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German Pages 256 Year 2012
Comic und Literatur: Konstellationen linguae & litterae
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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies
Edited by
Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Ekkehard König (Berlin) Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Lorenza Mondada (Basel) Pieter Muysken (Nijmegen) · Wolfgang Raible (Freiburg) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Aniela Knoblich
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De Gruyter
Comic und Literatur: Konstellationen Herausgegeben von Monika Schmitz-Emans
De Gruyter
ISBN 978-3-11-028285-6 e-ISBN 978-3-11-028299-3 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Inhaltsverzeichnis
Monika Schmitz-Emans Comic und Literatur – Literatur und Comic. Zur Einführung . . .
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Teil I: Transferprozesse: Literatur-Adaptationen Achim Hölter und Eva Hölter Dante im Comic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dietrich Grünewald Alberto Breccia: Das verräterische Herz Eine Comic-Adaption nach Edgar Allan Poe . . . . . . . . . . . .
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Andreas Platthaus Über Proust hinaus erzählen Stéphane Heuets Adaption von Un Amour de Swann . . . . . . . .
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Rolf Lohse Sfars Le petit prince als kreative Literaturadaptation . . . . . . . . .
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Teil II: In den Spuren literarischer Schreibweisen: Biographie, Historiographie, Reiseerzählung Lars Banhold Authentifizierung und Narration in Reinhard Kleists Cash – I See a Darkness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Stefan Höppner Ohne Worte: Erzählweisen des Fremden in Shaun Tans The Arrival 136 Dorothy Figueira Guts and Glory Representations of History in Indian Comic Books . . . . . . . . 167
Teil III: Artistiken des Zitierens Hans-Joachim Backe Transformation und Aneignung Literarische Prätexte in Moores und Gibbons’ Watchmen . . . . . . 187
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Inhaltsverzeichnis
Fabian Lampart »se io dico il nome Nemo …« Zitatästhetik in italienischen Gegenwarts-Comics . . . . . . . . . 203 Monika Schmitz-Emans Orpheus und der Comic Dino Buzzatis Poema a fumetti und der Auftritt des Orpheus bei Martin tom Dieck und Jens Balzer in New Adventures of Incredible Orpheus (The Return of Deleuze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Comic und Literatur – Literatur und Comic
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Monika Schmitz-Emans (Bochum)
Comic und Literatur – Literatur und Comic Zur Einführung
»Comic und Literatur« – die Verknüpfung dieser beiden Stichworte lässt mehrere Lesarten zu. Dabei kommt es unter anderem darauf an, ob das »und« im Sinn einer Nebeneinanderstellung von Differentem oder in dem eines wie auch immer genauer zu fassenden Subsumptionsverhältnisses verstanden wird. Geht es um »die Literatur« und »den Comic« als zwei verschiedene Darstellungs- oder Kunstformen? Oder geht es um die »Literarizität« des Comics, um seinen Status als relativ neue Erscheinungsform von »Literarischem«? Worauf könnte eine Formel wie »Comic und Literatur« verweisen? (1) Transferprozesse: Erstens liegt es nahe, das doppelte Stichwort (»Comic und Literatur«) zum Anlass zu nehmen, Prozesse des Transfers zu analysieren und zu kommentieren: des Transfers von literarischen Texten in die Form des Comics sowie – seltener – des Comics in die Literatur. Weitläufig und breit ausdifferenziert ist das Feld der Comic-Paraphrasen literarischer Texte samt ihren Rand- und Sonderphänomenen. Es reicht von der Konzeption der alten Classics Illustrated, mit denen es vorwiegend um eine leicht nachvollziehbare Inhaltsdarstellung der weltliterarischen »Klassiker« (und um eine Ermutigung zu deren anschließender Lektüre!) ging, bis hin zu parodistischen Anspielungen auf bekannte Klassiker, die in stark verfremdeter Form anzitiert oder zu Pastiches vermengt werden – von der opulenten Reinszenierung literarischer Fabeln im Medium des Comic-Buchs bis zur eigenwilligen Fortsetzung oder Modifikation dieser Geschichten – von der Präsentation bestimmter Texte in neuer medialer Gestalt bis zum Autorenporträt – vom Einzelband bis zum mehrbändigen Projekt oder zur Publikationsreihe. Auch literaturgeschichtliche Kompendien in Comic-Form gibt es inzwischen.1 Neben der ›Übersetzung‹ bestimmter Texte oder Œuvres in die 1
Vgl. Catherine Meurisse, Mes hommes de lettres. Petit précis de littérature française. Préface de Cavanna. Paris 2008. – Ferner: [David Vandermeulen], Littérature pour tous. Synthèse, Vulgarisation et Adaptation en Bande Dessinée des Grands Romans Français à l’Usage de l’Adolescent Contemporain sous la direction de Monsieur Vandermeulen, seconde édition. Frontignan 2004.
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Form der Bildgeschichte wäre an andere Prägungen des Comics durch Literarisches zu erinnern, etwa durch die literarischen Gattungen: So steht Art Spiegelmans »Mouse« in der Tradition der Tierfabeln, und die Beziehung zwischen Helden-Comics und mythischen Fabeln ließe sich unter verschiedenen Aspekten erörtern. Der inzwischen großen und ständig wachsenden Zahl von Comics, die auf literarische Texte, Plots und Figuren Bezug nehmen, steht eine deutlich geringere Zahl von literarischen Texten gegenüber, die sich auf Comics beziehen, Comic-Figuren und -Plots sowie Elemente des Comics einer medialen Transformation unterziehen. Immerhin gibt es sie – etwa in Gestalt von Helmut Heißenbüttels poetischen Variationen über »Krazy Kat« und »Ignatz Mouse« von George Herriman,2 oder auch in Form der Cosmicomiche Italo Calvinos, deren wandelbare Erzählerfigur Qfwfq einen Namen trägt, der an Sprechblasen erinnert. (2) Kombinationen: Zweitens verweist die Formel »Comic und Literatur« auf die Möglichkeit einer Kopplung von literarischem Text und Comic – respektive auf die Integration des einen in das andere: eines Comics in einen literarischen Text oder auch eines Textes in einen Comic. Letztere Möglichkeit macht schon deutlich, dass die Abgrenzung gegen den ›Literatur-Comic‹ im unter Punkt 1 gemeinten Sinn so ohne weiteres nicht möglich ist. Man kann die Unterlegung des kompletten Textes von Racines Drama Phèdre oder eines kompletten Gedichts von Victor Hugo mit einer Comic-Erzählung als einen ›Transfer‹ vom Literarischen in den Comic betrachten,3 man kann aber auch von einer Kombination des Ausgangswerks mit einer Bildgeschichte sprechen. Immerhin gibt es Comics, die eigens gezeichnet werden, um als Bausteine in literarische Erzählungen integriert zu werden, wie etwa Thomas von Steinaeckers Roman Geister illustriert.4 Umberto Eco integriert in seinen Roman La misteriosa fiamma della Regina Loana die Reproduktionen von Comic-Seiten (und anderen Bildmaterialien), wobei diese einerseits – wie bei von Steinaecker – illustrierende Funktion besitzen, andererseits aber 2
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Helmut Heißenbüttel, »KrazykatzBremenwodu/Lehrgedicht über Kommunikation«, in: Ders., Das Durchhauen des Kohlhaupts. Dreizehn Lehrgedichte. Projekt Nr. 2. Darmstadt, Neuwied 1974; Ders., Textbücher 1–6. Stuttgart 1980. Jean Racine, Phèdre. Texte intégral. Adaptation intégrale en bandes dessinées par Armel, scénariste er dessinateur, Darnétal o. J. – Poèmes de Victor Hugo en bandes dessinées. Textes: Christophe Renault, Direction artistique: Olivier Petit, Cédric Illand. Darnétal 2002/03. Hier werden von verschiedenen Zeichnern und Szenaristen insgesamt 13 Hugo-Gedichte in Comics transferiert. Thomas von Steinaecker, Geister. Frankfurt am Main 2008.
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auch ein paralleles Handlungsniveau begründen, die Geschichte selbst also unter differenten medialen Bedingungen vorantreiben.5 Von einer Integration literarischer Elemente in Comic-Erzählungen mag man überall dort sprechen, wo sich der Textanteil verdichtet und eine relativ abgeschlossene Einheit bildet; die Abgrenzung gegenüber ›normalen‹ Comics erscheint schon deshalb unmöglich, weil man dann (unsinnigerweise) erst einmal bestimmen müsste, was ein ›normaler Comic‹ ist. Mit Möglichkeiten der Kombination von Comic- und Textelementen haben experimentelle Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann schon vor Jahrzehnten gespielt.6 Schulbildend hat dies nicht gerade gewirkt, aber die Experimente wurden und werden fortgesetzt.7 (3) Der Comic – ein neues Genre der Literatur? Eine dritte Akzentuierung des doppelten Stichworts »Comic und Literatur« ergibt sich aus der These, der Comic selbst sei Literatur. Viele Indizien sprechen dafür, dass der Comic, vor allem das Comic-Buch, sich als literarische Untergattung etabliert hat oder doch dabei ist, dies zu tun.8 Kriterien dafür sind zum einen das Selbstverständnis der Comic-Künstler selbst, zum anderen die Lesegewohnheiten und Rezeptionsverfahren des Publikums. Zwei thematische Felder scheinen sich zur Erschließung durch den Comic ›als Literatur‹ besonders anzubieten, wenn man aus der Zahl und Qualität einschlägiger Publikationen etwas folgern darf: erstens biographische und autobiographische Erzählungen und zweitens Erzählungen über Zeitgeschichtliches, insbesondere über Kriege, Gewalt und Katastrophen. Vielfach verbinden sich beide Grundthemen, so etwa bei Art Spiegelman, dessen Maus-Erzählungen ja Comic-Geschichte gemacht haben und dessen autobiographische Bildgeschichte (Breakdowns) zugleich neuerlich die Zeitgeschichte zur Kulisse eines ausgeprägt subjektiven Erlebens werden lässt. Das Medium der Comic-Erzählung scheint besonders dazu disponiert zu sein, auf eine das Lehrhafte wie das Sentimen5
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Umberto Eco, La misteriosa fiamma della Regina Loana. Mailand 2004 (Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, dt. von Burkhart Kroeber. München, Wien 2004). Vgl. Rolf Dieter Brinkmann, Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1980. Rolf Dieter Brinkmann, Schnitte. Reinbek bei Hamburg 1988. – Rolf Dieter Brinkmann/R. R. Rygulla (Hrsg.), ACID. Neue amerikanische Szene. Augsburg 2003 (zuerst 1969). Vgl. u. a. Gerhard Rühm, Comic. Linz 1975; Ders., »mickydrama«, in: Ders., Ophelia und die Wörter. Neuwied, Darmstadt 1972, S. 149–159. Im rezent erschienenen Handbuch der literarischen Gattungen ist der Comic als literarische Gattung erfasst. Vgl. Stephan Packard, »Comic«, in: Dieter Lamping (Hrsg.), Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 113–120.
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tale gleichermaßen vermeidende Weise kulturelle Differenzen (z. B. Marjane Satrapis Persepolis), Kriegserfahrungen (z. B. Joe Saccos Palestine) oder den Holocaust zu thematisieren. Gerade dort, wo verbale Schilderungen an ihre Grenzen (oder an die Grenzen der Erträglichkeit) geraten, wird manches Mal auf die eindringliche Wirkung von Bildern gesetzt. Aber ›ist‹ der Comic schon ›Literatur‹, wenn er Funktionen bestimmter literarischer Genres übernimmt? Auf diese Frage wird zurückzukommen sein. Auch wenn man die Analogien nicht überstrapazieren sollte, ist es wohl nicht ganz abwegig, die Geschichte der Rezeption des Comics mit der der Romanrezeption zu vergleichen. Gerade der Roman – die Gattung, die man heute bei dem Wort »Literatur« vielleicht zuallererst assoziiert – hat sich aus den evaluativen Niederungen einer zweifelhaften Unterhaltungskunst zum Rang einer hochgeachteten Kunst emporgearbeitet. Von Gotthard Heidegger beispielsweise als bestenfalls überflüssiger und schon darum schädlicher, vielfach aber zutiefst verderblicher Zeitvertreib verdammt, hat der Roman über lange Zeit ähnliche Diffamierungen erfahren wie der Comic – und mit analogen Argumenten, Argumenten gegen das Unterhaltsame (und darum angeblich notgedrungen ›Flache‹), gegen das Eingängige (und darum angeblich unausweichlich ›Triviale‹), gegen das die Leserphantasie Stimulierende (und darum angeblich stets auf Abwege Führende). Mit dem Roman, der (wie vor allem die Romantiker entdeckten und betonten) so viele unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten samt deren Kombinationen bietet, ist seit der Aufklärung auf vielfältigste Weise experimentiert worden: mit Erzählweisen, Strukturmustern, paratextuellen Rahmungen und anderen Ebenen formaler Gestaltung sowie mit Strategien der Selbstbespiegelung. Es bleibt abzuwarten, welche Entwicklungsmöglichkeiten noch in der Form des Comic-Buchs liegen. Tatsächlich finden hier bereits bemerkenswerte Experimente statt, und diese stehen in der Tradition literarisch-buchgestalterischer Formexperimente. So ist Spiegelman ein Meister der Verschachtelung verschiedener Ebenen der Darstellung, ein Meister des Zitats und des ironischen Selbstzitats. Marc-Antoine Mathieu bewegt sich mit seinen verschlungenen, auch buchgestalterisch innovativen Acquefacques-Geschichten in den Spuren von Jorge Luis Borges, Franz Kafka und Georges Perec. Italo Calvino hat in seinen Harvard Lectures eine Reihe von ästhetischen ›Werten‹, also Kriterien ästhetischen Ranges, genannt, um seine Überzeugung von der Entwicklungs- und Zukunftsfähigkeit des literarischen Schreibens zu untermauern. Einige dieser ästhetischen Kriterien ließen sich auf die Bilderzählung übertragen (wie Komplexität/Vielschichtigkeit), das der »Anschaulichkeit« (›visibility‹) wird sogar explizit im Rekurs auf Bilder und Bild-
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geschichten entwickelt.9 Man könnte analog zu Calvino suggerieren, dass Comics bestimmten ästhetischen Kriterien genügen sollten – nicht nur, um ästhetisch zu befriedigen, sondern um gegebenenfalls Funktionen mit zu übernehmen, die in der Moderne (und bis zur Gegenwart) der Roman erfüllt, wenn es um die Darstellung einer als komplex erfahrenen historischen und persönlichen Wirklichkeit geht. Lassen sich in den Spuren Calvinos solche Kriterien bestimmen? Einfallsreichtum und experimenteller Charakter werden in diesem Fall wohl ebenso zu nennen sein wie zeichnerische und literarische Qualitäten, Komplexität und Selbstreferenzialität.10 Bei aller Verschiedenheit der Auslegungsmöglichkeiten des Stichwortpaars »Literatur und Comic«: Immer geht es mit unserem doppelten Stichwort, explizit oder implizit, um Vergleich – ein guter Anlass für die komparatistische Forschung, ihr Arbeitsfeld vom Kerngelände des Vergleichs zwischen Literaturen her auszudehnen auf intermediale Phänomene und deren (in diesem Fall:) kunst- und kulturgeschichtliche Hintergründe. Zurück zur Frage, ob der Comic ›Literatur ist‹, also als ein neues ›literarisches Genre‹ angesehen werden sollte, was eine Erweiterung dessen bedeuten würde, was zumindest die Angehörigen älterer Lesergenerationen mit dem Stichwort »Literatur« verbinden. Betont sei zunächst eins: Gattungen sind diskursive Konstrukte. Als solche Konstrukte haben sie eine Geschichte (nennen wir sie »›Gattungs‹Geschichte«), die sich auf vielfältige Weisen mit dem kreuzt, was man normalerweise unter »Gattungsgeschichte(n)« versteht (also die Geschichte der hier jeweils subsumierten Textsorten bzw. Gestaltungsweisen) – aber es sind doch »Geschichten«, die auf differenten Ebenen spielen. Was beispielsweise von einem Historiker des Romans als »Geschichte des Romans« dargestellt wird, ist nicht dasselbe wie die Geschichte der theoretischen Modellierungen des ›Romans‹ als Gattung, obwohl letztere sich auf die im ersteren Fall behandelten Beispiele indirekt beziehen und durch sie beeinflusst werden. Umgekehrt nehmen die historisch wandelbaren Konzepte des Romans – also die einzelnen Etappen der »Roman«-Geschichte – auch Einfluss darauf, wie Ro9
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Italo Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. Übers. von Burkhart Kroeber. München, Wien 1991. Dispute über den »Kunst«-Charakter des Comics sind so wenig zielführend (wenn auch vielleicht in Einzelfällen interessant) wie beispielsweise Kontroversen über den »Kunst«-Charakter des Romans. Sie implizieren einen Vorbegriff davon, was »Kunst« ist. Nicht immer wird dabei transparent gemacht, welcher Kunstbegriff dabei die Basis bildet; implizit wird vielleicht sogar ein allgemeiner Konsens vorausgesetzt.
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mane geschrieben werden, d. h. wie die »Geschichte des Romans« weitergeht.11 Dieser Bedingungszusammenhang besteht analog auch bezogen auf den Comic: Es ist von einem welchselseitigen Einfluss zwischen »Gattungsgeschichte« und »Gattungs«-Geschichte (qua Konzeptualisierungsgeschichte) auszugehen – ein Grund mehr, sich für theoretische Ansätze und Selbstbespiegelungen als Konstrukte und Selbstentwürfe zu interessieren. Weil ästhetische Gattungen nun aber Konstrukte sind, kann die Frage nicht eigentlich lauten, was der Comic ›ist‹ und ob er etwa eine Spielform der Literatur ›ist‹. Sondern zu fragen wäre erstens, unter welchen diskursiven Voraussetzungen eine solche Subsumption getroffen oder wann ihr widersprochen wurde – welche »Gattungsgeschichte« also der Comic qua reflexiv und theoretisch modelliertes Konstrukt hat.12 Und zweitens wäre zu fragen, was mit der These vom ›Comic als Literatur‹ beziehungsweise mit der Gegenüberstellung von ›Comic‹ hier, ›Literatur‹ dort gewonnen ist – gewonnen für die Beschreibung der jeweiligen Werke, für die Sensibilisierung des Lesers und Interpreten, für die Erschließung von Deutungsperspektiven. Gattungs11
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In welcher Weise konstituiert sich eine »Gattung«, in welchen Darstellungsformen und -medien gewinnt sie Profil? Erstens im Medium sprachlicher Bezeichnungen: Begriffe, Diskurse, Theorien legen fest, was zu einer bestimmten »Gattung« gehören soll; im Fall des Comics tragen hierzu alle möglichen verbalen Beschreibungen, Konzeptualisierungen und Theorien des ›Comics‹ bei. Zweitens durch explizite Selbstdarstellungen der jeweiligen Gattung, die ihre jeweiligen Darstellungsmittel dazu nutzt, auf diese Darstellungsmittel als gattungskonstitutive Parameter aufmerksam zu machen; Metacomics wie die Will Eisners und Scott McClouds erfüllen bezogen auf Comic/Graphic Novel analoge Funktionen wie literarische Texte über ›Literatur‹. Drittens durch indirekte Selbstprofilierungen: Geschichten über die Genese oder die Rezeption von Comics oder von Romanen im Comic respektive im Roman sind beispielsweise zugleich implizit gattungsreflexive Geschichten. Viertens durch Bespiegelung in medial differenten Darstellungsformen: So kann der Comic Musikalisches bespiegeln, Romane können von der Malerei erzählen etc. Die Frage nach dem Comic als Gattung behandelt rezent eine ganze Reihe von Publikationen. Teilweise gerät über die »Gattungsgeschichte« (im Sinn von »Geschichte der Spielformen des Comics«) auch die »Gattungs«-Geschichte (im Sinn der Geschichte der theoretischen Beschäftigung mit dem Comic) in den Blick. Vgl. dazu etwa: Jochen Ecke, »Comics Studies’ Identity Crisis: A Meta-Theoretical Survey«, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 95/1, S. 71–84. – Jeet Heer/Kent Worcester, »Introduction«, in: A Comics Studies Reader. Jackson 2009, S. XI–XV. – Daniel Stein/Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva (Hrsg.), Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009. Hier u. a. dies., »Birth of a Nation: Comics als populärkulturelles Medium«. – Lambert Wiesing, »Die Sprechblase. Reale Schrift im Bild«, in: Alexandra Kleihues (Hrsg.), Realitätseffekte. Ästhetische Repräsentation des Alltäglichen im 20. Jahrhundert. München 2008, S. 25–46.
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begriffe sind Instrumente einer möglichst präzise differenzierenden Beschreibung von Gegenstandskomplexen, die in ihrer Kohärenz, aber auch in der Differenziertheit ihrer Teilkomplexe wahrnehmbar gemacht werden sollten.13 Welche ›operativen Vorteile‹ erbringt die Gegenüberstellung von ›Literatur‹ und ›Comic‹? Und was spricht stattdessen für die Erweiterung des ›Literatur‹-Begriffs um den der ›Comic-Literatur‹? Es könnte sich herausstellen, dass beide Ansätze ihre Vorteile haben; dann sind sie auch beide berechtigt.14 Eine Sorge jedenfalls darf den Anhängern des Comics angesichts des durch vielfache rezente Publikationen dokumentierten Interesses am Comic wohl genommen werden – die nämlich, dass es mit der Verwendung von Termini aus dem Bereich der Literatur und ihrer Theorie darum geht, dem Comic ein formales oder ästhetisches Korsett aufzuzwingen, ihn auf externe Maßstäbe des ›Gelingens‹ zu verpflichten oder seine Eigenarten durch Analogisierungen einzuebnen. Je nach gewählter Frage- bzw. Betrachtungsperspektive liefern die in diesem Band versammelten Abhandlungen Beiträge zur Intermedialitätsforschung – oder aber zur Erforschung einer relativ neuen ›literarischen‹ Form (wobei hier ein erweiterter Literaturbegriff vorauszusetzen wäre). In jedem Fall beleuchten sie allesamt implizit oder explizit Spielformen des Selbstbezugs im Comic, Strategien der Selbstbespiegelung und der damit verbundenen Selbsterfindung. Gerade durch das breite Spektrum der behandelten Gegenstände wird verdeutlicht, unter welch vielfältigen Aspekten die Beziehung von ›Literatur‹ und ›Comic‹ zu betrachten ist – eine stets spannungsvolle, eben darum aber auch ästhetisch produktive Beziehung. Exemplarisch untersucht eine erste Gruppe von Abhandlungen die Adaptation literarischer Werke durch Comic-Zeichner und Szenaristen.15 Es geht also zunächst einmal um Prozesse des Transfers, bei deren Beschreibung es naheliegt, zwischen Ausgangs- und Zielmedium zunächst zu differenzieren. 13
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Diese begrifflichen Instrumente müssen erst geschaffen werden, bevor man sie anwenden kann; begriffsrealistische Ansätze sind hier obsolet. Wenn sich bezogen auf eine bestimmte Spielform des Comics der Begriff »Graphic Novel« eingebürgert hat, so besagt dies nicht viel hinsichtlich der Frage nach einer impliziten Vereinnahmung für ›die Literatur‹. Natürlich wird durch die Verwendung des Wortes »novel« die Analogie zum Roman betont, aber es gibt ja auch Fälle der Übertragung von Gattungsnamen in andere Kunstformen. Eine Anmerkung zur Terminologie: Die Termini »Adaption« und »Adaptation« sind synonym und gleichermaßen lexikographisch ›gedeckt‹. Manche Autoren bevorzugen die eine, manche die andere Variante; im Sinn des Rechts zu individueller Wortwahl wurde im vorliegendem Band keine (unnötige) Homogenisierung vorgenommen.
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Bei der Verwandlung von ›Literarischem‹ in ›Comics‹ sind allerdings bereits signifikante Unterschiede hinsichtlich der Ausgangswerke zu berücksichtigen: Eva und Achim Hölter sichten ein breites Panorama von Beispielen für den Transfer der Divina Commedia Dantes in Comics (Dante im Comic), Dietrich Grünewalds Beitrag gilt Comic-Adaptationen von Texten Edgar Allan Poes (Alberto Breccia: Das verräterische Herz. Eine Comic-Adaption nach Edgar Allan Poe), und auch Andreas Platthaus widmet sich einem Literatur-Comic, nämlich der Proust-Adaptation durch Stéphane Heuet (Über Proust hinaus erzählen. Stéphane Heuets Adaption von Un Amour de Swann). Dem Dichter Dante wurde, wie die Befunde von Hölter/Hölter bestätigen, durch die Rezeptionsgeschichte seine eigene Ikonologie zugeordnet, die von den ComicZeichnern zusammen mit Textzitaten und -reminiszenzen für die Comic›Dantes‹ fruchtbar gemacht wird. Und mit Proust geht es um einen Autor, dessen Werk selbst bereits enge Beziehungen zu anderen Kunstgattungen unterhält, insbesondere zu Malerei, Architektur und Musik. Insofern schließen die von Hölter/Hölter und Grünewald analysierten Comics jeweils sowohl an einen Text als auch (unter anderem) an ein Bildrepertoire an. Analoges gilt auch und in besonders evidenter Weise für Rolf Lohses Interpretation der Transformation von Saint-Exupérys Petit Prince in einen Comic (Sfars Le petit prince als kreative Literaturadaptation) – ist hier doch bereits das adaptierte Werk gemischtmedial angelegt – als Komposition aus Text und Bildern. Eine zweite Gruppe von Abhandlungen gilt Comics, die sich in den Spuren literarischer Gattungen und Schreibweisen bewegen und zu vergleichenden Betrachtungen auf struktureller wie auf funktionaler Ebene Anlass geben – in unseren Fällen konkret zu Vergleichen mit biographischer, fiktionaler und historiographischer Literatur. Lars Banhold widmet sich einer Comic-Biographie zu Johnny Cash, deren Analogien zu biographischen Texten erörtert werden (Authentifizierung und Narration in Reinhard Kleists Cash – I See a Darkness). Dorothy Figueira untersucht anlässlich indischer Geschichts-Comics den mehrdeutigen Bezug graphischer Narrationen zu historischen Quellen und historiographischen Diskursen; die Beispiele lassen plausibel erscheinen, dass Historiographie (mit Konstruktivisten wie Hayden White) als ›erzählerische‹ und damit zumindest literaturaffine Darstellungsform zu betrachten ist (Guts and Glory. Representations of History in Indian Comic Books). Die von Stefan Höppner untersuchte Graphic Novel The Arrival lässt sich in der Tradition der fiktionalen Reiseerzählung verorten; zur Reflexion über das Verhältnis der Bilderzählung zu narrativen sprachlichen Werken lädt sie darüber hinaus ein, weil sie selbst buchstäblich wortlos angelegt ist (Ohne Worte: Erzählweisen des Fremden in Shaun Tans The Arrival).
