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German Pages [319] Year 2023
Fields of Linguistics – Aktuelle Fragestellungen und Herausforderungen
Band 2
Herausgegeben von Joanna Szcze˛k, Anna Dargiewicz und Mariusz Jakosz Advisory Board: Marisol Benito Rey (Autonome Universität Madrid, Spanien), Maria Biskup (Universität Warschau, Polen), Anna Chita (Nationale und Kapodistrian-Universität Athen, Griechenland), Martine Dalmas (Universität Sorbonne Paris, Frankreich), Jarochna Da˛browska-Burkhardt (Universität Zielona Góra, Polen), Peter Ernst (Universität Wien, Österreich), Csaba Földes (Universität Erfurt, Deutschland), Beata Grzeszczakowska-Pawlikowska (Universität Łódz´, Polen), Małgorzata Guławska-Gawkowska (Universität Warschau, Polen), Anna Jaroszewska (Universität Warschau, Polen), Sabine E. Koesters Gensini (Universität La Sapienza in Rom, Italien), Renate Link (Technische Hochschule Aschaffenburg, Deutschland), Magdalena Lisiecka-Czop (Universität Stettin, Polen), HeinzHelmut Lüger (Universität Koblenz-Landau, Deutschland), Jacek Makowski (Universität Łódz´, Polen), Simon Meier-Vieracker (Technische Universität Dresden, Deutschland), Carmen Mellado Blanco (Universität Santiago de Compostela, Spanien), Daniela Pelka (Universität Oppeln, Polen), Joanna Pe˛dzisz (Maria-Curie-Skłodowska-Universität Lublin, Polen), Georg Schuppener (Universität Leipzig, Deutschland / Universität der Hl. Kyrill und Method in Trnava, Slowakei), Anna Sulikowska (Universität Stettin, Polen), Janusz Taborek (AdamMickiewicz-Universität in Poznan´, Polen), Joanna Targon´ska (Warmia und Mazury-Universität Olsztyn, Polen), Claudia Wich-Reif (Universität Bonn, Deutschland), Mariola Wierzbicka (Universität Rzeszów, Polen), Beatrice Wilke (Universität Salerno, Italien)
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Mariusz Jakosz / Marcelina Kałasznik (Hg.)
Corona-Pandemie im Text und Diskurs
Mit 46 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Publikation wurde von der Schlesischen Universität in Katowice und von der Universität Wrocław finanziell unterstützt. Gutachter:innen: Dr. habil. Agnieszka Fra˛czek (Universität Warschau), Prof. Dr. habil. Michaił Kotin (Universität Zielona Góra), Univ.-Prof. Dr. habil. Jolanta Mazurkiewicz-Sokołowska (Universität Stettin), Univ.-Prof. Dr. habil. Roman Opiłowski (Universität Wrocław), Dr. habil. Elz˙bieta Pawlikowska-Asendrych (Jan-Długosz-Universität Cze˛stochowa), Prof. Dr. habil. Joanna Szcze˛k (Universität Wrocław) © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Rosen, »Voideus« Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2941-7465 ISBN 978-3-7370-1628-5
Inhalt
Mariusz Jakosz (Uniwersytet S´la˛ski, Katowice) / Marcelina Kałasznik (Uniwersytet Wrocławski, Wrocław) Corona-Pandemie im Text und Diskurs. Fragestellungen, Zugänge und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Corona-Diskurs und seine Ausprägungen: lexikalische und phraseologische Fragestellungen Oksana Havryliv (Universität Wien, Wien) Expressiv-emotive Corona-Neologismen: morphologische und lexikalisch-semantische Aspekte am Beispiel des Deutschen und Ukrainischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Joanna Woz´niak (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu) Wir sitzen alle im gleichen Boot. Die Rolle idiomatischer Phraseme in der Dynamisierung von Diskursen. Am Beispiel des COVID-19-Diskurses . .
51
Mariusz Jakosz (Uniwersytet S´la˛ski, Katowice) Zum bewertenden Potenzial von Phraseologismen im deutschen Corona-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Federico Collaoni (Istituto Italiano di Studi Germanici, Roma) Zum Distanz-Begriff als Gegenstand und Form der Kommunikation im COVID-19-Zeitalter. Deutsche und italienische Terminologie im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Przemysław Staniewski (Uniwersytet Wrocławski, Wrocław) Corona-Impfung aus der sprachlichen korpusorientierten Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
II. Corona-Pandemie in verschiedenen textuellen Repräsentationen Bernadetta Ciesek-S´lizowska / Joanna Przyklenk / Katarzyna Sujkowska-Sobisz / Wioletta Wilczek (Uniwersytet S´la˛ski, Katowice) Eine Vertrauenskrise in den Äußerungen von Impfskeptikern während der COVID-19-Pandemie. Eine linguistische Perspektive . . . . . . . . . . 129 Izabela Kujawa (Uniwersytet Gdan´ski, Gdan´sk) Politische Wahlreden im Zeichen der Corona-Pandemie. Analyse der rechtspopulistischen Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Beatrice Wilke (Università degli Studi di Salerno, Salerno) / Maria Paola Scialdone (Università di Macerata, Macerata) Sprachliche Darstellungen des Lockdown-Erlebens in Kathrin Rögglas literarischen Corona-Tagebuchaufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . 173 Violetta Frankowska (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu) Polnische und deutsche Internet-Memes in der Coronavirus-Pandemie. Versuch einer text- und pragmalinguistischen Analyse . . . . . . . . . . . 199 Marcelina Kałasznik (Uniwersytet Wrocławski, Wrocław) #Impfen hilft und #Szczepimy sie˛ – Zu offiziellen Informationskampagnen über die Corona-Schutzimpfung im deutsch-polnischen Vergleich . . . . 223
III. Humor und Ironie in der Corona-Zeit Iwona Wowro (Uniwersytet S´la˛ski, Katowice) Seuchensheriff und Zoombombing. Humor, Ironie und Bilder des metaphorischen Coronavokabulars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Attila Mészáros (J.-Selye-Universität, Komárno) Mit Humor gegen Corona. Internet-Memes im slowakischen Coronavirus-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Witold Sadzin´ski (Uniwersytet Łódzki, Łódz´) Lachen, um nicht zu weinen. Humor als Element kommunikativer Rationalität – nicht nur zur Pandemiezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Autorinnen und Autoren des Bandes
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Mariusz Jakosz (Uniwersytet S´la˛ski, Katowice) / Marcelina Kałasznik (Uniwersytet Wrocławski, Wrocław)
Corona-Pandemie im Text und Diskurs. Fragestellungen, Zugänge und Perspektiven
Abstract Corona Pandemic in Text and Discourse. Questions, Approaches and Perspectives Although currently (i. e. in 2023) the corona pandemic is given significantly less space and attention in everyday life and in the media than in the years 2020 to 2022, it has had an impact on language as an incomparably dynamic and unexpected event and has its left clear traces in the language. This article aims to interpret the (media) debate on the corona pandemic as a super discourse (cf. Jakosz/Kałasznik 2022), which is composed of various thematically definable strands of discourse. Due to the complexity of the corona discourse, an attempt is made to first discuss its lexical level by pointing to various studies in this area and their results. Secondly, the goal of the paper is to present the accomplishment of multimodal texts in the corona discourse. Thirdly, the focus is on a particular aspect that is conspicuous in the corona discourse, i. e. humor and its representations in the time of the corona pandemic. The aspects of the analysis of the corona discourse presented in the article are continued and essentially deepened in the studies collected in this volume. Keywords: corona pandemic, corona discourse, discourse analysis, text analysis, humor in the corona pandemic, internet memes Schlüsselwörter: Corona-Pandemie, Corona-Diskurs, Diskursanalyse, Textanalyse, Humor in der Corona-Pandemie, Internet-Memes
1.
Einleitung
Der Alltag zahlreicher Menschen, die öffentliche Berichterstattung in den traditionellen Medien1 und die Kommunikation über soziale Medien2 wurden in den Jahren 2020 bis 20223 eindeutig durch ein Thema geprägt, und zwar durch die 1 Vgl. z. B. Gräf/Henning (2022), Bleicher (2022) in Bezug auf das Fernsehen. 2 Exemplarisch vgl. Breidenbach/Klimczak (2022) bezüglich der Twitter-Kommunikation in der Zeit der Corona-Pandemie. 3 Aus Platzgründen wird an dieser Stelle auf einen geschichtlichen Überblick über die Phasen der Verbreitung des Coronavirus und der Entwicklung der Pandemie verzichtet, dazu vgl. z. B. Hildebrandt (2021: 5–9), Jakosz/Kałasznik (2022: 9–11).
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Corona-Pandemie4 (vgl. Krewani/Zimmermann 2022: V). Sie hat die ganze Welt in eine bisher ungekannte und unvergleichbare globale Krisenlage5 versetzt. Im Jahre 2023 ist die Corona-Pandemie noch nicht vorüber. Wir begegnen dem Coronavirus und der dadurch ausgelösten Atemwegerkrankung COVID-19 immer noch, aber sie stehen u. a. wegen der neuen im Februar 2022 hinzugekommen Ausnahmesituation, d. h. wegen des Krieges in Europa, der durch Russland gegen die Ukraine ausgetragen wird, nicht mehr im Mittelpunkt der alltäglichen medialen Meldungen. Einen weiteren Grund, warum die Problematik der Corona-Pandemie derzeit den Alltag der Menschen weltweit nicht dermaßen wie früher beeinflusst und es kein medienbeherrschendes Thema mehr ist, bildet wahrscheinlich auch die Tatsache, dass die Gesellschaften nach fast drei Jahren dieses Ausnahmezustands gelernt haben, mit der Pandemie umzugehen, und bestimmte adaptive Verhaltensweisen entwickelt haben, um durch die Pandemie entstandene Beeinträchtigungen und Belastungen zu vermeiden (vgl. Klevinghaus 2022: 39). Obwohl der Corona-Pandemie aktuell wesentlich weniger Platz und Aufmerksamkeit in der öffentlichen Diskussion gewidmet wird, lässt sich nicht leugnen, dass sie deutliche Spuren in der Sprache hinterlassen hat, die auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems sichtbar sind. Im Folgenden wird darauf abgezielt, die coronabezogene Kommunikation, die unterschiedliche Ausprägungen und Formen einnehmen kann, als einen Diskurs darzustellen und diesen zu charakterisieren. Aufgrund der Komplexität der anvisierten Fragestellung können in diesem Beitrag nur ausgewählte Aspekte näher beleuchtet werden.
2.
Zur Annäherung an das Phänomen des Corona-Diskurses
Beim Corona-Diskurs handelt es sich um eine Auseinandersetzung verschiedener Akteure mit dem gesellschaftlich relevanten Thema der Corona-Pandemie, die in verschiedenen Äußerungen und Texten zum Vorschein kommt, wobei die Mehrheit davon via Medien vermittelt wird.6 Das Wissen und die Einstellungen der Akteure des Corona-Diskurses beeinflussen die jeweilige Darstellung der Corona-Pandemie und tragen zur Gestaltung der diesbezüglichen kollektiven Meinungsbildung bei. Wie aus der vorgeschlagenen Auffassung des CoronaDiskurses hervorgeht, hat er einen bestimmten thematisch abgrenzbaren Ge4 In diesem Zusammenhang sprechen Krewani/Zimmermann (2022: VI) von der »Medialität des Virus«. 5 Zu wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, sozialen und psychologischen Folgen der CoronaPandemie vgl. Jäggi (2021). 6 Den Ausgangspunkt für die Definition bildet die allgemeine Auffassung des Diskurses nach Gardt (2007: 30), vgl. auch Jakosz/Kałasznik (2022: 11–12).
Corona-Pandemie im Text und Diskurs. Fragestellungen, Zugänge und Perspektiven
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genstand, der zeitlich näher bestimmt werden kann, und ist über die Analyse von Textkorpora7 zugänglich (vgl. Niehr 2014: 31, 32). Aufgrund des hohen inhaltlichen Komplexitätsgrades des Corona-Diskurses (vgl. Storjohann/Cimander 2022: 33–34), der mit der Verbreitung des neuartigen Coronavirus und der Entwicklung der Pandemie einhergeht, wird dafür plädiert, diesen als einen Superdiskurs zu begreifen, der sich aus kleineren inhaltlich konsistenten Diskurssträngen bzw. Subdiskursen zusammensetzt, die ein bestimmtes Leitthema z. B. Impfungen, Maßnahmen gegen die Pandemie, Folgen der Pandemie usw. fokussieren (vgl. Jakosz/Kałasznik 2022: 12). Gleichzeitig sollte darauf hingewiesen werden, dass die hochkomplexe Materie des Corona-Diskurses ihren zahlreichen Beziehungen nach außen, d. h. zu anderen Diskursen, z. B. zum aktuellen politischen Diskurs oder zum Diskurs über den Zustand des Gesundheitssystems zugrunde liegt. In diesem Sinne können sich z. B. bestimmte Akteursgruppen durch ihre Aussagen über die Corona-Pandemie entsprechend positionieren, indem sie mithilfe ihrer Stellungnahmen bezüglich der pandemischen Lage Ansichten und Interessen sowie die Programmatik einer politischen Partei (in)direkt kritisieren oder befürworten. Ziel der Analyse des Corona-Diskurses ist es folglich zu zeigen, welches Bild der Pandemie mit bestimmten Äußerungen oder Texten als »Träger des gesellschaftlichen Diskurses« (Bendel Larcher 2015: 49) vermittelt wird. In diesem Sinne soll die Untersuchung des Corona-Diskurses die Wie-Frage beantworten (vgl. Koltermann 2021: 6), d. h. die Frage nach der sprachlichen Repräsentation der Corona-Pandemie in einem bestimmten Textkorpus. Im Kontext der Diskursanalyse wird von der Methodenpluralität gesprochen (vgl. Niehr 2014: 48). Als besonders bekannte und bereits mehrmals am empirischen Material erprobte Vorgehensweisen bieten sich in diesem Kontext beispielsweise die Ansätze von Busse (1987), Spieß (2011) und Spitzmüller/Warnke (2008, 2011). Dabei wird zwar teilweise von verschiedenen Analyseschritten ausgegangen und es werden verschiedene Dimensionen der Analyse vorgeschlagen. Aber die methodologischen Herangehensweisen haben gemeinsam, dass sie ein bestimmtes linguistisches Instrumentarium zur Verfügung stellen, das nicht im vollen Ausmaß bei der Analyse eines konkreten Sprachmaterials realisiert werden muss/kann, sondern eine Auswahl an verschiedenen potenziellen Analyseebenen und Methodologien bildet.
7 Neben traditionellen gedruckten oder elektronischen Texten eignen sich auch audiovisuelle Daten, z. B. Gespräche, Interviews, Videos als Grundlage für die Diskursanalyse (vgl. Bendel Larcher 2015: 50).
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Die in diesem Beitrag vorzustellenden Dimensionen der Analyse des CoronaDiskurses richten sich nach der Gliederung des vorliegenden Bandes8, deren Beiträge erstens lexikalischen und phraseologischen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Corona-Diskurs gewidmet sind. Zweitens wird auf die Darstellung der Corona-Pandemie in verschiedenen textuellen Repräsentationen eingegangen, wobei eine besondere Rolle multimodalen Texten als Realisierungsformen des Corona-Diskurses zukommt. Drittens wird im letzten Kapitel ein bestimmter Aspekt des Corona-Diskurses beleuchtet, und zwar der Humor, der sowohl im Corona-Wortschatz als auch in den sich viral verbreitenden Corona-Witzen und -Memes deutlich zum Vorschein kommt.
2.1
Lexikalische und phraseologische Ebene des Corona-Diskurses
Unabhängig von der ausgewählten Methodologie der Diskursanalyse kann von der Vorrangstellung des Wortschatzes in der Diskursforschung (vgl. Mészáros 2021: 236) und von seinem besonderen Stellenwert als eine der wichtigsten Konstituenten des Diskurses (vgl. Niehr 2014: 70) ausgegangen werden. In diesem Sinne bildet die Lexik einen Faktor, auf den in der Diskursanalyse jeweils Bezug genommen wird, denn mithilfe lexikalischer Einheiten manifestieren sich »Wissens- und Denkstrukturen einer Gesellschaft« (Spieß 2011: 180). In diesem Zusammenhang wundert nicht, dass die lexikalische Ebene des Corona-Diskurses eine besondere Beachtung der Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler verdient und in zahlreichen Beiträgen reflektiert wird. Die Corona-Pandemie als eine Umbruchzeit mit einer hohen Unsicherheit und Dynamik hat dazu geführt, dass viele neue lexikalische Einheiten Einzug in den Wortschatz gefunden haben, wobei diese Erscheinung parallel in verschiedenen Sprachen zu beobachten war/ist (vgl. dazu exemplarisch Balnat 2020 für das Französische und das Deutsche, Falana-Jafra 2020 für das Polnische, Kovbasyuk 2021 für das Deutsche und das Ukrainische, Kuligowska 2020 und Miturska-Bojanowska 2021 für das Russische und das Polnische, SatołaStas´kowiak 2021 für das Polnische, Bulgarische und Tschechische, Hampl 2022 für das Tschechische, Lubocha-Kruglik/Shahmatova 2022 für das Russische, Beiträge in Klosa-Kückelhaus 2021a, Storjohann/Cimander 2022 für das Deutsche). Dementsprechend konzentrieren sich zahlreiche lexikalisch ausgerichtete 8 Es muss angemerkt werden, dass sich die Dimensionen der Diskursanalyse oft und an vielen Stellen überschneiden. So sind die Gliederung des Bandes und die Zuordnung der einzelnen Beiträge zu unterschiedenen thematischen Sektionen nicht als strikt zu betrachten. Die Aufteilung in thematische Hauptbereiche trägt allerdings dem Interesse der Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler an bestimmten Aspekten des Corona-Diskurses Rechnung.
Corona-Pandemie im Text und Diskurs. Fragestellungen, Zugänge und Perspektiven
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Studien auf Okkasionalismen und Neologismen, die als »lexikalische Zeitzeugen« der Corona-Pandemie gelten. Sie stellen dabei sowohl Ergebnisse von in einer Sprache funktionierenden Wortbildungsmechanismen dar, die auf einen unvertrauten Gegenstand angewendet werden (vgl. Volkmer/Werner 2020: 13), z. B. Impfmuffel oder Impfvordrängler, als auch Entlehnungen aus anderen Sprachen (insbesondere aus dem Englischen), z. B. Lockdown oder Booster (vgl. dazu z. B. Zifonun 2021). Die Untersuchungen des Corona-Diskurses, die die lexikalische Ebene anvisieren, basieren sowohl auf den von den Autorinnen und Autoren der Studien selbstständig zusammengestellten Textkorpora, als auch auf im Internet zugänglichen Sammlungen von sprachlichen Daten. In diesem Zusammenhang sind für die deutsche Sprache9 insbesondere folgende lexikographische Projekte zu nennen, deren Ziel darin besteht, den rasanten Ausbau des Wortschatzes des Gegenwartsdeutschen unter dem Einfluss der Pandemie zu verfolgen und die Entwicklung der Sprache fast in Echtzeit zu erfassen: – das Projekt Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie10, das ab April 2020 als ein zusätzlicher Dienst im Rahmen des Neologismenwörterbuchs des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache11 (IDS) angeboten wird und die Verwendung neuer Wörter und der im Deutschen bereits vorhandenen Wörter mit neuen Bedeutungen in der Corona-Pandemie dokumentiert; – das DWDS-Themenglossar zur COVID-19-Pandemie12, das seit März 2020 verfügbar ist und die durch die Corona-Pandemie ausgelösten Veränderungen im Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache dokumentiert sowie lexikographisch aufbereitet; – das Projekt Die Wortwarte13, dessen Ziel es ist, Neologismen im Deutschen zu sammeln. Aber nicht nur der Status der Corona-Wörter als lexikalische Innovationen, der ein stichhaltiger Beweis für den dynamischen Wandel des Wortschatzes einer Sprache ist, steht im Mittelpunkt sprachwissenschaftlicher Analysen der CoronaLexik. Die lexikalischen Einheiten – unabhängig von ihrer zeitlichen Markierung – dienen als die sog. Diskursmarker (vgl. Mészáros 2021: 236), indem sie von bestimmten Diskursakteuren mit konkreten Absichten, z. B. zur Diskreditierung Andersgesinnter gebraucht (vgl. Bartoszewicz 2022, Ciesek-S´lizowska/Ficek/ 9 Von einem großen Interesse an der Corona-Lexik zeugt die Tatsache, dass auch für andere Sprachen ähnliche laufend aktualisierte und ergänzte Online-Verzeichnisse des CoronaWortschatzes entstanden sind, vgl. Klosa-Kückelhaus (2021b). 10 https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp [Zugriff am 06. 03. 2023]. 11 https://www.owid.de/docs/neo/start.jsp [Zugriff am 06. 03. 2023]. 12 https://www.dwds.de/themenglossar/Corona [Zugriff am 06. 03. 2023]. 13 https://wortwarte.org/ [Zugriff am 06. 03. 2023].
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Duda/Wilczek 2022, Maciejewski 2022) oder zur Verbreitung von Verschwörungstheorien (vgl. Schuppener 2022) eingesetzt werden. Andere onomasiologisch angelegte Beiträge zum Corona-Wortschatz verfolgen das Ziel, das Konzept oder das Bild einer Sache oder eines Sachverhalts in der Zeit der Corona-Pandemie aufzuzeigen. In diese Kategorie reiht sich die Studie von Targon´ska/Prutscher (2022) ein, die darauf abzielt, coronabedingte Personenbezeichnungen zu analysieren, wobei besonderes Augenmerk den mit ihnen übermittelten Einstellungen der Pandemie gegenüber und Verhaltensweisen von Menschen in der Krisenzeit gilt. Auch Kaczmarek D. (2022) setzt sich mit einem für die Corona-Pandemie charakteristischen Konzept auseinander, und zwar mit der Maskenpflicht, und geht seinem Rekontextualisierungspotenzial nach. Außerdem ist anzumerken, dass die auf der lexikalischen Ebene angelegten Untersuchungen des Corona-Diskurses über die Grenze des Einzellexems hinausgehen und auch Mehrworteinheiten mit einem unterschiedlichen Stabilitätsgrad, darunter Phraseologismen im engeren und weiteren Sinne betreffen. Die Beiträge zum Einfluss der Corona-Pandemie auf das Phraseolexikon einer Sprache konzentrieren sich insbesondere, ähnlich wie Beiträge zu Einzellexemen, auf Neologismen, die als Folge der Corona-Pandemie entstanden sind (vgl. Gasˇova 2021 und Szcze˛k 2022a für das Deutsche, Kovbasyuk/Romanova 2021 für das Deutsche und das Ukrainische), und auf coronabedingte Modifikationen phraseologischer Einheiten (vgl. Szcze˛k 2022a). Mit der Untersuchung der lexikalischen Ebene des Corona-Diskurses hängen ebenfalls Studien zusammen, die sich mit der Metaphorik analysierter Texte oder Äußerungen rund um die Corona-Pandemie auseinandersetzen. Ausgehend von der Annahme, dass die Sprache mit ihrem metaphorischen Potenzial als ein Werkzeug zur Bewältigung der Corona-Pandemie (vgl. Dargiewicz 2022a) angesehen werden kann, wird in zahlreichen Beiträgen eine Reihe von Metaphern aufgedeckt, mit denen bestimmte Aspekte dieses Ausnahmezustands besonders akzentuiert und in sprachliche Bilder verpackt werden, wodurch sie besser begreifbar sind. Ohne hierin ausführlicher auf Einzelheiten einzugehen, kann vorausgesetzt werden, dass die Corona-Pandemie sehr häufig in verschiedenen Quellen als eine militärische und kriegerische Auseinandersetzung konzeptualisiert wird (vgl. z. B. Dargiewicz 2022a, Depner 2022, Kaczmarek H. 2022) und das Coronavirus folglich u. a. als Feind/Gegner/Aggressor (vgl. Kaczmarek H. 2021) dargestellt wird. Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass als Materialbasis für die auf die Erforschung der Metaphorik im Corona-Diskurs ausgerichteten Beiträge unterschiedliche Textkorpora dienen, z. B. Nachrichtenmeldungen (vgl. Krug 2021, Dargiewicz 2022a), Erfahrungsberichte von COVID19-Erkrankten (vgl. Sulikowska 2022), Kinderbücher (vgl. Zima 2022), CoronaRomane ausgewählter Autorinnen und Autoren (vgl. Kaczmarek H. 2022), online zugängliche Korpora (vgl. Klosa-Kückelhaus 2021c) u. a. Die Aufsätze können
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auch unterschiedliche thematische Bereiche des Corona-Diskurses betreffen, z. B. Coronavirus selbst (vgl. Gierzyn´ska 2022), Corona-Schutzmaßen (vgl. Kaczmarek H. 2022). Aus diesen Gründen kann vorausgesetzt werden, dass sich trotz der Dominanz der Kriegsmetaphorik auch andere Metaphernfelder in der Darstellung der Corona-Pandemie unterscheiden lassen.
2.2
Corona-Pandemie in verschiedenen textuellen Repräsentationen (darunter in multimodalen Texten)
Das Wissen über das Coronavirus und bestimmte kommunikative Handlungen, die mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie verbunden waren/sind (vgl. Opiłowski 2022a), werden in den meisten Fällen in verschiedenen Texten erfasst. Viele von denen haben einen multimodalen Charakter, indem sie sich außer Sprache auch anderer semiotischer Ressourcen zur Veranschaulichung bestimmter pandemischer Informationen bedienen. In dieser Hinsicht lassen sich einige Forschungsperspektiven in Bezug auf den Corona-Diskurs unterscheiden. Folglich kann auf Studien hingewiesen werden, die sich zum Ziel setzen, die coronabezogene Kommunikation im öffentlichen Raum von Städten oder Regionen zu erforschen, vgl. Opiłowski (2022a, 2022b), Aufsätze in dem Band von Lou/Malinowski/Peck (2022). Solche Beiträge zeigen insbesondere unter Berücksichtigung des Linguistic Landscapes-Ansatzes, wie pandemische Informationen in der öffentlichen Kommunikation in Form von urbanen Texten präsentiert werden. Die multimodalen Texte mit dem Corona-Bezug werden allerdings nicht nur im Kontext des Stadt- oder Regionaldiskurses diskutiert. Beachtung finden in diesem Zusammenhang auch journalistische / mediale Texte, die verschiedene Facetten des Corona-Diskurses darstellen. So beschäftigen sich Martikainen/ Sakki (2021) mit der Berichterstattung in zwei finnischen überregionalen Zeitungen zum Thema der Entwicklung von COVID-19 in Schweden und analysieren diese im Hinblick auf die Strategien der Konstruktion von nationalen Stereotypen. Journalistische Texte untersucht auch Gansel (2022), wobei sie auf die Strategien der Angst- und Risikokommunikation fokussiert. Die Analyse von Gansel (2022) berücksichtigt sowohl sprachliche Mittel als auch Text-BildInteraktionen, die dazu dienen, eine langfristige Wirkung auf den Rezipienten auszuüben. Multimodale Texte über die Corona-Pandemie waren in ihrem Höhepunkt eigentlich an allen Orten zu erwarten. In diesem Sinne macht Stodolinska (2021) die akademische Kommunikation zum Gegenstand ihrer Studie. Sie untersucht multimodale coronabezogene Kommunikate, die auf offiziellen Webseiten amerikanischer Universitäten publiziert wurden.
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In der Forschungsliteratur findet man auch eine Reihe von Beiträgen, in denen bestimmte Aspekte des Corona-Diskurses und ihre multimodale Darstellung analysiert werden. So beschäftigen sich Batista/Silva/Nazário/Cruz (2020) mit der Präsentation der Hygieneregeln in multimodalen Texten. Rentel (2022) untersucht hingegen Instruktionsvideos der Augsburger Puppenkiste, die den Kindern die Durchführung von Corona-Tests erläutern sollten. Im Rahmen einer multimodalen Diskursanalyse zeigt Rentel (2022), wie mit der Kombination verschiedener semiotischer Modi versucht wird, das Verständnis des komplizierten Stoffes bei den jungen Empfängern zu sichern und die Akzeptanz für die Corona-Tests zu steigern. Der Beitrag von Wojtaszek (2022) bezweckt darauf, die polnischen und englischsprachigen offiziellen Werbekampagnen zum Thema der Corona-Impfung zu analysieren. Im Mittelpunkt stehen dabei die Symbolik und Narration, die in den untersuchten Anzeigen zum Vorschein kommen, um den Rezipienten anzusprechen und zu beeinflussen. Rybszleger (2022) macht darauf aufmerksam, wie sich die Impfgegner in ihren Selbstdarstellungsmodulen auf Twitter positionieren. Berücksichtigt werden dabei Elemente sowohl der Bild- als auch der Textoberfläche. Wie der punktuelle Überblick über die Forschungsliteratur zu diesem Ausschnitt der Realisierungsmöglichkeiten des Corona-Diskurses verdeutlicht, kann der Schwerpunkt der Analyse von multimodalen Texten mit dem Corona-Bezug unterschiedlich gesetzt werden. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass die Beiträge in vielen Fällen den Fragen nachgehen, welche pandemischen Informationen vermittelt werden, wie sie mithilfe verschiedener semiotischer Modi dargestellt werden und welche Wirkung sie auf ihren Empfängerkreis haben (sollten).
2.3
Humor im Corona-Diskurs
Ein besonderes Phänomen, das im Zusammenhang mit der Analyse des CoronaDiskurses hervorsticht, ist zweifelsohne Humor. Da es sich bei der CoronaPandemie um eine ernsthafte Lage und eine Krisensituation handelt, eignet sich der Humor aufgrund seiner Funktionen (vgl. Wowro/Jakosz 2022: 12–13) besonders gut dazu, den durch die Krise verursachten Stress besser zu bewältigen, die Ausnahmezeit zu meistern oder sich eine Auszeit von Corona zu nehmen. Während der Pandemie kommen somit die einzigartige Rolle des Humors als Ventil für Ängste, Schwächen, Gefühle der Einsamkeit und Hilflosigkeit sowie seine heilende Kraft deutlich zum Vorschein. Mithilfe des Humors konnte in der Corona-Zeit ein fast überlebenswichtiger Perspektivenwechsel erreicht werden und trotz der sozialen Distanz sowie der Kontakteinschränkungen das Gefühl der gesellschaftlichen Zusammengehörigkeit geschaffen werden.
Corona-Pandemie im Text und Diskurs. Fragestellungen, Zugänge und Perspektiven
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Der Relevanz des Humors im Corona-Diskurs wird in zahlreichen Studien Rechnung getragen. Wie Wowro (2022) in ihrer Studie präsentiert, manifestiert sich das Humoristische bereits auf der lexikalischen Ebene des Corona-Diskurses. Olah/Hempelmann (2021: 331) verweisen darauf, dass der Humor auch infolge der pandemiebedingten Notwendigkeit, mehr virtuelle Interaktionen einzugehen, immer häufiger virtuell (insbesondere durch soziale Netzwerke) vermittelt wird, so dass traditionelle Witze langsam durch Internet-Memes14 verdrängt oder ersetzt werden. Die Durchsicht der Forschungsliteratur bestätigt diese Tendenz, indem als Materialgrundlage für viele linguistische Analysen des Humors rund um die Corona-Pandemie häufig Internet-Memes gebraucht werden. In diesem Zusammenhang können solche Begriffe wie viraler Humor oder digitaler Corona-Humor gebraucht werden, die auf die Art und Weise der Verbreitung von Corona-Memes referieren, die innerhalb kurzer Zeit große Gruppen von Menschen erreichen. Folglich können die Internet-Memes als eine gewisse Stütze in der Krise betrachtet werden, weil sie durch die amüsante Verpackung des unangenehmen Themas der Corona-Pandemie große Personengruppen zum Lachen bringen können. In diesem Sinne untersucht Pauliks (2020, 2022) Internet-Memes zum Thema der Corona-Pandemie, wobei besondere Aufmerksamkeit der sog. Corona-chan gewidmet wird. Czachur/Wójcicka (2022) analysieren in ihrer Studie deutsche und polnische Corona-Memes, Dargiewicz (2022b) widmet ihren Aufsatz deutschen Memes, Chłopicki/Brzozowska (2021) und Janus (2022) erforschen polnische Memes zur Corona-Pandemie, Cancelas-Ouviña (2021) thematisieren spanische Corona-Memes und Z˙ebrowska (2022) exemplifiziert die Komik der Corona-Memes an polnischen, deutschen und englischsprachigen Beispielen. Lemish/Elias (2020) gehen auf israelische Memes ein, wobei sie speziell auf humoristische Reaktionen von Eltern auf Lockdown fokussieren. In einigen Studien werden neben Internet-Memes auch Corona-Witze besprochen, z. B. Hodalska (2020) in Bezug auf die polnische Sprache oder Jakosz (2022), der die Komik an deutschen und polnischen Beispielen exemplifiziert. Szcze˛k (2022b) widmet ihre Analyse ausschließlich Witzen in der deutschen Sprache. Mit den hier genannten Aufsätzen wird nur angedeutet, dass das Thema des Humors, in vielen Fällen anhand von Internet-Memes und Witzen besprochen, sehr häufig die Aufmerksamkeit der Forscherinnen und Forscher auf sich zieht, unabhängig von der Sprache, die sie untersuchen. Die Beiträge zum Humor im Corona-Diskurs verweisen auf verschiedene Mechanismen der Humorerzeugung wie Wortspiele, Ambiguitäten, Vergleiche, Text-Bild-Relationen usw., präsentieren verschiedene Ausprägungen des Humors (wie z. B. den schwarzen Humor), verdeutlichen den Gebrauch des Humors im Dienste der Ironie, des Sar14 Zur Begriffserklärung vgl. z. B. Iluk (2014), Merten/Bülow (2019), Krieg-Holz/Bülow (2019).
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kasmus oder des Zynismus. Die hier nur kurz erwähnten Studien, in deren Mittelpunkt verschiedene Sprachen stehen, machen auch die Verankerung von Internet-Memes in einer jeweiligen Kultur deutlich, was sehr häufig mit der Verwendung von in einer Sprache verbreiteten Sprüchen oder Bildern einhergeht.
3.
Zum Inhalt des Bandes
Den kurz genannten Ebenen des Corona-Diskurses folgend, eröffnet den Band der Beitrag von Oksana Havryliv, die sich mit den in der Zeit der Pandemie entstandenen Neologismen im Deutschen und im Ukrainischen beschäftigt, wobei besonders auf expressiv-emotive lexikalische Einheiten fokussiert wird. Mit der Studie wird gezeigt, wie mit den in beiden Sprachen bewährten Wortbildungsmodellen der neuen pandemischen Realität Rechnung getragen wird. Joanna Woz´niak untersucht in ihrem Beitrag die Verwendung des Idioms Wir sitzen alle im gleichen Boot im Corona-Diskurs. Die Suche im Corona-Korpus von DWDS ergibt zahlreiche Beispiele, die es der Autorin erlauben, ein umfassendes Bedeutungs- und Verwendungsprofil dieses Phrasems im Corona-Diskurs zu präsentieren. Mariusz Jakosz beschäftigt sich mit der Verwendung von Phraseologismen im deutschen Corona-Diskurs und speziell mit ihrem bewertenden Potenzial. Das besondere Augenmerk richtet sich auf phraseologische Einheiten, die Aufschluss darüber geben, welche Einstellungen zur gesamten Krisensituation beschrieben oder ausgedrückt werden können. Der nachfolgende Beitrag von Federico Collaoni ist dem Distanz-Begriff im Deutschen und im Italienischen gewidmet. Da die Maßnahmen zur räumlichen Distanzierung zu den wichtigsten in der Pandemie gehör(t)en, liefert die lexikalische Analyse des Distanz-Begriffs einen Einblick in ein signifikantes Thema im Corona-Diskurs. In einem weiteren Aufsatz trägt Przemysław Staniewski zur Erforschung eines anderen Strangs des Corona-Diskurses, d. h. des Impfdiskurses bei. Aus korpusorientierter Perspektive wird die Verwendung der Lexeme Impfung, Impfen/ impfen einer quantitativen und qualitativen Analyse unterzogen. Ein weiterer Teil des Bandes, der sich der Materialisierung des Corona-Diskurses in verschiedenen Textypen, -sorten oder -gattungen zuwendet, besteht aus fünf Beiträgen. Bernadetta Ciesek-S´lizowska, Joanna Przyklenk, Katarzyna Sujkowska-Sobisz und Wioletta Wilczek befassen sich mit dem Impfdiskurs und analysieren diesen im Hinblick auf den Mangel an Vertrauen, der in den Facebook-Kommentaren von Impfskeptikern zu den offiziellen polnischen Kommunikaten über Impfungen zum Ausbruck gebracht wird. Die Studie von Izabela Kujawa thematisiert politische (Wahl-)Reden polnischer rechtspopulistischer Politiker in der Zeit der Corona-Pandemie. In diesem Kontext werden Argu-
Corona-Pandemie im Text und Diskurs. Fragestellungen, Zugänge und Perspektiven
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mentationsmuster (Topoi) aufgedeckt, mit denen Politiker ihre kommunikativen Ziele realisieren. Beatrice Wilke und Maria Paola Scialdone behandeln die in der ersten Welle der Pandemie entstandenen Tagebuchaufzeichnungen der österreichischen Autorin, Kathrin Röggla, wobei das Erleben des Lockdown und dessen Darstellung in dem genannten Tagebuch im Mittelpunkt steht. Violetta Frankowska unterzieht polnische und deutsche Corona-Memes einer eingehenden text- und pragmalinguistischen Analyse, wobei die Autorin jeweils verbale und visuelle Elemente der Text-Bild-Konstellationen berücksichtigt, ihre Themen- und Handlungsstruktur sowie multimodale Verknüpfung und intertextuelle Bezüge bespricht. Marcelina Kałasznik beschäftigt sich hingegen mit offiziellen deutschen und polnischen Kampagnen zur COVID-19-Impfung, indem sie Werbeplakate und Videos analysiert. Im Mittelpunkt der Analyse befindet sich die Frage, welche Appelle die deutschen und polnischen Botschaften enthalten, um den Rezipienten zur Schutzimpfung zu überzeugen. Den nächsten thematischen Schwerpunkt bildet der Humor in der Zeit der Corona-Krise. Iwona Wowro geht in ihrem Beitrag auf den Humor und die Ironie im Corona-Diskurs ein, wobei sie diese Erscheinungen anhand der lexikalischen Ebene des Corona-Diskurses exemplifiziert. Atilla Mészáros gewährt mit seinem Beitrag einen Einblick in den slowakischen Corona-Diskurs, indem er slowakische Corona-Memes unter die Lupe nimmt. Die Analyse der slowakischen Memesphäre, exemplifiziert an konkreten Fallbeispielen, kann als ein Spiegel für relevante Ereignisse im Corona-Diskurs angesehen werden. Witold Sadzin´ski macht Humor mit Bezug auf die Corona-Pandemie zum Gegenstand seiner interdisziplinär angelegten Studie. Mit den in dem Band versammelten Beiträgen präsentieren die Autorinnen und Autoren mit Fokus auf unterschiedene Ebenen des Corona-Diskurses, wie man versucht (hat), die Corona-Pandemie mithilfe von Sprache kollektiv zu bewältigen (vgl. Volkmer/Werner 2020: 12). Obwohl die Sprache aktuell (d. h. im Jahre 2023) nicht mehr dermaßen stark durch die Pandemie geprägt wird, wird davon ausgegangen, dass sowohl die lexikalischen Neuerscheinungen als auch die (multimodalen) Texte zur Corona-Pandemie, die uns zwei Jahre lang ständig begleitet haben, kein zeitliches Haltbarkeitsdatum haben (vgl. Volkmer/Werner 2020: 12), so dass der Sammelband einen dokumentarischen Beitrag zur Entwicklung von verschiedenen Sprachen (vor allem aber in Bezug auf das Deutsche) in der Corona-Zeit leisten kann. Unser Dank gilt all denjenigen, die zu diesem Buchprojekt beigetragen haben. Erstens bedanken wir uns bei den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und für die partnerschaftliche sowie produktive Kooperation an dem Band. Zweitens möchten wir unseren Dank an alle Gutachterinnen und Gutachter aussprechen, die mit ihren Kommentaren die hier versammelten Studien bereichert haben. Drittens danken wir unseren Instituten, d. h. dem Institut für Sprachwissenschaft
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Mariusz Jakosz / Marcelina Kałasznik
der Schlesischen Universität Katowice15 und dem Institut für Germanistik der Universität Wrocław sowie dem Dekan der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Schlesischen Universität Katowice und dem Rektor der Universität Wrocław für die finanzielle Unterstützung, ohne die die Publikation des Bandes nicht möglich wäre.16
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I. Corona-Diskurs und seine Ausprägungen: lexikalische und phraseologische Fragestellungen
Oksana Havryliv (Universität Wien, Wien)
Expressiv-emotive Corona-Neologismen: morphologische und lexikalisch-semantische Aspekte am Beispiel des Deutschen und Ukrainischen1
Abstract Expressive-Emotive COVID Neologisms: Morphological and Lexical-Semantic Aspects as Exemplified by German and Ukrainian The article is devoted to COVID neologisms as exemplified by German and Ukrainian, with special attention to expressive-emotive lexis. We explore functions of expressive-emotive lexis in the pandemic period and verbalization of uncertainty or fears with the help of humour. Lexical-semantic processes and word formation models that serve the formation of emotive-expressive COVID neologisms are presented and introduced in the context of the word formation system of the respective language. Keywords: expressive COVID neologisms, compounds, derivation, word crossings Schlüsselwörter: expressive Corona-Neologismen, Komposition, Derivation, Kontamination
Am Vorabend des 24. 03. 2022 schlussfolgerte ich, nach dem Vergleich empirischer Korpora in der deutschen und ukrainischen Sprache, dass sich kaum ein Thema in den vergangenen Jahrzehnten in ähnlicher lexikalischer Vielfalt des Wortschatzes generell und auf der Ebene expressiv-emotiver Lexik im Einzelnen wie Corona widergespiegelt hätte. Doch schon am nächsten Morgen wachten die UkrainerInnen in einer blutigen Kriegsrealität auf, die mit sich Gefühle der Hilfund Fassungslosigkeit, der Wut und Unsicherheit, des Schmerzes und der Angst brachte, welche mittels Sprache ihren Ausweg suchten. Die Sprache, deren wichtige Funktion die emotive Funktion ist, reagierte mit dementsprechend expressiver Versprachlichung der brutalen Realität: mit zahlreichen (Neu)bezeichnungen der Kriegsrealien (insbesondere expressiv-emotiven Bezeichnungen des Feindes – der russischen Armee / Soldaten als Okkupanten sowie Putins) oder aggressiven Sprachakten (vor allem Verwünschungen als für das Ukraini1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projektes »Coronerisch. Das Wienerische im pandemiegeprägten Alltag«, gefördert von der Stadt Wien Kultur.
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Oksana Havryliv
sche typischem aggressivem Sprechakt). Der Krieg verdrängte schlagartig die noch gerade aktuelle Corona-Thematik, was momentan besonders deutlich am Beispiel des Ukrainischen, aber auch des Deutschen zu beobachten ist. Der quantitative Vergleich auf der lexikalischen Ebene (Neologismen bzw. Historismen) im Corona- und Kriegsdiskurs steht noch bevor, doch schon jetzt kann behauptet werden, dass der expressiv-emotiven Lexik im ukrainischen Kriegsalltag eine unübertroffene Rolle zukommt. Der Krieg kann auch längerfristige Auswirkungen auf die Entwicklung des Ukrainischen im Zuge der Abgrenzung zum Russischen als Sprache des Feindes und Übergang Russischsprechender zum Ukrainischen haben. Unter Einschalten des Humors, der als realitätsabwertender und daher angstbewältigender und entlastender Mechanismus gilt, treten auch Beispiele des Zusammenspiels vom Corona- und Kriegsdiskurs vor, auf die am Ende dieses Beitrags eingegangen wird. In wenigen Kriegstagen hat die emotive Sprache eine Entwicklung von anfänglichen passiven Verwünschungen zu aktiven aggressiven Sprechakten (aggressiven Aufforderungen, Drohungen), deren produktive Funktionen durch Humor verstärkt wurden, und schließlich zu positiven, auf den Sieg und auf das baldige Kriegsende ausgerichteten Äußerungen, durchlebt. Mit einem positiven Motto – dem offiziellen Gruß der ukrainischen Streitkräfte, der weltweit zum Slogan des Widerstandes wurde, möchte ich auch diese Vorüberlegungen beenden: Glory to Ukraine! – Glory to the heroes!
1.
Einleitung
Die Sprache als lebendiges und dynamisches Gebilde reagiert auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich vor allem auf der Ebene des Wortschatzes in Neologismen widerspiegeln. Das Besondere an der Situation mit dem COVID19-Virus besteht darin, dass die sprachlichen Prozesse synchron in verschiedenen Sprachen erfolgen. Die Corona-Neologismen vieler Sprachen wurden bereits klassifiziert und sind zum Forschungsgegenstand linguistischer Studien geworden – so auch in den für diesen Beitrag relevanten Sprachen, dem Deutschen (vgl. Fuchs 2021, Havryliv 2021, Klosa-Kückelhaus 2021, Schmitz 2021 u. a.) und dem Ukrainischen (vgl. Derkachova 2021, Kharchenko 2020, Popkova 2021 u. a.). Die expressiv-emotiven Corona-Neologismen, deren Präsenz im Corona-Diskurs seit den ersten Pandemietagen sichtbar war, traten in beiden Sprachen jedoch nicht als Forschungsgegenstand auf und bilden deshalb den Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Die Umbruchzeiten können die Sprachentwicklung sowohl positiv beeinflussen als auch die existierenden Sprachnormen aus dem Gleichgewicht bringen. Das Ziel dieses Beitrags besteht deshalb auch darin, am Beispiel des Deut-
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schen und Ukrainischen festzustellen, wie die beiden Sprachen mit der neuen Realität umgehen, nach welchen Wortbildungsmodellen die neuen Wörter, insbesondere im Bereich der expressiv-emotiven Lexik, gebildet werden und ob bzw. wie diese den produktiven Wortbildungsmustern beider Sprachen entsprechen. Empirische Grundlage bilden: Neologismus-Wörterbuch des Instituts für Deutsche Sprache (IDS, Mannheim), Beispiele aus den Massen- und Sozialmedien, selbsterstellte Umfrage auf der eigenen Facebook-Seite sowie auf den Facebook-Seiten »Українські перекладачі« (»Ukrainische ÜbersetzerInnen«) und »WienerInnen helfen WienerInnen«. Das empirische Material wurde mit Hilfe folgender methodischer Zugänge analysiert: morphologische, lexikalischsemantische, deskriptive, kontextuelle Analyse.
2.
Was wir tun, wenn wir benennen?
Das Phänomen der Benennung beschäftigt die Philosophen von der Antike bis zur Gegenwart und wird in der Kognitionspsychologie als elementare Form der Erkenntnis betrachtet. Auch in der Sprachwissenschaft reden wir von der Versprachlichung der Welt, die darin besteht, dass menschliche Erkenntnisse durch Benennung in unserem Bewusstsein verankert werden. Als das wichtigste Charakteristikum des Benennungsaktes wird die Ordnungsschaffung (»Die Benennung ist zugleich das Fundament, auf dem sich die symbolische Ordnung errichtet« (Nemitz 2014)) erwähnt, die auch der ersten Konzeption der Benennung bei Lacan zugrunde liegt: »Da greift die symbolische Relation ein. Die Macht (pouvoir), die Objekte zu benennen, strukturiert die Wahrnehmung selbst. Das percipi [das Wahrgenommenwerden] des Menschen vermag sich nur innerhalb einer Zone der Benennung (nomination) zu halten« (Lacan Seminar 2 1954/55, zit. nach Nemitz 2014). Auch im Schöpfungsmythos bringt der Gott durch sein Wort das Tohuwabohu in Ordnung oder, in griechischer Terminologie ausgedrückt, der Logos besiegt das Chaos und verwandelt es zum Kosmos. Die COVID19-Pandemie, die sich weltweit Anfang 2020 verbreitete, schaffte eine komplett neue Realität mit neuen Regeln, Verhaltensformen, Einschränkungen, die uns Angst machte und verunsicherte. Die Gefühle der Angst und Verunsicherung verstärken sich zudem, wenn wir die neuen Realien und Sachverhalte nicht benennen können: »Wenn man etwas nicht benennen kann, ist da viel Angst und Unsicherheit«2. In der neuen Corona-Realität trat die Sprache somit als Instrument auf, um Ordnung zu schaffen und über diese Realität Kontrolle zu ge2 https://www.heute.at/s/mehr-als-1200-neue-begriffe-durch-corona-entstanden-100132988 [Zugriff am 11. 03. 2022].
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winnen. Dabei aktivierte sie nicht nur die benennende, nominative Funktion, sondern auch expressive und emotive Funktionen, denn neben der Benennung neuer Realien und Sachverhalte ist es wichtig, unsere Stellungnahme zu vermitteln, diese Realien und Sachverhalte bildkräftiger, mehrdimensionaler darzustellen und durch sprachliche Kreativität Unsicherheit und Ängste abzureagieren. Der erste Schritt in diese Richtung war mit der Benennung des Virus selbst getan. Dabei sind von einer Reihe der Virusbezeichnungen – SARS-CoV-2, COVID-19 / ковід-19, Coronavirus / коронавірус, Corona / корона – nur COVID19 sowie Corona als Neologismen im engen Sinne aufzufassen. Coronavirus ist dagegen seit 1960er belegt3, hat aber im aktuellen Kontext eine Bedeutungseinengung von Bezeichnung der Virusgruppe, zu der auch der neue Virus (SARSCoV-2) gehört, entwickelt (Hyperonym-Hyponym-Übergang). Ebenfalls hat das Wort zusätzliche Bedeutung »Krankheit, die durch diesen Virus hervorgerufen wurde« (an Coronavirus erkranken / захворіти на коронавірус, коронавірусне захворювання / інфекція, Coronavirus-Symptome / коронавірусні симптоми u. a.) bekommen. Im Gegensatz zu Coronovirus / коронавірус haben wir es im Falle des Lexems Covid / ковід mit einem Neologismus zu tun (im Ukrainischen sowohl transliteriert als ковід, als auch in lateinischer Schrift), der eine Kürzung auf die Anfangssilben und den Anfangsbuchstaben des Englischen »coronavirus disease« darstellt: CO – corona, VI – virus, D – Krankheit bei Hinzufügung der Zahl 19 für das Jahr, in dem die Krankheit ausgebrochen ist. Auch das Lexem Corona / корона ist infolge der Kurzwortbildung (als Anfangskurzwort von Coronavirus / коронавірус) entstanden. Das Wort bezeichnet sowohl die Infektion selbst (Corona-Test / тест на корону), als auch die Erkrankung, die durch diese Infektion hervorgerufen wurde (an Corona erkranken / захворіти на корону, Corona-Symptome / симптоми корони). Im Falle von SARS-CoV-2 handelt es sich um einen medizinischen Terminus, der auch nicht im engen Sinne zu Neologismen gehört, die den allgemeinsprachlichen Teil des Wortschatzes betreffen. Covid (ковід), Corona (корона), Coronavirus (коронавірус) sind nicht nur zu Symbolwörtern der Pandemiezeit, sondern auch zu produktiven Stämmen für eine Reihe von Neologismen geworden. Der Corona-Diskurs, der als Superdiskurs aufgefasst werden kann, setzt sich aus mehreren Subdiskursen zusammen: Coronamaßnahmen-Diskurs, ImpfDiskurs, Diskurs über Digitalisierung sozialer Beziehungen u. a. Diese Subdiskurse werden mit Corona-Neologismen präsentiert, die verschiedenen Sprachstilen entstammen und es deshalb ermöglichen, über die Pandemie unterschiedlich zu kommunizieren – von der sachlichen Berichterstattung zu expressiv-emotiven Bezeichnungen in der Umgangssprache. Dazu kommt, dass 3 https://de.wikipedia.org/wiki/Coronaviridae [Zugriff am 11. 08. 2022].
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jeder dieser Diskurse aus verschiedenen Perspektiven gesehen und versprachlicht wird – sowohl aus der Perspektive der Personen, die Corona-Maßnahmen unterstützen bzw. diese als unumgänglich hinnehmen als auch von der Seite der CoronaleugnerInnen. Jede dieser Seiten verwendet für Realien des Pandemiealltags ihr eigenes, oft expressiv-emotiv gefärbtes Vokabular. Die gegenseitigen Auswirkungen von Sprache und Realität äußern sich vor allem darin, dass Themen, die uns bewegen, differenziert versprachlicht werden. Wie relevant das Thema ›Corona-Impfung‹ ist, zeigt sich an der Spannbreite der Neologismen angefangen von Impf-Chaos, Impf-Debackel / Desaster sowie Impfneid, Impfvordrängler, Impf-Vip und Impf-Einspringer im Frühjahr 2021 bis Impfzauderer, Impfzögerer und schließlich zum Impfskeptiker als Platz 3 bei »Unwort des Jahres 2021«. Dass das Thema ›Impfen‹ polarisiert, zeigt sich an antonymischen Neologismen wie Impf-Vordrängler (Personen, die durch Beziehungen bzw. andere unlautere Mittel versuchen, schneller zur Impfung zu kommen, als es ihnen altersmäßig bzw. gesundheitlich zusteht), Impfflüchtlinge (Personen, die versuchen, nachdem sie einen Stempel im Impfpass bekommen haben, sich doch nicht impfen zu lassen). Eine Reihe von Bezeichnungen betrifft unterschiedliche Testarten: AntigenTest, Corona-Atemtest, Gratistest, Gurgeltest, Lollipop-Test, Lutschtest, Nasenbohrer-Test, PCR-Test, Wohnzimmer-Test (Selbsttest). Da in der Ukraine das Testen nicht in dem Ausmaß wie in den deutschsprachigen Ländern eingesetzt wird, gibt es dementsprechend auch keine starke lexikalische Differenzierung auf Grund unterschiedlicher Testarten: neben neutralen Bezeichnungen антигентест (auch: експрес-тест, швидкісний тест) und ПЦР-тест wird umgangssprachlich auch сопливий тест (wörtlich »Rotztest«) verwendet. Ausgeprägte Lexikalisierung zeigt sich auch darin, dass die Neologismen bereits nach kurzer Zeit näher bestimmt werden: всеосяжний локдаун, FastenLockdown (Verlängerung der Schließung für Gastronomiebetriebe und Hotels bis zu den Ostern), harter Lockdown / жорсткий локдаун, Jahreswechsellockdown, Kurzzeitlockdown, Notbremse-Lockdown, Ostern-Lockdown, Wellenbrecherlockdown, Wochenend-Lockdown / локдаун вихідного дня, UngeimpftenLockdown / локдаун для невакцинованих. Einen einzelnen Themenkomplex stellen Wörter dar, die neue Emotionen und psychische Zustände im Pandemiealltag bezeichnen: overzoomed / зазомбований, Impfneid, Coronascham, Husten- / Niesscham. Im Ukrainischen ist neben маскошок (»Maskenschock« – der Zustand, wenn wir feststellen, keine Maske zu haben, diese aber dringend brauchen) eine Reihe von Lehnübersetzungen aus dem Niederländischen zu erwähnen: кашлесором (hoestschaamte), вуличносором (straatschaamte), базіковірусолог (toogviroloog). Im Falle von onthamsteren hat die Sprache dagegen nach dem produktiven präfixalen Modell das Wort роззапасання kreiert (als Antonym zu запасання), das sich durch die
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doppelte Präfigierung kennzeichnet und das Ukrainische auch außerhalb des Corona-Alltags bereichern wird.
3.
Corona-Neologismen im Überblick
In diesem Kapitel seien die wichtigsten Gruppen der Corona-Neologismen vorgestellt: – Fachsprachliche Wörter und Ausdrücke im allgemeinen Sprachgebrauch: Es handelt sich vor allem um den Übergang fachsprachlicher Wörter und Ausdrücke aus dem Bereich der Medizin sowohl in die Sprache der Massenmedien und offiziellen Dokumente als auch in die Umgangssprache: Durchseuchung, Inzidenz, Positivitätsrate, Triage, Übersterblichkeit, Quarantäne, карантин, сатурація, антитіла, інкубаційний період. Auch aus anderen Fachbereichen sind Wörter in unsere Alltagssprache gekommen, wodurch sich die Häufigkeit ihres Gebrauchs erheblich gesteigert hat, wie z. B. aus dem Bereich des Bildungswesens: Distanzunterricht / дистанційне навчання (викладання), elektronisches Klassenbuch / електронний журнал, online-Führung / віртуальний тур, online-Konferenz / онлайн-конференція. Im Gegensatz zum Ukrainischen, wo umgangssprachliche Variante zur Bezeichnung der Arbeit bzw. des Unterrichts von zu Hause aus – дистанційка – ihre Häufigkeit erhöht hat, wird im Deutschen der Anglizismus Distanzlearning verwendet. – Allgemein gebräuchliche Wörter, deren Gebrauchssequenzen während der Corona stark zugenommen haben. Diese Lexik ist aktuell vorrangig mit Corona-Assoziationen verbunden: Desinfektionsmittel, Maske / MNS, Test, дезинфекційний засіб, маска, тест u. a. Weitere Corona-Neologismen sind infolge bedeutungsverändernder Prozesse entstanden: – Bedeutungsübertragung: Dieser Prozess lässt sich an einem der aktuellen Corona-Neologismen, dem Anglizismus Booster / бустер als Metapher zur Bezeichnung der Auffrischungsimpfung beobachten. Er kommt aus dem Bereich der Raketentechnik und bezeichnet eine kleine Rakete, die den Schub verstärken soll. Metaphorischer und metonymischer Gebrauch sind ein gutes Beispiel der Sprachökonomie, da sie es erlauben, neue Bedeutungskonzepte auszudrücken, ohne die Zeichenzahl zu erhöhen. – Bedeutungskonkretisierung: Im Deutschen beobachten wir diesen Vorgang vor allem an Zusammensetzungen, in denen das Hauptwort durch das Bestimmungswort konkretisiert wird: Distanzschlange, Teststraße, Impfmuffel. Durch das Bestimmungswort Corona / Covid (корона / ковід) kann jedes Wort konkretisiert und zur Bezeichnung verschiedener Facetten des Pandemieall-
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tags verwendet werden: von neutralen Bezeichnungen Corona-Fall, CoronaZahlen, Corona-Maßnahmen, Corona-Test, корона-гроші, корона-премія, ковідлікарня, ковідтест, ковідвакцина bis zu den Wörtern mit negativen Konnotationen (Corona-Albtraum, Coronatote, Corona-Frust, Corona-Krise, Corona-Hysterie, Corona-Chaos, коронаістерія, коронашок, коронахаос) und komplexen Inhalten wie Coronaspeck / коронажир (Übergewicht, das mit Bewegungsmangel, Langeweile und Stress während des Lockdowns gerechtfertigt wird) oder Corona-Party / корона-вечірка, das Unwort des Jahres 2020 in Österreich4. – Bedeutungserweiterung: Eine Reihe von Wörtern hat im Corona-Alltag ihre Bedeutung ausgeweitet, z. B. Bezeichnungen der Zonen (зелена / жовта / червона зона) bzw. das Ampelsystem, das sich nicht nur auf die Verkehrsregeln, sondern auch auf die epidemische Lage bezieht. Weitere Beispiele wären: aufsperren, zusperren, lockern, Lockerung, fallen (Impfpflicht fällt). Auch expressive Wörter wie домосида (Stubenhocker), домувати (zu Hause hocken) haben ihre Bedeutung hinsichtlich der Ausgangsbeschränkungen auch auf das durch die Anticorona-Maßnahmen bzw. Quarantänevorschriften vorgeschriebene Zuhause-Bleiben ausgedehnt. Nicht nur bereits vorhandene Wörter, sondern auch Corona-Neologismen entwickeln in kurzer Zeit Polysemie, wie die expressive Bezeichnung für den Virus ковідка, die die Bedeutung »Ärztin, die Coronakranke behandelt« gewinnt, und während der Weihnachtszeit, scherzhaft auf »das Weihnachtslied« (wegen lautlicher Ähnlichkeit mit gleichbedeutendem колядка) referiert wird. Weitere Beispiele: – ковідники / ковідниці: 1) Krankenhäuser, wo an COVID-19 Erkrankte behandelt werden; 2) PatientInnen dieser Krankenhäuser; 3) scherzhaft für »Weihnachtslieder-SingerInnen« (колядники); – коронований/a: 1) Der / die an COVID-19 Erkrankte; 2) Der / die Genesene; – ковидло: 1) Der Virus; 2) Die Erkrankung; 3) Die Marmelade ohne Geruch und Geschmack (lautliche Ähnlichkeit mit повидло (»Marmelade«)); – ковідятко, ковідята: 1) meliorative Bezeichnung für Corona-Kranke / -Infizierte; 2) Kinder, die in der Pandemiezeit geboren wurden.
4 Es bezeichnet ein Beisammensein von Menschen, die sich trotz der staatlich verordneten Ausgangssperre in privaten oder öffentlichen Umgebungen treffen und dadurch die CoronaAnsteckungsgefahr maßgeblich erhöhen. Das Wort wurde in den Medien überwiegend negativ, aber auch ironisierend und verharmlosend verwendet. Zum Unwort macht es, so Jury, einerseits die Tatsache, dass damit pauschale »Verurteilungen« ausgesprochen werden, andererseits eine Verharmlosung real existierender Gefahren ermöglicht wird (https://oewort.a t/wort-des-jahres/2020/, https://oewort.at/wort-des-jahres/2021/ [Zugriff am 20. 08. 2022]).
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Dass die ausgeprägte Polysemie vor allem das Ukrainische kennzeichnet, ist durch die Produktivität suffixaler Wortbildungsmodelle zu erklären, die breite Referenz ermöglichen. Im Deutschen sind dagegen Zusammensetzungen produktiv, wobei Corona als Bestimmungswort jedes Wort in einen Corona-Neologismus verwandeln kann: Coronakrankenhaus / -abteilung / -behandlung / -verlauf / -erkrankte / -genesene usw. – Bedeutungsverschlechterung: Diesen Prozess beobachten wir z. B. am Wort QuerdenkerIn, der ursprünglich neutralen Bezeichnung einer Person, die unkonventionell und kritisch denkt. Wegen der Verwendung für alle VertreterInnen der Anticorona-Szene – Coronaleugner, Impfverweigerer, Verschwörungstheoretiker einschließlich der Rechtsextremen und Neonazis – hat das Wort negative Konnotationen bekommen und tritt auch als Basis für expressive Bezeichnungen wie Querquengler auf. – Auch das Wort Skeptiker / скептик, das ursprünglich positiv besetzt war, hat sich infolge der häufigen Verwendung in der Zusammensetzung Impfskeptiker bzw. Covidskeptiker, Coronaskeptiker / ковідскептик, коронаскептик für eine Person, die die Coronaschutzimpfungen strikt ablehnt und wissenschaftliche Erkenntnisse negiert, zum Negativen gewandelt. – Derselbe bedeutungsverschlechternde Prozess betrifft im Ukrainischen das Lexem дисидент (»Dissident«) – ein ursprünglich positiv konnotiertes Wort zur Bezeichnung von Personen, die dem sowjetischen Regime Widerstand geleistet haben, wird ironisch zur Bezeichnung von Coronaleugnern (коронадисиденти – »Coronadissidenten«) gebraucht und dadurch abgewertet. – Entlehnungen bzw. Lehnübersetzungen aus dem Englischen – sie stellen einen großen Teil der Corona-Neologismen dar: Distance-Learning, Homeschooling, Social Distancing, Superspreader, zoomen / зумитися, Lockdown / локдаун. Die Entlehnungen aus dem Englischen erfüllen eine aufwertende Funktion, indem sie Sachverhalte, die auf Deutsch bzw. Ukrainisch nüchtern klingen (Ausgangssperre, Heimarbeit) verschleiern (Lockdown, Homeoffice) und daher auch als verschönernde Euphemismen betrachtet werden können. Im Falle des Home Office haben wir es mit dem Pseudo-Anglizismus zu tun, denn Home Office steht in Großbritannien für das Innenministerium. – Die fremdsprachige Lexik gehorcht den Regeln deutscher bzw. ukrainischer Grammatik – die Substantive (im Ukrainischen in kyrillischer Schrift transliteriert) werden dekliniert, die Verben bekommen entsprechende Infinitivendungen (zoomen / зумити) bzw. Partizip II-Formen (geboostert), von Wortstämmen werden Kompositionsmodelle (charakteristisch für das Deutsche) oder Derivationsmodelle (produktiv im Ukrainischen: z. B. präfixalsuffixale Modelle wie відкьюарити (»QR-Kode überprüfen«) gebildet.
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4.
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4.1
Expressiv-emotive Lexik im Corona-Diskurs: Allgemeine Charakteristika, Funktionen, Themenkomplexe
Die Kommunikation über die Pandemie findet auf verschiedenen Ebenen statt – im politischen, öffentlichen, medialen Diskurs, im Alltag. Dementsprechend haben sich verschiedene stilistisch gefärbte Bezeichnungen für die wichtigsten Realien des Pandemiealltags gebildet. Die Präsenz expressiv-emotiver Lexik wurde im Corona-Diskurs seit den ersten Tagen der COVID-19-Pandemie sichtbar, denn neben der Notwendigkeit, neue Sachverhalte zu benennen, spielt auch die Äußerung der Stellungnahme zu neuen Realien und Sachverhalten eine wichtige Rolle. Deshalb aktiviert die Sprache in Krisenzeiten ihre linguokreativen Potenzen, die sich in expressiv-emotiver Lexik und Phraseologismen, im Wortspiel äußern. Auf die Nähe beider Kategorien, der Emotivität und der Expressivität, wird in verschiedenen Studien hingewiesen (vgl. Bonacchi 2020: 46, D’Avis/Finkbeiner 2019: 2, Havryliv 2003: 32). Auch in Searles Taxonomie (1991: 221) werden diejenigen Sprechakte als expressive Sprechakte bezeichnet, die Gefühle und Einstellungen sprechender Personen zum Ausdruck bringen. Kennzeichnende Eigenschaft expressiver Lexeme besteht in ihrer Normabweichung (vgl. Bonacchi 2020: 47, Pustka 2014: 12) die auch ihren innovativen Charakter erklärt: »Während das kommunikative Prinzip somit als […] bewahrendes Moment der Sprache charakterisiert werden kann […] zielt das expressive Prinzip auf Veränderung […] und wird dadurch zu einem […] innovativen Faktor in der Sprachentwicklung« (Mair 1992: 122). Der normabweichende und innovative Faktor erklärt auch zahlreiche Neologismen im Bereich expressiv-emotiver Lexik nicht nur im Kontext aktueller Pandemie, sondern generell in Krisenzeiten, wenn die SprachträgerInnen verstärkt das Bedürfnis verspüren, die Sprache als kreatives Medium einzusetzen, um ihre negativen Emotionen abzureagieren, um durch Abwertung die Ängste abzubauen, um Distanz von der als belastend und unerträglich empfundenen Realität zu gewinnen bzw. sie erträglicher darzustellen und folglich auch so wahrzunehmen. Bei dem Gebrauch pejorativer Lexeme kann der Tabubruch zusätzlich den kathartischen Effekt verstärken. Expressiv-emotive Lexik kennzeichnet sich auch durch den ausgeprägten scherzhaften Charakter. Denn der Humor hilft, Unsicherheit, Ängste und Wut in kreative Sprachtätigkeit zu kanalisieren und abzubauen. So äußert sich die Frust über die oft notwendigen, aber unser Leben einschränkenden Maßnahmen, die von PolitikerInnen verabschiedet werden, in scherzhaften Bezeichnungen, die PolitikerInnennamen beinhalten: Ludwig-50er (auch Schnitzel-50er) – nach dem Namen des Wiener Bürgermeisters, Michael Ludwig, zur Bezeichnung des von
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der Stadt Wien eingeführten Gastro-Gutscheins, Faßmann-Abstand bzw. (liegender) Faßmann – für 2-Meter-Abstand (übertragen von der Größe des österreichischen Bildungsministers, Heinz Faßmann). Die Namen von PolitikerInnen, die mit dem Anordnen des Mund-Nasen-Schutzes in Verbindung gebracht werden, kommen in umgangssprachlichen expressiven Maskenbezeichnungen wie Merkel-Burka oder Söder-Lappen vor. Im Ukrainischen wird der Name des Präsidenten Selens’kyj in der Bezeichnung der Geldsumme von 1000 UAH (ковідна тисяча – »Covidtausender«), die an geimpfte Personen ausgezahlt wird, verwendet – тисяча Зеленського, Вовина тисяча (»Selens’kyj-Tausender«, »Vovas Tausender«)5. Als expressive Mittel werden oft stilistische Figuren: Metaphern und Metonymien eingesetzt. Ein in Corona-Diskursen häufiges metaphorisches Konzept ist mit der Metapher »Naturkraft« verbunden: Coronawelle / корона-хвиля, Erkrankungswelle / хвиля захворюваності, Infektionswelle, Pandemiewelle / пандемічна хвиля, Viruswelle, Omicron-Wand, коронацунамі (»Coronatsunami«), перша / друга хвиля (»erste / zweite … Welle«), хвиля Дельти (»Deltawelle«), хвиля »Омікрон« (»Omicron-Welle«). Im politischen Kontext ist die Metapher des Krieges bzw. des Kampfes verbreitet: die Krankheit / den Virus besiegen / перемогти хворобу / вірус, sich für die neue Welle ausrüsten / озброїтися для боротьби з новою хвилею. Diese erfüllen verschiedene Funktionen: Vor allem geht es um die Selbstdarstellung der sie verwendeten PolitikerInnen als tatenkräftig und kämpferisch; zum anderen schweißen sie die Gesellschaft zusammen (phatische Funktion), die der gemeinsame Kampf und der Sieg über den Virus zusammenhalten. Diese Funktion erfüllen z. B. Slogans Zusammen gegen Corona (Deutsches Bundesministeriums für Gesundheit6) oder Gemeinsam gegen Corona (Initiative »Österreich impft«7). Um die negative Stellungnahme gegenüber harten Anticorona-Maßnahmen auszudrücken, wird in der CoronaleugnerInnen-Szene von metaphorischen Konzepten »Diktatur«, »Faschismus«, »Nationalismus«, »Rassismus« Gebrauch gemacht: Coronadiktatur (Unwort des Jahres 2020 in Deutschland, Hygienediktatur, Coronafaschismus, Coronarassismus, Impf(stoff)nationalismus. Ähnlich drastische Metaphern werden im Ukrainischen zur Bezeichnung des Impfzertifikats verwendet: cобачий паспорт (Hundepass), аусвайс (Transliteration von »Ausweis«, wobei das Wort im Ukrainischen negativ konnotiert ist). Viele kreative expressive Bezeichnungen sind traditionell in Dialekten zu finden. Die Erklärung dafür liegt in der Tatsache – und hier sei der österreichische Kabarettist und Autor populärwissenschaftlicher Bücher über das Wiene5 »Vova« – Russifizierte Namensabkürzung von »Wolodymyr« – O. H. 6 https://www.zusammengegencorona.de/ [Zugriff am 20. 08. 2022]. 7 https://www.thalheim.at/Faktencheck_Corona_Impfung [Zugriff am 20. 08. 2022].
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rische Peter Wehle zitiert, dass der »bunte Dialekt« den SprachträgerInnen näher als die »schwarz-weiße Sprache« ist, ihr »sprachliches Zuhause« (Wehle 1980: 286) und daher »das beste Transportmittel für unsere Emotionen« (ebd.) darstellt. Außerdem finden sich in Dialekten viele Bezeichnungen für Gegenstände, die uns im Alltag umgeben. Da es momentan kaum einen Gegenstand gibt, dessen Rolle im Corona-Alltag mit der einer MN-Maske verglichen werden könnte, sind in beiden Sprachen sowie in Dialekten zahlreiche expressive Bezeichnungen dafür vorhanden8: Goschenhalder (bayrisch »Mundhalter«), Guschndeggel (sächsisch »Munddeckel«), Mauldäschle (schwäbisch »Maultasche«), Tröpferlfänger, Fetzn für’d Pappn, Fotzfetzn (Fetzen / Fetzal – »Lappen«, »Pappn« und »Fotzn« – »Mund« im Wienerischen). Den ersten Metaphern zur Maskenbezeichnung lagen in beiden Sprachen Assoziationen mit dem Hundemaulkorb (Beißkorb / намордник) und mit dem Lappen (Gesichtsfetzen, Drecksfetzen, Schnutzfetzal, dreckiger Fetzen, Pappnlappn, Meihadern, Babbellappe (letzte zwei Wörter – bayrisch und hessisch »Mundlappen«), Schnüsslappe (kölsch »Schnauzenlappe«), шмата) zugrunde. Die folgenden expressiven Maskenbezeichnungen beruhen auf dem metaphorischen Vergleich mit alltäglichen Gegenständen (Gesichtsmelitta, Seuchensegel, Wafflrollo) oder Kleidungsstücken: Meischiazal (bayrisch »Mundschürze«), Schnutenpulli (plattdeutsch »Mundpulli«), G’sichtsgwandl (Wienerisch »Gesichtskleidung«). Scherzhafte Abwertung erfolgt dank dem Vergleich mit Gegenständen aus der intimen Garderobe bzw. der Intimpflege (Fratzenschlüpfer, Pappntanga / slip, Virenbinde) oder Babypflege (Fratzenlatzerl, Gesichtwindel). Noch ein metaphorisches Konzept – Maskerade / Maskenball: (Wiener) Maskenball, маскарад, маски-шоу (»Masken-Show« – nach dem Titel einer Unterhaltungssendung im ukrainischen Fernsehen), у нас маскарад (»wir haben Maskerade«). Auch Maskenverweigerer bzw. das nicht korrekte Maskentragen werden versprachlicht: ob in Form von metonymischen Bezeichnungen (голоморді (»Nacktfressen«), Nacktnase) oder als pejorative Komposita (Maskentrottel – Personen, die eine Mund-Nasen-Maske nur über dem Mund tragen und die Nase heraushängen lassen). Infolge der erwähnten Art des Maskentragens ist auch eine expressive Bezeichnung für die hervorschauende Nase entstanden: Nasenpimmel. Neben der Maske als exemplarischem Beispiel im Themenkomplex ›Gegenstände des Pandemiealltags‹ sind im Kontext der Pandemie auch andere Themenkomplexe mit zahlreichen expressiven Bezeichnungen vertreten, von denen hier zwei Gruppen hinsichtlich ihrer lexikalisch-semantischen Besonderheiten 8 https://www.bedeutungonline.de/50-bezeichnungen-synonyme-fuer-die-maske-mund-nasen -schutz-mns-corona-covid-19/ [Zugriff am 04. 02. 2022].
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vorgestellt und in den Kontext des Wortbildungssystems jeweiliger Sprache eingeführt werden. 4.1.1 Bezeichnungen für den Virus bzw. die durch ihn verursachte Erkrankung sowie für infizierte / erkrankte Personen und Personen je nach ihrer Einstellung zur Pandemie Auf die neutralen Virusbezeichnungen wurde im Kapitel 2 eingegangen. Für pejorative Bezeichnungen der Krankheit bzw. des Virus wird im Deutschen am häufigsten das Modell mit dem pejorativen Halbaffix Scheiß- verwendet (Scheißcorona), das jedes Wort in ein Pejorativum verwandeln kann. Expressive Virusbezeichnungen finden sich in Dialekten wie dem Wienerischen (Beischelreißer / Beuschelreißer – wörtlich »Lungenreißer«, das zur Bezeichnung aller Krankheiten mit starkem Husten als Symptom gebraucht werden kann). Das im Wienerischen häufige Schaß (Unsinn, Blödsinn) wird durch Bestimmungswort Corona – Coronaschaß – zum Universalwort im Corona-Alltag (ob zur Bezeichnung von pandemiedämmernden Maßnahmen oder der Verschwörungstheorien). Die Abwertung erscheint auch in Form des gebräuchlichen Spruchs X ist ein Arschloch (»Mathe ist ein Arschloch«, »Krebs ist ein Arschloch«, »Zeit ist ein Arschloch« usw.) – Corona ist ein Arschloch. Im nächsten häufig verwendeten Spruch beobachten wir das Wortspiel (Huren – Husten): Corona ist ein Hustensohn. Im Ukrainischen sind Virusbezeichnungen in Form von expressiven Komposita häufig, die infolge der Verbindung vom Bestimmungswort корона mit anderen Krankheiten (als Hauptwort) entstanden sind: короначума (»Koronapest«), коронапошесть, короназараза (»Koronaseuche«). Die Bezeichnung кажанячка stellt ein suffixales Modell dar, das sich von кажан (»Fledermaus«) ableitet und sich auf eine der Hypothesen über die Virusherkunft (Verzehr des Fledermausfleisches) bezieht. Interessantes Beispiel für die Bezeichnung des Coronavirus im Ukrainischen stellt häufig verwendetes Wort ковідка als Feminativum dar. Es wurde nach dem Modell vorhandener Wörter zur Bezeichnung von Krankheiten (вітрянка – »Windpocken«) oder deren Symptome (гарячка, лихоманка – »Fieber«, »Schüttelfrost«) gebildet. Dank der Produktivität von Derivationsmodellen in der Wortbildung des Ukrainischen kann mit Hilfe von expressiven Suffixen eine Reihe von Bezeichnungen für den Virus gebildet werden, bei denen die Assoziationen mit anderen negativen Lexemen, die ebenfalls dieselben Suffixe aufweisen, mitschwingt: ковідище / ковидлище, ковідисько, ковідяра, ковидлота, ковідаха, ковідака (Assoziationen mit: страховище / страховисько – Ungeheuer, бомжара – Penner, підлота, сволота – Miststück, блювота – das Gebrochene, бідака –
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erbärmlicher Mensch u. a.). Das für das Deutsche typische Wortbildungsmuster der Komposition ermöglicht diese synonymische Vielfalt nicht, weshalb ukrainische expressive Corona-Neologismen in vielen Gruppen zahlenmäßig überwiegen. In der expressiven Virusbezeichnung коЗлоВiд / коЗлоВiдна хвороба, die an die Abkürzung ковід anlehnt, werden durch das Hinzufügen des Wortbildungselements зло zwei Assoziationen geweckt – mit dem gleichbedeutenden зло (»das Böse«) und durch коЗло – an козел (Russizismus zu цап (»Bock«)). In der CoronaleugnerInnen-Szene wird der Virus als барановірус (»Hammelvirus«) bezeichnet und dadurch das »Herdenverhalten« des (größeren) Teils der Gesellschaft, der sich an die Anticorona-Maßnahmen hält, angesprochen. Die Abwertung kann auch mit Hilfe von pejorativen Attributen erfolgen bzw. verstärkt werden: dieser verdammte Corona-Abfuck, das vertrottelte Virus, depperte Bazillen, verfickte / verdammte Corona, хріновий вірус, ковідка їбуча / злоїбуча. Neben den pejorativen Bezeichnungen des Virus bzw. der Krankheit können die negativen Emotionen in Form anderer aggressiver Sprechakte an die Adresse der Corona abreagiert werden, z. B. in Form von aggressiven Aufforderungen. Diese werden auch scherzhaft verwendet, wie in der Impf-Werbung der Stadt Wien, um zum Impfen zu motivieren: PUTZ DI, CORONA! Schau, dass’d weida kummst, Corona! Tschau mit Au, Corona! Die SprachträgerInnen können auch durch das Kreieren verkleinernder, verniedlichender Lexeme ihre Ängste und Anspannung abreagieren, indem sie den Virus bzw. die Krankheit als klein und unwesentlich darstellen: ковідце (»Kovidchen«), коронка (»Corönchen«), ковідятко (Assoziation mit дитятко »Kindlein«). Für Coronainfizierte werden sowohl universale Bezeichnungen, die für Personen mit jeder anderen ansteckenden Erkrankung verwendet werden (Bazillenschleuderer, im Wienerischen Bazünschleudara) als auch Corona-Neologismen wie Coronaer / коронник, ковідник gebraucht. Im Ukrainischen werden Bezeichnungen für Coronainfizierte / Coronakranke sowohl vom Stamm »ковід« als auch von ukrainischen Stämmen (зараза) nach für das Ukrainische charakteristischen Wortbildungsmodellen (Suffigierung, Präfigierung, präfixal-suffixale Modelle) gebildet: ковідник, ковідниця, ковіденя, поковіджений, заразонощенко, заражайло, ковідоносець. Bei dem letzten Wort handelt es sich um ein Suffixoid -носець (»-träger«), das nach Assoziationen mit anderen Lexemen mit demselben Suffixoid verschiedene Konnotationen hat: abschätzende – von рогоносець (»der gehörnte Ehemann«) oder ironische (in Anlehnung an прапороносець (»Fahnenträger«)).
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Derivate werden auch für erkranken (заковідитися, ковіднутися, сковідитися) und »sich in Quarantäne befinden« verwendet: карантинити, карантинитись, закарантинити / закарантинитися, перекарантинити. Die suffixalen Modelle, die in der Wortbildung des Deutschen nicht so produktiv wie im Ukrainischen sind, werden auch dementsprechend selten bei der Bildung von Corona-Neologismen verwendet: einige der wenigen Beispiele stellen Wörter wie Coronaer oder Gurgelat (Flüssigkeit nach dem Gurgeln als Testmaterial) dar. Eine Reihe expressiver Coronawörter wird dank Assoziationen mit positiven Wörtern ebenfalls positiv konnotiert wie ковідувати, перековідувати, як тобі ковідувалося (als Analogiebildungen zu колядувати / гостювати, як тобі колядувалося / гостювалося (Weihnachtslieder singen / zu Gast kommen), карантинка (Nachrichten, die während der Pandemie verschickt werden – Analogiebildung zu валентинка – »Valentinskarte«). Bei den Personenbezeichnungen ist, je nach ihrer Einstellung zum COVID-19, in erster Linie der pejorative Internationalismus Covidiot / ковідіот zu erwähnen. Mitte März 2021 wurde das Wort im Urban Dictionary festgehalten; im Deutschen und Ukrainischen ebenfalls seit März 2021 im Gebrauch. Es hat eine breite Bedeutung und bezeichnet nicht nur Menschen, die bewusst (und die Öffentlichkeit suchend) die Existenz der Erkrankung COVID-19 leugnen, an Falschinformationen oder Verschwörungstheorien zur COVID-19-Pandemie glauben bzw. diese weiterverbreiten, sondern auch Personen, die Hamsterkäufe tätigen. Während im deutschsprachigen Raum vor allem das Klopapier zum Innbegriff der Hamsterkäufe geworden war, ist im ukrainischen Kontext dazu noch der Buchweizen als häufiges Lebensmittel der UkrainerInnen dazugekommen: »Covidiot – ein Mensch, der sich nicht an die Pandemiemaßnahmen hält, sowie Toilettenpapier und Buchweizen hortet«9. Mit dem Horten von Buchweizen ist noch ein expressiver Corona-Neologismus verbunden – гречкохайп (Buchweizenhype), während макароновірус (»Nudelvirus«) exzessive Nudelvorräte thematisiert. Wie aus der Definition ersichtlich, ist für Covidiot die Ambivalenz kennzeichnend, die sich in der Existenz polarer emotiver Seme (einerseits das Leugnen des Virus, andererseits – übertriebene Angst vor ihm) innerhalb einer Bedeutung äußert (vgl. Havryliv 2003: 75ff). Der nächste Schritt in der Bedeutungsentwicklung ist die Enantiosemie – Existenz zweier polarer emotiver Bedeutungen (polarer emotiver Sememe) in der semantischen Wortstruktur (vgl. Havryliv 2003: 75ff), die wir bereits am Beispiel des Ukrainischen beobachten: – ковідіот: 1) diejenigen, die nicht an den Virus bzw. seine Gefährlichkeit glauben und Anticorona-Maßnahmen nicht einhalten; 2) diejenigen, die 9 https://slovotvir.org.ua/words/covidiot [Zugriff am 30. 03. 2022].
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übertriebene Angst vor dem Virus haben und in Panik geraten (vgl. Charchenko 2020: 106, https://www.facebook.com/mova.ukr/). Die universale Bedeutung des Wortes Covidiot / Covidioten bewirkt weitere Ausdehnung seiner referentiellen Bezüge, sodass es für alle VertreterInnen der Anticorona-Szene einschließlich der Rechtsextremen und Neonazis verwendet wird und in Bezug auf diese Gruppen als verharmlosender Begriff gilt. Neben dem Internationalismus Covidiot, der im Ukrainischen als transliteriertes Modell auftritt (ковідіот), hat sich eine synonymische Reihe entwickelt, die von ukrainischen Wortstämmen (дур – дурень, бовдур (»Dummkopf«)) gebildet ist: коронабовдур, ковідурень, ковідур, ковдур. Auch Lehnübersetzungen короніали und пандеміали (»Coronials«, »Pandemials«) weisen Synonyme auf, die durch im Ukrainischen produktives Wortbildungsmodell – die Suffigierung – gebildet sind: ковіденя, ковіденята, пандемійчик, пандемійченко, пандемійко. Den entgegengesetzten Prozess zur Pejorisierung stellt im Bereich der Bezeichnungen für den Virus sowie der an COVID erkrankten Personen die Euphemisierung dar. Im Deutschen wird am häufigsten die Abkürzung des Wortes Corona auf den Anfangsbuchstaben verwendet (C-Wort), im Ukrainischen sind Ersatzwörter це, воно, та біда, та зараза (Das, Es, diese Plage), auch модна хвороба (»moderne Krankheit«, »In-Krankheit«) oder Umschreibungen те, чого не можна називати (was nicht genannt werden darf) verbreitet. Es wird auch nach dem Prinzip der Lautähnlichkeit euphemisiert, z. B. wenn statt ковід (bzw. dem umgangssprachlichen ковідка) ковінька (»Gehstock«) verwendet wird. Die Reduktion des Tabuwortes auf null (Nulleuphemismus), die als vollkommene Form des Euphemismus gilt, beobachten wir bei перенести (überstehen) statt перенести хворобу / перехворіти (»die Krankheit überstehen«). In der Rolle von Euphemismen treten auch metaphorische Wörter und Wendungen mit Bezug zur ersten Bedeutung des Wortes корона (»Krone«) als kostbaren Haarreifes herrschaftlicher Persönlichkeiten auf: позбутися корони (»die Krone verlieren«), коронований/a, коронована особа (»gekrönt«, »gekrönte Person«); Так ти тепер коронована? І як твоя коронація? Може, пора вже скидати свою корону? (»Du bist also gekrönt? Und wie war deine Krönung? Vielleicht ist es an der Zeit, die Krone abzunehmen?«) Треба перевірити – може Ви королева (die Aussage eines Arztes: »Wir müssen überprüfen – vielleicht sind Sie eine Königin«). Einen interessanten Vorgang beobachten wir am Beispiel des Phraseologismus корона голову тисне (»Corona drückt auf den Kopf«) – den Übergang von übertragener Bedeutung (arrogante Person) zur wörtlichen Bedeutung (vom Symptom des Kopfschmerzens im Sinne »an Corona erkrankt«). Im Ukrainischen erfüllt die Euphemisierung im Corona-Diskurs vor allem eine verhüllende Funktion, was mit dem stärker ausgeprägten Aberglauben bzw.
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dem Glauben an die magische Funktion der Sprache in der ukrainischen Gesellschaft (und generell im slawischen Sprachraum) verbunden ist. Im Deutschen beobachten wir dagegen die verschönende Funktion von Euphemismen, z. B. Osterruhe – über die Verhärtung des Lockdowns zwischen dem 1. 04.–5. 04. 2021, die im Volksmund auch scherzhaft-ironische Bezeichnung Osterschlaf / Osterschläfchen bekommen hat. Das österreichische Wort des Jahres 2020 – Babyelefant – stellt ebenfalls einen verschönernden Euphemismus dar: es wurde als anschauliches Bild für den Mindestabstand im Video einer Kreativagentur der Bundesregierung verwendet. Das niedliche Symbol eines Tierbabys sollte helfen, ungewohnte soziale Distanz erträglicher zu machen. Das spektakulärste Beispiel im Paradigma euphemistischer Virusbezeichnungen im Ukrainischen stellt ein Palindrom dar: хвороба на 19 дівок (wörtlich »Krankheit der 19 Mädchen«, da »ковід« rückläufig als »дівок« (Mädchen / Genitiv Plural) gelesen wird auch на мене напали 19 дівок (»mich haben 19 Mädchen überfallen«). 4.1.2 Themenkomplex ›Impfung bzw. der Vorgang des Impfens‹ In diesem Themenkomplex sind metaphorische und metonymische Bezeichnungen verbreitet wie bei den Wörtern für die Spritze, die zur Bezeichnung der Impfung / des Impfens verwendet werden: заштрик (»Stich«), рятівний укольчик (»rettende Spritze«), укол безсмертя (»Unsterblichkeitsspritze«). Die expressiven Bezeichnungen für das Impfen / die Impfung im Deutschen wecken Assoziationen mit gespritztem Gemüse auf (Spritzung, die G’spritzten). Genimpfung thematisiert die Verschwörungstheorien über Genmanipulationen infolge des Impfens. In ukrainischen expressiven Bezeichnungen des Impfens werden auf scherzhaft-ironische Weise die Vorstellungen der ImpfgegnerInnen vom Chipen angesprochen: чіпуватися, чіпанутися, чіпікований (»sich chipen lassen«), змінити чіп на покращений (wörtlich: »Den Chip gegen einen besseren austauschen« = Booster-Dosis bekommen), готова роздавати 5G / WIFI (Bin bereit, 5G / WIFI auszustrahlen). Weitere expressive Bezeichnungen sind Schlafschafe (von Verschwörungstheoretikern über den Rest der Bevölkerung in der Überzeugung, selbst über exklusive Kenntnisse zu verfügen und den »unwissenden Schlafenden« überlegen zu sein), schlumpfen, Geschlumpfte (für »impfen« bzw. »Geimpfte« – von dem Verb schlumpfen, das in der Fernsehserie »Die Schlümpfe« popularisiert wurde und ähnlich wie dingsen jedes Verb ersetzen kann.10 Verwendet werden auch Metaphern mit Bezug auf die Drogenszene: ширка, ширнутися (ширка – salopp für die aus Mohn selbsthergestellte Droge), чистий 10 https://www.sprachnudel.de [Zugriff am 30. 03. 2022].
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(clean), кольнутися (sich stechen), бустернутися (Boosterdosis bekommen), під бустером (unter booster sein – high sein). Im Ukrainischen sind Derivationsmodelle von Impfstoff-Namen zur Bezeichnung des Impfens produktiv: астразенекнутися, пфайзернутися, модернутися, модернізуватися, коронавакатись. Interessant sind Fälle, wenn zwei Schriftarten kombiniert werden: Pfizerнута/ий, Pfizerнулась, недоPfizerити, modernута/ий, Pfizerтоксикоз (für Impfstoffnebenwirkungen). Expressive Bezeichnungen können auf Grund der Impfstoffherkunft (індійська прошивка – »indische Naht«: wegen Verwendung in Indien hergestellter Impfstoffe) oder der Lautähnlichkeit entstehen, wie im Falle von вакцинація у »Майстра Зеника« (»Impfung beim Meister Zenyk«: nach lautlicher Ähnlichkeit von »Astra« – »майстер« / »Meister«) und des abgekürzten Männernamens »Зеновій« – »Зеник« (»Zenyk«)). Die Produktivität von Derivationsmodellen im Ukrainischen erklärt auch, warum die Corona-Neologismen zahlreicher als im Deutschen vertreten sind. Denn nach spontan und aus sprachökonomischen Gründen als Lehnübersetzungen entstandenen Komposita, die nach den Regeln ukrainischer Grammatik in Form von Wortverbindungen wiedergegeben werden sollten (коронадепресія, коронаістерія, коронапаніка, коронашок, коронапсихоз – депресія / істерія / паніка / шок / психоз, спричинені короною), коронавечірка (вечірка під час епідемії корони), коронареальність, короначас, (коронавірусна реальність / час u. a.)), aktiviert die Sprache diejenigen Wortbildungsmechanismen, die für ihr Wortbildungssystem charakteristisch sind, und kreiert weitere Bezeichnungen. Neben attributiven Konstruktionen wie z. B. ковідний пацієнт statt ковід- / коронапацієнт) ermöglicht die Derivation als das im Ukrainischen produktivste Wortbildungsmodell die Bildung einer Reihe weiterer Corona-Neologismen nach suffixalen und präfixal-suffixalen Wortbildungsmustern: ковідник, ковідниця, ковіденя, ковідоносець, коронник, поковіджений, заражайло, заразонощенко.
4.2
Kontamination als produktives Wortbildungsmodell der expressiven Corona-Neologismen
Kontamination (auch »Wortkreuzung«, »Kofferwortbildung« oder »teleskopisches Wortbildungsmodell« genannt) verdeutlicht am besten die Charakteristika des Wortspiels, das auf Vertauschung, Ersetzung oder Umdrehung beruht. Sie hat sich als produktives Wortbildungsmuster im Bereich expressiver CoronaNeologismen sowohl des Deutschen als auch, noch ausgeprägter, des Ukrainischen erwiesen. Bei vielen durch die Kontamination entstandenen Wörtern steht die Sprachökonomie im Vordergrund, wobei es sich um die Kreuzung neutraler
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Wörter handelt, deren Ergebnis saloppe umgangssprachliche Corona-Neologismen sind: Coronials / короніали bzw. Pandemials / пандеміали (Corona / Pandemie + Millenials), Des is ma Covidl (Covid + Powidl – vgl. Des is ma Powidl – das ist mir wurst), Virol (Virus + Tirol, wo Anfang des Jahres 2021 neue Virusmutation auftrat), інфодемія (Infodemie: інформація / Information + епідемія / Epidemie – zur Bezeichnung von Fake-Information in Bezug auf die Pandemie, die Unruhe und Panik hervorruft), карантикули (карантин / Quarantäne + канікули / Ferien), коронтин (корона / Corona + карантин / Quarantäne), ковідономіка (Covidonomika: ковід / Covid + економіка / Wirtschaft), маскомат (Maskomat: маска / Maske + автомат / Automat – Automat zum Verkauf von Masken), ковідіворс (Kovidivorse: Covid + divorse – Scheidung als Folge des langen Zusammenseins während der Quarantäne). Verbindungen von Covid / Corona mit Wörtern mit negativen Konnotationen wie »Paranoia«, »Genozid« oder »Armageddon« ergeben expressive Wortkreuzungen Coronoia / короноя, коронойя (Corona + Paranoia), ковідоцид (Covidozid: ковід / Covid + геноцид / Genozid), коронагедон (Koronageddon: Armageddon). Infolge der Verbindung mit pejorativen Lexemen wird der expressive Charakter verstärkt: – локдець, карантець (локдаун, карантин / Lockdown bzw. Quarantäne + капець / пиздець – salopp bzw. abwertend »kaputt«), – ковігіст (ковід + пофігіст: пофіг – »es ist mir Wurst«, пофігіст – der Mensch, dem es (alles) Wurst ist). Scherzhafter Umgang mit den Herausforderungen des Pandemiealltags ist in Nominationen wie ковіджитсу (Covid-Jitsu: ковід + джіу-джицу / Jiu Jitsu – die Kunst, den unliebsamen Nachbarn / Feind mit Corona anzustecken) oder Quarantini / карантіні (Quarantäne / карантин + Martini / мартіні – alkoholische Cocktails, die während der Lockdowns zu Hause gemischt und genossen wurden) sichtbar. Die produktivsten Modelle der Wortkreuzung stellen Verbindungen vom Anfang eines gekürzten Wortes mit dem Ende eines anderen dar: Coronials / короніали bzw. Pandemials / пандеміали (Corona / Pandemie + Millenials), ковісидент (Covissident: ковід / Covid + дисидент / Dissident). Seltener kommt es zur Kreuzung eines vollen Wortes mit einem abgekürzten: – Querquengler (Quer als Abkürzung von Querdenker + Quengler), – карантьє (Quarentier: карантин / Quarantäne + рантьє / Rentier – Hundebesitzer, der seinen Hund gegen Entgelt für Spaziergänge zur Verfügung stellt), – віруспруденція (Virusprudentia: вірус / Virus + юриспруденція / Jurisprudentia – das Ansteigen privaten Interesses für den Schutz eigener Rechte während der Pandemie (vor allem im Bereich des Arbeitsrechtes).
