Costa Rica: Interne Aspekte der Entwicklung einer Demokratie in Lateinamerika 9783964566720

Die Autorin untersucht detailliert die institutionellen, politischen und sozioökonomischen Faktoren, die zur Herausbildu

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German Pages 224 Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Demokratietheoretischer Rahmen
3. Etappen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung bis zur „Revolution" 1948
4. Bedingungsfaktoren der Demokratie in der „Zweiten Republik"
5. Resümee
Literaturverzeichnis
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Costa Rica: Interne Aspekte der Entwicklung einer Demokratie in Lateinamerika
 9783964566720

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Annette Heintz Costa Rica: Interne Aspekte der Entwicklung einer Demokratie in Lateinamerika

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Politik in der Gegenwart Band 3 Herausgegeben von Manfred Mols

Annette Heintz

Costa Rica: Interne Aspekte der Entwicklung einer Demokratie in Lateinamerika

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1998

Die vorliegende Arbeit wurde v o m Fachbereich 12 - Sozialwissenschaften - der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 1997 zur Erlangung des akademischen Grades eines Dr. Phil, angenommen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heintz, Annette: Costa Rica : interne Aspekte der Entwicklung einer Demokratie in Lateinamerika / Annette Heintz. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1998 (Politik in der Gegenwart ; Bd. 3) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-89354-483-6 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1998 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Stephan Schelenz Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany: Rosch-Druck, Scheßlitz

Für meinen Vater Günther Heintz in memoriam meiner Mutter Antonia

7

Vorwort Herzlichen Dank allen, die zum Abschluß dieser Studie beigetragen haben: Am Institut für Politikwissenschaft in Mainz meinem Doktorvater Prof. Dr. Manfred Mols, der, teils mit Geduld, teils mit „harter Hand", die Arbeit betreute und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Merkel, der das Zweitgutachten erstellte. Bei meinen Forschungsaufenthalten in Costa Rica halfen mir viele Menschen, das Land in Theorie und Praxis kennenzulernen. Studenten und Professoren der Escuela de Relaciones Internacionales, Vertreter von Parteien und Gewerkschaften, Mitarbeiter der Konrad Adenauer-Stiftung und der Friedrich Ebert-Stiftung sowie Christian Much, der mir als Angehöriger der Deutschen Botschaft in San José mit seiner Fachkompetenz wertvolle Kontakte und Einblicke vermittelte. Aus dem Kreis meiner Freunde möchte ich besonders Katja und Manfred Bader hervorheben, die mit ihrer umfassenden „Bauaufsicht" manch' brüchige Stelle gekittet, manch' wackeliges Fundament stabilisiert haben; Axel Misok, dem es mit seinem computer-technischen Beistand immer wieder gelungen ist, Verzweiflungszustände bei der Endredaktion zu beseitigen und Peter Imbusch, der unermüdlich -bisweilen auch konstruktive- Kritik übte. Meinem Vater, der mich in vielerlei Hinsicht unterstützt und ermutigt, ja sich sogar durch eigene Anschauung ein Bild vom „Musterländle" Mittelamerikas verschafft hat, möchte ich dieses Buch widmen.

Bodenheim, im Oktober 1997

Annette Heintz

9

Inhaltsverzeichnis Tabellenverzeichnis

13

1.

Einleitung

15

2.

Demokratietheoretischer Rahmen

17

2 1

Theoretische Positionen in der modernen „westlichen" Demokratiediskussion

17

2.1.1

Der empirisch-deskriptive Theorieansatz

22

2.1.1.1

Die pluralistische Theorie der Demokratie

22

2.1.1.2

„Demokratie als Methode"

25

2.1.1.3

Theorie demokratischer Elitenherrschaft

28

2.1.2

Der normativ-präskriptive Theorieansatz

29

2.1.2.1

Das Modell der Subsystemdemokratisiening

31

2.1.2.2

Das Modell politischer Dezentralisierung

33

2.2

Demokratie in Lateinamerika

34

2.2.1

Demokratie in der Entwicklungstheorie

35

2.2.2

Die aktuelle Diskussion um Demokratie in Lateinamerika

38

2.3

Zusammenfassung

54

3.

Etappen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung bis zur „Revolution" 1948

59

Von der Entdeckung bis zur Unabhängigkeit: Das koloniale Erbe (1502-1821)

60

3.1

Inhaltsverzeichnis

10

3.2

3.3

3.4

Unabhängigkeit, Herausbildung und Konsolidierung des Nationalstaates (1821 -1870)

69

Die Phase der oligarchisch-liberalen Republik: Entstehung der formalen Grundlagen der Demokratie

80

Vom liberalen zum reformistischen Staat: Soziale Reformen und Neuordnung der politischen Kräfte in den 40er Jahren

105

Der Weg in den Bürgerkrieg und das Ende der „Ersten Republik"

116

3.6

Zusammenfassung

124

4.

Bedingungsfaktoren der Demokratie in der „Zweiten Republik"

127

4.1

Die Verfassung von 1949

127

4.1.1

La Repühlica (Titulo I)

128

4.1.2

Grundrechte (Titulo IV, V, VIII)

129

4.1.2.1

Individuelle Rechte und Garantien (Titulo IV, Art. 20-48)

129

4.1.2.2

Soziale Rechte und Garantien (Titulo V, Art. 50-74)

131

4.1.2.3

Politische Rechte und Pflichten (Titulo VIII, Art. 90-104)

134

4.1.3

Gewaltenteilung (Titulo IX, X, XI)

137

4.1.3.1

Die Legislative (Titulo IX, Art 105-129)

137

4.1.3.2

Die Exekutive (Titulo X, Art. 130-151)

138

4.1.3.3

Die Judikative (Titulo XI)

140

4.1.3.4

Weitere Institutionen zur Dezentralisierung der politischen Macht (Titulo XII, XIII, XIV, XV)

141

3 .5

Inhaltsverzeichnis

U

4.2

Das System der politischen Willensbildung

144

4.2.1

Parteiensystem und Wahlen

144

4.2.1.1

Der Partido Liberación Nacional (PLN)

146

4.2.1.2

Die „Oppositionsparteien"

152

4 .2 .1.3

Das Spektrum der Linksparteien

159

4.2.1.4

Zur Klassifizierung des Parteiensystems

162

4.2.2

Gewerkschaften und Asociaciones Solidaristas

165

4.3

Entwicklungsstrategien

177

4.3.1

Die sozioökonomische Entwicklung bis zur Wirtschaftskrise

177

4.3.2

Entwicklungsstrategische Veränderungen seit der Wirtschaftskrise Ende der 70er Jahre

186

Resümee

197

Literaturverzeichnis

205

5.

13

Tabellenverzeichnis Tabelle 1:

Ergebnisse der Parlamentswahlen 1953 bis 1994 (in % der gültigen Stimmen)

145

Tabelle 2:

Regierungen seit 1953

146

Tabelle 3:

Entwicklung der Anzahl der Gewerkschaften 1960 bis 1971

169

Tabelle 4:

Gewerkschaftsmitglieder nach Verbänden 1954, 1964, 1970, 1986

169

Tabelle 5:

Zahl der Gewerkschaften nach Wirtschaftszweigen

170

Tabelle 6:

Gewerkschaften und Gewerkschaftsmitgliedschaften 1979-1987

170

Tabelle 7:

Anteil der verschiedenen Industriezweige am Produkt der verarbeitenden Industrie in %

180

Bruttoinlandsprodukt nach Wirtschaftssektoren in % 1950-1978

181

Tabelle 8:

Tabelle 9:

Verschiedene Wirtschaftsindikatoren Costa Ricas 1976 bis 1983

186

Tabelle 10:

Verschiedene Wirtschaftsindikatoren 1984 bis 1990

194

Tabelle 11 :

Armut und extreme Armut in % der Bevölkerung 1980 bis 1990

194

15

1.

Einleitung

„Costa Rica ist anders, und die Costaricaner sind stolz darauf." Dieser Satz ist in der Literatur über das kleine, zwischen Nicaragua und Panama gelegene, mittelainerikanische Land immer wieder in dieser oder ähnlicher Formulierung zu lesen, und man findet ihn bei einem dortigen Aufenthalt auch bestätigt. Die außerordentlich schöne Landschaft, die ungewöhnlich freundlichen und hilfsbereiten Menschen, vor allem aber die wirtschaftliche, soziale und politische Situation sind Bestandteile jener Andersartigkeit, die dem Land die häufig benutzte Bezeichnung als „Schweiz Mittelamerikas" eingebracht hat. Im lateinamerikanischen Vergleich heben sich viele Entwicklungsindikatoren (etwa bezüglich der Einkommensverteilung, der Sozialstmktur, des Bevölkerungswachstums, des Bildungs- und Gesundheitswesens, der Alphabetisierungsrate etc.) positiv von anderen Ländern ab. Probleme der nationalen Integration, die andernorts durch eine große ethnische, kulturelle und/oder religiöse Heterogenität entstehen, werden kaum offensichtlich, da Costa Ricas Gesellschaft eine der ethnisch und religiös homogensten der Welt ist. Klassische Menschenrechtsverletzungen werden von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie z.B. Amnesty International fast nicht beklagt. Die verfassungsmäßige Abschaffung der Armee im Jahre 1949 sowie die am 17.11.1983 explizit erklärte Neutralität tragen, insbesondere in Anbetracht der langjährigen Bürgerkriege und inneren Unruhen in den Nachbarstaaten, erheblich zu dem Bild der „Oase des Friedens in Mittelamerika" bei. Im Jahre 1987 wurde Oscar Arias Sánchez, dem damaligen Staatspräsidenten, für den nach ihm benannten Friedensplan für Zentralamerika der Friedensnobelpreis verliehen. Zwei Jahre später feierte Costa Rica mit großem Aufwand das hundertjährige Bestehen seiner Demokratie. Dieses Ereignis veranlaßte viele namhafte in- und ausländische Sozialwissenschaftler zu einer erneuten Diskussion über Wesen und Art, Mythos und Realität costaricanischer Demokratie und Politik. Obwohl weitgehend Einigkeit darüber besteht, daß Costa Ricas politisches System seit 1949 als moderne repräsentative Demokratie zu bezeichnen ist, die sich durch eine im lateinamerikanischen Kontext außergewöhnliche Stabilität und Langlebigkeit auszeichnet, wird doch die Frage gestellt, inwiefern man angesichts der Diktatur zwischen 1917 und 1919, der Ereignisse, die 1948 zu einem Bürgerkrieg führten, und der Tatsache, daß Frauen 1953 zum erstenmal wählen durften, von 100 Jahren Demokratie sprechen kann. Neben diesen -und anderen- historischen Fragwürdigkeiten bietet die seit Anfang der 80er Jahre bestehende Wirtschaftskrise mit ihren politischen und sozialen Auswirkungen ausreichend Anlaß, die Bedingungsfaktoren der costaricanischen Demokratie sowie das Demokratieverständnis der politischen Akteure näher zu betrachten.

16

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschränkt sich dabei auf die internen Bedingungsfaktoren der Demokratie, die im Laufe der Entwicklung des Landes wirksam geworden sind. Damit sollen nicht bestimmte modernisierungstheoretische Implikationen bestätigt werden, die von einer weitgehenden nationalen Autonomie und Selbstbestimmungsfreiheit der Entwicklungsländer bezüglich der Gestaltung ihrer ökonomischen und politischen Ordnung ausgehen. Eine solche Sichtweise wäre im Falle Costa Ricas -wie auch in vielen anderen- schlichtweg unzulänglich. In diesem Sinne kann die folgende Betrachtung einiger interner Kernbereiche der costaricanischen Demokratie also nicht als umfassende Gesamtanalyse im Sinne einer Länderstudie verstanden werden, sondern lediglich als ein Versuch, gewisse Besonderheiten des Landes ausschnitthaft zu erfassen. Die Arbeit besteht im wesentlichen aus drei Teilen. Der erste Teil bildet den theoretischen Rahmen des bearbeiteten Themas. Er umfaßt die wichtigsten Ansätze der modernen „westlichen" Demokratietheorie und die teilweise darauf aufbauende Diskussion um Demokratie und Entwicklung in Lateinamerika, um den der Untersuchung zugrundeliegenden Demokratiebegriff zu klären. Im zweiten Teil werden die Etappen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung bis zur „Revolution" 1948 dargestellt. Es wird versucht herauszuarbeiten, welche spezifischen Zusammenhänge zu Costa Ricas langer demokratischer Tradition gefuhrt haben, worauf sie basiert und welche belastenden Legate erkennbar sind. Der dritte Teil behandelt die institutionellen und sozioökonomischen Bedingungsfaktoren der costaricanischen Demokratie in der „Zweiten Republik". Dabei stehen die Grundlagen und Besonderheiten der Verfassung, das System der politischen Willensbildung und die eingeschlagenen Entwicklungsstrategien im Mittelpunkt der Analyse. In einem abschließenden Resümee werden die vorausgegangenen Teilergebnisse zusammengefaßt und bezüglich ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Demokratie bewertet.

17

2.

Demokratietheoretischer Rahmen

Will man sich mit den internen Aspekten der Entwicklung der Demokratie eines Landes beschäftigen, ist es unumgänglich, sich zunächst damit auseinanderzusetzen, was Demokratie überhaupt ist. Dies ist recht schwierig, denn die Fülle der Literatur, die sich aus historischer, philosophischer, politologischer, soziologischer oder ökonomischer Perspektive mit diesem Thema befaßt, ist kaum noch überschaubar. Und dennoch -oder deswegen- gibt es keine klare, eindeutige und vor allem unumstrittene Definition, die sich in einer einzigen griffigen Formel verdichten ließe.' Mit einer Reihe weiterer Schwierigkeiten sieht man sich konfrontiert, wenn das Land, dessen Demokratiedeterminanten untersucht werden sollen, kein europäisches, sondern ein lateinamerikanisches ist. In einer sehr differenzierten, umfangreichen Diskussion um Demokratie und Entwicklung in Lateinamerika geht es einerseits um die Übertragbarkeit von Demokratiemodellen, die aus westlichen Denkschemata hervorgegangen sind und deren Vereinbarkeit mit eigenen politischen Vorstellungen und Erfahrungen, andererseits um lateinamerikaspezifische soziokulturelle und sozioökonomische Gegebenheiten - bei gleichzeitiger Betonung innerlateinamerikanischer Heterogenität. Die vorliegende Arbeit kann weder den Begriff „Demokratie" umfassend und vollständig definieren noch die gesamte Problematik der lateinamerikanischen Demokratie- und Entwicklungsdiskussion aufarbeiten. Sie versucht in diesem Abschnitt lediglich, anhand eines Überblicks über die wesentlichen demokratietheoretischen Positionen und der Diskussion um Transition und Konsolidierung der Demokratie in Lateinamerika ein Instrumentarium zur Analyse zu schaffen sowie daraus eine Demokratievorstellung zu entwickeln, die den weiteren Ausfuhrungen zugrunde liegt.

2.1

Theoretische Positionen in der modernen „westlichen" Demokratiediskussion

Setzt man sich mit der -sowohl auf der Ebene der politischen Praxis als auch der politischen Theorie- international geführten Demokratiediskussion auseinander, kann man sich häufig des Eindrucks nicht erwehren, daß Einigkeit im Grunde nur über die Uneinigkeit um Begriff und Inhalt des Phänomens Demokratie besteht. Einzig seine eindeutig positive Konnotation in der politischen Semantik ist unumstritten: „Demokratie ist wie kaum ein anderer Begriff der politischen Theorie

Vgl. zur Problematik des Demokratiebegriffs M. Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung, Köln/Opladen 1967, 11 ff

18

2 Dcmokralictheorelischer Rahmen

zum Signalwort für positive Wertungen in der Sprache der Politik geworden."2 Während „Demokratie" im 19. Jahrhundert eine revolutionäre Kampfparole war, ist sie heute „zu einem jener Allerweltsbegriffe der Politik und der Politikwissenschaft [.. .] aufgestiegen, dem jeder Tribut zollt'" und mit dem sich fast alle zu schmücken versuchen. „Selbst die Gegner der Demokratie sind wortgebrauchspolitisch auf sie fixiert; ihre Einwände bringen sie nicht als gegen die Demokratie gerichtet vor, sondern kleiden sie in den Mantel der Kritik an aktuellen Erscheinungsformen der Demokratie."4 Umgekehrt impliziert der Begriff des „Un-" oder „Anti-Demokratischen" eine negative Bezeichnung derjenigen -autokratischenSysteme, gegen die es sich abzugrenzen gilt. Es wäre erfreulich, wenn man die übereinstimmende Akzeptanz der Demokratie nun als ein Zeichen grundsätzlicher Anerkennung demokratischer Werte, Ziele und Spielregeln betrachten könnte, doch deuten sowohl praktische politische Erfahrungen als auch die Probleme in der demokratietheoretischen Auseinandersetzung eher darauf hin, daß ein konfuses Demokratieverständnis die Ursache dafür ist. Also bedarf es einer näheren begrifflichen Bestimmung, denn -und hierin ist Giovanni Sartori zuzustimmen- daß „Demokratie mehrere Bedeutungen hat, damit könnte man leben. Daß aber 'Demokratie' einfach alles und jedes bedeuten kann, das ist zuviel."5 Bevor im folgenden auf die einzelnen Positionen der modernen Demokratietheorie näher eingegangen wird, ist eine grundsätzliche Erläuterung notwendig: Der Begriff „moderne Demokratietheorie" bzw. ,,-diskussion" steht hier für die unterschiedlichen Varianten im Rahmen des pluralistisch-konkurrenztheoretischen Demokratieverständnisses und dient zur Abgrenzung gegenüber der von Rousseau geprägten „Identitätstheorie" der Demokratie, die von der Identität von Regierenden und Regierten ausgeht, einen einheitlichen Volkswillen und ein vorgegebenes Gemeinwohl voraussetzt, die Gesellschaft als homogen betrachtet, die Legitimität von Interessenkonflikten leugnet und die Volkssouveränität nicht durch Repräsentation, sondern nur durch das Volk selbst und direkt verwirklicht sieht. Diese Differenzierung ist insofern von Bedeutung, als „für den demokratischen Verfassungsstaat [.. .] ausschließlich die Konkurrenztheorie der Demokratie eine angemessene Legitimationsgrundlage"6 darstellt. Die genannten identitätstheoretischen Prämissen negiert auch Norberto Bobbio, wenn er feststellt: „Es ist eine Tatsache, daß unsere Gesellschaften im Unterschied zur antiken polis Gesellschaften mit mehreren Machtzentren sind. Und es ist daher nur eine Folge aus dieser Tatsache, daß die moderne Demokratie im Gegensatz zur antiken Demo3

4

5 6

F Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz 1970, 8 U v. Alemann, Demokratie, in: W. Mickel (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, Bonn 1986, 75-79, hier: 75 B. Guggenberger, Demokratie/Demokratietheorie, in: D. Nohlen (Hrsg ), Wörterbuch Staat und Politik, München 1991, 70-79, hier: 70 G Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1992, 15 E Jesse, Typologie politischer Systeme der Gegenwart, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg ), Grundwissen Politik, Bonn 1991, 162-219, hier: 171.

Theoretische Positionen

19

kratie den Pluralismus vorsehen muß. Der Pluralismus ist in erster Linie eine objektive Situation, in der wir leben, und erst dann eine Theorie."7 Bestimmte identitätstheoretisch orientierte ordnungspolitische Vorstellungen haben sich als empirisch unhaltbar erwiesen, in ihrer realpolitischen Umsetzung haben sie sich dadurch diskreditiert, daß sie in totalitären Staatstheorien mißbraucht wurden, welche „die akklamatorisch bestätigte Diktatur als reinste Verkörperung des Volkswillens propagierten.'" Dennoch wird der demokratische Anspruch des Modells nicht bestritten9 und der abstrakte Gegensatz zwischen identitärer und repräsentativer Demokratie zunehmend als unfruchtbare Scheinaltemative abgelehnt.10 „Gerade weil es zwischen der extremen Form von repräsentativer Demokratie und der extremen Form von direkter Demokratie ein Kontinuum von Zwischenformen gibt, kann ein System vollständiger Demokratie gewöhnlich alle beide enthalten, jede der beiden entsprechend den verschiedenen Situationen und Anforderungen."11 Das Gedankengut Jean-Jacques Rousseaus, das häufig als das im engeren Sinne demokratische bezeichnet wird, und die politischen Ideen John Lockes, die oft liberal genannt werden, bilden somit zusammen noch immer die geistesgeschichtlichen Grundlagen der modernen Demokratietheorie und mit ihren weitreichenden Implikationen die Eckpfeiler der ideologischen und politischen Auseinandersetzung. Sartori faßt das Zusammenspiel des liberalen und des demokratischen Elements in modernen politischen Systemen wie folgt zusammen: „Dem ersten geht es besonders um politische Unterdrückung, individuelle Initiative und die Form des Staates, dem zweiten besonders um soziale Belange, Gleichheit und sozialen Zusammenhalt."12 Liberalismus ist also „vor allem die Methode zur Begrenzung der Staatsmacht", die Demokratie dagegen „die Einfuhrung der Volksmacht in den Staat"", womit auch der Unterschied zwischen der politischen und der sozialen Bedeutung des Begriffs Demokratie deutlich wird: „Im politischen Sinne gibt es keinen nennenswerten Unterschied zwischen dem demokratischen und dem liberalen Staat; jener ist zum größten Teil dieser unter einem neuen Namen. Spricht man dagegen von Demokratie im sozialen Sinne, so spricht man von der eigentlichen Demokratie und nicht vom Liberalismus."14 Pluralistischrepräsentative Demokratieformen beinhalten daher notwendigerweise eine Kombination aus liberalen und demokratischen Komponenten, deren qualitative wie quantitative Akzentuierung die Basis der theoretischen Diskussion darstellt.

7 8

9 10 11 12

"

14

N Bobbio, Die Zukunft der Demokratie, Berlin 1988, 57. U v. Alemann, Identitäre Demokratie, in: D Nohlen/R -O. Schulze (Hrsg ), Politikwissenschaft Theorien - Methoden - Begriffe, München 1989, 347. Vgl u a E Jesse, 1991, 170. Vgl U v Alemann, 1989, 347 N Bobbio, 1988, 48 f. G Sartori, 1992, 377 G Sartori, 1992, 376 G Sartori, 1992, 376 f.

20

2 Demokratietheoretischer Rahmen

Dementsprechend lassen sich die verschiedenen Ansätze der modernen Demokratietheorie grundsätzlich in zwei Richtungen unterteilen, die in der Literatur unterschiedlich benannt werden: Klaus von Beyme unterscheidet „dynamische" von „statischen"15 Demokratiemodellen, Bernd Guggenberger „normative" von „empirisch-deskriptiven" 1 ', Giovanni Sartori „präskriptive" von „deskriptiven" 17 , Elmar Wiesendahl „normative" von „realistischen"18. Trotz verschiedener Bezeichnung ist im wesentlichen dasselbe gemeint: Die normativ-präskriptive Richtung der Demokratietheorie definiert, was Demokratie idealerweise ausmacht, was sie leisten soll und begründet wozu sie dient, während die empirisch-deskriptive Richtung beschreibt, wie die Demokratie tatsächlich beschaffen ist und wie sie funktioniert. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Richtungen wissenschaftstheoretisch „in der Fragestellung, der Perspektive und dem methodologischen Vorgehen"19 strikt voneinander abzuweichen; bei genauerer Betrachtung bemerkt man jedoch, daß diese Differenzierung nur eine „ungefähre Orientierung" erlaubt, „denn auch normative Begründungen berufen sich auf Empirie, und umgekehrt beschreiben die empirischen Ansätze nie bloß die vorgefundene Wirklichkeit, sondern interpretieren und organisieren sie unter einem besonderen Frageaspekt."20 Die Kontroverse um „normative" und „empirische" Demokratiebegriffe würde wohl kaum so beharrlich ausgetragen, wäre sie nur ein Streit akademischer Schulen um deduktives oder induktives Vorgehen auf der wissenschaftstheoretischen Ebene. Sie hat auch eine inhaltliche Komponente, die aus konkurrierenden politischen Werten und Vorstellungen besteht und auf demokratietheoretischer Ebene in den verschiedenen Ansätzen und Konzepten zum Ausdruck kommt. Einerseits wird Demokratie auf ein Verfahren, „eine politische Methode mit ihrer einhergehenden Reduzierung auf ein bloßes Ordnungsprinzip" beschränkt, andererseits „Demokratie als Verhaltensprinzip ('Lebensform')" 21 angesehen. Dieses Spannungsverhältnis charakterisiert Elmar Wiesendahl nicht nur für den Bereich der politischen Theorie, sondern auch der politischen Praxis als Auseinandersetzung, die sich zwischen der Position derer bewegt, „die sich pragmatisch mit den Herrschenden ihrer Zeit zu arrangieren wissen - und der der anderen, die für verlockende utopische Ziele bereit sind, herrschende Verhältnisse billig in Zahlung zu geben."22 Obwohl, wie bereits erwähnt, eine klare Trennung zwischen den einzelnen demokratietheoretischen Ansätzen nicht möglich ist, sind sowohl die deskriptive " 16 17 18 19 20 21

22

K v Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart, München 1984 (5 Aufl ), 192 ff B Guggenberger, 1991, 72 G. Sartori, 1987, XII. E. Wiesendahl, Moderne Demokratietheorie, Frankfurt 1981, 10. E. Wiesendahl, 1981, 10. B Guggenberger, 1991, 72. F Grube/G. Richter, Einleitung, in: dies. (Hrsg), Demokratietheorien, Hamburg 1975, 928, hier: 11. E. Wiesendahl, 1981, 124.

Theoretische Positionen

21

als auch die präskriptive Ebene sowie deren analytische Unterscheidung wichtig, was Sartori wie folgt begründet: „Daß Tag und Nacht allmählich ineinander übergehen, bedeutet nicht, daß ihr Unterschied nur einer des Grades wäre oder (noch schlimmer) daß Tag und Nacht nicht unterscheidbar wären. Demgemäß ist das Problem der Definition der Demokratie ein zweifaches, man braucht gewissermaßen eine deskriptive und eine präskriptive Definition. Die eine kann ohne die andere nicht bestehen und auch nicht durch sie ersetzt werden." Er fugt hinzu, daß man nicht übersehen dürfe, ,,a) daß das demokratische Ideal nicht die demokratische Wirklichkeit definiert und daß umgekehrt eine reale Demokratie nicht dasselbe wie eine ideale ist und sein kann; und b) daß die Demokratie aus den Wechselwirkungen zwischen ihren Idealen und ihrer Wirklichkeit entsteht und gestaltet wird, aus dem Drang eines Sollens und dem Widerstand eines Seins"23 Den besten Zugang zu den wesentlichen inhaltlichen Vorstellungen, die sich mit dem Begriff „Demokratie" verbinden, bietet das begriffsgeschichtlichetymologische Vorgehen. Demokratie setzt sich zusammen aus den griechischen Wortbestandteilen demos (=Volk) und kratem (=henrschen), heißt also „Volksherrschaft". Abraham Lincoln präzisierte den Begriff in der berühmten Gettysburg-Formel aus dem Jahre 1863 als „government of the people, by the people, for the people", was bedeutet, daß in der Demokratie die Herrschaft aus dem Volk hervorgehen, durch das Volk und in seinem Interesse ausgeübt werden soll.24 Nach einer kurzen Interpretation der einzelnen Bestandteile dieser Umschreibung kommt Sartori zwar zu dem Ergebnis, daß ihr demokratischer Charakter sich eher von der Person Lincolns ableite als von ihrer logischen Bedeutung und daß sie nicht zur Definition von Demokratie ausreiche, da sie das gesamte Spektrum politischer HerTschaftsformen von den verschiedenen denkbaren Varianten der Demokratie bis hin zur Diktatur abdecke. 2 ' Dennoch -oder deswegenlassen sich aus dieser Bestimmung die entscheidenden Fragen ableiten, die die grundlegenden Positionen der Demokratietheorie noch heute kennzeichnen: Wer ist das Volk? Wie soll Herrschaft ausgeübt werden? Wie werden die Interessen des Volkes angemessen vertreten und berücksichtigt? Auf diese Fragen findet man im Demokratieverständnis normativer und empirischer Demokratietheoretiker unterschiedliche Antworten, die Wiesendahl anhand einiger zentraler Unterscheidungskriterien vergleichend darstellt.26 Demnach liegt das Ausgangsproblem des normativen Demokratieverständnisses in der Verwirklichung der Volkssouveränität; Träger demokratischer Werte und Spielregeln ist das mündige Volk, das auch aktiver politischer Entscheidungsträger sein soll; die Eliten sollen als Ausfuhrungsorgane des Volkswillens fungieren. Inhalt demokratischer Willensbildung ist die Verwirklichung der Menschenrechte; das demokratische Verfahren besteht in der Partizipation und Selbstbestim2

'

24 25 26

G Sartori, 1992, 17 Vgl B Guggenberger, 1991, 71 Vgl G Sartori, 1992, 44 f Vgl E Wiesendahl, 1981, 101

22

2 Demokratietheoretischer Rahmen

mung; als Mittel der Demokratieerhaltung dienen der Abbau und die Kontrolle von Herrschaft. Als Bedrohungsfaktor der Demokratie wird die Verselbständigung gewählter Mandatsträger betrachtet, und als Nachweiskriterium für Demokratie gilt die reale Existenz demokratischer Werte und Ziele. Demgegenüber ist das Ausgangsproblem des empirischen Demokratieverständnisses die demokratische Legitimation von Elitenherrschaft. Politische Eliten und Gruppen sind die Träger demokratischer Werte und Spielregeln; das Volk ist Zuschauer und Konsument der Politik; die Eliten sind unabhängige politische Entscheidungsträger. Der Machtkampf um Wählerstimmen steht im Mittelpunkt demokratischer Willensbildung; Elitenkonkurrenz und Konsensbeschaffung sind die demokratischen Verfahren, durch begrenzte Partizipation der Massen, Elitenzirkulation und das System der chccks and balances soll die Erhaltung der Demokratie gewährleistet werden. Bedroht wird die Demokratie durch Funktionsund Stabilitätsverluste des Regierungssystems; Nachweiskriterien für Demokratie sind die Legitimation der herrschenden Eliten durch Wahlen und die effektive Konkurrenz. Trotz aller Vorbehalte wegen der starken Vereinfachung und Pauschalierung läßt sich aus dieser Gegenüberstellung der Kerngehalt der modernen Demokratietheorie erkennen: auf der einen Seite, die hier empirisch genannt wird, das Vertrauen in die Repräsentation, auf der anderen, der normativen Seite, die Forderung nach breiterer Partizipation zur Verwirklichung der „Volksherrschaft". Da die Auseinandersetzung um Vertretung und Mitbestimmung in der lateinamerikanischen Demokratiediskussion eine erhebliche Rolle spielt und die Ansätze der „westlichen" Demokratiediskussion grundlegend rezipiert werden, erscheint ein kurzer Überblick über die wichtigsten Varianten der beiden fundamentalen Theorierichtungen an dieser Stelle sinnvoll.

2.1.1

Der empirisch-deskriptive Theorieansatz

Die Grundaussagen des empirisch-deskriptiven Theorieansatzes konkretisieren sich weitgehend in drei teilweise stark ineinandergreifenden und aufeinander aufbauenden Positionen, denen die gemeinsame Erkenntnis zugrunde liegt, daß keine der traditionellen Demokratievorstellungen -weder die liberalen Konzeptionen noch die klassischen radikaldemokratischen Auffassungen- „mit der Wirklichkeit moderner Massendemokratien zu vereinbaren"27 sind. 2.1.1.1 Die pluralistische Theorie der Demokratie Die pluralistische Demokratiekonzeption ist wohl die am weitesten verbreitete und umfassendste der demokratietheoretischen Positionen und wird gelegentlich auch als die „herrschende Lehre" bezeichnet.28 Kurt Sontheimer nennt Pluralis27 28

C. Bohret (u.a.), Innenpolitik und politische Theorie, Darmstadt 1979, 248 Vgl C. Bohret (u.a.), 1979, 249

Theoretische Positionen

23

mus „sowohl als Theorie wie als soziologisch-politische Erscheinung ein Phänomen des 20. Jhs." und definiert: „Unter Pluralismus versteht man das gleichberechtigte, durch grundrechtliche Garantien geschützte Nebeneinanderexistieren und -wirken einer Mehrzahl sozialer Gruppen innerhalb einer staatlichen Gemeinschaft." 2 ' Der Begriff Pluralismus geht auf den britischen Politikwissenschaftler Harold Laski zurück10 und „kennzeichnet zum einen deskriptiv die Berücksichtigung der empirisch vorhandenen, mit ungleicher Durchsetzungsfahigkeit ausgestatteten Meinungs-, Interessen- und Organisation- (Gruppen- bzw. Verbands-) Vielfalt bei der Analyse sozialer Strukturen; zum anderen normativ die Forderung, daß diese Vielfalt einzugehen hat in die Inhalte der politischen Gestaltung demokratischer Gemeinwesen, wobei auftretende Probleme der Machtungleichheit unterschiedlich bewertet werden."" Ausgangspunkt der pluralistischen Demokratieauffassung ist also die Ablehnung der Identitätstheorie der Demokratie und eines damit einhergehenden staatlichen Monismus. Stattdessen basiert das pluralistische Demokratieverständnis auf einer „Konkurrenz-" oder „Konsenstheorie", der folgende Prinzipien zugrunde liegen:" • Die Gesellschaft ist heterogen, nicht homogen strukturiert und soll daher pluralistisch, nicht monistisch organisiert sein. • Das Volk besteht aus den Mitgliedern einer differenzierten Gesellschaft, die in verschiedenen Gruppen und Organisationen zusammengefaßt sind. • Folglich kann es keinen einheitlichen, vorgegebenen und rational erkennbaren Volkswillen geben. • Parlament und Regierung sind keine Hilfsorgane zur Vollziehung des Volkswillens, sondern das Volk überträgt treuhänderisch einer bestimmten Gruppe das Amt der Regierung, wobei es die Treuhandschaft jederzeit durch Wahlen widerrufen kann, wenn sie nicht im Interesse der Mehrheit ausgeübt wird. • Repräsentation ist das angemessene Prinzip politischer Interessenvertretung, da das Volk als Ganzes zwar zur Billigung und Zurückweisung politischer Entscheidungen fähig ist, nicht aber zu deren Konzeption. Ein kontinuierliches Plebiszit und das imperative Mandat sind daher abzulehnen.

29

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K Sontheimer, Pluralismus, in: E Fraenkel/K D Bracher (Hrsg.), Staat und Politik, Frankfurt a M 1973, 254-257, hier: 2 5 4 In der neueren pluralismustheoretischen Diskussion spielen v o r allem N a m e n wie David Truman, R o b e r t A. Dahl, William A Kelso im angloamerikanischen R a u m eine Rolle, im deutschsprachigen R a u m hauptsächlich Ernst Fraenkel, der B e g r ü n d e r d e s deutschen Neopluralismus R Eisfeld, Pluralismus/Pluralismustheorie, in D N o h l e n (Hrsg.), 1991a, 4 8 5 - 4 9 0 , hier: 485 Vgl zu der folgenden Aufzählung C Bohret u.a., 1979, 2 4 9 f f , die die grundlegenden Prinzipien in Anlehnung an Ernst Fraenkel darstellen

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2 Demokratietheoretischer Rahmen

• Die gesellschaftlichen Gruppen haben die wichtige Funktion, Interessen zu artikulieren und an den Staat heranzutragen. Der Staat muß einen Ausgleich zwischen diesen verschiedenen Interessen schaffen und stets dann regulieren, wenn keine Gewähr dafür besteht, daß aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen und politischen Kräfte eine Resultante hervorgeht, die den Minimalerfordemissen einer wirtschaftlich tragbaren und sozial erträglichen Lösung der anfallenden Probleme entspricht. • Das Gemeinwohl ist Resultat des demokratischen Prozesses, es ist also nicht a priori erkennbar, sondern stellt sich a posteriori ein. • Voraussetzung der Demokratie ist ein Gnindkonsens über die demokratischen Spielregeln, nicht ein allumfassender Konsens. Auf der Grundlage eines durch die Vorstellung der Gruppenvielfalt geprägten Gesellschaftsbildes sind Konflikt und KonkuiTenz zwei charakteristische Beziehungselemente, die nicht nur unvermeidbar, sondern geradezu erwünscht sind, denn „in einer pluralistischen Gesellschaft bilden der ungehinderte Austrag von Interessenkonflikten, die freie Gruppenkonkurrenz, die beste Voraussetzung kollektiver Konfliktregelung."" Dies gilt aber nur so lange, wie die Konfliktaustragung auf den Bereich der Politik begrenzt bleibt, in dem die gebündelten Gruppeninteressen dann an die parlamentarische Entscheidungsebene weitergegeben werden, wo wiederum das Parteienkonkurrenzsystem das Gnippenkonkurrenzsystem ablöst.'4 Die Beschränkung der Konfliktaustragung auf den politischen Bereich dient dazu, die Gefahr einer Konflikteskalation zu vermeiden, denn einen „Mittelkurs zwischen totalem Konflikt und totaler Integration, zwischen Anarchie und allmächtiger Herrschaft des Staates zu steuern, ist ftir den Pluralisten eines der wichtigsten politischen Regelungsprobleme."" Hans Kremendahl hat in einem analytischen Raster die vier Grundprinzipien der Pluralismustheorie und ihre jeweilige Ausprägung und Umsetzung im politischen System zusammengefaßt:" • Das Prinzip der legitimen Vielfalt äußert sich in der Verbändeautonomie, dem Mehrparteiensystem, der pluralen öffentlichen Meinung, dem Föderalismus, der Gewaltenteilung. • Das Prinzip des Gemeinwohls als regulative Idee findet seinen Niederschlag im Staat als clearing-SteWe, im sozialen Rechtsstaat, in den Grundrechten, in den demokratischen Spielregeln.

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E. Wiesendahl, 1981, 81 Vgl E Wiesendahl, 1981, 84 E Wiesendahl, 1981,82. Vgl H Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland Entstehung, Kritik, Perspektiven, Leverkusen 1977, 48

Theoretische Positionen

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• Das Prinzip des Konflikts und Konsensus realisiert sich im Wahlrecht, im Parlamentarismus, in der innerparteilichen und innerverbandlichen Demokratie, in der Grundrechtssicherung, in der richterlichen Unabhängigkeit. • Das Prinzip der Konkurrenzdemokratie schlägt sich nieder in plebiszitären und repräsentativen Elementen, in der Makro- und Mikrodemokratisierung, in Partizipation und Pluralität. Gegenstand der Kritik der pluralistischen Demokratietheorie sind weniger ihre normativen Grundannahmen oder oben genannten Prinzipien, sondern vielmehr ihre Funktionsbedingungen, die Wiesendahl wie folgt auflistet: „ 1 Alle Interessen müssen in Verbänden organisiert sein 2. Bei der Interessenartikulation und -durchsetzung müssen Chancengleichheit und ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Interessengruppen herrschen. 3 Das System organisierter Interessen muß gegenüber sich neu artikulierenden Interessen offen sein. 4 Bei einseitiger Interessendurchsetzung muß die Bildung von Gegenmacht und -verbänden gesichert sein 5 Es muß ein Grundkonsens über die Zielrichtung und die Regeln des Gruppenwettbewerbs vorhanden sein 6 Die Interessenkompromißbildung muß auf der Basis freien Wettbewerbs erfolgen"'7

2.1.1.2 „Demokratie als Methode" Die Ansätze, die unter dem Begriff „Demokratie als Methode" zu subsumieren sind, lösen das Problem der „Volksherrschaft" auf in der Formel der „vom Volk gebilligten Regierung" und rücken den politischen Entscheidungsbildungsprozeß in den Mittelpunkt ihres Interesses. Sie beschränken die politische Funktion des Bürgers also darauf, als Teil der Majorität über diejenige Minorität -durch Teilnahme oder Nichtteilnahme an Wahlen- mitzubestimmen, die dann ihrerseits die politischen Probleme definiert, artikuliert und entscheidet. Dieses Demokratieverständnis wird besonders deutlich im Demokratiemodell Joseph Schumpeters, der in seiner Definition den demokratischen Anspruch auf eine mögliche Methode der Herrschaftsbestellung begrenzt. „Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben." 3 ' Henry B. Mayo konkretisiert die „demokratische Methode", indem er vier Prinzipien formuliert und erläutert, die er sowohl in empirischer als auch in normativer Hinsicht als demokratische politische Theorie bezeichnet und aus denen er folgende Arbeits-Definition erstellt: „Ein demokratisches politisches System ist ein System, in dem die nationale Politik auf einer Majoritätsbasis durch Repräsentanten (Volksvertreter) durchgeführt wird, die einer effektiven Kontrolle des Vol"

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E Wiesendahl, 1981, 87 J Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950, 28

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2 Demokratietheoretischer Rahmen

k e s durch periodisch stattfindende Wahlen unterworfen sind, die auf der B a s i s politischer Gleichheit und unter Bedingungen politischer Freiheit durchgeführt werden." 3 9 M a y o beansprucht für d i e s e Begriffserklärung keine besondere Originalität, und e s ist ihm durchaus bewußt, daß e s sich dabei u m eine formale und vereinfachte Definition handelt, die viele Fragen, e t w a die der demokratischen Legitimation der politischen Entscheidungen oder die der s o z i o ö k o n o m i s c h e n Funktionsbedingungen, o f f e n läßt. 40 Robert A. Dahl zieht aus der empirischen Beobachtung, daß die Realität der Demokratie kaum mit d e m B e g r i f f „Herrschaft d e s V o l k e s " z u bezeichen ist, die Konsequenz, das Phänomen umzubenennen in „Polyarchie". 4 1 Er bezeichnet damit ein politisches System, „in d e m sämtliche erwachsenen Bürger weithin Gelegenheit haben, an Entscheidungen mitzuwirken." 4 2 D i e Möglichkeit, an Entscheidungen mitzuwirken, hängt maßgeblich v o n einer Konstellation sozialer Proz e s s e ab, die e s ermöglicht, „daß die Nicht-Führenden einen relativ hohen Grad an Kontrolle über die Führenden ausüben." 4 3 Dahl und Lindblom nennen s e c h s Voraussetzungen, um den erforderlichen hohen Grad an Kontrolle zu erreichen, die zugleich als Funktionsbedingungen v o n Polyarchie verstanden werden können: „ 1 Die meisten Erwachsenen innerhalb des Systems können bei den Wahlen ihre Stimme abgeben, ohne Belohnung oder Strafen furchten zu müssen, die direkt an den Akt des Wählens oder die Wahl unter den Kandidaten gebunden wären 2 Bei den Wahlen hat jede Stimme in etwa dasselbe Gewicht. 3 Nichtgewählte Beamte sind den gewählten Vertretern bei der Festlegung der Politik unterstellt. Das heißt, daß die gewählten Vertreter, wenn sie es wollen, in der Politik gegenüber nichtgewählten Beamten das letzte Wort haben. 4. Gewählte Vertreter wiederum sind den Nicht-Führenden unterstellt, in dem Sinne, daß diejenigen im Amt von anderen Führern auf friedliche und relativ prompte Weise ersetzt werden, sobald eine größere Zahl der Wähler ihre Stimmen für andere Führer als die jeweiligen Amtsinhaber abgibt 5. Erwachsenen innerhalb des Systems sind mehrere alternative Informationsquellen verfugbar, einschließlich solcher, die nicht unter einschneidender unilateraler Kontrolle der Regierungsvertreter stehen. 'Verfugbar' in diesem Zusammenhang heißt nur, daß Mitglieder, die es wünschen, diese Quellen benutzen können, ohne Strafen gewärtigen zu müssen, die von Regierungsvertretern oder ihren Untergebenen verhängt werden 6 Mitglieder des Systems, die diese Regeln akzeptieren, haben die Möglichkeit, entweder direkt oder durch Delegierte alternative Politik zu formulieren oder Kandidaten aufzustellen, ohne deshalb strenge Strafen befurchten zu müssen 1,44

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40 41 42 43

44

H. B Mayo, Charakteristische Merkmale demokratischer Systeme, in: F Gnibe/G Richter (Hrsg ), Demokratietheorien, Hamburg 1975, 37-44, hier: 43 f Vgl H B Mayo, 1975, 43 f. Vgl R A. Dahl, Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971. R. A Dahl, Die politische Analyse, München 1973, 20 R. A. Dahl/Ch. E. Lindblom, Polyarchie, in: F Grube/G. Richter (Hrsg ), 1975, 45-49, hier: 48. R. A. Dahl/Ch E. Lindblom, 1975, 48 f

Theoretische Positionen

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Anthony Downs fuhrt die erstmals von Schumpeter entworfene Theorie der Demokratie als Konkurrenzkampf rivalisierender Führungsgruppen um Wählerstimmen weiter im „Marktmodell der Ökonomischen Theorie der Demokratie", in dem er von einer Analogie zwischen marktwirtschaftlichem und politischem KonkuiTenzverhalten ausgeht.45 Dabei entsprechen die Politiker in Parteien und Regierung den Unternehmern, die Wähler den Verbrauchern, wobei die Politiker nur an Machterwerb und Machterhalt interessiert sind und der Wähler als homo politicus -analog zu dem berüchtigten homo oeconomicusden „rationalen" Bürger darstellt46, der diejenige Partei wählen wird, die ihm am meisten nützt. Das Marktmodell der Demokratietheorie „bemüht sich um eine weitgehend wertfreie Beschreibung der Funktionsweise der zeitgenössischen parlamentarischen oder präsidialen Demokratie"47 und befaßt sich hauptsächlich mit den Bedingungen und Formen des Wettbewerbsverhaltens von politischen Eliten. Das Wesen einer demokratischen Regierungsform charakterisiert Downs rein deskriptiv, indem er acht Bedingungen formuliert, die in einer Gesellschaft verwirklicht sein müssen: „ 1 Jeweils eine Partei (oder Koalition von Parteien) wird durch das Volk zur Ausübung der staatlichen Herrschaft gewählt. 2 Solche Wahlen werden in periodischen Zeitabständen abgehalten, deren Dauer die Partei, die an der Macht ist, nicht im Alleingang ändern kann. 3 Alle Erwachsenen, die dieser Gesellschaft ständig angehören, geistig gesund sind und die Gesetze eines Landes befolgen, sind berechtigt, bei jeder solchen Wahl ihre Stimme abzugeben. 4 Jeder Wähler darf bei jeder Wahl eine und nur eine Stimme abgeben. 5 Jede Partei (oder Koalition), die von der Mehrheit der Wähler unterstützt wird, ist berechtigt, die Regierungsgewalt bis zur nächsten Wahl zu übernehmen. 6 Die Parteien, die die Wahl verloren haben, versuchen niemals, die Siegerpartei (oder -parteien) mit Gewalt oder durch irgendein anderes ungesetzliches Mittel an der Amtsübernahme zu hindern 7 Die Partei, die an der Macht ist, versucht niemals, die politische Tätigkeit irgendwelcher Bürger oder Parteien zu beschränken, solange diese nicht den Versuch unternehmen, die Regierung mit Gewalt zu stürzen 8. Bei jeder Wahl gibt es zwei oder mehrere Parteien, die um die Kontrolle des Regierungsapparates konkurrieren."48 Downs zieht aus dieser Definition den wichtigen Schluß, daß der Hauptzweck von Wahlen in einer Demokratie die Auswahl einer Regierung ist und der Bürger dann eine rationale Haltung zu den Wahlen einnimmt, „wenn ihn seine Handlun-

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48

Vgl dazu besonders A Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968. Vgl. A Downs, Ökonomische Rationalität und politische Demokratie, in: F. Grube/G. Richter (Hrsg.), 1975, 50-58, hier: 52 I Fetscher, Wieviel Konsens gehört zur Demokratie?, in: B Guggenberger/C Offe (Hrsg), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, Opladen 1985, 14-24, hier: 16 A. Downs, 1975, 56

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2 Demokratietheoretischer Rahmen

gen in die Lage versetzen, seine Rolle bei der Auswahl der Regierung wirksam zu spielen."49 2.1.1.3 Theorie demokratischer Elitenherrschaft Die Theorie demokratischer Elitenherrschaft, die -wie auch die vorher genannten Ansätze Schumpeters, Mayos, Dahls und Downs'- nicht als Alternativmodell zur pluralistischen Demokratietheorie, sondern als Modifikation bzw. Ergänzung zu verstehen ist, hat ihren Ursprung in der klassischen Elitentheorie, deren Begründer Mosca, Pareto und Michels es „als ihre wissenschaftliche Pflicht" erachteten, „auf das illusionär Vordergründige der Vorstellung von der Einbeziehung der Massen in die politischen Entscheidungsprozesse hinzuweisen."50 Dieser „nicht-utopische" Grundzug ist jedoch der einzige Aspekt, mit dem sich die heutigen Vertreter der Theorie demokratischer Elitenherrschaft wie Giovanni Sartori, Seymour M. Lipset, Ralf Dahrendorf u.a. noch identifizieren. Ansonsten distanzieren sie sich entschieden von dem antidemokratischen, klassischelitären, gegenüber den Massen abgeschlossenen Elitebegriff der „lateinischen Elitetheoretiker", wie Dahrendorf sie nennt, die alle drei „zumindest unklare Beziehungen zum Faschismus hatten" 51 , und betonen, daß die Eliten offen und vielseitig sein müssen. Dabei soll „Offenheit" so verstanden werden, „daß jede formalisierende Trennungslinie zwischen aktiver und passiver Öffentlichkeit zu vermeiden" und ein reger Austausch über die Grenzen „Teil ihres liberalen Begriffs"52 ist. Das Konzept der demokratischen Elitenherrschaft wendet sich sowohl gegen die den altliberalen Idealen der Demokratietheorie zugrundeliegenden Übersteigerungen und Projektionen, als auch gegen das marxistische Gesellschaftsbild, das von einem dichotomen Klassengegensatz zwischen Besitzbürgertum und besitzlosem Proletariat ausgeht. Es basiert auf der allen Theoretikern demokratischer Elitenherrschaft gemeinsamen Annahme, „daß Geschichte und Realität die unabdingbare Existenz von Eliten bewiesen hätten" 5 ' und daß gerade sie Freiheit und Demokratie garantieren würden. Diese Grundannahme stützt sich auf Ergebnisse der empirischen Wahlforschung, die den durchschnittlichen Bürger als politisch desinteressiert, gleichgültig, unwissend und apathisch charakterisierten. Deshalb müsse man die Fiktion des mündigen, rationalen Wählers, der nach genau durchdachtem Abwägen seine Stimme vergibt, weitgehend aufgeben und durch die Erkenntnis ersetzen, „daß gewisse Anforderungen, die gemeinhin fiir das erfolgreiche Funktionieren einer Demokratie vorausgesetzt werden, durch das Verhalten 49 50

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52 53

A. Downs, 1975, 56 P Waldmann, Elite/Elite-Theorie, in D. Nohlen/R-0 Schulze, Politikwissenschaft Theorien - Methoden - Begriffe, München 1989, 181-183, hier: 181 R Dahrendorf, Aktive und passive Öffentlichkeit, in: F. Grube/G. Richter (Hrsg.), 1975, 76-80, hier: 79 R Dahrendorf, 1975, 79 F Grube/G Richter, 1975, 19.

Theoretische Positionen

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des 'normalen' Bürgers nicht erfüllt werden" 54 , ja daß die meisten Wähler überfordert seien. Aus diesen empirischen Erkenntnissen schließen die Anhänger der demokratischen Elitentheorie zum einen, daß ein demokratisches System Eliten benötigt: denn Demokratie sei so „kompliziert, daß nur erfahrene und verantwortliche Eliten sie vor den Exzessen des Perfektionismus, dem Sog der Demagogie und der Degeneration der lex majoris partis bewahren können."55 In diesem Sinne hängt die Qualität der Demokratie in starkem Maße von der Qualität der fuhrenden Eliten ab, so daß es ein zentrales Anliegen demokratischer Elitisten ist, „die Merkmale demokratischer Führung herauszuschälen."56 Zum anderen wird aus den empirischen Befunden geschlossen, daß ein demokratisches System neben der Existenz von Eliten auch der Passivität und Apathie der Mehrheit der Bürger bedarf, weil ein zu großes politisches Interesse und eine starke politische Beteiligung den demokratischen Prozeß und die Stabilität des demokratischen Systems eher gefährden als fördern, was Berelson/Lazarsfeld/McPhee wie folgt begründen: „Extremes Interesse geht Hand in Hand mit extremer Parteigängerschaft und kulminiert möglicherweise in rigidem Fanatismus, der demokratische Prozesse zerstören könnte, wenn er die ganze Gemeinschaft erfassen würde. Geringe Neigung zu Wahlen bzw. Gleichgültigkeit trägt zur Lösung vieler politischer Probleme bei [...]. Geringes Interesse bietet jenen Spielraum für politische Kehrtwendungen, der für eine komplexe Gesellschaft in Zeiten rapiden Wandels notwendig ist."57

2.1.2

Der normativ-präskriptive Theorieansatz

Der normativ-präskriptive Ansatz versteht sich als Alternative zum empirischdeskriptiven Ansatz der modernen Demokratietheorie und entwickelte seine Positionen in kritischer Auseinandersetzung mit den Postulaten klassischer Demokratietheorie und dem modernen Empirismus, wobei die Kritik der pluralismusund vor allem der elitentheoretischen Positionen einen erheblichen Anteil einnimmt. Den eigentümlichen Charakter normativen Denkens bildet die „Vereinigung von reiner Beschreibung und kritischer Bewertung des Beschriebenen nach Wertmaßstäben, die in Leitvorstellungen der Selbstbestimmung des Volkes verwurzelt sind."58 Daraus ist als Pendant zu den „Repräsentationstheorien" die „Theorie der partizipatorischen Demokratie" entstanden, aus einer Kombination von normati54

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56 57 58

B. B Berelson/P F. Lazarsfeld/W. N. McPhee, Demokratische Praxis und Demokratische Theorie, in: F Grube/G. Richter (Hrsg.), 1975, 95-103, hier: 96. G Sartori, Demokratie als Elitenherrschaft, in: F. Grube/G. Richter (Hrsg), 1975, 67-75, hier: 70. G Sartori, 1975, 71 B B Berelson/P F Lazarsfeld/W. N McPhee, 1975, 101 E Wiesendahl, 1981, 97

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2 Demokratietheoretischer Rahmen

ven, aber auch beschreibenden und erklärenden Aussagen, deren verschiedene Ansätze", nach Clausjohann Lindner, drei Gemeinsamkeiten auszeichnen:60 • die kritische Einstellung gegenüber dem herrschenden, stark durch die Demokratietheorie Schumpeters geprägten und in den bekannten Theorien Dahls, Downs', Mayos u.a. wiederkehrenden Selbstverständnis der westlichen Demokratien, nach dem die Herrschaftsbefugnis durch einen Konkurrenzkampf um die Wählerstimmen gewonnen wird. Dabei wird dem Konkurrenzmodell nicht die Kompetenz zur Beschreibung der politischen Institutionen abgesprochen, sondern kritisiert, daß diese Methode politischer Entscheidungsfindung als zureichende Verwirklichung demokratischer Ideale ausgegeben wird. Dieses Demokratiemodell biete zum einen der Mehrheit der Gesellschaftsmi:glieder nur Möglichkeiten zu „reduzierter" Partizipation, die sich hauptsächlich auf die Wahl von Repräsentanten in der Regierung beschränke, und die Verfechter dieses Modells nähmen zum anderen den Zustand der „Entpolitisierung der Öffentlichkeit" hin, wenn sie nicht gar im Interesse der Bestandserhaltung der gegebenen demokratischen Institutionen begrüßten, daß weite Teile der Bevölkerung politisch apathisch blieben und selbst auf die Wahrnehmung der Jinen noch verbliebenen Chancen zu „reduzierter" Partizipation verzichteten; • die Forderung nach einem Gesellschaftszustand, in dem demokratische Ideale wie „Freiheit", „Gleichheit", „Selbstbestimmung" dadurch besser verwirklicht werden, daß die gesellschaftlichen Entscheidungen aus der wirksamer und gleichen Partizipation aller hervorgehen; • die Hoffnung, daß sich in einem Gesellschaftszustand, in dem diese Prinzipien verwirklicht sind, für die partizipierenden Gesellschaftsmitglieder eine charakterbildende und fiir die Gesamtgesellschaft eine gemeinschaftsbildende Wirkung einstellt, die sich dann für das Individuum in mehr „Selbstvervirklichung" und „Selbstentfaltung" ausdrückt, für die Gesellschaft in mehr .Solidarität", wodurch eine erweiterte Partizipation also dazu beitragen könnte, die demokratische Ordnung zu stützen. Mit anderen Worten: Der „reduktionistischen" Demokratievorstellung der Rspräsentationstheorien wird eine „emanzipatorische" gegenübergestellt, in der Demokratie nicht nur als „Staatsform" sondern als „Lebensform" zu verstehen ist. Zur Lösung des Problems, wie die normativen Ideale der Theorie der pirtizipatorischen Demokratie institutionell zu verwirklichen sind, werden v. a. zwei verschiedene Modelle vorgeschlagen, die im folgenden etwas näher betrachtet

60

Als Vertreter der „Theorie der partizipatorischen Demokratie" sind im angelsachsschen Raum z B. Bottomore, Bachrach, Lane Davis, Pateman, im deutschsprachigen Fescher, Naschold, Zimpel, Bermbach, Greiffenhagen, Alemann, Vilmar und Pelinka zu nennen. Vgl C Lindner, Kritik der Theorie der partizipatorischen Demokratie, Opladen 19>0, 10 ff

Theoretische Positionen

31

werden sollen: das „Modell der Subsystemdemokratisierung" und das „Modell der politischen Dezentralisierung".61 2.1.2.1 Das Modell der Subsystemdemokratisierung Das Modell der Demokratisierung gesellschaftlicher Subsysteme ist das mit Abstand am weitesten verbreitete und vertretene Modell der partizipatorischen Demokratietheorie zur Verwirklichung der genannten Ideale unter modernen Bedingungen. Gemäß der diesem Modell zugrundeliegenden demokratietheoretischen Auffassung wird Demokratisierung verstanden als „Inbegriff aller Bestrebungen, über die Wahlakte der repräsentativen Demokratie hinaus in relevanten gesellschaftlichen Subsystemen eine möglichst optimale Beteiligung von Bürgern an der Entscheidungsbildung und den Aktivitäten des soziopolitischen Lebens zu etablieren. Partizipation und Demokratisierung konvergieren dabei begrifflich als der subjektive und der objektive Ausdruck desselben Sachverhaltes einer Erweiterung demokratischer Strukturen im gesellschaftlichen Leben."62 Wiesendahl stellt eine „Extensionsstrategie" in den Mittelpunkt der gegenwärtigen Demokratisierungsdebatte, deren grundlegende Vorstellungen er in Anlehnung an Anton Pelinka wie folgt charakterisiert: „ - Demokratie zielt in erster Linie auf Maximierung von Gleichheit. - Demokratie ist nicht nur ein politisches Ordnungsprinzip, das allein auf den Staat bezogen ist. - Demokratie ist vielmehr ein Lebensprinzip, das in allen Bereichen der Gesellschaft verwirklicht werden kann und muß - Demokratie ist ein dynamisches Prinzip, es findet in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen mehr oder minder starke Anwendung. - Demokratie ist ein offensives Prinzip, von dem kein noch nicht demokratisierter Bereich verschont bleibt - Demokratie in diesem Sinne hebt die hergebrachte Trennung zwischen dem Politischen und Nichtpolitischen auf" 6 3

Zur Beantwortung der umstrittenen, systematisch demokratietheoretischen Frage nach den gesellschaftlichen Bereichen, für die das Demokratisierungs- bzw. Partizipations-Postulat gelten soll, hat Fritz Vilmar eine Systematik erarbeitet, aus der hervorgeht, daß für die allgemeine Partizipation zwei Bereiche von Institutionen vorgesehen sind: zum einen der traditionell politische Bereich mit den staatlichen, regionalen und kommunalen Instanzen (Regierung, Parlamente etc.) sowie den Organen der politischen Willensbildung (Parteien, Interessenverbände, Gewerkschaften etc.), zum anderen der Bereich traditionell nicht politischer Institu61

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63

Die begriffliche Unterscheidung wurde von C Lindner übernommen, da sie - f ü r den Zweck der vorliegenden Arbeit- die verschiedenen Positionen am deutlichsten differenziert. F. Vilmar, Demokratisierung, in: D Nohlen/R -O. Schulze (Hrsg.), 1989, 144-145, hier: 144 E Wiesendahl, 1981, 114

32

2 Demokratietheoretischer Rahmen

tionen, beginnend bei den „primären" Sozialisationssystemen (Familie, Kindergärten, Vorschulen etc.) über das Bildungssystem (Schulen, Universitäten, Massenmedien etc.), die Öffentliche Verwaltung (Kommunal-, Regional-, Landes-, Staatsverwaltungen, Polizei, Militär), die Fürsorge-Institutionen (Krankenhäuser, Pflegeheime, Gefangnisse etc.) bis hin zur Wirtschaft (Unternehmen, Konzerne, Wirtschaftskammern und -verbände etc.).64 Bezüglich der Kompetenzverteilung zwischen beiden Bereichen besteht bei den meisten Vertretern des Demokratisieningskonzepts überwiegend Einigkeit, „daß die staatlichen Instanzen den Rahmen für die Tätigkeiten der traditionell nichtpolitischen Institutionen festlegen."65 Die vorgesehene Organisation des Willensbildungsprozesses entspricht im politischen Bereich weitgehend dem Grundmodell der pluralistisch-repräsentativen Demokratie, das durch korrigierende Vorschläge wie Wahlrechtsreformen, Entoligarchisierung von Parteien und Verbänden, Volksbefragungen etc. ergänzt wird. Für den gesellschaftlichen Bereich existieren verschiedene detaillierte Konzepte zur Realisierung der Willensbildung64 , deren Darstellung hier allerdings zu weit fuhren würde. Abschließend soll noch einmal hevorgehoben werden, daß das Modell der Subsystemdemokratisierung sich durchaus im pluralistisch-konkurrenztheoretischen Rahmen bewegen kann, denn die Existenz von Herrschaft und die konstitutionellen Grundlagen der repräsentativen Demokratie werden nicht negiert. Dies betont Vilmar eigens, indem er sagt: „Ein Kollaps der Demokratisierung, d.h. sowohl des gesellschaftlich total überbeanspruchten Aktivbürgers wie auch der handlungsunfähig werdenden Subsysteme, läßt sich nur dann verhindern, wenn die Idee eines rätedemokratischen Maximalismus aufgegeben wird. Direkte Partizipation schließt Anerkennung rationaler, legitimierter Führung (Herrschaft) nicht aus, sondern notwendigerweise ein."67 Dennoch bilden die dargestellten Positionen ein zentrales Element der politischen Auseinandersetzungen, vor allem da, wo das Partizipationskonzept auf soziale Demokratie, also auf materielle Gleichheit im sozialen und wirtschaftlichen Bereich abzielt. Partizipation ist ein „für den aktuellen politischen Prozeß in Demokratien eminent bedeutsamer Sachverhalt; in der Einstellung zur Partizipation kristallisieren sich zentrale politische und gesellschaftliche Gestaltungsoptionen." 6 ' So erfüllt sich z.B. ftir Wolfgang Abendroth Demokratisierung in der „sozialen Demokratie", denn „nur durch ihre Erweiterung von der bloß politischen Demokratie zur sozialen durch Unterwerfung der bisher -solange die privatkapitalistische Struktur der Wirtschaft unangetastet bleibt- keiner gesell64

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67 68

Vgl F Vilmar, Strategien der Demokratisierung, Bd 1: Theorie der Praxis, Darmstadt 1973, 108 f. C Lindner, 1990, 20 Vgl. z. B F. Vilmar, Strategien der Demokratisierung, Bd II, Modelle und Kämpfe der Praxis, Darmstadt 1973 F Vilmar, Partizipation, in: W Mickel (Hrsg.), 1986, 339-344, hier: 344 M. Kaase, Partizipation, in: D. Nohlen/R -O. Schulze (Hrsg.), 1989, 682-684, hier: 683

Theoretische Positionen

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schaftlichen Kontrolle eingeordneten Kommandostellen des ökonomischen Lebens unter die Bedürfnisse und den Willen der Gesellschaft kann die Demokratie realen Inhalt gewinnen und ihre inneren Widersprüche überwinden."69 Doch weist Abendroths Begriffsverständnis von „sozialer Demokratie" weit über die meisten Demokratisierungsvorstellungen hinaus und zielt auf eine sozialistische Transformation der Gesellschaft. Es ist damit auch unter Verfechtern sozialer Demokratie -ungeachtet deren parteipolitischer Provenienz- nicht konsensfahig: Man diskutiert zwar über das notwendige Ausmaß der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Teilnahme und Teilhabe zur Erfüllung einer sozialen Demokratie, die Aufgabe des Systems einer freien und/oder sozialen Marktwirtschaft zugunsten eines sozialistischen Wirtschaftsmodells wird jedoch kaum noch in Betracht gezogen. Den aktuellen Stand der theoretischen Diskussion um soziale Demokratie gibt Sartori treffend wieder, indem er zwei zentrale Bedeutungen unterscheidet: In einem ersten Begriffsverständnis verweist soziale Demokratie auf „ein Ethos, auf eine Lebensweise, die auch eine bestimmte Art der Beziehungen zwischen den Menschen ist"; in einem zweiten Begriffsverständnis bezeichnet soziale Demokratie weniger einen Zustand der Gesellschaft als eine Art, die Gesellschaft zu regieren. Obwohl es nach Ansicht Sartoris in beiden Fällen berechtigt ist, von sozialer Demokratie zu sprechen, sind die verschiedenen Implikationen zu bedenken: „Im ersten Fall ist soziale Demokratie die außerpolitische Substanz und Grundlage der politischen Demokratie. Im zweiten ist sie eine Politik, die von oben die Bedingungen herstellen will, die nach Ansicht ihrer Vertreter zu einer demokratischen Gesellschaft fuhren. Somit ist sie im ersten Sinne das jeder Politik Vorausgehende, im zweiten das Ergebnis einer Politik."70 Trotz dieser Unterscheidung kann man festhalten, daß sich die Vertreter der Theorie der sozialen Demokratie mit formellen Freiheiten im Rahmen öffentlicher Institutionen, also rein politischer Demokratie, nicht zufrieden geben. Sie fordern auch Sozial- und Wirtschaftsdemokratie durch Erweiterung der politischen Rechte und Pflichten auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Einrichtungen, sozialstaatliche Demokratie durch Auf- und Ausbau von Rechtsansprüchen auf Sozialleistungen sowie autonome demokratische Interessenorganisation in Gesellschaft und Wirtschaft.71 2.1.2.2 Das Modell politischer Dezentralisierung Das Modell politischer Dezentralisierung, welches eine „weitgehende Aufteilung der Aufgaben, die traditionellerweise von zentralen politischen Institutionen wahrgenommen werden, auf quasi-autonome Basiseinheiten vorsieht, deren Ent69

70 71

W Abendroth, Demokratie als Institution und Aufgabe, in: U. Matz (Hrsg.), Gtundprobleme der Demokratie, Darmstadt 1973, 156-170, hier: 160. G Sartori, 1992, 377 Vgl M G Schmidt, Demokratietheorien, Opladen 1995, 160

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2 Demokratietheoretischer Rahmen

Scheidungen auf direkt-demokratischer Grundlage gefallt werden" 72 , wird gegenwärtig kaum noch als konkretes Modell zur Verwirklichung der Ideale der partizipatorischen Demokratie vertreten. Seine bekannteste historische Entsprechung hat es im von Marx und auch von Lenin propagierten Rätesystem. Der „Extensionsstrategie" des Modells der Subsystemdemokratisierung entspricht hier eine „Transformationsstrategie", die rigoros jegliche Herrschaft in Frage stellt und auf eine revolutionäre Strukturveränderung des staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungsgefüges abzielt, um „in einer gänzlich neuen Ordnungsform das Ziel einer herrschaftsfreien, unmittelbaren Selbstbestimmung des Volkes zu realisieren."71 In dieser Ordnungsform sind zwei Instanzen vorgesehen, eine Zentralinstanz und die gesellschaftlichen Basiseinheiten, die verbindliche Entscheidungen treffen. Die Priorität bei der Kompetenzverteilung wird eindeutig den Basiseinheiten zugesprochen, und die politische Willensbildung erfolgt grundsätzlich in den Basiseinheiten auf der Grundlage von Beschlüssen der Vollversammlung aller Mitglieder.'4 Das Modell politischer Dezentralisierung wird hier nicht näher ausgeführt, da es sich nicht mehr im konkurrenzdemokratischen Rahmen bewegt und daher kein Instrumentarium zur Analyse moderner repräsentativ-demokratischer Systeme liefert.

2.2

Demokratie in Lateinamerika

Bislang wurde versucht, das Spektrum der „modernen westlichen" Demokratiediskussion in Form eines kurzen Überblicks über die wichtigsten theoretischen Positionen darzustellen. Diese spiegeln auch teilweise die aktuelle lateinamerikanische Demokratiediskussion wider, wie sie insbesondere im Zuge der Transitions* und (Re-)Demokratisierungsprozesse seit Beginn der 80er Jahre entstanden ist. Sie stellt die Frage der pluralistisch-repräsentativen Demokratie mehr in den Mittelpunkt ihrer entwicklungstheoretischen Überlegungen als in früheren Jahren, denn es hat sich offenbar die Überzeugung durchgesetzt, daß die Demokratie „Voraussetzung, Inhalt und Ziel einer Strategie und einer integralen Entwicklungspolitik"75 sein muß. Doch bevor auf die Grundzüge der aktuellen lateinamerikanischen Demokratiediskussion eingegangen wird, sind einige Bemerkungen zum Stellenwert der politischen Ordnung bzw. der Demokratiefrage in der Entwicklungstheorie sinnvoll. 72 73 74 75

C Lindner, 1990, 21 E Wiesendahl, 1981, 114. Vgl. C Lindner, 1990, 24. M Kaplan, Theorie und Wirklichkeit des Staates in Lateinamerika, in: M. Mols/J Thesing (Hrsg), Der Staat in Lateinamerika, Mainz 1995, 1-44, hier: 37.

Demokratie in Lateinamerika

2.2.1

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Demokratie in der Entwicklungstheorie

Die Frage der Demokratie -oder das Problem politischer und sozialer Entwicklung- wurde über lange Zeit in der lateinamerikanischen Entwicklungsdiskussion zwar nicht für irrelevant erklärt oder abzuschieben versucht, aber es wurde ihr auch kein bedeutender Stellenwert eingeräumt, „weil das Finden und Definieren eigener Staatlichkeit, Auswege aus dem Entwicklungsdilemma und die Suche nach einer angemessenen Mitbestimmung der internationalen Ordnung im Vordergrund"76 standen. In Anlehnung an H. C. F. Mansilla charakterisierte Manfred Mols das lateinamerikanische Entwicklungsdenken als von dem Ziel beherrscht, das technologisch-ökonomische Niveau der Metropolen, deren Industrialisierungsgrad und Lebensstandard zu erreichen, wozu der Ausbau eines effektiven, bürokratischen, starken Staates eine unerläßliche Voraussetzung sei. Dabei wurden -vielleicht auch aus Skepsis gegenüber explizit genannten fremden Vorbildern- die politischen Implikationen des komplexen industriestaatlich-westlichen Entwicklungsparadigmas (wie politischer Pluralismus, ein liberales, demokratisches Denken und ein Prozeß breiter kultureller Säkularisierung) übersehen, da verkannt wurde, daß westlich-industrielle Moderne sich nicht erreichen läßt „durch das Ausblenden ihres spezifischen Zuordnungsverhältnisses von Individuum, Gesellschaft und Staat und ohne die Anerkennung ihrer typischen Verhaltenswerte auch in der Politik."17 Die Vernachlässigung des Demokratiethemas lag nicht zuletzt in der Monokausalität der nahezu unvereinbar erscheinenden Basisparadigmata der Entwicklungstheorie „Modernisierung" und „Dependenz" begründet. In der frühen modemisierungstheoretischen Literatur, die auslösende Faktoren für Entwicklung „überwiegend endogen verortet, exogene Einflüsse weniger in ihrem Behinderungspotential denn als stimulierende Elemente für einen graduell sich einstellenden Modernitätsstatus"7" sah, wurde die Demokratiefrage meist nur insoweit aufgegriffen, als Demokratie als mehr oder weniger automatisches Neben- oder Folgeprodukt von wirtschaftlicher Entwicklung erwartet wurde. Die Stadientheorie von Walt W. Rostow stellt wohl den einfachsten Versuch dar, aus dem empirischen Zusammentreffen von wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Demokratie in den Industrieländern ein für nahezu alle Gesellschaften gültiges Verlaufsmodell zu folgern.7' Seymour M. Lipset, der eigentliche Begründer des frühen modernisierungstheoretischen Basisparadigmas, definiert Demokratie diffe-

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M Mols, Demokratie in Lateinamerika, Stuttgart 1985, 27. M. Mols, Entwicklungsdenken und Entwicklungspraxis in Lateinamerika, Südostasien und Indien Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: M Mols/P. Birle (Hrsg.), Entwicklungsdiskussion und Entwicklungspraxis in Lateinamerika, Südostasien und Indien, Münster/Hamburg 1991, 237-283, hier: 264. M Mols, Entwicklung, in: D. Nohlen/R.-O Schulze (Hrsg.), 1989, 198-203, hier: 201 Vgl W W Rostow, The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960

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renzierter einerseits als Folge wirtschaftlicher Entwicklung, andererseits als Voraussetzung für bestimmte soziostrukturelle Entwicklungsfaktoren, wobei wirtschaftliche Entwicklung als notwendige, aber nicht als zureichende Bedingung für Demokratie angesehen wird.10 Spätere Ansätze, sowohl der Modernisierungs- als auch der Dependenztheorie, waren eher darum bemüht, die strukturelle Unmöglichkeit von Demokratie in der Dritten Welt zu begründen", wobei die meisten dependenztheoretischen Ansätze „ein weiteres Mal wirtschaftliche Größen in den Vordergrund stellen und die politische und kulturelle Dimension von Entwicklung und Unterentwicklung 'als abgeleitete Phänomene' behandeln."82 Im dependenztheoretischen Basisparadigma wird Demokratie zumeist im marxistischen Sinne als „bürgerliche" formal-institutionelle Herrschaftsform verstanden, die „unter den Bedingungen abhängig-kapitalistischer Gesellschaften ebenso wenig gangbar ist wie wirtschaftliche Entwicklung" 8 ', wodurch sich die Frage nach der Entwicklungsrelevanz von Demokratie im Rahmen dieses Paradigmas nicht stellt, solange die Bedingungen einer sozialistischen Überwindung des kapitalistischen Systems nicht gegeben sind. Den aus den beiden entwicklungstheoretischen Hauptlinien erkennbaren übertriebenen Ökonomismus faßt Mols für die lateinamerikanischen Entwicklungsstrategien folgendermaßen zusammen: „Die 'desarrollistas' hofften auf die Effekte von Wachstum. Die 'Klassiker' der dependencia-Schulen wollten globale ökonomische Strukturen verändern. Der klassische CEPALISMO ist dort, wo er [...] auf operative Ebenen gebracht wurde, hauptsächlich ein Bündel von technokratischen Handlungsvorschlägen geworden. Um die politischen Strukturen Lateinamerikas machte man tunlichst einen Bogen."84 Das Problem der wechselseitigen Bedingtheit der ökonomischen und politischen Faktoren und ihres inneren Zusammenhangs hat die Entwicklungstheorie also nicht befriedigend gelöst -worin ein Hauptgrund für die derzeitig allseits beklagte Krise der Entwicklungstheorie gesehen werden kann-, und die Konfrontation, in der die beiden entwicklungstheoretischen Hauptlinien bis in die 80er Jahre hinein standen, hat eine gegenseitige Befruchtung verhindert.85 Die schwere wirtschaftliche, soziale und politische Krise der 80er Jahre, die in bezug auf die sozioökonomische Situation auch als „verlorene Dekade" oder „Dekade des schmerzhaften Lernens" bezeichnet wird, und das Scheitern von autoritär eingefarbten demokratischen oder offen autoritären Regimen machten 80

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Vgl. S. M. Lipset, Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy, in: American Political Science Review, 1959, 69-105. Vgl B. Töpper, Die Frage der Demokratie in der Entwicklungstheorie Kritisches Resümee von 40 Jahren Theoriengeschichte, in: Peripherie, Nr 39/40, 1990, 127-160, hier: 128 M. Mols, 1989a, 202. B. Töpper, 1990, 139. M. Mols, 1991, 255 Vgl. B Töpper, 1990, 128

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die faktische Unzulänglichkeit der bisherigen Entwicklungsstrategien sowie die Notwendigkeit integraler Entwicklungskonzepte offensichtlich. Denn immerhin „stand nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als der Bestand zivilisierter Staatlichkeit, der Bestand jenes Minimums an geordnetem gesellschaftlichen Miteinander, ohne das Gesellschaften nur noch im anomischen Zerfall existieren, und es war nicht zuletzt auch der Bestand eines Minimums an wirtschaftlicher Ordnung fragwürdig geworden."' 6 Die „Wiederentdeckung des Politischen" in der gegenwärtigen Entwicklungsdiskussion hat jedoch weder die Themen und Überlegungen der Modernisierungstheorien noch die der Dependenztheorien völlig verdrängt, sondern es ist tendenziell eher eine entwicklungstheoretische Weiterentwicklung zu beobachten, in der nicht nur die Modemisierungstheorien eine Renaissance erfahren, sondern auch die Dependenztheorien wieder an Bedeutung gewinnen.87 So hat es in den letzten Jahren durchaus einige Versuche gegeben, das Orientierungsdilemma zwischen Modernisierungs- und Dependenztheorien zu überwinden bzw. modernisierungs- und dependenztheoretische Erkenntnisse miteinander zu verbinden (z.B. bei H. Jaguaribe, M. Kaplan, H. C. F. Mansilla).88 Auch Dieter Nohlen und Franz Nuscheier plädieren für eine „kritische Modemisierungstheorie", die „weder dependencia noch den ominösen 'subjektiven Faktor' zum alleserklärenden Passepartout für komplexe Zusammenhänge erhebt, sondern die Multidimensionalität und Multikausalität von Unterentwicklung zu erfassen versucht."89 Sie schlagen daher einen Entwicklungsbegriff vor, den sie das „magische Fünfeck von Entwicklung" nennen: Er setzt sich aus den Elementen Wachstum, Arbeit, Gleichheit/Gerechtigkeit, Partizipation und Unabhängigkeit zusammen.'0 Damit wiederholen sie ihren bereits 1974 vorgestellten Entwicklungsbegriff, der sowohl Ziele als auch Mittel enthält und modemisierungstheoretische und dependenztheoretische Vorstellungen synthetisiert. Darüber hinaus verweist das Element „Partizipation" im Begriffsverständnis der Autoren als „normativer Sammelbegriff, der politische und soziale Menschenrechte zusammenfaßt"" , auf das in der Entwicklungstheorie vernachlässigte Phänomen des „Politischen", oder -wie in der zitierten Definition deutlich wird- der „Demokratie" als Entwicklungsfaktor. In Lateinamerika findet die entwicklungsrelevante Bedeutung von Demokratie insbesondere in der neueren neostrukturalistischen Krisenüberwindungs- und Entwicklungskonzeption der Comisión Económica para América Latina 86

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M Mols, Zum Staat in Lateinamerika, in: M. Mols/J. Thesing (Hrsg), 1995, 45-57, hier: 46 Vgl A Boeckh, Entwicklungstheorien: Eine Rückschau, in: D Nohlen/F Nuscheier (Hrsg), Handbuch der Dritten Welt, Band 1, Grundprobleme - Theorien - Strategien, Bonn 1992, 110-130, hier: 110. Vgl. M Mols, 1989a, 202 f. D Nohlen/F Nuscheier, Was heißt Entwicklung'' in: dies. (Hrsg.), 1992, 55-75, hier: 62. Vgl D. Nohlen/F Nuscheier, 1992, 65 D Nohlen/F Nuscheier, 1992, 71

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(CEPAL) Beachtung, welche die mit Entwicklung und Demokratisierung verbundenen wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen umfassend benennt.'2 In einem im Jahre 1990 publizierten Dokument mit dem Titel Changing ProJuction Pattems with Social Equity stellt die CEPAL ein Konzept vor, in dem Entwicklung als komplexer gesellschaftlicher Zusammenhang verstanden wird; es soll zur Überwindung sowohl der Fehler des alten, von der CEPAL mitkonzipierten, binnenmarktorientierten Entwicklungsmodells als auch der neoliberalen Politikmuster der 80er Jahre beitragen: aktive Weltmarktintegration im Rahmen politischer Demokratie bei gleichzeitiger Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit heißen die Kemelemente der entwicklungsstrategischen Neuorientierung." Diese drei Kemelemente verweisen, auch wenn sie zunächst noch wenig über die realpolitische Umsetzbarkeit aussagen, knapp aber deutlich auf die Komplexität des Grundproblems -insoweit ist eine Verallgemeinerung wohl zulässig- aller lateinamerikanischen Staaten: die Vereinbarkeit eines auf Wachstum gerichteten Wirtschaftsmodells mit einem auf Demokratie gerichteten politischen Ordnungsmodell mit einem auf sozialen Ausgleich gerichteten Gesellschaftsmodell. Da in Lateinamerika, wie auch in anderen Ländern der „Dritten Welt", die Entwicklungsdiskussion nicht von der Debatte um die geeignete politische Ordnung zu trennen ist, bestimmen die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Elemente und deren Interdependenzen auch die zentralen Positionen der aktuellen Demokratiediskussion, deren Grundzüge im folgenden kurz skizziert werden sollen.