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Eine dritte Gruppe bilden Beiträge zu Comics, die – unter konstitutiver Bezugnahme auf literarische Texte, Motive und Figuren – der Praxis des Zitierens in solch ostentativer Weise verpflichtet sind, dass sie als Etüden über das Zitieren betrachtet werden dürfen; gerade die Beziehung zwischen Comics und literarischen Vorlagen wird durch diese Akzentuierung des Prinzips Zitat nachhaltig geprägt. Im Zeichen zitierender Wiederholung literarischer und bildlicher Vorgaben stehen die von Hans-Joachim Backe analysierten Watchmen von Moore und Gibbons (Transformation und Aneignung. Literarische Prätexte in Moores und Gibbons’ Watchmen). Auch die von Fabian Lampart untersuchten italienischen Comics sind inhaltlich wie stilistisch maßgeblich durch ihre Zitierpraxis charakterisiert (›se io dico il nome Nemo …‹. Zitatästhetik in italienischen Gegenwarts-Comics). Dass Orpheus als Patron der Dichtung und des Gesangs auch bei der Selbsterfindung des Comics eine Rolle spielt, zeigen die von Monika Schmitz-Emans vorgestellten Beispiele: Dino Buzzatis poema a fumetti zitiert die Figur des Orpheus, und tom Diecks/Balzers Deleuze-Comics zitieren zusammen mit Orpheus einen großen Philosophen der Wiederholung (Orpheus und der Comic. Dino Buzzatis Poema a fumetti und der Auftritt des Orpheus bei Martin tom Dieck und Jens Balzer in New Adventures of Incredible Orpheus (The Return of Deleuze)). In einer rezenten Monographie zum Comic als Form und seinen spezifischen Darstellungsmitteln hat Ole Frahm das Prinzip der Wiederholung16 als konstitutiv für den Comic herausgestellt17 – wobei zu betonen ist, dass es sich um modifizierende Wiederholungen handelt. Wiederholungen sind für den Comic strukturbildend, und zwar auf mehreren Ebenen. Erstens sollen die mehrmals gezeichneten Figuren ja als ›wiederholte‹ Figuren wiederer16
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Meine Formulierung »Prinzip Wiederholung« ist, im Horizont der Konzeptualisierung von »Wiederholung« durch Deleuze betrachtet, eingestandenerweise paradox, denn wo Wiederholung im deleuzianischen Sinn herrscht, gibt es keine »Prinzipien«, kein absolutes und ungeteiltes »Erstes«. Vgl. die konzise Darstellung deleuzianischer Ideen bei Kurt Röttgers, »Es wiederholt sich«, in: Friedrich Balke/Marc Rölli (Hrsg.), Philosophie und Nicht-Philosophie. Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen. Bielefeld 2011, S. 209–225, hier S. 216: »Wiederholung wird [bei Deleuze] geradezu als Gegenteil der Etablierung oder der Anwendung eines allgemeinen Gesetzes (epistemisch oder als Sittengesetz) herausgestellt, sie erscheint als die Seinsweise der Singularitäten. Ihre Formen sind Spiegelungen und Echos. Jenseits von Spiegelndem und Gespiegeltem gibt es in einer konsequent immanentistischen Philosophie […] nicht ein Allgemeines, das den Oberbegriff für beide Singularitäten abgäbe.« Ole Frahm, Die Sprache des Comics. Hamburg 2010.
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kennbar sein, weil sonst die Geschichte auseinanderfällt.18 Zweitens basiert zumindest der Seriencomic darauf, dass sich Dinge wiederholen.19 Frahms gattungsästhetische Erörterungen laufen bereits darauf hinaus, den Comic wegen seiner fundamentalen Prägung durch Wiederholungen als eine Kunst des Zitats zu verstehen, als dessen prägnantes Zeichen er die Sprechblase begreift; als Kunst der Wiederholung hat der Comic für Frahm eine innere Affinität zum Parodistischen.20 Nicht allein auf inhaltlicher wie auf strukturell-kompositorischer Ebene ist das Prinzip der Wiederholung für den Comic prägend, sondern auch unter dem Aspekt der Intermedialität. Comics zitieren aus der literarischen Tradition, übernehmen Stoffe, Figurentypen und Handlungsmuster, bezie18
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Comic-Figuren, die nacheinander in verschiedenen Panels auftauchen, sind Wiederholungsfiguren; sie sind ›dasselbe, anders‹. So sind sie wiedererkennbar, und die Erzählung einer kohärenten Geschichte wird möglich. Frahm erörtert dies an Beispielen, die zugleich illustrieren, dass Comics von avancierter Reflexivität (wie Herrimans Krazy Kat) diese Wiederholungsstruktur explizit zum Thema machen – und in Zusammenhang damit auch mit doppelgängerischen Erscheinungen spielen. – Das Gesetz, unter dem insbesondere die Figuren im Comic auf eine vielfach handlungstragende Weise stehen, ist die Wiederholung, schon weil sie als Serienfiguren aufzutreten pflegen und weil sie sich innerhalb der Bildgeschichten zu wiederholen pflegen. Wiederholungen selbst können (als zeitliche Entsprechung der Doppelgängerei) komisch, aber auch tragisch wirken. (Bezogen auf die Vater-und-Sohn-Strips von e.o. plauen spricht Frahm von der »Ambivalenz zwischen Unheimlichkeit und Komik, zwischen Ablehnung der Reproduktion und ihrem Genuss«, Frahm, Sprache des Comics, S. 67). – Die Ästhetik des Comics ist Frahm zufolge parodistisch – und in dieser Eigenschaft auf fundamentale Weise ideologiekritisch; der Comic ist im Bündnis mit dem Lachen über das Stereotype, das er selbst – reflektiert und kritisch – inszeniert. Vgl. Frahm: »Die These des Buches ist schlicht: Comics etablieren im 20. Jahrhundert eine parodistische Ästhetik, die die rassistischen, sexistischen und klassenbedingten Stereotypien reproduziert und zugleich aufgrund ihrer immanent erkenntniskritischen Anlage reflektiert – durch den operationalisierten Modus der Wiederholung in der Konstellation von Bild und Schrift einerseits, die Serialisierung von Bildern, Figuren und Geschichten andererseits.« (Ebd., S. 11–12) Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen zu überprüfen, ob sich Frahms generalisierende Thesen zum Comic in ihrer Pauschalität halten lassen. Sie haben aber den großen Vorzug, die Frage nach der Ästhetik des Comics auf einer abstrahierenden und allgemeinen Ebene anzugehen, wodurch die Signifikanz des Prinzips Wiederholung auf überzeugende Weise herausgearbeitet wird. Diese für den Comic spezifischen »unterschiedlichen Formen der Wiederholung sind notwendig parodistischer Natur, weil sie strukturell auf ihre Zitatförmigkeit hinweisen, die ihr sichtbarstes Zeichen in der Sprechblase gefunden hat. Die Zweistimmigkeit der parodistischen Wiederholung von Bild und Schrift, von Bild zu Bild, Folge zu Folge gilt für alle verschiedenen Erscheinungsformen der Comics.« (Ebd., S. 38) – Es gebe »keine Comics ohne strukturelle Parodie« (ebd.).
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hen sich teilweise explizit zitierend auf literarische Vorlagen – und man könnte zumindest darüber nachdenken, ob der Literatur-Comic, die Adaptation von Literarischem durch den Comic, unter diesem Aspekt nicht ein besonders ›typischer‹ Comic ist. Auch an die Geschichte der Bilder und der Bildmedien wird auf vielfältige Weise angeschlossen; Ketten von Zitaten verbinden die Comic-Geschichte mit der Geschichte der Malerei, der Photographie und anderer bildlicher Darstellungsformen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes lesen ihre Gegenstände allesamt, wenn auch unter verschiedenen Akzentuierungen, als Etüden über das Thema Wiederholung; darin besteht ihr gemeinsamer Beitrag zur Herausarbeitung der spezifischen Ästhetik des Comics. Im Zusammenhang damit erweisen sich die untersuchten Comics als Beiträge zur Reflexion über Wiederholung als Kulturprinzip – und zwar unter diachronen wie unter synchronen Akzentuierungen. Die Geschichte unserer Kultur erscheint im Spiegel der behandelten Bilderzählungen als Geschichte sich sukzessiv wiederholender und sich duplizierender Erscheinungen und Ereignisse. Im Beitrag Hölter/Hölter geht es exemplarisch um Interpikturalität und Intertextualität als konstitutive Prinzipien von ästhetischer Produktivität; betont wird die Bedeutung literarischer wie ikonographischer Traditionen – und die der Parodie als Gestaltungsprinzip. In der Parodie erscheint das Parodierte ein weiteres Mal, aber anders … – Grünewald analysiert das Echo von Texten im Comic – und diese Beziehung wird gespiegelt im Motiv des Wiedergängers (Revenants), eines bei Poe wiederholt begegnenden und vor allem psychologisch semantisierten Symbols. Der gespenstische Wiedergänger übrigens findet seinerseits im Motiv des Herzklopfens sein akustisches Pendant (und so ist Das verräterische Herz in doppeltem Sinn eine WiederholungsGeschichte) – in einem Geräusch, das selbst durch seine Wiederholungsstruktur geprägt ist. Einmal mehr: dasselbe, anders … – Der von Platthaus analysierte Proust-Comic Heuets trägt durch seine Bildsprache sowie durch kompositorische Mittel dem für Prousts Roman selbst zentralen Thema Erinnerung Rechnung, der wechselseitigen Bedingtheit von Kultur und Erinnerung, dem Wiederholungscharakter von Erinnerung. Der durch Text- und Bildzitate geprägte Recherche-Comic schickt den Leser selbst auf die Suche nach Analogien zu seiner Vorlage; diese wie ihre zeichnerische Umsetzung stehen im Zeichen vielfacher modifizierender Wiederholungen. Dasselbe, anders … – Lohses Vergleich von Sfars Petit prince mit Saint-Exupérys Vorlage gilt wiederum einem intertextuell und interpiktural geprägten Comic, wobei betont wird, dass durch Textreduktion »neue Nuancen des ursprünglichen Texts« herausgearbeitet werden (Lohse): Der Prozess produktiv-gestaltender Interpretation erscheint als eine das Interpretandum modifizierende
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Wiederholung. – Eine weitere Modifikation des Prinzips Wiederholung begegnet in der von Banhold untersuchten Comic-Biographie über Johnny Cash: Erzähler und Gegenstand der Erzählung treten hier als Doppelgänger auf. Shaun Tans von Höppner präsentierte Bildgeschichte bespiegelt das bzw. die Fremde als modifizierte Wiederholung des Vertrauten, und sie verweist auf sich in Variationen wiederholende Geschichtenmuster. – Figueiras Analysen gelten einer medial konstruierten Geschichte als der ideologisch grundierten Wiederholung von Grundmustern. Serialität und Mythen-Recycling korrespondieren einander als Voraussetzungen einer auf konstruierten Wiederholungen beruhenden Erfindung von kultureller Identität. – Um Künste des Zitierens und zitierenden Wiederholens geht es in den Beiträgen des dritten Teils dann auf ganz evidente Weise: Bei Backe um ein Pastiche aus literarischen, kultur- und zeitgeschichtlichen sowie aus Comic-Reminiszenzen, bei Lampart um ein ostentatives Sprechen in Zitaten, bei SchmitzEmans um Orpheus als eine aus dem Hades wiederkehrende Figur, als wiederholt zitierten mythischen Repräsentanten der Kunst – und um die Idee ewiger Wiederkehr. Sind Zitieren, Sich-Erinnern, Parodieren, Recyceln temporale Spielformen der Wiederholung, zu denen man noch das Echo als akustisches Pendant des Spiegelbilds rechnen könnte, so sind Spiegelbilder selbst wie auch Bildzitate, Wiederholungsfiguren in Comics, Doppelgängereien und mises-enabymes simultane Konkretisierungen desselben Prinzips. Der Comic demonstriert seine Affinität zu all diesen modifizierenden Wiederholungen von Wiederholung – und so wäre zu fragen, ob und inwiefern sich auch die Beziehungen zwischen Texten und Bildern, Bildern und Bildern sowie Texten und Texten hier vor allem als Spielform der modifizierenden Spiegelung, des modifizierenden Echos, der variierenden Wiederholung erschließen lassen. Dasselbe, anders – sollte die leise paradox klingende Formel am Ende auch eine Antwort auf die Frage nach der Beziehung ›Literatur‹/›Comic‹ sein? Die Beiträge wurden auf einem am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) veranstalteten Kolloquium vorgestellt. Für die Unterstützung bei der Ausrichtung des Kolloquiums herzlich gedankt sei Prof. Dr. Werner Frick, Dr. Gesa von Essen, Heike Meier und Simone Zipser. Für die Mithilfe bei der Korrektur und Publikationsvorbereitung des Manuskripts danke ich Philipp Baar, Christian A. Bachmann und Simone Sauer (Bochum) sowie Aniela Knoblich (Freiburg).
Comic und Literatur – Literatur und Comic
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Literatur Primärliteratur Brinkmann, Rolf Dieter, Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1980. Brinkmann, Rolf Dieter, Schnitte. Reinbek bei Hamburg 1988. Brinkmann, Rolf Dieter/R. R. Rygulla (Hrsg.), ACID. Neue amerikanische Szene. Augsburg 2003 (zuerst 1969). Calvino, Italo, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. Übers. von Burkhart Kroeber. München, Wien 1991. Eco, Umberto, La misteriosa fiamma della Regina Loana. Mailand 2004 (dt.: Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, dt. von Burkhart Kroeber. München, Wien 2004). Heißenbüttel, Helmut, »KrazykatzBremenwodu/Lehrgedicht über Kommunikation«, in: Ders., Das Durchhauen des Kohlhaupts. Dreizehn Lehrgedichte. Projekt Nr. 2. Darmstadt, Neuwied 1974; Ders., Textbücher 1–6. Stuttgart 1980. Hugo, Victor, Poèmes de Victor Hugo en bandes dessinées. Textes: Christophe Renault, Direction artistique: Olivier Petit, Cédric Illand. Darnétal 2002/03. Racine, Jean, Phèdre. Texte intégral. Adaptation intégrale en bandes dessinées par Armel, scénariste et dessinateur. Darnétal o. J. Rühm, Gerhard, Comic. Linz 1975 Rühm, Gerhard, »mickydrama«, in: Ders., Ophelia und die Wörter. Neuwied, Darmstadt 1972, S. 149–159. Steinaecker, Thomas von, Geister. Frankfurt am Main 2008. [Vandermeulen, David], Littérature pour tous. Synthèse, Vulgarisation et Adaptation en Bande Dessinée des Grands Romans Français à l’Usage de l’Adolescent Contemporain sous la direction de Monsieur Vandermeulen, seconde édition. Frontignan 2004.
Sekundärliteratur Ecke, Jochen, »Comics Studies’ Identity Crisis: A Meta-Theoretical Survey«, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 95/1, S. 71–84. Frahm, Ole, Die Sprache des Comics. Hamburg 2010. Heer, Jeet/Kent Worcester, »Introduction«, in: A Comics Studies Reader. Jackson 2009, S. XI–XV. – Daniel Stein/Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva (Hrsg.), Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009. Meurisse, Catherine, Mes hommes de lettres. Petit précis de littérature française. Préface de Cavanna. Paris 2008. Packard, Stephan, »Comic«, in: Dieter Lamping (Hrsg.), Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 113–120. Röttgers, Kurt, »Es wiederholt sich«, in: Friedrich Balke/Marc Rölli (Hrsg.), Philosophie und Nicht-Philosophie. Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen. Bielefeld 2011, S. 209–225. Wiesing, Lambert, »Die Sprechblase. Reale Schrift im Bild«, in: Alexandra Kleihues (Hrsg.), Realitätseffekte. Ästhetische Repräsentation des Alltäglichen im 20. Jahrhundert. München 2008, S. 25–46.
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Comic und Literatur – Literatur und Comic
Teil I Transferprozesse: Literatur-Adaptationen
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Achim Hölter (Wien) und Eva Hölter (Düsseldorf)
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Niemand Geringerer als Dante Alighieri selbst sorgte dafür, dass er schon unmittelbar nach seinem Tod 1321 in den sich formierenden Kanon der neuzeitlichen europäischen Literatur aufgenommen wurde.1 Seine Divina Commedia ist eines der berühmtesten Werke der Weltliteratur, verbreitet in beinahe unzähligen Ausgaben und Übersetzungen.2 Schon am Beginn der Überlieferungsgeschichte stehen aufwendig illuminierte Handschriften,3 und die Chronologie der Verbreitung von Dantes summum opus, zuweilen gemeinsam mit seinen übrigen Werken, ist zugleich auch die Geschichte der Dante-Illustrationen.4 Der Katalog einer jüngeren Ausstellung5 zeigt die stu1
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Matías Martínez, »Dante und der Ursprung des Kanons«, in: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.), Kanon und Theorie. Heidelberg 1997, S. 139–152. Den reichhaltigsten Überblick über die Geschichte der Commedia-Ausgaben bietet: Dantes Göttliche Komödie in sieben Jahrhunderten geschrieben, gedruckt, illustriert. Perugia 1988. Für den deutschsprachigen Bereich nach wie vor maßgeblich sind Theodor Ostermann, Dante in Deutschland. Bibliographie der deutschen Dante-Literatur 1416–1927. Heidelberg 1929 und Arturo Scartazzini, Dante in Germania. 2 Bde. Milano 1881–1883. Einen europäischen Überblick bietet Arturo Farinelli, Dante. Spagna – Francia – Inghilterra – Germania (Dante e Goethe). Torino 1922. Zur deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte vgl. Eva Hölter, »Der Dichter der Hölle und des Exils«. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption. Würzburg 2002. Ein Verzeichnis früher Handschriften u. a. in: Sandro Botticelli. Der Bilderzyklus zu Dantes Göttlicher Komödie. Mit einer repräsentativen Auswahl von Zeichnungen Botticellis und illuminierten »Commedia«-Handschriften der Renaissance, hrsg. von den Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2000. Eine generelle Übersicht über die Handschriften bei Marcella Roddewig, Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie. Vergleichende Bestandsaufnahme der Commedia-Handschriften. Stuttgart 1984. Einen Überblick über die Illustrationen zur Commedia bietet: Dantes Göttliche Komödie. Drucke und Illustrationen aus sechs Jahrhunderten, hrsg. von den Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2000. S. auch Charles H. Taylor/Patricia Finley, Images of the Journey in Dante’s »Divine Comedy«. An Illustrated and Interpretative Guide to the Poet’s Sacred Vision, with 257 Annotated Illustrations. New Haven 1997. Frühe Illustrierungen verzeichnet: Michael Brunner, Die Illustrierung von Dantes Divina Commedia in der Zeit der Dante-Debatte (1570–1600). München, Berlin 1999. Weitere Literaturhinweise auch bei Ulrich Prill, Dante. Stuttgart, Weimar 1999, S. 186. Himmel und Hölle. Dantes Göttliche Komödie in der modernen Kunst. Hrsg. vom Stadtmuseum Erlangen. Erlangen 2004. Vgl. den Kurzbericht: »Dante im Comic. Die Geografie des Jenseits«, in: Comixene 74/75 (2004), S. 34.
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pende Wirkung auch in der Kunst von der frühen Moderne bis zur Gegenwart, u. a. bei Salvador Dalí, Robert Rauschenberg oder Tom Philips. Eine ausführliche Diskussion der modernen Buchillustrationen6 geht bis zu einem Beitrag über die Dante-Ausgabe, die 1999 von den Comic-Zeichnern und Illustratoren Lorenzo Mattotti, Milton Glaser und Mœbius (Jean Giraud) gestaltet wurde und die die fließenden Übergänge zwischen Buchillustration, bildkünstlerischer Adaption und Comic anschaulich im wahrsten Sinne des Wortes illustriert.7 In seinem Aufsatz »Über Dante in philosophischer Beziehung« erklärte F. W. J. Schelling 1803 aufgrund der Behandlung der Bußen, der abwechslungsreichen ›Landschaft‹ und der Lichtwirkungen das »Purgatorium« zum »pittoresken« unter den drei Teilen der Commedia,8 im Gegensatz zur Plastik des »Inferno« und zur Musikalität des »Paradiso«. A.W. Schlegel korrigierte kurz darauf, dass »jeder Theil seine analoge Beziehung in Absicht auf diese drey Künste habe«. Das Malerische aber sei in der Tat bei Dante »in den Gegensätzen von Schatten, Farbe und Licht schon berührt«.9 Bereits aufgrund dieser Anschaulichkeit, d. h. der visuellen Suggestionskraft seiner Textphantasie, und aufgrund seiner Klassizität ist Dante prädestiniert für Adaptionen in Comic-Form. Hinzu kommt die Tatsache, dass kaum eine nationale Medienkultur so sehr das Spiel mit sakrosankten Modellen in Comic-Gestalt bevorzugt wie die italienische. Schließlich zeigt die Tradition der bildkünstlerischen Verarbeitungen der Göttlichen Komödie eine solche Vielfalt und Intensität der thematischen Herausforderungen, dass der von Dante ausgehende Reiz unbedingt auch im eher populären Genre der fumetti aufgegriffen werden musste. Die wohl vollständigste Zusammenstellung der hauptsächlich italienischen Dante-Comics bietet der Katalog einer Ausstellung aus Ravenna 2004,10 der anhand zahlreicher Beispiele vor Augen führt, wie wenigstens gelegentlich auch außerhalb Italiens, namentlich in den USA und in Japan, Dante zum Comic-Helden avanciert. In der Summe zeigt sich eine 6
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Im Anhang befindet sich ein Verzeichnis aller illustrierten Dante-Ausgaben seit 1900 sowie eine – in Zusammenarbeit mit dem 11. Internationalen Comic Salon Erlangen erstellte – Liste von 17 Dante-Comics seit 1934. Himmel und Hölle, S. 144–146. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, »Über Dante in philosophischer Beziehung«, in: Dante Alighieri. Aufsätze zur ›Divina Commedia‹. Hrsg. von Hugo Friedrich. Darmstadt 1968, S. 16–26, hier S. 24. August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur. 3. Tl. Heilbronn 1884, S. 201. Paolo Guiducci/Loris Cantarelli (Hrsg.): Nel mezzo del cammin di una vignetta … Dante a fumetti. Il sommo Poeta e la »Divina Commedia« nelle nuvole parlanti di tutto il mondo. Ravenna 2004.
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gewisse übergreifende Tendenz zum schlichten Historisieren, zur Verschiebung ins Komische oder zum für die Zeichenkunst bequemen Abschweifen ins Visionär-Phantastische. Der Katalog endet mit einigen Dante-bezogenen Ergebnissen des Wettbewerbs, den die Dante-Stadt Ravenna für angehende Comic-Zeichner ausgeschrieben hatte. Auch hier erweist sich jedoch, dass die Herausforderung eher zu partikulären Mustern möglicher Herangehensweisen inspirierte, die sich bei der Umsetzung in ein Großwerk rasch ermüdet hätten. Gründe genug also, um prognostizieren zu können, dass Dante im Comic ein gewichtiges und konstantes, aber auch heikles Thema ist. Und in der Tat: Im Folgenden wird sich zeigen, dass, zum Teil ableitbar von berühmten Vorläufern, seit der Etablierung des Comics in Europa Dante zum beliebten Repertoire von Literatur-Adaptionen gehört, freilich auch, wo die Defizite, Beschränkungen und unerfüllten Möglichkeiten bis heute liegen, so dass der auf einige sprechende Beispiele beschränkte historische und systematische Überblick über die Dante-Comics, in dem es weniger um Vollständigkeit als um Repräsentativität geht, ansatzweise auch den zum Teil erstaunlichen Enttäuschungen Rechnung trägt, die die DanteComics den versierten Dante-Lesern meist bereiten. Zu beginnen ist mit dem merkwürdigen Spezifikum, dass Dante zugleich als Autor, Erzähler und Protagonist seines episch-allegorischen Jenseitsberichts figuriert. Hieraus folgt, dass eine Comic-Version der Göttlichen Komödie Dante als Person zeigen wird, und daraus wiederum, dass man sich bindend an der historischen Erscheinung des Florentiners orientiert, wie sie u. a. durch Giotto verbürgt ist. Bekanntlich setzt sich das Standardporträt Dantes zusammen aus drei Hauptelementen: seiner charakteristischen (roten) Kopfbedeckung samt Umhang, dem Lorbeerkranz und dem markanten Profil. Diese »Markenzeichen« legen die Dante-Ikonographie einerseits viel stärker fest, als es für andere Helden literarischer Werke zu beobachten ist,11 andererseits ebnen diese Stereotype bereits den Weg zur Karikatur und damit zu einer der zeichnerischen Wurzeln des Genres Comic. Gleichzeitig ist Dante im Sinne des modernen Comic ein »Superheld« – er ist als einziger Sterblicher auserwählt (»e io sol uno«, Inf. II, 3), an der Seite Vergils die Jenseitsreiche zu durchwandern, ein »Abenteuer […] kosmischen Ausmaßes«, das ihn seinen Mitmenschen gegenüber »turmhoch überlegen« macht12 und nur durch die Ver11
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Man vergleiche Goethes fiktive Gestalt Werther, die nur durch die berühmte Farbkombination ihrer Kleidung festgelegt ist, nicht jedoch physiognomisch. Wolfgang J. Fuchs/Reinhold C. Reitberger, Comics. Anatomie eines Massenmediums. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 131.
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Abb. 1: Giotto, Porträt Dantes, zit. nach Christoph Wetzel, Dante Alighieri. Salzburg 1979.
leihung quasi übermenschlicher Fähigkeiten möglich ist, denn die Jenseitsreiche sind normalen Lebenden verschlossen. Dante erlebt Nie-Gesehenes und beinahe Unsagbares, das gerade deshalb die Phantasie der Illustratoren von jeher gereizt hat. Das bekannte topographische Schema der drei durchreisten Jenseitsbezirke wurde ebenfalls schon frühzeitig zum Gegenstand von Illustrationen (Abb. 2), was insofern bemerkenswert ist, als in den Risszeichnungen etwa des Höllentrichters bereits die in einem Bild komprimierte zeichnerische Keimzelle der erzählerisch entwickelten Reise enthalten ist. Der erste aus dem Kompositionsschema der Commedia abgeleitete Comic-Vorläufer stammt in zwei Versionen von Sandro Botticelli:13 Zum einen lässt der berühmte Zyklus seiner Dante-Zeichnungen (1480–1495) die beiden Höllenwanderer Dante und Vergil auf einem Blatt mehrfach erscheinen, um so den temporalen Verlauf zu veranschaulichen (Abb. 3); zum anderen arbeiten die kolorierten Blätter Botticellis insbesondere durch die aus der grau-braunschwarzen Düsternis des Höllenszenarios hervortretende Farbigkeit der Ge13
Der komplette Zyklus in: Sandro Botticelli.
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Abb. 2: Dantes Jenseitsreiche. Zit. nach: Dantes Göttliche Komödie. Drucke und Illustrationen aus sechs Jahrhunderten, hrsg. von den Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Berlin 2000.
wänder mit einem weiteren zentralen Stilmittel des Comics, nämlich Farbe und Kontrastierung.14 Vergil und Dante bewegen sich Station für Station durch den Höllenpfuhl und verdeutlichen so bereits eines der fundamentalen Probleme jeder Adaption: die starke Serialität des Geschehens (oder besser Beobachtens; Abb. 4).15 Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Dante-Illustration ist der berühmte Zyklus der Stiche Gustave Dorés (1861–1868),16 der die Möglichkeiten des Chiaroscuro insbesondere in den beinahe blendenden Kumulationen von Weißtönen bei den kreisenden Engelschören bis an die Grenze des Möglichen vorantreibt. Der umfangreiche Zyklus von insgesamt 75 Bildern 14
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Zur Farbverwendung im Comic vgl. Jakob F. Dittmar, Comic-Analyse. Konstanz 2008, S. 160–164. Vgl. dazu Himmel und Hölle, S. 21–24 und Sandro Botticelli, S. 31–35. Vgl. Gustave Doré 1832–1888. 2 Bde. Dortmund 1982; vgl. auch Himmel und Hölle, S. 24–28.
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Abb. 3: Botticelli-Illustration zum Purgatorio. Zit. nach: Sandro Botticelli. Der Bilderzyklus zu Dantes Göttlicher Komödie. Mit einer repräsentativen Auswahl von Zeichnungen Botticellis und illuminierten »Commedia«-Handschriften der Renaissance, hrsg. von den Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Berlin 2000.
verdeutlicht zudem, parallel zu den berühmten anderen Weltliteratur-Adaptionen Dorés (u. a. Cervantes’ Don Quijote, die Bibel), wie ein komplexer, mehr oder minder narrativer Zusammenhang auf eine Serie situativer Einzeldarstellungen prägnanter Momente projiziert wird, im Sinne von Lessings berühmter Definition: »Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muss daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.«17 Meist hat Doré deshalb sprechende und den weiteren Zusammenhang des jeweiligen Canto mitzitierende Augenblicke gewählt, was wiederum für die Teile »Inferno« und »Purgatorio« besser lösbar war. In diesem Hinausweisen über das Einzelbild liegt bereits ein Grundcharakteristikum des Comics vor:
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Laokoon, Kap. 16, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert, Bd. 6., München 1974, S. 103. Vgl. den Artikel »Augenblik« in Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste. 1. Tl. Neue verm. zweyte Aufl. Leipzig 1792, S. 244–245.