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Auch Wortkreuzungen zweier vollständiger sich teilweise im Wortlaut und in der Schreibweise überlagernder Wörter kommen vor: ковідео (Сovideo: ковід / Covid und відео / Video). Einen besonderen Fall der Wortkreuzung stellen Beispiele dar, wenn ein vollständiges Wort auf ein anderes appliziert wird und auf Grund der Lautähnlichkeit dessen Teil ersetzt, z. B.: – Alleinnachten (allein wird auf Weihnachten appliziert), – зазумлення ( зум / zoom wird auf замемлення / Erdung appliziert), – зумбі (зум – transliteriert zoom wird auf зомбі / Zombie appliziert), – лохдаун (лох / Trottel wird auf локдаун / Lockdown appliziert), – маскобісся (маска / Maske wird auf мракобісся / wörtlich »Teufelsfinsternis« appliziert), – факцина, факцинатори (Fuckzine, Fuckzinator: fuck wird auf »вакцина« bzw. »вакцинатор« / Vakzine, Vakzinator appliziert). In der sprachwissenschaftlichen Literatur herrscht Uneinigkeit bezüglich unterschiedlicher Gruppen innerhalb der Wortkreuzung sowie Abgrenzung zu anderen Wortbildungstypen. Es gibt keine scharfen Trennlinien, den Übergang vom zusammengesetzten Lexem zur Kontamination sehen wir deutlich am Beispiel des Wortes ковідопофігіст (ковід + пофігіст) – ковігіст. Die fließenden Grenzen können auch an folgenden Wörtern veranschaulicht werden: formal handelt es sich um suffixale Modelle, auf der inhaltlichen Ebene sind aber Bezüge zu anderen Wörtern mit demselben Suffix sichtbar, weshalb die Neologismen als Folge der Kontamination dieser Wörter betrachtet werden können: коронавт, ковідонавт / Coronaut (космонавт / Kosmonaut) – Arzt in Schutzkleidung, ковiдолiк (Covidoliker: алкоголік / Alkoholiker), ковідько (дідько / Teufel), ковидло, ковідло (страшидло / Ungeheuer, бидло / Pöbel), ковідарій (Codidarium: гербарій / Herbarium), ковідіант, ковідіанти (Covidiant: комедіант / Komiker) – PolitikerInnen, die Coronasituation zum Selbstpräsentieren ausnutzen), ковідарня / ковідярня, ковідятник (Bezeichnung für Corona-Stationen bzw. Krankenhäuser sowie menschenüberfüllte öffentliche Orte; Assoziationen zu »лікарня« / Krankenhaus und »мавпятник« – wörtlich »Affenhaus« als pejorative Bezeichnung für »temporärer Haftisolator«). Wie bei allen aktuellen gesellschaftsrelevanten Themen, die zu Polarisierungen führen, treten im Pandemievokabular antonymische Paare (cвідки корони (Coronazeugen – Analogiebildung zu свідки Єгови / Zeugen Jehovas), ковідні атеїсти (Covid-Atheisten)) und antonymische Reihen auf: Einerseits: коронафренія, ковідофренди, ковідофрени (Coronafreundschaft, Coronafreunde), коронаентузіасти (Coronaenthusiasten – für Personen, die übertrieben von der Gefährlichkeit des Virus überzeugt sind), andererseits: ковідіот, коронавідіот (Covidiot, Coronavidiot), пласкоземельці (wörtlich: »Flacherdler«, d. h. Perso-
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nen, die an die Theorie der flachen Erde und andere Verschwörungstheorien glauben), Aluhut, Aluhutträger (ebenfalls zur Bezeichnung von Anhängern der Verschwörungstheorien).11
4.3
Reime
Sprachliche Kreativität äußert sich auch in Reimen (у них там і корона, і ворона – Reim »korona i vorona« – wörtlich: »Da herrscht Corona und Rabe« – über Durcheinander, Unordnung, die oft mit Pandemiesituation rechtfertigt werden) und Wortspielen auf der Ebene einzelner Phraseologismen: – Des is ma Covidl (von Des is ma Powidl – Wienerisch »Es ist mir wurst«); – Вірусяку на гілляку (wörtlich: »Den Virus – auf den Ast« von: »Комуняку / москаляку на гіляку« – »Den Kommunisten / Saurussen – auf den Ast«); – Най би його ковідка трафила (von der Verwünschung »Най би його шляк трафив« – »Der Schlag soll ihn treffen!«). Eine besondere Art des Wortspiels stellen Corona-Reime dar, die in Anlehnung an traditionelle ukrainische Weihnachtsglückwünsche (»вінчування«) gebildet sind. Um ihre volkstümliche Färbung wiederzugeben, wurde eins von vielen Beispielen mit einem Wiener Einschlag ins Deutsche eigenübersetzt: Ковід-ковід-ковідниця, гарна в масці молодиця. А без маски не така, дайте антисептика! Covid – Covid – Covidlein, Ist die Frau in Maske fein. Ohne Maske sag i: Geh, gebns ma den Desinfekrionsspray!12
11 Die Bezeichnung geht auf die 1927 veröffentlichte Science-Fiction-Geschichte The TissueCulture King von Julian Huxley zurück, deren Protagonist die Entdeckung macht, dass Kopfbedeckung aus Metallfolie die Effekte von Telepathie blockieren kann. Seither wird der Begriff mit Paranoia und Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht; da diese während der Corona-Pandemie ihre Blütezeit erleben, kam es auch zum häufigen Gebrauch dieses Wortes. 12 Übersetzt von Oksana Havryliv.
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Auch Osterreime sind verbreitet13: Зайчик тепер в масочці Щоб дожить до Пасочки. Um Ostern zu feiern Hat der Hase Eine Maske auf der Nase. Той, хто носить масочку Буде їсти пасочку! А хто масочку не носить Того шестеро виносять. Möchtest schöne Ostern haben Musst auch du die Maske tragen! Wirst auf sie jedoch verzichten Dann bekommst du Sarg aus Fichte.
5.
Zusammenwirken des Corona- und des Kriegsdiskurses
Zum Schluss sei hier die im Vorwort erwähnte schlagartige Verdrängung der Corona-Thematik durch die Kriegsthematik (die vor allem für das Ukrainische kennzeichnend ist) sowie das Zusammenwirken beider Diskurse angesprochen. Dieses Zusammenwirken wird an zwei Beispielen aus den geteilten FB-Postings veranschaulicht: – Die Bezeichnung Вовина тисяча (Vovas Tausender) bzw. тисяча Зеленського (Selens’kyjs Tausender) hat im aktuellen Kriegskontext eine übertragene Bedeutung bekommen – zur Bezeichnung der an einem Tag vernichteten feindlichen Soldaten: 9 днів – 9 тисяч рашистів, в день по тисячі. Така Вовина тисяча мені більше подобається (9 Tage – 9 Tausend Raschisten14, Tausend täglich. Solcher Vovas Tausender gefällt mir besser). – А ковід пішов на@уй, як той корабель … (»Der Covid hat sich wie dasjenige Schiff gefickt …«). Gemeint ist die berühmt gewordene Aufforderung als spontane Antwort der ukrainischen Soldaten von der Schlangeninsel, nachdem das russische Militärschiff zum Aufgeben aufrief: Русский военный корабль, иди нахуй / russisches Militärschiff, fick dich doch selber! Diese Äußerung, die die Tapferkeit ukrainischer Verteidiger verkörpert, wurde zum Symbol des Widerstands und des Kampfes ukrainischen Volkes gegen die russischen Okkupanten, fand als Internet-Meme schnelle Verbreitung und trug zum Zusammenhalt der UkrainerInnen bei (phatische Funktion). 13 Übersetzt von Tymofiy Havryliv. 14 Wortkreuzung aus »Russia« und »Faschisten«.
48
6.
Oksana Havryliv
Zusammenfassung und Ausblick
Die Krisenzeiten stellen nicht nur für die SprachträgerInnen, sondern auch für die Sprache eine Herausforderung dar und können die Sprachentwicklung sowohl positiv beeinflussen als auch die existierenden Sprachnormen aus dem Gleichgewicht bringen. Am Beispiel des Deutschen und des Ukrainischen lässt sich sehen, dass beide Sprachen dieser Herausforderung gewachsen sind: Die neuen Realien und Sachverhalte bekamen nicht nur neutrale Bezeichnungen, sondern auch umgangssprachliche, saloppe und pejorative, die es ermöglichen, über die Pandemie auf verschiedenen Stilebenen zu kommunizieren – von der sachlichen Berichterstattung bis zur expressiv-emotiven Kommunikation im privaten Kreis. Linguokreative Tätigkeit der SprachträgerInnen, die sich insbesondere auf der Ebene expressiv-emotiver Lexik äußert, zeigt, wie flexibel die Sprache ist, wie gut sie sich an die neue Realität anpasst und es uns ermöglicht, nicht nur die neuen Sachverhalte zu benennen, sondern diese auch abzuwerten, unsere Emotionen in Bezug auf die als belastend empfundene Pandemierealität abzureagieren, sie durch Auslachen erträglicher zu gestalten und folglich auch so wahrzunehmen. Sowohl das Deutsche als auch das Ukrainische haben bei der Bildung von Corona-Neologismen generell und im Bereich der expressiv-emotiven Lexik im Einzelnen ihre produktiven Wortbildungsverfahren aktiviert (Zusammensetzung im Deutschen, Derivation im Ukrainischen), weshalb die Corona-Neologismen natürlich ins Wortbildungssystem jeder Sprache eingegangen sind. Im Bereich expressiv-emotiver Lexik hat sich auch die Kontamination als produktives Wortbildungsmodell erwiesen, wobei Beispiele aus dem Ukrainischen zahlreicher als im Deutschen sind. Der nächste Unterschied besteht darin, dass im ersten Zuge der Bildung von Corona-Neologismen im Ukrainischen die Komposition als das für diese Sprache untypische Wortbildungsmodell verwendet wurde und die auf diesem Wege entstandenen Wörter im Weiteren eine Reihe von Synonymen bekamen, die nach produktiven präfixalen, suffixalen und präfixal-suffixalen Modellen gebildet wurden. Diese Besonderheit erklärt auch, warum im Paradigma mancher Bezeichnungen für Realien und Sachverhalte des Pandemiealltags die ukrainischen Corona-Neologismen über die deutschen zahlenmäßig dominieren. Wegen zeitlicher Überschaubarkeit der Pandemie können wir Zeugen eines vollen »Lebenszyklus« neuer Wörter werden: vom Okkasionalismus / Neologismus zum allgemeingebräuchlichen Wort und schließlich zum Historismus. Nach der Pandemie werden viele Neologismen den alltagssprachlichen Gebrauch verlassen und in den Hintergrund unseres Vokabulars treten, da auch die Realien und Sachverhalte, die sie bezeichnen, aus unserem Alltag verschwinden werden. Als Historismen werden sie unsere Erinnerungen an die Zeit der Pandemie mit
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ihren Einschränkungen, veränderten Umgangsformen, neuen Gegenständen hochleben lassen: Coronagruß, Einfreundregel, Einkaufswagenpflicht, ковідео, маскомат, карантьє u. a. Auch literarische Texte bzw. Filme könnten diejenigen Sphären sein, wo diese Lexik weiter funktionieren würde. Die anderen Neologismen könnten dagegen längerfristig in unseren Wortschatz eingehen (інфодемія / Infodemie) bzw. ihre Bedeutung ändern.
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Oksana Havryliv
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Joanna Woz´niak (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu)
Wir sitzen alle im gleichen Boot. Die Rolle idiomatischer Phraseme in der Dynamisierung von Diskursen. Am Beispiel des COVID-19-Diskurses
Abstract Wir sitzen alle im gleichen Boot. The Role of Idioms in the Development of Discourses. On the Example of the COVID-19 Text Corpus Despite the emphasis in phraseological and discourse literature on the discursive role of idioms, previous discourse analytical approaches have mainly focused on the epistemological aspect of texts as a whole. Even metaphor, which has been given much space in discourse analysis, is mainly one-word, not phraseological. The paper aims to show that idiomatical phrasemes have significant potential in socially relevant discourses. Using the idiom Wir sitzen alle im gleichen Boot (We are all in the same boat) and its modifications as an example, I would like to illustrate how idiomatic phrasemes are used in German COVID-19 discourse, what function they can fulfil and what stylistic procedures they are subject to. Keywords: idiom, modification, linguistic discourse analysis, linguistic worldview Schlüsselwörter: Idiom, Modifikation, linguistische Diskursanalyse, sprachliches Weltbild
1.
Einführung
Das zunehmende Interesse an korpusbasierter Forschung – auch an der Untersuchung von Phrasemen im Diskurs (vgl. Bubenhofer 2009, Evert 2005) – hat ein neues Licht auf den Untersuchungsgegenstand der phraseologischen Disziplin geworfen. Idiome – bisher prototypische Einheiten – sind in der Diskurs- und Korpusforschung an den Rand gedrängt, stattdessen ist Kollokationen und pragmatischen Phraseologismen der Vorzug eingeräumt worden. Wichtige phraseologische Merkmale wie Polylexikalität und Stabilität wurden relativiert, und Idiomatizität wurde durch den umfassenderen Begriff idiomatische Prägung ersetzt (vgl. Feilke 1993). Angesichts der terminologischen Unschärfe haben einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihren Analysen den Begriff der Formelhaftigkeit als angemessener im Vergleich zum Begriff der Phraseologizität betrachtet (vgl. Stein 2018). Zwar sollte dieser Wandel nicht als Bedro-
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hung für die Phraseologie interpretiert werden – schließlich spiegeln diese Verschiebungen durchaus die pragmatische Wende in der linguistischen Forschung wider, es lässt sich aber angesichts der fortschreitenden Forschung, die die Diskurslinguistik einerseits und die Phraseologie im weiteren Sinne andererseits miteinander verbindet, eine Lücke erkennen, die sich gerade auf Idiome und ihre Bedeutung für die Diskursbildung bezieht. Das Schließen der Lücke ist umso mehr empfehlenswert, wenn man den zunehmenden Einfluss des Kognitivismus in der linguistischen Forschung und das wachsende Interesse an der konzeptuellen Metapher (vgl. Lakoff/Johnson 1988) sowie den unschätzbaren kulturellen Wert berücksichtigt, der zusammen mit der Verwendung von Idiomen in Texten und im Diskurs umgesetzt wird. Daher wird in diesem Beitrag der Fokus auf die Rolle und Funktion von referentiellen idiomatischen und teilweise idiomatischen Phrasemen im Sinne von Burger (2015: 31) im Diskurs gelegt. Ohne weitere Differenzierung bleibt die Frage der Abgrenzung zwischen satzwertigen und satzgliedwertigen Phrasemen. Ein Phrasem wird hier nach Naciscione (2010: 8) eng als eine stabile, kohärente Kombination von Wörtern mit ganz oder teilweise figurativer Bedeutung verstanden. Die Stabilität ergibt sich aus der inneren Kohärenz zwischen den Komponenten, der Bedeutung und der Motivation (vgl. Naciscione 2010: 32). Der Bedeutung eines Phrasems liegt nämlich eine bestimmte begriffliche Struktur zugrunde, die Spuren des der lexikalisierten Bedeutung konstituierenden Bildes enthält. Diese Spuren schaffen motivierende Verbindungen.
2.
Diskursiver Ansatz in der Phraseologieforschung
Diskurs als theoretisches Konzept integriert die Sprache und das gesellschaftliche Wissen, lässt sich aber »weder auf die Seite der Sprache noch auf die Seite des Wissens reduzieren« (Busse 2013: 35). Als praxisorientiertes Konzept im Sinne von Spieß (2013) wird er als »eine Ansammlung von Texten und Aussagen verstanden, die einer gemeinsamen Wissensformation angehören und dementsprechend stark vernetzt sind« (Spieß 2013: 322). Diskurse sind also »offene Menge von thematisch zusammenhängenden und aufeinander bezogenen Äußerungen« (Adamzik 2004: 254). Sie entstehen meistens im öffentlichen Raum und werden in und durch Massenmedien verbreitet. Eine Diskursanalyse hilft, ein Bild der Realität und der Ideen, Weltanschauungen und Werte zu gewinnen, die das menschliche Kommunikationshandeln beeinflussen (vgl. Piekot 2006: 31). In Diskursen ist die Polarisierung der Standpunkte viel intensiver als in anderen Kommunikationssituationen, was sich unmittelbar auf den Prozess der subjektiven Profilierung der Wirklichkeit auswirkt. Bei der Entstehung von Diskursen spielen unterschiedliche stilistische Mittel eine Rolle. Sie helfen, einen
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Text zu interpretieren und zu bewerten, indem sie die semantischen und stilistischen Zusammenhänge erfassen. Eins davon sind Phraseme, insbesondere idiomatische bzw. metaphorische. Für Römer (2018: 147) stellen »feste (idiomatische) Wortverbindungen aufgrund ihrer strukturellen, semantischen und pragmatischen Eigenschaften eine diskursanalytische Kategorie par excellence« dar. Durch den Phrasemgebrauch erfolgt die sprachliche Konstruktion von Wirklichkeit und auch in Phrasemen kondensiert sich gesellschaftliches Wissen (vgl. Römer 2018: 147). Diese Eigenschaften von Phrasemen scheinen auch die Phraseologen zu sehen. Daher erfolgen die Phrasemanalysen in Textexemplaren immer häufiger im Blick auf einzeltextübergreifende Phänomene wie Diskurse (vgl. Stein 2018).
3.
Text- und Diskursfunktionen von idiomatischen Phrasemen
In medialen Kontexten, vor allem im Pressediskurs, werden Phraseme aller Klassen für verschiedene Zwecke gebraucht. In Bezug auf Idiome stellt Pstyga (2020: 107) fest, dass sie in einer konkreten Äußerung ein breites Spektrum an Möglichkeiten für ihre Anwendung in der Textstruktur aufweisen, indem sie die konnotative und axiologische Sphäre aktivieren und so die Vermittlung zusätzlicher Inhalte sowie die Schaffung von Subtexten ermöglichen. Richtig ausgewählt werden sie zum semantischen Kern einer Äußerung und bestätigen ihre Rolle bei der Organisation des Textes und der Konstruktion der Medienrealität. Fasst man die verschiedenen Funktionen von Idiomen zusammen (vgl. u. a. Sandig 1989, Fleischer 1997, Błachut 2007, Pociask 2007), können die folgenden als die wichtigsten aus der Sicht der polemischen und argumentativen Texte angesehen werden: – Sie stellen einen engeren Kontakt zwischen Autoren und der Leserschaft her und betonen soziale Zusammengehörigkeit. – Mit ihrer Hilfe kann sich der Autor distanzieren. – Sie tragen zur Nuancierung der Bedeutung bei. – Sie werden zwecks Ironisierung der Äußerung gebraucht. – Sie haben einen Motivierungseffekt für Rezipienten zum Weiterlesen, wecken die Aufmerksamkeit der Lesenden und halten sie dann wach. – Sie stellen Sachverhalte emotional dar und dienen der engagierten Stellungnahme oder Kritik. – Sie veranschaulichen und vereinfachen schwer durchschaubare Zusammenhänge ohne Sachverhaltsreduktion. – Sie verdeutlichen die Argumentation oder gelten als überzeugende Pointe. – Sie fordern die Zustimmung bzw. die Gegenpositionen von dem Rezipienten heraus.
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In Diskursen, die als eine Menge von thematisch gebundenen (auch polemisch-argumentativen) Texten zu verstehen sind, ergibt sich die eigentliche diskursive Funktion eines Idioms erst mit seiner mehrfachen Wiederholung in neu entstehenden Texten. Für die Analyse von Idiomen im Diskurs ist also ihre Reproduzierbarkeit von Bedeutung. Wie bei den Metaphern erhöht das Vorkommen eines Idioms in einem Text die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung dieses Idioms in nachfolgenden Texten. Die Wahrscheinlichkeit wächst, wenn das Idiom durch einen bedeutenden Diskursakteur gebraucht wird. So entstehen sog. saliente Sätze: Bei salienten politischen Sätzen handelt es sich in aller Regel um satzförmige Aussagen, die von herausgehobenen Sprecher/innen in politisch brisanten Situationen getätigt werden und anschließend im Zuge einer »Zitierkarriere« […] in das kollektive Gedächtnis bzw. das sprachlich gebundene Wissen der betreffenden Sprachgemeinschaft eingehen. (Stumpf/Kreuz 2018: 105)
Wie Chlebda (2010: 17f.) betont, geht es bei der diskursiven Wiederholung der Idiome nicht um das mechanische Kopieren etablierter Formmuster. Jeder Akt des Sprachgebrauchs findet in einem situativen Kontext statt, der sich von dem vorhergehenden unterscheidet, sodass jede Reproduktion ein Element der Produktion, der Schöpfung, der innovativen Verwendung oder der Anpassung an die Einzelheiten eines neuen situativen Kontextes enthält. Die Reproduktion kann formal mit dem Original kongruent sein oder auch nicht (vgl. Chlebda 2010: 18). Die kanonische Form eines Idioms, auch wenn sie auf eine kleine Spur reduziert ist, stellt einen Kern dar, eine Basis, die an den grundlegenden Sinn und eine bestimmte Gebrauchssituation mit Konnotationen erinnert. Durch den innovativen Gebrauch bzw. die Modifikation erhält das Idiom eine neue Umhüllung und vermittelt eine neue Qualität (vgl. Pstyga 2020: 117). Um den Terminus Modifikation zu erklären, schließe ich mich der Meinung von Pfeiffer (2018) an, der ihn in Anlehnung an Ptashnyk (2009) folgenderweise definiert hat: 1) Nicht-Usualität bzw. Okkasionalität der Phrasemstruktur, Phrasemsemantik und/ oder -pragmatik; 2) Intentionalität der Abweichung von einer usuellen Gebrauchsweise sowie 3) mehr oder weniger starke Bindung der spezifischen Gebrauchsweise an einen bestimmten Text oder Kontext (Pfeiffer 2018: 51, mehr zu Modifikationen vgl. u. a. Ptashnyk 2009: 75).
Die Publizisten greifen in Anbetracht der sprachlichen Erfahrung des potenziellen Publikums auf bekannte Idiome in neuen Kontexten zurück, nutzen ihre konnotativen, emotionalen und assoziativen Eigenschaften und modifizieren sie entsprechend den aktuellen kommunikativen Bedürfnissen. Die Identifizierung von Idiomen und damit die richtige Interpretation innerhalb einer bestimmten
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Textaktualisierung setzen voraus, dass man auf ein gemeinsames Gedächtnis und ein gemeinsames Wissen über die Welt zurückgreift (vgl. Pstyga 2020: 114). Es kann vorkommen, dass ein Idiom durch seine reiche Tradition, seinen Bedeutungswert und darüber hinaus durch die Tatsache, dass es von einem wichtigen Diskursakteur verwendet wird, zu einem Leitmotiv des Diskurses wird. Eine solche Rolle spielte im COVID-19-Diskurs die sprichwörtliche Redensart Wir sitzen alle im selben Boot.
4.
Das Phrasem Wir sitzen alle im selben Boot in Nachschlagewerken
Das Phrasem Wir sitzen alle im selben Boot wird auch in seinen Varianten Wir sitzen/befinden uns in einem Boot/im gleichen Boot realisiert. Es wurde aus dem Englischen to be in the same boat entlehnt. Duden 11 (2013) gemäß bedeutet das Phrasem, dass man gemeinsam mit anderen in derselben schwierigen Lage ist. Im Redensartenindex1 wird die Definition um eine zusätzliche Bedeutungsschicht ergänzt, und zwar gleiche Interessen haben. Schemann (1991) ordnet das Phrasem der Gruppe ›Übereinstimmung‹ zu und platziert es neben solchen Formeln wie einer Meinung sein; sich einig werden; einen gemeinsamen Nenner finden; am gleichen Strang ziehen; in dasselbe Horn tuten. Im Wörterbuch der Symbole von Kopalin´ski (1990) wird das Boot als Schicksal definiert und das auf dem Boot-Symbol aufbauende Phrasem als sein Glück und Unglück mit anderen teilen. Es wird hier auch auf die antike ursprüngliche Fassung des Phrasems in eadem navi hingewiesen. Viel wichtiger als die Wörterbuchdefinitionen ist aber der dem Phrasem zugrundeliegende Topos und die damit verbundenen Konnotationen. Die Schiffsmetaphorik im Allgemeinen ist schon in der Antike präsent, sowohl in den Briefen und Schriften der antiken Philosophen als auch in der biblischen Tradition, wie z. B. die Arche Noah, die die Menschheit rettet (mehr zur Schiffsmetaphorik vgl. Schuppener 2020). Das Schiff hat auch einen reichen Symbolgehalt, dank dem es oft Spender des metaphorischen Bildes ist. Schuppener (2020: 18) gemäß [schafft] [d]ie Begrenztheit des Schiffes […] einerseits eine aufeinander angewiesene Gemeinschaft, die aber andererseits durch die Umgebung den Fährnissen äußerer Einflüsse ausgesetzt ist, die grundsätzlich existenzbedrohend sein können. (Schuppener 2020: 18)
1 https://www.redensarten-index.de/suche.php [Zugriff am 31. 01. 2023].
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Hohe Anschaulichkeit der Metaphorik, die bekannten Traditionen und Topoi, auf die die Boot- und Schiff-Phraseme wie Wir sitzen im selben Boot, Das Boot ist voll, mit ins Boot holen zurückführen sowie ihre somit verbundene starke Prägnanz haben zu Folge, dass sie leicht zu Phrasemen werden (vgl. Schuppener 2020: 18). Wirrer (2007) betont, dass eine Affinität zwischen bestimmten Topoi einerseits und bestimmten Phraseologismen andererseits besteht oder m. a. W.: außer mit freien Verbindungen werden die durch die formalen Topoi vorgegebenen Strukturmuster überzufällig häufig vermittels bestimmter Phraseme sprachlich realisiert. (Wirrer 2007: 181)
Der Gedanke des gemeinsamen Bootes wurde in der langen Geschichte der politischen Schiffsmetaphorik von der Antike bis ins 20. Jahrhundert mehrfach wieder aufgegriffen. Seine Ursprünge finden sich in den Schriften von Aristoteles und Cicero (vgl. Peil 1986). Die metaphorische Standortbestimmung in einem/im selben Boot ist ein Hinweis auf eine Notgemeinschaft, deren Mitglieder aufeinander angewiesen und deshalb schon aus Eigennutz zu solidarischem Handeln verpflichtet sind. Das Wohlergehen des einzelnen hängt von der sicheren Fahrt des Schiffes ab und damit auch vom Wohlergehen aller übrigen Mitreisenden. (Peil 1986: 274)
Das Phrasem verweist also auf die Situationsgleichheit der Betroffenen und »enthält (zumindest latent) auch einen Solidarisierungsappell« (Peil 1986: 275). Angesichts des reichhaltigen Inhalts, des Konnotationsgehalts und auch der Tradition seiner Verwendung in Diskursen wird im Folgenden gezeigt, wie das Idiom in dem deutschen Presse- und Online-Diskurs über die COVID-19-Pandemie verwendet wurde.
5.
Wir sitzen im selben Boot im COVID-19-Diskurs
Das gewählte Thema hat in den Jahren 2020–2021 alle Bereiche des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens beherrscht. Die Pandemie hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Bürger in der ganzen Welt und daher Emotionen und Kontroversen ausgelöst. Der COVID-19-Diskurs kann durchaus als Krisendiskurs kategorisiert werden. Daher können metaphorische Konstruktionen und Idiome dabei eine wichtige Rolle spielen. In der folgenden Studie wird nur das Idiom Wir sitzen alle im selben Boot untersucht.
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5.1
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Allgemeines zum Korpus und zur Suchmethode
Zur Analyse der Frequenz und der kontextuellen Einbettung des Phrasems wird das Corona-Korpus des DWDS gewählt. Er umfasst »Texte deutscher Webseiten, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus (Medizin, Politik, Philosophie, Gesellschaft) mit der COVID-19-Pandemie beschäftigen und die ab dem Jahr 2018 erschienen sind«.2 Es beinhaltet Texte aus Tages- und Wochenzeitungen, Magazinen und Online-Magazinen, Nachrichtenquellen, Texte aus Fachpublikationen und (in kleinerem Maße) Texte von politisch einseitigen Webseiten sowie weitere Online-Quellen (Blogs und Podcasts). Das Korpus besteht insgesamt aus 71282 Dokumenten, 3075149 Sätzen und ca. 50 Millionen Tokens. Als Suchlexem wird zuerst die nominale Komponente *boot* in die Suchmaschine eingegeben. Die voran- und nachgestellten Sternchen ermöglichten auch Kompositionen mit dem Nomen Boot zu finden. Die Suche ergibt insgesamt 1017 Treffer mit dem gesuchten Lexem. Nach einer oberflächlichen Analyse der Kontexte lässt sich feststellen, dass unter den 1017 Treffern neben dem gesuchten Phrasem auch Phraseme jemanden mit ins Boot holen oder das Boot ist voll vorkommen. Das Lexem Boot wird auch nicht phraseologisch gebraucht. Deswegen wird die Suche auf zwei phraseologische Komponenten reduziert: sitzen und Boot und die Anfrage wie folgt formuliert: sitzen && *Boot*. Die weitere Suche ergibt 180 Treffer, die anschließend manuell überprüft werden. Da sich einige Texte im Korpus wiederholen, zählt das endgültige Untersuchungskorpus 118 Texte, 41180 Tokens 34638 Wörter und 2277 Sätze. Das Korpus wird weiter mithilfe von Sketch Engine abgefragt.
5.2
Ergebnisse
Das Phrasem Wir sitzen im selben Boot wird in dem Korpus von unterschiedlichen Diskursakteuren gebraucht, u. a. durch Politiker, Vertreter der Weltgesundheitsorganisation, Ärzte und Psychologen, Journalisten, Unternehmer, Künstler, den Papst, Sportler und Trainer sowie Philosophen. Auch das in dem Phrasem vorkommende Pronomen wir wird in den analysierten Kontexten unterschiedlich aktualisiert. Als wir gelten u. a. Banken und Fintechs, Gesellschaft und Staat, Bürger und Politik, Menschen in Europa / Menschheit, der Schütze des goldenen Tors von Rio, Arbeiter*innen, Kapitalisten und Lohnabhängige u. a.
2 https://www.dwds.de/d/korpora/corona [Zugriff am 31. 01. 2023].
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Abb. 1: Auszug aus Sketch Engine für das Teilkorpus mit dem Idiom Wir sitzen alle im selben Boot
5.2.1 Aktualisierung der Grundbedeutung Bevor die Entwicklung und die Rekontextualisierungen des Phrasems im Diskurs untersucht werden können, muss sein erstes Auftauchen im Diskurs und sein primärer Autor ermittelt werden. Der Funke, der die Entstehung und Etablierung des Phrasems im COVID-19-Diskurs auslöste, lässt sich auf eine Erklärung der Weltgesundheitsorganisation vom 30. Januar 2020 zurückführen, die einen Tag später in vielen Zeitungen abgedruckt wurde. (1)
Noch sei die Zahl der Infektionen außerhalb Chinas relativ gering, sagte WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus am Donnerstagabend nach der Sitzung eines Expertenausschusses. Aber man wisse nicht, welchen Schaden das Virus in einem Land mit einem schwachen Gesundheitssystem anrichten würde. »Wir sitzen alle im selben Boot«, sagte Tedros. Das Virus könne nur gemeinsam aufgehalten werden. »Das ist die Zeit für Fakten, nicht Angst.« Der Notstand heißt offiziell »gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite«. (Handelsblatt, 31. 01. 2020)
Mit dem Phrasem wird durch die WHO eine Argumentation in der CoronaPolemik begründet. Sie lässt sich folgenderweise erklären: Wir sitzen alle in einem Boot Interpretation der dem Phrasem zugrundliegende Idee Präsupposition Schlussfolgerung Ein Gewässer (wie Meeres- oder Ozeange- 1) Wenn man gemeinsam mit anderen in wässer) bzw. das Reisen durch das Gewäseinem Boot sitzt, so ist die Lage für alle ser ist gefährlich, solange man sich nicht in identisch. einem sicheren Wasserfahrzeug (wie Boot 2) Wenn man in einem sicheren Wasseroder Schiff) befindet. fahrzeug (Boot) sitzt, soll man darauf achten, dass das Boot nicht umkippt oder versinkt und dafür sind alle Passagiere verantwortlich.
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(Fortsetzung) Wir sitzen alle in einem Boot Interpretation der dem Phrasem zugrundliegende Idee Interpretation des Phrasems im COVID-19 Diskurs Die COVID-19-Pandemie ist ein gefährli- Wir (alle Menschen der Welt) sind in derches Gewässer. selben (schlechten) Lage. Die Menschen reisen dadurch auf einem gemeinsamen Boot. Die Passagiere sind darin sicher, solange sie sich vernünftig verhalten und die Regeln beachten. Tab. 1: Diskursive Interpretation des Phrasems Wir sitzen alle in einem Boot
Das zum Ausdruck gebrachte Argument und das darin verwendete Phrasem haben einen Schneeballeffekt ausgelöst. Die Argumentation wird nach und nach von anderen Diskursakteuren wiederholt. Zuerst in einer affirmativen Art und Weise, wie im Beleg (2) vom Anfang März 2020. Der WHO-Regionaldirektor betont in seiner Äußerung die Gemeinsamkeit der Lage und den sich daraus ergebenden präsupponierten Solidaritätsappell auf zweifache Weise, indem er noch vor dem Phrasem Wir sitzen alle im selben Boot die phraseologische Zwillingsformel Schulter an Schulter (gemeinsam) anwendet. (2)
Durch unsere 30 Länderbüros arbeiten wir Schulter an Schulter mit den Gesundheitsministerien, aber auch ressortübergreifend und mit allen Teilen der Gesellschaft. Zur Unterstützung der Länder Zentralasiens, des Balkans und der südlichen Kaukasusregion haben wir Experten entsandt. Wir sitzen alle im selben Boot.3 (WHO-Seite, Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa Kopenhagen, 2.–3. 03. 2020)
In zahlreichen anderen Belegen wird der Kern des Phrasems, nämlich das Boot, häufig um adjektivische Attribute oder Angaben wie geopolitisch oder planetarisch erweitert, um das Ausmaß der Schwierigkeiten und ihre weltweite Tragweite zu verdeutlichen: (3)
(4)
[Die Märzwoche des Beethovenfestes Bonn] musste abgesagt werden. […] »Ich war natürlich furchtbar traurig und schockiert«, sagte Beethovenfest-Intendantin Nike Wagner der DW. »Aber wir sitzen alle im gleichen planetaren Boot, und die Entscheidung ist im Prinzip richtig. Wir können nichts anders tun als eindämmen; verzögern, bis halt ein Impfstoff gefunden ist«. (Deutsche Welle, 18. 03. 2020) Europa ist, ob wir es wollen oder nicht, eine wirtschaftliche und politische Großmacht mit einer Verantwortung gegenüber ihren mehr als 500 Millionen EU-Bürgern. Zu dieser Verantwortung gehört mehr denn je, sich sowohl kritisch, aber auch pragmatisch mit unliebsamen Partnern auseinanderzusetzen. Politisch, wie auch
3 https://www.who.int/europe/home?v=welcome [Zugriff am 31. 01. 2023].
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wirtschaftlich – gerade weil man geostrategisch in einem Boot sitzt. (Deutsche Welle, 09. 04. 2020)
Während zu Beginn der Pandemie das Phrasem in Bezug auf die Welt, die Staaten, die Regierenden und ihre Entscheidungen verwendet wird, atomisieren sich seine Aktualisierungskontexte, als die Folgen der Pandemie, die einfache Menschen zu treffen beginnen. Die vorher eher allgemein skizierten Konsequenzen des gemeinsamen »Sitzens in dem Boot« wie gemeinsame Arbeit, Beachtung der Regeln etc. werden mit der Zeit konkretisiert, indem ausdrücklich auf Homeschooling, Social Distancing, Kontaktverzicht u. a. verwiesen wird: (5)
Wir werden erinnert, dass wir im selben Boot sitzen. Und die Rettung des Bootes erst möglich ist, wenn wir das Wohl der Gemeinschaft anstreben. Uns dafür einsetzen. Das bedeutet in diesem Moment, auf Vieles zu verzichten, Social distance zu praktizieren, unsere Kinder zuhause selbst zu unterrichten und ihnen durch Distance education Schulunterricht online zu ermöglichen. (Deutsche Welle, 03. 04. 2020)
Anhand des Belegs (5) lässt sich zusätzlich gut erkennen, wie auf das Phrasem weiter im Text angespielt wird. Die phraseologische Metapher wird erweitert. Das Bild des Phrasemes wird aufrechterhalten und durch Rettung des Bootes ausgedehnt. Durch die Erweiterung des phraseologischen Bildes können das menschliche Denken und Erleben genauer erfasst werden (vgl. Naciscione 2010: 80). Der Ausbruch der Corona-Pandemie war nicht das einzige Problem, mit dem die Welt um 2020 konfrontiert war. In Europa war zu dieser Zeit das Problem der Flüchtlinge und ihrer Akzeptanz in der Gesellschaft immer noch aktuell. In der COVID-19-Diskussion lassen sich daher auch Texte und Aussagen finden, die die beiden Krisen vergleichen oder miteinander verbinden: (6)
Wenn eine Pandemie das Leben aus den Angeln hebt, ziehen Menschen Sicherheit der Aufregung vor. Im Ausnahmezustand steht das soziale Fundament im Vordergrund und nicht die Frage, ob es durch zu hohe Armutszuwanderung bröckeln könnte. […]. Ein Virus macht keinen Unterschied zwischen Hautfarben, Religionen oder Pässen. Alle sitzen im selben Boot. Ob dieses Boot nun zu voll ist oder nicht, das war nicht die zentrale Frage – auch wenn sich ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel bemühte, sie ins Zentrum zu stellen. Immerhin, seine Partei verdoppelte sich. Ohne Corona (und einem evidenten Blümel-Malus) wäre noch mehr drinnen gewesen. Als bürgerliche Partei konnte es die ÖVP nicht auf die Spitze treiben, die Angst vor Corona mit der Angst vor Ausländern zu doppeln. (Profil, 11. 10. 2020)
In dem angeführten Beleg (6) werden vier idiomatische und bildhafte Phraseme gehäuft, wodurch das Fragment an Expressivität gewinnt. Das Idiom etwas aus dem Angeln heben weist darauf hin, dass die Pandemie das früher gut und ordnungsgemäß funktionierende Leben jetzt kaputt macht und somit entscheidende Änderungen im Leben jedes Einzelnen herbeiführt. Danach werden
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zwei auf Schiffsmetaphorik beruhende Phraseme zusammengebunden (Wir sitzen alle im selben Boot und das Boot ist voll). Mit dem ersten wird, wie in früheren Belegen, die gemeinsame schwierige Lage betont. Das zweite erinnert den Lesenden an die Flüchtlingskrise zurück, denn es wurde oftmals im Flüchtlingsdiskurs gebraucht, um die Politik der geschlossenen Türen für die Einreisenden zu rechtfertigen (vgl. Schuppener 2020). Die beiden Boot-Phraseme beruhen auf ähnlichem Bildspender und Topos, daher lassen sich im Kontext miteinander gut kombinieren. Auf diese Weise interagieren und durchdringen sich zwei Krisendiskurse. Der Beleg (6) endet mit dem negierten Phrasem etwas (nicht) auf die Spitze treiben. Durch seine Verwendung wird implizit gedeutet, dass beide Krisen schwerwiegende Folgen für die Gesellschaft haben. Die Metapher des gemeinsamen Bootes wird auch von Papst Franziskus verwendet, der zu Solidarität und Durchhaltevermögen in einer schwierigen Situation aufruft. (7)
Uns wurde klar, dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos sind, aber zugleich wichtig und notwendig, denn alle sind wir dazu aufgerufen, gemeinsam zu rudern, alle müssen wir uns gegenseitig beistehen. Auf diesem Boot … befinden wir uns alle. Wie die Jünger, die wie aus einem Munde angsterfüllt rufen: »Wir gehen zugrunde« (vgl. V. 38), so haben auch wir erkannt, dass wir nicht jeder für sich, sondern nur gemeinsam vorankommen. (The European, 28. 03. 2020)
Der Papst verknüpft das Idiom mit dem Evangelium nach Markus über die Stillung des Sturms, das an diesem Tag gelesen wurde. Er spielt damit auf die verwandten Topoi des Schiffes und des Sturms an. Er fügt hinzu, dass sich die Menschen in dieser schwierigen Zeit gegenseitig helfen und zusammen rudern sollten. 5.2.2 Aktualisierung des Phrasems zwecks Gegenargumentation Da Idiome die Welt in vereinfachter expressiver Form und mit häufigen Bezügen zum Alltag beschreiben, provozieren sie gleichzeitig die andere Seite, dem so vorgetragenen Argument zuzustimmen oder ihm zu widersprechen. So wird auch durch das Phrasem Wir sitzen alle im selben Boot angesichts immer neuer Beschränkungen und der Häufung ihrer negativen Auswirkungen die Gegenargumentation im COVID-19-Diskurs in relativ kurzer Zeit herausgefordert. Sie zielt vor allem darauf ab, die Argumente der gegnerischen Partei zu widerlegen und dadurch auch die Bootsmetapher in Frage zu stellen. In der Auffassung der Gegenpartei soll die Bootsmetapher die Erkenntnis des realen Sachverhalts eher verdecken als erleichtern. Sprachlich wird das durch kontextbedingte wendungsinterne und -externe Modifikationen des Phrasems erreicht.
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Die häufigste wendungsinterne Modifikation des Idioms war ihre Negation durch: a) (8)
Negationspartikel nicht Es wird ein nationaler Konsens heraufbeschworen, nach dem Motto wir sitzen alle im gleichen Boot, vor dem Virus sind wir alle gleich. So eine Gleichheit gibt es im Kapitalismus nicht. Wir sitzen nicht im gleichen Boot mit den Herren SAP, Würth oder Siemens. Wir sitzen nicht im Boot mit den Superreichen, die aus ihrer Villa mit Garten uns ein »Bleibt zu Hause-Selfie« schicken. Wir sitzen auch nicht im Boot mit dem Vorstand der Charité, der das System der Fallkostenpauschalen begrüßt, der das Krankenhaus im Sinne der Profimaximierung genauso wie ein kapitalistisches Unternehmen führt. Wo eben eine Patient*in zur Gewinnkennziffer wird, wo Krankenhausbeschäftigte outgesourct und prekär bezahlt werden, damit die Rendite stimmt. (Solidarisch gegen Corona, 27. 04. 2020)
Im Beleg (8) wird das Idiom mehrmals verneint, direkt mithilfe der Negationspartikel und auch deskriptiv (So eine Gleichheit gibt es im Kapitalismus nicht). Die Wirkung der Ablehnung des Arguments wird im Beleg durch die Verwendung von Parallelismus in Form einer dreifachen Wiederholung der Satzstruktur noch verstärkt, die mit dem verneinten Idiom beginnt. b) Den additiven verneinenden Konjunktor weder … noch Mit dem ersten Teil des Konjunktors weder wird der reale Sachverhalt (der Egalitarismus des pandemischen Schadens) und mit dem zweiten Teil noch der metaphorische (das gemeinsame Boot) in Frage gestellt. Der Verneinung folgt dann die Auflistung von Problemen, die nur einen Teil der Gesellschaft treffen: (9)
Weder trifft der ökonomische Pandemie-Schaden egalitär, noch gibt’s das Boot, in dem »alle« sitzen, und schon gar nicht stimmt die unidirektionale Erzählweise vom Virusdebakel. Soll heißen: Mangelnde Vorsorge, Verschleppen und Missachten von Schutzmaßnahmen seitens rücksichtsloser Unternehmensführerinnen und Unternehmensführer in Sklavenhaltermanier stiften in allen Branchen enorme Schäden. (Deutsches Ärzteblatt, 17. 08. 2020)
c) Konjunktiv II und nachfolgende deskriptive Negation Konjunktiv II wird im Deutschen u. a. zum Ausdruck der irrealen Wünsche verwendet. Auch im Fallbeispiel (10) soll mit der Konjunktivform des Idioms auf die Irrealität des Arguments hingewiesen werden. Zusätzlich wird im folgenden Satz der Sachverhalt deskriptiv mit der Formel Das ist Quatsch verneint:
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(10) Wir hören in diesen Tagen ständig, in dieser Krise säßen wir alle im selben Boot: Das Virus diskriminiere schließlich nicht. Das ist Quatsch. Klar, alle haben ihre ganz eigenen Herausforderungen. Aber die Quarantäne ist mit großem Garten und Pool sicher besser zu ertragen als in einer 60 Quadratmeter-Wohnung ohne Balkon. (Deutsche Welle, 02. 05. 2020)
Die Ablehnung des Arguments des gemeinsamen Bootes wird auch durch die wendungsexterne Modifikation des Idioms verdeutlicht, die die spielerische Anwendung des Idioms durch entsprechende Einbettung in den Kontext voraussetzt. Dies wird u. a. durch entsprechende Verweise im Text, auffällige Häufung von Phrasemen, Verletzung der semantischen Selektionsbedingungen und metasprachliche Kommentierung / Steuerung erreicht (vgl. Chrissou 2000: 223ff.). In dem Korpus werden zahlreiche Beispiele entsprechender kontextbedingter Einbettung des Idioms nachgewiesen. Aus Platzgründen werden im Folgenden nur einige dargestellt. d)
Metasprachliche Kommentierung und Verweise
(11) Jetzt geht es darum, mithilfe von wissenschaftlicher Beratung Politik gegen Corona zu machen – dann ist der Klimawandel dran. Eines haben beide Krisen gemeinsam: Sie sind ungerecht, obwohl scheinbar alle im selben Boot sitzen. […]. Das Virus kann alle treffen – wer aber keinen Zugang zu einem guten Gesundheitssystem hat, dessen Leben ist stärker bedroht. Wer in einer kleinen Wohnung lebt, leidet mehr unter der nötigen sozialen Isolation als jemand, der ein großes Haus und einen Garten hat. Die Gerechtigkeitsprobleme der Welt finden sich auch bei Corona. (Klimareporter, 03. 04. 2020)
Durch das vorangestellte Satzadverb scheinbar wird gedeutet, dass die gemeinsame Lage in der Pandemie nur dem äußeren Eindruck nach so ist, wie es sich darstellt. Somit wird das Boot-Argument beanstandet. Zusätzlich wird im weiteren Verlauf des Textes der von den Medien geschaffene Anschein der Wirklichkeit enthüllt, indem auf konkrete soziale Unterschiede hingewiesen wird. e)
Verweise auf andere (verwandte) Topoi / Erweiterung der Schiffsmetaphorik
(12) Von einem perfekten Sturm spricht man, wenn eine ungewöhnliche Kombination verschiedener Faktoren dazu führt, dass es zu einem Ereignis großer Gewalttätigkeit kommt. […] Der Begriff wurde von dem Reporter Sebastian Junger popularisiert, der 1997 in einem Bestseller die Geschichte einer Wetterlage über dem Nordatlantik erzählte, die nur alle hundert Jahre vorkommt – ein Hochdruckgebiet, das von den Great Lakes kam, traf auf einen Sturm über Sable Island und kollidierte mit dem Hurrikan Grace, der aus der Karibik kam. 1991 war das und führte dazu, dass das Fischerboot »Andrea Gail« spurlos im Ozean verschwand.
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Weil sie sich überall auf der Welt ausbreitet, wird über die Coronavirus-Pandemie oft gesagt, im Umgang mit ihr säße die Menschheit nun in einem Boot. Es gibt aber eine Menge Anzeichen dafür, dass vor allem das Boot »Europa« das Schicksal der »Andrea Gail« ereilen könnte. Denn drei Stürme nähern sich dem Kontinent und könnten ihre zerstörerische Kraft kombinieren (Der Spiegel, 08. 03. 2020)
Ein Sturm ist beängstigend und gefährlich. Sinkende Schiffe und darauf sterbende Besatzungen führen einem sofort vor Augen, dass der Mensch der ungezügelten Kraft und Macht der Natur völlig hilflos gegenübersteht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Motiv des Sturms, das in der Literatur immer wieder als Metapher für Krisen, harte Auseinandersetzungen und den Kampf gegen das Böse aufgegriffen wird, auch im Fall der Pandemiekrise verwendet wird. Für noch mehr Dramatik sorgt in dem Fragment die wahre Geschichte des Fischerboots »Andrea Gail«, das 1991 wegen eines Sturms verschwand. Der Sturm wird hier dem Motiv des gemeinsamen Bootes, in dem sich die Menschheit befindet, gegenübergestellt. In dem Fallbeispiel (12) wird auf drei Stürme hingewiesen, die sich der Menschheit in Europa nähern. Der erste ist die Corona-Pandemie und ihre Konsequenzen wie die Quarantäne, das Leid und der Tod. Der zweite Sturm sind die ökonomischen Konsequenzen der Pandemie (Stagnation). Der dritte Sturm ist nicht mehr mit COVID-19 verbunden, sondern mit der Politik der Türkei (das von den Autoren als sog. »Putogan-Virus« bezeichnet wird), die eine Flüchtlingswelle verursacht. f) Verweise im Kontext durch bildhafte Erweiterung der Metapher Den letzten drei Belegen liegt eine bildhafte Erweiterung der Metapher zugrunde. Deshalb werden sie jeweils zur besseren Veranschaulichung durch ein Meme, eine Karikatur oder einen Cartoon ergänzt. Die Bilder kommen zwar nicht aus dem analysierten Korpus. Sie sind aber parallel im Internet erschienen und fungieren als vereinfachte bildhafte Argumentation in der Internetkommunikation. Somit wird gezeigt, dass der moderne Internetdiskurs multimodal ist und dass Bilder darin eine immer wichtigere Rolle spielen. Daher haben auch Phraseme, die sich durch ihre Bildhaftigkeit und Bildlichkeit auszeichnen, das Potenzial, Diskurse mitzuprägen. Welche Umsetzung dieser Modifikation primär war (textlich oder bildlich), ist schwer zu bestimmen. Zweifellos aber stehen die Kanäle (gesprochener Text, geschriebener Text und Bild) in einem immer engeren Verhältnis zueinander und beeinflussen sich gegenseitig.
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Abb. 2: Ein Meme aus dem Portal kekememes.de, 02. 04. 2020
(13) Der Soziologe Helmut Dahmer bringt es im Interview mit Peter Nowak für die Jungle World auf den Punkt: »Galt bis gestern noch, jedermann solle sich als Ich-AG im Überlebenskampf behaupten, wird plötzlich wieder zu Solidarität aufgerufen. Eine illusionäre Gemeinschaftlichkeit wird beschworen, besungen und beklatscht, um darüber hinwegzutäuschen, dass die Position in der Einkommenspyramide über Leben und Tod entscheidet. Wieder einmal heißt es, alle säßen in einem Boot, nur ist es für die einen das Schlauchboot, für die andern die Hochseejacht, und Rettungswesten sind knapp.«
Im Beleg (13) wird auf Boote unterschiedlicher Qualität hingewiesen, in denen die Menschheit in der Pandemiekrise sitzt. Der Autor vergleicht die herrschenden Ungleichheiten bei der Erfahrung der Folgen der Pandemie mit einer Luxusjacht, auf der die Mächtigen und Reichen dieser Welt segeln, und einem alten, maroden Boot mit sehr schwierigen Lebensbedingungen, auf dem die anderen sitzen.
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Abb. 3: Ein Meme aus dem Portal Debeste.de, veröffentlicht 2020 (ohne konkretes Datum)
(14) Meine These ist trotzdem: Die Welt saß noch nie so sehr in einem Boot wie zur Coronakrise – das haben bloß noch nicht alle realisiert. Auch auf diesem Boot gibt es verschiedene Klassen, oben und unten, mehr und weniger gefährdet.
Beleg (14) bezieht sich zwar auf ein gemeinsames Boot, aber wie im Beleg (13) herrschen hier völlig unterschiedliche Bedingungen. Das liegt daran, dass das Boot Klassen (Vip- und Economy-Klasse) hat. Oben, als Chef dargestellt, sitzen die Regierenden, unten die schwer Arbeitenden. (15) »Wir sitzen alle in einem Boot«, sagt Heßler zwar, aber deswegen rudern nicht alle gleich stark. »Kiel hat größere Probleme als Flensburg, und Flensburg hat größere als wir«, sagt Berlins Manager Hanning, »und Minden hat wieder ganz andere.« (16) Der Trend bei den Nachbarkommunen sei verschieden. »Einigen geht es wie uns, anderen geht es schlechter. Wir sitzen alle im selben Boot, aber einer muss mehr rudern, einer weniger«.
Ähnlich wird in zwei weiteren Belegen (15 und 16) auf die gesellschaftliche Dichotomie hingewiesen. Die Menschen sitzen zwar tatsächlich alle im selben Boot, aber nicht alle müssen darauf gleich hart arbeiten und folglich betreffen nicht alle die Folgen der Pandemie im gleichen Maße. Die einen reden, die anderen rudern. Die nicht näher begründete Behauptung, Wir sitzen alle im selben Boot, soll der Beweisführung dienen, ist aber als ein Mittel manipulativen Sprachgebrauchs
Die Rolle idiomatischer Phraseme in der Dynamisierung von Diskursen
67
Abb. 4: Karikatur in Zeitung vom Lëtzebuerger Vollek vom 22. 08. 2022
letztlich nur ein Pseudoargument. Die oben präsentierten bildhaften Belege der Kritik an der Bootsmetapher zeigen Versuche, deren Gültigkeit in Frage zu stellen und den damit verbundenen Solidarisierungsappell zu entkräften, indem sie darauf verweisen, dass die Unterschiede zwischen den im selben Boot Sitzenden gewichtiger sind als die den Appell begründende Gemeinsamkeit.
6.
Schlussbemerkungen
Am Beispiel des in dem Beitrag analysierten Idioms Wir sitzen alle im selben Boot wurde gezeigt, dass sich Phraseme, insbesondere die von Topoi abgeleiteten sprichwörtlichen Redensarten für vereinfachte Argumentation in Diskussionen und in Diskursen gut eignen. Sie gelten als Impulse für die Entstehung weiterer Texte (auch multimodaler Texte). Somit bilden sich interdiskursive Vernetzungen. Das Phrasem wurde in dem Korpus mehrmals gebraucht. Oft werden seine unterschiedlichen Bedeutungsschichten aktualisiert, aus denen nicht alle von Wörterbüchern erfasst werden. In dem COVID-19-Korpus wird das Phrasem verwendet als: – (Neutraler) Hinweis auf gleiche Situation verschiedener Gruppen von Menschen in der schwierigen Situation, – Warnung vor drohender Gefahr, – Solidarisierungsappell, der als Mahnung zu verstehen ist, dass Menschen zusammenarbeiten oder sich zusammenhalten sollen4, 4 Der Solidarisierungsappell beruht hier auf der Vorstellung vom Staat als einer Interessen- oder Notgemeinschaft, in der jeder, vor allem bei drohender Gefahr, zum gemeinsamen Handeln verpflichtet ist.
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Joanna Woz´niak
– Mittel der Disziplinierung, – Mittel der Vereinnahmung oder auch der Beschwichtigung, – Versuch, die verhängten Sanktionen und Unannehmlichkeiten mit dem Hinweis auf die Tatsache zu rechtfertigen, dass es in schwierigen Situationen auch für Menschen mit völlig unterschiedlichen Interessen oder Voraussetzungen wichtig und notwendig ist, zusammenzuhalten – auch wenn es diesen Menschen vielleicht schwerfällt, das einzusehen, – Ermutigung, dass jemand bestimmte Situationen nicht alleine meistern muss, sondern sich auf den Rückhalt einer bestimmten Gruppe verlassen kann. Darüber hinaus bestätigte die vorliegende Studie, dass der aktuelle Presse- und Onlinediskurs unter anderem dank bildhafter Metaphern neben dem Text zunehmend Bilder in Form von lustigen Memes, GIFs oder Karikaturen verwendet. Daher ist weitere Forschung im Grenzbereich zwischen Phraseologie und Diskurslinguistik äußerst gefragt.
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Mariusz Jakosz (Uniwersytet S´la˛ski, Katowice)
Zum bewertenden Potenzial von Phraseologismen im deutschen Corona-Diskurs1
Abstract The Evaluative Potential of Phrasemes in German Coronavirus Discourse The aim of the article is to select such phrasemes in German coronavirus discourse which are of evaluative character and are used to express mainly negative attitudes towards the coronavirus crisis. The research goal is to establish who or what is being evaluated by phrasemes. The theoretical part describes the impact of the coronavirus pandemic on German vocabulary and the potential of phrasemes, which are the main lexical evaluative measures. The analytical part discusses those phrasemes that reflect the personal and social perception of the coronavirus crisis by language users and that may reveal changes in social life. Keywords: phrasemes, evaluation, coronavirus pandemic, vocabulary, discourse Schlüsselwörter: Phraseologismen, Bewerten, Corona-Pandemie, Wortschatz, Diskurs
1.
Einleitung
Die Corona-Pandemie, die Ende 2019 in der chinesischen Stadt Wuhan begonnen hat, hat die ganze Welt in den darauffolgenden drei Jahren erheblich verändert: Viele haben geliebte Menschen verloren, haben sich mit dem Virus infiziert bzw. hatten Angst, sich oder andere anzustecken. Außerdem sind das Tragen von Masken, Reiseprobleme, QR-Codes und die PCR-Abstriche dazugekommen. Wir haben unsere Tagesabläufe umgestaltet und das neu definiert, was für uns im Leben relevant ist (vgl. Smiljanic 2020: online, Kovbasyuk 2021: 82, Havryliv 2021: 70, Kovbasyuk/Romanova 2021: 165, Möhrs 2021: 141, Bülow u. a. 2021: 1, Wolfer u. a. 2021: 5, Labyntsewa 2022: 156, Mefedenko 2022: 162, Targon´ska/Prutscher 2022: 45). Diese Wende im sozialen Miteinander und in der Kultur, die durch das Virus SARS-CoV-2 ausgelöst wurde, ist ein Zeichen dafür, »dass uns die Pan1 The research activities co-financed by the funds granted under the Research Excellence Initiative of the University of Silesia in Katowice.
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Mariusz Jakosz
demie […] fest im Griff hat, in allen gesellschaftlichen Bereichen«2, was sich auch in der deutschen Sprache widerspiegelt (vgl. Darwish 2020: 159, Müller-Spitzer u. a. 2021: 11, Depner 2022: 7, Targon´ska/Prutscher 2022: 45). Das Neologismenwörterbuch des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim hat unter der Überschrift »Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie«3 eine hohe Anzahl an Neuschöpfungen aus Print- und Online-Medien verzeichnet, die seit 2020 in den allgemeinsprachlichen Teil des Wortschatzes der deutschen Standardsprache eingegangen sind. Unter den lexikalischen Einheiten sind u. a. Phraseologismen zu finden, die als »ein Reflex gesellschaftlicher Erfahrungen« (Lüger 1996: 58) in komprimierter Form Werthaltungen und Deutungssysteme einer Sprachgemeinschaft wiedergeben.4 Durch den Einsatz von Phraseologismen drückt der Sender gleichzeitig seine Einstellung zum Denotat oder zum mitgeteilten Sachverhalt sowie zur gesamten Kommunikationssituation aus. Er indiziert jedoch auch seinen emotionalen Zustand und seine soziale Beziehung zum Kommunikationspartner, wobei er (positive oder negative) emotionale Wertungen auf den Empfänger überträgt (vgl. Fleischer 1982: 221, Sava 2014: 254). Im vorliegenden Beitrag ist der phraseologische Wortschatzausschnitt im Deutschen zu ermitteln, den die COVID-19-Pandemie prägt bzw. geprägt hat, und der Aufschluss darüber gibt, welche Einstellungen zur gesamten Krisensituation dadurch beschrieben oder ausgedrückt werden können.
2.
Einfluss der Corona-Pandemie auf den Wortschatz
Die Corona-Pandemie, mit der die Welt vor der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg steht, macht einerseits deutlich, wie prägnante Ereignisse unseren Sprachgebrauch und vor allem unseren Wortschatz determinieren (vgl. Darwish 2020: 159, Havryliv 2021: 70, Möhrs 2021: 141, Müller-Spitzer u. a. 2021: 11, Depner 2022: 7, Labyntsewa 2022: 156, Mefedenko 2022: 162, Targon´ska/Prutscher 2022: 45): Technische Innovationen, historische Ereignisse, sich wandelnde gesellschaftliche Gegebenheiten […] führen zu einer permanenten Anpassung des Wortschatzes. Und zwar in enormer Geschwindigkeit, fast möchte man von Echtzeit sprechen. Es zählt zu den
2 https://www.cducsu.de/themen/dr-andre-berghegger-der-haushalt-ist-zahlen-gegossene-poli tik [Zugriff am 11. 03. 2023]. 3 https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp [Zugriff am 15. 03. 2023]. 4 Laut Szober (1937: 93) ist die Phraseologie in der außersprachlichen Wirklichkeit fest verankert: »In der Phraseologie jeder Sprache spiegelt sich das Leben des jeweiligen Volks, das sich der Sprache bedient, wider, seine materielle und geistige Kultur« (übersetzt von M.J.).
Zum bewertenden Potenzial von Phraseologismen im deutschen Corona-Diskurs
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herausragenden Fähigkeiten von Sprachen – nicht nur des Deutschen – unmittelbar auf Veränderungen zu reagieren. (Smiljanic 2020: online)
Andererseits bildet Sprache die Voraussetzung für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation als Krise: »Es muss ein Krisendiskurs geführt werden, damit Krisenphänomene als solche überhaupt wahrgenommen werden können« (Kuck 2018: 6). Die Krise wird als »abstrakter Gegenstand der Alltagswelt« (Kuck 2016: 494) aufgefasst, der sprachlich, diskursiv und medial konstruiert wird. Solche Katastrophen wie die zunehmende Ausbreitung des Coronavirus können Jahrhunderte später nicht nur ökonomisch und sozial nachgewiesen werden, sondern sie finden auch ihren Niederschlag immer in der Sprache: Also zum Beispiel bei der Großen Pest oder Schwarzer Tod, das ist ja an sich auch schon eine Sprachspur, die auf dieses Ereignis verweist, Brunnenvergifter zum Beispiel ist ein Ausdruck aus dieser Zeit. Man hat wie heute auch nach Schuldigen gesucht, und das war sozusagen der Verschwörungsmythos der Großen Pest im ausgehenden Mittelalter, Brunnenvergifter zu sagen. (Smiljanic 2020: online)
Der schnelle und kreative Ausbau des Lexikons resultiert daraus, dass neue Dinge, neue Umstände und »neue Normalitäten« benannt werden müssen, über die sich Menschen verständigen können. Aus diesem Grunde entstehen zahlreiche Wortneuschöpfungen, Entlehnungen oder Bedeutungserweiterungen von bereits existierenden Lexemen (vgl. Gasˇová 2021: 103, Klosa-Kückelhaus 2021: 1, Möhrs 2021: 141).5 In Krisenzeiten wird Sprache gezielt (z. B. zum Zwecke der Meinungsmache oder sachlicher Aufklärung) eingesetzt und bestimmte Schlagworte sowie metaphorische und abwertende Bezeichnungen erleben einen Aufschwung. Ob Wörter und Wendungen, die erst infolge der Pandemie entstanden sind bzw. eine neue Bedeutung gewonnen haben, auch über einen längeren Zeitraum im Sprachbestand bleiben, ist vom weiteren Verlauf der Pandemie abhängig: Je länger sie dauert und je mehr Opfer sie fordert, desto wahrscheinlicher sind spätere »Sprachspuren« nachzuweisen.
5 Da sich der Wortschatz stets neuen kommunikativen Aufgaben anpassen und erweitern muss, nennt Stojic´ (2015: 62) die wichtigsten Veränderungen wie folgt: »die Bildung neuer Wörter, die Bildung von Neologismen und, damit verbunden, das Verhalten von Wortschatzeinheiten, die Archaisierung, die Bedeutungsveränderungen und Veränderung in den Bezeichnungssystemen, Veränderungen der Bedeutungsstrukturen ganzer Wortschatzbereiche, Wechselbeziehungen mit anderen Sprachen und die Übernahme fremden Wortgutes in den Wortschatz unserer Sprache und die Bildung von Phraseologismen«.
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3.
Mariusz Jakosz
Zur Aussagekraft von Phraseologismen im Corona-Diskurs
Neue Wörter, Wortverbindungen und Wendungen, die auf das SARS-CoV-2Virus und die COVID-19-Erkrankung Bezug nehmen, sind aus dem alltäglichen Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken. Der Wortschatz rund um die CoronaPandemie ist im persönlichen Alltagsleben, im öffentlichen Verkehr und in unterschiedlichen Medien zu finden (vgl. Kovbasyuk 2021: 82, Kovbasyuk/Romanova 2021: 165). Neben Substantiven, Verben, Adjektiven und Adverbien werden auch die Phraseologismen durch die COVID-19-Pandemie in hohem Maße beeinflusst. Gasˇová (2021: 81) bemerkt, dass der Begriff Corona(-virus) prototypisch als eine aktive, emotional stark geprägte Entität konzeptualisiert wird und in den phraseologischen Bestand des gegenwärtigen Deutschen über Idiome und Modellbildungen Eingang findet, welche mit dieser Konzeptualisierung kompatibel sind.
Unter dem Einfluss der pandemischen Lage werden einige Phraseme modifiziert6, aber es entstehen auch viele neue phraseologische Einheiten, die sich hinsichtlich ihrer Gebrauchsfrequenz durch einen stärkeren Grad an Stabilität kennzeichnen lassen und somit allmählich zu relativ festen Einheiten der jeweiligen Sprache(n) werden. In dem durch das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache erstellten Neologismenwörterbuch werden im Deutschen über 100 Einheiten notiert, die weitgehend phraseologische Merkmale aufweisen. Für die Zwecke der vorliegenden Analyse wird von der Definition des COVID19-Phraseologismus nach Szcze˛k (2022: 165) ausgegangen. Gemeint sind solche sprachlichen Einheiten, – die in der Zeit der andauernden Covid-19-Pandemie und deren Folgen als sprachliche Ausdrücke entweder entstanden sind, oder – die schon längst im Phraseologiebestand anwesend sind, aber in Bezug auf die Bewältigung kommunikativer Bedürfnisse der Sprachbenutzer unter dem Einfluss der Covid-19-Pandemie in jeder Hinsicht modifiziert wurden, – in deren Komponentenbestand sich deutliche lexikalische Spuren von dem Einfluss der Covid-19-Pandemie auf die lexikalische Besetzung bzw. Modifikation finden lassen, – die überregional und in vielen Fällen oft international mit hoher Frequenz gebraucht und nicht mehr als neu empfunden werden, – die auf gleichen bzw. ähnlichen Erfahrungen der Sprachbenutzer bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie beruhen, und 6 Die Modifikation der Phraseme wird als die Veränderung der Form und/oder Bedeutung verstanden, die einen okkasionellen Charakter hat (vgl. Burger 2015: 24). Laut Burger (2015: 162) bedeutet Modifikation ein textbildendes Verfahren, »das zwar auf immanenten semantischen ›Potenzen‹ des Phrasems beruht, das sich aber nur in konkreten Kontexten manifestiert und nur kontextuell verstehbar wird«.
Zum bewertenden Potenzial von Phraseologismen im deutschen Corona-Diskurs
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– die phraseologische Merkmale, wie Polylexikalität, Festigkeit und [schon] relative Idiomatizität […] aufweisen.
Die modifizierten bzw. neu gebildeten Phraseologismen, die als ein Zeichen der Kreativität der Sprachbenutzer gelten, erfüllen eine bewertende Funktion bzw. können wegen ihrer Expressivität und Bildlichkeit (oft negative) Einstellungen ˆ ermák 2007: 72, und Emotionen7 des Emittenten zum Ausdruck bringen (vgl. C ˇSichová 2010: 81, Kukowicz-Z˙arska 2021: 132, Pavic´ Pintaric´ 2020: 89). Auf diese Art und Weise spiegeln diese Phraseologismen neue Erfahrungen der Sprachbenutzer und Veränderungen in der Gesellschaft wider (vgl. Depner 2022: 11). Angesichts der Corona-Krise haben viele Menschen negative Gefühle wie Verunsicherung, Angst, Frustration, Ärger, Wut gegenüber Gegenständen, Sachverhalten, Personen, Handlungen, Situationen u. a. empfunden (vgl. Havryliv 2021: 70, Miletic´ 2022: 39–40, Z˙urawlew 2022: 59). Mit Hilfe von Phraseologismen ist es möglich, sowohl explizit als auch implizit unterschiedliche Bewertungsziele (z. B. ironische, scherzhafte Distanzierung bzw. kritische Ironie) zu verwirklichen sowie die Äußerungen zu emotionalisieren (vgl. Kukowicz-Z˙arska 2021: 132). Das deutsche Belegmaterial, das für die folgende Analyse gesammelt wurde, stammt aus dem »Neologismenwörterbuch. Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie« des Leibniz-Institutes für Deutsche Sprache und den Textkorpora des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS). In Anlehnung an die Ergebnisse von Gasˇová (2021: 92ff.), die die Anbindung des Corona-Begriffs an Idiome untersucht hat, lassen sich folgende idiomatischen Einheiten unterscheiden, in denen die Komponenten Corona / Coronavirus / Corona-Pandemie den Anschluss des jeweiligen Phraseologismus an den Kontext ermöglichen: – jmdm. einen Strich durch die Rechnung machen: »jemandes Vorhaben verhindern / vereiteln; jemandes Pläne durchkreuzen«8 (1)
(2)
Die Chorarbeit und das gemeinsame Singen mussten stark eingeschränkt werden, und auch den bereits geplanten Konzerten hat die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung gemacht. (Rhein-Zeitung, 15. 10. 2020) Cattafesta hatte die Eisdiele Anfang 2020 mit großen Ambitionen übernommen, doch dann habe ihm die Pandemie einen Strich durch die Rechnung gemacht. (inFranken.de, 30. 03. 2023)
7 Emotionen als spezifischer Bestandteil des Erlebens eines Menschen »dienen primär der bewertenden Stellungnahme« (Fiehler 2008: 758). Aus funktionaler Sicht sind Phraseme spezialisiert auf die pragmatischen Funktionen des Ausdrucks der Evaluation und funktionieren ˆ ermák 2007: 72). größtenteils per se emotionsausdrückend (vgl. C 8 https://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=strich+durch+die+rechnung&bo ol=relevanz&gawoe=an&sp0=rart_ou&sp1=rart_varianten_ou [Zugriff am 10. 04. 2023].
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(3)
Das Quartett hatte bereits 2019 einen gemeinsamen Auftritt in Wilstedt und für 2020 ein weiteres Konzert in Planung, als ihm Corona einen Strich durch die Rechnung machte. (Weser-Kurier, 07. 07. 2022) »Wir hatten den Familiensporttag eigentlich schon vor zwei Jahren geplant, aber dann hatte uns Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht«, rief der WSVVorsitzende Günther Bauer in Erinnerung. (Schwarzwälder Bote, 09. 05. 2022) Seit 13 Jahren betreibt er das Bürgerheim an der Bermannstraße 33. Mit Erfolg – zumindest bis ihm das Corona-Virus einen Strich durch die Rechnung machte: Hygienekonzepte, Abstandsregeln, Impfnachweise. (tz.de, 28. 09. 2021)
(4)
(5)
– jmdn./etwas in Schach halten: »jmdn. mit Druck (besonders unter Androhung von (Waffen-)Gewalt) am Handeln hindern/jmdn., etw. (streng) kontrollieren, einschränken, beherrschen«9: (6)
(7)
(8) (9)
Corona hat uns in Schach gehalten, ständig gab es neue Anordnungen und Beschlüsse, die sofort umgesetzt werden mussten. (Burgenländische Volkszeitung, 13. 03. 2023) Zuvor hat uns die Corona-Pandemie zwei Jahre Lang in Schach gehalten. (https:// www.dphv.de/2022/04/25/wie-koennen-wir-den-ukrainischen-lehrkraeften-helfen/, 25. 04. 2022) Diese Pandemie hält uns in Schach. Sie lähmt unser tägliches Leben. (Schwetzinger Zeitung, 25. 01. 2021) Das Corona-Virus hält uns in Schach. Vieles muss neu gedacht, anders gemacht und gelassen werden. (https://www.netzwerk-nienburg.de/news.php?p=177, 29. 03. 2020)
– jmdn./etwas voll/fest im Griff haben: »Macht/Einfluss auf jemanden ausüben; die Kontrolle über jemanden haben; jemandes Leben bestimmen«10: (10) Die Corona-Pandemie hat uns nach wie vor fest im Griff und wird uns voraussichtlich auch noch über einen längeren Zeitraum in Schach halten. (https://umwelt akademie.baden-wuerttemberg.de/meldungen/-/asset_publisher/MIcXkZ3NeXWj/ content/17-08-2020-hygienekonzept, 17. 08. 2020) (11) Corona hatte die deutschen Kliniken auch im dritten Jahr der Pandemie fest im Griff. (tagesschau, 6. 03. 2023)
– zum Spielverderber werden: »jemand werden, der bei gemeinsamen Aktivitäten nicht mitmacht«11:
9 https://www.dwds.de/wb/jmdn.%2C%20etw.%20in%20Schach%20halten [Zugriff am 10. 04. 2023]. 10 https://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=im+griff&bool=relevanz&gawoe =an&sp0=rart_ou&sp1=rart_varianten_ou [Zugriff am 10. 04. 2023]. 11 https://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=spielverderber&bool=relevanz& gawoe=an&sp0=rart_ou&sp1=rart_varianten_ou [Zugriff am 10. 04. 2023].
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(12) Dann natürlich noch die ganz große Frage: Wird Corona zum Spielverderber? (Saarbrücker Zeitung, 10. 11. 2021) (13) Geplant wurde Mini-München zum 40. Jubiläum vom Verein Kultur & Spielraum schon seit knapp zwei Jahren. Doch dann drohte das Corona-Virus zum Spielverderber zu werden. (Süddeutsche Zeitung, 26. 06. 2020) (14) Der Vorhang bleibt ein weiteres Jahr in Folge zu – wieder einmal avanciert die Corona-Pandemie zum Spielverderber. (Allgemeine Zeitung, 18. 01. 2022)
– jmdm. im Weg stehen: »jemanden/eine Sache stören/behindern«12: (15) »Bei der Durchführung der Vorträge hat uns lange Zeit ein wenig die Pandemie im Weg gestanden«, so Holger Kloft. (Kreiszeitung Wochenblatt, 11. 06. 2021)
– tiefe Spuren hinterlassen: »sehr sichtbar/erkennbar werden«13: (16) »Der Krieg in der Ukraine und Corona hinterlassen tiefe Spuren in unserem Haushalt«, sagt OB Dr. Keller, »zwei globale Krisen, für die wir keine Verantwortung tragen.« (Düsseldorf 2022, 08. 09. 2022) (17) Corona hinterlässt tiefe Spuren bei Autobauern. Wegen der Pandemie-Folgen im Autogeschäft sieht es für die Branche insgesamt düster aus. (dw, 13. 01. 2021) (18) Was die Corona-Pandemie für tiefe Spuren bei Schülern aus Aschersleben hinterlassen hat. (Mitteldeutsche Zeitung, 18. 10. 2021)
– etwas auf den Kopf stellen: »etwas völlig durcheinanderbringen«14: (19) Das Coronavirus hatte einfach alles auf den Kopf gestellt. (Frankfurter Neue Presse, 26. 02. 2021) (20) Die Pandemie stellt die Ausbildung auf den Kopf. (Rhein-Neckar-Zeitung, 23. 04. 2021) (21) Seit 24 Monaten hat das Virus auch in den dortigen Geschäftsbereichen alles auf den Kopf gestellt: medizinisch, personell und finanziell. (Westfalen-Blatt, 13. 03. 2022)
– jmdn./etwas in Atem halten: »jmdm. keine Ruhe lassen; jmdn., etw. nicht zur Ruhe kommen lassen«15: (22) Die ganze Welt wird vom Coronavirus in Atem gehalten. (Südkurier, 8. 05. 2020)
12 https://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=im+weg+stehen&bool=relevanz &gawoe=an&sp0=rart_ou&sp1=rart_varianten_ou [Zugriff am 10. 04. 2023]. 13 https://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=tiefe+spuren+&bool=relevanz& gawoe=an&sp0=rart_ou&sp1=rart_varianten_ou [Zugriff am 10. 04. 2023]. 14 https://www.duden.de/rechtschreibung/Kopf [Zugriff am 10. 04. 2023]. 15 https://www.dwds.de/wb/jmdn.%2C%20etw.%20in%20Atem%20halten [Zugriff am 10. 04. 2023].
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(23) Corona hält seit zwei Jahren die Welt in Atem. (Frankfurter Rundschau, 31. 05. 2022)
– seine Finger im Spiel haben: »wahrer Urheber sein, etw. (im Verborgenen) veranlasst haben; an etw. (in negativer Weise) beteiligt sein, hinter etw. stecken«16: (24) Auch in dem Fall hatte Corona seine Finger im Spiel. Und sorgte vor manchen Restaurants für lange Warteschlangen. (Wolfsburger Nachrichten, 21. 09. 2020) (25) Doch auch bei Eheschließungen hat das allgegenwärtige Corona-Virus seine Finger im Spiel. (Leipziger Volkszeitung, 16. 12. 2020) (26) Und noch ein weiterer Umstand verhindert aktuell einen Flohmarkt in alter Größe. Und auch da hat die Pandemie ihre Finger im Spiel. […] Es gibt aktuell noch keine festen Stand-Verträge für Händler, die ihnen über die Flohmarkt-Saison einen festen Platz auf dem Gelände zusichern. (Saarbrücker Zeitung, 12. 08. 2022)
Die meisten ermittelten Phraseologismen gehören zum semantischen Feld ›Vor- und Nachteil – (ver-)hindern‹ (vgl. z. B. Schemann 2012: 213). Durch ihren Einsatz wird die Pandemie kritisch bewertet, weil sie dazu geführt hat, dass viele geplante Projekte und Veranstaltungen abgesagt bzw. verschoben werden mussten.17 Neben den oben genannten Phrasemen, in denen den Lexemen Corona / Coronavirus / Corona-Pandemie eine aktive Rolle zugeschrieben wird, kann man noch auf einige Modellbildungen verweisen. Gemeint sind solche Phraseologismen, die nach einem Strukturschema gebildet werden, das lexikalisch frei besetzbar ist. Darunter sind solche Modellbildungen zu nennen: Corona hier, Corona da; Corona, Corona und nochmals Corona; Corona hin oder her: (27) Corona hier, Corona da – man kann es nicht mehr hören und lesen! (derwesten.de, 25. 11. 2021) (28) Corona hier, Corona da, so langsam wäre es schön, müsste das Virus nicht mehr Thema sein. (netzpolitik.org, 2. 04. 2021) (29) Corona, Corona und nochmals Corona – das Virus scheint am Mittwochnachmittag das alles beherrschende Thema der Kreistagssitzung gewesen zu sein. (Frankfurter Neue Presse, 11. 02. 2022) (30) Das Jahr 2021 war in vieler Hinsicht durchaus, sagen wir mal: anstrengend. Corona, Corona und nochmals Corona – man kann es kaum noch hören. (Hamburger Abendblatt, 16. 12. 2021)
16 https://www.dwds.de/wb/die%20Finger%20im%20Spiel%20haben [Zugriff am 10. 04. 2023]. 17 In demselben Sinne wird auch ein modifizierter Phraseologismus verwendet: ins Covidwasser fallen von ins Wasser fallen: »infolge der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einschränkungen während der COVID-19-Pandemie als Geplantes nicht ausgeführt bzw. erreicht werden«, vgl. https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp#ins-covidwasser-fallen [Zugriff am 12. 04. 2023].
Zum bewertenden Potenzial von Phraseologismen im deutschen Corona-Diskurs
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(31) Corona hin oder her, mit solchen Problemen haben auch andere Teams zu kämpfen – mal mehr, mal weniger. (Rheinische Post, 1. 03. 2022) (32) Die Leute bekommen weiter Herzinfarkte – Corona hin oder her. (Tagesspiegel, 24. 04. 2020)
Das bewertende Potenzial dieser Modellbildungen äußert sich darin, dass diese die Aussagen über das Coronavirus deutlich verstärken. Mit ihrer Hilfe bringen die Sprachbenutzer zum Ausdruck, dass sie der Corona-Pandemie, die als Thema seit längerer Zeit in den öffentlichen Diskussionen und in den Medien dominiert, schon überdrüssig sind und die pandemische Situation als ein omnipräsentes und großes Hindernis für alle Aktivitäten betrachten.
4.
Schlussbemerkungen
Aus der durchgeführten Analyse der ausgewählten phraseologischen Einheiten ergibt sich, dass die Corona-Pandemie als ein weltumspannendes historisches Ereignis im Wortschatz des Deutschen eine rasante Entwicklung zeigt, die immer noch anhält. Die Sprache als soziales Phänomen reagiert nämlich schnell auf Neuerungen, die das gesellschaftliche Leben in allen Bereichen (in der Medizin, Wirtschaft, Arbeitswelt, Politik, Bildung und im Alltagsleben) betreffen. Die mit der pandemischen Zeit verbundenen Inhalte finden zweifelsohne ihren Platz im phraseologischen Bestand des Deutschen als COVID-19-Phraseme, CoronaPhraseme bzw. SARS-CoV-2-Phraseme und Modellbildungen. Die präsentierten Belege machen deutlich, dass die Lexeme Corona / Coronavirus / Corona-Pandemie die syntaktische Funktion des Agens/Subjekts übernehmen. Das aktive und dynamische Wesen von Corona zeugt von den Veränderungen und Auswirkungen, die in der deutschen Sprache während der Pandemie-Zeit aufgetreten sind. Durch den Einsatz von Phraseologismen und Modellbildungen wird die gesamte Krisensituation von Sprachbenutzern negativ bewertet. Die verstärkende Kraft der analysierten Sprachmittel lässt die Pandemie als ein gefährliches Ereignis empfinden, das unsere Pläne innerhalb der letzten Jahre durchkreuzt und dadurch viele negative Emotionen wie etwa Frustration, Ärger oder Wut ausgelöst hat. Das bewertende Potenzial solcher phraseologischen Einheiten lässt darauf schließen, dass die Corona-Pandemie, die ihre Macht auf unterschiedliche Lebenssphären ausgeübt hatte, vor allem eine große alltägliche Herausforderung für die Menschen darstellt. Aus dem analysierten Ausschnitt des phraseologischen Bestandes der gegenwärtigen deutschen Sprache geht das Bild des aktiven und einflussreichen Coronavirus hervor, das mit allen Mitteln zu bekämpfen ist, um ins normale Leben zurückkehren zu können.
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Mariusz Jakosz
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Federico Collaoni (Istituto Italiano di Studi Germanici, Roma)
Zum Distanz-Begriff als Gegenstand und Form der Kommunikation im COVID-19-Zeitalter. Deutsche und italienische Terminologie im Vergleich
Abstract On the Concept of distance as an Object and Form of Communication in the COVID-19 Age. A Comparison of German and Italian Terminology This paper explores lexical items and semantic features of the distance-related terminology adopted in German and in Italian during the COVID-19-pandemic. More specifically, it investigates the vocabulary connected to social distancing measures and distance communication in both languages to shed light on the productivity of certain word formation and word acquisition processes. The focus lies especially on the elements Abstand(s)-, Distanz, Distanzierung, Home- and Fern-, which are compared with the Italian distanziamento, a distanza, smart, agile and tele-. The cross-linguistic analysis takes into account language contact phenomena such as loanwords and loan translations from English as well as semantic developments in the respective target language. Moreover, attention is paid to the communicative domains (e. g. experts to non-experts communication, education, employment, online media) in which the analysed expressions are particularly significant. The contribution aims to point out the lexical and semantic complexity of the issue distance in pandemic communication, which seems to be worth further investigation as a current and possibly central topic in COVID-19-pandemic-discourse. Keywords: distance, social distancing, German, Italian Schlüsselwörter: Distanz, soziale Distanzierung, Deutsch, Italienisch
1.
Einleitung
Im vorliegenden Beitrag geht man von der Erkenntnis aus, dass die Maßnahmen zur räumlichen Distanzierung die menschliche alltägliche sowie berufliche Kommunikation in den Jahren 2020–2021 bzw. im COVID-19-Zeitalter grundsätzlich beeinflusst haben. Es schien demnach zu diesem Zeitpunkt sinnvoll, den Distanz-Begriff und die damit verbundenen Interaktionsformen in ihrer Versprachlichung aus linguistischer Sicht näher zu betrachten, um ihre Rolle als möglicherweise diskursprägende Themen einzuschätzen.
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Die Wahl, einen sprachvergleichenden Ansatz dabei zu verfolgen, zielt insbesondere darauf, die lexikalische und semantische Vielfältigkeit des Themas ›Distanz in der Pandemie‹ hervorzuheben: Geboten wird deshalb ein Überblick über die Begrifflichkeit, die seit dem Frühjahr 2020 im deutschen und italienischen Sprachraum zur Regelung und Bezeichnung der Kommunikationsmodalitäten in verschiedenen Anwendungsbereichen gebraucht wird. In erster Linie lässt sich im Abschnitt 1 die Produktivität der deutschsprachigen Termini Abstand, Distanz und Distanzierung jeweils als Bestimmungsform in Komposita bzw. in Kollokationen mit den flektierten Adjektiven sozial und räumlich beobachten. Anschließend werden diese Elemente mit den entsprechenden italienischen Formen in Vergleich gesetzt, nämlich mit der Kollokation a distanza und mit dem Begriff distanziamento (vgl. dazu Klosa-Kückelhaus 2021a und 2021c, di Valvasone 2020). Anhand dieses Vergleiches tauchen sowohl gemeinsame Phänomene (wie etwa die Lehnübersetzungen aus dem Englischen social distancing) als auch Divergenzen zwischen den zwei Sprachen auf. Im Abschnitt 2 werden insbesondere die semantische Erweiterung sowie die Anwendung des italienischen Ausdrucks a distanza in bestimmten (Fach)bereichen fokussiert, deren Terminologie im deutschen Sprachraum teilweise auf englisches Sprachmaterial zurückgreift (z. B. didattica a distanza bzw. Homeschooling – vgl. dazu Di Carlo 2020, Klosa-Kückelhaus 2021b). In sprachvergleichender Hinsicht werden schließlich im Abschnitt 3 weitere morphologische Elemente aus den beiden Sprachen in den Blick genommen, die zum semantischen Spektrum von Distanz gehören: Der Fokus liegt insbesondere auf den Formen Fern- bzw. tele-, die besonders im Hinblick auf ihre diachrone Bedeutungsentwicklung und Produktivität betrachtet werden (vgl. dazu Bombi 20092). Bei der Darstellung der Sprachmaterialien und -phänomene werden zum einen die in der Kontaktlinguistik wesentlichen Interferenztypologien heranbezogen (vgl. u. a. Carstensen 1968, Duckworth 1977, Yang 1990), um die Rolle der englischen Sprache in der skizzierten Sprachinnovation einzuschätzen. Zum anderen wird die Terminologie auch diaphasisch betrachtet, und zwar unter Berücksichtigung der fachsprachlichen Gliederungen je nach kommunikativer Ebene oder Domäne der Wortverwendung (vgl. u. a. Fluck 19965, Roelcke 20204). In diesem Sinne zielt die Studie auch darauf, mögliche Perspektiven für weitere linguistische Untersuchungen zum Sprachgebrauch und zur Kommunikation im COVID-19-Zeitalter vorzuschlagen. Davon ausgehend betreffen die im Ausblick zusammengetragenen Desiderata die Weiterforschung der distanzbezogenen Terminologie, z. B. im Hinblick auf ihre Rolle in der Fachsprache der digitalen Medien. Außerdem sollen die Ausführungen einen Anstoß bzw. einen Hintergrund zur Analyse des Distanz-Be-
Zum Distanz-Begriff als Gegenstand und Form der Kommunikation
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griffes im umfassenden Corona-Pandemie-Diskurs darstellen – speziell nach korpusassistierten Ansätzen und Methoden (vgl. u. a. Freake 2012, Partington/ Duguid/Taylor 2013 und Nardone 2018).
2.
Abstands- und Distanzierungsmaßnahmen im Alltag
Seit dem Frühjahr 2020 zählt das Abstandhalten zu jenen Begriffen, welche den politischen und sozialen Diskurs in der bzw. über die Pandemie ständig geprägt haben, insbesondere im Rahmen der von Spieß (2021: 451–453) definierten Krisenkommunikation: In der aktuellen Corona-Pandemie stellt die Kommunikation politischer Akteur:innen an die Bevölkerung eine wichtige Maßnahme dar, um die politischen Entscheidungen zu begründen und zu legitimieren […]. Die Pandemie stellt eine Herausforderung für das politische Handeln dar und schlägt sich sowohl im politischen wie auch gesellschaftlichen Bereich nieder. Der Sprache kommt dabei eine entscheidende Rolle zu, denn einschneidende soziale Ereignisse, politisches Handeln und staatliche Maßnahmen werden sprachlich vermittelt, bevor sie und indem sie in Kraft treten. Somit ist die Corona-Krise geprägt durch eine bis heute andauernde Krisenkommunikation. […] Im Zentrum der sogenannten Krisenkommunikation steht aber immer ein zentrales Ziel […]: die Eindämmung der Virusaktivität und die Erlangung der Kontrolle über das Virusgeschehen.
Laut Möhrs (2021: 35) galt bereits damals das Abstandhalten quasi als ein Oberbegriff für die verschiedenen »Maßnahmen, die zur Eindämmung der Infektion von den Regierungen der Länder verhängt wurden: ob Ausgangssperre oder -beschränkung, Kontaktverbot, Quarantäne – flächendeckend geht es um das Prinzip, das mit Social Distancing bezeichnet wird und bei dem es um das Abstandhalten1 geht«. Wie in der herangezogenen Quelle auftaucht, gestalten sich sowohl das entlehnte Fremdwort Social Distancing als auch der deutsche Begriff Abstand als zentrale Schlagwörter in der politischen Kommunikation über die COVID-19-Schutzregelung bzw. ihre konkrete Erfüllung im Alltag. Die schlagwortartige Charakterisierung der beiden Ausdrücke hebt Klosa-Kückelhaus (2021a: 28) hervor, indem sie Angela Merkels Rede vom 18. März 2020 zitiert: Social Distancing ist sicherlich eines der Schlagwörter, das in Berichten zur CoronaPandemie in deutschen Medien besonders häufig verwendet wird. In weniger fachsprachlicher Ausdrucksweise hat selbst Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in ihrer Fernsehansprache vom 18. 3. 2020 hierauf Bezug genommen: »Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge«. 1 Hervorhebungen im Original.
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Hinsichtlich der diaphasischen Differenzierung der zwei Ausdrücke erscheint insbesondere Abstand als ein Schlagwort, das sich ans breite Publikum richtet: Das suggerieren 1) seine einheimische Herkunft bzw. seine semantische Eindeutigkeit, 2) seine Verwendung in der Krisenkommunikation und 3) die hier einfach formulierte und emotional aufgeladene Bezeichnung als »Ausdruck von Fürsorge«. Noch im Frühjahr 2020 gewann der Begriff Abstand in einer solchen Kommunikation an Relevanz, als das Buchstabenwort AHA als Baustein des Fremdund Selbstschutzes im Alltag vom Gesundheitsbundesministerium geprägt wurde. Somit wurde Abstand zum ersten Element (A) einer erfolgreichen Benennung der zentralen Präventionsmaßnahmen gegen COVID-19-Ansteckungen zusammen mit Hygiene (H) und Alltagsmasken (A). Die AHA-Formel, die später durch die Elemente +C (Corona-Warn-App)2 und +L (Lüften) erweitert wurde, zählt nach dem Leibniz-Institut für Deutsche Sprache zu den zahlreichen COVID-19-bezogenen Wortschöpfungen, die den deutschen Wortschatz in den zwei vergangenen Jahren geprägt haben. Im IDS-Neologismenwörterbuch3 sind folgende Zusammensetzungen mit der Abkürzung AHA als Bestimmungsform zu finden: AHA-Formel, AHA-Regel und AHA-Erlebnis (»Veranstaltung, die unter den während der COVID-19-Pandemie vorgeschriebenen Abstands- und Hygieneregeln durchgeführt wird«).4 Selbst der Begriff Abstand per se hat sich in der Komposition als besonders produktiv erwiesen, vor allem als Bestimmungsform: Neben Wörtern, die seit den ersten Monaten Pandemie in der Krisenkommunikation schon vorhanden waren (Abstandsmaßnahme, -regel, -regelung, -vorschrift), sind im IDS-Neologismenwörterbuch u. a. Komposita wie Abstandsbier, -hochzeit, -party verbucht. Bei solchen Neuprägungen, die ab dem Sommer 20205 entstehen, bezeichnet die jeweilige Grundform eine gewisse Veranstaltung oder Aktivität, »die unter Einhaltung der während der COVID-19-Pandemie geltenden Kontakt- und Alltagsbeschränkungen stattfindet«.6 2 Auch in der Variante +A (App). Für die verschiedenen Erweiterungen der Formel und die jeweiligen Datierungen vgl. Fußnote 4 dieses Beitrags. 3 Vgl. insbesondere die Rubrik »Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie« https:// www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp [Zugriff am 05. 02. 2022]. 4 https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp#aha-erlebnis [Zugriff am 05. 02. 2022]. Der Neologismus AHA-Erlebnis ist vom 13. 10. 2020; die Neologismen AHA-Formel und AHA-Regel vom 22. 04. 2020 bzw. vom 09. 05. 2020. Hinsichtlich der erweiterten Varianten der Formel ist AHA+A-Formel vom 05. 08. 2020, AHA+C+L-Formel vom 08. 01. 2020 [sic!] – die Datierung von AHA+C+L-Regel (08. 10. 2020) suggeriert dennoch, dass es sich um den 8. Oktober handelt. 5 Die drei angegebenen Komposita Abstandshochzeit, Abstandsbier und Abstandsparty sind mit 14. 05. 2020, 18. 12. 2020 bzw. 03. 01. 2021 datiert. 6 https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp# [Zugriff am 05. 02. 2022], vgl. insbesondere die Definitionen von Abstandsparty und Abstandshochzeit.