2.2.2

Die aktuelle Diskussion um Demokratie in Lateinamerika

Noch in ihrem im Jahre 1980 veröffentlichten Buch mit dem Titel „Diktatur Staatsmodell für die Dritte Welt" stellten Hans F. Uly, Rüdiger Sielaff und Nikolaus Werz nach einer ausführlichen Analyse der politischen Verhältnisse in Afrika, Asien und Lateinamerika fest, daß die Länder der „Dritten Welt" in ihrer überwiegenden Mehrheit von autoritären Regimen regiert wurden, eine Abkehr vom westlichen Demokratiemodell stattgefunden habe und es keinen Anlaß zu dem Optimismus gebe, daß alles wieder anders werden könne.94 In Lateinamerika hatten sich seit Mitte der 60er Jahre allenthalben autoritäre Systeme, zumeist Militärregime herausgebildet, Mitte der 70er Jahre konnten nur noch Costa Rica und Venezuela als liberale Demokratien gelten. Seit Beginn der 80er Jahre hat sich die politische Landkarte Lateinamerikas grundlegend verändert, zumindest insofern, als Anfang der 90er Jahre kein 92

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Eine ausfuhrliche und übersichtliche Darstellung der Schlüsselelemente des Neostrukturalismus findet sich bei P Thiery, Entwicklungsvorstellungen in Lateinamerika - Eine Neuauflage des CEPALISMO 9 in: M. Mols/P. Birle (Hrsg ), 1991, 5-56, hier: 20-46 Vgl. ECLAC, Changing Production Patterns with Social Equity, Santiago 1990 Vgl H F. Illy/R. Sielaff/N Werz, Diktatur - Staatsmodell fur die Dritte Welt?, FreiburgAVürzburg 1980, 176.

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lateinamerikanisches Land mehr unter Militärherrschaft stand, nachdem auch die Regierungen in Chile und Paraguay aus freien Wahlen hervorgegangen sind. Die vorsichtige Ausdrucksweise des letzten Satzes basiert auf der Skepsis gegenüber denjenigen demokratietheoretischen Ansätzen, die, wie beispielsweise Samuel Huntington, Demokratie auf die Methode der Herrschaftsbestellung beschränken, indem er definiert: „Following in the Schumpeterian tradition, this study defines a twentieth-century political system as democratic to the extend that its most powerful collective decision makers are selected through fair, honest and periodic elections in which candidates freely compete for votes and in which virtually all the adult population is eligible to vote."95 Eine solche Reduzierung des Demokratiebegriffs auf die Existenz von freien, kompetitiven Wahlen übersieht die „relative Aussagekraft von Wahlen als verläßlichem Indikator für Demokratie"96 und verbleibt -spricht man mit dem Vokabular der aktuellen lateinamerikanischen Demokratiediskussion- beim Stadium der transición, die in der Regel „deckungsgleich mit politischer Demokratisierung verstanden" wird, „wobei als Endpunkte die ersten freien Wahlen bzw. die erste frei gewählte Regierung, die Verabschiedung einer neuen Verfassung oder auch der erste Machtwechsel aufgrund von freien Wahlen gelten können."97 Die auf die Transition folgende Phase der Konsolidierung, bezogen „auf die Herstellung jener politischen, wirtschaftlichen, sozialen und soziokulturellen Bedingungen, die den Bestand der Demokratie höchstwahrscheinlich machen"98, kann mit einem derart minimalisierten Demokratiebegriff nicht genügend erfaßt werden, trotz aller Signifikanz, die Wahlen für den jeweiligen (Re-)Demokratisierungsprozeß unbestritten haben.99 Diese Problematik kennzeichnet die zeitgenössische lateinamerikanische Demokratiedebatte, die seit Beginn der 80er Jahre entstanden ist, als Lateinamerikanisten -nachdem sie fast zwei Jahrzehnte damit verbracht hatten, Erklärungen fur das Scheitern von Demokratie herauszuarbeiten100- sich plötzlich (wieder) mit der Notwendigkeit konfrontiert sahen, die Gründe für den Zusammenbruch von

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S Huntington, The Third Wave Democratization in the Late Twentieth Century, Norman/London, 1991, 7. C German, Grundprobleme der Demokratie in Lateinamerika, in: SOWI, Jg. 17, Heft 1, 1988, 5-12, hier: 5. D Nohlen, Mehr Demokratie in der Dritten Welt?, Über Demokratisierung und Konsolidierung der Demokratie in vergleichender Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25-26, 1988, 3-18, hier: 5. D Nohlen, 1988, 5 f. Vgl M Mols, Staat und Demokratie in Lateinamerika, in: P Hünermann/M Eckholt (Hrsg.), Katholische Soziallehre - Wirtschaft - Demokratie. Ein lateinamerikanischdeutsches Dialogprogramm, Mainz 1989, 197-254, hier: 236. Vgl. K L. Remmer, New Wine or Old Bottlenecks? The Study of Latin American Democracy, in: Comparative Politics, Vol. 23, Num. 4, 1991, 479-495, hier: 480.

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autoritären Systemen und die Determinanten einer erfolgreichen Transition und Konsolidierung von demokratischen Systemen zu erforschen.101 Die in ganz Lateinamerika neu entbrannte Demokratiediskussion, die sich „sowohl durch einen gewandelten Stil als auch durch veränderte Inhalte"102 auszeichnet, kann jedoch nicht losgelöst betrachtet werden von der langen Tradition des Kampfes um Demokratie, die sich nach Howard Wiarda in vier unterschiedlichen Strömungen niedergeschlagen hat:103 • Eine starke, jedoch nicht überall mehrheitsfahige Gruppe vertrete repräsentativ-demokratisches Gedankengut im anglo-amerikanisch liberalen Sinne John Lockes und bekenne sich inhaltlich zu den Prinzipien der Gewaltenteilung, der checks and balances, zu einem apolitischen Militär, den politischen Parteien, regelmäßigen Wahlen, den klassischen Menschenrechten etc. Mit Ausnahme einiger weniger Länder sei dieses Demokratiekonzept auf eine Generation beschränkt, die dabei sei, von der Bühne zu verschwinden. • Eine zweite, hauptsächlich im intellektuellen Spektrum der Gesellschaft vertretene Richtung definiere Demokratie mehr in sozioökonomischen Termini denn in politisch-institutionellen und konzentriere sich vorwiegend auf Themen wie Abhängigkeit, Klassenstruktur, Kolonialismus, Imperialismus, ohne jedoch politische Demokratie als nationales Ziel gänzlich aufzugeben. • Eine dritte Position lehne politische Demokratie als Ziel ab und betone die autoritäre Tradition Lateinamerikas. Die starke Machtposition des Präsidenten, die Schwäche von Gerichten, Kongreß und kommunalen Vertretungen, die besonderen Privilegien der Armee und der Kirche und die Restriktionen der allgemeinen Partizipation deuten darauf hin, daß die lateinamerikanischen Gründerväter von Anfang an mehr eine autoritäre, elitäre Herrschaft beabsichtigten als demokratische Prinzipien zu verwirklichen. Die demokratische Tradition werde als Zugeständnis an fremde Moden abgetan, die gesetzlichen und konstitutionellen Fassaden verbergen die autoritären Strukturen. • Eine vierte -laut Wiarda dominante- Strömung versuche, die stark ausgeprägten autoritären und demokratischen Traditionen zu verbinden und Begriffe wie „Rechte", „Partizipation", „Pluralismus", „Repräsentation", selbst „Demokratie" in ihrer spezifisch lateinamerikanischen Bedeutung zu verstehen. War Wiardas Darstellung des Diskussionsstandes über Demokratie in Lateinamerika noch Anfang der 80er Jahre „im ganzen zutreffend" 104 , so läßt sich an ihr 101

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Vgl E Huber Stephens, Democracy in Latin America: Recent Developments in Comparative Historical Perspective, in: Latin American Research Review, Vol XXV, Num. 2, 1990, 157-175, hier: 158 M Mols, 1989b, 240 Vgl. H. Wiarda (ed ), The Continuing Struggle for Democracy in Latin America, Boulder 1980, 18 ff M. Mols, 1985, 29.

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doch auch erkennen, welch grundlegende Veränderungen in den darauffolgenden Jahren stattgefunden haben. Zunächst hat sich die -von Mols bereits 1985 als problematisch und fraglich beurteilte105 - These, daß das pluralistisch-repräsentative Demokratiekonzept auf eine Generation beschränkt bleibe, die dabei sei, von der Bühne zu verschwinden, als unhaltbar erwiesen. Auf der real-politischen Ebene sprechen die abgelaufenen Transitionsprozesse für sich, die allesamt auf das repräsentative Demokratiemodell hinfuhren; die autoritären Regime haben in dieser Zeit die Bühne verlassen106 und nicht die „Parteien und die mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen", in denen eine „lange gehegte Grundvorstellung repräsentativer Demokratie"107 weit verbreitet ist. Niemals zuvor wurden so viele Länder von gewählten, zivilen Regimen regiert, und seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Neigung zur Demokratie in Lateinamerika nie mehr Prestige genossen als zum gegenwärtigen Zeitpunkt.108 Damit haben sich auch die drei weiteren von Wiarda skizzierten Positionen zumindest relativiert. In den 80er Jahren fand eine Entwicklung statt, die auch unter dem Schlagwort „Das verlorene Paradigma: von der Dependenz zur Demokratie"109 subsumiert wurde. Dabei rückte -wie Norbert Lechner ausgeführt hat 110 - das sozialistische Denken in Lateinamerika von der Grundmaxime „Revolution" ab und ersetzte diese durch „Demokratie", wobei sicherlich eine wichtige Rolle spielte, daß „frühere sozialistische und/oder revolutionäre Vorbilder [...] immer mehr an Attraktivität verloren"" 1 haben. Für die von Wiarda an dritter Stelle genannte Gruppe, in deren Theorie die Diffamierung der „bürgerlichen" Demokratie und die Betonung der autoritären Tradition Lateinamerikas im Mittelpunkt stand, dürfte die Idee der Demokratie ebenfalls einen höheren Stellenwert erlangt haben, nachdem „nicht wenige Intellektuelle und kapitalismuskritische Politiker durch die persönliche Erfahrung von Repression, Folter und Exil erkennen mußten, daß Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit nicht nur zum dekorativen Arsenal des bürgerlichen Lagers gehören,

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Vgl M Mols, 1985, 29 Vgl M A Seligson, Democratization in Latin America: The Current Cycle, in: J M. Malloy/M. A Seligson (eds ), Authoritarians and Democrats: Regime Transition in Latin America, Pittsburgh 1987, 3-12, hier: 4. M Mols, 1985, 29. Vgl M FalcofF, The Democratic Prospect in Latin America, in: B. Roberts (ed ), The New Democracies - Global Change and U S. Policy, Cambridge/Massachusetts/London, 1990, 65-74, hier: 65 Vgl. D H Levine, Paradigm Lost: Dependence to Democracy, in: World Politics, Nr. 40, 1988, 377-394 Vgl. N. Lechner, De la revolución a la democracia El debate intelectual en América del Sur, in: Opciones, Nr. 6, 1985, 57-72. M Mols, 1989b, 239

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sondern [...] 'eine Eroberung der Menschheit' sind, die man besser nicht unterschätzen sollte."112 Die vierte Strömung, die eine -aus der Verbindung von autoritären und demokratischen Traditionen entstandene- eigene lateinamerikanische Demokratieauffassung favorisierte, mußte sich den Vorwurf einer allzu großzügigen ethnischkulturellen Relativierung des Demokratiebegriffes gefallen lassen und ein Plädoyer „für einen Grundbestand an in sich klaren und konsistenten Demokratieelementen"113 sowie die Warnung zur Kenntnis nehmen, „den Demokratiegedanken von seinen Bindungen an seine okzidentalen Ursprünge zu trennen."114 Aus diesen Veränderungen hat sich auf der wissenschaftlich-intellektuellen und -konzeptionellen Ebene in ganz Lateinamerika eine Demokratiediskussion entwickelt, wie man sie „zu keiner Zeit der lateinamerikanischen Geschichte kannte". Sie hat den Vorzug, „bisherige politische Erfahrungen, auch die Erfahrung des wiederholten Scheiterns von Demokratie, zu berücksichtigen und eigene politische Gestaltungsentwürfe für die Gegenwart unseres ausgehenden 20. Jahrhunderts anzumelden."115 So ist aus der breakdown of democracies- und Autoritarismusforschung116, die ihren hohen globalen und deterministischen Theorieanspruch wissenschaftlich nicht einlösen konnte117, die Transitionsforschung entstanden. Sie hebt sich laut Nohlen „wohltuend vom Theorieanspruch der Autoritarismusforschung" ab, da ihr Theorietyp „eher deskriptiv, von mittlerer Reichweite und probabilistisch"118 ist. Das politikwissenschaftliche Interesse konzentriert sich jetzt hauptsächlich auf die politischen Demokratisierungsprozesse, deren Probleme, Bedingungsfaktoren und Verlaufsmuster unter der Leitfrage, wie die neuen Demokratien aus dem Teufelskreis des zyklischen Wechsels zwischen autoritären und demokratischen Regimen ausbrechen und sich langfristig politisch stabilisieren und konsolidieren können.11' 112 113

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M. Mols, 1989b, 239 Vgl. M. Mols, 1985, 31, der die Antwort von Patricio Dooner und Gonzalo Fernández auf die Vorschläge Wiardas „Zu einer neuen Definition von Demokratie und Menschenrechten in Lateinamerika" referiert. M. Mols, 1985, 32. Mols bezieht sich dabei auf Helio Jaguaribe. M Mols, 1989b, 239. Vgl. dazu die beiden Sammelbände von J J Linz/A. Stepan (eds.), The Breakdown of Democratic Regimes, Baltimore/London 1978 und D Collier (ed.), The New Authoritarianism in Latin America, Princeton 1979. Vgl. D. Nohlen, 1988, 4 f. D Nohlen, 1988, 5. Die Literatur, die sich mit dem Thema Transition und Konsolidierung von Demokratie beschäftigt, hat inzwischen ein beträchtliches Ausmaß angenommen Vgl statt vieler: E Baloyra (ed ), Comparing New Democracies: Transition and Consolidation in Mediterranean Europe and the Southern Cone, Boulder 1987, G O'Donnell/P. C. Schmitter/L Whitehead (eds.), Transitions from Authoritarian Rule: Comparative Perspectives, Baltimore/London 1986; L. Diamond/J. J. Linz/S M. Lipset (eds), Democracy in Developing Countries, Volume 4: Latin America, Boulder 1989

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Dabei wird zwischen den drei zentralen Phasen des Transitionsprozesses „Liberalisierung", „Demokratisierung" und „Konsolidierung" unterschieden. In Anlehnung an O'Donnell/Schmitter und Przeworski definiert Ellen Bos „Liberalisierung" als den Versuch der herrschenden Eliten, „kontrollierte Öffnungen des autoritären Systems durchzufuhren, ohne die realen Machtverhältnisse zu verändern"120, wobei zur Entschärfung von Spannungen, oder um dem Regime eine breitere Unterstützung durch die Bevölkerung zu beschaffen, Repressionen abgebaut und die persönlichen Freiheitsrechte erweitert werden, ohne aber eine stärkere Partizipation am politischen Entscheidungsprozeß zu ermöglichen. Während „Liberalisierung" also eine Modifizierung des autoritären Systems bedeutet, bezeichnet „Demokratisierung" -in weniger differenzierender Literatur häufig sinngleich verwendet mit „Transition"- den Wechsel des Herrschaftssystems und impliziert die konstitutionelle Einführung demokratischer Institutionen, politischen Wettbewerb und eine breitere Partizipation der Bürger; freie und geheime Wahlen, allgemeines Wahlrecht und Parteienwettbewerb gelten als Minimum der demokratischen Verfahren. Auf die Phase der „Demokratisierung", die sich normalerweise in einer „Übergangsdemokratie" ausdrückt, folgt -zwar nicht zwangsläufig, aber in der Regel- die Phase der „Konsolidierung", die mit dem Einsetzen einer demokratisch gewählten Regierung beginnt und mit dem stabilen Zustand des demokratischen Systems endet.121 Die Transitionsforschung bewirkte in gewisser Weise einen Bruch mit der lateinamerikanischen Forschungstradition. In den 50er und 60er Jahren dominierten -entsprechend dem ersten Hauptparadigma sozialwissenschaftlicher Theoriebildung System und Struktur- makrosoziologisch-funktionalistische oder makrosoziologisch-strukturalistische Ansätze, während für die 80er Jahre -entsprechend dem zweiten Hauptparadigma Akteur und Handlung- vorwiegend mikropolitologisch-akteurstheoretische Überlegungen prägend waren.122 Mit anderen Worten: „Der sozioökonomische Variablen betonende Strukturalismus wurde abgelöst durch Ansätze, die zum einen Entscheidungssituationen und das strategische Verhalten von Akteuren und zum anderen genuin politische Variablen (Institutionen) hervorhoben."12' Erst in den späten 80er und frühen 90er Jahren 120

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E Bos, Die Rolle von Eliten und kollektiven Akteuren in Transitionsprozessen, in: W. Merkel (Hrsg.), Systemwechsel 1 - Theorien, Ansätze und Konzeptionen, Opladen 1994, 81-109, hier: 85 Vgl E. Bos, 1994, 85 f ; G O'Donnell/P. C. Schmitter, Transitions from Authoritarian Rule Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, Baltimore 1986, A. Przeworski, The Games of Transition, in: S. Mainwaring/G. O'Donnell/J S. Valenzuela (eds ), Issues in Democratic Consolidation: The New South American Democracies in Competitive Perspective, Notre Dame/Indiana 1992, 105-152 Vgl W. Merkel, Struktur und Akteur, System oder Handlung: Gibt es einen Königsweg in der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung?, in: ders. (Hrsg ), 1994, 303-332, hier: 303. D Nohlen/B Thibaut, Transitionsforschung zu Lateinamerika: Ansätze, Konzepte, Thesen, in: W Merkel (Hrsg), 1994, 195-228, hier: 197 f

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führte die verstärkte Konzentration auf die Konsolidierungsproblematik zu einer „gleichgewichtigeren Koexistenz beider Paradigmen" und somit zu einer „ausgewogeneren Berücksichtigung fiinktionalistischer, strukturalistischer und handlungstheoretischer Überlegungen."124 Aus der Erkenntnis, daß -vor allem bezogen auf die Komplexität demokratischer Konsolidierung- „ein einziges theoretisches Paradigma unabhängig von Raum und Zeit politische wie sozioökonomische Transformationsprozesse kaum hinreichend zu erklären vermag"125, gewannen wieder makrostrukturelle sozioökonomische, politisch-institutionelle und politisch-organisatorische Faktoren sowie Aspekte der politischen Kultur und der internationalen Beziehungen, die zu Beginn der Transitionsforschung häufig zu abstrakt als constraints behandelt worden waren, an Bedeutung.126 Für Lateinamerika faßt Mols die inhaltlichen Grundzüge der neuen Demokratiedebatte -in der man „pragmatischer" als zu Zeiten „der Dependenz-, Revolutions- und Antifaschismus-Diskussion" und freier „von verkrusteten Paradigmen, freier auch von früheren Tabus und/oder quasi-dogmatisch erstarrten politiktheoretischen Glaubenssätzen"127 diskutiert- wie folgt zusammen: „ - Es geht um eine Aufwertung der Gesellschaft gegenüber dem bisher fast allmächti gen 'Leviathan' Staat Das schließt gesellschaftlichen Pluralismus ein, auch die Forderung nach Interessenartikulation und Interessenaggregation aus dem Raum der Gesellschaft - Die überkommene Segmentierung der lateinamerikanischen Gesellschaft sei durch einen neuen Sozialpakt aufzuheben - Konkordanzdemokratische Übergangslösungen könnten unter der Voraussetzung das Mittel der Wahl sein, daß mittelfristig ein partnerschaftlicher Parteienpluralismus entsteht, der auch dem für jede funktionierende Demokratie unverzichtbaren Gedanken der konstruktiven Normalität der Oppositionsrolle besser als bisher Rechnung trägt - Die Demokratisierung des Staates bleibe etwas Künstliches, wenn man nicht gleichzeitig die Demokratisierung im wirtschaftlichen Bereich betreibe - Mit solchen Überlegungen verbindet sich in allen Lagern die Forderung nach einer 'Rückgabe externer Souveränität' an Lateinamerika - Demokratie wird nicht nur in ihren potentiellen Leistungen im Vergleich zu anderen, in Lateinamerika bekannten (und belasteten) Regimetypen gesehen, sondern auch als Wert an sich verstanden - Es sei durchaus denkbar, daß in vielen Fällen eine grundsätzliche Verfassungsreform anvisiert werden müsse, da das zentralistisch-präsidentielle Regierungssystem in der Vergangenheit deutliche Schwächen seiner demokratischen Leistungsfähigkeit gezeigt habe " 128

Aus dieser Zusammenstellung werden die wesentlichen Neuerungen der lateinamerikanischen Demokratiediskussion deutlich, die gleichzeitig auf die Chancen 124

W Merkel, 1994, 303 W Merkel, 1994, 304 126 Vgl D. Nohlen/B. Thibaut, 1994a, 207 f., Doh Chull Shin, On the Third Wave of Democratization - A Synthesis and Evaluation of Recent Theory and Research, in: World Politics 47, October 1994, 135-170, hier: 144 ff 127 M. Mols, 1989b, 240. 12 " M. Mols, 1989b, 241 f. 125

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und auf die Gefahrdungen einer dauerhaften demokratischen Konsolidierung hinweisen. Eine etwas eingehendere Betrachtung lohnt auch ftir den Zweck der vorliegenden Arbeit, da die neueren Forschungsergebnisse nicht nur für die Jungen Demokratien" Lateinamerikas von Bedeutung sind, sondern auch fiir die Analyse „älterer Demokratien" interessante Ansatzpunkte bieten. Howard Wiarda hat sich in Kapitel 9 seines im Jahre 1990 veröffentlichten Buches mit dem Titel The Democratic Revolution in Latin America129 ausfuhrlich mit den Fortschritten und Veränderungen, die zu den (Re-)Demokratisierungsprozessen beigetragen haben, sowie mit den bleibenden Hindernissen, die dem Konsolidierungsprozeß im Wege stehen, befaßt. Als endogene demokratiebegünstigende Faktoren nennt er" 0 • die Erschöpfung und den Bankrott von anderen Modellen: Seit spätestens Anfang der 80er Jahre war die „autoritäre Welle" abgelaufen, es wurde klar, daß die Militärs zu gehen hatten und, da sie selbst nach und nach zustimmten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Periode der Diktaturen ein Ende nahm. Die linke Alternative hatte sich in den meisten Ländern ebenfalls diskreditiert, die Verhältnisse in Kuba, Grenada, Nicaragua boten keine Veranlassung zur Nachahmung, und auch die Sowjetunion hatte wegen ihrer mangelhaften wirtschaftlichen Performanz und ihres Eingreifens in Afghanistan an Glaubwürdigkeit verloren. Mit der Diskreditierung der Lösungen sowohl des extremen linken als auch rechten Spektrums ergab sich die „dazwischen angesiedelte" Demokratie als einzig gangbare Alternative. • la moda. Lateinamerika wollte dem Rest der Welt schon immer zeigen, daß es auch zivilisiert und fortschrittlich ist. Seit den späten 70er und frühen 80er Jahren war Demokratie die weltweite „Modeströmung", der sich auch Lateinamerika nicht entziehen wollte. • die sozioökonomische Modernisierung: Während der Jahre zwischen 1960 und 1990 wurden -trotz der wirtschaftlichen Depression der 80er Jahre und der damit verbundenen Minderung des Lebensstandards- sozioökonomische Fortschritte erzielt (bezüglich des Bildungssystems und der Alphabetisierungsrate, des Urbanisierungsgrades, des wirtschaftlichen Wachstums), die einen starken und beständigen Einfluß auf die Klassenstruktur, die Wertvorstellungen und die Forderungen nach politischer Partizipation und Demokratie hatten. Die Thesen von Lipset und Rostow über den Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung, gesellschaftlicher Modernisierung und Demokratie scheinen sich, mit bestimmten Modifikationen, zu bestätigen. • politische und kulturelle Veränderungen: Moderne Kommunikationsmittel und infrastrukturelle Verbesserungen haben dazu beigetragen, die traditionelle Isolation Lateinamerikas zu durchbrechen und selbst ehemals isolierten Bevölke129

Vgl H Wiarda, The Democratic Revolution in Latin America History, Politics, and U.S. Policy, New York/London, 1990 Vgl. zum folgenden H Wiarda, 1990, 240-246.

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2. Demokratietheoretischer Rahmen

rungsteilen wie den Landbewohnern und den Indios Zugang zu verschaffen zu modernen Ideen und Lebensweisen. Der Organisationsgrad in Verbänden und Interessengruppen ist ebenfalls beträchtlich gestiegen und hat sich von den früheren major power contenders (Kirche, Armee, Oligarchie, Bürokratie, Industrielle, Arbeiterbewegung, Studenten, Mittelklasse) auf Hunderte, manchmal Tausende von weiteren Verbänden und Gruppen (lokale Vereinigungen, kommunale Interessengruppen, gras.s-roo/s-Organisationen etc.) ausgedehnt. Lateinamerika ist auf der gesellschaftlichen und zunehmend auch auf der politischen Ebene viel differenzierter, komplexer und pluralistischer geworden, als es noch vor 25 Jahren war. Diese zivilen Bewegungen haben immer mehr Menschen in den politischen Prozeß eingebunden, sie ihrer Rechte und Verantwortung bewußt gemacht und damit die Gefahr einer potentiellen künftigen Diktatur gesenkt. Die Organisationslücke -la falta de civilización-, die Lateinamerika in früheren Jahren charakterisiert hat, ist dabei, sich zu schließen. Die lateinamerikanische Bevölkerung scheint aufgeklärter und pragmatischer geworden zu sein, und die gewählten Präsidenten sind vielleicht vorausschauender und fähiger. Die politische Entwicklung hat also begonnen, mit dem sozioökonomischen Wandel Schritt zu halten. • das institutionelle Wachstum: Während der vergangenen 25 Jahre haben bedeutsame Veränderungen innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Institutionen stattgefunden. Die Katholische Kirche ist weit weniger monolithisch, weit weniger konservativ und in sich weitaus pluralistischer und offener für Pluralismus als zuvor. Diese Entwicklung führte zusammen mit der Zunahme protestantischer Sekten zu einer größeren Offenheit und Toleranz gegenüber anderen religiösen und politischen Standpunkten. Einige der heutigen Universitäten widmen sich mehr dem „ernsthaften Studieren" als die stark politisierten Universitäten der 60er Jahre. Die Gewerkschaften tendieren eher zur politischen Mitte und sind mehr auf kollektive Verhandlungen und Grundbedürfnisse hin orientiert als auf die Straßendemonstrationen und ein hochpolitisiertes Gewerkschaftswesen der Vergangenheit. Die Bürokratien werden aufgerufen, wirkliche, effektive Service-Leistungen zu erbringen, statt nur als aufgeblähte Verwaltungsapparate zu existieren. In Lateinamerikas historisch mächtigsten Institutionen, der Oligarchie und dem Militär, haben zumindest teilweise ähnliche Veränderungen stattgefunden, die alten Oligarchien dominieren nur noch in wenigen lateinamerikanischen Ländern, die Eliten sind pluralistischer geworden und können nicht mehr automatisch mit der Unterstützung der Kirche oder der Militärs rechnen. Trotz der beträchtlichen Fortschritte, die im Zuge der Transitions- und (Re-)Demokratisierungsprozesse erreicht wurden, gibt es auch eine Reihe von „bleibenden und/oder gegenwärtigen Gefahrdungselementen im lateinamerikani-

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sehen Redemokratisierungsprozeß"131, die eine dauerhafte demokratische Konsolidierung erschweren. Als „endogene Bedrohungspotentiale", die es sorgfältig zu analysieren gilt, nennt Wiarda132 • den Militarismus: Obwohl sich die Stellung der Militärs geändert hat und auch interne strukturelle Verbesserungen stattgefunden haben, bleiben die Streitkräfte ein Machtfaktor, mit dem gerechnet werden muß. Die Rolle des Militärs in der zivilen Gesellschaft und im politischen System ist neu zu definieren. Soll die Demokratie überleben, so erfordert dies nicht nur, daß die Streitkräfte ihre „unpolitische" Rolle verstehen und akzeptieren, sondern auch, daß die zivilen Regieningen verantwortlich und effektiv handeln. Eine enge militärisch-zivile Kooperation ist bei einigen Angelegenheiten ebenso notwendig wie der gegenseitige Respekt. Die Zivilisten müssen die Integrität der militärischen Institutionen erkennen, während das Militär die Verfassung und die Menschenrechte respektieren und seine eigene Institution verantwortlich verwalten muß. In einigen Ländern scheint es -auch wenn dies keine ideale Lösung ist- ratsam, Kompromisse und eine „duale Machtstruktur" zu akzeptieren, die die Macht in verschiedenen Bereichen zwischen Militär und Zivilisten aufteilt; wenn die Demokratie später erst gefestigter ist, könnte über diese Kompromisse neu verhandelt werden. • wirtschaftliche Rückschläge und das Schuldenproblem: In den 80er Jahren hat Lateinamerika seine schlimmste Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren durchlebt. Mitte der 80er Jahre konnten einige Länder leicht positive Wachstumsraten verzeichnen, gegen Ende der 80er Jahre war wieder ein gegenläufiger Trend zu beobachten; eine Lösung des Schuldenproblems liegt -wenn überhaupt- noch in weiter Feme. Historisch hat sich gezeigt, daß wirtschaftliche und politische Probleme eng miteinander verknüpft waren, so daß es unsicher bleibt, ob das geringe und unstete wirtschaftliche Wachstum zum Überleben der lateinamerikanischen Demokratien ausreichen wird, denn selbst wenn wirtschaftliche Unterentwicklung nicht notwendigerweise oder direkt das Ende von Demokratie verursacht, so erschwert sie doch sicher deren Überlebensfähigkeit; wirtschaftliche Performanz ist die „Achillesferse" der lateinamerikanischen Demokratien, dauerhaftes wirtschaftliches Wachstum ihr sine qua non. Neben der Schulden- und Wirtschaftskrise stellt auch der Drogenhandel inzwischen eine ernsthafte Bedrohung dar, da sich Drogenhändler häufig mit Guerilla-Gruppen und terroristischen Vereinigungen verbünden und gemeinsam gegen die bestehenden demokratisch gewählten Regierungen vorzugehen versuchen. • fortdauernde soziale Probleme: Lateinamerika bleibt von immensen sozialen Problemen gekennzeichnet, wie Armut, Unterernährung, mangelhaftem Gesundheitswesen, Analphabetismus etc., aber auch Rassen- und Klassentren1,1 132

Vgl M Mols, 1989b, 244 Vgl zum folgenden H Wiarda, 1990, 248-260

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2 Demokratietheoretischer Rahmen

nung und riesigen Kluften zwischen Arm und Reich, wobei kaum Möglichkeiten zu einer vertikalen Mobilität gegeben sind. Diese unterentwickelten sozialen Bedingungen erschweren langfristig das Überleben von Demokratie, denn wenn die Regierungen nicht in der Lage sind, die anstehenden Probleme effektiv zu lösen, verlieren sie an Legitimität und eröffnen mächtigen gesellschaftlichen Gruppen die Chance, auf anderen Wegen als durch Wahlen an die Macht zu gelangen. • traditionelle Einstellungen und Verhaltensweisen: Die politische Kultur Lateinamerikas hat sich in den vergangenen Jahren -wie Meinungsumfragen beweisen- deutlich zu einer positiven Einschätzung von Demokratie hinbewegt, wobei jedoch einige Besonderheiten bezüglich des lateinamerikanischen Demokratieverständnisses häufig übersehen werden: Die Bevorzugung von „starken" Regierungen, von zentralistischen, populistischen Rousseauschen Demokratieformen, die Toleranz gegenüber „Ausnahme-" oder „Notstandsregelungen" in Krisenzeiten, der Mangel an positiver allgemeiner Unterstützung von Institutionen wie politischen Parteien und Gewerkschaften und der Konservativismus der mächtigen sozialen Institutionen. Die in einer demokratischen politischen Kultur erforderlichen Verhaltensweisen sind noch immer schwach ausgeprägt, und es gibt zusätzlich enorme Bedrohungspotentiale, die der traditionellen politischen Kultur entspringen: die aufgeblähten und korrupten Bürokratien und die von Sinekuren, Patronage und Nepotismus geprägten Regieningen. • anhaltende institutionelle Defizite: Zahlreiche institutionelle Veränderungen sind für eine effektive Konsolidierung der Demokratie erforderlich. So bedarf es beispielsweise einer Judikative, die nicht eingeschüchtert werden kann, sowie einer Modernisierung der Ämter des Präsidenten, der Abgeordneten, der Bürgermeister, der Gouverneure, der öffentlichen Verwaltungen und der staatseigenen Unternehmen. • den Extremismus, von rechter und von linker Seite: Politischer Extremismus hat in Lateinamerika eine lange Geschichte und hält noch bis heute an. Das Problem ist besonders aktuell für die lateinamerikanische Demokratie, da Rechtsextremismus den Nährboden bereitet für Linksextremismus und umgekehrt die Herausforderungen von linker Seite in Form von Streiks, Aufständen, Unruhen den Ruf nach einer rechten Diktatur, die Ordnung und Stabilität verspricht, attraktiver werden lassen. Außerdem vereinigen sich die extreme Rechte und Linke häufig in einer Zweckgemeinschaft, um Demokraten zu unterminieren und zu diskreditieren. • die „hemisphärische Stimmung": Die Befürwortung der Demokratie, die Anfang der 80er Jahre in Lateinamerika so stark verbreitet war, ist einer distanzierteren Haltung gewichen, die noch vor wenigen Jahren charakteristische Euphorie hat sich in vielen Ländern in Frustration und Enttäuschung verwandelt. Demokratie als „System" wird weiterhin allgemein befürwortet, aber die Unzufriedenheit bezüglich der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Performanz der neuen Demokratien hat zugenommen und ist weit verbreitet. Dar-

Demokratie in Lateinamerika

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aus erwächst ein neues Verlangen nach mehr Ordnung und Disziplin, das nicht unbedingt in einer neuen Welle von Militärputschen enden muß, was aber bedeutet, daß -auch wenn Lateinamerika keine neue autoritäre Ära will- die Demokratie noch immer zerbrechlich ist und nicht als selbstverständlich erachtet werden kann. Wiarda umreißt in dieser Auflistung im wesentlichen die zentralen Elemente der Chancen und Gefahren fiir die Konsolidierung von Demokratie in Lateinamerika, wie sie in der lateinamerikanischen, nordamerikanischen und europäischen politikwissenschaftlichen Literatur diskutiert werden, wenn auch - j e nach Autor- mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, Bewertung und Gewichtung. Zu ergänzen wäre auf der Seite der „demokratiebegünstigenden Faktoren" die in ihren Grundzügen bereits charakterisierte lateinamerikanische Demokratiediskussion selbst, die Mols „für eines der wichtigsten aktuellen demokratischen Potentiale Lateinamerikas überhaupt" 13 ' hält, sowie die Existenz einer in den Bevölkerungen weit verbreiteten politischen Interessiertheit und einer grundsätzlichen „Bereitschaft der Intellektuellen, ihre öffentliche Rolle als Kritiker und Erzieher und Planer und Ideologen in den Medien, den Abendkursen der Universitäten, in der Politikberatung usw. auch anzunehmen" 1 ' 4 , zwei wichtige Elemente der politischen Kultur, die bei Wiarda zu wenig Beachtung finden. Außerdem ist positiv zu verzeichnen, daß in vielen Ländern Lateinamerikas an „demokratische Traditionen und Strukturen angeknüpft werden" kann, „die in anderen Regionen der Welt fehlen."" 5 Heinrich W. Krumwiede hält die Aspekte, daß autoritäre Regime keine Alternative mehr zur Demokratie darstellen, daß Lemerfahrungen und Korrekturwille zu einer breit angelegten politischen und ökonomischen Innovationsbereitschaft unter den politischen Akteuren gefuhrt und die Beendigung des OstWest-Konflikts zum Abbau von politisch-ideologischen Polarisierungen beigetragen haben, fiir die entscheidenden Begünstigungsfaktoren der jungen Demokratien." 6 Auf der Seite der „demokratiegefahrdenden Faktoren" erkennen Manfred Mols und Ulrike Wolf -in partieller Übereinstimmung mit Wiarda- als endogene Gefahrdungselemente" 7 "' "4 1,5

"6

117

M Mols, 1989b, 239 M Mols, 1985, 182 f. D Nolte, Lateinamerika im Umbruch: ein wirtschaftlicher und politischer Neuanfang? in: ders (Hrsg ): Lateinamerika im Umbruch 9 Wirtschaftliche und politische Wandlungsprozesse an der Wende von den 80er zu den 90er Jahren, Hamburg 1991, 7-41, hier: 26. Vgl H -W Krumwiede, Zu den Überlebenschancen von Demokratie in Lateinamerika, in: A.v Gleich u.a (Hrsg ), Lateinamerika Jahrbuch 1993, Frankfurt a M 1993, 9-30, hier: 19 ff Vgl zum folgenden M Mols/U Wolf, Lateinamerika - Was gefährdet die Demokratie 9 in: Außenpolitik, Jg 38, 2 Quartal, Hamburg 1987, 194-208 Als exogene Gefährdungen nennen Mols/Wolf das faktische Desinteresse des Westens an der Demokratie, die politische Einflußnahme durch Hegemonialinteressen, die Schuldenfrage, die nationale Souve-

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2 Demokratietheoretischer Rahmen

• die sozioökonomische und politische Fragmentarisierung der meisten lateinamerikanischen Gesellschaften: Will man sich nicht mit einem bloßen „demokratischen Formalismus" begnügen, so ist ein gewisses Maß an sozioökonomischer Homogenität unverzichtbar, weil extreme Fragmentarisierung zu einem Mangel an Empathie und fehlender Kompromißfahigkeit sowie zu einer politischen Nahbereichsorientierung und zu massiven Verteilungskonflikten fuhren. Die Demokratien sind besonders von Instabilität bedroht, weil „Demokratien einerseits per defmitionem auf die Partizipation der Bürger und auf Konsensfindung angewiesen sind, andererseits in Lateinamerika jedoch wegen der sozioökonomischen Versäulung und der extremen distributiven Verzerrungen letzteres kaum noch möglich ist."158 • die durch personalismo und dessen Spielarten machismo, caudillismo und caciquismo geprägte politische Kultur13': Ein „tendenziell eher auf Personen als auf Strukturen ausgerichtetes politisches Denken [...] verhindert eine Anpassung grundlegender Strukturen und Institutionen an die jeweiligen Interessenlagen" und „die Entstehung bzw. die Funktionsfähigkeit eines für eine Demokratie unabdingbaren Systems von checks and balances: Statt zu einer Kontrolle der machtausübenden Individuen fuhren personalistische Denkstrukturen zu einer Bewunderung für die Machthaber und dem Versuch, durch Aufnahme oder Ausübung persönlicher Beziehungen an deren Macht teilzuhaben."140 Das Zusammenwirken der genannten Faktoren erklärt zumindest auf der sozialpsychologischen Ebene „die in Lateinamerika besonders ausgeprägte Starrheit der hierarchischen Gesellschaftsstruktur.'" 4 ' • die Schwäche der politischen Parteien und einer demokratischen Opposition: Häufig sind die politischen Parteien Lateinamerikas bloße „Wahlvereine", die zudem durch stark personalistische Grundzüge geprägt sind und oft Schwierigkeiten haben, die Rolle einer systemunterstützenden Opposition wahrzunehmen oder umgekehrt von den Regierungsparteien als Oppositionsparteien anerkannt zu werden. • Verfassungs- und Verfahrensfragen: In Lateinamerika drohen Verfassungen immer wieder zu „bloßen Legitimationshülsen für divergierende Aspirationen" oder zu „bloßen Fassaden fiir tatsächlich ganz anders ablaufende Vorgänge" zu werden. „Die in allen Verfassungen extrem privilegierte Exekutive, die überwiegende Schwäche der Parlamente [...] und Gerichte, die sich weniger als Wächter über die Verfassung, sondern als Instanzen für die formale Bestäti-

140 141

ränitat und die wirtschaftliche Situation, die sie teils den endogenen, teils den exogenen Faktoren zuordnen. M. Mols/U Wolf, 1987, 197. Vgl. zu den genannten Phänomenen die ausfuhrlichen Erläuterungen in M. Mols, 1985, 124 ff. M. Mols/U Wolf, 1987, 197 f. M Mols/U Wolf, 1987, 198

Demokratie in Lateinamerika

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gung der Legalität von Regierungsakten ansehen, begünstigen die am Geist der Verfassung vorbeigehende Eigendynamik des Spiels um Machterhaltung."142 • die Schwäche der staatlichen Verwaltung und das Technokratieproblem: Das Problem der schwachen staatlichen Verwaltung in Lateinamerika beruht darauf, daß die „nicht nach Leistungs-, sondern nach Versorgungsgesichtspunkten administrierten"1'" Staaten zugleich über- und unterverwaltet sind. Häufig müssen nach erfolgtem Machtwechsel große Klientelschaften zusätzlich in den Staatsdienst aufgenommen werden, was oft eine Mehrfachbesetzung von Stellen, mangelhafte Professionalität und permanente Unterbezahlung zur Folge hat. Korruption, Trägheit und Effektivitätsmangel in der aufgeblähten Bürokratie sind zumeist die unausweichlichen Konsequenzen. Für die Demokratien bedeutet dies einen grundsätzlichen Akzeptanzverlust, denn wo „elementare Dienstleistungen gar nicht, mangelhaft oder nur unter 'Kosten' erbracht werden können, die den Bürger finanziell überfordern oder verärgern, schwinden Ansehen und Legitimitätsvorschuß jeder demokratischen Regierung."144 Um der administrativen Ineffektivität entgegenzuwirken, wurden in vielen Ländern Spezialisten eingestellt, wodurch der estado activo eine gewisse technokratische Komponente erhalten hat. Diese wirkt jedoch „im ganzen nicht als prodemokratischer Korrekturmechanismus" 14 ', da die técnicos dort, wo sie politischen Einfluß ausüben, meist mehr auf Wachstumserfolge achten als auf dauerhafte distributive Veränderungen. • die wirtschaftliche Situation: Die „interne Seite" der erheblichen wirtschaftlichen Schwächen Lateinamerikas liegt zu einem großen Teil in dem hauptsächlich ordnungspolitischen Konzept einer „gemischten Wirtschaft" begründet, das „bisher eher ein permanentes wirtschaftspolitisches Experimentieren" verursachte, „als daß es eine einschätzbare Arbeitsteilung zwischen Staat und Privatinitiative eingebracht hätte."146 Fehlende Rahmenbedingungen für ausländisches unternehmerisches Engagement, geringe eigene Produktivität, eine in der lateinamerikanischen Unternehmerschaft verbreitete Spekulationsmentalität und die Neigung vieler Regierungen zu einem deficit spending erschweren weiterhin die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage. Wie den ausfuhrlichen Darstellungen der demokratiebedrohenden Elemente von Wiarda und Mols/Wolf zu entnehmen ist, bestehen Gefahren fur die lateinamerikanischen Demokratien sowohl auf der soziokulturellen, der sozioökonomischen wie auch auf der politisch-institutionellen Ebene, die sich auch bei anderen Autoren - j e nach Rezeption lateinamerikanischer Sozialwissenschaftler und nach Be-

142 141 144 145 146

M M. M M M.

Mols/U Wolf, 1987, 200 Mols/U. Wolf, 1987, 201 Mols, 1989b, 247 Mols, 1989b, 247 Mols/U Wolf, 1987, 204

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2 Demokratietheoretischer Rahmen

riicksichtigung der einzelnen Länder- mit unterschiedlicher Betonung wiederfinden. So stellen Dieter Nohlen und Harald Barrios eine Rangfolge der Gefährdungen für die Demokratie auf, an deren erster Stelle sie die wirtschaftlichen Probleme nennen, sodann das Militärproblem, die Einstellung der Bevölkerung zur Demokratie und die Frage der politischen bzw. der institutionellen Reform.147 Differenzierter unterscheiden Dieter Nohlen und Bernhard Thibaut fünf Problemkomplexe, die teilweise eng miteinander verbunden sind: 1. Der wirtschaftliche und soziale Problemdruck und die Schwierigkeiten des Strukturwandels; 2. die institutionellen Probleme und strukturellen Eigenheiten des politischen Prozesses, insbesondere die Beziehungen zwischen den Regierungsorganen (mangelhaft funktionierende Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative) und die Entwicklung der Parteiensysteme (Merkmale der intermediären Organisation des Willensbildungsprozesses und geringe ideologisch-programmatische Distanz zwischen den Parteien); 3. die im traditionellen Klientelismus wurzelnde und durch die spezifische Rolle des Staates im Entwicklungsprozeß genährte Korruption, die im Zusammenhang mit den durch die Strukturanpassungsmaßnahmen verschärften Verteilungskämpfen zu viel Unmut unter der Bevölkerung fuhrt; 4. die Aushöhlung bzw. die Infragestellung des demokratischen Rechtsstaats durch das hohe Ausmaß an politischer Gewalt und die im Kontext des gesellschaftlichen Wandels und der enormen sozialen Probleme drastisch zunehmende kriminelle Gewalt; 5. die Rolle der Militärs, die in den meisten Ländern Lateinamerikas noch immer eine Sonderstellung im Rahmen des staatlichen Institutionensystems einnehmen und der zivilen Kontrolle mehr oder weniger entzogen sind. Ihrem traditionellen Selbstverständnis als „Hüter der staatlichen Ordnung" entsprechend, behalten sie sich ein Eingreifen vor, wenn die Politiker gegenüber gesellschaftlichen und/oder politischen Problemen versagen.148 Detlef Nolte nennt als bleibende Herausforderungen an die lateinamerikanischen Demokratien die wirtschaftliche Gesundung und das langfristige Wachstum der nationalen Volkswirtschaften, die Verwirklichung sozialer Reformen, die eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bewirken, die Regelung der militärisch-zivilen Beziehungen und das Drogenproblem' 49 , wobei „das Erbe der vorausgegangenen autoritären Regime"150 ein Hauptproblem für die neuen demokratischen Regierungen darstellt. Heinrich-W. Krumwiede erkennt als Belastungsfaktoren die ökonomische und soziale Krise der 80er Jahre, die Schwäche der demokratischen 147

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Vgl. D. Nohlen/H. Barrios, Redemokratisierung in Südamerika, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 4, 1989, 3-25, hier: 23 ff Vgl. D. Nohlen/B Thibaut, Trotz allem: Demokratie - Zur politischen Entwicklung Lateinamerikas in den neunziger Jahren, in: D Junker/D Nohlen/ H Sangmeister (Hrsg.), Lateinamerika am Ende des 20 Jahrhunderts, München 1994, 235-261, hier: 248 ff. Vgl. D. Nolte, „Una democracia sitiada"? Chancen und Gefahren für die Demokratie in Lateinamerika, in: Lateinamerika Analysen - Daten - Dokumentation, Nr 13, 1990, 1932, hier bes.: 26 f D Nolte, 1991, 26

Demokratie in Lateinamerika

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politischen Infrastruktur (nur ansatzweise unabhängige Judikative, Schwäche der Legislative, ineffiziente und teilweise korrupte Bürokratie, instabile und schwache Parteiensysteme, rudimentär entwickelte demokratische politische Kultur), das Militär als „stärkste Partei", mangelnde Rechtsstaatlichkeit (geringe Geltung des Verfassungsprinzips „Gleichheit vor dem Gesetz"), tiefgreifende soziale Ungleichheit (traditioneller Strukturdefekt lateinamerikanischer Demokratien: Unfähigkeit und Unwilligkeit, selbst Minimalprinzipien sozialer Gerechtigkeit durchzusetzen) sowie den häufig staatlich geförderten und vor allem die Unterschichten betreffenden mangelhaften Pluralismus von Interessenorganisationen.151 Für Laurence Whitehead steht die Wahrscheinlichkeit der demokratischen Konsolidierung in engem Zusammenhang init der Qualität der politischen Führung, der Herausforderung durch die Inflation, den Drogenhandel und die Auslandsverschuldung sowie mit dem Ausmaß der politischen Polarisierung.152 Samuel Huntington sieht die besten Chancen für die Konsolidierung der thirdwave Demokratien, wenn 1. eine längere historische Erfahrung vorhanden ist; 2. ein möglichst hoher Industrialisierungsgrad, verbunden mit einer modernen, komplexen Gesellschaftsstruktur mit gehobenem Bildungsniveau, erreicht wird; 3. das internationale Umfeld einen günstigen Einfluß geltend macht; 4. der Transitionsprozeß zu einem früheren Zeitpunkt aus eigenem, internen Antrieb begonnen hat als zu einem späteren Zeitpunkt als Folge externer Einflüsse und des snowW/wg-Prinzips; 5. der Transitionsprozeß konsensualistisch und friedlich verlief statt konfliktiv und gewaltsam, was bedeutet, daß der Transitionstyp transplacement dem der transformation und dieser wiederum dem des replacement'" vorzuziehen ist; 6. die politischen Eliten und die Bevölkerung in der Lage sind, mit den contextual problems, also den sozioökonomischen Problemen, umzugehen und die neuen Regierungen fähig sind, diese befriedigend zu lösen. Darüber hinaus beeinflussen nach Einschätzung Huntingtons die Art der Etablierung demokratischer Institutionen und vor allem die Bereitschaft der politischen Führer, die Kosten zur Erhaltung des demokratischen Systems zu tragen, dessen Konsolidierung. Larry Diamond abstrahiert die konkreten demokratiegefährdenden Elemente in Entwicklungsländern, indem er in seinem Aufsatz „Three Paradoxes of Democracy" auf einer eher demokratietheoretischen Ebene drei demokratieimmanente Spannungsfelder formuliert, die für die Probleme einer demokrati152

Vgl. H -W Krumwiede, 1993, 11 ff Vgl. L Whitehead, Generalidad y particularismo de los procesos de transición en América Latina, in: Pensamiento Iberoamericano, Nr 14, 1988, 309-312. Mit transformations bezeichnet Huntington Transitionsprozesse, in denen die Machthaber der autoritären Regime selbst den Systemwechsel initiieren; replacements gehen von oppositionellen Gruppen aus, die aufgrund des Fehlens von reformerischen Kräften innerhalb der bestehenden Regierung genügend Stärke entwickeln können, das Regime zu schwächen und schließlich zu stürzen, in iransplacements wird der Transitionsprozeß von den herrschenden Eliten und oppositionellen Bewegungen gemeinsam ausgehandelt und durchgeführt, vgl S Huntington, 1991, 124/142/151.

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2 Demokralielheoretischer Rahmen

sehen Konsolidierung ursächlich sind. So muß erstens das Spannungsverhältnis zwischen politischem Konflikt und Konsens befriedigend aufgelöst werden; Demokratie ist naturgemäß ein System des institutionalisierten Wettbewerbs um die politische Macht, erfordert daher Konkurrenz, jedoch nur innerhalb klar definierter, allgemein akzeptierter Grenzen. Eine zweite Spannung besteht zwischen Repräsentativität und Regierbarkeit, da politische Macht einerseits nicht in den Händen weniger konzentriert sein darf, also die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen im politischen Entscheidungsprozeß vertreten werden müssen, aber andererseits die politischen Entscheidungsträger zur Erhaltung der Systemstabilität einer gewissen Autonomie bedürfen, um gegebenenfalls schnell und entschlossen handeln zu können. Das dritte Spannungsfeld bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der Zustimmung der Bürger und der Effektivität politischer Entscheidungen; ein demokratisches System benötigt die Zustimmung des Wählers, die allerdings nur dann gegeben wird, wenn ein System sich als legitim erweist. Legitimität wiederum erfordert langfristig effektive politische, soziale und wirtschaftliche Performanz, die jedoch häufig der kurzfristigen Zustimmung geopfert wird.154

2.3

Zusammenfassung

Die aktuelle Diskussion um Demokratie in Lateinamerika wurde hier sicherlich nicht in ihrer ganzen Bandbreite erfaßt und in allen ihren Einzelaspekten erschöpfend diskutiert. Durch die Darstellung ihrer Grundzüge sollte jedoch aufgezeigt werden, daß im Zentrum der Debatte die Auseinandersetzung mit den zuvor kurz umrissenen Grundpositionen der modernen „westlichen" Demokratietheorie steht. Auch in Lateinamerika bilden die Konzepte des liberalen Verfassungsstaats, der demokratischen Partizipation und der sozialen Gleichheit die Hauptfixpunkte im Begriffsverständnis von Demokratie, wobei, wie auch in anderen Teilen der Dritten Welt, die soziale Komponente besonders betont und gefordert wird. 1 " Die begriffliche Alternative liegt daher „zwischen Demokratie als Regelsystem zur Herbeiführung demokratischer politischer Entscheidungen und Demokratie als umfassender gesellschaftlicher Erscheinung".1'6 Betrachtet man die Chancen und Gefahren für die Demokratie in Lateinamerika -wie sie oben ausgeführt wurden- etwas näher, so stellt man fest, daß sie sich letztlich auf die Grundannahmen und Funktionsbedingungen laissez-faire154

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Vgl L. Diamond, Three Paradoxes of Democracy, in: Journal of Democracy, Vol. 1, No 3, 1990, 48-60, hier: 49 f Vgl. D Nohlen, Demokratie/Demokratische Systeme, in: D. Nohlen/P. Waldmann (Hrsg.), Dritte Welt Gesellschaft - Kultur - Entwicklung, München 1987, 121-140, hier: 122 f.; M Kaplan, 1995, 36 ff ; A A Borea Odria, Neue Strukturen für die Demokratie, in: J Thesing (Hrsg), Politische Kultur in Lateinamerika, Mainz 1994, 85-92, hier: 88 f. D Nohlen, 1987, 123.

Zusammenfassung

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pluralistischer oder korporativ-pluralistischer Ordnungsmodelle beziehen und auf die Notwendigkeit öffentlich vermittelter bzw. sozial-pluralistischer Demokratiemodelle verweisen157, denen es gelingen muß, „1. die mangelhafte Berücksichtigung nicht konfliktfähiger und organisationsfähiger Interessen, 2. die einseitige Gefahrdung des Wettbewerbs- und Verhandlungsprinzips durch kooperative Entscheidungsstrukturen zugunsten privilegierter oder etablierter Interessen, 3. die mangelhafte Flexibilität pluralistischer Konfliktlösungs- und Konfliktregelungsverfahren" 1 " zu beseitigen bzw. zu verringern. Vor diesem Hintergrund kann sich eine Analyse der internen Aspekte der Entwicklung der Demokratie eines lateinamerikanischen Landes weder allein auf politisch-institutionelle noch auf prozessuale noch auf soziokulturelle oder sozioökonomische Variablen beschränken, sondern erfordert vielmehr ein Demokratieverständnis, das sowohl die empirischen Erkenntnisse und die normativen Überlegungen der modernen „westlichen" Demokratietheorie als auch die spezifischen regionalen und nationalen Entwicklungsprobleme und Demokratievorstellungen berücksichtigt. Dementsprechend liegt den folgenden Ausführungen ein Demokratiebegriff zugrunde, der die internationale Diskussion um „klassische" und „soziale" Menschenrechte ernst nimmt und davon ausgeht, daß die Verbindung von „Freiheit" und „Gleichheit", also von liberalen, politischen und sozialen Menschenrechten, zum normativen Kembestand von Demokratie gehört.15' Denn Freiheit ist die Basis der Demokratie und der Kern der Menschenwürde, die „zusammen mit der Gleichheit wesentlich das Grundwertesystem, die politischethische Grundlage der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung"160 einer modernen Demokratie bestimmt. Folglich wird die vorliegende Untersuchung sowohl die fundamentalen Elemente der Systemebene (die in der Verfassung festgelegten Regeln, die das Regieningssystem, die Grundrechte, Wahl- und Parteiengesetze, die Gerichtsbarkeit u s w. betreffen) und der Akteursebene (Parteien, Gewerkschaften, Verbände) als auch der sozioökonomischen „Kontext"-Ebene einbeziehen. Da es sich nicht um eine vergleichende cross-national-Analyse handelt, die darauf angewiesen ist, sich an einem möglichst operationalisierbaren Demokratiekonzept zur Bewertung verschiedener Demokratieformen zu orientieren, kann auf eine Minimaldefinition verzichtet werden. Dennoch ist es sinnvoll, zusammenfassend einige Kriterien zu benennen, die für die Konsolidierung einer pluralistisch-repräsentativen Demokratie unerläßlich sind:161

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160 161

Siehe zu den von William A Kelso unterschiedenen Pluralismus-Typen W. Steffani, Pluralismustheorien, in: W Mickel (Hrsg ), 1986, 344-349, hier: 346 f. W Steffani, 1986, 346 Vgl. F Nuscheier, Menschenrechte und Entwicklung - Recht auf Entwicklung, in D Nohlen/F Nuscheier (Hrsg ), 1992, 269-286, hier: 277. F Neumann, Grundwerte, in: W Mickel (Hrsg.), 1986, 201-207, hier: 203 Vgl. S Huntington, 1991, 270 ff

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2 Demokratietheoreüscher Rahmen

• Politische Partizipation und Kompetitivität: Diese Grundpfeiler der Demokratie- bzw. „Polyarchie"-Konzeption Robert Dahls, die den meisten neueren Studien zur Demokratie in Lateinamerika als Maßstab zugrundeliegt, umfassen „im wesentlichen die Einrichtung eines offenen Parteienwettbewerbs und des Verfahrens der freien und allgemeinen Wahl, um politische Ämter und Mandate zu besetzen."162 Dies impliziert neben dem aktiven und passiven Wahlrecht auch die Meinungsfreiheit, die Informationsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit. 163 Sartori bezeichnet diesen Bestandteil einer liberalen Demokratie als demo-power. die Einbeziehung des Volkes in politische Entscheidungen. Er mißt dieser Komponente geringere Bedeutung zu als dem Schutz des Volkes vor Tyrannei, der demo-protectionlM, die sich ausdrückt durch die • Institutionalisierung rechtsstaatlicher Prinzipien auf der Basis der Gewaltenteilung im liberalen Verfassungsstaat: Wenn keine Bindung der politischen Organe an die Verfassung, Rechte und Gesetze besteht, können Grundfreiheiten und Menschenrechte nicht gewährleistet werden. Auch die Entprivatisierung der Gewalt bzw. die Herausbildung eines legitimen staatlichen Gewaltmonopols ist abhängig von einer effektiven, öffentlich kontrollierten Rechtsstaatlichkeit, denn „ein Gewaltmonopol, das nicht durch Rechtsstaatlichkeit eingehegt wird, wäre im Grenzfall nichts mehr als eine beschönigende Umschreibung von Diktatur."165 Rechtsstaatlichkeit, politische Partizipation und Kompetitivität schaffen einerseits die Voraussetzungen für die Entstehung einer konstruktiven, kompromißorientierten politischen Konfliktkultur, die sie andererseits zu ihrer Verinnerlichung bedürfen. Die materiellen Leistungen, die sich dabei „als eine wichtige Brücke zwischen dem Institutionengefuge und dessen positiver emotionaler Absicherung"166 erweisen, können hervorgebracht werden durch • Soziale Gerechtigkeit: In der modernen Demokratietheorie wird das Problem der sozialen Gerechtigkeit zumeist aus dem Bereich des Politischen abgegrenzt und in den Bereich der Gesellschaft verlagert. Diese Einordnung ist berechtigt, wenn man „Freiheit" nur auf den Schutz des Individuums vor staatlichen Eingriffen und „Gleichheit" auf die allgemeine Gültigkeit von politischen Rechten sowie die Gleichheit vor dem Gesetz bezieht. Verbindet man jedoch mit „Freiheit" auch das Recht auf Selbstbestimmung sowie auf ein menschenwürdiges Leben und mit „Gleichheit" ein Mindestmaß an Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit, dann muß ein demokratischer Staat nicht nur ein liberaler, sondern auch ein sozialer Rechtsstaat sein. Er kann sich folglich nicht darauf 162 163

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165

166

D. Nohlen/B Thibaut, 1994b, 238 Vgl F. W Rüb, Die Herausbildung politischer Institutionen in Demokratisierungsprozessen, in: W Merkel (Hrsg), 1994, 111-137, hier: 112 f. Vgl G Sartori, How Far Can Free Government Travel?, in: Journal of Democracy, Vol. 6, 1995, Num 3, 101-111, hier: 102 D Senghaas, Frieden als Zivilisierungsprojekt, in: W R Vogt (Hrsg.), Frieden als Zivilisiemngsprojekt - Neue Herausforderungen an die Friedens- und Konfliktforschung, Baden-Baden 1995, 37-55, hier: 39 D Senghaas, 1995, 41

Zusammenfassung

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beschränken, Rechtsschutz gegen die Beeinträchtigung der Freiheitssphäre seiner Mitglieder zu gewähren' 67 , sondern muß auch die Aufgabe übernehmen, „prophylaktisch die Entstehung politischer, wirtschaftlicher und insbesondere sozialer Bedingungen zu verhüten, aus denen eine Gefährdung rechtsstaatlicher Prinzipien zu erwachsen vermag."16' Damit ist soziale Gerechtigkeit die „materielle Anreicherung bzw. Unterfuttening von Rechtsstaatlichkeit, insbesondere im Sinne eines fairen Anteils an Wohlfahrt", also keine politische Orientierung, der beliebig gefolgt werden kann oder auch nicht, sondern vielmehr eine „konstitutive Bedingung der Lebensfähigkeit von rechtsstaatlichen Ordnungen und damit des inneren Friedens von Gesellschaften."169 Die Erkenntnis, daß ein Minimum an sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit zur Verwirklichung von politischer „Freiheit" und „Gleichheit" notwendig ist, hat in den meisten demokratischen Verfassungen ihren Niederschlag gefunden: neben den liberalen Freiheitsrechten und den politischen Grundrechten wurden auch soziale Grundrechte verankert. Ihre Durchsetzung ist jedoch wesentlich schwieriger, da sie, im Unterschied zu den ersten beiden Rechtskategorien zum einen, selbst bei intakten rechtsstaatlichen Institutionen, nicht einklagbar sind und zum anderen eine aktive und dauerhafte staatliche Reformpolitik erfordern. Sie besitzen somit Empfehlungscharakter und werden folglich nicht als verbindlicher Bestandteil der Grund- und Menschenrechte und damit der Demokratie anerkannt. Auch auf der (politik-)wissenschaftlichen Ebene gibt es in diesem Bereich noch erhebliche Mängel: Obwohl die historische Erfahrung nach wie vor ziemlich eindeutig für die These spricht, daß „die Demokratie in Lateinamerika kaum lebensfähig ist, wenn die krasse Ungleichheit der Lebensverhältnisse und -chancen in den Gesellschaften der Region nicht mit den Mitteln der Reform abgebaut werden"170, sind viele der gängigen Konzepte nicht geeignet, den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen und politischen Entwicklungsprozessen angemessen zu erfassen. „Nur auf einer solchen Basis aber lassen sich die Konsolidierungschancen der lateinamerikanischen Demokratien bewerten und möglicherweise gangbare Strategien ausfindig machen, sie zu verbessern."171 Insgesamt kann man Senghaas' Darstellung der Interdependenzen oben genannter Faktoren, die er im Zusammenhang mit der Problematik Zivilisierung Frieden - Gewalt für sich modernisierende bzw. bereits moderne Gesellschaften erarbeitet hat, zustimmen und sie auch auf die Konsolidierungsproblematik sich demokratisierender oder bereits (teil-)demokratischer politischer Systeme bezie167 168

169 170 171

Vgl M G Schmidt, 1995, 155 E Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie, in: ders, Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt a M. 1991 (hg von Alexander von Brünneck), 326359, hier: 359 (zit nach M G. Schmidt, 1995, 155). D Senghaas, 1995, 41 D Nohlen/B Thibaut, 1994a, 218 D Nohlen/B Thibaut, 1994a, 218

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2 Demokratietheoretischer Rahmen

hen: „Ohne gesichertes Gewaltmonopol keine Rechtsstaatlichkeit, auch keine gewaltfreie demokratische Partizipation; ohne Verteilungsgerechtigkeit keine Bestandsgarantie für eine als legitim empfundene Rechtsstaatlichkeit und demzufolge kein verläßlich eingehegtes Gewaltmonopol, auch keine Konfliktkultur; ohne demokratische Partizipation und Verteilungsgerechtigkeit keine Bürgergesinnung usf."172

172

D. Senghaas, 1995,43

59

3.

Etappen der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung bis zur „Revolution" 1948

In der nationalen, US-amerikanischen und europäischen Literatur wird Costa Rica weitgehend übereinstimmend eine Sonderrolle im mittelamerikanischen Raum zugeschrieben, da es sich nach Mitchell A. Seligson in dreierlei Hinsicht grundlegend von seinen Nachbarländern unterscheidet:' • Der Stand der sozialen und ökonomischen Entwicklung ist in Costa Rica weit höher als irgendwo sonst in Zentralamerika. • Costa Rica verfugt über die längste und ausgeprägteste Tradition demokratischer Regierungsfiihrung; Bürgerrechte wie Presse-, Meinungs-, und Versammlungsfreiheit werden in hohem Maße respektiert und geschützt; freie und offene Wahlen mit einem vorbildlichen, auf Wahlbetrugs- und Korruptionsvermeidung ausgerichteten Wahlsystem kennzeichnen den Stil costaricanischer Politik; (klassische) Menschenrechte werden kaum verletzt. • Costa Rica gilt als „Insel des Friedens" der Region. Es hat vor mehr als 40 Jahren seine Armee abgeschafft und verfassungsmäßig verboten. Bei kleineren internationalen Konflikten an den nördlichen und südlichen Grenzen haben Grenzwachen und paramilitärische Einheiten ausgereicht, um mit den Vorfallen fertig zu werden. Innenpolitisch zeigt sich Costa Ricas Friedfertigkeit darin, daß Streiks und Proteste selten gewaltsam verlaufen und daß das Medium „Verhandlung" den am weitesten verbreiteten Konfliktbewältigungsmechanismus darstellt. Auf der Suche nach Begründungen für den costaricanischen Ausnahmefall beruft man sich immer wieder auf die in der Bevölkerung fest verankerten traditionellen Werte „Pazifismus", „Demokratie" und „sozialer Reformismus", was auch in der Rede des Ex-Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers Oscar Arias anläßlich der Übernahme der Präsidentschaft der Republik am 8. Mai 1986 deutlich zum Ausdruck kommt, wenn er sagt: „Costa Rica wird sich vom Krieg fernhalten, um seine tiefverwurzelte Friedenstradition zu stärken, um seine rechtsstaatlichen Traditionen zu bewahren, um ein günstiges Klima für die ökonomische Entwicklung und die soziale Harmonie beizubehalten."2 Doch wie sind die „tiefverwurzelte Friedenstradition", die „rechtsstaatliche Tradition" und das „günstige Klima für die ökonomische Entwicklung und die

Vgl. M A Seligson, Costa Rica, in: H. J. Wiarda/H F. Kline (eds), Latin American Politics and Development, Boulder/San Francisco/Oxford 1990 (3. ed.), 455-466, hier: 455 ff. O Arias, Frieden fur Zentralamerika, Frankfurt a. M. 1987, 26.

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3. Etappen der Entwicklung bis zur ..Revolution" (1948)

soziale Harmonie" entstanden, und wie konnten solche Werte im mittelamerikanischen Kontext bestehen? Zur Beantwortung des ersten Teils der Frage hält wiederum die nationale wie internationale Geschichtsschreibung einige Erklärungsmuster bereit, die sich jedoch weniger in der Darstellung der Fakten als vielmehr in deren Interpretation und Bewertung ihrer Bedeutung für die heutigen politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen deutlich unterscheiden. Auch differiert die Zuordnung der Ursprünge der costaricanischen Demokratie zu einer historischen Epoche insofern, als einige Autoren den status quo der politischen Institutionen und Kultur direkt auf die Kolonialzeit zurückführen, während andere den Beginn der demokratischen Entwicklung erst nach der Erlangung der Unabhängigkeit sehen, wieder andere die „moderne Demokratie" als Produkt der Zeit nach 1948 bezeichnen. Da die verschiedenen Beurteilungen wesentlich davon abhängen, ob aus einer eher soziokulturellen oder einer politisch-institutionellen Perspektive argumentiert und ob ideologisch eine eher euphemistische oder kritische Position eingenommen wird, ist es zum Zwecke der vorliegenden Arbeit bei dem ihr zugrundeliegenden Demokratieverständnis sinnvoll, die wichtigsten Argumentationsstränge aufzunehmen und sie zumindest in ihren Hauptlinien etwas näher zu beleuchten.

