überschwenglichsten Tönen: „Russen und Amerikaner sind Freunde, die vertrautesten Freunde! Das ist eine entschiedene Sache! ( . . . ) Was für einen zuverlässigen Instinkt besitzt doch das Volk! Hier bewahrheitet sich vor aller Augen das Sprichwort: ,ein Herz gibt dem anderen die Kunde 2 2 )'." Das neu entdeckte Gefühl der Verbundenheit mit den Vereinigten Staaten wurde aus einer traditionellen Quelle russischer Amerikafreundlichkeit genährt: dem Ressentiment gegen das „absterbende" Europa. Hier stimmen die Ausführungen der russischen Autoren häufig mit früheren Gedankengängen Herzens überein, wenn auch ihre Diktion im einzelnen kunstloser und ungeschliffener wirkt: „Über niemanden kann man nach Gerüchten richtig urteilen. Über uns sagt man in Europa noch jetzt •—• und druckt es sogar — daß wir Wilde und Barbaren seien. Nun, also gut, Gott mit ihm, Europa, kehren wir doch zu unserem brüderlichen Bund mit Amerika zurück 2 3 )." Für das Werben um die Entente mit den Vereinigten Staaten bildete sich unter den konservativen Eiferern eine eigentümliche Argumentation heraus. M. P. Pogodin, ein Wortführer der nationalistischen Panslavisten, sah in der historischen „Ähnlichkeit unserer Institutionen, unserer Beziehungen zu Europa, unserer Beziehungen zur Geschichte" die Bestätigung der angestrebten Union mit Nordamerika und wagte die Behauptung, daß man bei aller äußeren Gegensätzlichkeit der Staatsformen in Rußland ebenso frei seine Meinung äußern könne wie in New Y o r k . Pogodins Wunsch, die freundschaftliche Allianz möge aus dem Bereich des Ideellen in die Wirklichkeit übergehen, wies jedoch gleichzeitig auf eine entscheidende Unzulänglichkeit der gegenseitigen Beziehungen 24 ). Durch wohlklingende Adressen war man damals allzu überstürzt bemüht, den tatsächlich bestehenden Widerspruch zwischen zwei diskrepanten Gesellschaftsordnungen aus der Welt zu schaffen. Daß nicht alle konservativen Kommentatoren ohne innere Vorbehalte auf die politisch opportune Linie der Annäherung einschwenkten, ist den Untertönen mancher Presseartikel zu entnehmen. Eine längere Abhandlung in der „Biblioteka dlja ctenija" des Jahres 1861 drückt angesichts des Sezessionskrieges ganz unverhohlen Genugtuung darüber aus, daß sich die politische Theorie der Vereinigten Staaten offensichtlich nicht als der Weisheit letzter Schluß erwiesen habe. I m einzelnen sind die Vorwürfe wiederum am bekannten Muster Tocquevilles orientiert: die amerikanische Katastrophe wird letztlich auf die Tyrannei der Mehr-
21 ) Siehe die Pressestimmen bei E. Eggert, „Otmena rabstva v S§A i otkliki v Rossii"; in IZ, 9-8 ('943), s - 73-4; Malkin, op. cit., S. 222. 22 ) „Amerikancy v Petersburge. Druzeskij sojuz Rossii i Ameriki" (1866), S. 3, 4. Zum Flottenbesuch s. außerdem die erwähnte Schrift von S. P. Jakovlev, sowie J . F. Loubat, „Narrative of the Mission to Russia, in 1866, ( . . .)'*, N. Y. 1873. „Amerikancy v Rossii i Russkie v Amerike . . . " (1866), S. 4; diese Abhandlung übernimmt das von Herzen geprägte Bild vom „Mittelmeer der Zukunft". Der Autor der Schrift „Amerikancy v Peterburge" (op. cit., S. 8) kommt auf die gleiche Parallele zurück:
„ . . . unsere Freundschaft mit Amerika ( . . . ) erklärt sich vollauf aus dem natürlichen Streben des Jungen zu Jungem und dem nicht weniger natürlichen Gleichmut der Jugend gegenüber einem Alter, das die Hoffnung auf die Zukunft verloren hat." M
) ,,Re£' proiznesennaja v Dume, na obede, v iest* amerikanskogo posol'stva"; Wke., III, S. 263.
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heit über eine unterdrückte Minderheit zurückgeführt 28 ). In diesem Lichte erscheint dem Autor des Artikels sogar der Aufstand der Südstaaten gerechtfertigt, obwohl er jeden Verdacht des Komplizentums mit den Sklavenhaltern entrüstet von sich weist 28 ). Die gleiche versteckte Sympathie für die Sache der Sezessionisten spricht damals aus den Artikeln des Herausgebers der „Moskovskie Vedomosti", M. N. Katkov 2 7 ). Hier lebten die alten Vorurteile der russischen Konservativen gegen den transatlantischen „Krämerstaat" unverändert fort. Den differenziertesten Ausdruck gab solchen Emotionen der Kritiker A. V. Druzinin in der 1863 verfaßten Rezension eines englischen Reiseberichts über Nordamerika. Auch Druzinin bekundet, wahrscheinlich unter dem Eindruck englischer Quellen, Mitgefühl für die aufständischen Siidstaatler. Seine Vorbehalte gegenüber der Ordnung der Nordamerikaner sind darüberhinaus prinzipieller Art. Voll Mißmut notiert er die „Farblosigkeit" ihrer Lebensweise, den Zustand „sklavischer, geschmackloser Imitation" auf dem Gebiet der Künste und den nüchternen, starren Gang der politischen Geschäfte, die „ohne die geringsten szenischen Intermedien" beinahe mechanisch abliefen. Als Ursache aller Mängel ermittelt Druiinin das Fehlen jener „üppigen gesellschaftlichen Unterhaltungen", die dem Leben in den Zentren europäischer Zivilisation seinen Reiz verliehen28). Die Einwände Druiinins wurden von den Wortführern des konservativen Lagers geteilt. In der prinzipiellen Zurückweisung des amerikanischen Modells waren sich damals Persönlichkeiten wie Pobedonoscev, Katkov und Pogodin einig, obwohl sie aus Rücksicht auf das russischamerikanische Zweckbündnis oftmals gezwungen waren, ihre Aversion zu verhehlen 29 ). Kraft seinem Staatsverständnis mußte auch F. M. Dostoevskij, Verfechter eines konservativen Programms der „Bodenständigkeit", dem Standpunkt der Gegner Amerikas zuneigen30). Die grundsätzliche Ablehnung der Konservativen brauchte Kompromisse in Einzelfragen nicht auszuschließen. Von Pobedonoscev wird berichtet, daß er sich, wie viele seiner Zeitgenossen, für die Wunderwelt Amerikas begeistert und die Übersetzung Emersons betrieben habe 31 ). Eine konziliante Einstellung gegenüber den Vereinigten Staaten spricht auch aus Danilevskijs „Rußland und Europa" (1869), der Programmschrift des Panslavismus. Angesichts der Vitalität des amerikanischen Staatswesens nach dem soeben überwundenen selbstmörderischen Bruderkrieg hält Danilevskij mit seiner Bewunderung nicht zurück 32 ). In mancher Hinsicht, so bezüglich des föderativen Aufbaus, mißt er dem amerikanischen Experiment immer noch Modellwert zu und empfiehlt es der angestrebten allslavischen Union als Vorbild 33 ). Und doch ist auch für Danilevskij der nordamerikanische Staat bestenfalls ein Zufallsprodukt günstiger Umweltbedingungen, das das „falsche Prinzip" seiner Entstehung auf die Dauer nicht verleugnen könne34). Vergeblich fahndet der Autor in dem „überwiegend „Zaatlantifeskaja demokratija i ee krizis" in „Bibl. dlja itenija" C L X V I I (Okt. 1861), S. 1 3 ; S. 3 8 : „Amerika erlebt seine Katastrophe deshalb, weil seine passionierte und undisziplinierte Mehrheit jenen Geist gegenseitiger Konzilianz vermissen ließ, der allein ein erfolgreiches Sachwalten des Gemeinwohls möglich macht, sei es von Kompagnie- oder Staatsbedeutung." 26
) „Zaatlantiieskaja demokratija . . . " , S. 24. 27 ) Malkin, op. cit., S. 1 8 1 , 220. 2S ) „Anglijskij nabljudatel' v Severnoj Amerike" (Rezension eines Reiseberichts von A . Trollope); Werke, V , S. 5 9 8 - 6 6 7 , insbes. S. 6 0 2 - 3 . 2B
) Zur Haltung Pobedonoscevs und Katkovs s. E . Hölzle, „ D e r russische Nationalgedanke und die Neue W e l t " in „Zeitschr. f. Relig.- u. Geistesgesch." I V ( 1 9 5 1 ) , S. 344fr. H . Herzfeld, „Dostojewski und die russische Staatsidee" in „Universitas" I (1946), Hfte. 3, 4 S. 3 0 1 - n ; 4 3 1 - 4 4 . 31 ) Hölzle, „ D e r rus. Nationalgedanke . . . " , S. 345. 32 ) „Rossija i E v r o p a " ( 1 8 9 5 ; 5. Aufl.), S. 242. Danilevskij wollte den Vereinigten Staaten auch eine „ S t a a t s m o r a l " zubilligen (S. 228). M ) „Rossija i E v r o p a " , S. 248. In gleicher Weise wollte D. die Nichteinmischungsformel Monroes als außenpolitisches Prinzip des Allslavenbundes übernehmen (S. 318). 34
) „Rossija i E v r o p a " , S. 228, 248, 543.
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technischen Charakter" der amerikanischen Zivilisation nach einer allgemeinverbindlichen Zielsetzung, wie sie sich ihm in der Selbstherrschaft und der allslavischen Vereinigung überzeugend manifestierte. Die politische Wirklichkeit der amerikanischen Demokratie erschöpft sich für ihn in einer Kausalkette von „extremen Inkonsequenzen"; nach seiner Meinung war das die zwangsläufige Folge eines einmal angenommenen falschen Prinzips 38 ). Hier berührt sich seine Kritik eng mit den Überlegungen der Slavophilen. Noch in einem weiteren Punkt greift Danilevskij auf die Dialektik der Slavophilie zurück: sein Schlüsselargument gegen die Vereinigten Staaten, der Vorwurf gegen die „Tyrannei der Mehrheit" als Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit, ist wie bei diesen von Tocqueville entlehnt38). Die angeführten Zeugnisse deuten darauf hin, daß trotz aller Bemühungen um eine Verständigung zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland die Entfremdung beider Länder auch in den 1860er Jahren fortschritt. Das Bewußtsein für die Gegensätzlichkeit der beiden Lebensordnungen, das auch unter den Befürwortern des Annäherungskurses akut war, prägte sich damals weiter aus, die überkommenen Vorurteile waren lediglich scheinbar verdrängt. In den Augen der Konservativen hatte der Sezessionskrieg die Vereinigten Staaten als politisches Ideal endgültig diskreditiert. Von manchen russischen Nationalisten wurde das Bürgerkriegsdesaster gar mit unverhüllter Schadenfreude begrüßt. Der Zeitpunkt, zu dem das Zweckbündnis mit den Vereinigten Staaten seine Brüchigkeit erweisen mußte, war nur noch eine Frage der weiteren politischen Entwicklung.
B ) Widerspiegelung von Zeitereignissen in der russischen Literatur der 1850er bis 1870er Jahre I. K r i m k r i e g u n d
Sezessionskrieg
Die im Zusammenhang mit Nordamerika seit den 1850er Jahren immer wieder debattierten Zeitfragen — Sklaverei und Leibeigenschaft, Krimkrieg und amerikanischer Bürgerkrieg — haben auch in der russischen Literatur dieser Jahre vielfältige Spuren hinterlassen. Ihre Amerikathematik wurde damals in auffälliger Weise von Bezügen zu den aktuellen Ereignissen bestimmt. Auf die herzlichen russisch-amerikanischen Beziehungen während des Krimkrieges spielen L . N. Tolstojs „Sevastopoler Erzählungen" an. Während eines Gesprächs unter russischen Kriegsteilnehmern läßt Tolstoj einen seiner Soldaten in stark idiomatisch gefärbter Rede äußern, ein „zuverlässiger Mensch von der Flotte" habe ihm erzählt, daß „Kistentin, der Bruder des Zaren, uns mit der amerikanischen Flotte zu Hilfe kommt 37 )". Hier war ein Wunsch ausgesprochen, der im damaligen Rußland viele Gemüter erregte: die Möglichkeit einer Intervention der Vereinigten Staaten beim Krieg gegen Franzosen und Engländer. Demgegenüber machte I. A . Goniarovs Reisebericht „Fregatte Pallas" auf die zunehmenden Spannungen zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten im ostasiatischen Raum aufmerksam. Das Eingreifen der „Leute aus den Vereinigten Staaten" in Japan, Sachalin und vor allem auf den idyllischen Riu-Kiu-Inseln wird von Gonfarov mit vorwurfsvoll-ironischen Kommentaren als rücksichtslose Macht- und Interessenpolitik hingestellt, wobei allerdings ähnliche Ambitionen Rußlands schamhaft verschwiegen werden 38 ). Auch ein Porträt "s) „Rossija i E v r o p a " , S. 2 2 8 : „ D a s Beispiel der Vereinigten Staaten bezeugt lediglich jene unnatürliche Situation, in die ein Staatswesen unweigerlich gerät, das ein falsches Prinzip angenommen hat — eine Lage, aus der es nur einen Ausweg gibt: äußerste Inkonsequenz." M
) „Rossija i E v r o p a " , S. 2 7 1 . ) „Sevastopol' v avguste 1855 g o d a " ( 1 8 5 6 ) ; Werke, I V , S. 107. M ) „ F r e g a t Pallada" ( 1 8 5 5 - 7 ) ; Werke (1952**.), I I I , S. 189fr. (Kap. „ L i k e j n y e ostrova"). 37
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des amerikanischen Konsuls Cunningham aus Schanghai bleibt reichlich lieblos und unvorteilhaft 39 ). Mit dem Näherrücken der entscheidenden Auseinandersetzung um die Negersklaverei in den Vereinigten Staaten häufen sich in der russischen Literatur Anspielungen auf diese aktuelle Thematik. Ein solcher zeitgeschichtlicher Hintergrund ist, wie erwähnt, unübersehbar in Cernyäevskijs sozialutopischem Roman „ W a s tun ? " . Darin stößt man auf eine Szene, in der des Autors „fortschrittliche" Menschen über die eminente Zukunftsbedeutung des gerade vor sich gehenden Bürgerkrieges in Nordamerika debattieren 40 ). Ein Bezug auf das amerikanische Blutvergießen in Vjazemskijs Verssatire „Unser Zeitalter" dokumentiert, daß sich die Diskussion auch auf die Dichtkunst ausweitete 41 ). Aussagen in Werken Dostoevskijs lassen das Interesse dieses Autors an den Entscheidungen des amerikanischen Bürgerkrieges sichtbar werden. Aus ihnen ist ein Engagement gegen die Sklavereihalterpartei der Südstaaten deutlich zu entnehmen. So spricht Dostoevskij in den „Winterlichen Aufzeichnungen über Sommereindrücke" voll Mißbilligung von heuchlerischen Versuchen des Nordamerikaners aus den Südstaaten, der „die Notwendigkeit des Sklavenhandels mit Bibeltexten zu belegen sucht" 4 2 ). Den Kellermenschen aus Dostoevskijs „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" führt der Gedanke an die bewaffnete Auseinandersetzung in Nordamerika zu resignierenden Meditationen über die ewigen Kriege der Menschheit und die Scheinerrungenschaften der Zivilisation 43 ). In einer Diskussion des „ I d i o t e n " dienen die Machenschaften bestimmter Liberaler während des amerikanischen Bürgerkrieges als Illustration zu einem Fall, in dem das Recht der Gewalt durch eine scheinheilige Argumentation sanktioniert worden sei 44 ). Das Thema der amerikanischen Gegensätze zwischen Süd- und Nordstaaten machte sich G. P. Danilevskij in der Erzählung „Pennsylvanier und Karoliner" des Jahres 1860 zunutze. In einer exakt durchgeführten Parallele überträgt er hier den amerikanischen Konflikt auf die Verhältnisse in einer bestimmten Region der Ukraine. Er entdeckt Übereinstimmungen nicht nur in den Landschaften beider Kontinente, sondern auch in der sozialen Struktur und sogar der Mentalität ihrer Bevölkerung 46 ). Der Schilderung lag eine Überzeugung zugrunde, die damals von sehr vielen russischen Schriftstellern und Kritikern geteilt wurde: die Überzeugung von der Verwandtschaft der sozialen Problematik in Nordamerika und Rußland. Allerdings zielt Danilevskijs Darstellung weniger auf politische Tendenzen als auf eine Analyse psychologischer Ursachen ab. Der Gegensatz zwischen „Pennsylvaniern" und „Karolinern" in der ukrainischen Steppe wird als ein naturgegebener Antagonismus zwischen Progressisten und eingefleischten Konservativen präsentiert. Mit milder Ironie stellt Danilevskij sowohl den vorwärtsstürmenden Übereifer der Fortschrittler als auch die Bigotterien der kompromißlosen
M
) „ F r e g a t Pallada", op. cit., S. 1 3 3 f r . ) „ C t o delat' ? " ; Werke, X I , S. 1 1 8 . 41 ) „ N a s v e k " in „Izbr. stichotvorenija" (1935), S. 4 3 1 . Vjazemskij spricht hier vom Blutvergießen „in Amerika, ja sogar in Holstein, wo früher nur Bier floß." E r bezieht sich damit zweifellos auf Ereignisse aus den 1860er Jahren, obwohl der Kommentar 1 8 4 1 als Entstehungsjahr des Gedichts angibt. Vielleicht handelt es sich bei dem zitierten Vers um einen später verfaßten Zusatz des Autors. 40
42
) ) 44 ) 45 ) 43
„Zimnie zametki o letnich vpeäatlenijach" ( 1 8 6 3 ) ; Werke ( 1 9 5 6 s . ) , I V , S. 77. „Zapiski iz podpol'ja" (1864), Wke., I V , S. 1 5 1 . „ I d i o t " (1868), Wke., V I , S. 3 3 5 . „Pensil'vancy i karolincy"; Wke. (1902), X V I I , S. 2 5 - 5 5 ; S. 2 5 : „Unsere ukrainische Steppenkolonie hat viel Gemeinsames mit der Heimat und dem Lieblingswerk Washingtons. ( . . . ) Der gleiche ertragreiche jungfräuliche Boden und bis jetzt auch die gleiche Verderbtheit ihrer ersten Kolonisatoren. ( . . . ) E s gibt hier die gleiche Mischung von Ständen und Völkern wie in Amerika und darum den gleichen hitzigen Kampf auf lokaler Ebene zwischen absterbendem und entstehendem Leben."
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Traditionalisten bloß48). Man ahnt, daß ihm der blutige Ernst des amerikanischen Bürgerkrieges damals noch nicht gegenwärtig war. 2. N e g e r - u n d A m e r i k a n e r g e s t a l t e n in d e r L i t e r a t u r Der Krieg um die Sklavenbefreiung in den Vereinigten Staaten hatte in der russischen Öffentlichkeit einen lebhaften Widerhall hervorgerufen. In der Literatur begann man damals erneut, sich dem Schicksal des amerikanischen Negers zuzuwenden, auf das in den 1850er Jahren bereits das Werk der Mrs. Beecher-Stowe aufmerksam gemacht hatte. Hier wurde ein altes Sujet aufgegriffen, das schon im 18. Jahrhundert feste Traditionen entwickelt hatte 47 ). Es wurde nun namentlich von der russischen Balladendichtung herangezogen. Die Formen, in denen das Thema behandelt wurde, folgten den bekannten Leitlinien: die Situation des Negers ist, wie zu Anfang des Jahrhunderts bei Gnedic oder Popugaev, „durch die Brille einer modernen Sentimentalität gesehen; Empfindungsbereiche des Kulturmenschen werden ohne weiteres auf den Neger übertragen 48 )". In einem Anklagegedicht vom Jahre 1855 hatte Dobroljubov auf die innere Verwandtschaft zwischen amerikanischer Negersklaverei und russischer Leibeigenschaft gewiesen49). Indessen waren die meisten der dem Negerthema gewidmeten russischen Dichtungen der Folgezeit Übersetzungen oder Nachschöpfungen. Von Einfluß war vor allem Heinrich Heines empfindsames Gedicht „Das Sklavenschiff", das seit den 1850er Jahren wiederholt in russischen Versionen erschien60). An Longfellows „Poems on Slavery" (1842) angelehnt war demgegenüber eine Variation A. N. Majkovs zum selben Thema. Im altvertrauten Stil des Sentimentalismus schildert Majkov darin einen Schwarzen aus Amerika, der sich im Schlaf sehnsüchtig seiner alten afrikanischen Heimat zurückerinnert 51 ). Die gleiche Vorlage des amerikanischen Dichters verwertete M. I. Michajlov, mit dessen 1861 erschienenem Zyklus „Lieder über die Skla-
46
) „Pensil'vancy i karolincy"; op. cit., S. 26. Danilevskij spricht von der rastlosen Aktivität der
„Steppenyankees!' : „ D a s sind muntere, geschickte Praktiker ( . . . ) , die Quartierherren unserer ( . . . ) Sie sind auch vornehmlich unsere Pennsylvanier. Doch wir haben ( . . . ) Ihr Ideal ist die Rückkehr der heimatlichen Steppen zu den Zeiten weinen über den Versen von Skovoroda ( . . . ) und erkennen Gogol' nicht unser Glauben sind nicht nach ihrem Sinn."
künftigen Washingtone auch unsere Karoliner. Chmel'nickijs. ( . . . ) Sie an. Doch unsere Tage,
47 ) F . W . Neumann irrt, wenn er das Problem der Negersklaverei „einen neuartigen Stoffkreis" russischer Dichtung nennt; „Geschichte der russischen Ballade" (1937), S. 2 1 3 . 4S ) Neumann, op. cit., S. 2 1 3 . 48 ) „ D u m a pri grobe Olenina"; in „Stichotvorenija" (1962), S. 59. — Olenin war ein russischer Gutsbesitzer, der wegen seiner Brutalität im Dezember 1 8 5 4 von zweien seiner Leibeigenen erschlagen worden war. Das Gedicht kommentiert ironisch den Zarenukas über das Verbot des Negerhandels:
„Doch indessen sind in Deinem Rußland Nicht Neger — Kriegsgefangene —• Sondern Deine eigenen alteingesessenen Slaven Einem schändlichen Handel preisgegeben." 50 ) Zuerst gedruckt als „Nevol'niCij korabl'" im „Russkij vestnik" V I (1856), 2, S. 6 5 2 - 6 (übers, durch F . Miller); 1861 unter dem gleichen Titel im „Russkoe s l o v o " ; vgl. „ G . Gejne. Bibliografija russkich perevodov . . . " (1958), S. 460 f. Das gleiche Gedicht berücksichtigte später N . V . Gerbel' in seiner repräsentativen Anthologie deutscher Dichtung aus dem J a h r e 1 8 7 7 („Nemeckie poety v biografijach i obrazcach", S. 624 f.). Nach neueren Ermittlungen soll es sich bei diesem Werk allerdings um eine Übertragung des Gedichts „ D a s Negerschiff" ( 1 8 4 3 ) des deutschen Autoren A . Schults handeln; s. A . Braunschmidt, „ N . V . Gerbel's 'Deutsche Dichter in Biographien und Proben'" ( 1 9 6 7 ; Staatsexamensarbeit), S. 176. 51
) „ S o n negra" ( 1 8 5 9 ) ; Werke (1893), I, S. 4 0 5 - 7 .