Zum Distanz-Begriff als Gegenstand und Form der Kommunikation
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Was das Schlagwort Social Distancing angeht, betont Klosa-Kückelhaus (2021a: 29) die schon erwähnte fachsprachliche Herkunft des Anglizismus, der zweierlei Wege, über die neue Wörter in den deutschen Allgemeinwortschatz wandern, illustriert: Zum einen ist es ein Beispiel für einen ursprünglich fachsprachlichen Ausdruck (hier der Fachsprache der Epidemiologie), zum anderen ein Beispiel für einen aus einer anderen Sprache (hier das Englische) entlehnten Ausdruck. […] In der Fachsprache [intendiert] die Maßnahme des Social Distancing […], dass sich Menschen […] räumlich bzw. physisch voreinander getrennt halten.
Betrachtet man die distanzbezogene Kommunikation aus dem Blickwinkel der fachsprachlichen Binnendifferenzierung (d. h. »vertikal« je nach ihren Abstraktionsstufen7), wird ursprünglich Social Distancing auf der fachkommunikativen Ebene bzw. zur fachlichen Bezeichnung der Maßnahme(n) angewandt, für die im Alltag der Begriff Abstand(s) gebraucht wird. Eine solche diaphasische Differenzierung hat sich jedoch abgeschwächt, als sich das Fremdwort Social Distancing über die deutschsprachigen Medien im Allgemeinwortschatz verbreitet hat und auch durch die Lehnprägung soziale Distanzierung ersetzt wurde. Wie es bei in die Gemeinsprache übernommenen Fachwörtern bzw. Anglizismen häufig der Fall ist, hat sich die Semantik des Terminus Social Distancing in der entsprechenden Lehnübersetzung verändert. Dabei besteht insbesondere die Problematik des deutschen Adjektivs sozial: Per se weist dieses im Ausdruck soziale Distanzierung darauf hin, dass »sich Menschen in ihren gesellschaftlichen Kontakten voneinander entfernen […]. Fachsprachlich wird deshalb im Deutschen im Kontext der Seucheneindämmung von Maßnahmen der räumlichen bzw. physischen Distanzierung oder Trennung gesprochen« (Klosa-Kückelhaus 2021a: 29). Bevor die italienischen Elemente distanza (Abstand) und distanziamento (Distanzierung) in Betracht gezogen werden, lässt sich im deutschsprachigen Kontext noch die Variante soziale Distanz erwähnen: In der medialen Kommunikation zur Pandemie wird diese laut Klosa-Kückelhaus mit gleichem Bezug wie soziale Distanzierung verwendet, obwohl das Lehnwort Distanz aus dem Latein distantia – sowie auch der einheimische Begriff Abstand – zunächst de[n] Zustand bezeichnet, in dem sich zwei Gegenstände in räumlicher Entfernung zueinander befinden. Hierzu tritt später die übertragene Verwendung, bei der mit Distanz auch auf einen Zustand von abstrakten Gegenständen oder Sachverhalten referiert wird. […] Demgegenüber sind Distancing bzw. die deutsche Übersetzung Distanzierung sogenannte Handlungsprädikatoren, mit denen auf ein Handeln oder ein Geschehen verwiesen wird. (Klosa-Kückelhaus 2021c: 142)
7 Zur vertikalen Gliederung der Fachsprachen vgl. u. a. Fluck (19965: 194), Roelcke (20204: 49– 56).
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Federico Collaoni
In Bezug auf die Anwendung der Kollokation soziale Distanz als gleichbedeutende Variante der Lehnübersetzung soziale Distanzierung stellt Klosa-Kückelhaus (2021c: 142) weiter fest: Dass Distanz in der Verbindung soziale Distanz beeinflusst durch Maßnahmen während der Coronapandemie auch als Handlungsprädikator belegt ist, ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich – auch durch Einfluss von aus anderen Sprachen entlehnten oder aus Fachsprachen übernommenen Termini – Bedeutungen verschieben können.
Seit Ende Februar 2020 wurde der englische Fachbegriff social distancing aus dem Bereich der Epidemiologie auch ins Italienische in Form einer Lehnübersetzung übernommen, nämlich als distanziamento sociale8. Wie in der von der Accademia della Crusca herausgegebenen Zeitschrift »Italiano Digitale« zu lesen ist, haben die (Presse-)Medien und die Krisenkommunikation bei der Verbreitung des Ausdrucks in der Alltagssprache eine zentrale Rolle gespielt (vgl. di Valvasone 2020). Ein weiterer gemeinsamer Aspekt mit dem deutschen Kontext betrifft die Kritik an der Verwendung des Adjektivs sociale: Selbst im Rahmen der Accademia hat sich der Honorarpräsident Francesco Sabatini für die Variante distanziamento interpersonale ausgesprochen (vgl. di Valvasone 2020: 104), und im Treccani Online-Wörterbuch ist neben dem Ausdruck distanziamento sociale auch die weniger fachsprachliche und abstrakte Variante distanziamento fisico verbucht, die im Vergleich zum ersten Begriff die soziale Inklusion nicht gefährdet.9 In Bezug auf das italienische Wortpaar für Distanzierung – Distanz als Handlungs- bzw. Zustandsprädikatoren stellt di Valvasone (2020: 100) fest, dass mit distanziamento sociale sowohl die Verordnungsmaßnahme(n) an sich als auch ihr Ergebnis bezeichnet wird. In diesem Sinne lässt sich das Wort distanziamento im Pandemie-Kontext sowohl als Handlungs- als auch als Zustandsprädikator definieren. Der Begriff distanza, der den deutschen Lexemen Abstand – Distanz entspricht, drückt per se einen Zustand aus und kommt auch in der italienischen Krisenkommunikation im Zusammenhang mit dem Adjektiv sociale vor. Ein Beispiel dafür ist in der Ansprache zu finden, die am 26. 04. 2020 vom damaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte gehalten wurde: »Vogliamo tutti che il Paese riparta, ma l’unico modo è la distanza sociale« [Wir wünschen
8 Mit 22. 02. 2020 datiert (vgl. di Valvasone 2020: 101). 9 Vgl. https://www.treccani.it/vocabolario/distanziamento-sociale https://www.treccani.it/voca bolario/distanziamento-fisico [Zugriff am 10. 02. 2022]. Die zwei Ausdrücke sind auch im Nuovo De Mauro Online-Wörterbuch s.v. distanziamento verbucht: https://dizionario.interna zionale.it/parola/distanziamento-sociale https://dizionario.internazionale.it/parola/distanzia mento-fisico [Zugriff am 10. 02. 2022].
Zum Distanz-Begriff als Gegenstand und Form der Kommunikation
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uns alle einen Neustart unseres Landes, aber der einzige Weg ist die soziale Distanz]10. Dass das italienische Lexem distanza seit dem Ausbruch der Pandemie eine zentrale Rolle in der Kommunikation spielt, lässt sich nicht nur anhand von Kollokationen wie mantenere la distanza, rispettare la distanza (Abstand halten, Abstand einhalten) beobachten. Außer der Häufigkeit, mit der diese in den Regelungen zum Corona-Schutz im Alltag vorkommen, ist die Produktivität der Kollokation a distanza (per se Abstands-) von großer Bedeutung – insbesondere was die Bezeichnung von Kommunikationsmodalitäten in verschiedenen Bereichen angeht. Im nächsten Abschnitt werden Beispiele für den Erfolg dieses Ausdrucks herangezogen sowie Divergenzen mit der entsprechenden deutschen (Fach)terminologie hervorgehoben.
3.
a distanza und Home-: Benennungen von Kommunikationsformen in der Pandemie
Bereits vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie war die Kollokation a distanza als Zweitglied in Wortverbindungen produktiv, u. z. als Prädikator einer – außergewöhnlichen – räumlichen Distanz beim Geschehen eines Phänomens oder bei der Durchführung eines Verfahrens. Beispiele dafür sind in verschiedenen (Fach)bereichen zu finden, eines vorerst in der Wissenschaftssprache: In der Physik bezeichnet der Ausdruck azione a distanza eine »wirkende Kraft über den leeren Raum ohne Vermittlung eines Zwischenmediums11«, wofür im Deutschen der Begriff Fernwirkung steht. In der sozialen Domäne lassen sich die zwei Wendungen relazione a distanza und adozione a distanza erwähnen. Die erste bietet ein weiteres Beispiel für die Äquivalenz zwischen der italienischen Kollokation a distanza und dem deutschen Element Fern- (hier Fernbeziehung). Bei der zweiten handelt es sich um die regelmäßige Unterstützung einer bedürftigen Person oder Personengruppe aus einem anderen Land – speziell Kinder –, die über internationale Hilfsorganisationen finanziell erfolgt. Da dies keine adozione (Adoption) per se impliziert, wird die Variante sostegno (Unterstützung) a distanza bevorzugt. In der deutschen Terminologie wird diese Maßnahme als (internationale Spender-)Patenschaft definiert. 10 di Valvasone (2020: 105) [Übersetzung des Autors]. 11 Fernwirkung, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Neubearbeitung (1965–2018), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/dwb2/fernwirkung [Zugriff am 03. 02. 2022].
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Es ist aber vor allem im Bildungsbereich zu beobachten, dass die Kollokation a distanza vor und in der Pandemie betrachtungswürdig ist, insbesondere im Vergleich zur Begrifflichkeit, die im deutschen Sprachraum angewandt wird. Wie Di Carlo (2020: 83–84) hervorhebt, ist die Wortverbindung formazione a distanza bereits seit den 1980er Jahren in Gesetzestexten vorhanden. Diese bezieht sich auf die Nutzung von immer neueren Medienressourcen und -technologien zwecks einer höheren Zugänglichkeit der akademischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung (formazione, im umfassenden Sinne der geistigen, kulturellen, persönlichen und Kompetenzentwicklung). Im Hinblick auf die Universitätsebene wurden parallel noch die Wendungen istruzione (Bildungswesen, hier Ausbildung) a distanza und didattica a distanza verwendet.12 Anhand dieses Beispiels lässt sich ein bisher nicht illustriertes semantisches Merkmal der Kollokation a distanza erwähnen, nämlich der Hinweis auf digitale Medien als Mittel zur Distanzkommunikation in einem bestimmten Kontext oder Bereich. Mit dem Ausbruch der Pandemie und den darauffolgenden LockdownMaßnahmen entstand für Lernende bzw. Studierende und Lehrpersonal das Bedürfnis nach alternativen und systematischen Interaktionsmodalitäten, welche die Fortsetzung der Ausbildung auf den verschiedenen Ebenen gewährleisten sollten. Als Oberbergriff für diese neuen Lehr- und Lernformen, die 2020 auf eine Reihe von etablierten Technologien der digitalen Kommunikation setzen konnten, wurde das erfolgreiche Etikett didattica a distanza gewählt. Seitdem sind die Wendung didattica a distanza und die entsprechende Kurzform DAD im Sinne des telematischen Lehrens und Lernens (speziell in der COVID-19-Pandemie) als Neologismen anerkannt und auch im offiziellen Sprachgebrauch weit etabliert. Dass die Kollokation a distanza in diesem Ausdruck eher das semantische Merkmal online, telematisch, digital als dasjenige von räumlicher Abstand an sich aufzeigt, bestätigt das Vorhandensein der später eingeführten Wendung Didattica Digitale Integrata (auch in der Kurzform DDI) und der – weniger verbreiteten – Variante teledidattica13. Im Hinblick auf die entsprechende deutschsprachige Terminologie lässt sich hier eine Divergenz beobachten, nämlich die erfolgreiche Anwendung des – im Deutschen schon vorhandenen – englischen Elements Home-. Wie in KlosaKückelhaus (2021b: 49) zu lesen ist, wurde dieses bereits im Frühling 2020 in der Krisenkommunikation dazu verwendet, die neuen, in der COVID-19-Pandemie 12 Die Wendung formazione a distanza ist mit 23. 10. 1985 datiert (vgl. Di Carlo 2020: 84 und den Beleg »Dekret 1129 des Präsidenten der Republik, Art. 81, 82«). In Sinne der »außerhalb der institutionellen Strukturen durchgeführten Lehraktivitäten« ist didattica a distanza in der Presse bzw. in der Tageszeitung Corriere della Sera mit 13. 04. 1983 datiert (vgl. https://www. treccani.it/vocabolario/didattica-a-distanza [Zugriff am 20. 02. 2022]). 13 Zur Semantik des Elementes tele- im Italienischen und im Deutschen vgl. Abschnitt 3 dieses Beitrags.
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erforderlichen Lern- und Arbeitsmodalitäten zu bezeichnen. Die Autorin zitiert insbesondere eine Meldung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung über die Sozialen Medien vom 30. 03. 2020, in der die erneute Relevanz der Anglizismen Homeschooling und Homeoffice auftaucht. Bei Homeschooling liegt hier das Interesse darin, dass das Fremdwort im deutschen Sprachraum einer Bedeutungsentwicklung unterliegt bzw. im übertragenen Sinne benutzt wird. In der Ausgangssprache bezieht sich das Kompositum auf eine Lehr- bzw. Lernform, bei der Kinder oder Jugendliche Unterricht zu Hause erhalten, speziell von ihren Eltern – dafür stehen in Italien sowohl der entlehnte Anglizismus per se als auch der einheimische Ausdruck educazione parentale. In Bezug auf den Begriff Homeoffice, der »als Neologismus aus der Mitte der 90er Jahre […] im Neologismenwörterbuch des IDS mit den Lesarten ›Büroarbeitsplatz zu Hause‹ und ›Berufstätigkeit zu Hause‹ verbucht« (Klosa-Kückelhaus 2021b: 51) ist, ist vorerst seine Produktivität als Bestimmungsform in weiteren Komposita erwähnenswert, welche die Gestaltung und die Regelung der neuen Arbeitsformen in der Pandemie bezeichnen. Im IDS-Neologismenwörterbuch sind folgende Lexeme im neuen Wortschatz rund um die Corona-Pandemie zu finden: Homeofficeeinsamkeit, -fähig, -gesetz, -modus, -pauschale, -pflicht, -pflicht light, -quote, -tauglich, -verpflichtung, -zwang. Um die semantische Relevanz der digitalen Medien im Element Home- hervorzuheben, wird hier die Definition des Derivates Homeofficer herangezogen, nämlich »Person, die ihre Berufstätigkeit unter Einsatz der modernen Medien und Telekommunikation von zu Hause aus ausübt«14. Der im Deutschen angewandte Begriff Homeoffice lässt eine weitere terminologische Divergenz zu dem italienischen Sprachraum feststellen. Zur Benennung beruflicher Tätigkeiten bzw. Ausgaben, die in der Pandemie daheim bzw. telematisch ausgeführt werden, hat auch in Italien englischsprachiges Material Anwendung gefunden – was den internationalen Erfolg von Anglizismen im COVID-19-Zeitalter beweist; im Gegensatz zum deutschen Sprachraum geht es jedoch um den Ausdruck smart working und die – weniger verbreitete – entsprechende Ersetzung15 lavoro agile. Im Treccani online-Wörterbuch ist daneben noch der Begriff for working (auch in den graphischen Varianten For working und F.O.R. Working) als Neologismus aus dem Jahr 2021 vorhanden und als »eine möglichst effiziente Arbeitsform, deren Schwerpunkte die Flexibilität (F), die Ziele (Obiettivi, daher O) und die Resultate (R) der Angestellten sind«16 definiert. 14 https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp#homeofficer [Zugriff am 20. 02. 2022]. 15 Carstensen (1968: 33) verwendet das Etikett bzw. den Oberbegriff Ersetzung mit Bezug auf jene Interferenzphänomene, bei denen ausschließlich einheimisches Lehngut angewandt wird. 16 https://www.treccani.it/vocabolario/for-working_%28Neologismi%29/ [Zugriff am 20. 02. 2022, Übersetzung des Autors].
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Das herangezogene Sprachmaterial ist linguistisch gesehen von besonderem Interesse, was die Typologien der Interferenzphänomene im Bereich der Kontaktlinguistik angeht: Innerhalb der Kategorie der Entlehnungen lassen sich Homeschooling und Homeoffice als semantische Scheinentlehnungen (vgl. Yang 1990: 14) klassifizieren, da diese Fremdwörter ins Deutsche mit einer anderen, in der Ausgangssprache nicht vorhandenen Bedeutung übernommen werden. Im Gegensatz zum Ausdruck Homeoffice, dessen Variante home office im Englischen das britische Innenministerium bezeichnet, entstehen Begriffe wie smart working und for working im italienischen Sprachraum, wobei diese als lexikalische Scheinentlehnungen (vgl. Yang 1990: 14) definiert werden können. Im Hinblick auf die Neuprägung lavoro agile wird hier das Etikett der Lehnschöpfung17 vorgeschlagen, soweit es sich dabei um die Übersetzung einer Scheinentlehnung handelt. Anhand der angegebenen Beispiele soll zum einen aufgezeigt werden, wie die durch die Pandemie entstandenen kommunikativen Herausforderungen die Prägung einer gezielten Terminologie in verschiedenen Bereichen erfordert haben, was auf lexikalischer und semantischer Ebene wesentliche Sprachkontakte und -interferenzen bzw. Bedeutungswandel und -erweiterungen gefördert hat. Zum anderen soll die Vielfältigkeit des Begriffes (kommunikative) Distanz in der Pandemie hervorgehoben werden, insbesondere was ihren immer engeren Zusammenhang mit den digitalen Medien als Mittel zur Distanzüberbrückung angeht. Damit befasst sich auch der nächste Abschnitt des Beitrags, in der weitere morphologische und lexikalische Elemente des Deutschen und des Italienischen herangezogen werden, um einen möglichst umfassenden sprachvergleichenden Überblick über ihre distanzbezogene Begrifflichkeit zu bieten.
4.
Distanzüberbrückung durch digitale Medien: Die Elemente fern- und tele-
Am Beispiel des erwähnten Ausdrucks teledidattica, der per se keine Neuprägung ist, lohnt es sich an dieser Stelle, an zwei Bedeutungswandel des griechischen Elements tele- in der italienischen Wortbildung zu erinnern (vgl. auch Bombi 20092: 317–321), um den in der Pandemie immer offenbareren Zusammenhang zwischen den Begriffen Distanz und telematisch auch lexikalisch und semantisch zu beobachten. Das ursprüngliche Merkmal des Präfixes tele- entspricht demjenigen der deutschen Form fern- (man denke an Bildungen wie z. B. telescopio – Fernrohr,
17 Vgl. Yang (1990: 16), Abbildung 1.1. »lexikalische Entlehnungsart«.
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televisione – Fernsehen und ans Fachwort teleriscaldamento – Fernheizung). Vom Wort televisione ausgehend wurde eine Reihe von Begriffen geprägt, bei denen sich tele- auf das Fernsehen bezieht: Beispiele dafür sind telegiornale (Tagesschau; giornale > Zeitung), telespettatore (Fernsehzuschauer), teledipendente (fernsehsüchtig). Von besonderem Interesse ist hier der Fall von televendita: Dafür sind im deutschen Sprachraum die Ausdrücke Teleshopping und Homeshopping aus dem Englischen übernommen worden.18 Bietet der erste Begriff ein Beispiel für die semantische Entwicklung des Elementes tele- im Englischen, beweist der zweite den Erfolg des Fremdelements Home im Deutschen. Der zweite Bedeutungswandel des Präfixes tele- erfolgt im Italienischen anhand des Begriffes telematica (Telematik). Die Produktivität vom griechischen Element mit dem neuen semantischen Merkmal telematisch, über digitale Medien erfolgend ist am Beispiel von verschiedenen Bildungen zu beobachten, die sich in den 1980er Jahren verbreitet und etabliert haben (vgl. Bombi 20092: 319– 321 und die jeweiligen Datierungen): Dazu zählen teleconferenza (Telekonferenz, Videokonferenz), telelavoro (Telearbeit) sowie Zusammensetzungen mit schon erwähnten Termini aus dem Bildungsbereich (teleformazione, teleistruzione, teledidattica19). Am Beispiel der ersten zwei Begriffe lässt sich die Übernahme des Elementes tele- ins Deutsche im übertragenen Sinne der Telematik beobachten (»Verknüpfung von mindestens zwei EDV-Systemen u. einer bestimmten Art der Datenverarbeitung […] verkürzt Telekommunikation + Informatik« – Wahrig 2008). Eine semantisch differenzierte Anwendung von tele- im Vergleich zur einheimischen Form fern- taucht im Bereich der Ausbildung auf: Bei Fernstudium und Fernunterricht handelt es sich um ein »Studium mithilfe von Unterrichtsbriefen ohne Besuch von Hochschulvorlesungen, meist nebenberuflich betrieben« bzw. um einen »Unterricht ohne direkten Kontakt zw. Lehrendem u. 18 In Wahrig (2008) werden die zwei Begriffe als Synonyme verbucht, u. z. mit Bezug auf das »Einkaufen durch Bestellung von Artikeln, die im Fernsehen od. anderen elektron. Medien angeboten werden«. Diese Definition suggeriert, dass es sich bei Teleshopping um einen Grenzfall handeln könnte, da das Präfix tele- nicht nur auf das Fernsehen, sondern auch auf die digitalen Medien bezogen ist (vgl. den zweiten Bedeutungswandel des griechischen Elementes tele- in diesem Abschnitt des Beitrags). Typologisch gesehen stellt sich dazu die Frage, zu welcher Kategorie der Sprachinterferenz die zwei Begriffe gehören, und zwar ob sie als Fremdwörter betrachtet werden können, (»die aus einer Fremdsprache übernommen und im Deutschen ohne phonologische, orthographische, morphologische und semantische Veränderung gebraucht werden« – Yang 1990: 11), oder ob sie als semantische Scheinentlehnungen zu klassifizieren sind (im Englischen scheint teleshopping hauptsächlich auf das Fernsehen, home-shopping auf das Online-Einkaufen bezogen zu sein). 19 Dabei handelt es sich laut Bombi (20092: 321) um Grenzfälle, da diese Lehr- bzw. Lernmodalität sowohl durch räumliche Distanz als auch durch deren Überbrückung mithilfe von digitalen Medien geprägt ist.
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Lernendem« (Wahrig 2008). Während das semantische Merkmal der räumlichen Distanz hier vorherrschend ist, versteht man unter Telelearning (Syn. Electronic Learning, E-Learning) »computergestütztes Lernen, Weiterbildung mithilfe von elektr. Lernprogrammen« (Wahrig 2008). Solche semantischen Entwicklungen bzw. Differenzierungen von morphologischen Elementen in den beiden Sprachen sind heutzutage durch den neuen kommunikativen Kontext in der Pandemie stark beeinflusst. Zum einen bekommen gewisse Formen noch das semantische Merkmal telematisch, wie z. B. fern- im Begriff Fernbeschulung: Im IDS-Neologismenwörterbuch ist dieser als »Lehrstoffvermittlung an Lernende durch eine Lehrkraft unter Einsatz von modernen Medien und Telekommunikationsmitteln, aber ohne direkten Kontakt« definiert – und im Vergleich zum Anglizismus Homeschooling als Terminus »der Sprache der Bildungsbürokraten« betrachtet.20 Zum anderen führt die Prägung bzw. die Anwendung von bestimmten Begriffen im Pandemie-Kontext zu einer immer stärkeren semantischen Differenzierung in der Terminologie. So unterscheidet sich der – auch ins Italienische entlehnte – Anglizismus E-Learning vom Ausdruck didattica a distanza dadurch, dass der erste einen gesteuerten aber vorwiegend autonomen Lernprozess mithilfe von Online-Ressourcen (Plattformen, Materialien) bezeichnet, während der zweite die Lehrinterventionen und die entsprechenden didaktischen Strategien fokussiert, welche die Pandemie im Schulbereich erfordert hat (vgl. Di Carlo 2020: 85). Die künftige Weiterentwicklung der distanzbezogenen Terminologie auf morphologischer, lexikalischer und semantischer Ebene hängt derzeit vom Verlauf der COVID-19-Pandemie und von den dementsprechend getroffenen Maßnahmen ab. Je nachdem, welche Regelungen der Alltags- und der beruflichen Kommunikation in der kommenden Zeit festgelegt werden, könnte die hier skizzierte Begrifflichkeit nicht mehr bzw. »auch nach dem Ende der Coronakrise verwendet werden […], und zwar nicht nur mit dann historischem Bezug auf die Krise im Jahr 2020, sondern auch losgelöst hiervon« (so Klosa-Kückelhaus 2021a: 29, speziell in Bezug auf den Anglizismus Social Distancing). Was die kommunikative Ebene angeht, stellt sich die Frage, ob gewisse Begriffe terminologisiert werden könnten21, d. h. ausschließlich oder hauptsächlich als Fachtermini in (einem) bestimmten Bereich(en) weiter angewandt werden. Entsprechende 20 https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp#fernbeschulung [Zugriff am 23. 02. 2022]. Bei Fernbeschulung handelt es sich nicht um einen Neologismus, der im Pandemie-Kontext geprägt wird: Die Belege, die der zitierten Definition folgen, sind mit 28. 07. 2012 datiert. Im aktuellsten dieser (aus der Süddeutschen Zeitung, 08. 02. 2021) taucht der Begriff Fernbeschulung als Terminus der Sprache der Bildungsbürokraten auf: »8,3 Millionen Schülerinnen und Schüler sind im sogenannten Homeschooling, im Wechselunterricht oder, wie es in der Sprache der Bildungsbürokraten heißt, in der Fernbeschulung« – Hervorhebung im Original. 21 Zur Terminologisierung von Fachwortschatz vgl. Roelcke (20204: 83f.).
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Forschungsdesiderata werden im folgenden Fazit zusammengetragen, in dem ein zusammenfassender Ausblick auf das fokussierte Sprachmaterial gegeben wird.
5.
Fazit
Die vorliegende lexikalische Studie setzte sich zum Ziel, Perspektiven für die Analyse eines möglicherweise signifikanten Themas im Rahmen des umfassenden Corona-Pandemie-Diskurses vorzuschlagen. Aus dem Blickwinkel der Fachsprachenforschung wurde im Abschnitt 1 die in der Krisenkommunikation angewandte distanzbezogene Terminologie auf der vertikalen Ebene der fachsprachlichen Gliederung betrachtet (vgl. Roelcke 20204: 49–56). Dadurch wurden am Beispiel des Anglizismus Social Distancing die Popularisierung bzw. die Verbreitung von Fachtermini in der Alltagssprache sowie die damit verbundenen semantischen Änderungen veranschaulicht. Insbesondere hat das Adjektiv social im öffentlichen Sprachgebrauch eine Konnotation bekommen, die auf fachsprachlicher Ebene nicht vorhanden war, wobei sich die Lehnübersetzungen soziale Distanzierung bzw. distanziamento sociale als problematisch erwiesen haben.22 Diesbezüglich gestaltet sich die Weiterforschung solcher Transfer-Phänomene als Desiderat, und zwar mit dem Ziel, den Einfluss der Fachterminologie und ggf. deren Bedeutungsentwicklungen auf die Sprache des Corona-Pandemie-Diskurses einzuschätzen. Anhand dieser vertikalen Perspektive dürfte in künftigen Studien auch geklärt werden können, ob der popularisierte Fachwortschatz in der Alltagssprache weiterhin benutzt wird oder »wieder auf den fachsprachlichen Kontext eingeschränkt wird« (KlosaKückelhaus 2021a: 29). Der Abschnitt 2 stellte ein Beispiel für eine lexikalische Analyse des Themas kommunikative Distanz vor dem Hintergrund der horizontalen Gliederung der Fachsprachen (Roelcke 20204: 42–49), d. h. unter Berücksichtigung ihrer Differenzierung je nach Anwendungsbereich dar. Das Bedürfnis nach Bezeichnungen für die Kommunikationsformen in der Pandemie hat die Produktivität von Sprachmaterialien in bestimmten Bereichen gefördert, und dabei lassen sich auch semantische Entwicklungen beobachten. Im italienischen Sprachraum 22 Selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich dafür ausgesprochen, dass der Begriff social distancing und dessen Lehnübersetzungen nicht weiter gebraucht werden, und zwar aufgrund der möglichen sozialen Auswirkungen des Narratives, das die semantische Zweideutigkeit des Ausdrucks im Diskurs auslöst. Vgl. dazu https://www.treccani.it/vocabola rio/distanziamento-fisico [Zugriff am 10. 02. 2022] und die Webseite der WHO, in deren Sektion »information for the public« eher der Begriff physical distancing verwendet wird, https://www.who.int/westernpacific/emergencies/covid-19/information/physical-distancing [Zugriff am 25. 02. 2022].
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suggeriert der Gebrauch der Kollokation a distanza im Bildungsbereich eine Bedeutungserweiterung im Vergleich zu Wortverbindungen wie azione a distanza (in der Wissenschaftssprache) und adozione bzw. relazione a distanza (im sozialen Bereich): Der Begriff didattica a distanza drückt nämlich nicht mehr nur die räumliche Distanz aus, sondern er impliziert auch deren Überbrückung mithilfe der digitalen Medien. Auch die Variante Didattica Digitale Integrata sowie die im Abschnitt 3 skizzierten semantischen Entwicklungen der Elemente fern- und tele- lassen an einen immer engeren Zusammenhang zwischen dem Distanz-Begriff und der Online-Kommunikation denken. In dieser Hinsicht soll die Rolle weiter untersucht werden, welche die in der Pandemie entstandene bzw. angewandte Terminologie besonders in der Fachsprache der digitalen Medien spielen könnte. Dafür bietet die horizontale Gliederung der Fachsprachen eine mögliche theoretische Analyseperspektive, die den Austausch von Sprachmaterialien zwischen verschiedenen Fachbereichen in den Blick nimmt. Aus der Perspektive der Kontaktlinguistik wurde in diesem Beitrag der internationale Erfolg des englischen Wortschatzes in der distanzbezogenen Kommunikation am Beispiel von verschiedenen Lexemtypologien hervorgehoben. Zur Makrokategorie der Entlehnungen gehören nämlich Anglizismen wie Social Distancing, Homeschooling sowie Termini aus dem beruflichen Bereich, die im Deutschen bzw. im Italienischen etabliert sind (vgl. Homeoffice, smart working). Darunter lassen sich jedoch bestimmte Begriffe als Scheinentlehnungen klassifizieren, da sie keine lexikalische oder semantische Entsprechung mit der Ausgangssprache aufzeigen: Beispielsweise haben die zuletzt genannten Benennungen von Arbeitsmodalitäten in der Pandemie kein Vorbild im englischen Wortschatz, wo eher die Form working from home Anwendung findet. Was die Ebene der Semantik angeht, bekommt z. B. der Anglizismus Homeschooling im deutschen Sprachraum eine neue, auf die Didaktik in der Pandemie bezogene Bedeutung, die der Begriff weder im Englischen noch im Italienischen hat. Im Rahmen solcher Interferenzphänomene, welche die Pandemie gefördert hat, ist eine wesentliche Sprachinnovation zu beobachten, vor allem was die Entstehung von Neuprägungen und Wortschöpfungen in den Jahren 2020–2021 angeht (vgl. for working im italienischen Sprachraum). Diese – derzeit noch wenig erforschten – Ausdrücke scheinen für künftige lexikalische Studien aus dem Blickwinkel der Kontaktlinguistik vielversprechend zu sein. Die Rolle und das Prestige der englischen Sprache im Corona-Pandemie-Diskurs sollten auch anhand der Weiterforschung von Lehnprägungen eingeschätzt werden: Die Lehnübersetzungen soziale Distanzierung bzw. distanziamento sociale stellen in diesem Sinne ein Beispiel für die internationale Resonanz und Rezeption des Anglizismus social distancing dar, der im öffentlichen Sprachgebrauch noch eine schlagwortartige Konnotation bekommen hat.
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Im Hinblick auf künftige Untersuchungen zum Thema Distanz und dessen Versprachlichung im umfassenden Corona-Pandemie-Diskurs möchte dieser Beitrag Anstöße zur Durchführung von weiteren Sprachanalysen bieten, die auch korpuslinguistische Ansätze und Methoden einbeziehen. Anhand der Zusammenstellung von medialen Korpora und derer Befragung soll die Relevanz der skizzierten Begrifflichkeit in der öffentlichen Debatte sowohl quantitativ als auch qualitativ beleuchtet werden, um zu verstehen, inwieweit das analysierte Thema diskursprägend ist. In dieser Hinsicht gestaltet sich der Ansatz der Corpus-Assisted Discourse Studies als besonders geeignet, auch was die sprachvergleichende Weiterforschung des Distanz-Begriffes im Diskurs betrifft (vgl. u. a. Freake 2012, Partington/Duguid/Taylor 2013 und Nardone 2018).
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Przemysław Staniewski (Uniwersytet Wrocławski, Wrocław)
Corona-Impfung aus der sprachlichen korpusorientierten Perspektive
Abstract Corona Vaccine from a Linguistic Corpus-Oriented Perspective The COVID-19 pandemic had a huge impact on almost all fields of human activity. Since the outbreak of the disease at the end of 2019 the governments and humanitarian organisations try very hard to avoid the economic, political and social consequences of the pandemic and to stop its spreading. The protective measures at their disposal are masks, disinfection, lockdown, social distancing and vaccines. The latter seems to be the most effective in terms of getting the spread of coronavirus under control. Considering the prominent role of the vaccination in fighting the pandemic, the aim of the article is to shed light on this phenomenon from the linguistic perspective. After some introductory remarks on COVID-19 and language, three German lexemes Impfung, Impfen and impfen are analysed based on language corpora, in order to determine which aspects of the vaccination domain were highlighted in the discussions on vaccination so far. Keywords: COVID-19, Corona, vaccine, language corpora, German Schlüsselwörter: COVID-19, Corona, Impfung, Sprachkorpora, Deutsch
1.
Einleitung und Zielsetzung
Ende 2019 meldeten die Nachrichten von dem Auftreten einer gefährlichen und ansteckenden Krankheit in China, Wuhan, in der Provinz Hubei. Die von dem Virus SARS-CoV-2 (eng. severe acute respiratory syndrome coronavirus 2) verursachte und als COVID-19 (eng. coronavirus disease 2019) genannte Erkrankung wurde von der WHO zunächst zur Epidemie und ferner zur Pandemie erklärt, die alle gesellschaftlichen Lebensbereiche lahmgelegt und infolgedessen zu einer weltweiten Krise geführt hatte. Betroffen war einerseits die individuelle »Mikro-Ebene«, indem die zurecht befürchtete Ansteckungsgefahr von verschiedenen meist negativen emotionellen Zuständen wie Verunsicherung, Angst, Frustration, Ärger, Wut usw. begleitet war (vgl. Havryliv 2021: 70). Andererseits ist ebenso der negative Einfluss der Pandemie auf die öffentliche »Makro-Ebe-
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ne«, v. a. Politik, Ökonomie, Schulwesen u. d. g. nicht zu übersehen. Sehr gezielt bringt dies Hess-Lüttich (2020: 219–220) auf den Punkt, indem er uns in seiner »Zwischenbilanz einer epochaltypischen Krise« folgendes Bild vor Augen führt: In den Talkrunden halten Ökonomen einander ihre Statistiken und Hochrechnungen vor, keine davon stimmt optimistisch. Ökologen beschwören die Gefahr multipler Krisen und entwerfen dystopische Szenarien, sollte die Politik vor lauter Krisenmanagement nicht minder dräuende Umwelt- und Klimakrisen aus dem Blick verlieren. Juristen streiten über die Grenzen der gravierenden Einschränkungen von Grundrechten oder die heikle Frage generationeller Separation; Soziologen sondieren die Konsequenzen des Lockdowns für die Gesellschaft angesichts der sich dadurch noch einmal verschärfenden sozialen Ungleichheit; Kriminologen addieren die Schäden durch kriminelle Krisengewinnler; Psychologen warnen vor dem steigenden Risiko häuslicher Gewalt, Einsamkeit, Depression; Politologen registrieren das eklatante Versagen der Populisten, von denen Konstruktives zur Problemlösung nicht zu vernehmen sei, die aber schon wieder Konfliktthemen wittern (›alles öffnen – außer Grenzen‹), um Zwietracht zu säen. (Hess-Lüttich 2020: 220)
Mittendrin steht die Medizin mit ihren Mühen: Intensivmediziner, Virologen, Epidemiologen halten die Tabellen der Todesfälle ins Bild und warnen vor exponentiell ansteigenden Infektionszahlen, sie berechnen Inkubationszeiten und Distanzgebote, Mortalitätsquoten, Letalitätsraten und Reproduktionszahlen […]. Mikrobiologen berichten aus ihren Labors und liefern uns anschauliche Bilder vom Aufbau der Corona-Viren; Pharmakologen schüren (in Anträgen) oder dämpfen (in Medien) die Hoffnungen auf Medikamente und Impfstoffe. (Hess-Lüttich 2020: 219)
All die pessimistischen Bilder sind sehr eng mit den Bemühungen der Regierungen, Organisationen und Wissenschaftler verbunden, die darauf abzielen, einerseits die Prognosen hinsichtlich der möglichen Schäden der Pandemie aufzustellen, andererseits diesen, zugleich aber auch der Seuche selbst, entgegenzuwirken. Das Spektrum der Eindämmungsinstrumente kann jedoch nicht als breit, vielfältig oder (bedauerlicherweise) zielführend betrachtet werden. Zu diesen gehören vor allem Maskenpflicht, soziale Distanz, Verwendung von Desinfektionsmitteln, Lockdown und insbesondere Impfung, die das effektivste Mittel darstellen und somit ermöglichen soll, die Pandemie auf Dauer unter Kontrolle zu bringen (vgl. z. B. Oleksy et al. 2022, vgl. hierzu auch die Stellung der WHO1). Obwohl all die genannten Maßnahmen von den jeweiligen Regierungen und regierungsübergreifenden Organisationen sanktioniert, bewilligt bzw. empfohlen wurden, hängt deren Einhaltung bzw. Nicht-Einhaltung im großen Ausmaß von den individuellen Einstellungen der Menschen ab, denen unterschiedliche Faktoren zugrunde liegen können, wie z. B. Empathie und prosoziales 1 https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019 [Zugriff am 26. 03. 2022].
Corona-Impfung aus der sprachlichen korpusorientierten Perspektive
101
Verhalten, Angst vor Ansteckung oder Verschwörungstheorien (vgl. z. B. Schulz 2022, Liu et al. 2022, Ullah et al. 2021, van Maulukom et al. 2022, um nur ein paar zu nennen), weswegen ihr Vorhandensein noch lange ein »in den Griff bekommen« der Pandemie nicht garantiert. In Anbetracht der knappen einführenden Überlegungen scheint die folgende Konstatation nicht zu leugnen zu sein: Die Coronavirus-Pandemie stiftet Verwüstung in jeglicher Lebensdomäne, weshalb für deren »Bändigung« eine enge Zusammenarbeit zwischen staatlichen Institutionen und der Gesellschaft unabdingbar ist. Diese, wie oben angedeutet, hängt aufs Engste von den individuellen Einstellungen der Bürger den Vorbeugungsmaßnahmen gegenüber ab. Aus diesem Grund setzt sich der vorliegende Beitrag zum Ziel, eines der wichtigsten Vorbeugungsinstrumente – die Impfung – aus der sprachwissenschaftlichen, korpusorientierten Perspektive unter die Lupe zu nehmen, um anzudeuten, in welchen Bereichen der Krisensituation und auf welche Art und Weise die Vakzinen angesprochen wurden. Auf das umfangsreichste vordefinierte Korpus des DeReKo sowie das Software OWIDplusLive (beide gestellt zur Verfügung durch IDS) gestützt, wird den Lexemen Impfung und Impfen/impfen aus dem quantitativen und qualitativen Blickwinkel die Aufmerksamkeit geschenkt (Kap. 3). Dem wird ein kurzer Überblick über den sprachwissenschaftlichen Forschungsstand zur Corona-Pandemie vorangestellt (Kap. 2). Die in diesem Artikel dargestellten Überlegungen werden in den Schlussbemerkungen abgerundet (Kap. 4).
2.
Die Coronavirus-Pandemie und Sprache – ein kurzer Forschungsüberblick2
Da das Coronavirus und seine Folgen seit Ende 2019 im Mittelpunkt jeglicher Debatten stehen, ist zwangs- und logischerweise nicht von wechselseitigen Relationen zwischen Pandemie und Sprache abzusehen. Diese Relationen sind je-
2 Die sprachwissenschaftliche Forschungsliteratur zur Corona-Pandemie und Sprache hat in einem relativ kurzen Zeitraum hohe Zahlen erreicht, sodass sie langsam unüberschaubar ist. Der hier dargebotene Überblick setzt sich aus Platzgründen zum Ziel, ihre Vielfalt darzustellen und auf eventuelle Lücken hinzuweisen, weswegen er keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Neben den hier zitierten Arbeiten ist der Leser vor allem auf die fortlaufend ausgebaute Sammlung von Aufsätzen am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache »Stellungnahmen zur Sprache in der Coronakrise« (https://www.ids-mannheim.de/sprache-in-der-coronakrise/ [Zugriff am 29. 03. 2022]), die aktuell 35 Arbeiten umfasst, verwiesen. Daneben sind auch »Sprachraum: Corona« der Gesellschaft für Deutsche Sprache (https://gfds.de/category/sprach raum-corona/ [Zugriff am 29. 03. 2022]) sowie Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 16 mit dem Themenheft »Corona. Essayistische Notizen zum Diskurs« zu erwähnen.
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doch auf zweierlei Art und Weise zu deuten. Einerseits handelt es sich um Prozesse, die das vorhandene sprachliche Inventar in verschiedener Hinsicht bereichern. Damit sind vor allem die Entstehung neuer Wörter (meist Komposita) und Entlehnungen aus anderen Sprachen (vor allem aus dem Englischen) gemeint. Dazu zählen aber auch die semantischen Wandlungen, die insbesondere darauf beruhen, dass bereits existierende Ausdrücke neue – hier pandemiebezogene – Lesarten entwickeln (vgl. z. B. Balnat 2020, Zifonun 2020b, Zrigue 2020, Fuchs 2021, Asif et al. 2021, um nur ein paar zu nennen).3 Auf der anderen Seite erlaubt uns die Betrachtung sowohl des Wortschatzes als auch der Diskurse rund um die Suche unterschiedlichen Aspekten der Pandemie auf die Spur zu kommen. So zeigt, z. B. Klosa-Kückelhaus (2021a) anhand einer Korporaanalyse, welche Subthemen während der Krise besonders im Zentrum der Diskussionen standen. Dazu gehörten natürlich die Symptomatik und Übertragung, Eindämmungsmaßnahmen, Reise- und Bewegungsbeschränkungen mit »sicheren« Aufenthaltsorten, aber auch unterschiedliche Aspekte der Arbeitswelt und des privaten Lebens zur Zeit der Pandemie. Havryliv (2021) geht hingegen auf verschiedene mit der Corona-Krise verbundene Facetten der verbalen Aggression ein, die z. B. gegen Politiker oder Presse gerichtet wurde. Hess-Lüttich (2020) nimmt die Fragestellungen von Ethik und Moral aus diskurslinguistischer Perspektive in Blick. Sprach- und Diskursanalysen veranschaulichen auch, wie die Pandemie bzw. ihre Phasen im Fernsehen durch unterschiedliche Sender profiliert und konstruiert wurden (vgl. Ciesek-S´lizowska 2021). Onomasiologische Analysen der jeweiligen Konzepte, wie z. B. des der Maske, verdeutlichen auch, wie die Bürger bestimmten Schutzmaßnahmen und somit der ganzen Pandemie gegenüber eingestellt sind (vgl. Duda/Ficek 2021). Die individuelle und gesellschaftliche Einstellung der weltweiten Krise gegenüber spiegeln auch die Untersuchungen zum sprachlichen, auf unterschiedliche Aspekte der Pandemiesituation bezogenen, Humor wider, der den Menschen erlaubt, sich abzureagieren und sich in der »neuen Realität« zurechtzufinden (vgl. Dynel 2021, Kałasznik 2021, Reutner 2021). Analysen von metaphorischen Ausdrücken führen uns Zum Überblick über die sprachwissenschaftliche Forschung zur Corona-Pandemie (aber auch anderen Pandemien) in unterschiedlichen Sprachen vgl. Schmitz (2021). 3 Vgl. hierzu vor allem eine sehr umfangreiche Sammlung neuer pandemiebezogener Wörter am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, die im Rahmen des Projekts OWID zusammengestellt wurde: »Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie« – https://www.owid.de/docs/neo/li sten/corona.jsp# [Zugriff am 29. 03. 2022)]. In diesem Kontext sind auch zahlreiche Arbeiten zu nennen, die ebenso am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache im Rahmen des Projekts »Stellungnahmen zur Sprache in der Coronakrise« entstanden sind und sich sowohl den einzelnen Wörtern, wie z. B. Herdenimmunität (vgl. Zifonun 2020a), aber auch den ganzen lexikalischen bzw. semantischen Feldern aus dem wirtschaftlichen und medizinischen Bereich sowie um die Wörter Homeoffice, soziale Distanz, Lockdown u. s. w. widmen (vgl. KlosaKückelhaus 2020b–e, Möhrs 2020).
Corona-Impfung aus der sprachlichen korpusorientierten Perspektive
103
hingegen vor Augen, wie das Corona-Virus und infolgedessen die Pandemie betrachtet bzw. konzeptualisiert wird. In dieser Hinsicht scheinen Klosa-Kückelhaus (2020a), Kaczmarek (2021) und Senkbeil/Hoppe (2022) einstimmig zu sein, wenn sie auf die dominierende Rolle von Kampf- bzw. Kriegsmetaphern hinweisen, wobei Senkbeil/Hoppe (2022) auch die wichtige Rolle der Konzeptualisierung des Virus als einer Botschaft unterstreichen. Der zwangsweise knappe Überblick der sprachwissenschaftlichen Forschung zur Corona-Problematik lässt uns schlussfolgern, dass in einem relativ kurzen Zeitraum (Ende 2019 bis Anfang 2022) eine erhebliche Anzahl der Untersuchungen durchgeführt wurden, die zugleich eine sehr breite Palette an Problemstellungen (und dies auf mehreren Sprachebenen) angesprochen haben. Das Spektrum der Analysen reicht von Wortbildungsmechanismen, über semantische Extensionen und metaphorische Konzeptualisierungen der Pandemie bis hin zu breit angesetzten Diskursanalysen. Der obige Überblick deutet jedoch noch einen Aspekt der betrachteten Untersuchungen an: Obwohl das breite Spektrum der dargestellten Forschung keinesfalls in Frage zu stellen ist, scheint es, dass einzig und allein der Fragestellung von Impfungen gegen das CoronaVirus zurzeit relativ wenig Beachtung geschenkt wurde bzw. befinden sich derartige Forschungen erst im Veröffentlichungsprozess.4 Diese Problematik wurde z. B. in den oben zitierten Arbeiten nur angesprochen (vgl. z. B. Hess-Lüttich 2020: 226–227, Havryliv 2021: 78–79). Eine Ausnahme bildet in diesem Bereich die Publikation von Klosa-Kückelhaus (2021b, vgl. hierzu auch Kałasznik 2021 zu Memes in Bezug auf Impf-Gegner), in der die Autorin auf der Basis der RSSFeeds 232 Typen gefunden hat, die zur Wortfamilie von impfen gehören (die Zahl der jeweiligen Tokens ist größer; die 30 häufigsten Typen mit ihren Tokenzahlen sind in Tab. 1 in Klosa-Kückelhaus 2021b zusammengestellt), wobei das bei der Eruierung verwendete Suchmuster *impf* angesetzt wurde. Die Autorin macht zugleich darauf aufmerksam, dass die genauere Betrachtung der 30 häufigsten Typen auf die Thematik schließen lässt, die in der Domäne der Impfung besondere Rolle spielt. Dazu gehören drei grobe Bereiche: Entwicklung und Herstellung, denen die Prüfung und Zulassung der Impfungen folgen. Dabei wichtig ist auch die Planung und Durchführung des Impfprozesses (vgl. hierzu auch unten Kap. 3.1.2). Darüber hinaus weist Klosa-Kückelhaus (2021b) auf weitere Aspekte des Impfdiskurses hin, an die sie anhand der Untersuchung der der Wortfamilie zugehörenden Ausdrücke (meist Komposita) gelangt: Pflicht, sich 4 Diese Feststellung ist natürlich nicht unstrittig und bezieht sich ausschließlich auf diejenige Literatur, an die der Autor der vorliegenden Ausarbeitung imstande war zu gelangen (vgl. hierzu auch Fn. 3), wobei an dem Beitrag bis Mitte April 2022 gearbeitet wurde. In diesem Kontext ist bestimmt das Online-Workshop »The Green Pass Conflict: Wer, was, wo und wie? Die »No Vax(ers)« in Deutschland, Italien und Polen« zu erwähnen, das von Prof. Dr. Silvia Bonacchi und Dr. Łukasz Kumie˛ga vom 17. bis zum 18. 02. 2022 organisiert wurde.
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impfen zu lassen (Impfpflicht, Impfgegner), Strategien der Verabreichung der Impfstoffe (Imfstrategie, Impfkapagne), zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Gegebenheiten (Impfneid, Impf(vor)drängler, Impfnationalisumus, Impfprivilegien, Impfpriorisierung, Impfvorrang – die zwei bzw. drei letzten sind auch mit der Impfstrategie verbunden), kriminelle Delikte (Impfstoff-Mafia).5 Resümierend lässt sich feststellen, dass in Anbetracht der dem Autor zugänglichen Forschungsliteratur die Problematik der Impfungen gegen COVID19 aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive mehr Aufmerksamkeit bedarf. Dies kann verwundern, wenn man einerseits die besondere Rolle der Vakzine als der einzigen Maßnahme, die die Pandemie in den Griff zu bekommen erlauben könnte, in Betracht zieht. Auf der anderen Seite ist die Anzahl der Diskussionen zu dieser Thematik nicht mehr überschaubar, was Klosa-Kückelhaus (2021b) in ihrem Aufsatz explizit zum Ausdruck bringt: Entsprechend intensiv ist rund um dieses Thema in den Medien berichtet worden und das Geschehen wird auch weiterhin medial begleitet. Sicher wird auch im privaten Umfeld vieler Menschen darüber gesprochen, ob man eine Impfung gegen das SARSCoV-2-Virus wünscht oder ablehnt, wann man selbst oder Familienangehörige ggf. an der Reihe sind, welche Nebenwirkungen möglichweise zu befürchten sind usw.6
Aus diesen Gründen wird versucht, in dem vorliegenden Aufsatz, und genauer gesagt, in dem folgenden Kapitel, auf die Fragestellung der Impfungen gegen COVID-19 einzugehen.
3.
Impfung gegen COVID-19 aus der sprachlichen Perspektive
Wie mehrmals oben angedeutet, verfügt man über ein Set von Maßnahmen, mit denen man der Pandemie entgegenwirken kann. Es steht aber fest, während die soziale Distanz, Lockdown, Maskenpflicht und Verwendung von Desinfektionsmitteln die Verbreitung der Seuche verlangsamen können, »in essence, these physical protective measures cannot eliminate the virus and restore people’s everyday life« (Liu et al. 2022: 169). Denselben Ton schlagen Oleksy et al. (2022: 1) an: »While many of these measures are proven to be effective in slowing down the spread of the disease, increasing COVID-19 vaccination coverage remains the most effective way to achieve control of the pandemic«. Es ist also nicht zu leugnen, dass die Impfungen wegen bzw. dank ihrer Effizienz eine besondere Stellung unter den genannten Vorbeugungsmaßnahmen einnehmen. Es ist aber 5 Zu detaillierter Besprechung (mit Verwendungsbeispielen) sowohl der groben Themen als auch der feineren Aspekte des Impfdiskurses vgl. Klosa-Kückelhaus (2021b). 6 https://www.ids-mannheim.de/fileadmin/aktuell/Coronakrise/Klosa_Impfen.pdf [Zugriff am 29. 03. 2022].
Corona-Impfung aus der sprachlichen korpusorientierten Perspektive
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nicht damit gleichzusetzen, dass die Impfstationen nach der Zulassung der Impfstoffe belagert wurden bzw. noch werden. Ganz im Gegensatz: Die diesbezüglichen Meinungen in der Gesellschaft sind in großem Ausmaß uneinheitlich und nicht selten sogar (stark) polarisiert, sodass die sog. vaccine hesitancy dazu führen kann, dass die Impfungen ihr erhofftes Ziel (die Herdenimmunität) nicht erreichen können.7 Die Forschungen zeigen, dass der Wille, sich impfen zu lassen, sehr stark variiert, was wiederum veranschaulicht, dass er in hohem Grade von der untersuchten Population und dem Land abhängig ist. Liu et al. (2022: 169) berichten z. B., dass sich die Akzeptanzraten unter Erwachsenen je nach der Untersuchung von 29,4 % bis 86 % erstrecken. Ähnliche Ergebnisse führen Ullah et al. (2021: 95) an: Eine in 19 Ländern durchgeführte Studie legt dar, dass 71,5 % der Menschen willig sind, die Impfung anzunehmen, wobei die Prozentsätze auch weit auseinandergehen (in China – 90 % ist dafür, in Russland nur 55 %). Troiano/Nardi (2021: 246) weisen hingegen darauf hin, dass die Impfungsakzeptanz unter italienischen Studenten um fast 10 % höher war als innerhalb der allgemeinen Population (entsprechend 86,1 % vs. 77,6 %). Der Unentschiedenheit zum Impfen, der Akzeptanz und Ablehnung der Impfungen liegen sehr unterschiedliche Faktoren zugrunde: Ethnizität, Arbeitsstatus, persönliche, religiöse und politische (besonders rechtspolitische) Anschauungen, Geschlecht, Ausbildung, Alter, Einkommenshöhe, frühere Erkrankung an COVID-19, Angst vor der Erkrankung an COVID-19, Arbeit im Gesundheitswesen, prosoziales Verhalten, Verschwörungstheorien und Mythen sowie die allgemeine Darstellung der Impfungen in den Medien, aber auch individuelle kognitive und behaviorale Züge (vgl. Troiano/Nardi 2021, Ullah et al. 2021, Liu et al. 2022, Oleksy et al. 2022, van Mulukom et al. 2022, Acar-Burkay/Cristian 2022).8 7 Es muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff vaccine hesitancy sehr breit ausgelegt wird und nicht nur eine Ja-Nein-Entscheidung in Bezug auf die Impfung umfasst. Unter Berufung auf die WHO definieren Troiano/Nardi (2021: 245) vaccine hesitancy »as a behavior, influenced by a number of factors including issues of confidence (do not trust vaccine or provider), complacency (do not perceive a need for a vaccine, do not value the vaccine), and convenience (access). Vaccine-hesitant individuals are a heterogeneous group who hold varying degrees of indecision about specific vaccines or vaccination in general. Vaccinehesitant individuals may accept all vaccines but remain concerned about vaccines, some may refuse or delay some vaccines but accept others; some individuals may refuse all vaccines«. 8 An dieser Stelle ist zu unterstreichen, dass die oben angegebenen Zahlen und Faktoren nur eine grobe Orientierung im Bereich des breit begriffenen Impfprozesses verschaffen und zugleich auf dessen Komplexität hinweisen sollen. Zu Details ist der Leser auf die zitierten Arbeiten verwiesen. Darüber hinaus muss betont werden, dass die hier verwendete Forschungsliteratur (mit der Ausnahme von Oleksy et al. 2022) lediglich Metaanalysen umfasst, denn die COVID-19-Forschung unterschiedlicher Ausprägung (medizinischer, soziologischer, psychologischer) aktuell unüberschaubar ist, was ein grober Blick auf z. B. die Datenbasis ScienceDirect (https://www.sciencedirect.com/ [Zugriff am 30. 03. 2022]) zeigt. Das Schlüsselwort »COVID 19« ergab 119,016 Treffer, darunter 10,682 review articles und 52,301 research articles.
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Die bereits dargestellten Überlegungen zeigen eindeutig, dass die Fragestellung der Impfung gegen COVID-19 sehr komplex ist. Dieser Komplexität wurde auch aus verschiedenen (z. B. psychologischen und soziologischen) Perspektiven nachgegangen. Dies hängt auch sehr eng mit der Prävalenz des Themas in den Medien zusammen (vgl. Kap. 2). Aus diesen Gründen ist es auch vonnöten, sich dieser Problematik aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive zu widmen, was in den untenstehenden Kapiteln folgt.
3.1
Analyse der Lexeme Impfung und Impfen/impfen anhand von Korpusdaten
Die Analyse hat zum Ziel, anhand von sprachlichen Daten zu zeigen, was für ein Bild der Impfungen und des Impfprozesses in der deutschen Sprache konstruiert wurde. Somit hat sie einen qualitativen Charakter und bildet den Kern des empirischen Teils dieser Ausarbeitung. Sie wird anhand der DeReKo-Korpora des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache mit Anwendung der COSMAS-II-Suchmaschine durchgeführt. Die Basis der folgenden Untersuchung bildet das umfangreichste Korpus W-öffentlich – alle öffentlichen Korpora des Archivs W (mit Neuakquisitionen) aus dem W-Archiv der geschriebenen Sprache. Um das Untersuchungsmaterial einzugrenzen und somit den Rahmen der Analyse nicht zu sprengen, wurde die Entscheidung getroffen, nur nach drei Wörtern aus der Wortfamilie um die Impfung (vgl. Klosa-Kückelhaus 2021b) zu suchen: Dies waren Impfung und Impfen/impfen. Darüber hinaus wurde die Suche so verfeinert, dass in der Umgebung des Treffers in der Spanne von 8 Wörtern links und/ oder rechts Corona bzw. dessen Derivate vorhanden sein mussten (diese kontextuelle Einschränkung führte natürlich ebenso zur Eingrenzung des zu untersuchenden Materials), um sicherzustellen, dass die gesuchten Wörter in dem eruierten Material im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie auftreten und sich nicht auf andere Impfstoffe bzw. Krankheiten beziehen. Somit sah die Suchanfrage folgendermaßen aus: Impfung /+w8 Corona* für Impfung und impfen /+w8 Corona* für Impfen/impfen. Diese Suchanfragen ergaben entsprechend 2.262 Treffer für Impfung und 1.275 Treffer für impfen, deren kontextuelle Einbettung im Folgenden gründlicher besprochen wird. 3.1.1 Impfung und Impfen/impfen aus quantitativer Perspektive – einige Bemerkungen Vor der Betrachtung der qualitativen Ergebnisse, gilt es sich kurz und bündig den quantitativen Aspekten des untersuchten Materials zu widmen. Wenn man von dem oben angeführten umfassenden Korpus W-öffentlich – alle öffentlichen Korpora des Archivs W (mit Neuakquisitionen) absieht und sich diejenigen
Corona-Impfung aus der sprachlichen korpusorientierten Perspektive
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Korpora anschaut, aus denen es sich zusammensetzt, liegt auf der Hand, inwieweit sich der Diskurs zu Impfstoffen im Allgemeinen im Laufe der Zeit aus der quantitativen Perspektive verändert hat. Hierbei wurden N-öffentlich – alle öffentlichen Neuakquisitionen und W-öffentlich-2021-I – W-öffentlich von Release DeReKo-2021-I, die ebenso vordefinierte Korpora des W-Archivs der geschriebenen Sprache sind, verwendet.9 Unter der Annahme, dass ferner die Kohärenz der qualitativen Überlegungen mit der quantitativen Betrachtung gewährleistet werden soll, wurde auch dieselbe Suchanfrage verwendet: Impfung /+w8 Corona* für Impfung und impfen /+w8 Corona* für Impfen/impfen. Auf diese Art und Weise ergaben sich folgende Zahlen. Im Falle von W-öffentlich-2021-I – W-öffentlich von Release DeReKo-2021-I, das Texte bis Dezember 2020 umfasst, ließen sich unter der Anwendung der Einschränkung auf »Corona-Kontext« nur 354 Treffer für Impfung (zwei davon mussten ausgeschlossen werden) und nur 153 für Impfen/impfen finden. Alle Quellen, in denen die relevanten Treffer auftauchten, stammen aus dem Jahr 2020. Im Korpus N-öffentlich – alle öffentlichen Neuakquisitionen, das Quellen bis Ende 2021 umfasst, sind hingegen die relevanten Trefferzahlen viel größer und belaufen sich auf 1.908 im Falle von Impfung (11 Treffer könnten u. U. ausgeschlossen werden, denn sie stammen aus dem Jahr 2020) und 1.122 im Falle von Impfen/impfen. Die Zahlen korrelieren eindeutig mit der sich im Laufe der Zeit verändernden Situation hinsichtlich der Impfungsherstellung und -zulassung, die Ende 2020 zustande gekommen ist. Laut den eruierten Daten stand die Problematik im Jahre 2020 eher selten bzw. viel seltener im Zentrum der Diskussionen. Dies ist auch ersichtlich für das Jahr 2020 (Korpus W-öffentlich-2021-I – W-öffentlich von Release DeReKo-2021-I), wenn man die Verteilung der Treffer über die jeweiligen Monate betrachtet: Von Januar bis September schwankt die Trefferanzahl von Impfen/impfen von 1 (Januar) bis 9 (Mai und September), im Oktober erhöhte sie sich auf 21, im November betrug sie hingegen 16, um plötzlich im Dezember auf 73 zu steigen. Ein ähnlicher Tatbestand ist bei Impfung zu finden. Die Trefferzahlen kreisen zwischen Januar und Oktober um 20 (Ausnahmen sind Januar und Februar – entsprechend 4 und 7 sowie Mai und Juli – entsprechend 34 und 30), wobei sie im November auf 42 und im Dezember auf 108 gestiegen sind. Solch ein Anstieg ist im Jahre 2021 nicht zu beobachten (Korpus N-öffentlich – alle öffentlichen Neuakquisitionen). Insbesondere sind die Treffer für Impfung auf die jeweiligen Monate relativ gleich verteilt, indem sie 100 weit überschreiten (Ausnahme bildet nur Juni mit 99 Treffern), während im Falle von impfen die Zahlen von 56 (Oktober) bis 120 (August) wackeln. Zusätzlich sei erwähnt, dass sich eine in9 Das aktuelle W-Archiv wurde am 17. 03. 2022 um 1,26 Mio. Texte mit insgesamt 432 Mio. laufenden Wortformen gegenüber der Vorversion ergänzt und dessen Referenz heißt jetzt DeReKo 2022-I.
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teressante Beobachtung für das Jahr 2021 im Falle von Impfen/impfen machen lässt: Die Trefferzahlen erreichen in den Winter- und Sommermonaten über 100, in den restlichen sind sie dagegen nicht höher als 90. Dies korreliert mit dem großen Interesse an den Impfungen in dieser Zeit: Im Winter stiegen üblicherweise die Erkrankungszahlen, im Juli und August 2021 wollten sich viele Menschen impfen lassen, um in den Urlaub fahren zu dürfen. Bei dieser Interpretation ist jedoch Vorsicht geboten, weil sie durch Angaben für Impfung nicht unterstützt werden kann. Resümierend lässt sich konstatieren, dass uns die Häufigkeitsdaten des DeReKo in Hinsicht auf das Auftreten von Wörtern Impfung und Impfen/impfen einen annähernden Einblick liefern, wie sich der Diskurs zu dieser Thematik im Laufe der Zeit entwickelt hat. Es muss aber darauf aufmerksam gemacht werden, dass die eruierten Frequenzzahlen absolute Frequenzen darstellen, wobei sie zusätzlich durch das kontextuell angesetzte Suchmuster eingeschränkt sind. Daher sollte die obige Interpretation der Häufigkeitsdaten als eine Pilotstudie betrachtet werden, die durch eine tiefgreifende statistische Analyse bestätigt werden müsste. Eine teilweise Bestätigung dieser Annahmen ist bei Klosa-Kückelhaus (2021b) zu finden. Unter Anwendung der Software cOWIDplusViewer zeigt sie, dass das Auftreten der der Wortfamilie von impfen angehörenden Wörter (Suchmuster *impf*) Ende November 2020 in die Höhe schoss. Ihre Daten umfassen aber den Zeitraum vom 1. Januar bis 11. Dezember 2020. Die weitere Bestätigung der obigen Schlussfolgerungen ermöglicht uns das neuere Tool OWIDplusLive, das ebenso durch Leibniz-Institut für Deutsche Sprache zur Verfügung gestellt wurde und die Durchsicht von aktuellsten Daten (RSS-Feeds zum Vortag, an dem die Suche durchgeführt wird) ermöglicht.10 Somit zeigen die unten stehenden Abbildungen 1 und 2 die relativen und absoluten Gebrauchshäufigkeiten der Wortformen Impfung und impfen11. Zum Schluss sei erwähnt, dass die anhand von OWIDplusLive eruierten Frequenzen mit den oben anhand von DeReKo-Daten beobachtbaren Trends übereinstimmen. Wegen der breiteren Zeitspanne zeigen sie zusätzlich, dass seit Anfang des Jahres 2022 die Wörter Impfung und impfen immer seltener vorkommen, was möglicherweise darauf hindeutet, dass die Bevölkerung allmählich das Interesse an dieser Thematik verliert. Die Feststellungen hinsichtlich der 10 OWIDplusLive ist das neuste Tool zur Analyse von Gebrauchshäufigkeiten, das von LeibnizInstitut für Deutsche Sprache zur Verfügung gestellt wurde. Es erlaubt »LIVE-Analyse von Häufigkeitsdaten in ausgewählten deutschsprachigen RSS-Feeds« sowie »setzt die Entwicklung von ›cOWIDplus Viewer/Analyse‹ fort« (https://www.owid.de/plus/live-2021/ [Zugriff am 31. 03. 2022]). 11 Im OWIDplusLive ist es auch möglich nach Lemmata zu suchen. Da aber hier in der qualitativen Analyse nur die Lexeme Impfung und impfen näher betrachtet werden, hat man sich in den quantitativen Betrachtungen ebenso auf diese Wörter beschränkt (siehe auch oben).
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Abb. 1: Relative Gebrauchshäufigkeit der Wortformen Impfung und impfen. Erstellt anhand von OWIDplusLive
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Abb. 2: Absolute Gebrauchshäufigkeit der Wortformen Impfung und impfen. Erstellt anhand von OWIDplusLive
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Gründe eines solchen Zustands sind jedoch schwer zu formulieren. Es bleibt somit abzuwarten und eine Häufigkeitsanalyse in späterer Zeit durchzuführen, um zu sehen, ob die fallende Tendenz in der Vorkommenshäufigkeit in den nächsten Monaten bestehen bleiben wird. 3.1.2 Qualitative Betrachtung von Impfung und Impfen/impfen Die oben dargestellten Überlegungen quantitativen Charakters zeigen eindeutig, dass die Problematik der Vakzine im Jahr 2021 sehr häufig angesprochen wurde. Eine genauere Betrachtung der Kontexte, in denen die Lexeme Impfung, Impfen und impfen auftreten, liefert uns hingegen einen annähernden Einblick in Bezug darauf, welche Aspekte dieser Domäne hervorgehoben bzw. profiliert wurden oder welche Subthemen bzw. Themenbereiche zur Diskussion standen (vgl. auch Klosa-Kückelhaus 2021b). Anhand des gewonnenen sprachlichen Materials ließen sich drei solche Felder identifizieren: Vorbeugung der Pandemie, Akzeptanz/Ablehnung der Vakzine sowie Impfprozess. Im Folgenden gilt es diese Bereiche mit den ihnen zugehörenden feineren Aspekten näher zu besprechen.12 In erster Linie muss auf die grundlegende Funktion der Impfung als Vorbeugungsmechanismus im Allgemeinen aufmerksam gemacht werden. Hierbei lassen sich jedoch einige Subkategorien unterscheiden. Wie oben mehrmals angeführt, gilt die Impfung (im Gegensatz zu anderen Eindämmungsinstrumenten wie Masken oder Lockdowns) als die einzige Maßnahme, die die Verbreitung der Krankheit wesentlich eindämmen kann, weswegen hier von der Vorbeugung auf der »Makro-Ebene« gesprochen werden kann. Diese Betrachtung der Impfung war unabhängig davon präsent, ob die Impfstoffe bereits hergestellt und zugelassen wurden oder noch nicht, was die unten angeführten Beispielsätze zeigen: (1)
(2)
So oder so wird jede Woche deutlicher: Solange es keine Impfung gegen das Coronavirus gibt, wird die Maske Teil des öffentlichen Lebens sein. Seit Mittwoch gilt zumindest für Pendler, die den Abstand von zwei Metern nicht einhalten können, eine Trageempfehlung. (DeReKo: E20/APR.01242 Tages-Anzeiger, 25. 04. 2020, S. 10) Eine wirksame Impfung gegen das Coronavirus käme dem Ende der Pandemie gleich – so die Hoffnung. Die Schweiz geht bei der Beschaffung zügig voran. (DeReKo: A20/NOV.03081 St. Galler Tagbl., 12. 11. 2020)
12 An dieser Stelle sei erwähnt, dass die untenstehende Analyse aus Platzgründen nur grob durchgeführt wurde und lediglich auf die wichtigsten Aspekte des untersuchten Phänomens, die sich anhand des zur Rate gezogenen sprachlichen Materials ermitteln ließen, hinweist. Somit erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit und soll lediglich als eine Pilotstudie betrachtet werden. Ferner sei angemerkt, dass alle Beispiele dem untersuchten Korpus in Originalversion (d. h. ohne Fehlerkorrekturen) entnommen wurden.
112 (3)
(4)
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Die Probleme scheinen kein Ende zu nehmen. Erst fehlte immer wieder Impfstoff, dann war es mehr als ein Geduldsspiel, einen Impftermin zu bekommen. Impfen ist die einzige Waffe, um Corona zu besiegen und schwere Krankheitsverläufe zu verhindern. (DeReKo: B21/AUG.01030 BLZ, 19. 08. 2021, S. 21) Auch wenn es gut läuft und ab August ein Auslandsurlaub möglich ist, warnt Gesundheitsminister Matt Hancock vor möglichen neuerlichen Einschränkungen. Die einzige Devise: Impfen, um endlich wirklich im Corona-Finale zu stehen. (DeReKo: P21/JUN.02729 Die Presse, 23. 06. 2021, S. 2)
Es kann davon ausgegangen werden, dass von der besonderen Rolle der Impfung als des Eindämmungsmechanismus auch die Aufrufe der Politiker oder Vertreter verschiedener Organisationen, sich impfen zu lassen, zeugen können: (5)
(6)
Rickli ruft zum Impfen auf: Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP) hat in ihren 1. August-Reden in Feuerthalen und Neftenbach zum Impfen aufgerufen. (DeReKo: E21/AUG.00037 Tages-Anzeiger, 02. 08. 2021, S. 15) Mit einem Aufruf zum Impfen gegen das Coronavirus hat der FDP-Vorsitzende Christian Lindner seine Rede beim Bundesparteitag der Liberalen eröffnet. (DeReKo: NKU21/SEP.03493 Nordkurier, 20. 09. 2021, S. 19)
Auf der anderen Seite muss die »Mikro-Ebene« der individuellen Menschen in Betracht gezogen werden, die in der Impfung ein Vorbeugungsinstrument sehen, das bei eventueller Erkrankung den Verlauf mildern oder sie gar vor der Ansteckung, langwierigen Symptomen, aber auch dem Tod schützen kann. Eine solche Einstellung der COVID-19-Erkrankung und infolgedessen der Pandemie im Allgemeinen gegenüber steht im engen Zusammenhang mit der Akzeptanz der Impfung, was wiederum in den Bereich der vaccine hesitancy fällt: (7)
(8)
(9)
So gebe es diejenigen, die das Impfen skeptisch sehen, erzählt der Gymnasiast. Allerdings seien da auch die jungen Leute, die sich impfen ließen, weil sie befürchteten, an dem Corona-Virus zu erkranken. (DeReKo: NKU21/AUG.04036 Nordkurier, 24. 08. 2021, S. 12) Ich könnte jetzt sagen, dass ich die Angst vor der Covid-Impfung nachvollziehen kann. Doch wenn ich ehrlich bin, kann ich sie mir überhaupt nicht erklären. Das Risiko einer Erkrankung an Corona ist so viel grösser als allfällige Langzeitfolgen einer Impfung. Hinzu kommt, dass die Langzeitfolgen von Corona im Moment im Vergleich zu denen einer Impfung deutlich wahrscheinlicher sind. Menschen mit sogenannten Long-Covid-Symptomen leiden noch Monate nach der Genesung an starker Müdigkeit und Atemnot. (DeReKo: SBL21/FEB.00317 Sonntagsblick, 28. 02. 2021) Wer sich jetzt nicht impfen lässt, wird sich wohl im Herbst mit Corona infizieren und geht ganz individuell und persönlich das Risiko ein, schwer zu erkranken oder vielleicht sogar zu versterben. (DeReKo: NKU21/JUL.04902 Nordkurier, 29. 07. 2021, S. 4)
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(10) Wer dreifach geimpft ist, hat ein deutlich geringeres Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren und schwer zu erkranken. (DeReKo: NUN21/DEZ.01246 NN, 21. 12. 2021, S. 2)
Im Kontext der Impfung als der Vorbeugungsmaßnahme gegen COVID-19 sind in dem eruierten Material auch andere Erkrankungen aufgetreten. Insbesondere handelte es sich um die Grippeimpfung und dies ebenso nicht nur vor, sondern auch nach der Herstellung und Zulassung der Corona-Impfstoffe. Es muss aber unterstrichen werden, dass die Grippeimpfung keinesfalls mit der CoronaImpfung in dem Sinne gleichgesetzt wurde, dass sie auch vor der Corona-Ansteckung schützen soll. Es handelt sich einerseits darum, dass der Organismus nicht durch eine zusätzliche Erkrankung, wie Grippe, belastet wird, wie in (11) gezeigt. Andererseits sind die Symptome von COVID-19 denen der Grippe sehr ähnlich, weswegen beide Krankheiten verwechselt werden können (Beispiele (12), (13), (14)). Schließlich lässt die Verringerung der Grippeerkrankungen das Gesundheitssystem entlasten, wodurch sich die Gesundheitsbehörden besser auf die Bekämpfung des Coronavirus konzentrieren können ((15), (16)). (11) Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat sich von seiner Staatsministerin für Gesundheit, der Ärztin Melanie Huml (CSU), gegen die Grippe impfen lassen. Diese Impfung wird in Zeiten der Corona-Pandemie von Experten empfohlen, um eine Doppelinfektion zu vermeiden. (DeReKo: L20/OKT.00532 Berliner Morgenpost, 07. 10. 2020, S. 3) (12) Der Klinikums-Chef hofft deshalb, dass möglichst viele Menschen sich im Herbst gegen die Grippe impfen lassen werden, damit wenigstens hier deutlich weniger Corona-Verdachtsfälle entstehen. (DeReKo: NUN20/JUL.00733 NN, 11. 07. 2020, S. 11) (13) Je mehr Leute sich gegen Grippe impfen lassen, desto weniger Erkrankungen und »Corona-Fehlalarme« werden sich ereignen. (DeReKo: E20/SEP.01406 Tages-Anzeiger, 25. 09. 2020, S. 2) (14) Dennoch wird eine Impfung gegen das Grippevirus gerade in Corona-Zeiten dringend empfohlen. Die Symptome einer saisonalen Grippe lassen sich nämlich kaum von jenen von Covid-19 unterscheiden. (DeReKo: NZZ20/OKT.01256 NZZ, 26. 10. 2020, S. 16) (15) »Das Wichtigste für den zweiten Corona-Herbst wird sein, dass sich möglichst viele Menschen impfen lassen, und das nicht nur gegen das Coronavirus, sondern auch gegen die Grippe«, sagte er der »Rheinischen Post«. Die Influenza-Impfung dürfe keineswegs vergessen werden, auch sie trage entscheidend zum Schutz der Bevölkerung wie auch zur Entlastung des Gesundheitswesens bei. (DeReKo: NKU21/ SEP.02576 Nordkurier, 15. 09. 2021, S. 17) (16) Gesundheitsminister Jens Spahn hatte sich am Vormittag schon mal medienwirksam gegen Grippe impfen lassen. Schutz gegen Corona bietet das natürlich nicht, aber es könnte helfen, das Gesundheitssystem zu entlasten. (DeReKo: U20/ OKT.01713 SZ, 15. 10. 2020, S. 2)
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Im Rahmen der Debatte zu Vakzinationen gegen COVID-19 und Grippe tauchen auch Überlegungen hinsichtlich deren Kombinationen auf, wobei es in einigen wenigen Fällen Meinungen gibt, beide Impfstoffe, insbesondere gleichzeitig eingenommen, würden sich ausschließen, wie in (17) gezeigt, weswegen Bedenken diesbezüglich auch verständlich sind: (17) Sollte ich mich jetzt auch wieder einer Grippe-Impfung unterziehen, oder sollte ich damit besser warten? Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt inzwischen sogar die gleichzeitige Impfung gegen Corona und Grippe. Es gebe keine Hinweise darauf, dass einer der beiden Impfstoffe dann nicht mehr wirke, sagte Stiko-Chef Thomas Mertens. Zuvor hatte die Stiko noch sicherheitshalber geraten, die beiden Impfungen zeitlich auseinander zu ziehen. (DeReKo: NKU21/OKT.02002 Nordkurier, 13. 10. 2021, S. 17)
Das eruierte sprachliche Material zeigt jedoch, dass die Bedenkenträger in diesem Bereich keinen Grund zur Befürchtung haben und die gleichzeitige Verabreichung beider Impfstoffe völlig unproblematisch und ungefährlich ist: (18) Vielleicht bieten wir im Herbst dann mit der Grippeimpfung gleich auch eine Corona-Auffrischimpfung an. Eine kombinierte Impfung für Grippe und Corona? Das wäre wünschenswert. (DeReKo: E21/JUL.00227 Tages-Anzeiger, 05. 07. 2021, S. 13) (19) Gleichzeitige Impfungen gegen die Grippe und Corona sind laut Einschätzung des Chefs der Ständigen Impfkommission (Stiko) unbedenklich. Es gebe keine Hinweise, dass einer der beiden Impfstoffe dann nicht mehr wirke, sagte der StikoVorsitzende Thomas Mertens »MDR Aktuell«. (DeReKo: L21/SEP.01549 Berliner Morgenpost, 15. 09. 2021, S. 4) (20) Impfungen gegen Corona und Grippe können nach einer Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) nun an einem Termin erfolgen. (DeReKo: L21/SEP.02674 Berliner Morgenpost, 25. 09. 2021, S. 13) (21) Impfung gegen Corona und Grippe ist laut Robert-Koch-Institut (RKI) parallel möglich. (DeReKo: L21/DEZ.00885 Berliner Morgenpost, 09. 12. 2021, S. 23)
Mit dem bereits angesprochenen Aspekt hat man sich der nächsten umfassenden thematischen Gruppe genähert, die im Bereich der Impfung stark hervorgehoben wurde: der Akzeptanz bzw. der Ablehnung der Impfungen, was breit als vaccine hesitancy in der Forschungsliteratur kursiert. Wie in Kapitel 3 angeführt, ist die Fragestellung der Einnahme von COVID-19Vakzinen höhst komplex. Die Akzeptanzraten der Impfung sind nicht so hoch wie erwünscht sowie variieren je nach der untersuchten Population. Es ist nicht zu leugnen, dass die Debatte rund um Impfungen sowohl in dem medialen als auch in dem privaten Bereich für lange Zeit präsent war und nicht selten von starken Emotionen begleitet wurde. Die bereits dargestellten Beispiele ((1)–(21)) zeigen, warum sich die Menschen impfen lassen sollten bzw. auch wollten, was ebenso aus den Ergebnissen der oben zitierten Metaanalysen hervorgeht. Dies waren vor allem das Aufhalten der Pandemie (was zum Teil mit dem prosozialen
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Verhalten verglichen werden könnte), aber auch die Angst vor der Ansteckung und deren Folgen. Auf der Seite der Impf-Gegner wurden ebenso unterschiedliche Gründe erwähnt. Einerseits sind in dem eruierten Sprachmaterial ganz allgemeine Feststellungen zu finden, die einfach die Tatsache zum Ausdruck bringen, dass sich die Menschen nicht impfen lassen wollen. Andererseits konnte man ganz spezifische Motive erkennen, warum die Menschen die Impfung ablehnen. Die erstere Gruppe veranschaulicht das untenstehende Beispiel (22). Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass hier die Rede von Ärzten ist, die als Autoritäten im medizinischen Bereich und somit als Wegweiser hinsichtlich der Einnahme bzw. Verweigerung der Vakzine fungieren. (22) Im Herbst werde es damit wohl noch nichts werden, sagte Klein. Nicht überall sei eine »ganz große Bereitschaft zum Impfen« zu beobachten, fügte Söder hinzu. Mit Sorge beobachte er, dass auch einzelne Ärzte sich ablehnend zum Impfen verhielten. (DeReKo: NUZ20/JUL.00401 NZ, 07. 07. 2020, S. 3)
In diesem Kontext zeigt der nächste Satz (23), inwieweit die Stellung der Mediziner und ihr fachliches Wissen, aber auch das Vertrauen der Menschen den Spezialisten gegenüber in dem Entscheidungsprozess von Belang sind. Wenn sich der Experte Anthony Fauci positiv zu den Vakzinen äußert, kann man sich impfen lassen, ansonsten wahrscheinlich nicht: (23) Er würde sich »absolut« impfen lassen, wenn der renommierte Corona-Experte Anthony Fauci einen Impfstoff für sicher und wirksam erkläre. Die US-Regierung will bis Ende Februar 100 Millionen Menschen gegen das Coronavirus impfen. (DeReKo: LTB20/DEZ.00203 Luxemburger Tageblatt, 04. 12. 2020)
Die konkreten Gründe, warum die Einnahmen der Impfstoffe gegen COVID-19 abgelehnt werden, sind hingegen unterschiedlich. Einige von ihnen seien im Folgenden angeführt, wobei die Zusammenstellung auf keinen Fall Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Dazu gehört z. B. die Unterschätzung des Coronavirus als Krankheit und seine Gleichsetzung mit der Grippe: (24) Ich war schon baff, auch über die Kunden, die sagen, sie lassen sich nicht impfen und testen, Corona sei eh nur eine Grippe. Da lass ich mich gar nicht auf eine Debatte ein, da hab ich meine Erfahrungen gemacht, da wirst nicht fertig, und die Menschen werden immer aggressiver. (DeReKo: PRF21/MAR.00173 profil, 28. 03. 2021) (25) Eine 66-jährige Massagetherapeutin aus dem Thurgau sagte: »Ich stehe da für unsere Freiheit und für unsere Kinder, damit sie in Ruhe gelassen werden beim Impfen.« Für sie sei Corona »eine normale Grippe«, sie selbst sei »noch nie richtig krank gewesen«. Und dann schob sie noch nach: »Wir werden angelogen, wir dürfen uns einfach nicht weiter an der Nase herumführen lassen.« Ihre Begleiterin, eine 78jährige Ex-Krankenpflegerin aus dem Kanton St. Gallen, meinte nur: »Soll ich mir Gift spritzen?« (DeReKo: E21/SEP.01062 Tages-Anzeiger, 20. 09. 2021, S. 17)
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(26) Es ist soweit! Die sozialistische Weltherrschaft beginnt auf dem Hunsrück! Passen Sie ja auf … Beim Impfen werden ihnen Chips eingepflanzt, Corona ist nur eine Grippe, und mit den E-Autos beginnt der Sozialismus. Man wird ihnen ihr Auto wegnehmen, sie müssen künftig Jahre warten, wenn sie sich fortbewegen wollen und der Klimawandel ist reine Erfindung! Die Einzigen, die das verhindern, sind die von rechts außen! (DeReKo: RHZ21/JAN.16428 RZ, 22. 01. 2021, S. 18)
Während im Satz (24) rein die Tatsache angesprochen wird, dass Corona der Grippe ähnlich ist und somit man nichts zu befürchten hat, schwingt schon im Satz (25) der Ton der Verschwörungstheorien mit. Dies schlägt sich im Fall der Verwendung von Freiheit, Wir werden angelogen, an der Nase herumführen und natürlich Soll ich mir Gift spritzen? nieder. Im Beispielsatz (26) ist hingegen bereits sehr klar, dass die Unterschätzung des COVID-19 als Grippe eng mit der Verschwörungstheorie verbunden ist, nach der den Menschen Chips implantiert werden sollen. Den Beispielen (25) und (26) kann auch entnommen werden, dass hinter dem Impfprozess eine nicht näher definierte Gruppe steht, die die Welt regiert und ihre ebenso nicht näher definierten Ziele verfolgt. In engem Zusammenhang damit wird auch Bill Gates als derjenige erwähnt, der in das Impfprogramm investierte, wodurch ihm böse Absichten unterstellt wurden: (27) Warum will Herr Gates unbedingt 7 Milliarden Menschen impfen, wenn doch bereits etwa 1,5 Milliarden gegen Corona immun sind? (DeReKo: A20/MAI.03624 St. Galler Tagbl., 15. 05. 2020) (28) Wann lässt sich der Microsoft-Gründer gegen Covid-19 impfen? Haben russische Forscher ihre Corona-Daten mit Photoshop aufgehübscht? Und gibt es jetzt Leben auf der Venus? Das ist die Lage am Dienstagabend. (DeReKo: SOL20/SEP.01420 SPON, 15. 09. 2020)
Ihren Höhepunkt scheint die Fragestellung der Rolle der Verschwörungstheorien im Impfprozess im folgenden Beispielsatz (29) zu nehmen: (29) Schon an den allerersten Corona-Demos auf dem Zürcher Sechseläutenplatz im Frühling 2020 nahmen Verschwörungstheoretiker der QAnon-Bewegung teil. Diese aus den USA stammende Gruppe glaubt, dass eine satanistische Elite Kinder in unterirdischen Verliessen gefangen hält und deren Blut trinkt. In den Kanälen der Corona-Skeptikerinnen auf dem Messenger-Dienst Telegram finden sich unzählige absurde Fantasien wie jene, wonach die »Plandemie« und die Covid-Impfung eine bewusste Strategie seien, um einen Teil der Weltbevölkerung auszurotten. (DeReKo: E21/NOV.00325 Tages-Anzeiger, 06. 11. 2021, S. 3)
Ähnliche Haltungen bezüglich der Pandemie und der Impfung aus der Perspektive der Verschwörungstheorien bringen die zwei untenstehenden Beispiele (30) und (31) zum Ausdruck:
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(30) Er verbreitete unter anderem Horror-Visionen über das Impfen und verglich Corona-Tote mit Abtreibungen. Von einigen dieser Aussagen distanzierte er sich inzwischen wieder. (DeReKo: HMP20/JUL.00026 MOPO, 01. 07. 2020, S. 7) (31) Kam es in der Vergangenheit zu allergischen Reaktionen nach einer Impfung, wird die Nachbeobachtungszeit auf 30 Minuten verlängert. Meine Enkelin ist gegen das Impfen, da der Corona-Impfstoff die Körperzellen anregen soll, das Coronavirus selbst zu produzieren. Ist das so? (DeReKo: B21/FEB.00874 BLZ, 15. 02. 2021, S. 10)
Einen anderen Aspekt im Bereich der Ablehnung der Vakzinen bildet der relativ kurze Zeitraum, in dem die Impfung hergestellt wurde, was zum Teil mit den Beispielen (22) und (23) zusammenhängt und somit erklärt, warum die Meinungen und Einstellungen der Mediziner für die Gesellschaft so wichtig sind. Das Beispiel (32) bringt die Bedenken hinsichtlich des Tempos, mit dem der Vakzinationsprozess fortschritt, ausdrücklich zur Sprache: (32) Der weltweite Effort für eine Impfung sei in dieser Dimension einzigartig, erstmalig aber nicht. Schon bei der Entwicklung der Grippeimpfung musste die Wissenschaft global zusammenarbeiten. Und auch im veterinärmedizinischen Bereich gab es weltweite Forschungsaktivitäten, zum Beispiel bei der Impfung gegen die Rinderpest. Beim Coronavirus ist das Tempo aber ausserordentlich. (DeReKo: A20/ MAI.04245 St. Galler Tagbl., 18. 05. 2020)
Die Schnelligkeit, mit der an der Impfung gearbeitet wurde, und der ungewöhnlich kurze Herstellungs- und Zulassungsprozess, haben dazu geführt, dass auch Bedenken in Bezug auf die Überzeugungskraft der Forschungen entstehen können, was dazu beitragen mag, dass unser Wissen in dem Bereich doch lückenhaft ist. Die untenstehenden Beispiele (33), (34) und (35) veranschaulichen ausdrücklich, dass vor allem Zweifel an der Sicherheit, Wirksamkeit und eventuellen Nebenwirkungen und Folgen der Impfungen bestehen (auch unter Ärzten): (33) Wir wissen noch zu wenig über die Sicherheit und die Wirksamkeit. Ich habe den Eindruck, die Impfung wird den Behörden einen Ausweg aus der Pandemie ohne Gesichtsverlust ermöglichen. Aber wieso sollen sich alle impfen lassen, wenn Corona in über 95 Prozent der Fälle mild verläuft? Doch für Ältere und Menschen mit geschwächter Abwehr könnte eine Impfung sinnvoll sein, falls sie wirksam und sicher ist. (DeReKo: NZZ20/DEZ.00779 NZZ, 16. 12. 2020) (34) Impfen gegen das Coronavirus, sagt Wiedner, werde er sich sicher nicht sofort lassen, denn das widerspreche seinem Hausverstand. »Normalerweise dauert die Impfstoffentwicklung fünf bis zehn Jahre. Und jetzt soll das plötzlich in ein paar Monaten gehen?«, sagt er. (DeReKo: Z20/DEZ.00111 Zeit, 03. 12. 2020, S. 20) (35) Die meisten Pflegekräfte, die sich zu 50 Prozent nicht impfen lassen wollen, sind keine Corona-Leugner; sie sind täglich mit den Folgen von Corona konfrontiert. Auch viele Ärzte möchten eventuelle Spätfolgen der Impfung abwarten. Das sollte man akzeptieren. (DeReKo: B21/JAN.00742 BLZ, 14. 01. 2021, S. 6)
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Die Bedenken bezüglich der Wirksamkeit der Vakzine können dadurch verstärkt werden, dass sich die geimpften Menschen angesteckt haben und die Krankheit sogar einen schweren Verlauf hatte. Dies zeigen die Beispiele (36), (37) und (38). Interessanterweise muss bei der näheren Betrachtung der untenstehenden Sätze auf Folgendes hingewiesen werden: Es war allgemein bekannt, dass die Impfung vor der Ansteckung nicht völlig schützt, sondern eher dazu beiträgt, dass die Symptome mild sind. In jedem der untenstehenden Beispiele taucht jedoch die konzessive Präposition trotz in Verbindung mit Impfung auf, was, zumindest zum Teil, gegensätzliche Annahmen erlaubt und darauf schließen lässt, dass man doch darauf Hoffnung hatte, mit dem eingenommenen Impfstoff vor der Krankheit geschützt zu werden. (36) Obwohl sie nach eigenen Worten bereits eine Infektion überstanden hat und geimpft wurde, ist Sängerin Patricia Kelly (51) erneut am Coronavirus erkrankt. »Patricia […] hat sich (trotz abgeschlossener Impfung) mit dem Coronavirus angesteckt und liegt derzeit im Krankenhaus«, teilte ihr Team am Montagabend auf Instagram mit. (DeReKo: HAZ21/OKT.02045 HAZ, 20. 10. 2021, S. 28) (37) 1.300 Impfdosen am ersten Tag verabreicht. Erste Personen von Warteliste geimpft. Trotz Impfung gab es Corona-Positive in Heim. (DeReKo: NON21/APR.07581 NÖN, 23. 04. 2021) (38) Er wolle sich im neuen Bundestag weiter für den Sport engagieren. Der neue Präsident des Dachverbands wird am 4. Dezember gewählt. Am Sonntag wurde bekannt, dass Hörmann sich trotz Impfung mit dem Coronavirus infiziert hat. (DeReKo: HAZ21/NOV.01519 HAZ, 15. 11. 2021, S. 16)
Der letzte thematische Bereich, der in dem gewonnen Sprachmaterial hervorgehoben wurde, betrifft den sehr breit verstandenen Impfprozess.13 In dieser Kategorie lassen sich deswegen unterschiedliche Aspekte herausstellen. Einerseits handelt es sich um die jeweiligen Impfprozessphasen, andererseits um zum Teil zusätzliche Subthemen. In diesem Kontext ist die Arbeit von Klosa-Kückelhaus (2021b) zu erwähnen, die anhand der Analyse von Komposita auf drei chronologisch geordneten Etappen des Vakzinationsvorgangs hingedeutet hat (siehe auch oben Kap. 2): Entwicklung und Herstellung, Prüfung und Zulassung der Impfungen sowie Planung und Durchführung der Vakzinationen. Bleibt man bei der Chronologie, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass neben der Zulassungsfrage (siehe (39) und (40)) oft in der ersten Etappe die Vorbereitung auf den Empfang der Impfstoffe, ihre Aufbewahrung und der Aufbau von Impfzentren (siehe (41), (42) und (43)), aber auch der Anfang des Prozesses angesprochen wurden und dies auch aus der Perspektive, dass während einige
13 Hierbei wird der Begriff Impfprozess sehr breit aufgefasst und wird somit zeitlich zwischen der Verabreichung der ersten und der zweiten (oder sogar der dritten) Dosis nicht unterschieden. Zumal diese Phasen erfolgten fließend.
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Länder schon impfen, andere noch warten oder die Impffrage gar unbeantwortet lassen ((44) und (45)) (vgl. hierzu auch Klosa-Kückelhaus 2021b): (39) Bis das große Impfen gegen Corona wirklich losgehen kann, dauert es hierzulande aber noch ein paar Tage, vielleicht Wochen. Vorher muss die Europäische Arzneimittelagentur den deutsch-amerikanischen Impfstoff von Biontech und Pfizer für die EU zulassen. (DeReKo: SOL20/DEZ.00253 SPON, 03. 12. 2020) (40) Es ist ein kleiner Pieks, aber große Teile der Menschheit sehnen sich ihm derzeit entgegen. Weltweit ringen Staaten darum, ihre Bevölkerung möglichst schnell gegen Sars-CoV-2 zu impfen. Mehrere Impfstoffe warten im Kampf gegen das Coronavirus auf ihre Zulassung. Bisher ist in den meisten Staaten der Corona-Impfstoff des Mainzer Unternehmens Biontech und seines US-Partners Pfizer zugelassen, Großbritannien hat nun als erstes Land weltweit auch den Impfstoff von AstraZeneca zugelassen. (DeReKo: SOL20/DEZ.02608 SPON, 30. 12. 2020) (41) Deutschland bereitet sich in der Corona-Pandemie auf die Verteilung und Lagerung von dringend erwarteten Impfstoffen und ihren flächendeckenden Einsatz im Land vor. (DeReKo: NKU20/NOV.01212 Nordkurier, 09. 11. 2020, S. 19) (42) Brandenburg bereitet sich darauf vor, die Bevölkerung gegen das Coronavirus zu impfen. Bis Mitte Dezember sollen die ersten zwei Corona-Impfzentren in Potsdam und Cottbus eingerichtet werden, wie Ministeriumssprecher Gabriel Hesse am Mittwoch bestätigte. Weitere Impfzentren werden demnach im Januar eingerichtet, bis zu zehn sollen landesweit insgesamt entstehen. (DeReKo: NKU20/NOV.04119 Nordkurier, 26. 11. 2020, S. 1) (43) Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hatte die Ladung in Empfang genommen und gesagt, pro Tag könnten in Israel 60.000 Impfdosen verabreicht werden. Zugleich kündigte er dabei an, sich als Erster in Israel impfen zu lassen. (DeReKo: SOL20/DEZ.01445 SPON, 16. 12. 2020) (44) Welches andere EU-Land wird sich einen solchen Wahnsinn antun wollen, wie die Briten ihn durchlaufen haben. Jetzt aber scheint das Ausscheiden für die Insel einen Vorteil zu bringen. Die Briten impfen schon in dieser Woche, während die CoronaBürokraten der EU noch wochenlang die Testergebnisse prüfen wollen. (DeReKo: Z20/DEZ.00208 Zeit, 10. 12. 2020, S. 26) (45) Russland und Grossbritannien haben mit dem Impfen gegen das Coronavirus begonnen. Die USA zogen diese Woche nach, mehrere Staaten wollen auch bald so weit sein. Doch wie steht es in der weniger entwickelten Welt mit dem Impfstoff ? (DeReKo: NZS20/DEZ.00259 NZZ am Sonntag, 20. 12. 2020, S. 5)
Mit der Anfangsphase des Vorgangs ist auch die Fragestellung der Verteilung bzw. Priorisierung unterschiedlicher Berufs- und Altersgruppen verbunden, die entweder der Gefahr einer Ansteckung besonders ausgesetzt sind oder für die das Coronavirus sehr gefährlich oder sogar lebensbedrohlich sein kann (vgl. KlosaKückelhaus 2021b): (46) Berlin wird nach Prioritätenliste impfen. Ist ein Impfstoff gegen Corona erst einmal da, stellt sich die Frage der Verteilung. In Berlin steht nun ein entsprechender Plan.