3.1

Von der Entdeckung bis zur Unabhängigkeit: Das koloniale Erbe (1502-1821)

Als Kolumbus auf seiner vierten und letzten Reise am 18.9.1502 in der Gegend der heutigen Stadt Limön an der Atlantikküste Costa Ricas landete, lebten in der Region etwa 27.000 Menschen', die im wesentlichen drei Hauptstämmen angehörten: den Chorotegas, den Huetares und den Brunkas.4 Sie waren weit verstreut und betrieben „auf einem relativ niedrigen technischen und kulturellen Niveau primär eine agrarisch geprägte Subsistenzwirtschaft, [...] ohne daß sich Bevölkerungszentren größeren Umfangs entwickelten, obwohl in Ansätzen bereits politische Organisationsstnikturen vorhanden gewesen waren." 5 Erst ca. 20 Jahre nach der Entdeckung begann die eigentliche Landnahme Costa Ricas, als spanische Truppen, mit dem Ziel der Eroberung Nicaraguas, von Panama aus den Küstenregionen entlang das Land durchquerten. Dabei be3

4

5

Vgl W. Dietrich, Historisch-geographische Aspekte der Sonderstellung Costa Ricas im zentralamerikanischen Raum, in: A Maislinger (Hrsg ), Costa Rica - Politik, Gesellschaft und Kultur eines Staates mit ständiger aktiver und unbewaffneter Neutralität, Innsbruck 1986, 35-44, hier: 35 Vgl P Hiedl/R. Rausch, Costa Rica, in: D Boris/R Rausch (Hrsg ), Zentralamerika, Köln 1984 (2 Aufl), 347-405, hier: 349 J. Fuchs, Costa Rica - Von der Conquista bis zur „Revolution": historische, ökonomische und soziale Determinanten eines konsensualistisch-neutralistischen Modells in Zentralamerika, Berlin 1991, 20

Das koloniale Erbe

61

schränkten sich die im Namen der spanischen Krone handelnden Konquistadoren nicht auf die Suche nach Edelmetallen, deren Vorkommen sie aufgrund der Namensgebung „Costa Rica" (reiche Küste) in großem Maße erhofften, sondern bemühten sich auch im Jahre 1524 an der Pazifikküste und 1539 an der Atlantikküste erste spanische Siedlungen zu errichten sowie ihrer -dem generellen Usus zu Zeiten der spanischen reconquista folgenden- Verpflichtung nachzukommen, die indianischen Einwohner zum christlichen Glauben zu „missionieren".6 Die ersten Eroberungsversuche scheiterten: Die Hoffnung auf Edelmetallfiinde zerschlug sich in Ermangelung entsprechender natürlicher Ressourcen; aufgrund von Herrschaftskämpfen unter den Eroberem kam es nicht zur Gründung spanischer Siedlungen; ein ausreichendes Potential indianischer Sklaven konnte wegen der Ermordung und Ausrottung weiter Teile der Ureinwohner durch die Konquistadoren selbst und des Rückzugs der verbleibenden Indios in kaum zugängliche Gebiete nicht geschaffen werden. Damit befand sich Costa Rica in einer politischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Randlage, so daß es zunächst keine besonderen Anreize zur weiteren Erschließung und Besiedlung bot.7 Im Jahre 1561 wurde Juan de Cavallón von der audiencia in Guatemala beauftragt, Costa Rica -inzwischen unter dem Namen „Nuevo Cartago und Costa Rica" in den Rang einer von der Jurisdiktion Guatemalas abhängigen Alcadia Mayor erhoben- zu erobern und zu kolonialisieren.8 Es gelang ihm, zumindest bis ins Landesinnere vorzudringen und zwei Ansiedlungen zu gründen, wovon eine die spätere Hauptstadt Cartago wurde. Zwei Jahre später setzte Juan Vásquez de Coronado die Kolonialisierung fort, indem er mit Hilfe der indianischen Bevölkerung weitere Expeditionen auch in Richtung Pazifikküste durchführte und dauerhafte Siedlungszellen bildete.' Er wurde fiir seine Erfolge mit der Ernennung zum Gouverneur Costa Ricas belohnt und wird auch als Gründer des Landes bezeichnet.10 Zur Honorierung der übrigen Teilnehmer dieser conquista verlieh Vásquez de Coronados Nachfolger Perafan de Ribera im Jahre 1569 insgesamt 79 Gefolgsleuten encomienda-Tite\, wodurch ihnen „die Möglichkeit eröffnet werden sollte, von landlosen Edelleuten zu Feudalherren zu avancieren und zu leben, ohne auf ihrer eigenen Hände Arbeit angewiesen zu sein."11 Mit dem Ende der Amtszeit Perafan de Riberas 1572 war die Etablierung der spanischen Kolonialherrschaft so weit fortgeschritten, daß die Phase der Eroberung als beendet bezeichnet werden kann,12 womit Costa Rica das am spätesten erschlossene Gebiet Zentralamerikas darstellt. Zu dieser Zeit bestand die Bevöl6

7

8 9 10 11 12

Vgl. S Chavarria Jiménez, Las estructuras de dominación en Costa Rica: De la Epoca Colonial a los albores del Estado nacional, San José 1991, 49 Siehe hierzu ausführlich: E Fonseca, Costa Rica Colonial: la tierra y el hombre, San José 1986 (3 ed ), 56 ff. Vgl R Fernández Guardia, Cartilla Histórica de Costa Rica, San José 1992, 32. Vgl S Chavarria Jiménez, 1991, 40 Vgl L A Bird, Costa Rica - The Unarmed Democracy, London 1984, 22. J Fuchs, 1991, 23 Vgl C. Meléndez, Historia de Costa Rica, San José 1991 (5. reimpr. de la 2. ed ), 48

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3. Etappen der Entwicklung bis zur „Revolution" (1948)

kerung laut Schätzungen aus etwa 17.166 Indios, 113 Spaniern, 30 Schwarzen und 170 Mestizen.13 Die Spanier besaßen in Cartago Land, auf dem sie Vieh züchteten, Getreide, Gemüse und Tabak anbauten, während die aus den reducciones herangeschafften Indios die Landarbeit ausführten.14 Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts verlief die Entwicklung Costa Ricas „sowohl in ökonomischer als auch in machtpolitischer Hinsicht äußerst schleppend."15 Zwar emigrierten 1575 weitere 335 Südspanier nach Costa Rica, die sich vorwiegend in Cartago ansiedelten, doch gingen auch dann die wirtschaftlichen Erfolge nicht über den Export einiger Produktionsüberschüsse an Weizen und Mais hinaus. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stand die Provinz schließlich am Tiefpunkt ihrer bisherigen Entwicklung. Es gab weder Gold- noch Silberminen noch Anbau von Zuckerrohr wie in anderen Provinzen, lediglich die Fertigstellung des sog. paso real oder camino de las mulas, ein zum Zwecke des Maultierhandels errichteter Weg zwischen Nicaragua und Panama, bewirkte einen gewissen Fortschritt insofern, als die Verkehrsbedingungen leicht verbessert wurden, einige Einwohner als Maultiertreiber oder Zwischenhändler fungierten und das Land von der fiir den Durchzug der Herden zu entrichtenden Steuer profitierte.16 Auch nahm die Zahl der Ureinwohner in der Zeit nach der Konquista und im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts erheblich ab, was auf die „extensive und im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch zu nennende, auf kurzfristiges Gewinnmaximierungsstreben gerichtete Ausbeutung"17 durch die Kolonisatoren, auf eingeschleppte Krankheiten sowie auf die Behandlung der indianischen Bevölkerung durch die ins Land gekommenen Missionare zurückzufuhren ist, die sich durch ihren geistlichen Stand nicht daran hindern ließen, in „weltlichen Dingen" tätig zu werden, ihren Segen zur Versklavung der Indios zu geben und fast jedes Mittel anzuwenden, um deren Widerstandswillen zu brechen." Ab Mitte des 17. Jahrhunderts sollte durch die Intensivierung des bislang nur ansatzweise in der Region um Matina an der Atlantikküste betriebenen Kakaoanbaus der desolaten wirtschaftlichen Lage ein Ende bereitet werden. Die Rahmenbedingungen zur Kultivierung und Vermarktung des Kakaos waren vielversprechend: Die klimatischen und geographischen Gegebenheiten, der Niedergang der Plantagenwirtschaft in den früheren Zentren des Kakaoexports an der Pazifikküste Mexikos, Guatemalas und Nicaraguas, der geringe Bedarf an Arbeitskräften zur Bewirtschaftung der Plantagen sowie staatliche Förderungen 13

14 15 16 17

"

Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, La esclavitud en Costa Rica durante el periodo colonial, in: O Aguilar Bulgarelli, Ensayos de historia patria, San José 1989 (1 reimpr ), 9-22, hier: 11 Vgl. P. Hiedl/R. Rausch, 1984, 350 J. Fuchs, 1991, 30. Vgl. C. Monge Alfaro, Historia de Costa Rica, San José 1982 (17. ed.), 128 f. J Fuchs, 1991, 33 Vgl. G. Schreiner, Die Wirtschaftsentwicklung Costa Ricas unter besonderer Berücksichtigung der Auseinandersetzungen zwischen Monetaristen und Keynesianern, Saarbrükken/Fort Lauderdale 1988, 32.

Das koloniale Elte

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führten zunächst zu raschen Wachstumserfolgen.19 Dabei „kam es zu keiner Übernahme der im Valle Central in dieser Zeit üblich gewordenen Parzellenbewirtschaftung im Familienverband, sondern zu einer primär durch 'Fremdarbeit' geprägten Haziendawirtschaft" 20 , da die Spanier die Gegend um Caitago als Wohnsitz dem tropischen Matina vorzogen. Bei den haciendas handelte es sich jedoch um relativ kleine Pflanzungen, die unter den Angehörigen der kolonialen Oberschicht verteilt waren, die auch den Handel kontrollierten,21 weil keine einzelne Gruppe oder Familie über ausreichende finanzielle Mittel verfugte, den Kakaoanbau und -handel in ihren Händen zu konzentrieren. Dennoch konnte Matina sich nicht als dauerhaftes landwirtschaftliches Zentrum herausbilden. Verschiedene Gründe22 wie die infrastrukturellen Hindernisse bei der Belieferung zentralamerikanischer Märkte, die hohen Abgaben in Form von Grenz- und Wegezöllen, der geringe Eigenkonsum von Kakao, das begrenzte Potential an Menschen, die unter den klimatischen Verhältnissen arbeitsfähig und -willig waren, behinderten die beständige Ausweitung der Kakaoproduktion. Hinzu kam die permanente Bedrohung zunächst durch die filibusteros -englische, holländische und französische Piraten-, die „teilweise auf eigene Faust, teilweise in Verbindung mit der jeweiligen Macht, die Spaniens Hegemonie in der Karibik bekämpfte" 2 ', alljährlich, wie später auch die zambos-mosquitos -kriegerische, mit der Kolonialmacht England verbündete Stämme, bestehend aus Nachfahren aus Verbindungen von Negersklaven, indianischen Ureinwohnern und Europäern 24 - viele Plantagen überfielen und zerstörten, Kakaoemten plünderten, Tributzahlungen verlangten und nach indianischen Sklaven für Jamaika jagten. Zusammen mit den genannten Faktoren führten schließlich der Verlust des nicaraguensischen Marktes durch die aufkommende Kakaoproduktion in Rivas und die Verlagerung auf den Tabakanbau sowie dessen Intensivierung zum Ende der Kakaoära im späten 18. Jahrhundert.25 In den Folgejahren wurde Tabak zum Hauptexportprodukt, so daß sich die wirtschaftlichen Zentren in das zentrale Hochland verlagerten, wo Tabak, im Gegensatz zu dem vorwiegend auf Plantagen als Monokultur betriebenen Kakaoanbau, anfangs hauptsächlich als Ergänzung der Subsistenzproduktion angebaut wurde. Der eigentliche Durchbruch des Tabaks zum wichtigsten Produkt der costaricanischen Wirtschaft wurde im Jahre 1766 durch die Errichtung eines Tabakmonopols eingeleitet,26 das dem Staat ein -wenn auch nur partielles- unmittelbares Mitwirken im ökonomischen Prozeß ermöglichte und die „Wandlung der 19 20 21 22 23 24 25

26

Vgl E Fonseca, 1986, 227 ff J Fuchs, 1991,45 Vgl C. Monge Alfaro, 1982, 148 f. Vgl. G Schreiner, 1988, 36 f. P Hiedl/R Rausch, 1984, 351. Vgl. G Schreiner, 1988, 36. Vgl. J L Vega Carballo, Hacia una interpretación del desarrollo costarricense: ensayo sociológico, San José 1986, 32 Vgl. J L Vega Carballo, 1986, 35.

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3. Etappen der Entwicklung bis zur „Revolution" (1948)

staatlichen Funktion vom vorwiegend kontrollierend und restringierend Tätigwerden hin zum interventionistisch agierenden Stimulus des ökonomischen Prozesses"27 beabsichtigte. Diese Intention konnte 1781 mit der Einrichtung der Factoría de Tabacos in San José realisiert werden, die den Tabakanbau „verstaatlichte"28, um der Krone zuwiderlaufende Privatinteressen auszuschalten und ihre Anteile an der ökonomischen Prosperität zu sichern. Zu diesem Zwecke beauftragten die Behörden des Generalkapitanats von Guatemala einen von ihnen entsandten Beamten mit der Verwaltung der factoría, was „zum ersten Mal in der Geschichte der Provinz den Aufbau einer gewissen verwaltungsmäßigen Struktur mit Anklängen an ein bürokratisches Grundmuster"29 erforderlich machte und einen „Verwaltungsapparat" entstehen ließ, der offensichtlich so effektiv arbeitete, daß man seine Methoden -vor allem die Zentralisierung der Tabakproduktion auf einige ausgewählte Gebiete und die Einführung eines Mengenbegrenzungsbzw. Lizenzierungssystems- nach einiger Zeit in ganz Mittelamerika anwandte und Costa Rica 1787 das Monopol für den Tabakanbau im gesamten Generalkapitanat Guatemala verlieh.'0 Damit begann die eigentliche Blütezeit des Tabakanbaus, die trotz ihrer kurzen Dauer „maßgeblichen Einfluß auf die weitere gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes"" haben sollte. Als positive Auswirkungen sind hier die wirtschaftlichen Wachstumserfolge zu nennen, die sich, anders als im früheren vorwiegend naturalwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystem, nun auch durch ins Land fließende Geldbeträge bemerkbar machten und dadurch zu einer ansatzweisen Verbesserung der Infrastruktur sowie dem Anschluß an die allgemeine Entwicklung beitrugen." Gleichzeitig konnte durch das Lizenzierungssystem eine zu einseitige Ausrichtung auf den Tabakanbau und die damit häufig einhergehende Vernachlässigung der Produktion von Grundnahrungsmitteln vermieden werden. Zudem bildete sich in den neu entstandenen Ansiedlungen in und um San José herum „ein schwerpunktmäßig auf den Klein- und Mittelbauern sowie den fortschrittlichen Teilen der Elite basierendes Gegengewicht zu der alten Kolonialelite und -bürokratie Cartagos"33 heraus, aus der Peripherie entstand ein Zentrum mit ungewohnten Aktivitäten, was für die spätere Ernennung San Josés zur Hauptstadt Costa Ricas eine wichtige Rolle spielte.54 Negativ zu vermerken sind die dirigistischen Grundzüge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik, die Vernachlässigung der Interessen der Provinz sowie die Entstehung von Unruhen und illegalem Handel durch die Verweigerung von Lizenzen und die staatliche Festlegung von Niedrigpreisen. Zur Bekämpfung des Schmug27 28 29 30

" 32 33 34

J Fuchs, 1991,69 Vgl. J. Fuchs, 1991, 69 J. Fuchs, 1991, 70 Vgl. R. Fernández Guardia, 1992, 67 J. Fuchs, 1991, 71. Vgl. J L. Vega Carballo, 1986, 41. J. Fuchs, 1991, 72 Vgl. L. Bird, 1984, 25

Das koloniale Erbe

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gels wurden wiederum die Kontrollmaßnahmen der Bürokratie verschärft, so daß sich die ursprünglich stimulierenden Effekte der staatlichen Eingriffe in Hemmnisse für die weitere Produktionsentwicklung verkehrten.35 Die „Hochphase" des Tabaks neigte sich ihrem Ende zu, als die Audiencia de Guatemala 1792 Costa Rica das Tabakmonopol wieder entzog und Anfang des 19. Jahrhunderts die Ausfuhrkonzession zurücknahm. Von da an unterlag die Produktion ständigen Schwankungen, bis sie ab 1810 auf niedrigem Niveau stagnierte und gegen Ende der Kolonialzeit fast ganz aufgegeben wurde.36 Somit war es auch nicht gelungen, durch den Tabakanbau unter der strikten Kontrolle der Kolonialherrschaft in Guatemala „die durch fehlende Infrastruktur, Armut und Isolation gekennzeichnete Situation zu überwinden, obwohl der Tabakanbau noch am besten organisiert war, den wirtschaftlichen Aufschwung von San José mit sich brachte und dem sich nach 1821 herausbildenden unabhängigen Staat am meisten Einkünfte hinterließ."37 Nach dem Ende des Tabakbooms entstanden in Costa Rica erneut Bemühungen um ein alternatives exportgeeignetes Anbauprodukt, die sich, staatlicherseits initiiert und durch Steuerbefreiungen unterstützt, in der Anpflanzung von neuen Produkten wie Baumwolle, Zuckerrohr und Kaffee niederschlugen, deren Erfolge jedoch kurzfristig äußerst beschränkt blieben. Auch die Entdeckung einiger Kupfer-, Silber- und Goldvorkommen zwischen 1807 und 1820 führte nicht zu einer nennenswerten Erschließung des Bergbaus in dieser Endphase der Kolonialzeit.38 Aus der Darstellung der bisherigen Entwicklung wird deutlich, daß verschiedene Faktoren wie der Mangel an mineralischen Ressourcen, die dauernde Unterbesiedlung infolge der radikalen Dezimierung der einheimischen Arbeitskräfte und die zögerliche Neuansiedlung, erhebliche infrastrukturelle Defizite, die protektionistische Handelspolitik der spanischen Kolonialmacht und die provinzielle, geostrategische Randlage den wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt Costa Ricas maßgeblich be- oder gar gänzlich verhinderten, so daß auch am Ende der Kolonialzeit die Hauptmerkmale Armut und Isolation den Zustand der Provinz charakterisierten. Dieser Zustand der Armut und Isolation bzw. die Konstellation seiner spezifischen Bedingungsfaktoren bewirkte die Entstehung einer Gesellschaft, die sich von denen anderer spanischen Kolonien in Amerika deutlich unterschied, da sich die sonst üblichen Wirtschafts- und Organisationsformen der encomiendas, naborías und haciendas unter den gegebenen Umständen nicht in dem Maße wie in anderen Ländern durchsetzen konnten. Daher wurde Grundbesitz nicht zur Quelle großen Reichtums, blieb vergleichsweise ebenmäßig verteilt, und in der späten Kolonialzeit waren die meisten Costaricaner aufgrund der durch den Tabakanbau 35 36 37 38

Vgl. J Fuchs, 1991, 72 f. Vgl. J. L. Vega Carballo, 1986, 43 f. P. Hiedl/R. Rausch, 1984, 3 51 Vgl J. L. Vega Carballo, 1986, 45

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3 Etappen der Entw icklung bis zur ..Revolution" (1948)

hervorgerufenen Umstrukturierungsprozesse -ungeachtet ihres sozialen StatusSubsistenzbauern39, zumeist Weiße und Mestizen, weil sich durch die Ausrottung der indigenen Bevölkerung eine weitgehende „kulturelle und ethnische Homogenität" -neben der fehlenden krassen Polarisierung in Arm und Reich- als weiteres Merkmal der Gesellschaftsstruktur herausgebildet hatte. In dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgangssituation sehen viele Autoren, die sich aus historischer, soziologischer oder politologischer Perspektive mit Costa Rica beschäftigen, die Wurzeln des heutigen demokratischen Systems. Die wirtschaftliche Lage und Isolation, so wird in der Literatur häufig betont, habe Indios wie Mestizen, Kolonisten wie die spanische Obrigkeit gleichermaßen gezwungen, das Feld selbst zu bestellen, um den Familienunterhalt zu sichern, wodurch nach und nach eine soziale Gleichheit und Homogenität entstanden sei, die die Herausbildung aristokratischer Klassen und eines Kastensystems verhindert habe. Besonders deutlich wird die These von der klassenlosen kolonialen Gesellschaft und dem daraus erwachsenen „Kleinbauern" als Zentralfigur der „ländlichen Demokratie", die sich zumindest in der späten Kolonialzeit entwickelt habe, in den Worten eines der fuhrenden Vertreter der traditionellen costaricanischen Geschichtsschreibung Carlos Monge Alfaro: „As the central figure of our political, social, economic, and cultural history, the yeoman farmer emerged, and is deeply rooted, in the eighteenth century [ ] He was the genuine product of Costa Rica's curious colonial history Because of the economic conditions in our country, social classes or castes did not arise [...]. We consider the farm laborer a great figure, worthy of reverence and deep love, for he gave Costa Rica the fundamental basis of what would in time become its rural democracy A great history of democracy lies in his soul. Out of his free and independent spirit, alive yet silent for centuries, came forth the citizen of the eighteenth century In those early times he was distant from commerce, society, and politics [...]. But after the eighteenth century, new institutions arose in which he could participate and he engaged actively in the political process [. ] To understand the special concern for liberty that Costa Ricans have always shown, the respect of the country's leaders for law and for human life, one must know the yeoman who labored upon the land This is the axis, the backbone of our history, the nucleus of Costa Rican society

Monge Alfaros Art und Weise, historische Fakten zu „interpretieren" ist durchaus repräsentativ fiir eine Wissenschaftsrichtung, deren Positionen Oscar Aguilar Bulgarelli als romanticismo democrätico41 bezeichnet. Die Anschauungen der „sozialromantischen" Schule42 werden jedoch in neueren, differenzierteren Un-

40

41

42

Vgl J A Booth, Costa Rica: The Roots of Democratic Stability, in: L Diamond/J. J Linz/S. M. Lipset (eds ), Democracy in Developing Countries: Latin America, Boulder 1989, 386-422, hier: 388. C Monge Alfaro, The Development of the Central Valley, in: M Edelman/J Kenen (eds ), The Costa Rica Reader, New York 1989, 9-12, hier: 12 Vgl. O Aguilar Bulgarelli, Costa Rica: Evolución Histórica de una Democracia, in: Ch. Zelaya/O Aguilar Bulgarelli/D. Camacho/R Cerdas/J Schifter, Democracia en Costa Rica? Cinco Opiniones Polémicas, San José 1983 (2 ed.), 35-93, hier: 40 Vgl. J Fuchs, 1991, 19

Das koloniale Erbe

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tersuchungen zunehmend infrage gestellt, die Klischeevorstellungen, die sie hervorbrachten, eher auf der Seite Mythos denn costaricanische Realität verbucht. So weist Aguilar Bulgareiii nachdrücklich darauf hin, daß die soziale und ethnische Differenzierung zwar weniger ausgeprägt als in anderen lateinamerikanischen Ländern, aber dennoch vorhanden war und es daher utopisch sei, von einer kompletten sozialen Gleichheit zu sprechen.43 Wie Carlos Meléndez Chaverri nachweist, war die Struktur der Landbesitzverteilung weit weniger homogen als weitläufig angenommen. Er unterscheidet drei Regionen, in denen sich jeweils sehr unterschiedliche landwirtschaftliche Produktionsformen herausbildeten:44 • In der nördlichen Pazifikregion entstanden zur Viehzucht bestimmte haciendas, die von 1523-1542 mit Hilfe von durch das encomienda-System de facto versklavten Indios betrieben wurden. Nach dem per Gesetz erlassenen Verbot des encomienda-Systems konnte die indianische Bevölkerung nicht mehr gezwungen werden, auf den haciendas zu arbeiten, so daß die Ansiedlung in der Nähe von indianischen Niederlassungen nicht mehr notwendig war. Dies führte zur Aneignung von Land in unbewohnten Gebieten und zur Bildung von Latifundien, auf denen die Indios durch schwarze Arbeitskräfte ersetzt wurden. Die zum Latifundium erweiterte hacienda schuf nicht nur soziale Isolation, die sich negativ auf die Gründung und Entwicklung von Städten in der Umgebung auswirkte, sondern auch die Grundlagen einer oligarchischen und antidemokratischen sozialen Ordnung. Damit sind die strukturelle Unterentwicklung und die landwirtschaftlichen Probleme der nördlichen Pazifikregion in der heutigen Zeit direkte Legate der hacienda-Wirtschaft. • An der Atlantikküste, im Gebiet um Matina, entwickelte sich zur Zeit des Kakaoanbaus die Plantagenwirtschaft, die mit der Arbeitskraft schwarzer Sklaven und, obwohl das encomienda-System formal abgeschafft war, aus der Talamanca herbeigeschaffter Indios betrieben wurde. Die Agrarstruktur war einfach: Die in Cartago lebenden Besitzer der zumeist kleinen Kakaoplantagen beschäftigten jeweils nur zwei bis drei Arbeiter oder Sklaven, und trotz intensiver Bewirtschaftung fand keine nennenswerte Akkumulation von Kapital statt, was sowohl die Entstehung von Latifundien als auch einer dominierenden mächtigen Klasse von Kakaoproduzenten verhinderte. • Im zentralen Hochland überwog seit dem 18. Jahrhundert die chacra, der kleinbäuerliche, auf Subsistenzwirtschaft basierende Familienbetrieb, in dem selten indianische Arbeitskräfte beschäftigt waren. Diese Dominanz beruht vor allem darauf, daß die zu spät gelandeten Kolonisten häufig keine andere Wahl hatten als das, was sie zum überleben brauchten, selbst anzubauen, da die wenigen indianischen Arbeitskräfte bereits unter den früher gekommenen encomenderos verteilt waren und sie nicht über die Mittel verfügten, Sklaven zu 44

Vgl O Aguilar Bulgareiii, 1983a, 40 Vgl C Meléndez Chaverri, Land Tenure in Colonial Costa Rica, in: M. Edelman/J Kenen (eds), 1989, 13-19

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3 Etappen der Entwicklung bis zur „Revolution" (1948)

erstehen und Mitglieder des Landadels zu werden. Obwohl sich dies nivellierend auf die koloniale Gesellschaft auswirkte, basierte das tägliche Leben auf Statusunterschieden, gemäß der spanischen Tradition, auch wenn der aus den ersten Kolonisten und deren Nachkommen bestehende Landadel seinen Traum von der Anhäufung großer Reichtümer nicht verwirklichen konnte. Auch Samuel Stone und Lowell Gudmundson widersprechen der These vom klassenlosen, kleinbäuerlichen kolonialen Costa Rica. Stone stellt fest, daß Spanien während des 16. und 17. Jahrhunderts ein Muster der Machtverteilung schuf, das den Zugang zu politischen Ämtern Konquistadoren und hidalgos (Adligen) vorbehielt und damit die Kontrolle über die Provinz einer kleinen Gruppe von eng miteinander verknüpften Familien übertrug, die durch ihr im Erbrecht verankertes Machtmonopol in die Lage versetzt waren, auch den Kakaoanbau zu monopolisieren. Diese Elite unterschied sich wesentlich von der restlichen subsistenzorientiert arbeitenden Bevölkerung und vererbte ihre Macht von Generation zu Generation weiter.45 Gudmundson konstatiert eine komplexe, ungleiche Landbesitzstruktur, soziale Arbeitsteilung sowie bedeutsame Urbane Handwerks- und Handelsaktivitäten als charakteristische Merkmale der späten Kolonialzeit und betont die Existenz einer Elite, deren Einfluß und (relativer) Wohlstand nicht ausschließlich aus Landbesitz resultierte, sondern auch aus Handel und Handwerk.44 Das „sozialromantische" Bild des kolonialen Costa Rica hat sich durch solche Korrekturen und Gegendarstellungen zumindest stark relativiert, teilweise sogar als unhaltbar erwiesen. Zwar ist unbestritten, daß die extreme Armut und die geostrategische und wirtschaftliche Isolation bestimmte, bereits genannte Entwicklungen, wie sie in anderen Ländern der Region stattfanden, verhinderten, jedoch haben sich auf adliger, rassischer und ethnischer Herkunft basierende Klassen- und Statusunterschiede durchaus herausgebildet, und zwar sowohl auf der ökonomischen47 als auch auf der sozialen und politischen Ebene. So war die Partizipation an der Regierung mittels der cabildos (Bürgermeister, Stadträte) von Cartago und Heredia und später Alajuela und San José hauptsächlich auf eine politische Klasse beschränkt, die von der adligen kreolischen Elite bestimmt wurde.48 Mit welcher Berechtigung sprechen also die Vertreter des romanticismo democrático von der in der Kolonialzeit herrschenden „Gleichheit", aus der die costaricanische democracia rural resultiert? Sie können sich gewiß nicht auf „Gleichheit" im Sinne von für alle geltenden politischen Rechte oder Partizipati45

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Vgl. S Z. Stone, Aspects of Power Distribution in Costa Rica, in: M. Edelman/J. Kenen (eds), 1989, 20-28, hier: 21 Vgl. L. Gudmundson, Costa Rica Before Coffee: The Village Economy of the Late 1840s, in: M. Edelman/J Kenen (eds), 1989, 28-32 Vgl. I Molina Jiménez, Comercio y Comerciantes en Costa Rica (1750-1840), San José 1991,61. Vgl J A. Booth, Costa Rican Democracy, in: World Affairs, Vol. 150, No 1, London 1987, 43-53, hier: 43

Das koloniale Erbe

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onschancen beziehen. Macht man einige Abstriche bezüglich euphemistischer Überzeichnungen und Mythologisierungen, kann man jedoch anerkennen, daß in Costa Rica mehr „Gleichheit" in Form egalitärerer Besitzverhältnisse, also sozioökonomischer Homogenität vorhanden war als in den Nachbarländern, auch wenn sich diese im wesentlichen in einer nahezu gleich verteilten Armut äußerte. Auf die spätere Entwicklung der Demokratie wirkte sich diese sozialstrukturelle Besonderheit insofern positiv aus, als Costa Rica zu den wenigen hispanoamerikanischen Gesellschaften gehörte, „in denen sich während der Kolonialzeit keine ausgeprägten Dominanz-Unterwerfiingsmuster in den Arbeitsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen etablieren konnten", wodurch sie „egalitäre politische Beziehungen hervorgebracht, die autoritäre Entwicklungen weitgehend verhindert oder sich jedenfalls über größere Zeitspannen als relativ dauerhaft erwiesen haben."49

3.2

Unabhängigkeit, Herausbildung und Konsolidierung des Nationalstaates (1821-1870)

Seine politische Unabhängigkeit von Spanien erhielt Costa Rica im Jahre 1821 unerwartet und weitgehend ohne eigenes Zutun, vielmehr bestimmten externe Kräfte und Einflüsse aus Mexiko und Guatemala die Ereignisse.50 Als die in Mexiko bereits seit 1810 ausgebrochenen Unabhängigkeitskämpfe schließlich am 28. September 1821 mit der Ablösung von der spanischen Krone beendet wurden 51 , war der „Funke der Insurrektion"52 schon einige Wochen vor dem Triumphzug des mexikanischen Generals Agustín de Iturbide auch auf die Provinzen des Generalkapitanats Guatemala übergesprungen: Am 15. September erklärte sich Guatemala stellvertretend für alle zentralamerikanischen Provinzen für unabhängigAufgrund der provinziellen Randlage und infrastrukturellen Rückständigkeit erfuhr man in Costa Rica erst mit einiger Verspätung von den Geschehnissen in den nördlichen Nachbarländern. Die Städte beriefen daraufhin sogenannte cabildos abiertos ein, die vergleichbar waren „mit einer (meist außerordentlichen) Gemeindeversammlung, in der theoretisch jeder Bürger Rede- und Stimmrecht besaß, was faktisch aber nur von den 'Honoratioren' wahrgenommen werden 49

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U Fanger, Demokratisierung und Systemstabilität in Lateinamerika, in: H Oberreuter/H. Weiland (Hrsg ), Demokratie und Partizipation in Entwicklungsländern - Politische Hintergrundanalysen zur Entwicklungszusammenarbeit, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, 81-102. hier: 92 Vgl. O Arias Sánchez, Quién gobierna en Costa Rica? Un estudio del liderazgo formal en Costa Rica, San José 1976, 28 Vgl M Mols/H -J Lauth, Mexiko, in: P. Waldmann/H.-W. Krumwiede (Hrsg.), Politisches Lexikon Lateinamerika, München 1992 (3 neubearb. Aufl.), 213-227, hier: 214. J Fuchs, 1991,90

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3 Etappen der Entwicklung bis zur ..Revolution" (1948)

konnte" 53 , um über die zukünftige politische Ordnung Klarheit zu gewinnen. Einigung wurde jedoch nur über die Absicht, sich von Spanien loszulösen erzielt, nicht aber über die Alternativen, einen Anschluß an Mexiko oder die politische Selbständigkeit anzustreben' 4 , was deutlich darin zum Ausdruck kommt, daß man sich in Cartago am 1. November 1821 von Spanien unabhängig erklärte und gleichzeitig beschloß, sich dem konstitutionellen mexikanischen Kaiserreich Iturbides anzuschließen, während man in San José „am gleichen Tag fiir eine Lossagung von Spanien unter gleichzeitiger Ablehnung eines Anschlusses an Mexiko oder an Guatemala"" stimmte. Damit wird hier erstmalig eine Spaltung der politischen Kräfte offensichtlich, wie sie auch in anderen Ländern Lateinamerikas herrschte, nämlich in eine konservative, „monarchistische" -hauptsächlich in Cartago und Heredia vertreteneund eine -vorwiegend in San José und Alajuela vorherrschende- liberale, „republikanische" Strömung innerhalb der costaricanischen Gesellschaft, deren Gegensätzlichkeit auch das politische Geschehen der folgenden Jahre erheblich bestimmen sollte.56 Zunächst wurde jedoch versucht, die verschiedenen Positionen durch die Bildung einer Junta de Legados zu koordinieren, die, zusammengesetzt aus teils gewählten, teils nominierten Vertretern der einzelnen Städte, den bisherigen Gouverneur der Provinz ersetzte und die durch die Unabhängigkeit neu entstandenen Aufgaben der Regierungsbildung und Staatsorganisation kollektiv übernahm. Zu diesem Zwecke erarbeitete die Junta den Pacto Social Interno de Costa Rica, der am 1. Dezember verkündet wurde, in weiten Teilen auf der spanischen Constitución de Cadiz aus dem Jahre 1812 basierte57 und als erste Verfassung Costa Ricas in die Geschichte einging.5' Durch diesen, wegen seines Kompromißcharakters auch Pacto de Concordia genannten Vertrag, der „ein wahres Meisterwerk an politisch-taktischem Pragmatismus darstellt" 59 , erhielt die Provinz ihre volle Souveränität und die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob sie mit einem anderen amerikanischen Land eine Konföderation bilden wollte oder nicht.60 Die bestehenden Konflikte bezüglich der staatlichen Organisation, der Regierungsform sowie des Führungsanspruchs konnten jedoch durch den Pacto nicht gelöst werden.61 Am 10.1.1822 beschloß die Junta, unter Druck gesetzt durch Iturbides Androhung einer militärischen Intervention, sich zusammen mit den anderen Isth53 54 55 56 57

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J Fuchs, 1991, 92. Vgl G Schreiner, 1988, 41 J Fuchs, 1991, 92 Vgl. C Meléndez, 1991, 94 f. Vgl. M. Alcántara Sáez, Costa Rica, in: Sistemas políticos de América Latina, Vol. II: México, los países del Caribe y de América Central, Madrid 1989, 149-162, hier: 150. Vgl L A Bird, 1984, 30 J. Fuchs, 1991, 93 Vgl. L. A. Bird, 1984, 30. Vgl C. Meléndez, 1991, 95

Die Herausbildung des Nationalstaates (1821-1870)

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musstaaten dem mexikanischen Kaiserreich anzuschließen. Die internen Kontroversen zwischen den republikanisch-liberalen und den monarchistischannexionistischen Fraktionen dauerten fort und führten schließlich am 5. April 1823 zur Schlacht von Ochomogo, die nach wenigen Stunden mit dem Sieg der Republikaner und der Einnahme Cartagos endete.62 Zur Folge hatte diese erste bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzung, die ironischerweise erst 16 Tage nach Iturbides Abdankung und dem Zusammenbruch des mexikanischen Kaiserreiches stattfand, im wesentlichen nur die Verlegung der Hauptstadt: War noch im Primer Estatuto Político de la Provincia de Costa Rica vom 17.3.1823 der Hauptstadtstatus Cartago zuerkannt worden, so erklärte nun Art. 16 des am 16. Mai verkündeten Segundo Estatuto San José zur neuen Hauptstadt Costa Ricas." Im Juni trat in Guatemala eine Generalversammlung aus Deputierten der ehemaligen Provinzen des guatemaltekischen Generalkapitanats zusammen, die die Gründung einer zentralamerikanischen Union unter dem Namen Provincias Unidas del Centro de América beschloß. In ihrer Funktion als Verfassungsgebende Versammlung erklärte sie die vertretenen Provinzen am 1. Juli für „frei und unabhängig von Altspanien, von Mexiko und von jeder anderen Macht, sowohl der Alten wie der Neuen Welt"64 und verkündete im Jahre 1824 eme Verfassung, die -wesentlich am Vorbild der US-amerikanischen orientiert- „durchgängig von liberalen Ideen geprägt war und erstmals auch einen umfangreichen Grundrechtskatalog enthielt."65 Costa Rica, das der Konföderation erst im Oktober 1823 beigetreten war und sie schon 1838, also vor deren endgültigen Zerfall wieder verließ, rief im Mai 1824 Wahlen zum Congreso Provincial aus, der den Lehrer Juan Mora Fernández zum ersten Präsidenten wählte66 und bereits am 25.1.1825 mit dem stark an die Bundesverfassung angelehnten Ley Fundamental del Estado Libre de Costa Rica seine eigene Verfassung proklamierte.67 Damit war der „Abnabelungsprozeß von übermächtigen Kolonial- bzw. Hegemonialmächten [...] unter rein politischem Aspekt zum Abschluß gelangt"68, und es begann die Phase der Konsolidierung des Nationalstaates.6' Die Entstehung der Republik Costa Rica war auch mit bedeutenden wirtschaftlichen Veränderungen verbunden, denn die politische Unabhängigkeit „fiel fast zeitgleich zusammen mit der Entdeckung abbauwürdiger Gold- und Silbervorkommen, wodurch erstmals ein bedeutendes Akkumulationspotential vorhan62 65 64

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Vgl G Schreiner, 1988, 42 Vgl J Fuchs, 1991, 96 Aus der Erklärung der absoluten Unabhängigkeit Zentralamerikas, zit. nach J Fuchs, 1991,96 J Fuchs, 1991,98 Vgl. C Melendez, 1991, 96 Vgl E Rodriguez Vega, Biografia de Costa Rica, San Jose 1991 (6. reimpr. de la 1 e d ) , 39 J Fuchs, 1991, 98 Vgl P Hiedl/R Rausch, 1984, 352

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den war."' 0 Zwar kam der Bergbau wegen der mangelhaften infrastrukturellen Voraussetzungen anfänglich nur schleppend voran71, erhielt aber u.a. durch die Einrichtung einer Minenkommission, die Einfuhrung eines autonomen Währungssystems und den Erlaß einer Minengesetzgebung vor allem ab 1824 kurzzeitig beachtlichen Auftrieb; dies führte sowohl zu einer Dynamisierung des internen Marktes als auch zu einer verstärkten Einwanderung europäischer Siedler72, die technische Kenntnisse mitbrachten und damit dazu beitrugen, „das Take-off aus der immer noch zu einem Großteil 'geschlossenen' kolonialzeitlichen Wirtschaftsstruktur zu erleichtern."7' Ab Anfang der 30er Jahre setzte mit dem Rückgang des Bergbaus die Verlagerung sowohl der unternehmerischen Kapazitäten als auch des Kapitals „eine auch politisch geförderte Kaffee-Expansion in Gang, die jedoch nur begrenzt die Züge der klassischen Entwicklung kapitalintensiver, abhängiger Exportwirtschaften trug."14 Ulrich Fanger und Bernhard Thibaut erklären deshalb, in Anlehnung an wirtschaftshistorische Untersuchungen Carlos Araya Pochets, „die Bergbau'Elite' zum Schlüsselsektor der weiteren Entwicklung."75 Auf wirtschaftlicher Ebene leisteten die Erschließung des Bergbaus und das nachfolgende Einsetzen des „Kaffeezeitalters" einen wesentlichen Beitrag zur Konsolidierung der liberalen Kräfte, die auch auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene Konsequenzen hatte. So wurden in den beiden Amtszeiten Juan Mora Fernández' (1825-1833) -die häufig als durch Ruhe und Ordnung gekennzeichnet charakterisiert werden- neben wirtschaftlichen und infrastnikturellen Modernisierungsmaßnahmen auch strukturelle Reformen im politisch-administrativen Bereich durchgeführt, die auf eine Effektivierung der staatlichen Verwaltung, die Überwindung merkantilistisch-interventionistischer Traditionen und auf zunehmende Zentralisierung76 bei wachsender staatlicher Autorität abzielten. Mit dieser wirtschaftlichen und politischen Transformation „vollzog sich der Wandel von einer patriarchalisch geprägten Gesellschaftsstruktur nebst einem dieser entsprechenden, einem gewissen consensualismo verpflichteten Staatsapparat zu einer

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M Ernst, Historischer Überblick - Die Eingliederung Costa Ricas in die kapitalistische Weltwirtschaft, in: M Ernst/S Schmidt (Hrsg ), Demokratie in Costa Rica - ein zentralamerikanischer Anachronismus? Berlin 1986, 20-23, hier: 20 Vgl P Hiedl/R Rausch, 1984, 352 Vgl V H. Acuña Ortega/1 Molina Jiménez, Historia económica y social de Costa Rica (1750-1950), San José 1991, 77 J Fuchs, 1991, 106 U Fanger/B Thibaut, Costa Rica, in: D Nohlen/F Nuscheier, Handbuch der Dritten Welt, Band 3: Mittelamerika und Karibik, Bonn 1992 (3 völlig neu bearb Aufl.), 52-84, hier: 56 U Fanger/B Thibaut, 1992, 56 Vgl M Silva Hernández, Estado y politica liberal en Costa Rica: 1821-1940, San José l991,20fF

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Vorherrschaft der im Entstehen begriffenen, ökonomisch auf dem Export des Hauptagrarproduktes Kaffee fußenden Bourgeoisie."77 Anfänglich führte dieser Prozeß nicht zu militärischen Konfrontationen wie in den nördlichen Nachbarländern. Denn Mora bemühte sich erfolgreich, möglichst durch Konsensfindung und Konfliktvermeidung den Liberalen die Bedingungen zur Verwirklichung ihrer Ziele zu schaffen 7 ', und wegen der relativen Schwäche beider Fraktionen zog man Kompromisse der gewaltsamen Auseinandersetzung vor. Insofern wurde nach Einschätzung von Jochen Fuchs „trotz der politischen Wirren im Anschluß an die Unabhängigkeit in eben dieser Zeit der Grundstein für eine spezifisch nationale Tradition gelegt, die politischen Neutralismus/Isolationismus nach außen und Konsensualismus/Konstitutionalismus nach innen beinhaltet."7" Erst seit dem Wahlkampf um die Nachfolge der Präsidentschaft Mora Fernández' im Jahre 1833 traten die Konflikte deutlicher zutage. Nachdem weder der liberale Kandidat Manuel Aguilar noch der Vertreter der Konservativen Nicolas Ulloa die zu einem Wahlsieg verfassungsmäßig notwendige absolute Mehrheit hatte eireichen können, ernannte der Kongreß den „Kompromißkandidaten" José Rafael Gallegos zum Präsidenten. Durch den Erlaß des sogenannten Ley de la Ambulancia, nach dem jede der vier größten Städte -Alajuela, Heredia, Cartago, San José- im einjährigen Wechsel Sitz der Zentralregierung sein sollte80, versuchte er, zur Lösung der immer noch umstrittenen Hauptstadtfrage und damit zur weiteren friedlichen Entwicklung des Landes beizutragen. Er demonstrierte damit jedoch die persönliche politische Schwäche des Präsidenten und der Zentralgewalt"1 , wurde immer mehr in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt und sah sich schließlich 1835 gezwungen, vorzeitig zurückzutreten.'2 Im April 1835 übernahm Braulio Carrillo die Nachfolge Gallegos, um zunächst dessen Amtsperiode zu beenden. Als Vertreter der liberalen josefmos", wie die Bürger San Josés genannt wurden, verfolgte er das Ziel, „die auf ökonomischem Gebiet inzwischen weitestgehend verwirklichte Vorherrschaft der progressiven Kräfte nun auch endgültig auf dem Felde der Politik zu etablieren", wobei er die „Zementierung eines modernen Nationalstaates mit stark zentralistischen Zügen [.. .] allerdings weniger auf dem Wege des Konsenses denn mit 'harter Hand' durchzusetzen'" 4 beabsichtigte. Zur Verwirklichung seines Vorhabens ergriff er Maßnahmen wie die Streichung des kirchlichen Zehnten, das Verbot von öffentlichen Prozessionen, die 71 78 79 80

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J Fuchs, 1991, 115 f. Vgl. R Fernández Guardia, 1992, 81. J Fuchs, 1991, 138 Vgl. E Rodríguez Vega, 1991, 45 Vgl G Schreiner, 1988, 43 Vgl C Monge Alfaro, 1982, 193 Vgl E Rodríguez Vega, 1991, 45 J Fuchs, 1991, 117

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Abschaffung kirchlicher Feiertage", mit denen er sich die erbitterte Feindschaft der katholischen Kirche zuzog, die sich ihrerseits mit den localistas, den Lokalpatrioten aus Cartago, Alajuela und Heredia verbündete, die Carrillo dadurch brüskiert hatte, daß er die Hauptstadt durch einen geschickten Schachzug in einen Vorort San Josés projektierte.86 Das Scheitern der Verhandlungen führte zum zweiten Bürgerkrieg nach der Unabhängigkeit, dem sogenannten Guerra de la Liga''', aus dem San José trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit siegreich hervorging und damit auch Carrillo, der nun, ohne auf die unterlegenen Konservativen Rücksicht nehmen zu müssen, die Grundlagen für einen stark zentralistisch strukturierten Nationalstaat legen konnte. Nach dem Ende seiner ersten Amtszeit kandidierte Carrillo im Jahre 1837 erneut für das Amt des Präsidenten, unterlag aber seinem Gegenkandidaten Manuel Aguilar, woraufhin das Militär San Josés am 27.5.1838 putschte, Aguilar seines Amtes enthob und Braulio Carrillo erneut zum Staatschef ernannte." Durch diesen Staatsstreich und den am 14.11.1838 auch formal erklärten Austritt aus der mittelamerikanischen Union war die Konstitution von 1825 faktisch außer Kraft gesetzt, und zum ersten Mal regierte ein durch das Militär an die Macht gekommener Präsident völlig ohne verfassungsmäßige Grundlage. Am 8.3.1841 dekretierte Carrillo mit dem Ley de Bases y Garantias89 eine auf seine Person und seine Ziele zugeschnittene Verfassung, in der er sich für unabsetzbar erklärte, indirekt die Gewaltenteilung aufhob, der Katholischen Kirche ihren Status als alleinige Staatskirche entzog und den bisherigen Katalog der bürgerlichen Freiheitsrechte reduzierte.90 Aufgrund seiner Erfolge im Kampf gegen den munizipalen localismo und der Fortschritte bezüglich der Verwaltungs- und Finanzordnung" ist Carrillo als der „(Re-)Organisator des politisch/juristischen Überbaus der jungen Republik"92 in deren Geschichte eingegangen oder wurde gar gerühmt, die Basis für die liberale Demokratie Costa Ricas geschaffen zu haben." Da der Modus seiner Machtübernahme und -ausübung ihn aber auch als Begründer einer als „Modernisierungsdiktatur" zu bezeichnenden Staatsstruktur94 ausweist, dürfte die Einschätzung von Jochen Fuchs der historischen Realität wohl am ehesten entsprechen: Unter Hinweis auf die Divergenz zwischen den primär liberal geprägten 85 86 87 88 89 90

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Vgl R. Fernández Guardia, 1992, 84 Vgl. G. Schreiner, 1988, 44. Vgl. C. Obregón, Carrillo: una época y un hombre ( 1835-1842), San José 1990, 49 ff Vgl R. Fernández Guardia, 1992, 86 Vgl. E. Rodríguez Vega, 1991, 47 Die einzelnen Verfassungsartikel werden ausfuhrlich beschrieben bei C Obregón, 1990. 71 ff Vgl J L. Vega Carballo, Democracia y dominación en Costa Rica, in: Centro de Estudios Internacionales, Centroamérica en crisis, México 1980, 127-153, hier: 135. J. Fuchs, 1991, 124 Vgl Ch. D. Ameringer, Democracy in Costa Rica, New York 1982, 12 Vgl. A Winson, Coffee and Democracy in Modem Costa Rica, New York 1989, 24

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Intentionen und den angewandten Methoden charakterisiert er Carrillo als „einerseits autoritär-absolutistische[n] Staatschef, andererseits progressivliberale[n] Reformer, dem selbst soziales Gedankengut nicht fem lag".95 Seit Beginn der zweiten Amtszeit Carrillos gab es immer wieder Bestrebungen, den selbsternannten Diktator zu stürzen96, was jedoch erst mit Hilfe des vormaligen, inzwischen aus Zentralamerika vertriebenen Präsidenten der Union Francisco Morazán gelang, der das Ziel verfolgte, von Costa Rica aus die mittelamerikanische Konföderation wieder herzustellen.97 Zu diesem Zweck verbündete er sich mit dem von Carrillo zu seiner Bekämpfung eingesetzten General Villaseñor, zwang Canillo ins Exil, ließ sich sodann zum Präsidenten wählen und ersetzte das Ley de Bases y Garantías seines Vorgängers durch die alte Unionsverfassung von 1825.98 Fortan verwendete er die eingetriebenen Steuern auf die Kriegsvorbereitungen und vernachlässigte die Verbesserung der institutionellen Strukturen99, weshalb er -obwohl zunächst als „Befreier aus der Diktatur" gefeiert- nach einem halben Jahr Amtszeit durch einen Volksaufstand entmachtet und im September 1842 zusammen mit Villaseñor exekutiert wurde.100 Trotz häufigen Präsidentenwechsels während der folgenden sieben Jahre waren an deren Ende einige politisch-soziale Fortschritte zu verzeichnen: eine geänderte Verfassung mit liberal-moderatem Grundtenor und erweitertem Grundrechtskatalog, erste Ansätze zur Einführung eines Bildungssystems und die erneute sowie endgültige Erklärung Costa Ricas zu einer souveränen, von jedem anderen Staat unabhängigen Nation unter dem Namen República de Costa Rica.m Auf der wirtschaftlichen Ebene war in der Zwischenzeit intensiv die Weiterverbreitung des Kaffeeanbaus betrieben worden. Durch Maßnahmen zur Förderung der Parzellierung und Privatisierung unerschlossener Gebiete in der Meseta Central konnte sich der Kaffee zum wichtigsten und einträglichsten Exportprodukt entwickeln: Schon 1820 gingen erste Lieferungen nach Panama, ab 1832 nach Chile und ab 1843 schließlich nach England.102 Damit wurde „die ökonomische Struktur des Landes von einem System ausschließlicher Subsistenzwirtschaft zu einem an Teilexportwirtschaft orientierten Prinzip umorganisiert und Costa Rica vor allem über einen entsprechenden Vertrag mit England an den Weltmarkt angeschlossen" 10 ', und die einst ärmste mittelamerikanische Kolonie verwandelte sich im Laufe der Jahre durch das „Kaffeewunder" zum reichsten und fortschrittlichsten Land des Isthmus.104 95

J Fuchs, 1991, 125 Vgl C Obregón, 1990, 167 f 97 Vgl R Fernández Guardia, 1992, 88 f 9 " Vgl E. Rodríguez Vega, 1991, 48 99 Vgl J Bosch, Una Interpretatión de la Historia Costarricense, San José 1980, 30 100 Vgl R. Fernández Guardia, 1992, 90. 101 Vgl C Monge Alfaro, 1982, 200 ff 102 Vgl. L. A Bird, 1984, 32 "" W Dietrich, 1986, 38 104 Vgl Ch D Ameringer, 1982, 13 96

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Zur Mitte des 19. Jahrhunderts zeitigte die Einführung und rapide Expansion des Kaffeeanbaus folgende Wirkungen auf die costaricanische Gesellschaft:105 • Der Kaffee bildete die Grundlage für die kommerziellen und finanziellen Aktivitäten eines sich entwickelnden oligarchischen Sektors. • Es bildete sich eine Arbeitsteilung heraus zwischen reinen landwirtschaftlichen Produzenten und Produzenten-Exporteuren, die gleichzeitig ausländische Waren importierten. • Die Kaffeeproduktion absorbierte den größten Teil der verfügbaren Arbeitskräfte, deren Einkommen und Lebensbedingungen sich tatsächlich verbesserten. • Auf der Basis der Kaffeewirtschaft entstand, besonders seit Carrillo, ein „Machtblock" in Form des nationalen Staates, der sich zunehmend internationale Anerkennung und den Interessen der Kaffeeoligarchie Geltung verschaffte. So kann man aus sozialstruktureller Perspektive die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts durchaus als eine „Phase des Umbruchs, der Konsolidierung neuer Kräfteverhältnisse, aber auch bereits der schichtinternen Differenzierungen und Diversifikationen"106 interpretieren. Bezüglich der Landverteilung läßt sich feststellen, daß der Kaffeeanbau zwar zu einer stärkeren Landkonzentration, aber zunächst noch nicht zur Vernichtung von kleinen und mittleren fincas führte.107 Vielmehr bildeten die Besitzer des kleinen und mittleren Eigentums die Basis für eine sich allmählich herausbildende Mittelschicht, die noch um die Gruppen der Handwerker, Anwälte, Lehrer und Neueinwanderer, denen der Einstieg in die oberen Kreise nicht gelang, ergänzt wurde. Es kann jedoch weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht von einer gesellschaftlichen Dominanz der Mittelschichten gesprochen werden, denn die „wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen fielen in den Zirkeln der Oberschicht, während die 'Mittelklasse' genauso einflußlos blieb wie die Majorität der Bevölkerung."108 Auch die Oberschicht formierte sich in dieser Zeit neu, da das Aufblühen der Kaffeewirtschaft den Mitgliedern der alten Kolonialelite endgültig ihre wirtschaftliche Grundlage entzogen hatte. Eine besondere Unternehmerschicht etablierte sich zur „Klasse der Kaffeebarone", die sich zusammensetzte aus Teilen der alten Elite, denen es gelungen war, ihre wirtschaftliche Betätigung in die Bereiche Kaffeeanbau, -Verarbeitung, -handel und/oder -export zu verlagern, und aus Familien, die zwar zuvor nicht zur Elite gezählt hatten, denen aber ihr Enga-

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Vgl P Hiedl/R. Rausch, 1984, 354. J.Fuchs, 1991, 134. Vgl. J A. Peeler, Latin American Democracies - Colombia, Costa Rica, Venezuela, Chapel Hill/London 1985, 60 J Fuchs, 1991, 136.

Die Herausbildung des Nationalstaates (1821-1870)

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gement im Kaffeegeschäft den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichte.109 Die sogenannte „Kaffeeoligarchie" benötigte zur Verwirklichung ihrer ökonomischen Ziele nicht nur staatliche Unterstützung, sondern auch Kontrolle über die wichtigsten Zentren politischer und militärischer Macht, um die Bevölkerung zu der durch die neue Wirtschaftsform erforderlichen Anpassung zu bewegen. So entstand eine soziale Klasse, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfugte, um nach und nach die Schlüsselpositionen in der Wirtschaft, im Staats- und Militärapparat einzunehmen und damit zum Protagonisten der weiteren Entwicklung zu werden.110 Die aus der breiten Masse der jornaleros, peones und minifundistas bestehende Unterschicht konsolidierte sich" 1 , auch wenn deren Mitglieder vorläufig noch von der breiten Streuung der Nutzeffekte und Gewinne in der Kaffeewirtschaft profitierten. Mit der Amtszeit Juan Rafael Moras, die am 24.12.1849 begann und fast zehn Jahre dauerte, war die Phase der ständigen Putsche und Regierungsumbildungen zunächst beendet. Als Besitzer einer der größten und gewinnträchtigsten Kaffeefincas des Landes und Vertreter der oligarquía cafetalera verkörperte Mora einen neuen Präsidententyp, der José Maria Castro als letzten Präsidenten vom tipo patriarcal ablöste und eine neue Ära einleitete, in der die Staatsoberhäupter nicht einmal mehr den Anspruch erhoben, um das Wohl des ganzen Volkes bemüht zu sein, sondern gewillt waren, „als offensichtliche Vertreter der eigenen ökonomischen Anliegen (und derjenigen der ihnen nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich Nahestehenden) zu agieren, ohne daraus auch nur im geringsten einen Hehl zu machen."112 Während Mora in den Filibusterkriegen mit Hilfe des Heeres Costa Rica erfolgreich gegen die Übergriffe William Walkers verteidigte113, verfolgte er im Innern, wie schon einige seiner Vorgänger, die Modernisierung des Staatswesens, die Verbesserung der Infrastruktur und den weiteren Ausbau der Kaffeewirtschaft.114 Obwohl 10% der Bevölkerung an einer während der Kämpfe gegen die filibusteros eingeschleppten Choleraepidemie starben, erzielte die Kaffeewirtschaft eine enorme Produktionssteigerung und Zugang zu weiteren europäischen Absatzmärkten.1" Ab Anfang der 50er Jahre wurde auch klar ersichtlich, daß die KafFeeoligarchie, die sich in politischer Hinsicht inzwischen zur ersten grupo de presión des 109

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Vgl O Aguilar Bulgarelli, El Café y su Influencia en la Política y Sociedad Costarricense del Siglo XIX, in O Aguilar Bulgarelli, 1989, 53-62, hier: 57 Vgl J L Vega Carballo, The Dynamics of Early Militarism, in: M. Edelman/J. Kenen (eds ), 1989, 40-49, hier: 41 f Vgl J Fuchs, 1991, 137 J Fuchs, 1991,129 Vgl C Monge Alfaro, 1982, 208 f. Vgl R Fernández Guardia, 1992, 94 Vgl C Hall, El Café y el Desarrollo Histérico-Geográfico de Costa Rica, San José 1991 (2 reimpr), 40

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3. Etappen der Entwicklung bis zur „Revolution" (1948)

Landes herausgebildet hatte116, sich intern in eine clase mercantil und die Gruppe der grandes agricultores del café117 spaltete, die beide um die politische Macht kämpften, da diese nunmehr notwendiges Instrument zur Verteidigung und Vergrößerung ihres angehäuften Vermögens war.118 Erstes Opfer dieses Machtkampfes wurde Juan Rafael Mora selbst. Als er die Errichtung einer Nationalbank, des Banco de Medina, plante, die „insbesondere den kleinen, nicht oligarchischen Kaffeeproduzenten günstigere Kreditbedingungen einräumen sollte als die privaten, zur Oligarchie gehörenden Geldkapitalisten"119, griff die Gruppe, für die diese Maßnahme eine deutliche Profitreduzierung bedeutet hätte120, zum Mittel des Putsches und ließ ihn zwei Jahre später exekutieren. Dieser Kreis der „Kreditgeber" fürchtete nämlich nicht nur den Verlust der oft völlig überhöhten Zinsen, sondern auch des zur Sicherheit eingesetzten Grund und Bodens sowie des Arbeitskräftepotentials, das ihm im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Kleinbauern zugefallen wäre. Zudem hätte die Bankgründung zu einem beträchtlichen Machtzuwachs für den verfassungsgemäß durch die Legislative ohnehin kaum beschränkbaren Präsidenten gefuhrt, den sowohl Teile der cafetaleros als auch der comericantes in politischer wie ökonomischer Hinsicht als Bedrohung empfanden.121 Der Sturz Moras am 14.8.1859 war der erste direkte Eingriff der aristocracia cafetalera, bei dem die grupo de presión den bisher auf den Regierungsapparat ausgeübten Druck in intervención umwandelte122, mit dem Ziel, sich selbst der Regierungsgeschäfte zu bemächtigen.123 José Maria Montealegre, Mitbesitzer eines der größten Handelshäuser, dezidierter Gegner Moras und „bluest of the blue bloods"124 wurde zunächst zum provisorischen Präsidenten berufen und nach Inkrafttreten einer neuen Verfassung, welche die Dauer der Amtszeit des Präsidenten von sechs auf drei Jahre reduzierte und die Wiederwahl verbot125, im Februar 1860 durch die Wahlmännerversammlung in seinem Amt bestätigt. Damit hatte eine weitere Dekade der politischen Instabilität begonnen, ein caudillistisches Zwischenspiel, in dem vor allem die Clans der konkurrierenden Handelshäuser Montealegre und Tinoco ihre Machtkämpfe austrugen126, wobei das Militär zwar zur Lösung innerfraktioneller Konflikte herangezogen wurde, wenn eine Kompromißfindung durch interne Ab116 1,7 118

119 120 121 122 123 124 125 126

Vgl. O Arias Sánchez, Grupos de Presión en Costa Rica, San José 1987 (6. ed.), 61. Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1983a, 50 Vgl. J. Bosch, Apuntes para una Interpretación de la Historia Costarricense, San José 1966, 27 f , zit. nach O Aguilar Bulgarelli, 1983a, 51 Vgl. P. Hiedl/R. Rausch, 1984, 355. Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1983a, 51. Vgl. J. Fuchs, 1991, 153 Vgl. O. Arias Sánchez, 1987b, 63 Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1983a, 51. Ch D. Ameringer, 1982, 16 Vgl. C. Monge Alfaro, 1982, 217 Vgl W. Dietrich, 1986, 39

Die Herausbildung des Nationalstaates (1821-1870)

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sprachen unmöglich war, die Generäle Salazar und Blanco sich aber -im Unterschied zu den Militärs vieler anderer lateinamerikanischer Länder- nicht berufen fühlten, selbst das Regiment an sich zu ziehen.127 Im Jahre 1863 übernahm der von der Familie Tinoco favorisierte einzige Kandidat Jesús Jiménez das Präsidentenamt, bis er 1866 von José Maria Castro Madriz mit Unterstützung der Familie Montealegre abgelöst wurde. 1868 vom Militär zum Rücktritt gezwungen, gab Castro Madriz den Weg für eine zweite Amtszeit Jiménez frei, die bis zum 27.4.1870, dem Tag des Staatsstreiches durch Tomás Guardia Gutiérrez, andauerte.128 Die wirtschaftlichen Fortschritte der 60er Jahre waren trotz der politischen Wirren beachtlich: Neben der Gründung des Banco Anglo-Costarricense Mitte 1863 und des Banco Nacional de Costa Rica im Jahre 1867 ist hier die Weiterentwicklung der Kaffeewirtschaft zu nennen129, welche die Ernteerträge erhöhen und die Exporte in diesem Zeitraum verdoppeln konnte, was sich zusammen mit der Steigerung der fiir den Kaffee zu erzielenden Preise positiv auf die Staatseinnahmen auswirkte. Nicht zu übersehen sind aber auch die unmittelbaren negativen Implikationen, die mit dem Ausbau des Kaffees zur Monokultur einhergingen, nämlich der Anstieg der Bodenpreise und die Vernachlässigung des Aufbaus eines eigenen sekundären Sektors.13" Wesentlich kurzfristiger waren die Auswirkungen der zunehmend arbeitsteilig organisierten Wirtschaft auf die Gesellschaftsordnung spürbar, denn „hinsichtlich der Sozialstruktur ist in den Jahren 1850-1870 eine so tiefgreifende Umwälzung und -strukturierung in einer solch kurzen Zeitspanne festzustellen, daß sie ihresgleichen in der Geschichte des Landes wohl vergeblich sucht."131 Wie zu erwarten war, setzte sich mit steigenden Kaffee-Exporten und Importen industriell gefertigter Güter der soziale Differenzierungsprozeß, der sich schon Mitte der 40er Jahre angebahnt hatte, fort, die Eigentumsverhältnisse auf dem Lande veränderten sich nachhaltig."2 An der Spitze des Sozialgefiiges standen die Mitglieder der burguesía agroexportadora, die alle wesentlichen Bereiche der Wirtschaft, nämlich die Kaffeeproduktion und -Verarbeitung, den Kaffee-Export, die Finanzen und den Import von ausländischen Waren kontrollierten. 1 " Sie verfugten über die Mittel, den kleinen und mittleren Produzenten Kredite zur Finanzierung ihrer Kaffeepflanzungen zu gewähren, fiir die sie nebst überhöhten Zinsen als Sicherheit ihr Bodeneigentum verlangten. Zudem setzten sie durch den Import neuer Verarbei127 128 129 110 131 1,2 133

Vgl. J Fuchs, 1991, 157. Vgl E Rodríguez Vega, 1991, 80 ff Vgl C Hall, 1991, 43/45 Vgl J Fuchs, 1991, 162 J Fuchs, 1991, 162 Vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1989b, 57 Vgl D Camacho, Por qué persiste el juego democrático en Costa Rica? (Algunas hipótesis), in: Ch Zelaya/O Aguilar Bulgarelli/D Camacho/R Cerdas/J. Schifter, 1983, 95-138, hier: 104.

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3. Etappen der Entwicklung bis zur „Revolution" (1948)

tungstechniken und -maschinen einen Rationalisierungsprozeß und damit einen KonkuiTenzkampf in Gang, mit dem viele Klein- und Mittelproduzenten nicht Schritt halten konnten.134 Als Folge wurden diese zur Aufgabe ihrer Parzellen gezwungen, die nach und nach in den Besitz der reicheren hacendados und comerciantes übergingen, was einerseits zur Entstehung von Latifundien in den Händen weniger Familien führte und andererseits zu einem rapiden Anwachsen der Zahl der peones, derjenigen früherer „Kleingrundbesitzer", die nun als besitzlose Bauern nur noch über ihre Arbeitskraft als Quelle ihres Einkommens verfugten und dem von Angebot und Nachfrage bestimmten Marktmechanismus ausgeliefert waren. 1 " So verlor ein beträchtlicher Teil der bisherigen ruralen Mittelschicht seinen sozialen Status und stieg an das untere Ende der gesellschaftlichen Hierarchie ab, deren Mittelfeld sich jetzt primär aus den mittleren Kaffeeproduzenten, die von der oben dargestellten Entwicklung verschont geblieben waren und einem vorwiegend im tertiären Sektor tätigen Urbanen Kleinbürgertum zusammensetzte, das jedoch kaum über Einfluß verfügte.136

3.3

Die Phase der oligarchisch-liberalen Republik: Entstehung der formalen Grundlagen der Demokratie

Nach dem von Teilen der Kaffeeoligarchie mitinitiierten Putsch des Obersten Tomás Guardia Gutiérrez übernahm zunächst Bruno Carranza als provisorischer Präsident die Amtsgeschäfte 137 , bis der inzwischen zum Comandante General avancierte Guardia drei Monate später seinen Vorgänger stürzte, um selbst, legitimiert durch ein am 8.8.1870 abgehaltenes Plebiszit, das Präsidentenamt auszuüben und eine Diktatur zu errichten, die bis zu seinem Tode im Juli 1882 andauern sollte. Mit seiner Regierungsübernahme demonstrierte das erste Staatsoberhaupt aus den Reihen des Militärs seinen Unwillen, noch länger als Nachfolger der Generäle Blanco und Salazar zu fungieren und zur weiteren absoluten Konzentration der politischen Macht in Händen der oligarquía cafetalera beizutragen. Stattdessen verwies er die berühmten Gebrüder Montealegre, Angehörige der reichsten Familie Costa Ricas und Anstifter mehrerer Militärputsche der vorangegangenen Jahre und mit ihnen noch einige andere politische Widersacher des Landes.138 Damit erlitten diese Gruppen der Kaffeeoligarchie in ihrem Machtstre-

134 135 136 137 138

Vgl. O. Arias Sánchez, 1987b, 62 Vgl O. Aguilar Bulgarelli, 1983a, 49 Vgl. J Fuchs, 1991, 164. Vgl. M. Silva Hernández, 1992, 39. Vgl J. Rovira Mas, Estado y Política Económica en Costa Rica 1948-1970, San José 1988 (3. ed.), 24.

Die Phase der oligarchisch-liberalen Republik

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ben einen schweren Rückschlag139, ihr Einfluß wurde geschwächt und dem Staat eine gewisse Unabhängigkeit ermöglicht.14" Am 15.10.1871 berief Guardia eine Verfassungsgebende Versammlung ein, die eine Konstitution erarbeitete, die am 7.12.1871 in Kraft trat141 und für die Zukunft des Landes von großer Bedeutung war, da sie nicht nur -mit Ausnahme einiger Unterbrechungen- bis 1948 Bestand hatte, sondern „sogar durch die Übernahme vieler ihrer Grundentscheidungen in die seit 1949 geltende Verfassung noch in Teilen bis zum heutigen Tage"142 fortwirkt. Um die abgeschlossene innere wie äußere Konsolidierung des Staates zum Ausdruck zu bringen, beschreibt die aus 136 Artikeln bestehende Verfassung dessen Status und Grenzen, verankert die Gewaltenteilung, verpflichtet die Beamten zur Beachtung von Recht und Gesetz, schreibt die Unterordnung des Militärs unter die zivilen Gewalten fest, beschneidet die Monopolstellung der Katholischen Kirche, garantiert in einem 26 Artikel umfassenden Grundrechtsteil vornehmlich klassische Bürgerrechte und klammert -dem liberalen Grundtenor entsprechend- soziale Grundrechte weitgehend aus.143 Hinsichtlich des Präsidial- und Wahlsystems und der Bürgerrechte enthält sie Elemente der nordamerikanischen Verfassung und ist bezüglich der Kompetenzaufteilung zwischen den Gewalten sowie des Gesetzgebungsprozesses an die spanische Cadiz-Verfassung angelehnt.144 Grundsätzlich kann man festhalten, daß die Verfassung des Jahres 1871 die Basis für Reformen zur Modernisierung und Weltmarktöffiiung darstellte, wie auch „die Grundlage für ein zwar nicht gerade absolutistisch zu nennendes, aber einem solchen recht nahekommendes Präsidialsystem abgab", das „nach unten" dadurch abgesichert war, „daß sowohl die Funktionsträger wie auch die Wahlmänner über mehr als nur unerhebliche Einkünfte bzw. Besitztümer verfugen mußten, um überhaupt in den Genuß des aktiven und passiven Wahlrechts zu gelangen."1'" Mit der Machtübernahme Guardias und der Verfassung von 1871 hörte der Staat auf, bloßes Machtinstrument in den Händen der dominanten Gesellschaftsgruppen zu sein;146 statt der Partikularinteressen der einzelnen oligarchischen Fraktionen stand nun das „Gemeininteresse" im Mittelpunkt der Politik, die aristocracia sah sich gezwungen, ihre Haltung zu modifizieren, und begann, durch die Regierung unter Druck gesetzt, einzusehen, daß die Einfuhrung eines geordneten, stabilen liberalen Regimes ihren Geschäften und ihrem Ruf bei den aus140 141

142 143 144

145 146

Vgl O Aguilar Bulgareiii, 1983a, 52 Vgl M Silva Hernández, 1992, 40 Vgl O Aguilar Bulgarelli, Evolución Político-Constitucional de Costa Rica (Síntesis Histórica), San José 1988 (4 ed ), 59 ff J Fuchs, 1991, 166 J Fuchs, 1991, 166 Vgl J Fuchs, Verfassung und Verfassungsentwicklung, in: A Maislinger (Hrsg ), 1986, 257-275, hier: 263 J Fuchs, 1991, 167 Vgl J. Rovira Mas, 1988, 24

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3 Etappen der Entw icklung bis zur ..Revolution" (1948)

ländischen Kreditgebern förderlicher war als das stetige Eingreifen des Militärs und gescheiterte Putsche.147 Nach seiner verfassungsmäßigen Wahl zum Präsidenten im Jahre 1872 begann Guardia einen starken Zentralstaat zu etablieren, indem er die staatliche Verwaltung zur EfTektivierung der Bürokratie und zur Steigerung der Staatseinnahmen personell ausbaute, das Militär stärkte und den kirchlichen Einfluß vor allem im ökonomischen und edukativen Bereich schwächte148, um „die strukturellen Fesseln des oligarchischen Staates zu sprengen und so die Rahmenbedingungen für die notwendige kapitalistische Modernisierung zu schaffen." 14 ' Im Zentrum der auf Modernisierung und weitere Weltmarktöffnung abzielenden Wirtschaftspolitik stand die Anpassung der Infrastruktur an die Erfordernisse des Kaffee-Exports.150 Noch immer wurde der Kaffee aus den Hauptanbaugebieten in der Meseta Central mit Ochsenkarren nach Puntarenas an der Pazifikküste transportiert, von wo er über Kap Horn nach Europa verschifft wurde. Diesem zeitintensiven und kostspieligen Transportsystem wollte Guardia ein Ende bereiten, indem er bereits 1871 mit dem Nordamerikaner Enrique Meiggs Keith einen Vertrag zum Bau einer Eisenbahnlinie vom zentralen Hochland zur Atlantikküste sowie mit Londoner Bankiers Kreditverträge zur Finanzierung des Projekts abschloß" 1 Aufgrund der damals üblichen unfairen Darlehenskonditionen der englischen Finanziers, die die Unerfahrenheit der costaricanischen Verhandlungspartner ausnutzten, des Mangels an technischer Ausstattung, Experten und einfachen Arbeitern" 2 sowie des Umstands, daß Guardias Entschluß, die Bahnverbindung aus politischen Gründen zuerst zwischen den wichtigsten Städten im Hochland bauen zu lassen, statt von Limón aus die Bauarbeiten in Richtung San José voranzutreiben, enorme Zusatzkosten verursachte 1 ", war das Projekt lange vor dessen Fertigstellung nicht mehr finanzierbar. Da sich auch keine weiteren Kreditgeber fanden, stagnierte der Eisenbahnbau ab Anfang 1874, bis im Jahre 1879 ein Bruder des mittlerweile verstorbenen Enrique Meigg Keith, Minor Cooper Keith, der bereits an der Karibikküste anderer mittelamerikanischer Länder seine Geschäfte betrieb, mit der Regierung übereinkam, ein weiteres Teilstück der Bahn zu bau-

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Vgl. R. Fació, Estudio sobre economía costarricense, San José 1972, 65, zit. nach J RoviraMas, 1988, 24. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat während der Amtszeit Guardias wird ausfuhrlich beschrieben in: C A Vargas Arias, El Liberalismo, La Iglesia y El Estado en Costa Rica, San José 1991, 65 ff J. Fuchs, 1986, 264 Vgl O. Sal azar Mora, El apogeo de la república liberal en Costa Rica (1870-1914), San José 1993, 33 Vgl C Hall, 1991, 65. Vgl J. Fuchs, 1991, 169. Vgl. P Hiedl/R Rausch, 1984, 356.