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Abb. 4: Botticellis Illustration zu »Inferno«, XVIII (Ausschnitt). Zit. nach: Sandro Botticelli. Der Bilderzyklus zu Dantes Göttlicher Komödie. Comics erzählen ihre Geschichte in einer Folge von Bildern, und zwar dergestalt, dass keines der Bilder für sich in der Lage ist, die Geschichte zu erzählen. […] Wie weist also ein einzelnes Bild über sich hinaus und erlaubt die Verbindung mit anderen Bildern? Weil es etwas im Bild gibt, das noch unerklärt ist, das nur eine Spur dessen ist, was es werden wird.18
Eine ähnliche serielle Struktur wiesen bereits die in ihrer Reduziertheit typischen Illustrationen von John Flaxman auf (Rom 1793, engl. 1807),19 die er auch am Sujet der homerischen Epen erprobt hatte. Die Ähnlichkeit mit künftigen Comic-Panels zeigt sich hier in der späteren TuscheUmrissen entsprechenden einfachen, aber prägnanten Konturierung, in der ebenfalls eher schlichten Bildkomposition, die zum Teil nicht Comictypischer Dramatik und Dynamik entbehrt, vor allem aber in dem Faktum, dass die zugehörige Textstelle (nicht notwendigerweise wörtliche Rede) 18
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Fritz Breithaupt, »Das Indiz. Lessings und Goethes Laokoon-Texte und die Narrativität der Bilder«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comic. Berlin 2002, S. 37–49, hier S. 37. John Flaxman, Compositions from the Divine Poem of Dante Alighieri, containing Hell, Purgatory and Paradise […]. London 1807.
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Abb. 5: Dante-Illustration von John Flaxman (Purgatorio II). Zit. nach: Dantes Göttliche Komödie. Drucke und Illustrationen aus sechs Jahrhunderten.
unter dem horizontalen Rechteck des Bildrahmens platziert ist, wie dies für die Prinz Eisenherz-Serie Hal Fosters (1937–1978) typisch werden sollte (Abb. 5). Auf eine weitere Bildserie im Querformat sei zumindest verwiesen: Bonaventura Genellis 1840–1846 geschaffenen Zyklus,20 der ebenfalls auf die Serialität von Comics vorausdeutet, ohne freilich bereits das Prinzip der für sich sprechenden Einzelbilder zu verlassen. Der Comic als junge Kunstform teilt die Epoche seiner Genese (wenngleich unter etwas diffuseren Umständen) mit der des Films, und insofern verwundert es nicht, dass sich im Falle Dantes eine deutliche Parallelentwicklung zeigen lässt. Bindeglied ist die Jahrmarktsattraktion der Laterna Magica. Nachweislich präsentierte Paul Hoffmann 1872 auf der Basis von Dorés »Inferno«-Serie Dantes ins Rundformat abgewandelte Höllenwande20
Buonaventura Genelli’s Umrisse zu Dante’s Göttlicher Komödie. Neue Ausg. mit erläuterndem Text in dt., ital. u. frz. Sprache. Hrsg. von Max Jordan. Leipzig 1865.
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rung.21 Ebenso zeigt sich bei einem der ersten vom »Inferno« inspirierten Stummfilme 1911,22 wie unmittelbar die Doré’sche Buchillustration als Modell der Verfilmung fungierte, woraus umgekehrt abzulesen ist, wie direkt das Drehbuch des Films noch der statischen Stationenästhetik des in Einzelsituationen zerlegten Dante-Texts folgt (Abb. 6 und 7). Die Parallelen zwischen Bildserien und Film demonstrieren fatalerweise weniger die Dynamik, die dem modernen Comic eignen kann, als vielmehr die Statik, die auch den frühen visuellen Erzählmedien noch anhaftet. Dementsprechend sind es typischerweise gerade die Filmplakate oder auch Standbilder aus den späteren »Inferno«-Verfilmungen, die sich ins Gedächtnis einschreiben. Beides entspricht allenfalls dem Einzelbild des Cartoons und schließt in sich nicht die zeitliche Progression, die einen guten Comic auszeichnet. Ein wichtiges, in der Protogeschichte des Comics gemeinhin unterschätztes Bindeglied zwischen der Bildgeschichte und dem eigentlichen Comic sind die internationalen Reklame-Sammelbildserien, die im deutschen Sprachraum unter dem Oberbegriff Liebig-Bilder bekannt sind. Die Bilder der Liebig Extract of Meat Company wurden »erstmals gegen 1875 zusammen mit dem Fleischextrakt in mehreren europäischen Ländern über die Ladentheke gereicht«.23 Insgesamt entstanden fast 7000 Bilder in 1138 Serien zu einer Unmenge an divergierenden Themen, die die gesamte Breite des damaligen bildungsbürgerlichen Wissens abbildeten; die letzten Liebig-Bilder in Deutschland erschienen 1940.24 Sie vereinigen mehrere der systematischen Kennzeichen des Comics, namentlich die Kombination aus Bild und Text, das panelartige Format und die optionale Sequenzialität. Die Besonderheit des Bild-Text-Arrangements besteht darin, dass die etwa 11 × 7 cm großen Kartontäfelchen die beiden Hauptkomponenten zunächst dissoziieren, insofern der Chromolithographie auf der Vorderseite ein erläuternder oder resümierender Text auf der Rückseite beigefügt ist. Erst im Sammelalbum 21
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»Das Neue Wiener Tagblatt meldet am 14. 07. 1872 die 17. Vorstellung innerhalb von zwei Wochen«, in: Laterna Magica – Vergnügen, Belehrung, Unterhaltung. Der Projektionskünstler Paul Hoffmann (1829–1888). Eine Ausstellung des Historischen Museums Frankfurt. Frankfurt am Main 1981, S. 108. Vgl. dazu Eva Hölter, »L’Inferno – eine Dante-Verfilmung aus dem Jahre 1911«, in: Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2005/2006, S. 15–38. Liebig’s Sammelbilder. Vollständige Ausgabe der Serien 1 bis 1138. Hrsg. von Bernhard Jussen. 2 CDs. Berlin 2002 (= The York Project. Atlas des historischen Bildwissens 1), S. 21. Zur Geschichte der Liebig-Bilder ebd., S. 21–25.
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Abb. 6: Dorés Minos; zit. nach: Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Mit 136 Illustrationen von Gustave Doré. Übers. v. Konrad Falke. München 1995.
Abb. 7: König Minos in der Verfilmung von 1911; zit. nach: L’Inferno. The Classic 1911 Film Adaptation of Dante’s Epic from Director Giuseppe di Liguoro. DVD, hrsg. von Eyes for Film Ltd. (SMADVD042)
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wird diese elementare haptische ›Interaktivität‹ zugunsten desselben vorgedruckten Texts aufgegeben. In einzelnen Fällen (Oper, Theater) verweist die Beigabe der gesprochenen oder gesungenen Textzeilen unterhalb des Bildes voraus auf die Foster’sche Lösung. Die standardisierte Aufteilung jeder beliebigen thematischen Einheit auf sechs Bilder trägt einerseits dem Prinzip der Auswahl prägnanter Momente Rechnung und entspricht insofern dem Genre der Kupferstiche und Radierungen nach Theateraufführungen,25 andererseits erzeugt sie auch eine Episodizität, die zu dem illustrierten Werk mehr oder weniger passt. Mit dem Stummfilm schließlich haben diese Bildserien ihre internationale Verwendbarkeit gemeinsam: Wie beim Comic nur der Inhalt der Sprechblasen ausgetauscht werden muss, so sind auch die Sammelbildserien universal. Dante Alighieri begegnet mehrfach, zunächst in Einzelbildern: In der Serie »Berühmte Dichter« (1898) vertritt er Italien gemeinsam mit Torquato Tasso (393, 4), die Reihe »Italienische Provinzen« aus dem gleichen Jahr zeigt ihn als florentinischen Gesandten (400, 5) und die bemerkenswerte Serie Aus den Kindheitstagen berühmter Italiener (1912) widmet ein Bild einer Episode aus der Vita Nuova, nämlich der ersten Begegnung mit Beatrice. Dieses Bild zeigt nicht nur die beiden neunjährigen Kinder vor der Kulisse der Stadt Florenz, sondern nimmt im linken Bildteil bereits die Stationen Hölle, Fegefeuer und Paradies vorweg, die der erwachsene Dante, der dort ebenfalls zu sehen ist, später auf der Suche nach eben dieser Beatrice durchschreiten wird. Die Wappen seiner Heimatstadt Florenz und der Stadt Ravenna, in der Dante begraben liegt, umspannen illustrativ sein wechselvolles Leben und erinnern an seine Verbannung. Eine erste eigene Serie trug den Titel Aus Dante’s Leben (1914–1917) und zeigt u. a. Dantes zweite Begegnung mit Beatrice (897, 2) und seine Verbannung aus Florenz, ein im Stile der Landschaftsdarstellungen der Renaissance gehaltenes Bild, auf dem der Dichter, in einer Spiralbewegung quasi schon nach links aus dem Bild hinausschreitend, ein letztes Mal zu seiner rechts unten liegenden Vaterstadt hinunterblickt. Im Jahr 1929 wurde endlich auch die Göttliche Komödie Gegenstand der Liebig-Bilder, und zwar getreu der Dreiteilung des Werkes in den drei Serien Die Hölle, Das Fegefeuer und Das Paradies. Die formale Vorgabe, jede Episode auf sechs Bilder zu beschränken, zwang zur Auswahl besonders wichtiger bzw. besonders malerischer Momente. Für 25
Vgl. z. B. Walter Pape/Frederick Burwick, The Boydell Shakespeare-Gallery. Bottrop 1996; Christopher Lennox-Boyd/Guy Shaw/Sarah Halliwell, Theatre: The Age of Garrick. English Mezzotints from the Collection of the Hon. Christopher Lennox-Boyd. London 1994.
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Achim Hölter und Eva Hölter
Abb. 8: Inferno-Sammelbild; zit. nach Liebig’s Sammelbilder. Vollständige Ausgabe der Serien 1 bis 1138. Hrsg. von Bernhard Jussen. 2 CDs. Berlin 2002 (= The York Project. Atlas des historischen Bildwissens 1).
das »Inferno« sind dies die Begegnungen Dantes und Vergils mit den sechs Höllenwesen Charon, Minos, Cerberus, Minotaurus, Geryon und Luzifer (Abb. 8). Die Parallelen zu den Illustrationen Dorés sind augenfällig und werden noch deutlicher bei den beiden folgenden Serien. Beim »Purgatorio« sind Personen und abstrakte Kategorien gemischt, die Bilder zeigen das von einem Engel geführte Boot aus Purg. II, die dramatische Geschichte Buoncontes von Montefeltro, die Hochmütigen, die Schlemmer, das Irdische Paradies und die Theologischen Tugenden. Zum »Paradiso« sind als Szenen ausgewählt Dantes Aufstieg zur Sphäre des Feuers, die Begegnung mit Karl Martell, die Märtyrer der Religionen, Dantes Treffen mit Cacciaguida, die heiligen Heerscharen (gekleidet wie Kreuzritter) und schließlich die himmlische Rose, umkreist von den Sphären der Engel. Besonders die Bilder zum »Paradiso« sind in ihrer zarten Skizzierung der Engel und in der Andeutung der Unendlichkeit der Sphären eindeutig angelehnt an Doré. Aus der häufig zu beobachtenden Tendenz des Comics, andere Medien zweitzuverwerten, seien es Spielfilme, literarische Texte, Bildserien, Fotos oder eben Zeichentrickfilme, erklärt sich auch die Überlappung zwischen
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Abb. 9: Titelbild von Il Giornalino, zit. nach: Il sommo Poeta e la »Divina Commedia« nelle nuvole parlanti di tutto il mondo. Hrsg. von Paolo Guiducci und Loris Cantarelli. Ravenna 2004
Film und Comic in den frühen adaptierten Dante-Versionen.26 Bezeichnend dafür ist die 1955 mit Doré-Anleihen ausstaffierte, realistisch gezeichnete Vita di Dante, die die Jugendzeitschrift Il Giornalino explizit als »Cineromanzo« bewirbt (Abb. 9). Diese Version von 1955 entspricht ihrer historisierenden Machart nach der erfolgreichen und vielfach beispielgebenden US-Reihe Classics Illustrated,27 in der übrigens Dante in keiner der vier Unterserien enthalten war. Recht ähnlich verfuhr Enzo Biagi in seiner populären Geschichte Italiens in Comic-Form, in der er Dante nur als Freund Giottos 26
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Im Falle Dantes gab es keine frühen Überschneidungen zwischen dem 1909 geschaffenen Genre Zeichentrickfilm und den Comics (vgl. generell Massimo Moscati, Comics und Film. Frankfurt am Main, Berlin 1988, bes. S. 165–182). Hingegen ist die im körperbetonten Slapstick begründete Schnittzone in den meisten Dante-Comics erkennbar. Vgl. William Bryan Jones, Classics Illustrated. A Cultural History, with Illustrations. Jefferson, N.C. u. a. 2002. Vgl. Urs Hangartner, »Von Bildern und Büchern. Comics und Literatur – Comic-Literatur«, in: Heinz Ludwig Arnold/ Andreas C. Knigge (Hrsg.), Comics, Mangas, Graphic Novel. Göttingen 2009, S. 35–56, bes. S. 39.
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und in der bekannten Anekdote um seine versengten Haare (weil er in der Hölle gewesen sei) unterbringt.28 Aus den zahlreichen italienischen Comic-Bearbeitungen29 sei hier ein Klassiker herausgegriffen: L’Inferno di Topolino, geschrieben von Guido Martina und gezeichnet von Angelo Bioletto.30 Er erschien als Sechsteiler von Oktober 1949 bis März 1950 in den Nummern 7 bis 12 des damals monatlich verkauften italienischen Micky-Maus-Heftes. Dem Untertitel nach präsentiert sich die Story als »Sinfonia allegra«, erinnert also an die Disney-Zeichentrickfilme, allen voran die Silly Symphonies. Um die berühmten DisneyFiguren in ein Ambiente der kanonischen Literatur zu versetzen, bedienten sich die Autoren stets gerne einer mehr oder minder ingeniösen Rahmenkonstruktion. In diesem Fall spielen Micky Maus und Goofy (Topolino und Pippo) auf einer Bühne mit burlesken Effekten die Divina Commedia. Durch Hypnose sorgen Kater Karlo und seine Spießgesellen dafür, dass Micky und Goofy sich beim Verlassen des Theaters wirklich als Dante und Vergil sehen und von der perplexen Minnie mit Prügeln verjagt werden, was erstmals Gelegenheit bietet, die dankbare Umdeutung des Leitmotivs »Sterne sehen« zu strapazieren.31 In den nächsten Bildern sehen wir die beiden, wie sie sich in der öffentlichen Bibliothek in eine Dante-Ausgabe buchstäblich vertiefen. Bildlich bedeutet dies einerseits, dass sie einschlafen und sich in den Text hineinträumen, andererseits wird hier zurückgegriffen auf einen Trick, der schon aus einer Micky-Maus-Geschichte von 1936 bekannt ist: Die Figur gerät wörtlich zwischen die Seiten eines Buches (seinerzeit war der durch einen Unfall mikroskopisch verkleinerte Micky auf der Flucht vor einer Fliege in
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Enzo Biagi, La nuova Storia d’Italia a fumetti. Nuova ed. aggiornata Milano 2007, S. 144–148. Die Anekdote steht bei Boccaccio, Tratatello in laude di Dante. Milano 1995, S. 44. Einen ausführlichen Überblick, hauptsächlich über die (fast durchweg komischskurrilen) italienischen Comic-Adaptionen, bietet der Ausstellungskatalog: Paolo Guiducci/Loris Cantarelli (Hrsg.), Il sommo Poeta e la »Divina Commedia« nelle nuvole parlanti di tutto il mondo. Ravenna 2004. »L’Inferno di Topolino«, in: Paperdodissea e altri grandi viaggi della letteratura universale. Verona 2002, S. 71–143. Eine deutsche Version erschien unter dem Titel: »Micky Maus – Das Inferno«, in: Die göttliche Entenkomödie und andere Streifzüge durch die Weltliteratur. Berlin 2001, S. 241–314. Vgl. Topolino Story 1949. A cura di Gianni Bono. Vol. 1, Milano 2005, S. 14–16. Bekanntlich enden alle drei Teile der Commedia mit dem Wort »stelle«: »E quindi uscimmo a riveder le stelle« (Inf. XXXIV, 139); »puro e diposto a salire a le stelle« (Purg. XXXIII, 145); »l’amor che move il sole e l’altre stelle« (Par. XXXIII, 146).
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Abb. 10: Beginn der Micky-Maus-Geschichte, zit. nach: »L’Inferno di Topolino«, in: Paperdodissea e altri grandi viaggi della letteratura universale. Verona 2002, S. 71–143.
die Robin-Hood-Geschichte gelangt).32 Micky und Goofy lesen eine relativ großformatige Dante-Ausgabe, deren ganzseitige Illustration an Doré erinnert. Aus dem Bild greift der Ast eines Baumes wie ein Arm den entsetzten Micky und schleudert ihn in die Schlucht, die aus dem Beginn des »Inferno« jedem bekannt ist (Abb. 10). Das gesamte Inferno di Topolino umfasst 73 Seiten, die heterogen aufgeteilt sind. Zwar herrscht an manchen Stellen der kleinteilige Rhythmus von sechs Panels pro Seite, aber von Querbildern, die zwei Panels zusammenfassen, über größere Panels, die zwei Drittel einer Seite einnehmen, bis zu effektreichen ganzseitigen Splash-Panels sind alle Optionen der Seitennutzung vertreten. Hinzu kommen fast alle denkbaren Mischformen wie das Einfügen eines kleinen Bildes in den Kontext einer Großseite, das Auflösen der PanelAbgrenzungen oder schließlich das Eröffnen einer Kommentar-Ebene. All dies unterstreicht nicht nur die vorwärtsdrängende Dynamik des »Inferno«, das Episode an Episode kettet, sondern auch das immer neue ÜberraschtWerden der beiden Höllenbesucher. Der Leser nimmt der Reihe nach ein Defilé der beliebten Comic-Helden ab (wobei für die meisten nur Rollen als Verdammte oder Plagegeister infrage kommen): Wir begegnen u. a. Tick, Trick und Track, Pluto, Dumbo, Ede Wolf, Kater Karlo, Klarabella, einem der Sieben Zwerge, der Hexe, dem Fuchs Schuftikus, Jiminy Grille und natürlich Donald Duck. Daneben sind aber, und dies ist ungewöhnlich für 32
»Micky Maus bei Robin Hood«, in: Ich, Micky Maus. Bd. 2. Gütersloh 1973, S. 57–68, bes. S. 60 u. 68.
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Abb. 11: Beispiel für Doré’sche Düsternis in der TopolinoGeschichte. Zit. nach: »L’Inferno di Topolino«, in: Paperdodissea e altri grandi viaggi della letteratura universale. Verona 2002, S. 71–143.
einen Disney-Comic, nicht-tierische Gestalten eingesetzt, nämlich weitere Sünder und Höllenpersonal sowie Kinder, und schließlich schwarznasige gehörnte Teufel. Die gesamte Produktion ist aufwendig und effektvoll durchkoloriert, wobei mehr auf die Varianz und den Kontrast der Farben geachtet ist als auf eine Doré’sche Düsternis. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Bildern, die mit ihrem schwarzen oder blutroten Himmel die traditionelle Ikonographie der Hölle33 fortsetzen (Abb. 11). In manchen Episoden hingegen wird der Leser vergessen, wo er sich befindet, wenn nämlich der Schauplatz dominiert, der von der jeweils auftretenden Person im Disney-Kontext erfordert wird (etwa das Haus der drei kleinen Schweinchen). Text begegnet im Prinzip auf fünf Ebenen: erstens in den gelb unterlegten Erzähl- bzw. Kommentarkästchen, zweitens in den kursiv geletterten Terzinenversen, die jeweils ohne eigenen Farbuntergrund unten in die Panels eingefügt sind, drittens in den Sprechblasendialogen, viertens in den zahlreichen Geräuschwörtern, fünftens in den nicht seltenen Schildern und Aufschriften, die als Zitate aus dem italie33
Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. Schweizerisches Landesmuseum Zürich, 2., durchges. Aufl. 1994.
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nischen Alltag einen komischen Kontrast zu der erhabenen Handlung erzeugen. Übrigens kann man noch die Überschriften einzelner Gesänge hinzufügen, wobei auffällt, dass nur bis zum 17. Gesang explizit durchgezählt wird; ab da werden die einzelnen Abteilungen von ›Malebolge‹ summarisch präsentiert, was dem ästhetischen Zusammenhalt nicht zum Vorteil gereicht. Die Einteilung der Sünden, die Bestrafung der Sünder und die Topographie der Hölle folgen weitgehend dem Dante’schen Vorbild. Micky und Goofy treffen auf Vertreter des ›klassischen‹ Höllenpersonals wie Charon, Minos, Cerberus, Pluto oder den Drachen Geryon;34 sie gelangen an die Flüsse Acheron und Styx und sehen die flammende Höllenstadt Dis und den Blutstrom, in dem die Gewalttäter büßen. Auch einige der berühmtesten Episoden des »Inferno« tauchen im Comic wieder auf, so die Begegnung Dantes mit seinem Lehrer Brunetto Latini im Feuerregen aus Inf. XV oder der berühmte Gesang des Odysseus aus Inf. XXVI (dessen sprechende Flamme sich hier als Donald Duck entpuppt). Selbstmord allerdings kommt im Disney-Universum ebensowenig vor wie die (körperliche) Liebe,35 und so erscheint der Wald der Selbstmörder aus Inf. XIII nur in einer entschärften Version, während die vermutlich berühmteste Episode der gesamten Göttlichen Komödie, die Geschichte der unglücklichen Liebenden Paolo und Francesca (Inf. V), völlig ausgespart wird. Hingegen begegnen Micky und Goofy im Zentrum der Hölle dem Grafen Ugolino, hier ein ehemaliger Fußballspieler, der für Geld seine Mannschaft verraten hatte und deshalb im Kerker verhungern musste. Aus Hass nagt er nun ewig an einem Fußball (Abb. 12) – eine durchaus gelungene Entschärfung des 32. »Inferno«-Gesanges, in dem der den Hungertod gestorbene Graf Ugolino auf ewig den Kopf seines Erzfeindes, des Erzbischofs Ruggieri, benagt. Die Grundidee der Disney-Adaptionen ist die Travestie. Wir dürfen also keinen Moment erwarten, eine adäquate Inszenierung des »Inferno« zu se-
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Vgl. den Katalog Dante – Vergil – Geryon. Der 17. Höllengesang der Göttlichen Komödie in der bildenden Kunst. Staatsgalerie Stuttgart 1980, der die bildnerische Umsetzung des Geryon-Motivs von den frühesten Illustrationen bis ins 20. Jahrhundert darstellt. Vgl. den von Frederic Wertham 1954 für die USA durchgesetzten, aber schon seit 1948 vorbereiteten »comics code«. Dazu Andreas Platthaus, Die 101 wichtigsten Fragen. Comics und Manga. München 2008, S. 66–68. In einer Ambivalenzphase seit Mitte der 1960er Jahre werden die primären Einwände von pädagogischer Seite, zu denen auch immer wieder die enthumanisierende visuelle Grausamkeit gehört, resümiert und zugleich einer vorsichtigen Revision unterzogen. Vgl. paradigmatisch: Alfred Clemens Baumgärtner, Die Welt der Comics. Probleme einer primitiven Literaturform. 3. Aufl. Bochum o. J. [ca. 1969], S. 91–114.
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Achim Hölter und Eva Hölter
Abb. 12: Graf Ugolino in der Micky-Maus-Geschichte; zit. nach: »L’Inferno di Topolino«, in: Paperdodissea e altri grandi viaggi della letteratura universale. Verona 2002, S. 71–143.
hen, sondern lesen Dante im Modus eines heroisch-komischen-Epos,36 wie es im Italienischen Tassonis Secchia Rapita (1621) repräsentiert. Das bedeutet, dass auf verschiedenen Ebenen Modifikationen stattfinden: Erstens werden Dantes Charaktere durch die Disney-Figuren ersetzt, zweitens werden die Grundsituationen beibehalten, aber burlesk umgeformt, drittens ist Dantes Text nach Comic-Manier aufgeteilt auf die bereits erwähnten Ebenen. Während Dante nur einen fortlaufenden epischen Diskurs zur Verfügung hat, 36
Vgl. Ulrich Broich (Hrsg.), Mock-Heroic Poetry. 1680–1750. Tübingen 1971, S. 139–149.
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entfaltet sich seine Schilderung hier zusätzlich im Bild, in den Sprechblasen und in der Lautmalerei. Für italienische Leser ist diese Version ohne jeden Zweifel ein sekundäres, abgeleitetes Spiel. Die Umformung der Verse ist so vorgenommen, dass das Original durchscheint, aber die ironische Wiederaufnahme auf Schritt und Tritt deutlich wird. Der Text ist durchsetzt mit Anklängen an das Original, bisweilen sind auch echte Verse erhalten geblieben, doch wird nirgendwo über längere Strecken Dante-Text ausgebreitet. Am gelungensten erscheinen sicherlich solche Passagen, in denen knapp neben dem Originaltext ein neuer Sinn erfunden wird. In aller Regel muss der Leser zuerst die Verse aufnehmen und danach erst die Sprechblasen. In dieser Reihenfolge entsteht entweder eine Illustration oder ein komischer Kontrast, der sich quasi als Bildkommentar gegen den Dante-Text wendet. Ohne weiteres wird auf Spezialwissen Bezug genommen, das die im Gymnasium ausgebildeten Dante-Leser aktivieren müssen, sei es, dass in der Schilderung einer Reifenpanne die seltenen klappernden Kadenzen (›versi sdruccioli‹) parodiert werden, sei es, dass auf den berühmten dunklen Vers »Pape Satan, Pape Satan Aleppe« aus Inf. VII, 1 angespielt wird. Eine der interessantesten Fragen dürfte die nach der Zielgruppe sein. Sie muss wahrscheinlich mit einem ›Sowohl für Kinder als auch für Erwachsene‹ beantwortet werden, und zwar aus einem konkreten Grund. Einerseits nimmt das Thema ›Schüler und Schule‹ eine prominente Stellung ein, insofern etwa ein kompromissloser Lehrer im Schlammpfuhl bestraft wird oder die Autoren verhasster Lektüre mit Papierkugeln beworfen werden dürfen, aber auch, insofern eine ganze Schulklasse für ihre Faulheit gepeinigt wird (bis Dantes Konzept zum Trotz die gute Fee aus dem Trickfilm die Kinder erlöst und aufs Bravsein verpflichtet). Andererseits enthält der Comic, gemessen an den Konventionen des Genres, eine Reihe von auch durch die Karikatur nur wenig gemilderten Grausamkeiten, die mindestens nicht mit der Intention vereinbar wären, Dante kindgerecht zu adaptieren.37 Man mag die Doppelfunktion aber auch historisch verankert sehen. Dafür ist ein Blick 37
Immer wieder wurden speziell für Kinder verfasste Versionen veröffentlicht, z. B. Etre Maria Valori, La Divina Commedia raccontata ai grandi e piccini. Rom o. J. (eine Mischung aus Schulbuch und Kinderbibel, in der die Geschichten der Göttlichen Komödie in vereinfachter Sprache nacherzählt werden), oder Joe Lee, Dante for Beginners. New York, London 2001 (eine teilweise Comic-ähnliche Einführung in Leben und Werk mit zahlreichen Illustrationen). Der junge Elias Canetti las die Commedia in einer nicht genannten Fassung für Kinder (vermutlich: Stories from Dante. Told to the Children by Mary McGregor. London 1909) und erinnert sich: »Über Dantes Hölle allerdings hatte ich böse Träume« (in: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Frankfurt am Main 1979, S. 49).