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verei" die Welle der Negerdichtung in Rußland einen Höhepunkt erreichte 52 ). Michajlov, der dem radikalen Kritikerkreis um Dobroljubov nahestand, stellt jedoch mehr als Majkov die sozialanklägerische Tendenz seines Stoffes in den Vordergrund. Seine Darstellung war deutlich darauf ausgerichtet, die Parallelen zwischen Leibeigenschaft und Negersklaverei bewußt zu machen 53 ). Zum Anwalt des unterdrückten amerikanischen Negers machte sich damals auch D. D. Minaev, ein bekannter Satiriker, dessen Werk die Ereignisse in den Vereinigten Staaten wiederholt zum Anlaß kritischer Kommentare nahm. Minaevs Gedicht „ Y a n k e e " kontrastiert das anmaßende Gebaren eines weißen Amerikaners mit der Selbstbescheidung eines Negers. Auf die Frage des Yankee, warum er anläßlich der Ermordung Lincolns keine Trauer angelegt habe, läßt Minaev den Schwarzen demutsvoll mit dem Hinweis auf seine natürliche dunkle Hautfarbe antworten. Das Unrecht der amerikanischen Rassendiskriminierung wurde in dieser Erwiderung wirkungsvoll demonstriert54). Minaevs „Yankee"-Gedicht belegt, daß in der russischen Literatur auch während der Dekade herzlichen Einvernehmens mit den Vereinigten Staaten eine negative Zeichnung des Amerikaner üblich war. Mochten auch die Barden des Zarenhofes anläßlich der Fox-Mission Preisgesänge auf die russisch-amerikanische Freundschaft dichten 55 ) — ein Unbehagen gegenüber den amerikanischen Lebensformen, wie es in dem Gedicht Minaevs zum Ausdruck kam, blieb weithin bestehen. Der mit großem Pomp begangene Flottenbesuch des Jahres 1866 hatte kaum dazu beitragen können, die Klischeevorstellungen über Amerika auszuräumen. Eine autobiographische Erzählung L . Panjutins vom Jahr 1872 zog ernüchtert die Bilanz, daß den russisch-amerikanischen Beziehungen die künstlich erzeugte Begeisterungswelle während der Fox-Mission schlecht bekommen sei. Panjutin erkannte, daß in der gegenseitigen Einschätzung
62
) „Pesni 0 nevol'niiestve" mit den Teilen „ K . Vil'jamu Canningu", „ S o n nevol'nika" (der E n t sprechung von Majkovs „ S o n negra"), „Nevol'nik v prokljatom bolote", Svideteli", „ K v a t r o n k a " , „Predostereienie"; in „Stichotvorenija" (1950), S. 184.fi. 53 ) Diese Tendenz wird von P. Fateev, einem sowjetischen Interpreten Michajlovs, unterstrichen. Fateev schreibt, daß zur Zeit der Veröffentlichung des Negerzyklus' „der Neger als Pseudonym des Leibeigenen erschien und der Aufruf zur Abschaffung der Sklaverei ein Aufruf zur Abschaffung der Leibeigenschaft w a r " ; „Stichotvorenija", op. cit., S. 3 8 1 . 54
) „ J a n k i " in „Pesni i p o é m y " , (1867) S. 206—7. ) A n die Abgesandten der Fox-Mission verfaßte damals M. Rozengejm ein panegyrisches Abschiedsgedicht „ N a proäEanie amerikancam", das der Stimmung der russischen Amerika-Enthusiasten beredten literarischen Ausdruck verlieh. In ihm sind alle jene Unterströmungen und Ressentiments fixiert, die die Annäherungspolitik an die Vereinigten Staaten während der 1860er Jahre bewirkt hatten: 55
„ I h r fahrt ab, Gott mit euch auf der weiten Reise, Volksgesandte eines großen Volkes! ( ) Europa ist alt, in fruchtlosem Neid Liebt oder fürchtet es gleichermaßen weder euch noch uns, ( . . . ) • Doch nun ist ihm die Festigung der Bande nicht recht, Die zwischen zwei starken Völkern längst geknüpft worden sind, Nicht recht ist ihm die freundschaftliche Allianz, Allianz der Herrscher des Sonnenuntergangs und -aufgangs ( . . . ) . J a , ehrlich ist unser Bund; wir brauchen keine Hinterlist. Zuviele Kräfte sind in uns. W i r haben nichts zu verbergen. Jeder von uns versteht allein seine Feinde zu bezwingen, Jeder kann für sich seine Leiden überwinden. ( . . . ) Lebt wohl! E s gedeihe eure mächtige Union! ( . . . ) " (Zit. in „Amerikancy v Rossii . . S . 4 7 - 8 )
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immer noch Illusionen überwogen, die man aber sorgfältig zu pflegen habe, um sich überhaupt eine Basis der Freundschaft weiterzubewahren 56 ). Die weitverbreiteten Schablonen, die den Amerikaner als Verkörperung eines verknöcherten Materialismus karikierten, waren schon von Dobroljubov beklagt worden. In zwei Dichtwerken D. D. Minaevs aus den späten 1860er Jahren klangen Variationen dieses anscheinend zeitlosen Amerikamotivs an. Im „Lied über den K l u b " handelt Minaev über einen Nordstaatler und Parteigänger Lincolns, der, im Grunde reaktionär eingestellt, widerwillig ein opportunistisches Glaubensbekenntnis für die modischen „Fortschrittsideen" ablegt. Auch im progressistischen Zeitalter hält er jedoch darauf, ein „ H e r r " zu bleiben und sträubt sich beharrlich dagegen, daß sein exklusiver Klub durch die Aufnahme von Dienstleuten entweiht werde 67 ). Seine Satire über die reaktionäre Gesinnung amerikanischer Klub-Aristokraten komplettierte Minaev durch eine Hymne an den Dollar, in dem auch er das bewegende Prinzip der amerikanischen Gesellschaftsordnung entdeckte : „Zeit ist Geld! Ein treuer Freund Kann uns schnell im Stich lassen; Nur der Dollar ebnet einen Weg Nach Norden wie nach Süden. Die Zärtlichkeiten der Liebsten sind eine Lotterie, Weibliche Treue gibt es nur im Traum ; Ich glaube dem Dollar eher Als dem Freund oder der Frau. ( . . . ) Der Mit Der Ein
Dollar — das ist die Macht unserer Zeit, ihm ist das Dunkel des Lebens ohne Furcht : Dollar ist im Leben des Menschen archimedischer Hebel 88 )."
Seitdem in den 1870er Jahren eine langsame aber stetige Verschlechterung der russischamerikanischen Beziehungen einsetzte, gewann die Simplifikation vom dollarbesessenen Amerikaner immer mehr an Durchschlagskraft. Mit dem Hinweis auf diese materielle Einstellung verbindet N. A. Nekrasovs Zeitsatire „Sovremenniki" (1875) allerdings weniger die Kritik an nordamerikanischen Verhältnissen als einen Verweis an die Adresse gewisser Spekulanten in Rußland, die sich immer häufiger „amerikanischer" Methoden zu bedienen begannen. Kommentarlos vermerkt Nekrasov einen unter seinen Landsleuten nach wie vor weitverbreiteten Enthusiasmus für Amerika 69 ).
M ) „ZaatlantiCeskie druz'ja" in dem Zyklus „ N a ä i dorogie gosti", erschienen im Sammelband „ R a s s k a z y Nila Admirari" (1872), S. 1 4 3 f f . Über den künstlichen Enthusiasmus heißt es:
„ W i r entdeckten plötzlich, daß wir 'unsere transatlantischen Freunde' furchtbar lieben, während einen Monat zuvor die überwältigende Mehrheit unter den Russen nicht einmal von ihrer Existenz die geringste Ahnung hatte." (S. 143) Das Resümee lautet (S. 1 5 6 ) : „ . . . überhaupt müssen wir in den Amerikanern mit allen Kräften ihre transatlantischen Illusionen über uns aufrechterhalten, da mit dem Verschwinden dieser Illusionen leicht auch die Freundschaft zu uns verschwinden kann." 57
) „Pesnja o klube"; in „Pesni i p o è m y " , S. 177—80.
68
) „Motiv iz amerikanskogo p o è t a " im Zyklus „ Z i z n ' skvoz' raznye oüki"; „Pesni i p o é m y " , S. 2 2 1 .
6S
) „Sovremenniki"; Werke, I I I , S. 141 : „Rußland träumt von Amerika Und fühlt sich zu ihm herzlich hingezogen."
Nekrasov, dem auch in seinem Privatleben ein tüchtiger Geschäftssinn nachgesagt wird, scheint die Dollaranbetung in Amerika eher mit versteckter Zustimmung als Mißfallen beurteilt zu haben. Der
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Die Züge eines „russischen A m e r i k a n e r s " ironisierte damals auch A . P . Cechov in einem Feuilleton v o m Jahre 1880, das den A u f t r a g g e b e r eines Heiratsinserats zu einem amerikanischen Charakterbild zeitgenössischer Vorstellung formte 6 0 ). Mit dem Titel „ N a c h amerikanischer A r t " deutete Cechov an, welche Eigenschaften man dem Bewohner der Vereinigten Staaten gemeinhin als typisch zuerkannte: vor allem jene kuriose Mischung v o n impertinenter A n m a ß u n g , unverhohlenem Materialismus und naiver Ignoranz ( „ I c h glaube an alles", „ I c h esse barbarisch v i e l " , „ I c h habe guten U m g a n g " ) , die seit jeher mit wechselnder B e t o n u n g als Merkmal des Nordamerikaners herausgestellt worden w a r . Die angeführten Beispiele zeigen, daß sich die russische Literatur der 1860er u n d 1870er Jahre amerikanischer T h e m a t i k oftmals zu zeitkritisch-satirischen Z w e c k e n annahm. Der Glaube an einen politischen oder sozialen Modellwert der Vereinigten Staaten w a r damals sowohl unter den Konservativen als auch in weiten Kreisen der oppositionellen R a d i k a l e n g e schwunden. E i n anonymer russischer Minister in A . K . Tolstojs Verssatire „ D e r T r a u m P o p o v s " brachte die Vorbehalte und Ressentiments der Gegner Amerikas noch einmal auf eine einprägsame F o r m e l : „ W i r werden uns in A m e r i k a kein Ideal, K e i n e fundamentalen sozialen Prinzipien suchen. A m e r i k a ist zurückgeblieben. Dort herrschen E i g e n t u m und K a p i t a l 6 1 ) . "
C) Das Weiterwirken des romantischen Amerikabildes I . A n s ä t z e zur P a r o d i e im W e r k e
Gonfarovs
Bis zur Jahrhundertmitte blieben Parodien des romantischen Amerikabildes eine Seltenheit. A u c h der R o m a n des russischen Realismus entwickelte zunächst keine dauerhaften K o n zeptionen, um die Klischees der R o m a n t i k z u durchbrechen. Z u denjenigen Schriftstellern, die sich eine kritische Distanz bewahrten, gehört I. A . Goncarov. Eine parodistische Anspielung auf das romantische A m e r i k a als L a n d exzeptioneller N a t u r wunder w a r bereits in Goncarovs Frühwerk „ D i e böse K r a n k h e i t " enthalten. I n dieser E r z ä h lung v o m Jahre 1838, einem seiner ersten literarischen Versuche für die H a u s z e i t u n g des Majkov-Kreises, schildert G o n i a r o v die wandersüchtige, v o n einer seltsamen N a t u r m a n i e heimgesuchte Familie Zurov, die ihr Heil schließlich in der F l u c h t nach A m e r i k a sucht, u m dort auf einem A u s f l u g in die B e r g e elend zugrundezugehen. Charakteristisch für die alteingewurzelte Vorstellung v o n der überdimensionalen N a t u r A m e r i k a s ist die Erklärung, die die Zurovs für ihr A u s w a n d e r p r o j e k t geben. N a c h ihrer Meinung wären in A m e r i k a „ d i e N a t u r noch interessanter, die L u f t weitaus würziger, die Berge höher, es gäbe weniger S t a u b , und so fort . . , 6 2 ) . "
Dollar des „transatlantischen Bruders", so differenziert er, sei „durch Arbeit erworben", während man in Rußland betrügerische Schiebereien bevorzuge. Die Anhänger des Liberalismus, die in den Vereinigten Staaten ihr Fortschrittsidol verehrten, schienen dieses Argument für besonders überzeugungskräftig anzusehen. G. Siemens, der Direktor der Deutschen Bank, schrieb 1883 über die U S A (nach Engelsing, op. cit., S. 150): „Die Leute sind dort rücksichtslose Räuber. Aber sie haben Sinn für große Konstruktion: und es herrscht dort nicht der kleine, schmutzige Diebstahl, welcher bei uns grassiert." ao ) „Po-amerikanski"; Werke, I, S. 95 f. e l ) „Son Popova" (1873); Werke, I, S. 435. e2 ) „Lichaja bolest'"; in „Zvezda", 1936/1, S. 230. 11
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Im „Oblomov" spielt das Motiv der „Reise nach Amerika" nur eine untergeordnete Rolle am Rande 63 ). Bereits in seinen vorangegangenen ersten Erfolgsroman, die 1847 veröffentlichte „Gewöhnliche Geschichte", hatte Goncarov jedoch eine weitere Parodie auf Amerika eingeflochten und in einen wirkungsvollen assoziativen Zusammenhang gestellt. Hier wird die Neue Welt als Schauplatz einer jener empfindsamen Geschichten aufgeführt, die der junge Aduev zur Erbauung seiner verehrten Nadenka ersinnt. Wie es dem Gemütszustand von Aduev junior entspricht, präsentiert seine Dichtung ein tragikomisches Konglomerat von allerlei romantischen und heroisch-galanten Motiven: „ I n einer Erzählung wählte er als Handlungsort Amerika. Die Umgebung war üppig. Die amerikanische Natur, Berge und inmitten dieser ganzen Umgebung ein Ausgestoßener, der seine Geliebte geraubt hat. Alle Welt hat sie vergessen. Sie verlieben sich ineinander und in die Natur, und als die Kunde der Vergebung und der Möglichkeit einer Rückkehr in die Heimat zu ihnen dringt, verzichten sie. Dann, ungefähr zwanzig Jahre später, gelangt irgendein Europäer dorthin. Er ist in Begleitung von Indianern auf die J a g d gegangen und findet auf einem Berg eine Hütte und in ihr ein Skelett. Der Europäer war der Rivale des Helden 64 )." 2. D i e W i r k u n g B r e t H a r t e s u n d M a y n e R e i d s Die mit dem Sezessionskrieg verbundene aktuelle Thematik hatte die Aufmerksamkeit der russischen Öffentlichkeit nur vorübergehend zu fesseln vermocht. Davon abgesehen waren namentlich unter den breiten Volksschichten die älteren Traditionen des Amerikabildes lebendig geblieben. Die Literatur der Zeit nährte dieses Interesse 68 ); in ihr nahmen die aus der romantischen Epoche überlieferten Motive immer noch einen festen Platz ein. Über den Rahmen des Üblichen hinaus griff D. D. Minaevs Dichtwerk „Verfluchte Fragen" sogar die Fäden eines Modesujets aus dem 18. Jahrhundert auf, indem es den alten Grundsatzdialog zwischen Wilden und Europäern um den Wert und Unwert der europäischen Zivilisation fortführte 66 ). Das Wiederaufleben des romantischen Amerikabildes wurde seit den 1870er Jahren durch fremde literarische Einflüsse verstärkt gefördert. Damals fanden in Rußland die Abenteuergeschichten des Iren Mayne Reid und des Amerikaners F. Bret Harte eine begeisterte Aufnahme. In ihren Schilderungen erstand der alte Pionierzauber Nordamerikas vielfach zu neuer Gestalt 67 ). 63 ) „Oblomov" (1859); Werke, IV, S. 88 (Ein Arzt rät dem an seiner Trägheit krankenden Helden eine Seereise „nach England oder Amerika".) 64 ) „Obyknovennaja istorija"; Werke, I, S. 103. e5 ) Zum Beispiel durch Ausgaben wie den Band „Indejskie skazki i legendy", SPb. 1876. Auf weites Interesse stieß damals auch das Inkadrama „Ol'jantai" (SPb. 1877), das aus einer südamerikanischen Eingeborenensprache nach Europa überliefert worden war; vgl. Sur, op. cit., S. 107f. Es frischte das im r8. Jahrhundert geläufige Amerikathema der schönen Literatur auf. 66 ) „Prokljatye voprosy" in der Sammlung „Literaturnye veiera" (1873), S. 391—4. • ' ) Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Wirkung Francis Bret Hartes (1836 bis 1902). Erste russische Übersetzungen seiner Erzählungen verfaßte r872 E. G. Korelin-Beketova, die Großmutter A. Bloks, für die „Illjustrirovannaja gazeta". Seit 1873 druckten andere bedeutende Journale, darunter „OteCestvennye zapiski", „Vestnik Evropy", „Delo", weitere seiner Werke ab. 1874 erschien in Petersburg eine von A. N. Plesieev redigierte erste russische Buchausgabe Bret Hartes unter dem Titel „Rasskazy, oferki i legendy". Es folgten bald zahlreiche Werkausgaben: in 6 Bänden (ed. Cukjo, SPb. 1895), 8 Bänden (ed. Bulgakov, SPb. 1896-9), 12 Bänden (M. 1915), u.a. In sowjetischer Zeit blieb Bret Harte einer der meistgelesenen amerikanischen Autoren; die Bestsellerliste nennt ihn an siebenter Stelle („Haus ohne Dach", op. cit., S. 101). Seine ausgewählten Erzählungen wurden u.a. übersetzt und kommentiert durch A. I. Starcev herausgegeben (M. 1939; M. 1945). Der letzte Sammelband („Izbrannye proizvedenija") erschien 1956 in Moskau mit einer Einführung durch I. D. Glikman; seinen Worten ist zu entnehmen, daß sich Bret Harte bis heute in der Sowjetunion einer nahezu uneingeschränkten Anerkennung erfreut.
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E r h a t auf die russischen Schriftsteller dieser Jahre seine W i r k u n g nicht verfehlt. Z u den Verehrern Bret Hartes zählte I. S. Turgenev 6 8 ). N . S. L e s k o v exzerpierte für seine Einleitung zum „ T o u p e t k ü n s t l e r " den Handlungsfaden v o n Bret Hartes Feuilleton „ A Sleeping Car Experience 8 9 )". Der Faszination v o n Bret Hartes Erzählkunst erlag in besonderem M a ß e Cernyäevskij. W ä h r e n d der Verbannung in Sibirien arbeitete er an einer Übersetzung der Novelle „ M i g g e l s " , die er mit philologischen und kritischen R a n d b e m e r k u n g e n versah, u m sie dann seinen Kindern als „moralische L e k t i o n " zu empfehlen 70 ). Bereits zum E n d e der 1870er Jahre war Bret H a r t e in R u ß a n d als eine literarische Autorität anerkannt, an deren Vorbild man eigene Leistungen maß 7 1 ). Insbesondere seine „ W e s t e r n Stories" vermittelten ein Bild über A m e r i k a , das sich dem R a h m e n alter, liebgewordener Vorstellungen vollendet anpaßte. N o c h lange Jahre blieb sein W e r k in R u ß l a n d heimisch. K . M. S t a n j u k o v i i fühlte sich auf seiner Weltreise in San Francisco sogleich v o n den Charakteren B r e t Hartes umgeben 7 2 ). Gor'kij führte in seinen Lebenserinnerungen die Anziehungsk r a f t , die das Milieu der asozialen „ B o s j a k i " auf ihn ausgeübt hat, zum großen T e i l auf die L e k t ü r e „ B r e t Hartes und die gewaltige Menge der v o n mir gelesenen B o u l e v a r d r o m a n e " zurück 7 3 ). N o c h 1928 zollte Gor'kij dem „vortrefflichen Romantiker Bret H a r t e " Bewunderung in einem Zusammenhang, der die böswilligsten Angriffe auf die amerikanische Zivilisation enthielt 74 ). Ähnliche Spuren wie Bret H a r t e hinterließ auch das W e r k M a y n e Reids 7 8 ).
3. D a s M o t i v d e r „ F l u c h t n a c h
Amerika"
I m Zusammenklang mit den Traditionen Chateaubriands und Coopers f ü h r t e die W i r k u n g B r e t Hartes und M a y n e Reids in R u ß l a n d zu dem Ergebnis, daß Nordamerika, losgelöst v o n allen tagespolitischen Verwicklungen, immer noch weithin als „ L a n d der W u n d e r " mit allen
M ) P. E. Seyersted, „Turgenev's Interest in America . . . " in „Scando-Slav." X I (1965), S. 27. «>) „Tupejnyj chudoinik" (1883); Werke (1956fr.), VII, S. 220-1. Siehe dazu V. Setchkareff, „N. S. Leskov" (1959), S. 122. Setchkareff nimmt einen Einfluß Bret Hartes und Poes auch auf bestimmte kriminalgeschichtliche Erzählungen Leskovs an (ibid., S. 116). Auf die Lektüre Bret Hartes verweist L. noch einmal in seiner Novelle „Interesnye m u z i i n y " (1885); Wke., VIII, S. 61. 70) In zwei Briefen aus Viljujsk vom 31. 3. 1878; Werke, X V , S. 217-8, S. 228 ff. (mit dem Übersetzungstext der „Miggels"). Cernylevskijs Ehrgeiz nach einer möglichst exakten Wiedergabe ging so weit, daß er bestimmte Ausspracheunregelmäßigkeiten im Amerikanischen durch Dialektdifferenzierungen des Russischen deutlich machen wollte. Im übrigen tadelt er den Stil Bret Hartes als „nachlässig", seine Charakterkunst als „dürftig" (S. 239), darin mit Plesieev übereinstimmend, dessen Bret HarteAusgabe den Gesichtskreis des amerikanischen Autors „nicht sonderlich weit" genannt hatte („Rasskazy, oCerki i legendy", S. 11). Überaus lobende Worte findet Cernysevskij dagegen für den „mächtigen, natürlichen Geist" und das „ungewöhnlich edle Herz" Bret Hartes, die ihn für alle Mängel entschädigen (S. 240). — Vgl. auch A. I. Starcev, „Cernysevskij 0 Brete Garte" in „Bret Gart. Siast'e revusfego stana i drugie rasskazy" (1945), S. 296-302. 71 ) Siehe I. D. Glikmans Einführung in „Izbrannye proizvedenija", op. cit., S. IV (Äußerungen Saltykov-Siedrins und G. Uspenskijs). 72 ) In der autobiographischen Erzählung „Vokrug sveta na 'Korsune'" (1895); Werke, II, S. 414. 73 ) „Moi universitety" (1923); Werke, X I I I , S. 516-7. An anderer Stelle ( „ 0 tom kak ja ufilsja pisat'" [1928]; Wke., X X I V , S. 486) nennt Gor'kij als Verfasser solcher in seiner Jugend besonders geschätzter Boulevardliteratur die Namen Coopers und Mayne Reids. In diesen Vorbildern ist er sich mit Majakovskij einig (S. 104 dieser Arbeit Fußn. 142). 74 ) „Otvet na anketu amerikanskogo zurnala"; Wke., X X V , S. 5. 75 ) In seinem kritischen Amerikaartikel „Fabrika smerti" (1895), Werke, IV, S. 155, schöpfte V. G. Korolenko eine Indianerszene frei nach Anregungen Mayne Reids. Er erläutert:
„ S o schön ist das bei Mayne Reid beschrieben, daß man manchmal nicht abgeneigt ist, diesen Zauber selbst mitzuerleben."