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Dieser umfasst bedürftige Menschen – aber auch bestimmte Berufsgruppen. (DeReKo: SOL20/NOV.01073 SPON, 11. 11. 2020) (47) Ziel ist es, einen günstigen Zugang zu Tests und Impfdosen sicherzustellen. Impfkommission will zuerst in Alten- und Pflegeheimen impfen. (DeReKo: SOL20/ DEZ.00537 SPON, 07. 12. 2020) (48) Zuerst werden das Gesundheitspersonal und die Risikogruppen geimpft. Die Skeptiker werden realisieren, dass jene, die bereits geimpft sind, nicht tot umfallen oder krank werden. Aber jene Menschen ohne Impfung werden weiterhin an Corona erkranken. (DeReKo: A20/DEZ.03758 St. Galler Tagbl., 12. 12. 2020) (49) Startklar ist man in Simmern. Bereit, besonders gefährdete Menschen – vor allem Senioren – zu impfen. Sagenhaft, was diese Corona-Pandemie alles an Unmöglichem möglich macht. (DeReKo: RHZ20/DEZ.13314 RZ, 16. 12. 2020, S. 15)
In diesem Kontext soll auch der eventuelle Verzicht auf die Impfung wegen einer durchstandenen Corona-Infektion erwähnt werden, wodurch man innerhalb von ein paar Monaten gegen das Virus immun ist: (50) Andernorts sieht es zwar besser aus und einige verzichten auch aufs Impfen, weil sie gerade Corona hatten. (DeReKo: A21/JAN.07460 St. Galler Tagbl., 30. 01. 2021) (51) Sollen Pensionäre, die Corona schon hatten, vorerst mit Impfen abwarten? Verzicht Ja, wer Corona hatte, hat sozusagen eine natürliche Impfung durchgemacht. Nur weiss man noch nicht genau, wie lange dieser Schutz hinhält. Drei bis sechs Monate, heisst es. (DeReKo: A21/JAN.07671 St. Galler Tagbl., 30. 01. 2021)
In der Verlaufsphase oder nach Klosa-Kückelhaus (2021a, b) im Rahmen der Durchführung der Vakzinationen können auch verschiedene Aspekte unterschieden werden. Vor allem gehören dazu das schnelle Tempo des Impfvorgangs insbesondere in dessen ersten Etappen nach der Zulassung (siehe (52), (53), (54)) sowie das Problem der Impfung von Jugendlichen und Kindern, wobei die Diskussion darüber in den späteren Etappen des ganzen Prozesses stattgefunden hat (Beispiele (55), (56) und (57)): (52) Der Kanton Bern wiederum plant, am 11. Januar fünf Impfzentren in Betrieb zu nehmen, das grösste davon in Bern Wankdorf. Bis Ende des Monats sollen vier weitere Zentren folgen. Ziel ist es, täglich 5000 Bernerinnen und Berner zu impfen. Bis die Hälfte der Bevölkerung den Corona-Schutz erhält, würde es bei diesem Tempo rund 100 Tage dauern. (DeReKo: NZZ20/DEZ.01022 NZZ, 21. 12. 2020, S. 1) (53) Es geht schnell voran mit dem Impfen. Gegen das Coronavirus werden bis im März alle Menschen geimpft sein, die einer Risikogruppe angehören. Im Juni dürften 80 Prozent der Bevölkerung zumindest eine erste Impfdosis erhalten haben. (DeReKo: A21/FEB.05721 St. Galler Tagbl., 20. 02. 2021) (54) Von den bisher erhaltenen 1,3 Millionen Impfdosen sind 950000 Dosen verabreicht. Über 300000 Personen sind schon doppelt geimpft. Für die Bewältigung der Coronapandemie sei klar: »Der absolut entscheidende Faktor ist, wie schnell wir impfen können«, sagte Martin Ackermann, Präsident der wissenschaftlichen Coronataskforce. (DeReKo: A21/MAR.02794 St. Galler Tagbl., 10. 03. 2021)
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(55) Die Stiko empfiehlt nun auch eine Impfung gegen das Coronavirus für Zwölf- bis 17Jährige. (DeReKo: HAZ21/AUG.01737 HAZ, 17. 08. 2021, S. 15) (56) Eine Impfung gegen das Coronavirus gibt es für Minderjährige zwischen zwölf und 17 Jahren jetzt auf ausdrückliche Empfehlung der Expertenkommission. Grund für die Neubewertung sind neue Daten, nach denen mögliche Risiken der Impfung für diese Altersgruppe nun zuverlässiger beurteilt werden, so das Gremium. (DeReKo: HAZ21/AUG.01737 HAZ, 17. 08. 2021, S. 15) (57) Kinder und Jugendliche in Deutschland sollen zum Schulstart nach den Sommerferien Gelegenheit zur Impfung gegen das Coronavirus erhalten. Darauf haben sich die Gesundheitsministerinnen und -minister der Länder am Montag bei Beratungen mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geeinigt. Für die Zwölf- bis 17Jährigen soll es dafür auch niedrigschwellige Angebote geben. (DeReKo: HAZ21/ AUG.00116 HAZ, 03. 08. 2021, S. 1)
Während das eruierte Sprachmaterial es erlaubte, bestimmte Aussagen herauszustellen, die den breit verstandenen Anfangs- und Verlaufsphasen des Vakzinationsprozesses zugeordnet werden konnten, scheint es unmöglich zu sein, dasselbe bezüglich dessen Abschlusses zu tun. Ganz im Gegensatz: Die Experten scheinen in dieser Hinsicht eher skeptisch zu sein und betonen, dass die Vakzination gegen Coronavirus noch viel Zeit in Anspruch nehmen kann: (58) Der Kanton sei in »rollender Planung«, erklärte Karin Faisst, Amtsleiterin Gesundheitsvorsorge und Impfstrategiechefin. Der Stand könne sich täglich oder wöchentlich ändern, doch werde das Impfen gegen das Coronavirus keine Sache von wenigen Monaten, sondern ein längerfristiger Teil der Gesundheitsvorsorge. (DeReKo: A20/DEZ.05391 St. Galler Tagbl., 18. 12. 2020) (59) Vermutlich werden wir lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Die Impfung gegen Corona wird wohl zum dauerhaften Begleiter. Sehr viel besser als immer neue Lockdowns und die bange Frage: Wann geht’s wie weiter? (DeReKo: RHZ21/ MAR.01106 RZ, 02. 03. 2021, S. 2) (60) Es wird längere Zeit dauern, bis wir durch die Impfung eine spürbare Veränderung des Infektionsgeschehens sehen werden, dass wir sagen können, jetzt kann wieder Ruhe einkehren (DeReKo: L20/OKT.02955 Berliner Morgenpost, 29. 10. 2020, S. 3)
Im Kontext des unvorhersehbaren Endes der Pandemie, aber auch des Abschlusses des Vakzinationsvorgangs, sind die Folgen des »Geimpftwerdens« zu nennen, die auch als Privilegien für die Geimpften und die Impfung selbst als Pass, z. B. beim Reisen oder Restaurantbesuch, betrachtet werden (vgl. hierzu auch Klosa-Kückelhaus 2021b): (61) In der Gesamtbevölkerung haben inzwischen mehr als 80 Prozent der über Zwölfjährigen eine vollständige Impfung erhalten. Diese hohe Quote ist vor allem eine Folge der Regeln zum »Gesundheitspass«, den Macron neben der Impfpflicht für alle Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich angekündigt hatte: Ihn muss seit mehreren Wochen besitzen, wer in ein Restaurant, Café, Theater oder Schwimmbad gehen, eine Fernreise mit dem Zug, Bus oder Flugzeug unternehmen, an Konzerten,
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Festivals oder Sportveranstaltungen teilnehmen will. Der Pass ist ein Nachweis entweder der vollständigen Impfung oder eines negativen Corona-Tests. (DeReKo: HAZ21/SEP.04169 HAZ, 16. 09. 2021, S. 4) (62) Seit mehreren Tagen erlebt die französische Karibikinsel Guadeloupe heftige Unruhen. Auslöser der Gewalt waren die in Frankreich geltende Impfpflicht für Beschäftigte im medizinischen, Notrettungs- und Pflegebereich sowie der Gesundheitspass, der eine Impfung oder einen aktuellen Corona-Test in Restaurants, Kulturstätten oder Sporteinrichtungen vorschreibt. (DeReKo: HAZ21/NOV.02244 HAZ, 23. 11. 2021, S. 5) (63) Jeder Einreisende aus diesen Ländern muss unabhängig vom Verkehrsweg zu Luft, Wasser oder Land entweder eine Impfung, einen Genesenennachweis oder einen aktuellen negativen Corona-Test vorweisen müssen. (DeReKo: HAZ21/JUL.01460 HAZ, 14. 07. 2021, S. 4) (64) Manchmal sind Impfungen auch Voraussetzung für einen Aufenthalt im Ausland. Das ist okay. Es wäre sogar verständlich, wenn ein fast Covid-19-freies Land wie Neuseeland nur noch einreisen liesse, wer eine Impfung vorweisen kann. (DeReKo: A20/DEZ.02305 St. Galler Tagbl., 08. 12. 2020)
4.
Schlussbetrachtung
Die oben durchgeführte quantitative Analyse zeigt eindeutig, dass im Jahre 2021 die Problematik der Impfung im Vergleich zum Vorjahr viel häufiger Gegenstand der Diskussionen war. Der Grund dafür scheint ganz offensichtlich zu sein: Die auf die Herstellung der Vakzinen abzielenden Forschungen wurden abgeschlossen, sodass die Regierungen mit dem Impfen beginnen konnten. Damit waren aber sehr heikle Fragen verbunden, auf die im weiteren, d. h. im qualitativ orientierten Teil der Untersuchung eingegangen wurde. Die drei Bereiche, die sich aufgrund des eruierten Sprachmaterials besonders prägnant erwiesen haben, waren: (1) die Impfung als Vorbeugungsmaßnahme der Pandemie, (2) Akzeptanz/Ablehnung der Impfung und (3) der Impfprozess. Innerhalb dieser Domänen konnte zusätzlich auf weitere feinere Aspekte hingewiesen werden wie die »Mikro-« oder »Makro-Ebene«, auf denen man die Pandemie bzw. Krankheit einzudämmen versuchte, Corona und Grippe, Verschwörungstheorien, Angst vor der Ansteckung, Organisatorisches im Impfprozess, Priorisierung bestimmter Alters- und Berufsgruppen usw. Dabei gilt es zu unterstreichen, dass die Analyse einen groben Charakter hat und lediglich einen einführenden Einblick in die Fragestellung der Impfung in der Krisensituation aus sprachwissenschaftlicher Perspektive bietet. Deswegen ist resümierend festzustellen, dass diese Problematik wegen der oben vielfach angedeuteten Komplexität viel mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit verlangt, als ihr bis heute geschenkt wurde.
Corona-Impfung aus der sprachlichen korpusorientierten Perspektive
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Przemysław Staniewski
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Corona-Impfung aus der sprachlichen korpusorientierten Perspektive
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II. Corona-Pandemie in verschiedenen textuellen Repräsentationen
Bernadetta Ciesek-S´lizowska / Joanna Przyklenk / Katarzyna Sujkowska-Sobisz / Wioletta Wilczek (Uniwersytet S´la˛ski, Katowice)
Eine Vertrauenskrise in den Äußerungen von Impfskeptikern1 während der COVID-19-Pandemie. Eine linguistische Perspektive Abstract Crisis of Confidence in the Comments of Vaccination Sceptics During the COVID-19 Pandemic. A Linguistic Perspective The aim of this article is to characterise the crisis of trust expressed in online comments by vaccination sceptics during the COVID-19 pandemic. The analysis covered 3650 comments published between September and mid-November 2021 under the posts of the Ministry of Health posted on its official fanpage (Facebook). The lack of trust observed in the statements of vaccination sceptics was analysed in two ways, i. e. firstly, by indicating the rhetorical strategies typical of particular addressees (rhetoric of fear, shame, guilt); secondly, by showing the hard and/or soft competences recurring in the material, which Internet users questioned, signalling their own lack of trust towards specific addressees: institutions of power and medics, doctors as subjects of public trust (vertical); fellow citizens as subjects of public trust (horizontal). Keywords: subjects of trust, COVID-19 pandemic, linguistic text analysis Schlüsselwörter: Vertrauenssubjekte, COVID-19-Pandemie, linguistische Textanalyse
1 Die Wahl des Wortes Skeptiker (und nicht Gegner) erfolgte aus zwei Gründen: Erstens ging es um die Semantik beider lexikalischen Einheiten – ein Skeptiker bedeutet nach der Wörterbuchdefinition (WSJP, eigene Übersetzungen aus dem Polnischen) ›eine Person, die einer Sache kritisch und zweifelnd gegenübersteht, auch wenn diese von anderen vorbehaltlos akzeptiert wird‹, während ein Gegner ›eine Person ist, die etwas für falsch hält und bereit wäre, dagegen zu kämpfen‹. Die Analysen des Quellenmaterials zeigen, dass die Abneigung gegen das Impfen abstufbar ist und sich nicht eindeutig auf eine Gegnerschaft reduzieren lässt. Skepsis scheint in diesem Fall die Haltung der Kommentatoren gegenüber der Impfung besser wiederzugeben. Zweitens wurde im Sinne der sozialen Verantwortung der Wissenschaft auf antagonistische Bezeichnungen der Streitparteien (ein Gegner evoziert einen Befürworter) verzichtet, zumal die Reichweite des Wortes Skeptiker sowohl einen (eindeutig impfkritischen) Gegner als auch einen bloßen Impf-Zweifler umfassen würde.
Ciesek-S´lizowska / Przyklenk / Sujkowska-Sobisz / Wilczek
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1.
Einleitung
Vertrauen wird als eine Art von zwischenmenschlichen Beziehungen betrachtet, die den für das soziale Leben relevanten moralischen Raum bilden. Piotr Sztompka stellt es neben sechs andere, nämlich Loyalität, Gegenseitigkeit, Solidarität, Respekt, Gerechtigkeit und Verantwortung (vgl. Sztompka 2016). Er macht jedoch deutlich, dass Vertrauen während der COVID-19-Pandemiekrise entscheidend war, damit der Staat so effizient und sicher wie möglich agieren konnte (vgl. Sztompka 2021: 8), da es untrennbar mit der Kategorie des Risikos2 verbunden ist. Die Pandemie als ein Phänomen, das erstens global (allgegenwärtig), zweitens universell (ohne Kenntnis von Trennungen oder Klassen) und schließlich drittens unsichtbar (die Unfähigkeit, die Bedrohung wahrzunehmen) war, barg für die zeitgenössischen Menschen unbekannte Risiken sowohl für ihr eigenes als auch für das gesellschaftliche Leben (vgl. Sztompka 2021: 11). Das Risiko des Erkrankens und dessen gesundheitlicher Folgen (einschließlich des Todes), das im Zuge alltäglicher Aktivitäten mit wenig Möglichkeiten seiner Minimierung eingegangen wurde (z. B. Tragen von Masken, Händewaschen, Einhaltung sozialer Distanz), machte die Frage des Vertrauens bzw. des fehlenden Vertrauens für praktisch alle Menschen, alle Gemeinschaften zur Schlüsselfrage. Für die weitere Analyse ist es wichtig anzugeben, auf welchen Zeitpunkt der Pandemie sich die hier vorgestellten Forschungsergebnisse beziehen, da im Verlauf der Pandemie verschiedene Phasen unterschieden werden können, z. B. eine Periode vorbildlicher sozialer Disziplin während des Lockdowns oder eine Phase der Vertrauenserosion im Zusammenhang mit der Inkohärenz des Handelns der Regierenden (vgl. Sztompka 2021: 15–16). Die Frage des Vertrauens hatte sich in jeder Phase anders gestaltet (vgl. Wawrzuta u. a. 2021, Ciesek-S´lizowska u. a. 2022). Es ist selbstverständlich, dass der Wendepunkt im Kampf gegen die Pandemie das Auftauchen des COVID-19-Impfstoffs war. Im Frühjahr 2021 begannen die Menschen, sich massenhaft impfen zu lassen; niemand stellte damals die Notwendigkeit in Frage, die eigene Gesundheit und das eigene Leben mit Hilfe des Impfstoffs zu schützen, doch mit der Zeit wurden die Stimmen der Impfskeptiker im sozialen Kommunikationsraum immer lauter. Im Sommer und Herbst 2021, als sich herausstellte, dass die erste und zweite Dosis des Impfstoffs nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht hatten, wurden die Stimmen derjenigen, die sich negativ über die Impfung äußerten, immer hörbarer. Neben denjenigen, die sich konsequent gegen die Impfung aussprachen, begannen auch diejenigen, die bereits geimpft waren, aber gegen eine weitere Dosis rebellierten, 2 Je größer das Risiko ist, desto mehr Vertrauen müssen wir haben, um dieses Risiko einzugehen oder damit zu leben.
Eine Vertrauenskrise in den Äußerungen von Impfskeptikern
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sich abwertend über die Impfung zu äußern. Die Herbstphase der Pandemie 2021 erwies sich als ein Moment, in dem sich die Vertrauenskrise verstärkte und in verschiedenen Kommunikationssituationen, auch im öffentlichen Raum, verbalisiert wurde. Aus diesem Grund haben wir 3650 Kommentare von Internetnutzern, die zwischen dem 1. September und dem 15. November 2021 unter den auf der offiziellen Facebook-Fanpage des Gesundheitsministeriums3 veröffentlichten Beiträgen zur COVID-19-Pandemie gepostet wurden, zum Gegenstand der Analyse gemacht. Wir betrachten die Kommentare von Impfskeptikern aus einer kommunikativen Perspektive, d. h. wir fokussieren darauf, wer der Adressat4 des kritischen Kommentars ist, sowie aus einer rhetorischen Perspektive, da es für uns wichtig ist, an welche Emotionen der Absender des Kommentars appelliert, indem er die Rhetorik der Angst, der Schuld oder der Scham verwendet. Jede dieser Sphären bezieht sich auf einen anderen Kreis der sozialen Interaktion: Die Rhetorik der »Angst« Diese Art der Argumentation besteht darin, auf die negativen Folgen hinzuweisen, die die Handlungen bestimmter Personen oder Gruppen in ihrer Gesamtheit für das Wohlergehen des Lebens des unter dem Begriff »wir« zusammengefassten Kollektivs haben können. […] Die Rhetorik der »Scham« Bei dieser Argumentationsweise wird an die normativen Verpflichtungen gegenüber anderen Personen und Gruppen appelliert. Die Grundlage des Appells im Namen der Prinzipien der Gegenseitigkeit und der Loyalität zu den als gemeinsam angesehenen Werten werden hier die Gegensätze von Ehre und Unehre, von Würde und ihrem Mangel, von Wissen und Unwissenheit in Bezug auf die Regeln, die die interaktionelle Kompetenz des Teilnehmers bestimmen, die Kriterien der Reputation. […] Die Rhetorik der »Schuld« […] Gegenstand der Überzeugung ist hier nicht die öffentliche Prinzipientreue (Takt), sondern die innere Treue zu ihnen (Gewissen), wobei sich die Forderung des Gewissens 3 Die materielle Grundlage der Untersuchung ist eine Sammlung von mehreren tausend Kommentartexten, wobei in dieser Studie keine quantitative, sondern eine qualitative Analyse durchgeführt wird, die auch Aufschluss über die Wiederholbarkeit bestimmter Formulierungen gibt, die bestimmte Positionen der Kommentatoren ausdrücken, so dass darauf aufmerksam gemacht wird, welche rhetorischen Entscheidungen eindeutig dominieren. Dies steht im Einklang mit der verwendeten Methodologie, nämlich der diskursologischen Analyse. 4 Die Wahl des Adressaten als Schlüsselparameter der Kommunikation in dem von uns verfolgten Ansatz scheint ausreichend, denn Vertrauen wird immer in jemanden (einige Subjekte) gesetzt. Ziel des Beitrags ist es nicht, die gesamte Kommunikationssituation zu analysieren, sondern im Mittelpunkt steht vor allem die Beziehung zwischen den Kommunikationsakteuren. Dieser Parameter ermöglicht unseres Erachtens einen nahtlosen Übergang zu einem Überblick über das Forschungsmaterial anhand der von Soziologen (vgl. Sztompka 1997, 2007, 2016, 2021) vorgeschlagenen Parameter bezüglich der Werte, die das Vertrauen fördern, und zu einer Analyse des rhetorischen Potenzials im Kontext von Schuld, Scham und Angst.
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Ciesek-S´lizowska / Przyklenk / Sujkowska-Sobisz / Wilczek
auf zweierlei Weise manifestieren kann: zum einen kann sie in Bezug auf die universellen Pflichten der menschlichen Person formuliert werden, zum anderen – in Bezug auf die Pflichten der Person als Mitglied einer spezifischen kulturellen Gemeinschaft. (Piotrowski 2010: 192–194)5
Die Adressaten der Kommentare von Internetnutzern sind nach wie vor unterschiedliche Subjekte, aber für die weitere Analyse ist es von entscheidender Bedeutung, drei von ihnen hervorzuheben, nämlich diejenigen, die sowohl aus vertikaler Sicht (Behörden und Mediziner, Ärzte) als auch aus horizontaler Sicht (Mitbürger) als Subjekte öffentlichen Vertrauens gelten (vgl. Sztompka 2021: 13– 14). Nach Sztompka sind die Vertrauenserwartungen bei jeder Kategorie von Adressaten unterschiedlich, denn: Wir erwarten mehrere Tugenden von den Regierenden […]. Erstens harte, effizienzbasierte Tugenden, die ich als »4K-Syndrom« bezeichne: Kompetenz, Kohärenz, Konsequenz und Kontinuität des Regierungshandelns sowie Verantwortung, d. h. die Folgen der eigenen Entscheidungen auf der Grundlage des besten verfügbaren Wissens vorauszusehen. Wir erwarten auch weiche, moralische Tugenden: Wahrhaftigkeit, vollständige Information, Transparenz der Verfahren und Offenheit für den Dialog mit den Bürgern. Und schließlich erwarten wir das Anspruchsvollste: die Vertretung der Interessen der Bürger, geleitet vom Gemeinwohl und nicht von Partei-, Fraktions- und Wahlinteressen, Vetternwirtschaft und der eigenen Karriere. An die Ärzte stellen wir andere Erwartungen. In erster Linie ein aktuelles, umfassendes Wissen und therapeutische Fähigkeiten. Aber darüber hinaus auch Fürsorge, Zuverlässigkeit, Mitgefühl und sogar die Aufopferung der eigenen Interessen zum Wohle der Patienten. Schließlich erwarten wir von unseren Mitbürgern Solidarität und Verantwortung. (Sztompka 2021: 14)
Im nächsten Abschnitt stellen wir dar, wie sich Personen, die sich negativ über Impfungen äußern, mit spezifischen Argumenten und axiologischen Mechanismen an Regierungsvertreter wenden. Wir möchten darauf hinweisen, dass solche Kommentare, in denen die Regierenden zum Gegenstand negativer Kommunikation werden, am zahlreichsten sind (vgl. Ciesek-S´lizowska u. a. 2022: 21).
5 Alle Zitate und alle analysierten Kommentare wurden von den Autorinnen des Beitrags aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt.
Eine Vertrauenskrise in den Äußerungen von Impfskeptikern
2.
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Institutionen der Macht als Subjekte des öffentlichen Vertrauens in der COVID-19-Pandemiekrise
Von den Regierenden – als Organisatoren des institutionellen staatlichen Lebens – wird das Meiste erwartet, weshalb das Gefühl des enttäuschten Vertrauens gegenüber Personen und Institutionen der Macht in einer Krisensituation besonders ausgeprägt ist: Schließlich haben diejenigen versagt, deren Aufgabe es war, strategische Entscheidungen zu treffen und die Situation zu kontrollieren, um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Das von den Impfskeptikern zum Ausdruck gebrachte Misstrauen gegenüber den Regierenden taucht im gesammelten Material am häufigsten auf (vgl. Ciesek-S´lizowska u. a. 2022: 8), was sich sowohl aus der den Behörden zugeschriebenen Verantwortung für die Bewältigung der Krise als auch aus der kommunikativen Besonderheit der analysierten Online-Kommentare ergibt: Es handelt sich um Äußerungen, die unter den Posts des Gesundheitsministeriums veröffentlicht werden und in der Regel in eine direkte Polemik mit dem Inhalt des Behördentextes treten. Es lohnt sich daher zu erkennen, in welche Art von Rhetorik das hier zum Ausdruck gebrachte Misstrauen gegenüber den Regierenden passt. In den im Kontext der Macht analysierten Texten ist die Rhetorik der Schuld, die auf der Erwartung eines bestimmten Verhaltens von einer bestimmten Person, Gruppe oder Institution beruht, eindeutig dominant. Indem sie die Regierungsseite tadeln, beziehen sich die Impfskeptiker hauptsächlich auf harte Werte, d. h. Kompetenz, Kohärenz, Konsequenz und Kontinuität des Regierungshandelns (vgl. Sztompka 2021: 14), deren Eintreten greifbare Ergebnisse bringen sollte. In Bezug auf die Kompetenz6 werden vor allem Einwände gegen das Wissen der Regierenden als mitgestaltendes Element des Zustands des Kompetent-Seins erhoben. Es gibt explizit formulierte Vorwürfe eines Mangels an Wissen oder Einwände gegen dessen Grundlage, wie z. B.: (1)
(2)
6 7 8 9
Früher wurde gesagt, 2 Dosen reichen, jetzt muss man plötzlich 3 nehmen ihr wisst gar nicht mehr, was ihr sagen oder tun sollt7 , gleich nehmen wir die 20. Dosis und das bringt sowieso einen Sch* // man sollte lieber zugeben dass das alles ein Haufen Mist ist und wir endlich wieder ein normales Leben führen / 8 Dieses euer Wissen stammt von diesen falschen, in der Diagnostik unbrauchbaren Tests?9
›Die Fähigkeit, bestimmte Dinge zu tun, basierend auf Wissen und Erfahrung‹ (WSJP). Die Hervorhebungen in den Zitaten stammen von den Autorinnen des Artikels. Die ursprüngliche Schreibweise wurde in den zitierten Beispielen beibehalten. Im Original: wy sami juz˙ nie wiecie (1) Było mówione z˙e 2 dawki wystarcza, teraz nagle trzeba przyja˛c´ 3 co mówic´ i co robic´, za chwile˛ be˛dziemy przyjmowac´ 20 dawke˛ a i tak to chu* da // lepiej sie˛ przyznac´ z˙e to wszystko to pic na wode˛ i wrócimy w kon´cu do normalnego z˙ycia/
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Ciesek-S´lizowska / Przyklenk / Sujkowska-Sobisz / Wilczek
Einwände gegen die zweite Komponente der Kompetenz, d. h. die Erfahrung, werden im Allgemeinen nicht formuliert. Die Kommentatoren scheinen zu verstehen, dass wir es im Fall der COVID-19-Pandemie mit einem beispiellosen Phänomen zu tun haben, zumindest in der Größenordnung des Lebens moderner Menschen. Die Erfahrung als Kategorie zur Beschreibung des Vorhandenseins von Macht in der pandemischen Realität wird jedoch ausgenutzt, um die Machthaber zu beschuldigen: Ihnen wird der experimentelle Charakter der ergriffenen Maßnahmen, einschließlich der Genehmigung experimenteller Gegenmaßnahmen, vorgeworfen, mit anderen Worten, dass sie auf Kosten des Lebens und der Gesundheit der Bürger laufend Erfahrungen gesammelt haben. Veranschaulicht wird diese Art der Stellungnahme durch Formulierungen wie: experimenteller Impfstoff / Spezifikum / Präparat, Versuchskaninchen, Experiment (medizinisches; an Menschen): (3)
(4)
Woher habt ihr eure Würde? Ihr schürt eine Welle der Angst und Propaganda. Bitte unterschreibt, dass das Gesundheitsministerium die Verantwortung für diese Experimente übernimmt. Wann wird das Ministerium einen Post veröffentlichen und sich damit rühmen, dass Polen als eines von vier Ländern der Welt Covid-Impfstoff-Experimente an Kindern ab dem Alter von drei Monaten durchführt?10
In Bezug auf die Kohärenz werden hingegen hauptsächlich Vorwürfe über die Inkohärenz der bereitgestellten Informationen erhoben (z. B. Ihr widersprecht euch selbst. Ihr seid nichts weiter als eine Lachnummer, niemand nimmt euer Geschreibsel ernst). Kommentatoren empfinden das von ihnen beschriebene Phänomen des selektiven Wissens als höchst beunruhigend und weisen darauf hin, dass erhebliche Wissenslücken der Regierenden andere von den Personen und Institutionen der Macht bereitgestellte Informationen in Frage stellt. Der als rhetorische Frage formulierte Verdacht: (wenn sie nicht über X Bescheid wissen) woher wissen sie über Y? deutet nicht nur auf eine Infragestellung der Kohärenz, sondern auch der Wahrhaftigkeit der für das Schicksal des Landes Verantwortlichen hin. Auf die Frage der Wahrhaftigkeit werden wir noch zurückkommen, hier seien einige Beispiele angeführt, die den Vorwurf der Inkohärenz illustrieren:
(2) Ta wasza wiedza pochodzi z tych fałszywych, nienadaja˛cych sie˛ do stosowania w diagnostyce testów? 10 Im Original: (3) Gdzie macie godnos´c´? Nakre˛cacie fale˛ strachu i propagandy. Prosze podpisywac´ ludziom z˙e odpowiedzialnos´c´ za te eksperymenty bierze na siebie ministerstwo zdrowia. (4) Kiedy Ministerstwo opublikuje post i pochwali sie˛, z˙e Polska jako jeden z czterech krajów na s´wiecie robi eksperymenty szczepionki na covid na dzieciach nawet od trzeciego miesia˛ca z˙ycia?
Eine Vertrauenskrise in den Äußerungen von Impfskeptikern
(5)
(6)
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Auf die Frage, von wem sie die Spritzen kaufen, antworten sie schriftlich, dass sie es nicht wissen, und HIER wissen sie es plötzlich mit drei Nullen hinter dem Komma((((( Mir ist in diesem ganzen Gespräch diese Passage aufgefallen. Wenn @MZ_GOV_PL die genaue Zahl der Menschen, die trotz Impfung ins Krankenhaus eingeliefert werden, nicht kennt, woher wissen sie dann, dass »die überwältigende Mehrheit ungeimpft ist«? […]11
In engem Zusammenhang mit dem Wert der Kohärenz, aber auch der Konsequenz, bleibt der wiederholbare Vorwurf der doppelten Standards. Nach Ansicht der Kommentatoren zwingen die Behörden die Öffentlichkeit, sich impfen zu lassen und sich verschiedenen strengen Auflagen zu unterwerfen, während sie selbst diese Anforderungen nicht einhalten. So ist die Rede vom gemeinen Volk – das sich an die geltenden Regeln hält (z. B. Einschränkungen, Masken, Abstand) – und von Politikern und Prominenten, die nicht vom Virus betroffen sind. Es werden Fragen über die Anzahl der Geimpften auf Seiten der Regierenden gestellt (z. B. Ihr redet allen ein, sich impfen zu lassen, aber wie viele Personen, Minister und andere von der PIS und anderen Parteien sind geimpft worden?; Und sind die vom Gesundheitsministerium geimpft? Ich bezweifle das sehr). In den Stellungnahmen der Impfskeptiker werden zudem konkrete, in den Medien berichtete Situationen angeführt, z. B.: (7)
(8)
Die Menschen die ganze Zeit mit Außerirdischen aus Märchen über ein tödliches Virus und wunderbare und sichere Impfstoffe zu erschrecken, das kauft euch kaum jemand mehr ab. Die Pseudo-Pandemie wurde vor 3 Wochen auf einer AllparteienVodka-Trinkparty mit Redakteur Mazurek von rmf beendet und ihr redet ständig dasselbe. Wie war die Geburtstagsparty beim Herrn Mazurek? Morgen ist Montag. Die Kinder gehen zur Schule. Es besteht Maskenpflicht und wir Eltern dürfen nicht in die Schulen. Paranoia12
11 Im Original: (5) Oni, na pytanie od kogo kupuja˛szpryce odpowiadaja˛na pis´mie z˙e nie wiedza˛, a TU nagle wiedza˛ z dokładnos´cia˛ trzech zer po przecinku((((( (6) Mnie w tej całej rozmowie uderzył ten fragment. Skoro @MZ_GOV_PL nie zna dokładniej liczby osób hospitalizowanych pomimo szczepienia, to ska˛d wiedza˛, iz˙ »przewaz˙aja˛ca wie˛kszos´c´ to osoby niezaszczepione«? […] 12 Im Original: (7) Czas zaczac straszyc ludzi kosmitami bajek o smiertelnym wirusie i wspanialych i bezpiecznych szczepionkach juz malo kto kupuje. Pseudopandemia zostala zakonczona 3 tyg temu na ogolnopartyjnym piciu wodki i red Mazurka z rmf a wy dalej swoje. (8) A.jak tam urodzinowa impreza u Pana Mazurka? Jutro poniedziałek. Dzieci ida do szkoły. Obowiazkowo maseczki na twarzy, a nam rodzicom nie wolno wchodzic´ do szkoł. Paranoja
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Der Vorwurf der Inkonsequenz wird auch im Zusammenhang mit der Zahl der Dosen aktualisiert, die erforderlich sind, um als vollständig geimpft zu gelten. In den Kommentaren kommt ein Gefühl der Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass weitere Impfdosen verabreicht werden müssen, und die Regierenden werden für diesen Zustand verantwortlich gemacht, indem ihnen vorgeworfen wird, dass sie ihre Versprechungen gegenüber der Öffentlichkeit nicht einhalten, die in der Beziehung zwischen den Behörden und den Bürgern konkrete Auswirkungen auf das Leben der Letzteren haben (z. B. die mit der Anzahl der Impfungen korrelierte Möglichkeit, einen Impfpass zu erhalten). Äußerungen dieser Art von Internetnutzern haben in der Regel die Form eines spöttischen, ironischen Kommentars, der besonders gerne Zahlen verwendet und mit ihnen im Zusammenhang mit der potenziellen Anzahl von Impfdosen spielt, sowie die stigmatisierte (eben wegen Inkonsequenz) Wortassoziation letzte Gerade: (9)
Oh, das ist interessant wie viele Dosen werdet ihr noch verabreichen, angeblich sollten es nur 2 sein, und es sollte eine Rückkehr zur Normalität geben, kein Homeschooling, Besuche bei Familien in Krankenhäusern. Leere Versprechungen… Macht ihr noch 500 dieser Dosen? Ihr werdet am Ende in euren Lügen ertrinken. (10) Wer ist schließlich »vollständig geimpft«? Eine Person nach zwei oder drei Dosen? Vier, fünf, oder vielleicht erst nach der zehnten? &( (11) Vor nicht allzu langer Zeit sagtet ihr, es sei die letzte Gerade. Jetzt ist es die 3. Dosis. Ihr habt die Leute zu kompletten Idioten gemacht….!13
Die Behörden werden auch für die mangelnde Kontinuität des Regierungshandelns verantwortlich gemacht, wobei hier vor allem die übermäßige Konzentration auf COVID-19 und die Einstellung anderer Aktivitäten im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung, z. B. die Behandlung anderer Arten von Krankheiten, insbesondere chronischer oder unmittelbar lebensbedrohlicher Krankheiten, oder schließlich die Vernachlässigung anderer Lebensbereiche (z. B. Bildung, Wirtschaft) angesprochen werden: (12) Es gibt keine Grippe, es gibt keine andere Krankheit, es gibt nur Sars Cov 2. Ich frage mich wann mir nach diesem Pfizer-Impfstoff etwas passieren wird. Immer mehr Ärzte sprechen darüber und ihre Meinungen sind nicht positiv. Ihr habt den Kindern geschadet, was die Erziehung angeht, und jetzt tötet ihr.
13 Im Original: (9) O to ciekawe ile jeszcze macie zamiar dawac´ tych dawek, a podobno miały byc´ tylko 2 i miał byc´ powrót do normalnos´ci, zero zdalnych, odwiedzanie rodzin w szpitalach. Obiecanki cacanki… Moz˙e jeszcze zrobicie 500 tych dawek? Utopicie sie˛ w kon´cu w tych swoich kłamstwach. (10) Kto w kon´cu jest »w pełni zaszczepiony«? Osoba po dwóch dawkach czy trzech? Czterech, pie˛ciu, a moz˙e po dziesia˛tej dopiero? &( (11) Niedawno mówilis´cie, ze to ostatnia prosta. Teraz juz˙ 3 dawka. Zrobilis´cie z ludzi za kompletnych idiotów….!
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(13) Lasst uns mit diesem Unsinn in Ruhe !! Kümmert euch um die Menschen die aufgrund des Fehlens einer normalen Behandlung an Schlaganfällen, Herzinfarkten und Krebs sterben ! Ihr habt die Öffentlichkeit eingeschüchtert und schürt diese Angst. Vielleicht ist es an der Zeit, zur Normalität zurückzukehren und das Geld, das ihr in den Abfluss werft, in das Gesundheitswesen und die Behandlung echter Krankheiten zu stecken !! Ich persönlich habe genug !!14
Zur Rhetorik der Schuld gehören auch die Aussagen, in denen sich die Impfskeptiker auf moralische Werte berufen. Sie verweisen insbesondere auf zwei Prinzipien, die von den Regierenden verletzt werden, d. h. Wahrhaftigkeit und Offenheit für den Dialog mit den Bürgern. Kommentatoren bezeichnen Personen und Institutionen der Macht explizit als Lügner und Betrüger und verwenden dabei auch die Verben: lügen, betrügen, manipulieren: (14) Ihr lügt. Seit sechs Monaten behaupten eure Experten, dass die Spritze die Übertragung nicht blockiert. Das heißt geimpfte Menschen infizieren sich und übertragen trotzdem. Ein Zirkus auf Rädern für die intellektuell Minderbemittelten. (15) Da die Machthaber zunehmend ihre Lügenpropaganda über die Zahl der Covid-19Infektionen und -Todesfälle unter Geimpften auf Plakaten und Bannern in ganz Polen verbreiten, starten wir eine umgekehrte Aktion – wir werden Euch jede Woche die WAHREN Zahlen nennen! Das Gesundheitsministerium unter Leitung von Minister Niedzielski manipuliert die Daten und erzählt den Polen, dass der Anteil der Geimpften an den Todesfällen durch Covid-19 nur 1 % beträgt. Dies ist ein falsches Narrativ. In der letzten Woche waren mehr als 31 % der Infektionen mit Covid-19 geimpfte Menschen und fast 22 % der Todesfälle waren geimpfte Menschen. So sehr führen die Regierenden die Öffentlichkeit in die Irre! Schon heute Abend werden wir Euch sehr genaue Zahlen (auf der Grundlage von Daten des Gesundheitsministeriums) zu Infektionen und Todesfällen durch Covid-19 nennen, denn diese falsche Regierungspropaganda kann nicht länger toleriert werden. Die Polen verdienen die WAHRHEIT!15 14 Im Original: (12) Nie ma grypy, nie ma z˙adnej innej horoby, jest tylko Sars Cov 2. Ciekaw jestem kiedy mi sie˛ cos´ stanie po tej szczepionce Pfizer. Coraz wie˛cej lekarzy mówi na ten temat i nie sa˛to pozytywne opinie. Skrzywdziliscie dzieci, jak chodzi o edukacje˛, a teraz zabijacie. (13) Dajcie nam juz˙ spokój z tymi głupotami !! Zajmijcie sie˛ ludz´mi którzy przez brak normalnego leczenia umieraja˛na wylewy ,zawały i raka ! Zastraszylis´cie społeczen´stwo i karmicie ten strach. Moz˙e czas wrócic´ do normalnos´ci i pienia˛dze wyrzucane w błoto przekazac´ na słuz˙be˛ zdrowia i leczenie prawdziwych chorób !! Ja mam osobis´cie dos´c´ !! 15 Im Original: (14) Kłamiecie. Przez pół roku wasi specjalis´ci twierdzili z˙e szpryca nie blokuje transmisji. Czyli osoby zaszczepione zakaz˙aja˛ sie˛ i wcia˛z˙ przenosza˛. Cyrk na kółkach dla ubogich intelektualnie. (15) Jako z˙e rza˛dza˛cy coraz mocniej rozpowszechniaja˛na plakatach i banerach w całej Polsce swoja˛ kłamliwa˛ propagande˛ o liczbie zakaz˙en´ i zgonów na Covid-19 ws´ród osób zaszczepionych, my rozpoczynamy akcje˛ odwrotna˛ – co tydzien´ be˛dziemy podawac´ Wam PRAWDZIWE dane! Ministerstwo Zdrowia na czele z ministrem Niedzielskim manipuluje danymi i wmawia Polakom, z˙e udział osób zaszczepionych w zgonach na Covid-
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Die Emotionalisierung, die in solchen Äußerungen zum Ausdruck kommt (vgl. von den oben genannten Beispielen, z. B. Ausrufesätze (So sehr führen die Regierenden die Öffentlichkeit in die Irre!), rhetorische Fragen (Wie war die Geburtstagsparty beim Herrn Mazurek?), Werturteile (leere Versprechungen, falsches Narrativ), Imperativformen (Lasst uns mit diesem Unsinn in Ruhe!)), wird auch in Kommentaren sichtbar, die der Regierung mangelnde Offenheit für den Dialog mit den Bürgern vorwerfen. Die in diesem Zusammenhang formulierten Vorwürfe beziehen sich insbesondere auf die Feststellung der Internetnutzer, dass die Regierenden diejenigen vom sozialen Dialog ausschließen, die eine andere Meinung als sie selbst haben. Es wird der Vorwurf erhoben, dass NichtImpfer angefeindet werden und dass ein solches Verhalten in der Öffentlichkeit propagiert wird. Die Impfskeptiker betonen, dass die Behörden angesichts der Krise nicht nur den aktuellen Bedürfnissen (inhaltliche Anforderungen) nicht gerecht wurden, sondern auch keine hohen ethischen Standards einhielten und ein schlechtes Beispiel für den Dialog mit Andersdenkenden gaben. Dies wird folgendermaßen bestätigt: (16) Und warum feindet das Ministerium ungeimpfte Menschen an. (17) Hate-Speech im Sinne von Niedzielski ist eine andere Auffassung von der Impfung als seine und die seiner Fraktionskollegen…. (18) Und was ist dieses Erschrecken, Lügen, dass angeblich diejenigen, die nicht an dem Experiment teilnehmen wollen, Impfgegner sind? Simons, Horbans, Niedzielskis Hate-Speech ist etwas anderes? Es ist kein Hate-Speech? Fangt bei euch selbst an und geht mit gutem Beispiel voran, denn bis jetzt macht ihr einen schlechten Job.16
Die geringe Qualität des Dialogs zwischen den Behörden und den Bürgern zeigt sich auch darin, dass die Internetnutzer den einschüchternden Charakter der Kommunikation seitens der Behörden und den Zwangscharakter der nachfolgenden, ständig wechselnden Empfehlungen wahrnehmen, z. B.: (19) Was ist das, frage ich? Ihr macht Propaganda und säet Angst!!! (20) Sogar an Allerheiligen erschreckt ihr die Leute mit dem Virus, was für ein Abgrund. 19 to tylko 1 %. To fałszywa narracja. W zeszłym tygodniu ponad 31 % zakaz˙en´ na Covid19 to osoby zaszczepione i prawie 22 % zgonów to osoby zaszczepione. Tak bardzo rza˛dza˛cy wprowadzaja˛ w bła˛d społeczen´stwo! Juz˙ dzis´ wieczorem podamy Wam bardzo dokładne liczby (w oparciu o dane z MZ) zakaz˙en´ i zgonów na Covid-19, bo tej fałszywej, rza˛dowej propagandy nie moz˙na juz˙ znies´c´. Polacy zasługuja˛ na PRAWDE˛! 16 Im Original: (16) A dlaczego ministerstwo hejtuje osoby niezaszczepione. (17) Hejt w rozumieniu Niedzielskiego to inne zdanie na temat szczypawki niz˙ jego, i jego ziomali z klubu…. (18) A czymz˙e jest straszenie, naraz˙anie, kłamanie, z˙e niby Ci, co nie chca˛ brac´ udziału w eksperymencie, sa˛ antyszczepionkowcami? Czym innym jest hejt Simona, Horbana Niedzielskiego? To nie hejt? Zaczynajcie od siebie i dajcie przykład, bo na razie Wam kiepsko wychodzi.
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(21) Noch nie in der Geschichte wurde etwas Gutes erzwungen und mit viel Geld gefördert. Man kann von Weitem ein jüdisches Geschäft schon riechen.17
Auch an die Regierenden gerichtete Äußerungen sind Teil der Rhetorik der Angst, insbesondere dort, wo zentrale und den Behörden übergeordnete Erwartungen beschworen werden, nämlich die Interessen der Bürger zu vertreten und sich am Gemeinwohl zu orientieren. Was die Vertretung der Bürgerinteressen in den analysierten Texten betrifft, so werfen die Kommentatoren den Regierenden vor allem vor, die Polen zu spalten und zu entzweien (z. B. unterschiedliche Bedingungen für Geimpfte und Ungeimpfte) und nicht gegen die Pandemie/Krankheit, sondern gegen die Bürger zu kämpfen. Diese Anschuldigungen wecken bei den Impfskeptikern besonders starke und extreme Emotionen, was sich z. B. in der Verwendung von Vokabeln ausdrückt, die sich auf den Holocaust beziehen (z. B. Faschismus, Segregation, Ausrottung, Holocaust, Völkermord, Tribunal, Nürnberg) und dazu dienen, die gezogenen Vergleiche zu überhöhen: (22) Heuchler, ihr spaltet die Nation in geimpfte Übermenschen und ungeimpfte Untermenschen – in der Vergangenheit hatten wir schon einmal mit einem solchen Segregator zu tun (23) Und Herrn Niedzielskis Segregation des Polnischen Volkes in Geimpfte und Ungeimpfte ist was, eurer Meinung nach? Sie spalten unser Volk mit voller Absicht, und das ist schlimmer als Hate-SpeechJ18
Andererseits wird die erwartete Orientierung am Gemeinwohl und nicht an verschiedenen Arten von Partikularinteressen in Bezug auf die Regierenden in den befragten Aussagen oft in Frage gestellt. Personen und Institutionen der Macht werden so gesehen, dass sie ihre eigenen (politischen, wahlpolitischen, finanziellen) Bedürfnisse über das Gemeinwohl stellen. Die verurteilende Bewertung solcher Handlungen geht mit der Ankündigung einher, die Verantwortung für ein solches Verhalten nicht nur moralisch, sondern auch strafrechtlich zu tragen:
17 Im Original: (19) Co to jest ja sie pytam? Robicie propagande˛ i siejecie strach!!! (20) Nawet w swieto zmarlych straszycie ludzi wirusem co za dno. (21) Jeszcze w historii nigdy do niczego dobrego nie przymuszano, nie zache˛cano hulajnogami pienie˛dzmi. Czuc´ z dala z˙ydowski geszeft. 18 Im Original: (22) Hipokryci, segregujecie naród na nadludzi- zaszczepionych i podludzi niezaszczepionych – mielis´my juz˙ do czynienia z jednym takim segregatorem w przeszłos´ci (23) A segregacja Narodu Polskiego P.Niedzielski na zaszczepionych i niezaszczepionych to czym jest z waszej strony? Dzielicie nasz naród z pełna˛ premedytacja˛ a to gorsze niz˙ hejtJ
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(24) Es geht auch einfacher, ohne Gesundheit und Leben zu riskieren. Vorgezogene Wahlen. Und es gibt keine Wellen. (25) Niemand in diesem Land glaubt euch seit langem, es gibt kein Virus, es geht nur ums Geld und die Erniedrigung der Nation. (26) Bitte entlasst den Gesundheitsminister und den Rest der Regierung mit Interessenkonflikten, die mit Pharmaunternehmen zusammenarbeiten. STEUERZAHLER.19
Andererseits wird die Frage der Verantwortung, die als harter Wert eingestuft werden kann, denn sie bezeichnet eine konkrete Erwartung an die Behörden20, in den Kommentaren sowohl im Zusammenhang mit der Rhetorik der Schuld als auch der Rhetorik der Angst angeführt. Grundsätzlich werden die Regierenden beschuldigt, sich für ihr eigenes Handeln nicht verantwortlich zu fühlen und diese Verantwortung sogar auf die Öffentlichkeit abzuwälzen, z. B.: (27) Die Erforschung eurer Elixiere gegen Covid ist noch nicht abgeschlossen. Ihr wisst nicht, welche negativen Nebenwirkungen sie auf lange Sicht haben werden… und ihr wollt den Menschen dieses Elixier mit Gewalt verabreichen. Ich frage euch… wer wird für all diese negativen Nebenwirkungen nach der Verabreichung dieses Elixiers blechen? Der Hersteller, die EU und die polnische Regierung haben sich vor jeglicher Verantwortung gedrückt… (28) Die Gesundheit ist das Wichtigste… Klingt gut, nur wenn es so wäre, würdet ihr uns eure Pseudo-Impfstoffe nicht aufzwingen, für die niemand die Verantwortung übernimmt 21
In den Stellungnahmen zu den Postings des Gesundheitsministeriums finden sich neben den formulierten Vorwürfen auch Aussagen – meist im Futur – in Form von Einschüchterungen oder Drohungen, z. B.:
19 Im Original: (24) Moz˙na pros´ciej, bez ryzykowania zdrowiem i z˙yciem. Wczes´niejsze wybory. I nie ma fal. (25) Nikt w tym kraju juz˙ dawno wam nie wierzy, nie ma z˙adnego wirusa, chodzi o kase˛ i upodlenie narodu. (26) Prosze˛ zwolnic´ z pracy ministra zdrowia i reszte˛ rza˛du maja˛cych konflikt interesów którzy współpracuja˛ z firmami farmaceutycznymi. PODATNIK. 20 Verantwortung wird hier in zweierlei Hinsicht verstanden: 1) ›eine Pflicht, für jemanden oder etwas zu sorgen‹; und 2) ›eine Pflicht, dafür verantwortlich zu sein, dass etwas Ungünstiges passiert ist, das nicht hätte passieren dürfen‹ (WSJP). 21 Im Original: (27) Badania waszych eliksirów na koronke˛ nie zostały zakon´czone. Nie wiecie jakie be˛da˛one miały negatywne skutku uboczne w długiej perspektywie czasu… a na siłe chcecie ten eliksir aplikowac´ ludziom. Pytam sie˛… kto beknie za te wszystkie negatywne skutki uboczne po podaniu tego eliksiru? Producent, UE, rza˛d RP wykpił sie˛ z jakiejkolwiek odpowiedzialnos´ci… (28) Zdrowie jest najwaz˙niejsze… A to dobre, gdyby tak było, to bys´cie nie wciskali nam na siłe˛ pseudoszczepionek za które nikt nie bierze odpowiedzialnos´ci
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(29) Nürnberg 2.0. Das ist etwas für euch aus dem Ministerium für Krankheit, Tod und Völkermord. (30) Die Kampfzeit hat gezeigt, dass ihr gegen Menschen kämpft, um die Pandemie zu verteidigen. Ihr werdet hängen […]22
Ein deutliches Signal der Distanz zu den Handlungen der Behörden in Zeiten der Pandemie ist die Verwendung der Vorsilbe pseudo- (z. B. Pseudo-Pandemie, Pseudo-Infizierte, pseudo-wissenschaftliche Information, Pseudo-Test, PseudoImpfstoffe), deren Vorhandensein ein Ausdruck der Leugnung der Realität der durch die Substantive/Adjektive bezeichneten Phänomene/Attribute darstellt. Die Verwendung von Begriffen mit dem Segment pseudo- in Bezug auf die Behörden (z. B. Pseudo-Ministerium, Pseudo-Minister des Todes) dient dazu, den ihnen angemessenen Status und die daraus resultierenden Eigenschaften, wie z. B. Respekt gegenüber den Regierenden, in Frage zu stellen. Gegenüber den Regierenden – die in den Äußerungen der Internetnutzer diskreditiert werden – formulieren Kommentatoren gerne Meinungen, die in die Rhetorik der Schuld oder der Angst passen. Der Argumentation halber sei angemerkt, dass die Rhetorik der Scham in dem hier vorgestellten Kontext nur sehr selten auftaucht.
3.
Mediziner, Ärzte als Subjekte des öffentlichen Vertrauens in der durch die COVID-19-Pandemie verursachten Krise
Eine weitere Gruppe, der die Impfskeptiker ihr Misstrauen entgegenbringen, bilden die Mediziner (Ärzte in Krankenhäusern und Ambulanzen, Sanitäter, seltener Krankenschwestern). Wie in dem Bericht Sceptycyzm wobec szczepien´ przeciwko COVID-19. Raport z badan´ wybranych komentarzy internetowych wraz z rekomendacjami w zakresie strategii komunikacyjnych (Skepsis gegenüber COVID-19-Impfungen. Ein Forschungsbericht über ausgewählte Online-Kommentare mit Empfehlungen im Bereich von Kommunikationsstrategien) gezeigt wird, sind sie die am zweithäufigsten genannte Gruppe (neben Regierungsvertretern), der Internetnutzer misstrauen (vgl. Ciesek-S´lizowska u. a. 2022: 25). Wie im Fall der Politiker stellen die Teilnehmer des analysierten Diskurses die Mediziner außerhalb der rhetorischen Kategorie »wir« und verweisen auf inakzeptable Verhaltensweisen und Einstellungen der Ärzte oder des Gesundheitswesens im Allgemeinen.23 22 Im Original: (29) Norymberga 2.0. To cos´ dla was z Ministerstwa Choroby, S´mierci i Ludobójstwa. (30) Czas walki pokazał, z˙e walczycie z ludz´mi w obronie pandemii. Be˛dziecie wisiec´ […] 23 Dabei geht es nicht nur um das Verhalten und die Einstellung der einzelnen Ärzte, sondern um das Funktionieren des Gesundheitswesens als System, das unter anderem auch die ver-
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Im Kontext des sozialen Vertrauens ist allein die Spaltung der Gesellschaft in antagonistische »wir–sie«-Gruppen als Ausdruck der Atrophie des moralischen Bandes zu sehen, dessen Bestandteil das Vertrauen ist, das als die Erwartung eines anständigen Verhaltens seitens der anderen uns gegenüber verstanden wird. Das moralische Band ist zerrüttet, wenn es erschüttert oder zerstört wird und wenn die beiden anderen Komponenten des moralischen Bandes verschwinden: die Loyalität, d. h. das Einhalten von eingegangenen Verpflichtungen, und die Solidarität, d. h. die Sorge um die Interessen der anderen (vgl. Sztompka 1997: 9). Ein analytischer Blick auf die Internetkommentare zum Thema Impfung zeigt, dass aus Sicht der Impfskeptiker die Beziehung zwischen Medizinern und Patienten (den Bürgern / der Gesellschaft) während der Pandemie diese zentralen Bindungen vermissen lässt, die die »Beständigkeit des sozialen Gewebes« (Sztompka 1997: 9) garantieren. Das Aufzeigen der Defizite von Tugenden zur Bildung von sozialem Vertrauen (vgl. Sztompka 2021: 13–14) erfolgt im Diskurs der Impfskeptiker in Form der Rhetorik der Scham und der Rhetorik der Schuld. Es scheint, dass die erste der genannten Ausdrucksformen des Misstrauens – die Rhetorik der Scham – am stärksten ausgeprägt ist. Wir stellen fest, dass dieses Konstrukt in zwei Formen verwendet wird. In der ersten Form wird das Zuwiderhandeln gegen allgemein anerkannte Grundsätze und Werte sowie gegen die Eigenschaften, die wir von den Angehörigen der medizinischen Berufe verlangen, lächerlich gemacht, verspottet. Internetnutzer drücken ihre negative Einstellung gegenüber Medizinern meist mit Ironie, Spott und Hohn aus. Ironisches Lachen und Spott beziehen sich auf die Kompetenzen der Ärzte und das Funktionieren des Gesundheitswesens im Allgemeinen, das negativ bewertet wird24 : (31) Meine Güte, es wird in Polen ärztlich behandelt? Echt jetzt? Hohe Standards und noch über eine Helpline ohne Abhören? ANGST Ist das möglich? Seit knapp zwei Jahren Witze weit und breit. Wenn ein Arzt etwas vorschlägt, prüft man es nicht einmal. Denn warum? (32) Die Krankenhäuser haben während der Pandemie zweifellos hohe Standards gezeigt25 schiedenen Arten von Verfahren zur Behandlung von Patienten umfasst. In diesem Beitrag werden alle diese (subjektiven wie institutionellen) Komponenten des Gesundheitswesens durch die Kategorie Mediziner repräsentiert. 24 Der Bericht Lekarze w badaniach opinii społecznej 2018, der 2018, also vor dem Ausbruch der Pandemie, erstellt wurde, bestätigt ebenfalls die negative Bewertung der Funktionsweise des Gesundheitssystems in Polen, wobei die große Mehrheit der Patienten unzufrieden und sehr unzufrieden ist (vgl. Kilijanek-Cies´lik 2018: 10). 25 Im Original: (31) kurcze, w Polsce sie˛ leczy? Na prawde˛? Wysokie standardy i jeszcze za pomoca˛ infolinii bez osłuchania? STRACH To sie˛ tak da? Od niespełna dwóch lat z˙arty na całego. Jak którys´ z lekarzy cos´ zasugeruje, to nawet tego nie sprawdzicie. Bo po co
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Das Vertrauen in die Mediziner wird auch durch die Inkohärenz zwischen einzelnen Handlungen oder Unstimmigkeiten zwischen den Handlungen der Ärzte und den kommunizierten Empfehlungen beeinträchtigt. All diese inkonsistenten und chaotischen Praktiken werden von den Internetnutzern konsequent aufgezeigt: (33) Wie behandelt ihr Delta? Auf keinerlei Weise. Jeder Arzt sagt dass es von alleine vorbeigehen muss sie verschreiben nichts. Also hört auf mit dieser Posse. Ein tödliches Virus das nicht behandelt wurde vergeht von selbst…. Hahahaha26
Impfskeptiker empören sich auch über die unehrliche Haltung der Mediziner, vor allem der Ärzte. So werden weiche Tugenden wie Wahrhaftigkeit in Frage gestellt, aber gleichzeitig auch die Tugenden, die wir von Ärzten erwarten, nämlich Fürsorglichkeit gegenüber den Patienten und das Sorgen für ihr Wohl, statt des eigenen Interesses. Auch der Missbrauch solcher Werte wird ins Lächerliche gezogen: (34) Es sind die Politiker und Mediziner, die die Pandemie am Laufen halten ⛔⛔⛔, weil sie ein GESCHÄFT damit haben. Pandemie für etwas anderes als Grippe und Erkältung +nnn (35) Ich glaube an das allmächtige Virus, den Schöpfer von Panik und Masken, und an Simon, den Experten, den Einzigen, unseren Guru, der aus dem Wunsch nach großem Profit gezeugt wurde, geboren für Pfizer, gequält an dem leeren Nationalkrankenhaus. Er stieg in die Regierung hinab und wurde am dritten Tag reich, trat in die Covid-Reihen ein, sitzt zur Rechten von Morawiecki, von dort wird er kommen, um die Lebenden zu impfen und die nach der Impfung Verstorbenen. Ich glaube an das heilige Virus, die heilige WHO, die Gemeinschaft mit dem Abstand, das Haus-nicht-Verlassen, die Wiedergeburt des Körpers (nach der Impfung), ein kurzes Dasein. Amen.27
Bestechlichkeit und Unehrlichkeit gegenüber Patienten, Ausrichtung auf Eigennutz (z. B. Tests lügen, Covid wird gegen Geld eingetragen) werden scharf (32) Szpitale na pewno pokazały wysokie standardy podczas pandemii 26 Im Original: (33) Jak leczycie delte˛ ? Nijak. Kaz˙dy lekarz mówi z˙e ma przejs´c´ samo nic nie przepisuja˛. Wie˛c skon´czcie ta błazenade˛. S´miercionos´ny wirus którego sie˛ nie leczyła przejs´c´ sam…. Hahahaha 27 Im Original: (34) To politycy i medycy utrzymuja˛pandemie˛ ⛔⛔⛔ Bo maja˛z tego BIZNES. Pandemie˛ na cos´ co jest zamiast grypy i przezie˛bienia +nn (35) Wierze˛ w wirusa wszechmoga˛cego, stworzyciela paniki i maseczek i w Simona experta jedynego, guru naszego, który sie˛ pocza˛ł z che˛ci zysku wielkiego, narodził sie˛ dla Pfizera, ume˛czon pod pustym szpitalem Narodowym. Zsta˛pił do rza˛du i trzeciego dnia sie˛ wzbogacił, wsta˛pił do grona covidowego, siedzi po prawicy Morawieckiego, stamta˛d przyjdzie szczepic´ z˙ywych a po szczepieniu umarłych. Wierze w wirusa s´wie˛tego, s´wie˛te WHO, obcowanie z dystansem, domu nie opuszczenie, ciała odrodzenie (po szczepionce), z˙ywot krótki. Amen.
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stigmatisiert. In diesem Fall haben wir es mit einer zweiten Variante der Rhetorik der Scham zu tun, die mit immer heftigeren Emotionen operiert – nicht mehr mit Lachen (ironisch, spöttisch), sondern mit Irritation, Empörung, Ärger oder sogar Wut. In dieser Gruppe von Äußerungen finden sich direkte Anschuldigungen der Lüge und der Bestechlichkeit sowie die starke Emotionen ausdrückenden Vulgarismen, Invektiven (z. B. Heuchler), Ausrufe oder Aufschreie (am häufigsten – Skandal): (36) Nur Geimpfte auf den Stationen ein Bekannter ist Chefarzt ich halte mehr den Druck der Dummies und den Stress der Lüge über das Krankheitswesen für Geld nicht mehr aus. (37) Und was passiert, wenn ein Krankenhaus die Inzidenz von Covid erhöht, nur um die Statistik zu verbessern? Wer kontrolliert das? Oder hat dieses Krankenhaus einen Vorteil, irgendwelche Nebenprofite? (38) Sehr lustig. In Griechenland gab es während der gesamten Ferienzeit jeden Tag 4000–5000 Fälle in einer 12 Millionen !!!! Gesellschaft, uns gibt es dreimal so viele. Der Tourismus boomte, Restaurants und Geschäfte waren voll. Und hier nur 1000 und die Panikmache des Ministers der Sieben Schmerzen und des bereits bankrotten Gesundheitsdienstes, wie man an den Krankenhäusern und der Demoralisierung einiger Ärzte und Krankenschwestern sehen kann. Es ist schade wegen DSGVO, denn die Namen drängen sich schon auf eine Seite mit der Rothaarigen in der Hauptrolle.28
Impfskeptiker beschämen Mediziner, indem sie auch ihre Kompetenz und ihr Wissen in Frage stellen, aber der Hauptvorwurf, der Distanz und Misstrauen aufbaut, ist die undurchsichtige Behandlung von geimpften und ungeimpften Patienten (dazu gehören die Art und Weise, wie Statistiken geführt werden, die von Impfskeptikern angezweifelt und als unklar und unzuverlässig angesehen wird, sowie Patiententestverfahren, die geimpfte und ungeimpfte Menschen ungleich behandeln). Diese Praktiken, die nach Ansicht von Kommentatoren zur Segregation von Polen führen, rufen größte Empörung und Misstrauen hervor:
28 Im Original: (36) Sami zaszczepieni na oddziałach kolega ordynator juz˙ nie wytrzymuje˛ cis´nienia manekinów i stresu zwia˛zanego z kłamstwami z˙e słuz˙ba˛ chorób za pienia˛dze. (37) A co sie˛ dzieje, gdy szpital podnosi poziom zachorowania na Covid, tylko po to, aby podnies´c´ statystyki? Kto to kontroluje? A moz˙e ten szpital ma korzys´ci, jakies´ profity dodatkowe? (38) Bardzo zabawne. W Grecji przez cały okres wakacji kaz˙dego dnia było 4000–5000 przypadków w 12 mln !!!! społeczen´stwie, nas jest 3 razy tyle. Turystyka kwitła , restauracje i sklepy pełne. A tu raptem 1000 i straszenie pancia ministra od 7 boles´ci i juz˙ upadłej słuz˙by zdrowia, co widac´ po szpitalach i demoralizacji niektórych lekarzy i piele˛gniarek. Szkoda, z˙e RODO, bo nazwiska i nazwy cisna˛ sie˛ na stronke˛ z ruda˛ w roli głównej.
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(39) Man will sich impfen lassen, geht in das Nationalstadion, und dort liegen die Spritzen mit bereits gefüllter Flüssigkeit (du weißt nicht, was drin ist) in einem schmutzigen Korb herum, man weiß nicht wie lange schon. Ich weiß nicht wie die Leute solche Impfungen akzeptieren können. Die Nadel ist auch nicht steril, weil sie vor dir keine neue aufmachen. Mit einem Wort: ein Massaker. Und da wundern sie sich, dass die Leute sich nicht impfen lassen wollen. (40) Warum werden in Krankenhäusern für Infektionskrankheiten nur ungeimpfte Personen ausgewiesen ? Der Grund ist, dass eine geimpfte Person, die in ein Krankenhaus für Infektionskrankheiten eingeliefert wird, nicht getestet wird, so dass niemand weiß, ob sie Covid hat. So funktioniert das Superpräparat. (41) Warum bekommen nur ungeimpfte Personen eine Überweisung zum Abstrich?! Habt ihr Angst, dass Menschen die Wahrheit erkennen, wenn ihr die Geimpften auflistet? ♀29
Die Rhetorik der Scham in den oben genannten Äußerungen steht für eine Kultur des Zynismus, die das entgegengesetzte Extrem zum Vertrauen darstellt, weil sie ein Zeichen für die Atrophie moralischer Bindungen ist. Sie ist gekennzeichnet durch den im Diskurs der Impfskeptiker zu beobachtenden Argwohn und das Misstrauen, die Zuschreibung niedrigster Beweggründe an andere, die Suche nach allgegenwärtigen Verschwörungen30 (vgl. Sztompka 1997: 10). Dies wird durch die nachfolgenden Aussagen bestätigt, die zwischen Spott, Hohn und wütender Empörung angesiedelt sind. Sie sind geprägt von Geringschätzung und Verachtung sowie drücken die Überlegenheit des Sprechenden gegenüber dem Adressaten oder zumindest eine kühle Distanz aus: (42) ÄRZTE SIND zum größten Teil HÄNDLER, wie geht es euch Verräter, fließt gutes Geld auf das Konto? (43) Hört auf, diese falschen Tests zu machen. Das Virus wird verschwinden.31
29 Im Original: (39) Człowiek chce sie˛ zaszczepic´, idzie na taki stadion narodowy, a tam strzykawki z juz˙ napełnionym płynem, (nie wiesz co jest w s´rodku) w brudnym koszyczku, lez˙a˛ sobie nie wiadomo ile czasu. Nie wiem jak ludzie moga˛ sie˛ godzic´ na takie szczepienia. Igła tez˙ nie jest sterylna, bo nie otwieraja˛ nowej przy Tobie. Jednym słowem masakra. I sie˛ dziwia˛ czego ludzie nie chca˛ sie˛ szczepic´. (40) Dlaczego w szpitalach zakaz´nych sa˛ wykazywanie tylko osoby niezaszczepione ? A no dlatego bo jes´li osoba zaszczepiona trafi do szpitala zakaz´nego to nie robia˛ jej testu wie˛c nikt nie wie czy ma covida. Tak włas´nie działa super preparat (41) Czemu tylko osoby niezaszczepione dostaja˛ skierowanie na wymaz?! Obawa z˙e jak wpiszecie szczepionych to ludzie zobacza˛ prawde˛ ? ♀ 30 Zur Kategorie der Verschwörung im Diskurs der Impfskeptiker siehe Ciesek-S´lizowska/ Wilczek (2023). 31 Im Original: (42) LEKARZE TO HANDLARZE w wie˛kszos´ci , jak tam sprzedawczyki , dobra kasa płynie na konto? (43) Skon´czyc´ robic´ te fałszywe testy. Wirus sie˛ skon´czy.
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Ciesek-S´lizowska / Przyklenk / Sujkowska-Sobisz / Wilczek
Die Rhetorik der Schuld ist im untersuchten Diskurs weniger stark vertreten. Ihre Aktualisierungen sind in der Tat nicht so differenziert wie die Rhetorik der Scham – sie beinhalten nur einen Vorwurf. Nach Ansicht der Impfskeptiker konzentrieren sich die Ärzte (zu Unrecht) zu sehr auf eine Krankheit – COVID-19 – und vernachlässigen dabei andere, ebenso schwerwiegende oder noch schwerwiegendere Erkrankungen. Die Ausgrenzung von Patienten mit anderen Krankheiten führt zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustands oder direkt zum Tod: (44) Lügner, Leute, die zum Arzt gehen, werden zwangsweise zu Tests überwiesen und sie bekommen standardmäßig Covid und die Geimpften Grippe eingetragen …. Reißt euch zusammen, wenn ihr eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung braucht, wählt dann Rücken, Knie usw. und bleibt zu Hause, denn sie werden euch sowieso nicht helfen, sie behandeln schließlich nicht, füllt ihren Covi-Meter nicht!! (45) Ferndiagnosen, geschlossene Krankenhäuser, Ambulanzen, Besuchsverbote in den Krankenhäusern wegen der Seuche, übergeschnappte Pis-Gesundheitsexperten, kranke Beschränkungen für Geld ihr lügt die Polen an, ihr überredet sie sich gegen die Seuche impfen zu lassen, das Gesundheitsministerium ist der Abgrund und der Seetang und es ist am besten euch zu meiden denn ihr seid eine Plage die uns nach dem Leben trachtet32
Impfskeptiker verweisen auf die Verantwortungslosigkeit der Ärzte, die sich in der Vernachlässigung der Gesundheit und des Lebens der Patienten äußert. Misstrauen wird auch durch das Fehlen weicher Tugenden geweckt, die von Ärzten erwartet werden, wie z. B. Mitgefühl, Zuverlässigkeit und die Tatsache, dass sie die Interessen der Patienten vor ihren eigenen Nutzen stellen. Auf der Textebene wird das Schlüsselwort – Ferndiagnose – zum Symbol für diese Haltung. Betrachtet man die Äußerungen von Impfskeptikern, so stellt man fest, dass sich in vielen von ihnen die Rhetorik der Scham und der Schuld vermischt: Die Konsequenz der stigmatisierten Verhaltensweisen – erinnern wir an einige davon, z. B. die ungleiche Behandlung von geimpften und ungeimpften Patienten, das Nicht-Beachten anderer gefährlicher Gesundheitsbeschwerden, das Streben nach eigenem finanziellen Gewinn – ist die Gefährdung der Gesundheit und des Lebens der Patienten: 32 Im Original: (44) Kłamcy ludzie zgłaszaja˛cy sie˛ do lekarza sa˛obowia˛zkowo kierowani na testy i wpisuje im sie˛ w standarcie kowid a zaszczepionym grype˛ … Ogarnijcie sie˛ jak potrzebujecie L4 idz´cie na kre˛gosłup, kolana itp i zostan´cie w domu bo oni i tak wam w niczym nie pomoga˛, przeciez˙ nie lecza˛, nie nabijajcie im kowi licznika!! (45) Teleporady, pozamykane szpitale ,przychodnie, zakaz odwiedzin w szpitalach bo srovid pora˛bani eksperci pisiorów od zdrowia, chore obostrzenia za kase˛ okłamujecie Polaków namawiacie do szczepien´ na srovid ministerstwo zdrowia to dno i wodorosty was najlepiej unikac´ bo jestes´cie szkodnikami czychaja˛cymi na nasze z˙ycie
Eine Vertrauenskrise in den Äußerungen von Impfskeptikern
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(46) Und ich möchte wissen, wie viele Grippetests durchgeführt wurden und wie viele Herz-Kreislauf-Erkrankungen, onkologische Erkrankungen, Diabetes usw. diagnostiziert wurden. wie viele Menschen mit den oben genannten Krankheiten auf der »Intensivstation« liegen, wie viele Stationen und welche davon in »Covid«-Abteilungen umgewandelt wurden, welchen Betrag das Krankenhaus für einen CovidPatienten und welchen für einen Kardiologie-Patienten erhält, welchen Lohn das medizinische Personal auf den oben genannten Abteilungen bekommt!?!?!?!?33
Die Erosion des sozialen Vertrauens und damit die Lockerung oder Zerrüttung des moralischen Bandes wird auch dann gefördert, wenn die Ungewissheit des Schicksals nicht das Kollektiv, sondern einzelne Individuen betrifft und die Bedrohung als individuell und nicht kollektiv wahrgenommen wird. Dann kämpft das Individuum, bedroht und unsicher über seine Zukunft, wie es ihm scheint, für sein eigenes Interesse gegen abstrakte Andere (vgl. Sztompka 1997: 10). Diese Wahrnehmung ihrer Situation in der Welt wird von den Subjekten des untersuchten Diskurses zum Ausdruck gebracht: (47) Wie sie uns belügen, dass es keinen Impfzwang gibt, vor einer Woche wurde eine Freundin mit akuter Gallenblasenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert, und die erste Frage, die ihr in der Notaufnahme eines Krankenhauses in Kielce gestellt wurde, lautete, ob sie geimpft sei oder nicht, sie müsse den Impfstoff nehmen. Was schließen wir daraus? Wenn wir uns nicht impfen lassen, haben wir in den Krankenhäusern nichts zu suchen, uns wird nicht geholfen, mit anderen Worten, die Regierung hat die Rassentrennung in ihrer besten Form umgesetzt. Die Regierung und die Ärzte interessieren sich nicht für unsere Gesundheit und die Gesundheit unserer Kinder, sie wollen nur ihre Taschen füllen und so viele Impfstoffe wie möglich loswerden. (48) Gesundheitsministerium: Wie ist das mit den Hausarztterminen? Ich bin krank mit Halsschmerzen und einem allgemeinen Zusammenbruch, ich rufe den Arzt an und was höre ich? Wenn Sie krank sind, dann nur Ferndiagnose, denn in die Ambulanz darf man nicht J. Warum soll man sonst in die Ambulanz?34 33 Im Original: (46) A ja chciałbym wiedziec´ ile wykonano testów na grype˛, i ile zdiagnozowano zachorowan´ na choroby układu kra˛z˙enia, na choroby onkologiczne, cukrzyce˛ itp. ile osób z w/w chorobami lez˙y na ,,intensywnej terapii,,, ile oddziałów i jakich zamieniono na działy ,,covid,, jaka˛ kwote˛ otrzymuje szpital za pacjenta covidowego a jaka˛ za pacjenta kardiologii, jakie wynagrodzenie otrzymuje personel medyczny na w/w oddziałach!?!?!?!? 34 Im Original: (47) Jak nas okłamuja˛, z˙e szczepionki sa˛ nie przymusowe, tydzien´ temu kolez˙anka trafiła do szpitala z ostrym zapaleniem woreczka z˙ółciowego i co pierwsze padło do niej pytanie na SORze w Kieleckim szpitalu zamiast udzielic´ jej pomocy czy jest zaszczepiona jak nie to musi przyja˛c´ szczepionke˛ czyli jaki mamy wniosek , z˙e jak sie˛ nie zaszczepimy to nie mamy czego szukac´ w szpitalach nie zostanie nam udzielona pomoc , czyli rza˛d w najlepsze wdroz˙ył segregacje˛ rasowa˛. Rza˛dza˛cych oraz lekarzy nasze zdrowie oraz zdrowia naszych dzieci nie obchodzi byle by napchac´ swoje kieszenie i pozbyc´ sie˛ jak najwie˛ks zej liczby szczepionki
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Ciesek-S´lizowska / Przyklenk / Sujkowska-Sobisz / Wilczek
Das Verständnis der Bedrohung, die von einer Pandemie ausgeht, auf individueller, persönlicher Ebene wird durch zahlreiche Narrative belegt, die das Beispielargument enthalten. Ihr Protagonist ist in der Regel der Textproduzent selbst oder ihm nahestehende / bekannte Personen, die Opfer der verwerflichen Arbeitsweise von Gesundheitsdiensten und Ärzten während der Pandemie wurden. Die sich häufenden Beweise machen deutlich, dass das Risiko des Verlusts von Gesundheit und Leben absolut real ist und jeden treffen kann, und dass diejenigen dazu beitragen, die sich um die Gesundheit der Bevölkerung kümmern sollen. Das Misstrauen gegenüber den Medizinern ist also darauf zurückzuführen, dass sie nach Ansicht der Impfskeptiker sowohl harte Tugenden wie Kompetenz, Kohärenz und Verantwortung verletzen als auch weiche Tugenden wie Wahrhaftigkeit, Mitgefühl und Sorge um das Wohlergehen der anderen. Die Subjekte des analysierten Diskurses nehmen im Verhalten und in den Einstellungen der Mediziner keinen würdevollen Umgang mit den Patienten, keine Loyalität und Solidarität wahr.
4.
Mitbürger als Subjekte des öffentlichen Vertrauens in der COVID-19-Pandemiekrise
Ein drittes Subjekt des öffentlichen Vertrauens, dessen Rolle im Zusammenhang mit dem Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen auch in verschiedenen Krisensituationen angesprochen wird, ist das »andere Wir«, d. h. die Mitbürger. Soziologen zufolge sind die Beziehungen zwischen diesen sozialen Akteuren horizontal angelegt, und zweifellos wird in einer solchen Perspektive der Mangel an Vertrauen erstens anders und zweitens weniger häufig betont als in Bezug auf die zuvor genannten Subjekte des öffentlichen Vertrauens, deren Beziehungen als vertikal (in einem klaren Machtverhältnis stehend) beschrieben werden. Die rhetorischen Mechanismen, die in den Äußerungen der Impfskeptiker gegenüber den Mitbürgern auftauchen, sind in erster Linie in die Rhetorik der Scham eingeschrieben, obwohl auch die Rhetorik der Schuld zu beobachten ist, und gelegentlich finden sich auch Aussagen, die im Sinne der Rhetorik der Angst interpretiert werden. Hinzu kommt, dass die an die Mitbürger gerichteten Äußerungen in dem analysierten Material bei weitem am wenigsten vorkommen. Offensichtlich erwarten die Absender von Kommentaren keine harten Tugenden (Kompetenz, Kohärenz, Konsequenz oder Kontinuität des Handelns) von ihren (48) Ministerstwo Zdrowia jak to jest z tymi wizytami u lekarza rodzinnego? Jestem chora boli mnie gardło i ogólne rozbicie, dzwonie do lekarza i co slysze? Jak jest Pani chora to tylko teleporada bo do przychodni chorym to nie J. To w jakim celu idzie sie do przychodni?
Eine Vertrauenskrise in den Äußerungen von Impfskeptikern
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Mitbürgern, sondern, wie Sztompka (2021: 13–14) schreibt, Solidarität und Verantwortung. Die grundlegende Basis für das Vertrauen bzw. den Mangel an Vertrauen gegenüber den Mitbürgern wird zur dichotomen Kategorie »wir« – »andere« (»Eigene« – »Fremde«), bei der es um die Schaffung eines COVID-19-Kollektivs von Impfgegnern und den Ausschluss von Impfbefürwortern geht, deren Haltung eindeutig negativ bewertet wird: (49) Ich verfolge diesen Zirkus nun schon seit zwei Jahren und sehe hier das MilgramExperiment im Weltmaßstab, bei dem der Gehorsam gegenüber Autoritäten untersucht wurde. Und in der Tat sind die Covidianer für diesen ganzen Zirkus und die Impfung, trotz der Tatsache, dass der Impfstoff Schund und die Epidemie ein einziges Chaos mit einem Ferienaussschalter und einem Herbsteinschalter ist, weil die Autoritäten das sagen, und da die Autoritäten das sagen, haben sie recht (50) Diese Epidemie hat auch ihre positiven Seiten. Wer hätte gedacht, dass wir 20 Millionen Polen haben, die sich alles spritzen lassen, was ihnen der Herr aus dem Fernseher sagt, und selbst wenn sie es unter Druck tun, werden sie höflich unterschreiben, dass sie sich »freiwillig« impfen lassen. 35
Die Gemeinschaft der Impfskeptiker beruht auf der Opposition zu denjenigen, die sich für den Impfstoff entscheiden, und nicht auf der Äußerung von Ansichten oder Haltungen, die die Gruppe teilt. Den Mitbürgern, die sich impfen lassen, wird von den Skeptikern vorgeworfen, unreflektiert, unkritisch, unwissend und letztlich versklavt zu sein, während der Gemeinschaft der Impfverweigerer stattdessen Kritikfähigkeit, Weisheit und freies Denken zugeschrieben wird: (51) Zum Glück können die Menschen in diesem Land denken und lassen sich nicht mehr verarschen (52) Bei Uns gibt es keine Erkrankungen, weil die Hälfte aller Polen (weise, freie Menschen) sich nicht von eurer Propaganda hat manipulieren lassen.36
35 Im Original: (49) Tak s´ledze˛ od dwóch lat ten cyrk i widze˛ tu eksperyment Milgrama na s´wiatowa skale. Eksperyment badał posłuszen´stwo wobec autorytetów. I rzeczywis´cie Covidianie sa˛ za tym całym cyrkiem i szczepieniami, mimo tego ze szczepionka to bubel, a epidemia to burdel na kółkach z wyła˛cznikiem wakacyjnym i wła˛cznikiem jesiennym, bo autorytety tak mówia˛, a skoro autorytety tak mówia˛ to maja˛ racje (50) Ta epidemia ma tez˙ swoje pozytywne strony. Kto by przypuszczał, z˙e mamy az˙ 20 milionów Polaków, którzy pozwola˛ sobie wstrzykna˛c´ wszystko, co im kaz˙e pan z telewizora i w dodatku nawet gdy robia˛ to pod presja˛, to i tak grzecznie podpisza˛, z˙e szczepia˛ sie˛ »dobrowolnie«. 36 Im Original: (51) Na całe szcze˛´scie ludzie w tym kraju potrafia˛ mys´lec´ i nie dadza˛ sie˛ juz˙ wkre˛cac´ (52) U Nas zachorowan´ nie ma bo połowa Polaków (ma˛drych, wolnych ludzi) nie dała sie˛ tej waszej propagandzie zmanipulowac´.
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Solche Mechanismen sind durch die Verwendung eindeutig kontrastierender Oppositionen »weise – dumm«, »frei – versklavt« Teil der Rhetorik der Scham, die in der Beziehung zwischen Mitbürgern als Subjekten des öffentlichen Vertrauens vorherrscht. Es ist auch klar, dass die von den Mitbürgern erwartete Verantwortung in solchen Kontexten untergraben wird. Ein weiteres Beispiel für sprachliche Verfahren, die Teil der Rhetorik der Scham sind, stellen alle Arten von Appellen oder Quasi-Bitten dar, welche von Impfskeptikern formuliert werden und sich an »die anderen Uns« richten, die die Geimpften aus ihrem – nach Ansicht der Impfskeptiker – unreflektierten Glauben an das in der dominanten Botschaft dargestellte Weltbild herausreißen sollen, wie die folgenden Beispiele belegen: (53) Menschen wacht auf, weil sie mit uns machen, was sie wollen. Es wird eine 10., 11. und 50. Welle geben, und ihr werdet wie Marionetten auf ihren Unsinn hören und ihre Agenda ausführen. Das einzige normale Land ist Dänemark, das sich von diesem Theater und Zirkus völlig distanziert hat. Die rechnen mit der Meinung der Gesellschaft. Bei uns geht der Zirkus weiter. (54) An alle verdummten, manipulierten und nicht selbstständig denkenden Menschen: Wenn es nicht den Widerstand bewusster Menschen gäbe, würdet ihr euch heute wahrscheinlich gegenseitig mit den Hintern berühren, anstatt euch mit Ellbogen und Füßen zu begrüßen n+ (55) Versteht eine Sache! Dies ist eine gewöhnliche Krankheit, die für 99,4 % der Menschen nicht gefährlich ist! Seht, wohin das führt! Diese ganze Epidemie wird enden wenn wir alle genug sagen! Wir sind in der Mehrheit !!!37
Neben dem Aufbau einer Opposition, die die Mitbürger polarisiert, gibt es aber auch jene Stimmen, die de facto revolutionär anmuten und dazu aufrufen, dass sich beide Gruppen gegen einen anderen Feind verbünden, denn die eigentliche Bedrohung ist nicht COVID, dessen Existenz von den Impfskeptikern oft geleugnet wird, sondern zum Beispiel die Inflation: (56) ⛔⛔⛔⛔ INFLATION BEHANDELT ALLE GLEICH!!! Aufwachen und Ordnung muss her!!! Solange noch Geld im Portemonnaie etwas bedeutet ⛔⛔⛔⛔
37 Im Original: (53) Ludzie obudz´cie sie˛, bo robia˛z Nami co chca˛. Be˛dzie 10,11 i 50 fala a Wy jak marionetki be˛dziecie słuchac´ tych bzdur i wykonywac´ ich plan działania .Jedynym normalnym pan´stwem jest Dania odcie˛ła sie˛ totalnie od tego teatru i cyrku .Licza˛ sie˛ z˙e zdaniem społeczen´stwa .U nas cyrk dalej trwa. (54) Do wszystkich oglupionych, zmanipulowanych i nie mys´la˛cych ludzi samodzielnie, gdyby nie opór s´wiadomych osób dzis´ zamiast witac´ sie˛ łokciami i stopami pewnie stykali bys´cie sie˛ pos´ladkami n+ (55) Zrozumcie jedno! To jest zwyczajna choroba nie groz´na dla 99,4 % ludzi! Zobaczcie do czego to zmierza! Cała ta epidemia skon´czy sie˛ wtedy gdy wszyscy powiemy dosyc´! Jest nas wie˛cej !!!
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egal ob geimpft oder nicht! Wir müssen uns zusammentun und die Bande verjagen!!! Sie lenken mit der Pandemie von der Krise ab, die sie verursacht haben.38
Wie Krzysztof Nowakowski (2008: 214) feststellt: »Die Tatsache, dass man gemeinsame Ansichten und Überzeugungen teilt, aus denen sich Vertrauen ableitet, ist ein grundlegender Bestandteil des Sozialkapitals und ein wichtiger wirtschaftlicher Wert«. Aus dieser Sicht ist es von grundlegender Bedeutung, an eine gemeinsame Denkweise zu glauben und in Opposition zu den Entscheidungen der Regierenden und der Bürger zu bleiben, die diese Verordnungen umsetzen. Folglich tauchen in der Argumentation, die darauf abzielt, die Menschen davon zu überzeugen, gemeinsam zu denken und eine Meinungsgemeinschaft zu schaffen, Elemente auf, die in die Rhetorik der Schuld eingeschrieben sind, welche die Grundlagen der sozialen Solidarität als entscheidendes Bindemittel der uns interessierenden vertikalen Beziehung des öffentlichen Vertrauens untergräbt. Sie realisiert sich in den folgenden mentalen Konstrukten, die auf der Textebene unterschiedlich aktualisiert werden: Wenn wir nicht gemeinsam etwas tun, so postulieren die Impfskeptiker, werden wir (alle, Geimpfte und Ungeimpfte gleichermaßen) für weitere Todesfälle oder die Zerstörung der Wirtschaft verantwortlich sein, z. B. (57) Versteht eine Sache! Dies ist eine gewöhnliche Krankheit, die für 99,4 % der Menschen nicht gefährlich ist! Seht, wohin das führt! Diese ganze Epidemie wird enden wenn wir alle genug sagen! Wir sind in der Mehrheit !!!
Ein zentrales Ergebnis der Analysen von Kommentaren der Impfskeptiker, in denen ihre Mitbürger zu Adressaten ihrer Aussagen werden, ist, dass diejenigen, die sich vor den im dominanten Diskurs propagierten möglichen Folgen einer Ansteckung mit COVID-19 schützen wollen, als Komplizen der Regierungsvertreter gesehen werden. Der soziale Widerstand der impfkritischen Gruppe wird zur Grundlage für ihre Assimilierung, obwohl die Frage des Vertrauens zwischen ihren Mitgliedern in den Kommentaren der Internetnutzer keine nennenswerte Rolle spielt.
38 Im Original: (56) ⛔⛔⛔⛔ INFLACJA WSZYSTKICH TRAKTUJE RÓWNO!! Obudz´cie sie˛ i trzeba wyjs´c´ zrobic´ porza˛dek!! Póki jeszcze pienia˛dze w portfelu cos´ znacza˛ ⛔⛔⛔⛔ nie waz˙ne czy szczepiony czy nie! Trzeba sie˛ zjednoczyc´ i pogoniła bande˛!!! Odwracaja˛ uwage˛ pandemia˛ od kryzysu, który wywołali.
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5.
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Zusammenfassung
Die Erosion des Vertrauens begleitet jede Krise, jede Veränderung mehr oder weniger stark. Misstrauenshaltungen kommen umso leichter in einer Gesellschaft zum Ausdruck, deren Vergangenheit voller schwieriger Grenzerfahrungen war, wie Krieg, Sklaverei, Teilungen, während in anderen Ländern zu dieser Zeit die Grundlagen moderner Gesellschaften gelegt wurden. Die Gründe für die geringe soziale (staatsbürgerliche) Aktivität der Polen und – daraus folgend – das hohe Maß an Misstrauen gegenüber anderen (vgl. Setkowicz 2017: 343) – sind in der nicht einfachen Vergangenheit zu suchen. Angesichts solcher Beobachtungen ist es nicht verwunderlich, dass die durch die Pandemie ausgelöste globale gesundheitliche, aber auch wirtschaftliche und politische Krise zugleich zu einer sozialen Krise geworden ist, die sich unter anderem in zerrütteten oder beschädigten sozialen Bindungen und dem Verlust des Vertrauens in Eliten, aber auch in Mitbürgerinnen und Mitbürger äußert. Das von uns untersuchte Fragment der sozialen (Kommunikations-)Realität während der Krise hat gezeigt, wie leicht eine Kultur des Vertrauens durch eine Kultur des Misstrauens oder sogar eine Kultur des Zynismus ersetzt wurde, was zur Verbreitung von feindseligen Stereotypen, Gerüchten und Aberglauben in den zwischenmenschlichen Beziehungen und in den Beziehungen zu externen Gruppen führte (vgl. Sztompka 2007: 400). Die Verletzung des Sozialkapitals, das Vertrauen darstellt, manifestiert sich unter anderem durch die Verwendung der Rhetorik der Schuld, Scham und Angst in der sozialen Kommunikation. Die Dominanz eines bestimmten Stils hängt von den Subjekten ab, gegenüber denen eine Distanz ausgedrückt wird. So sind vertikale Beziehungen, d. h. Beziehungen zu den Behörden oder zum Gesundheitssystem (Ärzte) von der Rhetorik der Schuld in Bezug auf harte Werte wie Kompetenz, Kohärenz, Kontinuität oder Verantwortung durchdrungen, aber Misstrauen ist auch eine Folge der Zersetzung weicher Tugenden wie Wahrhaftigkeit und rührt im Falle von Ärzten auch von mangelndem Mitgefühl, der Sorge um das Wohlergehen anderer (hier verstanden als Leben und Gesundheit von Patienten) her. Starke negative Emotionen, die auf die Schwäche der moralischen Bindungen hinweisen, werden gegenüber Behörden mit der Rhetorik der Angst und gegenüber Ärzten mit der Rhetorik der Scham ausgedrückt. In der horizontalen Perspektive, d. h. gegenüber den Mitbürgern, wird Misstrauen viel seltener geäußert. Hier wird die Grundlage des Misstrauens in einem Mangel an Verantwortung und Solidarität gesehen. Die Unterminierung dieser Tugenden erfolgt im untersuchten Diskurs vor allem in Form der Rhetorik der Scham, konkretisiert in den Oppositionen »weise – dumm«, »frei – versklavt«.
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Izabela Kujawa (Uniwersytet Gdan´ski, Gdan´sk)
Politische Wahlreden im Zeichen der Corona-Pandemie. Analyse der rechtspopulistischen Topoi
Abstract Political Election Speeches in the Context of the Corona Pandemic. Analysis of RightWing Populist Topoi Populism assumes promoting political ideas consistent with expectations of majority of the public in order to achieve their support, influence them, or to gain power. As the parliament election results show, the number of right-winged parties including right-wing populists in Europe has been rising recently. The common constituent in their narration of the world is the language which is strictly connected with promoting a specific system of values. The article is devoted to political communication in the context of the corona pandemic. The aim of this article is research of models of argumentation used in political (election) speeches of right-wing populist politicians in Poland. The following analysis focuses on concrete argumentation patterns (topoi) that appear in the political election speeches and structure the speeches. The analysis is also devoted to the linguistic realizations of the topoi. Keywords: political argumentation, political election speeches, right-wing topoi Schlüsselwörter: politisches Argumentieren, politische Kommunikation, rechtspopulistische Topoi
1.
Einleitung
Die Corona-Pandemie hat im Jahre 2020 angefangen. Erste einzelne Erkrankungsfälle von COVID-19 traten in Europa Ende Januar 2020 auf. Im Februar 2020 wurde der erste Todesfall in Europa bekanntgegeben.1 Zum Zeitpunkt des Verfassens des vorliegenden Beitrags (Januar 2023) wird die Pandemie immer noch nicht als beendet betrachtet, obwohl die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Europa inzwischen rückläufig ist und viele von den bisherigen CoronaMaßnahmen aufgehoben wurden. Die Pandemielage hat sich stabilisiert. Man kann sich sogar einen Eindruck verschaffen, dass die COVID-19-Pandemie als 1 https://www.who.int/europe/emergencies/situations/covid-19 [Zugriff am 10. 01. 2023].