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auf den Schluss der Geschichte vonnöten: In der untersten, der eisigen Höllenabteilung trifft man auf zwei gebundene, mit Kapuzen verhüllte Missetäter, die durch ein Schild als »Traditori massimi« bezeichnet sind und die sich selbst als Schreiber und Zeichner verraten. Sie werden nun von dem ›richtigen‹ Dante Alighieri mit einem überdimensionalen Füllfederhalter zum Geständnis gedrängt, als Micky in seinem Dante-Kostüm sowie Vergil/ Goofy und der von seinem ambivalenten Charakter geläuterte Donald herabschweben. Sie zeigen Dante die begeisterten Topolino-Leser, Kinder, die die beiden Adaptoren hochleben lassen, denn sie haben sich herrlich amüsiert (»si sono divertiti come pazzi«). Hier wird die prekäre Situation des Comics in der ersten Phase seiner Durchsetzung in Europa aufgegriffen. Dante selbst erhebt den zu erwartenden Einwand der Erziehungsberechtigten; Micky Maus entkräftet ihn. Jenseits dieser Strategie appelliert der Comic an den Patriotismus der erwachsenen Leser, denn Dante, der hier übrigens auf das »Purgatorium« vorausgreift, beendet das Ganze mit einer Apostrophe an die Heimat Italien, die nun ihre Tränen getrocknet habe und das Haupt erhebe, um die Sterne wiederzusehen (Abb. 13). Als politische Prophetie gelesen, erklärt der Comic gleichsam durch den Mund Dantes und im Bilde der gen Himmel davonschwebenden Comic-Figuren (die von Kinderscharen mit sternförmigen Aureolen verabschiedet werden) das Ende der Nachkriegsmisere in der Ära De Gasperi und insbesondere die politische Absolution Italiens nach Inkrafttreten des Friedensvertrags 1947.38 Ein völlig anderes Beispiel zeigt die sehr eigenwillige deutschsprachige Adaption Göttliche Komödie. Comic-Strip frei nach Dante von einem Franz J. Bach, die 1973 in der Schweiz bei einem Basler Verlag erschien. Dantes Commedia dient hier als Grundlage für einen nur noch lose am Text orientierten gesellschaftskritischen Comic.39 Das Album beginnt mit einem kurzen Vorwort von François Aigeldinger, in dem zwar explizit an die Dante-Illustrationen von Giotto und Botticelli bis Doré und Dalí erinnert wird, allerdings auf einem sprachlich derart naiven Niveau, dass daraus allenfalls Aufschlüsse über das Milieu der Comic-Produktion in den frühen 1970ern zu gewinnen sind. Von der »hervorragenden Qualität der Zeichnungen« kann in Wahrheit keine Rede sein, auch scheint von dieser Publikation nicht die »Geburt einer
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Vgl. Wolfgang Altgeld (Hrsg.), Kleine italienische Geschichte. Stuttgart 2002, S. 436–443. Franz J. Bach, Göttliche Komödie. Comic-Strip frei nach Dante. Basel 1973. Zu vergleichen wäre ein Projekt des Kaliforniers Sandow Birk, der in Zusammenarbeit mit Marcus Sanders Dantes Inferno illustriert hat (Dante’s Inferno. San Francisco 2003).
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Abb. 13: Das Ende der Micky-Maus-Unterweltfahrt; zit. nach: »L’Inferno di Topolino«, in: Paperdodissea e altri grandi viaggi della letteratura universale. Verona 2002, S. 71–143.
neuen Gattung«, »des Literatur-Comics« ausgegangen zu sein.40 Die Vorbemerkung klärt allerdings über die wichtigste inhaltliche Veränderung auf: Es ist nicht mehr Vergil, der Dante durch die Unterwelt führt, sondern ganz im Sinne der Entstehungszeit Hermann Hesses Steppenwolf. Das Album ist in Schwarz-Weiß produziert und umfasst 78 Seiten, gefüllt in den unterschiedlichsten Rastern von stets rechteckigen Panels. Basistechnik ist die Strichzeichnung, offenbar häufig mit Kohle und meist durch Tusche verstärkt (Abb. 14). Eingefügt sind ausnahmsweise auch collagierte Fotos. Vor allem aber fallen zwei technische Merkmale ins Auge: Die immense Textlastigkeit (der verbale Diskurs überwuchert teilweise regelrecht die Bilder) sowie die allgegenwärtige Interpikturalität – der Comic entwickelt kaum eigene ikonische Phantasie, sondern verwertet Symbole und Personenbilder aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Die Adaption verzichtet auf Verssprache und auch auf die Ich-Perspektive. Dante wird in der Er-Form präsentiert als »eine frustrierte Type wie du und ich«, der nach Beatrices Tod »ein total abgehurtes Leben« führt (S. 1). Es wäre übrigens er40
François Aigeldinger, Vorwort, in: Franz J. Bach, Göttliche Komödie. Comic-Strip frei nach Dante. Basel 1973.
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Abb. 14: Eine Seite aus Franz J. Bach, Göttliche Komödie. Comic-Strip frei nach Dante. Basel 1973.
müdend, den Zeitjargon permanent zu zitieren; dieser Comic ist in jeder Hinsicht ein unmittelbares Zeugnis der Mentalität der frühen 1970er Jahre – von Dantes Langhaarfrisur mit Schnurrbart über Anspielungen auf »Ulrike und Andreas« (Meinhof bzw. Baader), den Vietnamkrieg (der Höllenfluss heißt hier Mekong, S. 8) bis zur Sexualisierung der Gesellschaft (S. 13). Der Führer in die Höllenstadt ist »einer der größten Verbrecher seiner Zeit«, gemeint ist US-Präsident Nixon (S. 18). Ganz unten in der Hölle befinden sich folgerichtig Hitler und Stalin (S. 57), ausnahmsweise in einer panelüberschreitenden, seitengroßen Darstellung. Die gesamte Konstruktion funktioniert extrem plakativ und verzichtet fast völlig auf satirische Distanz. Mit der Struktur der Jenseitsreiche geht der Autor eher frei um; der Läuterungsberg ist vom achtfachen buddhistischen Pfad überlagert (S. 61) und das irdische Paradies vom Gipfel an den Fuß des Berges versetzt. Im Paradies, dem »Reich der Wahrheit«, findet Dante Beatrice wieder, umkreist von den Ikonen der Popkultur der 1970er Jahre. Gerade als den Reisenden das Geheimnis der »Blauen Blume« verkündet werden soll, klingelt der Wecker – Dante wacht in einem Wohnblock auf und begibt sich auf seinem Mofa zur Arbeit an einer Werkbank. Das Wort »Ende« erhält ein revolutionäres Fragezeichen.
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Trotz der zahlreichen schauderhaften Schwächen sowohl im Aufbau wie in der zeichnerischen Umsetzung ist dieser Comic eines der wenigen wirklich originellen Beispiele, in dem versucht wird, die Vorlage der Göttlichen Komödie in die Gegenwart mit ihrer Sprache und ihren aktuellen Problemen zu transferieren. Selbst diese sehr vom Original entfernte Version enthält einige der zentralen strukturellen Merkmale der Commedia wie die Stufen des Läuterungsberges oder die Sphärenringe des Paradieses. Ganz wie bei Dante sind die Jenseitsreiche mit Personen der Gegenwart bevölkert, und ebenfalls ungebrochen bleibt als Grundsituation die Suche nach der frühverstorbenen Geliebten. Auch wenn viele der Umsetzungen naiv erscheinen und ein eklatanter Abgrund zwischen Anspruch und Können klafft, orientiert sich doch diese Fassung mit ihrer kompromisslosen Kritik an Personen und Zuständen weit mehr an Dante als viele der anderen Comic-Versionen, die meist eher skurril-komisch oder auf Action hin angelegt sind. Eine solche moderne englische Comic-Fassung bietet der Marvel-Comic Nightcrawler’s Inferno von 1980 (Texter: Chris Claremont, Zeichner: John Romita jr., Bob McLeod).41 Dieser klassische X-Men-Comic beginnt mit der Geburtstagsfeier des Helden Kurt Wagner, des ›Nightcrawler‹, im Kreise seiner Freunde. Das unbeschwerte Zusammensein ist nicht von langer Dauer: Das letzte Geschenk, das Kurt Wagner öffnet, enthält eine Kristallfigur seiner selbst, die in seiner Hand explodiert und ihn leblos zu Boden stürzen lässt. Auch die medizinische Kunst seiner Freunde Professor Xavier und Storm bringt ihn nicht zurück ins Leben. Während die X-Men um den Nightcrawler trauern, tritt ein rätselhafter Fremder namens Stephen Strange ein, der sich als »Master of the Mystic Arts« zu erkennen gibt und mit Hilfe eine Amuletts diagnostiziert, dass Nightcrawlers Seele von einer bösen Macht gestohlen wurde. Dieser böse Geist manifestiert sich in Gestalt eines weiblichen Dämons namens Margali, der die Gruppe (bis auf Professor Xavier) mit seinen Tentakelarmen mit sich fortreißt. Der zweite Teil der Geschichte beginnt mit dem Bild des Dante’schen Höllentores und seiner berühmten Inschrift »Through me the way to the woeful city, / through me the way to eternal pain …« (Inf. III, 1–2). Vor dem verschlossenen Tor kommen die X-Men (unter ihnen auch Nightcrawler) langsam wieder zur Besinnung. Stephen Strange kennt den Weg: »This is the gateway to hell, as described by the 14th century Italian poet, Dante Alighieri, in his classic poem, the ›Inferno‹. […] It seems we’re expected to follow in his footsteps.« Das Tor öffnet sich, und die Gruppe, geführt von ihrem Vergil Stephen Strange, gelangt an den Acheron. Getreu der Dante’schen Vor41
X-Men, Bd. 1, Nr. 4, 1980.
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lage treffen sie als Erstes auf Charon, der sie davor warnt, bei dem toten Nightcrawler zu bleiben, da ihnen sonst das gleiche Schicksal drohe. Natürlich lassen die X-Men ihren Freund nicht im Stich und setzen entschlossen mit dem Boot über. Auf der anderen Seite begegnen sie Minos, der in einer Art Nachtclub residiert und sie weltmännisch im Smoking empfängt. Minos erklärt, Nightcrawler habe im Leben die Regeln der Moral verletzt und müsse deshalb nun bestraft werden. Ein Tentakelarm packt Kurt Wagner und wirft ihn in die Tiefe, allerdings dicht gefolgt von seiner mutigen Freundin Storm. Der Höllensturm weht die beiden in den zweiten Kreis, wo in einem »endless atmospheric holocaust« die Seelen der Sünder umhergewirbelt werden – ein deutlich auf frühere Illustrationen, insbesondere Doré, rekurrierender Cartoon. Nach kurzem, heftigem Kampf mit einer Horde Harpyien wird Storm verwundet und fällt hilflos immer tiefer in die Hölle hinab, während Nightcrawler wieder bei Minos landet. Dort wirft Stephen Strange dem Höllenfürsten gerade Dantes Worte entgegen »Vuolsi così colà dove si puote ciò che si vuole, e più non dimandare!« (Inf. III, 95–96) Minos zeigt sich jedoch unbeeindruckt: »He [Dante] was invited by upstairs. You weren’t.« Die Gruppe sammelt neuen Heldenmut und bricht auf, um Storm zu retten. Sie durchqueren mehrere Höllenkreise und gelangen schließlich zur Stadt Dis. Nightcrawler erzählt seinen Freunden, warum Margali ihn bestrafen will: Er habe im Kampf ihren Sohn getötet, seinen eigenen Bruder. – Nach einem heftigen Kampf mit einer Horde Teufel gelangen die X-Men im dritten Teil des Comics in die Malebolge des achten Kreises, die in der Darstellung ebenfalls völlig der klassischen Tradition der Höllenschemata folgen (Abb. 15). Dort finden sie Storm wieder, verwandelt in ein hässliches Monster. Nach geglückter Rückverwandlung setzen die wieder vereinten Freunde ihre Reise fort. Vorbei an den Riesen verlassen sie die Malebolge und kommen schließlich zu Satan ins Zentrum der Hölle. Neben dem Ungeheuer mit den drei Köpfen treffen sie dort auch Margali wieder, die von Nightcrawler Rache für den Tod ihres Sohnes verlangt. Das magische Amulett Stephen Stranges beschwört jedoch die Vergangenheit wieder herauf und zeigt den wahren Verlauf der Geschichte. Kurts Unschuld wird bewiesen und Margali vergibt ihm. Es stellt sich heraus, dass sie ein Ebenbild der Dante’schen Hölle heraufbeschworen hatte, um Kurt zu bestrafen. Margali entschwindet für immer. Die X-Men finden sich zurück auf der anfänglichen Geburtstagsfeier, die in ein allgemeines Happy End mündet. Interessant an diesem Dante-Comic ist vor allem die enge Anlehnung sowohl an den Text der Dante’schen Vorlage, die mehrfach sogar wörtlich zitiert wird (teils in Englisch, teils in Italienisch), als auch insbesondere an die ikonographische Tradition. Die Darstellung des Höllentores, der Wirbel-
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Abb. 15: Traditionelle Darstellung der Hölle in X-Men, Bd. 1, Nr. 4, 1980.
winde oder der Malebolge folgen berühmten Illustrationen, vor allem Doré, und auch inhaltlich geht es um nichts weniger als Leben und Tod. In den 1980er Jahren erschienen, wieder in Italien, zwei Dante-Comics, die Donald Duck zum Helden hatten. Am 27. Januar 1980 wurde im italienischen Micky-Maus-Heft Topolino erstmals die Geschichte Paolino Pocatesta e la bella Franceschina veröffentlicht,42 die im Gegensatz zu den meisten anderen Dante-Comics nicht die Jenseitswanderung des Helden zum Thema macht, sondern eine Episode der Commedia in die Entenwelt transferiert, nämlich die berühmte Episode der unglücklichen Liebenden Paolo Malatesta und Francesca da Rimini (Inf. V). Im Comic wird die arme Müllerstochter Francesca (Daisy) an einen unsympathischen reichen Alten (in Gestalt Onkel 42
Vgl. Dante a fumetti, S. 38f. Zeichner war Giovan Battista Carpi (1927–1999), der zahllose Literaturvorlagen als Comics gezeichnet hat. Die deutsche Fassung erschien unter dem Titel Die schöne Francesca im Lustigen Taschenbuch Nr. 88 (1983), S. 178–193.
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Abb. 16: Die schöne Francesca, in: Lustiges Taschenbuch Nr. 88 (1983), S. 178–193.
Dagoberts) verheiratet, der eine Familienpension besitzt. Dort hält sich auch der exilierte Dante auf, der gerade an der Commedia schreibt und interessanterweise die scharfe Physiognomie Daniel Düsentriebs besitzt. Schon bald plant Francesca ihre Flucht, doch der scheinbar hilfreiche Fährmann – ein Motiv des Commedia-Hintergrundes der Geschichte – entpuppt sich als einer der Panzerknacker und versucht den Pensionstresor auszurauben, jedoch vergeblich, da der Alte das Geld sicher versteckt hat. Bei der gemeinsamen Suche nach dem geheimen Versteck finden Francesca und der Neffe des Alten, Paolo Pocatesta (Donald) ein Buch und beginnen gemeinsam zu lesen, werden jedoch getreu der literarischen Vorlage vom eifersüchtigen Ehemann ertappt (Abb. 16). Da er richtig vermutet, dass die beiden mit seinem Geld durchbrennen wollen, wirft er Francesca und Paolo aus der Pension. Sie landen in einem Wirbelwind geradewegs in der Hölle, wo Dante bereits schreibend sitzt und der verbrecherische Fährmann in einem Nachen über den Acheron rudert. Das Hauptmerkmal dieser Comic-Umsetzung ist die durchgehende Profanierung der literarischen Vorlage – das adlige Personal wird zu Bauern und Kleinunternehmern degradiert, aus dem Schloss wird eine schäbige Pension in »Trimini«. Die Sünde der Fleischeslust wird hier zu kruder Geldgier, der
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Kuss der Liebenden ist nur der freudige Kuss beim Fund des Versteck-Plans, und das gemeinsam gelesene Buch ist nicht »Lanzelot«, sondern »Die Kunst des Sparens«. Nur Dante dichtet ungerührt seine Verse – vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass der hohen Literatur selbst die Entweihung durch einen Comic nichts anhaben kann. Im Stil einer großen Abenteuergeschichte ist ein weiterer Dante-Comic mit Donald Duck angelegt: L’Inferno di Paperino, eine Art Gegenstück zu L’Inferno di Topolino, erschien am 9. August 1987 in der italienischen Topolino-Ausgabe Nr. 1564 (S. 5–61).43 In der Rahmenerzählung kämpft Donald mit dem Müll in Entenhausen, der kafkaesken Bürokratie, dem infernalischen Verkehr und schließlich einem vorsätzlich gelegten Waldbrand – mit einem Wort, er durchlebt »l’inferno della civiltà« (S. 13). Die laute Musik aus der Stereoanlage der drei Neffen führt schließlich zu einem Nervenzusammenbruch und der ärztlichen Verschreibung eines Erholungsurlaubes. In der freien Natur, scheinbar »lontano dall’inferno« (S. 18) entspannt sich Donald bei einer Bootsfahrt auf einem Fluss, dessen hohe Felswände bereits eine danteske Atmosphäre evozieren. Bei der Lektüre der von den Neffen eingepackten Göttlichen Komödie schläft er ein und gleitet im Traum hinüber in Dantes Werk. Ab hier verändert sich schlagartig die Kolorierung des Comics vom friedlichen Grün und Blau der Urlaubslandschaft hin zum Blutrot und Schwarz der Höllenszenerie. Die Literaturwelt ist außerdem textlich markiert durch erzählende Terzinenverse oberhalb der Panels, die neben den Sprechblasen eine zweite Ebene eröffnen. Donald trifft bei seiner Wanderung durch die Unterwelt auf die geisterhafte Gestalt Dantes (wieder in der Physiognomie Daniel Düsentriebs), der ihm anbietet, ihn durch die Höllenkreise hindurch zu führen (Abb. 17). Die Höllentopographie und das Personal (wie Teufel, Charon oder Geryon) sind getreu der literarischen Vorlage gestaltet, nur die inhaltliche ›Füllung‹ der Höllenkreise ist eher parodistisch angelegt, allerdings nicht ohne pädagogisch erhobenen Zeigefinger: Die Kreise sind bevölkert von genau jenen Verursachern des »inferno della civiltà«, unter dem Donald so zu leiden hatte – die Umweltverschmutzer treiben zusammen mit dem Müll im Wirbelwind umher, die Bürokraten werden mit Siegellack und Schreibmaschinen gefoltert, im Wald der Brandstifter brennen die Verursacher als Bäume im selbst gelegten Feuer, die Verkehrssünder überfahren sich in alle Ewigkeit gegenseitig mit ihren Autos und im Inneren der Hölle tobt ein Lärm aus zahllosen Stereoanlagen und Fernsehern. Nur die Sünden der Völlerei und des Geizes werden getreu der Commedia übernommen. Nach der 43
Vgl. Dante a fumetti, S. 41–44.
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Abb. 17: L’Inferno di Paperino, in Topolino Nr. 1564 (1987), S. 5–61.
Durchquerung der Hölle verlässt Dante Donald, der in einem Boot über den Styx setzt. Im Kampf mit ihn angreifenden Seeschlangen erwacht er, völlig in die Angelschnüre ihn umgebender Boote verstrickt, und kehrt so in die Rahmenhandlung zurück. Wie die literarische Vorlage endet auch diese Version mit dem Wort »stelle«, diesmal im bekannten parodistischen Sinne »Sterne sehen«, als Donald vor dem aufgebrachten Onkel Dagobert fliehen muss, der ihm Schläge androht. Als Weiterentwicklung innerhalb der Pop-Kultur ist es folgerichtig, dass das »Inferno« inzwischen auch als brutales Computerspiel Skandal gemacht hat:44 Dante’s Inferno, seit Anfang Februar 2010 auf dem Markt, führt die Linie weiter fort, die bislang von den Illustrationen und Zeichnungen über den 44
Vgl. Sven Stillich, »Christen verdammen Höllenspiel«, in: Spiegel Online, 04. 06. 2009. Es ist ein erneutes Beispiel für die Konvergenz von Kulturwissenschaften und Künsten, dass genau zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags nicht nur das Computerspiel mit großem Erfolg auf den Markt gebracht wird, sondern auch, davon abgeleitet, wiederum eine Comic-Version beim Panini-Verlag (Dantes Inferno. Stuttgart 2010). Ebenfalls 2010 erschien in London (inzwischen auch 2011 beim Münchner Knesebeck-Verlag) von Seymour Chwast: Göttliche Komödie. Eine Graphic Novel. Außerdem ist nach Fertigstellung des Beitrags erschienen: Das Inferno. Illustriert von Michael Meier. Kassel 2012.
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Stummfilm bis zum Comic reichte. »Aber vielleicht hat das ›Inferno‹ ja sogar auf dieses Medium gewartet. Immerhin entsprechen die neun Höllenkreise dem, was Spieledesigner als Level bezeichnen: Jeder Ring enthält ein spezifisches Hindernis, das der Held überwinden muss«, bis am Ende mit Luzifer der ranghöchste und finale Gegner besiegt werden muss.45 Dante selbst als Protagonist des Spiels erledigt bei richtiger Spielweise reihenweise höllische Dämonen und erreicht so immer tiefere Höllenkreise, die gleichzeitig immer höheren Levels des Spiels entsprechen. Die dort begegnenden Sünder können virtuell gerichtet oder erlöst werden (Letzteres füllt das Seelenkonto und gibt Pluspunkte). »Man könnte fast auf die Idee kommen, Dantes Vorlage ließe sich Zeile für Zeile ins Digitale übersetzen, als handele es sich bei dem Werk um ein Programm und nicht um ein Poem«, bemerkt der Journalist Andreas Rosenfelder46 und legt damit den Finger auf das entscheidende Strukturmerkmal der Commedia, nämlich die strenge Architektur der Hölle und die wie programmiert ablaufende Strafmaschinerie des Jenseits, in dem die Personen quasi Figuren eines göttlichen ›Spiels‹ und eines theologischen Abenteuers sind. Natürlich muss der Held auch noch Beatrice befreien, die in Abwandlung der Handlung von Luzifer entführt wurde, während Vergil auf eine Stimme aus dem Off reduziert wurde. Das Spiel fühle sich an, »als hätte man einen Spielautomaten im Unterbewusstsein des Abendlandes aufgestellt«, lautet das Fazit – »schon verrückt, dass die Hölle sogar in eine Rechenmaschine passt«.47 Auf ein Referat weiterer Adaptionsansätze kann hier verzichtet werden. Jedoch ist festzuhalten: Von den Dante-Illustrationen seit dem 14. Jahrhundert und seit Botticellis Zyklus Ende des 15. Jahrhunderts leiten sich als Erzählprinzipien die Zerlegung in Szenen und deren Verkettung durch die Mehrfach-Präsenz der Figuren in einem Bild ab, außerdem die Anordnung als geschlossener Zyklus. Die vereinfachende, »klassizistische« Zeichentradition à la Flaxman und Genelli sowie die berühmten Doré-Stiche führen als Illustrationsserien zu einer relativ starren Festlegung von Bildformaten und der Betonung von Umrisslinien einerseits und Schwarz-weiß-Effekten andererseits. Von ihnen stammen die Laterna-Magica-Gläser ab 1868 und DanteFilme ab 1909. An diese wiederum schließen sich seit 1949 die ersten DanteComics an. Neben der festen Dante-Emblematik mit ihren unveränderlichen Requisiten sowie der unverwechselbaren Physiognomie eignet den Dante-Comics eine kaum aufhebbare Tendenz zur Serialität, im Problemfall 45 46 47
Andreas Rosenfelder, »Das ist die Hölle«, in: DIE ZEIT, Nr. 5, 28. 01. 2010. Ebd. Ebd.
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zur Monotonie. Selten gelingt es, die zeitliche Sequenzierung einer bloßen Bilderfolge in Richtung auf Dramatisierung oder freies Manipulieren der Erzählzeit zu durchbrechen. Zunächst ist Dante hauptsächlich ein zu illustrierender Klassiker, so dass auch die frühen Comic-Versionen einen historischnaturalistischen Darstellungsstil pflegen. Grundsätzlich lässt sich erwartungsgemäß eine Entwicklung zwischen ursprünglicher Originaltreue, der leicht durchschaubaren Travestie, der freieren Adaption bis hin zu Fantasyähnlichen Ableitungen erkennen. Der Text wird zum Teil wörtlich – natürlich in Auszügen – übernommen, in Prosaversionen überführt, parodiert oder schließlich in der Übersetzung italienischer Comics ins Deutsche korrumpiert. Formal existiert das ganze Spektrum zwischen einem einzelnen Cartoon, einem Bilderzyklus bis hin zum durchillustrierten Text oder eben von ausschnitthaften bis zu tendenziell vollständigen Umsetzungen des Basistexts in eine Bildgeschichte mit Sprechblasen. Die enger am Text orientierten Comics spiegeln die Tendenz der breiten Dante-Rezeption, das »Inferno« aufgrund seiner Bildkraft zu bevorzugen und dem »Paradiso« aufgrund seiner Abstraktheit die proportional geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Sie beziehen sich, was ihr Textsubstrat betrifft, entweder auf die gesamte Commedia, häufiger aber nur auf das »Inferno«, oder entfernen sich von der Fiktion teilweise und tendieren, angelehnt an die Vita Nuova sowie bekannte Fakten der Dante-Biographie, zu einer bebilderten Lebensbeschreibung. Im Falle der »Inferno«-Comics fällt die immer wieder diskutierte Problematik von Dantes Grausamkeit auf, der durch konkrete bildliche Anschauung weiteres Gewicht zukommt. »Vor allem die Hölle«, so ein Comic-Magazin, »hat die sadomasochistischen Fantasien innerhalb der Fumetti Neri angefacht.«48 Der Respekt vor Dantes Original oder auch der Reiz, insbesondere die Höllenstrafen en détail zu illustrieren, kollidiert dabei erkennbar mit der zumindest in den 1950er und 1960er Jahren vorherrschenden Adressierung der Comics an ein jugendliches Publikum. Ob also der Comic Dante für Kinder geeigneter macht, sei dahingestellt, jedenfalls lassen die Parodie-Versionen aus dem Hause Disney erkennen, wie Rohheit und kindgerechter Humor zu einem mühsamen Kompromiss gebracht werden sollen. Am auffälligsten ist in der über 50-jährigen Geschichte von Dante-Comics die dichte Interpikturalität, d. h. die fast überall zu beobachtende, oft direkte, zuweilen alludierende Orientierung an berühmten Modellen aus der Dante-Ikonographie, sei es Giotto oder Doré. Damit schreiben sich die meisten Dante-Comics einerseits in einen vorformulierten traditionalen Kontext ein, der ihre Urhe48
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ber gewissermaßen schützt und im Falle komischer fumetti durch parodistische Reibung einen ästhetischen Mehrwert gewinnt, andererseits zeichnet sich hier bereits eine fast durchgängige Unfreiheit der Zeichner ab, die auf die Gesamtgestaltung durchschlägt. So kommt es, dass bis heute komische und weniger komische, breiter angelegte und stark episodische, am Mittelalter orientierte und enthistorisierende, ja aktualisierende Adaptionen erprobt, jedoch eine ambitionierte Comic-Version, die sich zugleich dem politisch-theologisch-emotionalen Ernst der Vorlage stellte und der komplexen bildlich-allegorischen Struktur gerecht zu werden versuchte, nicht unternommen wurde. In einer übergreifenden Adaptionstheorie müsste ein solches Unternehmen jene Systemstelle suchen, die in der Proust-Verfilmung Raúl Ruiz’ Le temps retrouvé (1999) erreicht hat, d. h. einen Grad der Adäquatheit, der nicht nur die Qualitäten der Vorlage in das Zielmedium transferiert, sondern die künstlerische Innovativität des Ausgangsmediums durch entsprechende, aber eben entsprechend andere Mittel des neuen Genres in einer abstrakten Analogie spiegelt, zur Resonanz bringt oder wie immer man diese prekäre Mixtur aus sorgfältiger Treue und mutiger Freiheit nennen soll. Nur dann könnte der Comic-Künstler es beanspruchen, auch jene Passage aus dem II. Gesang des »Paradiso« (V. 1–6) mit souveräner Invention zu zeichnen, zu tuschen, zu kolorieren und vielleicht auch zu texten ( ! ), deren Sprechblase Dante dem Leser von oben herab zumutet: »O voi che siete in piccioletta barca, / desiderosi d’ascoltar, seguiti / dietro al mio legno che cantando varca, / tornate a riveder li vostri liti: / non vi mettete in pelago, ché, forse / perdendo me, rimarreste smarriti.«
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Dietrich Grünewald
Dietrich Grünewald (Koblenz)
Alberto Breccia: Das verräterische Herz Eine Comic-Adaption nach Edgar Allan Poe
1974, so die Jahreszahl neben der Signatur im letzten Panel, schuf der argentinische Comic-Künstler Alberto Breccia eine weitgehend textfreie Adaption der Kurzgeschichte The Tell-Tale Heart (El corazón delator) von Edgar Allan Poe, zuerst publiziert in Alterlinus Nr. 9 (September 1975).1 Mit dieser Arbeit gelang ihm das beachtenswerte Beispiel einer Transformation, die anschaulich demonstriert, welche Erzähl- und Wirkungskraft die Kunstform Bildgeschichte erlangen kann.