Die Phase der oligarchisch-liberalen Republik

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en154 und mit einer provisorischen Straße die Verkehrsverbindung zu komplettieren. Mit dem Eisenbahnbau gedachte Keith jedoch weniger Guardias Traum zu erfüllen als vielmehr sein eigenes Vermögen zu vergrößern, und zwar nicht im Kaffeegeschäft, sondern mit dem Anbau und Export von Bananen. 1 " Somit hatte der „hombre carismàtico y de fuerte carácter" 156 , wie Jorge Rovira Mas Guardia beschreibt, in zweierlei Hinsicht eine neue Ära eingeleitet: Zum einen bewirkte er durch die Beendigung der absoluten politischen Dominanz der oligarquía político-mercantil und die Einleitung seiner institutionellen und konstitutionellen Reformen die Transformation vom Estado de tipo patrimonialoligárquico zum Estado liberal-oligárquico"1, weshalb er als Wegbereiter des liberalen Staates in die Geschichte des Landes einging."8 Zum anderen begab er sich durch die hohe Verschuldung in neue Abhängigkeiten und öffnete so dem Einfluß des ausländischen Kapitals die Türen, das im Gegensatz zur lediglich finanziellen Rolle, die es bis dahin gespielt hatte, Wirtschaftsunternehmen mit einer starken imperialistischen Tendenz zu führen begann.15' Nach Guardias Tod verfolgten zunächst Prospero Fernández (1882-1885) und dann Bernardo Soto (1885-1890), beide wie ihr Vorgänger im Range eines Generals, den eingeschlagenen Weg grundsätzlich weiter. Sie organisierten das wirtschaftliche, soziale und politische Leben im Einklang mit dem liberalen Gesellschaftsmodell des ausgehenden 19. Jahrhunderts, obwohl der Liberalismus eine andere Form annahm als in Europa.160 Als wesentliche Modifikation der Politik Guardias ist festzustellen, daß unter Prospero Fernández „der partielle Staatsinterventionismus zurückgedrängt sowie der Staatsapparat verkleinert wurde und man sich an dem Ideal des 'Nachtwächterstaats' orientierte."161 Zudem wurden mit der Verkündigung der leyes liberales zwischen 1884 und 1888 das Bildungswesen und die Friedhöfe säkularisiert, die Zivilehe und das Recht auf Scheidung eingeführt, religiöse Prozessionen reduziert, Arbeit an Feiertagen erlaubt, Kirchenorden verboten und die Universität von Santo Tomás geschlossen, wodurch eine stärkere Trennung zwischen Kirche und Staat erreicht und der im politischen Sinne ohnehin relativ schwache Einfluß der Katholischen Kirche weiter eingeschränkt werden sollte162, was zu einem „Kulturkampf-ähnlichen Konflikt zwischen den Verfechtern des liberalen Gedankenguts und den Vertretern der traditionalistisch geprägten Kirche führte.163 154

1,5 156 157 158 159 1611 161 162 161

Vgl V de la Cruz, Las luchas sociales en Costa Rica 1870-1930, San José 1984 (3. ed.), 32. Vgl Ch D Ameringer, 1982, 17 J RoviraMas, 1988, 25 Vgl J L Vega Carballo, 1980, 136 Vgl J RoviraMas, 1988, 24 Vgl O Arias Sánchez, 1976, 30 Vgl E Torres-Rivas, History and Society in Central America, Austin 1993, 27 f. J Fuchs, 1986, 264 Vgl Ch D Ameringer, 1982, 19 Vgl J Fuchs, 1991, 184

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3 Etappen der Entwicklung bis zur ..Revolution" (1948)

Neben den Säkularisierungsmaßnahmen enthielten die leyes liberales aber aach Reformen zur Ausweitung des Wahlrechts und zum Ausbau und zur Neuordnung des Bildungssystems, wie z.B. die Einfiihrung der kostenlosen Schulpflicht, die für die spätere politische Entwicklung von grundlegender Bedeutung warer.'64 Zur Stärkung des rechtsstaatlichen Charakters des Staatswesens bildete man 1882 per Dekret eine Reformkommission, die neue Gesetzeswerke erarbeitete and 1888 ein Zivilgesetzbuch mit der dazugehörigen Prozeßordnung verabschiedet; 1 " sowie ein Strafgesetzbuch und verschiedene Handelsgesetzbücher, „deren Gnndideen sich alle am laissez-faire des Manchester-Kapitalismus orientierten, Jas heißt, Regulierung seitens des Staates nur dort, wo es absolut nötig erschien."1'6 Auch im wirtschaftlichen Bereich wurden in dieser Zeitspanne für die Zukunft des Landes wichtige Neuerungen durchgesetzt, die in engem Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Minor Cooper Keith standen, der die begonnene Eisenbahnverbindung nach Limón bis 1890 endgültig fertigstellte167 und parallel dizu mit Hilfe US-amerikanischer Investoren den Bananenanbau forcierte. Auf der Grundlage des im Frühjahr 1884 abgeschlossenen Keith-Soto-Vertrages übernahm Keith die Schuldenreguliening gegenüber England und erhielt dafiir als Gegenleistung 324 000 ha brachliegendes Land, immerhin fast 8% der gesanten Staatsfläche, sowie die Nutzungsrechte an der Eisenbahn fiir 99 Jahre.16' Ksith dehnte „nach dem Prinzip Eisenbahnbau - Landerwerb - Plantagenwirtschaft"69 sein Imperium bald auf Guatemala, Honduras, Panama und auf Teile der Atiantikküste Nicaraguas aus, erzielte schnelle Produktions- und Exportsteigerungen und betrieb den Zusammenschluß der Tropical Trading und Transport Compmy und der Boston Fruit Company. 1899 fusionierten sie zur United Fruit Compmy -kurz U.F.Co, genannt- 110 , die als erster landwirtschaftlicher Trust der Welt die Kontrolle über die Produktion, den Transport, die Verschiffung und Vermarkting der Bananen übernahm und rasch ein absolutes Handelsmonopol erreichte. So etablierte sich mit dem Bananenanbau eine reine Enklavenwirtschaft, ,die einerseits nicht die sich aus der Monokultur des Kaffees ergebenden schädlicien Auswirkungen für die wirschaftliche Situation des Landes abmildern konnte, andererseits gravierende Konsequenzen für die soziale und politische Entw.cklung"171 Costa Ricas hatte. Auch wenn die durch die Plantagenwirtschaft verlesserte Infrastruktur zur Förderung des traditionellen Kaffeeanbaus und damit zur Steigerung des allgemeinen Lebensstandards beitrug und dies gekoppelt mit der immer noch vergleichsweise egalitären Besitzstruktur und der Unterbesiedling die negativen Effekte nicht sofort so offenkundig werden ließ wie in den Nach)ar164 165 166 167 161 169 170 171

Vgl J A. Booth, 1989, 390 Vgl E. Rodríguez Vega, 1991, 103 J Fuchs, 1986, 264 Vgl R. Fernández Guardia, 1992, 120 f. Vgl. P. Hiedl/R. Rausch, 1984, 357. W Dietrich, 1986, 39 Vgl. C Monge Alfaro, 1982, 247 P. Hiedl/R. Rausch, 1984, 357

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ländern, traf das „Grundübel" der Wirtschaftsmethoden von Konzemen wie der U.F.Co, auch Costa Rica: Durch das Abfließen der aus dem Einsatz inländischer Ressourcen erzielten Gewinne ins Ausland entstand „der nationalen Volkswirtschaft ein permanenter Mangel im Bereich des Konsums und der inländischen Investitionen, der sich im Laufe der Zeit in einer dem Schneeballprinzip vergleichbaren Weise auf die Lebensqualität der Bevölkerung"172 niederschlug. Am meisten betroffen von den Folgen des Eisenbahnbaus sowie von der Errichtung der Bananenplantagen waren die Unterschichten, bei denen sich zunehmend Proletarisierungstendenzen abzeichneten 17 ', da der erhöhte Bedarf an billigen Arbeitskräften sowohl eine Einwanderungswelle von Chinesen, Schwarzen aus Jamaica und Italienern als auch eine Zuwanderung aus dem Landesinnern an die Atlantikküste bewirkte. Die Neuansiedler, abhängig vom Arbeitsangebot und konfrontiert mit extrem schlechten Arbeitsbedingungen und hohen Preisen für Grundnahrungsmittel, bildeten bald eine Gruppe von besitzlosen landwirtschaftlichen Saisonarbeitern.174 Derselbe Trend zeigte sich im Urbanen Bereich, weil immer mehr Handwerker und Kleinbauern, die ehemals zur Mittelschicht gehörten, gezwungen waren, ihre Selbständigkeit aufzugeben und als abhängig Beschäftigte zu arbeiten. Infolge dieser Veränderungen kam es zu dem bis dahin in Costa Rica unbekannten „Phänomen" des Streiks: 1874 streikten chinesische, 1879 jamaicanische und 1888 italienische Arbeiter, „einheimische" erstmals 1883.175 Auf die Zusammensetzung der Mittelschichten hatten der Eisenbahnbau und der Beginn der Bananenwirtschaft -außer dem Abdrängen der bereits genannten Bevölkerungsgruppen in die Unterschicht- nur geringen direkten Einfluß, während die liberalen Reformen durch den Ausbau des öffentlichen Dienstes und des Erziehungswesens für einen relativ großen Zuwachs sorgten, jedoch wenig an ihrer tendenziellen ökonomischen Schwächung änderten. Erwähnenswert ist die Gründung einiger Arbeiter- und Handwerkerverbände176, die man als Zeichen dafür werten kann, „daß die Auswirkungen der liberalen Politik bei gleichzeitig tendenzieller Zerstörung der alten paternalistischen Strukturen allmählich den Bedarf nach einer organisierten Form der Interessenvertretung auch bei denjenigen zu wecken begannen, die unter den Angehörigen der Mittelklasse denen der Unterschicht am nächsten standen bzw. vor einem 'Abrutschen' in letztere bedroht waren."177 Auch wenn diese Berufsverbände nur über eine begrenzte Zielsetzung verfugten, „welche sich in erster Linie an den Gedanken des Mutualismus orien-

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176 177

W Dietrich, 1986,40 Vgl. O Arias Sánchez, 1976, 31 Vgl P Hiedl/R Rausch, 1984, 357 Vgl M Oliva Medina, Movimientos Sociales en Costa Rica (1825-1930), San José 1992, 26 ff Siehe dazu ausfuhrlicher V. de la Cruz, 1984, 25 ff J Fuchs, 1991, 194

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tierte"178, hatten sie doch zumindest gewerkschaftsähnlichen Charakter und können als Keimzelle der künftigen Arbeiterbewegung angesehen werden.179 Unter den Mitgliedern der politisch-ökonomischen Oberschicht lassen sich Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts trotz interner Verflechtungen im wesentlichen drei Fraktionen unterscheiden180: 1. die traditionelle Gruppe der in den Bereichen Kaffeeanbau, -Verarbeitung und -export beschäftigten hacenderos-, 2. die sich um den Banco Anglo Costarricense und den Banco de la Unión gruppierenden, aus der Kaffeewirtschaft hervorgegangenen Finanzkapitalisten; 3. die in der Bananenproduktion und -Vermarktung engagierte Gruppe um Minor Cooper Keith. Verschiedene Faktoren, wie die Schwächung der konservativen Teile der Kaffeeoligarchie unter Guardia, das gemeinsame Interesse an einer liberalen laissez-faire-Po\itik sowie die fehlende Notwendigkeit zu ökonomischen Konkurrenzkämpfen, ermöglichten ein relativ konfliktfreies Nebeneinander der Fraktionen, so daß sie ihre Verfügungsgewalt über Kapital und Produktionsmittel ausbauen und ihre vorwiegend personalistisch strukturierte politische Macht weiter verankern konnten, ohne zu einer Beteiligung von Parteien oder einer weiterTeichenden Demokratisierung gezwungen zu sein.1'1 Mit der Amtszeit Bernardo Sotos endeten zwei Dekaden wirtschafts-liberaler Diktaturen, eine fiir die Etablierung der politischen Demokratie Costa Ricas entscheidende Phase begann. Erstmalig formierten sich im Wahlkampf um die Nachfolge Sotos, nach vorausgegangener Beteiligung und Mobilisierung weiterer Bevölkerungsteile als nur der Angehörigen der elitären Zirkel die politischen Kräfte in Parteien: in dem Partido Liberal Progresista und dem Partido Constitucional Democrático1,2. Die breiter angelegte Partizipation des Volkes war zum einen Ergebnis des ausgebauten Bildungs- und Pressewesens und der zunehmenden sozialen Differenzierung, zum anderen auf das -aus dem „Kulturkampf' resultierende- massive Agieren der Geistlichkeit zurückzufuhren.183 Das gemeinsame Interesse der Kirche und der konservativen Teile der schon seit Guardia in ihrer Macht beschnittenen Kaffeeoligarchie an einem Regierungswechsel führte zu einem Bündnis und zur Nominierung von José Joaquín Rodríguez, der als Kandidat des Partido Constitucional Democrático gegen den von Soto unterstützten Kandidaten des Partido Liberal Progresista Ascensión Esquivel bei der Wahl 1889 antrat, aus der Rodríguez als klarer Sieger hervorging.184 Als die Anhänger Esquivéis, gestützt auf das Militär, zu einem Staatsstreich ansetzten, versammelten sich Hunderte von ebenfalls bewaffneten campesinos in 178 179 180 181 182 183 184

J. Fuchs, 1991, 195 Vgl M. Oliva Medina, 1992, 36. Vgl. J. Fuchs, 1991, 191 ff. Vgl J Fuchs, 1991, 193 Vgl. O. Aguilar Bulgareiii, 1983a, 52 f. Vgl E. Rodríguez Vega, 1991, 106. Vgl. A. Mora, La democracia costarricense y sus condiciones de posibilidad, in Ch. Zelaya (ed.). Democracia costarricense: pasado, presente y fiituro, San José 1990, 63-96, hier: 85 f.

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den Straßen San Josés, um die Respektierung des Wahlsieges Rodríguez' einzufordern, woraufhin Soto in der Nacht vom 7. November 1889, im Bestreben, Gewalt und Unruhe zu vermeiden, das Amt fur sechs Monate dem Interimspräsidenten Carlos Durán, und dann nach Wiederherstellung der Ordnung dem rechtmäßig gewählten Rodríguez am 8. Mai 1890 übergab.185 Aufgrund dieser „friedlichen" Herrschaftsübergabe erklärte Oscar Arias in seiner Amtszeit das Jahr 1989 zum Jahr des hundertjährigen Bestehens und den 8. Mai zum „Geburtstag" der costaricanischen Demokratie, da es den Beginn der costaricanischen Tradition, die Wahl als Instrument zur Bestimmung der Regierenden zu respektieren, markiere." 6 Diese Entscheidung der Regierung Arias wird von Sozialwissenschaftlern häufig wegen ihrer historischen Fragwürdigkeit -immerhin war die „Demokratie" zwischen 1917 und 1919 von einer Diktatur unterbrochen, und im Jahre 1948 führte die Mißachtung der Wahlergebnisse zu einem Bürgerkrieg- und des implizierten, auf die Existenz von Wahlen reduzierten Demokratiebegriffes als ideologisch-taktisches Manöver kritisiert. Die Geschehnisse des 7. November selbst werden zusammen mit der erweiterten Partizipationsmöglichkeit und der erstmaligen Bildung von Parteien aber durchaus als Meilensteine auf dem Weg zu einer demokratischen Entwicklung gewürdigt." 7 Rodríguez, der seine Präsidentschaft de facto einer Negativkoalition der Gegner der vorherigen liberalen Politiker verdankte, versuchte in seiner Amtszeit mittels einer balance qf power-Strategie sowohl die Interessen der Kirche als auch die der Oligarchie zu befriedigen."18 Ihr Mißfallen an dieser Politik des Ausgleichs druckten beide Gruppierungen durch die Neugründung „eigener" Parteien aus.189 Auf Initiative des Bischofs Bernardo Augusto Thiel entstand der Partido Unión Católica, der nicht wie die vorherigen Parteien rein personalistisch ausgerichtet war, sondern ein ideologisches Programm vorweisen konnte, das sich mehr gegen die aus der laissei-faire- Wirtschaft erwachsenen sozialen Ungerechtigkeiten richtete als gegen die liberalen politischen Reformen." 0 Als Antwort darauf gründeten die Liberalen mehrere Parteien, unter denen sich der radikalere, vorwiegend auf Teile der Mittel- und Unterschichten gestützte Partido Independiente Demócrata unter dem Vorsitz von Félix Arcadio Montero und der moderatere Partido Republicano, geleitet von Máximo Fernández, als die bedeutendsten herauskristallisierten; alle verteidigten die Freiheit der Wahl, Religions-

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Vgl. COREC (Comisión de Reforma del Estado Costarricense), Reforma del estado en Costa Rica, San José 1990, 25 Vgl Presentación - Un juicio histórico, in: Y. Calvo (et al ), Mitos y realidades de la democracia en Costa Rica, San José 1990, 9-10, hier: 9. Vgl E Rodríguez, Nuestra democracia cien años después, in: Ch Zelaya (ed.), 1990, 97132, hier: 100, A Mora, 1990, 70/87 Vgl J. Fuchs, 1991, 197 Eine ausfuhrliche Analyse der einzelnen Parteien findet sich bei O. Salazar Mora/J. Salazar Mora, Los Partidos Políticos en Costa Rica, San José 1991, 18 ff. Vgl. Ch D Ameringer, 1982, 19 f

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freiheit und die Nichteinmischung der Kirche in die Politik.191 Daneben hatte sich mit dem Partido Civil noch eine vierte Organisation gebildet, die der Regierung nahestand, auf zusätzliche programmatische Aussagen verzichtete und sich mit Rafael Yglesias an der Spitze im Februar 1894 zur Wahl stellte, die sie nach einer Einschüchterungskampagne seitens der amtierenden Regierung im zweiten Wahlgang gewann.192 Nach seinem Wahlsieg schaltete Yglesias, der von Carlos Monge Alfaro als gran caudillo, den die Meinung des Volkes wenig interessierte, charakterisiert wird193, sogleich seine gefahrlichsten Kontrahenten aus. Er inszenierte ein auf seine Person gerichtetes Attentat, fur das er Félix Arcado Montero verantwortlich machte, ließ ihn verhaften und in die Verbannimg schicken, woraufhin sich der Partido Independiente Demócrata kurze Zeit später auflöste. Der „klerikalen Gefahr" begegnete Yglesias durch den Erlaß eines Gesetzes, in dem er religiösen Organisationen die Teilnahme am politischen Leben des Landes verbot und somit auch dem Partido Unión Católica die Basis fur weitere politische Aktivitäten entzog.194 Den verbliebenen oppositionellen Kräften gelang es jedoch, sich trotz früherer Rivalitäten im Partido Republicano zu organisieren, um gemeinsam gegen die Wiederwahl Yglesias' im Jahre 1898 zu kämpfen, der durch Verfassungsänderung das Wiederwahlverbot abgeschafft und sich damit eine weitere Möglichkeit zur Kandidatur eingeräumt hatte.195 Da es während des Wahlkampfes zu blutigen Auseinandersetzungen kam, ergriff Yglesias Repressionsmaßnahmen und zwang einige der republikanischen Führer ins Exil, woraufhin die oppositionelle Seite zum Wahlboykott aufrief und damit Yglesias zur einstimmigen Wiederwahl verhalf, der dann bis zum Jahre 1902 regierte.196 Trotz dieser Niederlage war mit dem Partido Republicano, der zu seinen einflußreichsten Mitgliedern neben Máximo Fernández auch Ricardo Jiménez Oreamuno und Cleto González Viquez zählte, eine neue politische Organisation entstanden, die bis zur Mitte des folgenden Jahrhunderts das politische Geschehen sowohl in ideologischer als auch in personeller Hinsicht maßgeblich prägen sollte.197 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brach über Costa Rica wegen des Preisverfalls des Kaffees, durch eine weltweite Rezession verursacht, eine Krise herein, die mit dazu beitrug, daß Yglesias auf eine erneute Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl verzichtete.198 Stattdessen leitete er -ohne Rückgriff auf die Armeedurch Einbeziehung der wesentlichen politischen Kräfte in Verhandlungen die 191 192 193 194 195 196 197 198

Vgl Vgl. Vgl Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

V de la Cruz, 1984, 36 f O Salazar Mora/J SalazarMora, 1991, 23 f. C Monge Alfaro, 1982, 241. V. de la Cruz, 1984, 46 f. C. Monge Alfaro, 1982, 242. J. Fuchs, 1991, 201 A. Mora, 1990, 87. C Monge Alfaro, 1982, 251.

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berühmte Transacción de 1901 ein, die insofern einen Fortschritt für die Entwicklung der politischen Demokratie des Landes darstellte, als sie die von Bernardo Soto eingeschlagene Linie weiterverfolgte und der Konsolidierung eines durch conciliación geprägten politischen Stils den Weg bereitete." 9 Auf einer Mitte September abgehaltenen Konferenz einigten sich die maßgeblichen Politiker des Partido Civil und des Partido Republicano auf den von Yglesias vorgeschlagenen gemeinsamen Kandidaten Ascensión Esquivel, der am 8.5.1902 die Präsidentschaft übernahm.200 Mit seinem Amtsantritt „endeten die nahezu zwölf Jahre der politisch konservativen, wirtschaftlich aber auf eine Modernisierung des Landes abzielenden Regime von Rodríguez und Yglesias, die beide den autoritären Regierungsstil gepflegt hatten, und die Liberalen kamen mit ihren sogenannten 'Olympiern' [...] an die Macht."201 Nun folgte eine zwölfjährige Periode des liberalismo ortodoxo, die nach Ascensión Esquivel (1902-1906) von Cleto González Viquez (1906-1910) und Ricardo Jiménez Oreamuno (1910-1914) fortgesetzt wurde und allgemein durch ein starkes Interesse an der Verbesserung der rechtsstaatlichen Grundlagen und der Achtung der politischen Freiheiten sowie durch die Mißachtung der sozialen Probleme gekennzeichnet war.202 Für Ascención Esquivel stand die Neuordnung der Staatsfinanzen und der Abbau bzw. das Verhindern des Anwachsens der Staatsschulden im Vordergrund, wozu er Maßnahmen einer restriktiven Haushaltspolitik -wie die Reduzierung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die Kürzung der Gehälter und den Abbau des Militärapparates- ergriff203 , da sonst eine weitere Modernisierung des Staates und der Infrastruktur nicht realisierbar gewesen wäre. Zur nächsten Wahl im Jahre 1906 nominierten fünf Parteien jeweils einen Kandidaten, die alle, mit Ausnahme von Ezequiel Guitiérrez, dem Repräsentanten der ehemals einflußreicheren klerikalen Bewegung, bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung die Ideen des Liberalismus vertraten, so daß mehr personelle als ideologisch-programmatische Differenzen den Wahlkampf bestimmten. Nach einigen wahltaktischen Manipulationen204 ging der Kandidat des von einer Gruppe von Kaufleuten, Ärzten, Juristen und Bankiers gegründeten Partido Nacional Cleto González Viquez als Sieger hervor, der auch bei weiten Teilen der Oligarchie und der „Olympier" ein hohes Ansehen genoß und über enge persönliche Beziehungen zu Minor Cooper Keith verfugte.205 Die Regierung Cleto González erzielte vor allem Erfolge bei der Verbesserung der Infrastruktur, baute Schulen, Brücken, Straßen und vollendete den von Yglesias 1897 begonnenen 199 200 201 202

203 204 205

Vgl. E Rodríguez, 1990, 107 Vgl. C Monge Alfaro, 1982, 254 J Fuchs, 1991, 203 Vgl E Rodríguez, Siete ensayos políticos - Fuentes de la democracia social en Costa Rica, Heredia 1982, 82. Vgl C Monge Alfaro, 1982, 255 Vgl R. Fernández Guardia, 1992, 135 Vgl. E. Rodríguez Vega, 1991, 127

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Bau der Eisenbahnlinie von San José nach Puntarenas, die sie zum einen mit den infolge des Anstiegs der Kaffeepreise höheren Staatseinnahmen, zum anderen über eine großzügige, den bereits vorhandenen Schuldenberg vergrößernde Fiskalpolitik finanzierte.206 Schon kurz nach Gonzalez' Amtsantritt startete Ricardo Jiménez Oreamuno, früherer Präsident des Obersten Gerichtshofs und Kongreßabgeordneter des Partido Republicano, eine bemerkenswerte Kampagne gegen die mittlerweile alles beherrschende Dominanz der U.F.Co., die Eugenio Rodríguez als einen der „großen Momente des costaricanischen Liberalismus" bezeichnet.207 Jiménez kritisierte, daß sich die U.F.Co, aufgrund fehlender Überwachung durch staatliche Institutionen in einer unangreifbaren Position befinde sowie durch die Befreiung von der Verpflichtung zur Zahlung der Hafengebühren unberechtigte Vorteile genieße, und forderte die Schaffung einer Art „Bahnpolizei", welche die Kontrolle über die Eisenbahnen übernehmen und für die Rechte der einzelnen Bananenpflanzer eintreten solle. Ausfuhrzölle müßten in gleicher Weise auf die Bananen der U.F.Co, wie auf die der nationalen Produzenten erhoben werden, womit er hauptsächlich die Interessen der Teile der Kaffeeoligarchie vertrat, die sich auch im Bananensektor engagiert hatten und deren Handlungsspielraum wegen der Geschäftspraktiken und Privilegien der U.F.Co, eingeschränkt war.20' Doch konnte Jiménez mit seinen teils „antiimperialistischen", primär gegen die Monopolstellung der U.F.Co, gerichteten Aktivitäten auch die Sympathien der mit ihrer sozialen Lage unzufriedenen Schichten der arbeitenden Bevölkerung gewinnen und sich gegen Máximo Fernández als Präsidentschaftskandidat des Partido Republicano für die im Jahre 1910 beginnende Amtsperiode durchsetzen. Bei der weitgehend korrekt verlaufenen Wahl gewann er gegen den von der Katholischen Kirche unterstützten Kandidaten des Partido Civil, Rafael Yglesias, und trat am 8. Mai unangefochten sein Amt an.20' Nach seiner Wahl nahm Jiménez, insbesondere bezüglich der Auswahl der Abgeordneten für den nationalen Kongreß, eine Machtverteilung zugunsten der Städte und Gemeinden der ländlichen Sektoren vor, indem er den sogenannten gamonales -die Ameringer treffend als „well-to-do peasants making up a rural elite"210 definiert- einen Anteil an der bisher in der Hauptstadt konzentrierten politischen Macht einräumte, was zwar nicht notwendigerweise eine Verbreiterung der Partizipationsbasis für die Masse der Bevölkerung bedeutete, aber doch zumindest eine weitere Differenzierung der politischen Führungsschicht zur Folge hatte. 2 " Ebenfalls in die erste Amtszeit Ricardo Jiménez' fiel eine Verfassungsreform, die, um die Verfälschung des Wählerwillens durch Manipulationen einzu206

Vgl. J. Fuchs, 1991, 212 f. Vgl. E Rodriguez, 1982, 82. 20 ' Vgl J Fuchs, 1991, 214 ff m Vgl J.Fuchs, 1991,217 210 Ch D. Ameringer, 1982, 21. 211 Vgl J. L Vega Carballo, 1980, 146 207

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schränken, den bisherigen Modus, den Präsidenten mittels eines Wahlmännergremiums in zwei Wahlgängen zu bestimmen, ablöste und die unmittelbare Direktwahl einführte.212 Das nunmehr verfassungsmäßig verankerte System der Direktwahl erwies sich jedoch bei der folgenden Präsidentschaftswahl nicht als ausreichend, um die Respektierung der im Wahlergebnis artikulierten Entscheidung des Volkes zu garantieren. Da keiner der drei am 7 .12.1913 zur Wahl angetretenen Kandidaten die laut Verfassung erforderliche absolute Mehrheit erringen konnte, oblag es dem Kongreß, den künftigen Präsidenten zu bestimmen213, und nach fünf Monaten politischer Intrigen und wechselnder Paktbildungen entschied sich die Mehrheit der Abgeordneten am 1.5.1914 für den Führer des Partido Republicano Heredias, Alfredo González Flores, der bei der eigentlichen Wahl gar nicht kandidiert hatte.214 Wenige Monate nach dem Amtsantritt Alfredo González Flores' brach der Erste Weltkrieg aus, der auch in Costa Rica eine schwere Krise hervorrief, die nahezu alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche betraf: Durch den Verlust der europäischen Absatzmärkte sanken die in jener Zeit zu 78% aus der Besteuerung des Kaffee-Exports bestehenden Staatseinnahmen drastisch215, während der aus der Monokulturwirtschaft resultierende Bedarf an Importwaren weitgehend konstant blieb. 2 " Agrarische Nutzflächen, auch wegen der gestiegenen Bevölkerungszahl217 dringend zur Importsubstitution benötigt, standen jedoch nicht in ausreichendem Maße zur Verfugung, da jene durch die Bananenplantagen der U.F.Co, blockiert wurden.218 Wachsende Verschuldung, die Abwertung des Geldes, steigende Arbeitslosigkeit, sinkende Gehälter für Angestellte im öffentlichen Dienst waren die Folgen des Handelsdefizites und damit die Verschlechterung der Situation der arbeitenden Bevölkerung insgesamt. Auf der Suche nach Möglichkeiten, der sozioökonomischen Misere zu begegnen, ergriff González Flores Notstandsmaßnahmen, die Jenseits des Pfades des traditionellen Wirtschaftsliberalismus" 2 " lagen. Zunächst gründete er bereits im Oktober 1914 den Banco Internacional de Costa Rica, die erste mit den späteren Instituciones Autónomas vergleichbare Einrichtung, die unter privater Leitung die

212 2

"

2,4 215

216

217

2.8 2.9

Vgl E Rodríguez, 1990, 108 Vgl F Fernández Guardia, 1992, 139 Vgl. E. Rodríguez, 1982, 89 Vgl O Aguilar Bulgarelli, La Figura Controvertida del Lic. Alfredo González Flores, in: O Aguilar Bulgarelli, 1989, 63-82, hier: 67 Genaue Angaben bezüglich der staatlichen Einnahmen und Ausgaben in den Jahren 19131916, aus denen hervorgeht, daß letztere erstere deutlich übersteigen, finden sich bei C. Monge Alfaro, 1982, 263 Die Zahl der Einwohner hatte sich in den Jahren 1865-1914 verdreifacht und betrug nun ca 360 000, vgl Ch. D Ameringer, 1982, 22 Vgl W Dietrich, 1986, 40 J Fuchs, 1991, 238

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Funktion einer staatlichen Zentralbank übernahm.220 Durch diese Bank konnte die Regierung sowohl Kredite erhalten als auch vergeben, was bislang den Privatbanken vorbehalten war.221 Dies ermöglichte es dem Staat, zu günstigeren Konditionen über eine dringend benötigte Anleihe in der Höhe der Hälfte der Bankeinlage zu verfugen und die andere Hälfte als Kleinkredite an Kaffeeanbauer zu vergeben.222 Obwohl der Banco Internacional bis zur Gründung des Banco Nacional de Costa Rica für die weitere wirtschaftliche Entwicklung von großer Bedeutung war, reichte er dennoch nicht zur Lösung der gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme aus. Deshalb stellte Gonzáles Flores als nächsten Schritt im September 1915 dem Kongreß ein Konzept zu einer grundlegenden Steuerreform vor, das neben der Direktbesteuerung des Einkommens nach dem Grundsatz „damit die Reichen bezahlen wie die Reichen und die Armen wie die Armen"223 auch Vorschläge zur Besteuerung von Zinseinnahmen und Bodeneigentum enthielt und das trotz erheblicher Widerstände im Dezember 1916 durchgesetzt werden konnte.224 Diese Notmaßnahmen González' waren die real-politische Umsetzung eines Demokratie- und Staatsbegriffs, der sich von dem seiner orthodox-liberalen Vorgänger grundlegend unterschied. Schon zu seinem Amtsantritt hatte González soziale Programme zur Bekämpfimg von Arbeitslosigkeit und Armut angekündigt, da er die Auffassung vertrat, daß materielles Elend die Beständigkeit der Demokratie gefährde225 , und daß die politische Gleichheit, das allgemeine Wahlrecht, die individuellen Freiheitsrechte, alternierende Machtwechsel, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Freiheit des Handels und der Industrie und viele andere Errungenschaften mehr nicht ausreichten, um das Wohlergehen eines Volkes zu garantieren.226 In seiner Regierungserklärung vom 1. Mai 1915 führte er aus, daß die Rolle des Staates sich nicht auf die Funktion eines Gendarms beschränken dürfe, der die Gesetze und Regeln des zwischenmenschlichen Zusammenlebens bestimmt und die Bürger mit harter Hand dazu zwingt, sie zu befolgen. Damit startete er einen Frontalangriff gegen die Ideologie des Liberalismus, wie sie die Führer aller politischen Parteien vertraten.227 Der „progressistischen" Regierung González Flores gelang es jedoch nicht, einen Ausweg aus der desolaten wirtschaftlichen Lage zu finden und die soziale Situation der Bevölkerung zu verbessern, so daß es zunehmend zu Streiks kam, die fast alle von der Confederación General de Trabajadores, dem im Jahre 1913 gegründeten Dachverband aller zu jener Zeit existenten gewerkschaftlichen 220 221 222 223 224 225 226 227

Vgl Vgl. Vgl Vgl Vgl Vgl. Vgl Vgl

E Rodríguez Vega, 1991, 137. C Monge Alfaro, 1982, 262 O Aguilar Bulgareiii, 1989a, 72 C Meléndez, 1991, 126 E Rodríguez Vega, 1991, 138/141 J Fuchs, 1991, 236 E Rodríguez Vega, 1991, 138 E Rodríguez Vega, 1991, 138

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Gruppierungen, organisiert wurden.22' Da die Arbeiterbewegung zudem die Bedeutung der sozialreformerischen Impulse nicht richtig einzuschätzen wußte 229 , konnte González auch keine Unterstützung von ihr erwarten, als sich die in ihren Interessen beschnittenen Teile der Oligarchie und US-amerikanischen Unternehmen sowie die maßgeblichen Vertreter der Parteien -einschließlich seiner eigenen- gegen ihn verbündeten, um mit einer breitangelegten Diffamierungskampagne seinen Sturz vorzubereiten.230 Am 28.1.1917 fiihrten schließlich Federico Tinoco Granaderos, Mitglied der oligarquía cafetalera und Kriegsminister in der Regierung González, und dessen Bruder José Joaquin Tinoco mit Hilfe des Militärs den Putsch durch. Im Februar desselben Jahres übernahm Federico Tinoco den Vorsitz des Partido Republicano, ließ sich am 1.4.1917 in einer „plebiszitartigen Wahlfarce", bei der es keinen Gegenkandidaten gab231, zum Staatoberhaupt wählen und berief eine Verfassungsgebende Versammlung ein, die im Mai die Constitución Política de 1917 verkündete. Diese Verfassung, die aus einer von den Ex-Präsidenten Bernardo Soto, Carlos Durán, Rafael Yglesias, Ascensión Esquivel und Cleto González Viquez gebildeten Kommission ausgearbeitet wurde und von einigen Historikern als „wertvoll" und „ausgezeichnet" erachtet wird232 , führte das Zweikammersystem ein, verlängerte die Amtszeit des Präsidenten auf sechs Jahre, schaffte die Direktwahl ab, verfugte, daß der Schulbesuch kostenlos und obligatorisch ist und enthielt in Artikel 10 erstmalig die Bestimmung, daß der Staat verpflichtet ist, für das Wohlergehen der arbeitenden Klassen zu sorgen233 , was man als Zeichen dafür werten konnte, daß den „arbeitenden Klassen" als politischem Faktor -zumindest formal- mehr Beachtung geschenkt wurde. Tinoco erreichte jedoch mit der neuen Verfassung und der Durchfuhrung der Wahl weder sein außenpolitisches Ziel, nämlich die diplomatische Anerkennung seitens der USA, noch konnte er sich innenpolitisch damit eine ausreichende Legitimationsbasis verschaffen.234 Die sozioökonomische Situation verschärfte sich von Tag zu Tag, die Anzahl der Streiks nahm zu, ebenso die Kritik an dem einst enthusiastisch gefeierten Despoten Tinoco, der darauf zunehmend mit Repressionsmaßnahmen reagierte, die von der Einschränkung der Pressefreiheit, der Beschneidung der bürgerlichen Freiheitsrechte bis zur Verfolgung, Verhaftung und Arrestierung von politisch mißliebigen Personen reichten.235 Diese Maßnahmen erzeugten bei allen Bevölkerungsschichten ein Klima der Verängstigung, wie es aus den Militärdiktaturen anderer lateinamerikanischer Länder bekannt war, in 228 229 230 231 232 233 234 235

Vgl. Vgl Vgl Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl

V delà Cruz, 1984, 87 V de la Cruz, 1984, 89 C Monge Alfaro, 1982, 263 ff J. Fuchs, 1991, 243 O Aguilar Bulgareiii, 1988, 73 O. Aguilar Bulgarelli, 1988, 74. J.Fuchs, 1991,244 C. Monge Alfaro, 1982, 275

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Costa Rica aber nicht einmal während der autoritären Herrschaft Yglesias', Guardias oder Carrillos existierte.2'6 Doch schon gegen Ende des Jahres 1917 organisierten sich erste Widerstandsgruppen, und ab Februar 1918 gab es mehrere Aufstände in verschiedenen Städten, die mit Hilfe der inzwischen 5000 Mann starken Armee23' niedergeschlagen wurden, bis sich schließlich im Juni 1919 in San José eine Widerstandsbewegung formierte; sie bestand zunächst hauptsächlich aus Lehrern und Studenten238 , doch schlössen sich ihr immer größere Teile des Kleinbürgertums an.23' Es kam -teils mit Unterstützung des US-amerikanischen Konsulats- zu Massendemonstrationen und blutigen Auseinandersetzungen, die, zusammen mit dem Eintreffen eines nordamerikanischen Kriegsschiffes in Limón und der permanenten Androhung einer Intervention aus Nicaragua, dazu beitrugen, daß Federico Tinoco im August zurücktrat, dem General Juan Bautista Quirós die Macht übertrug und das Land verließ.240 Juan Bautista Quirós blieb jedoch nur 20 Tage im Amt. Unter Druck gesetzt sowohl durch die Revolutionäre um Julio Acosta als auch durch die nordamerikanische Regierung, ernannte er schon am 2. September Francisco Aguilar Barquero zum provisorischen Präsidenten.241 In seiner achtmonatigen Amtszeit hob Aguilar Barquero, einst Mitglied in der Regierung González Flores, die Verfassung von 1917 auf und ersetzte sie durch die aus dem Jahre 1871. Er steuerte, „obwohl während dieses Zeitraums durch keine Legislative kontrolliert, auf eine vollständige Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie zu"242 und ließ dementsprechend Ende 1919 Wahlen abhalten, damit ein verfassungsmäßig gewählter Präsident im Mai des folgenden Jahres seine Nachfolge antreten konnte. Für die bevorstehende Wahl präsentierten sich sechs Parteien, von denen allein vier bereits durch ihre Namensgebung ihre Bindung an den Präsidentschaftskandidaten und Anführer des Aufstandes gegen die Tinoco-Diktatur, Julio Acosta, anzeigten, was Ulrich Fanger als einen „Rückfall in den extremen Personalismo" bezeichnet, weil sich „die politischen Familien der Konservativen und Liberalen bis zur Jahrhundertwende von lokalpatriotischen, später personalistischen

2,6 237

238 239 240

241 242

Vgl E. Rodríguez Vega, 1991, 145 Die Zahl der Soldaten war in der Amtszeit Tinocos verfünffacht worden; vgl dazu M Muñoz Guillén, El Estado y la abolición del ejército en Costa Rica 1914-1949, San José 1990, 104. Vgl. Ch. D Ameringer, 1982, 23. Vgl. P. Hiedl/R Rausch, 1984, 358 Vgl H. Murillo Jiménez, Tinoco, Wilson, and the U S Policy of Nonrecognition, in: M Edelman/J. Kenen (eds ), 1989, 65-70, hier: 69 f Vgl C. Monge Alfaro, 1982, 286. J. Fuchs, 1991, 248.

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ad-hoc Vereinigungen zu Parteien mit zumindest formal programmbezogenen Titeln gemausert"243 hatten. Gegen seinen einzigen Gegenkandidaten, den vom „tinocoistisch" orientierten Partido Demócrata nominierten José Maria Soto, gewann Acosta mit überragender Mehrheit, und er verfolgte vom ersten Tag seiner Amtsübernahme an eine Politik der internen „Beschwichtigung" und „Aussöhnung"244, wodurch es ihm -zumindest partiell- gelang, „die durch den bürgerkriegsähnlichen Konflikt geschaffenen Gräben in der costaricanischen Gesellschaft durch zum Teil recht besonnene Maßnahmen wieder zuzuschütten."245 Zu diesen „besonnenen Maßnahmen" gehörte u.a., daß er Vertreter der verschiedenen politischen Gruppierungen als Minister in sein Kabinett berief246 und daß er sein Veto gegen zwei vom Kongreß ausgehende Gesetzesinitiativen einlegte, um repressive und diskriminierende Aktionen gegenüber den tinoquistas zu vermeiden.247 Bei den abgelehnten Gesetzesvorhaben handelte es sich um das Ley de Recompensas, das eine finanzielle Entschädigung für aktiv am Kampf gegen Tinoco Beteiligte vorsah, und das Ley de Nulidades, das alle Gesetze und Verträge aus der Amtszeit Tinocos für ungültig erklären sollte.248 Mit seiner auf „gesellschaftliche Harmonie" abzielenden Politik des „perdón y olvido"249 handelte sich Acosta die Feindschaft seiner früheren Mitstreiter, den nun mehrheitlich im Kongreß vertretenen restauradores ein250, die nicht gewillt waren, die Vergehen des Tinoco-Regimes zu vergessen, und auf Sanktionen gegen die Schuldigen beharrten. Das Jahr 1920 markierte den Beginn einer Phase, in der die „arbeitende Bevölkerung" -teils inspiriert durch nach dem Ersten Weltkrieg ins Land gekommene Immigranten- zunehmend Bewußtsein entwickelte für ihre Rechte, sich gewerkschaftlich zu organisieren und mittels Streiks für die Verbesserung ihrer sozialen Lage zu kämpfen. 2 " Es entstanden, auch außerhalb des „Epizentrums" der Arbeiterbewegung San José und außerhalb der Sektoren mit großer ArbeiterDichte wie die der Bananenplantagen und des Bergbaus, Vereinigungen und Gremien, in denen sich Hunderte von Handwerkern und Arbeitern des -zumeist Agrarprodukte verarbeitenden- Industriesektors, sowie Beschäftigte des öffentlichen Dienstes versammelten, um über die Durchsetzung ihrer Interessen zu bera24

'

244 245 244 247

248 245 250 251

U Fanger, Wahltradition als Element demokratischer Institutionenbildung: Wahlen und politische Entwicklung in Costa Rica, in: D Nohlen (Hrsg.), Wahlen und Wahlpolitik in Lateinamerika, Heidelberg 1984, 11-43, hier: 15 Vgl. R Fernández Guardia, 1992, 144 f G. Schreiner, 1987, 61 Vgl E Rodríguez Vega, 1991, 151 Vgl. F J Thomas Gallardo/C Gallardo Volio, Nuestros Presidentes del Poder Ejecutivo, San José 1993 (9. ed ), 35. Vgl E. Rodríguez Vega, 1991, 153 E Rodríguez Vega, 1991, 151 Vgl C. Monge Alfaro, 1982, 289 Vgl. E Rodríguez Vega, 1991, 153

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ten.252 Nach einigen Einzelstreiks und einem von der Confederación General de Trabajadores (CGT) organisierten Generalstreik im März 1921 konnten sie einige ihrer Forderungen wie die Einführung des Achtstundentags und Lohnerhöhungen in verschiedenen Bereichen durchsetzen. 2 " Doch zunächst lenkten außenpolitische Ereignisse, nämlich die erneuten Bemühungen um die Schaffung einer mittelamerikanischen Union und vor allem der Grenzkrieg mit Panama254, von den internen Problemen ab. Da auch die Gewerkschaften die Teilnahme an den bewaffneten Auseinandersetzungen als „patriotische Pflicht" propagierten, fanden größere Streikaktionen nicht mehr statt, und die Aktivitäten der neuen sozialen Bewegung verlagerten sich mehr auf die politisch-parlamentarische Ebene.255 Erstes Resultat dieses politischen Engagements war die Wahl Jorge Volios zum unabhängigen Abgeordneten einer regionalen Parteigruppierung in den Kongreß. Jorge Volio, einer der „Helden" der Widerstandsbewegung gegen die Gebrüder Tinoco, Mitglied einer „distinguished Cartago family"256 und Inhaber des Ranges eines General de División de las Milicias de la República hatte in Belgien studiert und war Priester, bis sich seine auf der christlichen Soziallehre basierenden sozial-kritischen Vorstellungen nicht mehr mit der passiven Haltung der costaricanischen Kirche vereinbaren ließen, die in jener Zeit soziale Probleme ignorierte und sich auf ihre rein religiösen Funktionen beschränkte.257 Im Kongreß machte sich Volio zum Sprecher der Arbeiter und campesinos, wandte sich gegen die soziale Ungerechtigkeit und forderte fundamentale strukturelle Veränderungen bezüglich der Landverteilung, der Steuern, des Bildungssystems etc., wobei diese Modifikationen durch konstitutionelle Anpassung innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung stattfinden sollten.25' Am 25. Januar 1923 berief die CGT eine Generalversammlung ein, an der mehr als 500 Mitglieder teilnahmen; sie stimmten überein, daß die Durchführung von Streiks und Protestaktionen nicht ausreiche, um die Lage der arbeitenden Klasse substantiell zu verändern, sondern daß dies politische Partizipation und eine parlamentarische Vertretung erfordere. 25 ' Jorge Volio überzeugte die Anwesenden von der Notwendigkeit, eine neue Partei zu gründen, die statt auf caudillos auf Idealen und einem Programm basieren sollte.260 So entstand der Partido Reformista, die erste ideologische Partei, die aus einer Massenbewegung hervor-

252 253 254 255 256 257 258 259 260

Vgl. M Oliva Medina, 1992, 45/48 Vgl. V. de la Cruz, 1984, 105 ff Vgl. R Fernández Guardia, 1992, 145 f Vgl J Fuchs, 1991, 250 f Ch. D. Ameringer, 1982, 23 Vgl E Rodríguez Vega, 1991, 154. Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1983a, 63. Vgl. V de la Cruz, 1984, 121/139. Vgl V de la Cruz, 1984, 140

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gegangen war, breite Teile der Arbeiterschaft als ihre Anhänger gewinnen konnte und nationale Bedeutung erlangte.261 Für die Präsidentschaftswahl 1924 nominierte der Partido Reformista Jorge Volio zum Präsidentschaftskandidaten und erstellte ein 18 Punkte umfassendes Parteiprogramm, das für den Fall eines Wahlsieges die Ausarbeitung einer dem politischen und sozialen Entwicklungsstand entsprechenden Verfassung ankündigte, zur effektiveren Vertretung des Volkes die Einfuhrung von Plebisziten vorsah, sowie Modernisierungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung, des Bildungssystems und des Strafvollzugs forderte. Der Schwerpunkt des Programms lag jedoch auf sozialen Reformen, die u.a. Regelungen des Arbeitsunfallschutzes, des sozialen Wohnungsbaus, der gerechteren Landverteilung sowie die Wiedereinführung der Direktbesteuerung beinhalteten.262 Mit diesem Programm stießen die reformistas jedoch nicht nur auf den Widerstand der Oligarchie und der wirtschaftlich mächtigen Gruppen263 sondern auch der konservativen Mehrheit der Katholischen Kirche, die das sozialreformerische Gedankengut -obwohl auf der päpstlichen Enzyklika basierendals Gefahr einschätzte.264 Neben Jorge Volio stellten sich zwei weitere Kandidaten der Wahl: Der Inhaber des Präsidentenamtes von 1910-1914 Ricardo Jiménez Oreamuno kandidierte für den Partido Republicano, Alberto Echandi für den 1922 gegründeten Partido Agrícola. Keiner der Kandidaten erreichte die absolute Mehrheit, so daß der Kongreß, gemäß der geltenden Verfassung von 1871, zwischen den beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen erzielt hatten, entscheiden mußte.265 Volio hatte mit ca 20% Stimmenanteil die Wahl verloren und kam als potentieller Präsident nicht mehr in Frage; aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Kongreß -der Partido Agrícola verfügte über 20, der Partido Republicano über 18 und der Partido Reformista über fünf Abgeordnete- kam den reformistas jedoch eine wahlentscheidende Funktion zu.266 Entgegen ihrer im Wahlprogramm enthaltenen Aussage, daß sie mit keinen ihren Prinzipien femstehenden Parteien paktieren werde, da solche Fusionen die „schwärzesten Wahlverfalschungen" der Geschichte bewirkt hätten267, schlössen sie ein Bündnis mit dem Partido Republicano und unterstützten, nachdem ihnen die Republikaner einige Regierungsposten -darunter das Amt des Vize-Präsidenten für Jorge Volio-, die Aufnahme verschiedener reformistischer Programmpunkte sowie eine Beteiligung an den Wahl-

261 262 26) 264 265

266 267

Vgl. A Mora, 1990, 89 Vgl. V de la Cruz, 1984, 141 ff Vgl. C Monge Alfaro, 1982, 292 Vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1983a, 62 Ricardo Jiménez konnte 29 238 Stimmen auf sich vereinen, Alberto Echandi 25 .758, Jorge Volio 14 063; vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1983a, 63. Vgl. O Salazar Mora/J M Salazar Mora, 1991, 59 Vgl. V de la Cruz, 1984, 144

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kampfkosten zugestanden hatten, die Wahl Jiménez Oreamunos zum Präsidenten. 2 " Dieser Pakt bedeutete den Anfang vom vorläufigen Ende des reformismo und leitete die Fortsetzung der liberalen Herrschaft für die folgenden 14 Jahre ein. Viele der Anhänger des Partido Reformista, die bewußt eine sozial orientierte, gegen das Establishment agierende Partei unterstützt hatten, waren von der mangelnden Standfestigkeit ihrer Repräsentanten enttäuscht; nachdem sie erkannt hatten, daß die meisten reformistischen Forderungen entweder gar nicht oder lediglich in Form von „leeren Formelkompromissen" realisiert wurden, entzogen sie der Partei ihr Vertrauen.269 Als Volio die Politik der Regierung Jiménez zunehmend kritisierte, weil sie die nationalen Probleme nur verwaltete, statt an deren Lösung zu arbeiten, und er im September 1926 einen Aufstand gegen die Regierung in Liberia versuchte, wurde er verhaftet und vorübergehend in eine Klinik für Geisteskranke nach Europa verfrachtet, wodurch dem Partido Reformista die auf die Identifikationsfigur konzentrierte politische Führung entzogen und damit seine weitere organisatorische Schwächung vorprogrammiert war.270 Im ganzen zeichnete sich die zweite Amtszeit Jiménez Oreamunos durch eine „relative Ruhe" aus271, wozu neben dem Zerfall der Reformbewegung vor allem der weltmarktbedingte wirtschaftliche Aufschwung beitrug, der bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1930 andauerte und dem Land zu einer gewissen Prosperität verhalf, angesichts derer sich die sozioökonomische Nicht-EinmischungsPolitik der liberalen Regierung besser rechtfertigen ließ und die Dringlichkeit sozialer Reformen weitgehend in Vergessenheit geriet.272 Doch zumindest wurde eine -für die reformistas zwar unbefriedigende- gesetzliche Regelung zur Absicherung von Arbeitsunfällen in Form einer staatlichen Sozialversicherung geschaffen, in deren Zusammenhang der Banco Nacional de Seguros gegründet sowie die Expansionsmöglichkeiten des Großgrundbesitzes limitiert und die Errichtung privater Monopole verboten wurde.271 Im Bereich des Wahlrechts wurde mit der Einführung der geheimen Wahl und der Erstellung eines zentralen Wählerverzeichnisses ein wichtiger Schritt vollzogen, da dies die Wahrscheinlichkeit von Wahlmanipulationen verringerte.274 Für die Präsidentschaftswahl 1928 nominierten zwei Parteien jeweils einen Kandidaten: der Partido Republicano Carlos Maria Jiménez Ortiz und der neugegründete, aus Teilen des ehemaligen Partido Agrícola und des Partido Reformista bestehende Unión Nacional den Ex-Präsidenten Cleto González Víquez. Letzterer konnte die rein personalistisch ausgerichtete Wahl mit 59% der Stim268 269 270 271 272 273 274

Vgl Vgl. Vgl Vgl Vgl. Vgl Vgl.

O Aguilar Bulgarelli, 1983a, 64 J Fuchs, 1991, 254. O Aguilar Bulgareiii, 1983a, 65 Ch. D. Ameringer, 1982, 24. J L Vega Carballo, 1986, 296 J Fuchs, 1991, 254 f. E. Rodriguez Vega, 1991, 156

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men fiir sich entscheiden und setzte in seiner Amtszeit den von seinem Vorgänger eingeschlagenen politischen Kurs grundsätzlich fort.275 Auf der Basis des noch anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs erzielte er beachtliche infrastrukturelle Verbesserungen, bis der Beginn der Weltwirtschaftskrise eine drastische Reduzierung der Staatseinnahmen bewirkte, so daß die Finanzierung weiterer Projekte nicht mehr möglich war.276 In den letzten beiden Jahren der Regierungsperiode González Viquez' traten die Folgen der totalen Abhängigkeit vom Weltmarkt ein: Mit dem Verfall des Kaffeepreises und dem Rückgang des Bananenexports fiel auch der Wert des Geldes und des Grund und Bodens. Die Regierung versuchte vergeblich, durch Steuererhöhungen und die Restringierung der Kreditvergaben den Staatshaushalt zu sanieren.277 Solche Maßnahmen stellten „das genaue Gegenteil einer antizyklischen Wirtschaftspolitik"27' dar, trugen zum Anstieg der Arbeitslosenzahlen und damit zur weiteren Verschlechterung der sozialen Lage der Bevölkerung bei. In dieser sozioökonomischen Krisensituation entstand auch in Costa Rica der Nährboden für die Gründung einer kommunistischen Partei, da es seit der Auflösung des Partido Reformista keine nennenswerte, gegen die Dominanz der „Olympier" gerichtete, Oppositionsbewegung mehr gab.279 Zwar existierten mehrere gewerkschaftliche Organisationen und auch ein überparteiliches nationalistisch-patriotisches Bündnis, die 1928 gegründete Liga Cívica, in der sich politische Kräfte verschiedenster Ausrichtung vereinten, um auf der Basis eines Minimalkonsenses gegen den Einfluß des ausländischen Kapitals -konkret hauptsächlich gegen die Konzentration des Landbesitzes in den Händen der U.F.Co.- anzukämpfen280; im Spektrum der politischen Parteien war die Arbeiterschaft jedoch nicht repräsentiert. Bereits seit Anfang 1929 befaßten sich einige Studenten der Escuela de Derecho und Mitglieder der Arbeiterbewegung systematisch mit dem Studium der marxistischen Theorie und den Erfahrungen der russischen Revolution. Der Gewerkschaftsführer Gonzalo Montero Berry organisierte, zunächst mit dem vorrangigen Ziel der Wiedereröffnung der Universität, die Asociación Obrera por la Universidad Popular, aus der nach kurzer Zeit die Asociación Revolucionaria de Cultura Obrera (ARCO) hervorging, der sich im Laufe der folgenden beiden Jahre mehr und mehr Mitglieder informeller intellektueller Zirkel, Vertreter von Arbeitervereinigungen und dem neugegründeten Gewerkschaftsverband Unión General de Trabajadores (UGT) sowie einige regionale Gruppierungen mit antiimperialistischer Gesinnung anschlössen. 2 " So entstand mit der ARCO ein Zen275 276 277 278 279 280 281

Vgl. O. S alazar Mora/J. M Salazar Mora, 1991, 52 f. Vgl F J. Thomas Gallardo/C Gallardo Volio, 1993, 30 Vgl E Rodriguez Vega, 1991, 158. J. Fuchs, 1991, 257. Vgl. Ch D Ameringer, 1982, 25 Vgl. J Fuchs, 1991, 257. Vgl V de la Cruz, 1984, 213 ff

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trum der revolutionären Bewegung, in dem nicht mehr wie zu Zeiten des reformismo Jorge Volios gesellschaftliche Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems die Diskussion bestimmten, sondern die Fundamente der politischen, ökonomischen und sozialen Ordnung grundsätzlich in Frage gestellt wurden. Auf der Grundlage der von diesem circulo de estudios marxistas und dessen Publikationsorgan Revolución geleisteten Vorarbeiten, erfolgte am 6. Juni 1931 die Gründung des Partido Comunista de Costa Rica (PCCR), der unter dem Vorsitz Manuel Mora Valverdes für den bevorstehenden Wahlkampf ein programa mínimo vorlegte. In seiner Einleitung wird begründet, daß das „Endziel", nämlich die sozialistische Transformation der Gesellschaft, aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den kapitalistischen Ländern zum gegebenen Zeitpunkt nicht durchführbar sei und die Kommunistische Partei daher um die politische Macht fiir die Durchsetzung der kurz- und mittelfristig anzustrebenden Reformen kämpfe.282 Dementsprechend bezogen sich die Forderungen im sozialpolitischen Bereich auf die Errichtung eines umfassenden staatlichen Sozialversicherangssystems, die Abschaffung der Kinderarbeit, die berufliche und politisch-juristische Gleichstellung der Frauen, die Arbeitspflicht von Volljährigen gemäß ihrer physischen und intellektuellen Fähigkeiten, die generelle Einfuhrung des Achtstundentages, die Garantie eines gesetzlichen Mindestlohnes unter der Kontrolle eines Arbeiterund Bauernrates, die ausdrückliche Anerkennung des Streikrechts, die Bereitstellung einer adäquaten Unterkunft und die Verbesserung des Gesundheitswesens; auf wirtschaftspolitischer Ebene sah das Minimalprogramm die Revision der zwischen dem Staat und dem nationalen wie internationalen Kapital geschlossenen Verträge und Abkommen, die Abschaffung von Latifundien und die Enteignung ungenutzten Geländes, die Erschließung aller Regionen des Landes und die Verstaatlichung der Transportwege und Bodenschätze, die staatliche Kontrolle der Landwirtschaft und der Industrie sowie die komplette Änderung des Zoll- und Steuersystems vor; der Staatsapparat sollte auf ein Minimum reduziert und das Prinzip eingeführt werden, daß Angestellte des öffentlichen Dienstes kein Gehalt beziehen, das den Höchstlohn eines Arbeiters übersteigt, und eine Reform des Bildungssystems stellte den kostenlosen Schulbesuch auf allen Ebenen in Aussicht. Nur die Punkte 1 und 24 benennen langfristige Bestrebungen, die diesen pragmatischen Reformforderungen übergeordnet sind, nämlich die Übertragung der gesamten politischen Macht an die Arbeiterklasse durch die Schaffung von Arbeiter- und Bauemräten und die stete internationale Zusammenarbeit zum Aufbau einer panamerikanischen sozialistischen Republik nach sowjetischem Muster.283

282

283

Vgl. G. Contreras/J. M Cerdas, Los Años 40's: Historia de una Política de Alianzas, San José 1988, 13 Das 24 Punkte umfassende Programm ist vollständig abgedruckt bei V de la Cruz, 1984, 249 ff.

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Mit diesem Programm hatte sich die kommunistische Partei den Gegebenheiten der Zeit angepaßt: Zwar strebte sie die Revolution und die Errichtung eines sozialistischen Systems an, erkannte aber die Notwendigkeit einer „nichtsozialistischen" Übergangsphase, derer es nicht zuletzt auch zur Stärkung der internen Basis bedurñe. An den nächsten Präsidentschaftswahlen konnte der PCCR jedoch nicht teilnehmen. Der Kongreß konstatierte „feindliche Tendenzen" gegenüber den beiden Grundpfeilern des politischen Lebens, dem Privateigentum und der Souveränität des Staates, und beschloß daraufhin, die Partei nicht zur Wahl zuzulassen.284 So kandidierten emeut die „altbewährten" Liberalen: Ricardo Jiménez Oreamuno für den Partido Republicano Nacional, Carlos Maria Jiménez Ortiz für den Partido Republicano, Manuel Castro Quesada für die neugegründete -von Máximo Fernández und Alfredo González Flores protegierte- Unión Republicana. Etwas aus dem Rahmen fiel lediglich der Partido Nacionalista, der ein ehemaliges Mitglied der Liga Cívica, Max Koberg Bolandi, nominiert hatte. Die Kandidaten unterschieden sich in ihren inhaltlichen Positionen nur wenig, legten keinerlei neue Konzepte zur Beantwortung der „sozialen Frage" vor und benutzten die Parteien, die „nicht einmal in Ansätzen Grundstrukturen programmatisch orientierter Massenorganisationen" aufwiesen, als „Wahlvereine, reine Vehikel zur Durchsetzung ihres persönlichen Ziels". 2 " Mit 46,6% der Stimmen gewann der Partido Republicano Nacional die Wahl, verfehlte aber die absolute Mehrheit, so daß der Präsident wieder durch den Kongreß bestimmt werden mußte, der sich diesmal auf das Wahlergebnis stützte und für Ricardo Jiménez Oreamuno entschied. 2 " Während der dritten Amtszeit Jiménez Oreamunos sank der auf dem Weltmarkt zu erzielende Kaffeepreis weiter, ebenso ging der Bananenexport zurück2*7 , so daß der wirtschaftliche Abwärtstrend ungebrochen anhielt, viele kleinere und mittlere Produktionsbetriebe Bankrott machten, die Arbeitslosigkeit anstieg und die sozialen Probleme eskalierten. In Anbetracht des Ausmaßes der Krise sah sich die Regierung gezwungen, den bisher eingeschlagenen Weg der laissez-faire-VoMtik zumindest partiell zu verlassen und in den Wirtschaftsprozeß einzugreifen. Sie gründete den Instituto Costarricense de Defensa del Café, eine „halbautonome" Institution, die neben der Aufgabe, für verbesserte Produktionsund Verarbeitungsmethoden zu sorgen, mit genügend Kompetenzen ausgestattet war, um in alle Angelegenheiten des Kaffeeanbaus und der -Vermarktung regulierend zu intervenieren28' sowie die Existenz von kleineren und mittleren Produzenten und die Einkünfte der peones (Tagelöhner) zu schützen.289 Im sozialpoliti284 285 286 287 288 289

Vgl G Contreras/J M Cerdas, 1988, 17 J Fuchs, 1991, 259 Vgl E Rodriguez Vega, 1991, 160 Vgl M Rojas Bolaños, 1989a, 27 ff. Vgl C. Hall, 1991, 48 f /151 f Vgl J L Vega Carballo, 1986, 321

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sehen Bereich versuchte man, durch die Verteilung von Staatsland, die Vergabe von Direkthilfen an Arbeitslose und durch ein Gesetz zur Festsetzung eines Mindestlohnes die Auswirkungen der Verarmung breiter Teile der Gesellschaft einzudämmen.290 Zur Überwindung der Krise reichten die ergriffenen Maßnahmen jedoch nicht annähernd aus, da das Festhalten an wirtschaftsliberalen Grundsätzen und der durch die Abhängigkeit von Zolleinnahmen aus dem Kaffee- und Bananenexport verursachte Mangel an finanziellen staatlichen Ressourcen die Durchfuhrung einer antizyklischen Politik im Sinne von Keynes verhinderten.29' Unter diesen Umständen gelang es sowohl den gewerkschaftlichen Gruppierungen als auch der Kommunistischen Partei bald, ihre organisatorische Basis zu verbreitern und erheblich an Bedeutung zu gewinnen. Bei den Zwischenwahlen zum Kongreß im Februar 1934 erhielt die KP, die sich, um überhaupt zugelassen zu werden, in Bloque de Campesinos y Obreros umbenannt hatte, 5% der Stimmen und damit zwei Sitze im Parlament, die ihr Vorsitzender Manuel Mora Valverde und Efraín Jiménez Guerrero einnahmen.292 Im August desselben Jahres fand in der von der Krise am schlimmsten betroffenen Provinz Limón ein Kongreß der Trabajadores del Atlántico, der größten Organisation der Bananenarbeiter, statt, auf dem in Zusammenarbeit mit der KP ein Forderungskatalog erstellt wurde, der u.a. folgende Punkte enthielt: die Erhöhung des Mindestlohnes und die Vergütung von Überstunden, die Abschaffung der Akkordarbeit, die kostenlose Bereitstellung von Arbeitsgeräten und Unterkünften, die Anwendung des Arbeitsunfallschutzgesetzes und die offizielle Anerkennung der Trabajadores del Atlántico als Gewerkschaft.293 Als die U.F.Co, und die -wegen des Transport- und Vertriebsmonopols faktisch von ihr abhängigen- ßnqueros independientes die Annahme der Forderungen ablehnten, brach ein Streik von bisher unbekanntem Ausmaß aus, an dem sich mindestens 10.000 Arbeiter beteiligten.294 In der ersten Phase des Arbeitskampfes widerstand Ricardo Jiménez dem von verschiedenen Seiten auf ihn ausgeübten Druck, gewaltsam gegen die Streikenden vorzugehen; er initiierte stattdessen Verhandlungen, aus denen ein Abkommen resultierte, das die Forderungen der Arbeiterbewegung weitgehend anerkannte und von der Regierung, den Gewerkschaftsvertretern und den nationalen Bananenpflanzern unterzeichnet wurde, dem die U.F.Co, jedoch ihre Zustimmung verweigerte.295 Als die in dem Pakt getroffenen Vereinbarungen seitens der U.F.Co, nicht eingehalten wurden, begann, wenige Tage nachdem die Arbeit wiederaufgenommen worden war, eine zweite Streikwelle, zu deren Beendigung 290 291 292 293 294

295

Vgl. E. Rodríguez Vega, 1991, 160 Vgl. J. Fuchs, 1991, 269 Vgl G Contreras/J M. Cerdas, 1988, 21 Vgl. O Sal azar Mora/J M. Salazar Mora, 1991, 63. Vgl R. Grass, Die Gewerkschaften der Bananenarbeiter in Costa Rica - Geschichte und aktuelle Probleme, in: L. Ramalho (Hrsg.), Lateinamerikanische Gewerkschaften zwischen staatlicher Gängelung und Autonomie: Fallstudien zu Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Ecuador und Guyana, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1985, 199-219, hier: 207 Vgl. E Rodríguez Vega, 1991, 161.

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sich Jiménez dann doch der Hilfe des Militärs bediente, das die maßgeblichen Streikfiihrer verhaftete und die restlichen Streikenden zum Aufgeben zwang.296 Dennoch blieb der Streik nicht ohne Konsequenzen. Noch im Dezember verabschiedete der Kongreß ein Gesetz, in das viele der Forderungen der Arbeiterbewegung aufgenommen wurden, so daß sie zumindest formal ihren Niederschlag fanden; zudem war in der Bevölkerung das Bewußtsein erwacht, daß politische und gewerkschaftliche Organisation ein effektives Mittel des Widerstandes sein kann, was wiederum die Position der kommunistischen Bewegung stärkte.297 Von großen Teilen der wirtschaftlichen und politischen Elite, die schon die sozialreformistischen Ideen González Flores' und Jorge Volios als gefährlich angesehen hatten, wurde die Möglichkeit, daß der Bloque de Obreros y Campesinos an Bedeutung zunehmen und noch mehr Einfluß gewinnen könnte, als existentielle Bedrohung empfunden, obwohl sie sich als Gruppe unfähig zeigten, eine überzeugende Alternative zur Lösung der sozialen Probleme zu entwickeln.298 Daher wurde bereits bei der Diskussion um die Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 1936 der Ruf nach einer „härteren Hand" laut, die die bevorstehende Gefahr besser abzuwenden vermochte als die „sanfte" Politik Jiménez Oreamunos, die man fiir das Erstarken der kommunistischen Bewegung verantwortlich machte.299 Die Kaffeebarone und die amtierende Regierung favorisierten die Kandidatur des damaligen Entwicklungsministers León Cortés Castro fiir den Partido Republicano Nacional (PRN). Der Partido Nacional (PN) nominierte den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Octavio Beeche, und erstmalig nahm auch der Bloque de Obreros y Campesinos an den Wahlen teil, der, da Manuel Mora noch nicht das verfassungsmäßig vorgeschriebene Mindestalter erreicht hatte, den Schriftsteller und Professor Carlos Luis Sáenz als Kandidaten präsentierte.'00 León Cortés machte die „kommunistische Bedrohung" zum Hauptthema seines Wahlkampfs, diffamierte nicht nur die KP, sondern auch seinen Kontrahenten Beeche, der den sozioökonomischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise mit der Einfuhrung staatlich geförderter Wirtschaftsprogramme nach keynesianischem Vorbild entgegenzutreten beabsichtigte, indem er in einer groß angelegten Werbekampagne unter anderem verkündete: Octavio Beeche zu wählen, bedeute den Kommunismus zu wählen, und dies bedeute, gegen die Republik, gegen die politischen Institutionen und gegen die Religion zu sein.'01 Mit dem Versprechen, die Nation vor den „roten Horden" zu beschützen, erwarb er sich vor allem die Sympathie der Oligarchie, der mächtigen konservativen gamonales, der strenggläubi-

296 291 298 299 300 501

Vgl Vgl. Vgl Vgl. Vgl Vgl

O Aguilar Bulgarelli, 1983a, 71 E. Rodriguez Vega, 1991, 161. J P Bell, Guerra civil en Costa Rica, San José 1986 (4. éd.), 20 f. Ch D. Ameringer, 1982, 27. G Contreras/J M Cerdas, 1988, 34 f J P Bell, 1986, 21 f

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3 Etappen der Entwicklung bis zur ..Revolution" (1948)

gen Landbevölkerung und fast des gesamten Klerus302 , so daß er mit 52.801 Stimmen -gegenüber 30.219 Stimmen für Beeche und nur 4.547 für Sáenz- als eindeutiger Sieger aus der wieder äußerst personalistisch geprägten Wahl hervorging, die mit 35% die bisher höchste Wahlbeteiligung in Costa Rica aufwies.303 Cortés versuchte sofort nach der Amtsübernahme den früheren Liberalismus wieder herzustellen und die progressiven Kräfte einzuschüchtern, wozu er sich auch der Methoden einer autoritären WillkürheiTschaft bediente.304 Mit seiner strikten Austeritätspolitik gelang es ihm jedoch, den Staatshaushalt auszugleichen und dennoch beachtliche infrastrukturelle Fortschritte, vorwiegend im Bereich des Straßenbaus, zu erzielen.305 Zudem wandelte er den von González Flores gegründeten Banco Internacional in den Banco Nacional de Costa Rica um, der die Funktion einer Zentralbank übernahm und dem Staat eine größere Kontrolle über die Privatbanken und die gesamte Fiskalpolitik ermöglichte306 , was kurzfristig die Stabilisierung des costaricanischen Colon begünstigte. Anläßlich der Zwischenwahlen zum Kongreß 1938 leistete sich Cortés allerdings einen faux pas, der das Vertrauen selbst konservativer Teile der Bevölkerung in den „dynamischen" Präsidenten nachhaltig erschütterte: Um zu verhindern, daß die Abgeordneten der KP die ihnen laut Wahlergebnis zustehenden zwei Sitze im Kongreß einnehmen konnten, annullierte er trotz der Proteste des Consejo Electoral die Wahl von Carlos Luis Sáenz, so daß dem Bloque nur noch ein Deputierter verblieb. Durch derartige Manipulationen, die Cortés auch später in der Frage der Kandidatenauswahl für die kommende Präsidentschaftswahl vornahm, verlor er an Glaubwürdigkeit, was dazu beitrug, daß die KP ihre Position als einzige ideologische Partei des Landes festigen und in den folgenden Jahren überzeugender vermitteln konnte, daß der von ihr intendierte comunismo criollo nicht die bedrohlichen Züge des internationalen Kommunismus annahm und die traditionell „heiligen" Werte nicht in Frage stellte.307 Zusammenfassend kann man feststellen, daß sich in den 30er Jahren durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und das rapide Wachstum der Bevölkerung30* die soziale Lage weiterhin verschärfte und die Unzulänglichkeiten des capitalismo agroexportador unter den wirtschaftsliberalen Regierungen immer offensichtlicher wurden. Teile der städtischen Mittelschichten und der -vor allem im Bananensektor tätigen- Arbeiterschaft schlössen sich in politischen und/oder gewerkschaftlichen Organisationen zusammen, um die Notwendigkeit einer wirt302 303 304 305 306 307 308

Vgl. G Contreras/J M Cerdas, 1988, 35 Vgl. J Fuchs, 1991,275. Vgl. J L Vega Carballo, 1986, 324 Vgl R. Fernández Guardia, 1992, 151 Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1983a, 73 Vgl J P Bell, 1986, 21 ff. Zwischen 1821 und 1940 hatte sich die Zahl der Einwohner verzehnfacht und betrug nun ca. 600 000, wobei die Zuwachsrate der Bevölkerung im Zeitraum zwischen 1930-1940 bei 27% lag, vgl. L. A. Bird, 1984, 37.

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schaftlichen, politischen und sozialen Neuordnung zu demonstrieren. Damit entstanden neue Akteure und mit ihnen Konflikte sowohl innerhalb der Kaffee- und Finanzbourgeoisie als auch zwischen ihr und den von ihr abhängigen Bevölkerungsschichten. Der Staat geriet daher zunehmend unter Druck, zur Erhaltung des „sozialen Friedens" vermittelnd einzugreifen, was eine quantitative und qualitative Erweiterung seiner Funktionen erforderte, die den Prinzipien der liberalen laissez-faire-VoMúY diametral entgegenstand. Einige der als Zugeständnis an die neuen politischen Kräfte getroffenen staatlichen Maßnahmen bewirkten eine relative Schwächung der Oligarchie, gefährdeten jedoch nicht deren Hegemonialstellung, so daß die Etablierung eines reformierten politischen Systems mit verbesserter sozialer Integrationskraft in dieser Phase nicht durchsetzbar war.

3.4

Vom liberalen zum reformistischen Staat: Soziale Reformen und Neuordnung der politischen Kräfte in den 40er Jahren

León Cortés erwies sich insofern als ein Übergangspräsident, als er die personelle Ablösung der „großen alten Männer" der liberalen Ära symbolisierte, es ihm aber nicht gelungen war, „die in einem solchen Wachwechsel gewöhnlich liegende Chance zu einem programmatischen und fundamentalen Neubeginn zu nutzen."309 Er übte jedoch noch seinen Einfluß bei der seit Mitte der Legislaturperiode laufenden Debatte um die Bestimmung seines Nachfolgers als Präsidentschaftskandidaten des Partido Republicano Nacional aus, indem er sich vehement fiir die Nominierung von Rafael Angel Calderón Guardia einsetzte, der mit der Unterstützung der meisten fuhrenden traditionellen Politiker, der wirtschaftlich maßgeblichen Kreise und weiter Teile des Klerus zur Wahl 1940 antrat.310 Neben Calderón Guardia kandidierten nur noch Manuel Mora für den Bloque de Obreros y Campesinos und Virgilio Salazar Leiva fiir den bislang nur regional in Erscheinung getretenen, reformistisch orientierten Partido Confraternidad Guanacasteca3", wodurch die eigentliche Wahl zur reinen Formalität wurde: Der Partido Republicano Nacional erhielt fast 85% der Stimmen, während der Bloque 9,8% und der Partido Confraternidad nur die spärlichen restlichen Stimmen für sich verbuchen konnten.112 Diese überwältigende Mehrheit zeugt von einem immensen sozialen Konsens, der sich um die Person Calderón Guardias gebildet hatte. Seine dezidierten Gegner waren lediglich noch einige wenige antiklerikale Liberale, die einen Machtzuwachs der Kirche, und Intellektuelle, die eine Fort309 110 311

312

J Fuchs, 1991, 278 Vgl E. Rodríguez Vega, 1991, 164. Vgl O Aguilar Bulgarelli, Costa Rica y sus hechos políticos de 1948: problemática de una década, San José 1983 (2 ed ), 27. Vgl M Rojas Bolaños, Lucha social y guerra civil en Costa Rica, 1940-1949, San José 1989 (4 ed.), 41

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Schreibung der traditionellen Politik befürchteten, sowie die Sympathisanten und Mitglieder der KP.513 Zum besseren Verständnis dieser breiten Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft sind einige biographische Angaben zu Calderón Guardia sinnvoll: Geboren im Jahre 1900 als Sohn einer angesehenen, vom alten spanischen Adel abstammenden Arztfamilie, verließ Calderón nach abgeschlossener Schulausbildung Costa Rica, um in Belgien Medizin zu studieren, wo er, wie früher Jorge Volio, in den Einflußbereich der christlichen Soziallehre geriet und ähnliche Vorstellungen entwickelte, wenn auch in einer weit weniger radikalen und demagogischen Ausprägung.314 Im Jahre 1927 kehrte er mit abgeschlossenem Studium nach Costa Rica zurück und erwarb sich bald einen Ruf als Arzt und Philanthrop, der sich vielseitig engagierte und bedürftige Menschen auch kostenlos behandelte. Seine politische Karriere begann er Anfang der 30er Jahre auf kommunaler Ebene, bei den Teilwahlen 1934 erhielt er ein Abgeordnetenmandat im nationalen Kongreß, 1938 wurde er wiedergewählt, obwohl er in seiner politischen Tätigkeit nicht als herausragende Persönlichkeit aufgefallen war.315 Sein Wahlerfolg resultierte vielmehr aus dem Zusammenwirken folgender Faktoren: Mit seiner konservativen, antikommunistischen Grundhaltung und der Protektion des amtierenden Präsidenten Cortés gewann er das Vertrauen der Kaffee- und Finanzoligarchie; als praktizierender Katholik empfahl er sich den Vertretern der Kirche, da er ihnen zum einen die Ablösung der jahrelangen antiklerikalen liberalen Herrschaft garantierte, zum anderen seine sozial-christlichen Ideale in Einklang standen mit denen des im April 1938 zum Erzbischof von Alajuela ernannten Víctor M. Sanabria, der mit der alten Kirchentradition brach, indem er in seinem ersten Hirtenbrief an das christliche Gewissen appellierte und verkündete, daß die Katholische Kirche sich künftig mit der „sozialen Frage" beschäftigen werde; seine Reputation als humanitär agierender Arzt und das Versprechen, als Präsident seine diesbezüglichen Aktivitäten auszuweiten und zu efTektivieren, verschafften ihm die Sympathie auch der weniger privilegierten Bevölkerungsschichten; aufgrund seines Alters setzte die jüngere Generation die Hoffnung in ihn, mehr Partizipationschancen zu erhalten, als ihr von den vorhergehenden Regierungen zugestanden worden waren.116 Den Erwartungen entsprechend deklarierte Calderón Guardia in seiner ersten Regierungserklärung die christliche Soziallehre zum Fundament seiner Politik und kündigte eine Reihe kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Maßnahmen an, die innerhalb des kapitalistischen Rahmens und der bestehenden politischen Ordnung zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter und Bauern und damit zur

313 314 315 316

Vgl E. Rodríguez Vega, 1991, 164 Vgl J Backer, La Iglesia y el Sindicalismo en Costa Rica, San José 1978 (3 ed ), 85 Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 24 ff Vgl. J. Backer, 1978, 85 f , O. Aguilar Bulgarelli, 1983b, 25 f , E. Rodríguez Vega, 1991, 164, J. Fuchs, 1991, 279 f.