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Attributen eines abenteuerlichen Pionierdaseins angesehen wurde 76 ). Es kehrte hier das gleiche Weltfluchtmotiv wieder, das schon in der Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine so bedeutende Rolle gespielt hatte. Das Märchenland Amerika war stets als eine Art Wachtraum gegenwärtig; die Flucht dorthin schien Erlösung von der Monotonie und den vielen bedrückenden Ärgernissen des Alltags zu verheißen. Ein Drang zum Ausreißen nach Amerika grassierte damals besonders unter der russischen Jugend. Der Großfürst Alexander schildert in seinen Erinnerungen, wie er bereits die Namen von Staaten, Flüssen und Städten auswendig gelernt habe, um sich nach der Flucht in Amerika zurechtzufinden. Als er den Vereinigten Staaten im Jahre 1871 einen vielbeachteten Besuch abstattete, war es sogleich sein Wunsch, den „Wilden Westen" des Landes zu sehen. Für ihn mußte damals eigens ein Treffen mit dem legendären Buffalo Bill arrangiert werden"). Die Begeisterung der Jugend für Amerika nahm in einigen Fällen sehr handgreifliche Formen an. In der Presse erschienen bisweilen Meldungen über phantastische Fluchtprojekte, die man aufgedeckt und vereitelt hatte 78 ). Auch aus der späteren Memoirenliteratur über diese Zeit sind Schilderungen bekannt, die von den heimlichen Fluchtplänen jugendlicher AmerikaEnthusiasten handeln. L . M. Medvedev gesteht in seinem Rückblick, daß es ihn schon als Schuljungen, „ganz am Anfang der ersten Klasse", über den Ozean in die „unermeßlichen Prärien und jungfräulichen Wälder Amerikas" gezogen habe 79 ). Die Abenteuerlust des jungen Medvedev und seiner zwei Freunde wird noch bestärkt durch die Lektüre der einschlägigen Romanliteratur und Zeitungsberichte über die damaligen Indianerfeldzüge in den Vereinigten Staaten. Die Ausführung ihres Projektes wird allerdings im entscheidenden Moment durch einen vertrackten Zufall durchkreuzt: am Morgen der Flucht werden die Ausreißer plötzlich vom Vater des Erzählers überrascht und dingfest gemacht. Bis in viele Details stimmt der Bericht Medvedevs überein mit der literarischen Version eines amerikanischen Fluchtabenteuers im Werke A. P. Cechovs. Cechovs Kurzgeschichte „Die Knaben", von L . Tolstoj als eine seiner überzeugendsten Leistungen in diesem Genre gewürdigt, schildert die verwegenen Pläne zweier Jungen, nach Amerika fortzulaufen. Auch dieses Unternehmen endet nach nur eintägiger Dauer mit einem kläglichen Mißerfolg: die Ausreißer werden beim Versuch, Pulver aufzukaufen, ertappt und nach Hause zurückgeschafft 80 ). Anstifter zu diesem Projekt und eigentlicher Held von Cechovs Kurzgeschichte ist der Knabe Ceievicyn. Sein mürrisches, verschlossenes Wesen und unansehnliches Äußeres werden
'*) A . V . Druzinin resümiert in seiner erwähnten Rezension über den Amerikabericht Trollopes (Wke., V , S. 602): „Amerika erscheint uns als Land von Wundern, die zum Malen schön sind und sich stündlich dem begeisterten Auge darbieten." " ) Nach Tarsaidze, op. cit., S. 244, 26gff. (Amerikareise des Großfürsten). ) Eine solche Meldung über das gescheiterte Amerikaprojekt dreier Gymnasiasten aus K a z a n ' wurde beispielsweise in den „Sankt-Petersburgskie Vedomosti" vom 1 3 . 1 1 . 1 8 7 3 veröffentlicht und von Dostoevskij in dessen „Dnevnik pisatelja za 1 S 7 3 g o d " aufmerksam notiert; vgl. Dostoevskijs Werke, V (1886), S. 2 4 1 . 78
™ ) „ V Gimnazii" (1904); S. 54, 56 (Kap. „Iskateli prikljuienij"). ) „ M a l ' i i k i " (1887); Werke, V I , S. 3 5 6 0 . Die Knaben wollten sich über Sibirien, K a m i a t k a und Alaska nach Kalifornien durchschlagen. Diese Route deckt sich mit einem Reiseprojekt, das Cechov selbst anläßlich seiner Sachalin-Reise im Jahre 1890 verfolgte; siehe seine Briefe von dort (Werke, X V , S. 86; S. 93). Anfang der 1890er J a h r e spielte Cechov wiederholt mit dem Gedanken eines Aufenthalts in Amerika. Zum Beispiel hegte er 1892 den Wunsch, zur Weltausstellung in Chicago zu reisen, wo er zu dieser Gelegenheit mit Korolenko zusammengetroffen wäre (Brief vom 18. 10. 1 8 9 2 ; Wke., X V , S. 4 3 1 ) . Wie die Knaben seiner Kurzgeschichte schmiedete £ echov zuweilen auch ganz spontane Amerikapläne; vgl. den Brief an I. E . Repin vom 2 3 . 1. 1 8 9 3 ; Wke., X V I , S. 1 7 ( „ L . L . Tolstoj war bei mir, und wir kamen überein, gemeinsam nach Amerika zu fahren.") 80
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von Cechov eindringlich dargestellt. Sich selbst stilisiert Cecevicyn zur maßlosen Bewunderung seiner Altersgenossen als „Montigomo, die Habichtsklaue, Führer der Unbesiegbaren". Diesen Anspruch unterstreicht er durch die täuschend ähnliche Imitation eines Löwen- oder Tigerfauchens und durch einige markige Sentenzen, die er selbst einmal als Entlehnungen aus Mayne Reid klassifiziert. Die Erwartungen der beiden Knaben als Resultat einer allzu stimulierenden Lektüre werden von Cechov mit milder Nachsicht parodiert: „Die beiden Knaben schickten sich an, irgendwohin nach Amerika fortzulaufen, um in den Besitz von Gold zu kommen. Für den Weg hatten sie schon alles bereit: eine Pistole, zwei Messer, Zwieback, ein Vergrößerungsglas zum Feueranzünden, einen Kompaß und vier Rubel Geld. ( . . . ) Die Knaben hatten einige Tausend Werst zu Fuß zurückzulegen und unterwegs mit Tigern und Wilden zu kämpfen. Dann würden sie in den Besitz von Gold und Elfenbein gelangen, Feinde töten, unter die Piraten gehen, Gin trinken, schließlich Schönheiten heiraten und Plantagen übernehmen 81 )." Die Illusionen der Schwärmer, wie sie Cechov in den „ K n a b e n " zum Anlaß einer Parodie nahm, haben das russische Amerikabild jener Jahre nachhaltig beeinflußt. Züge einer sentimentalen Anhänglichkeit an die Wunderwelt der amerikanischen Pionierzone lassen sich gerade unter den unduldsamsten Kritikern der Vereinigten Staaten feststellen. In ihren Augen wurde die rücksichtslose Kolonisationspolitik auf dem nordamerikanischen Kontinent zum Hauptargument gegen die Unmenschlichkeit der dortigen Zivilisation. Diese Empörung faßte später V. G. Korolenko in besonders drastische Worte 82 ): auch M. E . Saltykov-Siedrin setzte sich damals nachdrücklich für die Belange der bedrängten Indianer ein83). Ein Brief L . N. Tolstojs an seinen Schüler Certkov spricht 1890 von Amerika als dem Land, „dem ich mich gefühlsmäßig am meisten verbunden fühle 84 )". Auch das Urteil eines wohlwollend-kritischen Betrachters wie Tolstoj wurde also von unwägbaren irrationalen Elementen mitbestimmt. Die Bemerkungen in seinen Tagebüchern, außerdem zahlreiche Begegnungen mit Amerikanern und die daraus resultierende, teilweise sogar englisch geführte Korrespondenz erweisen gerade diesen russischen Schriftsteller als einen sachkundigen Kenner der Vereinigten Staaten 86 ).
D) Nordamerika in der Sicht I. S. Turgenevs In der Einstellung I. S. Turgenevs gegenüber den Vereinigten Staaten überwog gleichfalls eine Note demonstrativer Herzlichkeit 86 ). Wie Tolstoj war Turgenev mit führenden Persönsl
) „ M a l ' i i k i ; op. cit., S. 3 5 9 - 6 0 . ) In einem Brief aus Chicago vom 15-/27. 8. 1893 zeichnet K . ein düsteres Bild von der Ausrottung der Indianer und kommt zu dem Schluß, daß „die ganze amerikanische Geschichte kaum als mehr ein riesiges Schlachthaus" sei (zit. bei G. Bjalyj, „ V . G. Korolenko" [1949], S. 227). — Tatsächlich hatten seit den 1870er Jahren die Feldzüge nordamerikanischer Truppenverbände gegen aufsässige Indianerstämme blutige Ausmaße angenommen. Die damalige Politik, die eher auf eine physische Vernichtung der Indianer als ihre friedliche Zivilisierung abzielte, rief manche berechtigte Kritik hervor; vgl. Morison/Commager, op. cit., I I , S. 89fr. („Das indianische Problem"). 82
83 ) In den Erzählungen „ V bol 'nice dlja umalisennych" und „ N a s a obsiestvennaja z i z n ' " ; nach I. N . Uspenskij, „Russkie pisateli ob Amerike", S. 2 3 .
**) Werke, L X X X V I I , S. 4. M ) Siehe im einzelnen die Briefe und Tagebuchnotizen, die so entlegene Details wie die Problematik des elektrischen Stuhls beim Strafvollzug in Amerika erörtern (20. 7. 1 8 8 9 ; Wke., L , S. 110). Über die neuesten Ereignisse und Entwicklungen jenseits des Ozeans informierte sich T . häufig anhand amerikanischer Journale. Zu den amerikanischen Besuchern bei ihm siehe A . Babey, op. cit., S. 2 2 ; 6 1 ; über seine Beziehungen zur amerikanischen Literatur berichtet Starcev, „ A m e r i k a . . . " , S. 1 9 - 2 2 . 8e ) Die Veröffentlichung der ersten vollständigen Briefausgabe Turgenevs ist gegenwärtig noch nicht abgeschlossen. Die amerikanische Korrespondenz liegt bisher nur lückenhaft vor. Aufschluß über das Amerikabild Turgenevs geben vor allem die erwähnten Studien Seyersteds („Turgenev's Interest in America . . . " ) und Yarmolinskys („Turgenev . . . " ; K a p . „ A u revoir in America", op. cit., S. 3 3 6 - 4 6 ) .
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lichkeiten des amerikanischen Geisteslebens bekannt, unter denen die Schriftsteller Henry James und W. D. Howells, sowie der Literaturhistoriker Professor H. Boyesen herausragen. Die wohlgefälligen, oftmals überschwenglichen Äußerungen, mit denen er die Vereinigten Staaten bedachte, sind nahezu ausnahmslos diesen persönlichen Bekannten gewidmet und daher wohl mit gebührender Vorsicht aufzunehmen. Turgenev tendierte dazu, den ihm in Nordamerika zuteil gewordenen literarischen Erfolg durch leichthingeworfene Schmeicheleien an die Adresse seiner Förderer aufzuwiegen. Es ist kaum als Zufall anzusehen, daß der Höhepunkt seiner Begeisterung für Amerika in das Jahr 1874 fällt, das Jahr, in dem sich seine Kontakte mit den amerikanischen Bekannten vertieften und eine Eloge von H. James ihm weiteste Anerkennung in amerikanischen Literatenkreisen eintrug87). Von Professor Boyesen, dem 1869 emigrierten Norweger, der selbst noch manchen Einwandererillusionen nachhing, übernahm Turgenev den Glauben an die unbegrenzte Dynamik der amerikanischen Zivilisation und an die Kraft individueller Entfaltung im Rahmen ihrer demokratischen Institutionen 88 ). Die gleiche Uberzeugung klang bereits in einer Textstelle des Romans „ R a u c h " an, wo Turgenev seinen Helden Litvinov die Angemessenheit amerikanischer Technik für eine zeitgemäßere Lebensweise in Rußland empfehlen ließ89). Darüberhinaus war Turgenevs Vorstellung von der modernen amerikanischen Zivilisation aber immer noch durchsetzt von Reminiszenzen an die versinkende Welt der Pioniere: „America presents itself to my thoughts as a vast fertile prairie, at first sight somewhat barren, but with a glorious dawn, breaking on its horizon 90 )." Eine bescheidene, wenn auch für das Amerikabild Turgenevs bezeichnende Rolle spielt das Motiv der Emigration in dem Roman „Frühlingswogen". Darin schildert Turgenev, wie sich die von seinem Helden Zanin im Stich gelassene Verlobte mit einem anderen Mann nach Amerika aufmacht, um persönliches Glück und materiellen Wohlstand zu erlangen. Von dem im Leben bis dahin gescheiterten Zanin heißt es im letzten Satz der Erzählung, daß er ebenfalls plane, seine Güter zu veräußern und nach Amerika zu gehen 91 ). Nicht nur seiner ganzen Veranlagung nach sondern auch in diesem Reiseprojekt ist Zanin ein Nachkomme des „überflüssigen Menschen" Peforin. In seinen Auswanderwünschen deutete Turgenev an, was er selbst sich von Amerika erhoffte: die Uberwindung der gerade in den „Frühlingswogen" so bedrückend dargestellten europäischen Enge und Konventionalität. Allerdings vermag er 87 ) Der E s s a y „ I . T u r g e n e v " aus der Feder von Henry James erschien 1 8 7 4 in der Aprilausgabe der „ N o r t h American R e v i e w " . Seit der Ubersetzung der „ V ä t e r und Söhne" durch E . Schuyler (1867) gehörte Turgenev neben Tolstoj zu den meistgelesenen russischen Schriftstellern in den Vereinigten Staaten; siehe R . A . Gettmann, „Turgenev in England and A m e r i c a " ( 1 9 4 1 ) , S. 3 9 ® . Die Resonanz, auf die sein Werk stieß, wurde von späteren russischen Amerika-Reisenden wie dem Moskauer Professor M. M. Kovalevskij, überrascht zur Kenntnis genommen (siehe dessen „American Impressions", in R R X [ i 9 5 i ] , S. 42). 88 ) Z u Boyesens „immigrant's illusions about A m e r i c a " siehe Seyersted, op. cit., S. 34. Nach der Erinnerung Boyesens ( „ A Visit to Turgenev" in „ G a l a x y " , April 1874, S. 456—66) äußerte Turgenev:
„ I f I came to America, m y prejudices would be all in your favour. ( . . . ) To me the great charm of American institutions has always been in the fact that they offer the widest scope for individual development, the very thing which despotism does not and cannot do." (Zit. bei Seyersted, op. cit., S. 27) 89
) „ D y m " ( 1 8 6 7 ) ; Werke (1953fr.), I V , S. 34 ( „ . . . überhaupt sind alle amerikanischen Maschinen
[ . . . ] unserer Lebensweise und unseren Gewohnheiten weitaus angemessener
...").
Zit. bei Yarmolinsky, op. cit., S. 342. Aus dieser Anschauung Turgenevs wird auch erklärlich, warum er in amerikanischen Literaturwerken stets nach einem „spezifisch amerikanischen Gepräge" Ausschau hielt. E r fand es einmal verkörpert in der Physiognomie Mark Twains, in der er „ W ü r z e der E r d e " wahrnahm: „ . . . there is a man who at last conforms to m y notion of what an American ought to b e . " (Zit. bei Seyersted, op. cit., S. 33, 3 6 - 7 ) 91
) „Vesnie v o d y " ( 1 8 7 1 ) ; Werke, V I I I , S. 184.
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dieser Lösung keine bestimmteren Umrisse zu geben; sein Optimismus hinsichtlich Amerikas bleibt auch hier merkwürdig vage. Einflüsse auf das Auswandermotiv in den „Frühlingswogen" scheinen von Berthold Auerbachs „Landhaus am R h e i n " ausgegangen zu sein, einem der großen deutschen Amerikaromane des 19. Jahrhunderts, für dessen russische Übersetzung Turgenev im Jahre 1868 ein wohlwollendes Vorwort verfaßte 9 2 ). Die Bekundungen, die Turgenev in den Briefen an seine amerikanischen Bekannten so freigebig einstreute, sind eher für sein allgemeines Charakterbild als für seine Anschauungen über Amerika relevant. Der immer wieder vorgetragene Wunsch eines Besuchs in der Neuen Welt beschließt viele seiner Briefe als stereotype Höflichkeitsfloskel 93 ). Die wiederholt beteuerte „Sympathie für alles Amerikanische" wurde von Turgenev kaum verhüllt in eine funktionale Beziehung zu der ihm in den Vereinigten Staaten erwiesenen Anerkennung gesetzt 94 ). Auch in manchem von dem, was er im Gespräch mit Professor Boyesen äußerte, mag Turgenev vom Gedanken an die Gunst des amerikanischen Leserpublikums bestimmt worden sein. Hier stellte er sich als alten Vorkämpfer demokratischer Ideale dar, dessen Begeisterung für die amerikanische Republik schon in Studentenjahren „ganz sprichwörtlich" gewesen sei und ihm den Spitznamen „der Amerikaner" gewonnen habe 96 ).
£ ) Amerika in den großen Romanen Dostoevskijs In der Zurückweisung des amerikanischen Staates und seiner Lebensordnung war sich F . M. Dostoevskij mit den Wortführern der russischen Konservativen einig96). Für ihn war die transozeanische Republik die gleiche „verbesserte Ausgabe eines alten T e x t e s " , als die sie in Augenblicken der Depression auch Herzen empfunden hatte. I m Gegensatz zu Herzen blieb Dostoevskijs Auseinandersetzung mit Amerika jedoch auf einen verhältnismäßig engen Gesichtskreis beschränkt, der durch die alles überschattende Frage nach dem Verhältnis Rußlands zum europäischen Westen bestimmt war 97 ). Die politischen Feuilletons des „Tagebuchs eines Schriftstellers" verzeichnen nur wenige beiläufige Erwähnungen Amerikas; ihr Hauptteil gilt der Erörterung von Entwicklungen in Europa oder Asien, dem Kontinent, aus dem sich Dostoevskij Impulse zu einer grundlegenden Erneuerung erhoffte. Amerika dagegen figurierte in seiner Vorstellung nahezu voraussetzungslos als Teil der absterbenden europäischen Ordnung.
92 ) Turgenevs Vorwort zur russischen Auerbach-Ausgabe („Da£a na Rejne") siehe in den Werken, XI, S. 349-5493 ) Siehe die Briefe an H. James sr. vom 26. 7. 1874. und an H. James jr. vom 10. 8. 1874 (Werke [19600.], X X I V , S. 269-70); sowie an Boyesen vom 24. 2. 1874 (Wke., XXIV, S. 200). Gegenüber Boyesen sprach T. von der „idée fixe" eines Besuchs in Amerika und verabschiedete sich mit den Worten „Au revoir in Amerika" (zit. bei Seyersted, op. cit., S. 27-8; nach Boyesens Bericht in „Galaxy"). M ) An H. James jr. ; wie Anm. 93 („I have a great sympathy for all that is American ..."). An Boyesen schrieb T. (Wie Anm. 93) : „I need not tell you how gratified I feel of the sympathy of the American public for my writings; I told you over again ( . . . ) in what high esteem I hold your countrymen." Aufschluß über seine wahren Empfindungen gab Turgenev in einem Brief an seinen Landsmann Ja. P. Polonskij. Dort schrieb er, daß ihn die überschwenglichen Lobreden amerikanischer Kritiker „wohl berührt" hätten, „doch es wäre ( . . . ) falsch zu behaupten, daß mich das sehr ergötzt" (am 5. 3. 1873 ; Werke, X X I V , S. 75). 95 ) Zit. bei Seyersted, op. cit., S. 27 (nach Boyesens Bericht in „Galaxy"). 96 ) Siehe S. 157 (Anm. 30). 9? ) Zu Dostoevskijs „prophetenhafter Geistesfeindlichkeit gegen den Westen" siehe M. Rychner, „Dostojewski und der Westen" in „Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen" (1943), S. 188 ff. Die Anklage gegen den Westen formulierte D. in den Worten des Fürsten Myskin („Idiot", IV, 7).
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Die Vorwürfe, die Dostoevskij gegen den „Materialismus" des Lebens in der Neuen Welt erhob 98 ), entstammten dem bekannten Schlagwortkatalog der Gegner Amerikas. Daß sein Glaube an Amerika in der Tat recht enge Grenzen hatte, ist dem späteren Romanwerk zu entnehmen, in dem er seine Betrachtungen zu diesem Thema in eine bestimmte Richtung vertiefte. Dostoevskij machte es sich hier zur Aufgabe, die Beweggründe von Illusionisten zu analysieren, die ihre Hoffnung auf Amerika gesetzt hatten. Mit den gezeigten Beispielen verwies er augenscheinlich auf die damals immer weiter um sich greifende Auswandererbewegung in Rußland, aus der er auch einiges Anschauungsmaterial zu seiner Darstellung schöpfte. In vier der fünf großen abschließenden Romane —- die Ausnahme ist der „Idiot" — spielt das aus der Literatur bereits hinreichend geläufige Sujet der „Flucht nach Amerika" eine beziehungsreiche Rolle. In „Schuld und Sühne" ist es erstmals gleichsam leitmotivisch mit einem bestimmten Bezirk der seelischen Handlung verwoben. Raskolnikov wähnt nach dem Mord an der Wucherin in Amerika ein rettendes Asyl, um sich Befreiung von seinen Gewissensqualen zu verschaffen. Er äußert die Fluchtabsicht inmitten wirrer, übersteigerter Phantastereien: „Besser ist es schon, richtig zu fliehen . . . weit fort . . . nach Amerika, und auf sie alle pfeifen 9 9 )!" Die Illusion solcher Erwartungen veranschaulicht Dostoevskij an dem Zyniker Svidrigajlov, dem negativen Double des Helden. Seit dem ersten Augenblick seines Auftretens wird Svidrigajlov vom Projekt einer „Reise nach Amerika" begleitet, durch die er die Leere seines Daseins auszufüllen hofft. Er ist jedoch außerstande, den neuen Anfang auch nur zu versuchen. Statt dessen rettet er sich in den Selbstmord, den er eben unter dieser Fiktion einer Amerikareise schließlich vollzieht 100 ). Der von Dostoevskij zuvor mit bewußter künstlerischer Absicht inszenierte Fluchtgedanke enthüllt sich damit als ein zerstörerischer Selbstbetrug. An die Stelle dieser existentiellen Deutung des Amerikamotivs trat in den „Dämonen" ein Bezug auf die Aktualität. Die „Dämonen" waren als Pamphlet gegen russische Revolutionäre und Nihilisten konzipiert; in den Worten Satovs und Kirillovs ließ Dostoevskij folgerichtig die Satire auf ein radikales sozialistisches Experiment in Amerika einfließen, das die Erfahrungen einiger späterer russischer Kolonisten in erstaunlicher Weise vorausnahm. Satov und Kirillov setzen sich mit ihrem Aufenthalt in Amerika ausdrücklich zum Ziel, „am eigenen Leibe das Leben eines amerikanischen Arbeiters zu erproben und auf diese Art in persönlicher Erfahrung an uns den Zustand eines Menschen in dessen schwierigster sozialer Lage zu überprüfen 101 )." Ihr Unternehmen endet nach nur viermonatiger Dauer mit der betrübten Einsicht, „daß wir Russen den Amerikanern gegenüber wie kleine Kinder sind, und daß man in Amerika geboren sein oder wenigstens lange J a h r e mit den Amerikanern zusammengelebt haben muß, um mit ihnen auf gleicher Stufe zu stehen 102 )." Die Erfahrungen, von denen die beiden Beteiligten zum ungläubigen Erstaunen ihrer Zuhörer berichten, sind deprimierendster Art. Sie handeln von Unternehmern, die sie nicht nur ® 8 ) Dieser Vorbehalt schlich sich bezeichnenderweise sogar in Dostoevskijs Poe-Würdigung ein. Im Vergleich mit E . T. A . Hoffmann definiert er dort die Phantastik Poes als „materiell", um hinzuzufügen: „Man sieht, daß er (i.e. Poe) durch und durch Amerikaner ist, selbst in seinen phantastischsten Werken." („Tri rasskaza E . P o " , op. cit., S. 2 3 5 ) " ) „Prestuplenie i nakazanie" (1865); Werke f 1956fr.), V , S. 134. Im Gespräch mit Svidrigajlov ist Raskolnikov später von solchen Illusionen befreit (S. 507). 10
°) „Prestuplenie . . . " , op. cit., S. 2 9 1 ; 5 0 7 ; 5 2 2 ; 5 3 5 - 6 (Selbstmord). ) „ B e s y " (1872), Werke, V I I , S. 147. 102 ) „ B e s y " , op. cit., S. 148. lra
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niederträchtig übervorteilt, sondern auch geprügelt hätten, obwohl sie „arbeiteten und uns quälten, daß wir ganz herunterkamen". Schließlich seien sie so abgestumpft gewesen, daß sie alle Gemeinheiten ruhig über sich ergehen ließen: „ . . . wenn man uns für einen Gegenstand, der eine Kopeke wert war, einen Dollar abverlangte, so zahlten wir nicht nur mit Vergnügen, sondern sogar mit Begeisterung. Wir lobten alles: den Spiritismus, das Lynchgesetz, die Revolver, die Vagabunden . . . 1 0 3 )." Desillusioniert, abgestoßen von der rohen Zivilisation Amerikas, kehren Satov und Kirillov von ihrer Reise zurück, die sie mit so hohen Idealen angetreten haben. Ihre Rückkehr wird allerdings nur möglich, indem Stavrogin ihnen 100 Rubel schickt — eine frappierende Parallele zum Schicksal Martin Chuzzlewits, den eine Geldsendung des Mr. Bevan von ähnlich unglückseligen Abenteuern in Amerika erlöst. Dostoevskij erweckte mit seiner Schilderung den Anschein, als kenne er Amerika aus eigener Anschauung. Es ist inzwischen jedoch belegt worden, daß die Abenteuer Satovs und Kirillovs bis in atmosphärische Details jenes Tatsachenmaterial reproduzieren, welches der Autor dem 1870 in der Zeitschrift „ Z a r j a " veröffentlichten Reisebericht P. Ogorodnikovs entnehmen konnte104). An seiner Intention ließ Dostoevskij wenig Zweifel: Satovs und Kirillovs Darstellung war als eine exemplarische Mahnung an all diejenigen gedacht, in deren Vorstellung sich der Gedanke an die Vereinigten Staaten immer noch mit der Assoziation vom Land der Freiheit und des sozialen Fortschritts verband. Die Fluchtpläne in Kreisen des Narodnifestvo zu Anfang der 1870er Jahre boten zu solchen Belehrungen gebührenden Anlaß. Den Auswanderbestrebungen der radikalen Jugend wurde in den „Dämonen" eine klare Absage erteilt. Für Dostoevskij als überzeugten „Bodenständigen" war die Arbeit an der sittlichen Vervollkommnung des eigenen Volkes eine vordringliche Verpflichtung; schon von dieser Prämisse her mußte ihm die Emigration nach Amerika als eine feige Kapitulation vor der russischen Wirklichkeit erscheinen. Ein Zwischenruf an Satov und Kirillov stellt diesen grundlegenden Einwand klar: die beiden müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie ihr Experiment denn nicht besser zur Erntezeit in einem russischen Gouvernement absolviert hätten 106 ). Dostoevskij bekundete durchaus mitleidiges Verständnis dafür, wenn die „großen Ideen von der freien Arbeit in einem freien Staat" manche „schwachen Köpfe" unter seinen Landsleuten überwältigten 108 ). Dieses Verständnis wich jedoch der Skepsis, wo sich solche Fluchtpläne mit religiösem oder sozialutopischem Missionseifer verbanden 107 ). Im „Tagebuch eines Schriftstellers" läßt er sich einmal abfällig über die Handlungsweise eines ehemaligen russischen Nihilisten aus, der sich nach langen geistigen Kämpfen und weltlichen Nöten eines Tages „plötzlich einen eigenen Glauben ausdachte, auch einen christlichen, doch dafür einen, der ihm allein gehörte". Dieser Mann sei „neulich nach Amerika geflohen, es kann sehr gut sein, loa
) ibid.