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Izabela Kujawa
ein mediales oder politisches Thema nicht mehr (oder nur selten) existiert. Aber noch vor zwei Jahren war die Pandemie ein Hauptthema der medialen Berichterstattung und der politischen Auseinandersetzung. 2020 war das Jahr der Präsidentschaftswahlen in Polen und der Wahlkampagne im Zeichen der Pandemie. Die siebte Präsidentschaftswahl fand am 28. Juni und 12. Juli 2020 statt. Im ersten Wahlgang erreichte der Amtsinhaber Andrzej Duda 43,5 Prozent der Stimmen und verfehlte die absolute Mehrheit. Im zweiten Wahlgang, in der Stichwahl, gab es den Kandidaten der rechtsnationalen Regierungspartei PiS, Andrzej Duda und seinen liberalen Gegenkandidaten Rafał Trzaskowski. Die Präsidentschaftswahl hat zum zweiten Mal Andrzej Duda mit einem kleinen Vorsprung gewonnen (51 Prozent gegen etwa 49 Prozent der Stimmen für Trzaskowski). Von Anfang an stellte die Pandemie eine Herausforderung u. a. für das politische Handeln dar. Um die politischen Entscheidungen wie etwa staatliche Maßnahmen zu begründen und zu legitimieren, bedienten sich die politischen Akteur:innen (in (Fernseh-)Ansprachen sowie in den Regierungserklärungen an die Bevölkerung) der konkreten Argumentation und der durch die Krise geprägten Sprache.2 Diese Argumentation hatte zum Ziel, die bevorstehenden pandemischen Maßnahmen zu verkünden, zu erklären, zu begründen und zu legitimieren, um die Bevölkerung von Regierungsentscheidungen zu überzeugen und an die Bevölkerung zu appellieren, die Regierungsmaßnahmen (wie etwa soziale Distanz oder Maskenpflicht) im Zuge der Pandemie zu befolgen. Einen ganz anderen Charakter hatten politische (Wahl)reden der Politiker auf Kundgebungen aus demselben Zeitraum, d. h. kurz nach dem Ausbruch der Pandemie bis zur Stichwahl am 12. Juli 2020. Während der Kampagne wurde weder der epidemischen Lage noch den pandemischen Risiken und Gefahren größere Aufmerksamkeit gewidmet. Im Gegensatz dazu ist in den Wahlreden ein Topos des sog. milden/ungefährlichen Virus aufgetaucht.
2.
Politische Wahlreden. Zum Analysekorpus
Im Fokus der folgenden Analyse stehen konkrete Argumentationsmuster (Topoi), die in den politischen Wahlreden auftauchen und die Reden strukturieren. Die Analyse wird außerdem den sprachlichen Realisierungen der Topoi gewidmet. Das zur Analyse zusammengestellte Korpus besteht aus 49 öffentlichen Wahlreden des polnischen Präsidenten Andrzej Duda und des Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki. Beide Politiker haben an dem Präsidentenwahlkampf aktiv teilgenommen, Andrzej Duda als ein amtierender Präsident 2 Mehr über die pandemiebedingte Krisenkommunikation bei Liedtke (2020), Spieß (2021).
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und gleichzeitig Kandidat bei der nächsten Präsidentenwahl 2020 und Mateusz Morawiecki als der Spitzenpolitiker der PiS-Partei und der polnische Ministerpräsident, der sich für die Kampagne engagiert hat. Die zum Korpus ausgewählten Wahlreden stammen aus einem relevanten Zeitraum (von Februar 2020 bis Juli 2020), der durch die wütende Coronavirus-Pandemie und Präsidentenwahlen 2020 in Polen geprägt war. Das Virus war schon weltweit ausgebreitet. Die Pandemie hat sich auf nahezu alle Lebensbereiche ausgewirkt. Die Schutzmaßnahmen (wie etwa Maskenpflicht in öffentlichen Räumen, Einschränkungen, soziale Distanz etc.) zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie und zur Bewältigung ihrer Folgen wurden von den Regierungen weltweit beschlossen.
3.
Zum Begriff des Topos
Argumentieren ist der zentrale sprachliche Handlungstyp politischer Rhetorik und umfasst das Legitimieren und Delegitimieren staatlichen Handelns, das Begründen von Thesen, das Rechtfertigen von Ideen und Praktiken sowie das begründete Einwenden (als Kontra-Argumentieren) (vgl. Klein 2019: 65). Grundmuster des politischen Argumentierens bestehen aus Vernetzung verschiedener Argumenttypen, die Klein (2019: 338) als »topische Muster« bezeichnet. Der Topos ist ein Argumentationsmuster, ein allgemeines Form-, Denkprinzip, nach dem bestimmte Argumente gebildet werden (können). Römer (2018: 122) beschreibt den Topos als ein auf einen bestimmten Gegenstand oder Diskurs bezogenes gesellschaftliches Denkprinzip […], nach dem Argumentationen gebildet werden, deren Schlüssigkeit oder Konklusion aus Prämissen folgt, die anerkannte Meinungen […] sind. Topoi schöpfen demnach aus habituellen Denkweisen und vorherrschenden kollektiven Überzeugungen.
Die Analyse der Topoi kann Aufschlüsse über dominierende Denkweisen in einem bestimmten Zeitraum geben, u. a. auch über Argumentationsstrategien und -ziele, die das kollektive gesellschaftliche Wissen und die kollektive Denkweise prägen. Die Topoi lassen sich sowohl strukturorientiert als auch inhaltsorientiert analysieren. Die inhaltsorientierte Analyse konzentriert sich auf die Argumentationsmuster, die in einem bestimmten Zeitraum (d. h. in einem zeitlich und thematisch begrenzten Diskurs) dominieren. Die folgende Herangehensweise an die Toposanalyse schlägt u. a. Wengeler (2003, 2016) vor, indem er sich bei der Analyse auf die historische sowie soziokulturelle Bedingtheit des Argumentierens fokussiert, die das gesellschaftliche Denken und Wissen prägen (vgl. Wengeler 2016: 2). Die strukturbezogene Toposanalyse (im Gegensatz zu der
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Izabela Kujawa
inhaltsbezogenen) schlägt u. a. Klein (1995, 2000, 2019) vor, indem er topische Muster der Argumentation beschreibt und den Fokus des Interesses auf strukturelle Eigenschaften von Argumentationen legt. Klein (2019: 338) spricht von »komplexen topischen Mustern« und meint damit ein Mosaik von abstrakten Basistopoi, die ein komplexes Geflecht, ein topisches Netz bilden und niemals separat eintreten. Die Argumente verteilen sich auf Topoi und bilden feste Verbindungen. Nach diesem komplexen topischen Muster verlaufen Argumentationen in öffentlich-politischen Diskursen und in der politischen Kommunikation, auch in politischen Wahlreden, die direkt an die Wähler in der Face-toFace-Kommunikation adressiert werden. Klein (2019: 77) erwähnt folgende Topoi: Datentopos
Valuationstopos3
Prinzipientopos
Finaltopos
Topos der Ausführungskompetenz
Begründung/Argumentation durch die Schilderung einer Ausgangssituation Im Datentopos werden charakteristische Fakten/Tatsachen/Annahmen über die Situation angeführt, um ein bestimmtes politisches Ziel zu rechtfertigen. Begründung durch Situationsbewertung Im Valuationstopos werden die Situationsannahmen oder Daten bewertet. Dadurch werden die politischen Handlungsziele motiviert. Begründung durch Normen und Werte, die den Argumentationszielen zugrunde liegen Im Prinzipientopos werden Prinzipien, Normen und Werte markiert, die das politische Handeln leiten. Begründung durch Ziele oder Zwecke Im Finaltopos wird das Ziel benannt, d. h. die Handlungsplanung wird auf die Zielsetzung ausgerichtet. Es wird mit dem Ziel argumentiert. In diesem Topos wird die Qualität der Handlungsausführung und -kontrolle thematisiert und bewertet.
Tab. 1: Argumenttypen nach Klein (2019, 2003)
Spieß (2021: 458) modifiziert das Argumenttypen-Set von Klein (2019, 2003) und schlägt zwei weitere Kategorien vor: Konsequenztopos und Autoritätstopos und charakterisiert sie folgendermaßen: Konsequenztopos
Der Konsequenztopos geht auf die Handlungen ein und wird angeführt, um auf positive sowie negative Folgen der Handlung (z. B. Folgen politischer Entscheidungen) hinzuweisen.
3 Valuationstopos tritt bei Klein (2003) auch als Motivationstopos auf. Spieß (2021: 458) verwendet dafür die Bezeichnung Bewertungstopos.
Politische Wahlreden im Zeichen der Corona-Pandemie
Autoritätstopos
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Der Autoritätstopos führt als Argument Autoritäten (z. B. Experten) an, um die Plausibilität der politischen Entscheidungen zu begründen.
Tab. 2: Weitere Argumenttypen nach Spieß (2021: 458)
Die einzelnen Topos(kategorien) bilden Muster, deren Verbindung eine Handlungsstruktur darstellt und dadurch spezifische sprachliche Handlungen begründet und konstituiert. Öffentliche Debatten und politische Reden, in denen es um das Legitimieren politischen Handelns geht, bestehen aus mehreren Topoi, aus einem »Ensemble« von Datentopos, Valuationstopos, Prinzipientopos und Finaltopos, die ein komplexes topisches Muster bilden (vgl. Klein 2019: 78). Diese Komplexität wird folgendermaßen beschrieben: Politische Handlungen […] werden begründet durch Ziele (Finaltopos), diese werden motiviert durch Situationsbewertungen (Motivationstopos), welchen wiederum einerseits bestimmte Annahmen über Situationsdaten (Datentopos) und oft auch über deren Konsequenzen (Konsequenztopos) und andererseits bewertungs- und handlungsleitende Prinzipien oder Werte (Prinzipientopos) zugrunde liegen. (Klein 2003: 1468)
Grundmuster der politischen Kommunikation bilden nach Klein (2011: 291) vier Topoi: der Datentopos, Valuationstopos (bzw. Motivationstopos), Finaltopos und der Prinzipientopos, der sich bei den Argumentationszielen meist auf Hochwertwörter stützt, wie etwa Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Gerechtigkeit etc. Aus der Vernetzung der vier Topoi ergibt sich die Zustimmung und Rechtfertigung politischer Handlungen und Entscheidungen. Da es in der politischen Kommunikation meist wichtiger ist, die Handlungen der Politiker, der Regierung zu rechtfertigen, als Wahrheitsansprüche für Thesen und Behauptungen zu stützen (vgl. Klein 2019: 76). In der folgenden Analyse der Wahlreden werden neben den von Klein (2019) benannten Topoi (Datentopos, Bewertungstopos, Prinzipientopos, Finaltopos) auch andere berücksichtigt, die besonders an Bedeutung gewinnen, weil die Wahlen im Zuge der Pandemie verliefen. Aus diesem Grund ist damit zu rechnen, dass manche Wähler aus Angst um ihre Gesundheit nicht genügend entschlossen/motiviert waren, an Wahlen teilzunehmen. Entscheidend ist dabei die Argumentation, die sich direkt auf die Handlungen der Adressaten der Wahlreden beziehen und die Entscheidungen der Wähler noch deutlicher beeinflussen. Es handelt sich also um konkrete Topoi, nämlich Konsequenztopos und Autoritätstopos.
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4.
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Analyse der rechtspopulistischen Topoi
Betrachtet man die rechtspopulistischen Argumentationsmuster in Bezug auf die diskursinhaltsorientierte Analyse (in Anlehnung u. a. an Wengeler 2003: 170), so liefert man Erkenntnisse über soziale Wirklichkeit, über Mentalitäts-, Wissensund Bewusstseingeschichte, die durch Sprache vermittelt werden. In diesem Sinne spricht man von dominierenden Argumentationstopoi, die die rechtspopulistische Narration kennzeichnen, wie etwa: – Topos des Volkes als überlegenes Kollektiv – Topos des Volkes als kollektives Opfer – Topos des innerlichen/äußerlichen Feindes – Topos des Fremden – Topos der Eliten als Stigmaträger – Topos der Eliten als Sündenböcke etc. (Kujawa 2021, 2022).4 Im Folgenden wird auf die Spezifika der in den untersuchten Reden immer wieder auftauchenden Topoi eingegangen. Im Fokus des Interesses stehen ihre strukturellen Eigenschaften, deren Verbindung eine Handlungsstruktur darstellt und dadurch spezifische sprachliche Handlungen der Politiker begründet und konstituiert.
Datentopos Ein fester Bestandteil aller hier untersuchten Wahlreden ist der Bezug des Redners auf die aktuelle Situation und die Umgebung, in der sich der Sprecher und seine Zuhörer befinden. In jedem Fall beginnen die Politiker ihre Reden an die Bevölkerung zunächst mit einer Situationsschilderung und Ortsbeschreibung: (1)
Jestes´my dzis´ tutaj na tej pie˛knej dumnej ziemi kozienickiej, ziemi, która swoim urokiem zachwyca wiele osób. [Wir sind heute hier in diesem schönen, stolzen Land von Kozienice, einem Land, das mit seinem Charme viele Menschen begeistert.5] (Morawiecki/Kozienice 2020)
Im Datentopos werden konkrete Situationsdaten angeführt, wie etwa Angaben über den Ort des Treffens mit Bürgern, über die aktuelle politische/gesellschaftliche Lage in Polen usw. In Bezug darauf werden auch Angaben über die Bedeutung ev. Verdienste des Ortes für die Entwicklung des ganzen Landes mit zahlreichen Bezügen auf die lokale Geschichte geliefert. 4 Mehr über die Spezifik der rechtspopulistischen Narration bei Kujawa (2021, 2022). 5 Alle Übersetzungen der angeführten Fragmente von Wahlreden stammen von der Autorin des Beitrags.
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Die Orts- und Situationsschilderung (Datentopos) führen direkt zur Situationsbewertung (Bewertungstopos).
Bewertungstopos Im Anschluss an den situationsschildernden Einstieg (Datentopos) werden die Tatsachen über die bisherigen Aktivitäten des amtierenden Präsidenten sowie der Regierungspartei angeführt. Sie haben zum Ziel, mit Hilfe des Bewertungstopos durch eine positive Situationsdarstellung und durch Benennung aller politischen Verdienste die politischen Handlungsziele des Redners zu bestärken: (2)
(3)
Dzisiaj z cała˛ moca˛ trzeba podkres´lic´ te dane, które w najbardziej wyrazisty sposób s´wiadcza˛ o tym, z˙e zapanowalis´my nad choroba˛, nad pandemia˛ koronawirusa, w sposób duz˙o bardziej sprawny, niz˙ najbardziej bogate kraje, najbogatsze kraje s´wiata, kraje Europy Zachodniej. [Heute müssen wir mit aller Kraft betonen, dass wir die Krankheit, die Coronavirus-Pandemie, viel effektiver als die reichsten Länder der Welt und die westeuropäischen Länder unter Kontrolle gebracht haben.] (Morawiecki, 27. 03. 2020) Poprzednia władza pozwalała nas okradac´, a mys´my ten proces zatrzymali i te dziesia˛tki miliardów podatku VAT, które do tej pory trafiały do jakichs´ prywatnych kieszeni hochsztaplerów teraz trafiaja˛ do skarbu pan´stwa w postaci daniny, która potem jest rozdzielana pomie˛dzy obywateli. [Die vorherige Regierung hat es zugelassen, dass wir bestohlen wurden, aber wir haben diesen Prozess gestoppt. Wir haben diese zig Milliarden Mehrwertsteuer, die bisher in die privaten Taschen von Betrügern geflossen sind, gestoppt. Sie fließen nun in die Staatskasse in Form einer Abgabe, die dann unter die Bürger verteilt wird.] (Duda/Rabka Zdrój 2020)
Die beiden Topoi: Daten- und Bewertungstopos sind eng miteinander verbunden. Die Argumentation durch die Situationsbewertung erfolgt direkt aus der Situationsschilderung.
Prinzipientopos Mit dem Prinzipientopos wird auf Normen und Werte verwiesen, die das politische Handeln motivieren und argumentieren. Wie aus der Analyse der Reden hervorgeht, liegen folgende Werte wie etwa: Patriotismus, Gemeinschaft, Demokratie, Gerechtigkeit den Argumentationszielen zugrunde. Dazu gehören folgende Topoi: der Herkunft-Topos, der auf die Bedeutung und den Wert des Bodens verweist und eine enge Beziehung zur Geschichte widerspiegelt (tu na tej ziemi/hier auf diesem Boden, na ziemi ´sla˛skiej/auf dem schlesischen Boden, ziemia ojców/das Land der Väter) und der Topos des Volkes, der auf gemeinsamen
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Werten und Tugenden beruht. Das Volk wird dabei als eine homogene Gemeinschaft, als ein homogenes Kollektiv6 deklariert. Sprachlich wird der Topos durch zahlreiche Schlagwörter realisiert: patriotyzm/Patriotismus, prawdziwy, polski patriotyzm/echter, polnischer Patriotismus: (4)
(5)
Tak, jak powiedziałem, Rzeczpospolita jest naszym wielkim zadaniem. Łowicz z ziemiami, które go otaczaja˛, z tym rolniczym sercem Polski, jest dla Rzeczypospolitej ogromnie waz˙ny, tak, jak waz˙na jest tutaj ta tradycja, ta kultura. […] Ale to takz˙e wielki patriotyzm ludzi tej ziemi, patriotyzm przez pokolenia, przez zabory, powstania, bitwe˛ nad Bzura˛, partyzantke˛. To wszystko, co tutaj sie˛ toczyło, wielkie historie tej ziemi, to jest wielka historia Łowicza. [Wie gesagt, die Republik ist unsere große Aufgabe. Łowicz mit den umliegenden Gebieten, mit diesem landwirtschaftlichen Herzen Polens, ist für die Republik Polen von großer Bedeutung, ebenso wie diese Tradition und Kultur hier wichtig sind. […] Aber es ist auch der große Patriotismus der Menschen dieses Landes, Patriotismus über Generationen hinweg, durch Teilungen, Aufstände, die Schlacht an der Bzura, den Partisanenkrieg. Alles, was hier passiert ist, die große Geschichte dieses Landes, das ist die große Geschichte von Łowicz.] (Duda/Łowicz 2020) My mamy wielka˛ siłe˛. To cos´, czego obecny Zachód dzisiaj nie ma, to nasza wiara, to nasza tradycja, to nasza kultura tak głe˛boko zakorzeniona w naszych rodzinach, oparta na korzeniach chrzes´cijan´skich. [Wir haben große Kraft. Das ist etwas, was der heutige Westen heute nicht hat, es ist unser Glaube, es ist unsere Tradition, es ist unsere Kultur, die so tief in unseren Familien verwurzelt ist und auf christliche Wurzeln stützt.] (Duda/Rabka Zdrój 2020)
Finaltopos Im Finaltopos wird das Ziel benannt, um die politische Handlung zu legitimieren, in dem Fall die Präsidentenwahlen zu gewinnen: (6)
(7)
Idz´my do wyborów! Nie bójmy sie˛ niczego! Polska jest przed nami! Polska jest wielka! Przyszłos´c´ jest przed Polska˛! Ale wybór musi byc´ włas´ciwy – Andrzej Duda. [Lass uns zur Wahl gehen! Lass uns vor nichts zurückschrecken! Polen liegt vor uns! Polen ist groß, die Zukunft liegt vor Polen. Aber die Wahl muss richtig sein – Andrzej Duda.] (Morawiecki 09. 07. 2020) Uwaz˙am, z˙e ona [sytuacja epidemiczna] tez˙ jest opanowana. Coraz mniej jest zachorowan´. I dlatego wszystkich zapraszam – ´smiało idz´cie do urn wyborczych. Młodsi, starsi, w sile wieku. To jest bezpieczniejsze niz˙ jak codziennie wychodzicie do sklepu, na poczte˛, do kos´cioła czy wsze˛dzie indziej. Wszyscy musimy pójs´c´ do urn wyborczych. Apeluje˛ zwłaszcza do osób, które nie poszły, bo sie˛ obawiały czegos´. Nie ma sie˛ juz˙ czego bac´. […] Latem wirusy grypy i ten koronawirus tez˙ sa˛ słabsze, duz˙o słabsze. Widac´ to juz˙ dzisiaj po sytuacji w Polsce. Spokojnie moz˙na is´c´ na wybory.
6 Mehr zum Begriff Volk in der rechtspopulistischen Narration bei Kujawa (2021: 111).
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[Ich denke, dass sie [die epidemische Situation] auch unter Kontrolle ist. Es gibt immer weniger Erkrankungsfälle. Deshalb lade ich alle ein – gehen Sie mutig zur Wahlurne. Junge, alte Menschen, Menschen in der Blüte ihres Lebens. Das ist sicherer, als wenn Sie täglich zum Einkaufen, zur Post, in die Kirche oder woanders hinausgehen. Wir alle müssen zur Wahlurne gehen. Ich appelliere insbesondere an diejenigen, die nicht gegangen sind, weil sie Angst vor etwas hatten. Es gibt nichts mehr zu befürchten. […] Im Sommer sind Grippeviren und auch dieser Coronavirus schwächer, viel schwächer. Das zeigt sich bereits heute an der Situation in Polen. Sie können also unbesorgt zur Wahl gehen.] (Morawiecki 30. 06. 2020/Kras´nik)
Der Finaltopos weist enge Verbindungen zum Prinzipientopos auf, in dem Sinne, dass in der Argumentation beider Topoi dieselben Werte zugrunde liegen, nämlich: Gemeinschaft und Heimatliebe. Das Ziel der Argumentation (Polen als eine Gemeinschaft, auf gemeinsamen Werten und Tugenden gebaut) stellt zugleich Bezüge auf den Gemeinschaftsbegriff und Heimatbegriff.
Konsequenztopos Der Konsequenztopos wird angeführt, um auf positive sowie negative Folgen der Handlung hinzuweisen und auf die negativen Konsequenzen aufmerksam zu machen: (8)
(9)
Czy be˛dzie to Polska elit z wysokim bezrobociem, bieda˛ i wykluczeniem, czy postawimy na silna˛ demokratyczna Polske˛? To sa˛ dwie Polski i my musimy zwycie˛z˙yc´. [Werden wir uns für Polen der Eliten mit hoher Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung entscheiden oder setzen wir uns für ein starkes demokratisches Polen ein? Das sind zwei Polen und wir müssen gewinnen.] (Morawiecki 09. 07. 2020/Sandomierz) Ten wybór, którego be˛dziemy dokonywali w niedziele˛, to wybór dwóch moz˙liwos´ci dla Polski. Bo albo be˛dzie to Polska, która sie˛ be˛dzie dalej rozwijała, Polska, która be˛dzie ambitna, Polska, która be˛dzie szła dalej w swoim rozwoju z podniesiona˛ głowa˛, z godnos´cia˛, Polska, która be˛dzie oparta na dwóch filarach, na nowoczesnym rozwoju i na swojej wspaniałej tradycji, albo to be˛dzie powrót, prosze˛ pan´stwa, do czasów sprzed 2015 roku, do zwijania Polski, do lekcewaz˙enia w Polsce mniejszych miast i mniejszych miejscowos´ci, do lekcewaz˙enia człowieka, do Polski rozwijanej dla jakiejs´ wa˛skiej grupy, podczas gdy pozostali obywatele, a zatem ich zdecydowana wie˛kszos´c´ nie sa˛ beneficjentami systemu politycznego, sa˛ pozostawieni sami sobie. [Diese Wahl, die wir am Sonntag treffen werden, ist eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten für Polen. Entweder wird es Polen sein, das sich weiterentwickelt, ein ehrgeiziges Polen, ein Polen, das mit erhobenem Kopf und mit Würde voranschreitet, ein Polen, das auf zwei Säulen steht, auf moderner Entwicklung und seiner großartigen Tradition, oder es wird eine Rückkehr, meine Damen und Herren, in die Zeit vor 2015 sein, zu einer Schrumpfung Polens, zur Missachtung kleinerer Städte und Gemeinden in Polen, zur Missachtung des Menschen, zu einem Polen, das nur
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für eine kleine Gruppe entwickelt wird, während die übrigen Bürger, und damit die überwiegende Mehrheit von ihnen, keine Nutznießer des politischen Systems sind und sich selbst überlassen bleiben.] (Duda 09. 07. 2020/Gorlice)
Wenn sich der Wähler bei Präsidentenwahlen für den richtigen Kandidaten entscheidet, so werden auch Erfolge genannt und garantiert: (10) Zwycie˛z˙ymy tylko wtedy, kiedy sie˛ zmobilizujemy. Prosze˛ pan´stwa o wsparcie, o te˛ pomoc. Chciałbym, z˙eby te wszystkie programy […], które składaja˛ sie˛ na wielki program podniesienia jakos´ci z˙ycia w Polsce […], z˙eby te programy mogły byc´ nadal realizowane, z˙eby nikt nie mógł ich cofna˛c´. Dopóki ja jestem prezydentem Rzeczpospolitej zapewniam pan´stwa, z˙e z˙aden z tych programów, które zostały uruchomione nie zostanie cofnie˛ty, z˙aden program z tych, które wspieraja˛ rodzine˛. [Wir werden nur dann siegen, wenn wir uns mobilisieren. Ich bitte um Ihre Unterstützung, um diese Hilfe. Ich wünsche mir, dass all diese Programme […], die Teil des großen Programms zur Verbesserung der Lebensqualität in Polen sind, weiterhin durchgeführt werden können, damit niemand sie rückgängig machen könnte. Solange ich Präsident der Republik Polen bin, versichere ich Ihnen, dass keines der gestarteten Programme zurückgezogen wird, keines der Programme zur Unterstützung der Familie.] (Duda/Łowicz 2020) (11) Jez˙eli pan´stwo chcecie, z˙ebys´my wygrali te wybory, to bardzo prosze˛ abys´cie po pierwsze poszli do nich, po drugie namawiali do tego swoje rodziny, z˙eby zrealizowali te swoje najwaz˙niejsze demokratyczne prawo obywatelskie. […] Tym samym głosuja˛c przesa˛dzamy, czy Polska sie˛ be˛dzie rozwijała, czy be˛da˛ przestrzegane bliskie pan´stwu wartos´ci. [Wenn Sie möchten, dass wir diese Wahlen gewinnen, bitte ich Sie sehr, erstens daran teilzunehmen und zweitens Ihre Familien dazu zu ermutigen, Ihr wichtigstes demokratisches Bürgerrecht auszuüben. […] Durch unsere Stimmen entscheiden wir, ob sich Polen entwickeln wird und ob die Werte, die Ihnen nahe stehen, respektiert werden.] (Duda/Miksat 2020)
Der Konsequenztopos umfasst sowohl Pro- als auch Kontra-Argumentation. Im Fall der Pro-Argumentation handelt es sich um Verweise auf Handlungsfolgen, dabei auch auf mögliche Folgen des Nichts-Handelns: (12) Szanowni pan´stwo, z˙eby tak sie˛ stało trzeba sie˛ w wyborach zmobilizowac´, dlatego z˙e nasi przeciwnicy sa˛ mocno zmobilizowani, chca˛ wkładac´ ten kij w szprychy, rzucac´ piach w tryby rozwoju, tego rozwoju, który chyba widzicie. [Meine Damen und Herren, um dies zu erreichen, müssen wir uns während der Wahlen mobilisieren, denn unsere Gegner sind stark mobilisiert und wollen uns den Knüppel zwischen die Beine werfen und den Fortschritt, den Sie wohl sehen, hemmen.] (Morawiecki/ Braniewo 2020)
Die Kontra-Argumentation kann zwei Dimensionen umfassen: die Handlungsdimension (d. h. Kontra-Argumente gegen die Vorhaben und Maßnahmen des politischen Gegners) und Kommunikationsdimension (d. h. Kontra-Argumente
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gegen das Kommunikationsverhalten des politischen Gegners) (vgl. Klein 2019, 2000).7 In Bezug auf die zwei bereits erwähnten Dimensionen der Kontra-Argumentation handelt es sich dementsprechend um zwei Topoi: Taten-Topos (Handlungen) und Kommunikations-Topos (kommunikatives Verhalten) des Gegners. Zu den festen Bestandteilen der in dem Beitrag untersuchten Wahlreden gehört die explizit geäußerte Kritik des politischen Gegners, d. h. des Gegenkandidaten in Präsidentenwahlen – Rafał Trzaskowski. Die Vorwürfe gegen ihn beziehen sich sowohl auf seine persönlichen Eigenschaften als auch auf seine politischen Aktivitäten: (13) Pan Trzaskowski, szanowni pan´stwo, rozumie je˛zyk brukselskich elit, salonów i nie interesuje sie˛ losem zwykłego Polaka. [Herr Trzaskowski, meine Damen und Herren, versteht die Sprache der Brüsseler Eliten, die Sprache der Salons und interessiert sich nicht für das Schicksal eines gewöhnlichen Polen.] (Morawiecki/Kozienice 2020) (14) Pan prezydent realizuje polityke˛, która˛ zapowiedział. […] Ale naprzeciwko niego stoi ktos´, kto pozbawiony jest wiarygodnos´ci. […] Panie Trzaskowski, ludzie nie sa˛ tacy naiwni! Szanowni pan´stwo zdemaskujmy te wszystkie kłamstwa, szalbierstwa, oszustwa Trzaskowskiego, bo dzisiaj on wam obieca wszystko, on powie, co tylko chcecie, tak, jak chora˛giewka na wietrze zmienia swoje zdanie. [Der Präsident setzt die Politik um, die er angekündigt hat. […] Doch ihm gegenüber steht jemand, der keine Glaubwürdigkeit hat. […] Herr Trzaskowski, die Menschen sind nicht so naiv! Meine Damen und Herren, entlarven wir all diese Lügen, Ausreden und Betrügereien von Trzaskowski, denn heute wird er Ihnen alles versprechen, er wird sagen, was Sie wollen. Er ist wie eine Fahne im Wind. Er ändert so oft seine Meinung.] (Morawiecki/ Braniewo 2020)
Das Ziel der Kontra-Argumentation gegen den politischen Gegner ist die Äußerung der expliziten Kritik und Diskriminierung oder Diffamierung des Gegners sowie seiner Handlungen und dadurch die Herausstellung eines Zugehörigkeitsgefühls, einer emotionalen Beziehung zwischen dem Redner und Zuhörer.8
7 Klein (2019: 79–82) erfasst die Kontra-Argumente als »Topik des Kontra-Argumentierens« und verteilt sie auf weitere Argumenttypen, die er als Topoi der Kontra-Argumentation bezeichnet, z. B.: Topos der sachlichen Unrichtigkeit, Topos der normativen Unrichtigkeit, Topos der Unwahrhaftigkeit, Topos der defizitären Informativität, Topos der Unklarheit. 8 Mehr über die Strategie der Diskreditierung des politischen Gegners bei Kujawa (2022).
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Autoritätstopos Mit dem Autoritätstopos werden Argumente der Autoritäten (hier: Epidemiolog: innen) angeführt, um die Plausibilität der politischen Aussagen des Redners sowie die Glaubwürdigkeit des Redners selbst und die Glaubwürdigkeit seiner Versprechungen zu begründen. Der Bezug auf Autoritäten gewinnt an Bedeutung besonders während der Pandemie, wenn der Redner die Sicherheit gewährleistet, indem er sich auf Aussagen von Wissenschaftlern beruft. Mit dem Verweis auf wissenschaftliche Autoritäten im Autoritätstopos wird außerdem noch einmal das in dem Finaltopos formulierte Ziel benannt: (15) Idz´my do wyborów. Nie bójmy sie˛ niczego. [Lass uns zur Wahl gehen! Lass uns vor nichts zurückschrecken!] (Morawiecki 09. 07. 2020/Sandomierz) (16) Wszystko jest bezpieczne. Posłuchajcie wypowiedzi naszych głównych epidemiologów z dzisiaj, z wczoraj. Trzeba pójs´c´ na wybory, bo jestes´my na kluczowym zakre˛cie historii. [Alles ist sicher. Hört auf die Aussagen unserer führenden Epidemiologen von heute, von gestern. Wir müssen zur Wahl gehen, denn wir stehen an einer entscheidenden Wende in der Geschichte.] (Morawiecki 04. 07. 2020/Braniewo)
In dem Sinne sind beide Topoi: Finaltopos und Autoritätstopos durch das übergeordnete Ziel der Argumentation miteinander verbunden. Im Autoritätstopos erscheint der Topos des sog. milden ungefährlichen Virus, der in den politischen Reden auftaucht und wird auch mit Hilfe von Berufung auf Argumente der Wissenschaftler begründet: (17) Ja ciesze˛ sie˛, z˙e coraz mniej obawiamy sie˛ tego wirusa, tej epidemii. To jest dobre podejs´cie, bo on jest w odwrocie. Juz˙ teraz nie trzeba sie˛ jego bac´. Trzeba pójs´c´ na wybory tłumnie 12 lipca. Nic sie˛ nie stało teraz, nic sie˛ nie stanie 12 lipca. Wszyscy, zwłaszcza seniorzy, nie obawiajmy sie˛, idz´my na wybory. To jest waz˙ne by móc kontynuowac´ te sprawiedliwa˛ linie˛ rozwoju. [Ich freue mich, dass wir uns immer weniger vor diesem Virus, dieser Epidemie, fürchten. Das ist eine gute Einstellung, weil das Virus auf dem Rückzug ist. Jetzt braucht man sich keine Sorgen mehr machen. Wir sollten alle am 12. Juli in Scharen zur Wahl strömen. Jetzt ist nichts passiert und am 12. Juli wird auch nichts passieren. Alle, besonders die Senioren, sollten sich keine Sorgen machen und zur Wahl gehen. Es ist wichtig, diese gerechte Entwicklungslinie fortsetzen zu können.] (Morawicki 01. 07. 2020/ Tomaszów Lubelski) (18) Rzeczywis´cie cała ta choroba [COVID-19] na szcze˛s´cie została zwalczona, jest pod kontrola˛. Jest tak jak inne, jest jak wiele innych chorób i nie be˛dziemy sie˛ ich bali na zapas. [Tatsächlich ist diese ganze Krankheit [COVID-19] glücklicherweise ausgerottet, sie ist unter Kontrolle. Es ist wie mit anderen Krankheiten, es ist wie mit vielen anderen Krankheiten und wir werden vor ihnen keine Angst haben.] (Morawiecki 30. 06. 2020/S´widnik)
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Die Zuordnung bestimmter lexikalischer Einheiten oder grammatischer Phänomene zu den konkreten Argumentationsmustern ist schwer realisierbar. Es gibt dafür keine »stichhaltigen und kohärenten Kriterien« (Wengeler 2003: 283), weil die Argumentationen komplexe Sprachhandlungen sind. Verbindet man aber das Analysemodell der abstrakten Basistopoi von Klein (2011, 2019) mit dem Modell der kontextspezifischen Topoi von Wengeler (2003), so entsteht ein Modell, in dem die Basistopoi mit kontextspezifischen (inhaltsbezogenen) Topoi und ihren typischen sprachlichen Realisierungen ergänzt werden können. Am Beispiel der in dem Beitrag untersuchten Reden lässt sich beispielsweise feststellen, dass der hier analysierte Prinzipientopos als ein Basistopos (auf der Strukturebene) mit anderen kontextspezifischen Topoi, wie z. B.: HerkunftTopos oder Volks-Topos ergänzt werden kann. Der Autoritätstopos dagegen gilt als ein Basistopos für den Topos des milden Virus, der sich im politischen Kampf um die Wählerstimmen im Zeichen der Pandemie als ein festes Argument etabliert hat. Aus diesem Grund kann man auf Merkmale sprachlicher Realisierungen der einzelnen Argumentationsmuster verweisen und sie kontextbezogen analysieren.
5.
Politische Wahlreden im Zeichen der Corona-Pandemie. Abschließende Bemerkungen
Die bereits angeführten Argumente verteilen sich auf bestimmte Topoi und bilden ein komplexes topisches Muster der politischen Reden, eine Handlungsstruktur, die politische Vorhaben und politische Entscheidungen begründet. In dem Sinne kann man feststellen (in Anlehnung an Klein 2019: 78), dass die Argumente als »Prämissenkonstellation [fungieren], aus der sich die Richtigkeit bzw. Legitimität des politischen Handelns als Konklusion ergibt«. In den hier untersuchten Wahlreden der polnischen Politiker derselben politischen Orientierung ist ein festes topisches Muster zu erkennen. Jede Rede besteht aus bestimmten, regelmäßig auftauchenden Argumenten. Diese argumentative Struktur der Reden ist für ihre Rezeption von Bedeutung. Sowohl die Argumentationsstruktur selbst (die strukturellen Eigenschaften der Topoi) als auch die sprachlichen Realisierungen der Argumentationsmuster dienen dem Ziel, die Zustimmung von möglichst vielen Wählern (Adressaten der Wahlreden) zu gewinnen. In jedem Topos werden bestimmte Argumente für Handlungs- und Zielbegründungen geliefert. Die einzelnen Topoi sind miteinander eng verknüpft. Nur durch diese enge Vernetzung haben sie die entsprechende argumentative Stärke (im Fall der Wahlen – die Überzeugungskraft).
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Izabela Kujawa
In dem komplexen Mosaik von Topoi wird neben den anderen auch der Autoritätstopos erwähnt. Zwar gehört er nicht zu den festen Bestandteilen des topischen Mosaiks, da er nicht in allen politischen Reden auftaucht, aber im Fall von Wahlreden aus den Zeiten der Pandemie, gewinnt der Autoritätstopos an Bedeutung. Er begründet die politische Handlung des Politikers und seine Glaubwürdigkeit durch externe Autoritäten, auf die er sich beruft, ohne dabei auf die Quelle der angeblichen wissenschaftlichen Daten/Informationen zu verweisen. Das Ziel der Argumentation hat in der politischen Kommunikation eine übergeordnete Rolle und wird explizit formuliert – Wahlsieg.
Bibliographie Primärquellen Analysekorpus. Politische Wahlreden von Andrzej Duda und Mateusz Morawiecki (02.2020–07.2020) https://www.youtube.com/watch?v=62bE2kIr9eo [Duda/Zamos´c´, 10. 07.2020, Zugriff am 10.01. 2023]. https://www.youtube.com/watch?v=F2qaEd4q3tM [Duda/Jasło 2020, Zugriff am 10.01.2023]. https://www.youtube.com/watch?v=Hilnincr2mk [Duda/Kielce 19.06.2020, Zugriff am 10.01. 2023]. https://www.youtube.com/watch?v=XwrM7Avl1ZI [Duda/Brzeg 13.06.2020, Zugriff am 10.01. 2023]. https://www.youtube.com/watch?v=B3DDac255Ts [Duda/Warszawa 15.02. 2020, Zugriff am 10.01.2023]. https://www.youtube.com/watch?v=YFw59a4DFBw [Duda/Grajewo 20.06.2020]. https://www.youtube.com/watch?v=K8otfqTCJQo [Duda/Nysa 08. 03.2020, Zugriff am 10.01. 2023]. https://www.youtube.com/watch?v=N9yrvPENTZg [Duda/Morawicki/Kaczyn´ski/Warszawa 2020, Zugriff am 10.01.2023]. https://www.youtube.com/watch?v=jUkiu3RviZ0 [Duda/Wrzawy 6.06.2020, Zugriff am 10.01. 2023]. https://www.youtube.com/watch?v=aH23NwG8LUc [Duda/Warszawa 8.07.2020, Zugriff am 10.01.2023]. https://www.youtube.com/watch?v=LLwEDXhNfi4 [Duda/Niebylec 10.07. 2020, Zugriff am 15.01.2023]. https://www.youtube.com/watch?v=J-rNcigJLm8 [Duda/Drawsko Pomorskie 1.07.2020, Zugriff am 15.01.2023]. https://www.youtube.com/watch?v=Ro7LlY8-goI [Duda/Włoszczowa 07.02.2020, Zugriff am 15.01.2023]. https://www.youtube.com/watch?v=PTqsVKVRD4Y [Duda/De˛bica 10. 07.2020, Zugriff am 15.01.2023].
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Beatrice Wilke (Università degli Studi di Salerno, Salerno) / Maria Paola Scialdone (Università di Macerata, Macerata)
Sprachliche Darstellungen des Lockdown-Erlebens in Kathrin Rögglas literarischen Corona-Tagebuchaufzeichnungen1
Abstract Linguistic Representations of the Lockdown Experience in Kathrin Röggla’s Literary Corona Diary Entries The impact the Corona pandemic had on literature is undeniable and certainly significant. Among the forms of expression which saw the light in this historical moment is the Corona diary, which will here be briefly analysed in its main aspects. The paper will focus, however, on Kathrin Röggla’s contribution to this new literary genre, considering in particular which type of events she decides to record and which creative devices the authoress employs. Keywords: Kathrin Röggla, Corona Diary, language Schlüsselwörter: Kathrin Röggla, Corona-Tagebuch, Sprache
1.
Einleitendes
Nach einer einführenden Skizzierung der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Literatur, die neue künstlerische, dem außergewöhnlichen historischen Moment gerecht werdende Ausdrucksformen wie das Corona-Tagebuch hervorgebracht hat, soll die Aufmerksamkeit in diesem Beitrag – nicht ohne zuvor einen kurzen Abriss über die Beschaffenheit der Textsorte des Tagebuchs zu liefern – auf das Corona-Tagebuch von Kathrin Röggla gelenkt werden. Aus sprachlicher Perspektive sollen die Tagebuchaufzeichnungen der österreichischen zeitgenössischen Autorin, die 2020, neben anderen Autor:innen, während der ersten Welle der Pandemie an dem Projekt des Literaturhauses Graz »Die Coronatagbücher« mitgewirkt hat, untersucht werden, wobei im Detail folgende Fragen Berücksichtigung finden: Welche Aspekte treten in Rögglas zeitdiagnostischen Beobachtungen in Erscheinung, d. h. was empfindet sie als festhaltenswert? Welche Ereignisse des Zeitgeschehens, des öffentlichen Lebens und 1 Der vorliegende Beitrag ist das Ergebnis der gemeinsamen Diskussion. Beatrice Wilke hat die Abschnitte 1 sowie 3–8 verfasst, Maria Paola Scialdone den Abschnitt 2.
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Beatrice Wilke / Maria Paola Scialdone
ihres privaten Alltags fokussiert sie in ihren Aufzeichnungen und wie positioniert sie sich diesen gegenüber? Welche Gestaltungsressourcen und diaristischen Schreibverfahren bringt die Autorin in ihrem erzählerischen Raum zum Einsatz, um ihren Betrachtungen die passende sprachliche Gestalt zu verleihen und den gesellschaftlichen, politischen und sozialen Zustand während des ersten Lockdowns zu beleuchten?
2.
Die Corona-Pandemie und die Literatur
Die Einflüsse der Corona-Pandemie auf den Literaturbetrieb lassen sich noch nicht genau bestimmen. Aus mehreren Umfragen, die in den Jahren 2021–2022 erhoben wurden (vgl. hierzu Scialdone 2023: 177–178), geht hervor, dass sich noch kein klar konturiertes Bild ergibt, das aufschlussreich erkennen lässt, welche Entwicklungen das Thema Corona in diesem Hinblick nach sich ziehen wird. Wie viele Intellektuelle vermuten (vgl. hierzu Scialdone 2023: 178–179), bedarf es noch einiger Zeit, bis die Literatur den weltweiten, durch die Ausbreitung des Coronavirus bedingten Ausnahmezustand, der circa drei Jahre angedauert hat und dessen Nachwirkungen auch heute noch hier und da spürbar sind, angemessen künstlerisch verarbeitet und widerspiegelt. »Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt es: Mitunter müssen Jahrzehnte vergehen, bis epochale historische Ereignisse literaturfähig werden«, unterstreicht der Kulturjournalist Rainer Moritz (Neue Zürcher Zeitung) (2022) und auch Paul Jandl hebt in seinem 2020 im Feuilleton der NZZ erschienenen Artikel Die Corona-Krise trifft die Literatur hart hervor, dass Literatur »für Ausnahmesituationen definitiv zu langsam« sei. Doch trotz dieser Prognosen sind gleich zu Beginn der Pandemie Bücher bzw. Manuskripte entstanden, die diese zum Gegenstand hatten, vor allem »[…] Krimi-Entwürfe über Virus-Pandemien oder Bücher über Lockdown-Erfahrungen, Befindlichkeitsliteratur«, wie der Literaturjournalist Jürgen Deppe (2022) von der Redaktion NDR Kultur herausstellt, wobei es sich seines Erachtens jedoch bei diesen anfänglichen Versuchen eher um literarisch geringwertige Produkte handle: »Schlechte Bücher oder zumindest schlechte Manuskripte hat es zu Beginn der Pandemie gegeben […]« (Deppe 2022). »Gute Bücher brauchen einfach ihre Zeit […] Jetzt, nach zwei Jahren, kommt es ganz allmählich auch in der etwas besseren, etwas anspruchsvolleren Literatur an […]« betont auch er (Deppe 2022). Nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in anderen Kulturen, sind mittlerweile zahlreiche Corona-Fictions zu verzeichnen, die sich verschie-
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denen Textsorten zuordnen lassen, z. B. Ego-Dokumente2, Romane und Erzählungen sowie Lyrik. Einen Einblick in die Vielzahl der bislang entstandenen Texte – Primär- und Sekundärliteratur zum Thema Pandemie und Corona in Literatur und Kultur – bietet die seit 2020 an der Technischen Universität Graz im Rahmen des literatur- und kulturwissenschaftlichen Grundlagenprojekts »Corona-Fiction«3 (CoFi), geleitet von Yvonne Völkl, entwickelte Online-Datenbank Corona Fictions Database4. Sie enthält bislang über 3000 Titel (vorranging aber Mediengattungen aus romanischsprachigen Ländern) und wird kontinuierlich aktualisiert (vgl. hierzu Scialdone 2023: 179–180). Im Laufe der COVID-19-Pandemie entstanden aber nicht nur neue literarische Texte, die von der Pandemie und Corona erzählen, auch die Epi-/Pandemieklassik erlebte eine neue Blütezeit, was sich damit begründen lässt, wie die Romanist:innen Angela Oster und Jan Henrik Witthaus in ihrer Publikation Pandemie und Literatur anmerken, »dass diese Erzähltexte erstaunlich aktuell sind, erkennt man doch gegenwärtig dank Manzoni, Heine und Co. eine gespenstische Wiederkehr lang bekannter Reaktionsmuster« (Oster/Witthaus 2021: 2). Und auch Martina Stemberger (2021: 10) spricht dieses Phänomen in ihrer komparatistischen Studie Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie an, wenn sie an weitere Autoren erinnert, »allen voran Boccaccio, Defoe, García Márquez« sowie Albert Camus, deren Werke während der Pandemie zu Verkaufsschlagern wurden. Auch hat die Wiederentdeckung der Epi-/Pandemieklassik zu neuen literarischen Experimenten geführt. So hat beispielsweise die Redaktion des New York Times Magazine, sich an Boccaccios meisterhafter Novellensammlung orientierend, im März 2020 das [The] Decameron-Project ins Leben gerufen, wozu 29 Autor:innen aufgefordert wurden, literarisch über den pandemischen Corona-Zustand aus ihrer Perspektive zu erzählen. Die so entstandenen Kurzgeschichten, anfangs online, später im Papierformat veröffentlicht, sind inzwischen auch in viele andere Sprachen übersetzt worden. Zeitgleich startete auch die Redaktion der Zeit Online (2020) ihr Dekameron-Projekt, für das zehn deutschsprachige Schriftsteller:innen kollektiv Geschichten verfassten, in denen zentrale Aspekte des Lebens wie Liebe, Freundschaft, Verlust und Tod im Mittelpunkt stehen. 2 Der Begriff ›ego-documents‹ wurde erstmalig 1958 von dem niederländischen Historiker Jacques Presser (zit. in Depkat, 2019: 267) verwendet. Dieser definierte als solche »jene Dokumente, in denen sich ein Ich absichtlich oder unabsichtlich offenbart oder versteckt« (Originalzitat: »those documents in which an ego intentionally or unintentionally discloses, or hides itself«). 3 https://www.tugraz.at/projekte/cofi/home/ [Zugriff am 01. 06. 2023]. 4 https://www.zotero.org/groups/4814225/corona_fictions_database/library [Zugriff am 01. 06. 2023].
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Von besonderem Interesse für die vorliegende Untersuchung sind insbesondere die während der Pandemie entstandenen Ego-Dokumente – Tagebücher, biographische Notizen und Aufzeichnungen, Briefe etc. –, für die sich die Verwendung der Bezeichnung ›Pandemoir‹ im Sinne eines Kollektivbegriffs anbietet. Dieser Begriff, von Gregory Betts für sein Avantgarde-Kunstwerk TweTwe. An alttext Pandemoir (2021) geprägt, erscheint besonders geeignet als »Gesamtdefinition für autobiographische Formen der Corona-Fiction« (Scialdone 2023: 181). Zu den frühen Erscheinungsformen der Corona-Fiction zählend, war das ›Corona-Pandemoir‹ vor allem in den Anfangsphasen der Pandemie, als gewohnte Lebensrhythmen, Denk- und Handelsmuster und alltägliche Rituale durch strenge Einschränkungen und Lockdown-Erfahrungen unvorhergesehen unterbrochen wurden, besonders produktiv – ein Verweis auf die wichtige Rolle der Geisteswissenschaften in dem Krisenmanagement. In der Tat sind diese Formen des Schreibens, zusammen mit der Praxis des Lesens, aus der Perspektive des biological turn der Humanities mit einem sehr alten Brauch der »Kunsttherapie« verbunden. Auch wenn man nicht von echten »Autopathographien« sprechen kann, die ausschließlich die COVID-19-Erkrankung thematisieren, dienen diese Praktiken des autobiographischen Schreibens zwischen »Poesie und Wahrheit« der Behandlung verschiedener Aspekte, die indirekt mit der Coronavirus-Pandemie zusammenhängen. Einer davon ist der Lockdown, der an sich schon an einen morbiden Zustand erinnert, da er Isolation, Distanzierung und Angst vor Ansteckung impliziert. Das Schreiben dient aber auch dazu, dysfunktionale körperlich-geistige Aspekte zu heilen, die durch Corona ausgelöst werden, auch wenn man nicht mit dem Virus infiziert wurde; dazu gehören Angstzustände, Störungen von Zeitwahrnehmung, Dysthymie sowie Depression. Die Verschriftlichung der Gemütszustände, auch wenn sie manchmal für den Anlass erfunden werden, durch die Disziplin des autobiographischen Schreibens und den Rückgriff auf einen bekannten paraliterarischen Filter, der es durch seine Form – auch fiktional – erlaubt, die Realität gemäß beruhigender Binaritäten (Regelmäßigkeit, Datum, Ritual des Schreibens) (neu) zu organisieren, dient dazu, dem Individuum und auch dem Kollektiv Stabilität zu verleihen. Daher kann man im Fall der Corona-bezogenen ›Pandemoirs‹ von einer Autobiographie sprechen, die über die Individualität hinausgeht und die Konnotationen der Kollektivität annimmt, was die typisch relationale Dimension des autobiographischen Schreibens im Anthropozän hervorhebt. Bereits im Frühjahr 2020 erschien eine ganze Reihe von Corona-Tagebüchern, die überwiegend in Kolumnen oder (Blog-)Reihen von Online-Zeitungen, einige später auch in Buchform, veröffentlicht wurden. Nennenswert sind beispielsweise die von Eva Strasser, Thomas Glavinic, Marlene Streeruwitz, Peter Stamm
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sowie Marica Bodrozˇic´, um nur einige Autor:innen namentlich zu nennen (vgl. hierzu Scialdone 2023: 182). Neben diesen individuellen Corona-Tagebüchern, wurden auch mehrstimmige ›Corona-Pandemoirs‹ wie das ab März 2020 auf 54 books.de5 erschienene Corona-Tagebuch Soziale Distanz geschaffen. Ein interessantes Experiment, an dem die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehende österreichische Autorin Kathrin Röggla mitgewirkt hat, stellt in diesem Zusammenhang das vom Grazer Literaturhauses im März 2020 gestartete Projekt »Die Corona-Tagebücher«6 dar. Zu dem damaligen Zeitpunkt, als in Österreich ein erster strenger Lockdown verhängt wurde, der kulturelle Veranstaltungen mit Publikum unmöglich machte, entschied das Literaturhaus Graz, alle österreichischen Autor:innen, deren Buchbesprechungen im Rahmen seines Veranstaltungskalenders während dieser Zeit vorgesehen waren und abgesagt werden mussten, zur Teilnahme an dem Projekt einzuladen. Diese bestand darin, wöchentlich Tagebucheinträge zu verfassen, in denen die Schriftsteller:innen über die Auswirkungen des Lockdowns auf den gesellschaftlichen Zustand, aber auch über das eigene subjektive Erleben der Corona-Ausnahmesituation schreiben sollten. So entstanden im Laufe des Projekts zunächst die Die Corona-Tagebücher. Erste Welle, die den Zeitraum vom 11. 3. 2020 bis 28. 7. 2020 abdeckten und an der 19 Autor:innen7 regelmäßig beteiligt waren. Im Herbst, als die 2. Welle einsetzte und das Projekt fortgesetzt wurde, schufen dann 13 weitere Autor:innen8, die vom 3. 11. 2020 bis 5. 4. 2021 Tagebuch führten, Die Corona-Tagebücher. Zweite Welle. Die Beiträge wurden jeweils freitags auf der Homepage des Literaturhauses in zweierlei Formaten veröffentlicht: zum einen in ihrer vollständigen Fassung und zum anderen in redaktionell betreuter Kurzform. Größtenteils war es Klaus Kastberger selbst, der Projekt- und Literaturhausleiter, der die »gecuttete« Version aus den längeren Einträgen realisierte. Dazu schnitt er aus den Volltexten der Autor:innen jeweils einen Textblock heraus, mischte dann diese unterschiedlichen »Stimmen«, ordnetet sie nach dem Datum und überschrieb den durch diese Collagetechnik von Woche zu Woche geschaffenen »kollektiven
5 https://www.54books.de/soziale-distanz-ein-tagebuch-1/ [Zugriff am 01. 06. 2023]. 6 Detaillierte Informationen und alles Textmaterial – die Voll- und Kurzversionen der Coronatagebücher – sind online abrufbar auf der Homepage des Literaturhauses Graz unter: https://www.literaturhaus-graz.at/die-corona-tagebuecher/ [Zugriff am 01. 06. 2023]. 7 Im Einzelnen handelt es sich um Helena Adler, Bettina Balàka, Birgit Birnbacher, Melitta Breznik, Ann Cotten, Nava Ebrahimi, Valerie Fritsch, Monika Helfer, Lisz Hirn, Lucia Leidenfrost, Christian Mähr, Robert Pfaller, Benjamin Quaderer, Julya Rabinowich, Angelika Reitzer, Kathrin Röggla, Thomas Stangl, Michael Stavaricˇ sowie Daniel Wisser. 8 Dazu zählen Günter Eichberger, Gabriele Kögl, Stefan Kutzenberger, Egon Christian Leitner, Lydia Mischkulnig, Wolfgang Paterno, Birgit Pölzl, Barbara Rieger, Stephan Roiss, Verena Stauffer, Heinrich Steinfest und Hannah Zufall.
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Textkorpus« – wie es auf der Homepage der Literaturhauses9 lautet – zum Schluss mit einem Titel, einem originellen oder bedeutsamen Spruch, den er aus den Texten der Autoren auswählte. »Der Grund, warum wir dieses Projekt auf die Beine gestellt haben, ist einst die Tatsache, dass ich fix davon ausgehe, dass wir diese Reflexionskraft von Literatur auch für die Bewältigung, nämlich für die innere Bewältigung, auch für die soziale und geistige Bewältigung dieser Situation dringend brauchen werden, und dass das sehr angebracht ist«, erklärt Kastberger im Livestream des Literaturhauses Graz Botschaften aus dem Lockdown. Die Corona-Tagebücher im Gespräch (16. 02. 2012). Wie Kastberger weiterhin betont, macht das »interaktive Prinzip des Zusammenschneidens« das Besondere an diesem Projekt aus. Seine Idee war, durch die Zusammenschnitte der Texte einen »Gemeinschaftswahrnehmungskörper« hervorzubringen, in dem die subjektiven Eindrücke, die in den Textblöcken anklingen, wieder zu einem ganzen Gebilde werden. Dieses soll dann zu einem späteren Zeitpunkt die Funktion übernehmen, nicht nur an die Ereignisse, sondern auch an die gesellschaftlichen und individuellen Stimmungen während der Pandemie zu erinnern. Kastberger misst den Corona-Tagebüchern den Wert von Zeitzeugenschaft bei, da in ihnen, wie er im Livestream (16. 02. 2012) hervorhebt, »Geschichte und Gegenwart aufgezeichnet und […] aufgehoben« ist. Der zweite wichtige Aspekt, der dieses Experiment so interessant macht, ist die öffentliche und kollektive Form der Tagebücher, die im Internet veröffentlicht werden und allen Teilnehmer:innen des Experiments sowie den Online-Leser:innen zugänglich sind. Offen bleibt jedoch die Frage, die sich in Anbetracht der an dem Literaturhaus-Projekt beteiligten literarischen Autor:innen stellt, ob es sich wirklich um ein literarisches Produkt handelt. Reicht es, wenn Autor:innen schreiben, um einen literarischen Text zu erstellen? Während des o. g. Livestreams fragt sich in der Tat der an der zweiten Welle der Corona-Tagebücher beteiligte Schriftsteller Stephan Roiss »Wie viel Literatur ist das eigentlich, was wir da machen?« und gibt zu, dass sein »literarischer Anspruch […] für diese Einträge« eigentlich gering [sei – M. P. S.]. Wieviel sprachkünstlerischer Anspruch jeweils dahinter steckt, fragt sich auch der Projektleiter, der den Referenztext für das gesamte Projekt wählt. Den textlichen Hintergrund bildet, so Kastberger (in Livestream: 16. 02. 2012), das vierbändige Werk Das Echolot. Ein Kollektives Tagebuch10 von Walter Kempowski, eine Art polyphones »Zeitpanorama«, in dem der Autor viele verschiedene Stimmen collageartig zusammenfügt, die über die Zeit von 1941 bis 1945 berichten, vom 9 https://www.literaturhaus-graz.at/die-corona-tagebuecher-11-3-2020-bis-5-4-2021/ [Zugriff am 01. 06. 2023]. 10 Der erste Band wurde 1993 veröffentlicht.
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Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion bis zur bedingungslosen Kapitulation. Hier wird »[…] gleichberechtigt […] Geschichte von oben und von unten erzählt und dokumentiert: Es erheben Normalsterbliche ihre Stimme und Personen der Zeitgeschichte, Politiker, Militärs oder Schriftsteller« (Bartels 2005). Obwohl die ›Corona-Pandemoirs‹ kontroverse Reaktionen bei den Kritiker:innen hervorgerufen haben und besonders skeptische Stimmen ihnen sogar wenig Wert beimessen, – »Solche Tagebuchnotate […] nehmen wir meist klaglos hin, wissend, dass ihnen der Zahn der Zeit binnen weniger Monate zusetzen wird und sie alsbald ihren Weg ins Antiquariat finden« (Moritz 2022) – halten wir es dennoch für lohnenswert, diese autobiographischen Zeugnisse näher zu betrachten. Sie repräsentieren schließlich ein interessantes Korpus, »ein bedeutsames anthropologisches Reservoir, sowohl für die Literatur- als auch für die Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte« (Scialdone 2023: 182) und letztlich auch für die Linguistik, das Aufschluss darüber bietet, wie die Corona-Pandemie den Alltag der Menschen beeinflusst, welche Reaktionen, Gedanken und Gefühle sie angesichts des weltweiten Ausnahmezustands ausgelöst hat, was als katastrophal erfahren wurde und wie sie schließlich auch auf die Sprache eingewirkt hat.
3.
Zur Textsorte Tagebuch
»Die Ursprünge des Tagebuchs liegen im Dunkeln« (Boerner 1969: 37). Seine Anfänge werden in der Tagebuchforschung zeitlich unterschiedlich verankert und die Vielzahl der existierenden Definitionen lassen den »hybriden Charakter« (Kalff/Vedder 2016: 235) der Textsorte erkennen, die ein breites Spektrum an Erscheinungsformen umfasst. Obwohl Vorläufer des Tagebuchs weit in die Vergangenheit zurückreichen, tendiert man in der einschlägigen Forschungsliteratur dazu, den »Beginn der modernen Tagebuchliteratur in deutscher Sprache« (vgl. Thanner 2014: 17, Boerner 1968: 45) in der aus dem Pietismus hervorgehenden Empfindsamkeitsbewegung (1740–1790) zu verorten, während der die Diaristik einen enormen Grad an Beliebtheit erreichte (vgl. hierzu Scialdone 2007). Auch wenn die zahlreichen im Lauf der Zeit entstandenen Kategorisierungsversuche immer wieder bemüht waren, für die Textsorte Tagebuch verschiedenen Kriterien festzuschreiben, weist die neuere Tagebuchforschung als einziges grundlegendes Merkmal von diaristischem Schreiben die »Tagestaktung« (Holm 2008: 26), den »Tagesrhythmus« (Holm 2008: 12) aus. So schreibt Christiane Holm (2008: 12), Expertin für Diaristik, »[…] für das Tagebuch ist nicht das herausgehobene Ereignis, sondern die an sich sinnfällige Zeiteinheit
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des Tages einen Eintrag wert«. Dennoch lassen sich einige Aussagen machen, die allgemein auf das Tagebuch zutreffen, eine facettenreiche Textsorte mit einem »geringen Standardisiertheitsgrad« (Fandrych/Thurmair 2011: 265): Tagebücher bestehen aus einer Reihe von mehr oder weniger regelmäßigen, in Tages-Form chronologisch angeordneten Einträgen, die von Tagebuch-Schreibenden zu verschiedenen Themen und Denkinhalten verfasst werden (Fandrych/Thurmair 2011: 265). Vielfältig sind auch die Beweggründe und Intentionen, die zur Tagebuchführung anregen. Bevor es in den 1990er Jahren seinen Internetauftritt erlebte, unterschied man häufig zwischen: privaten bzw. persönlichen Tagebüchern, die von Personen verfasst wurden, die dem öffentlichen Leben fern standen; politisch-publizistischen Tagebüchern, die der Image-Konstruktion öffentlicher Personen dienten sowie literarischen Tagebüchern, die eine eigene literarische Gattung repräsentieren und von Anfang an mit der Intention einer Veröffentlichung nach vorheriger Editierung und Filterung verfasst wurden. Diese Abgrenzungen haben sich seit dem Erscheinen von Online-Tagebüchern bzw. Blogs, die nicht (nur) für die eigene Rezeption erstellt werden, stark verwischt. Vor allem ist die Distinktion zwischen öffentlichem und nicht öffentlichem Tagebuch hinfällig geworden (vgl. Fandrych/Thurmair 2011: 264–265). Differenziert wird weiterhin zwischen lebenslangen und temporären Tagebüchern. Erstere, ob Tagebuch oder Blog, haben fragmentarischen Charakter: Ihr erster Tag ist klar definiert, ihr Ende – »und dies teilen sie mit dem Leben – bleibt dagegen prinzipiell offen« (Holm 2008: 27). Letztere werden durch ein »umwälzendes äußeres Ereignis initiiert sind« und wollen »solange Zeugnis ablegen […], bis sich die Umstände normalisieren«11 (Holm 2008: 40). Tagebücher werden gern mit der Autobiographie verglichen, von der sie sich jedoch unterscheiden: Während Autobiographien retrospektiv, aus einer gewissen Distanz zu den Ereignissen entstehen, stellen Tagebucheinträge »Aufzeichnungen der Jetztzeit« (Sepp 2016: 23) dar. Kalff/Vedder (2016: 235) vertreten die Ansicht, dass alle Tagebücher, auch jene von diskutabler Qualität, literarisch sind, da autobiographische Texte fiktionale Elemente enthalten und sich der Entwurf der eigenen Identität mancher Schriftsteller:in kaum anders liest als der einer Romanfigur. Als autobiographische Texte sind Tagebücher grundsätzlich referentiell. Sie haben einerseits eine »expressiv-sinnsuchende Funktion« (Fandrych/Thurmair 2011: 266), die sich in einer subjektiv-deutenden und bewertenden Auseinandersetzung der Tagebuchführenden mit der sie umgebenden Außenwelt, der 11 Hierzu zählen auch Tagebücher, die in von Umbrüchen – meistens Krisen – gekennzeichneten Lebensphasen geschrieben werden wie z. B. in der Pubertät oder der Midlife-Crisis (vgl. Holm 2008: 45).
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Dokumentation, Reflexion und Thematisierung eigener Erlebnisse, Gefühle, Stimmungen, Vorstellungen, Hoffnungen, Ängsten, etc. konkretisiert. Andererseits besitzen sie dokumentarischen Charakter bzw. eine »Erinnerungsfunktion« (Holm 2008: 12). Sie wollen Zeugenschaft über Erlebtes im Detail ablegen, dass in der »großen« Geschichtsschreibung unberücksichtigt bliebe. Online-Tagebücher, die für ein Publikum bereitgestellt werden, verfügen zusätzlich noch über eine »unterhaltende Textfunktion« (Fandrych/Thurmair 2011: 265–266), die Androutsopoulos (2009: 430–431) metaphorisch als »Spektakel« bezeichnet. Tagebücher, ob im papiernen oder digitalen Format, sind »offene Textformen, die auch schriftfremdes Material aufnehmen können« (Holm 2008: 26). Während erstere oftmals Fotos, Zeichnungen, Eintrittskarten usw. enthalten, werden in letztere gern digitales Bild-, Ton-, Text- und Filmmaterial aufgenommen sowie Verlinkungen zu anderen Webseiten hergestellt (vgl. Holm 2008: 26, Kalff/Vedder 2016: 236). Sprachlich sind Tagebücher sehr individuell gestaltet und, was als charakteristisch für die Textsorte gilt, dialogisch angelegt. Sie setzen grundsätzlich einen Adressaten voraus und simulieren, wie Kalff/Vedder (2016: 238) unterstreichen, »im Medium der Schrift das mündliche Selbstgespräch«. Wie bereits angeführt, hat das Tagebuchschreiben in Zeiten der CoronaPandemie eine neue Hochkonjunktur erlebt und das Panorama der Tagebucharten hat sich um das Corona-Tagebuch erweitert. Ein Blick auf die Ergebnisse einer Websuche mit Google zeigt, dass die Bandbreite der Corona-Tagebücher sehr umfassend ist: Sie reicht von rein subjektiven Diarien von Einzelpersonen, über therapeutische Tagebücher (für oder über Corona-Patienten), von Intensivpflegepersonal verfasste Erfahrungsberichte über Krankheitsverläufe ihrer Patienten oder Quarantäne- und Symptom-Tagebücher für positiv auf COVID19 Getestete, von Presse und Fernsehsendern herausgegebene Corona-Tagebücher (z. B. das von Das Erste veröffentlichte Weltspiegel-Corona-Tagebuch12), in denen regelmäßig über die Ausbreitung des Virus an verschiedenen Orten der Welt berichtet wurde, bis hin zu literarischen Corona-Tagebüchern, auf die bereits eingegangen wurde. Die Vielzahl der Corona-Tagebücher – ein »Krisenphänomen« (Kreuzmair 2020) – sind online verfügbar, also bewusst für die Öffentlichkeit verfasst worden, denn »[s]chließlich tragen Tagebücher dazu bei, kollektive Katastrophen wie Kriege, Revolutionen oder Pandemien zu bewältigen« (Schlösser 2022). Und obwohl sie, wie bereits erwähnt, nicht immer positive Wertungen erfahren haben, stimmen wir mit Annica Bromann (2020) überein, die anmerkt:
12 https://www.ardmediathek.de/video/weltspiegel/corona-tagebuch-1-mein-new-york-mit-co rona/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3dlbHRzcGllZ2VsLzJhYjY5YmY2LTZlYzAt NGU3My1hNGQ2LWVkMjMwNDlkNGVkMA [Zugriff am 01. 06. 2023].
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[…] Corona-Tagebücher [ermöglichen – B.W.] auch schon Tage nach ihrer Veröffentlichung ein kollektives Erinnern an gemeinsam erlebte Maßnahmen, vertraute Gedankengänge werden dort noch einmal aufgerollt; sie […] geben Einblick in einen veränderten Alltag, dem die aktuell Lesenden bereits selbst ausgesetzt sind. Dementsprechend tragen sie zur Stiftung einer kollektiven Identität bei und dienen als Orientierungshilfe, funktionieren aber vor allem als (kulturelle) Archive für folgende Generationen, indem die Tagebücher als gewählte Publikationsform Authentizität und Teilhabe vermitteln können.
Nicht zum ersten Mal erweist sich das Tagebuch als eine der bevorzugten Ausdrucksformen in epidemischen Krisenzeiten. Bereits der englische Schriftsteller Samuel Pepys, auf dessen Tagebuch in diesem Zusammenhang gern verwiesen wird, wirft in seinen Einträgen Licht auf die Große Pest von 1665 in London. Eckhard Schuhmacher (2022: 18) begründet die starke Verbreitung des OnlineTagebuchs als bevorzugten Schreibort während der Corona-Pandemie wie folgt: Der Rekurs auf ein etabliertes, spätestens seit Samuel Pepys Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert zudem epidemieerprobtes Medium ermöglichte es, den global zirkulierenden Bedrohungsszenarien mit einer individuell begrenzten, selbstständig fokussierten Perspektive zu begegnen, die durch die Veröffentlichung auf eingeführten Websites, in Blogs und in den Sozialen Medien aber zugleich den Anschluss an andere oder auch den öffentlichen Diskurs ermöglichte – über die vermeintlich eigene Filterblase wie über weiter ausgreifende Netzwerke digital vermittelter Kommunikation. Als Medium der Fokussierung auf die Gegenwart, mit dem man das, was aktuell passiert, Tag für Tag festhalten kann, in dem Veränderungen (wie auch deren Ausbleiben) schrittweise notiert, reflektiert und, gegebenenfalls gleich am nächsten Tag, revidiert werden können, wirkt das im Netz veröffentlichte Tagebuch der krisenhaften Situation auf besondere Weise angemessen.
4.
Die »Sprachkünstlerin« Kathrin Röggla
Die Tagebuchaufzeichnungen der österreichischen, 1971 in Salzburg geborenen und in Berlin, seit 2020 auch in Köln, lebenden Schriftstellerin Kathrin Röggla13 sind, wie schon hervorgehoben, im Rahmen der mehrstimmigen Corona-Tagebücher der 1. Welle entstanden. Unsere Untersuchung stützt sich auf ihre im Wochentakt veröffentlichten Gesamttexte. Die mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin hat »die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit bedeutend mitgeprägt« (Balint 2022: 127) und wird von der Literaturkritik gern als »engagierte« Autorin betrachtet. Sabrina Wagner (2015: 35) versteht darunter die »eindeutige Bezugnahme […] auf 13 Weitere Informationen zur Biografie Kathrin Rögglas unter: https://www.kathrin-roeggla.de /biobib [Zugriff am 01. 06. 2023].
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gesellschaftlich-politische Kontexte mit dem Ziel der Aufklärung […] und der Veränderung des Status quo«. In ihren genreübergreifend gestalteten Arbeiten fokussiert Röggla, oft aus medien- und ideologiekritischer Perspektive, aktuelles Zeitgeschehen und gesellschaftliche Debatten in »ihrer eigenwilligen, in früheren Texten bereits erprobten Sprache, einer reflektierenden Mischung aus umgangssprachlichen, szenischen, wissenschaftlichen und literarischen Schreibund Sprechweisen« (Eisenmann 2002). Sie wird daher gern als »Spracharbeiterin« (Degner/Gürtler 2021: 8), »Sprachkünstlerin« (rlp.de 11. 03. 2022), »Sprachverschieberin« (Behrendt 2003) bezeichnet, »eine Meisterin der Sprache […] für die originelle Redewendungen, vielfältige Sprachspiele, die Verbindung von unterschiedlichen Erzählstilen und der Gebrauch von interessanten Neologismen« (Wojno-Owczarska 2013: 362) ein typisches Merkmal sind. Wichtige Anregungen erfährt Rögglas eigentümliche Sprache, wie Wojno-Owczarska (2013: 362) auf den Punkt bringt, »[…] aus dem Alltag eines ›Durchschnittsbürgers‹, aus den Fernsehnachrichten, der Werbung, den Gesprächen auf der Straße, dem Slang der Jugendlichen und den Fachsprachen«.
5.
Zu der Tagebuch-Struktur und Rögglas diaristischen Erzählmerkmalen
Kathrin Rögglas Corona-Tagebuch kann den temporären Tagebüchern zugeordnet werden. Die zeitliche Periode der Aufzeichnungen trifft jedoch nicht mit dem Beginn und dem Ende der Pandemie zusammen, sondern ist durch die Dauer des Projekts des Grazer Literaturhauses begrenzt, wie Röggla nicht ganz ohne Ironie im letzten Teil ihrer Aufzeichnungen anmerkt: (1)
Nein, die einzige, die hier etwas beendet, bin ich. Und zwar vorsorglich dies Tagebuch, obwohl man Tagebücher eigentlich nicht beendet, aber öffentlich geführte, im öffentlichen Auftrag geführte dann doch, weil Projekte im Gegensatz zu Pandemien und ihren Auswirkungen ein Ende haben (T15: 30–3114).
Das Tagebuch setzt sich aus 15 Gesamttexten zusammen, die teils mit Datum und einem Titel überschrieben sind, wobei das Datum mal auf einen einzelnen Tag beschränkt, mal auf zwei oder sogar mehrere Tage ausgedehnt ist. Es enthält eine große Vielfalt an für Rögglas Werke charakteristischen Themen, – die »mediale« Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens und des politischen Alltags, Klimawandel, Artensterben, Flüchtlingskrisen und Migration, Rechtspopulismus, das Leben in einer von Marktlogik dominierten Gesellschaft –, die gleich im 14 Fortan werden die Textpassagen aus den Tagebucheinträgen unter Angabe der Sigle T (für Teil), ihrer wöchentlichen Nummerierung und der jeweiligen Seitenzahl angegeben.
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ersten Eintrag mit dem Titel »Geisterflüge« anklingen, in dem Röggla über die Schließungen und der daraus resultierenden Folgen kultureller, kommerzieller und handwerklicher Aktivitäten in der deutschen Hauptstadt reflektiert. Rögglas Tagebuchaufzeichnungen sind vielschichtig und komplex: Ernstes, Komisches, Tragisches mischen und verschränken sich und auch weitreichende poetologische Überlegungen sind in »diesem Journal« – wie Röggla es nennt – enthalten: ein »Hin- und Herschlingern zwischen Aktualität, Spekulation, Szenarien und reiner Phänomenologie sowie scheiternden Analyseversuchen« (T2: 32). In den Einträgen stehen die beiden Pole der Referenzialität – Gesellschaft und Individuum – in einem engen Wechselverhältnis. In Reflexionen über ihre persönliche pandemiebedingte Lebenssituation fließen immer auch Betrachtungen des globalen Geschehens ein und umgekehrt. Der individuelle Mikrokosmos ist eng verknüpft mit dem gesellschaftspolitischen Makrokosmos, und Röggla zeigt immer wieder, wie das Große das Kleine beeinflusst. Oft geschieht dies in ihrem erzählerischen Raum in Form abrupter Szenenwechsel, filmtechnisch als beschleunigte Montage bezeichnet. In der Tat gestalten sich die Aufzeichnungen der Autorin an vielen Stellen wie Aneinanderreihungen von scheinbar zusammenhanglosen Szenen: ein Zeichen »des Kinostils in ihrem Schaffen« (Wojno-Owczarska 2013: 350), ein typisches Merkmal der Erzählweise von Kathrin Röggla. Während sie zum Beispiel über Lieferengpässe und Warenknappheit – wie den Mangel an Dichtungsringen oder Toilettenpapier – schreibt, die durch Grenzschließungen oder Hamsterkäufe verunsicherter Menschen bedingt sind und wovon sie persönlich in ihrem Pandemie-Alltag betroffen ist, dient ihr ein Gespräch mit ihrer Schwägerin als Anlass, um die Tür zum Großen, zum Weltgeschehen aufzustoßen und auf globale Missstände wie den Klimawandel zu verweisen: (2)
Jetzt gibt es viel Konkretion. Tagesabläufe der Kinder gilt es erstaunlich lange zu strukturieren, das läuft nicht von alleine, das Haus ist immerhin schon etwas eingerichtet, aber andauernd brauchen wir Sachen wie Dichtungsringe, die man bald nicht mehr so einfach kriegt, was ich von dem Lieferservice höre – die machen auch dicht. Keine Klopapierprügeleien habe ich erlebt, allerdings auch sehr wenig Klopapier im Angebot, und von meiner Japanologen-Schwägerin, die aus Paris geflohen im Nachbarort sitzt, den amüsanten Satz gehört: »Immer wenn Krise ist, fehlt das Klopapier.« Damals 1973 bei der Ölkrise sei auch in Japan das Klopapier ausverkauft gewesen. Ansonsten kursieren hier am Dorf leider Mechaniker-Sätze wie »Solange das nicht verboten ist, machen wir es so«. […] Wir führen eine Übung in Voraussicht durch. Jetzt drastische Maßnahmen ertragen, damit es in zwei Monaten nicht zur Katastrophe kommt, kann uns vielleicht beibringen, wie man Maßnahmen erträgt, damit es in acht Jahren zu keiner Klimakatastrophe kommt (T2: 32–33).
An der ein oder anderen Stelle ist deutlich erkennbar, dass Röggla der Aufgabenstellung des Grazer Literaturhauses folgt und ihr Schreiben nicht durch-
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gängig spontan ist, z. B. wenn sie anmerkt: »Fassen wir das laufende Tagesgeschehen also zusammen: […]« (T12: 24) oder »Jetzt zur Analyse, Frau Röggla! Wo bleibt die Analyse – Analyse?« (T11: 23). Das Tagebuch der Autorin weist stark dialogische Züge auf. Selbstgespräche treten in ihren Aufzeichnungen sehr eindeutig in Erscheinung, wie nachstehender Textauszug deutlich macht, wo nicht nur der Titel der Eintragung – »Selbstgespräche« –, sondern auch die erneute Nennung des Wortes im ersten Satz, die Verwendung des Personalpronomens in der Pluralform – »wir« (statt »ich«) – sowie das verbum dicendi »unterhalten« explizit auf diese Form des Dialogs mit sich selbst verweisen: (3) 30. 6. Selbstgespräche Wir müssen uns über Stigmatisierung unterhalten, begann ich mein Selbstgespräch, bevor wir uns über Fragen der Übersterblichkeit unterhalten (T14: 25).
Dialogizität entsteht in Rögglas Tagebuch jedoch nicht nur durch Selbstgespräche, auch simulierte stark dialogisch gestaltete Zoom-Sitzungen (T7), Telefongespräche (T6: 29; T12: 22–23), Face-to-Face Gespräche mit anderen Schriftsteller:innen (T13: 29) oder nicht identifizierbare, »auf talking heads reduzierte […] Stimmen« (Michler 2021: 107) – eine wichtige Gestaltungsressource in den Werken der Autorin – tragen dazu bei. Ständig kommen in den Tagebuchtexten – allesamt komplexe Diskurslandschaften – Personalpronomen, das Indefinitpronomen »man«, »Ichs« ohne Identität zu Worte, sodass es schwierig ist, eine konkrete Sprechinstanz zu identifizieren und Vagheit aufkommt, wie folgender Eintrag deutlich macht, wo ein dialogisches »Gegenüber«, ein »er«, in Erscheinung tritt und unklar ist, wer sich dahinter verbirgt: (4)
Wir müssen uns über Stigmatisierung unterhalten, sage ich auch später mehr zu mir als zu meinem Gegenüber, das längst begeistert über dem »Brennglas Corona« hängt. Aufklärung der Fleischfabriken Europas, über die ganze Lebensmittelindustrie! Hier wird nicht nur besonders viel ausgeatmet und eingeatmet, nah bei einander. Die herrschenden Verhältnisse machen krank. Ach guck! »Wir müssen uns über Stigmatisierung unterhalten«, versuche ich es also, »dann kommt die Übersterblichkeit dran.« Er allerdings meint, ich solle mal erst einmal Ordnung in meine Zahlen bringen (T14: 26).
Obwohl Röggla die in ihren Notaten fokussierten Situationen und Erlebnisse zwar aus der für die Textsorte Tagebuch charakteristischen Ich-Perspektive schildert, gelingt es ihr gerade durch die Einbringung dieser nicht verortbaren Stimmen, häufig gekoppelt an einen ständigen Wechsel zwischen direkter und indirekter Rede, sowie die für Röggla typische Verwendung des Konjunktivs, »›wackelige[…]‹ Sprechposition[en]« (Kormann 2017: 124) zu schaffen, die an der ein oder anderen Stelle auch gespenstische Züge annehmen können. Dieses Schreibverfahren ermöglicht es der Autorin, kaum durchschaubare Gegen-
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wärtigkeiten hervorzubringen, die ihre Leser:innern überfordern, Denken in Wahrnehmungskategorien verhindern (Kormann 2017: 125) und das Aufkommen von Empathie unterbinden.
6.
Der Gesellschaftszustand im Lockdown: Kathrin Rögglas Betrachtungen
Eines der vielen Themen, das Röggla in ihren Beobachtungen der Auswirkungen des Corona-Lockdowns auf den gesellschaftlichen Zustand näher fokussiert, ist die »mediale« Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens und des politischen Alltags während der Pandemie und damit einhergehend die in den Medien zum Einsatz kommende Sprache. In dieser Zeit, als Virologen und Epidemiologen versuchten die Krise zu deuten, Politiker kundgaben, was ihnen die Wissenschaftler an die Hand gaben, Unsicherheit grassierte und die Medien, denen Röggla äußerst kritisch gegenübersteht, Panik und Angst vor dem Virus schürten, bemängelt die Autorin, dass ein breites Spektrum an Themen, zum Großteil politisch aufgeladene, komplett in den Hintergrund gedrängt wird. Alle Aufmerksamkeit ist auf das Virus gerichtet – es wird »nur durch die Corona-Brille gesehen« (T11: 23) – was Röggla mehrfach in ihrem Tagebuch, oft mit beißender Ironie, zum Ausdruck bringt wie in nachstehender Reflexion über die in der Coronakrise entstandenen Neulexeme, auf die Röggla mehrmals in ihrem Tagebuch eingeht: (5) 04. 2020 Neue Worte: Nullpatient, Herdenimmunität, Reproduktionszahl, Seuchensozialismus, #togetheralone. Alte Worte: Folgeschäden, zweite Welle, Virus nach dem Virus. Halbneue Worte: Kriegserklärung, Remesdevir, Chloroquin, Antikörpertests. Neue Worte: Corontäne, Lockerung in Stufen, mysteriöses Vogelsterben. Halt, das gehört hier nicht rein. […] Sehr alte Worte: EU-Außengrenze, Flüchtlingsdrama, Außengrenze […] (T6: 28).
Es überrascht daher nicht, dass Röggla in Bezug auf die von den Medien ausgehende Informationsflut über die Ausbreitung des Coronavirus von »sprachlichen Ansteckungsmühlen« (T4: 36) spricht, die Sprache gar als »größte[n] Verteiler« (T4: 34) der Krankheit bezeichnet. Sie nimmt die deutsche Gesellschaft als eine »Gesellschaft der Angst« wahr, wie Wojno-Owczarska (2021: 58–62) hervorhebt, »für die literarische Katastrophendiskurse und die Furcht vor einer globalen Krise charakteristisch sind«. Die rasch aufeinanderfolgenden und teils miteinander verflochtenen Krisen der letzten Jahrzehnte – die Euro-, die Klima-, die Corona- und seit neuestem die Energiekrise – haben bei vielen Menschen Zukunfts- und Existenzängste ausgelöst und sie in permanente »Alarmbereitschaft« (Wojno-Owczarska 2021: 58)
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versetzt, sie anfällig werden lassen für Katastrophenerzählungen und populistische Verschwörungstheorien, die wiederum von den Medien verbreitet werden. Bereits 2006 erklärte Röggla in ihrem Essay die rückkehr der körperfresser, damals noch komplett in Kleinschrift, dass sie daran interessiert sei, zu zeigen, wie man auf »Katastrophenerzählungen« reagiere: (6)
doch wenn die politischen erzählungen unserer zeit katastrophenerzählungen gleichen, wenn […] die katastrophenerzählung die matrize ist, das muster, in dem die dinge sich uns vermitteln, […] – wie sieht es dann mit uns aus? wie reagieren wir darauf ? was machen wir? (Röggla 2006: 33–34).
Das Katastrophengenre beschreibt Röggla als »das genre, das uns beschäftigt hält – ob mit vogelgrippen, tsunamis, hurricanes, zyklonen, erdbeben, […] terrorismen, börsenkrächen und schuldenpaniken […]« (Röggla 2006: 33–34). Dabei spielen die Massenmedien eine entscheidende Rolle, weil sie zur Vergrößerung dieser »hysterisierung« beitragen, indem sie vom »virus der hysterischen dramaturgie, der panik« (Röggla 2006: 36) infiziert werden und diesen verbreiten. Aus diesem Grund müssen wir diese »katastrophengrammatik« lernen – wie Röggla schreibt –, »weil sie sowieso gesprochen wird, weil sie unser täglich brot ist« (Röggla 2006: 50). Diese »Grammatik der Ausnahme« (Lewandowski 2017: 54), die die Autorin zu ergründen und zu entlarven versucht, fokussiert sie in mehreren ihrer Werke (z. B. in den Prosabänden die alarmbereiten (2010) und Nachtsendung (2016)), poetologischen Reflexionen und Essays. Auch in ihrem Corona-Tagebuch, gleich im ersten Eintrag, verweist Röggla darauf, indem sie einen intertextuellen Bezug – ein beliebtes erzählerisches Gestaltungsmittel der Autorin – zu der amerikanischen Schriftstellerin, Regisseurin und Menschenrechtsaktivistin Susan Sontag herstellt, die sich mit kulturellen Phänomenen befasste: »Da sind wir schon wieder mitten bei Susan Sontag, allerdings bei ihrer »Lust am Katastrophischen«, dem Essay über den Katastrophenfilm aus den 60ern. Misstrauen wir also in unserem Tunnel den Fiktionen, zumindest wenn es Hollywoodfiktionen sind!« (T1: 34). Als Röggla ihr Tagebuch schrieb, war die Katastrophe, der Ausnahmezustand, tatsächlich eingetreten. Pandemiebedingte Schließungen in großem Umfang und die weitreichende Lahmlegung des öffentlichen Lebens im März 2020 haben in der Bevölkerung Unsicherheit und Angst erzeugt, weshalb sie die Gegenwart mehrfach als »Zeitalter der Angst« (T9: 27–28) definiert, in dem »Innenangst und Außenangst zusammenstößt wie bei uns derzeit« (T9: 27–28). Um zum Ausdruck zu bringen, wie die Mehrheit der Bevölkerung den coronabedingten Ausnahmezustand erlebt, greift die Autorin in ihrem Tagebuch auf unterschiedliche sprachliche Darstellungsmittel zurück, zu denen die Verwendung von Metaphern zählt. Bereits im ersten wöchentlichen Gesamttext wird diese Erfahrung als »[e]ine Zeit im Bunker« (T1: 33) konzeptualisiert, womit das
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Schockerlebnis des Lockdowns in den Bereich des Krieges gerückt wird, der dann auch im gleichen Satz namentlich genannt wird, »es sei wie im Krieg« (T1: 33). Auf diese Weise werden die Maßnahmen zur Bekämpfung und zur Verlangsamung der Ausbreitung des Coronavirus als ein Kampf gegen einen Feind konzeptualisiert, denn Bunker dienen dazu, eigene Kampfstellungen zu festigen und vor Angriffen des Gegners zu schützen. Dies bestätigt, was mehrere linguistische Studien (vgl. z. B. Klosa-Kückelhaus 2021: 45–46) hervorheben, dass als Metaphernspender im Diskurs rund um die COVID-19-Pandemie der militärische Kontext eine wichtige Rolle spielt. Andrea Abel unterstreicht in einem Interview, dass dies nicht unbedeutend ist, denn auf diese Weise entsteht ein »[s]prachliches ›Framing‹ – die Schaffung eines Deutungsrahmens« (in Baumgartner 2020), das nicht nur die Wirklichkeitswahrnehmung beeinflusst, sondern auch die Perspektive festlegt, aus der ein Phänomen betrachtet wird. Dass sich Röggla dieser Beeinflussungsmechanismen bestens bewusst ist, geht aus ihrem Eintrag vom 22.3. deutlich hervor: (7)
Diesmal ist es global. Es ist kein territorialer Angriff, sondern verbreitet sich flächendeckend. Die Kriegsmetaphorik ist bereits da, wo in der Zeit vom elften September die Virenmetaphorik war. Sprachen wir damals von einer viralen Verbreitung der Bilder, sprechen wir heute von einem kriegerischen Angriff durch einen Virus, und von einem Krieg gegen den Virus, den es zu gewinnen gilt. Grenzen werden dicht gemacht, als könnte man ihn dadurch eindämmen, Kontrolle ist jetzt alles (T3: 32).
Indem die Autorin in ihren Tagbucheinträgen häufig auf die Kriegsmetaphorik rekurriert, macht sie auf eine Zeit der Umkehr aller Werte aufmerksam, in der viele Menschen, trotz augenscheinlichem Altruismus und Solidarität, bekanntlich verrohen. In der Psychoanalyse wird dieses Phänomen als Soldatenmatrix bezeichnet, eine »dehumanisierende Spaltung und der Verlust von Schuldgefühlen und Schamlosigkeit« (Siniawski 2022). »Die Teilnahme an Aggression oder das Leiden an deren Folgen färbt emotional und kognitiv die ganze Gesellschaft. Alle Matrix-Teilnehmer werden zu Soldaten« (Friedman 2018: 7), d. h. das Menschliche verschwindet hinter Brutalem. Durch die Verwendung dieser Metapher entlarvt Röggla die Abgründe menschlichen Verhaltens, die während der Pandemie nicht selten zutage traten. In diese Richtung zielt auch die Verwendung der bildhaften Paarformel »ein Hauen und Stechen«, die auf heftige und brutale Auseinandersetzungen verweist, womit Röggla die Reaktionen der Gesellschaft im Zustand permanenter Angst während der Pandemie passend auf den Punkt bringt: (8)
Man lebt auf Zuruf, organisiert den Zeitvertreib der Kinder über whatsapp und Mails und erzählt sich so ganz nebenbei die Situation, wie sie ist, berichtet von den Grätzelkonzerten in Italien, wo junge Menschen Fenster öffnen und ein Instrument
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spielen und darauf warten, dass der Nachbar und die Nachbarin neben ihnen einsteigt. Es gibt überhaupt so ein neues Gemeinschaftsgefühl, das allerdings ganz nahe an dem Trennenden entsteht, dem Egotrip, dem Hauen und Stechen, dem dann mit autoritärer Aktion begegnet werden muss, maßregelnde Blicke, der Ruf nach Polizei (T1: 33–34).
Obwohl die Menschen zu Beginn der Pandemie im Zeichen von Solidarität enger zusammenrückten – das Virus schien quasi zur Stiftung einer kollektiven Identität beizutragen –, erweist sich dieses Zusammengehörigkeitsgefühl schnell als ambivalent: Misstrauen und die Angst vor Ansteckung durch die Mitmenschen breiten sich aus. Neben Metaphern bedient sich die Autorin noch weiterer individueller Darstellungsverfahren, um den gesellschaftlichen Zustand im Lockdown zu verdeutlichen. Dazu zählt die Schaffung einer Dimension des Gespenstischen, des Unheimlichen, die »einem Zeitgeist allgemeiner Verunsicherung Ausdruck [verleiht]« (Paß 2021: 123) bzw. »[…] sich als eine kollektive Paranoia [manifestiert – B. W.]« (Schöll 2019: 113) und gleich zu Beginn ihrer Aufzeichnungen in Erscheinung tritt. Elemente des Gespenstischen, des Unheimlichen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Tagebuch und nehmen überhaupt viel Platz im künstlerischen Schaffen der Autorin ein, was der 2021 erschienene Sammelband Gespenstischer Realismus. Texte von und zu Kathrin Röggla, herausgegeben von Uta Degner und Christa Gürtler, belegt. Zu Rögglas Strategien, das Gespenstische durch Sprache zu evozieren, zählt die Verwendung und Bildung von Kompositabildungen. Bereits im ersten Eintrag, der den Titel »Geisterflüge« trägt, sind mehrere Nominalkomposita enthalten, die nach dem Muster Geister- + x gebildet wurden, neuen Wortbildungen, die im Corona-Kontext entstanden sind: (9) 22. 3. Geisterflüge, Geisterkonzerte, Geisterspiele, Geistermiteinander. Hoffentlich unterhalten wir stabile Kontakte in die Geisterwelt (T3: 32).
Nach dem gleichen Prinzip schafft die Autorin selbst weitere solcher Wortschöpfungen mit dem Bestimmungswort Gespenst- + x, die in mehreren Notaten auftreten: (10) Der Vertrauensverlust beschädige die Wirtschaft weitaus mehr als der kurze reale Einbruch durch den Shutdown, und schon wieder sprechen wir über Psychologie und Märkte, und wenn diese Rede anhebt, dann wird es wirklich schlimm. Klar ist, seit ungefähr drei Monaten taucht jede Woche ein neues Gespenst auf, es ist ein regelrechter Gespensterwechsel entstanden (T10: 25).
Viele der von Röggla verwendeten Geister- und Gespensterkomposita sind im Neologismenwörterbuch des Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch
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(OWID15), des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) enthalten. Sie referieren allesamt auf Aktivitätsbereiche, die aufgrund von Sanktions- und Präventionsmaßnahmen im Zuge der COVID-19-Pandemie ohne die sonst Anwesenden bzw. ganz ohne Publikum stattfinden oder mithilfe von Videokonferenzsystemen und Onlinelernplattformen in den virtuellen Raum verlagert werden mussten. Das Gespenstische wird in den Tagebuchaufzeichnungen der Autorin aber nicht nur im lexikalischen Bereich explizit durch Wortkomposita hervorgerufen, sondern nimmt auch noch andere Facetten an. So ergibt es sich auch auf topographischer Ebene – ein typischer Kunstgriff in Rögglas Schreiben (vgl. Schöll 2019: 107) – und erweist sich vor allem in von Paranoia geprägten Pandemiezeiten als sehr zeitgemäß. Wie Schöll (2019: 112) betont, muten die Texte der Autorin auf einen ersten Blick topographisch betrachtet sehr wohl als realistisch an, da sich ihre Figuren und Erzählstimmen an realistischen Orten aufzuhalten scheinen. Irgendwann jedoch schwindet »das Reale als Gewissheit« im Verlauf der Texte und das Unheimliche tritt in Erscheinung, »und dieser Prozess wird eingeleitet über die Auflösung topographischer Gewissheit« (Schöll 2019: 112). Genau das geschieht auch in den Tagebucheinträgen, wo sich der topographische Standort der Erzählinstanz nicht klar ausmachen lässt. Mal scheint sich das Tagebuch-Ich in Berlin aufzuhalten, dann plötzlich auf dem Land und schließlich wiederum in Kassel, der documenta-Stadt, die im Zuge der bundesweiten Schließungen und den Maßnahmen zum Schutz vor Corona-Ansteckung selbst gespenstische Züge annimmt, die an Horror- oder Zombiefilme erinnern: (11) Das war in Kassel, glaube ich, also ich war in Kassel, nach dem, was man mir sagte und was draufstand, als ich in die Stadt reinfuhr mit Krankenwagen, überstellt aus der anderen Klinik. Nichts erinnerte an die Stadt, die ich von der documenta und von Stadttheaterbesuchen her kenne. Es wirkte gleichzeitig leer und voll, verschmutzt, hitzig, alles war verrammelt, und die Bahnhofsbäckerin, hinter drei Glasscheiben und zahlreichen Hinweisschildern versteckt, erzählte mir durch ihren Mundschutz hindurch von ihrer Lungenkrankheit, sie sei Teil der Risikogruppe und wisse auch nicht mehr, wie lang das mit ihrem Backshop noch gehe. Die wenigen Menschen am Hauptbahnhof waren viele, zu viele, aber dann kam der Zug und nahm mich wieder zurück aufs Land (T5: 30).