Vom liberalen zum reformistischen Staat

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Lösung der sozialen Konflikte beitragen sollten.317 Seine Entschlossenheit, die programmatischen Aussagen in die politische Realität umzusetzen, demonstrierte Calderón im ersten Jahr seiner Amtszeit u.a. mit der Wiedereinführung des Religionsunterrichts an den Schulen und der (Wieder-)Eröffiiung der Universität. Den Reformen im Bildungssektor folgte im November 1941 die Verabschiedung eines Gesetzes zum Aufbau eines obligatorischen Sozialversicherungssystems, das aus Mitteln der im Dezember desselben Jahres errichteten, aus Beiträgen der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und des Staates finanzierten Caja Costarricense de Seguro Social den Bürgern im Krankheitsfall, in der Schwangerschaft, bei Invalidität, im Alter und bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit Schutz gewährte.318 Weil Calderón der Auffassung war, „daß der Staat angesichts des sozialen Elends nicht mehr nur Garant der äußeren und inneren Ordnung sein könne, sondern zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens zum Eingreifen verpflichtet sei" 31 ', erstellte er ein über die bestenfalls mittelfristig wirksam werdende Sozialversicherung hinausgehendes Konzept, das eine Revision des Steuersystems, ein Programm bezüglich der gerechteren Landverteilung und des Baus von Sozialwohnungen sowie Soforthilfemaßnahmen zur Befriedigung der Gnindbedürfnisse beinhaltete.320 Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren jedoch zur Durchsetzung solch ambitionierter Pläne äußerst ungünstig: Zwar waren die schlimmsten Jahre der Weltwirtschaftskrise vorüber, die auf der Monokulturwirtschaft, der Weltmarktabhängigkeit, der Desorganisation des internen Marktes und dem Fehlen einer angemessenen Wirtschaftspolitik basierenden strukturellen Defizite bestanden aber weiter.321 Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der damit verbundene Verlust der europäischen Absatzmärkte bewirkte ein enormes, die Kriegszeit überdauerndes Handelsdefizit322 , der daraus resultierende Mangel an dringend benötigten Importwaren eine zunehmende Staatsverschuldung und eine steigende Inflationsrate.323 Zur Bewältigung der ökonomischen Probleme ergriff die Regierung verschiedene Maßnahmen. Doch die Verabschiedung des Ley de protección industrial, das durch die Gewährung bestimmter steuerlicher Vergünstigungen die Entstehung neuer Industriezweige stimulieren sollte324 , blieb ohne nennenswerte Konsequenzen, und die Aufhebung des staatlichen Treibstoffmonopols sowie die Unterzeichnung von Verträgen mit US-amerikanischen Firmen (z.B. der West India Oil Company, der Texas Oil Company oder der

317 318 319 320 321

322 323 324

Vgl M Rojas Bolaños, 1989a, 44 Vgl O. Aguilar Bulgarelli, 1983b, 44 f. J Fuchs, 1991,280 Vgl L. A. Bird, 1984, 40 Vgl V. H Acuña Ortega, Conflicto y Reforma en Costa Rica: 1940-1949, San José 1992, 18 f Vgl E. Rodríguez Vega, 1991, 169 f Vgl. J . P . Bell, 1986,41. Vgl M Rojas Bolaños, 1989a, 51

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Electric Bond and Share Company)"' trugen statt zur Sanierung des Staatshaushaltes zur weiteren Verschärfung der kritischen Wirtschaftslage bei. Neben seinen wirtschaftspolitischen Mißerfolgen lastete man Calderón im Vorfeld der Zwischenwahlen zum Kongreß im Februar 1942 von verschiedenen Seiten auch korruptes Verhalten bei der Stellenbesetzung sowie Manipulationen des Wahlverlaufs an326, so daß der Präsident deutlich an Prestige verlor und seine Partei Stimmeneinbußen hinnehmen mußte. Laut dem von vielen „Irregularitäten" geprägten Wahlergebnis erhielt der PRN die absolute Mehrheit im Parlament, 16% der Stimmen entfielen auf den Bloque de Obreros y Campesinos und insgesamt 21% auf die neugegründeten Partido Cortesista und Partido Demócrata3", welche die konservative Politik des Ex-Präsidenten León Cortés vertraten, der sich bald nach den ersten sozialreformerischen Aktivitäten Calderóns von dem PRN distanziert hatte. Dieser Wahlausgang war für die amtierende Regierung ein Zeichen, daß sie ursprünglich eine breite Klassenkoalition unterstützt hatte, die aus der ökonomischen, sozialen und politischen Krisensituation der 30er Jahre resultierte. Sie stellte das Ergebnis der Entwicklung einer gewerkschaftlich und politisch organisierten Arbeiterbewegung und der internen Differenzen, die im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs innerhalb der herrschenden Klasse hinsichtlich ihrer politischen und ökonomischen Orientierung aufgebrochen waren, dar. In ihr wirkten sowohl neutralistische, pro-europäische, anti-amerikanische, pro-faschistische wie auch pro-amerikanische, anti-faschistische und demokratische Strömungen zusammen 32 ', die sich nun zu polarisieren begannen. Calderón Guardia erkannte, daß es aufgrund der Umstände unmöglich war, alle gesellschaftlichen Interessen zu vereinbaren, und daß es notwendig war, eindeutige Prioritäten zu setzen. Für sein weiteres Vorgehen ergab sich folgende Alternative: entweder nach rechts zu schwenken, um das Vertrauen der Mehrheit der Bourgeoisie wiederzugewinnen, oder auf der Rolle des Vermittlers zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und der Arbeiterschaft zu bestehen und die Unterstützung der Massen durch eine konsequente soziale Reformpolitik zu erlangen.329 Eine Entscheidung für den ersten Weg hätte erfordert, sich mit Teilen der Kaffee- und Finanzelite zu verbünden. Diese hatte bereits wegen der im Dezember 1941 als Reaktion auf den japanischen Angriff auf Pearl Harbour erfolgten Kriegserklärung an Japan, Deutschland und Italien sowie der Einfuhrung der Sozialversicherung gegen die Regierung opponiert, da sie die implizierten Eingriffe in ihre wirtschaftlichen Interessen nicht akzeptieren wollte.330 Calderón Guardia, der weder das Bündnis und die Beziehungen mit den USA gefährden, noch 325 326 327 328 329 330

Vgl Vgl Vgl Vgl. Vgl. Vgl

M. Rojas Bolaños, 1989a, 53. V H Acuña Ortega, 1992, 29 M. Rojas Bolaños, 1989a, 46. P Hiedl/R Rausch, 1984, 360 M Rojas Bolaños, 1989a, 73 O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 51

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seine sozialreformerischen Pläne aufgeben wollte, beschloß, den zweiten Weg zu beschreiten, zumal Manuel Mora ihm wegen der Gerüchte über einen von den Finanzkreisen geplanten Staatsstreich seine Unterstützung angeboten und auch Sanabria, inzwischen Erzbischof von San José, sein Einverständnis mit der Sozialpolitik des Präsidenten öffentlich bekundet hatte. Allmählich entstand so eine Allianz zwischen der Regierung und der Kommunistischen Partei, die auf dem gemeinsamen Interesse an der Fortsetzung der sozialen Reformen sowie einer anti-faschistischen Grundhaltung basierte und durch die weltpolitische Situation, in der sich auch die UdSSR und die USA zu einem Zweckbündnis zur Bekämpfung des Faschismus zusammengeschlossen hatten, begünstigt wurde. Im Einvernehmen mit den zu diesem Zeitpunkt noch „inoffiziellen" kommunistischen Verbündeten kündigte Calderón in seiner jährlichen Regierungserklärung am 1. Mai 1942 eine Verfassungsreform an, welche die Aufnahme eines Kapitels über soziale Grundrechte vorsah. Am 12. Mai wurde der Beschluß gefaßt, eine Kommission zur Ausarbeitung eines Arbeitsgesetzbuches zu bilden." 1 Ein unvorhergesehener Vorfall stärkte den Zusammenhalt der beiden Parteien und führte gleichzeitig zum Auftreten neuer politischer Akteure: Am 2. Juli versenkte ein vermutlich deutsches U-Boot einen Bananendampfer im Hafen von Limón, wobei 23 costaricanische Arbeiter starben. Daraufhin organisierten die KP und andere antifaschistische Gruppierungen am 4. Juli eine Demonstration in San José, bei der es zu Ausschreitungen kam, in deren Folge Geschäfte und Häuser von Deutschen, Italienern und falangistischen Spaniern geplündert wurden. Aufgrund der Tatsache, daß Calderón und Mora als Sprecher bei Kundgebungen aufgetreten waren und daß die Polizei erst sehr spät einschritt, machte vor allem das „cortesistische" Lager, aber auch das Centro para el Estudio de los Problemas Nacionales (C.E.P.N.)" 2 die Regierung für die Vorkommnisse verantwortlich. 1 " In diesem Kontext erregte erstmalig der bis dahin weitgehend unbekannte empresario agrícola namens José Figueres Ferrer Aufmerksamkeit, als er in einer Rundfunkrede am 8. Juli die Regierung wegen der Ereignisse des 4. Juli, ihrer Vgl M Rojas Bolanos, 1989a, 74 f. Das Centro para el Estudio de los Problemas Nationales, das künftig eine große Rolle für die politische Entwicklung Costa Ricas spielte, wurde im April 1940 als eine Art „akademischer Arbeitskreis" gegründet und setzte sich hauptsächlich aus Studenten und Lehrenden der gehobenen Mittelschicht zusammen, deren intellektuelle Führer Roberto Brenes Mesen, Carlos Monge Alfaro, Isaac Felipe Azofeifa und Rodrigo Facio waren. In ihrem Publikationsorgan SURC.O plädierten sie fiir die Gründung einer permanenten ideologischen Partei, staatlichen Interventionismus sowie eine auf wirtschaftlicher Diversifikation beruhende Entwicklungsstrategie und wiesen sich als moderate Nationalisten, aber klare Antikommunisten aus. Sie kritisierten die Kaffeeoligarchie und die liberale Politik der Generation der „Olympier" und forderten soziale Gerechtigkeit, die sie jedoch einer effizienten Wirtschaftspolitik unterordneten; vgl. V. H. Acuna Ortega, 1992, 30 3 " Vgl G. Contreras/J. M. Cerdas, 1988, 89 f.

"2

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Wirtschafts- und Finanzpolitik und ihrer Verbindung mit der Kommunistischen Partei heftig kritisierte. Die Sendung wurde durch „staatliche Autoritäten" unterbrochen, Figueres festgenommen und wegen „Verbreitung militärischer Geheimnisse" nach Mexiko ins Exil geschickt. Damit zeigte die Regierung eine Reaktion, die dazu geeignet war, die oppositionellen Gruppierungen weiter herauszufordern." 4 Trotz erheblicher Widerstände stimmte das Parlament im Juli 1943 der bereits im Voijahr angekündigten Verfassungsänderung zu. Durch die Modifikation des Art. 29 erhielt der Kongreß die Möglichkeit, mit einer Zweidrittelmehrheit das absolute Recht auf Privateigentum im Interesse des Allgemeinwohls zu beschränken.335 Der 15 Artikel umfassende Abschnitt bezüglich der Garantías Sociales enthielt sowohl allgemeine Richtlinien für vom Staat zu erfüllende Aufgaben wie der Schutz der Familie, die Anerkennung der Arbeit als soziale Pflicht und die Förderung von Kooperativen, als auch konkrete Garantien wie den Anspruch auf Mindestlohn, Achtstundentag, bezahlten Urlaub, die Versammlungsfreiheit und das Streikrecht, die Sozialversicherung und den Aufbau einer Arbeitsgerichtsbarkeit." 6 Als Ergänzung zur erweiterten Verfassung verabschiedete der Kongreß am 23. August das in 628 Abschnitte unterteilte Código de Trabajo, das „neben einer Sammlung bisher verstreut vorzufindender Rechtsnormen vor allem die Umsetzung und Konkretisierung der der Verfassungsänderung zugrunde liegenden Konzeption eines modernen Sozial- und Rechtsstaates" enthielt und die Gründung eines Arbeitsministeriums anordnete, „welchem die Aufgabe zugedacht war, die Realität entsprechend dem Geist der Programmsätze umzugestalten."337 Die Gewerkschaftsvertreter nahmen den neuen Arbeitskodex mit Enthusiasmus auf und feierten den 15.9.1943, den Tag seiner Verkündigung, als Dia de la Segunda Independencia Nacional, anläßlich dessen sie eine große Parade veranstalteten, die vom Präsidenten der Republik Calderón, dem Führer der KP Mora und der höchsten Autorität der Katholischen Kirche Monseñor Sanabria angeführt wurde.33' Mit dieser Demonstration bekannten sich die Verantwortlichen öffentlich zu ihrer seit 1942 „inoffiziell" bestehenden Allianz, die sie eine Woche später auch formell bestätigten: Die Kommunistische Partei, die sich bereits im Juni aus wahltaktischen Gründen in Partido Vanguardia Popular (PVP) umbenannt und die Erklärung des Erzbischofs erwirkt hatte, daß Katholiken „ohne Belastung ihres Gewissens die neue Vereinigung unterstützen oder ihr beitreten können", ging

334 335 336 337 338

Vgl V H. Acuna Ortega, 1992, 34. Vgl. J. P. Bell, 1986, 44 f. Vgl E. Rodriguez Vega, 1991, 172 J Fuchs, 1991, 287 Vgl. J Backer, 1978, 101 f„ O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 73 f

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mit dem PRN ein Wahlbündnis ein, um als Bloque de la Victoria mit ihrem Kandidaten Teodore Picado Michalski zur Präsidentschaftswahl 1944 anzutreten." 9 Einigkeit erzielten die beiden Parteien außer in der Frage der Nominierung des Kandidaten auch darüber, daß das Wahlprogramm der Koalition weitgehend mit dem programa mínimo des PVP identisch sein sollte, das in seinen erziehungs- und sozialpolitischen Aussagen im wesentlichen mit dem Parteiprogramm des früheren Partido Comunista übereinstimmte und eine Fortsetzung der Reformpolitik Calderóns befürwortete, die Diversifikation der landwirtschaftlichen Produktion und die Förderung des industriellen Sektors vorsah, sowie revolutionäre Grundsatzaussagen unterließ.340 Zudem verzichtete der PVP auf künftig neu zu besetzende Regierungsämter; er bestätigte seine Achtung gegenüber der katholischen Religion, der Familie und dem Eigentum, wofür der PRN sich im Gegenzug verpflichtete, a) die demokratischen Institutionen zu konsolidieren und auszubauen sowie sich zu bemühen, eine wirtschaftliche Basis zu schaffen, die Reichen wie Armen ausnahmslos Wohlergehen und Freiheit garantiert, b) die in der Verfassung nunmehr verankerten sozialen Grundrechte und das Arbeitsgesetzbuch zu respektieren und anzuwenden, c) den Lebensstandard des Volkes zu erhöhen und ihm die kulturellen Bereiche zugänglich zu machen und d) der Arbeiter* und Bauernbewegung effektive Unterstützung zu gewähren.341 Dem Bloque de la Victoria stand für die bevorstehende Wahl eine ideologisch und politisch gespaltene Opposition gegenüber, die sich erst im letzten Moment darauf verständigte, den Vertreter des Partido Demócrata León Cortés als Gegenkandidaten zu nominieren. Es folgte eine der violentesten Wahlkampagnen der Geschichte Costa Ricas, in der beide Seiten alle ihnen zur Verfugung stehenden Mittel zu Wahlmanipulationen nutzten. Der Bloque de la Victoria baute in seinem Wahlkampf hauptsächlich auf die Denunziation von León Cortés und seiner Anhänger als Faschisten und auf die Verteidigung der Sozialgesetzgebung der amtierenden Regierung, während sich die Gegenseite, in Ermangelung eines alternativen Programmes, auf die Kritik des staatlichen Interventionismus, der wirtschaftspolitischen Fehlleistungen und der ineffizienten Verwaltung konzentrierte und sich bemühte, die Wählerschaft von ihrer anti-faschistischen Haltung zu überzeugen.342 Die Wahl am 13.2.1944, der erbitterte, teils blutige Kämpfe und definitive Einschränkungen der Freiheitsrechte vorausgingen -aufgrund derer Otilio Ulate Blanco, der Herausgeber der oppositionsfreundlichen Zeitungen Diario de Costa Rica und La Hora beschloß, deren Publikation vorübergehend einzustellen- gewann schließlich Teodoro Picado nach offiziellen Angaben mit 82.173 Stimmen, was etwa einen 2/3 Anteil gegenüber León Cortés ausmachte, der 44.435 Stim339 340

341 342

Vgl M. Rojas Bolaños, 1989a, 84 f. Der Inhalt des programa mínimo des PVP ist ausführlich beschrieben in G. Contreras/J. M Cerdas, 1988, 102 Vgl M. Rojas Bolaños, 1989a, 85 f. Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 135 ff

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men erhielt.343 Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Wahlergebnisse stellte die Opposition im Kongreß den Antrag, die Wahl wegen massiver Fälschungen zu annullieren und Neuwahlen auszuschreiben, der jedoch, obwohl Manuel Mora persönlich gewisse Unkorrektheiten eingestand, aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Parlament erwartungsgemäß abgelehnt wurde344 , so daß Teodoro Picado am 8. Mai sein Amt ohne allseitig anerkannte Legitimität antrat. Die Regierung Picado befand sich von Anfang an in einer äußerst schwierigen, instabilen und komplexen Situation, denn sie sah sich mit Erwartungen und Forderungen aus allen Teilen der Gesellschaft konfrontiert, die nicht mehr wie einst bei Calderón Guardia vorwiegend von grundsätzlichen Anhängern, sondern auch von sich zunehmend strukturierenden oppositionellen Gruppierungen formuliert wurden. Picado, der sich in seiner Regierungserklärung weitgehend an die Vorgaben des Wahlprogramms hielt, legte den Schwerpunkt seiner Politik auf die Einfuhrung von Reformen zur Förderung der Kleinbauern und landwirtschaftlicher und industrieller Kooperativen sowie auf die Einrichtung von Kontrollinstanzen zur Reduzierung der Staatsausgaben, zur Eindämmung der Korruption und der Effektivierung des öffentlichen Dienstes.'45 Diese Maßnahmen, die sowohl auf mehr soziale Gerechtigkeit als auch auf die Sanierung des noch immer in hohem Maße defizitären Staatshaushaltes abzielten, wurden im Dezember 1946 ergänzt durch die Verabschiedung einer Steuerreform, die neben einer geringen Erhöhung der Grundsteuer für Großgrundbesitzer die Einfuhrung einer Einkommenssteuer beinhaltete.340 Auch wenn diese politischen Entscheidungen in jeweils verschiedenen, vor allem oligarchischen Bevölkerungsgruppen auf vehemente Ablehnung stießen und die bestehenden Spannungen verschärften, so waren sie letztlich dennoch nicht ausschlaggebend für die zunehmende parteiliche Organisationstätigkeit der Opposition, da diese sich bereits kurz nach den Wahlen 1944 in Blöcke aufteilte, die unterschiedliche Klasseninteressen vertraten. Die Angehörigen der Kaffee- und Finanzbourgeoisie und ein Teil der im Importgeschäft maßgeblichen Kaufleute, die am Erhalt des Status quo interessiert waren, da sie ihre Privilegien durch die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung und den wachsenden Einfluß der Kommunisten bedroht sahen, gruppierten sich um den Partido Demócrata (PD) des Ex-Präsidenten León Cortés, während sich um Otilio Ulate eine moderatere Gruppe vornehmlich mittlerer Unternehmer und profesionales bildete, die den Partido Unión Nacional (PUN) gründeten. Auf dem von diesen beiden Parteien aus gesehen linken Spektrum entstand im März 1945 durch die Fusion des inzwischen aus seiner Rolle eines reinen „akademischen Arbeitskreises" herausgewachsenen Centro para el Estudio de Problemas Nacionales (C.E.P.N.) und des als Splitterpartei aus dem alten Partido Demócrata (PD) hervorgegangenen Par343 344 345 346

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl

O. Aguilar Bulgarelli, 1983b, 139 ff. M. Rojas Bolaños, 1989a, 86. O. Aguilar Bulgarelli, 1983b, 151 ff V. H. Acuña Ortega, 1992, 49.

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tido Acción Demócrata (AD), der Partido Social Demócrata?" Beide in der neuen Partei vertretenen Gruppierungen waren sich über die Notwendigkeit, die sozialdemokratischen Kräfte des Landes in einer permanenten ideologischen, programmatischen statt personalistischen Partei zu vereinen, einig, ebenso in ihrer Kritik an den Wahlmanipulationen, der Korruption und der Wirtschaftspolitik der calderonistas sowie in ihrer strikt antikommunistischen Grundhaltung.348 Bei der gemeinsamen Suche nach dem „dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus gab es hauptsächlich Differenzen bezüglich der ökonomischen Aufgaben des Staates: Während das C.E.P.N. diesem auch unternehmerische Funktionen zubilligen wollte, versuchte die AD, ihn auf interventionistische Maßnahmen zur globalen Wirtschaftssteuerung zu beschränken.349 Auf der Gründungsversammlung der Sozialdemokratischen Partei verkündete der seit Mai 1944 aus seinem Asyl in Mexiko zurückgekehrte Mitbegründer der Acción Demócrata José Figueres Ferrer, daß die Primera República im Februar 1944 gestorben sei und daß seine Partei beabsichtige, eine Segunda República zu errichten. In einem zwölf Postúlate umfassenden Grundsatzprogramm definierten das auf ideologisch-theoretischer Ebene dominante Centro und die eher politischpragmatische Acción Demócrata ihre gemeinsamen Ziele:3'0 • Fortschritt der Republik innerhalb des konstitutionellen Rahmens bei strenger Ablehnung von Gewalt und absoluter Respektierung der politisch-liberalen Tradition; • eine auf freien Wahlen basierende Regierung; • Tolerierung der verschiedenen religiösen, philosophischen und politischen Überzeugungen im Lande; • Ausweitung der Bildung durch ein den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten angepaßtes Erziehungswesen; • Vergrößerung des nationalen Reichtums durch den Schutz und die Förderung des Kleingrundbesitzes; • Schutz der nationalen Wirtschaft durch angemessene Protektion gegenüber dem ausländischen Kapital; • kompetente und redliche Verwaltung durch die Reorganisation der öffentlichen Finanzen, Errichtung eines Dienstleistungssystems und Autonomie der Verwaltungseinheiten; • Schutz der Gesundheit des Volkes durch koordinierte Sozialpläne; • Schutz der Landbevölkerung durch die Organisation landwirtschaftlicher Kooperativen und „autonomer Institutionen" zur technischen Unterstützung; 347 348

349

350

Vgl M Rojas Bolaños, 1989a, 93 f Vgl D Oduber, Raíces del Partido Liberación Nacional - Notas para una evaluación histórica, San José 1985, 233 ff Vgl K. Tippmann, Die PLN (Partido Liberación Nacional), in: A. Maislinger (Hrsg), 1986,211-215, hier: 212 Vgl. M Rojas Bolaños, 1989a, 103 f

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3. Etappen der Entwicklung bis zur ..Revolution" (1948)

• Schutz der Lohnabhängigen durch gewerkschaftliche Organisation und die Verteidigung ihrer sozioökonomischen Interessen; • Schutz der Verbraucher durch genossenschaftliche Organisation und Steigerung des effektiven Volkseinkommens; • Aufrechterhaltung der Beziehungen zu allen demokratisch regierten Staaten und Unterstützung aller antitotalitären Bewegungen. Diese relativ abstrakt gehaltenen Postúlate konkretisierten sich in den Forderungen nach einer Verfassungsänderung, die auf die Reduzierung der Macht der Exekutive und vor allem der Kompetenzen des Präsidenten abzielte, der Schaffung eines autonomen, für die Durchfuhrung von Wahlen zuständigen Organs mit der Funktion einer Art „Vierten Gewalt", einem vierjährigen Rotationssystem für Kongreßabgeordnete und Präsidenten, der Stärkung der „Dritten Gewalt" durch die Unabsetzbarkeit der Repräsentanten und die Kompetenzerweiterung des Obersten Gerichtshofes um verfassungsgerichtliche Funktionen, der Einfuhrung des Frauenwahlrechts, einer grundlegenden Umgestaltung des Verwaltungsapparates mittels einer eigens dafür zu erarbeitenden Gesetzgebung, einer Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, einer effizienteren Finanzpolitik einschließlich einer Reform des Besteuerungswesens, einer Reform des Agrarsektors, die sowohl dessen Produktivität steigern als auch den unmittelbaren Produzenten eine erhöhte Partizipation an den Erträgen ihrer Arbeit ermöglichen sollte sowie nach der Nationalisierung bzw. der staatlichen Steuerung der öffentlichen Versorgungseinrichtungen und der wirtschaftlichen Schlüsselsektoren.331 Insgesamt ist Karola Tippmanns Einschätzung zuzustimmen, daß die Sozialdemokratische Partei „den Staat als Stimulator privatwirtschaftlicher Aktivitäten" sah, „der die Diversifizierung der Produktion und die volle Entfaltung der Produktivkräfte forcieren" und den „unerwünschten kapitalistischen Begleiterscheinungen [...] durch Sozialreformen und begrenzte Umverteilungen""2 entgegenwirken sollte. Ergänzend wäre auf die Funktion des Staates als Garant der liberalen politischen Rechte hinzuweisen. Die weitere Entwicklung des PSD kennzeichnet Tippmann folgendermaßen: „ - Zu den Wahlen von 1946 suchten die sozialdemokratischen Kräfte eine breite politische Plattform, die sie sich durch die Gründung der PSD schufen - Im Bürgerkrieg von 1948 bildete die PSD das sich festigende ideologische Fun dament für die Schaffung einer sozialdemokratischen Wahlerbasis - Nach dem Bürgerkrieg war sie Machtzentrum der Junta Fundadora de la Segunda República und tragende Kraft bezüglich der politischen Durchsetzung des sozialdemokratischen Entwicklungswegs " 3!3

351 352 353

Vgl J Fuchs, 1991, 293 f. K Tippmann, 1986, 212 f. K Tippmann, 1986, 212

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Für die Zwischenwahlen am 10. Februar 1946 schlössen sich die drei genannten Hauptströmungen der Opposition -PD, PUN, PSD- trotz essentieller Differenzen zu einem Zweckbündnis zusammen, um gegen das aus PVP und PRN bestehende Regierungsbündnis zu kandidieren. Hauptthemen des Wahlkampfes der Opposition waren wie schon 1944 der Vorwurf der Korruption im Regierungsapparat, das Fehlen adäquater Wahlgarantien und der Einfluß der Kommunisten. Die Regierungskoalition berief sich dagegen auf ihre sozialen Reformen und ihre antifaschistische Grundhaltung und war bemüht, die gegnerischen Anschuldigungen zu entkräften. Aus der Wahl, die wiederum in ihrer Korrektheit angezweifelt wurde, gingen die Regierungsparteien mit 55.817 Stimmen (ca. 55%) gegenüber 42.187 Stimmen (ca. 42%) der Opposition zwar als Sieger hervor, der Popularitätsverlust der amtierenden Koalition war jedoch offensichtlich.154 Mehr Bedeutung als dem Wahlergebnis selbst mißt Oscar Aguilar Bulgareiii allerdings der durch massive Agitationen geprägten Wahlkampagne bei. Teile der Opposition gingen auf öffentlichen Kundgebungen und in der zu jener Zeit am weitesten verbreiteten Tageszeitung Diario de Costa Rica sogar so weit, für den Fall zukünftiger Wahlmanipulationen einen Bürgerkrieg anzukündigen, was ein aufgeheiztes politisches Klima begünstigte, das in den zwei Jahre später eintretenden Ereignissen seinen Kulminationspunkt erreichte. 3 " Um die oppositionellen Forderungen nach „sauberen" Wahlen zu erfüllen und zugleich ein eigenes Wahlversprechen einzulösen, erarbeitete die Regierung ein neues Wahlgesetz, das am 18. Januar 1946 vom Kongreß verabschiedet wurde. Das Codigo Electoral, das bei den Wahlen 1946 noch nicht zur Anwendung kam, enthielt neben der Festschreibung des obligatorischen, persönlichen, direkten, universalen, gleichen und geheimen Wahlrechts als Kemelement die Errichtung des Tribunal National Electoral, eines aus jeweils einem Mitglied der drei Gewalten zusammengesetzten obersten Wahlkontrollorgans, dessen Kompetenzbereiche u.a. die Organisation und Überwachung der Wahlen sowie die Bekanntgabe der Wahlergebnisse umfaßte. Ein Registro Electoral und der Einsatz von Juntas Electorales sollten einen korrekten Wahlverlauf auch auf den Ebenen der Provinzen, der Kantone und der Distrikte garantieren."6 Diese Maßnahmen bewirkten jedoch weder die erhoffte Beruhigung der allgemeinen politischen Lage, noch reichten sie aus, potentielle Wahlmanipulationen zu unterbinden.

554 555 556

Vgl M. Rojas Bolanos, 1989a, 117 f. Vgl O. Aguilar Bulgarelli, 1983b, 172/180 f. Vgl O Aguilar Bulgareiii, 1983b, 170

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3 Etappen der Entw icklung bis zur ..Revolution" (1948)

3.5

Der Weg in den Bürgerkrieg und das Ende der „Ersten Republik"

Bereits kurz nach den Zwischenwahlen begannen die Auseinandersetzungen innerhalb der Opposition um die zukünftigen Strategien: León Cortés und Otilio Ulate entschieden sich, den „Verhandlungsweg" einzuschlagen, während José Figueres und die Mehrheit des PSD eine „Revolution" projektierten. Zunächst bemühte sich Cortés um die Bildung einer „großen Koalition", indem er Picado politische und finanzielle Unterstützung anbot, wenn dieser im Gegenzug die Verbindung mit der Kommunistischen Partei löste. Die Verhandlungen wurden durch den plötzlichen Tod von Cortés im März 1946 unterbrochen und im August desselben Jahres jeweils unabhängig voneinander wieder aufgenommen durch Ulate und Fernando Castro Cervantes, den Präsidenten des Exekutivkomitees des PD, die aber keine Einigung erzielen konnten. 3 " Dennoch kam in dieser Verständigungsabsicht das gemeinsame Interesse zum Ausdruck, sowohl die Präsenz der Kommunisten in der Regierung zu beenden, als auch das Erstarken der sich seit Beginn der 40er Jahre entwickelnden sozialdemokratischen Kräfte zu verhindern"« Nach den gescheiterten „Annäherungsversuchen" an den PRN entbrannten oppositionsinteme Auseinandersetzungen um den gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten, bei denen neben einigen aussichtslosen Aspiranten Fernando Castro Cervantes, Otilio Ulate Blanco und José Figueres Ferrer zur Disposition standen. Als sich auf einer Generalversammlung am 13.2.1947 die Mehrheit der ca. 2.000 Teilnehmer nach mehreren Wahlgängen für Otilio Ulate entschieden hatte, setzte sofort eine einjährige Phase des erbitterten Wahlkampfes ein, in der es vorrangig darum ging, den Bloque de la Victoria und seinen Präsidentschaftskandidaten Calderón Guardia zu besiegen." 9 Da der PVP und der PSD immer noch die einzigen Parteien waren, die über ein politisches Programm verfugten, hatten beide Gruppierungen rein inhaltlich wenig Neues zu bieten: Der Bloque berief sich auf seine sozialpolitischen institutionellen Errungenschaften und versprach, im Falle eines Wahlsieges diese zu verbessern; die Opposition widmete sich neben der Kritik des Régimen de los ocho años, das sie für unheilvoll und gefahrlich für die weitere Entwicklung des Landes hielt, dem Kampf gegen den Kommunismus und für freie Wahlen.'60 Das Novum dieser Wahlkampagne lag vielmehr in der Qualität der eingesetzten Methoden, die hinsichtlich ihres Agitations- und Aggressionspotentials die des Jahres 1946 deutlich überboten. Einen vorläufigen Kulminationspunkt erreichten die Aktionen, als anläßlich eines gewaltsamen Aufeinandertreffens von 557

"' "' 360

Vgl. Vgl. Vgl. José Vgl.

V H. Acuña Ortega, 1992, 53. M. Rojas Bolaños, 1989a, 118 O. Aguilar Bulgarelli, La Constitución de 1949: antecedentes y proyecciones, San 1986 (8 ed.), 37 f O. Aguilar Bulgarelli, 1983b, 244 ff

Der Weg in den Bürgerkrieg

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Oppositions- und Regierungsanhängern in Cartago Otilio Ulate und der von ihm zu einer Art „Wahlkampfleiter" ernannte José Figueres landesweit zu der sogenannten Huelga de Brazos Caídos aufriefen, die am 23. Juli 1947 begann. Dieser, auch als Huelga Empresarial bezeichnete „Streik"361, zielte darauf ab, durch Aussperrungen sowie die Schließung von Geschäften und Banken das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben lahmzulegen, um dadurch die Regierung zu zwingen, Wahlgarantien zuzustimmen, die über das Codigo Electoral hinausgingen.'62 Der auf diese Weise erzeugte Druck wurde verstärkt durch eine Demonstration am 2. August, bei der mehrere tausend Frauen zum Amtssitz des Präsidenten zogen, um für die Erfüllung der Forderungen der Opposition und die Beendigung des „Streiks" einzutreten. Nachdem sich juristische Sanktionen und polizeilich unterstützte Repressionsmaßnahmen sowie das vermittelnde Eingreifen des Erzbischofs Sanabria als ungenügend erwiesen hatten, beschloß die Regierung Picado, weitgehend auf die oppositionellen Forderungen einzugehen.363 Am 3. Oktober wurde die Huelga de Brazos Caídos -hinter der einige Historiker auch die Intention der Initiatoren vermuten, die Regierung weiter zu destabilisieren und deren Sturz noch vor den Wahlen 1948 herbeizufuhren364 - durch ein neun Punkte umfassendes Abkommen beendet, in dem sich alle Parteien verpflichteten, die Entscheidung des mehrheitlich mit Mitgliedern der Opposition besetzten Tribunal Nacional Electoral (TNE) über den Wahlausgang bedingungslos anzuerkennen. Damit war die Opposition an der Kontrolle des Wahlvorgangs wesentlich beteiligt.'" In den folgenden Monaten mobilisierten und polarisierten alle Parteien ihre Anhänger und förderten ein politisches Bandenwesen, das sich in gewaltsamen Konfrontationen und Anschlägen, in Unruhe und Haß von bislang unbekanntem Ausmaß niederschlug.366 Der Wahltag selbst verlief jedoch relativ ruhig; erstmalig hatte das TNE die Organisation der Wahl übernommen, und gegen Mitternacht stand fest, daß sich Otilio Ulate mit einem Vorsprung von etwa 10.000 Stimmen gegenüber Calderón Guardia durchgesetzt hatte, während bei den Abgeordnetenwahlen zum Kongreß die Regierungskoalition die Mehrheit erlangte.367 Mit diesem Ergebnis wollten sich die calderonistas nicht abfinden, zumal am Tag nach den Wahlen ein Teil der Wahldokumentation, die noch vom TNE hätte überprüft werden müssen, durch einen Brand zweifelhafter Ursache zerstört wurde.'68 Entgegen den Vereinbarungen, die im Anschluß an die Huelga de Brazos 361 362 363 364 365

366 367

368

Vgl G Contreras/J M Cerdas, 1988, 135 Vgl V. Acuña Ortega, 1992, 56 Vgl O. Aguilar Bulgareiii, 1983b, 221 f. Vgl M Rojas Bolaños, 1989a, 126 Vgl G Contreras/J. M. Cerdas, 1988, 138; das Abkommen ist vollständig wiedergegeben in O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 227 ff Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 247 f. Vgl. E. Rodríguez Vega, 1991, 175; nach den veröffentlichten Zahlen erhielt Ulate 54.931 Stimmen, Calderón 44.438, vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1986, 40. Vgl M. Rojas Bolaños, 1989a, 127.

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3 Etappen der Entw icklung bis zur ..Revolution" (1948)

Caídos getroffen worden waren, entschieden sie sich, das Ergebnis anzufechten und Neuwahlen zu verlangen, woraufhin Monseñor Sanabria eine Junta de Notables einberief, die um des nationalen Friedens willen darum bat, den Wahlausgang zu akzeptieren, da, selbst wenn (beidseitiger) Wahlbetrug bestanden habe, sein Ausmaß nicht erkennbar sei und das Endresultat sich in Anbetracht der deutlichen Stimmendifferenz auch bei einer Wahlwiederholung nicht ändern würde.369 Doch weder diese Empfehlung noch das Angebot Ulates, die Abgeordnetenwahl anzuerkennen, eine Beteiligung an den Wahlkampfkosten zu gewähren und den Fortbestand der Sozialgesetzgebung zu garantieren, vermochten Calderón davon abzuhalten, die Annullierung der Wahl vor dem TNE zu beantragen.370 Erwartungsgemäß gab das TNE in einer vorläufigen Erklärung am 28. Februar Ulate als Sieger bekannt, wobei es sich hauptsächlich auf die telegrafisch übermittelten Auszählungsergebnisse der verschiedenen Wahlkreise berief und auf die Unmöglichkeit verwies, alle Wahlscheine einzeln zu überprüfen.371 Erst als Calderón seinen Antrag vor dem von dem PRN und PVP dominierten Kongreß wiederholte, erreichte er sein Ziel: mit 27 zu 19 Stimmen wurde am 1. März die Präsidentschaftswahl für ungültig erklärt, dem Ergebnis der Abgeordnetenwahl jedoch Gültigkeit zugesprochen.372 Diese Entscheidung wurde zum auslösenden Faktor für den Beginn der cruzada democrática*1*, die von Figueres schon seit 1942 während seines unfreiwilligen Aufenthaltes in Mexiko zusammen mit anderen Exilanten geplant worden war und am 16. Dezember 1947 durch die Unterzeichnung des Pacto del Caribe beschlossen wurde. Erklärte Zielsetzung des Paktes war die Bekämpfung der diktatorischen Regime der Region, insbesondere der Dominikanischen Republik und Nicaraguas, und die Herstellung von Freiheit und Demokratie auch in Costa Rica, wozu sich die an dem Abkommen Beteiligten verpflichteten, sich gegenseitige Unterstützung zu gewähren.374 Angesichts der politischen Lage, der Schwäche des Militärs und der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Regierung bot Costa Rica die idealen Voraussetzungen, um die „Mission" zu beginnen.375 Am 10. März 1948 wurde auf Figueres' Finca namens La Lucha Sin Fin das Vorgehen im bewaffneten Kampf um die Macht im Staate besprochen und zwei Tage später die sogenannte Guerra de Liberación Nacional an zwei Fronten eröffnet. Da die Calderonisten die von Figueres ausgehende Bedrohung unterschätzt hatten und auch nicht über das Ausmaß seiner internationalen Aktivitäten und Beziehungen informiert waren, standen sie 369 370 371 372 373

374 375

Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 255 f. Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 258 f Vgl. J P. Bell, 1986, 173 Vgl. V. H. Acuña Ortega, 1992, 66. Vgl. J. Schifter Sikora, La democracia en Costa Rica como producto de la neutralización de clases, in: Ch Zelaya/O Aguilar Bulgarelli/D Camacho/Rodolfo Cerdas/J. Schifter, Democracia en Costa Rica?, San José 1983 (2. ed.), 185-258, hier: 217. Vgl. M Rojas Bolaños, 1989a, 135. Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1986, 44

Der Weg in den Bürgerkrieg

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den Angriffen relativ unvorbereitet gegenüber.376 Bald konnten die Aufständischen das der Finca nahegelegene Dorf San Isidro de El General, dessen Landebahn und drei Zivilflugzeuge einnehmen, was ihnen sowohl den Zugang zu Waffen als auch zu personeller Verstärkung aus Guatemala sicherte." 7 Zur Unterstützung der zu diesem Zeitpunkt etwa 300 Mann starken Regierungstruppe378 organisierte der PVP schon in der ersten Woche ein Freiwilligenbataillon unter den Bananenarbeitern, das zwar schlecht ausgerüstet war, aber frühzeitig in die Kämpfe eingriff. Doch trotz prinzipieller Überlegenheit gelang es zunächst weder der Regierung, die Kontrolle über das ganze Land wiederzugewinnen, noch vermochte Figueres, seinen Aktionsradius entscheidend zu erweitern.379 Am 10. April änderte die von Tag zu Tag anwachsende „Armee der Nationalen Befreiung" jedoch ihre Taktik und begann am 11. April eine Offensive. Es gelang ihr, die Hafenstadt Limón und am 12. April Cartago zu besetzen, wodurch sie von ihrem Hauptziel San José, das inzwischen von ca. 1.500 Mann des „Freiwilligenheers" des PVP verteidigt wurde, nur noch wenige Meilen entfernt war.380 Der noch amtierende Präsident Picado hatte die USA mehrfach um militärischen Beistand ersucht, den sie aber wegen dessen Allianz mit den Kommunisten verweigerten. Auch die vom Erzfeind Figueres' Somoza anfanglich angebotene „Hilfe" wußten sie wirksam zu unterbinden, wobei sie gleichzeitig die offensichtliche Unterstützung, die Figueres von Präsident Juan José Arévalo aus Guatemala erhielt, ignorierten.381 Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Situation schaltete Picado das Diplomatische Corps ein, das eine aus den Botschaftern des Vatikans, Mexikos, den USA, Panamas und Chiles bestehende Kommission bildete, deren Verhandlungen am 14. April begannen, aber erst zu einem Erfolg führten, nachdem sich die Lage am 17. desselben Monats durch drei Geschehnisse weiter zugespitzt hatte. Dabei handelte es sich erstens um die Androhung Figueres', die Hauptstadt zu stürmen, falls die Kommunisten weiterhin Widerstand leisteten; zweitens besetzten nicaraguanische Truppen Villa Quesada im Norden Costa Ricas, was sowohl Somozas Entschlossenheit signalisierte, eine Invasion der Legión de Caribe nach Nicaragua zu verhindern, als auch seine Bereitschaft, im Bedarfsfall gegen die Armeen der Liberación Nacional und der Vanguardia Popular vorzugehen; drittens erhielt Picado die Information, daß in der Kanalzone eine nordamerikanische Kriegsflotte bereitstünde, um die Feindseligkeiten zu beenden, wenn die Kommunisten die Kontrolle über San José behielten.382 376 377 378 379 380 381

382

Vgl J P Bell, 1986, 187. Vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1986, 45 Vgl. J L. Vega Carballo, 1986, 345 f. Vgl. J Fuchs, 1991, 301 f Vgl L. Bird, 1984, 73. Vgl M J Blachman/R. G Hellman, Costa Rica, in: M J Blachman/W. M. LeoGrande/K E Sharpe, Confronting Revolution - Security through Diplomacy in Central America, New York 1986, 156-182, hier: 159 Vgl J. P. Bell, 1986, 199 f.

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3. Etappen der Entwicklung bis zur ..Revolution" (1948)

In Anbetracht dieser Bedrohungen stimmte nun auch Mora -Präsident Picado hatte schon einige Tage zuvor seine prinzipielle Bereitschaft signalisiert- einer Kapitulation zu, nachdem Figueres seinen Vorschlag, ein Bündnis zur gemeinsamen Bekämpfung der nicaraguanischen Guardia Nacional einzugehen, abgelehnt, dessen Verhandlungsbeauftragter Pater Benjamín Núñez ihm aber u.a. schriftlich zugesichert hatte, daß die Sozialgesetzgebung und das Arbeitsgesetzbuch verbessert, das Streikrecht und die Vereinigungsfreiheit garantiert, die Weiterexistenz aller Gewerkschaften und des PVP selbst sowie eine angemessene Entschädigung aller Angehörigen von Bürgerkriegsopfern und die Rückkehr aller am Bürgerkrieg Beteiligten an ihre Arbeitsplätze ohne politische Diskriminierung sichergestellt würden.183 Am 19. April 1948 einigten sich die Bürgerkriegsparteien in der mexikanischen Botschaft in Anwesenheit der Kommission des Diplomatischen Corps auf den Beschluß des sogenannten Pacto de la Embajada de México, in dem sie sich zur Anerkennung folgender Punkte verpflichteten: 1. Der Präsident der Republik ernennt Miguel Brenes Gutiérrez zum „Kriegsminister" und überträgt die Regierungsgewalt an seinen dritten Stellvertreter Santos León Herrera. 2. Der Minister für öffentliche Sicherheit ergreift geeignete Maßnahmen zur ordnungsgemäßen Entlassung der Regierungskräfte. 3. Den im Bürgerkrieg maßgeblichen Militärs und zivilen Beamten wird um ihrer eigenen Sicherheit willen das Verlassen des Landes ermöglicht, ohne daß sie als expatriiert gelten. 4. Die Streitkräfte der Regierung und das Ejercito de Liberación Nacional verzichten einvernehmlich auf weitere militärische Aktionen, so daß letztere ihre neuen Positionen einnehmen können. 5. Das Leben und Eigentum aller direkt oder indireket am Konflikt Beteiligten wird garantiert, ebenso die unterschiedslose Entschädigung aller Kriegsopfer, das Verbot von Repressalien und der Erlaß einer Generalamnestie. 6. Bezüglich des sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehens der arbeitenden Klassen gelten die dem Vorsitzenden des PVP Mora gegebenen Zusicherungen. 7. Die neue Regierung unter der Präsidentschaft Santos León Herreras hat die Aufgabe, die nationale Souveränität wiederherzustellen und zu garantieren und erklärt ihre Absicht zur Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und der Solidaridad Americana '" Mit diesem von Teodoro Picado und Benjamín Núñez unterzeichneten Vertrag wurde der Bürgerkrieg, der etwa 2.000 Menschenleben gekostet hatte, beendet

5,4

Vgl J. Fuchs, 1991, 305; der vollständige Text des persönlichen Briefes an Mora ist abgedruckt bei O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 377 ff Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 387 ff

Der Weg in den Bürgerkrieg

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und der Weg geebnet für den kampflosen Einzug des Ejército de Liberación Nacional in San José am 24. April.'85 Zunächst zeigte sich Figueres allerdings „auf dem Höhepunkt seines Triumphes nur wenig geneigt, die einmal mit Waffengewalt errungene Macht wieder aus den Händen zu geben und dies obwohl er doch offiziell angetreten war, dem vom TNE zum Sieger der Präsidentschaftswahl erklärten Ulate zu dessen Recht zu verhelfen."386 Vor dem Hintergrund, daß er in der Verpflichtung des Pacto del Caribe stand und außerdem fundamentale interne Veränderungen plante, zu deren Realisierung er die politische Macht benötigte, erscheint dies durchaus verständlich. Andererseits mußte er erkennen, daß viele Costaricaner, die an seiner Seite gekämpft hatten, seine landesübergreifenden Ambitionen nicht teilten, sondern vorrangig an freien und „sauberen" Wahlen interessiert waren. Die Verweigerung der Übergabe der Präsidentschaft an Ulate hätte also Feindseligkeiten auch in den eigenen Reihen geschürt und eine erneute Bürgerkriegsgefahr impliziert.387 Hinzu kam der „sanfte Druck" der USA, so daß er schließlich mit dem ehemaligen Kandidaten der vereinigten Opposition einen Kompromiß einging388 , der am 1. Mai 1948 in Form eines Paktes mit folgenden Vereinbarungen geschlossen wurde: 1. Eine Junta Revolucionaria wird ab dem 8. Mai, dem Datum des Ablaufs der regulären Amtszeit der noch amtierenden Regierung, ohne Kongreß für die Dauer von 18 Monaten -mit der Option auf eine sechsmonatige Verlängerungdas Land regieren. 2. Die Junta Revolucionaria ruft das Volk am 8. Dezember zu Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung auf. 3. Die Junta bildet umgehend eine Kommission, die einen Verfassungsentwurf ausarbeitet, welcher der Konstituante vorgelegt wird. 4. Die Junta erkennt den 8. Februar als den Tag der rechtmäßigen Wahl Otilio Ulate Blancos zum Präsidenten Costa Ricas an. 5. Die Junta ersucht die Verfassungsgebende Versammlung, die Wahl Ulate Blancos zu ratifizieren, damit dieser in der ersten vierjährigen Legislaturperiode der Segunda República sein Amt ausüben kann. 6. Die Junta integriert das Tribunal Nacional Electoral. 7. Beide Unterzeichnende des Abkommens verpflichten sich, für den Zeitraum von sechs Monaten ab dem Datum des Vertragsschlusses auf jegliche Wahlkampfaktivitäten zu verzichten.'89

'86 '87

588

'89

Vgl J. P Bell, 1986, 202 J Fuchs, 1991, 306. Vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1983b, 395 Vgl J. Fuchs, 1991, 306. Vgl L Bird, 1984, 82 f ; der vollständige Text des Dokuments findet sich bei O. Aguilar Bulgarelli, 1983b, 396 f.

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3 Etappen der Entwicklung bis zur „Revolution" (1948)

Mit der Machtübernahme der Junta Revolucionaria, die sich auch Junta Fundadora de la Segunda República nannte und mit der Verkündung des Dekrets Nr. 2, das die Verfassung von 1871 außer Kraft setzte, begann eine neue administrative Ära; aber Figueres war nicht nur angetreten, um Costa Rica zu einer neuen Verfassung, „sondern auch zu einer grundlegenden Neuordnung seiner politischen und ökonomischen Strukturen zu verhelfen."390 Dieses Bestreben manifestierte sich in mehr als 800 Rechtsverordnungen, welche die Junta de Gobierno in ihrer 18-monatigen Amtszeit erließ, die nahezu alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche betrafen und sowohl von einer reformistischen Intention als auch von einem autoritärrepressiven Regieningsstil zeugten.391 Dazu zählten neben relativ belanglosen Wirtschafts- und Verwaltungsreformen die Errichtung des Tribunal de Sanciones Inmediatas und des Tribunal de Propiedad, die zur Verfolgung und Verurteilung von am Krieg beteiligten Calderonisten und Kommunisten verschiedener Rangstufen bestimmt waren. Sie erhielten Unfehlbarkeitscharakter, da jegliche Möglichkeit auf Berufung ausgeschlossen war - eine absurde Maßnahme, die lediglich zur Verstärkung der inneren Unruhe beitrug.3'2 Nach der Verfassung wurde auch der Pacto de la Embajada de México für ungültig erklärt, die Kommunistische Partei verboten und als bedeutendste sozioökonomische Neuerungen eine Kapitalsteuer von 10% auf Vermögen, die den Betrag von 50.000 Colones überstiegen, erhoben und die Banken nationalisiert.393 Marco Tulio Zeledón sah im Erlassen dieses umfangreichen Dekretkatalogs -und vor allem der darin enthaltenen Bestimmungen sozialistischen Zuschnittseinen Mißbrauch der Regierungsgewalt, der einen Großteil der Costaricaner in Alarmstimmung versetzte.394 Die ablehnende Haltung der Bevölkerung, die die Position der Junta insgesamt schwächte, spielte wohl mit eine Rolle, als Figueres, der vor allem den möglicherweise bewaffneten Widerstand der calderonistas fürchtete, am 1. Dezember 1948 die Abschaffung der Armee ankündigte und in einer symbolischen Zeremonie die Schlüssel der Kasernen vom Minister für öffentliche Sicherheit an den Bildungsminister aushändigen ließ.3®5 Bei den am 8. Januar 1949 abgehaltenen Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung erhielt Figueres' Regierungsjunta die konkrete Bestätigung für die geringe Popularität ihrer Politik: von 45 zu vergebenden Mandaten errang die 390 391 392 393 394

395

J. Fuchs, 1991, 307 Vgl. V H Acuña Ortega, 1992, 70 Vgl O. Aguilar Bulgarelli, 1983b, 440 f Vgl J P Bell, 1986, 217, V H Acuña Ortega, 1992, 72. Vgl. M. Tulio Zeledón, Historia Constitucional de Costa Rica en el bienio 1948-49, San José 1950, 20, zit. nach O. Aguilar Bulgarelli, 1986, 69 Zu der weitläufigen Diskussion um die ideologischen und taktischen Motive der wohl spektakulärsten Entscheidung Figueres' sowie zu deren innen- und außenpolitischen Hintergründen siehe die detaillierten Ausführungen von M Muñoz Guillén, 1990, 148 ff und L Bird, 1984, 89 ff

Der Weg in den Bürgerkrieg

123

Sozialdemokratische Partei vier, Ulates Partido Unión Nacional 34; der neugegründete Partido Constitucional, dem sich kleine Teile der Calderonisten und Kommunisten angeschlossen hatten -der Großteil der Anhänger des PRN betrachtete die Wahl als Farce und bevorzugte, sie zu boykottieren- konnte nur sechs Mandate gewinnen.396 Angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse hatte das ambitionierteste Projekt der sozialdemokratischen Bewegung, die Durchsetzung ihres Verfassungsentwurfs, der von einer durch die Junta ernannten Kommission erarbeitet worden war, wenig Aussicht auf Erfolg: Die vorwiegend mit Angehörigen der alten konservativen Oligarchie besetzte Konstituante lehnte den Projecto de Constitución Política de la Junta Fundadora de la Segunda República ab und beschloß stattdessen, die Verfassung von 1871 der neuen Carta Magna zugrunde zu legen, sie zu modernisieren und den aus den Erfahrungen der letzten Dekade hervorgegangenen Erfordernissen entsprechend zu modifizieren. 3 " Als Begründung fiir die Ablehnung diente der „exzessiv reglementierende Charakter" und die „ausgesprochen sozialistische Tendenz" der Vorlage 3 ", was sich vornehmlich auf die Abschnitte bezog, die eine weitgreifende Intervention des Staates im wirtschaftlichen Bereich vorsahen.399 Damit mußten die ßgueristas auf fundamentale Bestandteile ihres Reformvorhabens verzichten, so daß durchaus der Beurteilung einiger Historiker zuzustimmen ist, es habe sich bei der revolución de 1948 nicht um eine wirkliche Revolution im Sinne einer grundlegenden Transformation der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse gehandelt. Einige zum Teil bereits erwähnte wesentliche Elemente gingen jedoch in die neue Verfassung ein, die im folgenden Kapitel näher analysiert wird. Nach der Verabschiedung der Verfassung am 7. November 1949 übergab Figueres, obwohl die Verfassungsgebende Versammlung der sechsmonatigen Verlängerung seiner Amtszeit zugestimmt hatte, dem als rechtsmäßig gewählt erklärten Ulate die Präsidentschaft, um dann im Jahre 1953 selbst als gewählter Präsident erneut die Amtsgeschäfte zu übernehmen.

396 397

39

'

399

Vgl G Contreras/J M. Cerdas, 1988, 174 ff Vgl J Rovira Mas, The Social Democrats and the 1948-1949 Junta, in: M Edelman/J Kenen(eds ), 1989, 128-132, hier: 131. Vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1986, 71 Vgl. J Rovira Mas, 1988, 56 ff

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3 Etappen der Entwicklung bis zur „Revolution" (1948)

3.6 Zusammenfassung Wie die Darstellung der historischen Entwicklung Costa Ricas gezeigt hat, kann auch bei einem noch so minimal ausgestatteten Demokratiebegriff nicht davon gesprochen werden, daß in der Zeit der „Ersten Republik" demokratische Verhältnisse geherrscht hätten. Vielmehr wird Costa Rica in der Literatur übereinstimmend zu denjenigen Ländern gezählt, deren Demokratie das Ergebnis der zweiten weltweiten Demokratisierungswelle (1942-1968) darstellt.400 Dennoch sind bedeutsame politische Liberalisierungs- bzw. Demokratisierungsschritte erkennbar, welche die erfolgreiche Etablierung und Konsolidierung der „modernen" Demokratie in der „Zweiten Republik" in erheblichem Maße begünstigt haben: • Aus der Verfassungsgeschichte Costa Ricas wird deutlich, daß sich erste Ansätze zur Institutionalisierung rechtsstaatlicher Prinzipien bereits in der Förderationsverfassung von 1824 finden, die eine klare Gewaltenteilung definierte und einige allgemeine Grundrechtsgarantien enthielt. In der ersten „eigenen" Verfassung aus dem Jahre 1825 wurde die Gewaltenteilung übernommen, der Grundrechtsteil erweitert und konkretisiert, so daß er nun sowohl die klassischen Bürgerrechte als auch umfangreiche strafprozessuale Garantien enthielt. Diese Verfassungsbestimmungen wurden in den Folgejahren mehrfach partiell verändert oder durch die Verkündung neuer Verfassungen außer Kraft gesetzt, wobei die Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative als zentrales Problemfeld anzusehen ist, da sie immer wieder dem mehr oder minder stark ausgeprägten Machtstreben des jeweiligen Präsidenten unterworfen war. In der „gereifteren" Verfassung von 1871, die der noch heute gültigen Verfassung von 1949 als Vorlage diente, wurden schließlich die starke Stellung der Exekutive und des Präsidenten festgeschrieben sowie der Umfang der klassischen Grundrechte ausgebaut, was grundsätzlich -trotz weiterer neuer Verfassungen und Verfassungsänderungen- bis zum Ende der „Ersten Republik" Bestand hatte.401 Damit verfugt Costa Rica bezüglich der formalen konstitutionellen Institutionalisierung rechtsstaatlicher Prinzipien durchaus über eine lange Tradition. Um die liberalen Freiheitsrechte im gewaltengeteilten Rechtsstaat zu gewährleisten, bedarf es jedoch der Bindung der politischen Organe an Verfassung, Recht und Gesetz, die nur durch die effektive öffentliche Kontrolle durch eine unabhängigen Judikative sichergestellt werden kann. Da diese Bedingung -trotz der Existenz eines sog. Conservador, einer dem Senat auf Bundesebe400

401

Vgl. S Huntington, 1991, 18; R H Dix, History and Democracy Revisited, in: Comparative Politics, Vol. 27, 1994, No 1, 91-105, hier: 93; C Welzel, Systemwechsel in der globalen Systemkonkurrenz: Ein evolutionstheoretischer Erklärungsversuch, in: W Merkel (Hrsg.), 1994, 47-79, hier: 52 f.; A Lijphart, Democracies: Forms, performance, and constitutional engineering, in: European Journal of Political Research, No. 25, 1994, 1-17, hier: 1 Vgl J Fuchs, 1986, 259 ff

Zusammenfassung

125

ne gleichgestellte Institution mit kontrollierender und beratender Funktionnicht erfüllt war, konnte sich auch kein legitimes staatliches Gewaltmonopol herausbilden, das für eine dauerhafte realpolitische Umsetzung der rechtsstaatlichen Grundsätze, also den wirksamen Schutz des Volkes vor staatlicher Willkür und Tyrannei, erforderlich gewesen wäre. • Die Möglichkeiten zu politischer Partizipation waren in Costa Rica während des gesamten 19. Jahrhunderts durch eine restriktive Wahlgesetzgebung, die das aktive und passive Wahlrecht von Geschlechts- und Rassenzugehörigkeit sowie Besitz- und Bildungsstand abhängig machte, auf eine kleine Elite beschränkt. Erst zwischen 1905 und 1925 wurde das allgemeine Männerwahlrecht bei geheimen und direkten Wahlen eingeführt402, wodurch sich das Partizipationsspektrum verbreiterte.403 Doch zwischen wem oder was konnte man wählen? Politische Parteien entstanden erstmals im Wahlkampf 1889, und zwar nicht als dauerhafte ideologisch oder programmatisch orientierte Bündnisse, sondern als „caudillistische" Wahlmaschinen, die der Unterstützung rivalisierender Kandidaten der liberalen Cafetalero-Elite bzw. der AgroexportOligarchie dienten.404 Das dergestalt institutionalisierte, in seiner Kompetitivität äußerst begrenzte „Parteiensystem" wurde erst modifiziert und polarisiert durch die Gründung der von der katholischen Soziallehre geprägten Reformistischen Partei im Jahre 1923, dann vor allem der Kommunistischen Partei 1931 sowie durch die beginnende politische Organisation der Sozialdemokraten Anfang der 40er Jahre. Von nun an operierten die immer noch stark personalistisch ausgerichteten Parteien auch auf einer programmatischen Plattform und mobilisierten Teile der Unter- und Mittelschichten zur Teilnahme am politischen Geschehen.405 Auf diese Weise etablierte sich ein relativ ungehinderter, offener Parteienwettbewerb, der sich nicht mehr nur auf die Repräsentation der Interessen der oligarchischen Zirkel beschränkte. Da jedoch die Wahlprozesse, insbesondere bezüglich der Stimmenauszählung und der Bekanntgabe der Ergebnisse, weiterhin vorwiegend von der Legislative kontrolliert wurden, beein-

402

403

404 405

Vgl D J Yashar, Civil War and Social Welfare - The Origins of Costa Rica's Competitive Party System, in: S Mainwaring/T. R. Scully ( e d s ) , Building Democratic Institutions: Party Systems in Latin America, Stanford 1995, 72-99, hier 73, B Thibaut, Costa Rica, in: D. Nohlen (Hrsg ), Handbuch der Wahldaten Lateinamerikas und der Karibik, Band 1: Politische Organisation und Repräsentation in Lateinamerika, Opladen 1993, 221-250, hier: 225. Mitte des 19 Jh. wählten ca 2% der Bevölkerung, gegen Ende des 19. Jh. etwa 10%, ab Anfang des 20. Jh. stieg die Zahl auf etwa 15%, wo sie sich bis zum Ende der „Ersten Republik" stabilisierte; vgl J L Vega Carballo, Political Parties, Party Systems, and Democracy in Costa Rica, in: L. W. Goodman/W. M. LeoGrande/J. Mendelson Forman (eds ), Political Parties and Democracy in Central America, Boulder/San Francisco/Oxford 1992, 203-212, hier: 205 Vgl B Thibaut, 1993, 222 f.; J L Vega Carballo, 1992, 204 ff. Vgl. D J. Yashar, 1995, 73 f

126

3 Etappen der Entwicklung bis zur „Revolution" (1948)

trächtigten außer „teil-allgemeinen"406 auch „unsaubere" Wahlen die demokratische Methode der Herrschaftsbestellung bis zum Ende der „Ersten Republik". • Die Frage der „sozialen Gerechtigkeit" war, weil entsprechende pressure groups während des gesamten 19. Jahrhunderts fehlten, aus der costaricanischen Politikgestaltung ausgeklammert. Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung, die aus der Expansion zunächst der Kaffee-, dann der Bananenwirtschaft resultierte, und den damit einhergehenden sozioökonomischen und sozialstrukturellen Veränderungen, bildeten sich jedoch Anfang des 20. Jahrhunderts gewerkschaftliche und politische Vereinigungen, die auf die Situation der unterprivilegierten Gesellschaftsschichten aufmerksam machten. Besonders die Auswirkungen der schweren Rezessionen, die der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre ausgelöst hatten, offenbarten die Fehlleistungen und Unzulänglichkeiten der bisherigen laissez-faire-Politik, die sozialen Spannungen spitzten sich weiter zu. Erst unter der Präsidentschaft Calderón Guardias, während der Allianz zwischen der Katholischen Kirche, der Kommunistischen Partei und Teilen der Oligarchie in den 40er Jahren, erfolgten soziale Reformen, die u.a. die Aufnahme eines Kapitels über soziale Grundrechte in die Verfassung und die Verabschiedung einer neuen Sozialund Arbeitsgesetzgebung beinhalteten. In überarbeiteter und erweiterter Form wurden diese sozialreformistischen Grundlagen nach dem Bürgerkrieg übernommen und bilden bis heute den formalen Rahmen der costaricanischen Sozialpolitik.407 Damit unterscheidet sich Costa Rica hinsichtlich seiner historischen Erfahrungen und Eirungenschaften deutlich von seinen zentralamerikanischen Nachbarländern, in denen eine demokratische Entwicklung strenggenommen erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte.40' Wie dieses fragmentarische Fundament historischer Errungenschaften und Institutionen zu einer stabilen Demokratie umund ausgebaut wurde, ist Thema des folgenden Abschnitts der vorliegenden Untersuchung. 406

407 408

„Teil-allgemein" deshalb, weil hier die These vertreten wird, daß das Verfahren der freien und „allgemeinen" Wahl als Kriterium von Demokratie sich auf die gesamte erwachsene Bevölkerung beziehen muß und nicht etwa die Hälfte der Bürger aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder ähnlicher willkürlicher Merkmale davon ausgeschlossen werden kann. Diese heute überflüssig erscheinende Anmerkung widerspricht jedoch der Einschätzung Giovanni Sartoris, der folgende Auffassung vertritt: „Voting is indeed a necessary condition of any free polity. Yet the extent and extension of voting in a given polity are not as crucial as some would have us believe. Feminist outcries notwithstanding, I still hold that Switzerland was a full democracy in spite of its electoral exclusions." ; G Sartori, 1995, 104. Vgl. B. Thibaut, 1993, 223 Vgl. P. Bendel/M Krennerich, Zentralamerika: Die schwierige Institutionalisierung der Demokratie, in: W. Merkel/E. Sandschneider/D Segert (Hrsg), Systemwechsel 2: Die Institutionalisierung der Demokratie, Opladen 1996, 315-340

127

4.

Bedingungsfaktoren der Demokratie in der „Zweiten Republik"

Die vollständige Etablierung und nachfolgende Konsolidierung der Demokratie in der „Zweiten Republik" ist gekennzeichnet durch tiefgreifende Veränderungen, welche die institutionellen Grundlagen, das System der politischen Willensbildung sowie die entwicklungsstrategischen bzw. sozioökonomischen Rahmenbedingungen betreifen. In der modifizierten Demokratiekonzeption verschmelzen traditionelle, empirisch aus der konkreten historischen Erfahrung hervorgegangene Elemente und normativ auf der sozialdemokratischen Ideologie beruhende Komponenten zum Fundament fiir Theorie und Praxis costaricanischer Politikgestaltung.

4.1

Die Verfassung von 1949

Die zwar durch partielle Reformen mehrfach geänderte 1 , aber heute noch gültige 14. Verfassung seit der Unabhängigkeitserklärung, die Constitución del 7 de Noviembre de 1949, wurde, wie bereits erwähnt, auf der Grundlage der Verfassung von 1871 erarbeitet und durch grundlegende Elemente des hauptsächlich von Mitgliedern des Centro para el Estudio de las Problemas Nacionales vorbereiteten Verfassungsentwurfs der Regierungsjunta (1948-49) erweitert, so daß man Charles D. Ameringer zustimmen kann, wenn er feststellt: „Unlike the constitutions of many Latin American states, which are merely visionary museum pieces, the Costa Rican Constitution of 1949 is built upon a firm foundation of historical experience and 'tico' reality."2 Der neue Verfassungstext umfaßt 18 teils umfangreiche und in mehrere Kapitel (capítulos) unterteilte, teils sehr kurze Abschnitte ( t í t u l o s f , die nun im folgenden selektiv und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Demokratie analysiert werden.

1

2 5

Die Verfassung wurde inzwischen durch mehr als 50 Reformen modifiziert, wovon nur fünf in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens durchgeführt wurden; vgl. J. A. Carrillo Cháves, Hacia una nueva Constitución Política de Costa Rica: análisis y propuestas, San José 1985, 21 Ch. D Ameringer, 1982, 37 Vgl. Nuestra Constitución Política (Constitución Política de la República de Costa Rica 7 Noviembre de 1949), San José 1990, alle folgenden Angaben beziehen sich auf diese Ausgabe des Verfassungstextes

128

4. Demokratie in der „Zweiten Republik"

4.1.1 La República (Título I) Art. 1 des ersten Abschnitts bezeichnet Costa Rica außer als freie und unabhängige, wie schon in früheren Verfassungen, erstmalig auch als demokratische Republik, wodurch die im Begriff „Republik" implizierten Kriterien der Staatsstruktur durch das soziale Kriterium der Repräsentation der Bürger in einem Gemeinwesen ergänzt werden sollten.4 Die folgenden Artikel (2-8) befassen sich mit Fragen der nationalen Souveränität, Art. 9 bestimmt die Trennung der Gewalten in eine Legislative, Exekutive und Judikative, deren jeweilige Organisationsstruktur und Kompetenzen in eigenen Kapiteln geregelt werden. Eine der wichtigsten Neuerungen steht am Ende des ersten Abschnitts der neuen Verfassung: Art. 12 verbietet die Armee als ständige Institution und überträgt ausschließlich den Polizeikräften die Aufgabe, für den Erhalt der öffentlichen Ordnung zu sorgen; nur im Falle einer kontinentalen Übereinkunft oder zur nationalen Verteidigung dürfen militärische Einheiten organisiert werden, die jedoch in jedem Fall der zivilen Macht untergeordnet und nicht zu eigenständigen Kundgebungen oder Stellungnahmen befugt sind. Als Begründung für diese weltweit einzigartige Entscheidung dürfte wohl die „Berufung des costaricanischen Volkes zum Frieden", die „tief in seinem Nationalbewußtsein verwurzelt"5 ist, nicht ausreichen, denn Costa Rica verfugt, wie die Darstellung der historischen Entwicklung deutlich gemacht hat, durchaus über eine militärische Tradition. Vor allem im 19. Jahrhundert spielte die Armee eine bedeutende Rolle bei der Etablierung des Nationalstaates, bei der Konsolidierung der zentralen Staatsgewalt und des Verwaltungsapparates.6 Dennoch hatte das Militär nie die starke Position wie in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern, und seine Stellung wurde seit dem Sturz der Tinoco-Diktatur zunehmend geschwächt.7 Aus den vielschichtigen, aus internen und externen Bedingungsfaktoren bestehenden Erklärungsmustern' kann man ableiten, daß letztlich zwei Erkenntnisse zur verfassungsmäßigen Abschaffung der Armee in Friedenszeiten geführt haben: Einerseits sah man ein, daß es zur effektiven Verteidigung 4

5

6

7

'

Vgl. I Vargas Bonilla, Lecciones de Derecho Constitucional, Departamento de Publicaciones de la Universidad de Costa Rica, San José 1965, 70, zit. nach O Aguilar Bulgarelli, 1986, 101 A Vargas Araya, Die Neutralität Costa Ricas - Ein wichtiger Beitrag zum Frieden, zur Stabilität und Sicherheit in Zentralamerika, in: A Maislinger (Hrsg.), 1986, 69-78, hier: 71 Vgl. T Heivik/S Aas, Demilitarization in Costa Rica: A Farewell to Arms? in: A. Maislinger (Hrsg), 1986, 343-375, hier: 349 Vgl M Muñoz Guillén/R. Romero, El dilema del Estado costarricense: seguridad nacional o soberanía, in: D Kruijt/E. Torres-Rivas (coord ), América Latina: militares y sociedad, San José 1991, 147-181, hier: 148, G Aguilera, El Fusil y el Olivo: la cuestión militar en Centroamérica, San José 1989, 45 ff Vgl M Muñoz Guillén, 1990, 115 ff, L. A Bird, 1984, 89 ff; T. Hflivik/S. Aas, 1986, 344 ff, M Brixius, Exteme Beeinflussungsfaktoren der Demokratie in Costa Rica, Münster/Hamburg 1993, 123 f

Die Verfassung von 1949

129

nach „außen" einer äußerst kostspieligen Aufrüstung bedurft hätte, die bei der damaligen Wirtschaftslage nicht realisierbar gewesen wäre; andererseits stellte die Existenz einer -wenn auch noch so schwachen- Armee eine potentielle Bedrohung für jede Regierung dar, da sie im Bedarfsfall aufgestockt und zur Durchführung eines Putsches benutzt werden konnte. Insofern entzog die Verfassung von 1949 dem militarismo die Basis und beseitigte damit eines der Grundübel, das in der hispanoamerikanischen Welt immer wieder dazu beitrug, die Entstehung und Konsolidierung demokratischer Systeme zu behindern', da das „Militär als chronischer Machtkonkurrent demokratischer Parteienherrschaft"10 fungierte und zudem dringend für Entwicklungsmaßnahmen im sozialen Bereich benötigte Mittel im Rüstungsetat band."

4.1.2

Grundrechte (Título IV, V, VIII)

4.1.2.1 Individuelle Rechte und Garantien (Título IV, Art. 20-48) In diesem Abschnitt übernimmt die Konstitution mit einigen Modifikationen weitgehend die Vorgaben der 1871er Verfassung. Er enthält die Erklärung, daß alle Menschen frei sind, das Verbot der Sklaverei (Art. 20) sowie die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens (Art. 21), was die Todesstrafe ausschließt, die zwar in der ursprünglichen Version der 1871er Verfassung noch vorgesehen, aber bereits durch Tomás Guardia 1882 abgeschafft worden war.12 Art. 22, der allen Costaricanern die Reisefreiheit innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen gewährt, erlaubte erstmals auch den schwarzen Bürgern, die überwiegend an der Atlantikküste lebten, in die Hauptstadt San José zu kommen und sich dort aufzuhalten.13 Die beiden folgenden Artikel garantieren die Unverletzbarkeit der Wohnung, der Privatsphäre und der Kommunikation. Sie stehen in engem Zusammenhang mit Art. 45, der das Recht auf Eigentum festschreibt, mit der Einschränkung, daß das Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit staatliche Eingriffe im öffentlichen Interesse beschließen kann. Zusammen mit Art. 46, der die Bildung privater Monopole verbietet, ist diese Limitierung der spärliche Rest der im Verfassungspro9

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12 13

Vgl. C Eguizábal, Los ejércitos en tiempos de paz: el estado de las relaciones entre civiles y militares en la Centroamérica de hoy, in: G. Maihold/M Carballo Quintana (comp ), Qué será de Centroamérica? Gobernabilidad, Legitimidad Electoral y Sociedad Civil, San José 1994, 105-130, hier: 107. H.-W. Krumwiede, Militärherrschaft und (Re-)Demokratisierung in Zentralamerika, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/86, 17-29, hier: 18 Vgl. D. Camacho, Costa Rica: Virtudes y Vicios de una Democracia „Perfecta", in: R Steichen Jung (comp ), Democracia y Democratización en Centroamérica, San José 1993, 209-236, hier: 220 Vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1986, 107. Vgl. H A Muñoz, La reestructuración del Estado, in: Y Calvo (et al ), 1990, 39-44, hier: 40.

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4 Demokratie in der ..Zweiten Republik"

jekt der Junta Fundadora ausgedrückten differenzierten Konzeptionen bezüglich direkter staatlicher Interventionen im ökonomischen Bereich, die u.a. die Orientierung der nationalen Wirtschaft am Gemeinwohl, die Produktion und Verteilung von Primärgütern, den Schutz des Kleingrundbesitzes und die Vermeidung von Latifundien sowie eine gewinnabhängige Abgabepflicht der Unternehmer zugunsten der Arbeiter implizierten.14 In der politischen Realität Costa Ricas wurden jedoch auch die in die Verfassung aufgenommenen, auf ein Minimum reduzierten Möglichkeiten zur „Freiheitseinschränkung" kaum angewendet, so daß die Zahl der Latifundien und die Monopolbildung privater Unternehmen zunahm. Erst ab Mitte der 60er Jahre gab es vereinzelte Ansätze zur partiellen Enteignung von Großgrundbesitzern zugunsten der Errichtung gemeinnütziger landwirtschaftlicher Produktionsbetriebe.15 Weiterhin wurden als Grundrechte die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 25, 26), das Petitionsrecht (Art. 27), das Asylrecht für politisch Verfolgte (Art. 31) und das Verbot der zwangsweisen Exilierung von Costaricanern (Art. 32) verankert. Die Artikel 28-30 gewähren die Meinungs- und Pressefreiheit mit der Auflage, daß keine Vermischung von politischer Propaganda und religiösen Themen stattfindet, sowie das Recht auf freie Informationsbeschaffung. Diese für eine Demokratie fundamentalen Freiheiten sind in Costa Rica ein historisches Recht, das bereits in der Constitución Federal aus dem Jahre 1824 festgeschrieben war und das auch heute insoweit respektiert wird, als der Staat keine direkte Zensur ausübt.16 Es gibt ein „breit gefächertes Pressewesen" mit einem „weitreichenden Einfluß auf die Gestaltung der Politik"17, doch untersucht man die costaricanische Medienlandschaft genauer, stellt man fest, daß sich ca. 80% der Presseorgane, der Radio- und Fernsehsender in privater Hand befinden und daß es schwierig ist, „to find news that is not filtered through the stridently rightwing convictions of the owners of the major media [...] that are directly tied to the extremist Free Costa Rica Movement (MCRC), a rightwing civic group with a paramilitary wing."18 Mit dieser Aussage bezieht sich Tom Barry hauptsächlich auf Besitzer und Mitarbeiter der größten und daher meinungsbildenden Tageszeitung La Nación, die außerdem mehrere Zeitschriften veröffentlichen und an verschiedenen Rundfunk- und Femsehanstalten beteiligt sind. Er bezeichnet La Nación als einen Medienkonzem, an dessen ideologischen und politischen Leit14 15 16

11

"

Vgl J. Rovira Mas, 1988, 56 ff. Vgl O. Aguilar Bulgarelli, 1986, 108/111. Vgl. M. Pérez-Yglesias, Democracia, libertad de expresión y medios de communicación en Costa Rica, in: M. Rojas Bolaños (et al ), Costa Rica: la democracia inconclusa, San José 1989, 129-181, hier: 137 f. U. Fänger, Parlamentarische Demokratie in einem „Schwellenland" der Dritten Welt: Regierungssystem und Wahlen in Costa Rica, in: A. Maislinger (Hrsg ), 1986, 277-293, hier: 284 T Barry, Costa Rica - A Country Guide, Albuquerque/New Mexico 1989, 54, siehe dazu auch die Beitrage in: M. Zeledón Cambronera (Comp ), La Desinformación de la Prensa en Costa Rica: Un grave peligro para la Paz, Heredia 1987.