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) Den Nachweis erbrachte A . S. Dolinin im Kommentar zu Dostoevskijs Briefen; „ P i s ' m a " (1928ff.), II, S. 491—2. Dolinin belegt, daß D. das Material Ogorodnikovs sogar „in der gleichen komischen T o n a r t " übernahm. — Zu Ogorodnikov vgl. S. 1 5 5 (Anm. 18). — Eine weitere Hypothese steuerte A . Saburov bei. Danach sollen die Auswanderpläne V . S. Pecerins als thematische Vorlage für die in Amerika spielende Episode der „ D ä m o n e n " gedient haben. Generell nimmt Saburov einen Einfluß Peierins auf „sehr wichtige Romangestalten Dostoevskijs" an, ohne jedoch Näheres auszuführen; „ I z biografii V. S. Peierina", op. cit., S. 472, 474. 105
) „ B e s y " , op. cit., S. 148. ) „Odin iz sovremennych f a l ' s e j " in „Dnevnik pisatelja za 1 8 7 3 g o d " ; Werke, V (1886), S. 2 4 1 . D. kommentiert hier die Zeitungsmeldung über die Flucht der Kazaner Gymnasiasten (vgl. S. 1 6 6 ; Anm. 78). l0? ) Auch vom Fourierismus, für den er sich einmal in den Zirkeln Petrasevskijs erwärmt hatte, distanzierte sich Dostoevskij später; das zeigen abschätzige Bemerkungen in seinen Werken, z . B . in „Zimnie zametki o letnich vpeäatlenijach" (op. cit., S. 159), in „ B e s y " (op. cit., S. 424). 1(K1
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um dort den neuen Glauben zu predigen". Seine Tat, die die Erinnerung an das Schicksal des Exzentrikers W. Frej wachruft, wird von Dostoevskij mit einer ironischen Marginalie kommentiert : „Warum soll man ihn nicht nach Amerika lassen ? Nach Amerika zu fliehen ist doch trotzdem liberal 108 )." Eine Anspielung auf die vagen Amerikaprojekte der Radikalen flocht Dostoevskij noch einmal in den „Jüngling" ein; dort schildert er in dem Debattierklub Dergacevs einen damals tatsächlich bestehenden Kreis von Narodniki 109 ). Die frühen Entwürfe des Romans lassen vermuten, daß das Amerikamotiv in der Ausführung des „Jüngling" ursprünglich breiteren Raum einnehmen sollte 110 ). Aus verschiedenen Zeitungsnotizen des Jahres 1874 konnte Dostoevskij Nachrichten über die unglücklichen Erfahrungen russischer Auswanderer in den Vereinigten Staaten entnehmen 111 ). Inzwischen hatten sich jedoch manche Auswanderpläne der Radikalen zerschlagen; der Bezug hatte damit an Aktualität eingebüßt. Indessen kehrt das Motiv der Amerikaflucht —• nach der gleichen Konzeption wie zuvor in „Schuld und Sühne" — in mehreren Szenen des „ J ü n g l i n g " wieder. Gleich Raskolnikov ist auch Arkadij Versilov in Augenblicken der Verzweiflung versucht, Amerika als einen letzten tröstlichen Ausweg anzusehen. Die Flucht dorthin ist ihm einmal Selbstbesinnung, Erfüllung einer unbestimmten großen „ I d e e 1 1 2 ) " ; ein anderes Mal, nach dem Verweis vom Roulettetisch unter Diebstahlsverdacht, winkt sie als das konkrete Asyl, das Sicherheit vor Verfolgung und Schande bringen soll 113 ). In den Worten Versilovs, des Vaters, entlarvt Dostoevskij die Fluchtgaukeleien des Jünglings sogleich als einen Vorwand, sich der Auseinandersetzung mit der Realität kleinmütig zu entziehen 114 ). An anderer Stelle gibt der Vater des Jünglings eine zweite, tiefere Deutung des gleichen Phänomens, die ein zeitloses Motiv aller Amerikaträume bloßlegt: „Den Wunsch zu zerstören mit dem Ziel, seinen Nächsten zu beglücken findest du auch in unserer anständigsten Gesellschaft, denn wir alle leiden unter der Unmäßigkeit unserer Herzen. Nur gibt es bei uns Erzählungen anderer A r t ; daß man bei uns immer nur über Amerika erzählt, ist so eine Leidenschaft, und sogar Leute von der Regierung tun d a s 1 1 5 ) ! " Eine letzte Variation des Amerikathemas unternahm Dostoevskij im Epilog der „Brüder Karamazov". Hier stellt Dmitrij, der älteste der Brüder, Betrachtungen über eine mögliche los ) „Obosoblenie" in „Dnevnik pisatelja za 1 8 7 6 g o d " ; Werke, V ( 1 8 8 6 ) , S. 3 1 5 (zu Frej s. das folg. Kap.). 109 ) „Podrostok" ( 1 8 7 5 ) ; Werke ( 1 9 5 6 f r . ) , V I I I , S. 5 4 (Gespräch Arkadij Versilovs mit dem DergaievAnhänger E . Zverev). uo ) Siehe die Entwürfe in L N , Bd. 7 7 ( 1 9 6 5 ) , S. 7 7 , 9 1 , und den Kommentar dazu von A . S. Dolinin (S. 453). Dolinin entdeckte im „ J ü n g l i n g " nur einen Hinweis auf Amerika; in Wirklichkeit sind es mehrere. ul ) Dolinin führt zwei solcher Meldungen an, die aus „ G o l o s " stammen ( L N , Bd. 7 7 , S. 454). Der dort unter dem 1 3 . 9 . 1 8 7 4 abgedruckte Brief eines russischen Geistlichen aus New York enthielt eine Passage, die russischen Emigranten äußerten beständig bittere Klagen, weil sie sich in ihren Hoffnungen betrogen sähen, und bedauerten von Herzen, daß sie ihr Vaterland verlassen hätten. E r schloß: „ J e d e m Russen kann ich überhaupt nur abraten, nach Amerika überzusiedeln!" 112 ) „Podrostok", op. cit., S. 7 9 . Hier äußert der Jüngling im Gespräch mit K r a f t :
„ N a c h Amerika! Zu sich selbst finden, allein zu sich selbst! Genau darin besteht meine ganze 'Idee'!" 113
) „Podrostok", op. cit., S. 3 6 4 („Womit kann ich beweisen, daß ich kein Dieb bin ? [ . . . ] Soll ich nach Amerika gehen f . . . " ) . 114 ) „Podrostok", op. cit., S. 2 3 6 : „ . . . dich verlangt es nämlich nach einem lauten Leben, du willst etwas anstecken, etwas zerschlagen, dich über ganz Rußland erheben, wie eine Donnerwolke vorüberfliegen und alle in Furcht und Schrecken versetzen, doch dich selbst in den Vereinigten Staaten verbergen." U5
) „Podrostok", op. cit., S. 2 2 8 .
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Auswanderung in die Neue W e l t an, nachdem er vor Gericht des Vatermordes für schuldig befunden worden ist. Verglichen mit den Aussagen der vorherigen Romanhelden klingt aus ihnen bereits eine ungeschminkt realistische Einschätzung der Verhältnisse. Uber sein künftiges A s y l hegt D m i t r i j k a u m noch Illusionen: „ . . . mich ermutigt dabei noch der eine Gedanke, daß ich nicht zum Vergnügen oder zum Glücklichsein entfliehen werde, sondern in Wahrheit doch nur in eine andere Zwangsarbeit, die vielleicht nicht schlechter ist als diese hier. ( . . . ) Ich hasse dieses A m e r i k a bereits j e t z t , der T e u f e l hole es! ( . . . ) W e r d e ich denn die Kulis dort ertragen, wenn sie vielleicht auch ausnahmslos besser sind als i c h ? Jetzt schon hasse ich dieses A m e r i k a ! Mögen sie dort auch alle bis auf den letzten irgendwelche unvergleichlichen Maschinenmenschen sein oder wer weiß was — der T e u f e l hole sie, nicht meine Menschen sind das, nicht nach meiner Seele sind sie! R u ß l a n d liebe ich ( . . . ) . A b e r dort werde ich eingehen 1 1 8 )." Der A u f e n t h a l t in A m e r i k a ist v o n D m i t r i j überdies nur als eine zeitweilige Überbrückung von drei Jahren vorgesehen, u m dann im Schutze der amerikanischen Staatsbürgerschaft unbehelligt nach R u ß l a n d zurückkehren zu können 1 1 7 ). I n seinen Bemerkungen mischte Dostoevskij prononcierte Vorurteile gegen die Amerikaner als gefühllose Geschäftsmenschen — die Bezeichnungen „ M e c h a n i k e r " und „ M a s c h i n i s t " werden in diesem negativen Sinn verwendet — mit einer Parodie auf die immer noch lebendigen Traditionen des romantischen A m e r i k a bildes : „ S o b a l d ich dort mit Gruäenka angekommen bin, werden wir sogleich pflügen, arbeiten, mitten unter wilden Bären, irgendwo möglichst weit w e g und abgeschieden. ( . . . ) Man sagt, es gibt dort bei ihnen irgendwo a m R a n d e des Horizonts noch R o t h ä u t e . N u n , gerade dahin will auch ich, zu den letzten Mohikanern 1 1 8 )." Dostoevskij vermittelte eine originelle literarische Interpretation des A m e r i k a t h e m a s , das seine Zeit bewegte. E r formte das alte F l u c h t m o t i v z u m E n t w u r f einer vielschichtigen p s y chologischen D e u t u n g , deren F ä d e n sich in lockeren Zusammenhang durch die Handlungen seiner großen R o m a n e spannen. Die konkreten Z ü g e der amerikanischen Wirklichkeit haben Dostoevskij wenig beschäftigt; nur einmal, in den „ D ä m o n e n " , machte er in engster A n l e h nung an einen Reisebericht A n s ä t z e zu ihrer Gestaltung. Demgegenüber lag ihm eine Wirklichkeit anderer A r t viel näher: aus seiner Zeit und U m g e b u n g entnahm er das Material zu jener imaginären Scheinwelt A m e r i k a , die den Sehnsüchten der E n t t ä u s c h t e n und Gescheiterten zugrundelag.
F ) Der Amerikabericht G . A . MaCtets I . R u s s i s c h e K o m m u n e n i n N o r d a m e r i k a w ä h r e n d d e r 1870er
Jahre
Seit den 1870er Jahren setzte sich sowohl bei den russischen Konservativen als auch bei ihren oppositionellen Gegnern eine ablehnende H a l t u n g gegenüber den Vereinigten Staaten lle)
„Brat'ja Karamazovy" (1879-80), Werke, X , S. 322-3. Es scheint, daß sich Dostoevskij auch hierin die beabsichtigte Praxis der Revolutionäre zum Vorbild nahm. Ivan Debagorij-Mokrievii, ein Wortführer der Kiever Narodniki, wollte gleichfalls unter dem Schutz der amerikanischen Staatsbürgerschaft aus der Emigration zurückkehren, um ungestört Agitation unter dem Volk zu treiben (V. Debagorij-MokrieviC, „ O t buntarstva k terrorizmu" [1930], I, S. 94). I. L. Linev, Teilnehmer an einem Amerikaprojekt russischer Kolonisten, setzte diese Absicht bei seiner Rückkehr nach Rußland konsequent in die Tat um und wirkte bis zu seiner Verhaftung 1877 unter amerikanischem Namen (nach dem Bericht Korolenkos in dessen „Istorija moego sovremennika"; Werke, VII, S. 334-6). Ein Vorbild könnte Lopuchov aus „Was tun ?" abgegeben haben, dem Cernyäevskij die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten als Tarnung zugewiesen hatte. l l s ) „Brat'ja Karamazovy", op. cit., S. 323. 117 )
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endgültig durch. Trotzdem gab es unter der radikalen Intelligentsija auch damals Gruppierungen, in deren Mitte die alten Amerikaideale uneingeschränkte Geltung hatten. Die Auffassung von Amerika als Laboratorium großer sozialer Ideen, wie sie einst von den Fourieristen propagiert worden war, fand um 1870 unter der russischen Jugend noch einmal begeisterte Anhänger. Es ist nicht ohne Ironie, daß dieser neue Enthusiasmus hauptsächlich von den Kreisen des russophilen NarodniCestvo ausging. Als die „Volksfreunde" ihre Aktivität im eigenen Lande durch die pedantische Polizeiüberwachung allzu sehr behindert fühlten, gaben sie sich der Hoffnung hin, ihre sozialen Experimente durch die Emigration nach Amerika verwirklichen zu können 119 ). Bei der Wahl dieses Exils ließen sie sich sowohl vom Gedankengut und den Erfahrungen der Fourieristen als auch von der Idealisierung der Neuen Welt in den zeitgenössischen Berichten russischer Publizisten leiten 120 ). Die amerikanischen Kommunenprojekte der jungen russischen Radikalen entsprangen der schwärmerischsten Phase in der Geschichte des Narodnicestvo. In ein allumspannendes Gefühl der Philantropie mischte sich bei ihnen die tiefe Liebe zur nationalen Eigenart, die jedoch durch eine in Rußland heraufziehende politische Reaktion in ihrer Entfaltung behindert war 1 2 1 ). Diese Beeinträchtigung lenkte den Blick der „Volksfreunde" auf die Vereinigten Staaten. Mit dem gleichen inneren Feuer, mit dem sie ihren hohen menschheitsbeglückenden Idealen nacheiferten, begeisterten sie sich in einem „amerikanischen Zirkel" für die „amerikanische Lebensweise und die freien amerikanischen Institutionen 122 ". Von der Wirklichkeit des umschwärmten Landes hatten sie kaum die dürftigste Vorstellung. Es wiederholte sich hier die gleiche Erfahrung, die in den 1830er Jahren schon V. S. Peierin hinter sich gebracht hatte, als er sich, ebenfalls unter dem Einfluß des Fourierismus, mit einigen Kameraden spontan zur Emigration in die Vereinigten Staaten aufraffen wollte. Peierins Projekt war hauptsächlich am Kapitalmangel gescheitert; die Enttäuschung seines Ideals, das „ein Leben in gegenseitigem Einvernehmen und Liebe" vorsah, blieb ihm dadurch erspart 123 ). In den 1870er Jahren haben tatsächlich einige russische Kolonisten den Versuch unternommen, in verschiedenen Teilen Amerikas, vor allem im noch unerschlossenen Mittelwesten, landwirtschaftliche Gemeinschaften nach kommunistischen Richtlinien aufzubauen 124 ). Den Anfang machte im Jahre 1868 V. K.Gejns, ein Bruder des Gouverneurs von Kazan', der in der Emigration den Namen William Frej annahm. Frej handelte unter dem plötzlichen An119 ) Zu den Hintergründen dieses Amerika-Enthusiasmus siehe den Bericht von V . K . DebagorijMokrievii, „ O t buntarstva k terrorizmu", I, S. 87 ff. (Kap. „Narodni£estvo i amerikanizm"); weiteren Aufschluß gibt eine Autobiographie des Schriftstellers G. A . Maitet aus den 1890er Jahren („Neizvestnaja avtobiografija G. A . M a i t e t a " ; in „ £ s . rusistika", X I I [1967], 1, S. 36). Ma£tet legt die Betonung weniger auf den Amerikaidealismus der Narodniki als auf ihre Enttäuschung über die politische Reaktion in Rußland. 120 ) Deb.-Mokrievii (op. cit., S. 9 1 - 2 ) erwähnt, daß der Bericht Cimmermans besonders weit verbreitet war. Die Hoffnung auf Amerika wurde aber auch durch Cernysevskij geschürt, dessen Artikel einen verzerrten Begriff von den Möglichkeiten eines landwirtschaftlichen Kommunismus in den Vereinigten Staaten vermittelten; Laserson, op. cit., S. 247—8. 121
) G. A . Maitet charakterisierte die Philanthropie der Narodniki in seiner autobiographischen E r zählung „ D v a m i r a " ( 1 8 8 8 ; Werke [1902], I I I S. 1 8 3 - 4 ) : „ . . . es war eine Zeit, die heiter, voller Ideale und eines jugendhaft aufrichtigen Optimismus war, als man an alles glaubte und es sich so fieberhaft wohl leben ließ. ( . . . ) Wir waren jung, stark, gesund und, was die Hauptsache war, erfüllt von jener allumspannenden selbstlosen Liebe zu jenem Unbestimmten und Unklaren und zugleich irgendwie Bestimmten und Klaren, das in dem Begriff ,Menschheit' beschlossen ist." 122 12S
) Deb.-Mokrievi£, op. cit., S. 9 1 , 95 („amerikanskij kruzok").
) „Zamogil'nye zapiski", op. cit., S. 130. ) Darüber berichtet zusammenhängend Ch. Nordhoff, „ T h e Communistic Societies of the United States" (1875), S. 3 53 ff.; nicht zugänglich war mir ein Artikel von M. Aldanov, „ A Russian Commune in K a n s a s " in R R I V (1944), r, S. 3off. 124
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stürm v o n Ideen Fouriers, Owens und CernySevskijs 1 2 5 ). Über seine K o m m u n e „ L a Progress i v e " in Kansas übte er ein Regime von alttestamentarischer Strenge aus; ihren schließlichen Zusammenbruch konnte er jedoch nicht aufhalten. Der von Frej in russische Journale lancierten Propaganda erlag im Jahre 1875 eine weitere russische Siedlergruppe unter der L e i t u n g v o n N. V . C a j k o v s k i j , der „ i n den amerikanischen Steppen den Gottmenschen realisieren" wollte 186 ). In C a j k o v s k i j s bunt rekrutierter Schar waren Persönlichkeiten des Geisteslebens ebenso wie rastlose Abenteurernaturen vertreten. A u c h sein Unternehmen endete bereits im Sommer 1877 mit der völligen Auflösung der Gemeinschaft und der R ü c k k e h r ihrer heimwehkranken Teilnehmer nach R u ß l a n d . Die Geschichte der russischen Siedlungsprojekte in den Vereinigten Staaten erweist, von welchen geradezu verwegenen Vorstellungen über ihr Gastland die Kolonisten ausgingen und mit welch unglaublichem Dilettantismus sie zu W e r k e schritten. Sicherlich gab es unter ihnen Persönlichkeiten v o n hoher moralischer Integrität, wie zum Beispiel F r e j oder A . K . Malikov, einen Initiator des Unternehmens v o n C a j k o v s k i j ; indessen fehlte ihnen für die zunächst dringend benötigten Fertigkeiten des H a n d w e r k s und der L a n d w i r t s c h a f t nahezu jede Voraussetzung. C a j k o v s k i j s ganze Legitimation bestand in einem chemischen Universitätsdiplom. Darüberhinaus v e r f ü g t e er noch nicht einmal über grundlegende Kenntnisse in der fremden Landessprache. Über A m e r i k a bestand lediglich „ e i n verschwommener Begriff aus Büchern und den Erzählungen einiger bewanderter L e u t e 1 2 7 ) " . Manche der desillusionierten Kolonisten haben nach der R ü c k k e h r in die H e i m a t über ihre Erfahrungen berichtet. Ein ehemaliges Mitglied der K o m m u n e Cajkovskijs, V . I. Alekseev, veröffentlichte mehrere Zeitungsartikel und ein B u c h über Nordamerika. I n Briefen, Notizbüchern und mündlichen Berichten an seine Freunde gab N . V . C a j k o v s k i j seiner tiefen E n t täuschung über die „ b ö s e S t i e f m u t t e r " A m e r i k a A u s d r u c k . A u c h er hob an den Amerikanern den T a n z um das Goldene K a l b , den Dollar, hervor 1 2 8 ). B e a c h t u n g fanden außerdem die B e richte W . Frejs, denen Michajlovskij die Spalten seiner „ O t e i e s t v e n n y e zapiski" öffnete 1 2 9 ), Die Erzählungen der Amerikasiedler haben auch auf die damalige russische Literatur ausgestrahlt. L . N . Tolstoj stand einige Jahre lang sowohl mit V . I. Alekseev als auch mit F r e j und Malikov in engen persönlichen oder brieflichen Beziehungen 1 3 0 ). V o n C a j k o v s k i j ließ sich I. S. T u r g e n e v 1879 in Paris Einzelheiten über dessen amerikanische Erlebnisse berichten. Unter dem Eindruck dieser Begegnung f a ß t e er den Plan zu einem großangelegten W e r k über
125 ) N. V. Rejngardt, „Neobyknovennaja liinost'" (1889), S. 3 (eine Monographie über das Wirken Frejs); zur Geschichte von Frejs Kommune s. die Werke N. V. Cajkovskijs (ed. A. A. Titov; 1929), I, S. 100 ff. 129 ) Titov, op. cit., S. 96; zur Geschichte der Kommune vgl. ibid., S. 118ff., außerdem D. Hecht, „Russian Radicals S. 196ff. Cajkovskij stand unter dem Bann von A. Comtes Philosophie des „Gottmenschentums". 127 ) Titov, op. cit., S. 131. 128 ) Zum Bericht Alekseevs s. S. 155 (Anm. 18). — Die Eindrücke Cajkovskijs wurden gesammelt von Titov; hier: S. 131, 144. 129 ) D. Hecht, „Mikhajlovskij . . . " , S. 272 ff. M. schrieb Ende der 1880er Jahre einen Artikel über das Wirken Frejs in Amerika. l s o ) A. I. Faresov reihte Frej, Malikov undCajkovskij unter die „Vorläufer" Tolstojs ein; in „Semidesjatniki" (1905), S. 291 ff. (Kap. „Predäestvenniki L. N. Tolstogo"). Korolenko vermutete, daß Tolstojs Lehre vom „Nichtwiderstehen dem Bösen" aus der Einwirkung des von den Kolonisten übermittelten Comteschen Gedankenguts zu erklären sei (Werke, VII, S. 240-1); zum Einfluß Malikovs auf Tolstoj siehe auch Korolenkos Schilderung „Velikij piligrim" (Wke., VIII, S. I24ff.). — V. I. Alekseev war vier Jahre lang Hauslehrer von Tolstojs ältestem Sohn; über seine Beziehungen zu Tolstoj siehe Titov, op. cit., S. 15^ff; zum Einfluß Frejs auf Tolstoj ibid., S. 128 f. Vgl. auch P. I. Birjukov, „ L . N. Tolstoj i V. Frey" in „Minuväie gody", Sept. 1908, S. 68—91; sowie M. 0. Geräenzon in „Russkie propilei", I (1915), S. 276—362 (Veröffentl. des Briefwechsels zwischen Frej und Tolstoj).
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die Kluft zwischen Rußland und dem Westen, dessen Held nach dem Vorbild Cajkovskijs als Anhänger einer religiösen Spielart des Sozialismus gestaltet werden sollte 131 ). Einflüsse haben sich auch im Werk Korolenkos niedergeschlagen. Um 1890 traf Korolenko in Perm wiederholt mit A. K . Malikov zusammen, von dessen fesselnder Persönlichkeit er in der „Geschichte meines Zeitgenossen" ein Porträt entwirft 132 ). An anderer Stelle schildert er seine Begegnungen mit einem weiteren ehemaligen Amerika-Siedler, dem unsteten Abenteurer I. L . Linev. Zwischen den Erlebnissen Linevs und den Erfahrungen von Korolenkos Helden Matvej in dem Amerikaroman „Ohne Sprache" gibt es manche Parallele, die vermuten läßt, daß Korolenko den Bericht Linevs als Kern dieses späteren Erzählwerks mitverwertet hat 133 ).
2. G. A. M a i t e t a) Seine Amerikaschriften Unter den Teilnehmern der russischen Kommunen-Projekte in Nordamerika taucht auch der Name des Schriftstellers und Journalisten G. A. Maitet (1851/2-1901) auf. Maitet, ein wolhynischer Volksschullehrer polnisch-englischer Herkunft 134 ), gehörte zu jener Gruppe ukrainophiler Narodniki in Kiew, die anfangs der 1870er Jahre in ihrem „amerikanischen Zirkel" ernsthaft eine Emigration in die Vereinigten Staaten erwogen. Zusammen mit zwei Kameraden wurde er zu einem Vortrupp ausersehen, der die Voraussetzungen für den Aufbau einer Kommune an Ort und Stelle erkunden sollte. Mit diesem Ziel begab er sich im Jahre 1872 nach Nordamerika. Die Expedition nahm einen denkbar unglücklichen Verlauf. Nachdem einer der Gefährten Maitets beim Entladen seines Revolvers versehentlich den dritten Kameraden erschossen hatte, löste sich die Gruppe schnell auf. Maitet schloß sich zunächst für neun Monate der Kommune Frejs in Kansas an, bis ihn der Ekel vor den Bigotterien seiner Mitkolonisten davontrieb. Insgesamt verbrachte er über ein Jahr im Lande; er lernte hauptsächlich den Mittelwesten kennen, wo er sich zuletzt mit allerlei Gelegenheitsarbeiten durchschlug, ohne recht Fuß zu fassen. Ende 1873 gelang die Rückkehr nach Rußland. Unter den Narodniki war inzwischen die Einrichtung von landwirtschaftlichen Kommunen zugunsten der revolutionären Agitation im Volke zurückgestellt worden. Von den früheren Amerikaplänen war keine Rede mehr. Mit der Niederschrift seiner Erlebnisse begann Maitet wahrscheinlich noch während seines Aufenthaltes in Amerika; das Ergebnis waren mehrere Erzählungen und ein Zyklus literari-
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) A . Yarmolinsky, „Turgenev . . . " , S. 3 3 3 - 4 .