Alberto Breccia und sein Werk Alberto Breccia wurde am 15. April 1919 in Montevideo, Uruguay, geboren. Als er drei Jahre alt war, zog die Familie nach Buenos Aires, Argentinien; hier ist er am 9. November 1993 gestorben. Frühe humoristische Comics im Stil amerikanischer Zeitungsstrips veröffentlichte er, um, wie er sagte, nicht im Schlachthof arbeiten zu müssen. Broterwerbsarbeiten also, die er später als »armselig und primitiv« bezeichnete.2 Einen ersten Erfolg erzielt er mit der Krimiserie Vito Nervio, die er von 1946 bis 1959 nach Szenarios von Emilio Cortinas zeichnet. Zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit kommt es dann 1
2
Ich beziehe mich auf die deutsche Publikation in: Reddition, H. 20 (1993), S. 13–23, Übers. von Michael Hein, Lettering von Volker Hamann. Die Poe-Geschichte ist mehrfach ins Deutsche übertragen worden, so von Gisela Etzel unter dem Titel »Das schwatzende Herz«, in: Edgar Allan Poes Werke, Bd. 3, hrsg. von Theodor Etzel. Berlin o. J., S. 183–190, am bekanntesten ist wohl die Übersetzung von Hedda Eulenberg, »Das verräterische Herz«. Minden 1901 (Volltext: http://www.haus-freiheit.de/Poekrimi/verraeterischeherz.html), mit den Textillustrationen von Alfred Kubin auch in: Edgar Allan Poe, Geschichten des Grauens 2. München 1977, S. 27–34. Zu Alfred Kubin vgl. Ders., Aus meiner Werkstatt, hrsg. von Ulrich Riemerschmidt. München 1976 sowie Annegret Hoberg (Hrsg.), Alfred Kubin 1877–1959. München 1990. Zu Breccia s. die Chronologie und das Interview von Roland Mietz und Volker Hamann, mit Breccia geführt in Erlangen am 19. und 20. 06. 1992, in: Reddition 20 (1993), S. 24–42.
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mit dem Szenaristen Héctor Oesterheld, mit dem er ab 1962 für das Magazin Misterix die Serie Mort Cinder kreiert.3 Angesiedelt zwischen Fiktion und Realität erzählt die Geschichte von einem Verbrecher, der nicht sterben kann und nach jeder Hinrichtung in einer anderen Epoche wieder zum Leben erwacht. Als Ich-Erzähler fungiert der Antiquar Ezra Winston, der deutliche physiognomische Ähnlichkeit mit Breccia aufweist. Breccia ist gewissermaßen in die Rolle seines Protagonisten geschlüpft und erzählt aus dessen subjektiver Sicht. Ebenfalls mit Oesterheld und unter zeichnerischer Mitwirkung seines Sohnes Enrique entsteht 1968 Che, die Biografie von Che Guevara.4 Der Comic wird während der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) verboten. Oesterheld und Breccia erhalten Morddrohungen. Am 21. April 1977 wird Oesterheld in seiner Wohnung verhaftet und zusammen mit seinen vier Töchtern verschleppt; ihr weiteres Schicksal wird nie aufgeklärt. Die Schreckensherrschaft der Junta hat dreißigtausend Menschen das Leben gekostet. Und für Breccia bleibt sie ein Trauma. So ist sein opus magnum, der dreibändige Bildroman Perramus, begonnen 1983 mit dem Szenaristen Juan Sasturain, Erstveröffentlichung in Italien 1984, ein monumentales, allegorisches Epos über die Militärdiktatur.5 Durch ein ausgefeiltes Pinsel-Spiel aus Licht und Schatten gerät es zu einer alptraumhaften Parabel des Terrors: Perramus ist ein Antiheld, das personifizierte schlechte Gewissen der argentinischen Intellektuellen. Auch diese Geschichte pendelt kunstvoll zwischen Fiktion und Realität, vergleichbar der literarischen Kunst von Jorge Luis Borges (1899–1986), dem wohl bedeutendsten argentinischen Schriftsteller, Mitbegründer der »lateinamerikanischen Phantastik«. Borges wird zum Akteur in der Geschichte, zum spiritus Argentiniens, zum klugen und geheimnisvollen Lenker des Geschehens, zum Homer gleichen blinden Seher, Retter und Befreier. Er ist die Symbolfigur des Bildromans, allerdings weniger, wie er tatsächlich war und handelte (Borges hatte zunächst die Militärjunta begrüßt und sich erst später, als die Gräueltaten bekannt wurden, distanziert), sondern wie er (nach Auffassung Breccias und vieler Argentinier) hätte sein sollen. Die erste Literaturadaption zeichnet Breccia 1974 mit Los Mithos de Chthulhu nach H. P. Lovecraft; 1981 und 1986 folgen Märchenadaptionen nach den Gebrüdern Grimm, und noch unter seinen letzten Werken fin3
4
5
Deutsche Ausgabe: Alberto Breccia (Zeichner)/Héctor Oesterheld (Szenarist), Mort Cinder, 2 Bde. Hamburg 1991–1992. Dt.: Héctor Oesterheld/Alberto Breccia,/Enrique Breccia, Che. Eine Comic-Biografie. Hamburg 2008. Dt.: Alberto Breccia/Juan Sasturain, Perramus, 3 Bde. Hamburg 1993–1994.
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det sich eine Adaption von Alejo Carpentiers Erzählung Semejante a la noche (1986). Als wichtiges Beispiel für Breccias visuelle Erzählpotenz steht das Album Dracula (1982/83, dt. Hamburg 1994), das ganz ohne Text auskommt. Es handelt sich nicht um eine Adaption, sondern um eigene, meist ironische, parodistische Geschichten um Bram Stokers Vampir Dracula. Tragisch, ja, zynisch ist die Geschichte Ich bin nicht länger eine Legende, eine erneute Auseinandersetzung mit der argentinischen Militärjunta. Schon der Titel drückt Breccias Intention aus: Das Militär hat den Vampir in der Realität übertroffen; Dracula flieht vor Entsetzen, schwört dieser Welt ab und sucht als Mönch Zuflucht im Kloster. Die letzte Geschichte dieses Albums führt uns wieder näher zum Thema: Sie heißt Poe? … Puaf! und handelt von Edgar Allan Poe. Ihm folgt der Vampir auf dem nächtlichen Nachhauseweg von einer Kneipe, überfällt und beißt ihn, saugt sein Blut, um dann selbst betrunken niederzusinken. Eine eigenwillige Hommage an Edgar Allan Poe, die man so lesen kann: Breccia ist von Poes Geschichten gewissermaßen infiziert …6
The Tell-Tale Heart Auch literarische Vorlagen behandelt Breccia wie ein Szenario, als eine Art Drehbuch, das er in größter künstlerischer Freiheit umsetzt, nicht »illustriert«, sondern in eine Bildgeschichte umwandelt. Wenn ich meine Szenarios selbst schreiben würde, was ich selten tue, dann würde ich wahrscheinlich mehr Geschichten machen, die wie meine Adaption von The Tell-Tale Heart aussähen. Darin ist der Handlungsfortgang vollständig auf den Bildinhalt und die Panelfolge reduziert. […] Diese Art der Arbeit, das ausschließliche Erzählen in Bildern, schafft aber auch Probleme: Die ersten Folgen von Mort Cinder zum Beispiel waren sehr textlastig, schon vom Szenario her. Ich habe also angefangen, die Handlung in Bilder zu übersetzen, und dabei natürlich viel mehr Platz gebraucht, als vom Szenario her vorgesehen war.7
So ist es nicht überraschend, dass er – im Unterschied z. B. zu den komprimierenden Adaptionen der Illustrierten Klassiker – die knapp sechs Textseiten Poes auf elf Comic-Seiten ausdehnt. Breccia ist ein Bild-Erzähler. »Was für mich mehr zählt als das Szenario, ist die Atmosphäre einer Geschichte«, betont er. Zwar hat er dem Szenario »immer große Bedeutung beigemessen«, es 6
7
Zu Breccia vgl. Dietrich Grünewald, »Realismo mágico. Zur Erzählweise Alberto Breccias«, in: Text + Kritik Sonderband: Comics, Mangas, Graphic Novels, 46 (2009), V, S. 158–175. Breccia, in: Reddition 20 (1993), S. 35.
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jedoch nie sklavisch übernommen, sondern stets frei gehandhabt, hat es verändert, gestreckt oder gekürzt – so wie es ihm nötig erschien, nötig im Sinne eines Erzählens in Bildern.8 Er benutzt, was seiner erzählerischen Absicht, seiner intendierten Stimmung und Ausdrucksqualität wirkungsmächtig am besten entspricht. Entsprechend geht er mit Poes Geschichte um.9
Zum Inhalt der Geschichte Poe erzählt als Ich-Erzähler aus der Perspektive eines Mannes, der sich dagegen wehrt, als geisteskrank zu gelten, indem er minutiös berichtet, wie geschickt er einen alten Mann getötet hat. Anlass war sein Hass auf ein Auge des Alten, das dem eines Geiers glich und das ihn in Panik versetzte. Sein überempfindlicher Gehörsinn, so der Ich-Erzähler, führte dann dazu, dass ihn die immer lauter und lauter werdenden Herzschläge des Ermordeten, den er unter den Bodendielen verborgen hatte, so in Panik versetzten, dass er das Verbrechen der eigentlich verdachtslosen Polizei offenbarte. Im Folgenden soll – der Sukzession folgend – aufgezeigt werden, wie der Bild-Erzähler Breccia den Stoff des Textoriginals transformiert, welche Rezeptionsanforderungen das an den Leser stellt und welche (mögliche) Wirkung erzielt wird. Beginnen wir mit der ersten Bildzeile. Wie Poe führt Breccia unmittelbar in die Geschichte ein, wobei die ersten Panels – einer Exposition gleich – die Ausgangslage klären und das Folgende begründen. Schon im ersten Panel (S. 1, P. 1)10 werden die Protagonisten vorgestellt: der alte Mann, das spätere Opfer, frontal, dahinter der junge Mann,11 der spätere Täter, im Halbprofil, 8 9
10
11
Vgl. Michael Jans, »Alberto Breccia im Gespräch«, in: Comic Info 1 (1993), S. 42. Edgar Allan Poe, geb. 19. 01. 1809, Boston, Sohn eines Schauspielerehepaars, mit einem Jahr Waise, aufgewachsen im Haus des Kaufmanns John Allan; er studiert in Virginia, kommt 1827 zur Armee, wird 1830 für ein Jahr Kadett in West Point, entscheidet sich ab 1833 zu einer Existenz als freier Schriftsteller und Journalist. Poe lebt meist in großer Armut und leidet an Alkoholismus. Er stirbt am 07. 10. 1849 unter ungeklärten Umständen in Baltimore (vgl. u. a. Wolfgang Martynkewicz, Edgar Allan Poe. Reinbek bei Hamburg 2003). Hier und im Folgenden werden die Panels gemäß der Leserichtung von links nach rechts, von oben nach unten von 1 bis n gezählt; die Seiten der Geschichte von 1 (S. 13 in Reddition) bis 11 (S. 23 in Reddition). Dass die Darstellung des Ich-Erzählers und Täters als junger Mann bereits eine Deutung ist, wurde mir so recht bewusst, als Studentinnen in einem Projekt die Poe-Geschichte als Papiertheater-Aufführung gestalteten und inszenierten und eine Frau (die Haushälterin) als Ich-Erzählerin und Mörderin bestimmten.
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Abb. 1: Breccia, The Tell-Tale Heart, S. 1.
den Kopf leicht gesenkt, dem Alten zugewandt. Der kurze Text am oberen Rand des Panels, »Ich hatte keinen Hass auf den Alten«, klärt das Verhältnis beider Personen und kennzeichnet den jungen Mann als Ich-Erzähler und Hauptakteur. Der geschwätzige Protagonist der Vorlage wird auf die handelnde Figur begrenzt, deren Charakterisierung weniger anhand ihrer Worte als an ihrer Darstellung, an Physiognomie und Posen abzulesen ist. Betont wird das linke Auge des alten Mannes in zwei Panels herausgestellt, der leichte Zoomeffekt fordert unsere Aufmerksamkeit. Die relativ weitschweifige Erklärung in Poes Text weicht in der argumentativen Bildaussage einer knappen Feststellung (»Es sah mich an, und mich überlief es eiskalt«), die dann im fünften Bild zum Entschluss und damit Movens des Geschehens wird: »Ich entschied mich, ihn zu töten«. Die bedrückende, makabre Atmosphäre wird durch den harten, scherenschnittartigen Kontrast aus Schwarz und Weiß bestimmt, der nicht nur auf die Nachtzeit des Geschehens verweist, sondern in seiner Reduziertheit auch Mittel der Verunklärung ist und damit Konzentration und Achtsamkeit des Betrachters herausfordert. In der chronologischen Folge der nur leicht modifizierten Panels der ersten Seite wird ablesbar, dass jemand eine Tür langsam, unmerklich einen Spalt breit geöffnet hat und offensichtlich in einen dunklen Raum hineinsieht, ablesbar an der weißen, schräg stehenden (herabgedrückten) Türklinke und dem Panel für Panel breiter werdenden weißen, senkrechten Spalt, der zunächst nur partiell und schließlich vollständig den Kopf des Protagonisten sichtbar werden lässt. Der Handlungsprozess wird in der Gesamtschau der ersten Seite deutlich, wenn der Betrachter die Panels sukzessiv verfolgt. Bei Poe heißt es:
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Jede Nacht, um Mitternacht, drückte ich die Klinke seiner Tür nieder und öffnete sie – oh, wie leise! Und wenn ich sie weit genug geöffnet hatte, um meinen Kopf durch den Spalt stecken zu können, zog ich eine dunkle Laterne hervor, die ringsherum verschlossen war, so dass kein Lichtschimmer nach außen dringen konnte, und streckte meinen Kopf ins Zimmer. […] Ich streckte ihn ganz langsam, ganz, ganz langsam vor, damit ich den alten Mann nicht im Schlafe störte. […] Und dann, wenn mein Kopf glücklich im Zimmer war, öffnete ich die Laterne so vorsichtig – oh, so vorsichtig (ihre kleinen Angeln hätten ja knarren können!) und nur so weit, dass ein einziger Lichtstreif auf das Geierauge fiel. Und dies tat ich sieben Nächte hindurch, jede Nacht genau um die Mitternachtsstunde.12
Breccia berichtet nicht, er zeigt Dauer und Spannung des Geschehens in der unmerklichen Veränderung der Panels. Im Dunkel ist die Laterne natürlich nicht sichtbar – nur der weiße, leicht schräg stehende Strich, der sich (S. 2, P. 1–3) verbreitert und auf ihren Lichtschein verweist, lässt sie imaginativ erscheinen. Ohne den Blocktext im dritten Panel (»Und dann, ganz behutsam, nahm ich das Tuch von der Laterne.«) wäre dieser zunächst irritierende Strich allerdings nur schwer verständlich. Und dann, in Panel 4 (S. 2), sehen wir – nun aus der Blickrichtung des Protagonisten – im runden Spotlicht das geschlossene Geierauge des Alten. Die Wiederholung des Geschehens von Nacht zu Nacht macht Breccia deutlich, indem er ein Panel (S. 2, P. 8) zwischenschaltet, das uns die Protagonisten am Morgen zeigt. Der junge Mann hat dem Alten das Frühstück ans Bett gebracht. Auf Seite 3 zeigt Breccia die gleichen Panels erneut, lässt den Betrachter in der Wiederholung das langsame, behutsame Öffnen einer Tür in acht Panels miterleben – als spürbar wachsende Bedrohung, die sich dann erleichternd auflöst, als auch hier im Lichtspot (S. 3, P. 8) das Auge des alten Mannes – Movens und Ziel der Aktion – geschlossen bleibt. Breccia gelingt es so, das unmerklich anwachsende Grauen sichtbar zu machen. Schwärze und das Nichtsichtbare sind vertraute Metaphern für das Böse und Unheimliche. Hier mutiert der weiße Streifen, sonst der optimistische Lichtstreifen am Horizont, zum Sinnbild des unaufhaltsam näher kommenden Unheils, denn wir sehen die Panelfolge ja im Wissen um die Absicht des Protagonisten. Der Rhythmus der Erzählung wird gleichsam gebremst, wie durch zähen Sirup gezogen, stockendem Atmen gleich. Sichtbar wird, wie Zeit als Zeit der Gefahr gefriert. Während im Film solche Momente vergehen, in der Zeit ohne Einfluss des Rezipienten abläuft, bleiben sie hier stehen, einzeln nebeneinander sichtbar. Breccia zeigt die Dauer des quälend langsamen Geschehens, das der Betrachter aus zwei Perspektiven erlebt: Aus der Sicht des Opfers, denn wir schauen zur Tür und der Mörder kommt 12
Poe, Geschichten, S. 27, 29.
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Abb. 2: Breccia, The Tell-Tale Heart, S. 5.
gleichsam auf uns zu, aber auch aus Sicht des Protagonisten, denn indem wir den in der Bildfolge veranschaulichten Phasenprozess »verlebendigen«, den statischen Akteur imaginativ in Bewegung und Aktion versetzen, schlüpfen wir auch identifizierend in seine Rolle. Es ist der Kontrast zwischen der sachlich-nüchternen, flächigen Darstellung und der Wissensfolie über die mörderische Absicht des Protagonisten, der das Grauen in seiner Steigerung so intensiv miterleben lässt. Auch die nächste Doppelseite bietet zunächst die Wiederholung des allnächtlichen Geschehens. Doch jetzt ereignet sich etwas: Der alte Mann erwacht. Er spürt wohl etwas. »Wer ist dort?« (S. 5, P. 1), heißt es in der ihm zugewiesenen Sprechblase. Doch währenddessen bleibt, durch die Panelwiederholungen anschaulich, der Protagonist still erstarrt in gleicher Pose im Dunkel. Ich verhielt mich ganz ruhig und sagte nichts. Eine Stunde lang zuckte ich auch nicht mit einer Wimper, und während dieser ganzen Zeit hörte ich nicht, dass er sich wieder niederlegte. Er saß also im Bett aufrecht und horchte […].13
Zunächst unmerklich, dann durch die zunehmende Wiederholung, schließlich in den letzten drei Panels (S. 5, P. 8–10) durch den Zoomeffekt akzentuiert, sehen wir – und sieht, wie wir folgern müssen, auch der junge Mann – das nun offene Geierauge im Gesicht des Alten. Das steigert sich auf den nächsten beiden Seiten: Der junge Mann blickt in den dunklen Raum, sieht den Alten, der wiederum im Bett sitzend ins Dunkel starrt. In den nächsten 13
Ebd., S. 29.
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vier Panels öffnet sich langsam der Spalt der Laterne, wirft den Spot auf das offene Auge – wieder das verängstigte Starren des Alten, erneut das Auge im Spot, das dann, die Distanz somit verringernd, immer größer wird, bis es das Panel (S. 7, P. 8) bedeutungsgroß zu sprengen droht. Dazu kommt, zunächst in den Panels 8–11, dann, stets an der Stelle des Herzens des Alten zu lokalisieren (S. 7, P. 1, 3, 5–7), immer lauter, dominanter werdend, sichtbar durch das typografische »Wachsen« der Buchstaben, ein aufdringliches »Tump«-Geräusch. Ich hatte ja schon angedeutet, dass das, was man fälschlich für Wahnsinn bei mir hält, nur eine verschärfte Empfindlichkeit der Sinne ist. So vernahmen meine Ohren jetzt ein leises, dumpfes, bewegliches Geräusch […] Es war das Herzklopfen des alten Mannes. Und es stachelte meine Wut an, wie ein Trommelwirbel den Mut der Soldaten.14
Breccia kommentiert das nicht – er zeigt es uns. So verfolgen wir die unaufhaltsam wachsende Panik des jungen Mannes mit, bis zum letzten Panel (S. 7, P. 9), das nun im Gegenschuss ihn als Akteur zeigt. Jetzt ist seine Panik nicht mehr kontrollierbar. Im Textkasten heißt es: »Ich ertrug es nicht mehr! Mit einem Schrei stürzte ich ins Zimmer …« Das erste Panel der nächsten Seite zeigt dann – spannungsbetont nach dem Umblättern – die Ermordung des alten Mannes, ein prägnanter Moment, den auch Alfred Kubin als Motiv seiner Illustration gewählt hat.15 »Dann lächelte ich vergnügt, dass ich die Tat so weit vollbracht hatte.«16 Es ist hohe Kunst des Bilderzählens, wie Breccia uns die Psyche des Protagonisten vor Augen führt. Auf dem Bild nach der Mordszene (S. 8, P. 2) leuchtet er, Kopf und Oberkörper, weiß und formatfüllend aus dem Schwarz hervor, nur das Gesicht signalisiert mittels weniger Pinselstriche seine Erleichterung, sein Hochgefühl, und spiegelt zugleich in seinen Augen den Wahnsinn. Der Abfall der Spannung wird mit den nächsten vier Bildern visualisiert: In weißer Schrift auf schwarzem Grund (ein Signal der Umkehrung: als der Alte noch lebte, stand das »Tump« schwarz auf weißem Grund) klingt das Pochen des Herzens nach, gewissermaßen »abtretend« (gemäß unserer Leserichtung) an den rechten Bildrand gerückt und in den folgenden Panels immer kleiner werdend, wie auch die Panelgröße selbst abnimmt, bis es schließlich verstummt. Während Breccia dem Spannungsmoment der sich langsam öffnenden Tür und dem Anschwellen des Herzschlags viel Raum gewährt, presst er die nachfolgende Handlung in nur wenige Panels. Eher illustrativ schildert er 14 15 16
Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32.
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in weiter Bildfolge im unteren Bildstreifen der achten Seite, wie der Protagonist die Dielen aufreißt und den Leichnam dort verbirgt. Der Leser muss die Leerstellen zwischen den Bildern entsprechend imaginativ füllen. Was bleibt, ist das Gefühl des Protagonisten, das sich auf seinem Gesicht eingebrannt hat und ihm den Ausdruck des Wahnsinns wie des grinsenden Todes verleiht (S. 8, P. 9). Krampfhaft angespannt und eingefroren wie der Ausdruck einer Puppe wirkt seine Haltung durch die Wiederholung dieses letzten Bildes auf der nächsten Seite (S. 9, P. 1) – und es zeigt nicht Erleichterung, nicht Entspannung, auch kein aufkommendes Entsetzen ob der Mordtat. In dieser Verfassung begegnet er dann auch den drei eintretenden Polizisten. Es ist aufschlussreich, wie Breccia deren Auftritt präsentiert. In Panel 2 (S. 9) sehen wir die Figuren als Rückenfiguren vor einem weißen Rechteck, d. h. wir betreten gewissermaßen mit ihnen den Raum, in dem der Protagonist ist. Das wird in Panel 3 (ebd.) deutlich, wo der Betrachter – wie der Zuschauer vor der Bühne – nun die drei in Reihe hintereinander auf sich zukommen sieht, während rechts am Panelrand der junge Mann ihnen offensichtlich gerade die Tür geöffnet hat. In Panel 4 (S. 7) schauen wir in gleicher Position, doch jetzt überblickend in den Raum, den die Polizisten mit Blicken und als Personen inspizierend einnehmen, der junge Mann verharrt noch im Hintergrund an der nun wohl wieder geschlossenen Tür. Dann (S. 7, P. 5) befinden wir uns erneut hinter den Polizisten, die jetzt offenkundig auf Stühlen Platz genommen haben und den sie und uns frontal anschauenden, sichtlich wartenden jungen Mann ins Visier nehmen. Die Bewegung, die der Betrachter mitvollzieht und zugleich reflektiert, zeigt eine Art Einkreisung des Mörders, der – so seine passive Haltung in Panel 5 (S. 9) – sich wie vor einem Richtergremium vorkommen muss. Die Polizisten sind drei absolut identisch aussehende Männer mit Glatze und dunkler Brille. Vielleicht eine Anspielung auf Theo Kojak, den von Telly Savallas verkörperten Seriendetektiv, dessen Pilotfilm The Marcus Nelson Murders 1973 ausgestrahlt wurde und den er bis 1978 in 118 Folgen spielte. Sie wirken auch wie die Detektive aus dem surrealistischen Gemälde von René Magritte, Der bedrohte Mörder (1926. Öl/Leinwand, 150,4 × 195,2 cm, New York, Museum of Modern Art), oder wie Figuren von Kafka – anonyme Repräsentanten des Staatsapparates beziehungsweise des abstrakten Rechts. Die Wirkung ist umso stärker, als die Figuren zwar ebenfalls einem Scherenschnitt gleich gestaltet sind, allerdings wie auf einem Foto wirken, dem die Grauwerte entzogen wurden, und somit dem Unwirklichen und Grauenhaften des bisherigen Geschehens die Welt der sachlich-nüchternen »Realität« entgegensetzen. Mit ihnen sieht sich also der Mörder konfrontiert, was wieder im Gegenschussverfahren dargestellt wird. Während er sie anfangs verbal abzuwehren
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Abb. 3: Breccia, The Tell-Tale Heart, S. 9.
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Abb. 4: Breccia, The Tell-Tale Heart, S. 11.
sucht (»Ich sagte ihnen, der Alte sei verreist.«), beginnt dann offenbar ihre bloße Existenz zu wirken, ihre durch die Panelwiederholung demonstrierte penetrante Präsenz und ihr scheinbar spöttisches Grinsen. Auf den beiden letzten Seiten hat Breccia in jede Bildzeile vier statt der bisher vorherrschenden drei Panels gestellt: Links der Protagonist, frontal bis zur Hüfte gezeigt, der Körper weiß, konturiert nur sein puppenartig grinsendes, totenschädelhaft wirkendes Gesicht. Im nächsten Bild die leicht verkleinerte Wiederholung des Polizistentrios, dann erneut der Protagonist, diesmal bis zur Brust, so dass der Eindruck entsteht, er sei uns, den Betrachtern, näher gekommen, was einen genaueren Blick auf seine Mimik erlaubt: Seine grinsende Selbstsicherheit ist jetzt einer spürbaren Betroffenheit gewichen. Diese resultiert aus der Tatsache, dass der Mörder plötzlich das Geräusch des schlagenden Herzen des Toten zu hören glaubt. Während die stoischen Gesichter der Polizisten keinerlei Reaktion darauf erkennen lassen, treibt das anschwellende »Tump«, grafisch sichtbar jeweils im vierten Panel jeder der drei Bildzeilen der zehnten und der ersten beiden Bildzeilen der elften Seite, im steten Größerwerden, gewissermaßen im Hineinwachsen und Okkupieren des Panelraumes der lautmalenden Buchstaben, den Protagonisten unaufhaltsam in Panik. In der letzten Bildzeile (S. 11, P. 9–12) weicht Breccia vom Schema ab: Das »Tump« erscheint nun raumfüllend groß im dritten Bild, während das letzte eine Großaufnahme des Protagonisten zeigt, dessen Gesicht verzweifelte Wut ausdrückt und über dem sich die einzige Sprechblase dieser Doppelseite befindet: »Ihr Schurken! Lasst die Heuchelei! Ich hab’ ihn getötet! Reißt doch die Dielen auf. Hier … wo sein fürchterliches Herz noch immer schlägt.«
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Ein Vergleichsbeispiel: Reed Crandall Zehn Jahre vor Breccia, 1965, hat der US-amerikanische Comic-Zeichner Reed Crandall eine Adaption von Poes Kurzgeschichte publiziert.17 Im Unterschied zum harten Schwarz-Weiß Breccias setzt Crandall Farbe ein, nicht modelliert, sondern flächig, folienhaft, was allerdings kaum dazu beiträgt, die bedrohliche Stimmung der Poe’schen Geschichte spürbar werden zu lassen. Auch der Stil trägt wenig zum Charakter des Unheimlichen bei. Er verrät handwerkliches Können, Crandall war ein Routinier, aber die Zeichnung wirkt nüchtern, wenig emotional, eher sachlich, fast wie in den Zeitungsillustrationen des 19. Jahrhunderts vor der Pressefotografie. Beispiele aus der Illustrirten Zeitung Leipzig können verdeutlichen, dass die in der Regel als Xylographien (Holzstich) reproduzierten Zeichnungen relativ gleichbleibend eher dokumentierend als ausdrucksstark wirken, ob sie nun ein grausames Geschehen (wie die Zerfleischung einer Dompteuse durch Tiger, 2. Februar 1850) oder eine eher belanglose Information (wie den Einmarsch des Trommlerkorps auf dem gesamtdeutschen Turnfest in Leipzig, 1. August 1863) thematisieren.18 Crandalls Stil ist nicht, wie bei Breccia, reduziert und »offen« – im Gegenteil, die Darstellung verlangt nur geringe Deutungsanstrengung, arbeitet mit erfahrungsnahen ikonischen Zeichen. Diese Scheu vor Offenheit zeigt sich auch im Inhaltlichen: Crandall (bzw. wohl sein Szenarist Goodwin) erfindet zusätzlich zum Text eine Rahmenhandlung: Er führt uns in eine psychiatrische Klinik. Der Mann in der Zwangsjacke – assistiert von den oft in Unterhaltungsmedien gezeigten »klassischen Irren-Rollen« Sherlock Holmes, Frau mit der Kindpuppe, Napoleon – wird durch die Sprechblasentexte als Protagonist ausgewiesen. Seine verbale Beteuerung, nicht wahnsinnig zu sein, wird somit objektiv negiert: Er wird als psychisch Kranker präsentiert. Auf der Folgeseite beginnt die eigentliche Geschichte, die Erzählung des Protagonisten. Er ist als Butler gekennzeichnet – wieder eine Deutung, die 17
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Reed Crandall (22. 02. 1917–13. 09. 1982) zeichnete u. a. die Serie Blackhawk über einen Armeeflieger im Zweiten Weltkrieg für Military Comics, widmete sich dann ab den 1950er Jahren dem Horror- und Science-Fiction-Genre u. a. für ECComics und King Features Syndicates. The Tell-Tale Heart erschien nach der Adaption von Archie Goodwin mit den Zeichnungen von Reed Crandall in: Creepy, 1965, 3; hier wird die deutsche Ausgabe zitiert (Reed Crandall, »Das verräterische Herz«, in: Edgar Poe aus der Sicht von Richard Corben, Reed Crandall, Isidro Mones, José Ortiz und Berni Wrightson, Linden 1981, S. 41–48). Vgl. H[ans] J[ürgen] Hansen (Hrsg.), Sensationen von gestern – Geschichte heute. Bildreportagen aus den Jahren 1848–1900. Oldenburg, Hamburg o. J., S. 21, 47.