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linien sich neben La República und La Prensa Libre, den anderen fuhrenden Tageszeitungen, auch die meisten Nachrichtensendungen orientieren." Zwar existieren auch kritischere Wochenzeitungen, wie Esta Semana und Semanario Universidad, die jedoch wegen ihres niedrigen Verbreitungsgrades über relativ wenig politischen Einfluß verfugen. Maria Pérez-Yglesias spricht daher von einem „konsensualen Funktionsmechanismus" der Massenmedien, innerhalb dessen sich die Journalisten einer den Interessen der sie finanzierenden Unternehmen und Institutionen angepaßten autocensura unterziehen.20 Auf diese Weise praktizieren die Inhaber der privaten Massenkommunikationsmittel teilweise in Übereinstimmung mit den politischen Machtgruppen eine „Zensur"21, die die verfassungsmäßig garantierte Meinungs- und Pressefreiheit zumindest indirekt einschränkt. Zur Sicherung der Freiheitsrechte schreibt Art. 33 die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz fest, die folgenden Artikel (34-44) enthalten die dafür erforderlichen strafprozessualen Regelungen: das Rückwirkungsverbot von Gesetzen; der Ausschluß von urteilsberechtigten Sonderkommissionen oder -gerichten; die Befreiung von der Belastungspflicht gegenüber sich selbst oder Angehörigen; die formalen Voraussetzungen zur Durchführung von Verhaftungen und zur Vollstreckung von Strafen; das Verbot der Schuldhaft, der lebenslänglichen Freiheitsstrafe, der Konfiszierung des Eigentums sowie von grausamen oder entwürdigenden Behandlungsmethoden und die damit in Zusammenhang stehende Ungültigkeitserklärung von Geständnissen, die mit Gewalt erwirkt sind. Femer gewährt Art. 48 die Rechtsmittel Habeas Corpus (Haftprüfungstermin) und Recurso de Amparo (Verfassungsbeschwerde) für den Fall einer als unrechtmäßig empfundenen Freiheitsberaubung. 4.1.2.2 Soziale Rechte und Garantien (Titulo V, Art. 50-74) Bei dem Abschnitt über die Derechos y Garantías Sociales der aktuellen Verfassung handelt es sich um die erweiterte und verbesserte Version des entsprechenden Kapitels, das 1943 als Ergänzung zur bestehenden Konstitution aufgenommen wurde. In Art. 50 verpflichtet sich der Staat, für das bestmögliche Wohlergehen aller Einwohner des Landes zu sorgen, indem er die Produktion und eine angemessene Verteilung des Reichtums organisiert und fördert.

19 20 21

Vgl. T. Barry, 1989, 54 f. Vgl M Pérez-Yglesias, 1989, 146 f. Vgl M Bermúdez Chaves, Los medios de comunicación masiva y su relación con el poder, in: F. Barahona (coord ), Costa Rica hacia el 2000, Desafios y opciones, Caracas 1988, 175-188, hier: 184 f ; detaillierte Informationen zur Entwicklung der Massenmedien, deren politisch-ideologischen Orientierungen und internen Verflechtung finden sich auch bei Maria Pérez-Yglesias, Costa Rica: las comunicaciones al ritmo del mundo, in: J. M. Villasuso Estomba (ed), El Nuevo Rostro de Costa Rica, Heredia 1992, 209-250 und E. Ulibarn, Los medios de comunicación: diversidad con desafios, in: J. M. Villasuso Estomba (ed), 1992, 251-262

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Die Artikel 51-55 enthalten Regelungen zum Familien- und Mutterschutz und die -als Neuerung eingeführte- Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern. Art. 56 erklärt Arbeit zu einem individuellen Recht und einer sozialen Pflicht, wobei der Staat sich darum bemühen muß, daß alle eine nützliche und solide Beschäftigung haben. Das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes wird garantiert, es besteht ein Anspruch auf Mindestlohn, Achtstundentag und Urlaub (Art. 57-59). Eine für das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wichtige Bestimmung enthält Art. 60, der besagt, daß beide sich frei in Gewerkschaften oder Verbänden zusammenschließen können, in denen Ausländer keine leitenden Positionen bekleiden dürfen; dem entspricht Art. 61, der sowohl das Recht auf Aussperrung als auch das Streikrecht anerkennt. Obwohl Art. 63 das Recht auf Entschädigung im Falle von unrechtmäßiger Entlassung beinhaltet, hält Oscar Aguilar Bulgarelli das Fehlen einer weitreichenderen Absicherung für Gewerkschaftsführer für ein gravierendes Versäumnis der Verfassungsgebenden Versammlung von 1949, da, damals wie heute, Funktionsträgern der gewerkschaftlichen Organisationen häufig gekündigt wurde, was sich nachhaltig auf die Entwicklung der Arbeiterbewegung auswirkte.22 Weiterhin verpflichtete sich der Staat, die Gründung von Kooperativen (Art. 64) und den sozialen Wohnungsbau (Art. 65) zu fördern, die landwirtschaftlichen Pachtverträge einer gerechteren Regulierung zu unterziehen (Art. 69) und Frauen, Jugendlichen und „unfreiwillig Arbeitslosen" besonderen Schutz zu gewähren (Art. 71, 72). Zudem wurde eine Arbeitsgerichtsbarkeit geschaffen (Art. 70) und das unter Calderón Guardia eingeführte Sozialversicherungssystem beibehalten (Art. 73). Zum Schluß dieses Abschnitts erklärt Art. 74, daß die aufgelisteten Rechte und Garantien „unabdingbar" sind, daß sie keine weiteren, aus dem christlichen Prinzip der sozialen Gerechtigkeit abgeleiteten Bestimmungen ausschließen und eine Politik der nationalen Solidarität fördern sollten. Die Aufnahme des Abschnitts über soziale Rechte und Garantien in die Verfassung zeigt, daß die Mehrheit der Mitglieder der Konstituante von 1949 aus der historischen Erfahrung gelernt hat, daß „Freiheit und Gleichheit auch eine materielle Komponente haben, ja dieser zu ihrer Realisierung bedürfen."23 Die sozialen Grundrechte, „die dem Individuum Ansprüche auf Entfaltung staatlicher Tätigkeiten und auf Teilnahme an öffentlichen Leistungen verbürgen", sind ein ebenso unverzichtbarer Bestandteil einer demokratischen Verfassung wie die liberalen Grundrechte, „die dem einzelnen einen Anspruch auf Unterlassung staatlicher Eingriffe in seine persönliche Rechtssphäre geben", und die politischen Grundrechte, „die den einzelnen als Staatsbürger erfassen und ihm Mitwirkungs-

Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1986, 114 f.; auf diesen Punkt wird an anderer Stelle noch näher eingegangen. K. D. Bracher, Menschenrechte und politische Verfassung - ein Gnindproblem der politischen Ideengeschichte, in: Zeitschrift für Politik, Nr 2/1979, 109-127, hier: 123

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befugnisse im Gemeinwesen gewährleisten."24 Während die Freiheitsrechte und die Staatsbürgerrechte den „gewaltengeteilten demokratischen Verfassungsstaat konstituieren", der „die Optimierung aller Menschenrechte, auch und gerade der sozialen, ermöglicht" 25 , bilden die sozialen Rechte die Basis für die Chancengleichheit zur Wahrnehmung aller Rechte. Insofern liegen die sozialen Menschenrechte „in der logischen und historischen Konsequenz der liberalen Menschenrechte selbst"26 und stellen die materielle, sozialstaatliche Ergänzung zur formalen, rechtsstaatlichen Komponente einer pluralistischen, repräsentativen Demokratie dar. Für die politische Praxis folgt aus diesem Zusammenhang, daß „dem Rechtsstaat der Demokratie [...] nicht allein die Aufgabe gesetzt" ist, „Schutz gegen bereits erfolgte Eingriffe des Staates in die Freiheitssphäre zu gewähren", sondern auch „die Entstehung wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen zu verhüten, aus denen eine Gefahrdung oder Beeinträchtigung der Grundrechte erwachsen könnte."27 An dieser Stelle wird jedoch der strukturelle Unterschied der genannten Rechtskategorien deutlich: „Während sich die Freiheits- und Staatsbürgerrechte zumeist formal exakt bestimmen und durchsetzen lassen, kennzeichnen sich die sozialen Grundrechte, deren Tendenz häufig in einem Spannungsverhältnis zu der der Freiheitsrechte steht, durch die Abhängigkeit ihrer Realisierung von den jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten; sie tragen daher, soweit sie überhaupt in Verfassungsurkunden aufgenommen sind, prinzipiell bloßen Programmcharakter." 2 ' In einer repräsentativen Demokratie, der eine Trennung von Staat und Gesellschaft zugrundeliegt, können die klassischen Freiheitsrechte eingeklagt werden, die Einhaltung der sozialen Menschenrechte ist dagegen nicht einklagbar, da der Staat, bzw. die ihn repräsentierende Regierung nicht unmittelbar die Verantwortung übernehmen will oder kann für den Modus, wie bestimmte Gruppen der Gesellschaft -beispielsweise das private Unternehmertum- ihre Freiheitsrechte -insbesondere das auf Eigentum, das auch die Produktionsmittel einschließt- beanspruchen.

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26

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H Kreutzer, Grundrechte, in: E Fraenkel/K D Bracher (Hrsg.), 1973, 123-132, hier: 127 f. O. Luchterhandt, Politische und soziale Menschenrechte, demokratischer Verfassungsstaat und Völkerrecht im Ost-West-Gegensatz, in: J Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, Kehl/Straßburg 1981, 63-69, hier: 69 G. Schwan, Probleme und Möglichkeiten einer Menschenrechtspolitik, in: K. Kaiser/H.-P Schwarz (Hrsg.), Weltpolitik, Strukturen - Akteure - Perspektiven, Bonn 1985, 285-297, hier: 292. E. Fraenkel/K. D Bracher, Demokratie, in: dies (Hrsg.), 1973, 72-79, hier: 75. H Kreutzer, 1973, 128

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4.1.2.3 Politische Rechte und Pflichten (Titulo VIII, Art. 90-104) Dieser in drei Kapitel unterteilte Abschnitt enthält das Wahlrecht und Wahlsystem betreffend gegenüber früheren Verfassungen fundamentale Neuerungen, die auf historisch begründeten Befürchtungen vor Wahlfälschungen und -manipulationen beruhen. Die hier festgelegten Rahmenrichtlinien werden spezifiziert durch das Ley Orgänica del Registro Civil von 1965, das Wahlgesetzbuch von 1973 und die Parteigesetzgebung von 1975.29 Bereits im ersten Artikel des capitulo I, das die Staatsbürgerschaft definiert, findet sich eine dieser grundlegenden Veränderungen: Die Wahrnehmung der politischen Rechte und Pflichten wird ausdrücklich Costaricanern beider Geschlechter nach Vollendung des 20. Lebensjahres zugestanden. Damit erhalten Frauen einerseits erstmalig das Recht, zu wählen und sich am politischen Leben zu beteiligen, andererseits wird durch die Klarstellung deutlich, daß Frauen auch zum Zeitpunkt der Ausarbeitung des Verfassungstextes noch nicht selbstverständlich zu den „costaricanischen Bürgern" zählten, obwohl sie die numerische Mehrheit des Volkes bildeten.50 Erst im Zuge einer Verfassungsänderung 1971, als das Wahlalter von 20 auf 18 Jahre henintergesetzt wurde, entfiel dieser Zusatz. Capitulo II trägt den Untertitel El Sufragio und schreibt in Art. 93 vor, daß die Stimmabgabe in direkter und geheimer Form erfolgt und daß das Wahlrecht ein elementares Bürgerrecht, aber auch -seit einer Verfassungsänderung 1959— eine Bürgerpflicht darstellt. Der Grund für die Einfuhrung der Wahlpflicht, bei deren Nichterfüllung das Wahlgesetz Geldstrafen, im Wiederholungsfall auch Haftstrafen vorsieht31, war der hohe Anteil der Enthaltungen bei den Wahlen 1953 und 1958, der bei 33% bzw. 38,5% lag.32 In den Folgejahren hat die Wahlpflicht zu einer höheren Wahlbeteiligung beigetragen, was jedoch nicht unbedingt eine stärkere politische Partizipation der Bürger und damit eine verbreiterte Legitimationsbasis der jeweils siegreichen Partei impliziert, da lediglich die Abgabe der Stimme kontrolliert, nicht aber deren Gültigkeit garantiert werden kann. Zudem widerspricht ein „Wahlzwang" dem Grundsatz der Freiheit der Wahl, der strenggenommen auch die freie Entscheidung des einzelnen Bürgers, nicht zu wählen, einschließt. Art. 95 enthält Vorschriften, die einen korrekten Wahlverlauf gewährleisten sollen: die autonome Durchfuhrung von Wahlen, die staatlich überwachte Erstellung eines Wahlregisters und Verteilung der Wahl- und Ausweispapiere, das Verbot, an einem anderen als dem eingetragenen Wohnort seine Stimme abzuge29

30

31 32

Vgl. U. Fanger, Costa Rica nach dem hundertjährigen Demokratie-Jubiläum - Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 4 Februar 1990, in: Lateinamerika. Analysen Daten - Dokumentation, Nr. 17/18, Dezember 1992, 15-24, hier: 15 Vgl. Y. Calvo, Costa Rica: mujer y democracia, in: Y Calvo (et al ), 1990, 31-38, hier: 36 Vgl. U Fanger, 1984, 25 Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1986, 118 ff.

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ben sowie die Garantie der Repräsentation von Minderheiten. Bei der Regelung der Wahlkampfkostenerstattung (Art. 96) -die an eine Obergrenze von 2% des durchschnittlichen Jahreshaushaltes der vergangenen drei Jahre gebunden ist und an die anspruchsberechtigten Parteien proportional nach Stimmenanteil vergeben wird- ist hervorzuheben, daß diese bis 1972 nur Parteien zugestanden worden war, die mehr als 10% der Stimmen auf sich vereinen konnten. Erst danach wurde die Bemessungsgrenze auf 5% gesenkt und somit auch kleineren Parteien die Möglichkeit zur Kandidatur erleichtert, obwohl diese Hürde für viele Gruppierungen noch immer unüberwindbar geblieben ist. Ulrich Fänger betrachtet die Teilfinanzierung der Wahlkampfkosten als Beitrag zur Stabilisierung des politischen Systems, weil „sie es zumindest den größeren Parteien ermöglicht, sich weitgehend von Abhängigkeiten gegenüber finanzstarken Interessengruppen freizuhalten."" Eine der meistdiskutierten Bestimmungen enthält Art. 98 der Verfassung von 1949, der einerseits allen Bürgern das Recht einräumte, sich in politischen Parteien zu organisieren, um in die nationale Politik einzugreifen, andererseits die Gründung und das Agieren politischer Parteien verbot, die „aufgrund ihrer ideologischen Programme, der Art und Weise ihrer Betätigung oder ihrer internationalen Verbindungen darauf abzielten, die Fundamente der demokratischen Ordnung Costa Ricas zu zerstören oder die nationale Souveränität bedrohen". Diese Einschränkung, „die zwar nicht dem Ideal der toleranten Demokratie entspricht, aber gleichwohl nicht nur von der costaricanischen Verfassung vorgesehen"34 war, beabsichtigte das Verbot der Partei, der bei den Friedensverhandlungen gegen Ende des Bürgerkrieges 1948 nicht nur ihr Fortbestehen zugesichert, sondern auch eine Kooperation angeboten worden war - des Partido Vanguardia Populär. Gegen die Argumentation einiger Deputierter der Verfassungsgebenden Versammlung, daß Ideen nur mit Ideen bekämpft werden könnten, daß eine solche Restriktion ein demokratisches Regime eher schwächen statt stärken und daß eine derartige Bestimmung auch gegen andere Parteigruppierungen angewendet werden könnte, stand die Angst vor dem Kommunismus, die letztlich überwog, so daß Art. 98 mit 27 zu 17 Stimmen in dieser Form zum Gesetz erklärt wurde." Oscar Aguilar Bulgarelli, der betont, daß er selbst der Ideologie der Kommunistischen Partei diametral entgegenstehe, verurteilt den Betrug an der KP ausdrücklich und bezeichnet diese Entscheidung als „unnötig" und „absurd", da sich der Ausschluß von kommunistischen Gruppierungen nur auf die Beteiligung an Wahlen ausgewirkt, nicht aber deren Existenz und politische Arbeit verhindert habe.36 Im Jahre 1975 wurde der Artikel dahingehend abgeändert, daß alle Parteien zugelassen sind, die sich in ihrem Programm zur verfassungsmäßigen Ordnung der Republik bekennen, was die Neugründung von Parteien vereinfacht hat. 33 34 35 36

U Fanger, 1984, 2 6 J. Fuchs, 1986, 2 7 2 Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1986, 124 ff. Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1986, 128 f.

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Das dritte und letzte Kapitel des Abschnitts über politische Rechte und Pflichten überträgt die Organisation, die Leitung und Überwachung aller Wahlen dem von den drei anderen Gewalten unabhängigen Tribunal Supremo de Elecciones (TSE), der sich aus drei vom Corte Suprema de Justicia mit Zweidrittelmehrheit auf sechs Jahre gewählten Mitgliedern und sechs Stellvertretern zusammensetzt und in der Vor- und Nachbereitungsphase von Wahlen um zwei Mitglieder erweitert wird (Art. 99-101). Bei dem Obersten Wahlgerichtshof handelt es sich um eine „spezifisch costaricanische Institution, die als Reaktion auf die früher üblichen Eingriffe in das Wahlrecht entstand und mit ungewöhnlich weitgehenden Befugnissen ausgestattet ist."" Zu den Kompetenzen des TSE zählen • • • • •

die Ausschreibung öffentlicher Wahlen, die Ernennung der Mitglieder der Juntas Electorales, die verbindliche Interpretation von verfassungsrechtlichen Vorschriften, die Entscheidung über Wahleinsprüche und Anfechtungsklagen, die Auswahl der Mittel zur Gewährleistung freier und korrekter Wahlen, wobei im Bedarfsfall ein Rückgriff auf polizeiliche oder militärische Sicherheitskräfte gestattet wird, • die Stimmenauszählung und die Bekanntgabe der Wahlergebnisse (Art. 102).

Gegen die Entscheidungen des TSE können, außer im Falle des Amtsmißbrauchs, keine Rechtsmittel eingelegt werden (Art. 103), was den jeweils unterlegenen Parteien die Möglichkeit entzieht, einen Schiedsspruch des Kongresses einzufordern. Dem Obersten Wahlgerichtshof untersteht auch die fiir die Erstellung der Wahllisten und die Verteilung der Ausweispapiere zuständige Dirección General del Registro Civil (Art. 104), welche die Vorbereitung und den Verlauf von Wahlen vorbildlich organisiert.38 Somit trägt der TSE die volle Verantwortung für den gesamten Wahlprozeß, was ihm zusammen mit der absoluten Autonomie und dem Immunitätsanspruch seiner Mitglieder den Status einer „Vierten Gewalt" 3 ' verleiht, auch wenn dieser nicht explizit in der Verfassung formuliert ist. Als oberstes Kontrollorgan ist diese Institution integraler Bestandteil eines beispielhaften und fortschrittlichen Wahlsystems, das ab dem Zeitpunkt seiner Gültigkeit freie und korrekt verlaufene Wahlen bewirkt hat.40 Nach Auffassung von Manuel Rojas Bolaños hat jedoch gerade dieses „technisch" ausgereifte System auch ein Demokratieverständnis gefördert, das dem reinen Wahlvorgang zur Bestimmung 37 3

*

39 40

U. Fanger, 1984, 25. Vgl. M León-Roesch, Los registros electorales en América Latina Los casos de Argentina, Colombia, Costa Rica, Chile y Venezuela en comparación, in: D. Nohlen (ed), Elecciones y sistemas de partidos en América Latina, San José 1993, 67-89, hier: 69fF. Vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1986, 160. Vgl J Fernando Jaramillo, Las cortes electorales en América Latina. Un primer intento de análisis comparativo con base en los casos de Argentina, Costa Rica y República Dominicana, in: D Nohlen (ed ), 1993, 37-66, hier: 38 ff.

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der Regierenden einen zentralen Stellenwert zuspricht, hinter dem andere effektive Partizipationsformen zugunsten des alle vier Jahre stattfindenden gran camaval zurücktreten.41

4.1.3

Gewaltenteilung (Titulo IX, X, XI)

Costa Ricas Verfassung von 1949 definiert im Montesquieuschen Sinne die eindeutige Trennung der drei Gewalten, deren spezifische gegenseitige Kontrollbefugnisse die Unabhängigkeit der Legislative, Exekutive und Judikative in einer Weise verankern, „daß die Verfassungswirklichkeit einem reibungslos funktionierenden System der checks and balances sehr nahe kommt."42 Die bestehende Konzeption der Gewaltenteilung ist geprägt durch das Mißtrauen der Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung gegenüber der starken Position der Exekutive, wie sie ihr noch in der 1871er Verfassung zugeschrieben war, aber auch gegenüber der Legislative, die sich, besonders während der letzten acht Jahre vor dem Bürgerkrieg, als gefugiges Instrument des Präsidenten erwiesen hatte.43 4.1.3.1 Die Legislative (Titulo IX, Art. 105-129) Kapitel I dieses Abschnitts legt die Organisationsstrukturen des Kongresses fest, dem das Volk die legislative Gewalt durch Wahlen überträgt. Der Kongreß besteht aus einem Einkammerparlament, dem -nach einer Verfassungsänderung von 1961- 57 Abgeordnete angehören, die für die Dauer von vier Jahren ihr Amt innehaben und in der nachfolgenden Legislaturperiode nicht wiedergewählt werden können (Art. 107). Um eine größere Stabilität der Regierungsarbeit zu gewährleisten, entfielen die früher üblichen Zwischenwahlen nach zwei Jahren.44 Zum Abgeordneten können gebürtige oder seit mindestens zehn Jahren „eingebürgerte" Costaricaner gewählt werden, die das 21. Lebensjahr vollendet haben (Art. 108). Nicht zur Kandidatur zugelassen werden der Präsident der Republik oder dessen Stellvertreter, die Regierungsminister, Mitglieder des Corte Suprema de Justicia, des Tribunal Supremo de Elecciones und der Sicherheitskräfte, der Leiter des Registro Civil, die Geschäftsführer der Instituciones Autónomas sowie nahe Verwandte des Präsidenten und Inhaber anderer Wahlämter (Art. 109, 112). Art. 110 gewährt den Abgeordneten Immunität. Die weiteren Artikel des ersten Kapitels regeln den Tagungsmodus des Kongresses. Kapitel II enthält nur zwei Artikel, von denen der erste (Art. 121) in 24 Unteipunkten die ausschließlichen Befugnisse der Asamblea Legislativa beschreibt. Dazu gehören 41

42 43 44

Vgl M. Rojas Bolaños, El proceso democrático en Costa Rica, in: M. Rojas Bolaños (et al ), 1989, 15-67, hier: 41. U Fanger/B Thibaut, 1992, 74. Vgl O Aguilar Bulgarelli, 1986, 138 f Vgl J Fuchs, 1986, 277.

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• die Verabschiedung, Reformiening, Aufhebung und verbindliche Interpretation der Gesetze; • die Ernennung der Richter des Obersten Gerichtshofs; • die Billigung oder Mißbilligung von internationalen Abkommen, Verträgen und Konkordaten; • die Entscheidung über die Genehmigung der Anwesenheit ausländischer Militärkräfte auf nationalem Territorium; • die Ermächtigung der Exekutive, den nationalen Verteidigungsfall zu erklären und Frieden zu schließen; • die Ausrufung des Notstandes und die Außerkraftsetzung der in Art. 22, 23, 24, 26, 28, 29, 30 und 37 der Verfassung enthaltenen Individualrechte; • die Entscheidung über die Zulassung von Klagen gegen Präsidenten, Vizepräsidenten, Minister und Diplomaten sowie über deren Suspendierung; • die Festsetzung des Staatsetats und der Steuern; • die Ernennung der Präsidenten des Staatlichen Rechnungshofes; • die Verfugung über fundamentale nationale Ressourcen (Energiequellen, strategisch wichtige infrastrukturelle Einrichtungen, etc.); • die Gründung von Erziehungs- und Wissenschaftsinstitutionen und die Bildung von Gerichten; • die Bewilligung von Amnestien; • die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen. Kapitel III (Art. 123-129), welches das Gesetzgebungsverfahren regelt, erlaubt sowohl den Kongreßmitgliedern als auch den Ministem der Regierung, Gesetzesinitiativen einzubringen (Art. 123). Jeder Gesetzesentwurf muß Gegenstand von drei Parlamentsdebatten an jeweils verschiedenen Tagen sein und bedarf der Genehmigung der Legislative und der Bestätigung der Exekutive. Verweigert die Exekutive die Zustimmung, kann das Projekt überarbeitet und erneut zur Verabschiedung, für die dann eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, vorgelegt werden (Art. 124-127). Basiert das Veto auf Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzesvorhabens, entscheidet der Oberste Gerichtshof (Art. 128) bzw. seit der Verfassungsergänzung von 1989 die Sala Cuarta Constitucional des Corte Suprema de Justicia, der die Funktion eines Verfassungsgerichtes wahrnimmt.45 4.1.3.2 Die Exekutive (Titulo X, Art. 130-151) In den fünf Kapiteln des zehnten Abschnitts wird die Stellung der Exekutive behandelt. Kapitel I beginnt mit der Erklärung, daß die exekutive Macht im Namen des Volkes durch den Präsidenten der Republik und die Minister der Regierung ausgeübt wird (Art. 130). Präsident kann nur derjenige werden, der gebürtiger Costaricaner, älter als 30 Jahre ist und einen „weltlichen" Status innehat (Art. 45

Vgl. A Spitta, Costa Rica, in: P. Waldmann/H -W. Krumwiede (Hrsg.), 1992, 88-98, hier: 92.

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131). Nicht zum Präsidenten oder Vizepräsidenten kann gewählt werden, wer dieses Amt bereits in einer früheren Legislaturperiode ausgeübt hat, in naher Verwandtschaft zum amtierenden Präsidenten steht oder in den zwölf Monaten vor der Wahl Regierungsminister war. Weiterhin sind die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes, des Obersten Wahltribunals, die Leiter des Registro Civil und der Instituciones Autónomas und die Präsidenten des Staatlichen Rechnungshofes (Art. 132) vom Präsidentenamt ausgeschlossen. Die Präsidentschaftswahl findet jeweils am ersten Sonntag des Februars statt, die Amtszeit beträgt vier Jahre (Art. 133, 134). Art. 135 bestimmt, daß das Amt des Vizepräsidenten mit zwei Personen besetzt wird, die den Präsidenten zusammen oder bei kurzzeitiger Abwesenheit auch einzeln vertreten. Der Präsident und die Vizepräsidenten sind gleichzeitig zu wählen und benötigen mindestens 40% der gültig abgegebenen Stimmen. Sollte keiner der Kandidaten die relative Mehrheit erhalten, findet am ersten Sonntag im April ein zweiter öffentlicher Wahlgang statt zwischen den beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten, aus dem derjenige siegreich hervorgeht, der eine einfache Mehrheit erreicht; bei Stimmengleichheit übernimmt der ältere Kandidat die Präsidentschaft (Art. 138). Kapitel II definiert den Aufgabenbereich der Angehörigen der Exekutive. Der Präsident ist ausschließlich befugt, die Minister der Regierung zu ernennen und abzuberufen, die Nation in offiziellen Angelegenheiten zu repräsentieren und das Oberkommando über die staatlichen Sicherheitskräfte zu fuhren. Er ist verpflichtet, dem Kongreß jährlich einen Rechenschaftsbericht vorzulegen und diesen um Erlaubnis zu bitten, wenn er Costa Rica bzw. Zentralamerika und Panama länger als zehn Tage verlassen will (Art. 139). Zu den gemeinsamen Zuständigkeiten des Präsidenten und der von ihm berufenen Minister gehören • die Einstellung und Entlassung der Sicherheitskräfte und der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, • die Verkündung und Ausfuhrung der Gesetze, • das Erstellen von Gesetzesinitiativen und die Ausübung des Vetorechts, • die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, • die Beaufsichtigung der Verwaltung, • die Verkündigung und Durchfuhrung der von der Legislative beschlossenen Abkommen und Verträge, • die Koordination der internationalen Beziehungen, • der Empfang von Staatsoberhäuptern und Diplomaten, • die Einberufimg der ordentlichen und außerordentlichen Sitzungen des Kongresses, sowie • die Verfugung über die Sicherheitskräfte (Art. 140). Kapitel III bestimmt, daß die Minister der Regierung gebürtige oder seit mindestens zehn Jahren „eingebürgerte" Costaricaner mit „weltlichem" Status sein

4. Demokratie in der „Zweiten Republik"

müssen, die das 25. Lebensjahr vollendet haben (Art. 142). Als Ausschlußkriterien vom Amt des Ministers gelten dieselben wie bei dem des Präsidenten (Art. 143). Auch die Minister müssen dem Kongreß jährlich einen Rechenschaftsbericht vorlegen, können an den Parlamentssitzungen teilnehmen, in denen sie ein Mitsprache-, jedoch kein Stimmrecht besitzen (Art. 144, 145). Zusammen mit dem Präsidenten und von diesem im Bedarfsfall zu berufenden weiteren beratenden Personen bilden sie den Consejo de Gobierno (Capítulo IV, Art. 147), der die diplomatischen Vertreter der Republik und die Direktoren der Instituciones Autónomas nominiert und darüber entscheidet, ob beim Kongreß ein Antrag auf Erklärung des nationalen Verteidigungsfalles gestellt und ob ein Gnadengesuch angenommen oder abgelehnt wird. Das fünfte und letzte Kapitel verfugt, daß sowohl der Präsident als auch jeder einzelne Minister ftir seine Handlungen verantwortlich ist (Art. 148). Sie können jedoch gemeinsam zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie die Freiheit, die politische Unabhängigkeit oder die nationale Integrität des Landes gefährden, den Ablauf der Wahlen, die Arbeit der Legislative oder der Judikative behindern und wenn sie sich weigern, die Gesetze auszuführen (Art. 149). 4.1.3.3 Die Judikative (Titulo XI) Die judikative Gewalt wird durch den Corte Suprema de Justicia und die anderen, ihm untergeordneten Gerichte ausgeübt (Art. 152) und ist ausschließlich der Verfassung und dem Gesetz unterstellt (Art. 154, 156). Der Oberste Gerichtshof setzt sich aus 17, vom Kongreß auf acht Jahre gewählten, wiederwählbaren Mitgliedern zusammen, die ebenfalls gebürtige oder seit mindestens zehn Jahren „eingebürgerte" Costaricaner mit „weltlichem" Status, älter als 35 Jahre sein sowie über eine juristische Berufspraxis von zehn Jahren als Anwalt oder von fünf Jahren als Richter verfügen müssen (Art. 157-159). Vom Amt eines Magistrado ausgeschlossen sind nahe Verwandte der Mitglieder des Corte Suprema de Justicia und Angehörige der Exekutive oder der Legislative (Art. 160, 161). Bei Gesetzesvorhaben, welche die Organisation und Tätigkeit der Judikative betreffen, muß der Kongreß den Obersten Gerichtshof konsultieren, über dessen Veto er sich nur mit einer Zweidrittelmehrheit hinwegsetzen kann (Art. 167). Durch eine Verfassungsänderung im Jahre 1989 wurde die Judikative um die Sala Cuarta Constitucional erweitert, die die Aufgaben eines Verfassungsgerichtes ausübt und als oberste Instanz für die Lösung von Konflikten zwischen den Gewalten und den Verfassungsorganen, die Überwachung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und den Schutz der Freiheitsrechte zuständig ist.46 Damit erhielt die aus der Verfassung von 1949 ohnehin als einzige von den Gewalten gestärkt hervorgegangene Judikative47, die sich im lateinamerikanischen Ver46 47

Vgl H A Muñoz, 1990, 43 Vgl. J R. Segura, La Clase Politica y el Poder Judicial en Costa Rica, San José 1990 (2. ed ), 75 f

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141

gleich durch ihre Unbestechlichkeit und Unabhängigkeit hervorhebt48 und deshalb eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung genießt, ein zusätzliches effektives Instrument zur Gewährleistung der rechtsstaatlichen Garantien.49 Die Integrität des Obersten Gerichtshofs und des ihm angeschlossenen Verfassungssenats ist jedoch nicht übertragbar auf die ihm unterstellten Gerichte, deren Richter nicht selten die Interessen der propertied classes vertreten, denen sie auch zuweilen eine -käuflich erworbene- bevorzugte Behandlung zukommen lassen.50 4.1.3.4 Weitere Institutionen zur Dezentralisierung der politischen Macht (Titulo XII, XIII, XIV, XV) Zum Zwecke einer effektiveren öffentlichen Verwaltung unterteilt Art. 168 des zwölften Abschnitts das nationale Territorium in Provinzen, diese wiederum in Kreise und Bezirke." Die kommunalen Körperschaften sind formalrechtlich autonom (Art. 170). Ihre Mitglieder bestehen zum einen aus auf vier Jahre direkt gewählten Vertretern, zum andern aus von der Exekutive ernannten Beamten (Art. 169, 171). Da die Kommunen zudem bei der Erhebung von Steuern oder der Aufnahme von Krediten die Bewilligung der Zentralregierung benötigen, geraten sie in eine starke Abhängigkeit, was die Beurteilung zuläßt, daß die Autonomie der kommunalen Körperschaften eingeschränkt ist.52 Dennoch stellen die Aufgliederung der Verwaltungsstrukturen und die grundsätzliche Autonomie der Gemeindeverwaltung ein Element der politischen Dezentralisierung dar. Abschnitt XIII beschäftigt sich mit dem Staatshaushalt und regelt im ersten Kapitel (Art. 176-182) detailliert das Verfahren zur Erstellung des Etats, der durch eine eigens dafür vorgesehene Abteilung der Exekutive, aber in Kooperation mit den anderen Gewalten und den verschiedenen Ministerien ausgearbeitet werden soll. Das zweite Kapitel (Art. 183, 184) verfugt die Einrichtung einer Contraloria General de la República, die einem Rechnungshof entspricht, der als „Hilfsinstitution" der Legislative den Staatshaushalt überwachen soll, wobei er in der Ausübung seiner Funktionen absolute Unabhängigkeit genießt. Zu seinen Aufgaben gehören die Kontrolle über die Ausfuhrung und Abrechnung der ordentlichen und außerordentlichen Etats auf staatlicher und kommunaler Ebene und der Instituciones Autónomas sowie die Bewilligung von Zahlungen aus staatlichen Fonds. Zur Verwaltung der Staatskasse sieht Kapitel III (Art. 185187) die Tesorería Nacional vor, deren Mitglieder vom Regierungsrat nominiert 48 49

50 51

52

Vgl. J A Booth, 1989, 400 Vgl. N Lösing, Der Verfassungssenat in Costa Rica - Beispiel für eine erfolgreiche Verfassungsrechtssprechung in Lateinamerika, in: VRÜ, 28. Jahrgang/ 2. Quartal 1995, 166192, A. Ruiz Zúñiga, La Tercera República: ensayo sobre la Costa Rica del futuro, San José 1991, 79 f Vgl. Ch D. Ameringer, 1982, 53. Es existieren sieben Provinzen, die in 81 cantones und diese in 424 distritos untergliedert sind; vgl. A. Spitta, 1992, 92. Vgl. J R. Espinoza, La democracia costarricense, Heredia 1986, 44 f.

142

4 Demokratie in der „Zweiten Republik"

werden und allein befugt sind, über die staatlichen Einnahmen und Ausgaben zu bestimmen. Eine der wirksamsten und folgenreichsten Verfügungen, die darauf abzielten, die Macht der Exekutive zu dezentralisieren, enthält der kurze Abschnitt über die Einrichtung von Instituciones Autónomas (Título XIV, Art. 188-190), zu denen laut Verfassungstext die staatlichen Banken und Versicherungsanstalten sowie von der Legislative mit Zweidrittelmehrheit zu beschließende Neugründungen zählen (Art. 189). Die autonomen Institutionen des Staates genießen administrative Unabhängigkeit und sind -seit einer Verfassungsänderung von 1968- den Gesetzen der Regierung unterworfen (Art. 188), was bedeutet, daß sie nun, im Gegensatz zur ursprünglichen Verfassungsversion, die ihnen eine absolute Autonomie eingeräumt hatte, verpflichtet sind, ihre Vorhaben mit der Zentralregierung abzustimmen." Bei der Diskussion und Verabschiedung von Gesetzesprojekten, die eine autonome Institution betreffen, ist der Kongreß zu ihrer vorherigen Anhörung verpflichtet (Art. 190). Obwohl bereits vor ihrer verfassungsmäßigen Verankerung einige bis zu einem gewissen Grade dezentralisierte staatliche Institutionen existierten, wie z.B. die Universität, die Caja Costarricense de Seguro Social, der Instituto Costarricense de Electricidad und die seit 1948 nationalisierten Banken, begannen sich die Instituciones Autónomas erst nach der Aufnahme des entsprechenden Verfassungskapitels zu konsolidieren". In der Zeit zwischen 1950-1960 wurden 96 neue autonome Institutionen gegründet, zwischen 1960-1978 weitere 76, deren Zuständigkeit nahezu alle sozialen und kulturellen sowie viele wirtschaftliche Bereiche der Gesellschaft durchdringt." Auf diese Weise wurde der Grundstein gelegt für die Entstehung und den Aufbau eines überdimensionierten bürokratischen Apparates, der nach und nach selbst zu einem wichtigen politischen Akteur geworden ist", denn die wachsende Bedeutung der Instituciones Autónomas, deren Direktoren vom Regierungsrat bestimmt werden, fiihrte nicht zur Schwächung der Macht der Exekutive, sondern zu deren Stärkung. Insofern wurde die Intention der Junta Fundadora erfüllt, die mit der verfassungsrechtlichen Durchsetzung der Instituciones Autónomas weniger einen Beitrag zum Funktionieren des Systems der checks and balances leisten als sich vielmehr einen Zugang zu Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltung verschaffen wollte, um von dort aus zu politischer Macht zu gelangen und ein neues Staats- und Entwicklungsmodell zu initiieren."

54

" 56

"

Vgl J E Murillo, Desarrollo histórico y proceso de descentralización de la administración pública en Costa Rica: el caso de las instituciones autónomas, in: C L. Gómez (et al ), Las Instituciones Costarricenses del Siglo XX, San José 1986, 277-318, hier: 308. Vgl. E. Rodríguez Vega, 1991, 182. Vgl. Ch D. Ameringer, 1982, 42, ein Überblick über die bedeutendsten Institutionen findet sich auch bei J E Murillo, 1986, 312 ff. Vgl. O. Dabéne, Costa Rica: juicio a la democracia, San José 1992, 235. Vgl J E Murillo, 1986, 283.

Die Verfassung von 1949

143

Der 15. Abschnitt mit dem Titel El Servicio Civil regelt die Beziehungen zwischen dem Staat und den öffentlichen Bediensteten mit dem Ziel, die Verwaltung zu effektivieren (Art. 191). Laut Art. 192 sollen die Angehörigen des öffentlichen Dienstes ausschließlich aufgrund ihrer nachweislichen fachlichen Qualifikation ausgewählt werden. Ihre Entlassung aus dem Amt ist nur möglich, wenn Verstöße gegen die in der Arbeitsgesetzgebung festgelegten Bestimmungen vorliegen oder wenn aus finanziellen oder organisatorischen Erwägungen eine Verkleinerung des Verwaltungsapparates notwendig ist. Art. 193 verpflichtet den Präsidenten der Republik, die Regierungsminister und die mit der öffentlichen Finanzverwaltung beauftragten Beamten, eine persönliche Vermögenserklärung abzugeben. Oscar Aguilar Bulgarelli bezeichnet die Institutionalisierung des Servicio Civil als eine der wertvollsten Neuerungen der Verfassung von 1949, da in den Jahren vor ihrer Verkündigung die öffentlichen Bediensteten bei jedem Regierungswechsel „legal" ausgetauscht und durch zuweilen inkompetente Gefolgsleute der jeweiligen Machthaber ersetzt werden konnten, was regelmäßig ein „Chaos" in der staatlichen Administration zur Folge hatte." Insofern stellt die Neuregelung zweifelsohne einen Fortschritt auf dem Weg zur Verhinderung eines schrankenlosen Klientelismus dar, obgleich der Einfluß von Parteizugehörigkeiten, persönlichen Beziehungen und familiären Verbindungen bei der Auswahl der Staatsbediensteten auch durch sie nicht ausgeschlossen werden kann." Insgesamt kann man bezüglich der Machtverteilung unter den Gewalten und den verschiedenen Ebenen der Administration festhalten, „daß das angestrebte Ideal von der Idee einer balance of powers bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Effektivität der Herrschaftsausübung geprägt ist", da grundsätzlich versucht wurde zu vermeiden, „daß einem der Beteiligten Machtbefugnisse in einem solchen Umfang übertragen werden, daß es ihm dadurch möglich geworden wäre, die anderen Beteiligten an diesem 'Spiel der Kräfte und Kompetenzen' auszuschalten, beziehungsweise von sich abhängig zu machen."40 Die Legislative ist die stärkste und zugleich demokratischste und repräsentativste Gewalt innerhalb der verfassungsmäßig definierten Machtstrakturen." Sie spielt eine fundamentale Rolle im politischen Leben Costa Ricas, da sie die Plattform für die Entscheidung über die elementaren nationalen Angelegenheiten darstellt sowie nicht selten als Sprungbrett für weitere politische Karrieren fungiert.62 Doch obwohl die Legislative mit den ihr in der Verfassung zugeschriebenen Kompetenzen gegenüber der Exekutive eine Vormachtstellung eingenommen hat, mußte sie insofern einen Machtverlust hinnehmen, als sämtliche organisatorischen und kontrollierenden Funktionen, die mit dem Wahlprozeß verbunden sind an den Tribunal Supremo de Elecciones übertragen wurden. Für die Durchfuh58 59 60 61 62

Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1986, 171 Vgl. Ch. D. Ameringer, 1982, 46 J Fuchs, 1986, 274. Vgl. Ch. D Ameringer, 1982, 48. Vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1986, 146.

144

4. Demokratie in der „Zweiten Republik"

rung von freien und korrekt verlaufenden Wahlen hat sich dies als äußerst kluge Entscheidung der Verfassungsgebenden Versammlung erwiesen. Eine weitere Einschränkung ihrer Macht erfuhr die Legislative durch das Recht der Exekutive, außerordentliche Sitzungen einzuberufen und ein Veto bei Gesetzesprojekten einzulegen. Am meisten beschnitten wurden jedoch die Kompetenzen der Exekutive, die zum einen der Legislativen, zum anderen den Instituciones Autónomas übertragen wurden. Zudem erfolgte eine dezidierte und differenzierte Machtverteilung innerhalb der vollziehenden Gewalt, die vor allem das Amt des Präsidenten schwächte, was hinsichtlich der verfassungsmäßigen Stellung des Staatspräsidenten Costa Ricas politischem System in weitgehender Übereinstimmung die Klassifikation als „Semi-Präsidialsystem" einbrachte." Damit enthält Costa Ricas Verfassung von 1949 bereits wesentliche Elemente -etwa bezüglich der Kompetenzaufteilung und der Kontrollmechanismen zwischen den Gewalten oder der politisch-administrativen Organisation seines nationalen Territoriums- wie sie in den letzten Jahren im Rahmen einer breitangelegten Dezentralisierungsdebatte als potentiell begünstigende Faktoren zur Konsolidierung der Jungen" Demokratien Lateinamerikas diskutiert werden.64

4.2

Das System der politischen Willensbildung

4.2.1

Parteiensystem und Wahlen

Im Zentrum der politischen Entscheidungsprozesse steht neben den verfassungsmäßig etablierten Institutionen das Parteiensystem, in dem sich nach dem Bürgerkrieg von 1949 eine markante Strukturveränderung vollzogen hat.65 Grundsätzlich lassen sich bezüglich der Entwicklung des Parteiensystems zwei Phasen unterscheiden: Die erste begann Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, als die ersten Parteien entstanden, und dauerte bis gegen Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum etablierten sich Parteien als fester Bestandteil des politischen Systems, wenn auch noch nicht als beständige Organisationen mit klar definierten ideologischen und programmatischen Leitlinien. Zumeist waren sie vielmehr appendages of the modemizing agro-exporting oligarchy und wurden "

64

65

Vgl U. Fanger, 1986, 287; Ch. D Ameringer, 1982, 39 Siehe hierzu P. Birle, Staat und Bürokratie in Lateinamerika Die aktuelle Diskussion über Planung und Dezentralisierung, in: M. Mols/P. Birle (Hrsg ), 1991, 57-95; W Hofmeister, Dezentralisierung in Lateinamerika, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 28/1992, 3-13, sowie die Beiträge in D. Nohlen (ed), Descentralización Política y Consolidación Democrática, Europa - América del Sur, Caracas 1991; D. Nohlen/M Fernández (ed.). Presidencialismo versus Parlamentarismo - América Latina, Caracas 1991; R A Mayorga (coord ), Democracia y gobernabilidad en América Latina, Caracas 1992 Vgl. U. Fanger/B. Thibaut, 1992, 75.

145

Das System der politischen Willensbildung

anerkannt als Alternative zur alten, kostspieligen Regelung der Präsidentschaftsnachfolge, die häufig aus Staatsstreichen bestanden hatte." Unter den stark personalistischen parteilichen Gruppierungen, die durch caudillismo und clientelismo geprägt waren, spielte der Partido Republicano bzw. der Partido Republicano Nacional eine herausragende Rolle: Trotz unterschiedlicher Namensgebung und alternierender Machtwechsel bestimmte er das politische Geschehen über SO Jahre hinweg maßgeblich. Insofern ist hier eine Parallele zur zweiten Phase der Entwicklung des Parteiensystems erkennbar, in der sich ebenfalls eine Partei -wenn auch unter völlig geänderten inhaltlichen und organisatorischen Vorzeichen- als dominierende politische Kraft des Landes herausgebildet hat. Tabelle 1: Ergebnisse der Parlamentswahlen 1953 bis 1994 (in % der gültigen Stimmen) Partei PLN

1953 64,7

P. Dem. 21,2 6,9 PON PRNI

1958

1962

1966

41,7

48,9

48,9

1970 50,7

1974

197*

1982

1986

1990

40,9

38,9

55,2

47,8

41,9

1994 49,1 -

-

-

2,1

-

2,1

0,4

0,3

-

-

21,4

13,3

-

1,2

-

-

-

-

-

-

7,2

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

PR PRN UN

22,4

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

33,5

-

-

4,9

-

-

0,9

-

-

-

-

-

43,2

35,9

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

0,8

-

-

-

-

-

-

24,7 10 7,7

3,1

PNI

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

43,4

29,1

-

-

-

PUSC

-

-

-

-

-

-

-

-

41,4

46

43,9

AS

-

-

-

-

5,5

4,4

-

-

-

-

-

-

0

14,5

4,3

7,4

3,9

PR» UakUd

PU Übrige

13

-

-

-

-

7,7 7

6,4

2,7

9

7,8

3,3 7,7

-

7

(U Fanger/B Thibaut, 1992, 77, J Rovira Mas, 1995, 34. PLN = Partido Liberación Nacional; P Dem = Partido Demócrata, PUN = Partido Unión Nacional; PRNI = Partido Republicano Nacional Independiente, PR = Partido Republicano; PRN = Partido Republicano Nacional; UN = Unificación Nacional, PNI = Partido Nacional Independiente; PRD = Partido Renovación Demócrata; PUSC = Partido Unión Social Cristiano, AS = Acción Socialista; PU = Pueblo Unido)

66

Vgl J. L. Vega Carballo, 1992, 207

146

4. Demokratie in der ..Zweiten Republik"

Tabelle 2:

Regierungen seit 1953 Präsident

1953-5« 195S-62 1962-4(6 1966-70 1970-74 1974-7« 1978-&2 1982-86 1986-90 1990-94 1994ff.

Politische Orientierong

Regtenragstnebrheit Parlament

J. Figueres

sozialdemokratisch (PLN)

absolut

M. Echandi

bürgerlich (P. Un. Nac.)

nein

F J Orlich

sozialdemokratisch (PLN)

F.J. Trejos J Figueres

bürgerlich (Unif Nac.) sozialdemokratisch (PLN)

absolut nein

D Oduber

sozialdemokratisch (PLN)

relativ

R. Carazo

bürgerlich (Unidad)

relativ

L A Monge

absolut

0 Arias

sozialdemokratisch (PLN) sozialdemokratisch (PLN)

R. Calderón J.M. Figueres

bürgerlich (PUSC) sozialdemokratisch (PLN)

absolut relativ

absolut

absolut

(U. Fanger/B. Thibaut, 1992, 76, H. Meyer, 1994, 3 7 )

Im folgenden sollen anhand eines Überblicks über die wichtigsten parteilichen Gruppierungen die spezifischen Merkmale des costaricanischen Parteiensystems sowie dessen Bedeutung für die Entwicklung der Demokratie herausgearbeitet werden. 4.2.1.1

Der Partido Liberación Nacional (PLN)

Ausgangspunkt fiir die Entstehung des „New Dominant Party System"67 der „Zweiten Republik" war die Gründung des Partido Liberación Nacional am 12. Oktober 1951, die das Ergebnis der sich im Laufe der 40er Jahre dieses Jahrhunderts vollziehenden Neuordnung der sozialen Strukturen darstellte. In dieser Partei „verschmolzen die reformistischen und 'desaiTollistischen' Kräfte", die „1948 den Bürgerkrieg gegen das Regime Calderón Guardia entfachten, aus dem sie gestärkt hervorgingen" und die zunächst die Vorstellungen der „mittleren Bourgeoisie" zum Ausdruck brachten, „deren Aufstieg durch die Spielregeln der sogenannten oligarchischen Ordnung blockiert war." 68 So bildete sich mit dem PLN eine „neuartige, programmatisch orientierte Mitgliedschaftspartei mit starker Basisorganisation" heraus, die „den Typus der personalistisch geprägten Traditionsparteien sprengte." 69 Die Wurzeln des PLN reichen zurück bis ins Jahr 1937, als sich junge Intellektuelle der rechtswissenschaftlichen Fakultät in der Asociación Cultural de los 67 68

69

J L. Vega Carballo, 1992, 207. M. Solís Avedaño/M Rojas Bolaños, Costa Rica: Kommt ein Pakt von Sozialdemokraten und Neoliberalen'' in: A Maislinger (Hrsg.), 1986, 217-234, hier: 224 U. Fanger, 1991, 17

Das System der politischen Willensbildung

147

Estudiantes de Derecho zusammenschlössen, die 1939 in den Consejo Estudiantil Universitario und im Mai 1940 schließlich in das Centro para e! Estudio de los Problemas Nacionales überging.70 Carlos Araya Pochet bezeichnet die Gründung des C E.P N. als ein Ereignis von besonderer Tragweite für die politische und institutionelle Entwicklung des Landes, da es mit den Jahren zur Keimzelle wurde, aus welcher der PLN hervorging.71 Diese von Rodrigo Fació geleitete Organisation bildete -wie bereits in einem früheren Abschnitt näher ausgeführt- eine Allianz mit dem von dem agro-industriellen Unternehmer José Figueres Ferrer geleiteten Partido Acción Demócrata. Die Führer dieser Gruppierungen gründeten 1949 zusammen den Partido Social Demócrata, der als unmittelbarer Vorläufer des PLN angesehen werden kann. In seinem Grundsatzprogramm aus dem Jahre 1951 bezeichnete sich der PLN als sozialdemokratische Partei, wobei sich seine Begriffsdefinition nicht „wie bei der europäischen Sozialdemokratie aus dem reformistischen Flügel der Arbeiterbewegung"72 ableitete, sondern „der politische Ausdruck der wirtschaftlichen Emanzipation der (vornehmlich agrarischen) Kleinbourgeoisie gegenüber der traditionellen Oligarchie und gegen die Arbeiterbewegung"73 war. Die in der Carta Fundamental umrissene ideologische Konzeption des PLN war maßgeblich beeinflußt durch das Gedankengut der europäischen Sozialdemokratie, die Ideen der peruanischen Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA) Víctor Raúl Haya de la Torres und das nordamerikanische Freiheitsdenken.74 Sie implizierte ein kapitalistisches Wirtschaftsmodell auf der Basis einer mixed economy, die an den Theorien Keynes' und am New Deal Roosevelts orientiert ist: Ein intervenierender Staat fördert sowohl die Investitionsbereitschaft als auch die Umverteilung -also die soziale Gerechtigkeit-, und zwar in einem repräsentativ-demokratischen Rahmen, der die Einhaltung der individuellen und politischen Grundrechte gewährleisten sollte.75 Im Vorfeld der Wahlen 1953 erarbeitete der Movimiento de Liberación Nacional, die intellektuelle Unterorganisation der gleichnamigen Partei, ein Programm, in dem die recht abstrakt und allgemein gehaltenen Postulate der Carta Fundamental konkretisiert wurden. Mit Hilfe dieser Vorleistung gelang es José Figueres FeiTer, der als erster Präsidentschaftskandidat des PLN in den Wahlkampf zog, eine große Anhängerschaft aus allen gesellschaftlichen Bereichen für sich und seine Partei zu gewinnen. Denn mit den Versprechen, das Privateigentum grundsätzlich unangetastet zu lassen, die landwirtschaftliche Produktion zu 70

71

72 73 74 73

Vgl O. Aguilar Bulgarelli, Democracia y Partidos Políticos en Costa Rica, San José 1989, 29 Vgl C. Araya Pochet, Historia de los Partidos Políticos - Liberación Nacional, San José 1969, 14, zit. nach O Aguilar Bulgarelli, 1989d, 29 K Tippmann, 1986, 213 M Solís Avedaño/M. Rojas Bolaños, 1986, 217 f Vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1989d, 40 Zu den in der Carta Fundamental formulierten Grundsätzen im einzelnen siehe O. Salazar Mora/J M Salazar Mora, 1991, 96.

148

4 Demokratie in der ..Zweiten Republik"

diversifizieren und zu intensivieren, den Aufbau einer einheimischen Industrie zu forcieren, Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, des Gesundheits- und Erziehungswesens zu ergreifen, die Armut zu bekämpfen, die demokratischen Institutionen zu stärken sowie eine anti-kommunistische und pro-amerikanische Außenpolitik zu verfolgen, erreichte man neben den Mittelschichten auch Teile der Oligarchie und vor allem der Arbeiterschaft, die seit dem Verbot der Kommunistischen Partei und der Niederlage des calderonismo im Bürgerkrieg über keine politische Vertretung mehr verfugten. Mit 64,7% der Stimmen konnte der PLN sowohl die Präsidentschaftswahlen als auch die Kongreß- und Kommunalwahlen für sich entscheiden.76 Bereits nach Ablauf der Hälfte der Amtszeit Figueres' entwickelte sich eine der emsthaftesten parteiinternen Krisen in der Geschichte des PLN, als sich anläßlich der Debatte um den Präsidentschaftskandidaten für 1958 die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Strömungen herauskristallisierten: Die traditionelle Führungselite um Figueres, die sich schon in der Zeit von 1945-1949 gegenüber dem Centro durchgesetzt hatte und die auch die oligarchischen Sektoren des PLN repräsentierte, favorisierte die Kandidatur von Francisco Orlich, während die hauptsächlich nach 1948 hinzugekommene jüngere Generation von Universitätsstudenten und Intellektuellen Jorge Rossi Chavania unterstützte." Bei einer Abstimmung fiel die Entscheidung mit 38 zu 28 Stimmen zugunsten von Orlich. Daraufhin beschloß die Gruppe um Jorge Rossi, sich von der Partei zu trennen und den Partido Independiente zu gründen, der bei den Wahlen nur 11% der Stimmen erhielt, da sich seine programmatischen Aussagen nicht wesentlich von denen der „Stammpartei" unterschieden." Die Spaltung bewirkte jedoch, daß der PLN geschwächt wurde und -zumindest bei den Präsidentschaftswahlen- seine Mehrheit an die Oppositionsparteien verlor.79 Kurze Zeit später schlössen sich Jorge Rossi und der größte Teil seiner Anhänger wieder dem PLN an, und die Flügelkämpfe um den Präsidentschaftskandidaten setzten sich fort: Für die Wahl 1962 präsentierte das konservative Lager emeut Francisco Orlich, dem die progressiven Fraktionen Daniel Oduber Quirós gegenüberstellten, der sich jedoch ebenfalls -wie zuvor Jorge Rossi- nicht behaupten konnte. Da die Uneinigkeiten diesmal keine Aufsplitterung mit sich brachten, errang der „wiedervereinte" PLN mit Francisco Orlich an der Spitze einen eindeutigen Wahlsieg.80 Daniel Oduber kandidierte bei den Präsidentschaftswahlen 1966, die er jedoch gegen den Kandidaten der Opposition José Joaquín Trejos Fernández verlor. Danach entbrannte eine innerparteiliche Debatte um die Reformbedürftigkeit 76 77 78 79 80

Vgl J. L Vega Carballo, 1992, 208 Vgl O. Aguilar Bulgarelli, 1989d, 43 ff Vgl O. Salazar Mora/J. M. Salazar Mora, 1991, 98 Vgl. J Delgado Rojas, Costa Rica: Régimen Politico (1950-1980), San José 1992, 22. Vgl. R. H. McDonald/J. M. Ruhl, Party Politics and Elections in Latin America, Boulder/San Francisco/London 1989, 172.

Das System der politischen Willensbildung

149

der wirtschafts- und sozialpolitischen Leitlinien aus dem Jahre 1948, aus welcher der sogenannte Manifiesto de Patio de Agua (1968) und eine neue Carta Fundamental (1969) resultierten. In diesen Programmen wurde die Forderung nach einer stärkeren staatlichen Intervention im wirtschaftlichen Bereich, einer mehr an den unteren Einkommensklassen orientierten Sozialpolitik und einer über den bloßen Wahlakt hinausgehenden, effektiveren Partizipation der Öffentlichkeit proklamiert. Neben politisch-ideologischen bestimmten personelle und generationsbedingte Konflikte die Auseinandersetzung um den Präsidentschaftskandidaten für 1970. Zur Disposition standen José Figueres Ferrer, der - d a Art. 132 der Verfassung von 1949 in seiner damals noch gültigen Form ein Wiederwahlverbot nur für zwei aufeinanderfolgende Legislaturperioden vorsah- ein weiteres Mal kandidieren konnte, und Rodrigo Carazo Odio, der von einer Gruppe unterstützt wurde, die sich gegen den caudillismo der Gründerväter auflehnte und für eine Demokratisierung der inneren Strukturen plädierte." Rodrigo Carazo unterlag in der Abstimmung Figueres, trennte sich vom PLN und gründete den Partido Renovación Democrática, was jedoch keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Ausgang der Wahlen hatte, aus denen Figueres emeut als Sieger hervorging.'2 Als Ergebnis eines harten Kampfes innerhalb des PLN übernahm 1974 Daniel Oduber die Präsidentschaft und damit erstmalig ein Mitglied des C.E.P.N. Mit ihm „traten auch eine Reihe liberaler Akademiker und Geschäftsleute in den Vordergrund, die nicht zu den 'historischen Kadern' des PLN gehörten."" Grundsätzlich setzte die Regierung die „orthodoxe" Richtung der Politik ihrer Vorgänger fort, nahm aber parallel dazu Modifikationen vor, die einen Bruch mit der figueristischen PLN-Tradition bedeuteten. Neu waren die Kritik am dezentralisierten Staat, an der schwachen Position der Exekutive und vor allem des Präsidenten sowie am steigenden Ausmaß der Staatsintervention, bei dem sich der Staat nicht mehr wie in den 20 Jahren zuvor darauf beschränkte, Investitionsbedingungen zu schaffen, sondern selbst unternehmerische Funktionen übernahm.*4 Mit der Wahl Odubers war es dem PLN erstmals gelungen, den Rhythmus des regelmäßig alternierenden Machtwechsels zu unterbrechen und für zwei aufeinanderfolgende Legislaturperioden den Präsidenten zu stellen, während er erstmals seine absolute Mehrheit im Kongreß einbüßte.'5 Seine größte Wahlniederlage erlitt der PLN 1978, als der parteiintern relativ unumstrittene Luis Alberto Monge Alvarez die Präsidentschaftswahl verlor und die Partei mit 38,9% der Stimmen bei den Parlamentswahlen das schlechteste Ergebnis seit ihrem Bestehen hinnehmen mußte." " *2 13 84

" 86

Vgi. O. Salazar Mora/J M. Salazar Mora, 1991, 100 Vgl. J Delgado Rojas, 1992, 22 f. M. Solis Avedaño/M. Rojas Bolaños, 1986, 230 Vgl. M Solis Avedaño/M Rojas Bolaños, 1986, 231 f. Vgl. U Fanger/B Thibaut, 1992, 78 Vgl R. H McDonald/J M. Ruhl, 1989, 172.

150

4. Demokratie in der „Zweiten Republik"

Angesichts der Folgen der Wirtschaftskrise, die seit Ende der 70er Jahre voll zum Ausbruch gekommen war, beherrschte die Diskussion um das künftige Regierungsprogramm -mehr als persönliche Rivalitäten- die Auseinandersetzung um den Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen 1982. „Innerhalb des PLN wurde anscheinend zum ersten Mal offen darüber debattiert, wie das künftige politische und wirtschaftliche Entwicklungsmodell auszusehen habe", was „zu einer wirklichen politischen Polarisierung innerhalb der Partei"87 führte. Der „rechte" Flügel unterstützte Carlos Manuel Castillo, während die „linken" Sektoren für eine erneute Kandidatur Luis Alberto Monges votierten. Monge, „ein Mann des Parteiapparats, ohne großen persönlichen Glanz, aber mit einem langen innerparteilichen Werdegang"", setzte sich durch und gewann die Präsidentschaftswahl mit großer Mehrheit, ebenso wie seine Partei, die mit 55,2% der Stimmen ihr bestes Ergebnis seit 1953 bei den Parlamentswahlen erzielte. Mit der Präsidentschaft Monges endete die Ära der traditionellen PLN-Führer der generación del 48. Nachdem intensive innerparteiliche Flügelkämpfe über Jahre hinweg ein ständiges in-ßghting bei der Bestimmung der Spitzenkandidaturen hinter den Kulissen der Parteitage provoziert hatten, führte der PLN 1985 Primärwahlen ein, um die Entscheidungsbasis zu verbreitern." Aus dem kostspieligen Vorwahlkampf, der jeweils eineinhalb Jahre vor dem Wahltermin beginnt, ging Oscar Arias Sánchez, der gegen den von Figueres und Oduber protegierten Carlos Manuel Castillo angetreten war, als eindeutiger Sieger hervor. Arias, der den Aufstieg einer neuen Generation innerhalb des PLN verkörperte, gewann 1986 die Präsidentschaftswahl, und auch seine Partei erlangte bei den Parlamentswahlen -obgleich mit einigen Einbußen gegenüber 1982- die absolute Mehrheit.90 In den beiden aufeinanderfolgenden Legislaturperioden zwischen 1982 und 1990 hat der PLN als Regierungspartei „die -freilich vorsichtige- Wende der von ihm seit den 50er Jahren vertretenen reformistischen Entwicklungsstrategie selbst vollzogen", da sich bei den „teilweise erbitterten programmatischen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei [. . .] in der zweiten Hälfte der 80er Jahre der neoliberale Flügel"91 durchsetzte. Die internen Flügelkämpfe und die daraus resultierende Überzeugungsschwäche der Partei, eine mangelhaft konzipierte Wahlstrategie, das Fehlen von konkreten sozialpolitischen Programmaussagen, Korruptions- und Drogengeldaftaren sowie die Grundtendenz vor allem innerhalb eines parteilich ungebundenen Segments der Mittelschichten, durch Regierungswechsel eine für den Erhalt der Demokratie als notwendig erachtete Machtkontrolle auszuüben, gehörten zu den entscheidenden Faktoren, die dazu beitrugen, einen er11

88 89 90 91

M Trejos, Zur aktuellen politischen Lage, in: M Ernst/S Schmidt (Hrsg ), 1986, 26-39, hier: 26 M Trejos, 1986,28. Vgl. U. Fanger, 1991, 18. Vgl R H McDonald/J M Ruhl, 1989, 175 U. Fanger/B. Thibaut, 1992, 79.

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neuten Sieg des PLN sowohl bei den Präsidentschaftswahlen -diesmal mit Carlos Manuel Castillo als Kandidaten- als auch bei den Parlamentswahlen 1990 zu verhindern.92 Im Mittelpunkt des PLN-Wahlkampfes 1994 stand als Präsidentschaftskandidat der Sohn des im Jahre 1990 verstorbenen Gründervaters Don Pepe José María Figueres und sein Versprechen, den ursprünglich vom PLN eingeschlagenen Weg, der wirtschaftlichen Fortschritt mit sozialer Gerechtigkeit verbindet, wieder aufzunehmen. Mit dieser Strategie, die nicht nur an bewährte ideologischprogrammatische Aussagen, sondern auch an überwunden geglaubte personalistische Strukturen anknüpfte, gelang es dem PLN, Teile seiner Wählerschaft wiederzugewinnen und die Wahlen mit knapper Mehrheit -die Differenz zur Oppositionspartei betrug nur 2%- für sich zu entscheiden.93 Der PLN ist die erste Partei in Costa Rica, die sich nicht nur zum Zwecke der Wahl zusammenschloß und kurz danach wieder auflöste, sondern eine permanente Organisationsstniktur aufweist. Das nationale Direktorium setzt sich aus dem vom Parteipräsidenten, dem Generalsekretär und dem Schatzmeister gebildeten Exekutiv-Komitee, dem Vorsitzenden der Kongreßfraktion und weiteren zehn Parteisekretären zusammen. Zu seinen Aufgaben gehören die Leitung der parteilichen Angelegenheiten sowie die Koordination und Administration der landesweiten grass-roots organizations, die trotz weiter Verbreitung dazu neigen, zwischen den Wahlen inaktiv zu sein.94 Die weitgehende Beschränkung der Tätigkeit der Basisorganisationen auf Wahlkampfaktivitäten beruht zum Teil auf der Tatsache, daß der Partido Liberación Nacional zum Zeitpunkt seiner Gründung eine „Kaderpartei" {partido de cuadros) mit äußerst geschlossenen Strukturen war: Das Grundsatzprogramm wurde unterzeichnet von 25 Mitgliedern, jeder Antrag auf eine neue Parteimitgliedschaft bedurfte ihrer Zustimmung.95 Obwohl der PLN sein Parteistatut später reformierte, um sich gegenüber breiteren Gesellschaftsschichten zu öffnen, blieb die elitäre Ausgangssituation ein Hindernis bei der Integration der intermediären Organisationen und bei der Transformation von einer „Kaderpartei" zu einer echten Massenpartei.96 Nach Einschätzung von Orlando und Jorge Mario Salazar Mora ist es dem PLN bis heute noch nicht gelungen, eine wirklich sozialdemokratische Partei zu 92

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94 95

96

Vgl U Fanger, 1991, 20 f , S. Mainwaring/T. R. Scully, Conclusion: Parties and Democracy in Latin America - Different Patterns, Common Challenges, in: dies, (eds ), Building Democratic Institutions: Party Systems in Latin America, Stanford 1995, 459474, hier: 464/470 Vgl. Aportes, No. 104, Marzo - Abril - Mayo 1994, 2; O. Dabène, Amérique centrale: les élections de 1993-1994, in: Problèmes d'Amérique latine, No. 15, 1994, 61-72, 65 f. Vgl. R H McDonald/J M Ruhl, 1989, 175 Vgl M Carballo Q., El Partido Liberación Nacional: necesidad de nuevos contenidos y formas de acción, in: J. M. Villasuso Estomba (ed.), 1992, 313-322, hier: 316 Vgl. M Prieto J , Cambios en las organizaciones políticas costarricenses, in: J M. Villasuso Estomba (ed.), 1992, 277-286, hier: 281.

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werden, da sich folgende Faktoren negativ auf seine Entwicklung ausgewirkt haben: • das große Gewicht des personalismo; • der Einfluß des (Neo-)Liberalismus auf die Wirtschaftspolitik; • der carácter policlasista der Partei, der Konflikte schafft zwischen den verschiedenen sozialen Gruppierungen, deren jeweilige Interessen sich bei Entscheidungsprozessen teils diametral entgegenstehen; • der externe Druck, der von internationalen Finanzorganisationen ausgeübt wird, um eine sozial gerechtere Umverteilungspolitik zu verhindern; • die durch die Wirtschaftskrise und die Kriegssituation der Region hervorgerufenen strukturellen Beschränkungen sowie • die Entfernung von den ursprünglichen Werten und Grundsätzen der Partei, mit der eine generelle Orientierungs- und Führungskrise einhergeht.97 Vor allem während der 80er Jahre hat sich wegen des Widerspuchs zwischen den verkündeten sozialdemokratischen Prinzipien und der neoliberalen Praxis die Kluft zwischen Parteibasis und Parteispitze so vergrößert, daß sich viele Anhänger des PLN enttäuscht von der Organisation abgewendet haben.98 Der PLN ist eines der aktivsten außereuropäischen Mitglieder der Sozialistischen Internationale.99 Ob er, wie von seiner Jugendorganisation und seinem linken Flügel gefordert, zu seinen sozialdemokratischen Leitlinien der früheren Jahre zurückkehren will oder kann, wird sich erst in Zukunft herausstellen. Zumindest bis Mitte der 80er Jahre hat der PLN seine dominante Stellung innerhalb des costaricanischen Parteiensystems erhalten. Durch den Ausbau des öffentlichen Dienstes und der autonomen Institutionen hat er seine Position gestärkt und seinen Einfluß und die Kontrolle über sein proyecto histórico auch dann nicht verloren, wenn er nicht die Regierungsgeschäfte leitete. Da die konservativ-liberalen Gruppierungen kein integrales alternatives Entwicklungskonzept anbieten konnten und bis 1990 auch nie über die absolute Mehrheit im Kongreß verfugten, standen sie ständig in Opposition zum PLN, obwohl sie bei Präsidentschaftswahlen mehrfach erfolgreich waren.100 4.2.1.2 Die „Oppositionsparteien" Im Gegensatz zu den sozial-reformistischen Kräften, die sich in einer permanenten, programmatischen Partei zusammenschlössen, waren auf der anderen Seite 97 98 99 100

O Salazar Mora/J M. SalazarMora, 1991, 143. Vgl. T Barry, 1989, 14. Vgl. M. Alcántara Sáez, 1989, 159. Vgl J L. Vega Carballo, Parties, Political Development and Social Conflict in Honduras and Costa Rica: A Comparative Analysis, in: J L Flora/E. Torres-Rivas, Sociology of „Developing Societies" - Central America, London 1989, 92-111, hier: 102 f.

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des politischen Spektrums die „meist personalistischen und programmatisch diffusen bürgerlichen Gruppierungen" des liberal-konservativen Lagers „bis in die 80er Jahre hinein weitgehend desorganisiert."101 Zu Beginn der Segunda República befanden sich die maßgeblichen Führer des christlich-demokratisch orientierten Partido Republicano Nacional als Folge des Bürgerkriegs im Exil. Da ihre Partei somit „verwaist" zurückblieb102, schlössen sich die antiliberacionistas unterschiedlichster Provenienz verschiedenen politischen Gruppierungen an: zunächst dem Partido Unión Nacional des von 1949-1953 amtierenden Präsidenten Ulate, dann dem 1941 gegründeten Partido Demócrata des Ex-Präsidenten León Cortés. Beide Parteien repräsentierten die Interessen der alten Sektoren der Kaffee- und Finanzbourgeoisie und vertraten eine klare Linie wirtschaftsliberaler laissez-faire-PoMtik. Für die Wahlen 1953 einigte man sich auf Fernando Castro Cervantes aus den Reihen des Partido Demócrata als gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten, den auch Calderón Guardia von seinem Exil in Mexiko aus unterstützte. Doch Castro unterlag dem Gegenkandidaten des PLN Figueres deutlich.10' Wie schon im Wahlkampf 1953 verzichteten die Oppositionsparteien zum PLN auch 1958 auf ein eigenes Regierungsprogramm und beschränkten sich auf die Kritik an der staatlichen Intervention im Wirtschaftsprozeß und an den sozialen Reformplänen der Regierung.104 Dennoch gewann Mario Echandi Jiménez, der 1953 zugunsten von Castro Cervantes auf die Kandidatur verzichtet hatte und innerhall des Partido Unión Nacional über das beste Image und die meiste politische Erfahrung verfugte, die Präsidentschaftswahlen, was nicht zuletzt auf die Spaltung des PLN zu diesem Zeitpunkt zurückzufuhren war.105 In der Wahlkampagne des Jahres 1962 spaltete sich die Opposition auf in „Caldercnisten" und „Ulatisten". Der Partido Republicano Nacional, der noch immer lindesweit organisiert war und mit der Unterstützung der unteren Einkommemschichten -vor allem der städtischen Arbeiterschaft und der Beschäftigten im Eananenanbau- rechnen konnte, präsentierte Calderón Guardia nach seiner Rückkehr aus dem Exil als Präsidentschaftskandidaten. Obwohl die „Caldercnisten" versuchten, mit einigen Versprechungen an ihre reformistische Linie der 40er Jahre anzuknüpfen, blieben sie weit hinter dem Anspruch ihrer damaligen Sozialprogramme zurück.106 Der Partido Unión Nacional verfolgte seine eilgeschlagene politische Richtung weiter, nominierte den Ex-Präsidenten und Parti-caudillo Ulate zu seinem Kandidaten, erhielt aber bei den Wahlen nur noch 133% der Stimmen. Doch selbst mit den 33,5% der Stimmen, die der Par101 102

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U F¡nger/B. Thibaut, 1992, 76 Vgl. O Aguilar Bulgarelli, Una nueva vía política social-cristiana, in: J. M. Villasuso Estonba (ed ), 1992, 287-312, hier: 288. Vgl. D Sal azar Mora/J. M Salazar Mora, 1991, 104. Vgl. i Delgado Rojas, 1992, 24. Vgl. 1 Salazar Mora/J M Salazar Mora, 1991, 105. Vgl. i Delgado Rojas, 1992, 24

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tido Republicano Nacional erlangte, hätte dies nicht gereicht, um den PLN zu besiegen.107 Vor den Wahlen 1966 schlössen sich die Parteien Republicano Nacional und Unión Nacional zusammen und gründeten den Partido Unificación Nacional, was den ersten emsthaften Versuch darstellte, eine Alternative zum PLN in Form einer permanenten, ideologischen Oppositionspartei zu etablieren. Man erarbeitete ein an liberalen und christlich-sozialen Grundsätzen orientiertes Parteiprogramm; aus der Sozialdoktrin der Katholischen Kirche wurde ein auf dem „Subsidiaritätsprinzip" beruhendes Staatsverständnis übernommen, das dem Staat gegenüber der individuellen Selbstverantwortung und der Privatinitiative nur eine untergeordnete, ergänzende Rolle zubilligte.10' Diese Auffassung, die sich gegen die „patemalistische" Staatskonzeption der Sozialdemokraten richtete, wurde im Laufe der Jahre zum bestimmenden Argument der Oppositionsparteien im Kampf gegen die zunehmend interventionistische Politik des PLN.109 Neben der Notwendigkeit eines Parteiprogrammes erkannte man auch, daß die alten caudillos nicht mehr genügend Anziehungskraft bei den Wählern besaßen und entschied sich für die Nominierung des politisch völlig unerfahrenen Universitätsprofessors José Joaquín Trejos Fernández zum Präsidentschaftskandidaten." 0 Dieser setzte sich zwar mit knapper Mehrheit gegen Daniel Oduber durch, doch verdankte der Partido Unificación Nacional den Sieg weniger seiner Person, als vielmehr verschiedenen Konstellationen. Zum einen brachte die Identifikation der republikanischen Partei mit den Sozialreformen der 40er Jahre noch immer viele Wählerstimmen ein, zum anderen stellte das Großbürgertum beträchtliche finanzielle Ressourcen bereit, um einen Machtwechsel zu unterstützen." 1 Weil es an neuen Führungskräften mangelte, kandidierte Mario Echandi 1970 erneut für den Partido Unificación Nacional. Obwohl er die programmatischen Leitlinien des vorherigen Wahlkampfes übernahm, hatte er jedoch gegen Figueres keine Chance. Auch der neugegründete reformistische Partido Demócrata Cristiano blieb bei diesen Wahlen ohne Bedeutung.112 Nach Calderóns Tod im Juni 1970 verlor der Partido Unificación Nacional seine -ohnehin nicht besonders stark ausgeprägte- innere Stabilität. Unter den neuen Parteien, die sich zu den Wahlen 1974 formierten, befanden sich der Partido Nacional Independiente unter dem Vorsitz von Jorge González Martén, mit christlich-sozialer, auf humanistischen Grundsätzen beruhender Orientierung und der Partido Renovación Democrática, der „eher aus personellen Gründen als auf

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl

O. S al azar Mora/J. M. Salazar Mora, 1991, 106 f. J. Rovira Mas, Costa Rica en los años 80, San José 1989 (3. ed ), 23. J. Rovira Mas, 1988, 165 F. J Thomas Gallardo/C. Gallardo Volio, 1993, 44 J. Rovira Mas, 1988, 164. O Salazar Mora/J. M Salazar Mora, 1991, 109.