) „Istorija moego sovremennika"; Werke, V I I , S. 174fr. ( „ A . K . Malikov"). ) „Istorija moego sovremennika"; ibid., S. 3 3 1 ff. („Epopeja I. L. Lineva"). 134 ) Einer von MaCtets Urahnen war der 1709 bei Poltava gefangene englische Offizier in schwedischen Diensten Manspead. — Vieles an der Biographie Ma£tets bleibt im Dunkel. Nach einer kürzlich aufgefundenen Autobiographie, die Maftet zu Anfang der 1890er J a h r e verfaßte, muß selbst das bisher allgemein akzeptierte Geburtsjahr 1 8 5 2 in Zweifel gezogen werden („Neizvestnaja avtobiografija . . . " , op. cit., S. 3 5 - 6 ; Maitet gibt darin 1 8 5 t als sein Geburtsdatum an). Sicherlich lagert noch manches Material über Maitet unveröffentlicht in sowjetischen Archiven; siehe die Hinweise in „ L i i n y e archivnye fondy . . . " , op. cit., I, S. 439, und in „Central'nyj gos.-yj archiv . . . " , op. cit., S. 2 8 7 ; weitere Literatur über Maitet vgl. in „Istorija russkoj lit.-y X I X v e k a " (ed. K . D. Muratova), S. 4 4 9 - 5 0 . Als Quelle meiner Darstellung dienen das erwähnte Buch von Deb.-Mokrievid, der selbst zu dem Kiever Kreis der Narodniki zählte (op. cit., S. 104—5), der biographische Abriß von V . A . Gol'cev in Maitets Werken ( 1 9 0 2 ; Bd. X I I , S. V f L ) , der Artikel von S. V(engerov) in der Enzyklopädie von Brokgauz/ Efron, ( X X X V I [1896], S. 828), die Einführung von T. G. M a i t e t - J u r k e v i i , einer Tochter des Schriftstellers, in „Izbrannoe" (1958), S. 3 f f . ; außerdem Maitets Angaben in der erwähnten Autobiographie und in seinen Erzählungen. Eine Arbeit von S. M. Evenson („Pamjati M a i t e t a " , 1 9 3 7 ) blieb ungedruckt und war mir daher nicht zugänglich. 133
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scher Skizzen 1 3 5 ). Der Erfolg dieser Veröffentlichungen, die seit 1874 in den Zeitschriften, seit 1889 in verschiedenen Sammelausgaben erschienen 136 ), bestimmte M a i t e t zur Schriftstellerlaufbahn. Durch Erzählungen aus dem vertrauten Milieu Polens, der Ukraine und Sibiriens versuchte er später, nach der Rückkehr von einer längeren Verbannung, an sein vielversprechendes Debüt anzuknüpfen. Gegenüber der bis dahin vorliegenden russischen Amerikaliteratur zeichnen sich die Schilderungen Maitets auf den ersten Blick durch eine ungewöhnliche Materialfülle aus. Die Grundsituation des Werkes ist das Erlebnis der Emigration, eine Erfahrung, die angesichts der angewachsenen Zahl russischer Auswanderer damals einen hochaktuellen Bezug hatte. D e m autobiographischen Hintergrund trug der Autor zumeist durch die Wahl der „ I c h - " E r z ä h l u n g Rechnung. Manche Stationen seiner eigenen Abenteuer in den Vereinigten Staaten sind anhand dieser Schilderungen exakt rekonstruierbar: zum Beispiel der Aufenthalt unter den exzentrischen Kolonisten der F r e j - K o m m u n e („Die Gemeinschaft F r e j s " ) oder der tödliche Unfall des Kameraden mit der sich anschließenden Gerichtsverhandlung („Zwei Welten"). Dagegen scheitert Maitet, wo er vom „ I c h " - S c h e m a abwich und die Transformation seiner persönlichen Eindrücke in die realistische Romanform anstrebte. Weder in seinem Auswandererroman („Der Verlorene Sohn") noch in der Erzählsatire über die moderne amerikanische Gesellschaft („Schwarze Undankbarkeit") gelang es ihm, die vorgegebene kritische Distanz überzeugend einzuhalten. Die Heterogenität des von Mactet vorgelegten Materials macht es einigermaßen schwer, sein Amerikabild zuverlässig zu bestimmen 1 3 7 ). Besonders die später verfaßten Erzählungen entziehen sich einer einheitlichen Betrachtung durch die Widersprüchlichkeit ihrer Aussagen. Dem R o m a n „ D e r Verlorene S o h n " gab Mactet weitgehend den Charakter eines Rechenschaftsberichtes. Aus einer Rückschau während der sibirischen Verbannung in Iäim machte er sich hier daran, die Motive seines einstigen Amerikaunternehmens noch einmal rational zu durchdringen. E r schuf das erste Werk der russischen Literatur, das das Motiv der E m i g r a tion in die Neue Welt zum Gegenstand einer durchgehenden Erzählhandlung macht. I n der Gestalt des Helden, des ukrainischen Schullehrers Andrej Z a g a j n y j , vermittelt M a i t e t die Exemplifikation seines eigenen amerikanischen Abenteuers. Nicht ohne Selbstkritik schildert
135 ) Auch hier sind die Angaben widersprüchlich; Maitets Tochter berichtet, ihr Vater habe mit der literarischen Arbeit noch in Amerika begonnen (op. cit., S. 8). Der Autor selbst spricht in seiner Autobiographie davon, daß er die Niederschrift seiner Eindrücke erst nach der Rückkehr in Angriff genommen habe (op. cit., S. 36). — Maitets Amerikawerk umfaßt im einzelnen den 1874—5 geschriebenen Zyklus „ P u t e v y e kartinki amerikanskoj zizni" mit den Titeln „Prerija i pionery", Gorozane prerii", „ V skole", „Spirity i duchi", „ O b s i i n a F r e j a " ; zu etwa gleicher Zeit entstanden die Erzählungen „Poloska neba" und „ S t r e k o z a " . Amerikanische Sujets behandeln weiterhin die später verfaßten Erzählungen „ B l u d n y j s y n " (1882), D v a mira", „ B o e v a j a n o £ ' " (beide um 1888), „Cernaja neblagodarnost'" (1889), sowie der Erlebnisbericht „ N ' j u J o r k " (revidierte Fassung des Jahres 1889; zuerst 1875 erschienen unter dem Titel „ I z putevych zametok russkogo pereselenca v Ameriku"). Die genannten Werke dienen als Grundlage der folgenden Interpretation. 136 ) Zuerst erschienen die Reiseaufzeichnungen in der „ N e d e l j a " ( 1 8 7 4 ; ab Nr. 47/8). In Moskau erschien 1889 der erste Sammelband unter dem Titel „ P o belu svetu. Oierki amerikanskoj zizni". Das Gesammelte Werk Maitets wurde 1902 in Kiev (ed. Gol'cev; 12 Bde.) und 1 9 1 1 - 1 3 i n SPb. (ed. D. P . Sil'ievskij; 10 Bde.) herausgegeben. Meine Zitate stammen sämtlich aus der erstgenannten Edition. Das Gesamtwerk Maitets ist bibliographisch erfaßt im 10. Band der Sil'Cevskij-Ausgabe („Bibliografifeskij ukazatel' k soiinenijam G. A . M a f t e t a ; S. 4 3 9 - 5 1 ) . 13 ' ) Dem Amerikabericht Maitets wurde, soweit mir bekannt ist, von sowjetischer Seite bisher nur eine Untersuchung zugedacht: A . Z. Zavoronkov, „ G . A . Maitet •— talantlivyj kritik amerikanskogo kapitalizma" in „ U £ . zap. Nov.-ogo Gos.-ogo Ped.-ogo Fak.-ta; ist.-fil. fakultet", I I (1957), S. 1 1 9 - 1 3 2 . Hier wird Maitet anhand einer manipulierten Zitatenauswahl als eingeschworener Feind der Vereinigten Staaten abgestempelt. Ansätze zu einer sachlichen Diskussion des Themas kann das Pamphlet Z a voronkovs kaum bieten.
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er, wie Zagajnyj aus weltfremdem Idealismus, Abscheu vor der erstarrten Schulpraxis seiner Umgebung und Indifferenz gegenüber den Problemen seiner ukrainischen Heimat in die Emigration nach Amerika ausweicht. Eine allmähliche Läuterung des Helden vollzieht sich durch die Konfrontation mit der amerikanischen Wirklichkeit, die von Maitet mit überwiegend abstoßenden Farben koloriert und von Andrej als „Zwangsarbeit" empfunden wird. Am Ende des Romans steht die Rückkehr nach Rußland als Abschluß der jugendlichen Irrungen Andrejs. Hier gestaltete der Autor einen entscheidenden Abschnitt seiner eigenen geistigen Entwicklung, der ihn auch in anderen Werken immer wieder beschäftigt hat 138 ). Das eigentliche Kernstück der amerikanischen Schilderungen Mactets bleibt die Folge seiner „Reisebilder". Mit einem unbefangenen Erzähltalent, das er später kaum wieder erreichte, beschreibt Maitet darin einen geschlossenen Lebenskreis der damaligen nordamerikanischen Zivilisation: die Pionierzone des Mittelwestens. Man merkt es den Erzählungen des Autors wohltuend an, daß er mit diesem Bereich der amerikanischen Szene aus eigener Anschauung gut vertraut war. In der Form wagte er bewußt die Abkehr vom traditionellen Schema des Reiseberichtes („Puteäestvie"). Seine Bilder fügen sich zu einer losen Kette feuilletonistischer Impressionen, die, obwohl mit manchen philologischen Exkursen ausgestattet, starre Gegenstandsschilderungen fast völlig vermeiden. In Rußland war die Szenerie des amerikanischen Westens bisher nur aus der fiktiven Abenteuerliteratur, namentlich den Erzählungen Bret Hartes und Mayne Reids bekannt. Maitet schildert die Lebensweise der Pioniere aus einer realistischen Perspektive, die dennoch das persönliche Erlebniskolorit nicht vermissen läßt. Er stellt das alltägliche Ringen der Farmer um die Urbarmachung ihres Neulands aus anschaulicher Nähe dar, beschreibt Einzelheiten wie das Interieur von Farmhäusern, vermittelt einen Begriff von den vielfältigen unscheinbaren Widerständen, denen die Siedler bei ihrem Existenzkampf ausgesetzt waren. Sein Bericht ist auch als Zeitdokument von Bedeutung: in ihm ist die letzte Pionierphase in der Geschichte der amerikanischen Westbesiedlung fixiert139). Maitet belebt seine Szene mit einer Folge origineller Charaktere, den „Helden des Westens" („molodcy zapada"), unverfälschten, einfachen, doch herzensguten Menschen, die ganz von den harten Lebensgesetzen ihrer Umwelt geprägt sind. Viele von ihnen werden als erstaunlich gebildet und bewandert in allen möglichen Wissenschaften vorgestellt. Das ausgeführteste Porträt in diesem Zusammenhang gilt dem Zeitungsverleger Mr. Bluepoint, einem hochangesehenen Bürger des Präriestädtchens M. Bluepoint strahlt den ungebrochenen Optimismus des typischen „Yankee" aus; doch in seiner Freizeit widmet er sich hingebungsvoll der Lektüre lateinischer Klassiker140). An der Lebensweise der amerikanischen Mittelwestler findet Maitet einen eigentümlichen Reiz. Er ist angesteckt von der Liebe „zur vollen Freiheit der Prärie, wo es noch keine festgelegten Formen, keine Kodices" gibt und das Gesetz sich im Willen jedes einzelnen verkör-
138 ) „ B l u d n y j s y n " ; in „Izbrannoe", S. 278 ff.; 3 5 2 („katorga"). Ähnliche Erwägungen stellt Maitet in ,,Dva m i r a " an, wo er seine Emigration als „jugendlichen Ü b e r m u t " wertet, „ f ü r den wir grausam und hart bezahlten" (Wke., I I I , S. 1 8 5 - 6 ) . In „Poloska neba" schreibt er (Wke., II, S. 224): „ I c h fuhr ohne zu wissen, was ich mit mir selbst anfangen sollte, wo ich meine Kräfte zu Hause anlegen sollte, erfüllt bald von Verzweiflung, bald von Pessimismus." Aus der gleichen Stimmung heraus wollte wenig später Cechov „nach Amerika oder irgendwohin weit fort, weil ich mir selbst entsetzlich zuwider w a r " ; Brief vom 6. 4. 1 8 9 2 ; Werke, X V , S. 364. 139 ) U m 1890 war die Kolonisation der großen Ebenen im Mittelwesten abgeschlossen; vgl. Morison/ Commager, op. cit., I I , S. 87 ff. 140 ) „ G o r o i a n e prerii"; Werke, I I , S. 79ff. A n einer Stelle tritt Bluepoint mit einer Erläuterung seines „ Y a n k e e t u m s " hervor (S. 95):
„ I c h bin ein Yankee reinsten Wassers, Sir! Und wir geben uns nicht mit halben Sachen zufrieden . . . Nein! W i r haben keine Angst voranzugehen und, zum Teufel, wir fürchten uns vor nichts! Wir sind ein junges und neues Volk . . . hinter uns ist nichts, was uns aufhalten könnte."
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pert 141 ). Aus den immer wieder eingestreuten Präriebildern spricht die Faszination, die der Autor gegenüber dieser Landschaft und ihren Bewohnern empfunden haben muß 142 ). Seine Achtung vor der natürlichen Lebensweise der Pioniere läßt ihn selbst Auswüchse wie das Lynchen entschuldbar erscheinen. Dagegen sieht er in den Sitten des amerikanischen Ostens nur Verderbnis, Dekadenz und Verrat an der „althergebrachten Einfachheit 143 )". In den späteren Romanen hat Mactet diesen Antagonismus der amerikanischen Zivilisation mit Überspitzungen, die die Grenze zur Farce streifen, weiter analysiert. Bemerkenswerte Einblicke gelingen Mactet in die demokratische Struktur des Pionierlebens. Als Grundzug des Wirkens der Westler und Voraussetzung aller ihrer großartigen Kolonisationsleistungen hebt er die überall herrschende „unbedingte Freiheit" hervor 144 ). Verwundert konstatiert er das Fehlen jeglicher Klassenschranken: selbst die Mägde in den Häusern der Honoratioren hätten eher den Status von Familienmitgliedern als den von Untergebenen 146 ). Auch zwischen Arbeiter und Dienstherr bestehe ein Verhältnis grundsätzlicher Gleichheit. Hochgestellte Persönlichkeiten wie Professoren, Ärzte oder Rektoren würden sich unbedenklich zu niedrigsten Handreichungen bereit finden 148 ). Es ist verständlich, wenn der Narodnik Mactet an der hohen Arbeitsmoral der Pioniere besonderen Gefallen findet. Daneben nimmt er aber noch manche anderen Symptome einer lebendigen Demokratie wahr: den überdurchschnittlichen Bildungsstand unter der Bevölkerung und das rege politische Interesse, das sich im täglichen Studium der Presse und einer steten Beteiligung an allgemeinen Debattierabenden niederschlage. Begeistertes Lob spendet Maitet dem amerikanischen Erziehungssystem, das er in einem Artikel seiner „Reisebilder" ausführlicher behandelte. Mit einem Seitenblick auf die betrüblichen Verhältnisse in Rußland schwärmt er, daß die Schule in den Augen der Amerikaner ein „heiliger O r t " sei, „eine Angelegenheit des nationalen Kults und der Ehre 147 )". Dieser umfassenden Anerkennung Maitets stehen eine Reihe kritischer Bemerkungen gegenüber, die jedoch zumeist ausgefallene Randerscheinungen des Pionierlebens betreffen, beispielsweise den religiösen Eifer von Sektierern oder die kuriose Neigung einiger Fanatiker zu spiritistischem Humbug. Bedenken werden überdies wegen der leichtfertigen Ehemoral in den Vereinigten Staaten vorgebracht 148 ). Demgegenüber beobachtete Maitet eher mit Belustigung als Tadel die übertriebene Ehrfurcht des Landes vor den großen Männern seiner Geschichte, sowie einen überall blühenden Reklamerummel, in dem die Amerikaner als „große Könner" präsentiert werden 149 ). Ohne falsche Heroisierung oder Sentimentalisierung wird die prekäre Lage der Indianer beurteilt. Maitet erkennt die Hoffnungslosigkeit ihres Kampfes gegen die „ungeheuer umformende zivilisierende Kraft" der amerikanischen Siedlungsbewegung, wendet sich aber gleichzeitig gegen die weißen Kolonisatoren wegen der hinterhältigen Taktik ihres Vorgehens150). Insgesamt verraten die „Reisebilder" eine wohlwollende Einstellung ihres Autors gegenüber Amerika und seine besondere Voreingenommenheit für die Lebensweise des Mittelwestens. 141
) „Prerija i pionery"; Werke, I I , S. 16. ) Z . B . in „Prerija i pionery", op. cit., 5ff. („Wunderbar herrlich ist die Prärie! Nicht umsonst sagt man, wer dort auch nur eine Zeitlang gelebt hat, wolle nicht mehr in die Stadt zurückkehren."); ibid., S. 225 („Poloska neba"); B d . I I I , S. 54.-5 („Cernaja neblagodarnost'"); „Izbrannoe", S. 3 7 2 ( „ B l u d n y j s y n " ) u.a. 142
143
) ) 146 ) 146 ) 147 ) 144
Die Worte Bluepoints in „Gorozane prerii"; op. cit., S. 79. „Prerija i pionery", op. cit., S. r i . „Gorozane prerii", op. cit., S. 8 5 - 6 . ibid., S. 7 0 - 1 . „ V skole"; Werke, I I , S. ro2, 1 1 9 .
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) In der Erzählung „ S t r e k o z a " ; Werke, II, S. 188. ) „ObSiina F r e j a " ; Werke, I I , S. 147. 15 ° ) Siehe insbes. „Prerija i pionery"; op. cit., S. 13—4, und „ G o r o i a n e Prerii"; op. cit., S. 91 ff. (über das Elend der halbzivilisierten Indianerstämme). 149
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E i n Bekenntnis zu kritischer Darstellung h a t t e M a i t e t gleich zu B e g i n n seines Berichtes abgelegt: „ I c h bin jedoch weit d a v o n entfernt, D i t h y r a m b e n auf A m e r i k a zu dichten. A u c h dort k a n n m a n viele dunkle Seiten u n d viele Mängel finden u n d über sie ganze B ä n d e schreiben, obgleich auch gesagt werden muß, daß bei der vollständigen Publizität u n d der immer weiter wachsenden B i l d u n g der B ü r g e r diese M ä k e l und dunklen Seiten f ü r A m e r i k a k a u m schrecklich s i n d 1 5 1 ) . " I n den „ R e i s e b i l d e r n " hat Mactet dieses kritische P r o g r a m m mit möglichster K o n s e q u e n z einhalten können. E s ist ihm hier weithin gelungen, sich leichtfertiger Generalisierungen zu enthalten. Selbst w o ihn U n b e h a g e n überfällt — wie einmal angesichts des l y n c h w ü t i g e n ,Mob' — bleibt er um Verständnis b e m ü h t 1 5 2 ) . N u r an einer Stelle läßt er sich zur A u f g a b e seiner kritischen Distanz verleiten, indem er im Widerspruch zu manchen vorherigen Diagnosen unter den A m e r i k a n e r n „ i n s g e s a m t , in der M a s s e " „ D i l e t t a n t i s m u s u n d eine armselige philosophische und sogar politische B i l d u n g " feststellen will. 1 5 3 ) Hier bewegt ihn U n m u t über die Machenschaften amerikanischer Spiritisten, deren W i r k e n er übertreibend als eine G e f a h r f ü r das öffentliche L e b e n in den Vereinigten S t a a t e n anprangert. E i n e zunehmende Verzerrung der P e r s p e k t i v e ist das M e r k m a l aller späteren amerikanischen Schilderungen Mactets. Besonders in den beiden R o m a n e n ist die Frische der E i n d r ü c k e sichtlich v e r b l a ß t ; o f t schöpft der A u t o r weniger aus seiner persönlichen E r f a h r u n g als aus d e m F o n d zeitüblicher Klischees. Hier t r a t zweifellos auch ein ausgeprägtes R e s s e n t i m e n t der N a r o d n i k i zutage, deren ursprünglicher E n t h u s i a s m u s sich schon seit Mitte der 1 8 7 0 e r J a h r e in eine radikale G e g n e r s c h a f t zu A m e r i k a verkehrt h a t t e . Sowohl i m „Verlorenen S o h n " als auch in der E r z ä h l s a t i r e „ S c h w a r z e U n d a n k b a r k e i t " verlegte M a i t e t die Szenerie seiner H a n d l u n g vornehmlich in den zivilisierten Osten der V e r einigten S t a a t e n . D a s B i l d , das er v o n diesem Lebenskreis zeichnet, entwirft eine übersteigerte K a r i k a t u r der Wirklichkeit. E s zeigt eine W e l t v o n Absonderlichkeiten, in der wirtschaftliche K r i s e n , krasse soziale Gegensätze, W u c h e r , A u s b e u t u n g u n d hemmungsloses S p e k u l a n t e n t u m dominieren. A l s Regisseure dieser scheinbaren A n a r c h i e agieren durchtriebene kapitalistische Scharlatane, wie der Warenhausbesitzer Mr. S m a r t b o y aus der „ S c h w a r z e n U n d a n k b a r k e i t " . S m a r t b o y entpuppt sich als C h a r a k t e r v o n k a u m zu übertreffender I n f a m i e ; sein D e n k e n , F ü h l e n u n d H a n d e l n werden allein v o m Streben nach d e m Dollar beherrscht. A n N i e d e r t r a c h t steht ihm seine k r a n k h a f t geltungssüchtige, hysterische G a t t i n nur wenig nach 1 6 4 ). I n den beiden S m a r t b o y s verkörperte M a i t e t die K r a n k h e i t s s y m p t o m e des amerikanischen Ostens. D i e H o f f n u n g , daß die Verderbnis seiner Zivilisation durch den „ g e s u n d e n " Pioniergeist des Westens zu heilen sei, klingt nur noch v a g e nach. Z w a r spielt der Gegensatz zwischen den „ H e l d e n des W e s t e n s " u n d den hochmütigen „ K u l t u r t r ä g e r n " aus d e m amerikanischen Osten w i e in vielen W e r k e n Mactets auch in der „ S c h w a r z e n U n d a n k b a r k e i t " eine zentrale Rolle, doch es ist dies eine P o l a r i t ä t , die mehr in ihren trivialen Vordergründen als in den Wurzeln gezeigt w i r d . D i e charakterliche P o t e n z der Westler erschöpft sich hier in g u t m ü t i g e r T r o t t e l i g k e i t ; die K r a f t zu einer E r n e u e r u n g ist v o n ihnen k a u m mehr zu erwarten. I m „ V e r lorenen S o h n " h a t t e der A u t o r zuvor darauf hingewiesen, worin f ü r ihn der kardinale Mangel
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) „Prerija i pionery", op. cit., S. 10—1. ) „Prerija i pionery", op. cit., S. 18ff., 52fr. („ . . . man muß sagen, daß es nichts Schrecklicheres und Resoluteres als den Mob gibt." S. 18). Andererseits verteidigt M. die Lynchjustiz, weil sie „abgesehen von seltenen, zufälligen Ausnahmen immer gerecht" sei („Prerija i pionery", op. cit., S. 61). 153 ) „Spirity i duchi"; Werke, II, S. 135-6. 154 ) „Cernaja neblagodarnost'"; Werke, I I I , S. 91—5. In dieser Erzählung geht es um die Überführung des gefangenen Indianerhäuptlings „Cernyj J a s t r e b " aus dem Westen nach Washington. 152
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dieses Pionierimpulses lag: im Fehlen eines tieferen geistigen Gehalts und dem Vorwiegen der praktisch-pragmatischen Ausrichtung 1 5 6 ). In den Tiraden und Unterstellungen der beiden Romane ließ Mactet einer Aversion gegen die Lebensweise des amerikanischen Ostens ungezügelten Lauf. Sein Blick mag durch die bitteren Anfangserfahrungen getrübt sein, denen er selbst einst bei der A n k u n f t in New York unterworfen war 166 ). Wie auch von russischen Kritikern bald bemängelt worden ist, reichte des Autors Vertrautheit mit dieser Seite des amerikanischen Lebens jedoch keineswegs aus, um eine Satire solch ungeheuerlichen Ausmaßes zu rechtfertigen 1 5 7 ). Der polemische Ubereifer verleitete Mactet zur Überschätzung zeitbedingter Phänomene; die unter der Administration Präsident Grants vorübergehend weitverbreiteten Mißstände der Depression und Korruption spielen namentlich im „Verlorenen Sohn" eine beherrschende Rolle. Das Engagement des Autors m u ß t e sich ebenso nachteilig auf die künstlerische Seite der Romane auswirken, vor allem auf die Charakterzeichnung, die seit jeher als eine der augenfälligsten Schwächen Mactets gebrandmarkt worden ist 158 ). Mactet stufte seine Akteure allzu schematisch entweder als gutmütige Westler oder bösartige Oststaatler ein. Zwischen diesen beiden Extremen gab es für ihn weder Berührungspunkte noch Nuancen, wie er sie in der früheren Erzählung „ E i n Himmelsstreifen" wenigstens andeutungsweise sichtbar zu machen versucht hatte 1 5 9 ). Bei der Zeichnung amerikanischer Charaktere waren ihm offenbar enge Grenzen gesetzt; lediglich die Frauengestalt aus der Erzählung „Die Libelle", zugleich das erste feststellbare P o r t r ä t einer Amerikanerin in der russischen Literatur, ragt über den Durchschnitt heraus 160 ). Unter ähnlichen Mängeln wie die genannten R o m a n e leiden die beiden zuletzt verfaßten Erlebnisschilderungen Mactets. Die „ N a c h t des Gefechts" geht noch einmal kritisch mit den Kolonisationspraktiken amerikanischer Pioniere gegenüber den Indianern ins Gericht. Die „Helden des Westens", Akteure der blutigen Kriegszüge in indianische Territorien, werden zu diesem Anlaß als Marionetten in den H ä n d e n gewissenloser Demagogen dargestellt. Mactet rekonstruierte hier den früheren, von Tocqueville hergeleiteten Vorwurf, in jedem Amerikaner sei „die E h r f u r c h t vor der Mehrheit angelegt 1 6 1 )". I n den eingewanderten Deutschen, gegen die er ein altes Ressentiment hegte, wollte er Bestrebungen erkennen, sich diese Schwäche der Amerikaner für ihre zwielichtigen Ziele nutzbar zu machen 1 6 2 ). 15S
) „ B l u d n y j s y n " , op. cit., S. 3 8 1 . Hier erläutert ein amerikanischer Arzt im Gespräch mit Andrej: „ D e n R a u m zu besiegen ( . . . ) , Wüste, rohe Natur zu unterwerfen und zu bearbeiten, das ist es, was das Leben auf unsere Fahnen geschrieben hat. Deshalb brauchen wir Hände, immer nur Hände ( . . . ) . Bei euch ist das anders; bei euch gibt es nur noch wenig Raum. Bei euch ist vor allem Geist nötig."