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Poe selbst so nicht vornimmt. Auch damit wird (wie mit dem Zeichenstil) dem Betrachter eigener Deutungsspielraum genommen. Crandall benutzt relativ viel Text, in Textkästen wie in Sprechblasen. Die Darstellung hat somit eher den Charakter eines textdominanten illustrierten Berichts denn einer narrativen Bildfolge. Das reduziert die emotionale Beteiligung des Rezipienten und baut eine gewisse Distanz auf. Die eigentliche Geschichte umfasst sechs Seiten, hinzu kommen zwei Seiten dazu erfundener Rahmenhandlung (zum Vergleich: Breccia benötigt elf Seiten). Crandall setzt auf Aktion. So schildert er den Mord sehr ausführlich (S. 4).19 Betont wird das äußere Geschehen, die innere Spannung dagegen, ihr langsames Wachsen bis zum Ausbruch, die im Poe’schen Text so wichtig sind und von Breccia so anschaulich gezeigt werden, fehlen so gut wie ganz. Da aber war die Stunde des alten Mannes gekommen! Mit einem gellenden Schrei riss ich die Blenden der Laterne auf und sprang ins Zimmer. Er schrie auf – einmal nur! In einem Augenblicke hatte ich ihn aus dem Bett auf den Boden gerissen und das schwere Bettzeug über ihn gezogen. Dann lächelte ich vergnügt, dass ich die Tat so weit vollbracht hatte.20
Ausführlich wird dann auch das Zerstückeln der Leiche mit einem Hackebeilchen gezeigt (S. 5), ein Element der Konvention der Horror-Comics, das bei Poe gar nicht vorkommt: Zunächst riss ich drei Dielen aus dem Boden des Zimmers und verbarg den Toten zwischen der Füllung, dann setzte ich dieselben so geschickt, so schlau wieder ein, dass kein menschliches Auge – nicht einmal das seinige – die geringste Veränderung hätte wahrnehmen können. Da war ja nichts abzuwaschen – kein Blutfleck, nicht die kleinste Spur von einem einzigen Tropfen. Dazu war ich viel, oh, viel zu vorsichtig gewesen.21
Breccia zeigt das Geschehen zwar weniger detailreich, aber dafür sehr viel prägnanter. Das äußere Geschehen, der Mord, ist ihm nur ein Panel wert (»ein Augenblick«, wie es in Poes Text heißt); dann folgt das »vergnügte Lächeln« und danach ausführlich in vier Panels, die immer kleiner werden, das Herzschlaggeräusch, das langsam verstummt und dann gewissermaßen mit unter die Diele kommt, in enger Korrespondenz zu Poe:
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Auch hier sollen wieder die Seiten der Comic-Geschichte für sich gezählt werden, um Relationen erkennbar werden zu lassen; so entspricht S. 1 der S. 41 in Crandall, »Das verräterische Herz« etc. Poe, Geschichten, S. 31–32. Ebd., S. 32.
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Aber das Herz schlug noch ein paar Minutenlang mit dumpfem Ton fort. Doch das ärgerte mich nicht mehr. Durch die Wand würde man es doch nicht hören. Endlich stand es still. Der alte Mann war tot.22
Crandall lässt dieses für die Logik der Geschichte so wichtige Element schlicht weg. Während bei Breccia die Seite im letzten Panel mit einem ebenso irren wie zufrieden lächelnden Protagonisten als Abschluss dieser Aktion endet, geht es bei Crandall ohne Unterbrechung noch auf der selben Seite weiter: Es schellt, zwei Kriminalisten stehen vor der Tür, der Inspektor und ein Uniformierter, kostümierte Typen aus dem vertrauten Arsenal englischer Kriminalgeschichten und -filme. Auf den beiden Abschlussseiten der Geschichte drängt sich rot das lautmalende Schlagen des Herzens zwischen und in die Bildreihen. Doch Crandall vertraut den Bildern und der Deutungsfähigkeit seiner Rezipienten nicht: Er setzt viel erläuternden Text ein, und auch der Inspektor muss in der Sprechblase erklären, dass er nichts höre (S. 7, P. 3). Das Ende der Geschichte wird dann wieder als Action-Szene ausgemalt: Theatralisch zerschlägt der Protagonist einen Stuhl, reißt selbst die Dielen auf, offeriert hoch pathetisch, kniend mit ausgestreckten Händen den Polizisten das blutend-tropfende Herz (S. 7, P. 5–7). Bei Poe heißt es dagegen: Ich konnte ihr heuchlerisches Lächeln nicht länger ertragen. Ich fühlte, dass ich schreien müsse – oder sterben! Und nun – horch – wieder – lauter! lauter!! lauter!!! lauter!!!! – ›Schurken‹, schrie ich heraus. ›Verstellt euch nicht länger! Ich gestehe die Tat! Reißt die Dielen auf! Hier! Hier! Es ist das grauenhafte Klopfen seines Herzens!‹23
Vergleichen wir mit Breccia: Er erzielt Spannung allein durch die Bildfolge, durch die Wiederholung der stoisch gleichmütig (und doch bedrohlich wirkenden) Detektive, durch das ständige Lauterwerden des Geräusches, das grafische ›Wachsen‹ der Buchstaben, durch die unmerklichen Veränderungen im Gesicht des Protagonisten, die dessen innere Bewegtheit, das innere ›Arbeiten‹ symptomatisch spiegeln und mitempfinden lassen – ein angespanntes und unheimliches Psychodrama, das sich dann im letzten Panel entlädt, gezeigt allein durch die Grimasse des Protagonisten und seinen verbalen Ausbruch … Crandall dagegen will Klarheit, belässt wenig Deutungsraum und bleibt so distanziert. Er setzt mehr auf äußerliche Aktion denn auf psychologische Entwicklung. Die letzte Seite greift die zusätzliche Rahmenhandlung wieder auf. Der Protagonist hatte sich Verletzungen zugezogen, die behandelt wur22 23
Ebd. Ebd., S. 34.
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den, während er seine Geschichte erzählte. Doch der Arzt scheint ihm gar nicht zugehört zu haben, er geht nicht auf seine Erzählung, die doch eine Rechtfertigung ist, ein. So folgt dann unvermittelt der Sprung des Protagonisten durch ein geschlossenes Fenster, ein Selbstmord gewissermaßen als strafendes Gottesurteil. Und als Menetekel weist schließlich auch der Mörder ein Geierauge wie sein Opfer auf (S. 8, P. 6). Das hat er wohl im Spiegel gesehen – Anlass für seinen Aufschrei und Auslöser für den Sprung in den Tod. (»Fünf Stockwerke tief! So ein Idiot!«, kommentiert der Arzt, während er sich nachschauend aus dem Fester beugt, womit dem Leser die Todesfolge plausibel wird, S. 8, P. 5). Mit diesem konstruiert moralisierenden Schluss werden aber die Spannung, das Unheimliche und das Irreale der Geschichte vollends genommen und rationalisiert. Breccias Abschlusszeile zeigt keine Rationalisierung, keinen abgerundeten Schluss und keine Auflösung in äußerer Aktion. Er zeigt das Geschehen – weitgehend ohne Text, konzentriert auf den differenzierten Rhythmus der Bildfolge – als nachempfindbaren, Grauen erweckenden äußeren wie inneren Prozess, der sich im Ineinanderspiel der Panels deutend ablesen lässt. Gemäß den künstlerischen Möglichkeiten des Prinzips Bildgeschichte erzählt Breccia anders, als Poe es mit Worten getan hat. Er folgt der linearen Struktur Poes, aber als Bilderzähler berichtet er nicht, sondern zeigt. Das Geschehen ist präsent vor Augen, gesteuert allein durch Stil und Dramaturgie. Der Erzähler Breccia äußert sich durch emotionale Codes, vornehmlich durch das intensive Spiel mit Hell und Dunkel, die Blickführung, die wechselnde Distanz des Betrachters zum Geschehen, die Bildausschnitte. Breccia fordert den Betrachter, seine Achtsamkeit, seine aktiv-interpretierende Rezeption und letztlich seine Stellungnahme. Er bietet uns etwas an, das wir, Panel für Panel verfolgend, zu unserer Erzählung werden lassen. Der Rezipient wird zum einfühlenden, imaginierenden Mit-Erzähler. Adaptionen treffen oft aus Gründen subjektiver Vorstellungen und daraus abgeleiteter Erwartungshaltungen, aber auch aus Gründen inhaltlicher wie künstlerischer Differenzen auf ein geteiltes Echo. Allerdings muss dem entgegengehalten werden: Eine Adaption – gleich in welche andere Kunstform – ist keine simple ›Übertragung‹, sondern eine (subjektive) Neu-Erzählung eines Stoffes, eine Transformation mittels der spezifisch künstlerischästhetischen Möglichkeiten der anderen Kunstform. Wertungsaspekte sind neben dem Bewahren des intentional-inhaltlichen Kerns Essenz, Charakter und ein vergleichbares künstlerisches Niveau. (Es sei denn, der Autor der Adaption ändert die Intention: z. B. als Parodie, Aktualisierung etc.). Ich meine, dass Breccia mit seiner Geschichte The Tell-Tale-Heart ein gelungenes Beispiel vorgelegt hat, das als eigenständiges Werk Bestand hat, das
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ausdrucksvoll zeigt, wie Spannung (»Suspense« im Sinne Hitchcocks) in der Bildfolge aufgebaut werden kann, das den Betrachter aktiv einbindet. Ein Comic, der über die Unterhaltungsware deutlich hinaus geht und emotional wie denk-provokativ bewegt. Er entspricht ganz dem eigenen Anspruch Breccias: Eigentlich [mag ich] überhaupt keine Comics. Das heißt: Die meisten Comics, die publiziert werden, finde ich tatsächlich abscheulich. […] Ich habe in allen meinen Geschichten immer versucht, in die Tiefe zu gehen und über die schlichte Unterhaltung hinauszukommen. […] Ich möchte keine Comics machen, die man in einem Zug liest und dann gleich wieder vergisst.24
Literatur Primärliteratur Breccia, Alberto, »The Tell-Tale-Heart«, Übers. von Michael Hein, Lettering von Volker Hamann, in: Reddition H. 20 (1993), S. 13–23 (zuerst als »El corazón delator«, in: Alterlinus 9, September 1975). Breccia, Alberto (Zeichner)/Héctor Oesterheld (Szenarist), Mort Cinder, 2 Bde. Hamburg 1991–1992. Breccia, Alberto/Juan Sasturain, Perramus, 3 Bde. Hamburg 1993–1994. Crandall, Reed, »Das verräterische Herz«, Adaption von Archie Goodwin, in: Edgar Poe aus der Sicht von Richard Corben, Reed Crandall, Isidro Mones, José Ortiz und Berni Wrightson. Linden 1981, S. 41–48 (zuerst als »The Tell-Tale-Heart«, in: Creepy, H. 3, 1965). Hansen, H[ans] J[ürgen] (Hrsg.), Sensationen von gestern – Geschichte heute. Bildreportagen aus den Jahren 1848–1900. Oldenburg, Hamburg o. J. Oesterheld, Héctor/Alberto Breccia/Enrique Breccia, Che. Eine Comic-Biografie, Hamburg 2008. Poe, Edgar Allan, »Das schwatzende Herz«, Übers. von Giesela Etzel, in: Theodor Etzel (Hrsg.), Edgar Allan Poes Werke, Bd. 3. Berlin o. J., S. 183–190. Poe, Edgar Allan, Das verräterische Herz, Übers. von Hedda Eulenberg. Minden 1901 (Volltext: http://www.haus-freiheit.de/Poekrimi/verraeterischeherz.html). Poe, Edgar Allan, »The Tell-Tale Heart« (1843), in: Ders., Geschichten des Grauens 2, mit Textillustrationen von Alfred Kubin. München 1977, S. 27–34.
Sekundärliteratur Grünewald, Dietrich, »Literarische Klassiker in Comic-Form«, in: Kurt Franz/Günter Lange (Hrsg.), Bilderbuch und Illustration in der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler 2005, S. 53–67. 24
Breccia, in: Reddition 20 (1993), S. 32.
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Dietrich Grünewald
Grünewald, Dietrich, »Realismo mágico. Zur Erzählweise Alberto Breccias«, in: Text + Kritik Sonderband: Comics, Mangas, Graphic Novels, 46 (2009), V, S. 158–175. Hoberg, Annegret (Hrsg.), Alfred Kubin 1877–1959. München 1990. Jans, Michael, »Alberto Breccia im Gespräch«, in: Comic Info, H. 1 (1993), S. 40. Kubin, Alfred: Aus meiner Werkstatt, hrsg. von Ulrich Riemerschmidt. München 1976. Martynkewicz, Wolfgang, Edgar Allan Poe, Reinbek bei Hamburg 2003. Mietz, Roland/Volker Hamann, »Interview mit Alberto Breccia, geführt in Erlangen am 19. und 20. 06. 1992«, in: Reddition 20 (1993), S. 24–42.
Über Proust hinaus erzählen
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Andreas Platthaus (Frankfurt am Main)
Über Proust hinaus erzählen Stéphane Heuets Adaption von Un Amour de Swann
Zwei Thesen zu Beginn: 1) Die Adaption eines literarischen Textes als Comic schreibt diesen fort. Das mag seltsam klingen, weil wir uns doch immer mit Fragen von adäquater Umsetzung beschäftigen, die darauf abstellen zu prüfen, ob so viel wie möglich vom literarischen Ausgangsmaterial den Weg in die Adaption gefunden hat. Aber mir scheint, dass diejenigen Comics – und das gilt für Filme, Musik oder natürlich auch Prosa genauso –, die eine interpretierende Umsetzung des Ausgangsstoffes wagen, den Intentionen des Originals näher stehen, weil beider Autoren gleichermaßen von inhaltlichem wie formalem Ehrgeiz getrieben sind. Und während das Letztere – formaler Ehrgeiz – eine allgemein anerkannte Selbstverständlichkeit bei der Übertragung aus einer Kunstform in eine andere ist, wird das Erstere, der inhaltliche Anspruch, oft zugunsten der Werktreue vernachlässigt. 2) Comic-Adaptionen dienen der Entfaltung der spezifischen Möglichkeiten des Genres mehr als originäre Stoffe. Denn die Verwendung von Vorlagen aus anderen narrativen Künsten zwingt mehr als das eigens erarbeitete Szenario zur Auseinandersetzung mit dem, was Comic eigentlich ist. Das heißt, nicht nur die Umsetzung in Bildersequenzen stellt sich als Problem, sondern verstärkt noch die Frage, wie das sequentiell in Bildern erzählt werden kann, was im Ausgangsmaterial angelegt ist. Daraus ergibt sich erst die Möglichkeit der Fortschreibung – nicht als Veränderung, sondern als Erweiterung dessen, was den ästhetischen Gehalt der Vorlage ausmacht. Natürlich wird im Zuge einer Adaption im Regelfalle auch verkürzt oder gar gestrichen, aber das Geschick des Adaptors erweist sich dort, wo er gegen die landläufigen Klischees dieser Bezeichnung verstößt und sich einen selbständigen Umgang mit dem Vorbild erlaubt. Dann profitiert der resultierende Comic von den Ambitionen zweier Künstler, und er profitiert auch vom kritischen Auge zweier Rezipientengruppen, denn machen wir uns nichts vor: Die Comic-Adaption eines literarischen Textes wird Interessenten finden, die über das reine Comic-Publikum hinausgehen. Das ist die große Chance, aber natürlich auch das große Risiko der Adaption. Wenn es nicht gelingt, einen klassischen Leser vom Reiz dessen, was selbst auch eine Lektüre des von ihm geschätzten Buches ist, zu überzeugen, dann gibt es keinen Grund,
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sich gegebenenfalls auch dafür zu interessieren, was der Comic autark-ästhetisch zu leisten versteht. Die vor rund fünfzehn Jahren begonnene Adaption von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu durch den in Paris lebenden Zeichner Stéphane Heuet ist ein geeignetes Beispiel, um meine beiden Thesen zu illustrieren. Die mittlerweile fünf erschienenen Bände1 sind ein internationaler Erfolg, der mit Ausnahme der deutschen in sämtliche Weltsprachen übersetzt worden ist. Gelobt wird an Heuets Comic die Werktreue: also die Sorgfalt, mit der der 1957 geborene Zeichner sich der gewaltigen Textmasse der Recherche nähert und sie derart portioniert, dass aus zum Beispiel 375 Seiten der Pléiade-Ausgabe von Du côté de chez Swann,2 dem ersten Teil der Recherche, 162 Comic-Seiten werden. Das ist, möchte man meinen, doch gar kein schlechtes Verhältnis, aber in der deutschen Übersetzung der Frankfurter Ausgabe handelt es sich bei Unterwegs zu Swann3 bereits um mehr als 550 Textseiten, und niemand, der die Recherche gelesen hat, wird vergessen, was für eine Beschreibungsdichte sich in diesem Buch findet. Als ein Gesprächspartner zu Heuets Comics anmerkte, dass Proust doch noch über die Druckfahnen hinaus seinen Text immer mehr erweitert habe, während der Zeichner ihn notgedrungen verknappen müsse, kleidete er es in die Formulierung: »Le livre proliférait comme une vegetation. Un texte jamais achevé. Vous, c’est le contraire. Vous devez être bref. Et vous êtes incarcéré dans la cadre fixe de l’album.«4 Heuet sagte nichts zu diesem Bild vom in den Rahmen eines Albums eingekerkerten Adaptors, sondern antwortete lapidar: »Je dois faire de l’anti-Proust.«5 1
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Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du côté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey. Paris 1998; À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Volume I, Adaptation: Stanislas Brézet et Stéphane Heuet, dessin et couleurs: Stéphane Heuet. Paris 2000; À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Volume II, Adaptation: Stanislas Brézet et Stéphane Heuet, dessin et couleurs: Stéphane Heuet. Paris 2002; Un amour de Swann, Volume I, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet. Paris 2006; Un amour de Swann, Volume II, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet. Paris 2008; im Folgenden werden die Bände unter Heuets Namen verzeichnet. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu I, Édition publié sous la direction de Jean-Yves Tadié avec, pour ce volume, la collaboration de Florence Callu, Francine Goujon, Eugène Nicole, Pierre-Louis Rey, Brian Rogers et Jo Yashida. Paris 1987. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Unterwegs zu Swann, in: Ders., Werke. Frankfurter Ausgabe, Bd. II.1, hrsg. von Luzius Keller. Frankfurt am Main 1994. Gespräch von Gilles Lapouge mit Stéphane Heuet im Dossier de Presse zu À la recherche du temps perdu: Un amour de Swann, Vol. II, Paris 2008, unpag. Ebd.
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Das darf man natürlich nicht wörtlich nehmen, zumal Heuet im Verlauf des Gesprächs genau daraus seine Verpflichtung herleitete, eine »manische buchstäbliche Treue zum Text von Proust«6 zu wahren. Doch in der provokanten Formulierung des Anti-Proustischen hat er über den handwerklichen Aspekt hinaus eine Erkenntnis gewonnen, die an das zentrale Prinzip der Adaption rührt: die Arbeit gegen die Vorlage in der Arbeit mit der Vorlage. Erst wenn ein Comic-Autor bereit ist, als Adaptor auch zum Antagonisten des literarischen Autors zu werden, ist der Weg frei für eine herausfordernde und im Idealfall bereichernde Umsetzung des Originals in eine andere Erzählgattung. Der Roman als Comic ist kein Roman mehr – auch wenn man ihm den Stempel graphic novel verpassen würde –, sondern eben ein Comic. Er gehört zu und gehorcht einer ganz anderen Form, und der Reiz der Lektüre liegt nur bedingt darin, dass wir uns nun ein Bild machen können von Charles Swann und dem Baron de Charlus, von Odette de Crécy oder der Köchin Françoise – das konnten wir auch zuvor schon. Der Reiz besteht vielmehr darin, welche Ausdeutung Heuet oder, um kurz in den Bereich der Film-Adaptionen zu wechseln, Volker Schlöndorff, Chantal Akermann oder Raoul Ruiz dem Text von Proust in ihren Bildergeschichten gegeben haben. Der Comic hat es dabei leichter, weil seine Erzählweise dem Roman eher entspricht: Beide gehören demselben Medium an. Lektüre erlaubt individuelles Lesetempo, Unterbrechung, Wiederholung – alles das, was der Film gerade nicht gestattet. Umso mehr aber muss die Comic-Adaption eines Romans sich selbst rechtfertigen, und das Argument allein, man erschließe dem Ursprungstext oder zumindest seinem narrativen Gegenstand ein neues Publikum, ist nicht falsch, hat sich aber im speziellen Falle von Proust empirisch nicht bestätigt. Es sind eher die bereits erfahrenen Recherche-Leser, die Heuets Comics kaufen. Vor der Analyse von Heuets Adaption seien ein paar Vorbemerkungen zum Stand des Projekts gemacht: Vollständig als Comic erschienen ist bislang nur der zweite Band der Recherche, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, und zwar in zwei Bänden, die als zweiter und dritter der Comic-Serie 2000 und 2002 erschienen sind. Der erste widmete sich 1998 in dem danach nie wieder erreichten Umfang von 70 Seiten Combray, dem ersten Teil von Du côté de chez Swann, also tatsächlich auch dem Auftakt der Recherche. Wäre Heuet dem Verlauf des Romanzyklus gefolgt, hätte dann Un amour de Swann erscheinen müssen, der zweite Teil des ersten Bandes. Doch dieser gewiss meistgelesene Abschnitt der Recherche ist einer der dialoglastigsten, während Combray fast ausschließlich aus Beschreibungen besteht. Da Heuet sich verpflichtet fühlte, 6
»ma fidélité maniaque au texte, à la lettre, de Proust« (ebd.).
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wo immer es geht, Texte im originalen Wortlaut und Zusammenhang zu übernehmen, fühlte er sich der Reduktion der schnellen Wortwechsel aus den Salonszenen nicht gewachsen – zumal er vor seiner Adaption der Recherche noch nie einen Comic gezeichnet, geschweige denn geschrieben hatte. Also übersprang er Un amour de Swann (und den dritten Teil des ersten Bandes, Noms de pays: Le nom, gleich mit) und fuhr mit dem zweiten Band fort, den er tatsächlich in vierjähriger Arbeit bewältigte. Dabei bediente er sich der Hilfe eines Rechercheurs und Szenaristen namens Stanislas Brézet, dessen Mitwirkung es Heuet gestattete, sich mehr als beim Combray-Album auf die Sorgfalt der Zeichnungen zu konzentrieren. Die Fortschritte des autodidaktischen Künstlers, der zuvor allerdings jahrelang als Werbegraphiker gearbeitet hatte, waren schon im zweiten Album unübersehbar. So sehr der an Hergés ligne claire orientierte Stil von Combray in seiner abstrahierten Figurengestaltung vor minutiös gestalteten Hintergründen auch dem Lesevergnügen der Proustianer entgegengekommen war, weil jeder Leser ohnehin sein Bild der Protagonisten fest im Kopf hatte, das nun problemlos in die weitgehend leeren Gesichter von Heuets Figuren übertragen werden konnte, so wenig befriedigte das Resultat den Zeichner selbst. Er begann damit, die Charaktere stärker zu individualisieren, und ging dadurch bewusst das Risiko ein, die Kenner des Romans zu brüskieren. Doch die Reaktionen blieben euphorisch, weil Heuet zugleich eine Verschiebung des Text-Bild-Verhältnisses vornahm. Seine Recherche-Adaption dürfte immer noch einer der textreichsten Comics überhaupt sein, doch gegenüber Combray weisen die zwei Alben zu À l’ombre des jeunes filles en fleurs eine weitaus großzügigere Bildgestaltung auf – was ganz dem Inhalt des zweiten Teils der Recherche entspricht, in dem das Verhältnis des Ich-Erzählers zur Malerei eine zentrale Rolle spielt, verkörpert durch Elstir, eine der zahlreichen Künstlerpersönlichkeiten der Romanhandlung. Diese Konsequenz wurde Heuet hoch angerechnet. Er arbeitet mehr als die meisten Comic-Zeichner mit dem Computer – ein Erbe seiner Zeit als Werbegraphiker. Seine Skizzen werden eingescannt, so dass Hintergründe und einzelne Figuren als getrennte Dateien vorliegen, die dann zum Einzelbild komponiert werden: jeweils veränderlich in Position und Proportion. Allerdings steht vor jeder Zeichnung bereits der Text fest, wobei Heuet unterscheidet in Erzählerstimme und Dialoge. Erstere steht in gelben Textkästen und besteht aus wörtlich zitierten Passagen aus der Recherche. Die Dialoge dagegen können gleichermaßen buchstäblich übernommen sein, bisweilen aber transponieren sie im Roman indirekte Rede in die direkte des Comics oder müssen gar ganz erfunden werden, wobei Heuet auch dabei stets die Hinweise von Proust auf Äußerungen seiner Figuren beachtet. Es
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wird in seinem Comic nicht geredet, wenn der Autor selbst es nicht angesprochen hat. Die Überfülle an Dialogen, die Heuet zunächst abgehalten hatte, sich Un amour de Swann zu widmen, war nach dem Erfolg und den zahlreichen Auszeichnungen (darunter auch einem Preis der Societé des amis de Proust) kein Argument mehr. Zumal sich in den noch ausstehenden fünf weiteren Bänden – mit Ausnahme großer Teile des letzten, Le temps retrouvé – dasselbe Problem gestellt hätte. Heuet war sich seiner Sache so sicher, dass er auf die weitere Mitwirkung Stanislas Brézets verzichtete. Allerdings gab er sich selbst vier Jahre Zeit, um Un amour de Swann zu bewältigen, genauso viel Zeit also, wie er mit Hilfe Brézets für die gesamte Adaption des mehr als dreimal so langen zweiten Bandes der Recherche benötigt hatte. Und selbst das sollte nicht hinreichen, denn schon 2003, ein Jahr nach Beginn der Arbeit am vierten Album, verkündete Heuet, das er zwei Bände brauchen werden, um den zweiten Teil von Du côté de chez Swann zu bewältigen, zusammen also neunzig Comic-Seiten für die 190 Pléiade-Seiten des Textes. So dicht hatte er noch nie gearbeitet, und insgesamt benötigte er denn auch sechs Jahre für diesen Teil. Seit dem Erscheinen des insgesamt fünften Albums im Oktober 2008 hat sich Heuets ursprünglicher Plan, die gesamte Recherche als Comic umzusetzen, entscheidend verändert. Der Literaturwissenschaftler Achim Hölter vermutete bereits kurz danach, dass Heuet sich nunmehr daran geben werde, den Abschlussband des Zyklus, also Le temps retrouvé, zu adaptieren,7 und genau das bestätigte der Zeichner in einem Gespräch im Januar 2009.8 Die Aussicht, bei seinem bisherigen Rhythmus noch an die dreißig Jahre weiterzeichnen zu müssen, dürfte für einen mittlerweile Zweiundfünfzigjährigen nicht verlockend gewesen sein, und zudem entspricht der nun beabsichtigte Abschluss der ursprünglichen Intention Prousts, der bei Erscheinen des ersten Bands 1913 noch zwei weitere Fortsetzungen von À la recherche du temps perdu angekündigt hatte, nämlich just die bereits als Comic vorliegende À l’ombre des jeunes filles en fleurs und den von Beginn an als Finale konzipierten Band Le temps retrouvé. Allerdings hat Heuet den ersten Roman des Zyklus immer noch nicht vollständig adaptiert, es fehlt dessen schmaler dritter Teil Nom de pays: Le nom, der allerdings problemlos in einem Album zu bewältigen wäre, während es zweifelhaft erscheint, dass Heuet bei seinen nun entwickelten Ansprüchen an die eigene Genauigkeit mit zwei Bänden für den Abschlussroman hinkäme; er selbst rechnet derzeit mit drei Alben dafür, so dass wir beim bisherigen Rhythmus mindestens noch einmal acht Jahre Ar7 8
Mündliche Mitteilung von Achim Hölter, Anfang Januar 2009. Mündliche Mitteilung von Stéphane Heuet, Ende Januar 2009.