Unheimlich wirkt auch das Virus selbst, das von den Medien als gespenstisch inszeniert wird, indem es ständig mutiert und die Gestalt wechselt, wenn es darum geht, die COVID-19 eindämmenden Maßnahmen zu befolgen. Denn schließlich ist es die Angst, »als sozial verbindendes Hauptgefühl, als politisches Vehikel, mit dem alles zu transportieren ist« (Wojno-Owczarska 2021:58). Um diesen Effekt in ihren Einträgen zu simulieren, bedient sich Röggla abermals 15 https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp# [Zugriff am 01. 06. 2023].
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Metaphern, in der Form der Personifikation, die Lakoff und Johnson (1980: 33) zu den ontologischen Metaphern zählen. Röggla verleiht dem Coronavirus menschliche Züge und lässt ihn als mächtigen Diktator in Erscheinung treten (»Was heißt das, wir leben unter dem Diktat des Virus?« (T7: 28)), der nicht nur die Kraft eines »Booster[s]« (T3: 36) besitzt, sondern dessen Allmacht sich weltweit ausbreitet und gravierende Probleme determiniert (»Eine Ungleichzeitigkeit ist ausgebrochen und verteilt sich unter der Flagge des Virus über den Globus« (T3: 35)). Er erscheint wie ein Krimineller auf der Flucht, ein »Brandbeschleuniger einer sozialen Krise« (T12: 23), der dann entweder in den Menschen Unterschlupf sucht (»Der Virus habe sich in ihnen versteckt halten können, heißt es merkwürdigerweise, und es sei zu einem Wiederausbruch gekommen […]« (T5: 29–30)) oder sich unter sie mischt (»[…] dort sitze sie, die Viruslast […]« (T9: 29)). Erst im Sommer 2020, als nahezu alle Schutzmaßnahmen aufgehoben wurden, verliert das Virus seine angsteinflößende Kraft. Es wird in der Repräsentation seitens der Medien in seiner Gefährlichkeit entschärft und die Pandemie mit all ihren Kollateraleffekten in den fiktiven Raum verlagert, nahezu romantisiert, mit dem Ziel, den Kapitalismus fortzusetzen, um die gesellschaftlichen Prä-Pandemie-Verhältnisse, die allgemein als »Normalzustand« bezeichnet wurden, wiederherzustellen – ein Verhalten, das Röggla mit scharfer Ironie anprangert: (12) »Der Lockdown war nur ein erstes Kapitel in einem langen Roman«, lese ich als Headline im Spiegel von Frank Hornig über Italien, wo sie nicht nur an den überfüllten Stränden Panik vor den Flüchtlingen haben, weil die das Virus zurückbringen könnten. Sind wir also schon bei den Romanen? Ist es nicht mehr Realität? Sind wir im übertragenen Sinn gelandet, weil Viren, Gerücht und Übertragung mit dem Fiktiven verwandt sind? Jetzt ist jedenfalls der falsche Zeitpunkt, um so zu tun, als sei die Sache ausgestanden, sage ich mir und lache gleichzeitig, weil das ja ohnehin andauernd mitschwingt (T15: 30).
7.
Kathrin Rögglas persönliches Erleben des Corona-Lockdowns
Zur Versprachlichung des eigenen Erlebens des Ausnahmezustands während des Corona- Lockdowns verwendet Röggla mehrfach die Metapher des »Tunnels«: (13) Es wird ja derzeit so dargestellt, als müssten wir als Gesellschaft alle zwei bis drei Monate durch eine Krisenzeit hindurch, und kämen dann irgendwie hinten wieder heraus. Als gäbe es da so einen Tunnel, durch den wir nur hindurch müssten, um auf der anderen Seite ins Licht zu kommen, die Zeit danach, wenn alles mehr oder weniger wieder so sein wird wie immer, die sogenannte Normalisierung eintritt, business as usual, was heißt, dass wir wieder in unsere breite Gegenwart eintauchen werden können, die wir verlassen haben (T1: 32).
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Persönlich empfindet sie den Tunnel als (14) […] Ort, in dem ich allerdings nicht sehr schnell unterwegs bin, während an den Wänden Filme laufen, Bilder über soziales Handeln, wie es jetzt anstehen soll, social distancing heißt das, bleibt voneinander weg, haltet Abstand! Ein Ort, in dem Podcasts von bekannten Virologen zu hören sind und Geisterstunden auf Fußballplätzen stattfinden (T1: 33).
Sie konzeptualisiert den pandemischen Ausnahmezustand als eine Art Engpass, den sie durchwandern muss, um am Ausgang »unsere breite Gegenwart« wiederzufinden, die restaurierten präpandemischen Zustände, auf die Röggla durch die Redensart »business as usual« hinweist: herkömmliche Geschäftspraxen, denen die Autorin mit großer Skepsis gegenübersteht, da ihnen kein kritischer Sinn für Verbesserungen unterliegt. Einer der wichtigsten Aspekte, der die Schriftstellerin intensiv beschäftigt und sie selbst betrifft, sind die Auswirkungen der Pandemie auf das kulturelle Leben und die Lage der Kulturschaffenden, da Veranstaltungen, Konzerte usw. nach der Verhängung des ersten Lockdowns abgesagt oder verschoben werden mussten. Viele Künstler:innen, selbst etablierte, verloren im Frühjahr 2020 jede Arbeitsmöglichkeit und damit ihre Lebensgrundlage, mussten plötzlich um das nackte Überleben kämpfen – eine bittere Realität, die Röggla in nachstehender Überlegung erneut durch einen intertextuellen Verweis auf Susan Sontag, der ihr dazu dient, ihre Kritik an den Zuständen zu untermauern, sarkastisch ans Licht bringt: (15) Jeder Mensch habe zwei Staatsbürgerschaften, schrieb die amerikanische Essayistin Susan Sontag einmal, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken, letztere ist komplizierter als erstere scheint mir, sie ist vor allem langsamer. Zumindest im Moment. Denn während wir erstere für ausdefiniert halten, hängt die Beschreibung des Reiches der Kranken davon ab, wer es betritt (T1: 33).
An anderer Stelle ist es der Anblick eines Bildes des leeren Theatersaals des Berliner Ensembles, der bei der Autorin Reflexionen über die Lage der im Kulturbetrieb Tätigen und den Einfluss der Corona-bedingten politischen Entscheidungen auf das kulturelle Leben überhaupt auslöst. Indem sie gleich viermal im selben Satz das Wort »Abstandsregeln« wiederholt, setzt sie den Rahmen für die sich anschließende Zukunftsvision von Theateraufführungen, die äußerst satirische Züge annimmt und in der die Künstler:innen mit der symptomatischen Metapher des Astronauten (vgl. hierzu Nesselhauf 2017) konzeptualisiert werden, was auf ihre »Loslösung von der Erde« verweist, »in der bildhaft Probleme […] der Entfremdung vom persönlichen Umfeld« (Nesselhauf 2017: 157) zum Vorschein treten: (16) Es ist das Bild vom Berliner Ensemble, das hängenbleibt. Das Bild von der Fehlbestuhlung im Zuschauersaal, so könnte man es nennen, das Bild von den fehlenden Sitzreihen, dem zerstückelten Zuschauerzusammenhang. Es sieht aus wie ein
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Kunstwerk. Es erzählt von in Abstandsregeln entnommenen Stuhlreihen, die das in Abstandsregeln verbleibende Klatschen erwarten, in Abstandsregeln verbleibende Inszenierungen bejubeln, die in Abstandsregeln bleibendes Denken nach sich ziehen. Mit Reifröcken wird gespielt werden, in abstrakten Kistenkostümen werden SchauspielerInnen eingesperrt, auf der Bühne ein Entfernungsballett. Die Kussszenen, so spekuliert der Münchner Volkstheaterintendant Christian Stückl in Theater der Zeit, werden dann wie in Indien per Hackbretteinsatz ersetzt. Warum Kussszenen?, frage ich mich, während ich weiterlese: Wenigstens 100 Leute gemeinsam in einem Raum, heißt es. Wenigstens ein bisschen Theater. Das Bild vom BE sieht mich so fremd an. Es ist nicht ausbuchstabiert. Es fehlt etwas, bleibt ein Rätsel. So sind wir also Astronauten geworden (T12: 22).
Die Astronauten-Metapher, in der Röggla ihr derzeitiges Unbehagen, ihren Unmut in ihrer Künstlerrolle und das aller Kunstschaffenden – bekanntlich kritische Geister – kristallisiert, die im Zuge des eingestellten Kulturbetriebs nicht nur unter Existenzängsten leiden, sondern auch zu einem zwangsweisen Verstummen verurteilt sind, wird in den Tagebuchaufzeichnungen mehrfach aufgegriffen: »Astronauten in relativer Bewegungslosigkeit (gibt’s nicht)« (T12: 24) verbildlicht – eine paradoxe Situation, die sie durch den Zusatz »gibt’s nicht« unterstreicht. An vielen Stellen tritt Rögglas Verdruss über das abgeflachte Kulturangebot, das sie auch vor der Pandemie schon bemängelte (vgl. hierzu Wojno-Owczarska 2013: 364), – in bissige Ironie und Humor verpackt – in Erscheinung. In Pandemiezeiten erlebt offensichtlich auch die Kunst den Ausnahmezustand: »[…] Milliarden von Menschen weltweit […] [werden – B. W.] von Virologen und Statistikern als quasi neue Künstleringenieure angetrieben« (T12: 23), »[e]s wird improvisiert, entwickelt, alles mit einfachsten Mitteln. Die Kunst kommt in den TikTok-Modus« (T12: 30), hat ihren Tiefgang verloren wie Röggla mit Bezug auf eine Diskussionsrunde im Deutschlandfunk Kultur mit der ihr eigenen Komik und Ironie betont: (17) Vor uns lagen knapp zwei Stunden Zeit für ein Gespräch über imaginäre Zahlen, Tiere im All, Biokosmisten und literarische Auftraggeber, auch das ein Rockkonzertelement. So viel Zeit wird es in ein paar Jahren für so etwas nicht mehr geben, nach der nächsten Radio-Reform, wird ein Gesprächsteilnehmer danach mutmaßen. Eine Aussage, die sich in den realistischen kulturpolitischen Abgesang der letzten Jahre einfügt. »Unsere HörerInnen werden ja immer älter, das geht doch nicht«, mehr »snackabilty«, mehr »schwärmerische, schwelgerische Unterhaltung«, und: Digitalisierung! Der haben wir ja jetzt dank Corona einen gewaltigen Schub verpasst (T15: 31).
In diesem Zitat klingt ein weiteres Phänomen an, das die Autorin sehr oft und sehr kritisch in ihren Eintragungen reflektiert: die zunehmende Digitalisierung, die während der Corona-Pandemie sehr stark intensiviert wurde und in nahezu
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alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens vorgedrungen ist. Nicht nur äußert Röggla ihre Vorbehalte dieser Entwicklung gegenüber explizit: (18) Die Einrichtung der digitalen Plattformen da und dort beobachte ich mit Skepsis, schließlich geht all das verloren: Die Trennung zwischen öffentlich und privat, die Trennung zwischen Beruf und Freizeit, also Trennlinien, die sich ohnehin schon aufgelöst haben (T3: 36).
Ihren kritischen Blick auf den Digitalisierungsschub bringt sie des Weiteren mit der Metapher des »Zoombombing« treffend auf den Punkt, wodurch die angstschürende Kriegsmetaphorik, die, wie bereits gesagt, im Corona-Diskurs sehr häufig verwendet, gar strapaziert wird, wieder in Erscheinung tritt und ihrer Perspektive auf das Phänomen eine Negativkonnotation verleiht: »[…] diese abrupte Neuverbindung von Social distancing und Telepräsenz, und letztere werde bleiben, ist seine Vermutung. Das Zoombombing wird uns also weiterbegleiten, die Vernichtung der Privatsphäre« (T12: 23). Auch in anderen Tagebuchtexten bringt die Autorin ihre ablehnende Haltung gegenüber der allumfassenden Digitalisierung zum Vorschein, wenn sie aus dem Kontext heraus Adhoc-Komposita schafft – eine beliebte sprachliche Praktik Rögglas –, um satirische Effekte zu erzielen: »Wollen wir all die Promis zuhause sehen, wollen wir das? Die Schlafzimmerjoggingverschrumpeltheit in den Gesichtern. Deren Schlafäugigkeit und Ungekämmtheit interessiert mich nicht« (T3: 33). Ob mit Ernsthaftigkeit oder Humor zur Sprache gebracht – Kathrin Röggla sieht in der zunehmenden Digitalisierung und dem damit verbundenen OnlinePräsentismus eine Gefahr für die Demokratie, »[d]enn es ist nicht nur der Verlust der Unmittelbarkeit, der realräumlichen Begegnung, die die soziale Situation auszeichnet, sondern eine neue Bildpolitik, ein soziales Kontrollregime, in dem die Frage, wer was wann sieht, eminent ist […]« (T7: 29).
8.
Schlussbemerkungen
Kathrin Röggla lenkt die Aufmerksamkeit in ihren Corona-Tagebuchaufzeichnungen auf brisante politische und soziale Fragen und ist darum bemüht, ihren Betrachtungen des gesellschaftlichen Zustands im Lockdown sowie ihrem subjektiven Erleben dieser Zeit geeignete sprachliche Formen zu verleihen. Die Themen, um die ihre kritischen Reflexionen insbesondere kreisen, sind vor allem die rasant zunehmende Digitalisierung und die Medien, die während der Pandemie nicht nur den Alltag der Menschen stark beeinflusst haben, die Angst vor dem Virus permanent aufrechthielten, sondern auch »die Sensibilität der Kunstrezipienten spürbar verändert« (Wojno-Owczarska 2013: 356–357) haben. Ihre kritische Position diesen Entwicklungen gegenüber bringt die Autorin
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meistens mit Humor, Sarkasmus oder Ironie, durch originelle Kompositabildungen, die Verwendung von Metaphern oder die Schaffung einer Dimension des Gespenstischen effektvoll zum Ausdruck. Gelegentlich verzichtet sie jedoch auf jegliche Kunstmittel und spricht die Missstände unmittelbar an, wie im letzten Teil ihrer Aufzeichnungen, wo sie mit den Medien regelrecht abrechnet: »Zuviel Mediendiskurs, zuviel an bunter Überlegung, die die einfach brutalen Tatsachen eines Sterbens übertünchen« (T15: 32). Wie in allen Werken Rögglas, ergibt sich auch in den Tagebuchaufzeichnungen eine pessimistische Diagnose der heutigen Gesellschaft – diesmal im Lockdown –, die damit beschäftigt ist, die Coronakrise zu bewältigen. Verantwortlich für die sozialen und politischen Missstände, die während dieses Ausnahmezustands zu Tage treten, macht die Autorin neben den Medien und der Digitalisierung vor allem auch die alles gesellschaftliche und individuelle Handeln dominierende ökonomische Logik, die den Raum für das Menschliche immer stärker zurückdrängt. Trotzdem versteckt sich hinter Rögglas gesellschaftlichem Negativbild ein Hoffnungsschimmer auf Veränderung, denn eine Aussage Rögglas in Die falsche Frage (2015), mit der die Universität Köln, wo die Autorin 2019 die Translit-Professur hielt die entsprechende Webseite überschreibt, besagt: »Die Suche nach einem Blick auf die Welt, wie sie ist, ist die Suche nach einer besseren Welt«. Abschließend möchten wir noch versuchen, eine Antwort auf die die von Stephan Roiss und Klaus Kastberger aufgeworfene Frage zu finden, ob – mit Hinblick auf die Aufzeichnungen von Röggla – den im Rahmen des Projekts des Grazer Literaturhauses entstanden Corona-Tagebüchern literarischer Status gebührt. Angesichts der Tatsache, dass in den Tagebuchtexten der Autorin alle für sie charakteristischen Themen, ihr individueller Erzählstil und die von ihr bevorzugt verwendeten narrativen Gestaltungsmittel zum Vorschein treten und ihr literarisches Talent nicht weniger als in ihren anderen Werken zum Tragen kommt, fällt unsere Antwort eindeutig positiv aus.
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Abstract Polish and German Internet Memes in the Coronavirus Pandemic. Attempt of a Text- and Pragmalinguistic Analysis The aim of the following article is to analyse Internet mem as ›an expressive speech act‹ (Grundlingh 2017, Osterroth 2019) and ›a verbal-visual text‹ (Stöckl 2011). The heuristic analytical model of multimodal texts proposed by Stöckl (2016), constitutes a methodological starting point for qualitative analysis, which includes selected examples of German and Polish memes connected with the coronavirus. Keywords: Internet mem, expressive speech act, text, coronavirus Schlüsselwörter: Internet-Meme, expressiver Sprechakt, Text, Coronavirus
1.
Coronavirus-Pandemie als sprachwissenschaftliche Herausforderung
Seit November 2019 sieht das Leben weltweit nicht mehr so aus, wie früher, vor dem Ausbruch der Pandemie, die von dem Virus SARS-CoV-2 verursacht wurde. »Infiziert« wurden nicht nur Menschen, sondern auch die Sprache in aller Welt. Auch für SprachwissenschaftlerInnen bildet das Virus eine neue Herausforderung, sodass sie in ihren Untersuchungen der neuen »Coronarealität« (CierpichKozieł 2020), »Pandemie in der Sprache« (Kosmalska 2020) oder »Sprache in der Seuche« (Kuligowska 2020) immer mehr Platz widmen. Die bisher durchgeführten Untersuchungen beweisen, dass das linguistische Interesse u. a. zwischen Wortbildungsprozessen, Neologismen, Anglizismen, Umgangssprache, Metaphern, medizinischen Termini, semantischen Feldern und Memes oszilliert 1 Der vorliegende Artikel ist in Anlehnung an die Präsentation entstanden, die ich mit Dr. Miłosz Woz´niak auf der Konferenz der Polnischen Rhetorik-Gesellschaft (Polskie Towarzystwo Retoryczne) im November 2021 gehalten habe. Da wir uns in unseren Analysen auf unterschiedliche Aspekte beziehen, sind die Ergebnisse in zwei separaten Texten präsentiert worden.
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Violetta Frankowska
(siehe u. a. Baas 2020, Balnat 2020, Cierpich-Kozieł 2020, Falana-Jagra 2020, Klosa-Kückelhaus 2020a, 2020b, 2020c, Kovbasyuk 2021, Kuligowska 2020, Ladilova 2021, Möhrs 2020a, 2020b, 2020c, Tiittula/Gautier/Taborek 2000, Zifonun 2020a, 2020b).2 Die mit COVID-19 verbundenen Veränderungen »bilden für Sprachwissenschaft eine Art Versuchsgelände, wo sich zahlreiche größer angelegte als bisher Prozesse in einem deutlich beschleunigten Tempo abspielen« (Włoskowicz 2020: 98, Übersetzung von V. F.). Die Pandemie übt einen überaus großen Einfluss auf das Sozial-, Wirtschaftsund Politikleben aus, und insbesondere betrifft sie jeden Menschen, sein Privatleben sowie seine Gesundheit. Es kann festgestellt werden, »the world went into crisis mode« (Pulos 2020: 1) und hat u. a. Einschränkungen, Sanktionen, Panik, Proteste, Homeoffice, sogar Arbeitsverlust, und vor allem gefährliche Krankheit mit sich gebracht, die nicht selten mit Tod vieler Menschen enden musste. Die Besonderheit der Krise und auch die Entstehung von zahlreichen Krisen-Memes fasst Pulos (2020) wie folgt zusammen: Not since 9/11 has any topic been so newsworthy and dramatic on a global scale like COVID-19. […] Crisis memes operate differently than memes generated during normal situations because they are created within an arena specifically tied to a unique crisis. (Pulos 2020: 2)
Dem Zitat ist zu entnehmen, dass in der Pandemiezeit viele Memes erscheinen, die die krisenhafte Situation deutlich zum Ausdruck bringen. Diese Krise zeichnet sich durch besondere Memogenität aus. Memes können unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben werden, wie z. B. Kreativität, Subjektivität, Emotionalität. Außerdem bilden sie eine Art kollektiven Kommentars, der nicht selten mit Humor, Sarkasmus oder Ironie verflochten wird. Im Internet haben sich Memes schon früher als eine Gattung herauskristallisiert, aber jetzt sind sie »omnipresent in online reality« (Dynel 2016: 661). In den letzten Jahren waren sich die Meme-Forscher in einem Punkt einig. Internet-Memes erweisen sich als eine relativ neue Erscheinung, die einer gründlichen Untersuchung bedarf. Linguistische Analysen, insbesondere empirische und großangelegte, sind bisher noch rar (vgl. Morger 2017: 20, Bülow/ Merten/Johann 2018: 8, Löber 2011: 10) oder sogar »[…] have been largely ignored in academia« (Milner 2011: 7). Memes bilden also in dieser Hinsicht eine 2 Aufgelistet wurden an dieser Stelle einige linguistische Studien, die in den letzten Jahren die deutsche und polnische Sprache in Hinblick auf das Corona-Virus-Phänomen beschreiben. Zahlreiche Publikationen zu der deutschen Sprache sind auf der Webseite vom IDS zu finden: https://www.ids-mannheim.de/sprache-in-der-coronakrise/. Eine umfangreiche, ständig aktualisierte und ergänzte Liste von Neologismen im Deutschen befindet sich auf der folgenden Internetseite: https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp.
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201
gewisse Herausforderung in der Sprachwissenschaft, und ihre Allgegenwärtigkeit, Anonymität und nur scheinbare Einfachheit erschweren den Linguisten ihre Analysen. Dies betont auch Łozin´ski (2014), indem er feststellt, dass »Memes […] nicht vernachlässigt werden dürfen, nur weil sie trivial zu sein scheinen oder weil man bisher keine allgemeinakzeptierten Analysemodelle erstellt hat« (vgl. Łozin´ski 2014: 1). Erforderlich ist ein Mehr-Ebenen-Vorgehen, das ihr kompliziertes Wesen aufzeigt. Das, was neu, unbekannt und zugleich erschreckend und totbringend ist, hatte eine Unmenge Memes zur Folge – der Begriff Memdemie macht es besonders deutlich. Sie bieten den SprachbenutzerInnen eine neue Möglichkeit zum Ausdruck eines ironisch-sarkastischen Kommentars in Bezug auf die COVID-Realität. Das kontaminierte Wort bildet ein interessantes Wortspiel: Einerseits wird dadurch das rasante Tempo bei der Meme-Entstehung betont, andererseits werden Memes mit einem Virus verglichen. Dank Memes ist es möglich, Emotionen auszudrücken und somit auch die Krise zu bewältigen, in der man sich zurechtfinden muss. In vielen Ländern wurden umfangreiche Restriktionen zur Eindämmung der Ausbreitung von Infektionen eingeführt, und die Missachtung der Corona-Verordnungen hat ein Bußgeld nach sich gezogen. Memes bieten die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Humor, Ironie und Sarkasmus von dem schwierigen Alltag zu distanzieren (vgl. Moebius 2018: 6f.), denn »humorous memes thus enable users to address sensitive topics and express criticism which would not be possible without an ironic undertone« (Pauliks 2020: 47). Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, Corona-Memes aus der text- und pragmalinguistischen Perspektive zu untersuchen. Eine qualitative Analyse wird am Beispiel von ausgewählten polnischen und deutschen Memes erfolgen. Den methodologischen Ausgangspunkt bildet dabei das Modell der multimodalen Textanalyse von Stöckl (2016), der in seiner Theorie tradierte linguistische Beschreibungskriterien nutzt. Es wird dabei geprüft, inwieweit sich das von Stöckl vorgeschlagene Modell dafür eignen wird. Man kann davon ausgehen, dass eine multimodale Studie es ermöglicht, die Interaktion zwischen Text und Bild aufzuzeigen, da nur mit Hilfe der beiden Ebenen zusammen die Vollständigkeit des Ausdrucks gewonnen werden kann. Auch Bucher (2011: 124) weist auf die Inter-, Intratextualität und Intermodalität hin.
2.
Was ist Internet-Meme?
In den letzten Jahren ist sog. pictorial turn zu beobachten (vgl. Makowska 2013: 169), der u. a. dazu beigetragen hat, dass man die Sprechakttheorie in unterschiedlichen Kontexten, auch multimodalen eingesetzt hat (vgl. Osterroth 2020:
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115). Nicht einfach gestaltet sich die Suche nach einer treffenden Definition von Memes. Nennenswert ist hier »definitorial ambiguity« (Milner 2011: 44) oder auch »Gattungsunschärfe« (vgl. Sarna 2016: 146) dieses Phänomens. Die definitorischen Schwierigkeiten ergeben sich vor allem aus der formalen Vielfalt von Memes, was Davison (2012) folgendermaßen betont: »The term ›meme‹ can mean almost everything« (Davison 2012: 126). Als Meme kann sowohl Link, audio-visueller Stoff, Foto, Internetseite, Hashtag, Phrase oder sogar ein einziges Wort fungieren (vgl. Zaremba 2012: 61). Grundlingh (2017) betrachtet sie als »a piece of culture, typically a joke, which gains influence through online transmission« (Grundlingh 2017: 2). Nach Bakalarski (2018: 171) lässt sich feststellen, dass ein Meme jedes digital gespeicherte Objekt sein kann, das in der virtuellen Welt kursiert. Für Wójcicka (2019) bildet ein Meme ein multimodales Genre des kollektiven Gedächtnisses, und Nowak (2013: 227) spricht von einem Text der digitalen Kultur. Eines der wichtigsten Merkmale der Erscheinung bildet seine Replikation durch Diffusion (vgl. Johann/Bülow 2018: 5). Der Entstehungsprozess von Memes und ihre Modifizierung erfolgen überaus schnell. Interessanterweise kann ein einzelner Mensch kein Meme schaffen, höchstens ein »memefähiges Artefakt« (Osterroth 2015: 33). Die schnelle Verbreitung von Memes in der digitalen Welt scheint auch nicht ausreichend zu sein, denn entscheidend ist es, dass sie einer Modifizierung unterliegen und des Weiteren kopiert werden. Den folgenden Definitionen sind wichtige Eigenschaften von Memes zu entnehmen: A group of digital items sharing common characteristics of content, form, and/or stance, which (b) were created with awareness of each other, and (c) were circulated, imitated, and/or transformed via the Internet by many users. (Shifman 2014: 41) An internet meme is a unit of information (idea, concept or belief), which replicates by passing on via Internet (e-mail, chat, forum, social networks, etc.) in the shape of a hyper-link, video, image, or phrase. It can be passed on as an exact copy or can change and evolve. […] The mutation occurs by chance, addition or parody, and its form is not relevant. An IM [internet meme] depends both on a carrier and a social context where the transporter acts as a filter and decides what can be passed on. It spreads horizontally as a virus at a fast and accelerating speed. It can be interactive (as a game), and some people relate them with creativity. Its mobility, storage, and reach are web-based […]. (Diaz 2011: 97)
Diaz (2011) vergleicht ein Meme mit einem Virus. Zu erwähnen sind also virality3, speed, imitation und transformation, worauf in der Fachliteratur immer wieder hingewiesen wird. 3 Eigentlich soll hier nicht über Viralität die Rede sein. Pauliks (2017) geht auf diesen Unterschied genauer ein und stellt fest, mit virals hat man zu tun, wenn sich etwas sehr schnell
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Zum Inhalt von Memes werden aktuelle, nicht selten starke Emotionen auslösende Ereignisse des Alltagslebens und aus diesem Grund können sie als eine Art Spiegel der gesellschaftlichen Stimmungen angesehen werden. Wie es sich herausstellt, werden sie, obwohl sie alltagsbezogen und allgegenwärtig sind, zu einem anspruchsvollen Untersuchungsgegenstand. Memes verbinden zwei wichtige Ebenen, und zwar die verbale und die visuelle, und ihre Kombination und Zusammenwirkung wird mit unterschiedlichen Begriffen wiedergegeben: »Sehfläche«, »Text-Bild-Gefüge« (Schmitz 2011: 23), »Textur« (Maiwald 2004: 105), »Gesamttext« (Doelker 2006: 61), »Kommunikat« (Diekmanshenke 2011), »intertextuelle Sprache-Bild-Texte« (Opiłowski 2013: 218) oder »Sprache-Bild-Text« (Stöckl 2011: 111). Erst beide simultan wirkenden Kanäle ermöglichen die vollständige Rezeption, die sehr oft ein großes Wissen von EmpfängerInnen voraussetzt und erfordert. Somit geht Stöckl (2011) davon aus, dass Meme ein Text ist, in dem beide Schichten gleichrangige Bestandteile des modalen Textes ausmachen. Seiner Meinung nach sind dabei die graphischen Merkmale, und nicht nur die Form von Belang (vgl. Stöckl 2004: 7). Multimodalität zielt auf die Interaktion von unterschiedlichen semantischen Codes ab (vgl. Kress/van Leeuwen 2001: 1f.). In Anlehnung an Sandig (2000: 3) lässt sich sagen, dass die Funktion das wichtigste und zentrale Merkmal eines Textes bildet. Berechtigt ist daher die Betrachtung eines Memes als Text. Die Vielfalt an Bild-Text-Relationen beschreibt Nöth (2000). Manche Informationen lassen sich viel einfacher in Form eines Bildes ausdrücken als verbal, denn diese Herangehensweise erleichtert die Perzeption (vgl. Nöth 2000: 491). Er unterscheidet mehrere mögliche Berührungspunkte, bezogen auf die beiden Ebenen: Redundanz, Dominanz, Komplementarität, Diskrepanz sowie Kontradiktion. Kalverkämper (1998) dagegen nennt drei Möglichkeiten: das Bild kann den Text ergänzen, über ihm dominieren oder mit ihm gleichrangig sein. Ohne Zweifel scheint hier die sog. »verbal-visual incongruity« (Lou 2017: 108) von Bedeutung zu sein, was die Aussagekraft eines Memes noch zusätzlich hervorheben kann. Dieses Ineinandergreifen von Bild und Text lässt sich nach Holly (2009) metaphorisch als »Wort-Bild-Reißverschluss« (Holly 2009: 391) bezeichnen.
verbreitet, es sind einzelne units, die in einer unveränderten Form weitergegeben werden, und bei Memes legt man einen großen Wert auf das Kopieren und Modifizieren (vgl. Pauliks 2017: 11). Dynel (2016) betont den Unterschied wie folgt: »one crucial feature [comes] into focus: modification/transformation, which distinguishes a meme from a viral« (Dynel 2016: 662).
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3.
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Wie kann man mit Memes handeln?
Die obigen Überlegungen gehen von Memes als Texten aus. In den bisherigen Untersuchungen kommt auch immer häufiger das pragmalinguistisch orientierte Konzept vor. Osterroth (2019) bezieht sich in seinen Arbeiten auf die Sprechakttheorie, was in dem Titel eines seiner Artikel deutlich wird – er stellt nämlich die Frage How to do things with memes? und nennt Memes »multimodale Sprechakte«. Auf diese Art und Weise betont er ihren multimodalen Charakter und bezeichnet sie auch als Sprech- oder Bildakte, womit er die wichtige Verbindung von Bild und Text in den Vordergrund stellt (vgl. Osterroth 2019: 41). Vor ein paar Jahren hat er sie definiert als »multimodale Sprache-Bild-Texte, deren Bedeutungsentfaltung durch kollektive (oft hyperbolisierte) Semiose stattfindet« (Osterroth 2015: 33).4 Auch Grundlingh (2017) baut auf der Sprechakttheorie auf und spricht von Memes als expressiven Sprechakten. Opletalová (2016) zeigt auch die terminologische Vielfalt der Begriffe, die aber eines gemeinsam haben, und zwar Handeln (was direkt an die pragmatischen Ansätze denken lässt): »Bildhandeln, Bildhandlung, Kommunikationsakt (mit Bild), Malakt, Bildakt, Bildzeigakt, visueller Sprechakt oder Blickakt« (Opletalová 2016: 30). Um Memes zu interpretieren, ist ein kompetenter Empfänger unabdingbar. Damit die Intentionen richtig entschlüsselt werden können, müssen auch der Inhalt rekonstruiert und die Implikaturen erkannt werden (vgl. Schwarz-Friesel 2009: 225). Die Interpretation ist nur in einem bestimmten Kontext erfolgreich. Laut Kosmalska (2020) muss man zuhören und lesen, zum Beobachter der Realität werden, um die Memes über Corona zu verstehen (vgl. Kosmalska 2020: 213). Stöckl (2016) kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Kompetenzen der EmpfängerInnen sowohl für die Produktion als auch Rezeption von multimodalen Texten notwendig sind. Es handelt sich um semiotische, integrative Kompetenz und Textsortenkompetenz (vgl. Stöckl 2016: 32).5 Milner (2011) hebt auch die Wichtigkeit der sog. memesphere (common ground) beim Verstehen von Memes hervor (vgl. Milner 2011: 111f.), und Grundlingh (2017) die Entschlüsselung von Implikaturen als erforderliche Bedingung für das Verstehen von Ironie, da es nicht ausreicht, nur einzelne Memes zu verstehen, sondern man nach einem breiteren Kontext suchen muss, um den Zusammenhang zwischen einem Meme und anderen, ihm ähnlichen zu finden (vgl. Grundlingh 2017: 13).
4 Laut Herwig (2010: 10) ist gerade die kollektive und hyperbolisierte Semiose das Element, das Memes von anderen prototypischen Texten unterscheidet. 5 Das Besondere an Memes ist einerseits eine gewisse Musterhaftigkeit, andererseits weisen sie eine starke Variationsbreite an Formen aus. Osterroth (2020: 121) ist der Meinung, dass diese Variation erst deswegen möglich ist, da Memes bestimmten Mustern folgen.
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Wie schon erwähnt wurde, drücken Memes einen subjektiven Kommentar über die Pandemie und eine Art subjektiver Bewertung der Realität aus. Damit sind Emotionen verbunden, weil schwierige, überraschende und neue Zustände in der Regel ihre Quelle bilden. Osterroth (2015: 41) nennt Memes eine moderne Form von Karikatur, und Merten/Bülow (2019) bezeichnen sie als »niederschwellige Möglichkeit des Meinungsausdrucks« (Merten/Bülow 2019: 197). Grundlingh (2017) unterstreicht auch den expressiven Charakter von Memes wie folgt: »almost every meme is created with the purpose of expressing something« (Grundlingh 2017: 4). Beide Ebenen, sowohl die verbale als auch die visuelle, spielen dabei eine große Rolle, denn beide Codes – unterschiedliche Akte bildend – ergänzen sich und lösen bei Empfängern Emotionen aus und somit bilden einen bildhaften Akt mit perlokutivem Effekt (vgl. Wójcicka 2019: 137f.). Den Unterschied zwischen einem traditionellen Sprechakt und dem, den ein Meme ausmacht, fasst Osterroth (2020) so zusammen: The difference between meme speech acts and traditional speech acts is their emphasis on the expressive function. While the meme speech acts can take any of Searle’s described functions, there is almost always an expressive6 element to be found. (Osterroth 2020: 115)
In seinem Artikel bezeichnet der Autor Memes nicht nur als Sprechakte, sondern auch als »Sprache-Bild-Text-Akte« (Osterroth 2020: 115). Die verbale und visuelle Schicht stehen nebeneinander und bilden somit laut Schmitz (2011b) die sog. Sehfläche. Es ist eine eigenartige visuelle Ebene, deren Bild und Text, indem sie eine gemeinsame Fläche teilen, kohärente Bedeutungseinheiten bilden (vgl. Schmitz 2011: 3). Dem Bild wird eine besondere Rolle zugeschrieben, die in der Auslösung von emotionalen Reaktionen besteht (vgl. Kappas/Müller 2006: 3). Außerdem ist zu betonen, »[m]it Bildern kann man auch besser emotionalisieren« (Marx/Weidacher 2014: 190). Die visuell-verbale Ebene galt lange Zeit nicht als traditionelles Untersuchungsobjekt in der Sprachwissenschaft. Nichtsdestoweniger hat man in den letzten Jahren damit angefangen, ihr mehr Aufmerksamkeit zu schenken, indem man sie im Rahmen der Bildlinguistik oder der visuellen Rhetorik einer Analyse unterzogen hat.7
6 Weidacher (2019: 123, 178) stellt auch fest, dass Memes am häufigsten die expressive Funktion erfüllen. Außerdem liefern politische Memes auch persuasive Absichten. Die Informationsübermittlung scheint im Hintergrund zu sein: »Internet memes are deployed for social bonding rather than sharing information« (Zappavigna 2012: 101). 7 Mit Memes aus der Perspektive der visuellen Rhetorik beschäftigt sich Jenkins (2014). Rhetorische Meme-Analyse schlagen u. a. Wasilewski (2012), Kampka (2016), Porycka (2016), Sarna (2016) und Mamcarz-Plisiecki (2018) vor.
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Einerseits zeichnet sich jeder Mensch durch seine Kreativität und individuelle Eigenschaften aus, andererseits greift man auch nach bestimmten Mustern8, was Shifman (2014) mit Recht betont: In theory, all Internet users are free spirits, individuals who take their unique path to the hall of digital fame. In practice, they tend to follow the same beaten tracks of meme creation. These paths can be thought of as meme genres. Defined as ›socially recognized types of communicative action‹, genres share not only structures and stylistic features, but also themes, topics, and intended audiences. (Shifman 2014: 99)
Diese Musterhaftigkeit hilft dabei, Memes als solche zu erkennen. Aus den folgenden Zitaten geht hervor, warum die pragmalinguistische Herangehensweise in Bezug auf die Analyse von Memes von Belang ist: Die Sprechakttheorie [kann] zu der Frage nach den sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten einzelner Sprechhandlungsmuster einen erheblichen Beitrag liefern. (Staffeldt 2008: 120) An analysis of the functions of memes and the interpretation of memes support the argument that memes can be interpreted as speech acts. (Grundlingh 2017: 156)
Sowohl ihre Funktionalität als auch die Form der sprachlichen Realisierung bilden einen wichtigen Ausgangspunkt für pragmalinguistisch orientierte Untersuchung dieses Phänomens. Nach Osterroth (2020: 132) kann festgestellt werden, dass die Sprechakttheorie zum zentralen und geeigneten Analysetool wird, das die Meme-Kommunikation zu beschreiben hilft.
4.
Korpus und methodologisches Vorgehen
Seit 2019 ist ein Boom von Corona-Memes zu beobachten, und ihre Themen geben sehr gut wieder, welche Aspekte besonders gerne in einzelnen Etappen der Pandemie kommentiert wurden und für Aufregung sorgten. Einer Analyse wurden ausgewählte polnische und deutsche Memes unterzogen, die die Corona-Virus-Pandemie ansprechen und sowohl visuelle als auch verbale Elemente enthalten. Sie präsentieren einen Ausschnitt aus der pandemischen Realität, insbesondere ihren Einfluss auf das Verhalten der Betroffenen,
8 Sichtbar ist es auf Internetseiten, die Memes generieren und den InternetnutzerInnen Vorlagen zu ihrer Bildung zur Verfügung stellen. Hier sind Unmengen von Fotos zu finden, die sich für den Hintergrund eines Memes sehr gut eignen, also besonders »memogen« sind (vgl. Bülow/Merten/Johann 2018: 7). Der polisemische Charakter der Bilder ermöglicht eine Vielfalt an Interpretationen.
Polnische und deutsche Internet-Memes in der Coronavirus-Pandemie
207
Veränderungen in ihrem Aussehen sowie Reaktionen der Gesellschaft auf die eingeführten Einschränkungen und Sanktionen. Der Übersichtlichkeit halber wurde jedes Meme im analytischen Teil mit dem Link versehen, der zu der konkreten Internetseite führt, auf der es gefunden wurde. Es muss dabei betont werden, dass viele Memes in beiden Sprachen fast gleich aussehen können. Da sich Memes nur selten auf einen Autor zurückführen lassen, trifft in diesem Fall das Problem des Urheberrechts eher selten zu. Sie werden anonym gebildet und äußerst schnell verbreitet, sodass sie aus ethischer Sicht zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet werden können (vgl. Morger 2017: 14). Den methodologischen Rahmen für die vorliegende Analyse bildet das Modell von Stöckl (2016), das auf vielen Beschreibungsebenen basiert. In seinem heuristischen Modell zur Untersuchung von multimodalen Textsorten stützt sich der Autor auf Kesselheim (2011). Die folgende Graphik illustriert die einzelnen Analyseschritte:
Abb. 1: Das Modell der multimodalen Textanalyse von Stöckl (2016: 24)
Dieses Modell ermöglicht das Aufzeigen vom Zusammenspiel aller Zeichenmodalitäten, und die tradierten linguistischen Beschreibungskriterien von Stöckl (2016) können wie folgt zusammengefasst werden:
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1. Gliederung / Abgrenzung: interne Gliederung, sortenspezifische textgraphische Binnenstruktur als Grundlage für die Ordnung von Handlungen und Themen. 2. Handlungsstruktur: pragmatische Leistungen der Zeichenmodalitäten und ihr Einfluss auf das Handlungsziel, wichtige funktionale Handlungsabschnitte. 3. Themenstruktur: Konfiguration von Teilthemen, der Beitrag der einzelnen Modalitäten zum Gesamttext. 4. Multimodale Verknüpfung: die Verknüpfung von beteiligten Zeichenmodalitäten. 5. Intertextualität: Bezüge zu benachbarten Zeichenangeboten, explizite Verweise auf Nachbartexte, gestalterische Ähnlichkeiten (vgl. Stöckl 2016: 23f.) Dieses Analysetool scheint nicht nur gemeinsame text-, sondern auch pragmalinguistische Ansätze zu verbinden. Es kann vermutet werden, dass es aus diesem Grund eine wichtige Basis für die Meme-Analyse bildet und ihren multimodalen Charakter gut erfassen kann. Um die Detail-Analyse überschaubar zu halten, wurde in dem analytischen Teil tabellarisch auf die Beschreibungskriterien von Stöckl (2016) eingegangen.
5.
Analytischer Teil
Da die Corona-Pandemie von Anfang an die menschliche Gesundheit bedroht, wurden innerhalb von den letzten Jahren zahlreiche Einschränkungen eingeführt, mit dem Ziel, das Ansteckungsrisiko zu minimieren und betrieblichen Krankheitsausbrüchen vorzubeugen. Zur Eindämmung der Pandemie galt u. a. das Verbot von Friseurbetrieben. Dies hatte zur Folge, dass sich viele Menschen unwohl gefühlt und lustig ausgesehen haben, da sie keine Möglichkeit mehr hatten, ihr Äußeres professionell zu pflegen. Zu lange Haare und ungepflegtes Aussehen wurden aus diesem Grund zu einem gerne in Form von Memes kommentierten Thema. Hierzu ein Beispiel:
Polnische und deutsche Internet-Memes in der Coronavirus-Pandemie
209
Abb. 2: »Haarantäne«9
10
I
II
Abb. 2: »Haarantäne« Das Meme bildet ein Lama ab – ein Tier, das wegen seinem charakteristischen Aussehen (langes Fell, mit Haaren bedeckte Augen, Heu im Maul, schiefe Zähne etc.) einen häufigen Meme-Hintergrund bildet und somit zu einem besonders memefähigen Bild wurde. Die verbale Schicht besteht nur aus einem oben zentrierten Substantiv in Druckschrift. Das Substantiv ist aufgrund von Kontamination entstanden und gilt als eine Verschmelzung von den Wörtern Haare + Quarantäne. Die visuell-verbale Gestaltung bildet eine interne Struktur, die Memes nach Stöckl (2016: 23) als solche erkennen lässt. Memes entstehen mit der Intention, sowohl Emotionen freien Lauf zu lassen als auch sie hervorzurufen. Somit bilden sie eine Art situative Bewertung der Realität, die alle Menschen in gleichem Maße betreffen kann. Außerdem üben sie eine solidaritätsbildende Funktion aus. Niemand konnte die Sanktionen beeinflussen, mit denen man in der Pandemiezeit leben musste und deshalb hat man versucht, davon Abstand zu gewinnen. Dabei helfen Memes, die diese schwierige Realität übertrieben und mit Humor darstellen lassen. Die expressive Rolle dieses Phänomens ist unbestritten. Da dieses Meme in der Corona-Realität erschienen ist, wird das Wissen der EmpfängerInnen über die aktuelle Situation miteinbezogen. Die Friseursalons wurden geschlossen, sodass keine Möglichkeit mehr bestand, sich die Haare schneiden zu lassen. Das Bild und die Schriftzeile übermitteln zusammen die subjektive Bewertung des Aussehens der von Einschränkungen betroffenen Menschen, und das übergeordnete Handlungsziel besteht darin, die Betroffenen zum Lachen zu bringen.
9 https://serverage.blogspot.com/2021/12/the-best-28-corona-memes-2021-deutsch.html [Zugriff am 28. 02. 2022]. 10 Die Analyseschritte I–V beziehen sich auf das Modell von Stöckl (2016).
210 III
IV
V
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In der Abb. 2 lassen sich Teilthemen feststellen wie: das Tier, ein Lama, das Assoziationen mit einem Zoo oder Tierwelt auslösen kann, sowie Haare und Quarantäne, die zusammen betrachtet und ohne situative Einbettung eher keinen Sinn zu ergeben scheinen. Es sind zwei scheinbar inkompatible Themen, die aber zusammen doch eine Einheit bilden und sich auf einer Fläche befinden. Die Multimodalität lässt jedoch den Empfänger einen logischen Konnex herstellen, indem er auch sein Weltwissen aktiviert und Implikaturen entschlüsselt. Erst die Erscheinung von dem Meme in der Pandemie kann den richtigen Interpretationsprozess starten. Eigene Erfahrungen spielen dabei auch mit. Erwähnenswert ist hier auch das Substantiv Quarantäne, das zwar in der Corona-Virus-Pandemie nicht zum ersten Mal im Wortschatz vorkommt, aber eine gewisse Bedeutungseinschränkung erfährt, sodass man an die Folgen von COVID-19 sofort denken kann. Obwohl auf diesem Meme keine sich direkt an die Krankheit und Pandemiezeit beziehenden Wörter erscheinen, wird ein kompetenter Empfänger das Thema mit der aktuellen Lage in Verbindung setzen. Multimodale Verknüpfung ist laut dem Autor des Modells am wichtigsten, da sie aufzeigt, wie bestimmte Modalitäten miteinander verbunden werden. Hier handelt es sich nicht nur um die Handlungs- und Themenstruktur, sondern auch um Kohäsion und Kohärenz, also pragmatische und rhetorische Funktionen und ihren Einfluss aufeinander, was textsortenprägend ist (siehe Stöckl 2016: 23). Die grammatische Kohäsion wird in diesem Meme nicht direkt ausgedrückt. Es lässt sich aber über die intermodale Kohärenz sprechen, die das Wissen über Text und Bild aktiviert. Intertextualität stellt Fragen nach intertextuellen Zusammenhängen und Verweisen auf benachbarte Texte. Die verbalen und visuellen Elemente bauen intersemiotische Komplementarität und stiften zusammen Sinn. Zwischen ihnen sind »Kontaktstellen« (Stöckl 1997: 143) sichtbar, die entweder explizit oder implizit aufeinander Bezug nehmen. Durch ihre Musterhaftigkeit verweisen Memes auf andere Memes. Die Analyse hat zwar keine direkten intertextuellen verbalen Verweise nachgewiesen, aber das Bild von einem Lama verbindet sie stark mit anderen Memes, bei denen der gleiche Hintergrund festgestellt werden konnte, was die Abb. 3 beweist.
Tab. 1: Analyse der Abb. 2. »Haarantäne«
Abb. 3: »Du bist so gutaussehend – Mama«11 11 https://obrazkowo.pl/42d9f6deb405aa26c63db28747f60946/Jeste%C5%9B-taki-przystojny– -mama-Brzydka-lama/ [Zugriff am 28. 02. 2022] (eigene Übersetzung).
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Die nächsten Memes, in der polnischen Sprache (wie die Nr. 2 auch) verfasst, nehmen Bezug auf das Verbot, das Haus zu verlassen. Der rasante Anstieg der Corona-Inzidenz hat dazu geführt, dass die Ausgangssperre verschärft und jegliche Verstöße mit Geldstrafen geahndet wurden. Eine Ausnahme bildeten Spaziergänge mit Hunden. Die Vierbeiner waren eine Art Stütze für HalterInnen, da diese mit ihnen spazieren gehen durften. Die Betreuung von Tieren, auch in der gegenwärtigen Situation, ist tierschutzrelevant und sicherzustellen. So konnten Hunde angeleint an die frische Luft geführt werden. Die Abb. 4 und 5 sprechen diese Tatsache an, und die Tabelle gibt einen Überblick über die Analyseergebnisse der Beispiele.
Abb. 4: »Willst du etwas aus Z˙abka?«12
Abb. 4: »Willst du etwas aus Z˙abka?« I
Abb. 5: »Bleib zu Hause! Braves Herrchen«13
Abb. 5: »Bleib zu Hause! Braves Herrchen«
Beide Memes verbindet das fast identische Bild, das einen auf zwei Beinen in der Tür stehenden und mit menschlicher Stimme sprechenden Hund sowie einen im Sessel sitzenden Hundebesitzer darstellt. Das Bild erinnert mit seiner Form an Comics. Der abgebildete Mann scheint mit seiner Mimik und Haltung kein typischer Herr des Hauses zu sein, was zusätzlich die Schriftzeile Dobry pan! / Braves Herrchen! betont (Abb. 5). Diese bildet eine Analogie zu dem typischen Lob eines Hundes Braver Hund! Daraus ergibt sich ein Rollentausch zwischen dem Hund und seinem Besitzer. Der erste hat diesmal die Initiative im Alltag übernommen. In der Sprechblase ist zu lesen: Wills du etwas aus Z˙abka? (Abb. 4), das Beispiel Nr. 5 wurde dagegen mit der verbalen Aufforderung versehen: Bleib zu Hause! Außerdem wird das Meme schwarz umrahmt.
12 https://memisko.pl/obrazek/2321/wyjscie-do-zabki-/ [Zugriff am 28. 02. 2022] (eigene Übersetzung). 13 https://m.demotywatory.pl/4982484 [Zugriff am 28. 02. 2022] (eigene Übersetzung).
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Die analysierten Memes weisen einen expressiven Charakter auf. Humorvoll zeigen sie die gesellschaftliche Reaktion auf die weitgehenden Sanktionen, die nicht mehr auszuhalten sind. Nur Hundebesitzer dürfen in der Pandemiezeit einen Spaziergang an der frischen Luft genießen. Wie allgemein bekannt, haben viele Personen besonders in den ersten Monaten der Einschränkungen den inneren Wunsch empfunden, einen Vierbeiner zu besitzen. Dies hatte einen rapiden Anstieg von Haustieren besonders in den Städten zur Folge. Gang und gäbe war auch das Ausleihen der Hunde von HundebesitzerInnen, um unter diesem Vorwand mindestens für eine Weile das Haus zu verlassen. Wie sich herausstellt, verbirgt sich hinter dem Dialog zwischen dem Menschen und seinem Hund eine komplexe Situationalität, ohne deren Kenntnis die Rezeption des Memes weitgehend eingeschränkt wird oder sogar völlig scheitern kann. Die ironische Reaktion auf den schwierigen Alltag distanziert von bedrückenden Emotionen und wirkt sich solidaritätsstiftend auf die Betroffenen aus. Erst das Erkennen der expressiven Funktion sowie der Einbezug des Weltwissens bauen einen logischen Konnex. Überraschenderweise taucht auch in den Memes Nr. 4 und 5 kein verbales Element auf, das direkt an das Corona-Virus anlehnt. Das Bild und die Schriftzeilen präsentieren einen untypischen Dialog zwischen einem Hund und einem Mann, der normalerweise nur in märchenhafter Welt anzutreffen ist. Aus den direktiven Sprechakten in den Sprechblasen Willst du etwas aus Z˙abka? (4. Beispiel) und Bleib zu Hause! (5. Beispiel) kann geschlussfolgert werden, dass der Hund vorhat, das Haus zu verlassen. Nur das Meme Nr. 4 nennt die Pläne des Hundes (indirekt), und zwar Einkäufe. Interessant ist auch der kulturelle Bezug auf die Geschäftskette Z˙abka (wörtlich Frosch). Der zu Frosch gehende Hund verleiht dem Meme auch scherzhafte Züge. Um dies zu verstehen, ist das Wissen über die Welt erforderlich. Das Meme Nr. 5 dagegen stellt die dominierende Rolle des Hundes dar, der darüber entscheidet, dass der Mann zu Hause bleiben muss. Beide Memes dienen nicht nur der Bewertung der absurden Restriktionen, sondern machen sich auch darüber lustig.
IV
Die Feststellung der Teilthemen und des Hautthemas sowie der kommunikativen Handlung, also das Ineinandergreifen von Bild und Text in einem Meme ändert radikal seine Lesart und verbindet scheinbar unlogische Teilthemen in einen multimodal komplexen Sinn. V In beiden Fällen kann Intertextualität nachgewiesen werden. Sie äußert sich nicht nur in der Struktur der Memes, insbesondere in dem schwarzen Rahmen und graphisch-textuellen Gestaltung, was auch sofort als Demotivator14 zu erkennen ist – es ist ein Hinweis für die EmpfängerInnen, dass nach einem breiteren Kontext gesucht werden soll. Dabei ist der ironische Unterton anzunehmen. Die comicsähnliche Form verweist auch auf benachbarte Texte. Tab. 2: Analyse der Abb. 4: »Willst du etwas aus Z˙abka?« und der Abb. 5: »Bleib zu Hause! Braves Herrchen« 14 S´liz (2014: 151) beschreibt Demotivatoren in ihrer Studie als »the emblem of the culture of participation«. Sie bilden einen der populärsten Typen von Memes, der aus folgenden Teilen besteht: Titel als eine Art Einleitung, ein Foto und eine Unterschrift als Pointe (vgl. S´liz 2014: 159).
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Die Memes Nr. 6 und 7 enthalten interessante Elemente in Form eines Bildes, die an das Märchen »Rotkäppchen« anknüpfen. Das Thema betrifft die strikte Ausgangssperre in der Pandemie-Zeit.
Abb. 6: »Rotkäppchen«15
Abb. 7: »Czerwony Kapturek«16
Abb. 6: »Rotkäppchen« und Abb. 7: »Czerwony Kapturek« I
II
Das Rotkäppchen und der Polizist tauchen in beiden Memes auf. Das Bild wird märchenhaft stilisiert und ähnelt einer Seite aus dem Buch der Gebrüder Grimm. Die Aussage des Polizisten befindet sich in einer Sprechblase. Es ist zu bemerken, dass das polnische Meme über eine mehr ausgebaute verbale Ebene verfügt. Hier erscheint nicht nur die Information über die Höhe der Geldstrafe, sondern es wird auch die situative, zeitliche Einbettung deutlich gemacht (Wielkanoc 2020 / Ostern 2020). Die unten stehende Schriftzeile bildet eine Art Pointe (Rotkäppchen hätte es heute nicht leicht). Darüber hinaus wird das rechts stehende Beispiel schwarz umrahmt, was auch als ein charakteristischer Meme-Zug wahrgenommen werden kann. Mit Hilfe von diesen Memes wird wiederum die emotionale Bewertung der die Menschen umgebenden Realität ausgedrückt. In der Krise konnte man schon den Eindruck gewinnen, dass fast alles, insbesondere Freizeit außerhalb des Hauses bestraft wurde. Auch das begründete Verlassen des Wohnortes musste bewiesen werden. Dies hat auch emotionale Krise nach sich gezogen, da die Menschheit von Restriktionen müde war. Deshalb haben sie nach Distanz gesucht und nach Humor in Form von Memes in ihrem Leben gegriffen. Die Aussage des deutschen Polizisten in Form von »So, so…« kann auch darauf hinweisen, dass der Polizist den Worten des Mädchens keinen Glauben schenkt. Dies könnte daran liegen, dass viele Menschen in der Pandemie gelogen und rechtswidrig gehandelt haben, um nach draußen gehen zu können.
15 https://www.facebook.com/332971560673782/posts/572430843394518/ [Zugriff am 28.02. 2022]. 16 https://gk24.pl/najlepsze-memy-lipiec-2020-sprawdz-top-100-memow-w-lipcu-koronawiru s-wakacje-czeskie-kwarantanna-14072020/ga/c13-14929454/zd/43011308 [Zugriff am 28. 02. 2022].
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IV
V
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Es kommen hier ein paar Teilthemen vor, die scheinbar inkompatibel sind. Einerseits beobachtet der Rezipient einen Dialog zwischen dem Rotkäppchen und einem Polizisten, in dem er das Mädchen über eine Geldstrafe informiert. Dem polnischen Meme sind weitere Informationen zu entnehmen, und zwar der zeitliche Rahmen – Ostern 2020. Wenn man sich nur auf dies stützt, was verbal geäußert wird, kann man hier keine Logik finden. Warum wird das Mädchen dafür bestraft, dass es seine Oma besuchen möchte. Erfahrungsgemäß ist es doch ein sozial wünschenswertes Verhalten, das von guten Beziehungen zeugt und gelobt werden sollte. Die Feststellung, »Rotkäppchen hätte es heute nicht leicht«, weist darauf hin, dass man nach der Antwort in den heutigen Zeiten suchen muss, die sogar genau festgelegt wurden. Es handelt sich nämlich um Ostern 2020. Erst der Kontext führt dazu, dass man den Sprache-Bild-Text mit dem Corona-Virus und der pandemischen Lage verbinden kann. Auch Wanderungen oder Spaziergänge waren verboten, und auf Menschen wurden bei Verstößen Geldstrafen auferlegt. Insbesondere an Osterfeiertagen wurden strengere Kontaktbeschränkungen eingeführt, da Familientreffen ein hohes Risiko von Infektionen mit sich bringen konnten. Die Memes zeigen auch die Höhe der Geldstrafen, die sich je nach Land unterschiedlich gestaltet haben. Somit liefern sie kulturelle Informationen. Das visuelle und verbale Element ergänzen sich und bilden eine sinnvolle Einheit, aber nur unter Einbeziehung von common ground. Dieser sichert den Erfolg des multimodalen Aktes, also seine vollständige Interpretation. Auffällig ist dabei eine interessante und überraschende Kombination der literarischen und der aktuellen pandemischen Welt. Das mit einem Korb mit Leckereien durch den Wald gehende Mädchen mit einem roten Käppchen appelliert an die Literaturkenntnisse eines kompetenten Meme-Empfängers (Rotkäppchen der Gebrüder Grimm). Dieses Bild stellt einen intertextuellen Verweis auf ein bekanntes Märchen her, also auf einen anderen Text. Außerdem verbindet beide Memes die Gestalt des Rotkäppchens sowie eines Polizisten. Auf der formalen Ebene spiegelt sich die Intertextualität in dem schwarzen, für Demotivatoren charakteristischen schwarzen Rahmen wider, der diesen Typ von Memes als Gattung markiert. Auf der Bildebene muss man auch dem Polizisten Beachtung schenken, der dem Rotkäppchen gerade einen Strafzettel verpasst. Er wurde auch zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem häufig in Memes auftauchenden Menschen, der die Nichteinhaltung der Restriktionen bestraft. Den komischen Effekt löst auch dazu der Kontext aus, in dem diese Gestalt platziert wird. Zu diesem Zweck wurden bekannte Gemälde, historische Ereignisse, märchenhafte und fiktive Gestalten, verstorbene Menschen o. Ä. verwendet, die auch keine Möglichkeit haben, die Geldstrafe zu begleichen.
Tab. 3: Analyse der Abb. 6: »Rotkäppchen« und Abb. 7: »Czerwony Kapturek«
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6.
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Fazit
Der vorliegende Artikel wurde Memes gewidmet, einer heutzutage in der virtuellen Welt allgegenwärtigen Erscheinung. Es wurde eine exemplarische Analyse von deutschen und polnischen Memes durchgeführt, die sich auf die vom SARSCoV-2 verursachte weltweite Pandemie beziehen. Zwecks eingehender Analyse wurde das komplexe heuristische Modell der multimodalen Textsorte von Stöckl (2016) eingesetzt, der fünf wichtige Analyseebenen umfasst: Gliederung, Handlungs- und Themenstruktur, multimodale Verknüpfung sowie Intertextualität. Sowohl die visuellen als auch die verbalen Elemente wurden dabei berücksichtigt. Auf dieser Basis konnten folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: – Gliederung: Analysiert wurden Memes mit einem Lama, dem Rotkäppchen und einem Polizisten, der gerade einen Strafzettel ausstellt und Memes, die einen Dialog zwischen einem Menschen und einem sprechenden Hund in Form eines Comics darstellen. Zusätzlich kommt in einigen Beispielen der charakteristische schwarze Rahmen, der die EmpfängerInnen sofort an bestimmte Meme-Muster denken lässt. Interessanterweise sind die vorkommenden Bilder einerseits sehr abwechslungsreich. Zu ihrer Bildung verwendet man variationsreiche Fotos, wie lustige Tiere, bekannte Personen, Fragmente von Filmaufnahmen, wichtige Ereignisse aus dem sozialen oder politischen Leben etc. Andererseits folgen Memes einem bestimmten Muster, nach dem sie rasch modifiziert und weitergegeben werden. Eine reiche Quelle von memefähigen Fotos bilden oft Generatoren von Memes, auf die man im Internet stoßen kann. Für spätere Analysen wären die kulturellen Elemente interessant, insbesondere die Rolle von kulturspezifischen Ereignissen, Personen oder Filmen. An einigen Beispielen wurde auch gezeigt, dass manchmal fast die gleichen Memes in polnischer und deutscher Sprache auftauchen. Die verbale Schicht ist dabei nicht besonders stark ausgebaut und umfasst Dialoge, Feststellungen mit Pointe. – Handlungsstruktur: Die in der Corona-Pandemie entstandenen Memes weisen einige Ähnlichkeiten in Bezug auf die Handlungsstruktur auf. Sie präsentieren einen Ausschnitt aus dem pandemischen Alltag und bilden eine besondere Reaktion der Menschen auf die sie umgebende Situation, nicht selten schwierige, was dazu führt, dass auch Emotionen sowohl bei dem Produzenten als auch Rezipienten abreagiert werden können. Memes entstehen mit dem Ziel, die EmpfängerInnen zum Lachen zu bringen, damit man sich von der Krise distanzieren und Solidarität mit anderen bilden kann, die sich auch in der neuen Realität zurechtfinden müssen. Somit kommt der so wichtige expressive Charakter von Memes zum Ausdruck, eine Kombination von Humor, Ironie und Sarkasmus. Und gerade die Expressivität scheint die wichtigste Funktion von diesem Phänomen zu sein.
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– Themenstruktur: Erwähnenswert ist in Bezug auf die Meme-Themen die Tatsache, dass in den Beispielen nur selten Wortschatz auftaucht, der auf die Corona-Virus-Pandemie direkt hinweist. Das kontaminierte Substantiv Haarantäne, insbesondere Quarantäne kann Assoziationen mit einer Krankheit auslösen, aber nicht direkt mit einer COVID-Infektion. Die für die Analyse ausgewählten Memes sprechen das sich verändernde Äußere der Menschen und Sanktionen in Bezug auf die Nichteinhaltung der eingeführten Einschränkungen an. Ohne Berücksichtigung des Kontextes und ohne Wissen über die aktuelle Lage der mit Corona-Virus infizierten Menschheit scheint die Interpretation vom Memes erschwert, und sogar unmöglich zu sein. Manchmal wecken die visuellen und verbalen Elemente den Eindruck einer Inkompatibilität. Nichtsdestotrotz findet ein kompetenter Empfänger den Zusammenhang zwischen beiden Ebenen, da ihr gemeinsames Vorkommen auch diesen vermuten lässt. Dabei ist die semantische, integrative und Textsortenkompetenz entscheidend. – Multimodale Verknüpfung: Diese Verknüpfung kann als eine spezifische Form von Kohärenz und Kohäsion angesehen werden, die Form- und Bedeutungszusammenhänge herstellen. Das visuelle und verbale wird nach dem Prinzip der intersemiotischen Komplementarität miteinander vernetzt. Die Modalitäten ergänzen sich und stiften zusammen den eigentlichen Sinn. Die multimodale Konnektivität in den analysierten Beispielen wird z. B. durch grammatische Kohäsion hergestellt (Abb. 7), und zwar das Bild zeigt das Rotkäppchen, und dann wird es auch in der unten stehenden Schriftzeile genannt. Dies sorgt für den formalen Zusammenhalt der beiden Modalitäten. Kohärenz wird dagegen gebildet, indem mit Hilfe von Wissensvoraussetzungen und Kontext aktiv interpretiert wird, was nur selten formal geschieht. Es werden eher logisch-semantische Relationen hergestellt, die bestimmte Propositionen verbinden. – Intertextualität: Memes können entweder explizit oder implizit auf andere benachbarte Sprache-Bild-Texte hinweisen. Dies ist in ihrer graphischen Gestaltung (z. B. schwarze Umrahmung), ihrer Thematik sowie der visuell-verbalen Ebene zu sehen, was die vorliegende Analyse bewiesen hat. Der schwarze Rahmen, das Lama, das Rotkäppchen, der Polizist, comicbezogene Gestaltung der Dialoge etc. können auch in anderen Memes nachgewiesen werden. Außerdem bilden Corona-Memes ein thematisches Textsortennetz (vgl. Stöckl 2016: 30). Zu bemerken ist auch der explizite Intertextualitätshinweis auf das Märchen »Rotkäppchen«. Auf diese Art und Weise wird an das Vorwissen der Rezipienten appelliert und dieses aktiviert. Wie es sich herausstellt, ermöglicht das heuristische Modell von Stöckl (2016) eine komplexe Betrachtungsweise von Memes als multimodalen Sprache-Bild-
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Texten expressiver Art. Das Analysetool beschreibt die Funktionen, Struktur, situative Einbettung und die überaus wichtige multimodale Verknüpfung von Zeichenmodalitäten, die dabei helfen, bestimmte Interpretationsrahmen für Memes zu eröffnen und intermodale Kohäsion und Kohärenz herzustellen. Die Analyseergebnisse lassen auch weitere Schlüsse ziehen. Was alle untersuchten Memes verbindet, ist ihre stark ausgeprägte expressive Funktion, da sie unter Einfluss von Emotionen gebildet und auch emotional wahrgenommen werden. Außerdem kann man sie eine Art Spiegel von Stimmungen nennen, die in der Pandemiezeit unter Menschen vorherrschen und zu bewältigen sind. Zu beachten sind auch die starke Abhängigkeit und das Zusammenspiel von visuellen und verbalen Elementen, die unter Einbeziehung von Weltwissen und Situationalität über die richtige Entschlüsselung der Intentionen der MemeAutoren entscheiden. Wünschenswert wäre in Zukunft die Rezeptionsforschung von Memes sowie empirische, großangelegte Studie zu multimodalen Textsortenrepertoires, die auch die Gestaltung und historisch und kulturell bedingte Veränderungen schildern könnte. Auch der Empfänger soll in den Vordergrund rücken. Abschließend lässt sich festhalten, dass Memes nicht nur einfache, triviale Verbindungen von Bild und Text darstellen, sondern auch als eine anspruchsvolle sprachwissenschaftliche Herausforderung gelten, einer Mehr-EbenenAnalyse bedürfen und überaus komplexen, nur scheinbar einfachen Produktions- und Rezeptionsprozessen unterliegen.
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Marcelina Kałasznik (Uniwersytet Wrocławski, Wrocław)
#Impfen hilft und #Szczepimy sie˛ – Zu offiziellen Informationskampagnen über die Corona-Schutzimpfung im deutsch-polnischen Vergleich
Abstract #Impfen hilft and #Szczepimy sie˛ – On Official Information Campaigns about the Corona Vaccination in a German-Polish Comparison Vaccination against coronavirus is considered one of the preventive means against infection with coronavirus or against the severe course of the disease. Since the time of the invention and introduction of coronavirus vaccination, information campaigns have been conducted in various countries around the world to encourage societies to get vaccinated. The aim of the following paper is to examine the German and Polish campaigns for coronavirus vaccination, focusing mainly on the following questions: How do the German and Polish messages appeal to recipients? What linguistic mechanisms are used in the German and Polish campaigns to persuade people to vaccinate? What other means are used to try to achieve the intended advertising effect? The contrastive perspective on the object of research allows conclusions to be drawn about the communicative strategies in both countries. Keywords: information campaign, health campaign, social advertising, corona vaccination, advertising material, corona pandemic Schlüsselwörter: Informationskampagne, Gesundheitskampagne, soziale Werbung, Corona-Schutzimpfung, Werbemittel, Corona-Pandemie
1.
Einführung
Gesundheit ist einer der wichtigsten Faktoren, der die Werte und Normen des menschlichen Lebens bestimmt.1 Die Infektionskrankheit COVID-19, die im Januar 2020 in China eine Epidemie ausgelöst hat und zwei Monate später von der WHO zur Pandemie erklärt wurde, stellte und stellt weiterhin eine ernsthafte Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerungen auf der ganzen Welt dar. Die Zahl der schwer Erkrankten, die von der hohen Virulenz des Erregers, d. h. des Coronavirus SARS-CoV-2 zeugt, und die Todeszahlen verdeutlichen die Risiken, 1 Vgl. in diesem Kontext den Begriff Gesundheitsgesellschaft von Kickbusch/Hartung (2012).
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die mit der Krankheit verbunden sind. Um der Ansteckung mit dem Coronavirus vorzubeugen, wurde in den einzelnen Ländern eine Reihe von Schutzmaßnahmen eingeführt, die in der Anfangsphase vor allem darin bestand, die zwischenmenschlichen Kontakte einzuschränken (Lockdown), Abstand zu halten, Hygieneregeln zu beachten und Masken zu tragen (in Deutschland die sog. AHAFormel2). Dazu wird ebenfalls empfohlen, Räume zu lüften und spezielle CoronaApplikationen3 zu gebrauchen. Im Dezember 2020 wurde der erste Impfstoff gegen das Coronavirus von BioNTech und Pfizer von der Europäischen Kommission zugelassen. Seit dieser Zeit wurden Impfstoffe anderer Pharmafirmen (z. B. Johnson & Johnson, Moderna, AstraZeneka) auf den Markt gebracht. Dank der Entwicklung und Einführung der Impfstoffe wurde die Vakzination zu einem der Präventivmittel vor der Ansteckung mit SARS-CoV-2. Wie der ehemalige deutsche Bundesgesundheitsminister Jens Spahn festgestellt hat, »[ist] [d]ie größte Impfaktion der Geschichte eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe«4. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, sind zu dieser Zeit offizielle, von den Regierungen der einzelnen Länder konzipierte soziale Impfkampagnen gestartet, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Gesellschaften über die Corona-Vakzine aufzuklären und die Menschen zur Impfung gegen das Coronavirus zu überzeugen. Die Informationskampagnen erweisen sich von großer Bedeutung, zumal das Vertrauen in die Impfungen gegen das Coronavirus nicht offensichtlich ist und von vielen Faktoren wie dem Alter, dem Bildungsniveau, der Herkunft usw. abhängt.5 Inzwischen verbreiten sich auch vor allem durch das Internet ungeprüfte Theorien und Fake News6 über die einzelnen Impfstoffe, ihre Nebenwirkungen, Ziele ihrer Verabreichung usw. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags befinden sich die deutsche und polnische Informationskampagne zur Corona-Impfung, die entsprechend von deutschen und polnischen staatlichen Instanzen entwickelt und verbreitet wurden. In diesem Zusammenhang gilt es folgende Fragen zu beantworten: – Auf welche Art und Weise appellieren die Botschaften aus der deutschen und polnischen Kampagne für die Corona-Schutzimpfung an die Rezipienten?
2 https://youtu.be/hbwXM3l36LY [Zugriff am 20. 03. 2022]. 3 https://www.youtube.com/watch?v=UNB5J021ubo&t=4s [Zugriff am 20. 03. 2022]. 4 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus/chronik-coronavirus.html [Zugriff am 20. 03. 2022]. 5 Zu Gründen für die Impfverweigerung vgl. z. B. den Ergebnisbericht vom 18. 10. 2021 von der forsa-Gesellschaft, vgl. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_ Downloads/C/Coronavirus/Befragung_Nichtgeimpfte_-_Forsa-Umfrage_Okt_21.pdf [Zugriff am 20. 03. 2022]. 6 Manche Mythen über Impfung und Impfstoffe werden auf der offiziellen Seite der Bundesregierung dekonstruiert, vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/corona-infor mationen-impfung/mythen-impfstoff-1831898 [Zugriff am 20. 03. 2022].
#Impfen hilft und #Szczepimy sie˛
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– Welche sozialen Appelle, d. h. »Darstellungen sozialer Konsequenzen« (Refegerste/Rössler 2014: 606) werden eingesetzt, um die Rezipienten zur Schutzimpfung zu motivieren und zu überzeugen? – Wie werden die Kampagnen in verschiedenen Werbekanälen umgesetzt? – Welche sprachlichen Mechanismen und welche anderen Mittel (z. B. visuelle oder audiovisuelle Mittel) finden in den Kampagnen Anwendung, um die Verhaltensweisen der Rezipienten in Bezug auf die Impfung zu beeinflussen. In der nachfolgenden Analyse wird davon ausgegangen, dass die Impfkampagnen als Informationskampagnen7 oder soziale Werbung im Gesundheitsbereich (eng. social advertising8) betrachtet werden können.9 Sie werden als »erzieherische Maßnahmen« (Leonarz 2009: 215, vgl. auch Wasilewski 2014: 147) eingestuft, deren Ziel darin besteht, sozial erwünschte Einstellungen und Verhaltensweisen hervorzurufen (vgl. Wasilewski 2014: 143). Die kontrastive Sichtweise auf die Darstellung des Gegenstandes der Impfkampagnen in Deutschland und in Polen lässt Schlussfolgerungen darüber ziehen, wie sie das Problem der Vakzination thematisieren, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sie in ihrer Gestaltung und im Appell an gesellschaftliche Werte und Normen aufweisen und mit welchen kommunikativen Techniken sie ihre Ziele zu verwirklichen suchen.
2.
Informationskampagnen in der Gesundheitskommunikation
Rossmann (2019: 9) definiert die Gesundheitskommunikation als »[…] ein Forschungs- und Anwendungsfeld, das sich mit den sozialen Bedingungen, Folgen und Bedeutungen von gesundheitsbezogener und gesundheitsrelevanter, intendierter und nicht-intendierter, intrapersonaler, interpersonaler, medialer und öffentlicher Kommunikation beschäftigt«. Im Rahmen der Gesundheitskommunikation wird das Wissen zum Thema ›Gesundheit‹ und ›Krankheit‹ vermittelt und ausgetauscht (vgl. Hurrelmann/Leppin 2001: 11), wobei die Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen kann. Wie sich aus der
7 In diesem Kontext wird auch der Begriff Kommunikationskampagnen gebraucht (vgl. z. B. Bonfadelli/Friemel 2010). 8 »Social advertising is a type of advertising that promotes brands by serving social interest causes by using relevant mediums. Nowadays, social advertising preferably uses social media platforms to reach target audiences and fulfill its goals«, vgl. https://www.marketing91.com/so cial-advertising/ [Zugriff am 20. 03. 2022]. 9 Vgl. hierzu Kapitel 2.
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oben zitierten Auffassung von Rossmann (2019: 9, 10–11) ergibt, vollzieht sich die Gesundheitskommunikation auf den folgenden Ebenen10: – die intrapersonale Ebene, d. h. der innere Prozess, in dem sich eine Person mit ihren Gedanken, Gefühlen und Informationen über ihren Gesundheitszustand oder ihre Krankheit auseinandersetzt; – interpersonale Ebene, d. h. die zwischenmenschliche Kommunikation, z. B. Arzt-Patienten-Gespräche; – Organisationskommunikation, d. h. Kommunikation von Organisationen und Institutionen aus dem Gesundheitssektor; – massenmediale Kommunikation, d. h. die Vermittlung gesundheitsrelevanter Informationen über die Massenmedien an die Öffentlichkeit. Im Rückgriff auf die bereits dargestellten Ebenen der Gesundheitskommunikation sind die von staatlichen Instanzen organisierten Kampagnen zum Thema der Corona-Impfung auf der letzten Stufe anzusiedeln, weil sie sich an die Öffentlichkeit richten und auf verschiedene Medien zurückgreifen, um die Rezipienten auf ein gesundheitlich relevantes Problem aufmerksam zu machen. Die Informationskampagnen im Bereich der Gesundheit haben sich in den 80er bzw. 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in westlichen Ländern etabliert, wobei sie eine Reaktion auf die Werteverschiebung und auf die Wahrnehmung von Süchten darstellen, die sich unter Zeitdruck und Stress entwickeln (vgl. Leonarz 2009: 213–214). Die quantitative Untersuchung der Informationskampagnen lässt den Schluss zu, dass »der Gesundheitsbereich das bedeutendste Themenfeld dar[stellt]« (Bonfadelli/Friemel 2010: 23). Die Informationskampagnen werden allerdings auch zu anderen sozial wichtigen Problemen durchgeführt (vgl. Wasilewski 2014: 145–146, Bonfadelli/Friemel 2010: 23), z. B.: – Kampagnen zur Verkehrssicherheit (z. B. Runter vom Gas11), – Kampagnen für die Belange der behinderten Menschen (z. B. Demokratie braucht Inklusion12), – Kampagnen für Umweltschutz (z. B. #keinAber beim Klimaschutz13),
10 Nach anderen Auffassungen ist auch von der Mikro-, Meso- und Makroebene die Rede (vgl. Rossmann 2019: 11), wobei die Mikroebene für die intra- und interpersonale Kommunikation steht, die Mesoebene für die Organisationskommunikation und die Makroebene für die massenmediale Kommunikation. 11 https://www.runtervomgas.de/?gclid=Cj0KCQjw6J-SBhCrARIsAH0yMZgBej5IMVMoY_AY dqs83VWks83oe7PLWY4UAa5VWOZdV2Mm_gG90wsaAr39EALw_wcB [Zugriff am 20. 03. 2022]. 12 https://www.demokratie-leben.de/projekte-expertise/projekte-finden-1/projektdetails/letsdo-it-demokratie-braucht-inklusion-576 [Zugriff am 20. 03. 2022]. 13 https://www.bmuv.de/mehrklimaschutz/keinaber-beim-klimaschutz-kampagnenmotive [Zugriff am 20. 03. 2022].
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– Kampagnen zur Gewinnung finanzieller Mittel (z. B. Spenden von 1 % der Steuer14). Unabhängig von der Problematik einer jeweiligen Informationskampagne besteht ihr Ziel darin, die Gesellschaft auf ein Problem von einer gewissen sozialen Relevanz aufmerksam zu machen und folglich durch bestimmte Kommunikationsaktivitäten und -techniken die Einstellungen und Verhaltensweisen bestimmter anvisierter Zielgruppen zu beeinflussen und zu verändern (vgl. Leonarz 2009: 214, 215, auch Wasilewski 2014: 142). Betrachtet man die Informationskampagnen aus einer anderen Perspektive, sind sie »immer auch Zeugnisse gesellschaftlich erwünschter Einstellungen und Verhaltensweisen und vermitteln implizit durch ihre Botschaften generell akzeptierte Normen« (Leonarz 2009: 215). Im Anschluss an die generellen Charakteristika der Informationskampagnen lassen sich die Gesundheitskampagnen als »zielgerichtete und systematische Kommunikationsaktivitäten« (Leonarz 2009: 215) zur Vermittlung bewusster Verhaltensweisen betrachten, die darauf abzielen, die Gesundheit aufrechtzuerhalten und zu fördern (z. B. ausgewogene Ernährung, Sport, Verzicht auf Suchtmittel usw.) (vgl. Wasilewski 2014: 144). Allgemein betrachtet, dienen Gesundheitskampagnen dazu, die Gesundheit zu vermarkten (vgl. Wasilewski 2014: 142, 144). Am meisten handelt es sich dabei um sog. Präventionsbotschaften (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 607, auch Wasilewski 2014: 144), mit denen über ein bestimmtes Risiko- oder Schutzverhalten informiert wird und die folglich zu einer gesunden Lebensweise anleiten sollten (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 607). Die Informationskampagnen, darunter diese im Bereich der Gesundheit, »bedienen sich der Techniken und Strategien der PR und der Werbung« (Leonarz 2009: 215), wobei sie nicht mit der kommerziellen Werbung15 gleichzusetzen sind (vgl. Wasilewski 2014: 143). Sie nehmen zwar die Mittel der Marketingkommunikation in Anspruch und werden via Massenmedien sowie andere für die kommerzielle Werbung typische Kanäle realisiert (vgl. Wasilewski 2014: 143, 144, auch Leonarz 2009: 215). Sie unterscheiden sich aber von der kommerziellen Werbung vor allem im Punkt der Charakteristik des beworbenen Gegenstandes (vgl. Bonfadelli/Friemel 2010: 18). Im Gegensatz zur traditionellen Werbung sind die Informationskampagnen problemorientiert (vgl. Leonarz 2009: 215). Im Fokus steht folglich – im Gegensatz zur traditionellen Werbung – keine Marke oder kein Hersteller, für die / den geworben wird (vgl. Bonfadelli/Friemel 2010: 14 Z. B. https://pomagam.wwf.pl/przekaz_1_procent?gclid=Cj0KCQjw6J-SBhCrARIsAH0yMZg c4-ehjD2Xz1 f2FAAyxsYrUgfovHZKMBH4cwFy3AQMJEWD8zRfmpcaArnWEALw_wcB [Zugriff am 20. 03. 2022]. 15 Zur kommerziellen Werbung, die zur Impfung anregt, vgl. den Text von Rada (2022).
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16). Auch bezüglich des Ziels unterscheiden sich die Informationskampagnen von der Werbung. Bei Kampagnen geht es nämlich nicht um die Steigerung des Verkaufs eines Produktes oder die Manipulation des Kundenverhaltens, sondern darum, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf wesentliche gesellschaftliche Probleme zu lenken, die ihn selbst betreffen (können) (vgl. Wasilewski 2014: 144). Um die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu gewinnen, was keine einfache Aufgabe in der Welt zahlreicher Reize und der Informationsflut darstellt (vgl. Wasilewski 2014: 152), bedienen sich die Informationskampagnen Kommunikationstechniken, die Text, Bild und Ton umfassen. Unter Heranziehung verschiedener Mittel legen die Informationskampagnen einerseits rationale Argumente dar, die den Rezipienten zu einem Verhalten anregen sollten (vgl. Wasilewski 2014: 146). Andererseits zielen sie darauf ab, Emotionen beim Rezipienten hervorzurufen, um ihn aus dem Zustand der Gleichgültigkeit zu bringen und sich Gedanken über ein Problem zu machen (vgl. Wasilewski 2014: 146). Mit den rationalen Argumenten wird das Ziel verfolgt, den Rezipienten für ein Thema zu sensibilisieren und das Wissen aus einem bestimmten Bereich zu aktivieren und zu vermitteln (vgl. Leonarz 2009: 217). Mit emotionalen Appellen, die sowohl auf positiv formulierten Botschaften (z. B. die Hervorhebung der Handlungsspielräume und Gratifikationen, positive Darstellung kurzer oder mittelfristiger Ziele) als auch auf negativen Emotionen (vor allem Angst16, das Gefühl der Gefahr) aufbauen können (vgl. Leonarz 2009: 217), wird der Rezipient als emotionales Wesen angesprochen (vgl. Leonarz 2009: 217, auch vgl. Wasilewski 2014: 151, Refeigerste/Rössler 2014: 608). Unabhängig von der Art der Darstellung eines jeweiligen Problems weisen die eingesetzten Darstellungsmittel eine bestimmte persuasive Kraft auf, die notwendig zu sein scheint, um »die relevanten Ziele eines Verhaltens bzw. die Werte und Motive der Rezipienten zu adressieren« (Refeigerste/Rössler 2014: 609). Für die Wirksamkeit der Gesamtbotschaft ist es folglich auch wichtig, dass sie mit den Zielen, der Persönlichkeit und der Erfahrungswelt der Rezipienten in Übereinstimmung steht (vgl. Refeigerste/ Rössler 2014: 608). Um die Wirkung der Kampagne zu steigern und sie glaubwürdiger erscheinen zu lassen, werden oft bekannte Persönlichkeiten in die Aktionen involviert, die auch für die Aufmerksamkeitssteigerung sorgen und beim Rezipienten Lust zum Nachahmen erwecken sollten (vgl. Wasilewski 2014: 149). Insgesamt ergibt sich die kommunikative Wirksamkeit der Informationskampagnen aus der Verschränkung von Kreativität, gestalterischer und inhalt16 In diesem Kontext wird über Furchtappelle gesprochen (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 608). Diese Technik, den Rezipienten in Schrecken zu versetzen und ihn auf diese Art und Weise vor den Risiken eines Verhaltens zu warnen, repräsentieren z. B. abschreckende Bilder auf Verpackungen von Zigaretten (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 608).
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licher Invention sowie Wissen über den Markt und seine Funktionsweise (vgl. Nierenberg 2011: 136, Wasilewski 2014: 147). Um diesen Teil zusammenzufassen, sei abschließend auf die Merkmale der Informationskampagnen hinzuweisen, d. h. Interaktivität, eine bestimmte Intensität, Zielgerichtetheit und systematische Durchführung (vgl. Bonfadelli/ Friemel 2010: 16).
3.
Analyse des Materials
Im Folgenden werden die deutsche und die polnische Kampagne zur CoronaSchutzimpfung analysiert, wobei das grundsätzliche Ziel der Untersuchung darin besteht, zu präsentieren, wie die Produzenten der Kampagnen an die Rezipienten appellieren und welche Mittel in welchen massenmedialen Kanälen in den beiden Kampagnen zum Einsatz kommen. Daraus ergeben sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die Gestaltung der Werbebotschaften sowie folglich in der öffentlichen Darstellung des thematisierten Problems.
3.1
Korpus der Analyse
Das Korpus der Untersuchung bilden sieben deutsche Werbeplakate aus der Kampagne unter dem Slogan #Impfen hilft und zwei Videos aus der Kampagne Deutschland krempelt die #ÄrmelHoch.17 Alle Werbematerialien wurden der Internetseite Zusammen gegen Corona entnommen, die von dem Bundesministerium für Gesundheit betrieben wird.18 Die Werbeplakate sind aus der Sektion Downloads19 zu exzerpieren und die Videos sind in der Mediathek20 abrufbar.21 Was die Werbeplakate angeht, wurden zur Analyse nur die deutschsprachigen Versionen herangezogen.22
17 Die Kampagne #Impfen hilft hat die Kampagne #ÄrmelHoch abgelöst. 18 https://www.zusammengegencorona.de/ [Zugriff am 28. 03. 2022]. 19 https://www.zusammengegencorona.de/downloads/?filter=alledownloads [Zugriff am 28. 03. 2022]. 20 https://www.zusammengegencorona.de/mediathek/ [Zugriff am 28. 03. 2022]. 21 In der Mediathek sind auch Podcasts zum Thema ›Impfen‹ zu finden. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung sind acht Folgen zugänglich, von denen jede einer anderen mit der Impfung einhergehenden Frage gewidmet ist. In den Podcasts treten verschiedene Personen, Experten (insbesondere Ärzte, aber auch Physiker, Journalisten usw.) auf und thematisieren ausgewählte Aspekte. Die Podcasts haben unterschiedliche Länge, aber im Durschnitt handelt es sich um einstündige Gespräche. Diese werden hierin nicht thematisiert, weil das den Rahmen des Beitrags sprengen würde.
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Was die polnische Informationskampagne angeht, werden im Folgenden neun polnische Werbeplakate und zwei Werbespots23 näher betrachtet. Die Materialien wurden aus dem offiziellen Service der Republik Polen24 entnommen.
3.2
Deutsche Kampagnen #Impfen hilft und Deutschland krempelt die #ÄrmelHoch
Bei der Analyse der Kampagnen für die Corona-Schutzimpfung wird jeweils von den Werbeplakaten ausgegangen, die auf verschiedene Art und Weise verbreitet werden können. Sie können sowohl ausgedruckt und an verschiedenen Orten ausgehängt werden. Sie können aber auch als Bilder z. B. über Soziale Medien verbreitet werden. 3.2.1 Werbeplakate Die Kampagne #Impfen hilft umfasst die Reihe von sieben Werbeplakaten (vgl. Abb. 1–7). Dabei handelt es sich um multimodale Texte (vgl. Opiłowski 2015: 58– 59), die sowohl sprachliche Zeichen enthalten als auch die nichtsprachliche Zeichenmodalität in Form von Bildern umfassen. Außerdem spielen bei den im Folgenden präsentierten multimodalen Texten solche Faktoren wie Farben, Schriftarten, räumliche Gestaltung der sprachlichen Textteile gegenüber den bildlichen und im Zusammenhang mit dem Textganzen eine bestimmte Rolle. In Bezug auf die analysierten Werbeplakate lässt sich das konsistente Textdesign erkennen, das aus folgenden Komponenten besteht: – die Hintergrundfarben Hellgrün und Hellblau, – der fast in der Mitte platzierte in weißem Fettdruck gehaltene Werbeslogan Impfen hilft mit dem dunkelblauen Hintergrund, – die je nach dem Plakat variierende Unterschrift im umgekehrten Farbenverhältnis (dunkelblaue Schrift und weißer Hintergrund). 22 Das erste präsentierte Werbeplakat (vgl. Abb. 1) ist insgesamt in 11 Sprachen verfügbar, wobei außer Deutsch Arabisch, Bulgarisch, Englisch, Kurdisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Tschechisch, Türkisch und Ukrainisch repräsentiert werden. Außerdem ist das Werbeplakat »Impfen hilft. Auch allen, die du liebst.« (vgl. Abb. 3) mit einem arabischen, englischen, russischen und türkischen Motiv zugänglich, wobei die Änderung gegenüber dem deutschen Plakat darin besteht, dass das Hintergrundbild anders ist und der Werbeslogan in eine jeweilige Sprache übersetzt wird. Die originale deutsche Version des Slogans erscheint unter der Übersetzung in die jeweilige Sprache. 23 Auf der offiziellen polnischen Internetseite, die den Impfungen gewidmet ist, sind insgesamt 20 Werbespots zugänglich. Aus Raumgründen lassen sich hierin nicht alle Werbespots analysieren. 24 https://www.gov.pl/web/szczepimysie/spoty-promocyjne [Zugriff am 28. 03. 2022].
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Dieses gestalterische Motiv wird auf allen Werbeplakaten konsequent umgesetzt. Eine teilweise Ausnahme bildet hierbei das erste Werbeplakat (vgl. Abb. 1a–b), das aus zwei Seiten besteht. Die Vorderseite richtet sich teilweise nach dem bereits besprochenen Muster, die Rückseite als Fortsetzung der ersten Seite weicht in ihrer visuellen Gestaltung ab. Alle Werbeplakate enthalten außerdem den Kasten Wir helfen bei Fragen, der in der unteren linken Ecke situiert wird und die Telefonnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes, die Adresse der Webseite über die Corona-Impfung und den QR-Code der Internetseite enthält. Der Kasten Wir helfen bei Fragen verleiht den Plakaten das Merkmal der Interaktivität, indem der jeweilige Rezipient zum Kontakt eingeladen wird, wobei verschiedene Möglichkeiten der Kontaktaufnahme angeboten werden. Die vertretenen Kontaktmöglichkeiten, die vom traditionellen Anruf über die Webseite bis zum QR-Code reichen, sollten eine bestimmte Offenheit der Textproduzenten verschiedenen Rezipientengruppen gegenüber verdeutlichen, die unterschiedliche Präferenzen in Bezug auf den Kontaktmodus haben können. Der Kasten Wir helfen bei Fragen verweist auch auf die Bezüge des Werbeplakates mit anderen Texten. Hierbei handelt es sich um die vertiefenden Texte auf der Internetseite, die der Corona-Impfung gewidmet ist. Allen Plakaten ist auch das Logo der Bundesregierung gemeinsam, das in der rechten unteren Ecke der Fläche situiert wird. Auf diese Art und Weise, d. h. durch die Platzierung des offiziellen Logos der Bundesregierung, wird die Informationskampagne mit den staatlichen Instanzen identifiziert und folglich erscheint sie glaubwürdig und authentisch. Der Werbeslogan Impfen hilft zeichnet sich durch seine Kürze aus, indem er die Form einer einfachen Behauptung einnimmt.25 Sprachlich richtet sich die Mehrheit der Werbeplakate (mit der Ausnahme der Abb. 1a–b, 2, 6) nach dem Muster, das sich aus zwei Elementen zusammensetzt: – der Werbeslogan Impfen hilft, – die sich daran anschließende Unterschrift, die eine inhaltliche Fortsetzung des Slogans ist und die von der Form her auf die häufigsten Verbindungen26 des Verbs helfen zurückgeht (z. B. Dativobjekt – vgl. Abb. 3, 4, 7, koordinative Verbindung mit dem Verb schützen – vgl. 5 und die Verbindung mit der Präposition gegen – vgl. Abb. 6).
25 Zu Kritikpunkten der Kampagne in den deutschen Medien (darunter auch des Werbeslogans), vgl. z. B. https://www.rnd.de/medien/corona-impfkampagne-der-bundesregierung-d uemmlich-und-an-der-realitaet-vorbei-UNLTKSPFGJHRPHFKJ3P4IILUBA.html [Zugriff am 21. 02. 2022]. 26 Vgl. hierzu das DWDS-Wortprofil des Verbs helfen, https://www.dwds.de/wp/helfen [Zugriff am 21. 02. 2022].