158
) Diese ersten Eindrücke schildert er ohne überspitzten Groll in der Skizze „ N ' j u J o r k " ; „Ibranznoe", S. 56ff.; siehe außerdem „ B l u d n y j s y n " , op. cit., S. 3 4 9 ® . 157 ) In einem Nekrolog stellte A . Nalimov fest, daß es Mactet „ z u m Lachen über die Amerikaner vielleicht der Bekanntschaft mit den Feinheiten, Kleinigkeiten und Einzelheiten der amerikanischen Lebensweise ermangelte"; in „Obrazovanie" X I (1902), S. 108. 158 ) Die stereotype Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere Mactets kritisierte u. a. A . M. Skabicesvkij; „Istorija novejsej russkoj literatury" (1891), S. 408. — Besonders ungereimt fallen jene Passagen der „Cernaja neblagodarnost'" aus, wo Maitet in die Psyche des gefangenen Indianers „ C e r n y j J a s t r e b " einzudringen vorgibt, um durch dessen Worte das Treiben der Amerikaner ringsum zu verurteilen. E r verwendet hier die bekannten Klischees der Cooperschen Tradition. 159 ) „Poloska neba", op. cit., S. 2 2 4 8 . Darin schildert M. den wesensmäßigen Gegensatz zwischen dem „eifrigen Methodisten" Simson aus Massachusetts und Jingels, einem unverfälschten Westler. 16 °) Zur „ E n t d e c k u n g " der amerikanischen Frauengestalt bei MaCtet s. Kiparsky, op. cit., S. 163 fr. M1 ) „ B o e v a j a n o £ ' " ; Werke, I I I , S. 16. 182 ) Seine Eindrücke über Deutschland hielt M. in dem Bericht „ G e r m a n i j a " fest („Izbrannoe", S. 33ff.). In „ B o e v a j a n o t ' " tritt ein demagogischer Hanswurst deutscher Abstammung mit dem sprechenden Namen „ M i k e P " auf.
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Demgegenüber zeigt die Erzählung „Zwei Welten" das Milieu des amerikanischen Mittelwestens in einem diffusen Licht der Idealisierung. Hier ist Maitet ganz von dem Bestreben geleitet, ein Hoheslied auf die Menschlichkeit der „energischen, kühnen, auf ihre Art stolzen Helden des Westens" zu dichten 163 ). Ausdrücklich wendet er sich gegen alle jenen „traurigen" Zeitungsberichte in seiner Heimat, in denen vom Yankee als „gefühllosem kapitalistischem Spitzbuben" die Rede sei, eine Auffassung, der er selbst einmal irrigerweise angehangen habe 164 ). Beim Erzählen wird Maitet derart von sentimentalen Erinnerungen übermannt, daß der Handlungsgehalt der Episode nicht selten von einem Schwall gefühlsdurchtränkter Phrasen erstickt zu werden droht. Nicht ohne Grund haben sich die Kritiker Mactets gerade dieses Werkes angenommen, das in einem so merkwürdigen Kontrast zu der etwa gleichzeitig verfaßten „Schwarzen Undankbarkeit" steht 166 ).
b) Bedeutung und Wirkung von Mactets Amerikabild Schon wegen der Zeitbedingtheit seines schriftstellerischen Wirkens konnte es Maitet kaum vergönnt sein, revolutionierende Neuerungen des russischen Amerikabildes durchzusetzen. Der Höhepunkt seines kurzweiligen Ruhmes war in den 1880er Jahren erreicht. Auf zahllosen Vortragsreisen stellte er sich damals seinem Leserpublikum vor; als Mitarbeiter bedeutender Journale entfaltete er eine emsige literarische Tätigkeit. Zu seinem Freundes- oder Bekanntenkreis zählten Cechov, Korolenko, Uspenskij, Gor'kij und A. I. Ertel'. 1 6 6 ) Unter seinen Verehrern findet man auch Cernyäevskij, der ihn in einem Brief ein „sehr sympathisches Talent" nannte 167 ). Indessen traten gegen Maitet schon früh prominente Kritikerpersönlichkeiten auf, unter ihnen Skabicevskij, K . Golovin und S. A . Vengerov. Ihre Vorbehalte richteten sich besonders gegen das unerträgliche Pathos und die schematisierte Darstellungsweise in seinem Werk 168 ). Auch wohlwollende Rezensenten, wie V. A. Gol'cev, bemerkten die fatale Neigung Mactets zum Melodrama 169 ). Angesichts der Popularität des Autors trotz aller evidenter Mängel erklärteCechov ihn resignierend zum Inbegriff eines degenerierten literarischen Zeitgeschmacks 170 ). Allerdings sollte Maitet das Überleben des eigenen Ruhms nicht erspart bleiben. Bereits bei
16S
) „ D v a m i r a " ; Werke, I I I , S. 202. ) ibid., S. 183. 185 ) Eine kennzeichnende Passage aus „ D v a m i r a " (op. cit., 2 1 5 ) :
1M
„ . . . wir verstanden, wieviel tiefe Humanität, wieviel Zartgefühl — nicht bedingter, kleinkarierter, vorgetäuschter Liebenswürdigkeit, sondern just Zartgefühl, wieviel an Liebe, einfacher, menschlicher Liebe, und nicht zur Schau gestellter Süßlichkeit sich unter dieser äußerlichen Eishaut (i.e. des 'Yankee') verbarg! W i r verstanden und schämten uns." Korolenko, der die gleiche Geschichte von I. L . Linev „einfacher und weitaus klarer" hörte, spricht von den bei Maitet „eigentümlichen Übertreibungen" („Istorija moego sovremennika"; W k e . , V I I , S. 333). MaCtets Kritiker in der „ N e d e l j a " (Nr. 25 [1889], S. 805) nennt die Erzählung „verdorben durch eine trockene Tendenzhaftigkeit, inhaltlose Redseligkeit und sogar prätentiöse Gesuchtheit." 16e
) Näheres in der zitierten Einführung von T . G. MaCtet-Jurkevii.
« ' ) Werke, X V , S. 618 (Brief vom 2 1 . 1. 1887). 168 ) Zu Skabiüevskij s. Anm. 158. Vengerov bemängelt, daß MaCtet mehr durch Mitgefühl als künstlerische Aussagekraft überzeugen wolle (in dem zit. Art. der Enzyklopädie von Brokgauz/Efron). Golovin formulierte sein Urteil noch schärfer. F ü r ihn war Mactet kaum mehr als ein talentloser Schreiberling, dem allein „ g u t e Absichten und die Hingabe an die Interessen des Narodnicestvo" zugute zu halten waren („Russkij roman i russkoe obsCestvo" [1897], S. 430). 1M ) Einführung zu Ma£tets Werken; Bd. X I I , S. V I I I . 17 ° ) Brief vom 7. 4. 1 8 8 8 ; Wke., X I V , S. 76.
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seinem Tode erinnerte man sich seines Wirkens nur noch als einer kuriosen Episode vergangener Literaturgeschichte 171 ). Die Amerikaschilderungen hatten Mactets Reputation begründet; auch in späterer Zeit verband man seinen Namen häufig gerade mit diesem Teil seines Werkes 172 ). E s kann kaum Zweifel daran bestehen, daß durch seine Ausstrahlung das Amerikabild der damaligen russischen Öffentlichkeit um manche Züge bereichert worden ist. Mactet stellte die Neue Welt aus einer Perspektive dar, die bisher weithin unbeachtet geblieben war. Indem er ein Lebensbild des Mittelwestens entwarf, zeigte er die Kräfte der amerikanischen Zivilisation in ihrer vitalsten Entfaltung. Gestützt auf eine ausgiebige persönliche Erfahrung erreichte seine Analyse hier die größte Tiefe. Auch von zeitgenössischen Kritikern wurde anerkannt, daß er auf diesem Gebiet als Neuerer wirkte 173 ). Und doch konnte auch Maftets Bericht nur einen Ausschnitt der Szene vermitteln. Seine Darstellung des amerikanischen Ostens ist fragmentarisch, oberflächlich, oftmals tendenziös. Sie läßt immer wieder kritisches Feingefühl vermissen. Wo des Autors Vertrautheit mit der beschriebenen Umgebung nicht ausreichte, griff er unbedenklich zu den vorgefertigten Schablonen. Namentlich die beiden Romane sind von diesem Mangel gezeichnet. E s mögen in ihnen durchaus einige Mißstände der damaligen Depression wirklichkeitsnah abgebildet sein; Mattet versah diese Beschreibung jedoch mit Überspitzungen und Verallgemeinerungen, die weit über die Realität hinausführten. Immerhin hat das Werk Mactets manche neuen Wege zur literarischen Auseinandersetzung mit Nordamerika aufgewiesen. Schon der Form nach führten die „Reisebilder" in die Traditionen Svinins, Poletikas und ihrer Nachfolger ein belebendes Element ein. Mit ihnen war das konventionelle Schema der reinen Reisebeschreibung überwunden und der Übergang zu verwandten literarischen Genres vorgezeichnet 174 ). Trotz aller Unzulänglichkeiten gingen auch von den beiden Amerikaromanen Mactets neue Anregungen aus: hier gaben autobiographische Erlebnisse in der Neuen Welt erstmals den Stoff zu einer realistischen Erzählhandlung ab. Korolenko und Gor'kij haben diese Anfänge wenig später fortgeführt. Korolenkos Roman „Ohne Sprache" (1895), der ebenfalls aus dem Erlebnis einer Amerikareise das Schicksal eines russischen Emigranten in den Vereinigten Staaten nachgestaltet, folgt dem Handlungsschema von Mactets „Verlorenen Sohn" bis ins Detail 175 ). Dagegen greifen Gor'kijs literarische Polemiken gegen Amerika nach Form und Aussage auf die Tradition der „Schwarzen Undankbarkeit" zurück. Dem erstmals von Maitet analysierten Phänomen des „ M o b " widmet sich Gor'kij in einem Abschnitt seiner Trilogie „ I n Amerika"; sein Millionär aus dem Interview mit „einem der Könige der Republik", wie bei Maitet zu einer monströsen Karikatur überzeichnet, gehört in die Ahnengalerie des Mr. Smartboy 176 ). 171 ) A . Nalimov äußert in dem erwähnten Nekrolog, daß es für eine Werk-Ausgabe Maitets zu spät sei, da ihr Erfolg womöglich „ z u bescheiden" bliebe (op. cit., S. 108). Gol'cev nahm dieses Risiko im gleichen Jahre auf sich. 172 ) Von der „Gesellschaft russischer Studenten" in New Y o r k wurde Maitet Ende der 1890er Jahre die Ehrenmitgliedschaft angetragen (T. G. M a i t e t - J u r k e v i f , op. cit., S. 2 4 - 5 ) .
" * ) Der Kritiker der „ N e d e l j a " schrieb 1889 (op. cit., S. 804): „ H e r r Maitet teilt den äußeren Eindrücken nicht die geringste Aufmerksamkeit zu ( . . . ) . E r hat sich ganz und gar auf die Menschen, ihre innere Anlage, ihre seelischen Eigenschaften und Lebensweise konzentriert. ( . . . ) Die von Herrn Maitet beschriebene Lebensweise ist in Rußland wenig bekannt: bei uns ist der östliche Teil der Vereinigten Staaten bekannter mit seiner grandiosen 'amerikanischen' Aktivität . . . " 171 ) A u c h dieses Verdienst wird von der „ N e d e l j a " anerkannt (op. cit.): „ D i e Skizzen von Herrn Maitet sind von den gewöhnlichen Reiseaufzeichnungen oder den Briefen verschiedener 'russischer Reisender' grundverschieden . . . " 176 ) Der einzige wesentliche Unterschied besteht darin, daß Korolenkos Held Matvej nicht in seine ukrainische Heimat zurückkehrt, wie Andrej Zagajnyj, sondern sich in Amerika eine Existenz aufbaut. 17< ) Siehe Gor'kijs „ M o b " im Zyklus „ V Amerike" (1906), sowie „Odin iz korolej respubliki" in der Serie „Moi interv'ju" (1906); Werke, V I I , S. 34fr.; S. 83fr.
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VII. DAS AMERIKABILD AM ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS Seit den 1890er Jahren kühlte sich das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland weiterhin rapide ab 1 ). Die Weltöffentlichkeit wurde durch Schriften in der Art von George Kennans „Sibiria and the Russian Exile System" und durch die rührige Propagandatätigkeit russischer Emigrantenkreise immer häufiger auf einige empörende Mißstände der Zarenherrschaft aufmerksam. In Rußland selbst war man in wachsendem Maße bestrebt, solcher Kritik eine eigene Polemik entgegenzusetzen. Es konnte daher nicht ausbleiben, daß sowohl die geisteswissenschaftliche als auch die belletristische Amerikaliteratur zusehends in einen Zustand der Sterilität verfielen. Symptomatisch war das Verfahren der russischen Presse, in der damals eine Fülle maßloser Pamphlete gegen die westeuropäischen Länder und die Vereinigten Staaten publiziert wurde 2 ). Die Radikalen der Rechten und der Linken fanden sich in ihrer Kampagne gegen die Vereinigten Staaten, dem Land des „allmächtigen Dollars", zu merkwürdiger Einmütigkeit zusammen. Die Berichte verbitterter russischer Emigranten boten genug Material, das sich zur Agitation eignete. Inmitten der vorherrschenden unsachlichen Kritik hielten nur die Liberalen weiterhin an der traditionellen Freundschaft mit Amerika fest. S. Fortunatov, B . Cicerin und M. Ostrogorskij veröffentlichten seit den 1880er Jahren ihre grundlegenden Werke über die politischen Institutionen in den Vereinigten Staaten®). Professor Kovalevskij hinterließ überdies außerordentlich objektive und kenntnisreiche Aufzeichnungen von seinen zwei Besuchen in Amerika, in denen er sich bewundernd über die Vitalität, ebenso abfällig jedoch über einige Verfallserscheinungen des politischen Lebens äußert 4 ). Generell ist das Weiterwirken amerikanischen Gedankenguts im alten sozialpolitischen Einflußbereich beachtenswert. E s äußerte sich auch in dem Aufsehen, das das Werk des Nationalökonomen Henry George seit den 1880er Jahren in Rußland erregte5). L . Tolstojs Romanheld Nechljudov steht unter diesem Einfluß der Lektüre Henry Georges, wenn er den Entschluß zum Auswandern nach Amerika faßt 6 ). Im Schrifttum der Zeit wurde trotz solcher mäßigenden Einwirkungen die Verketzerung der Vereinigten Staaten weithin zur Mode. Der antiamerikanische Affekt gründete sich, wie damals auch in Deutschland, auf eine „Mischung aus arrogantem Uberwertigkeitsgefühl gegenüber dem ,Land ohne Kultur' und einem fast verzagten ökonomischen Minderwertigkeitsgefühl 7 )". J
) M. Laserson, op. cit., S. 293fr.
2
) Ein antiamerikanischer Tonfall setzt sich namentlich in den reaktionären Presseorganen durch,
wie „ N o v o e v r e m j a " , „Moskovskie Vedomosti" und „Istoriieskij vestnik"; vgl. Laserson. op. cit.,
S- 3423
) Laserson, op. cit., S. 299, 3 7 2 ff. („Russian Constitutional Thought on the United States"). Das Pendant in Deutschland ist die ebenfalls amerikafreundliche Haltung der Sozialwissenschaftler (z.B. Schmollers und Mohls) im Gegensatz zur ablehnenden Einstellung des gebildeten Bürgertums; siehe Fraenkel, op. cit., S. 3 5 f . Auch in Deutschland hatte sich die proamerikanische Kampagne der Liberalen seit den 1870er Jahren abgeschwächt. Neue einflußreiche Gruppierungen, die sich vor allem zur nationalistischen Rechten hin orientierten, propagierten ein reservierteres Verhältnis zu den Vereinigten Staaten; vgl. Engelsing, op. cit., S. 147. 4 ) Erschienen in drei Fortsetzungen in „Russian R e v i e w " , X ( 1 9 5 1 ) , Nr. 1 - 3 . 5 ) M. Laserson, op. cit., S. 269 ff. („Henry George in Russia"). 6 ) Im ersten Entwurf zu „Voskresen'e" (1899); Werke, X X X I I I , S. 27. Die Hinweise auf Nechljudovs Auseinandersetzung mit Henry George (vgl. ibid., S. 26, 29, 46, 93, 1 1 5 ) sind ein Indiz für das intensive Studium, das Tolstoj dem Werk des amerikanischen Nationalökonomen zuwandte. 7 ) Fraenkel, op. cit., S. 1 1 - 1 2 .
184
Selbst bei erklärten Freunden Amerikas machten sich Spuren einer gewandelten Einstellung bemerkbar. Geringschätzig stellte L . Tolstojs A u f s a t z „ K n e c h t s c h a f t unserer Z e i t " die Vereinigten Staaten in die Reihe der „scheinbar freiesten" Länder 8 ). Beispielgebend für die sich verschlechternde Stimmung war ein Pamphlet, das E . Pravdin 1898 im „Istoriceskij v e s t n i k " unter dem Titel „ D e r wiedergeborene Messianismus des Dollarlandes und die alte W e l t " plazierte. Dort wurden die Vereinigten Staaten einer rücksichtslosen Eroberungspolitik gegen Indianer, Neger und gegen andere Staaten für schuldig befunden und ausserdem mit den wüstesten Schmähungen überhäuft: die Amerikaner seien ein Volk, das „niemals irgendwelche Ideale besessen" habe und sich größtenteils aus „gierigen Abenteurern, verschiedenen Trunkenbolden, allen möglichen Vagabunden, Verbrechern unterschiedlicher Abstufungen und den Mördern aller Länder und Nationen" zusammensetze 9 ). Trotzdem waren auch im Rußland des ausgehenden 19. Jahrhunderts die K r ä f t e eines alten Amerika-Mythos weiterhin virulent. Sie machten sich namentlich unter dem einfachen Volk bemerkbar, wo der Wunderglaube an die „unbegrenzten Möglichkeiten" des Lebens in der Neuen Welt damals viele Menschen zum Auswandern verlockte 1 0 ). Von den Schriftstellern der Zeit sind gelegentlich auch solche volkstümlichen Vorstellungen literarisch gestaltet worden. Korolenko führt in seinem Roman „Ohne Sprache" den Brief eines russischen Emigranten aus den Vereinigten Staaten an, der seine neue Heimat in der Redeweise des einfachen Volkes als ein L a n d märchenhafter Wunder stilisiert. Der R o m a n beschreibt, wie dieser Brief unter den Einwohnern des ukrainischen Dorfes Lozisci eine A r t kollektiver Auswanderpsychose auslöst 1 1 ). Auf den ähnlich wunderbaren Amerikabericht eines einfachen russischen Matrosen stößt man in einem Werk K . M. Stanjukovics aus den 1890er Jahren 1 2 ). In der belletristischen Literatur der Jahrhundertwende haben sich jedoch vor allem die Ausstrahlungen der antiamerikanischen K a m p a g n e niedergeschlagen. Als abstoßende Verkörperung amerikanischen Ungeistes wurde in damaligen R o m a n - und Dramenwerken die Gestalt des skrupellosen, betrügerischen Geschäftsmannes bevorzugt 1 3 ). Alle Variationen zu diesem Thema fanden ihre Krönung in der ungeheuerlichen Darstellung M. Gor'kijs. Das bereits aus Dichtungen Minaevs bekannte Motiv des amerikanischen Tanzes um das „Goldene K a l b " , den Dollar, wurde 1890 in Versen des Modeschriftstellers V . L . Velicko neu gestaltet 1 4 ). Von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung des russischen Amerikabildes waren die Erlebnisse jener Schriftsteller, die um die Jahrhundertwende in die Vereinigten Staaten reisten und darüber in ihrem literarischen Werk Rechenschaft ablegten. Der erste, der 1893 in der Nachfolge Mactets diesen Weg wählte, war V . G. Korolenko. Korolenkos amerikanische Erfahrungen spiegeln sich in einer Reihe von Artikeln und dem Auswandererroman „Ohne
8
) „ R a b s t v o nasego vremeni" (1900); Werke, X X X I V , S. 180. Siehe auch den Artikel „ K dejateljam
politiieskim" (1903); Wke., X X V , S. 209. Einem Bauern, der gebeten hatte, ihm beim Auswandern nach Amerika behilflich zu sein, entgegnete Tolstoj 1909 (an J a . S. Pjasunin; Wke., L X X X I , S. 129): „ M a n sollte endlich aufhören, an Kanada und Amerika zu denken und auf sich selbst sehen — auch zu Hause an sich selbst werden Sie Arbeit genug
finden."