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der Grundlage eines unverkennbaren programmatischen Konzepts"" 3 von Rodrigo Carazo gegründet wurde, der Anfang der 70er Jahre aus dem PLN ausgetreten war. Außerdem stellte sich der Partido Demócrata Cristiano mit seinem Vorsitzenden Jorge Arturo Monge Zamora als Präsidentschaftskandidat zur Wahl. Obwohl der PLN das schlechteste Wahlergebnis seit seinem Bestehen verbuchen mußte (42,5%) und die Oppositionsparteien zusammen eine klare Mehrheit erreicht hätten, gelang es ihnen wegen ihrer Aufsplitterung nicht, den Präsidenten zu stellen.114 Aus dieser Erfahrung lernten die oppositionellen Gruppierungen endgültig, daß sie nur gemeinsam ihr Ziel erreichen konnten. Im Januar 1976 unterzeichneten die Vertreter der Parteien Renovación Democrática, Demócrata Cristiano, Nacional Independiente sowie des -nach den Wahlen 1974 aus dem „calderonistischen" Flügel der republikanischen Partei hervorgegangenen"5 - Republicano Calderonista und der konservativen Splitterpartei Unión Popular den Pacto de Ojo de Agua, um zu den Wahlen 1978 als vereinte Opposition unter dem Namen Unidad anzutreten. In demselben Dokument kamen die Parteien überein, eine autoridad superior zu schaffen, die allen Beteiligten die gleichen Chancen und Rechte garantieren sollte.116 Am 17. Mai 1977 wurde auf einem Parteitag der Präsidentschaftskandidat der Coalición Unidad gewählt. Zur Disposition standen der Unternehmer Miguel Barzuna, der von den konservativen Sektoren unterstützt wurde, und Rodrigo Carazo Odio, der eine neue Generation von Politikern verkörperte, die eine „demokratische Erneuerung" forderten. Carazo erhielt eine Mehrheit von 54,4% und übernahm auch die Führung der neuen Koalition.117 In ihrem Grundsatzprogramm mit dem Titel Progreso con Dignidad, das vorwiegend vom Partido Demócrata Cristiano ausgearbeitet worden war, vertrat die Unidad „in allgemeiner Form die Grundwerte des Personalismus und des Gemeinwohls"118. Dabei plädierte sie vor allem für eme Begrenzung der staatlichen Intervention, schrieb dem Individuum und der „kleinen" Gemeinschaft eine fundamentale Rolle im Entwicklungsprozeß zu und betonte die Notwendigkeit einer kapitalistischen Modernisierung bei strikter Einhaltung der Freiheitsrechte.119 Obwohl der Koalition, die sich im Wahlkampf als Partei des Social Cris113

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M. Rabeneick, Partido Unidad Social Cristiana, in: A Maisiinger (Hrsg.), 1986, 235-245, hier: 236. Vgl. Ch. D. Ameringer, 1982, 64 Nachdem sich der „calderonistische" Flügel vom Partido Unificación Nacional getrennt und unter der Leitung von Rafael Angel Calderón Fournier, dem Sohn des Ex-Präsidenten Calderón Guardia, den Partido Republicano Calderonista gegründet hatte, existierte Unificación nur noch als kleine Gruppierung, die bei den Wahlen von 1978 noch 3,1% der Stimmen erhielt und sich danach auflöste, vgl. O. Aguilar Bulgarelli, 1992, 292 Vgl O Salazar Mora/J M SalazarMora, 1991, 147 Vgl. O Aguilar Bulgarelli, 1992, 292. M. Rabeneick, 1986, 237. Vgl O Salazar Mora/J M SalazarMora, 1991, 147

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lianismo vorstellte, weiterhin die Grundlagen einer Parteiorganisation und ein gemeinsames ideologisches Fundament fehlten, gewann sie -nicht zuletzt wegen der charismatischen Persönlichkeit Carazos und des Willens der Wählerschaft, eine dritte Machtübernahme des PLN in Folge zu verhindern- mit 50,5% der Stimmen die Präsidentschaftswahl und mit 43,4% erstmals eine relative Mehrheit im Kongreß. Die Bildung einer Koalition erwies sich damit als strategisch riehtig.120 Bereits kurz nach ihrem Wahlsieg plante die Coalición Unidad eine Reform des Wahlgesetzbuches, die den Zusammenschluß der Koalitionspartner zu einer einzigen Partei ermöglicht hätte, ohne den Anspruch auf die Wahlkampfkostenerstattung zu verlieren. Interne Flügelkämpfe, die soweit führten, daß sogar das Fortbestehen der Koalition gefährdet war, verhinderten jedoch die Realisierung dieses Vorhabens. Nach personellen Veränderungen in der Parteispitze des Partido Renovación Democrática, in deren Folge Oscar Aguilar Bulgarelli statt Carazo den Vorsitz übernahm, wurde jedoch der Koalitionspakt der Unidad für die Wahlen 1982 erneuert und Rafael Angel Calderón Fournier zu ihrem Präsidentschaftskandidaten gewählt.121 Die vernachlässigte Arbeit an einer Parteiorganisation war einer der Gründe für das schlechte Abschneiden der Koalition sowohl bei den Präsidentschaftswahlen (33,6%) als auch bei den Kongreßwahlen (29,1%), da die vier Koalitionsparteien „weiterhin jeweils ihre eigene, aber unbedeutende Organisationsstruktur" hatten, „so daß die Unidad nicht schlagkräftig genug in einem Wahlkampf auftreten konnte."122 Hauptursache der deutlichen Wahlniederlage war wohl der Prestigeverlust der Regierung Carazo, die angesichts der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise die Erwartungen ihrer Wählerschaft, die durch populistische Wahlversprechen geweckt worden waren, nicht erfüllte.121 Unmittelbar nach den Wahlen beschlossen die Koalitionsparteien in ihren jeweiligen Nationalversammlungen, den gemeinsamen Weg fortzusetzen und ihre Bemühungen um eine endgültige Parteienfusion zu intensivieren. Nach erfolgreichen Verhandlungen mit der Mehrheitspartei PLN, deren Zustimmung erforderlich war, um einige gesetzliche Hemmnisse zu beseitigen, wurde am 14. Dezember 1982 der Artikel 196 des Código Electoral geändert: Bei einer Fusion bisheriger Koalitionsparteien zu einer einzigen Partei sollte die der Koalition zustehende hohe Wahlkampfkostenerstattung nicht verfallen, sondern der neuen Partei zufließen.124 Zudem wurden wahlrechtliche Neuregelungen getroffen, die Koalitionsbildungen auf parlamentarische Aktivitäten nach den Wahlen beschränken und Wahlbündnisse ausschließen, bei denen die einzelnen Parteigruppierungen unter

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Vgl. M Rabeneick, 1986, 237 Vgl O. Aguilar Bulgarelli, 1992, 29f f M. Rabeneick, 1986, 237 Vgl. J Delgado Rojas, 1992, 27 Vgl M Rabeneick, 1986, 238.

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dem Decknamen eines Wahlbündnisses weiterbestehen.125 Damit waren die Rahmenbedingungen für den Zusammenschluß mittels eines Paktes geschaffen, den Jorge Rovira Mas als ein Paradebeispiel für die konsensuale politische Kultur Costa Ricas bezeichnet, das auch die übliche Art und Weise der Verhandlungen zwischen dem PLN und den Oppositionsparteien bzw. -allianzen ab 1982 veranschaulicht: Die Wahlgesetzreformen wurden genau zu dem Zeitpunkt verabschiedet, als die Wirtschaftskrise ihren Höhepunkt erreichte und der damalige Präsident Luis Alberto Monge dringend die Unterstützung der Opposition in der Asamblea Legislativa benötigte, um einige Gesetzesvorhaben durchzusetzen, die ein möglichst reibungsloses Krisenmanagement ermöglichen sollten.126 Als nächsten Schritt erarbeitete eine aus Vertretern aller beteiligten Parteien paritätisch zusammengesetzte Kommission ein 18 Punkte umfassendes Grundsatzprogramm und eine Parteisatzung, um eine gemeinsame ideologische und organisatorische Basis herzustellen. Am 16. Dezember 1983 gründeten die vier Koalitionsparteien schließlich den Partido Unidad Social Cristiana (PUSC).127 Bei der Carta Ideolögica des PUSC12*, die bis einschließlich 1986 zugleich als Regiemngsprogramm diente, handelte es sich „um ein systematisch aufgebautes und für eine christlich-demokratische Partei Lateinamerikas typisches Programm", das „von seiner Funktion her gesehen keinen Katalog konkreter politischer Maßnahmen"129 enthielt. Als wichtigste Prinzipien und Ziele definiert es die Wahrung der Würde des Menschen, die Verwirklichung des Gemeinwohls durch soziale Gerechtigkeit, die Etablierung einer repräsentativen und partizipativen Demokratie, die Verbindung von unternehmerischer Freiheit mit sozialer Verantwortung sowie die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips von seiten des Staates. Das Parteistatut verpflichtet den PUSC auf die Respektierung der christlichsozialen Grundsätze und regelt den organisatorischen Aufbau der Partei von den kleinsten Basiseinheiten der Stadtviertel oder Gemeinden über Distrikte, Kantone und Provinzen bis hin zur nationalen Ebene, deren höchste Autorität die Asamblea National darstellt. Zwar besteht ein Direktorium aus 26 Mitgliedern, doch trägt die größte politische und organisatorische Verantwortung in der Praxis das Parteipräsidium, das sich aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten, einem Generalsekretär und einem Schatzmeister zusammensetzt. Allerdings legt die Satzung nicht fest, wer die konkrete Politik der Partei formulieren soll.130 Als institutionelle Besonderheit ist die Einrichtung eines „ideologischen Kongresses" hervorzuheben, der spätestens alle zwei Jahre einberufen werden und die Aufgabe erfüllen soll, „die notwendige programmatische Integration der Partei zu fördern, 125 126

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Vgl U. Fanger, 1991, 17 Vgl. J. Rovira Mas, Costa Rica 1994: Konsolidierung des Zweiparteiensystems?, in: Lateinamerika. Analysen - Daten - Dokumentation, Hamburg 1995, Nr. 28, 32-38, hier: 33. Vgl. O. Aguilar Bulgareiii, 1992, 296 ff. Der vollständige Text der Carta Ideolögica ist wiedergegeben bei O. Aguilar Bulgarelli, 1992, 301-311. M Rabeneick, 1986, 243. Vgl M Rabeneick, 1986, 239 f

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die Fachkompetenz der Partei für die politische Auseinandersetzung zu stärken und die fachliche Diskussion der Partei in der Öffentlichkeit sichtbar werden zu lassen."131 Für die Präsidentschaftswahlen am 2. Februar 1986 stellten sich zwei Kandidaten der innerparteilichen Abstimmung. Rafael Angel Calderón Foumier, der zuvor satzungsgemäß von seinem Amt als Parteipräsident zurückgetreten war, und Oscar Aguilar Bulgarelli, der Calderón unterlag und daraufhin aus dem PUSC austrat, da nach seinem Ermessen die „calderonistische" Gruppierung in der Partei zuviel Einfluß ausübte. Obwohl Calderón und der PUSC die Wahl nicht gewannen, bewies das gegenüber 1982 beträchtlich verbesserte Wahlergebnis zum einen die breitere Akzeptanz der Person Calderóns, den man jetzt nicht mehr so sehr mit der Regierungspolitik Carazos identifizierte wie zuvor, und zeigte zum anderen die positiven Auswirkungen der Partei-Organisation.132 Aus der verlorenen Wahl zog Calderón Fournier, als er 1990 zum dritten Mal für die Präsidentschaftswahl kandidierte, die Lehre, daß die abstrakten ideologischen Leitlinien und Zielvorstellungen des Grundsatzprogramms, die in allgemeiner Form ein neoliberales Wirtschaftsmodell implizierten, nicht ausreichten, um den bevorstehenden Wahlkampf erfolgreich zu bestreiten. Der PUSC entwickelte daher eine Reihe konkreter sozialpolitischer Programmpunkte, die Calderón dazu nutzte, „teilweise in deutlich populistischer Überzeichnung frühzeitig Wahlversprechungen" zu machen, „die sehr exakt auf den als wahlentscheidend vermuteten ärmeren Bevölkerungssektor zielten."133 Er erinnerte an die Errungenschaften seines Vaters in den 40er Jahren, definierte sich als center-leftist und erklärte, daß er die Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichts als seine vorrangige Aufgabe betrachte.134 Wie die Wahlergebnisse zeigen, hat sich die Strategie bewährt: Mit 51,4% der Stimmen wurde Rafael Angel Calderón Foumier zum Präsidenten gewählt, seine Partei erreichte eine knappe absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen.135 Damit war es dem PUSC gelungen, sich als permanente politische Organisation zu konsolidieren, in traditionelle Hochburgen des PLN einzubrechen und diesen erstmals in die Rolle der Oppositionspartei zu verdrängen.136 Den von Calderón Fournier eingeschlagenen Weg setzte man auch in der Wahlkampagne 1994, die von Beobachtern wegen des unsachlichen, auf persönlichen Attacken basierenden Wahlkampfstils als die „schmutzigste" der Geschichte der modernen 131 132 133 134

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M. Rabeneick, 1986, 243. Vgl. O. Salazar Mora/J. M. Salazar Mora, 1991, 152 f. U. Fanger, 1991,20. Vgl. E. A. Lynch, Latin America's Christian democratic parties: a political economy, Westport 1993, 152 f. Vgl. J L Vega Carballo, 1992, 209 Vgl. O. Fernández, Elecciones en Costa Rica: repetición de una secuencia? in: R Cerdas/J. Rial/D. Zovatto (eds ), Una tarea inconclusa: elecciones y democracia en América Latina, 1988-1991, San José 1992, 23-40, hier: 25.

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Demokratie empfunden wurde137, fort; doch Miguel Angel Rodríguez, der sich bei der parteiinternen Abstimmung 1990 gegen Calderón nicht hatte behaupten können, unterlag bei den Präsidentschaftswahlen knapp seinem Herausforderer Figueres.138 4.2.1.3 Das Spektrum der Linksparteien Die costaricanische Linke -worunter hier alle revolutionären sozialistischen und kommunistischen Bewegungen verstanden werden, die sich seit der Gründung der Kommunistischen Partei im Jahre 1931 als Parteien formiert haben- „has been a small but persistent factor in Costa Rican politics for more than half a Century [...], although its impact on national political life, except for a short time during the middle 1940's, has been marginal"139 Robert J. Alexanders Einschätzung ist zutreffend: Nach dem Verbot des Partido Vanguardia Popular (PVP) und der von der Junta de Gobierno veranlaßten Repression, in deren Folge 3.000 Menschen verhaftet und weitere 7.000 -darunter auch Manuel Mora Valverde- ins Exil vertrieben worden waren, war die Kommunistische Partei „beinahe zerschlagen und vollkommen in der Defensive."140 Nur langsam gelang es dem PVP, sich im Halb-Untergrund zu reorganisieren. Sein politischer Aktionsrahmen blieb jedoch bis Ende der 60er Jahre auf gewerkschaftliche Aufbauarbeit beschränkt, die Suche nach Koalitionspartnern aus den progressiven Lagern der liberacionistas oder den calderonistischen antiliberacionistas vergeblich. Erst im Jahre 1970 verbündeten sich der PVP und eine Splittergruppe des PLN, um den Partido Acción Socialista (PASO) zu gründen, der bei den Wahlen ein Abgeordnetenmandat für Manuel Mora erhielt.141 Ab Mitte der 60er Jahre entstanden einige weitere politische Gruppierungen, die sich als Alternative zum orthodoxen, an der Sowjetunion orientierten PVP verstanden und eine gewisse Umorientierung innerhalb des linken Parteienspektrums herbeiführten. Unter dem Einfluß der kubanischen Revolution, die auch in Costa Rica eine stärkere Politisierung und Radikalisierung an den Schulen und Universitäten bewirkte, gründeten vorwiegend junge Intellektuelle aus den städtischen Mittelschichten zunächst den Partido Revolucionario Auténtico (PRA).142 Diese Organisation der „Ultra-Linken", die zu einer der Stützen der Frente Sandmista de Liberación Nacional (FSLN) in Nicaragua wurde, lehnte den Parla137

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Vgl T. L. Karl, The Hybrid Regimes of Central America, in: Journal of Democracy, Vol. 6, 1995, No 3, 72-86, hier: 76. Vgl. Aportes, No 104, Marzo - Abril - Mayo 1994, 2 R J. Alexander, The Costa Rican Communist Party, in: A. Maislinger (Hrsg ), 1986, 247254, hier: 247 M Ernst/S. Schmidt, Die Costaricanische Linke in historischer Perspektive - zwischen revolutionärer Utopie und Pragmatismus, in: M. Ernst/S Schmidt (Hrsg.), 1986, 108-121, hier: 112. Vgl. R. Salom Echeverria, La Crisis de la Izquierda en Costa Rica, San José 1987, 23. Vgl. R. Salom Echeverria, 1987, 77 ff

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mentarismus rigoros ab, rief zum Wahlboykott auf, „vertrat eine vage 'FokusTheorie', ohne allerdings die lokalen Ansatzpunkte benennen zu können" 143 , und bereitete sich auf einen Guerrillakampf vor. Anfang der 70er Jahre benannte sich der PRA um in Movimiento Revolucionario Auténtico (MRA), um zu zeigen, daß seine intendierte Funktion über die einer reinen politischen Partei hinausging. Kurze Zeit später erfolgte eine erneute Umbenennung in Movimiento Revolucionario del Pueblo (MRP), mit der eine Abschwächung der extrem militanten Positionen verbunden war.144 Zwei weitere Parteien entwickelten sich infolge innenpolitischer Unruhen, die 1970 auftraten, als der Kongreß einen Gesetzentwurf verabschieden wollte, der das Zustandekommen eines für Costa Rica nachteiligen Vertrages mit der Aluminium Company of America (ALCOA) zum Abbau von Bauxitvorkommen ermöglicht hätte.145 Einige der Intellektuellen und Studenten, die zu Tausenden gegen dieses Vorhaben demonstriert hatten, formierten sich zum Partido Socialista Costarricense (PSC), der „eine mehr an den nationalen Gegebenheiten und Realitäten orientierte revolutionäre Strategie" propagierte als der MRP und sich „weder organisatorisch noch ideologisch-programmatisch"146 wesentlich vom PVP unterschied. Zum anderen entstand um Rodolfo Cerdas, der in den ALCOAAuseinandersetzungen als Studentenfiihrer aktiv war, El Frente Popular Costarricense (FPC), mit stark pro-chinesischer Orientierung. Der FPC stellte die „nationalen Erfordernisse" in den Mittelpunkt seines politischen Programms und strebte eine sozialistische Revolution unter Berücksichtigung der historischen und klassenspezifischen Besonderheiten Costa Ricas an. Er „prangerte den Sozialimperialismus der UdSSR an und lehnte eine Zusammenarbeit mit den anderen Linksparteien ab.'" 47 Nach der Reform des Art. 98 der Verfassung im Juni 1975 erreichten diese Gruppierungen eine Phase des relativen Aufschwungs. Im Vorfeld der Wahlen 1978 schlössen sich der PVP, der PSC und der MRP zusammen zur Coalición Pueblo Unido, die in den Präsidentschaftswahlen mit dem ehemaligen PLNMitglied Rodrigo Gutiérrez als Kandidaten zwar nur 2,7% der Stimmen erhielt, bei den Abgeordnetenwahlen zum Kongreß aber immerhin 7%, wonach ihr drei Parlamentssitze zustanden.148 1982 bekam die Koalition, die inzwischen einige erfolgreiche Arbeitskämpfe verschiedener Berufsgruppen organisiert hatte und zum damaligen Zeitpunkt etwa 90% der links orientierten Bevökerungsschichten an sich band, aufgrund eines geänderten Verteilungsschlüssels -trotz leichter

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M. Ernst/S. Schmidt, 1986, 114. Vgl. O Salazar Mora/J. M. SalazarMora, 1991, 156 Vgl. J. Delgado Rojas, 1992, 31. M. Erast/S Schmidt, 1986, 115. M. Ernst/S. Schmidt, 1986, 116 Vgl. R. J. Alexander, 1986, 250.

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Stimmeneinbußen- sogar vier Mandate zugesprochen, von denen drei mit PVPMitgliedem besetzt wurden.149 Mit dieser Wahl war die Phase des Aufschwungs der Linksparteien beendet. Im November 1983 kam es zu einer internen Spaltung des in der Koalition dominanten PVP, nachdem zuvor auf einem außerordentlichen Parteitag beschlossen worden war, daß per Änderung der Parteistatuten das Amt eines Parteipräsidenten geschaffen wird, das Manuel Mora, der seit 52 Jahren als Generalsekretär fungiert hatte, einnehmen sollte. Die Position des Generalsekretärs gedachte man einem der größten Kontrahenten Moras, Humberto Vargas Carbonell, zu übertragen.150 Da Mora und seine Anhänger mit dieser Abschiebung an eine bedeutungsund einflußlose Stelle nicht einverstanden waren, gründeten sie den Partido del Pueblo Costarricense, während die Fraktion um Humberto Vargas und Amoldo Ferreto den alten Parteinamen beibehielt.151 Somit wurde bei diesem Fraktionskampf, in dem es sich außer um die Kontrolle des Parteiapparates auch um die strategische Vorgehensweise angesichts der Wirtschaftskrise drehte, der mittlerweile eher gemäßigt „eurokommunistisch orientierte Flügel des alten Parteiführers Mora von jungen, orthodox-revolutionär gesinnten Funktionären aus der Partei gedrängt."152 Nachdem sich auch der PSC und der MRP gespalten hatten153, bildeten sich für die Wahlen 1986 neue Koalitionen. Die radikaleren Sektoren des PSC, welche die Frente Ampho Democrático gegründet hatten, schlössen sich zusammen mit der Mehrheitsfraktion des alten PVP in der Coalición Alianza Popular, die neben der aus PSC, MRP und der Mora-Fraktion bestehenden Koalition Pueblo Unido kandidierte.1'4 Die Koalition Alianza Popular erhielt 2,4% der Stimmen bei den Parlamentswahlen, Pueblo Unido 2,7%; andere kleine sozial-revolutionäre Gruppierungen wie Frente Popular waren inzwischen aufgelöst. 1990 hatten die Linksparteien das bislang schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte: Alianza Popular stellte sich nicht mehr der Wahl, Pueblo Unido erlangte noch 3,3% der Stimmen bei den Parlamentswahlen und 0,7% bei den Präsidentschaftswahlen, die neue Gruppierung Progreso y Organización Socialista de los Trabajadores nur 0,6% bzw. 0,3%.155 Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 1994 kandidierten keine links-extremen Gruppierungen mehr, im Kongreß verloren sie ihr letztes Abgeordnetenmandat.156

149 150 151 152

154 155 156

Vgl. M Ernst/S. Schmidt, 1986, 109 Vgl. R J. Alexander, 1986, 251. Vgl. R Salom Echeverría, 1987, 149 U Fanger/B Thibaut, 1992, 79 Vgl. R. Salom Echeverría, 1987, 149 Vgl O Salazar Mora/J M Salazar Mora, 1991, 159. Vgl U Fanger, 1991, 19/23 Vgl J Rovira Mas, Costa Rica 1994: Hacia la consolidación del bipartidismo?, in: Espacios (Revista Centroamericana de Cultura Política), No. 1, Julio - Setiembre 1994, 38-47, hier: 41 f.

162

4. Demokratie in der ..Zweiten Republik"

Damit unterscheidet sich die Entwicklung des linken Parteienspektrums in Costa Rica deutlich von der seiner Nachbarländer, in denen durch die sozioökonomische Krise der letzten Jahre Linksparteien und Sozialrevolutionäre Bewegungen zunächst gestärkt wurden: „Trotz Wirtschaftskrise und zunehmender sozialer Konflikte befindet sich die costaricanische Linke in einer existentiellen Krise, die mittelfristig kaum überwindbar scheint.'"" Die Krise bzw. - j e nach Perspektive- das Scheitern der Linken ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen. Neben der Integrationskraft des PLN, dem es durch die Fortsetzung und Erweiterung der Sozial- und Arbeitsgesetzgebung der republikanisch-kirchlich-kommunistischen Allianz zwischen 1942 und 1948 gelang, der kommunistischen Bewegung ihre traditionelle Basis zu entziehen, spielten dabei personelle Rivalitäten und vor allem fundamentale ideologischprogrammatische Defizite eine Rolle.15' Da die linken Parteien sich meist an importierten dogmatischen Denkschemata orientierten, bewegten sie sich in Sphären, die die politisch-ökonomische Realität Costa Ricas und die „historisch gewachsenen Besonderheiten, die sich in der Klassenstruktur und der politischen Kultur widerspiegeln"159 nicht oder zu wenig berücksichtigten. 4.2.1.4 Zur Klassifizierung des Parteiensystems Weil auf der nationalen parlamentarischen Ebene auch keine bedeutsamen „anderen" -etwa rechts-radikale- Parteien existieren160, ist der Niedergang der radikalen Linksparteien neben der organisatorischen Festigung der konservativen, liberalen und christ-sozialen Kräfte seit der Gründung des PUSC entscheidend für die Klassifizierung des costaricanischen Parteiensystems, das seit seiner Entstehung 1953 unterschiedlichen Kategorien, wie „unechtes Mehrparteiensystem", „modifiziertes Zweiparteiensystem" oder „Mehrparteiensystem mit struktureller Dominanz zweier parteipolitischer Hauptgruppen" zugeordnet worden ist. 1 " Die jüngeren Entwicklungstendenzen, die sich im Zusammenhang mit den Wahlen der 80er Jahre abzeichneten, lassen sich jedoch „als zunehmende Akzentuierung eines Zweiparteienschemas interpretieren. Der Trend zum Parteienpluralismus, der sich nach liberalen Reformen der Zulassungsbedingungen Anfang der 70er Jahre abzeichnete, ist einer erneuten Konzentration des politischen Wettbewerbs gewichen, und mittlerweise spricht vieles dafür, Costa Rica der empirisch äußerst seltenen Kategorie eines 'echten' Zweiparteiensystems zuzuordnen."162 157

159 160

161 162

M. Ernst/S. Schmidt, 1986, 108. Vgl. R. Salom Echeverría, 1987, 151 f. M Ernst/S Schmidt, 1986, 121 Vgl. B Thibaut, La estructura y dinámica de la competencia partidista y el problema de la estabilidad de las democracias presidenciales en Costa Rica y Venezuela, in: Dieter Nohlen (ed ), Elecciones y sistemas de partidos en América Latina, San José 1993, 269-313, hier: 281 Vgl U Fanger, 1984, 31 U. Fanger/B. Thibaut, 1992, 78.

Das System der politischen Willensbildung

163

Jorge Rovira Mas überprüft den Typus des costaricanischen Parteiensystems anhand der theoretischen Unterscheidung Sartoris zwischen format (Anzahl der relevanten Parteien) und mechanics (Funktionsweise) von Parteiensystemen.143 Er kommt zu dem Ergebnis, daß man im Fall Costa Ricas zweifellos von einem Zweiparteienformat sprechen kann, da trotz der Existenz von Drittparteien die beiden Hauptparteien jeweils allein regieren können, die Bildung von Koalitionen also unnötig ist: Seit 1986 haben entsprechend PLN und PUSC jeweils so viele Wählerstimmen auf sich vereint, um die Regierung zu stellen und eine parlamentarische Mehrheit zu erlangen. Von den kleinen Parteien verfugte keine über ein ausreichendes Koalitions- oder Drohpotential, um die großen Parteien zwingen zu können, ihre Politik mit ihnen auszuhandeln oder in nennenswertem Umfang zu modifizieren. Von den insgesamt vier flexibel zu handhabenden Kriterien für die Funktionsweise von Zweiparteiensystemen, lassen sich drei eindeutig nachvollziehen: „1. Nur zwei Parteien sind fähig, die zur Regierung notwendige Mehrheit zu erlangen. 2. Eine der Parteien erhält tatsächlich auch die notwendige Mehrheit und kann allein regieren. 3. Selbst wenn kein Regierungswechsel stattfindet, ist die Alternanz an der Regierung zwischen den beiden Parteien für alle am Wahlwettbewerb beteiligten Akteure durchaus im Bereich des Möglichen."164 Das letztgenannte Kriterium dient nicht nur zur Abgrenzung von prädominanten Parteiensystemen, sondern vor allem zum Verständnis der Dynamik des Wettbewerbs im Zweiparteiensystem. Bezüglich der Interaktion der Parteien untereinander betont Rovira Mas in Anlehnung an Sartori die Tendenz zum zentripetalen Wettbewerb als herausragende Eigenschaft des Zweiparteiensystems. Denn zwei Parteien mit nahezu gleich starker Wählerbasis verringern in ihrem Streben um die Macht im Staate den ideologisch-programmatischen Abstand, nähern sich in ihren Wahlkampfangeboten einander an und bewegen sich damit beide auf die Mitte des ideologischen Spektrums zu, um das Risiko zu vermeiden, sich zu weit von Wählergruppen zu entfernen, die schließlich wahlentscheidend sein könnten.165 Wie ein Vergleich der neueren Parteiprogramme zeigt166, unterscheiden sich Sozialdemokraten und Christdemokraten in der Tat nur noch geringfügig, und besonders in Fragen der Wirtschaftspolitik vertreten sie nahezu identische Positionen. 1994 enthielten die Wahlprogramme Übereinstimmungen „bis zur partiellen Nicht-Unterscheidbarkeit in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Tourismus, Umwelt, Familie, Wohnungsbau und innere Sicherheit."16' Der wichtigste Unter163 164 165 166

167

Vgl G. Sartori, Parties and party systems A framework for analysis, Cambridge 1976 Vgl. J Rovira Mas, 1995, 36. Vgl i Rovira Mas, 1995, 37 Vgl J Rovira Mas, 1989b, 147 f./155f und J Rovira Mas, Costa Rica: Elecciones, partidos políticos y régimen democrático, in: Polémica, No 11, Mayo - Agosto 1990, 44-60, hier: 51 ff H. Meyer, Von der Negativ-Kampagne zur Fiesta Cívica - Zu dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Costa Rica vom 6 Februar 1994, in: KAS-Auslandsinformationen, 3/1994, 25-41, hier: 28

164

4 Demokratie in der ..¿weiten Republik"

schied bestand darin, daß der PUSC für eine „Soziale Marktwirtschaft", also fiir „die Chancengleichheit zwischen staatlichen, privaten und internationalen Banken sowie für die Aufhebung des staatlichen Monopols im Versicherungswesen und in der Telekommunikation" eintrat, während der PLN „der wohlfahrtsstiftenden Kraft eines intensiv in Gesellschaft und Wirtschaft intervenierenden Staates vertraut", also die staatlichen Monopole aufrechterhalten wollte.16' Parteipolitische Differenzen gab es in den letzten Jahren weiterhin im Bereich der Außenpolitik, wobei der PLN „eine deutlich moderatere Position gegenüber dem sandinistischen Regime in Nicaragua vertrat als der PUSC."169 Auch widersetzte sich der PLN etwas mehr dem Druck der internationalen Finanzorganisationen bezüglich der geforderten Strukturanpassungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik.170 Entsprechend der programmatischen Konvergenzen, die auf dem centrismo ideolögico beider Parteien beruhen171, überschneidet sich zunehmend die Wählerbasis der großen politischen Organisationen. Dies geht insbesondere aus den Verschiebungen ehemals fester Stimmenhochburgen seit den Wahlen 1986 hervor, bei denen sie zusammen zwischen 93% und 95% der Stimmen auf sich vereinen konnten.172 Auf die Wahlbeteiligung hat sich der Trend zur Parteienkonzentration, der auch durch wähl- und parteirechtliche Regelungen begünstigt ist, bislang nicht negativ ausgewirkt: Der Anteil der Stimmenthaltungen blieb seit 1986 nahezu konstant und liegt zwischen 18,2% und 18,9%.173 Zusammenfassend kann man für das costaricanische Zweiparteiensystem festhalten, daß es einerseits politische Stabilität fördert, weil es stark institutionalisiert und die Identifikation der Bevölkerung mit einer der großen Parteien fest verankert ist.174 Der hohe Institutionalisierungsgrad erleichtert -auch wenn Blokkaden nicht generell ausgeschlossen werden können- die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten, da klarer strukturierte Regeln befolgt werden und die Regierungen sich auf den Rückhalt der eigenen Partei besser verlassen können als in weniger institutionalisierten Parteiensystemen.17' Andererseits reduziert es aber das für ein pluralistisches System notwendige Element der Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Werten und Konzeptionen auf ein Minimum. Edelberto Torres-Rivas kritisiert die geringe normative Spannbreite folgendermaßen: „In Costa Rica ist der Wettbewerb auf die Auswahlmöglichkeiten zwischen zwei einander immer 168 169 170

171 172 173 174

175

H Meyer, 1994, 28 U Fanger/B Thibaut, 1992, 79 Vgl. O Fernández González, La bipolaridad pardidaria en Costa Rica: entre la escena y la arena, in: R. Steichen Jung (comp ). Democracia y democratización en Centroaméríca, San José 1993, 173-203, hier: 186 Vgl J. Rovira Mas, 1994, 46 Vgl. U. Fanger/B. Thibaut, 1992, 79. Vgl J Rovira Mas, 1994, 43 Vgl S Mainwaring/T. R. Scully, Introduction: Party Systems in Latin America, in: dies, (eds ), 1995, 1-34, hier: 16 ff. Vgl. P Bendel/D Nolte, Editorial: Lateinamerikas Wähler setzen auf Stabilität, in: Lateinamerika Analysen - Daten - Dokumentation, Hamburg 1995, Nr. 28, 3-8, hier: 6 f.

Das System der politischen Willensbildung

165

stärker ähnelnden Optionen zurückgestutzt. Die Wahlen sind kompetitiv, aber der Wahlausgang bietet keinerlei Überraschungen."176

4.2.2 Gewerkschaften und Asociaciones Solidaristas Die Ursprünge der Arbeiterbewegung in Costa Rica reichen bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurück, als sich einzelne Gruppierungen vorwiegend in mutuellen Handwerkervereinigungen zusammenschlössen. Im Laufe der 20er Jahre dieses Jahrhunderts und vor allem seit der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde diese Organisationsform allmählich abgelöst von gewerkschaftlichen Bündnissen, die bis Anfang der 40er Jahre fiir bessere Arbeits- und Lebensbedingungen -vor allem auf den Bananenplantagen- kämpften.177 Doch erst nach der Verabschiedung der Garanitas Sociales und des Código de Trabajo im Jahre 1943 verfugten die Arbeiter über die sozialrechtlichen Grundlagen, sich frei zu organisieren und kollektiv Lohnverhandlungen durchzuführen178. Damit erfuhr die Gewerkschaftsbewegung einen deutlichen Aufschwung. 1943 wurden 85, 1944 weitere 115 Neugründungen registriert.'79 Ein Großteil -etwa 125- der Einzelgewerkschaften trat dem am 4. Oktober 1943 von den Kommunisten gegründeten Dachverband Confederación de Trabajadores de Costa Rica (CTCR) bei, der als nationale Nachfolgeorganisation des seit 1938 auf regionaler Ebene agierenden Comité Sindical de Enlace fungierte.180 Die CTCR formulierte auf ihrem ersten Kongreß im Juli 1944 als vorrangiges Ziel die Verteidigung und Erweiterung der Sozialpolitik Calderón Guardias und sprach sich offen für die Unterstützung der republikanisch-kommunistischen Koalition aus. Seit ihrem Bestehen legte die Arbeiterzentrale wenig Wert auf Autonomie; sie stand in enger Verbindung mit dem PVP, wobei die Partei als organización vanguardia de tipo centralizado der Gewerkschaftsbewegung als organización de masas ihren Aktionsrahmen vorgab.181 Da sich die CTCR auch aktiv am politischen Leben beteiligte, indem sie ihre Mitglieder bei Wahlen für eine Entscheidung zugunsten der Allianz PRN/PVP mobilisierte, provozierte sie

176

177

E Torres-Rivas, Schauplätze und Lesarten der zentralamerikanischen Wahlen, in: P. B e n del (Hrsg.), 1993, 41-72, hier 55 Vgl R Aguilar Arce, Actualidad del M o v i m i e n t o Sindical en C o s t a Rica, San J o s é 1993,

9

178

179

180

181

Vgl. M R o j a s Bolaños/E. D o n a t o M o n g e , P r o b l e m e und Perspektiven der G e w e r k s c h a f ten in C o s t a Rica, in: M. Ernst/S. Schmidt (Hrsg.), 1986, 122-132, hier: 122. Vgl M . Aguilar H , Clase t r a b a j a d o r a y organización sindical en C o s t a Rica ( 1 9 4 3 - 1 9 7 1 ) , San J o s é 1989, 21. Vgl. M . R o j a s Bolaños, El desarrollo del movimiento o b r e r o en C o s t a Rica - un intento d e periodización, in: D C a m a c h o (et al.), Desarrollo del movimiento sindical en C o s t a Rica, San J o s é 1985, 13-32, hier: 23. Vgl. M . Aguilar H , 1989, 2 6

166

4 Demokratie in der ..Zweiten Republik"

den Widerstand der konservativen Teile der clase dominante und wurde bald zu einem der größten Feinde der Opposition." 2 Weiterhin entstand auf Initiative des Erzbischofs Sanabria am 15. September 1943 die Central de Sindicatos Costarricenses Rerum Novarum, der sich 15 Gewerkschaften anschlössen, die Pater Benjamín Núñez zum Vorsitzenden und dessen Bruder Santiago zum Schatzmeister wählten. Sanabria beabsichtigte, mit dieser Organisation eine Alternative zu den kommunistischen Gewerkschaften zu schaffen, um deren Einfluß auf die Arbeiterschaft zu begrenzen und um die Postúlate der Sozialdoktrin der Katholischen Kirche in die politische Praxis umzusetzen. 1 " In der Folgezeit forcierten die Gebrüder Núñez in Zusammenarbeit mit einigen Priestern erfolgreich die Gründung und den Zusammenschluß von weiteren christlich orientierten Gewerkschaften, so daß der Gewerkschaftszentrale zum Zeitpunkt ihrer offiziellen Umwandlung in die Confederación Costarricense de Trabajadores Rerum Novarum (CCTRN) im Mai 1945 102 Einzelgewerkschaften angehörten, die sich jedoch nicht alle aktiv betätigten.'84 Auf einem im Dezember 1944 abgehaltenen Kongreß legte die CCTRN ihre reformistische, aber klar anti-kommunistische Position fest: Man kritisierte die „Irrtümer" des Kapitalismus, doch hielt man deren Korrektur innerhalb des Rahmens des bestehenden Systems für realisierbar." 5 Trotz unterschiedlicher ideologischer Grundhaltungen kam es in den ersten beiden Jahren nach ihrer Gründung nicht zu nennenswerten Differenzen zwischen den Dach verbänden. Die Zusammenarbeit wurde einerseits durch die Freundschaft zwischen Sanabria und Mora sowie das gemeinsame Interesse an einer effektiven Vertretung der Arbeiterklasse gefördert, andererseits waren die Machtverhältnisse insofern eindeutig, als die CTCR über die sechsfache Mitgliederzahl -30.000 gegenüber 5.000 der CCTRN-, über die längere organisatorische Erfahrung und den größeren politischen Einfluß verfügte." 6 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn des Kalten Krieges verschlechterten sich jedoch die Beziehungen zwischen den Gewerkschaftsorganisationen. Unter dem Eindruck der neuen internationalen Konstellation sah sich die CCTRN gezwungen, klarere politische Positionen zu beziehen: Sie distanzierte sich -zumindest formal- mehr von der Katholischen Kirche und auch -realvon der CTCR, deren Verbindung mit dem PVP sie nun noch schärfer verurteilte als zuvor. Obwohl die CCTRN zu jener Zeit die Auffassung propagierte, daß Gewerkschaften „apolitisch" sein müßten, verbündete sie sich zunehmend mit der politischen Opposition gegen die Regierungen Calderón und Picado, wobei der Minimalkonsens der neuen Allianz hauptsächlich auf dem strikten Antikommu182 183 184 185

186

Vgl. M. Aguilar H , 1989, 30 f. Vgl J Backer, 1978, 120 ff Vgl. J Backer, 1978, 125 Vgl. E. Donato Monge/M Rojas Bolaños, Sindicatos, política y economía (1972-1986), San José 1987, 2. Vgl J Backer, 1978, 131 ff.

Das System der politischen Willensbildung

167

nismus beruhte.187 Bis zum Bürgerkrieg 1948 war die Polarisierung der Gewerkschaftsbewegung schließlich so weit fortgeschritten, daß die CCTRN aktiv die Streitkräfte der „Revolutionäre" um Figueres und die CTCR die der Regierungskoalition unterstützte." 8 Mit dieser Spaltung der Arbeiterbewegung waren die Weichen fiir ihre weitere Entwicklung gestellt. Nach dem Bürgerkrieg stand die kommunistische CTCR auf der Verliererseite, die ihr angeschlossenen Organisationen waren einer massiven Verfolgungskampagne ausgesetzt, ein Großteil ihrer Führer wurde verhaftet. Als der Verband sich daraufhin weitgehend auflöste, wurde er aus formalrechtlichen Gründen vom Arbeitsministerium offiziell für illegal erklärt.1,9 Dennoch existierten einige der Einzelgewerkschaften als unabhängige Organisationen weiter, die sich im März 1953 erneut zusammenschlössen und die Confederación General de Trabajadores Costarricenses (CGTC) gründeten.190 Im Gegensatz zur CTCR war die CCTRN nach dem Bürgerkrieg nicht von den repressiven Maßnahmen der Regieningsjunta betroffen, so daß sie zunächst die dominierende Stellung übernahm. Es gelang der CCTRN jedoch nicht, die günstige Situation zu nutzen, um sich zu einer reformistischen Massenbewegung zu entwickeln: Zum einen wechselte fast ihr gesamter Fühningsstab (darunter Benjamin und Santiago Núñez, Luis Alberto Monge und Armando Aráuz) zum PLN, um sich dort offen politisch zu betätigen; zum anderen schwächte eine erste interne Spaltung im Jahre I9S0 die Organisation zusätzlich.191 Zudem trug die Tatsache, daß die bedeutendsten Führer der CCTRN zu wichtigen Kadern des PLN geworden waren, nicht dazu bei, den Verband zu stärken, sondern bewirkte vielmehr, daß er mit der Partei identifiziert wurde. Dies erschwerte seine Integration in die Arbeiterbewegung192, zumal der PLN - d a dessen Entstehung der politische Ausdruck der aufsteigenden Mittelschichten und nicht einer organisierten Arbeiterschaft war- keine Notwendigkeit sah, die Entwicklung einer autonomen Gewerkschaftsbewegung zu fördern.19' Die ideologische Aufteilung der Gewerkschaften in sindicatos democráticos und sindicatos clasistas194 besteht grundsätzlich bis in die Gegenwart fort und kann als eine der Hauptursachen der latenten Schwäche der costaricanischen Arbeiterbewegung betrachtet werden. In den 50er Jahren entwickelte sich die CTGC zum bedeutendsten und mitgliederstärksten Dachverband, während sich die CCTRN weiter aufsplitterte. Einige Gewerkschaften schlössen sich in der peronistisch beeinflußten Confederación Nacional de Trabajadores (CNT) zu187 188 189 19,1 191 192 193

194

Vgl. M. Aguilar H , 1989, 34 ff Vgl. M Aguilar H , 1989, 37 f Vgl. M Aguilar H , 1989, 73 f Vgl M Rojas Bolaños, 1985, 24 Vgl E. Donato Monge/M. Rojas Bolaños, 1987, 3. Vgl. M Rojas Bolaños/E. Donato Monge, 1986, 123 f. Vgl. J M. Valverde/E. Donato/R Rivera, Costa Rica: movimientos sociales populares y democracia, in: M Rojas Bolaños (et al.), 1989, 69-86, hier: 76. Vgl J M. Valverde/E. Donato/R Rivera, 1989, 77

16g

4 Demokratie in der .Zweiten Republik"

sammen, andere wichtige Gruppierungen -wie die Federación Nacional de Trabajadores (FENATRA) und die Federación Independiente de Trabajadores Bananeros (FETRABA)- setzten ihre Arbeit als unabhängige Organisationen fort." 5 Lediglich im traditionellen Zentrum der Arbeiterbewegung, dem Bananensektor, gelang es, in diesem Zeitraum eine gewisse gewerkschaftliche Einheit zu erzielen: Denn die Führer der größten Organisationen der Bananenarbeiter, der Federación de Obreros Bananeros y Anexos (FOBA), die der CGTC angeschlossen war, und der FETRABA, erkannten die Dringlichkeit eines koordinierten Vorgehensmodus gegen die staatlich unterstützten Repressionsmaßnahmen der U.F.Co. Gemeinsame Streikaktionen stärkten die Solidarität und führten zur Gründung der Federación Unitaria de Trabajadores (FUTRA). Ihre Erfolge im Kampf um die Reformierung des Arbeitsgesetzbuches, „das zwar die individuelle Rechtsposition des einzelnen Arbeiters stärkte, aber keinerlei gewerkschaftliche Rechtspositionen verankerte" 1 ", um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und um die Ausarbeitung von Manteltarifverträgen blieben allerdings äußerst bescheiden.197 Als durch den Beitritt Costa Ricas zum Mercado Común Centroamericano (MCCA) im Februar 1960 die importsubstituierende Industrialisierung beschleunigt wurde, veränderten sich der Umfang und die Struktur der Arbeiterschaft. Der Anteil der reinen Lohnarbeiter an der ökonomisch aktiven Bevölkerung stieg im Zeitraum zwischen 1963 und 1973 von 66,1% auf 73,5%, die Anzahl der Lohnarbeiter im industriell verarbeitenden Bereich von ca. 33.000 auf ca. 55.500. Gleichzeitig fand ein Konzentrationsprozeß statt: Während der Anteil der Arbeiter, die in industriellen Kleinbetrieben mit weniger als 20 Beschäftigten tätig waren, von 58% im Jahre 1958 auf 20% im Jahre 1975 fiel, stieg der Anteil der Arbeiter in Großbetrieben ab 70 Beschäftigten im selben Zeitraum von ca. 18% auf ca. 60%."'

195 196 197 198

Vgl J. Backer, 1978, 159. P Hiedl/R Rausch, 1984, 392 Vgl M Aguilar H , 1989, 124 ff. Vgl. P. Hiedl/R. Rausch, 1984, 393.

Das System der politischen Willensbildung

169

Tabelle 3: Entwicklung der Anzahl der Gewerkschaften 1960 bis 1971 Jahr I960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971

Neogrändongen

Gesamtzahl

Auflösungen

22 4

1 0

220 224

9

1

232

16

0

22

2

248 268

178

86

360

19

163

216

26

20

222

28

0

250

25

4

271

31

0

302

31

0

333

(M Aguilar Hernandez, 1989, 151 )

Tabelle 4: Gewerkschaftsmitglieder nach Verbänden 1954,1964,1970, 1986 Gewerkschaft CCTP CTC CATP COT CTCR CGTC CCTRN(CCTD) CNT FETRABA Unabhängige FAN FOCC Total

1954 -

1964

1970

1986 16419

-

-

-

-

-

-

-

-

8470 20155

-

-

-

26310

-

-

-

7715

4829

2406 7303

5989

3182 1336 896

1412

8560

11224

0

353

11468

24305

1607

-

18278

-

0

-

1225 0

-

o A -

2032 35897

(M Aguilar Hernandez, 1989, 154, M Aguilar/V. Ramirez, 1989, 296)

-

39195 -

138583

170

4 Demokratie in der .Zweiten Republik"

Tabelle 5: Zahl der Gewerkschaften nach Wirtschaftszweigen

Landwirtschaft ^¿-•'••^ Verarbeiteade Industrie Transport trad Kommunikation Dienstteutnngen Htóa^-Kvi Bauwesen Eiektizität und Gas Minen Übrige Total'"'

1970

1960

1963

65

70

53

46 37

51

43

42

29

52

63

103

32

35

23

14 5

13

13

5

1

1

1

6

1 6

19

258

286

285

(M. Aguilar Hernàndez, 1989, 151f.)

Tabelle 6: Gewerkschaften und Gewerkschaftsmitgliedschaften 1979-1987 Jahr

Beschäftigte

1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987

697556 722398 719662 746492

Gewerkschaftsmitglieder

in %

Anzahl der Gewerkschaften

94927

14

106432 113423 123251

15 16

280 280

17

311 328

-

-

-

-

787000

129145

16

316

-

-

-

-

800000 912094

138583

17

387

114232

-

354

(M. Aguilar/V Ramirez, 1989, 295.)

Da in Costa Rica Gewerkschaften vorwiegend betrieblich organisiert sind, wirkten sich diese Veränderungen sowohl quantitativ als auch qualitativ auf die weitere gewerkschaftliche Entwicklung aus. Wie aus den Tabellen 3 und 4 hervorgeht, ist ab Mitte der 60er Jahre eine Zunahme der Anzahl der Gewerkschaften wie auch der gewerkschaftlich organisierten Personen zu verzeichnen. Betrachtet man die Aufteilung der einzelnen Syndikate nach Wirtschaftszweigen, so fallen einige Verschiebungen auf: Die Zahl der Gewerkschaften in Landwirtschaft, Industrie sowie Handel und Verkehr nahm zwischen 1963 und 1970 ab, während sie im öffentlichen Dienst deutlich anstieg (vgl. Tab. 5).

Das System der politischen Willensbildung

171

Diese Entwicklung ist in den verschiedenen Bereichen unterschiedlich erklärbar: 1. Für den Agrarsektor vor allem durch die intensivierten Repressionsmaßnahmen gegen die kommunistischen Bananenarbeitergewerkschaften, die in den 50er Jahren einige größere Streiks durchgeführt hatten; und durch deren vertikale Abhängigkeit von der Kommunistischen Partei, was einen partiellen Vertrauensverlust bei der gewerkschaftlichen Basis bewirkte. 2. Für den Industriesektor durch das von Anfang an gewerkschaftsfeindliche Verhalten der Unternehmer sowie durch die fehlende organisatorische Tradition und Erfahrung. 3. Der gestiegene Organisationsgrad im Öffentlichen Dienst ist auf die numerische Zunahme der Beschäftigten in diesem Sektor zurückzufuhren, die sich zudem in PLN-nahen, also geduldeten, Gewerkschaften organisiert hatten.19® Wie ebenfalls aus Tabelle 4 erkennbar ist, veränderten sich, der neuen Situation entsprechend, auch die Kräfteverhältnisse innerhalb der Gewerkschaftsverbände, unter denen inzwischen die CCTRN die -von der Mitgliederzahl her- bei weitem stärkste Position eingenommen hat. Im Jahre 1966 veranstaltete sie einen Kongreß, bei dem sie sich offiziell zur ideología social-demócrata bekannte und sich in Confederación Costarricense de Trabajadores Democráticos (CCTD) umbenannte.200 Als Alternative zu den kommunistisch bzw. sozial-demokratisch ausgerichteten Dachverbänden wurde im Mai 1964 die Federación de Obreros y Campesinos Cristianos (FOCC) mit christlich-sozialer Orientierung gegründet. Zunächst traten ihr nur wenige Einzelgewerkschaften bei; nach ihrer Umwandlung in die Central de Trabajadores Costarricenses (CTC) erlangte sie jedoch mehr Bedeutung.201 Der tendenzielle Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung, der in den 60er Jahren begonnen hatte, setzte sich bis Mitte der 70er Jahre verstärkt fort. Zwischen 1970 und 1976 entstanden 239 neue Einzelgewerkschaften, so daß Ende 1976 nach offiziellen Angaben des Ministeriums für Arbeit und Soziale Sicherheit insgesamt 393 Gewerkschaften registriert wurden, die sich jedoch bei weitem nicht alle aktiv betätigten.202 Gegen Ende der 70er Jahre belief sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad der abhängig Beschäftigten auf ca. 15% gegenüber 2,6% im Jahre 1963 und 10,9% im Jahre 1973.203 Immer wieder wurden Versuche unternommen, eine gewerkschaftliche Einheit herzustellen, die 1975 zu der Gründung des Comité Unitario Sindical (CUS) führten. Dieses Gewerkschaftskomitee, in dem alle vier derzeitig bestehenden Dachverbände organisiert waren, setzte sich u.a. folgende Ziele: ,w 200 201 202 205

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl

M. Aguilar H„ 1989, 150 ff M Aguilar H., 1989, 177. M Rojas Bolaños, 1985, 26 M. Rojas Bolaños, 1985, 27. E Donato Monge/M. Rojas Bolaños, 1987, 31

172

• • • • •

4 Demokratie in der ..Zweiten Republik"

die Reform des Código de Trabajo und des Gesetzes zur Sozialversicherung, eine Agrarreform, die Erweiterung gewerkschaftlicher Garantien, die Mitbestimmung der Arbeiter bei der Leitung staatlicher Institutionen sowie eine Neuregelung der Unterstützung bei Arbeitslosigkeit.

Bis zu seiner Auflösung im Jahre 1978 konnte das CUS jedoch keines dieser Ziele verwirklichen.204 Der Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung wurde begleitet durch das Erstarken von Organisationen landloser campesinos und die Radikalisierung der Studentenbewegung. Insgesamt löste dies eine verstärkte Repressionswelle, vor allem im Zusammenhang mit Streikaktionen, aus, die wiederum die Fortentwicklung insbesondere der linken Gewerkschaften in der zweiten Hälfte der 70er Jahre behinderte.205 In den 80er Jahren setzte sich die Schwächung der kommunistischen Arbeiterbewegung fort, im wesentlichen verursacht durch die Spaltung des PVP 1983, die Aufgabe der Bananenproduktion in der südlichen Pazifikregion 1984 und die damit verbundene Entlassung von Tausenden von Arbeitskräften.206 Dennoch ist eine Zunahme der gewerkschaftlichen Organisation im Landwirtschaftsbereich zu verzeichnen, was darauf zurückzufuhren ist, daß im Laufe der letzten Jahre eine größere Anzahl von Gewerkschaften unter den Mittel- und Kleinbauern, den Tagelöhnern und Saisonarbeitern entstanden ist. Gleichzeitig bestätigt sich die steigende Tendenz des Organisationsgrades im Öffentlichen Dienst, Handel und Baugewerbe und die fallende Tendenz im industriellen Sektor.207 Seit Mitte der 80er Jahre stieg sowohl die Zahl der Einzelgewerkschaften als auch der Mitglieder erneut leicht an (vgl. Tab. 6). Gegenwärtig existieren in Costa Rica folgende Dachverbände:20' • Confederación Unitaria de Trabajadores (CUT): Die CUT wurde im November 1980 als Dachorganisation aller Gewerkschaften und Verbände gegründet. Wegen ihrer engen Verbindungen zum PVP trennten sich die nichtkommunistischen Gewerkschaften jedoch von ihr, so daß sie faktisch zur Nachfolgeorganisation der Confederación General de Trabajadores Costarricenses (CGTC) wurde, in der traditionell die Bananen-, Hafen-, und Eisenbahnarbeiter vertreten waren.

204 205 206

207 201

Vgl. M Rojas Bolaños/E. Donato Monge, 1986, 125 f. Vgl. M. Rojas Bolaños, 1985, 28. Vgl U. Fanger/B. Thibaut, 1992, 80, M Aguilar Hernández, Las Libertades Sindicales en los Ochentas: El Caso de las Organizaciones Bananeras Costarrícences, in: Revista de Ciencias Sociales, No 58, Diciembre 1992, 85-94, hier: 88 f Vgl. M. Rojas Bolaños/E. Donato Monge, 1986, 127. Vgl. J Rovira Mas, 1989, 110 f.; T Barry, 1989, 47 f

Das System der politischen Willensbildung

173

• Confederación de Trabajadores de Costa Rica (CTCR): Die CTCR entstand 1984 als Ergebnis der Spaltung innerhalb des PVP, schloß sich der Gruppe um Manuel und Eduardo Mora Valverde an und schwächte damit deutlich die CUT, in die sie ursprünglich integriert war. • Confederación Costarricense de Trabajadores Democráticos (CATD): Die CATD spaltete sich 1971 von der CCTD ab und unterscheidet sich von ihr hauptsächlich dadurch, daß sie die Mitgliedschaft in internationalen Gewerkschaftsverbänden ablehnt. • Confederación Nacional de Trabajadores (CNT): Die CNT ist ebenfalls eine Splittergruppe der CCTD, die 1983 gegründet wurde. • Central de Trabajadores Costarricences (CTC): Die CTC entstand 1972 aus der Confederación de Obreros y Campesinos Cristianos Costarricenses und der Frente de Obreros y Campesinos Cristianos Costararicenses ais christlich-soziale Alternataive zu den kommunistisch bzw. sozialdemokratisch orientierten Dachverbänden. • Confederación de Profesionales del Sector Público (CONPROSEP): In der CONPROSEP sind ausschließlich Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes vertreten. Bezüglich der ihnen angeschlossenen Einzelgewerkschaften sind die CCTD mit 19,1% und die CUT mit 12,7% die bedeutendsten Dachverbände. Betrachtet man jedoch den Anteil der gewerkschaftlich organisierten Mitglieder, verfugt die CUT über 16,7%, die CNT über 13% und die CCTD nur über 10,4%. Zudem bleibt zu erwähnen, daß die Hälfte aller Gewerkschaften mit 39,8% der Mitglieder als von den Dachverbänden unabhängige Organisationen existieren.209 Die im Kontext der Wirtschaftskrise Anfang der 80er Jahre verstärkten Versuche zur Herstellung einer gewerkschaftlichen Einheit führten 1984 zur Gründung des Consejo Nacional de Confederaciones. Er verfaßte einen Beschwerdekatalog aufgrund der Verletzung internationaler Abkommen zur Freiheit der Gewerkschaften und kollektiven Lohnverhandlungen und sandte ihn an die internationale Arbeiterorganisation der UNO (OIT).210 Nach Auflösung dieses Nationalrates wurde im Juni 1986 der Consejo Permanente de Trabajadores errichtet, dem sämtliche Dachverbände beitraten und der nach Auffassung von Valverde/Donato/Rivera eine neue Phase der Gewerkschaftsbewegung eingeleitet hat, da er eine Vermittlerrolle zwischen Regierung und Gewerkschaften übernimmt. Sie warnen jedoch zugleich davor, seine Bedeutung zu überschätzen, weil die strukturelle Schwäche der Gewerkschaftsbewegung bei weitem nicht überwunden ist und ihr effektiver Einfluß auf fundamentale politische Entscheidungen daher äußerst begrenzt bleibt. 2 "

209 210 211

Vgl O. Dabene, 1992, 194 f.; E. Donato Monge/M. Rojas Bolaiios, 1987, 120. Vgl. Rojas Bolanos/E. Donato Monge, 1986, 126. Vgl J M. Valverde/E. Donato/R Rivera, 1989, 81.

174

4 Demokratie in der „Zweiten Republik"

In engem Zusammenhang mit der Tatsache, daß der Gewerkschaftsbewegung in den 80er Jahren trotz Wirtschaftskrise kein wirklicher Durchbruch gelungen ist, steht -neben ihrer organisatorischen, strategischen und ideologischen Zersplitterung sowie staatlicher Repressionen- das Erstarken der mit ihr konkurrierenden Solidarismo-Bewegung. Das Konzept des Solidarismus212 wurde im Jahre 1947 von dem Rechtsanwalt und Ökonomen Alberto Martén entwickelt, der „als Quellen seines Denkens eine Mischung aus französischem Positivismus und christlicher Soziallehre anfuhrt."213 Zur Lösung der Konflikte zwischen den zu der Zeit kommunistisch dominierten Gewerkschaften und den Arbeitgebern konstruierte Martén „eine abstruse Ideologie, in der theologische und philosophische Elemente in eine Idealisierung des privaten Unternehmens mündeten, welches von ihm als ethisch-ökonomische Einheit verstanden wird und das, 'frei, hierarchisch und solidarisch' konzipiert, die Keimzelle des gesellschaftlichen Wohlstands sowie der Solidarismo-Ideologie bildet."214 Damit setzt Martén der gewerkschaftlichen Konzeption konfliktiver Arbeitsbeziehungen die einer harmonisch-solidaristischen Kooperation von Arbeitgebern und Arbeitnehmern entgegen.215 Im Mittelpunkt des Solidarismo-ModeMs steht die Idee der Vermögensbildung auf der Basis eines „Sparplans", wonach die in Asociaciones Solidaristas organisierten Arbeitnehmer einen Teil ihres Lohnes -in der Regel 5%- in einen Gemeinschaftsfonds einbezahlen und die Arbeitgeber dieselbe Summe hinzufügen. Aus diesem Fonds sollte dann die „Solidargemeinschaft" spezielle soziale Leistungen wie Wohnungsbau, günstige Einkaufsmöglichkeiten und Kredite für ihre Mitglieder finanzieren und die Rückerstattung der einbezahlten Beträge bei Arbeitslosigkeit garantieren.216 Geprägt durch seine antikommunistische und antigewerkschaftliche Intention, beanspruchte der Plan Martén, die Art und Weise entdeckt zu haben, „wie die Arbeiter der kapitalistischen Unternehmen schnell entproletarisiert werden könnten, ohne die Natur des Systems anzutasten, die individuellen Freiheiten, das Privateigentum oder die politischen Rechte der Bürger zu unterdrücken."217 Der institutionelle Ausbau der Asociaciones Solidaristas erfolgte zunächst sehr langsam: Anfang der 50er Jahre hatten zwölf, 1954 24, 1959 60 Betriebe die 212

213

214

215

216 217

Eine ausfuhrliche Darstellung der theoretisch-ideologischen Hintergründe des Solidaris/no-Konzepts findet sich bei G. Blanco Brakenridge, La Paradoja Solidarista: Retos Teóricos y Prácticos de un Movimiento Obrero-Patronal al Movimiento Obrero y Popular Costarricense, San José 1984. G. Maihold, Gewerkschaften und Solidarismo-Bewegang in Zentralamerika, in: P Bendel (Hrsg ), 1993, 315-337, hier: 323. S. Schmidt, Asociaciones Solidaristas: Eine antigewerkschaftliche Massenbewegung auf dem Vormarsch, in: M. Emst/S Schmidt (Hrsg.), 1986, 133-146, hier: 135 Vgl. V Quesada Arce/G. Blanco Brakenridge/M. Blanco Vado, La Lucha por la Libertad Sindical en Costa Rica, San José 1994, 44. Vgl. U Fanger/B. Thibaut, 1992, 81. A. Martén, Mensaje a los costarricenses, San José 1961, zit nach G Maihold, 1993, 323

Das System der politischen Willensbildung

175

Vereinigungen gegründet; danach stagnierte die Entwicklung des Solidarismo, bis er ab Mitte und vor allem ab Ende der 70er Jahre deutlich expandierte. Ihren Aufschwung verdankte die Solidarismusbewegung zum einen der Gründung der Escuela Social Juan XXIII durch die Katholische Kirche, deren Direktor Pater Claudio Solano seit 1971 massiv die Ausbreitung des Solidarismo, insbesondere auf den Bananenplantagen der Atlantikzone -einer traditionellen Hochburg der kommunistischen Gewerkschaften- unterstützte. Zum anderen hat sich seit 1974 eine stärker unternehmerisch orientierte Variante des Solidarismus organisiert, die sich zunächst Federación Nacional de Asociaciones Solidaristas (FENASOL), ab 1980 Unión Solidarista Costarricense und ab 1991 Movimiento Solidarista Costarricense nannte, sich mehr mit der technischen Beratung und Ausbildung beschäftigt und vorwiegend in der verarbeitenden Industrie vertreten ist. Laut offiziellen Angaben des Arbeitsministeriums waren am 31.2.1992 dem Movimiento Solidarista 728 Vereinigungen mit 95.000 Mitgliedern, der Escuela Social Juan XXIII 200 Vereinigungen mit 60.000 Mitgliedern angeschlossen, was etwa der dreifachen Anzahl von Asociaciones Solidaristas gegenüber den Einzelgewerkschaften bei etwa gleicher Gesamtmitgliederzahl entspricht.218 Politisch wurde die starke Ausbreitung der Solidarismusbewegung gefördert durch den Erlaß des sogenannten Ley de Asociaciones Solidaristas am 7. November 1984, das u.a. die Anrechnung des Arbeitgeberanteils am Sparplan auf dessen Beitragsverpflichtung in der Arbeitslosenversicherung und die Gründung von solidaristischen Vereinigungen bereits ab zwölf Mitgliedern -bei Gewerkschaften ist eine Mindestzahl von 20 Mitgliedern erforderlich- ermöglicht. 2 " Einen entscheidenden Anteil an dem durchschlagenden Erfolg des Solidarismo haben zudem folgende Aspekte:220 • Die desolat zerstrittene Gewerkschaftsbewegung, in der arbeitspolitische Konflikte oft durch parteipolitische überlagert wurden, hat sich bei großen Teilen der Bevölkerung selbst diskreditiert. • Durch die Verbindung mit der Katholischen Kirche ist es dem Solidarismus gelungen, eine Ideologie zu konzipieren, die sowohl der konservativen Medienkultur als auch dem religiös-moralischen Empfinden weiter Bevölkerungsschichten entspricht. • Aufgrund der Unterstützung der Unternehmerschaft kann die Bewegung über größere finanzielle Ressourcen verfugen. • Der in einer Asociación Solidarista organisierte Arbeiter genießt oft reale ökonomische Vorteile sowie eine bevorzugte Behandlung am Arbeitsplatz.

2.8 2.9

220

Vgl. G Maihold, 1993, 325 f. Vgl. O. Bejarano, El Solidarismo Costarricense, in: J M. Villasuso (ed ), 1992, 203-208, hier: 204 f. Vgl. S. Schmidt, 1986, 142 ff; G Maihold, 1993, 327 f

176

4. Demokratie in der ..Zweiten Republik"

• Häufig wird mit der Arbeitsaufnahme in einem Betrieb als Zwangssozialleistung gefordert, einer solidaristischen Vereinigung beizutreten, während bei der Organisation einer Betriebsgewerkschaft eine Kündigung droht. Laut Art. 8 des Ley de Asociaciones Solidaristas ist die Beeinträchtigung der Gewerkschaftsarbeit durch die Asociaciones Solidaristas untersagt. In der Praxis ist es jedoch gelungen, die TarifVertragshoheit der Gewerkschaften auszuhöhlen, indem zunehmend von der Möglichkeit des im Arbeitsgesetzbuch verankerten arreglo directo Gebrauch gemacht wurde. Sie gestattet den Arbeitnehmern, „nach der Errichtung eines permanenten Komitees Direktvereinbarungen mit den Arbeitgebern abzuschließen, die zwar nicht -wie die Tarifverträge- Gesetzesrang haben, aber dafür auch keiner Genehmigung durch das Arbeitsministerium unterliegen."221 Damit ist es dem Solidarismo, der sich in den letzten Jahren auch in anderen Ländern Mittel- und z.T. auch Südamerikas erfolgreich ausgebreitet hat, gelungen, einen wesentlichen Aufgabenbereich der Gewerkschaften -die Aushandlung von Tarifverträgen- aus der Realität der Arbeitswelt zurückzudrängen zugunsten von Direktvereinbarungen, die in hohem Maße der Kontrolle der Unternehmen unterstehen, da die Führung der solidaristischen Vereinigungen großteils von leitenden Angestellten der Geschäftsführung der Betriebe wahrgenommen wird.222 Da der Solidarismus inzwischen nahezu den gesamten Bereich der Privatwirtschaft abdeckt, beschränkt sich der politische Einfluß der Gewerkschaften fast ausschließlich auf den öffentlichen Sektor. Die Interessen bestimmter Bevölkerungsschichten werden daher nicht mehr vertreten, was Gustavo Blanco Brakenridge und Orlando Navarro Rojas wie folgt kommentieren: „In den allgemeinen und grundlegenden Debatten, die von dem Movimiento Solidarista Costarricense im Herzen der costaricanischen Gesellschaft ausgelöst wurden, ist die große Abwesende die costaricanische Arbeiterklasse."223 Manche Kritiker der Solidarismo-Bewegung sehen in deren Praktiken außerdem eine Verletzung der verfassungsmäßig garantierten gewerkschaftlichen Freiheiten und Rechte und deklarieren diesen Zustand als eine der größten Schwachstellen der costaricanischen Demokratie.224 Marielos Aguilar Hernández bezeichnet die direkte und indirekte Unterdrückung gewerkschaftlicher Organisation als ein Hauptmerkmal von politischer Unterentwicklung, die im Widerspruch steht zu

221 222 225

224

G Maihold, 1993, 327. Vgl. G Maihold, 1993, 329. G Blanco Brakenrídge/O. Navarro Rojas, El movimiento solidarista costarricense y la nueva estrategia de la intervención de la burguesía en el movimiento laboral costarricense, San José 1982, 72, zit. nach S. Schmidt, 1986, 146 Vgl J Valverde Rojas, Pragmatismo de los trabajadores y coexistencia solidarismosindicalismo en el sector público de Costa Rica, San José 1993, 43

Das System der politischen Willensbildung

177

der -zumindest formal- gefestigten Demokratie Costa Ricas, für deren Stabilität sie von den politischen Akteuren als notwendig erachtet wird.225

4.3

Entwicklungsstrategien

Nach seinem Wahlsieg im Jahre 1953 setzte der Partido Liberación Nacional einen „Prozeß zur Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft mit 'desarrollistischem' Zuschnitt in Gang"226 , der bis zum Ausbruch der schweren Wirtschaftskrise Ende der 70er Jahre andauerte, deren Auswirkungen eine Umgestaltung des bisherigen Entwicklungsweges erforderten. Im folgenden sollen die ursprüngliche und die neuen Strategien in ihren Grundzügen dargestellt und bezüglich ihrer Bedeutung für die Konsolidierung der costaricanischen Demokratie analysiert werden.

4.3.1

Die sozioökonomische Entwicklung bis zur Wirtschaftskrise

Bis zum Ende der 50er Jahre war die costaricanische Wirtschaft von dem auf den traditionellen Exportprodukten Kaffee und Bananen basierenden Agrarsektor dominiert, der zwischen 40% und 45% zum Bruttosozialprodukt beitrug und über die Hälfte der Erwerbstätigen beschäftigte.227 Bereits 1952 wurde jedoch in Zusammenarbeit mit der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) das Comité de Cooperación Económica del Istmo Centroamericano gegründet, das sich aus den Wirtschaftsministem der fünf betreffenden Länder zusammensetzte und ein Konzept für eine Freihandelszone ausarbeitete, das 1960 zum Abschluß des Tratato General de Integración Económica und damit zur Gründung des Mercado Común Centroamericano (MCCA) führte.228 Die Etablierung des „Zentralamerikanischen Gemeinsamen Marktes", dem Costa Rica aufgrund nationaler Bedenken erst 1963 beitrat, war aber nur ein Teil der von der CEPAL nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten 225

226

227 228

Vgl M. Aguilar Hernández, Costa Rica: Democracia y Libertades Sindicales (1980-1989), in: Revista de Ciencias Sociales, No 59, Marzo 1993, 71-80, hier: 76. M. Minkner, Die Wirtschaftskrise und ihre Perspektiven, in: A. Maislinger (Hrsg.), 1986, 175-190, hier: 176. Vgl U Fanger/B. Thibaut, 1992, 57. Vgl. T. AltenburgAV. Hein/J Weller, El desafio económico de Costa Rica: desarrollo agroindustrial autocentrado como alternativa, San José 1990, 67; zu Vorgeschichte, Gründung und Absichten des MCCA siehe auch R. Zimmerling, Externe Einflüsse auf regionale Integrationsprozesse Zentralamerika und der Andenpakt, Saarbrücken 1991, W. König, Eine ökonomische Bilanz der lateinamerikanischen Integrationsbewegungen, in: M. Mols (Hrsg ), Integration und Kooperation in Lateinamerika, Paderborn/München/ Wien/Zürich, 1981, 101-119

178

4. Demokratie in der ..Zweiten Republik"

Gesamtstrategie, die in Zentralamerika wie auf dem gesamten Subkontinent zur Leitlinie der Wirtschaftspolitik der kommenden Jahre wurde.229 In ihren programmatischen Grundzügen läßt sich die „vor allem mit der Arbeit des argentinischen Ökonomen Raúl Prebisch verknüpfte Hauptströmung des lateinamerikanischen Entwicklungsdenkens", die „ihren Ursprung auf die Problematik wirtschaftlicher Entwicklung gerichtet", [...] „aus einem Wechselspiel von praktischer wirtschaftspolitischer und theoretischer Anstrengung"230 hervorging, wie folgt charakterisieren. Vorrangiges Ziel war die Reduzierung der außenwirtschaftlichen Abhängigkeit zugunsten eines „nach innen gerichteten" Wachstums; Kernelemente zur Erreichung dieses Ziels waren die Diversifizierung und Modernisierung der Agroexportwirtschaft sowie vor allem die Förderung einer auf den erweiterten nationalen Markt gerichteten importsubstituierenden Industrialisierung.231 In Anlehnung an diese wirtschaftspolitischen Leitlinien der CEPAL verfolgten die politischen Akteure Costa Ricas eine Entwicklungsstrategie, die bis Mitte der 70er Jahre hinsichtlich der Wachstumsdynamik sowie in bezug auf die strukturelle Differenzierung der Volkswirtschaft erfolgreich war.232 Im Bereich der Landwirtschaft erweiterte man das Angebot an Exportprodukten hauptsächlich um Rindfleisch und Zucker, der Anbau der traditionellen Exportgüter Kaffee und Bananen wurde intensiviert und modernisiert.233 Zwar verlor auch in Costa Rica der Landwirtschaftssektor aufgrund der einsetzenden Industrialisierung relativ an Bedeutung, doch kann -im Gegensatz zu vielen anderen lateinamerikanischen Ländern- nicht davon gesprochen werden, daß er sich in einer Krise befand. Denn eine expandierende Weltmarktnachfrage sowohl nach den traditionellen als auch nach den neuen Exportprodukten ermöglichte -in Verbindung mit zunächst noch erheblichen Landreserven für die landwirtschaftliche Kolonisation- ein bedeutendes quantitatives Wachstum der Agrarexporte sowie eine Diversifizierung der Exportstruktur.2'4 Damit blieb die Landwirtschaft für lange Zeit der maßgebliche devisenbringende Sektor.235 An der dynamischen 229

230 231

232 233

234

235

Vgl. T. Altenburg, Strukturanpassung im Industriesektor - Neue, exportgetriebene Dynamik oder Deindustrialisierung?, in: P Bendel (Hrsg.), 1993, 233-253, hier: 234 P. Thiery, 1991, 11. Eine ausfuhrliche Darstellung der theoretischen Hintergründe der CEPAL-Schule sowie der von ihr seit den 50er Jahren in Zentralamerika geförderten Strategie „importsubstituierender Industrialisierung" (ISI) findet sich u.a bei G. Schreiner, 1988, 127 ff Vgl. U. Fanger/B Thibaut, 1992, 58. Vgl. F J. Esquivel Villegas, Costa Rica: De la crisis económica al ajuste estructural conservador, in: L. P Vargas Solis (ed), Crisis económica y ajuste estructural, San José 1992, 117-171, hier: 122. Vgl W. Hein, Historische Voraussetzungen: Zur Entwicklung Costa Ricas bis zur Krise 1981/82, in: ders. (Hrsg.), Autozentrierte agroindustrielle Entwicklung - Eine Strategie zur Überwindung der gegenwärtigen Entwicklungskrise? Ansätze sozioökonomischer Transformation in Costa Rica im Vergleich zu südostasiatischen und afrikanischen Gesellschaften, Hamburg 1994, 63-75, hier: 72 f. Vgl. M. Solis Avedano/M. Rojas Bolaños, 1986, 227.