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Eine deutliche Abweichung von dieser Struktur bildet das erste Werbeplakat, in dessen oberem Bereich auf der Vorderseite der Slogan Impfen hilft zu sehen. Dem folgt die Überschrift 7 Gründe, sich jetzt impfen zu lassen. Im unteren Bereich der ersten Seite und der zweiten Seite des Plakats werden die sieben Gründe, die für die Impfung sprechen, kurz erläutert. Bei den Begründungen handelt es sich um kurze nummerierte Texte ( jeweils zwischen fünf und zehn Zeilen), die Überschriften, hervorgehoben mit Fettdruck in Dunkelblau, enthalten. Auf den beiden Seiten (auf der Vorderseite in der rechten Ecke unten und auf der Rückseite im oberen Bereich) sind piktographische Bilder situiert, die den Menschen in Beziehung zu anderen Personen aufzeigen. Vor allem hebt diesen Aspekt das Bild auf der Rückseite des Wahlplakats hervor, indem es eine Mehrgenerationenfamilie darstellt, die zusammen im Wohnzimmer die Zeit verbringt. An dieser Stelle sei anzumerken, dass die schon erwähnten sieben Gründe für die Impfung zu Motiven der weiteren Plakate werden, z. B. der erste und der vierte Grund (Motiv des Schützens von sich selbst) wird auch auf dem Werbeplakat 5 (vgl. Abb. 5) thematisiert, der zweite Grund (Motiv des Schützens der Nächsten) kommt auf den Wahlplakaten 3, 4, 7 (Abb. 3, 4, 7) zum Ausdruck, der fünfte Grund (Motiv der einfachen Vorgehensweise bei der Anmeldung für die Impfung) wird auf dem Werbeplakat 2 (Abb. 2) problematisiert, der siebte Grund (Motiv der Normalität) wird auf dem sechsten Plakat (Abb. 6) dargestellt. Interessanterweise werden der dritte (Sichere Impfstoffe) und der sechste Grund (Für jedes Alter der richtige Impfstoff) auf den weiteren Wahlplakaten nicht mehr aufgegriffen. Das Werbeplakat 2 weicht von dem oben skizzierten Aufbau ab, indem ihre Unterschriften nicht so eng mit dem in dem Slogan vorkommenden Verb helfen verbunden sind. Auf der Abbildung 2 werden nämlich im Rückgriff auf die Anapher mit dem Anfangswort ohne die Vorteile der Vorgehensweise bei der Anmeldung für die Impfung hervorgehoben. Einigen Werbeplakaten ist die Verwendung der Konjunktion auch (vgl. Abb. 3, 4, 6) gemeinsam. Der Gebrauch von auch verweist darauf, dass sich bei den Einzelaussagen, die für die Impfung argumentieren, um jeweils einen ausgewählten aus einer Mehrzahl von Gründen handelt. Was die bildliche Seite der Werbeplakate betrifft, umfassen fünf von den Werbeplakaten Bilder. Bei vier Werbeplakaten handelt es sich um Bilder in Form großflächiger Fotos (vgl. Abb. 3–6), die im oberen Bereich des Plakats platziert sind. Zwei Werbeplakate umfassen keine Bilder (vgl. Abb. 2, 7). Das Werbeplakat 1 besteht aus piktographischen Bildern. Die bildlichen Elemente verweisen sowohl auf negative Konsequenzen der Ansteckung mit SARS-CoV-2 (vgl. Abb. 4, 5, 6), als auch verdeutlichen positive Folgen des erwünschten Verhaltens, d. h. der Einnahme der Impfung. Die negativen Folgen manifestieren sich auf dem Wahlplakat 5 am deutlichsten, indem das Bild den an COVID-19-Erkrankten im
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Krankenhausbett, umgeben von Pflegekräften oder Ärzten in Schutzkleidung, darstellt. Mit diesem Bild werden die Gefahren, die mit der Ansteckung mit dem Coronavirus einhergehen, eindeutig aufgezeigt. Auf diese Art und Weise wird mit der visuellen Seite dieses Werbeplakats darauf abgezielt, die Wahrnehmung des Risikos hervorzurufen (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 608). Ein weiteres Bild (vgl. Abb. 6), das die negativen Konsequenzen der Erkrankung zum Ausdruck bringt, stellt einen Mann wahrscheinlich mit einem Sohn am Fenster dar, die sehnsüchtig nach draußen blicken. Auf diese Art und Weise wird an die Erfahrung des Lockdowns angeknüpft. Betrachtet man die ganze Reihe von Werbeplakaten, die die Kampagne #Impfen hilft ausmachen, erweist es sich, dass sie einerseits das Streben danach hervorheben, die eigene Gesundheit aufrechtzuerhalten (vgl. Abb. 5). Andererseits aber kann festgestellt werden, dass vielmehr die sozialen Motive der Impfung und die sozialen Konsequenzen der Impfverweigerung akzentuiert werden (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 606, 611). In diesem Sinne erscheint der Mensch in Beziehung zu anderen Menschen und als ein Teil der Gesellschaft, die für ihn die wichtigste Bezugsgröße darstellt (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 611) (vgl. Abb. 3, 7). Eine Rolle spielt hierbei auch das sog. Fürsorgemotiv (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 612). Damit wird gezeigt, dass prosoziale Verhaltensweisen (hier die Impfung nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Umgebung) gesellschaftlich erwünscht und gefragt sind (vgl. Abb. 3, 7). Das Fürsorgemotiv »beinhaltet daher auch die Verantwortung für die Gesundheit anderer und steigert im besten Falle deren Bereitschaft zu gesundem Verhalten« (vgl. Refeigerste/ Rössler 2014: 621). Die drei Motive, d. h. das Streben nach der eigenen Gesundheit, die sozialen Konsequenzen der Impfung vs. der Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen sowie die Sorge um die Gesundheit anderer, können um den Appell an die Rezipienten ergänzt werden, die sich durch die selbstbezogenen und sozialen Motive nicht angesprochen fühlen (vgl. Abb. 2). Dabei wird der Schwerpunkt der Argumentation für die Impfung auf ihre einfache Organisation gelegt, die den Unentschlossenen verhelfen soll, sich dafür zu entscheiden.
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Abb. 1a27
Abb. 1b
Abb. 2
Abb. 3
27 Alle nachfolgenden Abbildungen in diesem Teil wurden der folgenden Internetseite des Bundesministeriums für Gesundheit entnommen: https://www.zusammengegencorona.de /downloads/?filter=%23impfenhilft [Zugriff am 21. 02. 2022].
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Abb. 4
Abb. 5
Abb. 6
Abb. 7
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3.2.2 Werbespots Die auf der offiziellen Internetseite des Bundesministeriums für Gesundheit zugänglichen Videos lassen sich den folgenden thematischen Gruppen zuordnen: – Videos von bekannten Persönlichkeiten, die dazu überzeugen, zu Hause zu bleiben (versehen mit dem #WirBleibenZuHause)28, insgesamt 100 Videos mit der durchschnittlichen Dauer von ungefähr einer Minute, – Erfahrungsberichte von Menschen, die an Corona erkrankt sind (versehen mit dem #IchHatteCorona), insgesamt 12 Videos mit der durchschnittlichen Dauer von ungefähr 5 Minuten, – Videos zur Corona-Schutzimpfung mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten: a. Aufklärungsvideos zu verschiedenen Fragen, die mit der Impfung zusammenhängen (z. B. Impfung während der Schwangerschaft), insgesamt vier Videos, b. Aufklärungsvideos, in denen Experte zur Sprache kommen und bestimmte Themen im Zusammenhang mit den Impfstoffen erklären (z. B. Totimpfstoffe, Impfung und Ansteckung mit Omikron) (versehen mit dem #Kurzundschmerzlos), insgesamt zwei Videos, c. humoristische Videos (verstehen mit dem #ÄrmelHoch), insgesamt fünf Videos, d. Videos zum Weg Deutschland zur Corona-Impfung, insgesamt ein Video, e. Sonstiges (z. B. Videos mit allgemeinen Informationen über die Impfungen). Für die Analyse wurden zwei Videos bestimmt, die die Kampagne Deutschland krempelt die #ÄrmelHoch repräsentieren. In beiden Fällen handelt es sich um kurze Werbespots mit der Dauer von einer halben Minute. Im ersten Video taucht die Figur Bernd Stromberg aus der deutschen Comedy-Fernsehserie »Stromberg«29 auf, der der Leiter der Abteilung Schadensregulierung in einer Versicherungsfirma ist. Die Handlung der Serie drehte sich um den Büroalltag der Hauptfigur, die sich durch mangelnde Fachkompetenz, das oft gescheiterte Bestreben, sein Team musterhaft zu leiten, und seine spezifische Einstellung zu seinen Mitarbeitern auszeichnet. In diesem Video taucht Stromberg im Büroraum auf und stellt sich als ein junger, sportlicher Mann bei guter Gesundheit dar, der sich keine Gedanken über die Impfung machen muss. Die Idee, sich prophylaktisch impfen zu lassen, fertigt er mit dem folgenden Satz ab: Da kannst Du ja auch das Parkett herausreißen, ob darunter noch ein Teppich ist (0:10). Durch diesen überraschenden Vergleich drückt er seine skeptische Einstellung den Impfungen gegenüber aus. Die Aussage Strombergs wird mit der schwarzen Tafel mit der eingeblendeten Überschrift: Eine Infektion kann jeden 28 Zeitlich fügen sie sich in die erste Phase der Pandemie ein. 29 Ausgestrahlt in den Jahren 2004 und 2012 auf ProSieben.
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treffen. Auch junge, sportliche und sehr gesunde Menschen (0:12) und von der OffStimme begleitet. Nach der Aussage wird der Hauptfigur klar, dass diese Beschreibung auf ihn zutrifft und dass die Krankheit auch ihn erwischen kann. Seine anfangs lockere und zweifelnde Einstellung ändert sich, was man seinem nachdenklichen Gesichtsausdruck ablesen kann. Der Spot endet mit dem Foto von Bernd Stromberg mit hochgekrempelten Ärmeln und einem Pflaster auf der Impfstelle, was an das Motiv Ärmel hoch anknüpft. Die Überschrift lautet dabei Jetzt impfen lassen. Die Kultfigur Bernd Stromberg verkörpert in allen Videos aus dieser Reihe die Stimmen der Impfskeptiker, was sehr gut mit seinem Charakter in der Serie zusammenpasst. Seine Theorien bezüglich der Impfung werden von der OffStimme korrigiert, was ihn letztendlich zur Impfung überzeugt. Im zweiten Video kann man die Figur des Weihnachtsmannes erkennen, der am Anfang den Ärmel seines weißen Hemdes runterkrempelt, was darauf verweist, dass er sich gerade hat impfen lassen. Der Spot beginnt mit den humoristischen Worten des Weihnachtsmannes: Wissen Sie, ich glaube ja nicht so an die Wissenschaft, weil die glauben auch nicht an mich (0:01). In diesem Sinne werden schon zu Beginn des Spots die Zweifel der Menschen in Bezug auf die Impfung angesprochen. Die Hauptfigur gibt zu, dass sie in der besonderen Zeit viele Sozialkontakte hat und das Risiko der Ansteckung vermeiden möchte (0:07–0:09). Auf diese Art und Weise wird in dem Video auf die Ansteckung mit dem Coronavirus eingegangen, die über die Kontakte mit anderen infizierten Menschen erfolgt. Im Lichte der Risikowahrnehmung erklärt sich der Weihnachtsmann bereit, sich die Booster-Impfung zu holen. Pointiert wird das Video mit den Worten des Weihnachtsmannes: Die [die Impfung] wirkt nämlich, auch wenn man nicht daran glaubt (0:17). In diesem Zusammenhang wird wiederum auf die Frage des Glaubens oder des Verhaltens bei Impfungen zurückgegriffen. Der Spot endet mit der Überschrift Jetzt #ÄrmelHoch und boostern lassen. Aus den zwei Werbespots ergibt sich die Schlussfolgerung, dass sie sich an zwei andere Rezipientengruppen richten. Im ersten Video werden vor allem Menschen angesprochen, die aufgrund ihres guten Gesundheitszustands glauben, nicht an COVID-19 erkranken zu können. Es handelt sich insbesondere um Menschen im mittleren Alter, die fit und sportlich sind und die sich nicht vorstellen können, von dieser Krankheit betroffen zu sein. Die Figur Bernd Strombergs aus der Fernsehserie spricht mit den Worten der Vertreter dieser Gruppe und wird in Schrecken versetzt, als ihm klar wird, dass er auch erkranken kann. Das zweite Video stammt aus einer späteren Phase der Pandemie, als der Bedarf der Booster-Impfung und die Wahrscheinlichkeit der weiteren Auffrischungsimpfungen festgestellt wurden. Der Werbespot appelliert auf eine ausgeklügelte Art und Weise an Menschen, die nicht an die Wirkung der Impfung glauben oder den Glauben inzwischen verloren haben. Einerseits passt das Video zur Zeit
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dessen Ausstrahlung, indem es durch die Figur des Weihnachtsmannes mit Weihnachten assoziiert wird. Die Figur des Weihnachtsmannes spiegelt auch die Vielzahl der Kontakte wider, die der Weihnachtsmann vor Weihnachten hat. Andererseits ist mit dem Weihnachtsmann immer die Frage des Glaubens verbunden.30 Den beiden Videos ist gemeinsam, dass sie das Thema der CoronaImpfung auf eine lockere und humoristische Art und Weise angehen.
Abb. 831
3.3
Abb. 932
Polnische Kampagne #Szczepimy sie˛
Im ersten Schritt wird im Folgenden wiederum auf die Werbeplakate fokussiert. Anschließend werden die Werbespots analysiert. 3.3.1 Werbeplakate Auch die polnische Informationskampagne zur Corona-Schutzimpfung zeichnet sich durch ein einheitliches Textdesign der Werbeplakate aus, die aus den folgenden Elementen besteht: – der oben rechts platzierte Werbeslogan Szczepimy sie˛ [dt. Wir impfen uns], dessen beide Wörter in Großbuchstaben geschrieben sind, wobei das Verb weiß ist und das Reflexivpronomen die blaue Farbe des Hintergrunds mit dem weißen Rahmen hat, – die Unterschrift, in der ein Argument für die Impfung formuliert wird, jeweils angefangen mit bo [dt. denn], – der dunkelblaue Hintergrund und das großflächige Hintergrundfoto, – das weiße Piktogramm, das für das auf die Impfstelle aufgeklebte Pflaster steht, 30 Von den Impfgegnern wurde das Video kritisiert, eben aus diesem Grunde, dass der Weihnachtsmann nicht existiert. 31 https://www.zusammengegencorona.de/mediathek/ [Zugriff am 21. 02. 2022]. 32 https://www.zusammengegencorona.de/mediathek/ [Zugriff am 21. 02. 2022].
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– die in der Mitte des Werbeplakats situierte Frage Dlaczego warto? [dt. Warum ist es wert? / Warum lohnt es sich?], – der auf allen Werbeplakaten gleiche Text, in dem die Notwendigkeit der Impfung begründet wird, – die Kontaktdaten im unteren Bereich des Werbeplakats: die Nummer der Info-Hotline, die Adresse der Internetseite, der QR-Code, – das Logo der Kanzlei des polnischen Ministerpräsidenten und das Logo des polnischen Gesundheitsministeriums. Von dem bereits dargestellten Gestaltungsmuster weicht das erste Werbeplakat (vgl. Abb. 8) ab, indem es zwar im oberen Bereich auch den Werbeslogan enthält, wobei aber dem Werbeslogan der Spruch To u nas rodzinne [dt. Bei uns ist es Familiensache] vorangeht. Darunter erscheinen vier kleinere Fotos, auf denen Menschen (Foto 1 – Ärztin, Foto 2 – Rettungsassistenten, Foto 3 – zwei Männer, möglicherweise Vater und Sohn, Foto 4 – zwei Frauen, möglicherweise Mutter und Tochter) abgebildet sind. Im Gegensatz zu anderen Werbeplakaten fehlt es hier an einem großflächigen Foto. Stattdessen wird auf eine schematische Art und Weise der Weg zur Impfung präsentiert, der in vier Stationen aufgeteilt wird, d. h. Registrierung für die kostenlose Impfung, medizinische Qualifikation und das Ausfüllen eines Formulars, Impfung gegen COVID-19 und die zweite Dosis. Ähnlich wie auf anderen Werbeplakaten sind im unteren Bereich des Posters die Kontaktdaten und die Möglichkeiten, sich für die Impfung anzumelden, platziert. In diesem Sinne besteht die Rolle des ersten Werbeplakats darin, die ganze Kampagne zu eröffnen und die erste Orientierung über die Organisation des Impfprozesses zu geben. Der Werbeslogan Szczepimy sie˛ zeichnet sich, ähnlich wie der deutsche Impfen hilft, durch seine Kürze aus, wobei der einfache Aussagesatz in der ersten Person Plural ein gewisses Wir-Gefühl entstehen lässt. Der Werbeslogan vermittelt dem Rezipienten das Gemeinschaftsgefühl und fordert ihn indirekt dazu auf, ein Mitglied dieser Gemeinschaft zu werden. Auf diese Art und Weise wird bereits mit dem Slogan daran angeknüpft, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, zahlreiche Beziehungen mit anderen Personen eingeht und in der Gemeinschaft stärker als allein ist. Dem Werbeslogan folgt jeweils (Abb. 11–18) eine kurze Unterschrift, die jeweils mit bo [dt. denn] eröffnet wird und in den meisten Fällen (vgl. Abb. 11, 12, 14, 16, 18) das Modalverb chcemy [dt. wir wollen] enthält. Die Ganzheit – der Werbeslogan und die Unterschrift – weisen eine klare argumentative Struktur auf, indem in der Unterschrift die Begründung für die Impfung genannt wird. Durch die Verwendung des Verbs chcemy [dt. wir wollen] in der ersten Person Plural, das als ein inklusives Wir eingestuft werden kann, wird das jeweilige Argument personalisiert und als die Behauptung konkreter – hier auf den Bildern präsentierter Menschen – wahrgenommen. Der Gebrauch
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von chcemy verdeutlicht auch, dass es sich um den Willen und die Absicht der zur Sprache kommenden Vertreter der Gemeinschaft, sich impfen zu lassen, handelt und nicht um einen Zwang und eine Notwendigkeit. Auf diese Art und Weise wird die Impfung als etwas Wünschenswertes und etwas Erwartetes profiliert. Die in den Unterschriften genannten Argumente scheinen das Bestreben widerzuspiegeln, verschiedene Zielgruppen anzuvisieren, was sich an der Unterschrift bo chcemy imprez i koncertów [dt. denn wir wollen Partys und Konzerte] am deutlichsten manifestiert. Ihre Adressaten sind folglich junge Menschen. Mit den zwei anderen Unterschriften bo chcemy byc´ razem [dt. denn wir wollen zusammen sein], bo chcemy spe˛dzac´ czas z rodzina˛ [dt. denn wir wollen Zeit mit der Familie verbringen] kommt die wahrscheinlich spürbarste und schmerzlichste Einschränkung der COVID-19-Pandemie zum Ausdruck, d. h. eingeschränkte Kontakte zur Familie, zu Freunden und Bekannten. Mit einem weiteren Argument bo chcemy wrócic´ do normalnos´ci [dt. denn wir wollen zurück zur Normalität] wird deutlich, dass die COVID-19-Pandemie einen Ausnahmezustand bedeutet, der die früher gekannte Normalität im Wesentlichen verändert hat. Obwohl das Argument allgemein formuliert wird und jeder Rezipient die Normalität anders auslegen kann, wird mit den Hintergrundbildern ein eindeutiger Bezug zum Homeschooling (vgl. Abb. 16, Lehrer im leeren Klassenraum) und zum Unterricht in der Pandemie-Zeit (vgl. Abb. 15, Lehrerin und Schüler in Masken in der Schule) geschaffen. Die anderen Argumente, die in den Unterschriften vorkommen, weichen ein wenig von der bereits dargestellten Struktur ab. Es handelt sich um die Werbeplakate 13 und 14, auf denen folgendermaßen argumentiert wird: bo to szczepienie jak kaz˙de innne [sic!] [dt. denn das ist eine Impfung wie jede andere]. Als Hintergrundbilder erscheinen dabei ein Arzt (Abb. 13) und eine Ärztin (Abb. 14), wodurch diese Begründung als ihre Meinung kontextualisiert wird und so als Ansicht der Medizinexperten interpretiert werden kann. Auf diese Art und Weise wird versucht, an die vergangenen Erfahrungen des Rezipienten mit anderen Impfungen anzuknüpfen und ihm auf diese Art und Weise die Angst zu nehmen sowie eventuelle Zweifel zu zerstreuen. Auf dem Werbeplakat 17 kommt hingegen die Begründung bo te˛sknimy za naszymi bliskimi [dt. denn wir vermissen unsere Nächsten] vor, die den aktuellen Zustand der Pandemie widerspiegelt, der durch die Impfungen verändert werden kann. Mit dem in der Unterschrift formulierten Satz werden außerdem direkt die Emotionen des Rezipienten (hier das Gefühl der Sehnsucht nach den Nächsten) angesprochen, wodurch es schwierig wäre, die Aussage zu leugnen. Wie eingangs erwähnt, enthält jedes Werbeplakat (mit der Ausnahme der Abb. 8) einen kurzen Text, betitelt Dlaczego warto? [dt. Warum ist es wert? / Warum lohnt es sich?]. Im Text fallen einerseits die Verbformen in der ersten Person Plural auf, z. B. przerwiemy łan´cuch zakaz˙en´ [dt. wir unterbrechen die
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Ansteckungskette], wszyscy musimy byc´ solidarni [dt. wir alle müssen solidarisch sein]. Andererseits stechen die Formen des Personalpronomens wir und die darauf zurückgehenden Possessivpronomen hervor, z. B. szczepionka daje nam taka˛ moz˙liwos´c´ [dt. die Impfung gibt uns eine solche Möglichkeit], dla nas samych [dt. für uns selbst], dla naszych rodziców, dzieci i przyjaciół [dt. für unsere Eltern, Kinder und Freunde]. Die Impfung wird hierbei als Schutzmittel bezeichnet. Das Ziel des Textes ist es, das bereits durch den Slogan intendierte Wir-Gefühl zu stärken und die Ansicht zu vermitteln, dass nur das solidarische Verhalten in Bezug auf die Einnahme der Impfung der Pandemie ein Ende setzen kann. In diesem Sinne wird der Bedarf formuliert, als eine Gemeinschaft zu handeln und seinen Beitrag zum gemeinsamen Wohl zu leisten. Außerdem wird direkt an den Rezipienten appelliert, indem man ihn überzeugt, dass sein individuelles Verhalten zählt und einen Einfluss darauf hat, die Pandemie zu stoppen. Dies kommt in dem Satz Kaz˙dy z nas moz˙e zatrzymac´ pandemie˛. [dt. Jeder von uns kann die Pandemie stoppen] zum Ausdruck. Die visuelle Ebene der Werbeplakate stellen Fotos von Menschen dar. Es handelt sich dabei entweder um einen einzelnen Menschen (Abb. 12, 13, 14, 16) oder um eine Menschengruppe (Abb. 11, 15, 17, 18). Die Fotos auf den Plakaten 11, 12, 17 und 18 vermitteln eindeutig positive Emotionen, indem sie lachende Figuren darstellen. Auf diese Art und Weise wird an die Basisemotion Freude appelliert (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 611), die man wieder spüren kann, wenn die Pandemie auslöscht. Folglich wird versucht, zu zeigen, welche positiven Folgen die Impfung mit sich bringt. Auf anderen Fotos wird nicht antizipiert, welchen positiven Einfluss die Impfung auf das Leben haben wird, sondern es wird der pandemische Alltag geschildert. Auf den Werbeplakaten 13 und 14 werden Ärzte mit Mundschutz dargestellt und auf den Abbildungen 15 und 16 wird der schulische Alltag präsentiert. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich anhand von Werbeplakaten die folgenden kritischen Zustände ableiten lassen: fehlende oder mangelnde soziale Kontakte (und die damit verbundene Sehnsucht), Beeinträchtigungen in verschiedenen Bereichen des Lebens (z. B. die Notwendigkeit des digitalen Fernunterrichts, fehlende Unterhaltungsmöglichkeiten), die Überanstrengung von Ärztinnen und Ärzten. Die Impfung wird hierbei als eine Lösungsstrategie für diese Probleme präsentiert (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 607). Um die Aussage der Botschaft zu verstärken, werden Gründe (auch moralischer Natur) genannt, die für die Teilnahme an der großen Impfaktion sprechen (vgl. Refeigerste/ Rössler 2014: 607). In diesem Sinne werden emotionale Appelle formuliert, die vor allem darauf basieren, dass jeder Mensch im Verhältnis zu anderen Menschen lebt, verschiedene Beziehungen eingeht und im Allgemeinen die andere Person für ihn eine wichtige Bezugsgröße darstellt (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 621). In diesem Sinne wird im Laufe der Kampagne darauf verwiesen, dass der
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Mensch verpflichtet ist, anderen gegenüber fürsorglich zu sein (vgl. Refeigerste/ Rössler 2014: 611) und dabei die anderen zu unterstützen, ihnen als Vorbild zu dienen und für sie die Verantwortung zu übernehmen (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 615). In diesem Sinne erweisen sich wieder die sozialen Motive als die wichtigsten bei dem Versuch, den Rezipienten zur Impfung zu motivieren. Die Impfung selbst wird dabei als normorientiertes und gesundheitsrelevantes Verhalten dargestellt (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 621). Aus der Impfkampagne ergibt sich eine insgesamt positive Botschaft, indem positive Gratifikationen aus der Inanspruchnahme der Impfung hervorgehoben werden. Auch die bildlichen Elemente strahlen in den meisten Fällen positive Emotionen aus.
Abb. 1033
Abb. 11
33 Alle nachfolgenden Abbildungen in diesem Teil wurden der folgenden Regierungsinternetseite entnommen: https://www.gov.pl/web/szczepimysie/plakaty-i-ulotki [Zugriff am 21. 02. 2022].
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3.3.2 Werbespots Die Kampagne Szczepimy sie˛ besteht aus 20 Werbespots34, wobei sie in ihrer Aussage in vielen Fällen ganz unterschiedlich sind. Einerseits nämlich handelt es sich um Appelle, die auf positiven Botschaften fußen, andererseits wird mit Angst und negativen Emotionen gespielt, um die Konsequenzen der mangelnden Impfung für einen jeweiligen Menschen und seine Umgebung eindeutig zu zeigen. Die Videos knüpfen zeitlich sowohl an die Jahreszeit, in der man begann sie auszustrahlen35, als auch an die Phasen der Pandemie und der Impfverabreichung36 an. Im ersten Video taucht Witalis Skorupka auf, der sich kurz vorstellt (Angabe des Geburtsdatums 16. 02. 1923) und seine Laufbahn in groben Zügen (Oberst in der polnischen Heimatarmee, Verurteilung zur Todesstrafe) präsentiert. Im Anschluss daran spricht er sein Alter an und stellt fest, dass es Menschen gibt, für die er leben kann. Er wendet sich inoffiziell und direkt an den Rezipienten mit den Worten Ty tez˙. Ba˛dz´ bohaterem, zaszczep sie˛. (0:25–0:27) [dt. Du auch. Sei Held und lass dich impfen]. Mit dem Video kommt zum Ausdruck, dass es sich um eine Person im fortgeschrittenen Alter und mit einer reichen Lebensgeschichte handelt. Es wird auf den Krieg eingegangen, in dem der Protagonist des Videos sein Heldentum bewiesen hat. Mit dem Video, vor allem mit seinem Ende, das die direkte Aufforderung an den Rezipienten enthält, wird vorausgesetzt, dass die Inanspruchnahme der Impfung eine moderne Art des Heldentums ist und ebenfalls menschliche Leben retten kann. Im zweiten Video kommen zwei Männer, der Sohn mit seinem Vater, zur Schau, die sich auf eine Radtour vorbereiten. Der Spot wird mit den folgenden Worten des Sohnes eröffnet, der gerade das Haus verlässt: Troske˛ o najbliz˙szych wyniosłem z domu, dlatego zaszczepie˛ sie˛ przeciwko COVID-19. (0:02–0:04) [dt. Die Sorge um die Nächsten habe ich von zu Hause, deshalb werde ich mich gegen COVID-19 impfen lassen]. Der Sohn äußert sich, dass er sich für den Vater impfen lässt. Auch der Vater kommt zur Sprache und erklärt, dass er sich für den Sohn impfen lässt. Der Meinungswechsel wird mit dem vom Sohn ausgesprochenen Satz pointiert: Tak, to u nas rodzinne (0:07) [dt. Ja, das ist für uns Familiensache]37. Im Anschluss daran wird die an den Rezipienten gerichtete Frage gestellt: A Ty? Dla kogo sie˛ zaszczepisz? (0:09) [dt. Und Du? Für wen wirst du dich impfen lassen?]. Auf diese Art und Weise werden eventuelle Zweifel der Rezipi34 An dieser Stelle sei ergänzend anzumerken, dass in neun Werbespots bekannte Persönlichkeiten auftreten. 35 Beispielsweise greifen drei Videos das Motiv der Weihnachten auf. 36 Manche Videos enthalten beispielsweise schon Daten in Bezug auf die Sterblichkeit am Coronavirus unter den Geimpften. 37 Dieser Slogan kommt auch auf einem der Werbeplakate vor, vgl. Kapitel 3.3.1.
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enten angesprochen, sondern die Impfung wird als etwas Offensichtliches betrachtet. Die Frage ist nur, für wen man sich impfen lässt. In diesem Video wird wiederum deutlich an das soziale Motiv der Verantwortung für die anderen angeknüpft und es werden positive Gratifikationen für das Sozialleben eines jeden Menschen, d. h. das Zusammensein mit der Familie oder anderen jedem Rezipienten wichtigen Menschen deutlich gezeigt.
Abb. 1938
4.
Abb. 2039
Schlussbemerkungen
Aus der Analyse der beiden Impfkampagnen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass sie die wichtigsten Aspekte und die damit zusammenhängenden Argumente für die Impfungen hervorheben (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 607). Dabei handelt es sich um Präventionskampagnen, mit denen einerseits die positiven sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen des gesundheitlich erwünschten Verhaltens in Form der Impfung präsentiert werden. Andererseits werden negative soziale und gesundheitliche Konsequenzen der fehlenden Inanspruchnahme der Impfung gezeigt. Es lässt sich allerdings feststellen, dass die positiven Botschaften sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Informationskampage dominieren. Dabei kann beobachtet werden, dass in den beiden Kampagnen die zwei Pole, d. h. die Gesundheit und die Krankheit insbesondere auf sozialer Ebene ausgelegt werden. In diesem Sinne wird einerseits dargestellt, welche Folgen die COVID-19-Krankheit für das familiäre Leben hat, wie sie sich auf den Arbeitsalltag auswirkt und auf welche Art und Weise sie den Schulalltag von Kindern beeinflusst (vgl. Daiminger/Hammerschmidet/Sagebiel 2015). Andererseits wird auch deutlich gemacht, dass es in bestimmten Gruppen von Personen gibt, die besonders vulnerabel sind und für die speziell gesorgt werden sollte (vgl. Daiminger/Hammerschmidet/Sagebiel 2015). Die Botschaften, in denen die Appelle über die Gefährdung anderer (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 38 https://www.youtube.com/watch?v=gvv1Ntv8k8A [Zugriff am 21. 02. 2022]. 39 https://www.youtube.com/watch?v=dOltUoOLvk0 [Zugriff am 21. 02. 2022].
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621) zum Einsatz kommen, sind sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Kampagne repräsentiert. Diese werden durch das Motiv des Altruismus (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 624) begleitet, das am deutlichsten in dem polnischen Spot zum Ausdruck (vgl. Abb. 20) kommt, in dem direkt gefragt wird, für wen sich der Rezipient impfen lässt. Wie bereits angedeutet, dominieren in den Werbebotschaften Appelle an die Rezipienten, die wegen der Krankheit und der Dauer der Pandemie eine beeinträchtige Interaktionsfähigkeit hervorheben (vgl. Refeigerste/Rössler 2014: 614). Folglich wird an die zahlreichen Einschränkungen angeknüpft, die jeder Rezipient erfahren hat. Auf diese Art und Weise wird versucht, einen Bezug zum pandemischen Alltag des Rezipienten herzustellen. Betrachtet man die deutsche und die polnische Informationskampagne, ergeben sich zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede. Zu den Gemeinsamkeiten gehört das Bestreben, verschiedene mediale Kanäle zu gebrauchen, um die Rezipienten zu erreichen. In diesem Sinne gibt es sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Kampagne Werbeplakate, Spots, Podcasts (nur in der deutschen Kampagne). Sowohl die deutsche als auch die polnische Informationskampagne über die Corona-Impfung zeichnet sich durch eine gewisse Konsistenz in der inhaltlichen und formalen Gestaltung von Materialien aus. In diesem Sinne können sie von den Rezipienten eindeutig identifiziert werden und als Teil einer bestimmten Ganzheit betrachtet werden. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass in den beiden Kampagnen bekannte Persönlichkeiten zur Sprache kommen (in den Videomaterialien) und die Botschaften unterstützen. Gemeinsam ist den beiden Kampagnen auch die Kürze und Prägnanz von Werbeslogans sowie die sekundäre Rolle des Bildes. Der deutlichste Unterschied, der sich aus der Analyse ergibt, ist der mehr appellierende Charakter der polnischen Kampagne. Sowohl der Slogan als auch die Spots können als Versuche betrachtet werden, den Rezipienten als einen Teil der Gemeinschaft zu betrachten, und zwar der Gemeinschaft der Geimpften. Ein anderer Unterschied formaler Natur besteht darin, dass ein Teil der deutschen Werbematerialien in mehreren Sprachen konzipiert wird. Dies verweist auf die Heterogenität der deutschen Gesellschaft und die Absicht, die mehrsprachigen Bürger in Deutschland zu erreichen.
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III. Humor und Ironie in der Corona-Zeit
Iwona Wowro (Uniwersytet S´la˛ski, Katowice)
Seuchensheriff und Zoombombing. Humor, Ironie und Bilder des metaphorischen Coronavokabulars
Abstract Seuchensheriff and Zoombombing. Humour, Irony, and Images in the Metaphorical Coronavirus Vocabulary No event in recent decades has brought so much that is new (new rules, new risks) as the coronavirus pandemic, which is still having profound political, economic, and social consequences. The impact of the pandemic is also impressively reflected in language use because the new reality and the social relevance of the events require a novel linguistic expression. Thus, new words creep into the language from every nook and cranny, and the whole society participates in their creation. Coronavirus discourse, just as any public discourse, is characterised by a certain figurativeness. Against this background, the aim of the paper is to examine the dominant metaphorical concepts in a corpus of new words and to provide examples of their evaluative use, especially since metaphors play an important role in dealing with diseases. The analysed examples are based on different concepts and contain humorous or ironic components because figurativeness is often combined with humour and irony. Keywords: vocabulary expansion, humour, metaphor, corona compounds Schlüsselwörter: Wortschatzerweiterung, Humor, Metapher, Coronaneubildungen
1.
Zielsetzung
Seit den ersten Berichten über die Corona-Erkrankungen sind das Coronavirus und seine Auswirkungen weltweit zum brisanten Thema der öffentlichen Debatte geworden.1 In dieser seltsamen Zeit zwischen den Zeiten, in der Zeit mit zersplitterter Normalität, in der das Bekannte oder Gewohnte in Scherben zu liegen und das Bevorstehende un(be)greifbar zu sein scheinen, hat man mit einem 1 Aus Platzgründen wird darauf verzichtet, die rudimentären Informationen in Bezug auf die Coronakrise und ihre Folgen heranzuführen, da es diesbezüglich eine Menge von Informationen, Bearbeitungen und Beiträgen gibt (vgl. dazu bspw. Wowro 2022, Jakosz/Kałasznik 2022 und viele andere).
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markanten Wandel zu tun, der sich nicht ausschließlich im wirtschaftlichen und sozialen Bereich widerspiegelt. Diese Tatsache reflektiert auch die Sprache unter dem sowohl sprachökonomischen als auch semantischen Aspekt, zumal jede Krise oder einschneidende Ereignisse ihren eigenen Wortschatz kreieren. Zu den wichtigsten Faktoren für die Schaffung des neuen Vokabulars, das die Veränderungen in der Gesellschaft, die Entwicklung der persönlichen und sozialen Wahrnehmung sowie neue Erfahrungen der Sprachbenutzer widerspiegelt, die nicht selten mit extremen Mehrfachbelastungen konfrontiert sind, gehört neben kulturellen oder politischen Merkmalen die Ausbreitung von Krankheiten. So können zum Zwecke der Beschreibung und Erklärung der neuen (Corona-) Realität bereits vorhandene Begriffe ihre Bedeutung oder ihre Verwendungshäufigkeit verändern, es können Wörter aus anderen Sprachen entlehnt oder angesichts der einschneidenden Wirklichkeitsveränderung neue gebildet werden (vgl. dazu Ladilova 2020: 44–45). Oft ist der neu entstandene Wortschatz für den täglichen Sprachgebrauch durchaus humorvoll und ironisch geprägt, was die Tatsache unter Beweis stellt, dass Humor in den herausfordernden Situationen eine nicht zu übersehende Rolle spielt, weil er als eine (verbale) Strategie der Bewältigung dient und daher auch als eine Art der emotionalen Immunisierung anzusehen ist. In der öffentlichen Diskussion rund um das Coronavirus und die Corona-Pandemie sind neue Wörter aufgekommen, die nicht nur auf viele Umstände aufmerksam machen und bestimmte Bilder entstehen lassen, sondern auch bewusst gewählt und verwendet werden, um Meinungen auszudrücken und Emotionen auszulösen. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel des vorliegenden Beitrags, ausgewählte Sprachbesonderheiten im Kontext der Corona-Pandemie unter besonderer Berücksichtigung der humoristischen und metaphorischen Aspekte zu besprechen, die exemplarisch Möglichkeiten zeigen, herausfordernde Situationen mit humorvoller Zur-Kenntnisnahme zu verarbeiten und zu verkraften. Aus der Perspektive der anvisierten Fragestellung wird angestrebt, anhand von ausgewählten Neubildungen die Vielfalt des Corona-Wortschatzes sowie seine Präsenz in zahlreichen Lebensbereichen aufzuzeigen. Vor allem aus dem breiten Spektrum von dem Wesen der Metapher, ihrer Erfassungsversuche sowie einzelner Arten werden einige Aspekte gewählt, die für die Zwecke des vorliegenden Beitrags ihren Nutzen erkennen lassen. Besondere Aufmerksamkeit wird hier auf die Darstellung und kurze Besprechung der metaphorischen Sprachtechniken und ihrer Rolle in der Kommunikation sowie auf die Arten von pandemischen Lebensbereichen gelenkt, die sie abstecken. Es werden zudem die wichtigsten Quellbereiche der Corona-Metaphern präsentiert, die als Denkkonzepte zugrundeliegende Haltungen gegenüber den durch sie beschriebenen Vorgängen widerspiegeln. In diesem Zusammenhang wird auch auf das Humorund Ironiepotenzial der neuen (Kompositum-)Metaphern im öffentlichen Corona-Wortschatz kurz eingegangen. Ferner wird auch versucht zu zeigen, dass
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die Bedeutungskonstituierung und Sinnentfaltung im Bereich der Corona-Metaphorisierungen ein Zusammenspiel von vielen, auch außersprachlichen Faktoren (u. a. Konnotation und Bewertung) darstellt. Der vorliegende Beitrag hat eine exemplarische Untersuchung zum Ziel, daher erheben zum einen die daraus resultierenden Thesen keinen Anspruch auf Repräsentativität, zum anderen können für die Veranschaulichung verschiedener Aspekte die gleichen Beispiele genutzt werden.2
2.
Mit Humor durch die Pandemiezeit3
Humor ist aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken, es mag jedoch auf den ersten Blick abwegig klingen, ihn als Strategie der Krisenbewältigung gezielt und konsequent zum Einsatz kommen zu lassen. Seine Untersuchungen entstammen grauen Vorzeiten, aber bis heute weckt seine Forschung ein kontinuierliches Interesse und verliert nicht an Bedeutung und Aktualität, zumal Humor in allen Lebensbereichen und in fast jeder Kommunikationsart explizit oder implizit präsent ist. Die Besetzung des Humorbegriffs sowie seine Erscheinungsformen sind von Kulturkreis zu Kulturkreis, von Sprache zu Sprache, von Situation zu Situation, von Person zu Person unterschiedlich. Er ist generell durch die inkludierte Normbruchmöglichkeit und durch Originalität des Denkens gekennzeichnet und entsteht dort, wo etwas mit den Erwartungen kollidiert, von dem Gewohnten abweicht sowie verblüffend, ungewohnt, unlogisch oder befremdlich wirkt. Diese Inkompatibilität kann sich auf der Ebene der Struktur oder des Inhalts manifestieren, wo unterschiedliche Arten und Formen von Humor ans Licht kommen, in denen der komische Effekt meistens auf der Verletzung von sprachlichen, logischen und pragmatischen Regeln beruht (vgl. Wirth 1999: 24, auch Wowro 2022: 373f.).4 Der Facettenreichtum des Humors und seine zahlreichen Bezüge lassen auch viele seine Funktionen zu Tage treten, die zugleich seine Komplexität unter 2 Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf einen umfangreichen Bestand von CoronaNeubildungen. Als Quelle für die Korpuserhebung dienen Belege, die den Seiten des LeibnitzInstituts für deutsche Sprache entnommen worden sind: vgl.: www.owid.de/docs/neo/listen/co rona.jsp#. 3 Dieses Unterkapitel stellt eine modifizierte Fassung der in Wowro (2022: 373–375) vorhandenen Reflexionen dar. 4 Der komische Effekt entsteht zumeist aus Regelverletzung unter folgenden Voraussetzungen: »(i) Die Verletzung von sprachlichen, logischen und pragmatischen Regeln (Prinzip der Widerspruchsfreiheit, Höflichkeits- und Verhaltensregeln, Konventionen) erfolgt unabsichtlich. (ii) Die Verletzung der Regel unterminiert (unabsichtlich) den Zweck bzw. die Intention der Handlung oder der Äußerung. (iii) Die Wahrnehmung der komischen Regelverletzung löst ein Gefühl der Überlegenheit und der Indifferenz aus […]« (Wirth 1999: 24).
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Beweis stellen. Obwohl in den psychologisch ausgerichteten Untersuchungen eindeutig nachgewiesen wird, dass seine Rolle als Stimmungsaufheller, Schutzfaktor oder Erste-Hilfe-Mittel beim Meistern von Notlagen sowie seine therapeutische und gesundheitsfördernde Kraft nicht anzuzweifeln sind, fristet die Hinwendung zum Thema Humor und seinem Stellenwert in herausfordernden Situationen immer noch ein Nischendasein (ebd.). Vor diesem Hintergrund kann insbesondere in der Corona-Zeit der Spaß nicht zu kurz kommen, denn Humor ermöglicht nicht nur eine kognitive Neubewertung in Krisenzeiten, sondern bedeutet auch einen Zeit- und Distanzgewinn, sorgt also vor allem für eine Auszeit und Entlastung, entschärft schwierige Gedanken, was wiederum den Fokus auf etwas Anderes zu richten ermöglicht. Diese Entlastungsleistung kann auf mehreren Ebenen zustande kommen, sie kann kognitiver Art sein und »eine Flucht vor Realität und Rationalität darstellen. Sie kann sich aber auch auf der emotionalen Ebene abspielen und die Befreiung von Ängsten, Wut, Scham oder sozialen Konflikten bedeuten, oder sie kann die Form einer physischen Entladung nervöser Energie annehmen« (Robinson 2002: 1). So gilt er generell als Ressource für Perspektivenwechsel, Kreativität sowie Akzeptanz von Veränderungsprozessen und hilft dem, was im Leben widerfährt, mit Gelassenheit und Mut zu begegnen (vgl. Bachmaier 2007: 18), weil er aus Schwächen Stärken machen, das Selbstgefühl wieder herstellen und dabei einen qualitativen Mehrwert schaffen kann (vgl. Boothe 2007: 46). Humor vermag außerdem, die eigene Einstellung zu reflektieren und die Richtung von positiver Grundhaltung einzuschlagen, indem er das Gefühl der Kontrolle über eigene Kraft und Gedanken entstehen lässt sowie das Verdrängte bewusstseinsnäher macht. Zudem ermöglicht er Tabuthemen anzusprechen sowie über Tabubrüche, also über Übertretung von sozialen Normen zu lachen, mit problematischen Situationen zurechtzukommen, Stress oder Aggression abzubauen, allgemeine Zufriedenheit sowie Lebenslust oder gute Gemütsverfassung, die eine scharfsinnige Beobachtung, Ironie und Witz in sich vereinen, herbeizuführen. Besonders zu unterstreichen ist seine integrierende Funktion, weil er eine Art gesellschaftliche Zusammengehörigkeit entstehen und auf einer emotionalen Ebene miteinander in Verbindung treten lässt (vgl. Wowro 2018a: 405). Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das Humor schafft, ist in Not und Bedrohungszeit, wo Menschen, ihr Leben und Gesundheit geradezu herausgefordert werden, besonders von Belang, weil er gesellschaftliche Strukturen stabilisieren und aufrechterhalten sowie die Bereitschaft zu gegenseitiger Unterstützung erweitern kann. Seine Relevanz ergibt sich daraus, dass Menschen in der Krise Anbindung brauchen, um sich angesichts der täglichen grauenvollen Nachrichten und Meldungen nicht allein zu fühlen, damit ihnen auch der Boden unter den Füßen nicht fehlt und Abstand gewonnen werden kann. Humor kann in diesem Sinne in Stresssituationen das Gefühl der Einsamkeit und Hilflosigkeit
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maßgeblich reduzieren (vgl. Frittum 2012: 34). Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Humor oder Verspieltheit weder die grundsätzlichen Probleme wie Angst vor der Ansteckung oder Arbeitsverlust lösen noch vor anderen schmerzhaften Leiden oder Misserfolgen schützen können, sie ermöglichen jedoch eine humorvolle Perspektive einzunehmen, die bei deren Bewältigung hilfreich sein kann, zumal Krisensituationen von den Betroffenen psychisch vieles abverlangen (vgl. Schröer/Hirsmüller 2007: 13). Humor tritt in allen erdenklichen Facetten und Kontexten in Erscheinung und bedient sich verschiedener Mechanismen sowie mehrerer Techniken und Formen. Zu seinen Entstehungs- und Wirkungsmechanismen gehören u. a. die Logik der Verkehrung, Ironie als verinnerlichte Ambivalenz, Spiel und Widersinn, Absurditäten, Inkongruenz, paradoxe Wortspiele, Metaphern, komische Parodien, falsche Analogien, Ignoranz des Selbstverständlichen, Übertreibungen, Modifizierungen von festen Wortverbindungen oder Wortbildungen, Wortneuschöpfungen, Worthäufungen, Wiederholungen und Situationskomik (vgl. Wirth 1999: 24, auch Wowro 2018a: 410). Durch das Spiel mit der Sprache als verbale Strategie der Bewältigung wird ermöglicht, der Krisensituation mit Humor zu begegnen und mit der Benennung der neuen Realität die Unsicherheit oder Angst zu reduzieren, denn zum einen, wenn die Dinge einen (neuen) Namen bekommen und humorvoll bezeichnet werden, kann der Alltag besser bewältigt werden, weil Humor selbst die schwierigsten Situationen entkrampft und einfacher macht5, zum anderen trägt die humorvolle Überzeichnung dazu bei, Missstände aufzuzeigen. Es soll jedoch betont werden, dass humorvoll oder ironisch geprägte Trendwörter und amüsante Wortspiele nicht deshalb gebildet werden, um eine (tödliche) Krankheit mit lustigen Wortwitzen zu verharmlosen, vielmehr sind sie als Reaktion auf Veränderungen anzusehen. In diesem Sinne sind sie bedeutend, sogar erforderlich für die Konfliktbewältigung, Resilienzsteigerung und die psychische Verfassung sowie dazu, die Corona-Pandemie mit einem Augenzwinkern zu verarbeiten.
3.
Zu Wesen und Kraft der Metapher
Metaphern sind keine Randerscheinung, sondern ein Regelfall innerhalb der menschlichen Kommunikation, daher sind sie auch im Corona-Alltag auf vielfache Weise zu begegnen. Eine Definition der Metapher zu geben ist allerdings alles andere als einfach, zumal die wissenschaftliche Reflexion über Metaphern 5 Die zahlreichen im Zuge der Pandemie entstandenen sprachspielerischen (Neu-)Bildungen untermauern die Tatsache, dass »sprachliche Kreativität und Wortwitz auch oder gerade in Krisenzeiten quicklebendig sind« (Balant 2020).
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so alt wie die Auseinandersetzung mit der Sprache ist, denn Metaphern sind ubiquitär im menschlichen Sprachgebrauch. Die Metaphernforschung blickt auf die Aristotelische Definition und die Substitutionstheorie bzw. Vergleichstheorie zurück, gemäß der eine Metapher im Austausch eines Wortes durch ein fremdes Wort besteht und eine Verwandtschaft zwischen dem mit dem Wort ursprünglich bezeichneten und dem metaphorisch beschriebenen Objekt herstellt (vgl. Krug 2021: 215). Unter der Metapher ist jedoch nicht ausschließlich ein Stilmittel zu verstehen, das einen Sachverhalt bildhaft veranschaulicht, »sondern […] Teil des Wissens über diesen Sachverhalt sowie Teil seiner perspektivischen Bewertung. […] Sie schlägt eine Brücke zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, […] dem Konkreten und dem Abstrakten, zwischen Sprache und Kognition« (Drewer 2003: 10).6 Demzufolge bedeutet der Einsatz von Metaphern die Gleichsetzung von den im Eigentlichen nicht miteinander kompatiblen Begriffen. Das Überspringen zwischen verschiedenen Vorstellungs- und Wirklichkeitsbereichen zieht die sprachliche Bedeutungsübertragung nach sich und lässt der Sprache neue Ausdrucksmöglichkeiten abgewinnen. Dadurch werden bestimmte Erlebnisse oder Erfahrungen nicht nur besser und zutreffender erfasst oder nachvollzogen, sondern vor allem in Worte gekleidet, wo metaphorische Neubeschreibungen eine gewisse Logik der Entdeckung darstellen und neue Interpretationshorizonte eröffnen (vgl. Wowro 2017: 609, Buntfuß 2015: 8, auch Goncˇarova 2003: 73f.). Metaphern ist jedoch nicht nur die sprachliche, sondern auch kognitive Dimension zuzuweisen, was zu der Annahme verleitet, sie als grundlegendes Instrument der menschlichen Kognition und des menschlichen Denkens aufzufassen (vgl. dazu auch Wowro 2017). Auf diesem Wege können konzeptuelle Metaphern als eine Tiefenstruktur kultureller Einbildungskraft gedeutet werden, die neben dem kollektiven Charakter auch alltagskonstitutive Funktion aufweisen7, denn das alltägliche Sprechen oder Handeln sowie unsere Wahrnehmung vollziehen sich in einem Metapherngewebe, wo die Metaphern als Folge und 6 Als uneigentliche Redeweise wird sie zudem »als Verfälschung der Wahrheit, als subversiver Störfaktor, als trojanisches Pferd, als hintergründige Manipulation, als Zeichen von Kreativität, als Strategie der Veränderung – oder überhaupt als Prinzip der Konstruktion der Wirklichkeit« (Niedermair 2001: 144) angesehen, das unsere Auffassung der umgebenden Realität weitgehend beeinflusst, indem ihre Komplexität reduziert und das Verstehen komplexer Zusammenhänge oder komplizierter Gedankengänge gefördert und ermöglicht wird (vgl. Drewer 2003: 3). 7 Vgl. dazu: »Wir haben […] festgestellt, dass die Metapher unser Alltagsleben durchdringt, und zwar nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln. Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch« (Lakoff/Johnson 1998: 11). Darüber hinaus repräsentieren (konzeptuelle) Metaphern genuine kulturelle Modelle, in denen »der kulturgeschichtliche Erfahrungshorizont herrschender Mentalitäten sedimentiert ist« (Pielenz 1993: 14).
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Indikator zugleich von metaphorisch-analogisch strukturierten Wissensbeständen das menschliche Denken und Handeln organisieren und strukturieren (vgl. Drewer 2003: 1, Jäkel 2003: 41, auch Lakoff/Johnson 1998: 15).8 Durch ihr involviertes konzeptuelles Netzwerk werden zwei sprachliche Sinnbereiche, d. h. ein Bildspender- und Bildempfängerbereich »durch einen sprachlichen Akt gekoppelt und analog gesetzt« (Weinrich 1976: 283), indem aus dem Herkunftsbereich ganzheitliche Wissensbestände auf den Zielbereich projiziert werden (vgl. Drewer 2003: 6). Auf diese Weise wird ein Begriff metaphorisch mit Hilfe eines anderen gestaltet, wodurch komplexe Relationen oder Zusammenhänge sprachlich und kognitiv erfasst und zugleich fassbar gemacht werden (vgl. Jäkel 2003: 41).9 Derartige Strukturierung regt Phantasie an und lässt Spannung entstehen, insbesondere dann, wenn neue metaphorische Bilder erzeugt werden, in denen Konzepte miteinander in Einklang gebracht werden, die im buchstäblichen Sinne nicht zusammen gehören. Anders gesagt, Metaphern wirken und wecken Aufmerksamkeit, wenn die Verbindung zwischen dem Herkunfts- und Zielbereich neu und erhellend ist und einen neuen Sinn entstehen lässt. Dann bringen sie Assoziationen mit sich, die über das bloße Verstehen hinausgehen, indem sie Ereignisse oder Sachverhalte als überraschende Phänomene erscheinen lassen und neue Schlussfolgerungen oder Bewertungen nahelegen. Dabei sind sie zumeist umgangssprachlich, abwertend und/oder ironisch gemeint, wobei sie nur im übertragenen Sinne zu interpretieren sind, indem das Gemeinte aus dem Gesagten herauszulesen ist. Dies lässt die Aufmerksamkeit auf weitere Funktionen von Metaphern lenken, zu denen neben der nominativen Funktion, also der Benennung von Neuem oder Unbekanntem, die begriffliche Präzisierung, emotionale Veranschaulichung und die expressiv-bildliche, euphemistische und ironisch-satirische Rolle zu zählen sind. Dabei werden bestimmte Eigenschaften des Bezeichneten hervorgehoben, übertreibend oder diskret verhüllend dargestellt und zugleich bewertet, was die humoristische Dimension zum Vorschein kommen lässt, die als ein integraler Bestandteil der Sprache sowie als 8 Sie sind ein fester Bestandteil der allgemeinen Sprachkompetenz. Sie helfen uns »einerseits auf die Sprünge, lichten den Nebel und liefern Zutaten, damit man Neues gebacken kriegt, andererseits schränken sie uns ein, sind wie Scheuklappen und ziehen uns mit sich wie ein Gängelband« (Dobler 2014: 44). Sie helfen zu verstehen, können aber auch manipulieren. 9 Hierbei soll unterstrichen werden, dass abstrakte oder komplexe Zielbereiche durch den Rückgriff auf einfache, konkrete und sinnlich erfahrbare konzeptualisiert werden. Bei Strukturmetaphern wird beispielsweise ein bekannter konzeptueller Bereich auf einen weniger bekannten (oft abstrakten) Zielbereich partiell übertragen, d. h. nur bestimmte Aspekte eines Zielbereichs erfasst, andere hingegen heruntergespielt werden, während bei Orientierungsmetaphern »ein ganzes System von Konzepten in ihrer wechselseitigen Bezogenheit organisiert« wird, indem er auf physischer Beschaffenheit des menschlichen Körpers und seiner Umgebung sowie kulturellem Kontext basiert. Ontologische Metaphern lassen hingegen abstrakte Handlungen, Ereignisse oder Zustände als Gegenstände, Gefäße oder Substanzen wahrnehmen (Lakoff/Johnson 1998: 22, auch Wowro 2017).
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ein rationales Instrument zur Konstruktion der Wirklichkeit oder zur Welterschließung anzusehen ist (vgl. dazu auch Wowro 2017: 608f.). Die Formen von Humor und Ironisierung sind vielfältig und beruhen im Allgemeinen auf einer etwas ungewohnten Sichtweise, die auch ein Zeichen der Selbstreflexivität ist. Mit ihren subtilen Schwingungen, aber auch mit ihrem (nicht selten bissigen) Blick auf die Welt und die Menschen finden sie in unterschiedlichen Metaphorisierungen Niederschlag, denn Metaphern tragen u. a. dazu bei, in einem Text oder mit einer Äußerung Humor und Ironie zu transportieren.10 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Metaphern im sprachlichen Bereich stark beheimatet sind, sie sind jedoch prinzipiell nicht als Symbole, Gleichnisse oder Analogien, sondern eher als Sprachbilder anzusehen, die manche Dinge hervorheben und gleichzeitig andere verbergen, sie wirken auf eine Weise, die nicht zu erwarten oder vorherzusehen ist. Wie dem auch sei, werden sie als ein wichtiges selbstständiges Sprachelement mit schöpferischer und kognitiv-praktischer Kraft wahrgenommen, das insbesondere bei der Entstehung, Verbreitung, Bewältigung, Beschreibung und Erklärung von Erkrankungen Verwendung findet (vgl. bspw. Killer-Grippe, Schwarzer Tod, Coronatier, Corona-Tsunami u. a.), zumal Krankheiten als auch die mit ihnen verbundenen Therapieansätze als komplexe Sachverhalte zu betrachten sind (vgl. dazu Gierzyn´ska 2022: 85).11 In ihrer sozialen Gestalt werden Krankheitsbilder über ihre physische Erscheinungsform hinaus in ihrer Bedeutung und Auswirkung für die Betroffenen wie ihr Sozialgefüge gedeutet. Das Erleben von Krankheit bietet außerdem ein weites Feld für Projektionen, in deren Beschreibungen Metaphern ein wichtiges Mittel für Deutungsmuster darstellen, indem sie interne Auffassungen und Interpretationen aufgreifen und kommunizieren. Im Kontext der Krankheitsbilder werden in den Metaphern kulturell geprägte Vorstellungen, Erlebnisqualitäten von der Krankheit sowie ausgelöste Emotionen wie Empörung und Hilflosigkeit ebenso transportiert wie moralisch motivierte Erklärung und Kritik an der bisherigen Lebenshaltung (vgl. Krug 2021: 216, 224). Es ist jedoch zu betonen, dass eine reflektierte Metaphernverwendung einerseits positiv zum Verstehen oder Verarbeiten von Krankheit beitragen und sich gesundheitsförderlich auswirken kann (vgl. dazu Krug 2021: 216). Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass sie auch Gefahr von Straf- und Schuldzuweisungen an von Krankheit Betroffene 10 Vgl. dazu bspw. Zybatow (2011: 55), der unter zahlreichen Rollen, die Metaphern zugewiesen werden können, ihre Rolle »bei speziellen Effekten wie z. B. Witz oder Ironie« unterstreicht. 11 Die Mehrfachnatur der Metaphern sticht auch bei der Beschreibung und Erklärung der Corona-Pandemie hervor, wo sie als eine Ausdrucksform eines wechselseitigen Prozesses sowie Erklärungs-, Interpretationsmuster und interne Denk- und Verarbeitungskonzepte gelten. Ihr Einsatz spiegelt die situative individuelle wie kollektive Verarbeitungskonstrukte wider und formt die Sicht- bzw. Verhaltensweisen der Gesellschaft im Umgang mit der Pandemie (vgl. dazu auch Krug 2021: 218).
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veranschaulicht, weil sich die suggestive wie schädigende Wirkung eines unreflektierten Metapherngebrauchs in Form von zusätzlicher Stigmatisierung und moralischer Belastung äußern kann (vgl. dazu Sontag 2016: 10).12
4.
Bilder, Humor, Ironie – Zur Spezifik des metaphorischen Corona-Wortschatzes
Die Corona-Pandemie hat den deutschen Wortschatz dermaßen geprägt, dass neue Wörter, darunter unzählige Wortschöpfungen fortlaufend den Weg in die deutsche Sprache finden. In der Kommunikation über das Coronavirus und seine Auswirkungen auf die Wirklichkeit und die Lebensqualität wird eine Vielzahl von (Kompositum-)Metaphern13 in unterschiedlicher, sich gegenseitig beeinflussender Funktion eingesetzt, die gewaltig beeindrucken, neue Bilder in unsere Köpfe malen, Botschaften vermitteln sowie Emotionen und Assoziationen wecken, die lange im Gedächtnis bleiben und auf unser Denken und Handeln einwirken. Sie verbinden sinnliche Erfahrungen mit Emotionen und sind zugleich sprachliche Bewertungsmittel.14 Die meisten Corona-Metaphern enthalten bewertende Komponenten, in denen Meinungen, Evaluierungen oder Einstellungen dem Bezeichneten gegenüber zum Ausdruck gebracht werden. Überdies ist ihnen eine wesentliche Bedeutung bei der sprachlichen Bewältigung und Kommunizierbarkeit des Gefahren- und Bedrohungspotenzials beizumessen, weil sie implizit Einsicht in die Denkweise über das Themenfeld ›Krankheit und Gesundheit‹ sowie einen Einblick in die zugrundeliegende Lebenseinstellung vermitteln. Den ganzen analysierten Bestand durchziehen ironisch-scherzhafte Züge. Der ironische Blick lässt von eingefahrenen Denkgewohnheiten loslösen sowie erlaubt es, auf ungewöhnliche Weise auf das Betroffene zu referieren, indem ironische Gedankenspiele, Spiele mit der Logik, Diskrepanzen sowie 12 Angesichts der persuasiven Kraft von Metaphern und ihrer potenziell schädigenden Auswirkung in Bezug auf die Krankheit wird deutlich, wie wichtig es ist, Sprachbilder im Bereich von Gesundheit und Krankheit kritisch zu reflektieren und solchermaßen einzusetzen, »dass schädigende Konsequenzen im Umgang mit Kranken vermieden werden, gesundheitsförderliche Implikationen sich aber voll entfalten können« (Krug 2021: 217). 13 Ob ein neues Wort als eine Metapher anzusehen ist, ist von dem Kontext abhängig, in dem das Wort oder seine Bestandteile ursprünglich verwendet wurden, d. h. davon, ob diese Bestandteile überhaupt eine Grundbedeutung haben, weil sie Situation A (GrundbedeutungKontext) zur Beschreibung von Situation B (Pandemie-Kontext) verwendet (vgl. Depner 2022: 16). 14 Die wertende Stärke ergibt sich u. a. aus dem spezifischen Gebrauch der Lexik, z. B. Metaphern und Ironie können Konnotationen wachrufen, die von Kontext, sozialer Umgebung oder individuellen Präferenzen der Sprachbenutzer abhängen. Oft kommt es jedoch vor, »dass das Bewerten einen rein emotiven Charakter hat, der […] mithilfe sprachlicher Exponenten der Gefühle realisiert wird« (vgl. dazu auch Z˙urawlew 2022: 206).
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Analogien eingesetzt werden. Darüber hinaus fördert die komische (ironische) Dimension als probates Mittel in der Reduktion von Stress und Angst nicht nur den Spaß am Verstehen und Entschlüsseln des Verschlüsselten, sondern symbolisiert auch das Besiegen des unsichtbaren Gegners, womit sie hilft, die negativen Folgen in persönlicher, gesellschaftlicher sowie wirtschaftlicher Dimension abzumildern, denn in der Zeit, wo soziale Distanz erforderlich ist, bieten Humor und Ironie eben eine Distanzüberwindung (vgl. dazu auch Wowro 2022: 392).15 In den behandelten Metaphorisierungen werden Elemente, die verschiedenen semantischen Feldern entstammen, ungewöhnlich zueinander in Beziehung gebracht, wodurch unterschiedliche Inferenzen aktiviert werden. Durch ihre sprachspielerische Prägung stellen sie ein Beispiel für die Versprachlichung von Ironie und Emotionen dar und beziehen sich nicht nur auf das Virus selbst (Coronatier, Corönchen, Rentnervirus), wo einerseits die Intensivierung des Gefühls einer Bedrohungslage, andererseits die humoristisch-relativierende Funktion über metaphorische Formulierungen zum Tragen kommt, sondern auch auf vielfältige Aspekte der Pandemie (vgl. bspw. Coronaparty, Covidparty, Coronageburtstag, Coronahobby, Coronaferien, Coronaregime). Viele Bezeichnungen knüpfen an Wortbildungsmuster an, die für den gegenwärtigen Krisendiskurs sehr charakteristisch sind (vgl. Balnat 2020). Quantitativ gesehen handelt es sich vor allem um zwei- oder dreigliedrige Nominalkomposita, seltener um Derivate. Die hohe Zahl der Zusammensetzungen und charakteristische Ausbaumöglichkeiten mit Corona- oder COVID(-19)-Komponente veranschaulichen den nicht zu übersehenden Einfluss der Pandemie auf das private und öffentliche Leben (vgl. bspw. Coronaheld, Covidlüge, Covidnotbremse, Coronadiot, Coronasünder, Covidspeck, Coronawampe, Coronakilo, Coronaschutzschild, Covidfahrplan, COVID19-Welle, COVID19-Gipfel).16 Auch (spielerisch-okkasio15 Die Ironie, für die ein Doppelboden kennzeichnend ist, entsteht und wirkt auf unterschiedliche Art und Weise. Sie operiert gleichzeitig in zwei Dimensionen, denen eine wörtliche und eine nicht wörtliche Bedeutung zugrunde liegen (vgl. bspw. Lapp 1992: 12f., Hartung 2002: 56). Ihren Niederschlag findet sie vor allem im durch vermeintliches Lob geäußerten Tadel, in der Kontrastierung sowie in absurden Darstellungen, die nicht selten in ein Paradox münden. Ein weiteres Mittel ihrer Wirkung stellt die Diskrepanz zwischen dem Gesagten und wirklich Gemeinten, wo vorsätzlich etwas gesagt wird, was zugleich für falsch gehalten wird, um damit Wahres auszudrücken. So wird etwas anderes als das Gesagte vermittelt, was auch bestimmte Wertungen offenlegt und auf dem Wege der Disambiguierung entschlüsselt wird (vgl. auch Taneva 2008: 172). Zum Ausdruck kann sie auch mit solchen Mitteln wie Gegenüberstellung von Gegensätzen oder inkompatiblen sprachlichen Mitteln, die im normalen Sprachgebrauch keine Affinität aufweisen, gebracht werden (vgl. Wowro 2022: 384). 16 Zu den häufigsten Elementen (neben Corona- und COVID(-19)) in der Funktion der Bestimmungswörter (oder der neuen Affixe), die die präsentierten Metaphern mitkonstituieren und ihnen sowie ihrem Gebrauch einen besonderen Charakter verleihen, gehören: Not
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nelle) Kontaminationen (Kontaminate, Kofferwörter, Schachtelwörter, Amalgame, Wortkreuzungen, Wortverschränkungen) (bspw. Paarantäne, Coronoia, Covidiot, Infodemie, Panikdemie, pandemüde oder mütend)17 sowie Wortgruppen (grüne/weiße Zone, hybrides Semester, neue Normalität, partieller/regionaler Shutdown, sozialer Zaun, wilde Wiesn) sind keine Seltenheit. Durch den Einsatz von gängigen Wortbildungsmustern werden die Wahrnehmung und Wirkung von Vertrautem/Bekanntem und Neuem/Fremdem verstärkt, indem die gegenseitigen Form-Inhalt-Beziehungen aktiviert werden und dadurch der Aha-Effekt herbeigeführt wird. Verschiedene metaphorische Ausdrücke stehen an der Schnittstelle zwischen Kognition, Konvention und Kultur, deren ironischer Zugewinn sich aus dem geteilten Wissen ergibt, das vorausgesetzt wird, um das Gemeinte aus dem Gesagten zu folgern. Das kreative Spiel und der Originalitätswert lassen auch Auseinandersetzungen mit den neuen Bezeichnungen und den getragenen Konnotationen entstehen und bestimmte Vorstellungen oder Bilder evozieren, aus denen sich aktuelle gesellschaftliche Probleme herauskristallisieren (vgl. dazu Wowro 2023). Die verwendeten Metaphern bringen beispielsweise aktuelle gesellschaftliche Stimmungen angesichts zahlreicher (Freiheits-)Einschränkungen (Infodemie, Corona-Diktatur, Covidlüge, Abendlockdown, Coronagipfel, Geisterzone) zum Ausdruck. Spezifische Kombinationen von Metaphern schaffen auch eine bestimmte Konstruktion des CoronaPhänomens. Der anfangs abstrakte Gegenstandsbereich wird ganz unterschiedlich gedeutet und sozial wahrgenommen, weil metaphorische Formulierungen generell der Produktion von Anschaulichkeit für die Sphäre des Unanschaulichen dienen und in der Corona-Sprache die Funktion haben, das Abstrakte oder Unanschauliche in die Welt des Alltags hereinzuholen (vgl. dazu auch Schieder 2006: 82). Neben der Erklärungs- und Orientierungsfunktion ist auch auf die gesellschaftlich orientierte Spiegel- bzw. Prägerfunktion der Corona-Metaphern hinzuweisen, da sie nicht nur die Pandemie selbst aufgreifen, sondern zugleich die individuellen und kollektiven Haltungen sowie Einstellungen darstellen, die sich im Umgang mit der Krankheit widerspiegeln. Die neuen Trendwörter ermöglichen außerdem ein gemeinsames Erleben des neuen Alltags oder der alltäglichen Normalität, manchmal auch der Absurdität, indem Aspekte auf humorvolle Weise präsentiert und geteilt werden, wodurch ein In-Verbindung-Treten auf (Notbremse, Notfallpatient), Risiko (Risikogruppe), Krise (Krisensong) oder Schutz (MundNasen-Schutz, Gesichtsschutz). 17 Morphologisch gesehen können sie in zwei Arten geteilt werden, d. h. in Wortverschmelzungen, die sich überschneiden, weil sie gemeinsame Laut- oder Buchstabenfolgen haben (Coronamour) oder Kontaminate, deren Struktur keine gemeinsamen Elemente aufweist, wo die unmittelbaren Konstituenten nach Kriterien der Aussprechbarkeit ineinander geschoben werden (Coronexit) (vgl. Kovbasyuk 2021: 87f.).
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emotionaler Ebene erfolgen kann. Auf den Umstand der Intensivierung der Emotion nehmen zum Beispiel folgende Lexeme Bezug18: CorConning, Balkonien, Anderthalbmetergesellschaft, Coronageburtstag, Coronanachtsfeier, Ansteckungsparty, Hamsterkäufe, Quarantäneblase, Garagenvertrag, Fensterkonzert, Fensterbesuch, die überwiegend auf die Abgeschiedenheit und das Leben innerhalb der Grenzen des Hauses verweisen (vgl. dazu auch Depner 2022: 26), innerhalb deren viele vom Homeoffice müde und überfordert sind/waren, sich nach unzähligen Videotreffen (Zoombombing) overzoomed fühl(t)en und sich nicht selten einen Quarantini wünsch(t)en. So bringen viele Metaphern, die sich auf innovative Lebensformen, auf neue Trends etwa bei Ernährung, Mode und neuen Verhaltensweisen (Coronafußgruß, Coronamoral, Coronamode, Coronalappen, Coronacocooning, Coronisierung, Coronaleere) sowie auf unterschiedliche (persönliche, wirtschaftliche u. a.) Pandemiefolgen (Covidspeck, Coronawampe, Coronakilo, Coronaplauze, Coronahaar, Coronaschnitt, Coronafigur, Coronamähne, Coronafashion, Coronaschub, Coronacrash, Coronatief, Coronakater, Covidkredit, Corona-Deal, Coronabonds) beziehen, zum Schmunzeln. Außerdem lassen sie klar erkennen, wie Sprachgemeinschaften auf einschneidende Umstellungen, Lebensängste, Ereignisse, Entwicklungen sowie Grenzerfahrungen mit der routinierten Ordnung des Alltags, deren Kontinuität durch die Krise in Frage gestellt wird, reagieren (Ellenbogengesellschaft, Anderthalbmetergesellschaft, Fußgruß, Coronagruß). Einige neue Begriffe stehen auch mit dem Thema ›Impfen‹ im Zusammenhang und nehmen nicht nur auf die anfängliche Impfbereitschaft und Impfstoffknappheit Bezug, sondern auch auf das Fehlverhalten von Personen, die sich ihre Coronaimpfung vor Personen mit höherer Impfpriorität erschlichen haben (Impf(vor)drängler, Impfneid, Impfstolz, Impftourist, Impfturbo, Impfgipfel). Außerdem bringen sie oft gegensätzliche Haltungen zum Ausdruck, zumal die Einstellung und Überzeugungen gegenüber Impfungen (Impfsaft) und Geimpften von Anfang an nicht klar vorlagen (Impfschwänzer, Impfmuffel, Seuchenfreund, Impfträgheit). Auf diese Weise werden Zusammenhänge zwischen Egoismus und der Impfeinstellung sowie weniger Vertrauen in die Wirksamkeit und Sicherheit (Unsicherheiten bezüglich möglicher Nebenwirkungen) der Impfstoffe veranschaulicht (Impfkater, Impfdurchbruch), woraus sich ein Impf-Subdiskurs mit den grundlegenden Fragen nach der Impfpflicht und Impfpass sowie nach den anfänglichen Impfchaos, Impfstau oder sogar Impfdesaster und späteren Impffrust oder Impfruck herauskristallisierte. 18 Vgl. dazu: »Metaphorische Sprechweisen bilden auf präzise Art und Weise implizites Wissen darüber ab, wie bestimmte Erfahrungen zu interpretieren und zu handhaben sind. Metaphorisches Sprechen […] ist zudem unvermeidlich in der Alltags- wie auch in der Fachsprache« (Moser 2000: 2).
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Auf metaphorische Art werden in der Sprache nicht nur innovative Sozialkonzepte beleuchtet, die das Zusammenleben insbesondere in der Pandemie inspiriert haben, sondern auch einzelne Phasen der Pandemie abgebildet. Dies veranschaulichen viele Gelegenheitsbildungen mit sprachspielerischem Charakter, die die Krise selbst sowie die einzelnen Pandemieetappen (Anfang/Vorbereitungsphase, Verlauf, Höhepunkt, Komplikationen usw.), mögliche Mittel gegen ihre Ausweitung sowie begleitende Auswirkungen, Reaktionen und Emotionen bezeichnen, um auf diese Weise dem abstrakten Phänomen eine konkrete Gestalt zu verleihen, vgl.: – Ausweitung: Coronaherd, Glutnest, Coronavirussturm, Coronahochburg, Coronatsunami, Coronaturbo, Coronaidylle, Attackrate, Infektionstsunami, R-Wert-Ampel, – Auswirkungen: Coronakater, Coronastau, Coronakeule, Coronaschlaf, Coronasperre, Coronajoch, Coronascherben, Regelchaos, Regelwald, – Maßnahmen/Reaktionen: Coronalappen, Coronascheriff, Coronaleine, Corona(not)bremse, Coronaknigge, Coronarettungsschirm, Coronaetikette, Coronacrash, Coronadiktatur, Hammerlockdown, Ultralockdown, – Beendigung der Beschränkungen: Covexit, Coronaexit, Shutdownende, Lockdownende. Schaut man sich die Beispiele unter dem Aspekt der Bildlichkeit an, kommt man zu dem Schluss, dass ein relativ hoher Intensitätsgrad der Emotionen hier auffällt. Die Sprachbilder sind aber in sich nicht homogen, sie gehören unterschiedlichen Bereichen an, einige lassen sich dem Feld der Natur, andere der am häufigsten vertretenen Beschreibungskategorie – der menschlichen Praxis (der aktiven Reaktionen auf die Pandemie und deren Einschränkungen) zuordnen. Eindeutig ist hier auch der Rekurs auf umweltpolitische Diskurse, die den Zustand des Kontrollverlustes über die eigenen Emotionen sowie die Intensivierung der (negativen) Emotionen, verschiedene Formen der Reaktion infolge von Ärger, Enttäuschung oder Ratlosigkeit besonders eindrücklich bezeichnen. Die Sprachbilder, die (Eindämmungs-)Maßnahmen schildern, beinhalten auch einen Handlungsspielraum im Umgang mit der Pandemie sowie eine Beschreibung der Schritte gegen ihre negativen Auswirkungen, die ein aktives Vorgehen gegen die Krisensituation zum Ausdruck bringen, jedoch nicht grundsätzlich positiv erscheinen. In dem analysierten Bestand setzen sich auch viele auffällige englische Wörter/Metaphern durch (Lockdown, Lockdownchen, Home Office, Coronacluster, Covidcluster, Clusterrisiko, Coronabubble, Superspreader, COVID-19-Taskforce,
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COVID-19-Tracing).19 Die häufige Verwendung von Anglizismen, obwohl auch kritisiert, ist u. a. damit zu erklären, dass es sich hier zumeist um Fachbegriffe handelt, die seit Jahrzehnten existieren. Sie werden übernommen und erweitert, um die neue, noch nie dagewesene Situation zu markieren. Außerdem klingen sie nicht selten sanfter als ihre deutschen Äquivalente (vgl. bspw. Lockdown und Ausgangssperre). Es ist jedoch zu beachten, dass die Bedeutungen der Anglizismen oft nur teilweise ihrem Gebrauch im Deutschen entsprechen.20 Viele Bildungen haben es auch aus der Fachsprache in den Alltag geschafft, wo metaphorisch manche Aspekte im Bereich des Fachsprachlichen fokussiert werden. Ihr systematisches Auftreten beobachtet man auch bei der Darstellung und Beschreibung medizinischer Probleme, was auch den universellen Charakter der Metaphern an den Tag legt (Reproduktionsrate, Zytokinsturm, Tröpfcheninfektion oder Indikatorenmix). Viele Neubildungen veranschaulichen die Krieg-, Kampf-, Sieg-, Niederlagesowie (Natur-)Katastrophen-Metaphorik (Corona-Tsunami, Virenfront, Coronaoffensive, Coronatestoffensive, Coronakampf, Corona-Katastrophe, Coronawelle, Coronawolke, Viruswolke), die besonders die Hilflosigkeit und die Ohnmachtsgefühle zum Ausdruck bringen sowie angsteinflößende eskalierende Bilder hervorrufen. Die Metaphorik des Krieges stellt insbesondere in Zeiten epidemischer Krankheiten eine gängige Form verbaler Aufrüstung und Mobilmachung dar. Angesichts dessen, dass das Virus als eine kleine Macht und gegnerischer Eindringling zur globalen Gefahr wird, wird besonders zu Verteidigung und Kampf mit dem heimtückischen Gegner aufgerufen, was sich aus der oppositiven Vorstellung »von Freund und Feind« sowie aus der Tatsache ergibt, dass die Kriegsbilder überall dort empfunden werden, wo »aktive menschliche Tätigkeit« bemerkbar ist (vgl. Gierzyn´ska 2022: 84). Die gesichteten Coronametaphern vermitteln daher Szenarien, in denen Kriegsszenen oft als Hinweis auf Krankheiten verwendet werden, um durch den kognitiven Austausch das Verständnis zu vereinfachen und überraschende Bedeutungsnuancen zu aktivieren. Ihre Funktion ist vor allem im Bereich der emotionalen Veranschaulichung der neuen Realität oder bestimmter Gegebenheiten und deren kognitiver Verarbei-
19 Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass nur etwa zehn Prozent der neuen Corona-Wörter aus dem Englischen entlehnt sind, die meisten sind neu geschöpft. 20 Vgl. bspw. Social Distancing bedeutet im Englischen die physische Distanz zwischen Menschen, während im Deutschen sozial gesellschaftliche Solidarität, Verantwortung, Fürsorge und Gemeinsinn impliziert. Auch Lockdown bedeutet im Englischen das Abriegeln von Gebäuden und Territorien bei einem Terroranschlag oder Amoklauf, im Kontext der CoronaPandemie ist das Wort im Deutschen als Schließung zahlreicher Einrichtungen, das Abriegeln von ganzen (Bundes-)Ländern sowie für den Stillstand des öffentlichen Lebens zu verstehen (vgl. dazu Klosa-Kückelhaus, www.ids-mannheim).
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tung zu sehen.21 Universell ist an ihnen, dass sie abstrakte, kognitiv schwer erfassbare, komplexe Phänomene und Gegenstandsbereiche (z. B. Prozesse, Emotionen) mittels konkreter, sinnlich erfahrbarer, vertrauter metaphorischer Quellbereiche verstehbar bzw. interpretierbar und damit kognitiv zugänglich(er) machen, indem sie mittels Analogien kognitive Brücken zwischen Konzepten schlagen und dadurch mentale Modelle etablieren (vgl. bspw. Coronarettungsschirm, der aufgespannt wird, um die (neuen) Widrigkeiten zu überwinden) (vgl. dazu Zybatow 2011: 45, auch Schwarz-Friesel 2015: 143). Die am häufigsten vorkommenden metaphorischen Domänen stellen {Krieg}, {Alltag}, {Natur}, {Sport}, {Verkehr}, {Freizeit}, {Impfung}, {Grenze} und {Emotion} dar, die sich zumeist auf körperliche Bewegung und menschliche Kontakte beziehen (vgl. Coronaferien, Coronademo, Corona-Abitur, Corona-App, Coronaparty, Coronawinter, Geisterspiel, Einreisesperre, Ausreisesperre, Distanzbier) (vgl. dazu auch Depner 2022: 25f.).22 Neben diesen Bildern gibt es weitere bildhafte Ausdrücke, die Zustände, Vorgänge oder Personen bezeichnen, wo die metaphorische Projektion aus verschiedenen Erfahrungen resultiert. Durch die Merkmalhervorhebung werden eine spezifische Sichtweise und Wertung des Bezeichneten verdeutlicht, die nicht nur im denotativen Bereich, sondern auch im Nebensinn konnotiert sind. Die Basiskonzepte und deren Besetzung klingen oft lustig, sie sind nicht neutral, sondern enthalten Bewertungen von bestimmten Menschentypen und ihren Handlungsweisen. Mit den Beschreibungen von Coronavirus als gegnerischem Angriff auf die Gesundheit und das Leben geht der Kampfaufruf zur Verteidigung einher. Die Betroffenen treten aus der passiven Opfer- in die kämpferische Rolle, um die Kontrolle über ihre gesundheitliche Sicherheit zurückzugewinnen. Im Bereich der Corona-Personenbezeichnungen beschreiben metaphorische Ausdrücke auf humoristische oder ironische Weise die emotionalen Zustände, den Körper, die neuen Erholungsarten, die Berufswelt, die Ausbildung oder die Corona-Mode sowie soziales Leben in der Coronazeit. Die humoristische Komponente macht sich im Zusammenstoß von auf den ersten Blick inkom21 Vgl. dazu: »Anliegen und Wirkung des Metapherneinsatzes bestehen somit nicht nur darin, illustrativ bestimmte Bilder oder Assoziationen vor dem inneren Auge hervorzurufen und so Kommunikation reicher und effizienter zu gestalten, sondern vielmals ›vor allem darin, eine affektive Einstellung zu erzeugen‹« (Kurz 2009: 26, in: Krug 2021: 215). 22 Die Metaphern treten in Form von den so genannten Konzepten auf, ihr Gebrauch erfolgt unbewusst und automatisch, was auch die alltägliche Coronasprache widerspiegelt, vgl. bspw. Geisterspiel, das sich auf Sportveranstaltungen ohne Zuschauer, auf eine leere Zuschauertribüne bezieht, was dem Spiel eine gespenstische Atmosphäre verleiht, Autokonzert/Autopublikum, wo Zuschauer, die bei einem Liveauftritt eines Künstlers oder einer Musikgruppe in ihrem Auto sitzen und über einen speziellen Radiokanal den Ton des Auftritts hören, Metonymien (Mundschutz), numerische Metapher (Null-Patient, Null-Diagnose, Null-CovidPolitik) und ontologische Metaphern (Coronasünder) (vgl. auch Gierzyn´ska 2022: 76).
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patiblen Bereichen bemerkbar, wo Entferntes vernetzt wird. So sind Hygieneritter, Coronavirusdetektiv, Wellenbrecher, Zeugen Coronas oder Seuchensheriff diejenigen, die zumeist übertrieben die Corona-Anordnungen oder Maßnahmen befolgen, um das Virus einzudämmen, und zum pandemiegerechten Verhalten aufrufen, gegenüber dem Maskenmuffel, Virusschleuder, Superverteiler, Maskentrottel, Nacktnase, Quarantänebrecher, Coronasünder, Coronamob oder Covidiot, die auf Personen referieren, die durch ihre Fahrlässigkeit und die Nicht-Einhaltung der Hygieneregeln oder Kontaktbeschränkungen dazu beitragen, dass es zu einem weiteren Anstieg an Infektionen kommt. Derartige abwertende Personenbezeichnungen, sogar heroisch-aufwertende bzw. ironischabwertende Spottwörter, die zur Auf- oder Abwertung von bestimmten Haltungen beitragen, entstehen u. a. mit Hilfe von Suffixerweiterungen (bspw. ˗ler) oder abwertenden Verben (trotteln, muffeln) (vgl. auch Simoska 2022: 281). Im Vergleich zu Coronahoffnungsträgern, Coronahelfern, Corona-, Einkaufs- oder Alltagshelden, die für das Allgemeinwohl mit großem Einsatz arbeiten, sind auf dem anderen Pol Bezeichnungen von Personen zu platzieren, die Überdruss und Erschöpfung wegen allem empfinden, was mit der COVID-19-Pandemie zu tun hat (Coronamüder, Coronaprotestler, Risikotouristen). Diese emotionale Ausdrucksweise mündet in der Versprachlichung von Intensivierungen und Kontrasten sowie in verschiedenen Anspielungen, konnotativen Färbungen und Sinnschattierungen (Homeofficer, Partytourist, Held des Alltags, Spaziergänger, Geistermeister, Klopapierhamster). Die Diskrepanz zwischen Personen(gruppen), die die Corona-Pandemie ernst nehmen ( jedoch oft mit leichtgläubigen Opfern der Corona-Pandemie assoziiert werden) und solchen, die Verfechter von Verschwörungstheorien sind, schlägt sich in den antagonistischen Neubildungen Schlafschaf 23 und Aluhut24 nieder, die eigentlich Schimpfbezeichnungen für die Menschen der gegenüberliegenden Lager darstellen (vgl. dazu auch Simoska 2022: 282f.). Pejorative Personenbezeichnungen werden auch abwertend für Experten der Virologie und Epidemiologie verwendet, die als ironisch-sarkastisch zu werten sind (vgl. Virusversteher, Wirrologe). Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass die neuen Corona-Metaphern zum einen nicht nur humoristische Bilder zeichnen, sondern auch unterschiedliche Verhaltenskonzepte und Sachverhalte auf eine überraschende und sprachspielerische Weise versprachlichen sowie komische Vergleiche anstellen lassen. Zum anderen vergegenwärtigen sie die Tatsache, dass sie sich auch zu metaphorischen Konzepten bündeln lassen. So können zu den wichtigsten konzeptuellen Meta23 Schlafschaf: (abwertend für) Person, die nicht an Verschwörungstheorien glaubt, sondern den Informationen aus Medien, der Politik usw. (vermeintlich blind) vertraut (vgl. Simoska 2022: 282). 24 Aluhut: (metonymisch, häufig abwertend für) Person, die eine absurde Weltsicht hat oder einer Verschwörungstheorie anhängt (vgl. Simoska 2022: 283).
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phern, die sich aus dem Belegmaterial ergeben, verschiedene metaphorische Konzepte aufdecken25 und bei der Beschreibung von Coronavirus und den mit ihm verbundenen Inhalten zum Vorschein kommen und dabei eine veranschaulichende Wirkung bei ihrer Erklärung leisten, u. a. folgende gezählt werden: – KRANKHEIT (CORONAVIRUS) REGT DIE LIEBE AN – CORONABESCHRÄNKUNGEN SIND BEENDET – KRANKHEIT (CORONAVIRUS) MACHT PARANOID/ DUMM – KRANKHEIT (COVID-19) IST ISOLATION – HEIM IST URLAUBSORT – MENSCH IST EIN TIER – COVID-ERKRANKUNG IST EINE LAST – CORONAVIRUS IST (LEBENS)GEFÄHRLICH UND MUSS MIT ALLEN MITTELN BEKÄMPFT WERDEN
– VIDEOKONFERENZ IST STRESS/EIN KRIEG – PANIK VERBREITET SICH RASCH UND MASSENHAFT – QUARANTÄNE IST DIE ZEIT FÜRS GELDVERDIENEN – CORONAVIRUS BREITET SICH SCHNELL AUS/IST NICHT AUFZUHALTEN – CORONAVIRUS WECKT ÜBERWÄLTIGENDE/EXTREME EMOTIONEN
Sie perspektivieren und evaluieren das Coronavirus/die Corona-Pandemie als ernsthafte Erkrankung (LEBENSBEDROHLICH, SCHWER KONTROLLIERBAR), wodurch sich ein hohes Emotionspotenzial ergibt und viele affektive Komponenten wie ABSTOßEND, ANGSTEINFLÖßEND, GRAUENERREGEND, HOFFNUNGSLOS, DEPRIMIEREND aktiviert werden (vgl. dazu auch SchwarzFriesel 2015: 153). Es ist jedoch zu betonen, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Konzepten, die oft in Subkonzepte übergehen, eher vage sind, was auch die eindeutige Zuordnung einzelner Metaphern erschwert oder in Frage stellt. Nichtsdestotrotz funktionieren sie als inhärente Charakterisierungsperspektiven, die in großem Maße die COVID-Problematik nachvollziehen lassen, weil sie an die Alltagswelt der Betroffenen anknüpfen und somit vertraute, rekurrente und detaillierte Bilder hervorrufen, denen Erfahrungen nicht nur physischer, sondern vor allem kultureller Art zugrunde zu legen und auf der sprachlichen Ebene auf abstrakte Zielbereiche zu projizieren sind. Als bildschematische Metaphern, darunter auch kreative Einzelmetaphern, die weder konventionalisiert noch kulturell stark verankert sind, noch eine kognitive Vernetzung und wiederholte Wiederaufnahme aufweisen, sondern individuelle und punktuelle metaphorische ad hoc-Bildungen darstellen (vgl. dazu auch Zybatow 2011: 58), stellen sie Konzepte dar, die überwiegend auf die Realitätserfahrung des Men25 Anhand einer Berichterstattung über die Corona-Pandemie unterscheidet Gierzyn´ska (2022: 78) einige Arten von konzeptuellen Metaphern, die sich ihrer Meinung nach für die CoronaAuswertung sehr gut eignen, vgl.: Attributsmetaphern, ontologische Metaphern, bildschematische Metaphern und Konstellationsmetaphern. Aus Platzgründen wird im Rahmen des vorliegenden Beitrags auf ihre genauere Besprechung verzichtet.
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schen mit seiner Umgebung zurückgehen (vgl. dazu Gierzyn´ska 2022: 78ff.). Als Träger sprachlich-innovativer Reflexionskraft, die neue Verbindungen oder Kombinationen erfinden lässt, mit dem Ziel eingefahrene Denkschemata oder sprachliche Normen aufzubrechen, sowie als spezifische mentale Zuordnungen, die das Denken und die Vorstellungskraft der Sprachbenutzer widerspiegeln, sind sie auch scherzhaft, ironisch und abwertend. Sie veranschaulichen kreativfördernde und entspannende Kraft von Ironie und Humor, die als eine der möglichen Reaktionen und Annäherungsweisen an das Fremde (Andere) anzusehen sind, dem dadurch die Undurchschaubarkeit und Gefährlichkeit genommen werden können (vgl. dazu auch Wowro 2022a: 392). Somit erfüllen sie wichtige Aufgaben, indem sie neue oder alte Vokabeln in neuer Weise verwenden lassen (vgl. bspw. Spaziergänger) und dadurch die Möglichkeit bieten, eine metaphorische und humoristische Neubeschreibung eines Fragments der Corona-Wirklichkeit zu geben.
5.
Schlussbemerkungen
Die neue Realität und der neue Alltag, die die durch die Corona-Pandemie stark geprägt sind, finden wegen der hohen gesellschaftlichen und thematischen Relevanz einen Niederschlag in der Sprache, die neue Erkenntnisse und Möglichkeiten reflektiert. Dabei ist zu unterstreichen, dass die Phänomene der Coronasprache so vielfältig sind wie die Ereignisse, die sie beschreibt. Zahlreiche Wortschöpfungen (Anglizismen, Kontaminationen, Fachbegriffe und vor allem Metaphern, oft mit pejorativ-expressiver Wirkung) haben den alltäglichen Wortschatz dermaßen beeinflusst, dass auf diese Weise eine Sprache entstanden ist, die die Spezifik derzeitiger Lebensweise, aktuelle gesellschaftliche Stimmungen sowie die Auswirkungen und Veränderungen vermittelt. Dafür sensibilisiert die präsentierte Übersicht und vergegenwärtigt zugleich die Überzeugung, dass dem analysierten Bestand eigentlich nicht viel Zufälliges anhaftet. Die vorkommenden metaphorischen Ausdrücke, denen ein mehrfaches Potenzial zuzuschreiben ist, werden bewusst gebildet, um ganz bestimmte Bilder und Emotionen entstehen und wirken zu lassen. Einige von ihnen verzerren zwar die Realität und schüren Unsicherheiten, sie haben jedoch auch einen direkten Einfluss auf die Wahrnehmung der Corona-Pandemie und weisen hohes Erklärungs- und Überzeugungspotenzial in vielschichtigen Zusammenhängen auf. Die präsentierten Kompositum-Metaphern zeichnen sich dadurch aus, dass sie komprimiert Informationen vermitteln und ein großes Inferenzpotenzial haben. Sie sind das kreative und kritische Spiegelbild der pandemiegeschüttelten Gesellschaft und dienen unter anderem dazu, mit den Herausforderungen der Pandemie umzugehen oder mit ihnen zurecht zu werden, weil sie viele intensive
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Gefühle äußern und dadurch als ein emotionales Ventil fungieren (können). Neben emotionaler Kennzeichnung bringen die eingesetzten Mittel zumeist Evaluation, Intensität, Humor und Ironie zum Ausdruck. Außerdem stellen sie kein rein sprachliches Phänomen dar, weil sie Bekanntes, Unbekanntes und Inkompatibles miteinander verbinden, wodurch sie eine eigene spezifische semantische Kontur und pragmatische Relevanz bekommen. Ihre unterhaltende Wirkung, die direkt nach der Erfassung der metaphorischen Bedeutung entsteht, ergibt sich vor allem aus der ironischen Lesart, die hier durch geteiltes Wissen schnell erkannt werden kann, weil Ironie und Metapher oft in enger Verbindung zueinander stehen und Gedankensprünge sowie das Wissen um den situativen Hintergrund abverlangen, um dem Gemeinten auf die Spur zu kommen. Alles in allem steht es außer Zweifel, dass einschneidende Ereignisse das Vokabular stark prägen. Die Corona-Krise hat auch die (deutsche) Sprache dominiert, indem die bekannten Wortbildungsmuster auf die bestehende Situation angewendet werden und neue Wörter, darunter zahlreiche bildliche Ausdrücke mit beschönigender oder verstärkender Wirkung sowie mit überwiegend negativ-ironischer Wertung entstehen lassen. Es wirft sich jedoch die Frage nach ihrer längeren Gebrauchsfähigkeit auf, d. h. ob die behandelten Kompositum-Metaphern zum Dauerbrenner werden können, auch wenn manche eher kurzlebige Phänomene bezeichnen, die aus der Realität schnell verschwinden. Für ihre Langlebigkeit wird bestimmt die weitere Entwicklung der Pandemie entscheidend sein, daher ist es derzeit schwer zu prognostizieren, ob sie sich halten werden. U. E. besteht jedoch die Chance, dass viele Corona-Metaphern aus dem Sprachgebrauch nicht ganz verschwinden, weil sie nicht ausschließlich zu informativen Zwecken, sondern zur bildlichen Versprachlichung konkreter Veränderungen entstanden sind, was sie zu guten Kandidaten für eine Verankerung im Alltag macht.
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Attila Mészáros (J.-Selye-Universität, Komárno)
Mit Humor gegen Corona. Internet-Memes im slowakischen Coronavirus-Diskurs
Abstract With Humour against Corona. Internet Memes in the Slovak Coronavirus Discourse The so-called coronavirus discourse is a multifaceted object of research for discourse linguistics, which yields interesting results especially on the vocabulary level and on the actor and argumentation level. The present article deals with the image-text constructions known as internet memes. These spread virally on the web like the corona virus itself and are used to comment on current events – such as the pandemic – in a concise form and at the same time to express social criticism in a satirical form. Results of empirical analyses are presented using the Slovakian coronavirus debate as an example. Keywords: coronavirus, discourse, internet memes, humour, image-text constructions Schlüsselwörter: Coronavirus, Diskurs, Internet-Memes, Humor, Bild-Text-Konstruktionen
1.