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beit erwarten dürfen. Somit würde am Schluss die Gesamtpublikationsdauer achtzehn Jahre betragen haben, deutlich mehr als Proust selbst für die Niederschrift der Recherche benötigte, die sich von etwa 1909 bis zu seinem Tod 1922 hinzog, allerdings dadurch auch vorzeitig beendet wurde. So viel zum Stand der Dinge. Nun zurück zu den Thesen. Die Fortschreibung des gezwungenermaßen Fragment gebliebenen Proust’schen Hauptwerks durch Heuet besteht einmal in dessen Straffung hin zur ursprünglichen Konzeption des Autors. Das scheint den Proust’schen Intentionen zu widersprechen, weil gerade er ja berüchtigt dafür war, bis über die Fahnen hinaus die einzelnen Bände der Recherche immer noch zu erweitern. Andererseits befand sich in seinem Nachlass eine gegenüber dem heute als kanonisch geltenden Textzustand drastisch gekürzte Version der zum Zeitpunkt von Prousts Tod noch nicht erschienenen Bände fünf und sechs, La Prisonnière und Albertine disparue. Weder ist der Status dieser Manuskriptfassung klar, noch ist dabei Prousts Neigung zu Modifikationen bis zur letzten Sekunde berücksichtigt, doch man kann Heuet nicht per se unterstellen, mit Kürzungen gegen die Absichten des Verfassers zu verstoßen. Seine Fortschreibung durch Auslassung ist ein Experiment, das vielmehr eine Ur-Recherche freizulegen geeignet ist, und dabei mag die zum Comic transformierte Version leichter zu akzeptieren sein als eine schlichte Reduktion des Romanzyklus auf die Bände eins, zwei und sieben. Doch das ist eine Metaüberlegung. Nun soll auf der Mikroebene anhand der Alben vier und fünf von Heuets Adaption sein Verfahren illustriert werden – und das darf wörtlich verstanden werden, weil dazu vor allem eine Doppelseite aus Album vier9 dienen wird, die in ihrer Konzentration auf ein entscheidendes formales Thema der ganzen Recherche im Allgemeinen und auf das zentrale ästhetische Thema von Un amour de Swann im Speziellen ideal dazu taugt, das zu leisten, was im Mittelalter »Illumination« genannt wurde: Erleuchtung eines Textes durch Bilder. Die erste dieser beiden gegenüber liegenden Seiten besteht strenggenommen aus zwei Bildern, dem schmalen Streifen oben links und dem großen Panorama über den Rest der Buchfläche hinweg, obwohl gleichsam als Fenster ins reale Geschehen sechs Detailansichten in die narrative Totale eingelassen sind, von denen fünf Swann allein zeigen, teilweise in extremen Nahansichten, während eines dieser Fenster den Beschluss der Szene bietet: den Aufbruch einer festlichen Gesellschaft. Um was handelt es sich konkret? Um eine Erinnerung Swanns, welche innerhalb der streng chronologisch erzählten Handlung von Un amour de 9
Heuet, Un amour de Swann, Vol. 1, S. 18–19.
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Swann, die allerdings ihrerseits schon eine Erinnerung des Ich-Erzählers an ihm berichtete Episoden aus der Zeit vor seiner Geburt darstellt, einen seltenen Rückgriff in die Vorvergangenheit auslöst. Das Prinzip der unbewussten Erinnerung, der mémoire involontaire, das in der Madeleine-Szene aus Combray eingeführt wurde, kommt hier, mitten im bewusst erinnerten Vorleben Swanns, einmal zur praktischen Ausführung, ausgelöst durch eine Melodie, das berühmte »kleine Thema« aus der Fis-Dur-Sonate für Geige und Klavier des Komponisten Vinteuil. Wie Elstir in À l’ombre des jeunes filles en fleurs die Malerei, vertritt diese Figur in Un amour de Swann die Musik, und dieser Teil der Recherche steht in ihrem ästhetischen Zeichen. Die Wahl der spektakulären Doppelseite durch Heuet, die in den vorausgegangenen drei Alben nur in der Madeleine-Szene eine zumindest angedeutete Vorläuferin hat, obwohl sie dort weitaus weniger konsequent umgesetzt wurde, ist also dem Inhalt des adaptierten Textes adäquat. Es ist die entscheidende Szene, die das ganze Programm der erinnerten Erschütterung von Un amour de Swann enthält. Es ist, wie überall in der Recherche, aber nirgendwo so explizit wie hier, ein synästhetisches Verfahren, das Proust bemüht, um seine Figuren sich erinnern zu lassen. Hat der Geschmack der Madeleine in Combray schon Bilder, Klänge, Gefühle und Düfte entstehen lassen, so wird die Musik Vinteuils vom ersten Moment ihres Erklingens an explizit als synästhetisches Empfinden geschildert: »Zunächst hatte ihn nur der materielle Reiz der von den Instrumenten entsandten Töne entzückt«,10 lesen wir im Textkasten des Doppelseitenbildes, doch dann fährt Proust in der Recherche fort, diese Töne zu beschreiben: »wie die malvenfarbene, vom Mondschein verzauberte und in eine weichere Tonart versetzte Erregung der See«11 Wir haben hier also bereits optische und taktile Wahrnehmungen, die wenig später durch olfaktorische ergänzt werden: »die Harmonie, die an sein Ohr drang und ihm die Seele auftat, so wie gewisse Rosendüfte in feuchter Abendluft die Eigenschaft haben, die Nasenflügel zu weiten«.12 Zu beachten ist, dass diese Passagen von Heuet nicht wörtlich zitiert, sondern bildlich transponiert werden. Wir sehen die Rosen, die gerochen werden sollen, haben das malvenfarben kolorierte Bild, spüren die Weichheit der Melodie im sanften Schwung der Notenlinie, die übrigens das kleine Thema zuerst gegen jede übliche Leserichtung oben rechts enthält, bevor es dann 10
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Ebd. (»D’abord, il n’avait goûté que la qualité matérielle des sons sécrétés par les instruments«; die Übersetzung folgt hier wie stets im Folgenden Bd. 1 der Frankfurter Ausgabe von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, S. 304). Ebd. Ebd.
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Doppelseite 18/19 aus Un amour de Swann.
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auf dieser Doppelseite noch zweimal wiederkehrt, jeweils in – bezeichnenderweise – etwas dunkleren Tönen festgehalten und damit herausgehoben. Die Notenlinien selbst entspringen dem Kopf der Geige, der links aus dem Bild herausragt, wie denn auch gegenüber rechts die Melodie das Bild graphisch wieder verlässt, nachdem sie ihre gezeichnete Durchführung erlebt hat. Und dabei umschmeichelt sie die fünf Gesichtsstudien von Swann, die nicht zufällig Augen, Ohren, Mund, Nase und Haut besonders hervorheben – als Rezipienten der Sinnesvielfalt, die Proust heraufbeschworen hat. Nun gibt es bei Proust just in dieser ersten Passage von vielen, die sich dem kleinen Thema widmen werden, eine seltsame Formulierung: Vielleicht war es, weil er von Musik nichts verstand, dass er einen so unklaren Eindruck haben konnte, einen jener Eindrücke jedoch, die vielleicht die einzigen rein musikalischen sind, da sie an keine Dimension gebunden, völlig ursprünglich und auf keine andere Kategorie von Sinneseindrücken zurückführbar sind.13
Wie das, nachdem doch gerade erst alle Sinne berührt worden sind durch den Eindruck? Doch im französischen Original steht als das Wort, das Luzius Keller in der Frankfurter Ausgabe mit »Sinneseindrücken« übersetzt, lediglich (wie auch schon vorher) »impressions«,14 was denn auch sowohl Eva RechelMertens als auch Michael Kleeberg jeweils mit bloßen »Eindrücken« übersetzt haben. Verloren geht im Deutschen dabei aber jeweils das »Druckbild«, was auf Französisch ebenfalls »impression« heißt, also die konkrete Benennung des Textes. Proust relativiert hier die Macht des eigenen Schreibens und Beschreibens gegenüber der beschworenen Allmacht Musik, und Heuet hat dieser Erkenntnis Ausdruckskraft dadurch verliehen, dass er sie nicht wörtlich zitiert, sondern eben nur ins Bild setzt: auch eine »impression« im drucktechnischen Sinne, deren Unzulänglichkeit bei der Schilderung des Zusammenspiels der Sinne dadurch deutlich wird, dass wir Gerüche, Gefühle und Klänge sehen sollen. Das ist noch dreister, als sie beschrieben zu bekommen, denn hier wird nicht der Intellekt, sondern ein einzelner Sinn angesprochen. Der Comic, der auf der Bildebene Prousts Prosa in diesem Fall unterlegen sein muss, macht jedoch eine Stärke daraus, indem er erfahrbar macht, was Proust umständlich beschreibt: das Unvermögen der Eindrücke in doppeldeutigem Verständnis. Gerade aus der Unvollkommenheit des sinnlichen Eindrucks gegenüber dem mechanischen aber zieht Proust eine intertextuelle Pointe, und Heuets Geschick besteht darin, dass er sie beibehält, obwohl er sie auf die Bildebene verlagert. Und wir verstehen sie implizit, also viel eher dem Konzept der unwillkürlichen Erinnerung entsprechend, in einer Form 13 14
Ebd. Proust, À la recherche du temps perdu, Bd. I, S. 206.
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des unwillkürlichen Verständnisses. Hätte Proust schreiben können, wie Heuet zeichnet, wäre er seinen Intentionen näher gekommen. Das meine ich, wenn ich davon rede, dass hier der Adaptor den Inspirator antagonistisch fortschreibt: Heuet schreibt tatsächlich Proust von sich selbst fort, indem er eine ihm gemäßere Lösung findet. Eine Seite weiter in der deutschen Ausgabe und unmittelbar nach dem letzten Zitat in der linken Bildhälfte folgt der für Heuet zentrale Satz dieser Passage und womöglich des ganzen Prozesses der Transformation synästhetischer Eindrücke in Comic-Form: Er [Swann, Anm. d. Verf.] hielt ihn [den Eindruck, Anm. d. Verf.] sich jetzt in seiner Dauer, seiner Symmetrie, gleichsam graphisch dargestellt, in seinem Ausdruckswert vor und hatte damit schon etwas an der Hand, was nicht mehr reine Musik war, sondern Zeichnung, Architektur, etwas Gedankliches, mit dessen Hilfe es möglich ist, sich an Musik zu erinnern.15
Das ist das ästhetische Programm der Recherche – Erinnerungshilfe, Suche nach der verlorenen Zeit oder hier besser: nach den verlorenen Eindrücken, die uns Zeit erfahrbar machen. Und bezeichnenderweise wählt Proust jene Elemente, die für den Comic konstitutiv sind: Zeichnung, Architektur als Prinzip der Seitengestaltung und das ominöse »etwas Gedankliches« (das im Französischen schlicht »pensée« heißt, also »Denken«), worunter wir guten Gewissens das Ausgedachte, also einen fiktionalen Text verstehen dürfen. Genau danach handelt Heuet auf der Doppelseite, die auf der Grundlage eines seitenarchitektonischen Entwurfs – deshalb habe ich eben bewusst auch von den kleinen Panels als »Fenstern« gesprochen – Zeichnung und Text zu jenem Hilfskonstrukt verschmilzt, »mit dessen Hilfe es möglich ist, sich an Musik zu erinnern« – wie es hier Charles Swann widerfährt. Nun könnte eine Detailanalyse der Textauswahl Heuets erfolgen, die ja gerade einmal sechs Sätze aus insgesamt zweieinhalb hier transponierten Romanseiten bietet. Es bleibt aber bei der bereits erwähnten Andeutung der bewusst ausgelassenen unmittelbaren Nachbarschaft dieser Zitate, in der sich die eigentlichen Schlüsselformulierungen finden, deren Gehalt hier auf die Zeichnung übertragen wird. Deshalb ist es reizvoller, sich die Gestaltung des Bildes genauer anzusehen, beginnend mit dem alles dominierenden Malven-Farbton, der bei Proust leitmotivisch mit der Figur Odette de Crécys, Swanns großer Liebe, verbunden ist. Doch man sieht auch die erleuchteten Fenster, die nicht nur in Un amour de Swann eine wichtige Rolle spielen, sondern von Heuet durch das ganze Comic-Projekt der Recherche hindurch zu seinem optischen Leitmotiv entwickelt wurden. Unten rechts am Seeufer 15
Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, S. 305.
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ist eine grün leuchtende Laterne zu erkennen – Abbild des von Shakespeare in die Literatur eingeführten Bildes der grünäugigen Eifersucht. Der Vollmond dient hier nicht nur als romantisches Versatzstück, sondern auch als Reminiszenz an den zu Swanns Zeiten blühenden Japonismus, wie die ganze Farb- und Formgebung der Heuet’schen Bildfindung viel mehr Hokusai, Yoshitoshi und Hasui verdankt als den Impressionisten. Auch hier also eine konsequente Fortschreibung der ästhetischen Rahmenbedingungen der Recherche aus einem textimmanenten Verständnis des Stoffes. Schließlich die Frage der Architektur. Es ist kein Zufall, dass Swann an späterer Stelle berichtet, zehn Jahre lang als Architekturstudent dilettiert zu haben: Die Faszination für Bauten war seit seiner Ruskin-Lektüre für Proust bestimmend, und doch gibt es keine spezielle Architektenfigur in der Recherche, denn deren Funktion erfüllen der Ich-Erzähler und dessen erklärtes Alter Ego Swann. Heuet kann als Comic-Zeichner gar nicht anders, als ihnen nachzueifern, die im Text bloß schwärmerische Idealisierung von Proportion und Dauer praktisch zu machen, weil eine Comic-Seite genau danach verlangt. Auch deshalb fällt es Comics so viel leichter als Filmen, der Recherche gerecht zu werden: So zahlreich auch die Reminiszenzen an kinematographische Vorformen in Prousts Roman sind, so wenig identifiziert sich doch der Erzähler mit ihnen. Im Gegenteil, sie sind Quellen der Furcht. Dagegen ist die Architektur eine Zuflucht, beginnend mit den Gebäuden in Combray und schließend mit Venedig und dem Landsitz, auf den der früh gealterte Erzähler sich zurückzieht. In der symmetrischen Gestaltung der Doppelseite – und ich erinnere daran, dass auch Symmetrie eine Eigenschaft des unwillkürlich-unvergesslichen Eindrucks war, den Vinteuils kleines Thema hinterlässt – ist das Gefühl von Ruhe zu finden, das in den wichtigsten Passagen der Recherche so dominant ist, und seine Herkunft findet sich in Prousts Faszination für Architektur. Im zweiten Album zu Un amour de Swann bietet Heuet anlässlich der letzten großen Passage, die Vinteuils Sonate gewidmet ist, noch einmal eine Doppelseite, aber sie ist von vollkommen anderer Gestalt.16 Vorbereitet wird sie schon auf der Seite zuvor, wo unten, wiederum über den Randlinienspiegel ausgreifend das jetzt schon bekannte kleine Thema als Notenlinie den gelben Textblock fortsetzt: »Plötzlich aber war es, als sei sie eingetreten.«17 Gemeint ist Odette, aber sie wird wieder personifiziert durch die Melodie, und deren Klänge versetzen Swann in höchste Verwirrung, denn zu diesem 16 17
Heuet, Un amour de Swann, Vol. II, S. 36–37. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, S. 499. Im Comic: S. 35 (»Mais tout à coup ce fut comme si elle était entrée.«).
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Zeitpunkt, auf der großen Soirée der Gräfin von Saint-Euverte, ist der Verlust von Odettes Liebe schon nahe. Wieder dienen die Notenlinien als verbindendes Element auf der Doppelseite über den Falz des Albums hinweg, doch statt des großen Arrangements aus Band 1 ist hier eine Abfolge geradezu winziger Panels zu finden, die aber genauso den synästhetischen Assoziationsfluss beim Hören bebildert, was sich schon darin zeigt, dass das frühere Doppelseitenbild hier verkleinert noch einmal eingesetzt wird, als Illustration zu dem lapidaren Satz: »Il revit tout« – Alles sah er wieder. Nur dass nun nicht nur die Ausgangsstimmung durch die duftreiche Mondnacht an einem Seeufer visualisiert wird, sondern auch die seitdem angesammelten Erinnerungsbruchstücke Swanns an sein Leben mit Odette. Eine interessante Fortschreibung Prousts können wir unten auf der linken Seite beobachten. Den Satz mit dem Wortlaut Zum ersten Mal dachte Swann mit Mitleid und Zärtlichkeit an Vinteuil, jenen unbekannten, erhabenen Bruder im Leid, der ebenfalls so großen Schmerz hatte erfahren müssen; wie mochte sein Leben gewesen sein? Aus welchen Leidenstiefen hatte er die Gotteskraft geschöpft,18
unterbricht Heuet hier, um ein visuelles Zitat einzufügen, Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer, welchen der Zeichner als Vorbild für die Gestaltung der Figur Vinteuils nimmt, den Swann als Klavierlehrer seiner Großtanten zwar kennt, den er aber nicht erkennen will, um sein Bild des Genies nicht revidieren zu müssen – was Heuet hier fulminant durch das verschattet-leere Gesicht des Komponisten illustriert. Erst dann führt er Prousts Satz zu Ende mit der näheren Bestimmung der angesprochenen »Gotteskraft«: »jenes grenzenlose Schöpfertum«19. So hat Heuet das Geniebild Prousts nicht nur mit dem Werk eines als lange verkanntes Genie einschlägigen Künstlers bebildert; er bringt damit auch einen optischen Verweis auf die romantische Struktur der Sonate, auf den wiederholten Vergleich mit Melodien deutscher Provenienz und vor allem auf die olympische Stimmung des Textes mit seinem Göttervergleich. Was der Comic hier eröffnet, ist ein Assoziationsraum, wie Proust ihn bisweilen gleichermaßen mit seinen Erwähnungen von Gemälden wie etwa den Giotto-Fresken aus Padua oder den Vermeers in Den Haag, Braunschweig und Dresden schafft. Nur dass hier tatsächlich das Bild gezeigt werden kann, eine Ikone der Kunstgeschichte, ohne dass Heuet damit Prousts Vorlage untreu werden müsste, die Friedrich, dessen Wiederentdeckung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch jung war, im gesamten Romanzyklus nicht erwähnt. 18 19
Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, S. 504. Ebd.
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Doppelseite 36/37 aus Un amour de Swann.
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Diese Doppelseite umfasst gegenüber der eben gezeigten, die kaum drei Textseiten abdeckte, deren zwölf. Es ist die längste Auseinandersetzung mit Vinteuils Sonate, eine Art Summa der ästhetischen Betrachtung und der Wiedererweckung der Erinnerung durch sinnliche Reize. Es spricht für das Geschick der Textreduktion Heuets, dass er diese Masse wieder fast ausschließlich durch Bilder zu bändigen versteht und doch noch Platz für Prousts ironisches Finale hat, in dem eine Gräfin, die nur hier in der ganzen Recherche einen Auftritt hat, zu Swann gewendet ausruft: »Das ist ja fabelhaft, ich habe niemals etwas so Starkes erlebt … nie etwas so Starkes … seit dem Tischerücken damals!«20 Damit wird die ästhetische Leistungskraft des Komponisten aufs Schönste profaniert, was Swann später in Erinnerung an diese Ignoranz, die keine Maßstäbe hat außer der eigenen Dummheit, auf Odette übertragen wird. Unmittelbar danach folgt der entscheidende inhaltliche Satz von Un amour de Swann: »Von diesem Abend an begriff Swann, daß Odettes Gefühle für ihn nicht wiederkehren.«21 Und diesen Satz legt Stéphane Heuet seiner Figur des Swann bereits in die staunenden Züge des letzten Bildes der Doppelseite, ehe er ihn dann zu Beginn der folgenden Seite aufschreibt. Die Schilderung dieses verdutzten Swann aber gibt es bei Proust nicht. So bietet Heuets Comic also ein anderes Abbildungsideal als der klassische Topos von Naturalismus und Mimesis, wie Plinius ihn für den Fall des Zeuxis überliefert. Das Bild des griechischen Künstlers, der eine Weintraube so realistisch zu malen verstand, dass die Vögel danach pickten, wird in der Recherche unmittelbar vor der ersten Schilderung von Vinteuils Sonate durch Madame Verdurin, die blasierte Gastgeberin der meisten Salons in Un amour de Swann, eingeführt, die ihre Sofabordüren mit den Worten preist: »Sehen Sie sich nur die winzige Rebe auf dem roten Grund von ›Der Bär und die Trauben‹ an. Das ist noch gezeichnet, was? Sieht die kleine Traube nicht zum Anbeißen aus?«22 Das ist das banale Verständnis von Kunst, die aus bloß perfekter Nachahmung besteht. Zeuxis wurde im Wettstreit um die beste Malerei besiegt von Parrhasios, der gegen die Trauben des Konkurrenten ein Bild setzte, das von einem Schleier bedeckt schien. Als Zeuxis ihn beiseite schieben wollte, um das Motiv dahinter besser zu sehen, musste er feststellen, dass Parrhasios den Schleier gemalt hatte. Zur Perfektion der Adaption gehört eben auch die Phantasie, das Vorwegnehmen der Erwartungen der Kenner des Urbilds. Hierin liegt Stéphane Heuets große Stärke, die ihn gerade in den Augen von Proustianern zum idealen Interpreten und Fortschreiber der 20 21 22
Ebd., S. 510. Ebd., S. 511. Ebd., S. 302.
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Recherche gemacht hat. Und in den Augen eines Comic-Forschers zu einem der großen Experimentatoren mit den Möglichkeiten, die der Comic in seiner spezifischen Kombination der ästhetischen Errungenschaften von Text, Bild und Architektur zu bieten hat.
Literatur Proust, Marcel, À la recherche du temps perdu I, Édition publié sous la direction de JeanYves Tadié avec, pour ce volume, la collaboration de Florence Callu, Francine Goujon, Eugène Nicole, Pierre-Louis Rey, Brian Rogers et Jo Yashida. Paris 1987. Proust, Marcel, À la recherche du temps perdu: Du côté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey. Paris 1998. Proust, Marcel, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Volume I, Adaptation: Stanislas Brézet et Stéphane Heuet, dessin et couleurs: Stéphane Heuet. Paris 2000. Proust, Marcel, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Volume II, Adaptation: Stanislas Brézet et Stéphane Heuet, dessin et couleurs: Stéphane Heuet. Paris 2002. Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Unterwegs zu Swann, in: Ders., Werke. Frankfurter Ausgabe, Bd. II.1, hrsg. von Luzius Keller. Frankfurt am Main 1994. Proust, Marcel, Un amour de Swann, Volume I, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet. Paris 2006. Proust, Marcel, Un amour de Swann, Volume II, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet. Paris 2008.
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Sfars Le petit prince als kreative Literaturadaptation
Mit großem medialem Aufwand wurde 2008 die Comic-Adaptation Joann Sfars von Saint-Exupérys Jugendbuch Le petit prince (1943) lanciert. Diese bande dessinée erreichte prompt einen Platz unter den dreißig bestverkauften französischen Titeln dieser Gattung im Jahr 2008.1 Das Werk Saint-Exupérys, ein Klassiker der französischen Jugendliteratur, wird bei dieser Adaptation deutlichen strukturellen und inhaltlichen Veränderungen unterworfen, die einerseits durch den Medienwechsel bedingt sind, andererseits auch durch konzeptionelle Entscheidungen des Autors. Es sollen im Folgenden die auffälligen Veränderungen untersucht werden, um die dieser Adaptation zugrundeliegende ästhetische Konzeption des Autors genauer in den Blick zu bringen. Die Adaptation des Le petit prince zu der gleichnamigen bande dessinée von Joann Sfar (2008) ist insofern ein interessanter Fall, als schon das Ausgangswerk illustriert ist und sich daher neben Veränderungen des Texts, die üblicherweise bei Comic-Adaptationen anfallen, Bezugnahmen auf und Modifikationen des bildlichen Materials beobachten lassen, so dass man von einer doppelten Transformation – des Texts und der Bilder – sprechen kann. Vor der detaillierten Analyse sollen zunächst der Inhalt und die Erzählstruktur des Ausgangstexts von Saint-Exupéry in Erinnerung gerufen werden. Da mit der Umwandlung in den Comic grundlegende Veränderungen der Erzählperspektive einhergehen, ist es sinnvoll, auch die Erzählkonfiguration des Originaltexts darzustellen. In einem zweiten Schritt werden die Veränderungen analysiert, die Sfar an Text und Bildern vornimmt, insbesondere hinsichtlich der Erzählsituation, des dargestellten Inhalts und der hand1
Bei diesem Erfolg spielt neben der Textqualität und der Bekanntheit des Autors sicherlich auch das Marketing eine wichtige Rolle: Sfars bande dessinée Le petit prince wurde in Auszügen in der TV-Zeitschrift Télérama in acht aufeinanderfolgenden Heften zwischen Juni und August 2008 vorabgedruckt. Das Verlagshaus Gallimard publizierte den Band in der Reihe Fétiche und setzte im Jahr 2008 110 000 Exemplare ab. In Deutschland ist der Band im September 2009 in der deutschen Übersetzung bei Carlsen erschienen. Im Folgenden wird dieser Band mit dem Namen seines Autors und der Seitenzahl zitiert. Bei Zitaten aus dem Text SaintExupérys werden die Kapitel genannt.
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lungstragenden Figuren. Schließlich ist zu fragen, inwieweit diese Veränderungen dem Medienwechsel oder den Intentionen des Autors zugeschrieben werden können.