Entwicklungsslralegien

179

Entwicklung -die realen Zuwachsraten betrugen zwischen 1963 und 1972 jährlich bei Kaffee 4,1%, bei Bananen 16,5%, bei Rindfleisch 5% und bei Zucker 7,1% 236 - partizipierten zu jener Zeit nicht nur Plantagenwirtschaft und Großgrundbesitz, sondern auch Klein- und Mittelbetriebe des Kaffee- und Zuckeranbaus. 2 " Parallel zur Diversifizierung und Modernisierung der Landwirtschaft begann 1959 mit einem Gesetz über den „Schutz und die Entwicklung der Industrie" und vor allem seit 1963 mit dem Eintritt in den MCCA der Aufbau eines einheimischen Industriesektors, der sich fast ausschließlich auf nationale und regionale Importsubstitution richtete. Mit Hilfe „eines weitreichenden protektionistischen Systems, dessen Hauptelemente auf Abkommen des Gemeinsamen Marktes fußen, wurde eine auf Drittmärkten -abgesehen von wenigen Ausnahmen- nicht konkurrenzfähige Produktion herangezüchtet."238 Im Rahmen der importsubstituierenden Industrialisierungsstrategie führte man insbesondere in jenen Konsumgüterbranchen, in denen Importe relativ leicht substituiert werden konnten, hohe Importzölle ein, während auf die Einfuhr von Kapital- und Zwischengütem nur geringe Zölle erhoben wurden, um Maschinen und Vorprodukte für die Konsumgüterindustrie billig importieren zu können. Indem man die Landeswährung auf einem überbewerteten Niveau hielt, wurden bestimmte Importe gegenüber nationaler Herstellung begünstigt. Außer durch diese zoll- und wechselkurspolitischen Maßnahmen förderte der Staat die entstehenden Industrien durch die Vergabe von Krediten zu Vorzugsbedingungen, die Abgabe von öffentlichen Leistungen, wie z.B. die Bereitstellung von Energie, zu subventionierten Preisen, eine niedrige direkte Besteuerung sowie durch die Kontrolle der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise zur Senkung des städtischen Lohnniveaus.239 Zusammen mit der im mittelamerikanischen Raum außergewöhnlichen politischen Stabilität -in Form einer gefestigten parlamentarischen Demokratie- haben diese Faktoren einen „Investitionsboom ausgelöst, der ausländische Investitionen insbesondere in den Schlüsselbereichen und in Großobjekten anlockte"240, was bewirkte, daß die dynamischsten Industriezweige von ausländischen Gesellschaften -an erster Stelle von nordamerikanischen, aber auch von japanischen und deutschen- kontrolliert wurden.241

236 237 238 239 240

24

'

Vgl. M Minkner, Costa Rica: „Entwicklungsmodell" in der Krise, Hamburg 1982, 15. Vgl U Fanger/B. Thibaut, 1992, 60 M Minkner, 1982, 11 Vgl T. Altenburg, 1993, 234 W Hummer, Sozio-ökonomische Grundstrukturen Costa Ricas unter besonderer Berücksichtigung außenwirtschaftlicher Verflechtungen, in: A Maislinger (Hrsg.), 1986, 159173, hier: 162. Vgl. M. Solis Avedano/M. Rojas Bolaiios, 1986, 226.

180

4. Demokratie in der „Zweiten Republik"

Tabelle 7: Anteil der verschiedenen Industriezweige am Produkt der verarbeitenden Industrie in % Zweig

1957

IMO

1965

197«

1975

1980

31 32 33 mmii::^: t^ase.^.-' 36

60,5

59,8

47,3

44,1

12,8

14,2

52,3 13,4

12,3

45,6 10,1

10,8

9,8 2,7

8,1 4

6,7

3,1 4,4

4,8

11,7 9,3 3,9

5,6

8,7

12,8

16,9

4,2

3,8

5,8

5,2

3,6

3,8

0

0

0

0,3

0,5 8,4

0,5 10,3

>• h 39

7,1 4,8 16,8

2,4

2,4

5,8

0,5

0,5

0,8

9,1 0,9

0,4

0,3

1,3

1,2

1,1

0,6

1,2

0,8

(Wolfgang Hein, 1994a, 71. Erlauterungen: 31 = Lebensmittel, Getränke, Tabak; 32 = Textilien, Bekleidung, Leder; 33 = Holz und Möbel, 34 = Druck und Papier; 35 = Chemie, Gummi, 36 = Steine und Erden; 37 = metallische Grundstoffe; 38 = Metallverarbeitung, Maschinenbau, Elektro, 39 = andere, 23-29 = Bergbau)

Wie Tabelle 7 zeigt, haben auch Verschiebungen innerhalb der Branchenstruktur stattgefunden, denn die traditionellen Industrien (Lebensmittel, Holz, Möbel) wurden zugunsten der „modernen" Industriezweige (Chemie, Metallverarbeitung, Elektrogeräte) zurückgedrängt. Bei der Durchfuhrung der wirtschaftlichen Transformationen -Diversifizierung und Modernisierung der Landwirtschaft sowie Einleitung einer importsubstituierenden Industrialisierung- spielte der Staat eine maßgebliche Rolle.242 Seit Beginn der 50er Jahre übte er die Funktion eines Estado proteccionistapaternalista bzw. eines Estado desarrollista-benefactor aus243 , wobei er sich bis 1969 weitgehend „auf die wirtschaftlich flankierende und sozial ausgleichende Unterstützung des Modernisierungsprozesses" 244 beschränkte. Zunächst gründete oder reorganisierte er Institutionen (Instituciones Autónomas), die grundlegende Dienstleistungen im Finanzierungs-, Infrastruktur- und Sozialbereich erbrachten und die ab Anfang der 60er Jahre ausgeweitet und um Institutionen zur direkten Förderung der Produktion erweitert wurden.245 Ab 1970 vergrößerte der Staat 242

243

244

245

Zur Rolle des Staates im wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß siehe E. Lizano, Der Staat und die Wirtschaft in Mittelamerika, in: M. Mols/J. Thesing (Hrsg.), Der Staat in Lateinamerika, Mainz 1995, 75-95, hier: 81 f. Vgl. L. Garnier R., Crisis, desarrollo y democracia en Costa Rica, in: E. Torres Rivas (et al ), Costa Rica: crisis y desafios, San José 1989 (3. ed ), 29-46, hier: 31 M. Minkner, 1982, 17

Zu diesen Institutionen zählten u.a. das Instituto de Tierras y Colonización, das Centro

para la Promoción de las Exportaciones, das Instituto Costarricense de Acueductos y

Entwicklungsslralegien

181

seinen Aktionsrahmen beträchtlich. Mit der Gründung der Corporación Costarricense de Desarrollo (CODESA) wurde es möglich, staatliche Unternehmen in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft mit dem Ziel aufzubauen 244 , „stabilisierend auf Wachstum und Beschäftigung einzuwirken und damit die stark schwankende und relativ abnehmende Dynamik der Privatwirtschaft zu kompensieren." 247 Die Erfolge der auf diese Weise organisierten nationalen Wirtschaft waren zunächst beachtlich. Aufgrund des guten Absatzmarktes in den USA ftir Rindfleisch und Zucker, des gesteigerten Exportvolumens bei Kaffee und Bananen und der Nachfrage nach costaricanischen Industrieprodukten innerhalb des MCCA betrug die jährliche Wachstumsrate zwischen 1950 und 1970 durchschnittlich 6,6%, zwischen 1970 und 1979 noch 5,6%.248 In welchem Maße die einzelnen Wirtschaftssektoren dabei am Bruttoinlandsprodukt beteiligt waren, geht aus Tabelle 8 hervor.

Tabelle 8:

Bruttoinlandsprodukt nach Wirtschaftssektoren in % 1950-1978

Sektor Land-/Forstwirtschaft Bergbau/Iadestrie ElektrizitStAVasser Bauwesen Handel Staat Transport/Kommunikation andere

1950

195»

1966

40,9

28,6

22,5

13,4

14,1 0,9

23,2 17 1,5 4,3 20,5 10,6

1,7 4,3 21 10,6

1,8 5,5 19,7

4,2 18,7

4,2 17,4

4,2 15,6

-

19,1 5,4 -

21,1

5,1 21 8,1 3,7 18,5

1978 18,3

20,4 18,7

14

(W Hein, 1994a, 70.)

Aufgrund dieser relativ günstigen ökonomischen Entwicklung gelang es dem „neuen Bürgertum", das nach dem Bürgerkrieg von 1948 die alte Kaffee-, Handels* und Finanzoligarchie in ihrer politischen und wirtschaftlichen Vorherrschaft abgelöst hatte, einen breiten gesellschaftlichen Grundkonsens herzustellen für ein Entwicklungsmodell, das neben einer politischen und wirtschaftlichen auch eine stark ausgeprägte sozialstaatliche Komponente einschloß. Die Erhöhung der Umverteilungskapazitäten durch den staatlichen Sektor war die materielle Basis des sozialintegrationistischen Kurses, der von der politisch-parlamentarischen MehrAkantarillados, die Radiográfica Costarricense S.A., der Banco Popular y de Desarrollo 244 241 241

Comunal sowie das Oficina de Planificación Nacional, vgl. H. Fallas, Crisis económica en Costa Rica: un análisis económico de los últimos 20 años, San José 1984 (2. ed ), 88. Vgl H. Fallas, 1984, 88 f M. Minkner, 1982, 18 Vgl J Rovira Mas, 1989b, 28/36.

182

4 Demokratie in der ..Zweiten Republik"

heit vertreten wurde24' und zu sozialen Indikatorenwerten führte, „die mit zu den besten der ganzen Dritten Welt zählen und z.T. denjenigen der Industrieländer nahekommen."250 Dabei wirkten kontinuierlich steigende Reallöhne, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Wohnungsbauprogramme, der Ausbau des sozialen Sicherungsnetzes, des Gesundheitswesens und des Erziehungssystems als zentrale Integrationsfaktoren251 , die wesentlich zur Stabilität der demokratischen Institutionen Costa Ricas beigetragen haben.252 Sie ermöglichten eine relativ große vertikale Mobilität und förderten damit die Entstehung einer breiten Mittelschicht, begrenzten eine extreme Marginalisierung weiter Bevölkerungsteile und hielten den Anteil der in absoluter Armut lebenden Menschen verhältnismäßig niedrig.253 Trotz dieser insgesamt positiven Resultate war die Entwicklungsstrategie -vor allem unter wirtschaftspolitischer Perspektive- von Anfang an auch mit Schwächen behaftet: Bereits seit den 50er Jahren sind Finanzierungs- und Devisenengpässe eine ständige Begleiterscheinung der Entwicklung gewesen, denn die protektionistischen Maßnahmen im Wirtschaftsbereich und die Verbesserungen der Infrastruktur und des Sozial- und Bildungswesens erforderten große Finanzmittel, was sich in einem permanenten Handels- und Leistungsbilanzdefizit niederschlug. Die Zahlungsbilanzungleichgewichte wurden durch Auslandskredite und Direktinvestitionen und seit 1960 auch durch die dauernde Inanspruchnahme des Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie durch kurzfristige Importdrosselung bzw. Ankurbelung von Exporten ausgeglichen. „Der (vordergründige) Erfolg der kontraktiven bzw. dynamisierenden Maßnahmen und zeitweilig verstärkter Kapitalzufiihr wurde als Beweis für die Funktionsfähigkeit und die Anpassungsmöglichkeiten des Entwicklungsmodells genommen und verhinderte strukturelle Eingriffe, um die zugrundeliegenden und sich allmählich verstärkenden Fehlentwicklungen zu korrigieren."254 In den Jahren 1973-74 führten der „Erdölpreisschock" und die steigenden Preise für Rohstoffe, Zwischen- und Kapitalgüter zu Importsteigerungen um fast 60%, einem Inflationsschub von 30% und einem Rückgang der realen Wachs249 250

251

252

253

254

Vgl P. Hiedl/R. Rausch, 1984, 364. W. Hein, 1994a, 74, Gemäß dem Human Development Index der Vereinten Nationen rangierte Costa Rica im Jahre 1990 auf der internationalen Skala auf Platz 28, unter den Entwicklungsländern auf Platz 10; vgl V. Vargas/J.-R. Vargas, El crecimiento económico de Costa Rica: un análisis sobre sus principales resultados, in: Revista de Ciencias Económicas, Vol. XIII, No 1/2, 1993, 109-142, hier: 129 Vgl R. Wesson, Costa Rica: Problems of Social Democracy, in: ders (ed.), Politics, Policies, and Economic Development in Latin America, Stanford 1984, 213-233, hier: 216 f. Vgl. M Rojas Bolaños, Gobernabilidad, Legitimidad Electoral y Sociedad Civil en Costa Rica, in G. Maihold/M Carballo Quintana (comp ), 1994, 317-328, hier: 318 Detaillierte Ausführungen zum Aufbau des Sozialsystems enthalten die Beiträge in: Asociación Nacional de Fomento Económico (ANFE) (ed.), El Modelo Social Costarricense, San José 1984. M. Minkner, 1986, 176

Enlwicklungsstfategien

183

tunisrate auf 2,1%. Doch wurden diese Krisenerscheinungen ohne strukturelle Veränderungen überstanden und mit der „Devisenschwemme" 1977 aufgrund der außerordentlich hohen KafFeepreissteigerungen wieder ausgeglichen.2" Erst ab Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre eskalierten die internen strukturellen Fehlentwicklungen im Zusammenspiel mit externen konjunkturellen Faktoren zu einer offenen Krise, deren Ursachen und Auswirkungen im folgenden näher betrachtet werden sollen. Interne Verursachungsfaktoren: a) Die Entwicklung der Landwirtschaft • Bis Anfang der 70er Jahre wurde der Aufbau der agrarexportorientierten Produktionszweige (Kaffee, Bananen, Fleisch, Zucker) gefördert, was zu einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 5,7% für den Zeitraum 19611973 führte, die damit deutlich über denen anderer lateinamerikanischer Länder lag. Zwischen 1973 und 1980 reduzierte sich das reale Wachstum des Agrarproduktes, vor allem wegen der Verminderung der Investitionen, auf 1,4%. Dies hatte sowohl auf die Devisensituation als auch für den Staatshaushalt negative Auswirkungen: 2 " • Im Rahmen der Förderung des Agrarexports vernachlässigte man -zumindest bis 1976- die Produktion von Grundnahrungsmitteln (granos bäsicos) für den inländischen Bedarf, was sich einerseits in einem steigenden Importbedarf der entsprechenden Lebensmittel -und damit in einer größeren Devisenbelastung-, andererseits in einer verstärkten Landkonzentration und der Freisetzung von Beschäftigten niederschlug. 2 " • Die Diversifizierung der Agrarexportprodukte machte ab Ende der 60er Jahre kaum Fortschritte, was sowohl auf das relativ niedrige technologische Niveau in diesem Bereich als auch auf die begrenzten Nutzflächen zurückzufuhren ist, so daß der Landwirtschaftssektor mit seinen traditionellen Exportprodukten in hohem Maße weltmarktabhängig blieb.25' • Für den gesamten Landwirtschaftssektor kann man feststellen, daß es nicht in erforderlichem Maße gelungen ist, „landwirtschaftliche bzw. ländliche Entwicklung mit Industrialisierung bzw. Urbanisierung zu verknüpfen", da weder „Massenkaufkraft für Konsum- und einfache Kapitalgüter geschaffen" noch „die Nahrungsmittelproduktion und die Inputerzeugung für die Industrie ausreichend entwickelt" wurde, „um eine tragfahige Grundlage für eine 'nach innen' orientierte Entwicklung zu legen."259 255 256 257 258

259

Vgl M. Minkner, 1982, 6 f Vgl. H. Fallas, 1984, 47 f Vgl F. J Esquivel Villegas, 1992, 129. Vgl H. Fallas, Alternativas de desarrollo para Costa Rica, in: F. Barahona (coord ), 1988, 73-84, hier: 74 M. Minkner, 1986, 178

184

4. Demokratie in der ..Zweiten Republik"

b) Die Strategie „importsubstituierender Industrialisierung" (ISI) • Der hohe Außenschutz im Rahmen des MCCA verdeckte die äußerst geringe Konkurrenzfähigkeit der Industrieproduktion auf Drittmärkten, denn es war versäumt worden, international wettbewerbsfähige und zukunftsträchtige Produktpaletten zu etablieren, da man den Schwerpunkt zwar auf moderne, aber ansonsten technologisch konventionelle Produktionszweige gelegt hatte.260 • Die neuen Industrien stellten hauptsächlich Endprodukte wie Chemikalien, Elektroartikel, Maschinen etc. her, für die sie Rohstoffe und Zwischengüter benötigten, die im Land nicht verfugbar oder billiger zu importieren waren. Es wurden daher keine entsprechenden Zulieferindustrien aufgebaut, so daß mit steigenden Exportraten auch die Importabhängigkeit wuchs. Da der Industriesektor aber nur etwa die Hälfte seiner für den Import benötigten Devisen selbst erwirtschaftete, brauchte er fiir seine weitere Expansion die vom Agrarsektor erzeugten Devisen.261 • Die starke Abhängigkeit von ausländischem -insbesondere nordamerikanischem- Kapital begünstigte einen Prozeß der Oligopolisierung262 und damit die Dominanz eines exportschwachen, von ausländischen Direktinvestitionen beherrschten Industriesegments, das die Hauptursache für den Passivsaldo der Handelsbilanz darstellte und mit seinen hohen Finanzierungskosten nicht nur die eigene Rentabilität, sondern auch die Devisensituation des Landes beeinträchtigte.26' Für den Industriesektor stellt Mechthild Minkner zusammenfassend fest: „Die Art der Industrialisierung mit ihren strukturellen Deformationen wirkt sich [...] nicht nur auf das mittel- und langfristige sektorale (bzw. gesamtwirtschaftliche) Wachstum sowie die Abhängigkeit vom Ausland, sondern auch auf den Staatshaushalt des Landes negativ aus."264 c) Die Rolle des Staates • Während der Staat in der Entwicklungsstrategie zunehmend an Bedeutung gewann, wuchs auch der Umfang der Bürokratie: Die Zahl der Instituciones Autónomas vervielfachte sich, der Anteil der im Staatssektor Beschäftigten erhöhte sich von 6,2% im Jahre 1950 auf 19,5% 1981, der Anteil des Tertiärsektors am Bruttoinlandsprodukt betrug zeitweise mehr als 50%, und die Ausgaben der Zentralregierung nahmen auf dem Höhepunkt dieser Entwick-

260 261 262 263 2M

Vgl. U. Fanger/B. Thibaut, 1992, 63. Vgl J. Rovira Mas, 1989b, 50 f. Vgl. H Fallas, 1988, 75. Vgl. M. Minkner, 1982, 14 M. Minkner, 1982, 15

Entwicklungsstrategien

185

lung 1980 fast 21% des BIP in Anspruch.265 Damit entstand auch in Costa Rica ein aufgeblähter Staatsapparat mit all den Folgen, wie sie aus anderen Ländern bekannt sind: „'Wildwuchs' der Institutionen und Projekte, Effizienz- und Effektivitätsprobleme, zu geringe Kontrolle, ausufernde Subventions-, Kredit- und Verschuldungspolitik ließen einen staatlichen Sektor entstehen, dessen Finanzierung zu einer immer größeren Belastung für Wirtschaft und Gesellschaft wurde und dessen Bürokratie sich zu einer 'Kaste' herausbildete, die sich in vielfältiger Form am öffentlichen Vermögen selbst bediente." 2 " In engem Zusammenhang damit steht ein Steuersystem, das hauptsächlich auf der Erhebung von indirekten Steuern beruhte, Abgaben auf Eigentum und Einkommen der Besserverdienenden niedrig hielt und somit nicht genügend Mittel aufbrachte, die gestiegenen Kosten zu dekken.267

Externe Verursachungsfaktoren: a) Die Verschlechterung der terms of trade, die 1974 um 11,4% gegenüber 1970 abfielen, sich zwischenzeitlich etwas erholten und 1979/80 wiederum um 22% zurückgingen. b)Die Preiserhöhung für Erdöl und Erdölderivate, die 1970 noch etwa 5% der Ausfuhrerlöse ausmachten, 1979 jedoch 20%. c) Stark schwankende Preise und Abnahmemengen der landwirtschaftlichen Hauptexportprodukte, die eine vorausschauende Planung und Verwendung der Devisen erschwerten. d)Die politisch-wirtschaftlichen Unruhen in den mittelamerikanischen Nachbarländern und die nachlassende Dynamik und schließlich der Zerfall des MCCA, der etwa 90% der Industrieexporte Costa Ricas aufnahm. e) Der ständig steigende ausländische Kapitalzufluß, der vor allem seit 1974 von den privaten Banken ausging und einerseits Wachstum und Entwicklung mit ermöglicht, andererseits die Verschuldungskapazität auch hinsichtlich des Managements überfordert hat.268

265

266 267

261

Vgl. L Garita, The Bureaucratization of the Costa Rican State, in: M. Edelman/J. Kenen (Hrsg.), 1989, 137-140, R. Wesson, 1984, 221; U. Fanger/B Thibaut, 1992, 65 f M. Minkner, 1986, 178 f. Vgl. R. E. Feinberg, Costa Rica: The End of the Fiesta, in: R. Newfarmer (ed.), From Gunboats to Diplomacy - New U.S. Policies for Latin America, Baltimore/London 1984, 102-115, hier: 105 Vgl. M. Minkner, 1982, 10 f., detaillierte Ausfuhrungen zu den externen Venirsachungsfaktoren finden sich bei M. Brixius, 1993, 198 ff

186

4. Demokratie in der „Zweiten Republik"

4.3.2

Entwickiungsstrategische Veränderungen seit der Wirtschaftskrise Ende der 70er Jahre

Die Hauptmerkmale der schwersten Wirtschaftskrise Costa Ricas nach dem Bürgerkrieg von 1948 lassen sich anhand einiger makroökonomischer Basisindikatoren (siehe Tabelle 9) wie folgt zusammenfassen 26 ': • Deutlicher Rückgang des Bruttoinlandsprodukts, das im Jahre 1983 dem des Jahres 1972 entsprach, und damit der durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate, die zwischen 1981 und 1982 -3% betrug. • Sinkende Staatseinnahmen (und Pro-Kopf-Einkommen), so daß sich das Haushaltsdefizit 1980 auf 37% und der Schuldendienst 1984 auf 55% der Exporterlöse belief. Costa Rica mußte deshalb im Mai 1981 seine Goldreserven verkaufen und im September desselben Jahres durch die Einstellung des gesamten ausländischen Schuldendienstes seine zeitweilige Zahlungsunfähigkeit offenbaren. Die öffentliche Auslandsverschuldung hatte sich 1982 gegenüber dem Zeitraum 1976-1979 verdreifacht. • Anstieg der traditionell niedrigen Inflationsrate auf 17,8% im Jahre 1980 und auf 81,8% 1982. • Reduzierung der Reallöhne um mehr als 40% zwischen 1980 und 1982. • Anstieg der Arbeitslosenquote auf 9,4% (1982) gegenüber durchschnittlich 6% in den 60er und 70er Jahren sowie Zunahme der Unterbeschäftigung. Tabelle 9: Verschiedene Wirtschaftsindikatoren Costa Ricas 1976 bis 1983 1980

1981

1982

1983

6,4

0,8

3,6

-1,6

-2,3 -4,9

9,3

-4,1 5,9

-7,3 -9,8 -29 9,4

2,3 -0,3 19,4 9 19,9 10,7

1576-79 BIP in % Pro-Kopf Einkommen in % Reallöhne in % Arbeitslosigkeit ia % UaterbescbSftigang in % Inflation in */• HaadeisbilaiizMki. US-$ EIL Venebai. Mio. US-S SchuMendiesstqaote Defizit Regieran^ in % Defizit off. Sekt/BIP

5,1 11,9 7,8 -283,5 1004,8 19,4 31,7 10,4

13,5 17,8 -522,1

-15,3 8,7 17,4

23,8 81,8 -22,8

-118,3

3116,7

3718,2

2254,2

65,1 -200,4 2732,7

29,9

45,4

71,2

64,3

41,8 13,3

24,8

20,5

13,7

9,3

18,3 3,4

(J RoviraMas, 1989b, 44 ) 269

Vgl. S. Reuben Soto, Economía y sociedad en Costa Rica: 1978-1986, in: CLACSO (Hrsg.), Hacia un nuevo orden estatal en América Latina, Vol 4: Los actores socioeconómicos del ajuste estructural, Buenos Aires, 1989, 245-298, hier: 255; J. Rovira Mas, 1989b, 45; W Hummer, 1986, 163.

Entwicklungsstrategien

187

Nach Auffassung einiger Autoren wurden Ausmaß und Auswirkungen der Krise durch die widersprüchliche Wirtschaftspolitik der Unidad Social Cristiana-Rcgierung unter ihrem Präsidenten Carazo (1978-1982) verschärft270, da diese aufgrund des Drucks der verschiedenen Interessengruppen einen „wirtschaftspolitischen Zickzackkurs mit neoliberalen und 'desarrollistischen' Maßnahmen" verfolgte, der hauptsächlich durch folgende Fehlentscheidungen geprägt war: „ a) Das Festhalten am festen Wechselkurs bis zur völligen Aufzehrung der Devisenreserven rief eine allgemeine Vertrauenskrise mit Kapitalflucht, Spekulation und hoher Abwertung hervor b) Die Finanzierung des Haushaltsdefizits, nachdem die externen Zuflüsse zu versiegen begannen, vor allem durch interne Kreditausweitung mittels Zunahme des Geldumlaufs, führte 1981 zu einem starken Druck auf Inflation und Wechselkurs c) Das Hinausschieben der Anpassung der staatlichen Tarife und des Abbaus der Subventionen verstärkten das Haushaltsdefizit und die Devisenlücke. d) Die einseitige Entscheidung, den internationalen Zahlungsverpflichtungen und den Auflagen des IWF nicht mehr nachzukommen, führte zur Blockierung der Verhandlungsbereitschaft und zum Stopp der Kapitalzuführ von Seiten der Gläubiger" 2 7 1

Mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise wurde deutlich, daß die soziale und politische Integrationskraft des vom PLN repräsentierten Entwicklungsmodells abnahm. Die Unternehmer übten verstärkt Kritik am Umfang des Staatsapparates; die Möglichkeiten politischer Partizipation, sozialen Aufstiegs und materieller Besserstellung unterlagen finanziellen Beschränkungen; infolge der Verschlechterung der Lebensbedingungen brachen soziale Konflikte aus, die sich in Kampfmaßnahmen von Stadtteilbewohnern, Bauernverbänden, Kammern und Gemeindeverwaltungen niederschlugen.272 Weil sein ideologischer Führungsanspruch grundsätzlich inirage gestellt war, sah sich der PLN nach seinem Wahlsieg 1982 mit der Notwendigkeit konfrontiert, einen neuen gesellschaftlichen Basiskonsens herzustellen. In den ersten beiden Jahren ihrer Amtszeit konzentrierte sich die Administration Monge daher auf die Stabilisierung der Wirtschaftslage. Der Abbau der Instabilität und Disparität zwischen den Wechselkursen, die Reduzierung des Haushaltsdefizits, die Bekämpfung der Inflation sowie die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit dem IWF zur Wiederherstellung der internationalen Finanzbeziehungen waren dabei vorrangige Ziele.273 Zudem wurde im Rahmen des Entwicklungsplanes Volvamos a la Tierra eine Politik der Produktionsförderung von Grundnahningsmitteln be270

271 272

273

Vgl z B. A. Sojo, Actual dinámica socio-económica costarricense y las opciones de desarrollo social en el ocaso del siglo XX, in: Síntesis, N° 8, 1989, 36-72, hier: 39. M. Minkner, 1986, 183. Vgl. J Weller, Die politischen Rahmenbedingungen für autozentrierte agroindustrielle Entwicklung in Costa Rica, in: W. Hein (Hrsg.), 1994, 76-86, hier: 78; J. M. Valverde R /M E Trejos P , Diez Años de Luchas Urbanas en Costa Rica (1982-1992), in: Revista de Ciencias Sociales, N o 61, Setiembre 1993, 7-16, hier: 8 ff. Vgl A Sojo, 1989, 40 f.

188

4. Demokratie in der ..Zweiten Republik"

trieben.274 Dank erfolgreicher Umschuldungsverhandlungen und erheblicher Finanzhilfen von US-AID gelangen der Regierung Monge bis Ende 1983 einige wichtige Fortschritte in bezug auf die Stabilisierung der Inflation und des Wechselkurses sowie auf die reale Wachstumsrate und die Aktivierung des Binnenmarktes. Jedoch blieb das Fiskaldefizit trotz drastischer Preiserhöhungen und rigorosem Subventionsabbau hoch, während die Realeinkommen weiter fielen.275 Da man die Dringlichkeit mittel- und langfristiger struktureller Veränderungen erkannt hatte, begannen seit 1984 die Auseinandersetzungen um die zukünftige Entwicklungsstrategie. Drei Hauptströmungen kristallisierten sich dabei heraus:216 a) Die neoliberale Position: Sie zielt auf die „Entfesselung der Marktkräfte" und fordert dementsprechend, staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen zu vermeiden. Dies schließt eine Deregulierung ein: für den Binnenmarkt die Streichung von Subventionen und Garantiepreisen, die Senkung der Steuern auf Produktion, Einkommen und Gewinne, die Liberalisierung des Finanzwesens, für den außenwirtschaftlichen Bereich den Abbau von Schutzzöllen, die Freigabe des Wechselkurses und der Devisenmärkte sowie die Privatisierung von Staatsunternehmen. Die Produktion sollte auf die aus der Deregulierung entstehenden komparativen Kostenvorteile des Landes ausgerichtet sein, nur noch rentable Güter herstellen und andere mittels Exporterlösen importieren. Die neoliberale Position wird in erster Linie von Angehörigen des Agroexport- und privaten Finanzsektors vertreten, gestärkt durch den Einfluß internationaler Finanzorganisationen und politisch repräsentiert vor allem im PUSC, aber auch im konservativen Spektrum des PLN. b)Die Position der Exportförderer: Diese etwas pragmatischer orientierte Strömung geht wie die neoliberale davon aus, daß eine Öffnung der nationalen Wirtschaft und vermehrte Exportanstrengungen sowie die Senkung des costaricanischen Lohnniveaus wegen der Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Ländern der Region erforderlich seien. Im Gegensatz zu den Neoliberalen erwartet man jedoch vom Staat aktive Regulierungsmaßnahmen bei der Schaffung nationaler Kostenvorteile als Grundlage einer neuen, diversifizierten Exportstruktur. Vertreter dieser Position sind die Exporteure nichttraditioneller Produkte, wobei die Industriekammer, ehemals eine starke Stütze des ISIModells, von besonderer Bedeutung ist. c) Die neostrukturalistische Position: Die Auffassungen dieser Strömung entsprechen im wesentlichen den neuen, später veröffentlichten entwicklungsstrategischen Empfehlungen der CEPAL und basieren auf dem Interesse an den 274

275 276

Vgl. J. Weller, Politische Konflikte um die Wirtschafts- und Entwicklungsstrategie der achtziger Jahre: Die Auseinandersetzung um die Zukunft der Granos Básicos in den ersten Jahren der Administration Arias, in: L Ellenberg/A Bergemann (Hrsg.), 1990, 195-213, hier: 196 Vgl. M. Minkner, 1986, 183 f. Vgl. J. Weller, 1994, 79 f.

Entwicklungsstrategien

189

strukturellen Bedingungen einer langfristig tragfahigen Entwicklung. Obwohl anerkannt wird, daß es zum Abbau des nationalen Zahlungsbilanzdefizits verstärkter Exportanstrengungen bedarf, werden Exporte nicht als zentrales Strategieelement verstanden. Vielmehr stehen die Umstrukturierung des Produktionsapparates mit dem Ziel der Grundbedürfnisbefriedigung der breiten Masse der Bevölkerung und eine umfassende Produktivitätserhöhung auf der Grundlage technologischen Fortschritts und qualifizierter Arbeitskraft im Vordergrund. Das Land soll damit in die Lage versetzt werden, mit den Industrieländern statt mit anderen Entwicklungsländern um das billigste Angebot unqualifizierter Arbeitskräfte zu konkurrieren. Zur Schaffung neuer komparativer Kostenvorteile durch eine binnenorientierte Strukturverbesserung wird den internen Kopplungseffekten zwischen der Agroindustrie und der Produktion von Kapital- und Zwischengütern besonderes Gewicht beigemessen. Der Staat spielt in dieser Strategie eine zentrale Rolle, da ihm die Aufgabe zukommt, in Zusammenarbeit mit dem Privatsektor wirtschaftspolitische Ziele zu definieren und eine aktive Technologie- und Ausbildungsförderungspolitik zu betreiben. Die Exponenten der neostrukturalistischen Position befinden sich außer in akademischen Zirkeln im progressiven Lager des PLN sowie in Teilen des Planungsministeriums und des Ministeriums für Wissenschaft und Technologie, verfugen jedoch nur über eine relativ schwache soziale Basis und folglich einen begrenzten politischen Einfluß. Das Ergebnis der Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Positionen um die neue Entwicklungsstrategie war keine rein ideologische Entscheidung, die ausschließlich auf unabhängig-nationaler Ebene gefällt wurde. Vielmehr stand es in engem Zusammenhang mit dem Auslaufen des ersten S/an^-ßy-Abkommens mit dem IWF Ende 1983, das neue Verhandlungen mit der Weltbank um ein weiteres Abkommen im Rahmen einer „gekreuzten Konditionalität" erforderlich machte. Nach etwas mehr als einem Jahr einigte man sich auf den Abschluß eines Vertrages über einen Strukturanpassungskredit in Höhe von US-$ 80 Mio. (SAL I), der in der ersten Phase (1984-1986) an eine Strukturanpassungspolitik mit folgenden Programmschwerpunkten gebunden war:277 a) Reduzierung des Umfangs des öffentlichen Sektors und Rationalisierung der Funktionsweise des Staatsapparates: Als Maßnahmen sollten hierfür u.a. die Entlassung von ca. 5000 Bediensteten im öffentlichen Dienst, die Einfrierung der festen Stellen, die Privatisierung staatlicher Unternehmen und Dienstleistungen, die Einführung von Instrumenten zur verstärkten sozialen Kontrolle über Aufstellung und Durchführung des Staatshaushalts dienen.

277

Vgl. E. Fürst, Politik der Stnikturanpassung in Costa Rica 1982-1988, in: L. El!enberg/A. Bergemann (Hrsg.), Entwicklungsprobleme in Costa Rica, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1990, 171-194, hier: 179 ff.

190

4 Demokratie in der „Zweiten Republik"

b) Partielle Liberalisierung des nationalisierten Bankensystems: Die legislative Grundlage dazu wurde bereits im August 1984 durch das Ley de Moneda geschaffen, welches das Monopol der Zentralbank bezüglich der Aufnahme und Verteilung von Auslandskrediten teilweise aufhob. c) Lockerung der Preiskontrollmechanismen und teilweise Abschaffung der Subventionsinstrumente: Darunter fallt vor allem die deutliche Verringerung der Subventionen für die An- und Verkäufe von landwirtschaftlichen Grundnahrungsmitteln durch den Consejo Nacional de Producción (CNP). d) Reform des Zollschutzsystems sowie der fiskalischen Industrieförderungspolitik: Diese zielt u.a. auf die Aufhebung von quantitativen Importkontrollen; die Umstellung der Zollschutzgesetzgebung auf ein international übliches Wertbemessungssystem; die Abschaffung der Zollbefreiungen für den Import von Zwischen- und Kapitalgütem für die auf den zentralamerikanischen Markt konzentrierte Industrie; die Ersetzung der im Rahmen zentralamerikanischer Integration geschaffenen Anreizinstrumente für regionale Investitionen durch ein nur noch national gültiges Industriefördergesetz. e) Förderung des Aufbaus eines „neuen" Exportsektors auf der Basis der Verarbeitung nicht-traditioneller Agrar- und Industrieprodukte: Hierzu zählen neben der auf Unterbewertimg beruhenden Wechselkurspolitik vor allem per Gesetz einzuführende Zoll-, Gewinn-, und Mehrwertsteuemachlässe, Kredite zu Sonderbedingungen, Infrastrukturtarifvergünstigungen sowie Rationalisierungen der Import-/Exportabwicklung. Damit war der Paradigmenwechsel, wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas, hin zu einem neuen wirtschaftspolitischen Leitmodell vollzogen: „Angestrebt wird seitdem -gleichsam als Pendant zur errungenen Demokratie im politischen Bereich- die Errichtung einer Marktwirtschaft, die nach außen hin offen sein soll und die einen deutlich geringeren Einfluß des Staates vorsieht."27' In der politischen Praxis erführ dieses an sich orthodox-neoliberal konzipierte Programmpaket in Costa Rica jedoch einige Verzögerungen und Modifikationen.279 Zwar wurde das ursprünglich sehr hohe durchschnittliche Protektionsniveau der costaricanischen Wirtschaft erheblich gesenkt, indem man die Tarifbestimmungen internationalen Übereinkommen anpaßte; dafür erfolgte der Zollabbau nicht wie in anderen Ländern umfassend und schockartig, sondern differenziert und gradualistisch. Auch wurde der öffentliche Sektor nicht in dem geforderten Maße reduziert und der Staat spielte bei der Reorientierung der Produktionsund Exportstruktur durch sein Eingreifen mit steuerlichen und anderen strukturpolitischen Maßnahmen eine aktive Rolle.280 Weiterhin wurden recht bald eine 278

279

280

W. Jung, Wirtschaftliche Entwicklungen und soziale Spannungen in Lateinamerika, in: KAS-Auslandsinformationen, 5/1995, 80-100, hier: 82 Vgl. N. E. García, Reestructuración económicca y mercado de trabajo en América Latina, in: Instituto Internacional de Estudios Laborales (IIEL), Genf 1993, 9-52, hier: 22 Vgl. U. Fanger/B. Thibaut, 1992, 69

Enmicklungsslrategien

191

Reihe von Programmen entwickelt, die dazu dienen sollten, die sozialen Kosten des Umstmkturierungsprozesses möglichst auf ein Minimum zu beschränken und sie einigermaßen „gleich" unter den verschiedenen Bevölkerungsschichten zu verteilen.2" Den Gradualismus der Implementierung des neoliberalen Strukturanpassungsprogramms fuhrt Edgar Fürst darauf zunick, daß der Staat zeitweilig Handlungsspielräume zurückgewinnen konnte, die zwar gegenüber dem Einfluß der internationalen Finanzinstitutionen beschränkt blieben, aber doch eine bestimmte „heterodoxe" Handhabung in der wirtschafts- und sozialpolitischen Praxis zuließen. Er begründet dies zum einen damit, daß die großzügige finanzielle Unterstützung, die die USA Costa Rica aus geopolitischen Gründen gewährt hatten, relativ günstige Verhandlungsbedingungen mit Gläubigern und neuen Kreditgebern ermöglichte. Zum anderen sieht er eine ganz spezifisch costaricanische Besonderheit „im antiorthodoxen Wesenszug der politisch institutionellen Struktur gesellschaftlicher Interessenskonfliktregulierung, welche mittels tagespolitisch ausgehandelter Kompromisse und gradualistischer Veränderungen schon immer bestimmend für die Austragung innerbürgerlicher Auseinandersetzungen sowie von Konflikten zwischen herrschenden und beherrschten Klassen war."282 Die seit Mitte der 80er Jahre im Rahmen der neoliberalen Strukturanpassung -mit heterodoxen, vorwiegend auf neostrukturalistischen Elementen basierenden Facetten- eingeleitete Entwicklungsstrategie wird grundsätzlich bis in die Gegenwart verfolgt. Da jedoch die Zielvorgaben hinsichtlich der Budget- und Zahlungsbilanzstabilisierung nicht annähernd erfüllt werden konnten, wurde von IWF, Weltbank und AID die Auszahlung der vereinbarten Kredite teilweise suspendiert und verstärkt auf eine orthodoxere Durchfuhrung der Strukturanpassungsprogramme gedrängt. Die Regierung von Oscar Arias (1986-1990) ergriff schließlich lange geforderte Maßnahmen zur fiskalpolitischen Sanierung, die vor allem die Liberalisierung der Preise für staatlich subventionierte Güter und Dienstleistungen sowie eine Steuerreform betrafen, um höhere Einnahmen zur Deckung von eklatanten Defiziten staatlicher Einrichtungen zu ermöglichen.2" Auch weist das aus Verhandlungen um einen weiteren Stnikturanpassungskredit (SAL II) hervorgegangene Strukturanpassungsprogramm der „zweiten Phase" (1988-1990) deutliche Akzentverschiebungen gegenüber dem SAL I -Abkommen von 1985 auf, insofern es entschiedener eine deregulierte Anreizpolitik für Grundnahrungsmittelproduzenten, eine spürbare Senkung des Protektionsniveaus und die Umstrukturierung der institutionellen und legislativen Grundlagen des Banken- und Finanzwesens im Sinne neoliberaler Anpassungspositionen fordert.284

281 282 283 284

Vgl N E. Garcia, 1993, 23. E. Fürst, 1990, 190. E Fürst, 1990, 185 E Fürst, 1990, 188

192

4. Demokratie in der „Zweiten Republik"

Durch die Strukturanpassungsmaßnahmen ergaben sich wichtige Veränderungen in der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Die Exportstruktur verschob sich sowohl bezüglich der Güterzusammensetzung zugunsten nichttraditioneller Produkte als auch hinsichtlich der regionalen Orientierung zugunsten von Drittmärkten außerhalb Zentralamerikas.2"5 Die wesentlichsten Entwicklungsprozesse im Agrarsektor kann man wie folgt zusammenfassen:286 • Die Kaffeeproduktion verzeichnete bis zur Gegenwart steigende Produktionsraten und Hektarerträge und bildete bis Ende der 80er Jahre weiterhin das Rückgrat der costaricanischen Landwirtschaft. • Die Bananenproduktion sank zunächst beträchtlich wegen der Aufgabe der United Brands-Plantagen in der südlichen Pazifikregion, durch Produktionsausweitungen an der Atlantikküste hatte sie jedoch bereits 1987 fast wieder den Stand von 1983 erreicht. Auch ist anzunehmen, daß sie die durch die EGBananenpolitik verursachte Krise überwinden wird, da ihr wegen relativ stabiler Weltmarktverhältnisse und ihrer verstärkten sozioökonomischen Integration in die nationale Wirtschaft weiterhin große Bedeutung zukommt. • Von den „halb-traditionellen" Exportgütern befindet sich die Fleischproduktion -aufgrund steigender Kosten und sinkender Weltmarktpreise- in einer tiefen Krise; Kakao- und Zuckerproduktion haben ihre Einbußen auf dem US-Markt durch erhöhte Binnenmarktanteile ausgleichen können. • Die nicht-traditionellen Exportprodukte erzielten seit 1982 erhebliche Zuwachsraten; einigen Produkten wie Ananas, Papayas, Mangos, Zierpflanzen und Farnen ist sogar der Durchbruch zu wirtschaftlich relevanten Devisenbringem gelungen. • Im Bereich der Grundnahnmgsmittelversorgung zeichnet sich aufgrund der weitgehenden Reduktion der nationalen Produktion ein Desintegrationsprozeß und damit eine zunehmende Abhängigkeit von Importen ab. Bei der Entwicklung des Industriesektors sind folgende Grundlinien erkennbar:281 • Im Mittelpunkt dieses Wirtschaftszweiges stehen die Agroindustrien, die in den letzten Jahren deutlich an Gewicht zugenommen haben, wobei der Anteil der Lebensmittelindustrie seit 1982 merklich gestiegen ist, da dieser Bereich in erheblich stärkerem Maße als andere Industrien davon profitierte, daß er mit nationalen Inputs arbeitete. Zudem ist es vielen Betrieben der Lebensmittelindustrie gelungen, sich vom zentralamerikanischen Markt auf andere Export2,5 286

287

Vgl. U Fanger/B. Thibaut, 1992, 69. Vgl W. Hein, Aktuelle sozioökonomische Entwicklungstendenzen: Ansätze für die Durchsetzung „autozentrierter agroindusstrieller Entwicklung" als Entwicklungsmodell?, in: ders. (Hrsg.), 1994, 140-172, hier: 153 ff. Vgl W Hein, 1994b, 159 ff

Entwicklungsstrategien

193

markte -vor allem auf den US-Markt- umzustellen. Weitere Branchen der Agrar- und Holzwirtschaft konnten keine Zuwachsraten verzeichnen. • Die von der chemischen Industrie hergestellten Produkte (Kunstdünger, Pestizide, Kosmetika, Gummi, Plastik) werden noch überwiegend auf den zentralamerikanischen Markt exportiert. • In der metallverarbeitenden Industrie hat man seit der Wirtschaftskrise die bis dahin dominante Automobilherstellung bzw. -montage praktisch eingestellt; die führende Rolle spielen jetzt die Bereiche Elektrogeräte und nicht-elektrische Maschinen, die zu etwa 38% auf Drittmärkte ausgeführt werden. • Seit 1982 ist ein starkes Wachstum der sogenannten „Lohnveredlungsproduktion" (maquila) vor allem in der Textil- und Bekleidungsindustrie zu beobachten, auf deren Förderung in den letzten Jahren gesteigerter Wert gelegt wurde. Dennoch ist nicht zu erwarten, daß die mo^u//a-Produktion zu einem Schlüsselsektor der sozioökonomischen Entwicklung werden wird, da der Anteil Costa Ricas am gesamten Weltmarkt von Billiglohn-Produkten gering und man bereits auf protektionistische Barrieren in den USA gestoßen ist; das Lohnniveau in der maquila zwar im nationalen Vergleich sehr niedrig, im internationalen Vergleich jedoch wegen der Reallohnerhöhungen und der gestiegenen Lohnnebenkosten relativ hoch ist; die Verknüpfung der Lohnveredlungsproduktion mit den anderen Wirtschaftszweigen ausgesprochen gering ist und sich im wesentlichen auf die consumption linkages der niedrigen Löhne beschränkt. Im tertiären Sektor ist vor allem eine kontinuierliche Steigerung des Anteils der Produktion von Elektrizität und Wasser sowie ein deutlicher Anstieg der Kategorie „Banken, Versicherungen, Dienstleistungen an Unternehmen" zu verzeichnen. Insgesamt kann man feststellen, daß im Rahmen der neuen Entwicklungsstrategie in den Bereichen der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, der Vermarktung von Agrarprodukten, im Bank- und Kreditsystem die Bildung privater Untemehmensformen gefördert bzw. der Spielraum fiir private Geschäfte erheblich erweitert wurde. Auch hat sich die vom Präsidenten der Industriekammer Costa Ricas im Jahre 1991 geäußerte Befürchtung, die neuen Zollsätze könnten das Todesurteil für nahezu den gesamten nationalen Industriesektor bedeuten, nicht bestätigt, da trotz Zoll- und Protektionsabbau die Industrieproduktion stetig gewachsen ist. 2 "

288

Vgl. T. Altenburg, Chancen nachholender Industrialisierung in Zentralamerika, in: NORDSÜD aktuell, Jg. VIII, 1994, Nr 4, 604-616, hier: 605.

194

4 Demokratie in der ..Zweiten Republik"

Tabelle 10: Verschiedene Wirtschaftsindikatoren 1984 bis 1990 1984

1985

1986

1987

1988

1989

1990

7,5

1,2 -2

5,5 2,9

4,8

3,4

5,5

3,6

0,6

0,4

-

-

9

5,9

-0,8

6,8

5,6

-1,3 5,6

Pro-KopfEiBkommea

5,3

Reaflöhae in % Arbeitslosigkeit in %

7,8 7,9

0,9

-

3,8 16,5

4,6 2985

12

15

6,2 11,8

16,8

25,3

E x t Verschuldung Mio. VS-S

3751

3742

3922

4194

3800

Sdreldendienstqaote Haushaltsdefizit in %

56,9

56,7

53

16,4

4100 22,7

-

-

4,2

2,9

24

-45

2,3 40

1,7 -139

1,6 -98

3,3 -239

5,1 -443

Inflation in %

H a n d e l s b i a n z in Mio. US-$

-

(Statistisches Bundesamt (Hrsg), 1994, 41/101; U.Fanger/B. Thibaut, 1992, 59; W Hein, 1994b, 142, W. Hein, 1994c, 185; E. Fürst, 1992, 21/48 )

Tabelle 11: Armut und extreme Armut in % der Bevölkerung 1980 bis 1990 1980

IntßeMIBt städtisch ländlich

1990

1985

Extreme Armut

Armut

Extreme Armut

Armut

Extreme Armut

Annut

13,6

11,3 6,2 15,5

15,7

12,7 8,5

21,1

16,1

11 6 17

9

10,1

7,4 18,7

5 14

(FLACSO, 1992, U f f . )

Betrachtet man die wichtigsten makroökonomischen Indikatoren (siehe Tabelle 10), so kann man erkennen, daß sich die Wirtschaftslage seit 1984 deutlich stabilisiert hat.2"9 Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate bewegte sich bei Werten zwischen 3,4% und 5,5%, erreichte 1992 7,7%, 1993 6,1%, wozu vor allem die dynamische Entwicklung im Dienstleistungsbereich (Handel und Tourismus) und in der Bauindustrie beitrugen.290 Die Inflationsrate entwickelte sich rückläufig und lag 1993 mit 9,05% unter dem mit dem IWF vereinbarten Satz, ebenso wie die Arbeitslosenquote, die -ohne Berücksichtigung der nicht registrierten Arbeitsuchenden und der Unterbeschäftigten- nach offiziellen Angaben

2,9 290

Vgl. A. Sojo, 1989,42 Vgl. Bundesstelle für Außenhandelsinformation (bfai) (Hrsg ), Costa Rica: Wirtschaftsentwicklung 1993, Köln 1994, 6 f ; Banco Central de Costa Rica (ed ), Revista Econòmica Trimestral, Marzo 1994, 19.

Entwicklungsstralegien

195

auf 4,1% zurückgegangen ist. 2 " Auch die Schuldenlast konnte durch ein 1989 im Rahmen des „Brady-Plans" abgeschlossenes Umschuldungsabkommen, das den Rückkauf eines erheblichen Teils der Auslandsschulden zu einem Satz von 16% des Nominalbetrages ermöglichte, merklich reduziert werden, so daß Costa Rica „beim Verhältnis der Auslandsschuld zu den Exporten von Gütern und Dienstleistungen im Jahre 1990 knapp hinter Paraguay den zweitniedrigsten Prozentsatz aller lateinamerikanischen Länder aufwies."292 Weiterhin konnten die Auswirkungen der -absolut gesehen- immer noch hohen Auslandsverschuldung durch erfolgreiche Umschuldungsverhandlungen mit dem Club von Paris im Juni 1993 abgemildert werden, während die interne staatliche Verschuldung in Form von Staatsanleihen der Regierung und der Zentralbank in bedenklichem Maße angestiegen ist.293 Die wirtschaftlichen Strukturanpassungsmaßnahmen wirkten sich jedoch eher negativ auf die soziale Infrastruktur aus.294 Obwohl die Sozialindikatoren Costa Ricas im mittelamerikanischen Vergleich immer noch Spitzenwerte anzeigen295 , ging die implizit geforderte Reduzierung der öffentlichen Ausgaben vor allem zu Lasten von Investitionen in den traditionell relativ gut ausgebauten Bereichen Gesundheit und Erziehung. So sanken die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen zwischen 1980 und 1989 von 11,3% auf 5,7% und im Bildungswesen von 6% auf 4,5% des Bruttoinlandsprodukts, was das Stadt-Land-Gefalle vergrößerte und damit gesellschaftliche Disparitäten verstärkte.296 Hinzu kommen die Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit durch steigende Kriminalität, eine sich zunehmend polarisierende Einkommensverteilung und seit 1986 eine weitgehende Stagnation des Reallohnniveaus. Die seit Beginn der Wirtschaftskrise stark angestiegene Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Familien konnte gegen Ende der 80er Jahre zwar leicht gesenkt werden, liegt aber im Landesdurchschnitt immer noch bei ca. 25%, wobei hier wiederum die Landbevölkerung wesentlich stärker betroffen ist als die Stadtbevölkerung.297 Dennoch zeigte sich in der Phase der Strukturanpassung auch, „daß etablierte sozialstaatliche Institutionen sowohl einen gewissen Schutz gegen die radikale Streichung sozialer Leistungen bieten, als auch die Einrichtung von Sonderprogrammen erleichtern, die in Costa Rica durchaus erfolgreich zur Begrenzung der Rezessionseffekte für sozial schwache Bevölkerungsgruppen beigetragen ha291

292

293 294

295 296 297

Vgl Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Länderbericht Costa Rica 1994, Wiesbaden/Stuttgart 1994, 41 W Hein, Costa Rica 1991 : Fortschritte in Richtung auf eine autozentrierte agroindustrielle Entwicklung?, in: ders (Hrsg ), 1994, 183-231, hier: 184. Vgl. bfai, 1994, 7/13 Vgl A. Sojo, Las políticas sociales en Costa Rica, in: A. Gurrieri/E Torres-Rivas (coord ), Los años noventa: Desarrollo con equidad?, San José 1990, 287-328, hier: 291 ff Vgl. z.B. FLACSO (ed ), Perfil estadístico centroamericano. San José 1992 Vgl W Hein, 1994c, 184. Vgl FLACSO (Hrsg.), 1992, 12 f.

196

4. Demokratie in der „Zweiten Republik"

ben."298 Seit 1990 propagieren beide großen Parteien im Wahlkampf die Notwendigkeit einer stärkeren sozialen Abfederung der Anpasssungsprozesse. Zumindest theoretisch scheint sich also die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, daß die Aufrechterhaltung sozialstaatlicher Elemente und damit gesellschaftspolitischer Integrationsmechanismen lange Zeit zu der außergewöhnlichen Stabilität der demokratischen Institutionen Costa Ricas beigetragen hat und auch zu deren weiterem Erhalt von Bedeutung sein wird. Die politischen Eliten besinnen sich damit einerseits auf ihre sozial-demokratische bzw. christlich-soziale Tradition, andererseits folgen sie einem neuerlichen regionalen Trend, nach dem zunehmend eine verstärkte Verknüpfung von Wirtschafts- und Sozialpolitik gefordert wird, was in den Worten Gerd Rosenthals, dem Exekutivdirektor der CEPAL, deutlich zum Ausdruck kommt: „Wir dürfen nicht den Fehler begehen zu glauben, die Wirtschaftspolitik diene dem Wachstum und die Sozialpolitik der Korrektur seiner Folgen; beide haben große Auswirkungen auf das Wachstum, deshalb sind sie integral anzugehen."299

298 299

U. Fanger/B. Thibaut, 1992, 73. Zit. nach W. Jung, 1995, 94

197

5.

Resümee

Die Entwicklung der costaricanischen Demokratie basiert auf einem relativ günstigen kolonialen Erbe. Diese Aussage ist jedoch nur aus einer wertneutralen politikwissenschaftiich-historischen Perspektive zu treffen und entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, weil die langfristig positiven Auswirkungen zu Lasten der in diesem Zeitraum lebenden Bevölkerung gingen: Die Ausrottung der indigenen Einwohner war der Preis fiir die weitgehende „kulturelle und ethnische Homogenität", die man heute als demokratiefördemdes Merkmal der Gesellschaft bezeichnet. Armut, Isolation sowie wirtschaftliche und kulturelle Stagnation begründeten die Entstehung vergleichsweise egalitärer Besitzverhältnisse, welche die Durchsetzung der sonst üblichen feudalen Wirtschafts- und Organisationsformen und die Herausbildung aristokratischer Klassen sowie eines Kastensystems -zumindest in den in anderen Ländern Lateinamerikas üblichen Ausmaßen- verhinderten. Aufgrund dieser Konstellationen waren nach der Unabhängigkeit interne soziale Konflikte weniger stark ausgeprägt, politische Auseinandersetzungen versuchte man meist durch Kompromisse zu lösen, und man war bemüht, sich aus Streitigkeiten zwischen den Nachbarländern möglichst herauszuhalten. Obwohl, wie die Darstellung der historischen Entwicklung bis 1948 gezeigt hat, der Grundsatz der Gewaltfreiheit durchaus nicht immer eingehalten wurde, entstand auf diese Weise recht früh der Nährboden für einen fundamentalen Wesenszug costaricanischer Politik, den man tendenziell als „konsensualistisch nach innen" und „neutralistisch nach außen" charakterisieren kann. Diese zur Tradition gewordene Grundhaltung trug maßgeblich dazu bei, daß die in Abschnitt 2.2.2 für Lateinamerika aufgelisteten demokratiebegünstigenden Faktoren teilweise recht früh zum Tragen kamen und die demokratiebehindemden Faktoren in Costa Rica nur partiell oder modifiziert wirksam wurden. Darauf soll im folgenden zusammenfassend eingegangen werden: • Wegen der besonderen politisch-institutionellen, ökonomischen und sozialstrukturellen Entwicklung war in Costa Rica bereits nach dem Bürgerkrieg von 1948 das Stadium der Erschöpfung und des Zusammenbruchs autoritärer Politikmodelle erreicht, so daß sich die Demokratie als einzige Alternative darstellte. Die Transition erfolgte in einem langen evolutionären Prozeß, der zwar in seiner Endphase nicht konsensualistisch und friedlich verlief (also eher dem Huntingtonschen Transitionstyp replacement entsprach), zu Beginn der Konsolidierungsphase jedoch Züge eines transplacement annahm, da Teile der früheren Eliten in den Kreis der neuen politischen Akteure integriert und die weiteren politischen Grundlinien teils gemeinsam ausgehandelt wurden.

198

5 Resümee

• Obwohl das Militär vor allem im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle bei der Austragung politischer Konflikte spielte, institutionalisierte es sich nie als Staat im Staate. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fungierte es nur als Hilfsinstrument zur Durchfuhrung eines Putsches und strebte nicht an, selbst die politische Macht zu übernehmen. Nach dem Sturz der Tinoco-Diktatur wurde seine Stellung sowohl quantitativ als auch qualitativ geschwächt, in der Verfassung von 1949 wurde die Armee als ständige Institution schließlich grundsätzlich verboten. Die traditionell verhältnismäßig schwache Position der Streitkräfte wirkte sich insofern positiv auf die Entwicklung der Demokratie aus, als die ohnehin knappen finanziellen Ressourcen nicht für den Rüstungsetat, sondern für den Ausbau der wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur verwendet werden konnten. Nach seiner Abschaffung entfiel das Militär zudem als permanenter oder potentieller Bedrohungsfaktor der demokratischen Institutionen. Als im Zuge der Wirtschaftskrise und der Bürgerkriege in den Nachbarländern Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts die Polizeikräfte aufgerüstet wurden, waren sie zwar zur Übernahme gewisser paramilitärischer Funktionen befähigt, doch hat dies keine system- bzw. demokratiegefahrdenden Ausmaße angenommen, da die Sicherheitskräfte dezentralisiert und verschiedenen Ministerien unterstellt wurden. • Die mit einigen Veränderungen noch heute gültige Verfassung von 1949 entstand zwar in partieller Anlehnung an die Konstitutionen Nordamerikas und Spaniens, enthält aber wesentliche Elemente, die aus einem langen Prozeß eigener sozio-politischer Erfahrungen und Erfordernisse hervorgegangen sind. Dies gilt sowohl für die Kompetenz- und Kontrollverteilung zwischen den Gewalten, die auf die Vermeidung einer einseitigen Machtkonzentration abzielt, als auch für die ausführlichen Rahmenrichtlinien des Wahlsystems, die durch ihre prozeduralen und institutionellen Bestimmungen die korrekte Durchführung von Wahlen gewährleisten, und nicht zuletzt für die Aufnahme des Abschnitts über soziale Rechte und Garantien. Insofern besteht in Costa Rica durchaus eine Wechselbeziehung zwischen konkretem politischen Geschehen und Verfassungsvorschriften, deren Fehlen in anderen Ländern häufig zum Scheitern der Demokratie beigetragen hat. • Die politischen Parteien waren in der ersten Phase ihrer Entwicklung (bis 1949) überwiegend stark personalistisch geprägte Organisationen ohne eindeutig definierte ideologische und programmatische Leitlinien; sie fungierten somit fast ausschließlich als bloße Wahlvereine. Mit der Gründung des PLN entstand jedoch eine programmatisch orientierte Mitgliedschaftspartei, die den Rahmen der Traditionsparteien sprengte. Die bürgerlich-konservativen Parteien wiesen zwar bis 1986 wenig gefestigte Organisationsformen auf und orientierten sich weiterhin stärker an personalistischen als an programmatischen Elementen, gingen aber immer wieder kurzfristige Wahlbündnisse ein, so daß sie, wenn auch mehr numerisch als inhaltlich, einen zweiten starken Machtblock bildeten, der sowohl die Regierungs- als auch die Oppositionsrolle wahrnehmen konnte.

Resümee

199

Seit 1986 sind diese im PUSC zusammengeschlossenen Parteien fester Bestandteil des Zweiparteiensystems, mit einem einheitlichen Programm, das sich allerdings nur noch wenig von dem des PLN unterscheidet. • Politischer Extremismus, der in anderen Ländern Lateinamerikas eine lange, teilweise bis in die Gegenwart reichende Geschichte hat, stellt in Costa Rica keine Bedrohung für die Demokratie dar. Rechtsextreme Gruppierungen sind kaum in nennenswertem Umfang entstanden bzw. wurden in das rechte Spektrum des bestehenden Parteiensystems integriert. Die Kommunistische Partei wurde bald nach ihrer Gründung in die Regierungskoalition eingebunden, so daß sie ihre systemoppositionelle Grundkonzeption ebensowenig durchsetzen konnte wie einst Jorge Volio seine fundamental-reformistische Position. Als nach dem Bürgerkrieg ein Erstarken der Linken zu befürchten war, wurde der PVP verboten, die kommunistischen Gewerkschaften zerschlagen, was bewirkte, daß sie die Stärke der Vor-Bürgerkriegszeit nie mehr erreichten. • Die wirtschaftliche Situation Costa Ricas verbesserte sich seit Beginn des „Kaffeezeitalters" erheblich. Steigende Staatseinnahmen ermöglichten den liberalen Kräften, die mit der KafTeewirtschaft erstarkten, deutliche Fortschritte hinsichtlich der Infrastruktur, des Aufbaus eines Bildungssystems und Gesundheitswesens sowie der Modernisierung der politisch-administrativen Institutionen zu erzielen. Strukturell und/oder konjunkturell bedingte Krisen konnten immer wieder -zumindest temporär-vordergründig- überwunden werden, so daß der Staat bezüglich der makroökonomischen Basisindikatoren stets über eine bessere materielle Mindestausstattung verfugte als die restlichen Länder Mittelamerikas. Selbst nach der schweren Wirtschaftskrise Anfang der 80er Jahre dieses Jahrhunderts wurden bald wieder positive Wachstumsraten verzeichnet. Auch wenn Wirtschaftswachstum sicherlich kein ausreichender Indikator für Entwicklung ist, stellt es doch in vielfaltiger Hinsicht eine Vorbedingung für soziale Umverteilung dar. Das Schuldenproblem, das infolge der Zinsund Tilgungsleistungen eine schwerwiegende interne Entwicklungsblockade verursachte, konnte zwar nicht gelöst, aber zumindest entschärft werden. • Die sozioökonomische Fragmentarisierung ist in Costa Rica bei weitem nicht so stark ausgeprägt wie in anderen Ländern Lateinamerikas. Obgleich die costaricanische Gesellschaft nicht selten idealisiert wird, lassen die vergleichsweise günstigen Daten der Sozialstatistik erkennen, daß vor allem seit der Entstehung der „Zweiten Republik" erfolgreiche Anstrengungen unternommen wurden, die klassisch sozialdemokratischen Leitlinien in gesellschaftspolitische Praxis umzusetzen. Durch die Fortsetzung und Ausweitung der Reformpolitik Calderons erreichte man bis zum Ende der 70er Jahre besonders im Bildungsund Gesundheitswesen und bezüglich einiger „Wohlstandskriterien" Werte, die sich industriegesellschaftlichen Standards annähern und die damit die Möglichkeiten zur vertikalen Mobilität erhöhen. Bei gleichzeitiger Vermeidung extremer distributiver Verzerrungen stärkte dies die Legitimität der demokrati-

200

5 Resümee

sehen Institutionen und verringerte die Bildung von Machtgruppen außerhalb des demokratischen Rahmens. • Die Konsolidierung der günstigen Sozialstruktur Costa Ricas war zudem eine entscheidende Grundlage für die Festigung der Demokratie. Auf die relativ egalitären Besitzverhältnisse wurde bereits verwiesen. Hinzu kommt, daß schon in den 40er Jahren die Gewerkschaftsbewegung und die Mittelschichten ein effektives Gegengewicht zur traditionellen Oligarchie bildeten, das die politischen Kompromisse der folgenden Jahre ermöglichte. Die alten und neuen Eliten akzeptierten im Gegensatz zu denen anderer zentralamerikanischer Länder die demokratischen Spielregeln, weil die Vertretung ihrer Interessen durch die Struktur des Parteiensystems gesichert wurde. Zudem existierte keine radikale politische Kraft mehr, die in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg aufgrund ihrer Wählerbasis eine ernstzunehmende Bedrohung für die Wirtschaftseliten dargestellt hätte. • Die politische Kultur Costa Ricas ist gekennzeichnet durch eine bei den Bürgern weit verbreitete positive Einschätzung der Demokratie, die wesentlich auf die wirtschaftliche und soziale Einbeziehung der Mehrheit der Bevölkerung zurückgeht und somit dazu beitrug, die demokratischen Institutionen zu stärken. Aufgrund der kulturellen Traditionen, des im Vergleich zu den Nachbarländern gehobenen Lebensstandards sowie eines durch die Bildungspolitik und die Massenmedien geförderten rigiden Antikommunismus entwickelte sich ein ausgeprägter Nationalstolz auf die privilegierte Sonderstellung des Landes, der mit dazu beitrug, daß die Demokratie als Staatsform und politisches Ordnungsprinzip auch in Krisenzeiten nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Diese charakteristischen Merkmale der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Costa Ricas begründen die -im zentralamerikanischen Kontext- außergewöhnliche Stabilität seiner demokratischen Institutionen, die wohl auch in absehbarer Zeit nicht gefährdet sein dürfte. Begreift man Demokratie jedoch nicht nur als „statisches", sondern auch als „dynamisches" Phänomen, so wird deutlich, daß das costaricanische Demokratiemodell noch mit einigen Problemen konfrontiert ist. Dies bedeutet, daß die formalen Anforderungen an Demokratie bzw. Polyarchie der -auf Maximierung von „Freiheit" abzielenden- Repräsentationstheorien weitgehend erfüllt sind, während die normativen Ansprüche der -auf Maximierung von „Gleichheit" abzielenden- Partizipationstheorien zum Teil noch der Verwirklichung bedürfen. Zur Verdeutlichung dieser Aussage bietet sich an, das Wesen der Demokratie Costa Ricas in der „Zweiten Republik" erneut anhand der Kriterien zu überprüfen, die für eine pluralistisch-repräsentative Demokratie als unerläßlich bezeichnet wurden: • Die Institutionalisierung liberaler, rechtsstaatlicher Prinzipien in der Verfassung von 1949 gewährleistet grundsätzlich nicht nur formal, sondern auch real

Resümee

201

demo-protection (Sartori), also den Schutz des Volkes vor staatlicher Willkür und Tyrannei. Um einer zu starken Machtkonzentration auf der Seite der Exekutive entgegenzuwirken, wurde eine Kompetenzverteilung zugunsten der Legislative und der Judikative vorgenommen, die bewirkt hat, daß das System der checks and balances weit besser funktioniert als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern. Zur Kontrolle der Rechtsbindung der politischen Organe an Verfassung und Gesetz wurden unabhängige juristische Instanzen geschaffen, welche die Herausbildung eines legitimen staatlichen Gewaltmonopols ermöglichten und so die Verletzung der klassischen Grundfreiheiten und Menschenrechte zumeist effektiv verhinderten. • Die neue Verfassung schuf die Grundlagen zur Erfüllung der Funktionsbedingungen der Polyarchie-Konzeption Dahls: Neben geheimen und direkten wurden nun auch allgemeine Wahlen eingeführt und damit die Beschränkung des Rechts auf politische Partizipation nach Geschlechts- und Rassezugehörigkeit sowie Besitz- und Bildungsstand aufgehoben. Ein fortschrittliches Wahlsystem mit beispielhaft funktionierenden Kontrollorganen garantierte seither freie und „sauber" verlaufende Wahlen. Ein offener Parteienwettbewerb fand seit 1953 statt, wobei dem PLN zunächst ein ungefestigter Machtblock in Form von Allianzen oder Koalitionen gegenüberstand, der seine Funktion als „Opposition" mehr im wahl-technischen als im konstruktiv-politischen Sinne erfüllte. Seitdem sich 1986 das Zweiparteiensystem de facto etabliert hat, „kompetitieren" strenggenommen nur noch PLN und PUSC, da die kleineren Parteien aufgrund der Mehrheitsverhältnisse nicht mehr „relevant" sind, also keine Chance mehr haben, sich an der Regierungsbildung zu beteiligen. Dadurch verringert sich der ideologisch-programmatische Abstand zwischen den großen Parteien, und personalistische und populistische Wahlkampfstrategien gewinnen an Bedeutung im Wettbewerb um die politische Macht. • Soziale Gerechtigkeit war immer ein elementarer Bestandteil der costaricanischen Demokratiekonzeption, der zunächst zumindest als Zielwert in den Leitlinien der dominanten sozialdemokratischen Partei PLN zum Ausdruck kam und später auch als christlich-soziale Variante im Parteiprogramm des PUSC Beachtung fand. Die Umsetzung des Grundsatzes in eine aktive Sozialpolitik bewirkte, daß in Costa Rica zu Zeiten relativer wirtschaftlicher Prosperität ein vergleichsweise hohes Maß an Verteilungsgerechtigkeit erreicht und Demokratie auch als „Lebensform" verstanden wurde. In den 80er Jahren lösten die nationalen und internationalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die geänderte Entwicklungsstrategie jedoch eine markante Verschlechterung der sozialen Lage der Bevölkerung aus, die die sozioökonomische Fragmentarisierung der Gesellschaft vergrößerte. Dennoch verzichtete man auch unter erschwerten Bedingungen nicht darauf, die Anpassungspolitiken sozial zu flankieren und mittels spezieller Sozialprogramme abzufedern, so daß sich die Kosten in erheblich stärkerem Maße als in anderen lateinamerikanischen Ländern auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verteilten. Selbst in Kri-

202

5 Resümee

senzeiten wurde das traditionelle Charakteristikum des Landes -die Sorge um equidad- nicht vernachlässigt. Man erreichte damit, daß die negativen Auswirkungen der Wirtschaftskrise nicht dem demokratischen System als solchem angelastet wurden, so daß es auch nicht zugunsten einer anderen Regierungsform zur Disposition stand. Zu den bleibenden Herausforderungen an die costaricanische Demokratie zählen angesichts der aktuellen sozioökonomischen Situation vor allem die Beseitigung struktureller Defizite zur Stabilisierung der Wirtschaft und die Reduzierung der Auslandsverschuldung sowie der weitere Ausbau der sozialen Infrastruktur. Hier ist insbesondere auf die nach wie vor bestehende hohe Abhängigkeit vom Weltmarkt hinzuweisen, die trotz der erreichten Erfolge der neoliberalen Umstrukturierungspolitiken bislang nicht zu einer grundlegenden Veränderung der internationalen Wirtschaftsverflechtungen gefuhrt hat. Die Wiederbelebung der regionalen Integration unter neuen weltwirtschaftlichen Konditionen stellt vielleicht eine sinnvolle Ergänzung der bisherigen Wirtschaftsstrategie dar. Eine in diesem Sinne erfolgreiche Umstrukturierung der Wirtschaft ist auch die Voraussetzung fiir den Abbau der Auslandsschulden und fiir die Leistung des Schuldendienstes. Die beträchtlichen Summen, die nach wie vor dafür aufgebracht werden müssen, stehen für die Verbesserung der sozialen Infrastruktur nicht mehr zur Verfügung. Höhere Investitionen in das Bildungs- und Gesundheitswesen und die gezielte Konzentration der Mittel auf die ärmsten Bevölkerungsschichten wären notwendig, um eine drastische Reduzierung der Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Familien -deren Anteil im internationalen Vergleich immer noch hoch ist- zu erreichen. Damit könnten nicht nur bereits bestehende soziale Disparitäten vermindert, sondern auch zukünftigen Auswirkungen der Marginalisierung von Bevölkerungsschichten entgegengewirkt werden. Besonders benachteiligte Gruppierungen sind die landlose Landbevölkerung, die immer häufiger durch Landbesetzungen auf sich aufmerksam macht, sowie die ethnischen Minderheiten der Indios und der schwarzen Bevölkerung an der Atlantikküste, deren gesellschaftliche Integration an rassistischen Vorurteilen oder einer patemalistischen Einstellung der Behörden scheiterte, die die kulturellen Besonderheiten dieser Gruppierungen zumeist nicht berücksichtigten. Problematisch ist weiterhin die Art des Umgangs mit dem Spannungsverhältnis zwischen politischem Konflikt und Konsens, das im ganzen weitaus mehr durch Integration als durch freie GruppenkonkurTenz aufgelöst wird. Der restriktive Umgang mit kommunistisch orientierten Gewerkschaften und linken Parteien, die Förderung der Asociaciones Solidaristas, aber auch die konservative Medienpolitik weisen darauf hin, daß die Bildung von Kompromissen in Interessenkonflikten nicht immer auf der Basis eines freien Wettbewerbs erfolgt, Partizipation nur in begrenztem Maße erwünscht und auf den politisch-institutionellen Bereich beschränkt ist. Dies engt die Handlungsspielräume sozialer Bewegungen ein

Resümee

203

und behindert damit die Konsolidierung einer öffentlich vermittelten, sozialen und pluralistischen Demokratie. Wenn trotz dieser einschränkenden Bemerkungen positiv auf das „costaricanische Demokratiemodell" Bezug genommen wurde, dann nicht nur aufgrund der jahrzehntelangen politischen, sozioökonomischen und kulturellen Andersartigkeit des Landes in regionaler Perspektive, sondern auch aufgrund des großen und sich in der Vergangenheit immer wieder durchsetzenden Demokratiepotentials in Staat und Gesellschaft. Dank der langjährigen demokratischen Tradition Costa Ricas und der festen Verankerung demokratischer Werte und Orientierungen in den unterschiedlichen Gruppierungen und Schichten der Gesellschaft erscheint die weitere Entwicklung der Demokratie in Costa Rica in einem günstigen Licht.

Literaturverzeichnis

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