Einführung
Als wenige Monate nach den ersten Meldungen über eine neuartige und sich rasch verbreitende Lungenerkrankung in den meisten Ländern strenge Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie eingeführt wurden, standen die Regierungen in der ganzen Welt vor einer Herausforderung, die für die breite Öffentlichkeit bisher nur aus Hollywood-Blockbustern bekannt war. Rasch zeigte es sich, dass der unsichtbare Krankheitserreger nicht nur für die Gesundheit der Menschen, sondern auch für die globale Wirtschaft eine extreme Gefahr bedeutet. Die Schutzmaßnahmen und die Heilung und Pflege von COVID-Kranken ist nämlich sehr kostenintensiv, während die globalen Märkte, insbesondere im Bereich des Fremdenverkehrs, bis heute unter den Folgen der wiederkehrenden Sperrungen leiden. Obwohl die ersten Impfungen relativ schnell auf dem Markt erschienen, insbesondere die Reaktionen der Coronaskeptiker machten rasch deutlich, dass das größte Hindernis, um das Virus zu besiegen, nicht unbedingt den Mangel an Impfungen, sondern vielmehr die Menschen von der Nützlichkeit der Impfung
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zu überzeugen, bedeuten wird. Deshalb war es kein Zufall, dass gleichzeitig zu der ersten Welle der Pandemie auch die ersten Hypothesen über den Ursprung des Virus erschienen. Für die Verbreitung solcher Verschwörungstheorien und Fake News bot das World Wide Web einen besonders fruchtbaren Boden. Es entstand dadurch ein transnationaler Diskurs, der sich in kürzester Zeit nach den ersten Fällen in China sowohl im realen Leben als auch in der Online-Welt über zahlreiche und sehr vielfältige Diskursstränge manifestierte. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass sich die Coronavirus-Debatte unabhängig von der jeweiligen Sprache auch für die Sprachwissenschaft als vielseitiger und hochinteressanter Forschungsgegenstand etablierte. Die meisten Innovationen waren von Anfang an in erster Linie auf der lexikalischen Ebene auffällig, was zur Folge hatte, dass auch die ersten einschlägigen Untersuchungen den Diskurswortschatz fokussierten. Wörter gelten nämlich als Elemente, die zeigen, »was ist« (Kuhn 1975: 11). Sie bieten zugleich eine Schnittstelle für die Analyse von komplexeren Einheiten auf der sog. transphrastischen Ebene. Als prominente Beispiele aus dem hier thematisierten slowakischen Corona-Diskurs lassen sich etwa singuläre Wörter wie koronavírus, covid-ochorenie oder rúsˇko (dt. Coronavirus, COVID-Erkrankung, Maske) erwähnen. Die Wortwahl indiziiert nicht nur die Haltungen und Mentalitäten des Sprachbenutzers (vgl. Jung et al. 2000: 9–12), sondern macht auch »mentalitätsgeschichtliche« Änderungen auf gesellschaftlicher Ebene sichtbar (vgl. Hermanns 1995). Diese Auffassung korreliert mit der These der historischen Semantik, dass die Bedeutung eines Wortes erst im diskursiven Gebrauch zum Ausdruck kommt (ebd.). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit bestätigen auch die folgenden Arbeiten das wachsende Interesse seitens der Linguistik, die durch das Coronavirus ausgelöste sprachliche Innovation im Bereich des Wortschatzes wissenschaftlich zu analysieren: – im Kontext der deutschen Coronavirus-Debatte z. B. die durch das IDS veröffentlichten Beiträge1 (Klosa-Kückelhaus 2020a, Klosa-Kückelhaus 2020b, Lobin 2020, Zifonun 2020, Möhrs 2020); die Beiträge im Corona-Themenheft von Aptum2; Schmitz (2021); – im Kontext des tschechischen bzw. des slowakischen Coronavirus-Diskurses u. a. Hirtlová (2020), Kásˇová (2020), Rusinková (2020) und Rusnák (2020); – im Kontext des ungarischen Coronavirus-Diskurses Cseke (2020), Szijártó (2020) und Uricska (2021).
1 Vgl. die Liste unter https://www1.ids-mannheim.de/sprache-in-der-coronakrise.html [Zugriff am 24. 04. 2023]. 2 https://buske.de/aptum-zeitschrift-fur-sprachkritik-und-sprachkultur-16-jahrgang-2020-heft -02-03.html [Zugriff am 24. 04. 2023].
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Wesentlich weniger Beachtung fand vorerst jener Bereich, wo die Einstellungen und Mentalitäten der Sprachbenutzer in einer knappen Form, aber umso vielseitiger und kreativerer zum Ausdruck kommen: die sog. Internet-Memes. Es handelt sich dabei um Bild-Text-Kombinationen, z. B. Animationen, Zeichnungen oder Fotomontagen, die sich, in der Regel um humorvolle oder satirische Texte ergänzt, vor allem im World Wide Web viral verbreiten. Deren Wirkung basiert grundsätzlich auf dem Widerspruch zwischen dem durch das Bild vermittelten Inhalt und der im Text kodierten Botschaft. Thematisch zeichnen sie sich sehr heterogen aus, eine besondere Gruppe stellen dabei die sog. politischen Internet-Memes dar, in denen die Sprachbenutzer bzw. Internet-Nutzer grundsätzlich auf aktuelle Geschehnisse Bezug nehmen. Bereits die Flüchtlingskrise von 2015 zeichnete sich als eine Serie von Ereignissen aus, dass über den in den Offline- und Online-Medien sich konstituierenden Diskurs hinaus im OnlineRaum einen besonders fruchtbaren Boden für die Erstellung und Verbreitung von Internet-Memes generierte (vgl. Weidacher 2019). Im Schatten der Coronavirus-Epidemie wird man heute auf ähnliche Art und Weise immer wieder mit verschiedenen Kreationen konfrontiert, die – mit dem Corona-Diskurs des jeweiligen Landes korrelierend – das aktuelle Geschehen und vor allem die Mentalitäten der Gesellschaft präzise widerspiegeln.
2.
Zielsetzung
Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, einen Einblick in die slowakische Coronavirus-Debatte durch die Lupe von Internet-Memes zu geben. Die Slowakei galt zumindest am Anfang der Pandemie als Musterland, da die Anzahl von Infizierten in Folge der schnellen und strengen Schutzmaßnahmen mehrere Monate lang auf einem relativ niedrigen Niveau blieb. Der Regierungswechsel im März 2020 und die anschließenden Attacken der neuen Opposition, der Ausbruch der Pandemie und die ungewöhnlichen Lösungsversuche (etwa die Massentests im November 2020) resultierten jedoch in kurzer Zeit in einer Konstellation von Faktoren, die eine allgemeine »Corona-Müdigkeit« und zunehmende Passivität der slowakischen Gesellschaft zur Folge hatte. Umso aktiver reagierte die Online-Community, was auch die stets wachsende Anzahl von Internet-Memes bestätigt, die im slowakischen Internet kursieren. Im Weiteren wird versucht, den Begriff Internet-Meme zu erörtern und es wird auf die Frage eingegangen, inwieweit diese Bild-Text-Kombinationen zum Gegenstand einer multimodal ausgerichteten Diskursanalyse erhoben werden können. Im Anschluss daran werden konkrete Fallbeispiele dargestellt, um diskursive Ereignisse aus der Slowakei im Spiegel der slowakischen Memesphäre zu thematisieren.
278
3.
Attila Mészáros
Zum Meme-Begriff
Mit Memes verbindet man heute in erster Linie jene lustigen Fotos oder Animationen, die sich im Internet viral verbreiten. Der Ursprung des Begriffes geht auf das griechische mı¯me¯ma zurück, das »etwas Nachgeahmtes« bedeutet. In der Fachliteratur hat Meme durch das Werk The Selfish Gene des Entwicklungsbiologen Richard Dawkins Einzug gefunden, der darunter kulturelle Einheiten versteht, die mittels Imitation überliefert werden. Im Prozess der Übermittlung – praktisch der menschlichen Evolution – treten Menschen als Replikatoren auf, wobei es immer wieder zu Mutationen kommt, d. h. im Laufe des Transfers erfahren die vermittelten Inhalte bestimmte Änderungen. In Dawkins’ Konzept werden Memes analog zu den Viren erläutert, indem er besagt, dass der Erfolg der Replikation in entscheidendem Maße von ihrer Ansteckungsfähigkeit abhängig ist. Anders gesagt: Je leichter sich die Memes verbreiten und je besser sie im Gehirn der Menschen verankert sind, desto bessere Chancen haben sie zum Überleben. Die neodarwinistische Konzeption von Dawkins fand in der Folgezeit in unterschiedlichen Disziplinen Beachtung. Hervorzuheben ist das Werk The Meme Machine von Susan Blackmore, in dem die wohl bekannteste Weiterentwicklung des ursprünglichen Meme-Konzeptes dargeboten wird. Sie vertritt hier eine sehr weite Auffassung, indem sie alles als Meme betrachtet, was man durch die Imitation von anderen erlernt. Hierzu gehören also u. a. Sprache, Wortschatz sowie kulturelle Praktiken, die zum Wissensbestand eines Kollektivs gehören. Blackmore versteht unter Imitation eine Art Replikation, d. h. die Verbreitung von Informationen durch Sprachverwendung, Lesen, Schreiben u. ä. Vor diesem Hintergrund lassen sich alle Menschen als potenzielle Replikatoren betrachten, die nach bestimmten evolutionär geerbten Algorithmen handeln müssen. Für das breite Publikum evoziert heute der Ausdruck Meme in erster Linie diejenigen lustigen und im World Wide Web verbreiteten Inhalte, die sich zusammenfassend als Internet-Memes bezeichnen lassen. Trotz der inflationären Verwendung des Begriffes in den unterschiedlichsten Kontexten stößt dessen Definition auf Probleme; die Analogien zum Konzept Dawkins’ sorgen hierbei eher um eine weitere Verwirrung. Wie Jenkins, Ford und Green (2013: 16–23) darauf hinweisen, die bloße Reduzierung von Internet-Memes auf die sich im Internet von selbst verbreitenden viralen Inhalten wäre falsch und irreführend. Die Viralität der Internet-Memes ist nämlich nicht als angeborene Eigenschaft von diesen Inhalten zu betrachten, sondern ist grundsätzlich an die Kreativität und Partizipation der Nutzer angewiesen. An dieser Stelle wird auf die Studie von Wiggins und Bowers (2014: 11–12) verwiesen, die Memes als Phänomene beschreiben, die erst im Laufe eines Entwicklungsprozesses im Online-Raum tatsächlich zu einem Meme werden. Sie differenzieren dabei zwischen einer Emergenzphase, wo potenzielle Memes entstehen (emergent memes) und einer
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Iterationsphase, wo die Attraktivität und Kreativität des jeweiligen Inhaltes bestimmten, mit welcher Geschwindigkeit die Meme verbreitet und überhaupt den Status eines Internet-Memes erreichen wird3. Aus den obigen Überlegungen wird deutlich, dass die Voraussetzung zur Entstehung eines Internet-Memes einerseits das gute Design, andererseits dessen positive Rezeption beim Publikum sind, was unter optimalen Zuständen in einer rapiden Diffusion des jeweiligen Inhaltes resultiert. Shifman (2014: 56) weist in dieser Hinsicht darauf hin, dass dem Attribut »viral« im Kontext des WWW eine abweichende Bedeutung zukommt, so dass eine 1:1-Entsprechung von InternetMemes jenen bei Dawkins selbst aus diesem Grund falsch wäre. Shifman (ebd.) bezeichnet mit Viral singulare kulturelle Einheiten (»single cultural unit«), die im Internet in unveränderter Form kursieren. Hierzu gehören etwa Werbeslogans, politische Botschaften oder kurze Animationen bzw. Videos. Unter (Internet-) Memes versteht er hingegen sog. Image Macros im Sinne von »collection[s] of texts« (ebd.) – es handelt sich dabei jeweils um »ein Bild mit darübergelegtem Schrifttext, der dem dargestellten Motiv einen zusätzlichen Sinn oder Affekt verleiht« (Moskopp/Heller 2013: 73). Die Grundlage von diesen Bild-TextKombinationen bildet demnach immer ein Bild aus der Popkultur, dem Alltag oder der Politik (vgl. Osterroth 2015: 28), dessen Bedeutung durch die InternetNutzer rekontextualisiert wird.
Abb. 1: Prototyp eines Image Macros (nach Merten/Bülow 2019: 199) und seine exemplarische Realisierung4
3 Zu weiteren Definitionsversuchen vgl. Johann/Bülow (2019: 5). 4 https://www.watson.ch/digital/spass/453178667-die-besten-corona-memes-die-impfgegner-li eber-nicht-anschauen-sollten [Zugriff am 24. 04. 2023].
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In Abb. 1 wird ein prototypisches Image Macro dargestellt. Über dem Bild eröffnet ein sog. Setup das Frame, in dem die durch das Bild vermittelte Botschaft zu deuten ist. In diesem Falle handelt es sich um das Frame Lösung gegen die Coronavirus-Pandemie. In der sog. Punchline erscheint der zweite Text, der die Botschaft aus dem Setup ergänzt – in der Abbildung steht der Aufruf, sich impfen zu lassen. Das Kommunikat wird jedoch erst beim ganzheitlichen Verständnis der Bild-Text-Konstruktion vollständig, was entsprechende Vorkenntnisse und die Partizipation des Sprechers (hier: des Internet-Nutzers) voraussetzt. In diesem Falle macht die adäquate Deutung des Memes in Abb. 1 die Kenntnis des Star-Wars-Universums erforderlich, denn im Bild auf den alten Jedi-Meister Yoda Bezug genommen wird. Die Bezugnahme erfolgt sowohl visuell (die Figur von Yoda) als auch verbal (in Pidgin-Deutsch formulierte Botschaft). In der Abbildung wurde zugleich das Gesicht der ursprünglichen Figur durch jenes von Alain Berset, dem schweizerischen Gesundheitsminister ersetzt, der hier quasi wie Yoda (dem Volk) suggeriert, dass sie sich impfen lassen sollten, um die Pandemie zu beenden.
Abb. 2: Variationen eines Internet-Memes5
In Abb. 2 werden drei Variationen des gleichen Bildes im Kontext des Coronavirus-Diskurses dargestellt, die zugleich die Entstehung und das Fungieren von Internet-Memes illustrieren. Die ersten zwei Memes (von links beginnend) operieren mit unverändertem Bildmaterial (die Figur von Yoda), nur die Botschaft variiert sich: 1. Leute sollten Distanz halten und zu Hause bleiben. 2. Trotz der Verbesserung der pandemischen Situation ist immer noch Aufmerksamkeit erforderlich.
5 https://www.facebook.com/fcgjugend/photos/, https://www.watson.ch/digital/spass/4531786 67-die-besten-corona-memes-die-impfgegner-lieber-nicht-anschauen-sollten [Zugriff am 24. 04. 2023].
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Im Bild 3 (rechts) wurde neben der Botschaft auch das Bildmaterial teilweise angepasst, indem das Gesicht Yodas durch jenes von Alain Berset (s. o.) ersetzt wurde. Diese Spezifikation resultiert, dass die in diesem Internet-Meme kodierte Botschaft nur in der Schweiz vollständig übermittelt werden kann, auch wenn der Text im ganzen deutschsprachigen Sprachraum verständlich wäre. Der Grund dafür liegt in der Modifizierung des ursprünglichen Bildes; ohne Vorkenntnisse aus dem Bereich der schweizerischen politischen Landschaft wird die Deutung des Memes nicht vollständig. Anhand dieser Überlegungen lässt sich die Memetisierung im Sinne der Entstehung von Internet-Memes als ein Komplex beschreiben, das aus den folgenden Teilprozessen besteht (vgl. hierzu auch Osterroth 2020: 119): a) Intentionalisierung: Mit Hilfe eines entsprechenden Tools (z. B. Meme-Generator) wird durch einen Nutzer ein Produkt, d. h. eine Bild-Text-Kombination erstellt, um dieses im Online-Raum zu verbreiten und dadurch möglichst Popularität zu gewinnen. b) Dissemination: Der obigen Intention folgend wird das Produkt – das Meme – im Internet durch die Nutzer wiederholt geteilt, evtl. auch angepasst und weiterverbreitet (Exploitation). c) Konventionalisierung: Das Meme erreicht die Stufe eines konventionalisierten Produktes, indem es unter den Internet-Nutzern einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht und in den Image-Bibliotheken von Web-2.0-Plattformen erscheint. d) Variation: Das Meme wird nach der Konventionalisierung parallel in mehreren Variationen weiterverbreitet; sowohl der Text als auch das Bild selbst kann verändert werden (vgl. Abb. 2).
4.
Internet-Memes als Objekte einer multimodalen Diskursanalyse
Internet-Memes werden hier als Artefakte betrachtet, denen nicht einfach eine kommunikative Funktion zukommt, sondern als solche, mit denen die Sprachnutzer (hier: Internet-Nutzer) auf tagesaktuelle Themen Bezug nehmen und dadurch sich über das öffentliche Geschehen diskursiv austauschen können. Dieser Meinungsaustausch beschränkt sich jedoch meistens nicht auf die Rolle eines Beobachters, vielmehr wird in den Memes auch eine Gesellschaftskritik ausgeübt. Aus diesem Grund operieren die Internet-Memes grundsätzlich mit dem Humor, denn dieser ermöglicht zugleich eine kritische Distanz zum Thema (vgl. Moebius 2018: 6). Sarkasmus und Ironie bieten dabei eine Art Schutzschild,
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um auch solche Themen kritisch anzusprechen, die ohne die Deckung von Humor weder politisch korrekt noch in der Gesellschaft akzeptabel wäre. Es ist gerade diese diskurskonstituierende Funktion von Internet-Memes, die sie auch für diskurslinguistische Forschungen interessant macht. Die Absicht, durch die Integration von Diskurs und Bildlichkeit eine weitere interdisziplinäre Perspektive zu eröffnen, korrespondiert auch mit den Tendenzen innerhalb der (germanistischen) Diskurslinguistik in der letzten Zeit. Meier (2011: 1) plädiert für die Etablierung einer sog. multimodalen Diskursanalyse, die verbale und nonverbale Kommunikation in ihrer Korrespondenz betrachten würde, denn »Kommunikation [wird] seit jeher nicht allein sprachlich, sondern immer mit Hilfe unterschiedlicher Zeichensysteme realisiert«. Während aber Spitzmüller und Warnke (2011: 16) den Einbezug von Bildmaterial in diskursanalytische Untersuchungen mangels eines entsprechenden Instrumentariums vorerst ablehnen, schlägt Felder (2015: 97) für die Analyse der sprachlichen Oberfläche im Rahmen der pragma-semiotischen Textarbeit ein 5-Ebenen-Modell vor, dessen Bestandteil auch die Text-Bild-Beziehungen (Ebene 5) sind. Vor diesem Hintergrund konstituiert sich ein Diskurs in der diskursiven Praxis, d. h. in einem bestimmten kommunikativen Zusammenhang realisierter regulierender und regulierter multimodaler Zeichenverwendung der Akteure (vgl. hierzu Keller 2005: 223). Im Fokus stehen hierbei zeichenhafte – etwa bildliche Materialisierungen –, denen im jeweiligen Kontext von den Sprachbenutzern eine bestimmte Bedeutung und somit schließlich Symbolhaftigkeit zugeschrieben wird. Die Bedeutungszuschreibung erfolgt im diskursiven Prozess und durch die wiederholte Realisierung der Zeichen entwickeln sich diese zu konventionalisierten Mustern. Multimodale Konstruktionen zeichnen sich auf der sprachlichen Oberfläche in erster Linie dadurch aus, dass sich deren Formseite »aus Bestandteilen unterschiedlicher Modes« (Merten/Bülow 2019: 208) zusammensetzt, so z. B. aus Bild und Text. Die Bedeutung solcher multimodalen Konstrukte lässt sich daher im komplexen Zusammenspiel von bild- und sprachspezifischen sowie von kontextuellen Faktoren erschließen, wobei die Rezeption in großem Maße entsprechende (pop)kulturelle Vorkenntnisse beim Adressaten voraussetzt. Von diesen Ausführungen ausgehend lassen sich auch Internet-Memes – zumindest im Sinne von Image Macros – als multimodale Konstruktionen betrachten. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Text-Bild-Kombinationen etwa in Zeitungsnachrichten zeichnen sich diese Artefakte durch einige Besonderheiten aus, die sich auf die Online-Gebundenheit dieser Memes zurückführen lassen. Es handelt sich um »kleine Texte« (Hausendorf 2009: 6), deren Bedeutung erst im Kollektiv (d. h. in der Online-Sphäre) entfaltet wird. Als ihre natürliche Umgebung lässt sich daher der Online-Raum betrachten, da die einzelnen digitalen
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Medien wie Facebook, Twitter, Instagram u. ä. alle Voraussetzungen erfüllen, die zu einer rapiden Diffusion der Inhalte in kürzester Zeit erforderlich sind. Internet-Memes zeichnen sich durch ein breites Spektrum an Funktionen aus. Sie können bloß informieren, aber auch beleidigen, belustigen, evtl. auch für manipulative Zwecke eingesetzt werden (vgl. Godisˇ 2019). Es ist gerade das Letztere, wodurch die Memes in letzter Zeit nicht bloß als ein kurzlebiger Trend der Online-Welt, sondern auch als therapeutische Hilfsmittel gegen den sog. Corona-Stress untersucht werden. Wie darauf bereits in den ersten Monaten der Epidemie wiederholt hingewiesen wurde, die größten Schäden wird über die Bildung und die Wirtschaft hinaus die Psyche der Menschen erfahren, da die Unsicherheit, die unsichtbare Gefährdung und vor allem die Eingeschlossenheit und die Beschränkung der freien Bewegung einen noch nie gesehenen Stress für die Bevölkerung bedeuten. Wie darauf Myrick et al. (2021) hinweisen, bei Menschen, die sich Memes anschauten, war ein höheres Maß an Humor und positivere Emotionen messbar als bei jenen, die eine solche Erfahrung nicht hatten. Bei den Testpersonen, denen Internet-Memes mit Corona-spezifischen Textanteilen (d. h. Image Macros) gezeigt wurden, empfanden weniger Stress wegen der Pandemie als jene Personen, die sich nur bloße Bilder ohne Texte anschauten. Die Forscher gingen daher von der Annahme aus, dass die belustigende Funktion von Internet-Memes indirekt eine Rolle bei der Verringerung des Corona-Stresses spielen kann.6 Es ist daher kein Zufall, dass sie unabhängig von der jeweiligen Sprache seit Jahren als populäre Artefakte der Online-Welt zu betrachten sind, mit denen die Internet-Nutzer auf das Geschehen im Alltag reagieren – etwa im Kontext der Coronavirus-Pandemie, wie das nachfolgend am Beispiel von slowakischen Corona-Memes exemplifiziert wird.
5.
Das Coronavirus in der Slowakei – ein Überblick
Der Ausbruch der Coronavirus-Pandemie im März 2020 erreichte die Slowakei in einem besonders ungünstigen Moment. Das Land war nur wenige Tage nach den Parlamentswahlen, die in einem Regierungswechsel resultierten. Das neue Kabinett war jedoch dazu gezwungen, statt mit der Realisierung seines Programms zu beginnen, eine noch nie gesehene Krise zu bewältigen und parallel dazu auch den Attacken der neuen Opposition zu widerstehen. Obwohl die meisten Länder der Welt mit der Beschränkung der Mobilität und mit Maskenpflicht auf die Pandemie reagierten, zeigte sich die Slowakei sowohl in Hinsicht auf die Behandlung der Corona-Krise als auch bezüglich der Debatte darüber hochinteressant. Die schnelle Reaktion und die Einführung von strengen Sicherheits6 Vgl. hierzu auch Amici (2020), Chiodo/Broughton/Michalski (2020) und Olah/Ford (2021).
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maßnahmen führten nämlich dazu, dass die erste Infektionswelle relativ schwach ausfiel. Die Zahl der Infizierten und der Todesfälle blieben bis Herbst auf einem besonders niedrigen Niveau, während die Tendenz in allen Nachbarländern radikal abweichend war. Nach dem Ausbruch der zweiten Pandemie-Welle Ende September 2020 entschied die Regierung, die Bevölkerung des Landes einem Corona-Massentest zu unterziehen, um dadurch möglichst große Mengen an Infizierten aus der Gesellschaft für die Zeit der Genesung »auszuschalten«. Obwohl der Sinn dieser Lösung selbst unter Experten in Frage gestellt wurde, das – zumindest von der Regierung als erfolgreich bewertete – Experiment bewegte auch weitere Länder wie Österreich dazu, diesen Weg im Kampf gegen das Virus zu wählen. Parallel mit der Einführung der ersten Schutzmaßnahmen begannen auch die Experimente mit den potenziellen Impfstoffen gegen das neue Virus, die Ende 2020 bereits die ersten Erfolge lieferten. Als jedoch die westeuropäischen bzw. nordamerikanischen Hersteller Verspätungen mit den Lieferungen angekündigt hatten, versuchte auch die slowakische Regierung alternative Lösungen zu finden. Im Fokus stand die in Russland entwickelte Sputnik-V-Vakzine, die jedoch wegen der fehlenden Zulassung in der Europäischen Union, aber insbesondere wegen der geopolitischen Orientierung der Slowakei sowohl unter den medizinischen Experten als auch in der slowakischen Bevölkerung mehrheitlich auf eine Ablehnung traf. In dieser gespannten Atmosphäre kündigte am 1. März 2021 der damalige Ministerpräsident Matovicˇ an, dass er im Namen der slowakischen Regierung die Anschaffung von zwei Millionen Impfungen aus Russland organisiert hat. Dieser Schritt generierte große Spannungen in der slowakischen Politik und drohte mit dem Aus der Koalition. Die Krise endete schließlich mit dem Wechsel des Ministerpräsidenten und einer teilweisen Rekonstruktion der Regierung. Die mangelhafte Kommunikation über die Schutzmaßnahmen wird aber in der Öffentlichkeit weiterhin als ein Schwachpunkt der Regierung angesehen; das bestätigte im Laufe von 2021 auch die misslungene Impfkampagne. Einen großen Anteil an dem Misserfolg7 haben neben den propagandastischen Äußerungen der Oppositionsparteien vor allem die im Internet verbreiteten Fake News, zu denen sich auch einige Politiker gerne meldeten. Nach dem Ausbruch des bewaffneten Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine verschwand jedoch das Thema Coronavirus vor den Augen; die Berichterstattung in den Medien über die Pandemie beschränkt sich praktisch auf die Veröffentlichung von Statistiken über Infizierte und Gestorbene, evtl. auf die Minderung der Schutzmaßnahmen. Dieses Desinteresse lässt sich in großem Maße auf die sog. Corona-Müdigkeit der Bevölkerung zurückführen und es ist gerade der Grund, 7 Mindestens die erste Dosis der Impfung bekam lediglich 51,6 % der Gesamtpopulation (Stand: 28. 03. 2022).
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285
warum die slowakische Memesphäre so aktiv und kritisch auf die einzelnen Ereignisse im Kontext der Coronavirus-Pandemie reagierte.
6.
Empirische Analyse
Nachfolgend wird auf einige ausgewählte Memes aus der slowakischen Memesphäre eingegangen. Es wird dabei kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben, das Ziel liegt lediglich darin, möglichst authentisches Material darzustellen, das den slowakischen Coronavirus-Diskurs adäquat illustriert. Die Auswahl erfolgte mit Hilfe des Suchdienstes von Google, als Suchwort wurde die Wortkombination koronavírus+mémy bzw. slovenské+koronavírus+mémy angegeben. Die gefundenen Bilder wurden anschließend qualitativ ausgewertet, als Kriterien dienten das Thema (nur Coronavirus-bezogene Memes wurden berücksichtigt) und die Originalität. Beim Letzteren ging es darum, dass nur authentische slowakische Memes ausgefiltert werden, nicht aber slowakisch beschriftete Variationen von bereits bekannten Image Macros. Für die empirische Analyse wurden so 13 Internet-Memes ausgewählt, die anschließend der besseren Übersicht halber aufgrund des Themas in die folgenden Kategorien eingeteilt wurden: 1. Schutzmaßnahmen/Sperrungen, 2. Hoax/Verschwörung, 3. Politiker/Persönlichkeiten. Es ist zu berücksichtigen, dass die obige Kategorisierung subjektiv erfolgte und sich die einzelnen Memes auch in anderen Kontexten relevant zeigen können.
Abb. 3: Distanzhaltung und Schutzmaske – auch in klassischen Märchen8
8 Szene aus dem klassischen tschechoslowakischen Märchenfilm Trˇi orˇísˇky pro Popelku (dt. Drei Haselnüsse für Aschenbrödel), https://www1.pluska.sk/gal/regiony/najlepsie-meme-obrazky -bizardne-fotografie-ktore-suvisia-pandemiou-priamo-tu [Zugriff am 24. 04. 2023].
286 6.1
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Schutzmaßnahmen/Sperrungen
Die Slowakei war eines der ersten Länder, das bereits in den ersten Tagen der Epidemie strenge Schutzmaßnahmen eingeführt hat. Diese erzielten die Beschränkung der Mobilität und die Distanzhaltung (vgl. Abb. 3), so dass früher exotisch klingende Ausdrücke wie Home Office oder Online-Unterricht plötzlich für jeden zur Realität wurden. Von der mangelhaften Regierungskommunikation zeugten jedoch die sich von Tag zu Tag ändernden Verordnungen aus den ersten Wochen, die die Home-Office-Pflicht pauschal vorgeschrieben oder zumindest empfohlen haben, ohne Rücksicht auf jene Professionen, bei denen die Präsenz an Ort und Stelle – etwa bei Bauarbeitern – erforderlich ist. Den Unsinn von diesen kaum durchdachten Verordnungen reflektiert z. B. das Meme in Abb. 4. Es handelt sich hier um eine Ellipse, da nach der Überschrift Ked’ môzˇesˇ, pracuj z domu [dt. Falls möglich, arbeite vom Zuhause] die – aufgrund des Kontextes selbstverständliche – Antwort vom Sprecher zu ergänzen ist.
Abb. 4: Home-Office-Pflicht für alle9
Diese Empfehlungen wurden gleichzeitig mit Maßnahmen kombiniert, die den Schutz jener Gruppen der Bevölkerung vorsahen, die wegen ihres gesundheitlichen Zustandes bzw. Alters am stärksten vom neuen Virus gefährdet waren. Hierzu gehörten sinngemäß die älteren Generationen. In den Geschäften und bei den Behörden wurden »Happy Hours« für Leute über 65 Jahren eingeführt, d. h., 9 https://www.zomri.online/2020/03/13/home-office-2/ [Zugriff am 24. 04. 2023].
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der Zeitraum zwischen 9.00 und 11.00 Uhr vormittags war mehrere Monate lang für diese Gruppen vorbehalten. Diese Maßnahme und die vorübergehend eingeführte Beschränkung der Besucheranzahlen sorgte insbesondere bei jüngeren Leuten für Unzufriedenheit und der ohnehin existierende Konflikt über die vermeintlichen Privilegien von Senioren wurde dadurch erheblich verstärkt. So ist es kein Zufall, dass diese Maßnahme bei der Besserung der pandemischen Situation als erste aufgehoben wurde, im kollektiven Bewusstsein der slowakischen Öffentlichkeit blieb jedoch bis heute erhalten und findet u. a. auch in Memes (vgl. Abb. 5) einen Niederschlag. In Abb. 5 wird z. B. eine Situation dargestellt, wo ein LKW-Fahrer am Tage ein Date mit einer Sexarbeiterin haben möchte, die jedoch die Aufforderung mit der Begründung ablehnt, dass sie von 9 Uhr bis 11 Uhr nur für Senioren zur Verfügung steht.
Abb. 5: … bis 11 Uhr nur für Senioren10
Als nach der relativ ruhigen ersten Phase der Pandemie im Herbst 2020 die Anzahl von Infizierten und Todesfällen plötzlich in extreme Höhen sprang, begann die slowakische Regierung, über das vorübergehende »Ausschalten« des Landes, d. h. über ein sog. Lockdown zu diskutieren. Nachdem die Massentests Anfang November 2020 nicht zu dem erwarteten Erfolg geführt haben, entschloss sich die Regierung vorerst für ein Bewegungsverbot und Anfang 2021 für ein 10 https://www1.pluska.sk/gal/regiony/najlepsie-meme-obrazky-bizardne-fotografie-ktore-suv isia-pandemiou-priamo-tu [Zugriff am 24. 04. 2023].
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tatsächliches Lockdown. Bei der Realisierung von diesen Maßnahmen wurde das Prinzip der Regionalität berücksichtigt und eine sog. COVID-Signalampel (später: COVID-Automat) eingeführt. Im Sinne von diesem Mechanismus wurden je nach der Anzahl von Infizierten in den Regionen des Landes weniger oder stärker strengere Maßnahmen eingeführt, wobei die Bewegung der Bevölkerung vorübergehend auf den eigenen Kreis/Bezirk beschränkt wurde. Diese Verordnung verursachte insbesondere bei Pendlern manche Probleme, denen die tägliche Fahrt zur Arbeit und zurück dadurch erheblich erschwert wurde. Darüber hinaus wurde aber auch sehr schnell deutlich, dass die staatlichen Organe, vor allem die Polizei, keine Kapazitäten haben, diese oft unlogischen Anweisungen in die Wirklichkeit umzusetzen und etwa an den Kreisgrenzen täglich mehrere Tausende von Pendlern bezüglich ihres Reisezieles zu überprüfen. Obwohl die meisten Maßnahmen durch eine Kommission vorgeschlagen und anschließend durch die Regierung diskutiert und verabschiedet wurden, hat die Öffentlichkeit diese grundsätzlich mit dem damaligen Ministerpräsidenten Igor Matovicˇ identifiziert. Das zeigt sich u. a. in dem in Abb. 6 dargestellten InternetMeme, dessen Grundlage eine imaginäre Kommunikation aus dem Film Herr der Ringe bildet.
Abb. 6: Igor Matovicˇ als Herr der Ringe11
Frodo Beutlin, die Hauptfigur meldet sich, um den Ring nach Mordor zu bringen, worauf die Figur des Ministerpräsidenten wie folgt antwortet: Über den Kreis hinaus? Vergiss es! Dieses Meme zeigt sich als eklatantes Beispiel dafür, dass solche Bild-Text-Konstruktionen nur dann fungieren können, wenn das zum Verständnis erforderliches Vorwissen u. a. aus dem Bereich der Popkultur sowie der lokalen Gegebenheiten beim Rezipienten vorliegt. Die Pointe liegt hier in der 11 https://www1.pluska.sk/gal/regiony/najlepsie-meme-obrazky-bizardne-fotografie-ktore-suv isia-pandemiou-priamo-tu [Zugriff am 24. 04. 2023].
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Heimat von Frodo, dem sog. Auenland, das ähnlich zum slowakischen Kreis wie eine Region vorstellbar ist. Falls also im Kontext des obigen Memes Frodo das Auenland verlassen möchte, wäre das gerade in Folge der pandemischen Beschränkungen verboten, die im Auge der Öffentlichkeit als eine Art staatliches Bullying á la Matovicˇ angesehen war.
6.2
Hoax/Verschwörung
Für die misslungene Bewältigung der Pandemie und den Misserfolg der Impfkampagne war nicht nur die schwache Kommunikation der Regierung verantwortlich, aber in einem besonders großen Maße auch die massenhaft verbreiteten Desinformationen. Obwohl als primäre Quelle von solchen Fake News bis heute das Internet gilt, zeigten sich u. a. auch mehrere Politiker besonders aktiv in dieser Richtung, um politisches Kapital dadurch zu gewinnen. Toposanalysen (vgl. Mészáros 2021) haben gezeigt, dass im slowakischen Coronavirus-Diskurs gerade dem Verschwörungs-Topos eine zentrale Rolle zukommt, der sich u. a. in den folgenden Konzepten materialisiert: Topos VERSCHWÖRUNG
Konzept Die Coronavirus-Impfung dient dazu, Leute mit Microchips zu versehen. Das Coronavirus ist eine erfundene Epidemie zur Begrenzung der Freiheit der Menschen. Das Coronavirus ist eine biologische Waffe. Die Epidemie ist eine gesteuerte Zerstörung der Wirtschaft. Die COVID-Erkrankung ist nur eine Erkältung.
Tab. 1: Konzepte zum Verschwörungs-Topos im slowakischen Coronavirus-Diskurs
Um das Land vor eventuellen Folgen einer fatalen Kombination von Inkompetenz (der Regierung) und Desinformation zu schützen, forderte die Präsidentin ˇ aputová, bereits im Oktober 2020 die Politiker auf, verder Slowakei, Zuzana C antwortungsvoll zu handeln: Prezidentka SR upozornila, zˇe je zodpovednostˇou vlád a politických lídrov, aby prijímali rozhodnutia zalozˇené na faktoch a poznatkoch, nie na politických kalkuláciách. Nekompetentnostˇ, dezinformácie a populizmus majú totizˇ fatálne následky. [dt. Die Präsidentin der Slowakischen Republik wies darauf hin, dass es in der Verantwortung von Regierungen und politischen Führern liege, Entscheidungen auf der Grundlage von Fakten und Wissen zu treffen, nicht auf der Grundlage von politischen Kalkulationen. Inkompetenz, Fehlinformationen und Populismus haben nämlich fatale Folgen] (Sme, 23. 10. 2020).
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Die Verschwörungstheorien fanden jedoch auch in der Memesphäre ihren Niederschlag, insbesondere in Bezug auf die Konzepte Die Coronavirus-Impfung dient dazu, Leute mit Microchips zu versehen und Die COVID-Erkrankung ist nur eine Erkältung.
Abb. 7: Chip vs. Kugelschreiber12
In Abb. 7 dient als Hintergrund ein Foto über das Treffen von führenden USPolitikern aus den 80er Jahren, die gerade besonders gut gelaunt sind. Die Überschrift des Memes gibt gleich eine Erklärung dafür: In der Slowakei werden die Angaben beim Testen manuell aufgezeichnet und die Leute denken, dass ihnen Chips eingesetzt werden. In der Tat fungiert dieses Meme gleichzeitig als Auslachen von Verschwörungstheorien über die Implementation von Chips durch Impfungen, andererseits lässt es sich aber auch als scharfe Kritik der damaligen Zustände in der Slowakei betrachten. Zumindest in den ersten Monaten nach der Einführung von PCR- und Antigen-Tests wurden die Angaben der Patienten tatsächlich manuell aufgenommen, d. h. ohne Einsatz von Computern, wodurch die Probenahmen erheblich verlangsamt wurden. Es werden also zwei Extremitäten gegenübergestellt: die anfangs »mittelalterlichen« Zustände beim Testen, wodurch über die Implementation von Microchips in die Köpfe von Menschen (d. h. über eine hochmoderne Technologie) zu reden praktisch unmöglich wäre. Ein Wortspiel mit dem Ausdruck Chip (slow. cˇip) ist in Abb. 8 zu sehen, wo die ˇ aputová zu sehen ist. Da ihr Name durch einen VoImpfung von Präsidentin C kalwechsel in [cˇ i p u t o v á] geändert werden kann, wurde das Meme erstellt, wo im Kontext des Wortspiels die mit einem Chip bereits versehene Präsidentin – schon mit einem neuen Namen – zu sehen ist.
12 https://www1.pluska.sk/gal/regiony/najlepsie-meme-obrazky-bizardne-fotografie-ktore-suv isia-pandemiou-priamo-tu [Zugriff am 24. 04. 2023].
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Abb. 8: Ein Wortspiel mit dem Namen der Präsidentin13
Das Internet-Meme in Abb. 9 wird hingegen als eine kleine Comics-Story aufgebaut, wo der wohl bekannteste slowakische Virenskeptiker Marián Kotleba, der Chef der LˇSNS-Partei (dt. Volkspartei – Unsere Slowakei) in den Vordergrund gestellt wird. Diese als populistisch und rechtsextremistisch bezeichnete Gruppierung wird seit Jahren als schwarzes Schaf der slowakischen politischen Landschaft betrachtet; trotzdem sind sie durch zehn Abgeordnete auch im slowakischen Nationalrat vertreten. Die Mitglieder der Partei, insbesondere Parteichef Kotleba, äußerten sich bezüglich der Coronavirus-Erkrankung sehr widersprüchlich, u. a. durch selbst erfundene Heilmethoden gegen das »angebliche« Virus. Bekannt wurde z. B. die Idee Kotlebas, Wodka mit Bromhexin (in der Slowakei beliebte Tropfen gegen Husten) zu mischen und dem COVID-Patienten zu dosieren. Das Meme basiert wieder auf einem harten Gegensatz: Im Original wurde die harte Arbeit der Ärzte hervorgehoben, die in vielen Fällen vergeblich um die Patienten kämpften. In der Fotomontage wird Kotleba als Alleskönner und Retter dargestellt, dessen einzige Empfehlung »mehr wert« als jegliche Maßnahmen der Ärzte sei. Somit lässt sich dieses Meme als eine Metapher des slowakischen Coronavirus-Diskurses – und zugleich der Mentalität der slowakischen Öffentlichkeit in den Corona-Zeiten – zu betrachten, der maßgeblich durch eine Bezweiflung und Ablehnung der Wissenschaft (vgl. Corona-Skeptiker, im Slowakischen antivaxer) und der Zuwendung zu alternativen Methoden und Theorien geprägt wurde.
13 https://www1.pluska.sk/gal/regiony/najlepsie-meme-obrazky-bizardne-fotografie-ktore-suv isia-pandemiou-priamo-tu [Zugriff am 24. 04. 2023].
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Abb. 9: Alternative Methoden gegen das Virus14
Das Datum 1984 auf der Maske Kotlebas als Anspielung an das berühmte Werk Orwells gilt hier als ein weiteres Zeichen für seine Theorie, dass die Impfungen sowie die Verwendung von Mobilfunk-Daten nur dazu dienen, die Bevölkerung durch den Staat heimlich zu beobachten.
6.3
Politiker/Persönlichkeiten
Die in den vorangehenden Absätzen thematisierten Politiker, Igor Matovicˇ und Marián Kotleba, vertreten zwei gegenüberliegende Pole der slowakischen politischen Landschaft. Diese Positionen bestimmen nicht nur ihre politischen Ansichten im Allgemeinen, sondern – wie es auch die hier dargestellten Memes illustrieren – auch ihre Weltanschauung im Kontext der Coronavirus-Pandemie. Der ehemalige Ministerpräsident wird in der slowakischen Öffentlichkeit bis heute als Alleskönner und Populist betrachtet, der selbst die Epidemie durch improvisierte – jedoch nicht durchdachte – Aktionen wie die Massentests oder die »Abschaltung« des Landes zu lösen versuchte, ohne etwa deren finanziellen, wirtschaftlichen oder gerade gesellschaftlichen Aspekte zu berücksichtigen.
14 https://www1.pluska.sk/gal/regiony/najlepsie-meme-obrazky-bizardne-fotografie-ktore-suv isia-pandemiou-priamo-tu [Zugriff am 24. 04. 2023].
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Abb. 10: Hide the Pain Harold, der Problemlöser15
Seine vereinfachte Sicht der Dinge wird auch in dem Meme in Abb. 10 ausgelacht, wo Matovicˇ verzweifelt um Hilfe bittet, da – wie er sagt – das Land nicht fungiere. Als Berater zeigt sich die sowohl aus Fernsehwerbungen als auch aus InternetMemes bekannte Figur des Hide-the-Pain-Harold, der wie folgt antwortet: »Haben Sie versucht, es ein- und auszuschalten?«. Die Kritik richtet sich hier grundsätzlich auf sein populistisches Verhalten – etwas, das Matovicˇ noch als Oppositionspolitiker wiederholt scharf kritisiert hat. Nach den gewonnenen Parlamentswahlen Ende Februar 2020 wurde er jedoch vor die wohl größte Aufgabe seines Lebens gestellt, nämlich die Slowakei in den Zeiten der globalen Pandemie so zu leiten, damit das Land die kritischen Zeiten möglichst ohne größere Verluste überlebt. Dass diese Herausforderung nicht so einfach zu lösen ist, zeigte sich rasch an den oft sinnlosen Verordnungen, Beschränkungen und anderen improvisierten Lösungsversuchen, aber insbesondere an der fehlenden Regierungskommunikation, wodurch der vor den Wahlen noch populärste Politiker der Slowakei in kurzer Zeit zu einer der unbeliebtesten Persönlichkeiten des Landes wurde. Während Igor Matovicˇ und manche Politiker zum festen Bestandteil des slowakischen Coronavirus-Diskurses avancierten, fanden sich auch darüber hinaus wiederholt Fälle bzw. bekannte Persönlichkeiten, die unbewollt in den Schlagzeilen und anschließend auch in Internet-Memes erschienen. Großes 15 https://www1.pluska.sk/gal/regiony/najlepsie-meme-obrazky-bizardne-fotografie-ktore-suv isia-pandemiou-priamo-tu [Zugriff am 24. 04. 2023].
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Aufsehen erregte die bekannte frühere Tennisspielerin Dominika Cibulková, als sie sich im Januar 2021, d. h. noch am Anfang der Impfkampagne, impfen ließ. Das Problem lag darin, dass zumindest in den ersten Monaten des Jahres die Impfung – streng geregelt – nur für bestimmte Völkergruppen verfügbar war, hierzu gehörten vorerst die Senioren (über 65 Jahren), anschließend diejenigen Leute, die in ihrer Arbeit besonderen Gefahren wegen des Virus ausgestellt sind – Mitglieder der Feuerwehr, Ärzte und Krankenschwester, später auch Lehrerinnen und Lehrer. Dominika Cibulková gehörte keiner der gefährdeten Gruppen an, trotzdem gelang es ihr und ihrem Mann, bereits in den ersten Wochen der Kampagne die Impfung zu bekommen. Da sie als frühere Sportlerin und in der letzten Zeit eine beliebte Celebrity in der Öffentlichkeit hohes Ansehen genoss, wurde dieser Schritt besonders negativ und mit Ablehnung empfunden, insbesondere als sie kurz darauf, als die Bewegung innerhalb des Landes bereits sehr beschränkt war, nach Sansibar flog. Das geschah gerade in der Zeit als die erste große Welle der Pandemie das Land erreichte und das Gesundheitswesen nur wenige Schritte vor dem Aus stand. Die Ausreden der ehemaligen Tennisspielerin in Bezug auf die außerordentlich absolvierte Impfung sowie auf die luxuriösen Ferien in Afrika resultierten nicht nur in der rapiden Senkung ihrer Popularität, sondern auch in der Geburt von manchen Internet-Memes.
Abb. 11: Dominika Cibulková im öffentlichen Dienst16
16 https://www.zomri.online/2021/01/20/dominika-vcera-v-prvej-linii/ [Zugriff am 24. 04. 2023].
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Das Meme in Abb. 11 basiert auf einem Foto von Dominika Cibulková aus dem Krankenhaus, wo sie als Strafe für die unberechtigt erhaltene Impfung für eine festgelegte Zeit öffentlichen Dienst leisten sollte. Diesen empfanden viele Leute als eine weitere Möglichkeit für die Frau, sich öffentlich und im positiven Kontext zu präsentieren, um das eigene Image zu verbessern. In der Abbildung sind die Kleiderstücke mit Überschriften versehen, die quasi über die Marke und den Preis von diesen informieren. Der Grund dafür liegt in der Vorliebe Cibulkovás für Luxus, der hier auf ein einfaches Schutzkleid übertragen wird: Gummistiefel (Hersteller: P***) für 4 000 EUR, Overall (Hersteller: F***) für 4 000 EUR, Einweghandschuhe von L*** V*** für 3 000 EUR.
Abb. 12: (K)eine Impfkampagne17
Viel aussagekräftiger sind hingegen die beiden Variationen eines Image Macros in Abb. 12. Im Mittelpunkt steht dabei wieder die unberechtigte Bevorzugung von Frau Cibulková, die in dem Meme den normalen »Sterblichen« auslacht und zugleich provoziert: (1) Ich habe mich bereits impfen lassen. Und worauf warten Sie noch? (2) Wenn deine Karriere bereits zu Ende ist, aber du immer noch fähig bist, in den Rankings höher zu springen. Das Bild bzw. die Überschrift in Bsp. 1 könnte man ohne die Kenntnis der Vorgeschichte als eine gute Werbung für eine Impfkampagne interpretieren. Aus dem oben beschriebenen Kontext wird jedoch deutlich, dass das Internet-Meme provozieren möchte und das Verhalten von Dominika Cibulková keinesfalls als vorbildhaft betrachtet. Der Text im Bsp. 2 basiert auf einer Tennis-Metapher, da die Leistungen von Tennis-Spielern die Platzierung in den Rankings ausdrücken. Zur Deutung von diesem Meme ist ein gewisses Vorwissen auch erforderlich – 17 https://refresher.sk/93375-Ked-mas-po-kariere-ale-stale-vies-poskocit-v-rebricku-Dominik e-Cibulkovej-sa-smeje-cele-Slovensko-za-ockovanie-aj-ospravedlnenie [Zugriff am 24. 04. 2023].
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hier ist es einerseits die Kenntnis der oben skizzierten Geschichte, andererseits die der Karriere von Frau Cibulková (sie hat 2019 ihren Rücktritt gemeldet).
Abb. 13: Corona, aber keine Krone18
Das letzte Beispiel in Abb. 13 basiert auf einem Wortspiel, da der Name des neuen Virus Corona sehr leicht mit der früheren Währung der Slowakei, d. h. mit der Krone verwechselbar ist. Im Bild ist Ivan Gasˇparovicˇ, ein früherer Präsident der Slowakei, zu sehen, der u. a. für seine häufigen Versprecher bekannt war, die sowohl ihm als auch weiteren hochrangigen Vertretern der slowakischen Politik für manche unbequemen Momente gesorgt haben. Obwohl er sich bereits vor Jahren von der Politik verabschiedet hat, vergisst das kollektive Gedächtnis nicht. Das Meme wird als ein Image Macro aufgebaut; als Setup steht die Überschrift Korunavírus znovu na Slovensku? [dt. Das Kronen-Virus kehrt zurück in die Slowakei?] und wird durch den folgenden Text – einen Quasi-Versprecher von Ivan Gasˇparovicˇ – ergänzt: Ved’ som tusˇím podpisoval zákon o zavedení eura. [dt. Ich habe doch das Gesetz über die Einführung des Euro unterzeichnet]. Die Pointe wird auch in diesem Falle nur dann deutlich, wenn beim Rezipienten entsprechende Vorkenntnisse vorliegen. Aus diesem Grund ist es daher auch anzunehmen, dass – wie es auch dieses Beispiel zeigt – manche Memes nur kurzlebig sind und die Phase der Konventionalisierung nie erreichen. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen: Je spezifischer das Bildelement eines Memes ist, desto niedriger ist seine Chance für eine andauernde Anwesenheit in der Memesphäre. Da die meisten Memes einer Variation unterliegen, bietet sich auf der anderen Seite immer die Möglichkeit, dass vor längerer Zeit verwendeten visuellen Inhalte in neuen Kontexten und mit neuen Überschriften in den aktiven Gebrauch zurückkehren.
18 https://www1.pluska.sk/gal/regiony/najlepsie-meme-obrazky-bizardne-fotografie-ktore-suv isia-pandemiou-priamo-tu [Zugriff am 24. 04. 2023].
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7.
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Fazit
In dem Beitrag wird auf die Coronavirus-Problematik durch die Lupe von Internet-Memes am Beispiel des aktuellen slowakischen Coronavirus-Diskurses eingegangen. Somit wird die herkömmliche textbasierte Perspektive auf TextBild-Kombinationen erweitert, die nicht nur als bloße Begleiter etwa von Zeitungsartikeln fungieren, sondern die durch den Text verbal vermittelten Inhalte in großem Maße stärken, sogar die Funktion von Texten vollständig übernehmen können. Der Begriff von Memes ist heute insbesondere im Kontext des World Wide Web geläufig; die meisten Web-2.0-basierten Plattformen gelten heute als die primären Orte der Entstehung bzw. Teilung von Meme-artigen Artefakten. Die Internet-Memes lassen sich als Produkte des Internet-Folklors betrachten, die man relativ leicht generieren, modifizieren und verteilen kann. Somit zeichnen sie sich als besonders medienspezifische Artefakte aus, da ihre natürliche Umgebung das Internet ist. Ähnlich zu den Leitvokabeln oder Schlüsselwörtern liefern sie Auskunft über die heißen Themen des jeweiligen Diskurses und drücken gleichzeitig in knapper, lustiger, oft satirischer Form die Einstellungen und Mentalitäten einer Sprach- und Kulturgesellschaft aus. Die hier präsentierten Beispiele bieten einen Einblick in die slowakische Coronavirus-Debatte. Die aufgeführten Memes machen deutlich, dass die Pandemie und die damit zusammenhängenden Ereignisse in den meisten Ländern der Welt ähnliche Reaktionen in den jeweiligen Gesellschaften hervorgerufen haben, so etwa die Quarantäne, die Maskenpflicht oder die Distanzhaltung. Diese Ähnlichkeiten finden u. a. in ähnlichen Memes ihren Niederschlag, gemeint sind damit etwa solche, die mit dem Motiv der Maske operieren. Darüber hinaus zeichnet sich jedoch jeder Diskurs durch manche Spezifika – Ereignisse, Akteure, Topoi u. ä. – aus, die in der Memesphäre in viel spezifischeren Inhalten widergespiegelt werden. Insbesondere bei den letzteren wird bei der Rezeption ein entsprechendes – sprach- und kulturspezifisches – Vorwissen gefragt. Vor diesem Hintergrund zeigen die Internet-Memes großes Potenzial für umfassende, evtl. auch kontrastiv ausgerichtete diskurslinguistische Untersuchungen – der vorliegende Beitrag möchte als ein erster Schritt in diese Richtung verstanden werden.
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Witold Sadzin´ski (Uniwersytet Łódzki, Łódz´)
Lachen, um nicht zu weinen. Humor als Element kommunikativer Rationalität – nicht nur zur Pandemiezeit
Abstract Laughing, to Prevent Crying. Humour as an Element of Communicative Rationality – Not Only at the Pandemic Time According to Habermas (1981: 30), linguistic discourse provides for »communicative reason/rationality«. In this sense, humour is presented as an important and useful linguistic register. Its numerous facets are pointed out – first and foremost as the opposite of »animal seriousness«. First of all, the reasons for the awarding of the »Order against Beastly Seriousness« by the Aachen Carnival Society are briefly touched upon. Following the motto »Laughter is the best medicine, even in pandemic times«, COVID-19 jokes are then exemplified as the flip side of humour and subjected to a condensed analysis following Szcze˛k (2022). Keywords: humour (as »tickling the mind«), »order against animal seriousness«, laughing, smirking, COVID-19 jokes Schlüsselwörter: Humor (als »Kitzeln des Geistes«), »Orden wider den tierischen Ernst«, Lachen (vor sich hin), Schmunzeln (Lächeln in sich hinein), COVID-19-Witze
Nach Habermas (1981: 30) sorgt der sprachliche Diskurs für »kommunikative Vernunft/Rationalität«. Im vorliegenden Beitrag wird in diesem Sinne nicht zuletzt der Humor als wichtiges zweckdienliches Sprachregister hingestellt. Es wird auf dessen zahlreiche Facetten hingewiesen – allen voran als Gegenteil vom »tierischen Ernst«. Es werden zunächst Begründungen für die Verleihung des vom Aachener Karnevalsverein gestifteten »Ordens wider den tierischen Ernst« kurz gestreift, um den dezenten Kern des Humors zu hinterfragen. Nach dem Motto »Lachen ist die beste Medizin, auch zur Pandemiezeit« werden anschließend COVID-19-Witze als komplementäre Kehrseite des Humors – durch Tränen, statt einfach Tränen zu lachen – in Anlehnung an Szcze˛k (2022) exemplifiziert.
302
1.
Witold Sadzin´ski
Einleitendes
Der Mensch hat es nicht kraft seiner Vernunft allein zum Homo sapiens gebracht – daraus ist auch die wichtige Rolle der Sprache nicht wegzudenken, die in Marek Siemeks Fallstudie »Vernunft und Intersubjektivität« neben der als Verständigungsmittel schlechthin auch der Vernunft dienlich »als Inbegriff der durch die sprachliche Kommunikation entstehenden Rationalität des menschlichen Denkens und Handelns verstanden wird« (Siemek 2000: Klappentext). Dies ist die Sinnwiedergabe der bereits an anderen Stellen (vgl. etwa Sadzin´ski 2020: 172) angestellten Überlegungen zur Rolle der Sprache bei der Beilegung sozialer oder gar politischer Spannungen. Jürgen Habermas (1981: 30) nennt es »kommunikative Vernunft/Rationalität«.1 Manche Sprachregister können in der Tat ambig sein. An anderer Stelle – Sadzin´ski (2019) – wurde das bereits an Beschimpfung unter Beweis gestellt. Beschimpfen ist auf Anhieb zweifelsohne durchaus unakzeptabel. Aber anderseits weist Meinunger (2017: 11f.) zu Recht darauf hin, dass Schimpfen viel besser als sein Ruf [ist]. Psychologen, Mediziner und malediktologisch bewanderte Sprachwissenschaftler sind sich einig: Schimpfen baut Aggressionen ab. Es ist seinem Wesen nach eine Ersatzhandlung für körperliche Gewalt. Schimpfen – wenn es dabei bleibt und nicht den Auftakt für einen tatsächlichen Angriff bildet – muss als ein Sieg der Kultur über die Natur gewertet werden. Angestauter Druck nimmt Sprache statt Körperkraft als Ventil, rohe brachiale Gewalt wird sublimiert.
Zur Beschimpfung zwecks Abrechnung mit den Protagonisten des Naziregimes – um ihnen den Spiegel vorzuhalten – greift auch Peter Handke (Nobelpreisträger 2019). Ihm zufolge eigne sich dafür das Beschimpfen als Gegenteil der sozialen Maske und der manierlichen Etikette bestens, denn »indem wir beschimpfen, können wir unmittelbar werden. […] Weil schon das Duwort [resp. ihr als sein Pendant im Plural – W. S.] eine Beschimpfung darstellt, werden wir von du zu du sprechen können. Ihr werdet uns anhören, ihr Glotzaugen« (Handke 1966: 43f. – mehr dazu in Sadzin´ski 2019: 166).
2.
Kitzeln des Geistes als wichtige Facette des Humors
In etwa analog ambiger Weise heißt auch der Titel einer kürzlich herausgekommenen Fallstudie zum Humor (Jakosz/Wowro 2022) zu Recht »Mit Humor ist nicht immer zu spaßen. An der Grenze von Spaß und Ernst«. Im einleitenden Artikel wird dafür wie folgt argumentiert: 1 Als Motto hierfür könnte der Sinnsatz Im Wort gibt sich die Weisheit kund (vgl. Fahl/Dieter 2021) dienen.
Lachen, um nicht zu weinen
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Das paradoxe und ambivalente Wesen, der übergreifende mehrdimensionale Charakter sowie die Unkalkulierbarkeit [des Humors] lassen schon nach einer kursorischen Betrachtung des Phänomens viele grundsätzliche, aber auch weiterführende Fragen aufwerfen, die nicht nur in der geisteswissenschaftlichen Forschung ihren Niederschlag finden. […] Als komplexes Phänomen mit Emergenzmehrwert, das durch ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren entsteht, kommt Humor einer wertvollen Ressource gleich, die kognitive, affektive und physiologische Aspekte einbezieht. Als Invariante bleibt jedoch, dass Humor fast immer eine Normabweichung, Originalität des Denkens sowie das Unerwartete inkludiert. Somit lotet er Grenzen dafür aus, was sozial oder sprachlich akzeptabel und normiert ist. […] Heutzutage gilt Humor als überlebenswichtig, denn ohne ihn wäre vieles unerträglich. (Wowro/Jakosz 2022: 8–12)
Humor wird meist mit Lachen assoziiert. Aber das Lachen ist nicht einerlei. Neben ausgesprochenen Lachern gibt es auch schmunzelnde Zufriedenheit und verschmitzt ambivalente Handlungen, die trotz alledem heiter hingenommen werden. Hinzu kommt als Gegenpol allerdings auch Grinsen bzw. der schwarze Humor als Abwehr gegen die Schicksalstücke. Der schwarze Humor kommt erst gegen Ende der hier angestellten Überlegungen anhand der COVID-19-Witze zur Sprache. Wir mögen humordienliche Komplimente – vorausgesetzt, dass sie einen nicht in Verlegenheit bringen – auch wenn man weiß, dass sie nicht unbedingt vollauf der Wahrheit verpflichtet sind: Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der jeder jedem offen sagt, was er gerade denkt, ohne alle Höflichkeit, ohne alle Konvention, die beide ohne Lüge nicht sein könnten. Sie wäre ganz und gar unerträglich, würde Kränkung auf Kränkung nach sich ziehen, würde psychische Zusammenbrüche, Duelle, Kriege an denen es wahrhaft schon jetzt nicht mangelt, unendlich vermehren. Vom Verschwinden der kleinen Freuden durch ein gelungenes Kompliment, dem allemal ein wenig Lüge beigemischt sein muss, ganz zu schweigen. (Götze 2014: 12)2
»Gelungenes Kompliment« sollte gleichermaßen die Sinne wie den Intellekt – den Geist/Witz (Esprit)3 – ansprechen. Charles Darwin, der Entdecker der Evolutionsgesetze, nannte es das Kitzeln bzw. Amüsieren (tickling) – hier wird es natürlich auf das Kitzeln des Geistes (tickling of the mind) abgesehen: The fact that smiling and laughter occur during tickling and during humor has led many writers to assume that the two reflect the same positive emotional state. One prominent champion of this view was the father of evolution, Charles Darwin (1872), who noted that the »imagination is sometimes said to be tickled by a ludicrous idea; and this socalled tickling of the mind is curiously analogous with that of the body« (p. 199). Darwin pointed out several similarities between tickle and humor. First, he claimed that in order 2 Mehr dazu in Sadzin´ski (2020: 169). 3 Witz (< wissen) versteht sich hier als ›Geistreichtum‹ (Antonym zu ›Witzlosigkeit‹), was wohlgemerkt nicht zuletzt auch dem Witzeerzählen zugutekommt.
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for either to elicit laughter one must be in pleasant hedonic state. He wrote, »in this case [humor], and in that of laughter from being tickled, the mind must be in a pleasurable condition; a young child, if tickled by a strange man, would scream in fear« (p. 199). Second, he noted similarities in the elicitors of each state. ›The touch must be light‹ in the tickle and ›an idea or event must not be of grave import‹ in the humor. Finally, he pointed out that an element of surprise is required to elicit laughter to jokes or to humor (Harris 2012: 612).
Das »Kitzeln des Geistes« resultiert im Großen und Ganzen aus Abwechslung und Innovation – variatio delectat – und verdankt sich darüber hinaus nicht zuletzt einer eleganten Versprachlichung der zu lösenden bzw. soeben gelösten Probleme.4 Meist kommt es vorzugsweise nicht durch das Lachen vor sich hin, sondern eher durch das Schmunzeln – das Lächeln in sich hinein – zum Ausdruck. Geboten ist nicht der Übermut, sondern eher eine stimmungs- oder gar erbauungsdienliche Reflexion, denn Heiterkeit und Besinnlichkeit schließen sich nicht aus – ganz im Gegenteil: Das Attribut heiter-besinnlich hat inhärent komplementären Charakter. Dafür sensibilisierte der ehemalige Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid und einer der ersten Ritter des »Ordens wider den tierischen Ernst«5 in seiner Rede anlässlich dessen Verleihung 1958: »daß wir nicht aus lauter Angst vor dem tierischen Ernst in den tierischen Humor verfallen«.6 Die Etablierung der Harmonie von Ernst und Humor setzt bereits im Prozess des geistigen Heranwachsens ein. Im Kindesalter scheinen die beiden noch stark polarisiert zu sein. Dies hat auch Eva Lindström, illustre Kinderbuchautorin und Mitglied der Schwedischen Akademie für Kinder- und Jugendbücher, sehr wohl eingesehen – was ihr gerade zum renommierten AstridLindgren-Gedächtnis-Preis 2022 gereichte. In der Begründung heißt es: »[Sie lasse] die Grenzen zwischen Kindern, Erwachsenen und Tieren fließend sein. Mit
4 Interessanterweise ist bildliche bzw. bildhafte Ausdrucksweise (allen voran Metaphern oder gar ausufernde metaphernhaltige Gleichnisse – vorzugsweise in der Bibel) für natürliche Sprachen – auch heute, geschweige denn erst recht dazumal – sehr charakteristisch: »People do not speak in words, they speak in phrasemes« (Mel’cˇuk 1995 – zit. beipflichtend in Chlebda 2020: 66, Anm. 6). Ausgedient haben deren germanische – hier ahd. Pendants, und zwar mehrgliedrige Kenninge bzw. eingliedrige Heitis, die z. B. im »Hildebrandslied« (8. Jh.) nachweisbar sind: Man denke an seolîdante ›Seefahrer‹ [›Seeleidende/der Seenot Preisgegebene‹] bzw. ferah (< idg. perk- ›Eiche‹, im Germanischen auf die Kiefer übertragen – vgl. dt. [dialektal] Föhre) ›Leben – unnachgiebig wie eine Eiche‹ als komplementäre Nominationsvarianten zu ahd. seoliuti resp. lebe¯n (mehr dazu in Sadzin´ski 2022b: 185 samt Anm. 2 u. 3). 5 »Der Orden wider den tierischen Ernst wird an bekannte nationale und internationale Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verliehen, die ›Individualität, Beliebtheit und Mutterwitz in sich vereinen, vor allem aber Humor und Menschlichkeit im Amt bewiesen haben. Er gilt als einziger Orden, der nicht für, sondern wider etwas vergeben wird‹«, https://de.wikipe dia.org/wiki/Orden_wider_den_tierischen_Ernst [Zugriff am 26. 07. 2022]. 6 https://de.wikipedia.org/wiki/Orden_wider_den_tierischen_Ernst [Zugriff am 09. 08. 2022].
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tiefem Ernst und wildem Humor [fett von W. S.] ringen sie mit den ewigen Fragen: Wer sind wir? Wohin gehen wir? Wer hat unsere Hüte genommen?«.7
3.
»Orden wider den tierischen Ernst« und dessen Ritter (in Auswahl)
Im Folgenden sollen stichprobenweise die Begründungen für die Verleihung des »Ordens wider den tierischen Ernst« an die jeweils erfolgreichen Kandidaten zurückverfolgt werden, um die vielen Facetten des auch nur dezenten Kitzelns des Geistes vor Augen zu führen. Nach dem vorhin erwähnten Ordensritter Carlo Schmid hat im Folgejahr der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer den Orden zuerkannt bekommen. Die Begründung lautete: »Für sein Talent, komplizierte Sachverhalte einfach darzustellen«. Dazu zählte zweifelsohne – zumal im Hinblick auf die damals komplizierte politische Lage – seine Zivilcourage, mit seinen Überzeugungen nicht hinterm Berg zu halten, was auch seinen Mitbürgern die Augen öffnen mochte. Bereits 1946 schrieb er an einen katholischen Geistlichen in Bonn: Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen auch die Bischöfe und der Klerus eine große Schuld an den Vorgängen in den Konzentrationslagern. Richtig ist, daß nachher vielleicht nicht viel mehr zu machen war. Die Schuld liegt früher. Das deutsche Volk, auch Bischöfe und Klerus zum großen Teil, sind auf die nationalsozialistische Agitation eingegangen. Es hat sich fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung gleichschalten lassen. Darin liegt seine Schuld.8
Ein langfristiges Ergebnis Adenauers Politik betraf die zukunftweisende Aussöhnung mit den durch den Krieg angefeindeten Nachbarländern – wenn auch nicht gleich zu seiner Kanzleramtszeit vollendet. Ein Pilotprojekt setzte mit der deutsch-französischen Aussöhnung ein. Im Juli 1962 nahmen Adenauer und de Gaulle an einer symbolträchtigen Versöhnungsmesse in der Kathedrale von Reims teil – gefolgt ein halbes Jahr später von einem Staatsakt: Ein Höhepunkt in seiner letzten Amtszeit war im Januar 1963 der Abschluss des ÉlyséeVertrags zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Mit diesem Vertragswerk besiegelten Adenauer und de Gaulle offiziell das Ende der langdauernden, sogenannten »Erbfeindschaft« zwischen beiden Ländern. Beide Regierungen vereinbarten eine enge Zusammenarbeit beider Länder mit regelmäßigen Regierungskonsultationen.9
7 https://de.wikipedia.org/wiki/Eva_Lindström [Zugriff am 09. 08. 2022]. 8 https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad_Adenauer [Zugriff am 09. 08. 2022]. 9 Ebd.
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1962 war Rochus Spiecker (ein Geistlicher) dran – mit der Begründung: »Für seine streitbare, humorvolle Art«. Ein Streitgespräch ist das Gegenteil einer – vorhin auch von Adenauer angeprangerten – Gleichschaltung und kann jederzeit konstruktiv sein, vorausgesetzt, dass es auf beiden Seiten von einer verreißenden Kritik (zugunsten einer kompromissweisenden) abgesehen wird. Der neue Ordensritter hat es verstanden, durch eine menschliche, nicht zuletzt humorvolle Auflockerung die Gemüter zu beruhigen und Vertrauen zueinander wiederherzustellen. 1965 war es Paul Mikat (CDU), der damalige Kultusminister NordrheinWestfalens, der nach Auffassung der Juroren »für seine hemdsärmelige [saloppe] Art, vermeintliche Persönlichkeiten auf Normalmaß zurückzustutzen« den Orden verdient hat. Hätte er es ex cathedra – also kraft seiner Entscheidungsgewalt als Kultusminister – getan, hätte er sich womöglich Buhrufe eingehandelt. Gerade durch seine hemdsärmelige Art, also augenzwinkernde Weise, wurden Dünkel und Überheblichkeit nur andeutungsweise angesprochen, ohne allerdings das Ziel der Kritik partout zu verfehlen. Helmut Schmidt, noch als Bundesverteidigungsminister, hat den Orden 1972 in Empfang genommen, nachdem »er den Soldaten die damals modische Haarlänge erlaubt hatte«. Damit folgte er nicht dem Amtsschimmel, sondern er hat flexible Art und Weise walten lassen. Es kitzelt halt das Gemüt, nicht stur nach dem Schema F zu handeln. Richard Stücklen (CSU), damaliger Bundestagspräsident, hat sich für die Demokratie vor allem durch das folgende Zitat verdient gemacht: »Humor ist der Mutterboden [oberste, humusreiche Schicht des Bodens] der Demokratie«. Dies reichte aber auch für den Orden 1980. Wenn sich die Politik dieses Zitat beherzigt hätte – und kaum ein Politiker sagt sich von der Demokratie los – lebten wir tatsächlich in der besten aller Welten. Schon Leibniz träumte davon, aber er stützte seine Zuversicht auf Gottes Omnipotenz und Unfehlbarkeit.10 Für Richard Stücklen ist die Lösung viel einfacher – sie liegt an Menschen selbst. In demselben Sinne – allerdings auf dem Gebiet der Bildung, und vorzugsweise der Hochschulbildung – plädierte auch die Universitätsprofessorin und Autorin Gertrud Höhler (CDU) für den fördernden Humor. Sie veröffentlichte u. a. solche Sachbuchbestseller, wie »Spielregeln des Glücks« (Berlin: Ullstein 2007) bzw. »Aufstieg für alle. Was die Gewinner den Verlierern schulden« (Berlin: Econ 2009). Ihr Motto lautet: »Wissen kann man nur vermitteln, wenn man 10 Vgl. seine verlagsfrische Biographie: »›Michael Kempe hat die Leibniz-Biographie für unsere Zeit geschrieben: Sieben ausgewählte Tage, die für das Ganze stehen, sieben Facetten eines großen und widersprüchlichen Bildes‹, schreibt Daniel Kehlmann zu diesem Buch über das große deutsche Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Der war ein Tausendsassa, Philosoph, Erfinder, Mathematiker, Reisender und Netzwerker. Hier lernen wir seine ganze Welt kennen, sein Leben, Denken und Arbeiten« (Kempe 2022: Klappentext).
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unterhält«. Dieses Motto ist es auch, das ihr 1988 den Orden eingebracht hat. Dies leuchtet insofern ein, als der Intellekt – wie bereits vorweggenommen – von Amüsierung profitiert, was im Gegenzug der Wissensaneignung besonders zuträglich ist. Somit lautet die Antwort auf die im Untertitel des zuletzt genannten Buches gestellte Frage – Was die Gewinner den Verlierern schulden – etwa wie folgt: Wir (Hochschul)lehrer, die wir es im Studium und in der Berufsbahn geschafft haben, und nach wie vor erfolgreich sind, sollten denen, die manchmal nicht mitkommen können, zum Erfolg nachhelfen, indem wir sie auch menschliche Gemütsregungen und nicht nur den tierischen Ernst spüren lassen. Das schulden wir ihnen ohne Weiteres. »Mit Mario Adorf ist eine Persönlichkeit der Kultur auszuzeichnen, welche mit feinsinnigem Humor und schlagfertigem Witz ausgestattet ist, wobei er ganz viel ›menschelt‹ [menschliche Schwächen deutlich werden lässt]«. Mit diesen Worten der Jury wurde der verdienstvolle Schauspieler 2009 zum nächsten Ordensritter. Auch er hat es verstanden, an das »Menscheln« mit Humor und Wohlwollen heranzugehen, ohne jemandes Würde zu verletzten, sondern stattdessen ggf. Abhilfe leisten. Zum Schluss dieser Retrospektive sei nun ein zwielichtiger Fall eingeblendet. Es geht um den ehemaligen Bundeswirtschafts- (2009) und Bundesverteidigungsminister (2009–2011) Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). Dieser prominente Politiker war auch für seinen kritischen Mutterwitz bekannt. Dank dessen brachte er es 2011 auch zum Ordensritter. Die Begründung lautete: »Mit Tatendrang und Tacheles [unverhüllt, ohne falsche Rücksichtnahme seine Meinung sagen] bringe er Politikerkollegen ins Schwitzen und Bürger zu Begeisterungsstürmen. Sich selber nehme er erfrischend wenig wichtig«. Wohlgemerkt – im selben Jahr folgte sein erzwungener Rücktritt von allen bis dahin bekleideten Ämtern – und sein Name liegt nunmehr einem Eponymverb (guttenbergen) zugrunde, das Plagiat beinhaltet. Über seinen Rücktritt bzw. den auf den Aufstieg folgenden Fall äußerte er sich in einem »ausufernden« Interview, das einen aufschlussreichen Titel – »Vorerst gescheitert« (Guttenberg/Lorenzo 2011) – trägt. Aus seiner Perspektive heißt es: »Ich habe in den letzten Jahren Prinzipien vertreten und von diesen brauche ich nicht Abschied zu nehmen, auch wenn ich selbst einmal fehle oder scheitere. Wer fällt, muss auch wieder aufstehen können, und genau das tue ich jetzt mit großer Motivation« (S. 207). Da der jeweils letzte Ordensritter im Folgejahr auf den neuen eine Laudatio zu halten hat, wurde Guttenberg auch daraufhin angesprochen, ob er 2012 nach Aachen reisen wird, um dies zu tun. Die Antwort war: »Ein solches Versprechen habe ich dem Aachener Karnevalsverein [als Stifter des Ordens wider den tierischen Ernst] gegeben. Also werde ich da sein« (ebd.).11 11 Letztendlich hat er sich »verpieselt«, sodass »sein Bruder Philipp zu Guttenberg für den Ex-
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Eines der Bonmots Guttenbergs lautet: »Wenn einem das Wasser bis zum Halse steht, ist es außerordentlich ungesund, den Kopf hängen zu lassen«. Wenn er tatsächlich nach wie vor zu seinen Worten steht, wird er mit Sicherheit noch eine Zeitlang viel Mut aufbringen müssen, dies auch öffentlich zur Schau zu tragen.
4.
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Wir fragen uns zu Recht – um etwa die Überschrift in Dargiewicz (2022) als zunächst ironisch anmutende Vorwegnahme der Reaktion auf die im Untertitel angekündigten »Internet-Memes als Quelle des Humors am Beispiel von CoronaMemes« abzurufen – »Was gibt es hier zu lachen?«.12 Was allerdings auf Anhieb diesen Anschein haben mochte, erweist sich halt als Kehrseite des Humors, der von Jean Paul (1990: 90, zit. nach Wowro/Jakosz 2022: 8) nicht von ungefähr das »widerspenstige Phänomen« genannt wurde. Diese Kehrseite des Humors heißt: »Lachen, um nicht zu weinen« (Überschrift in Benecke 2009). In dem zitierten fachtherapeutischen Beitrag werden einige noch sehr vorläufige Ergebnisse einer aktuellen Studie vorgestellt, woraus einige Gedanken darüber abgeleitet werden, warum Weinen oftmals so schwierig oder unangenehm ist und deshalb lieber unterdrückt oder mit einem Lachen zu bändigen versucht wird. (Benecke 2009: Abstract)13
Aber dieselbe Diagnose wurde fast zwei Jahrzehnte zuvor auch von Christine Brückner (1985) in ihrem gleichnamigen Longseller mit fünfundzwanzig Beiträgen aus ihrem reichen literarischen Schaffen gestellt: »Um persönliche Erlebnisse geht es, aber auch um fremde Schicksale. Mal heiter, mal nachdenklich und immer voller Verständnis für ihre Mitmenschen« (Klappentext), denn nicht zuletzt das fortschreitende Alter allein wäre Grund genug für Depression, wenn man ihm nicht Humor – bzw. gar schwarzen Humor, wenn’s sein muss – entgegenzusetzen wüsste: Glücksmomente. Augenblicke des Glücks. Wann entstehen sie? Wenn sich ein Augenblick der Vergangenheit mit einem Augenblick der Gegenwart deckt? Wenn man wahrnimmt, dass dies schon einmal gewesen ist – eine Verdopplung? (Brückner 1985: Klappentext)
Minister einspringen und die Laudatio auf [dessen Nachfolger] Ottfried Fischer halten musste«, https://www.welt.de/politik/deutschland/article13840180 [Zugriff am 06. 06. 2022]. 12 Vgl. in diesem Sinne auch Czachur/Wójcicka (2022), Janus (2022), Wowro (2018). 13 Vgl. hierzu auch Plessner (1982).
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Diese Erfahrung machen wir seit nunmehr drei Jahren immer wieder aufs Neue, um mit der COVID-19-Pandemie zurechtzukommen. Dies wurde in Szcze˛k (2022) bereits als Überschrift ihres Beitrags auf den Punkt gebracht: »Lachen ist die beste Medizin, auch zur Pandemiezeit« – mit COVID-19-Witzen als Auslöser. Die COVID-19-Witze wurden von Szcze˛k (vgl. 2022: 146–149) in folgende 11 Kategorien – ggf. mit Subkategorien – eingeteilt14: 1.
2.
3.
Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Virus: a. Abstandhalten, wobei darunter unterschiedliche Methoden genannt werden, die ohne besondere Anstrengung verursachen sollen, dass von einem Abstand gehalten wird, z. B.: Gegen den Coronavirus esst ihr am besten täglich drei Knoblauchzehen. Es wirkt zwar nicht gegen den Virus, aber der Abstand von einem Meter wird definitiv eingehalten. b. Der gesunde Menschenverstand, z. B.: Sagt gerade ein Virologe im Fernsehen: »Die beste Waffe im Krieg gegen den Coronavirus ist der gesunde Menschenverstand!« …wir sind verloren! Die meisten von uns sind unbewaffnet!!! c. Quarantäne, z. B.: Coronavirus hat nun auch in meiner Straße ein erstes Opfer gefordert: der 49-jährige Erwin M. hat erfahren, dass er mit seiner Frau für 14 Tage in Quarantäne muss – er erschoss sich unverzüglich. d. Desinfektion, z. B.: […] Zwei Freunde unterhalten sich. Fragt der eine: »Wie schützt du dich gegen das Coronavirus?« Antwortet der andere: »Mit Pfefferspray! Wenn Du dir damit die Hände einreibst, fasst du dir garantiert nicht ins Gesicht!« e. Maskentragen, z. B.: […] Eine große Nase ist keine Ausrede dafür, keine Maske zu tragen. Ich trage schließlich auch Unterhosen.« f. Corona-Impfung, […] z. B.: Der kleine Sepp muß zur COVID-19- Impfung. »Na, Sepperl, weißt du denn auch, wogegen ich dich geimpft habe?« fragt der Arzt »Ja sicher – gegen meinen Willen!« […] Symptome der Ansteckung: a. Husten, z. B. Eine Frau in der U-Bahn zu einem stark hustenden Mann: ›Corona?‹ – ›Nein, Marlboro.‹. (Unsinnige) Hamsterkäufe und Warenmangel: a. Übermäßiges Kaufen von bestimmten Waren, darunter auch Ethnowitze, z. B.: »Was hamstern in der Corona-Krise die Italiener, die Franzosen und die Österreicher? – Die Italiener Rotwein, die Franzosen Kondome und die Österreicher Klopapier.« b. Übermäßiges Kaufen von Klopapier, z. B.: Der Coronavirus wird falsch behandelt. Es muss sich hier um eine Durchfallerkrankung handeln. Warum sonst brauchen die Leute so viel Klopapier? c. Klopapier als Mangelware, z. B.: »Chef, Schokolade läuft im Geschäft zurzeit ganz schlecht«. »Okay Frau Müller, dann machen wir folgendes Angebot:… beim Kauf von 5 Osterhasen gibt es eine Klopapierrolle gratis«
14 In diesem Zusammenhang wäre auch nachzutragen, dass die COVID-19-Pandemie oft mit Infodemie einhergeht – darunter nicht zuletzt vonseiten der Politiker (vgl. Sadzin´ski 2022a).
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d. Unsinniges Kaufen von Klopapier, z. B.: Ich habe 30 Klopapier-Rollen eingefroren, soll bis zum Sommer reichen! […] e. Kämpfe beim Einkaufen von bestimmten Waren, z. B.: Es gibt wieder neue Coronavirus-Opfer: drei getramppelte Rentner im Supermarket vor dem Makkaroni-Regal. 4. Bau der sog. temporären Covid-Krankenhäusern von Chinesen; darunter wird zugleich auf stereotype Wahrnehmung von Chinesen eingegangen, z. B. auf ihre fleißige und schnelle Arbeit: Eilmeldung: Die Baufirma, die das Krankenhaus in Wuhan gebaut hat, hat sich bereit erklärt, den Berliner Flughafen fertigzustellen. Sie haben zwei Termine vorgeschlagen: Dienstagnachmittag oder Mittwochvormittag. 5. Durchführung der Corona-Tests und deren Ergebnisse, wobei in diesem Falle oft an bekannte Persönlichkeiten und deren Charakteristika angespielt wird, wie z. B. im folgenden Witz über Donald Trump: Der Corona-Test von Donald Trump war negativ. Klar, oder gab es bei ihm schon mal was Positives? […] 6. Krankenbehandlung vom ärztlichen Personal und Personalmangel: Kranker wählt die Corona-Zentrale; Corona-Zentrale: »Bitte wählen Sie die 1, wenn Sie an Corona erkrankt sind. Kranker: Wählt die 1; Corona-Zentrale: »Sie werden in den nächsten 14 Tagen mit einem freien Mitarbeiter verbunden…legen Sie nicht auf.« 7. Stärke des Corona-Virus; es werden hier Vergleiche mit bekannten und starken Personen gezogen, wie etwa mit Chuck Norris, die stärker als der Virus selbst sind: Chuck Norris hatte Kontakt mit dem Corona Virus! Das Corona-Virus muss jetzt für 14 Tage in Quarantäne. 8. Haltbarkeit des Coronavirus; dabei werden auch Stereotype von Chinesen thematisiert, wie z. B. die schlechte Qualität der in China produzierten Waren, wie z. B. […] Der Corona-virus hält nicht lange: made in China. […] Zum Glück kommt das Coronavirus aus China…,stellt euch mal vor, es wäre original! 9. Dauer der Pandemie, z. B. Wenn wir dann zurückblicken auf Corona, werden wir uns lachend in den Armen liegen und sagen: »Da waren vlt. verrückte 12 Jahre!« 10. Verbreitung des Virus: Treffen sich die Spanische-Grippe und der Corona-Virus auf ein Bier. Sagt die Spanische-Grippe: »Ich habe 20 Millionen geschafft.« Sagt der Corona-Virus: »Vor 100 Jahren gab es noch kein Fernsehen und Handy.« […] 11. Folgen von Coronavirus: a. wirtschaftliche Krise infolge des Lockdowns, z. B. Zwei in der Corona-Krise frustrierte Gastwirte unterhalten sich. Der Eine: »Hast Du Dir auch schon eine Pistole gekauft?« Der Andere: »Wovon denn?« b. Tod, darunter viele Versuche, durch Ironie und Distanz mit dieser Thematik fertig zu werden […]: Habe Corona in mein NAVI eingegeben. Navi: »Nach 500 m haben sie ihr Zielerreicht. Der Friedhof liegt auf der rechten Seite.« c. Homeoffice / Heimarbeit, z. B. […] Haus total verwüstet!!! Abrissunternehmer hatte Heimarbeit verordnet. d. Reiseeinschränkungen – darunter: Änderung/Einstellung der Urlaubspläne […] Nach einhergehender Diskussion in der Familie fahren wir dieses Jahr aufgrund der CoronaKrise nicht in den Urlaub. Meine Frau kümmert sich auch zuhause um meine Palme. […]
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e. Onlinebanking: Endlich habe ich durch die Corona-Krise auch OnlineBanking. Jetzt kann ich mir rund um die Uhr ansehen, dass ich kein Geld habe.
Zum »Lachen-um-nicht-zu-weinen« als dominante Überschriftkomponente möge es möglichst selten zu greifen sein, aber Schicksalsschläge sind nicht voraussagbar, und wir müssen leider Gottes auch darauf jederzeit gefasst sein. Hände ringen bzw. den Kopf hängen lassen hilft garantiert nicht weiter. Humor, und selbst der schwarze Humor (wenn’s sein muss), kitzelt den Geist – und möge dank dessen die lähmende Hoffnungslosigkeit auch nur auf die lange Bank geschoben sein, bis die befreiende Abhilfe noch rechtzeitig kommen kann.
5.
Schlussbemerkungen
»Humor ist, wenn man trotzdem lacht« – dieses bekannte Bonmot von Otto Julius Bierbaum (1865–1910) (zit. nach Szcze˛k 2022: 142) spricht Bände und leuchtet sofort ein. Man kann es gut brauchen, wenn es darauf ankommt. Im Falle der COVID-19-Witze ist es allerdings meist der schwarze Humor – Lachen durch Tränen. Aber Gegensätze berühren sich bekanntlich (les extrêmes se touchent), sodass man auch bei überwältigender Freude zwar nicht durch Tränen, aber immerhin einfach Tränen lachen kann – indem man sich ggf. zusätzlich den Bauch halten muss. Es wurde aber darüber hinaus gezeigt, dass der Humor im Vordergrund viele weitere Facetten parat hat. Er ist das Gegenteil vom tierischen Ernst. Der Letztere sorgt vor allem für Kränkung, während die allenfalls verschmitzte Art des Humors dem entgegenzuwirken vermag – Hauptsache, man verfällt wiederum nicht in tierischen Humor und die damit oft einhergehende Plumpvertraulichkeit. Selbst der Erfolgsdidaktik ist der Humor zuträglich. Wie es nämlich Gertrud Höhler, die vorausgehend zitierte Ritterin15 des »Ordens wider den tierischen Ernst«, nahelegte: »Wissen kann man nur vermitteln, wenn man unterhält«. Dies bewährt sich offenbar ebenfalls in der Fremdsprachendidaktik – vgl. hierzu etwa Martin Löschmann (2015): Humor muss sein – auch im Fremdsprachenunterricht (s. Literaturnachweis).
15 Die auf Anhieb ungewohnt anmutende Form Ritterin ist in moderner Lexikographie des Deutschen bereits im Duden nachweisbar (vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Ritter in) [Zugriff am 26. 07. 2022].
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Lachen, um nicht zu weinen
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Löschmann, Martin (2015): Humor muss sein – auch im Fremdsprachenunterricht. In: Löschmann, Martin (Hrsg.): Humor im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 9–58. Meinunger, André (2017): Sie Vollpfosten! Gepflegte Beleidigungen für jeden und jede [mit Cartoons von Pascal Heiler] (= DUDEN Sprachwissen). Mannheim et al.: Dudenverlag. Mel’cˇuk, Igor A. (1995): Phrasemes in Language and Phraseology in Linguistics. In: Everaert, Martin et al. (Hrsg.): Idioms. Structural and Psychological Perspectives. Hillsdale: MI, S. 167–232. Paul, Jean (1990): Vorschule der Ästhetik. Weimar: Felix Meiner. Plessner, Helmuth (1982): Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. In: Plessner, Helmuth: Gesammelte Schriften. Bd. 7: Ausdruck und menschliche Natur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 201–387. Sadzin´ski, Witold (2019): Auch das Beschimpfen ist eine Art, miteinander zu reden. In: Linguistische Treffen in Wrocław, 16 (II), S. 161–176. Sadzin´ski, Witold (2020): Sprachhandlungen bona und mala fide. In: Studia Linguistica, 39, S. 167–182. Sadzin´ski, Witold (2022a): Metasprache als Textkomponente. Eine Analyse anhand diverser Textsorten – mit einem sachverwandten Exkurs vor dem Hintergrund der COVID-Pandemie und Infodemie. In: Jakosz, Mariusz / Kałasznik, Marcelina (Hrsg.): CoronaPandemie – Diverse Zugänge zu einem aktuellen Superdiskurs. Göttingen: Brill / V & R unipress, S. 483–500. Sadzin´ski, Witold (2022b): Lehnwortgut oder (Neo)Sprachpurismus: Eine falsche Alternative anstelle komplementärer Dialektik. In: Studia Linguistica, 41 (= Acta Universitatis Wratislaviensis No 4102), S. 185–196. Siemek, Marek (2000): Vernunft und Intersubjektivität. Zur philosophisch-politischen Identität der europäischen Moderne. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Szcze˛k, Joanna (2022): Lachen ist die beste Medizin, auch zur Pandemiezeit. – Zu den deutschen Covid-19-Witzen. In: Jakosz, Mariusz / Wowro, Iwona (Hrsg.): Mit Humor ist nicht immer zu spaßen. An der Grenze von Spaß und Ernst. Göttingen: Brill / V&R unipress, S. 141–151. Wowro, Iwona (2018): Das Bild und Konzeptualisierungsvarianz des Humors in Minitexten über Humor. In: Germanica Wratislaviensia, 143, S. 403–420. Wowro, Iwona / Jakosz Mariusz (2022): Humor trotz(t) allem! Zu Dimensionen der Humorforschung. In: Jakosz, Mariusz / Wowro, Iwona (Hrsg.): Mit Humor ist nicht immer zu spaßen. An der Grenze von Spaß und Ernst. Göttingen: Brill / V&R unipress, S. 7–20.
Autorinnen und Autoren des Bandes
Bernadetta Ciesek-S´lizowska, Dr., Schlesische Universität Katowice. Forschungsschwerpunkte: COVID-19-Diskurs, Diskurse über Diskriminierung und Toleranz, ideologische Diskurse, linguistische Diskursanalyse. ORCID: 0000-0003-3425-7237. Federico Collaoni, Dr., Istituto Italiano di Studi Germanici Roma. Forschungsschwerpunkte: Medien- und Diskurslinguistik, Kontaktlinguistik und Mehrsprachigkeit, Fachsprachenforschung, Sprach- und Literaturdidaktik. ORCID: 0000-0002-5936-5667. Violetta Frankowska, Dr., Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´. Forschungsschwerpunkte: Pragmalinguistik (insbesondere sprachliche Höflichkeit), Textund Bildlinguistik, Gestenforschung. ORCID: 0000-0003-0726-6680. Oksana Havryliv, Doz. Dr., Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Pragmalinguistik, Soziolinguistik, Variationslinguistik. ORCID: 0000-0002-0156-3767. Mariusz Jakosz, Univ.-Prof. Dr., Schlesische Universität Katowice. Forschungsschwerpunkte: Bewerten, Stereotype und Vorurteile in der deutsch-polnischen Wahrnehmung, Politolinguistik, Medienlinguistik, Diskurslinguistik, Phraseologie und frühes Fremdsprachenlernen. ORCID: 0000-0001-9606-679X. Marcelina Kałasznik, Dr., Universität Wrocław. Forschungsschwerpunkte: Lexikologie, Pragmalinguistik, Diskurslinguistik, Medienlinguistik. ORCID: 0000-0003-2713-5880.
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Autorinnen und Autoren des Bandes
Izabela Kujawa, Dr., Universität Gdan´sk. Forschungsschwerpunkte: Text- und Diskurslinguistik, Politolinguistik. ORCID: 0000-0002-8672-2324. Attila Mészáros, Dr., J.-Selye-Universität Komárno. Forschungsschwerpunkte: kontrastive Diskurslinguistik, Korpuslinguistik, Wissenstransfer. ORCID: 0000-0002-7695-7429. Joanna Przyklenk, Dr., Schlesische Universität Katowice. Forschungsschwerpunkte: Identitätsdiskurse im Kontext der glottodidaktischen Erziehung und der Haltung der Polen gegenüber anderssprachigen Fremden in der Geschichte der polnischen Sprache; Sprachgeschichte, Textologie und linguistische Genologie. ORCID: 0000-0002-0385-6432. Witold Sadzin´ski, Univ.-Prof. Dr. habil., Universität Łódz´. Forschungsschwerpunkte: Entlehnungen, Fremdwörter, Lexikologie, Lexikographie, Phraseologie, Pragmalinguistik, diatopische Varianten des Deutschen, kulinarischer Wortschatz, diachronische Untersuchungen, kontrastive Grammatik, beschreibende Grammatik. ORCID: 0000-0003-4999-7545. Maria Paola Scialdone, Assoc. Prof., Universität Macerata. Forschungsschwerpunkte: Rezeptionsgeschichte, Literaturanthropologie, Diskursanalyse, Motivgeschichte, Kulturgeschichte, Inter- und Transkulturalität. ORCID: 0000-0001-8107-8392. Przemysław Staniewski, Dr., Universität Wrocław. Forschungsschwerpunkte: kognitive, diachrone und vergleichende Sprachwissenschaft sowie Semantik und Pragmatik. ORCID: 0000-0002-1903-6316. Katarzyna Sujkowska-Sobisz, Univ.-Prof. Dr., Schlesische Universität Katowice. Forschungsschwerpunkte: Denkmuster spezifischer diskursiver Gemeinschaften (z. B. COVID-19-Impfskeptiker); CAS zur Reflexion der Idee der Partizipation, sowie Kommunikationsstrategien von diskursiven Gemeinschaften gegenüber Krisen unterschiedlichen Ursprungs. ORCID: 0000-0002-9379-7973.
Autorinnen und Autoren des Bandes
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Wioletta Wilczek, Dr., Schlesische Universität Katowice. Forschungsschwerpunkte: COVID-19-Diskurs, Soziolinguistik, schlesisches Polnisch, kulturelle Linguistik, Internetsprache. ORCID: 0000-0001-9327-1237. Beatrice Wilke, Assoc. Prof., Universität Salerno. Forschungsschwerpunkte: Gesprächslinguistik, Diskursanalyse, Kontrastive Linguistik, Kognitive Linguistik, DaF-Didaktik, linguistische Analyse literarischer Texte. ORCID: 0000-0001-5626-9760. Iwona Wowro, Univ.-Prof. Dr. habil., Schlesische Universität Katowice. Forschungsschwerpunkte: Humor, Ironie, Stereotype und Vorurteile sowie allgemeine Probleme der Translation unter besonderer Berücksichtigung der Wiedergabe von humorvollen Äußerungen sowie deren Entstehung und Rezeption. ORCID: 0000-0002-5377-9674. Joanna Woz´niak, Dr., Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´. Forschungsschwerpunkte: kontrastive deutsch-polnische Phraseologie, linguistische Text- und Diskursanalyse, Phraseodidaktik, Fachsprachen und Fachphraseologie, Fachsprachendidaktik. ORCID: 0000-0001-9671-9375.