• ) „Novorozdennyj Messianizm strany dollarov i Staryj s v e t " in „ I s t . vestn." L X X I V ( N o v . 1898), S. 7 0 4 0 . ; hier S. 7 1 4 , 7 1 6 . 10 ) Die Bedeutung dieser Auswanderbewegung für das deutsche Amerikabild wird von Engelsing analysiert (op. cit., S. 149):
„(Die Auswanderbewegung) repräsentierte die dem 19. Jahrhundert eigentümliche Zukunftshoffnung, zu deren Verwirklichung sich wirtschaftlicher Fortschrittsdrang und gesellschaftliches Nivellierungsstreben in einer halb rationalen, halb religiösen Anstrengung paarten." » ) „ B e z j a z y k a " ; Wke., I V , S. i o f f . 12
) „ V o k r u g sveta na ' K o r s u n e ' " ; Wke., II, S. 409. ) Beispiele bei Kiparsky, op. cit., S. 1 1 8 ff. 14 ) „Amerikanskij B o g " , in der Sammlung „ V o s t o i n y e m o t i v y " . Veliiko stellt seine Dichtung unter ein Motto Henry Georges („Amerika idet k rabstvu"). 13
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Sprache", in dem der Autor zu gestalten versuchte, „wie sich Amerika auf den ersten Blick einem einfachen Menschen aus Rußland darbietet 16 )". Die Darstellung Korolenkos wurde zu einem Dokument russischer Mißverständnisse über die Vereinigten Staaten 18 ). Das Bemühen des Autors, sich in die fremde Lebensweise hineinzuversetzen, endet schon nach wenigen Ansätzen mit einem Fehlschlag. Aus seiner Schilderung ist anschaulich zu entnehmen, wie stark das russische Amerikabild dieser Jahre bereits von bestimmten vorgefaßten Meinungen verzerrt war. Korolenko präsentierte den Komplex traditioneller russischer Vorurteile in einer vergröberten Abwandlung: er entlarvt die Freiheit in den Vereinigten Staaten als leeres propagandistisches Schlagwort, die soziale und politische Fortschrittlichkeit Amerikas als Fiktion. Er malt insbesondere das düstere Bild arbeitsloser Massen, brutalen Polizeiterrors, politischer Korruption und einer verantwortungslosen Sensationspresse. Seine Amerikanergestalten, die einem stereotypen Katalog zu entstammen scheinen, entsprechen dieser Szene: sie alle sind gekennzeichnet durch zivilisatorischen Hochmut und großsprecherische Überheblichkeit gegenüber Fremden, eine erschreckende Unbildung und Borniertheit, die mit beinahe kindlicher Unbekümmertheit und Jovialität gepaart sind, schließlich durch rücksichtslosen Ehrgeiz und Geschäftssinn. Nicht ohne Grund hat man Korolenko das zweifelhafte Verdienst zuerkennen können, daß er mit einigen seiner Gestalten den Prototyp des in der späteren Sowjetära so gefragten „bösen" Amerikaners kreiert habe 17 ). Das Erlebnis der Fremdheit gegenüber der amerikanischen Lebensweise, das sich im Werk Korolenkos elementar niedergeschlagen hatte, prägte auch die Berichte anderer, wohlwollenderer russischer Autoren. K . M. StanjukoviCs autobiographisch empfundener Matrose Cajkin konstatiert am Ende seiner Amerika-Odyssee betrübt, daß er in diesem Land trotz aller augenfälligen Annehmlichkeiten nicht leben könne 18 ). Ähnliche Erfahrungen gestaltete der Schriftsteller, Ethnograph und Linguist V. G. Bogoraz (1865-1936), der unter dem Pseudonym Tan zu Beginn des Jahrhunderts eine Reihe von Erzählungen über amerikanische Sujets verfaßte 19 ). Für ihn haben die von Mactet verherrlichten Pioniere des Mittelwestens „die Ideale und die Kultur von Metzgerjungen 20 )". Diese vernichtende Wertung war sicherlich in nicht unerheblichem Maße das Resultat einer politischen Linksorientierung ihres Autors. Der Amerika-
15 ) Zitat aus einem Brief vom Jahre 1909; Wke., IV, S. 489. Die Eindrücke Korolenkos von Amerika sind festgehalten in dem Roman „Bez jazyka"(i895), der unvollendeten Erzählung „Sofron I v a n o v i i " (1902), sowie in den 1893 verfaßten Artikeln „Fabrika smerti", „Russkie na Cikagskom perekrestke" und einer nicht abgeschlossenen Serie unter dem Titel „Pis'ma s £uzoj storony". 16 ) Korolenkos Amerikabild ist bisher nur unzureichend untersucht. Eine Untersuchung von G. Bjalyj war mir nicht zugänglich („V. G. Korolenko i Amerika" in „U2. zap. Len.-ogo Un.-ta", Nr. 87 [1943], 13, S. 141-151). 17 ) V. Kiparsky, op. cit., S. 142. 18 ) „Pochozdenie odnogo matrosa. Podlinnaja istorija iz dalekogo proslogo" (1900); Wke., VI, S. 673: „Wie sehr Cajkin auch Gefallen fand an Amerika, wo man leben konnte, wie es einem beliebte, wenn man nur nicht das Gesetz verletzte, die allgemeine Wesensart der Amerikaner behagte ihm nicht. Ihm schien, daß jeder nur an eins dachte — den Erwerb, und daß er allein deswegen ungewöhnliche Anstrengungen und ungewöhnliche Energie entfaltete. U n d außerdem bemerkte £ ajkin, daß, ungeachtet dessen, daß alle in Amerika gleich seien, die Reichen trotzdem Abscheu vor den Armen empfänden und überhaupt vor allen, die sich nicht durchzusetzen verstehen. Besonders erstaunten und empörten ihn jene amerikanischen Millionäre, von deren legendärem Luxus er gelesen und gehört hatte, und die, wie es Cajkin vorkam, ihr Gewissen völlig vergessen hatten und nicht mehr wahrhaft lebten, wenn sie ungezählte Reichtümer auf ganz und gar nicht saubere Weise scheffelten." 19 ) Siehe die amerikanischen Erzählungen in Tans „Sobranie soSienij" (SPb. 1910-11; izd. N. Glagoleva), Bde. II, V, VI. Offensichtlich in Anlehnung an Maitet taufte Tan einen Teil dieses Werkes „ P o belu svetu". itt ) V. Kiparsky, „The American Westerner in Russian Fiction"; in R R X X (1961), S. 40.
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besuch M. Gor'kijs im Jahre 1906 bewies noch schlagender, wie stark die Unbefangenheit des russischen Urteils über die Vereinigten Staaten bereits durch politische Intransigenz eingeschränkt war. Konnte man manchen ungerechtfertigten Vorurteilen Korolenkos noch das Mißverständnis ihres Autors zugute halten, so steigerte sich Gor'kijs Amerikainterpretation zu einer bewußten Mißdeutung. In seinen Schriften 21 ) verabsolutierte er noch viel einseitiger und tendenziöser als Korolenko oder andere russische Schriftsteller vor ihm bestimmte negative Aspekte der amerikanischen Lebensweise. Die Vereinigten Staaten waren in seiner Sicht zu einem Land bedrückender sozialer Auswüchse herabgesunken, das von einer Horde kulturloser kapitalistischer Magnaten terrorisiert werde. Jegliche höheren Werte menschlicher Existenz, seien es Religion oder Moral, würden von diesen Unterdrückern bedenkenlos für ihre Zwecke eingespannt. Als oberstes Bestreben aller Lebewesen herrsche eine sinnlose Jagd nach dem „gelben König", dem Dollar. Gor'kij bewertete seine Erlebnisse allein vom Standpunkt des orthodoxen Marxisten. Es ist vor allem dieses starre ideologische Denkschema, das seinen Schriften ihre ätzende Schärfe und Aggressivität verleiht. Der Willen zur politischen Aktivität war für Gor'kij schriftstellerische Verpflichtung geworden. Auch in künstlerischer Hinsicht zog er daraus Konsequenzen. Für seine Kritik wählte er mit Bedacht die Form der Satire, weil sie die beabsichtigte Herausforderung an Amerika und dessen Lebensweise am unzweideutigsten zuließ. Dabei war kaum zu vermeiden, daß diese Kunst sich in einseitigen Effekten abnutzte. Gor'kijs Amerikanergestalten sind weniger lebendige Personen als vielmehr ins Groteske verzerrte, blutlose Karikaturen, die allein dazu ersonnen waren, die Absurdität gesellschaftlicher Zustände zu illustrieren. Von sowjetischen Kritikern wird auch heute noch mit Dankbarkeit vermerkt, daß Gor'kij es vollbracht habe, die Legende über Amerika als dem demokratischsten und glücklichsten aller Länder zu zerstören 22 ). Damit bezeichnet Gor'kij eine Endstufe in der hier über mehrere Jahrhunderte verfolgten Entwicklung des russischen Amerikabildes. Indem er in diesem Bild die Rückstände einer seit RadiäCev zur Überlieferung gewordenen Glorifizierung radikal ausmerzte, leitet er über zu einer neuen Ära, die sich eine dogmatische gesellschaftliche Doktrin zum alleinigen Richtpunkt ihrer Vorstellung von Amerika setzte. Auch in dieser Hinsicht bildet Gor'kij „gleichsam die Brücke zwischen den Literaturen des zaristischen Rußland und der Sowjetunion 23 )". Sowjetische Propagandisten haben sich wenig Skrupel daraus gemacht, Gor'kijs Amerikabild als ein offiziell sanktioniertes Klischee weiterzuvermitteln. Die Auswirkungen werden bis in die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg spürbar. Als der Bedarf an antiamerikanischen Literaturwerken damals sprunghaft anstieg, griff man bereitwillig auf Gor'kijs Schöpfungen zurück 24 ). Demzufolge weisen auch die Agitationsstücke der 1940er Jahre Gor'kij als ihren geistigen Stammvater aus; sie verdanken ihm zahlreiche wirkungsvolle Motive amerikanischer Schurkerei 25 ), Ähnliche Einflüsse sind jedoch auch in den höheren Lagen der sowjetischen Literatur feststellbar 28 ). Die Amerikaberichte Majakovskijs („Meine Entdeckung Amerikas"; 1926), Esenins 21 ) Siehe die Trilogie „ V Amerike" mit den Partien „Gorod zeltogo d'javola", „Carstvo skuki" und „ M o b " ; die Skizze „ C a r l i M e n " ; sowie zwei Kapitel der Serie „Moi interv'ju" („Odin iz korolej respubliki" und „ 2 r e c morali"). Die genannten Werke entstanden sämtlich 1906, zum Teil im Verlauf der Amerikareise. Eine kompetente Studie zu Gor'kijs Amerikabild fehlt; die vorliegenden sowjetischen Abhandlungen sind allzu einseitig konzipiert (z.B. I. N . Uspenskij, „Gor'kij ob Amerike", 1949). 22 ) A . Volkov, „ M . Gor'kij i literaturnoe dvizenie konca X l X - n a c a l a X X v e k a " ( 1 9 5 1 ) , S. 204. 2S ) W . Lettenbauer, „ R u s . Literaturgeschichte" (1958), S. 242. 24 ) Beispielsweise erschien in der „ P r a v d a " am 23. 3. ^ 4 9 die „ S t a d t des gelben Teufels". M ) Den Nachweis darüber führte A . M. Hanf man, „ T h e American Villain on the Soviet S t a g e " ; in R R X ( 1 9 5 1 ) , 2, S. 143 ff.
* ) Einen reichhaltigen Überblick über das vorhandene Material an sowjetischen Zeugnissen über Amerika vermittelt N . Travuskin, op. cit., S. 299fr.
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( „ L a n d der Taugenichtse"; 1 9 2 2 - 3 ) , Pil'njaks ( „ O k a y " ; 1932), oder Il'f/Petrovs ( „ D a s einstöckige A m e r i k a " ; 1936) nehmen in vielfacher Hinsicht Gor'kijs Thematik wieder auf. Sogar die Besonderheiten seiner Metaphorik klingen in manchen dieser späteren Werke wieder an 2 7 ). Obwohl es die sowjetischen Autoren nicht an propagandistischem Beiwerk der eindeutigsten Art fehlen lassen, führen sie doch oftmals darin über Gor'kij hinaus, daß sie gleichzeitig A n sätze zu einer distanzierteren, sachlicheren Betrachtungsweise erkennen lassen. Besonders in den 1920er und 1930er Jahren, als der Amerikaner zeitweise zur sympathischsten Ausländergestalt der Sowjetliteratur aufrückte 2 8 ), entdeckte man bei der Darstellung der Vereinigten Staaten manche vorteilhaften Seiten. Schließlich darf über der von Gor'kij entfesselten Polemik nicht vergessen werden, daß seine Einstellung nur für einen Teil der damaligen russischen Öffentlichkeit als repräsentativ anzusehen ist. E s spiegelt sich darin der doktrinäre Geist der Radikalen, die sich in eine offene Feindschaft gegenüber dem amerikanischen „ K l a s s e n s t a a t " hineingesteigert hatten. Diese politischen Vorurteile wurden schon von Gor'kijs zeitgenössischen Kritikern beanstandet 2 9 ). I m übrigen waren durchaus nicht alle Spuren der alten irrationalen Bewunderung für die Neue Welt getilgt — selbst unter manchen Marxisten nicht 30 ). Daß ihre Attraktion für die Literatur fortbestand, beweist A . Bloks Gedicht „ E i n neues A m e r i k a " v o m J a h r e 1 9 1 3 . Darin dient das amerikanische Motiv noch einmal als Entwurf für eine großartige dichterische Vision, die die Wiedergeburt Rußlands vorausschaute 3 1 ).
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) Im Zusammenhang mit der übermächtigen Rolle des Dollars spricht Majakovskijs Gedicht „ B l a c k and W h i t e " (1926) gleichfalls vom „gelben K ö n i g " (Wke., V I I , S. 2 3 ) ; auch in der Beschreibung Wilsons, der Verkörperung des amerikanischen Kapitalismus in „ 1 5 0 0 0 0 0 0 0 " (1920), lehnt sich Majakovskij an das Vorbild Gor'kijs an. Zum Einfluß Gor'kijs auf Amerikanergestalten A . Tolstojs und I. Erenburgs siehe Kiparsky, „English and American Characters . . . " , S. 1 2 1 f. 28 ) Kiparsky (op. cit., S. I49ff.) veranschaulicht diese Entwicklungen am Werk Kataevs, Pil'njaks, I'lf/Petrovs und weiterer Sowjetautoren. 20 ) Beispiele bei I . E v e n t o v , „ S a t i r a v tvoriestve M. Gor'kogo" (1962), S. 166. 30 ) Plechanov spielte noch 1890 mit dem Gedanken einer Niederlassung in den Vereinigten Staaten; siehe D. Hecht, „Plekhanov . . . " , S. 1 1 3 . 31 ) „ N o v a j a A m e r i k a " ; Werke (i960ff.), I I I , S. 2 6 8 - 7 0 .
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VIII. ZUSAMMENFASSUNG Aus der Fülle an Äußerungen über Amerika, die hier für das russische Schrifttum von seinen Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zusammengetragen worden sind, schälen sich schließlich einige Hauptentwicklungslinien heraus. Sie haben in den einzelnen literarischen Gattungen verschiedenste Züge angenommen. In ihren Wandlungen werden auch manche jener breiteren Strömungen reflektiert, die den Epochen der Geistesgeschichte ihr eigentümliches Gepräge gegeben haben. Die russische Belletristik entdeckte Amerika am Ende des 18. Jahrhunderts, als unter dem Eindruck des Rousseauschen Sentimentalismus Exotismen in die Literatur einströmten. Der ästhetischen Entdeckung der Neuen Welt, die sich in der Schaustellung pittoresker Naturszenerien und dem Kult des „edlen Wilden" entfaltete, folgte die Kenntnisnahme Nordamerikas als politischer Realität. Diese Entwicklung war im Dichtwerk Lomonosovs und Sumarokovs seit der Jahrhundertmitte angebahnt worden; sie vollendete sich mit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, in der die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts einen Gipfelpunkt erreichte. Die Ereignisse des Unabhängigkeitskampfes gaben auch in Rußland einem schwungvollen literarischen Enthusiasmus Auftrieb. Er fand im Werke Radiäcevs seinen ausdrucksvollsten Niederschlag. Durch Radiäcev wurde damals eine politisch ausgerichtete Literatur über Amerika begründet, die sich häufig den sozialkritischen Bezug auf bestimmte Erscheinungen der russischen Wirklichkeit zum Ziel setzte. Beide Linien, sowohl die Tradition des Exotismus als auch diejenige Radiäcevs, wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts vielfältig weiterentwickelt. Unter dem Einfluß Chateaubriands, später Coopers ließ sich die romantische russische Dichtung wiederum vom ästhetischen Reiz der nordamerikanischen Naturwelt inspirieren. In ihren Schöpfungen erfuhr der Exotismus überkommener Prägung eine neue Vertiefung. Gleichzeitig lebte im Schrifttum der Dekabristen der politische Enthusiasmus für Amerika fort. Er übertrug sich in den 1840er Jahren weiter auf die Petraschevzen. Auch in den Äußerungen der Sozialvolutionäre um Cernyäevskij sind die Auswirkungen solchen Gedankenguts noch nachweisbar. Indessen hatte die romantische Geschichtsphilosophie seit den 1830er Jahren neue Maßstäbe für die Beurteilung der nordamerikanischen Zivilisation gesetzt. Die Kritik am Materialismus der Lebensweise in den Vereinigten Staaten wurde von den russischen Konservativen, namentlich den Slavophilen immer energischer formuliert. Im Zeichen der Debatte um Tocquevilles „Demokratie in Amerika", die diese Thematik in weite Bezirke des Geisteslebens und der Literatur hineintrug, wurde die gewandelte Einstellung sichtbar. Es kristallisierten sich damals die Schablonen eines kurzsichtigen Antiamerikanismus heraus. Man opponierte hauptsächlich gegen den Ungeist, die „Krämergesinnung der Yankees". Verglichen mit den Slavophilen war die Haltung der westlich orientierten Radikalen zwar zunächst toleranter und differenzierter; seit den 1860er Jahren nahmen jedoch auch unter ihnen dogmatische antiamerikanische Affekte überhand, die sich bei den Marxisten schließlich in einen verbissenen Haß steigerten. Die Ideale aus der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung waren damit endgültig aufgegeben. Die Umorientierung des Geisteslebens konnte kaum ohne Auswirkungen auf die russische Belletristik bleiben, in der die Diskussion um die Vereinigten Staaten ebenfalls seit den 1830er Jahren neu angefacht wurde. Hier waren die Stereotypen des Antiamerikanismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eingedrungen. Sie verkörperten sich handgreiflich in der Schöpfung abstoßender oder karikierender Amerikanergestalten, die als Reproduktion einer widersprüchlichen materialistischen Lebensart konzipiert waren. Abseits solcher zunehmend zeitbezogen-
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satirischen Ausrichtung führte die schöne Literatur jedoch auch die Auseinandersetzung mit dem unwirklichen Amerika gemäß den Traditionen des Exotismus und der Romantik fort. Der Roman des russischen Realismus entwickelte lediglich Ansätze zur Parodie der alteingewurzelten Betrachtungsweise. Das Wiederaufleben des romantischen Amerikabildes wurde seit den 1870er Jahren durch die Einwirkung Bret Hartes und Mayne Reids begünstigt. In den Schilderungen dieser Erzähler war die alte Anziehungskraft der nordamerikanischen Natur- und Pionierwelt ungebrochen erhalten. Im gleichen Zeitraum der 1870er Jahre schuf das Wirken des Schriftstellers G. A. Maitet der russischen Amerikaliteratur eine noch breitere Basis. Maitet hatte die Neue Welt aus eigener Anschauung kennengelernt. Aus dieser Erfahrung der Emigration heraus verfaßte er zunächst „Reisebilder", die das traditionsreiche Genre des „Puteäestvie" in origineller schöpferischer Abwandlung wiederbelebten. Mactets Erzählung „Der Verlorene Sohn" gestaltete das Sujet des Auswanderns in die Vereinigten Staaten erstmals als Romanhandlung. Neue Wege zur literarischen Auseinandersetzung mit Nordamerika wies auch die Erzählsatire „Schwarze Undankbarkeit". Mit Mattet hob sich damals eine Linie autobiographischer Amerikaliteratur ab, die über Korolenko, Gor'kij, Esenin, Majakovskij, Pil'njak, Il'f/Petrov schließlich in die Sowjetzeit mündet. In ihr spielten das subjektive Erlebnismoment, aber auch dogmatische antiamerikanische Ressentiments eine wachsende Rolle. Von Mactet stammt der erste russische Entwurf zu einer umfassenden epischen Bewältigung des Amerikathemas. In seinen Romanen gab die Neue Welt nicht nur eine Handlungskulisse ab, sie war gleichzeitig Konfliktstoff, Erzählsubstanz. Wollte man den Begriff einer Amerikaliteratur in diesem absoluten Sinne fassen, man müßte die Geschichte ihrer russischen Entwicklung vom Werke Mactets her bestimmen. Vor ihm war die Auseinandersetzung mit Amerika in den verschiedenen Gattungen der schönen Literatur auf bestimmte Einzelmotive begrenzt. Ihre Gestalt wurde vielfach beeinflußt von den anderen Bereichen des russischen Schrifttums, die — wie das geschichtsphilosophisch-politische Schrifttum oder die Reiseliteratur seit Svinin— eigenständige Formen zur Abhandlung des gleichen Themas herausgebildet hatten. Die Rekonstruktion des Amerikabildes in der russischen Belletristik bis zu Mactet muß sich im wesentlichen auf eine motivgeschichtliche Untersuchung stützen. Die wechselnden Klischees und Topoi, mit denen die Literatur das konkrete Amerika im Laufe der Zeit überzog, bezeichnen die einzelnen Etappen der Entwicklung. Von ihren Ausstrahlungen sind die drei großen literarischen Gattungen der Lyrik, Epik und Dramatik gleichermaßen erfaßt. Die Auseinandersetzung mit Amerika war ursprünglich über einen Zweig des wissenschaftlichen Schrifttums, den der Kosmographien, in die russische Belletristik eingedrungen. Karion Istomins Lehrgedicht, eine erste schöpferische Interpretation vom Ende des 17. Jahrhunderts, nahm bereits manche späteren Motive der Amerikadarstellung voraus, wenn es die Neue Welt als Hort von Unkultur und Gottlosigkeit herabsetzte. Mit der Deutung Istomins stimmte jene polemische Literatur im Gefolge der romantischen Kulturphilosophie überein, die gegen den Materialismus als Lebensprinzip der Nordamerikaner Partei ergriff. Diese Debatte des 19. Jahrhunderts vollzog sich in wechselnden literarischen Formen: Odoevskijs Utopien, die zeitkritischen Gedichte Minaevs und A. K . Tolstojs, die Amerikanergestalten im Erzählwerk Herzens, MaCtets und Korolenkos variierten im Grunde ein gemeinsames Thema. In den Satiren Gor'kijs wurde die gleiche Kritik wenig später bis zur Groteske überspitzt. Der Exotismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts prägte ein weiteres bleibendes Muster der Auseinandersetzung mit Nordamerika. E s wurde von der russischen Literatur zunächst ohne wesentliche Modifizierungen aus westeuropäischen, namentlich französischen Vorlagen übernommen. Der Exotismus umspannte eine Fülle an Motiven. In seiner Ausmalung erschien Amerika als ein pittoresker Naturgarten, ein Paradies, das sich zudem in der Gestalt der Indianer eine unverfälschte Menschlichkeit bewahrt habe. Die antike Legende vom „Goldenen Zeitalter" war hier in neuem Gewände wiedergekehrt. Sie wurde bestärkt durch andere, ältere Traditionen der Amerikadarstellung, vor allem den bereits aus den Kosmographien vertrauten Ausschmückungen der Entdeckungsgeschichte.
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In besonderer Weise haben die Motive des Exotismus auf die Dichter der russischen Romantik gewirkt. Ihnen wurde Amerika zum Zielpunkt mancher unerfüllten Sehnsüchte; sie priesen es als Stätte einer verlorengeglaubten natürlichen Lebensharmonie, die von den Konventionen der europäischen Zivilisation noch unberührt war. In diese idealisierende Betrachtungsweise mischten sich außerdem Anklänge an die politische Legende aus der Zeit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Das Resultat war eine unter den Romantikern weitverbreitete Stimmung der Europamüdigkeit, die die Flucht nach Amerika als Ausweg aus der Prosa der Alltagsbeziehungen heraufbeschwor. Solche Empfindungen sind eindrucksvoll festgehalten in frühen Dichtungen V. S. Pecerins; sie spiegeln sich auch in Beschreibungen Batjuäkovs, Lermontovs, Polezaevs oder Ogarevs, die vielfach an Chateaubriandsche und Coopersche Muster angelehnt waren. Batjuäkov und Lermontov nahmen wiederholt amerikanische Naturbilder in ihre dichterische Metaphorik auf; demgegenüber griff Polezaev auf das alte Motiv des „edlen" Indianers zurück, dessen Wirkung sich auch Svinin für seinen Reisebericht über die Vereinigten Staaten zunutze gemacht hatte. Ogarev schließlich gestaltete die Amerikawelt der Romantiker in einer dichterischen Gesamtschau, die Achtung vor der natürlichen Lebensordnung der amerikanischen Ureinwohner und Wehmut über deren drohende Zerstörung ausdrückte. Auch in der schönen Literatur des späteren 19. Jahrhunderts treten die Motive des Exotismus immer wieder hervor. Die Formen der Auseinandersetzung wechseln vielfach; allgemein ist ein Abrücken von der idealisierenden Betrachtungsweise zu einer kritischeren, skeptischen Einstellung zu beobachten. Damit beginnen sich auch neue künstlerische Mittel der Amerikadarstellung durchzusetzen. Parodien exotischer Motive tauchen im Erzählwerk A. K . Tolstojs und Goniarovs seit den 1830er Jahren auf. Ein Dramenentwurf Herzens aus der gleichen Zeit, der den Traum vom „Goldenen Zeitalter" in Amerika sozialutopisch interpretierte, zeigt den überkommenen politischen Enthusiasmus im Schwinden begriffen. Das Weltfluchtmotiv, der Kern der alten Amerikalegende, wurde später von anderen Schriftstellern des Realismus aufgegriffen. Auch in ihren Versionen überwog die parodistische Absicht; dagegen hielt Turgenev an der früheren idealisierten Darstellung fest. Eine Kurzgeschichte Cechovs nahm die Motive der etablierten Amerikalegende zum Anlaß ironischkritischer Betrachtungen. Das gleiche Bestreben wird im Romanwerk Dostoevskijs erkennbar. Die Desillusion der romantischen Schwärmerei für Amerika nahm hier planvolle künstlerische Gestalt an: Dostoevskij konstruierte die Scheinwelt des Exotismus und der Romantik allein, um ihre Irrealität bewußt zu machen. Die Motive, die er für seine Darstellung wählte — die Neue Welt als Stätte ungebundener Freiheit, als Dorado von Abenteurern, als Land der Zuflucht und Ort einer von Cooper beschriebenen Naturharmonie — boten einen Querschnitt aller bis dahin geläufigen Amerikathematik. Als Grundlage ihrer Entstehung ermittelte Dostoevskij eine allgemein-menschliche Scheu vor der Konfrontation mit der Wirklichkeit. E r vertiefte damit die literarische Auseinandersetzung mit Nordamerika in die Richtung der Psychologie. Die Fäden der psychologischen Deutung spannen sich als ein immer wiederkehrendes Sujet durch die Handlungen seiner großen Romane. Die Zerstörung der alten Amerikalegende, die wenig später mit dem realistischen Erlebnisroman Mactets und Korolenkos sowie den Satiren Gor'kijs besiegelt wurde, war mit diesem Entwurf Dostoevskijs vorbereitet. Die Geschichte der Amerikamotive in der russischen Belletristik des 18. und 19. Jahrhunderts, wie sie hier skizziert wurde, umfaßt einen Prozeß, der von der idealisierenden Betrachtungsweise des Exotismus bis zur einseitigen zeitkritischen Polemik der autobiographischen Erzählliteratur reicht. Im Bereich der Gattungen wird der gleiche Spannungsbogen durch den Wandel von den Versdichtungen RadiSievs, später Peierins bis zur realistischen Romanform Maitets und Korolenkos ausgedrückt. Das Amerika dichterischer Inspiration wurde abgelöst durch den Bezug auf die Wirklichkeit, die Poesie durch den zeitkritischen Roman und schließlich die Satire. Im einzelnen sind die Übergänge dieser Entwicklung fließend; manche älteren Traditionen der Amerikadarstellung wirken unvermindert bis in die neuere Sowjetliteratur fort. 191
Sicherlich hat die Auseinandersetzung mit Nordamerika im Rahmen der russischen Belletristik immer nur einen vergleichsweise bescheidenen Platz eingenommen. Auch darin können jedoch noch manche größeren Sinnzusammenhänge literarischer Gestaltung erfaßt werden. In dem Bild, das die Schriftsteller und Dichter von der Neuen Welt entwarfen, in den Leitmotiven, Metaphern, Symbolen und Topoi, die sie übernahmen oder neu prägten, offenbart sich vieles von dem, was von der Literaturtheorie als „Darstellung unserer zeitlosen Ideale in der Zeit" umrissen worden ist 1 ). l
) Wellek/Warren, „Theorie der Literatur", S. 168.
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ANHANG Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen V o r b e m e r k u n g z u r O r t h o g r a p h i e : Die Transkription russischer Texte in dieser Arbeit befolgt die übliche deutsche Bibliotheksordnung. Die alte Orthographie wurde auch in der Umschrift grundsätzlich durch die neue ersetzt: also nicht „russkago", sondern „russkogo"; nicht „bezsmertnyj", sondern „bessmertnyj"; nicht „sd£lat'", sondern „sdilat'". Bei der Schreibung der russischen Personennamen wurden die gleichen Regeln zugrundegelegt. Die exakte Transkription wurde nur in wenigen Fällen zugunsten der gebräuchlichen deutschen Formen aufgegeben; z.B. 'Puschkin' für 'Puskin', 'Herzen' für 'Gercen', 'Küchelbecker' für 'Kjuchel'beker'. Folgende Zeitschriften- und Reihentitel sind in dieser Arbeit abgekürzt worden: AHR AK ASEER BNYPL CLit Cs. rusistika HSS IL ll JGO LN MonSl MT NES OZ PAPS PPPV Puäk. Issi, i mat. RBS RES RP RR RS RusMys SEEJ SEER SO UCPMP VE Vrem. ZIAN 1 MNP
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„The American Historical Review" „Archiv für Kulturgeschichte" „The American Slavic and East European Review" „Bulletin of the New York Public Library" „Comparative Literature" „Ceskoslovenská rusistika" „Harvard Slavic Studies" „Internacional'naja literatura" „Istoriieskij zurnal" „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas" „Literaturnoe nasledstvo" „ L e Monde Slave" „Moskovskij telegraf" „Novye ezemesjaCnye soiinenija" „OteCestvennye zapiski" „Proceedings of the American Philosophical Society" „Prijatnoe i poleznoe preprovozdenie vremeni" „Puskin. Issledovanija i materialy" „Russkij BiografiSeskij Slovar'" „Revue des Etudes Slaves" „The Review of Politics" „The Russian Review" „Russkaja starina" „Russkaja mysl'" „The Slavic and East European J o u r n a l " „The Slavonic and East European Review" „ S y n Oteiestva" „University of California Publications in Modern Philology' „Vestnik E v r o p y " „Vremennik Puäkinskoj komissii" „Zapiski Imperatorskoj Akademii Nauk" „Zurnal Ministerstva Narodnogo Prosvelienija"
Weiterhin sind abgekürzt: ANSSSR BBP GPB IRLI MBP Poln. sobr. sof. U i . zap. 13
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Bibliographie über die verwendete Quellen- und Sekundärliteratur V o r b e m e r k u n g : Die Aufsätze aus größeren Sammelbänden (etwa aus LN, R B S , aus dem „Enciklopediïeskij Slovar'" Brokgauz/Efrons oder aus der „Literaturnaja Enciklopedija") sind bereits an anderer Stelle, im Fußnotenapparat der Arbeit, besonders genannt worden; sie werden daher hier gelegentlich übergangen. Wichtige Abkürzungen der Erscheinungsorte sind: SPb. (St. Petersburg), Pg. (Petrograd), L. (Leningrad), M. (Moskau); B. (Berlin), Hmb. (Hamburg), Mch. (München), N . Y . (New York), P. (Paris).
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Register der Personennamen Kursive
Seitenzahlen bes
A c h m a t o v a , A. A. 106 Adams, J. 37 A k s a k o v , I. S. i n A k s a k o v , K . S. 128-9 A k s a k o v , S. T . 102 Alekseev, V . I. 155, 175 Alexander I., Zar 49-50, 53, 58, 69, 79, 126 Alexander II., Zar 152 Alexander III., Zar 153, 166 (Großfürst) Algarotti, F. 90 Allen, W . 126 Antonelli, P. D. 143 Appleton, N . 155 ArakCeev, A. A. 55, 83 Arbuzov, A . P. 81 Astor, J. J. 65 Audubon, J. J. 89 Auerbach, B. 169 Bakunin, M. A . 134, 149 Baranséikov, V . 21 Barghoorn, F. C. 1 Barjatinskij, A . P. 108 Barlow, J. 44 Barnum, P. T . 137, 13S Basargin, N. V . 87 B a t e n ' k o v , G. S. 84 B a t j u á k o v , K . N. 24, 75, 89, 90, 95, 107-8, 191 Beaumont, G. 122 Beecher-Stowe, H. 5, 30, 144—5, 1 5°> 153, 160 Behn, A . 14 Belinskij, V. G. 3, 47, 56, 87, 89, 95, 97, 98, 99-101, 103, 106, 108, 109, 116, 124—5, I2*>, >33, >46 Bellini, C. 34 Beljaev, A . P. 81, 85, 98, 109 Bellingshausen, F. G. 80 Bentham, J. 131 Bestuzev (-Marlinskij), A. A. 50, 72, 84, 105 BestusSev, N. A . 81 Bestuzev, P. A. 30 Bielski, M. 8 Bill'-Belocerkovskij, V. N. 30, 104 Blanc, L. 117 Blok, A . A . 164, 188 Blosseville, E . 120, 121 Bodisko, V . K.. 136, 139, 155 BogdanoviC, I. F. 32 B o g d a n o v i f , P. I. 32
ien sich auf Anmerkungen Bogoraz, V . G. (Tan) 30, 186 Bolivar, S. 80—1 Bougainville, L. A. 24 Boyesen, H. 168-9 Bret Harte, F. 5, i n , 164-5, 178, 190 Bronevskij, V . B . 55 Buchanan, J. 88 Bulgarin, F. V . 55, 56, 105 Cabet, E . 127, 135 Campe, J. H. 25, 143, J55 Carey, C. 146 Cervantes 100 Chamfort 16 Chasles, P. 128 Chateaubriand, F. R . 5, 16, 41, 63, 71, 93-6, 98, 104, 107-9, ZI7, " 9 , I 2 ° , '43, 165, 189, 191 Chomjakov, A. S. 128, 137 Chrapovickij, A. V . 40, 54 Cimmerman, E . R . 155, 174 Coleridge, S. T . 43 Comte, A . 175 Considérant, V . P. 127, 135 Cook, J. 24, 38, 83 Cooper, J. F. 5, 41, 93, 96-104, 107, 1 0 9 - 1 1 , 115, 116, 117, 119, 120, 125, 129, 153, 165, 181, 189, 191 Czartoryski, A. A. 49 Caadaev, P. Ja. 114, 115, 116 C a j k o v s k i j , N. V. 1 7 5 - 6 Cechov, A . P. 87, 145, 163, 166-7, I T s i i 8 2 , 191 CeliSCev, P. I. 25 CernySevskij, N. G. 3, 72, 101, 102, 103, 119-20, 124, 145, 146-9, 150, 153, 155, 159, 16;, 173, x 74i 175, l 8 2 , i 8 9 Ciierin, B. N. 155, 184
Dana, F. 33 Danilevskij, G. P. (Skavronskij, A.) 102, 159-60 Danilevskij, N. Ja. 115, 157—8 D a n te Alighieri 100 Daäkova, E . R . 36 D a v y d o v , D. V . 29 Debagorij-Mokrieviî, I. K . 173 Defoe, D. 14 Del'vig, A . A. 29, 72 D e r i a v i n , G. R . 13, 44, 90, 95 Destutt de T r a c y , A. 82 D e i n e v , S. I. 7
205
Dickens, Ch. 133 Dickinson, J . 40 Diderot, D. 27 Divov, V. A. 30, 81 Dixon, W. H. J55 Dmitriev, I. I. 56 Dmitriev, V. V. 24 Dobroljubov, N. A. 101, 106, 119, 145, 146, 154, 155, 160, 161, 162 Dostoevskij, F. M. i n , 154, 157, 159, 166, 169-73, 191 Dreiser, T. 103 Dreper, D. (Draper, J . W.) 155 Druzinin, A. V. 97, 106, 157, 166 Duden, G. 116 Emerson, R. W. 153, 157 Esenin, S. A. 187, 190 Evstaf'ev, A. G. 73 Eggert, È. 3 Élin, A. M. 18 È min, F. A. 20 Èrenburg, I. G. 188 ÉrteP, A. I. 182 Fadeev, A. A. 103 Faucher, L. 117 Fletter, G. 155 Fontenelle, B. 22 Fonvizin, D. I. 37-8 Fonvizin, M. A. 30, 86 Fortunatov, S. 184 Fourier, C. 135, 142, '43, >75 Fox, G. 152, 156, 161 Franklin, B. 5, 34-8, 40, 42, 43, 45-8, 52, 79, 82, 127 Frej, V. (Gejns, V. K.) 172, 174, 175, 176, 177 Friedrich II., preuß. König 33 Fulton, R. 65 Garibaldi, G. 134, 138 Gausman, I. J55 George, H. 184, 185 GerbeP, N. V. 160 Gerstäcker, G. F. 97, 101, 119 Glinka, F. N. 86 Gnedii, N. I. 33, 28, 29, 160 Goethe, J . W. 47, 91, 95, 100 Gogol', N. V. 47, 92, 96, 100, 105, 106, 154 Golicyn, D. D. 65 Golovin, I. G. 134, 145 Golovin, K. 182 Golovnin, V. M. 80 Gol'cev, V. A. 182 Gonfarov, I. A. 30, 102, 111, 158, 163-4, 19' GorEakov, D. P. 24, 38 Gor'kij, M. (Peskov, A. M.) 3, 5, 45, 103, h i , 124, 138, 154, i l 8 3 , 187-8, '9°> I9I
206
Granovskij, T. M. 103, 126 Grant, S. U. 150, 181 Gref, N. I. 94, 105 Grellet, S. 126 Griboedov, A. I. 91 Grund, F. J . 133 Hamilton, T. 116, 122 Hawthorne, N. 153, 154 Hecht, D. 2 Hegel, G. W. F. 114, 115, 125, 127, 128, 130 Heine, H. 91, 113, 160 Henry, 0 . 103 Herder, J . G. 17, 37 Herwegh, G. 136 Herzen, A . I . (Gercen) 3, 91, 92, 99, 102, 115, 116, 124, 125-7, 133-42, 143, '45; H 6 , 147, 149, >5°> !5 6 , i6 9> '9°» Hölzle, E. 2 Hoffmann, E. T. A. 105, 154, 170 Holbach, P. H. 103 Howells, W. D. 168 Hübner, J. 11, 21 Il'f, I./Petrov, E. 188, 190 Irving, W. 5, 93, 97, 104-6, n 1-2, 121, 129 Istomin, K. 10, 17, 190 Ivan IV., Zar 12 Izmajlov, A. E. 50, 55, 89, 107 Izmajlov, V. V. 94 Jacenkov, G. M. 76-8 Jackson, A. 131 Jakubovii, A. 119, 120 James, H. 168 Jazykov, M. A. 97 Jefferson, T. 34, 42, 45, 49, 52, 82 Kachovskij, P. G. 46, 79 KaCenovskij, M. T. 62 Kameneckij, B. 3 Kantemir, A. D. 25 Kapp, F. 134 Karamzin, N. M. 25, 32, 36, 38, 41, 48, 51-2, 67, 75, 76, 94 Karzavin, F. V. 33-4 Kataev, V. P. 90, 188 Katharina II., Zarin 13, 27, 32, 35, 36, 40, 49, 54, 88, 97 Katkov, M. N. 97, 150, 152, 157 Kennan, G. 184 Ketier, N. Ch. 97, 100, 102 Kiparsky, V. 2 Kiprijanov, V. 14 Kireevskij, I . V . 37, 115, 116, 129-30 Klinger, F. M. 31 Kluäin, A. I. 19, 25 de Kok, P. 105
Kol'cov, A. V. ioo K o l u m b u s , Ch. 12, 13, 2 4 - 5 , 90, 92, i n K o r e l i n - B e k e t o v a , E . G. 164 K o r n i l o v , A . A . 125 K o r o l e n k o , V . G. 3, 5, 30, 102, 165, 166,
167,
173, 175, 1 7 6 , "82, 183, 1 8 5 - 7 , l9°> I91 K o s c i u s z k o , T . 34, 82 K o s s u t h , L . 134 K o t z e b u e , A . F. 18, 19, 25, 83 K o t z e b u e (Kocebu), O. E . 80 K o v a l e v s k i j , M. M. 168, 184 K o z l o v , I. I. 75, 89 K r a t t , I. 28 K r j u k o v , N . A . 45, 82 Kruzenätern, I. F. 80 K ü c h e l b e c k e r ( K j u c h e l ' b e k e r ) , M. K . 80 K ü c h e l b e c k e r ( K j u c h e l ' b e k e r ) , V. K . 46, 83, 96, 99, i o 5 , I 0 9 Lacépède, B . G. 89 L a d y g i n , D. M. 33, 44 L a f a y e t t e , M. J. P . 34, 37, 49, 86, 127 L a h a r p e , J . F. 20, 24 Lakier, A . 155 L a n g e , M. 155 Lapérouse, J. P. 83 L a s Casas, B . 21, 90 Laserson, M. 2 Lavallée, J. 25 L a v a t e r , J . K . 46 L a v r o v , P . L . 150—r, 153 L a z a r e v , A . 80 Lazarev, N. 3 L a z e i n i k o v , 1 . 1 . 99 Leibniz, G. W . 12 L e n a u , N . 91, 113 Lenin, V . I. 45, 149
M a y n e R e i d , T . 104, 1 1 1 , 164-5, 167, 178, 190 Mazzei, F. 82 Mazzini, G. 134 Medvedev, L. M. 166 Michajlov, M. I. 153, 160-1 Michajlovskij, N . K . 103, 175 Middleton, H. 90 Mill, J. S. 117 Minaev, D. D. 149, 1 6 1 - 2 , 164, 185, 190 Miranda, F. 32 Mohl, R . 184 Mombelli, N . A . 143 Monroe, J. J57 Montesquieu, C. L. 18, 30 Montezuma 22 Montolieu, I. 126 Mordvinov, N . S. 83 Moreau, J . V. 59, 60 Murat, A . 116 M u r a v ' e v , N . M. 79, 81 M u r a v ' e v (-Amurskij), N. N. 84 M u r a v ' e v - A p o s t o l , M. I. 95 Musorgskij, M. P. log N a d e i d i n , N . I. J05, 107 Napoleon I. 60, 79 N e k r a s o v , N . A . 144, 162 N e k r a s o v , V . P . 104 Niemcewicz, J . U . 82 N i k o l a j I., Zar 88, 144 N o v i k o v , M. N . 8 !
Lepage, A . M. 25 L e r m o n t o v , M. J u . 29, 93, 96, 98, 100, 108, 191 L e r o u x , P . 127 L e s k o v , N . S. 165 Lewis, M. G. 122 L i n e v , I. L . 173, 176, 182 Lincoln, A . 141, 147, 161, 162 L i s j a n s k i j , J u . F. 80 L o m o n o s o v , M. V . 1 2 - 1 3 , 2 2 > London, J . 103 Longfellow, H. W . 153, 155, 160 Lorer, N . I. 46, 86 Lowell, J . R . 153 L u n i n , M. S. 30 L u t k o v s k i j , F. S. 80
M a j k o v , A . N . 160, 161, 163 Maksim Grek 8 M a l i k o v , A . K . 175, 176 Malkin, M. M. 3 Marmontel, J. F. 15, 16, 90 Martineau, H. 133
35, 7 1 , 84, 189
Mackenzie, A . 83 M a i t e t , G . A . 5, 174, 176-83, 185, 186, 190-1 Madison, J . 34, 6o, 62 M a j a k o v s k i j , V . V . 3, 30, 42, 104, 124, 165, 187-8, 190
N o v i k o v , N . I. 23, 25, 32, 34, 36-7, 4 1 , 42, 44, 46, 49, 88, 126 N o v o s i l ' c e v , N . N . 49 Obolenskij, E . P. 83 Odoevskij, V . F . 56, 130-2, 133, 190 O g a r e v , N . P . n o , 115, 116, 191 Ogorodnikov, P. I. 155, 171 Ostrogorskij, M. J. 184 O t t o , F. 133 Owen, R . 135, 175 Pahlen, F. P. 53 P a n a e v , I. I. 97, 100 Panin, N . I. 33, 37 P a n j u t i n , L. 152, 1 6 1 - 2 P ei eri n, V. S. 92, 113, 126, 141, Peel, R . 117 Penn, W . 1 1 , 1 2 5 - 7
171,
174, 191
Pestel', P . I. 45, 46, 54, 81, 82, 86, 108 Peter I., Zar 7, 11, 12, 42, 73, 126, 128
207
Petrasevskij-Butaseviî, M. V. 119, 143, Pil'njak, B. (Vogau, B. A.) 188, 190 Pisarev, A. I. 90 Pisarev, D. I. 146, 155 Pizarro, F. 90 Platen, A. 91 Platner, E . 38 Plechanov, G. V. 149, 151, 188 Plesieev, A. N. 165 Plimak, E . G. 3 Pnin, I. P. 29 Pobedonoscev, K. P. 157 P o e ,
E .
A.
90, 153-4, 165,
171
170
Poe, W. H. L. 90 Pogodin, M. P. 94, 132, 156, 157 Pokrovskij, S. A. 3 Poletika, P. I. 2, 72, 74-5, 78, 82, 88, 116, 183 Polevoj, K . A. 56, 57 Polevoj, N. A. 80, 94, 97, 104, ro5, 106, m , 126 Polezaev, A. I. 109, 191 Poltorackij, S. D. 80 Popugaev, V. V. 26, 28, 29, 36, 160 de la Porte, Abbé 20 Pravdin, E . 185 Prévost, Abbé 11, 15, 20 Puschkin, A. S. 3, 11, 13, 30, 47, 50, 55, 56, 75, 80, 85,
90, 91,
95-6, 98, 104,
120-4, 127, 130,
105-6, 109, 118,
131
Pu§£in, I. I. 47, 87 Pypin, A. N. 153 Quinet, E .
140
Racine, J . 15 Radiâïev, A. N. 49.
66
3, 5, 26-9, 35, 38-44, 45,
, 79, 81, 85.
86
.
88
>
I26
46,
, '43, 149.
48,
i8
7,
189, 191
Raevskij, V. F. 29, 46, 88 Rameau, J . P. 15 Raynal, Abbé, 3, 5, 22-30, 31, 41-2, 82, 90, Rezanov, N. P. 84 Robertson, W. 27, 28, 82, 89, 90 Romanov, V. P. 80, 84 Rosen, R. 45, 102 RotCev, A. G. 153 Rousseau, J . J . 15, 16, 17, 27, 30, 31, 43, J09, 189
Rozen, A. E . 87, 145 Rozengejm, M. 161 Rumjancev, N. P. 38, 65 Ryleev, K . F. 46, 81, 82, 83, 84, 86, 87, Sainte-Beuve, C. A. 117 Saint-Pierre, J . H. B . 16 Saint-Simon, C. H. 127, 142 Saltykov-Siedrin, M. E. 165, Sand, G. 138 Schelling, F. W. J . 127 Schiller, F. 77, 47, 126
208
126
Schmoller, G. 184 Schubart, C. F. D. 17, 41 Schurz, C. 134 Schuyler, E . 168 Scott, W. 96, 97, 98, 99, 100, 106 Sealsfield, C. 97 Senjavin, D. N. 53 Senkovskij, 0 . I. 34, 47 Seume, J . G. 17 Shakespeare, W. 100 Siemens, G. 163 Skabi£evskij, A. M. 182 Smirdin, A. F. 56 Sochackij, P. A. 32 Somov, O. M. 84 Southey, R . 43 Starcev, A. I. 3 StanjukoviS, K . M. 30, 102, 165, 185, Steuben, F. W. 34 Sue, E . 30, 99 Sumarokov, A. V. 13, 22, 28, 84, 189 Suvorov,A. V. 53 Sverbeev, D. N. 55 Svin'in, P. P. 2, 45, 47, 53-75, 78,
82, 88,
89,
109, 116, 118, 183, 190, 191
Sachovskoj, A. A. 98 Salikov, P. I. 94 Selichov, G. I. 13 Sevyrev, S. P. 72, 128 Stejngel', V. I. 30, 47, 84 Sumacher, P. V. 103 Tacitus, P. C. 28 Tarnow, F. 53, 72 Tarsaidze, A. 1 Tatarinov, A. N. 119 Taylor, B. 153 Tieck, L. 105 Tocqueville, A. 5,44,70,71,88,114,116-20,
:22-8,
130, 131, 132-3, 134, 141, 143, 146, 156, 158, 181, 189
Tolstoj, A. K . 103,
47,
i i t - 2 , 163,
Tolstoj, A. N. 188 Tolstoj, F. I. 90—1 Tolstoj, L. N. 47, 91, 96, 167,
89
186
168,
190,
191
110-1, 119, 158,
166,
175, 184, 185
Torson, K . P. 80 Trollope, A. 157, 166 Trollope, F. 133 Trubeckoj, S. P. 83 Tumanskij, F. O. 32 Turìaninov, I. V. 138 Turgenev, A. I. 25, 36, 47, 72, 75, 94, 118-9, Turgenev, I. S. 2, 102-3, 108, 144, 145, 154, 165, 167-9, I 75» Turgenev, N. I. 55, 5 6 ) 59, 75, 79, 134 Tverskoj (Demens), P. A. 57, 155 120
167
Twain, M. 103, 153, 15s, 168
Vvedenskij, I. I. 97
Unkovskij, S. Ja. So Uspenskij, G. I. 165, 182
Washington, G. 34-9, 43, 44, 45-8, 49, 52, 79,
Veliiko, V. L. 185 Vel'tman, A. F. 105 Vengerov, S. A. 102, 182 Veselovskij, A. N. 101 Vigel', F. F. 74 Vinet, A. 130 Visnevskij, F. V. 80 Vjazemskij, P. A. 29, 38, 47, 55~ 6 , 75, 94, 159 Vladimirov, M. M. 135 Voejkov, A. F. 35, 55, 107 Volkonskij, S. G. 79, 81 Voltaire 12, 15, 16, 18, 19, 22, 38, 126 Vol'chovskij, V. D. 46 Voroncov, A. R. 17, 53 Vostokov, A. Ch. 46
8 1 , 82, 1 1 1 - 2 , 1 2 7
Wesselhöft, R. 100 Wezel, J. C. 20 Whitman, W. 153, 154 Whittier, J . G. 153 Willkomm, E. A. 91 Wilson, W. 188 9 Z ~3,
Yarmolinsky, A. 2, 10 Zagoskin, L. A. S5, 124 Zagoskin, M. N. 56, 72, 98, 99 Zajcev, V. A. 149-50 Zarin, E. F. 102 Zavalisin, D. I. So, 81, 84, 85, 109 Zeleznikov, P. 46 Zukovskij, V. A. 16, 47, 53, 72, 75, 91, 94, 95, 107
Berichtigungen S. 56, Z. 14 und S. 57, Z. 8 lies K. A. Polevoj statt N. A. Polevoj S. 72, Anm. 124 lies Romane Nareznyjs
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