Saint-Exupérys Le petit prince (1943) Der Kleine Prinz ist eine Erzählung, in der ein anonymer Ich-Erzähler Rückschau hält auf die sechs Jahre zurückliegende Begegnung mit einem Knaben, die er als einschneidendes Ereignis seines Lebens wertet, weil er durch diese Begegnung zu neuem Lebensmut und einer veränderten Lebenseinstellung gefunden hat. Der Ich-Erzähler berichtet von einem Aufenthalt in der Sahara, zu dem er sich aufgrund einer Flugzeugpanne genötigt sah. Als er sich daranmacht, das Flugzeug zu reparieren, trifft er überraschend auf den Knaben, der ihm von seinem Leben auf einem fernen Planeten und seiner Reise durch den Kosmos zur Erde erzählt. Das Erscheinungsbild des Knaben sowie die Tatsache, dass dieser sich als Herrscher über einen kleinen Planeten vorstellt, bringen den Ich-Erzähler auf den Gedanken, dass er einen Prinzen vor sich hat. Obwohl der Prinz wortkarg ist, erfährt der Pilot nach und nach von dessen Reiseerlebnissen. Anlass dieser Sternreise sei der Kummer über das von Missverständnissen geprägte Verhältnis zu einer Blume gewesen und der Wunsch, Abstand zu gewinnen (Kap. VIII). Sobald er sich auf der Reise befindet, definiert der Prinz jedoch das Ziel der Reise anders: Er wolle etwas herumkommen und sich bilden (Kap. X). Aus allwissender Perspektive fasst der Erzähler die Reiseerlebnisse des Prinzen zusammen und gibt dessen Gespräche mit den Figuren, denen er begegnet, in szenischer Gestaltung wieder: Auf den Planeten, die der Prinz auf seiner Reise besucht, trifft er auf menschenähnliche Wesen, die jeweils auf eine eng umgrenzte Rolle festgelegt sind. Was diese Figuren subjektiv auszufüllen scheint, ist für einen Beobachter von außen jedoch als ein inadäquates Verhalten erkennbar. Unter anderem begegnet er einem einsamen König, der meint, über das Universum zu herrschen, der aber keine Untertanen hat. Er begegnet einem eitlen Menschen, der die Besucher seines Planeten nur als Wesen wahrnimmt, die ihn zu bewundern haben, einem Säufer, der trinkt, um die Scham zu vergessen, die er über sein Säuferdasein empfindet, einem Geschäftsmann, der die Sterne zählt, weil er sich vorstellt, sie gehörten ihm, einem Gaslaternenmann, der aufgrund der schnellen Rotation seines Planeten die Gaslaterne im Minutentakt entzündet und wieder löscht, sowie einem Kartographen, der die Welt nur auf der Basis von Berichten kar-
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tiert, jedoch nie aufbricht, um sich von der Richtigkeit der vernommenen Berichte zu überzeugen. Jede dieser Begegnungen lässt den Prinzen deutlich verschiedene Formen von Inadäquatheit erstarrter und sinnloser Rollenmuster erkennen, die von perspektivlosen, vereinsamten und entfremdeten Menschen aufrechterhalten werden. Schließlich gelangt der Prinz auf die Erde (Kap. XVI), wo er versucht, mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Er trifft zunächst jedoch nur auf einen Kaktus mit sehr beschränktem Horizont, kommt in einen Rosengarten und begegnet einem Fuchs, mit dem er sich anfreundet und der ihm das Geheimnis der Entstehung von sinnvollen Bindungen zwischen Wesen verrät, die sich ansonsten feindlich oder indifferent gegenüberstehen würden: Genau dies sei der tiefere Sinn des Wortes »zähmen«. Er trifft bei seiner Erkundung der Erde einen Weichensteller, der ihm erklärt, dass die Menschen in Schnellzügen in verschiedenen Richtungen, letztlich aber ziellos unterwegs seien, und einen Händler, der sich rühmt, einen Weg ersonnen zu haben, den Zeitverlust zu vermeiden, der mit der Aufnahme von Flüssigkeit verbunden sei (Kap. XXIII). Die auf der Erde gesammelten Erfahrungen bestätigen das offenbar universelle Entfremdungssyndrom. Über dem Erzählen ist die Zeit verflogen, und am achten Tag geht das Trinkwasser zur Neige. »Nous en étions au huitième jour de ma panne dans le désert, et j’avais écouté l’histoire du marchand en buvant la dernière goutte de ma provision d’eau.« (Kap. XXIV) Als sie auf einer Nachtwanderung auf der Suche nach Wasser einen Brunnen finden, erkennt der Pilot, dass es sich um ein ganz besonderes Wasser handelt, das nicht Lebensmittel ist, sondern ein Geschenk für die Seele. »Cette eau était bien autre chose qu’un aliment. Elle était née de la marche sous les étoiles, du chant de la poulie, de l’effort de mes bras. Elle était bonne pour le cœur, comme un cadeau.« (Kap. XXV) Er erkennt, dass es sich um eine initiatorische Wanderung handelt, die ihm Einsichten in seine Existenz ermöglicht. So gewinnt er die Kraft, am kommenden Tag sein Flugzeug zu reparieren und Abschied zu nehmen von dem kleinen Prinzen. Dieser überwindet die Angst vor dem Tod, den er auf sich nehmen muss, um vom Gewicht seines sterblichen Körpers befreit die Rückreise auf seinen Planeten antreten zu können. Kurz vor dem Aufbruch zu seiner Rückreise rekapituliert der Prinz die wesentlichen Einsichten, zu denen er während seiner Reise gelangt ist. Es ist die grundlegende Einstellung, die hilft, die Welt richtig zu sehen: »Mais les yeux sont aveugles. Il faut chercher avec le cœur.« (Kap. XXV) Zwar teilen der Pilot und der Prinz die insgesamt desillusionierte Analyse der menschlichen Verhältnisse, sie finden aber einen Ausweg aus der Resigna-
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tion darin, dass sie mit dem Herzen das Leben ganz neu betrachten. Die Erfahrung, dass auf dieser Basis Beziehungen aufgebaut werden und Bindungen entstehen können, verdankt der Prinz der Begegnung mit dem Fuchs und dem Piloten. Nun kann er gesättigt von Lebenserfahrung auf seinen Asteroiden zurückkehren und dort versuchen, die Beziehung zur Rose neu aufzunehmen. Die Abenteuer des kleinen Prinzen werden als Erzählung in einer Erzählung präsentiert. Es ist entscheidend für die narrative Konstellation, dass der Ich-Erzähler die Begegnung mit dem Prinzen aus einem zeitlichen Abstand von sechs Jahren im Rückblick darstellt und durch Überlegungen zum eigenen Leben rahmt. Die Begebenheit ist damit eingebettet in eine retrospektive Betrachtung des Lebens, das durch die Begegnung mit dem Prinzen eine entscheidende Wendung genommen hat und das seither von einem höheren Verständnis für die anderen geprägt ist. Das Leben vor dieser Begegnung fasst der Ich-Erzähler hingegen als eines zusammen, das durch nüchterne Entscheidungen und die Erfahrung von Isolation geprägt war: »J’ai ainsi vécu seul, sans personne avec qui parler véritablement, jusqu’à une panne dans le désert du Sahara, il y a six ans.« (Kap. II) Die Begegnung mit dem kleinen Prinzen wird für ihn zu einem Befreiungserlebnis, denn zu ihm kann er eine außergewöhnliche Beziehung aufbauen. Mit ihm führt der Pilot nun das lang ersehnte Gespräch über die wesentlichen Dinge. Die im Rückblick erzählte Handlung gibt wesentlich dieses Gespräch wieder, das sich über mehrere Tage erstreckt und durch das er zu Einsichten über seinen bisherigen Lebensweg kommt. Die frühe Hinwendung zu sogenannten »sinnvollen« Beschäftigungen hat ihn zur Abkehr von künstlerischer Betätigung gebracht, zu der er durch den Prinzen wieder Zugang findet. Denn dieser bittet ihn inständig, ihm Dinge zu malen, die er sich wünscht. Im Rückblick stellt der Ich-Erzähler fest, dass sich seine Haltung zur Welt durch die Begegnung in der Wüste völlig verändert hat, denn nun weiß er, dass irgendwo im Sternenhimmel dieses Wesen existiert, mit dem er sich verbunden fühlt: »C’est là un bien grand mystère. Pour vous qui aimez aussi le petit prince, comme pour moi, rien de l’univers n’est semblable si quelque part, on ne sait où, un mouton que nous ne connaissons pas a, oui ou non, mangé une rose.« (Kap. XXVII) Die Sorge um ein anderes Wesen hat den Piloten aus seiner Isolation befreit und ihn menschlich reifen lassen. Im Kern erzählt das Jugendbuch Saint-Exupérys die Geschichte dieser Reifung.
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In Saint-Exupérys Text lassen sich zwei dominierende Erzählmodi unterscheiden, die dem Text sein narratives Relief geben. Um die zentrale Erzählung der Erlebnisse des kleinen Prinzen herum sind einleitende und kommentierende Texte gruppiert, die einen Erzählrahmen bilden. Bis einschließlich Anfang des Kapitels VIII stellt der rückblickende IchErzähler im Vergangenheitstempus sein Leben als Pilot vor und schildert die Begegnung mit dem kleinen Prinzen.2 Von Kapitel VIII bis einschließlich Kapitel XXIII werden das Leben und das Reiseabenteuer des kleinen Prinzen erzählt. Hier dominiert ein unpersönlicher auktorialer Erzählmodus, der die Erlebnisse des Prinzen in dialogreicher szenischer Gestaltung im Vergangenheitstempus präsentiert. In diesem Abschnitt meldet sich allenfalls punktuell der Ich-Erzähler mit Vermutungen (Kap. IX) oder kürzeren reflexiven Passagen zu Wort (wie etwa in Kap. XIV). Die Kapitel XXIV bis XXVI formen einen Abschnitt, der wie der erste eine Ich-Erzählweise im Vergangenheitstempus zeigt. Das letzte Kapitel (XXVII), in dem sich der Ich-Erzähler über die Erzählgegenwart sechs Jahre nach der Begegnung in der Wüste äußert, ist im Präsens gehalten. Die Abschnitte eins und drei, die die Vergangenheit des Piloten und die zentrale Begebenheit aus der Sicht des Ich-Erzählers im Vergangenheitstempus erzählen, legen sich als Rahmen um den zweiten Abschnitt, der die Reiseerfahrungen des kleinen Prinzen durch eine weitgehend neutrale Erzählinstanz wiedergibt. Der vierte Abschnitt (Kap. XXVII) bildet eine Art Coda, in der der Ich-Erzähler in der Erzählgegenwart über sein Erlebnis reflektiert und sich mit einigen Betrachtungen direkt an seine Leser wendet. Diese Coda bildet mit der dem Text vorangestellten Widmung, der eine kurze Erläuterung beigefügt ist, einen weiteren Erzählrahmen, der sich durch das Erzähltempus Präsens und die direkte Leseransprache auszeichnet. Im Text von Saint-Exupéry ergibt sich eine deutliche Zweiteilung der Erzählweise, die entweder von einem Ich-Erzähler oder aber von einem auktorialen Erzähler dominiert wird. Der Eindruck des Auktorialen beruht darauf, dass die erzählte Kosmosreise einer anderen Diegese angehört als derjenigen, in der der Erzähler sein eigenes Leben situiert. Die auktoriale Konfiguration kann somit als eine heterodiegetische Teilfunktion der homodiegetischen Erzählinstanz interpretiert werden. Der kleine Prinz wird als agierende Figur dargestellt, die in den zahlreichen Dialogen das Wort ergreift, obwohl man erfährt, dass sie am liebsten schweigt oder hartnäckig Fragen stellt. Das Erzählen bleibt jedoch die Aufgabe des Erzählers, selbst in Abschnitten, in denen dieser die Erlebnisse des Prinzen wiedergibt, denen er selbst nicht bei2
Das Kapitel VI, das in Du-Erzählweise gestaltet ist, sticht dabei heraus.
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gewohnt haben kann. Tritt der Prinz damit als Erzähler bei Saint-Exupéry nicht in Erscheinung, so ist der Ich-Erzähler eher in seiner Rolle einer reflektierenden Instanz präsent denn als eine profilierte handelnde Figur. Bei Saint-Exupéry erfährt man wenig davon, womit die beiden Protagonisten in der Wüste ihre Zeit verbringen, außer dass der Pilot sein Flugzeug repariert, einige Zeichnungen anfertigt und herauszubekommen versucht, was es mit diesem jungen Mann auf sich hat, dem er dort begegnet ist. Über das Verhältnis zwischen den Figuren erfährt man, dass sich eine emotionale Bindung entwickelt.
Illustrationen Der Text Saint-Exupérys ist in der Druckfassung auf 40 Seiten illustriert. Die Illustrationen treten zumeist am Rande des Texts auf und lassen sich drei unterschiedlichen Sphären zuordnen: Sie geben zum einen wieder, was der Pilot in der Notsituation wahrnimmt: die Landschaft der Wüste, den Knaben, der ihm Gesellschaft leistet. Es gibt daneben Abbildungen, die die Zeichnungen wiedergeben, die der Pilot als Kind angefertigt hat – etwa von der Schlange, die einen Elefanten verschluckt –, und solche, die er auf Verlangen des Prinzen herstellt: einige Schafe und die Kiste mit Luftlöchern. Schließlich gibt es Abbildungen, die sich auf den Planeten und die Reise des Prinzen beziehen. Diese Bilder zeigen den von dem kleinen Prinzen bewohnten Planeten, die Rose, die verschiedenen Figuren, denen der Prinz auf seiner Weltraumreise begegnet. Darunter geben einige Bilder nicht die Erfahrungswelt des Prinzen wieder, sondern malen mögliche Entwicklungen aus, wie etwa, was passieren würde, wenn man die Baobab-Bäume nicht frühzeitig bekämpfte.
Sfars Neugestaltung des Petit prince Wenn Sfar bei seiner Adaptation in Hinblick auf die Abfolge von Handlungsteilen dem Original recht nah bleibt, so ergeben sich doch teils erhebliche Abweichungen von dem Ausgangstext, die teils dem Medienwechsel geschuldet sind, teils aber einer von ihm vorgenommenen Neukonzeption des Stoffes. Sfars Werk unterscheidet sich schon in der äußeren Form deutlich von Saint-Exupérys schmalem Buch. Le petit prince von Sfar ist eine bande dessinée im Albumformat DIN-A4, dessen Umfang mit 111 Bildseiten beim Doppelten eines normalen Comic-Albums liegt. Jede Seite ist durchgehend in sechs
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Abb. 1: Le petit prince von Sfar, Titelbild
gleich große Bilder eingeteilt, so dass 666 Bilder für die Geschichte zur Verfügung stehen.3 Mit der hohen Seitenzahl und der deutlich reduzierten Zahl von Bildern pro Seite (und auch in preislicher Hinsicht) setzt Sfar sein Werk von herkömmlichen Comic-Alben ab und reiht es in die Gattung ein, die zur Zeit unter dem Schlagwort »Roman graphique« oder »Graphic Novel« vermarktet wird. Die auffälligste Veränderung des Texts ist die Reduktion seines Umfangs. Der Text bei Sfar ist auf ca. zwei Fünftel der Originallänge gekürzt und umfasst nun ca. 6000 Wörter gegenüber ca. 15 000 Wörtern des Originals. Diese Reduktion des schriftlichen Texts erklärt sich durch zwei Faktoren: Zum einen führt die Umformung in ein Bild-Text-Medium dazu, dass nicht mehr alles verbal erzählt werden muss. Zum anderen wird der Text schlicht gekürzt. 3
Da eine Planche wiederholt wird (Sfar, Petit prince, S. 5 = S. 108), ergibt sich die Gesamtzahl von 660 unterschiedlichen Bildern, zu der noch das Titelbild als die größte Abbildung dieses Bandes hinzukommt. Im Vergleich zu herkömmlichen Comic-Alben, die zwischen 450 (Asterix oder Lucky Luke) und 650 Bilder (wie bei Hergé), enthalten, liegt Sfar vom Umfang her im oberen Bereich.
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Verlagerung von Informationen in die Bilder Die Umsetzung eines narrativen Texts in eine hohe Zahl von Bildern erlaubt es, bestimmte Informationen, z. B. über die Interaktion zwischen den Protagonisten, durch ihre Positionierung im Raum und durch Bildsequenzen zu verdeutlichen. Dabei diffundieren nicht nur räumliche Informationen (Landschaft, Tageszeit, Klima, …) vom geschriebenen Text in die Bilder, sondern auch alles, was Gestik, Mimik und Körperhaltung der Protagonisten an emotionalem Ausdruck transportieren können.4 Das Bild kann dadurch, dass die Bilderfolge das Nacheinander der geschilderten Ereignisse abbildet, narrative Funktionen übernehmen. Auch die Bildsequenz übernimmt eine narrative Funktion durch die Klärung der Abfolge. Auffällig sind bei Sfar die häufigen ›Zooms‹ auf die Gesichter und von den Gesichtern in die Totale sowie die Tendenz, in Bildsequenzen ein Bild durch eine besondere Farbgebung zu akzentuieren.5 Dieses Hinüberdiffundieren von Informationen in die Bilder führt zu einer fundamental unterschiedlichen Funktion der Bilder in Saint-Exupérys Original und in Sfars Adaptation, auf die noch zurückzukommen ist. Doch zunächst sind die Kürzungen des Texts zu berücksichtigen. Die Reduktion des Textumfangs führt zu zahlreichen Veränderungen der Textgestalt: Viele der reflexiven Passagen, die bei Saint-Exupéry dem rückblickenden Erzähler zugeordnet werden – so etwa die Widmung – fallen weg. Kapitel werden gekürzt, etwa die Episode mit dem Forscher, der den durchs Trinken verursachten Zeitverlust abschaffen möchte, das Kapitel XXV – die Weichenstellerepisode – wird ganz ausgelassen. Neben den zahlreichen Auslassungen kommt es zu Umstellungen von Sätzen im verbleibenden Text. Dieser wird von Sfar anders portioniert und auf die Seiten verteilt als der Originaltext. Saint-Exupérys Kapitelangaben verschwinden in der BD, die Kapitelunterteilung wird allerdings dadurch aufrechterhalten, dass in den meisten Fällen (bei 24 von 27 Kapiteln) der Beginn einer Bildseite mit einem vormaligen Kapitelanfang koinzidiert. Nur im Falle der Kapitel XXVIII, XXI und XXV setzt die Handlung mitten auf einer Seite ein. Die übrigen 77 Seiten setzen an beliebiger Stelle des Texts ein – sogar mitten in Repliken.6 4
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Als Beispiele können das stolze, selbstzentrierte Verhalten der Rose und das beunruhigt abwartende Verhalten des Prinzen dienen (Sfar, Petit prince, S. 39). Die Bildgeschichten von Sfar entstehen häufig arbeitsteilig: Der Band wurde von Brigitte Findakly, der Ehefrau von Lewis Trondheim, koloriert, die auch bei Le chat du rabbin (2002ff.), dt. Die Katze des Rabbiners, in dieser Funktion mitgearbeitet hat. Die effektvolle Farbgebung müsste gesondert einmal untersucht werden. So etwa Sfar, Petit prince, S. 79–80.
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Die Umformung des Originaltexts in Sprechblasentext führt zu zahlreichen Modifikationen, die zum einen mit dem nur begrenzt zur Verfügung stehenden Platz in den Sprechblasen und zum anderen mit der direkten Rede zusammenhängen, die nun einer Figur zugeordnet ist. Je nach Umfang des Ausgangstexts wird der Text in der Regel reduziert, wenn er in Dialog umgesetzt wird, der in Sprechblasen auf dem Bild Platz finden soll. Eine solche Umsetzung gelingt relativ problemlos, wenn der Text schon in szenisch aufbereiteter Form vorliegt, wie es im Mittelteil des Petit prince der Fall ist, wo die Erlebnisse des Prinzen in dialogischer Form dargestellt sind. Hier reicht es zumeist aus, die im narrativen Text häufig verwendeten incipit-Formeln zu tilgen. Der Text wird nicht nur reduziert, er wächst auch an einigen Stellen: Es werden neue Episoden erfunden, die teilweise auch einen eigenen Text erfordern. Sfar erfindet eine Situation, in der der Pilot und der kleine Prinz gemeinsam eine Sternkarte anschauen. Für diese Situation wird neuer Dialog erfunden.7 Solche Eingriffe stören das Textverständnis jedoch nicht, weil Sfar seine Erweiterungen behutsam einsetzt und die handlungstragenden Passagen erhält. Zudem kann Sfar darauf vertrauen, dass seine Bearbeitung auf ein Rezeptionsumfeld trifft, in der das Original bekannt ist, so dass Auslassungen von den Rezipienten teils gar nicht bemerkt oder stillschweigend ergänzt werden. Da auch die zentrale Botschaft hinsichtlich der Einstellung zur Welt in der Adaptation Sfars erhalten bleibt, können die Variationen und Hinzufügungen als willkommene Ausschmückungen der aus dem Original bekannten Situationen genossen werden. Der nach den Kürzungen und Umstellungen verbleibende Text wird von Sfar mit nur wenigen Ausnahmen in Sprechblasen präsentiert und erfährt dabei Form- und Funktionsveränderungen, die nun noch genauer zu betrachten sind. Gegenüber einer herkömmlichen Lösung, bei der der Text auf Sprechblasen und einen Erzähltext aufgeteilt wird, der am Rande der Bilder oder auf dem Bildrahmen steht, greift Sfar zu einer anderen Lösung. Sfar entscheidet sich dafür, die erzähllogische Unterscheidung zwischen einem erlebenden Ich und einem im Rückblick erzählenden Ich aufrechtzuerhalten. Dies führt zu einer Ausdifferenzierung der üblicherweise im Comic enthaltenen Textblasen um einen weiteren Typus: Neben die herkömmliche Sprechblase, die die Äußerung einer Figur in der als gegenwärtig präsentierten Situation wiedergibt, tritt eine, die einer in der Diegese nicht präsenten Figur zugeordnet ist. Die Bilder, die den Piloten bei der Reparatur seines 7
Ebd., S. 15.
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Flugzeugs zeigen, enthalten Sprechblasen, die den Monolog des aus einem Abstand von sechs Jahren rückblickenden Erzählers wiedergeben. Solange die Figur des Erzählers noch nicht bekannt ist, lassen sich diese Sprechblasen als Wiedergabe von Gedanken interpretieren, die für die übrigen anwesenden Figuren unhörbar sind (›Denkblase‹) oder ggf. auch als ein Aparté. Allerdings lässt sich keine unmittelbare Beziehung zwischen dem Text und dem Tun der Figur erkennen. Sinnvoller erscheint die Zuordnung des Texts, der die bisherige Existenz der Figur thematisiert, zur Erzählerfigur, die allerdings erst im Nachhinein möglich ist, da sie an diesem Punkt des Erzählablaufs noch nicht etabliert ist. Der Erzähler wird erst auf Seite 105 ins Bild gesetzt. Die Textblasen gewinnen damit einen ambivalenten Charakter, weil sie unterschiedlichen Instanzen zugeordnet werden können. Einerseits könnten sie der Ort sein, an dem die Reflexionen der in der Szene gezeigten Figur notiert werden, andererseits könnten sie einer übergeordneten Erzählstimme zugeordnet werden, die aus dem Off vernehmbar wird. Bei dieser Interpretation hätten diese Sprechblasen die narrative Funktion, die Erzählerrede zu transportieren. Dies ist insofern ungewöhnlich, als narrative Textabschnitte üblicherweise am Bildrand in einer von den Sprechblasen unterscheidbaren Form positioniert werden.8 Die ›narrativen‹ Sprechblasen verweisen auf den für einen Comic eher ungewohnten rückblickenden Erzähler, dessen Stimme in der als gegenwärtig präsentierten Handlung vernehmbar ist. So wird der retrospektive Erzählrahmen Saint-Exupérys aufrechterhalten, wenn auch der Unterschied zwischen der Erzähler- und der Figurenrede durch die Überlagerung der gegenwärtigen – in der textbildlichen Darstellungsform des Comics an die Erzählgegenwart gebundenen – Handlung durch eine aus dem Off vernehmbare Erzählstimme für Momente verwischt wird.9 Die bei Saint-Exupéry vorliegende narrative Differenzierung zwischen den Betrachtungen, die der Erzählgegenwart zuzuordnen sind, und den Rückblicken auf Kindheit und Jugend sowie auf die Begegnung in der Wüste wird bei der Umsetzung in die bande dessinée zwar aufrechterhalten, aber deutlich umakzentuiert. Im Vordergrund steht nun die als gegenwärtig erzählte Begegnung in der Wüste, die durch eine Erzählstimme überlagert wird, deren 8
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Solche klar als narrativ erkennbaren Textfelder treten bei Sfar auch auf, insbesondere bei der Darstellung der Kosmosreise des Prinzen – etwa ebd., S. 44 – oder in der Coda, wo die Rede des gealterten Piloten, der als Erzähler inszeniert wird, durch eine incipit-Formel gerahmt wird, die als metadiegetische Textblase am Bildrand steht. Ebd., S. 106. Genauer gesagt handelt es sich um eine Erzählstimme, die bezogen auf die gegenwärtige Diegese aus der Zukunft spricht.
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Abb. 2: Sfar, Petit prince, S. 4.
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Herkunft sich nicht sofort erschließt und die daher punktuell auch der in Aktion gezeigten Figur des Piloten zugeordnet werden kann. Dies zeigt sich etwa in der Eingangssequenz, in der die zeitlichen Bezüge buchstäblich vernebelt werden. Der medias in res-Anfang zeigt den Piloten, als er nach der Notlandung im Cockpit sitzt und eine Zigarette raucht. Der Zigarettenrauch nimmt die Form einer Schlange an, die gerade dabei ist, ein kleines Tier zu verschlingen. Im Sprechblasentext verrät der Ich-Erzähler, dass ihn ein solches Bild als Kind stark beeindruckt und dazu angeregt habe, eigene Zeichnungen zu machen. Sfar, der mit diesem Bildeinfall die erste Illustration des Texts von Saint-Exupéry verarbeitet, unterläuft die eindeutige Zuordnung der Rede: Bei der Erstlektüre liegt es nahe, die ersten beiden Sprechblasen gemäß den Konventionen der Gattung Comic der im Bild präsenten Figur zuzuordnen, erst die folgenden Lektüren ermöglichen eine Zuordnung zu dem rückblickenden Erzähler.10 Ab der dritten Replik zeigt die Sprechblase den klassischen ›Dorn‹, der sie eindeutig als Rede der Figur ausweist. In der von Sfar imaginierten Sequenz spricht der eben notgelandete Pilot die aus Rauch geformte Schlange an und zeichnet für sie seine Kindheitsbilder auf einen Malblock. Zwischen der Schlange und dem Piloten entspinnt sich eine zunächst gestische, dann (ab Sfar, Petit prince, S. 2) verbale Interaktion über die Bilder. Doch auch hier stammen die Repliken, während derer die Schlange wiederholt spielerisch Angriffe auf den Piloten mimt, aus dem reflexiven Erzählrahmen des Originaltexts. Daher ist der Dorn an dieser Stelle irreführend. Handlungslogisch etwas überraschend werden die Kindheitserinnerungen und die frühen Zeichnungen des Protagonisten an einem Moment thematisch, zu dem man andere Aktivitäten eines notgelandeten Piloten erwarten würde. Die Einbettung der Erinnerungen des Erzählers an seine Kinderzeichnungen in den Moment nach der Notlandung verortet dieses Nachdenken innerhalb der laufenden Handlung. Dies unterscheidet Sfars Adaptation deutlich von Saint-Exupérys Erzählablauf, der diese Überlegungen dem rückblickenden Erzähler zuordnet, der bei Sfar erst sehr spät eingeführt wird. Da die Figur, an welche die Rückschau anknüpft, noch nicht erkennbar ist, ergibt sich die Möglichkeit, diesen Text als Reflexion der im Bild erscheinenden Figur zu interpretieren. Damit ändert sich aber der Charakter dieser Textpassage grundlegend. Denn der Rückblick der gegenwärtig handelnden Figur ist etwas anderes als ein Rückblick auf die als gegenwärtig präsentierte 10
Nur für den Leser, der diese Geschichte genau kennt, besteht zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel darüber, wer spricht.
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Abb. 3: Sfar, Petit prince, S. 1.
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Situation, in der zudem Erinnerungen an frühere Lebensabschnitte der Figur ausgesprochen werden. Auch wenn Sfar die eindeutige Zuordnung der Reflexionen auflöst, ändert dies nichts daran, dass es sich um Reflexionen über den Werdegang der Figur handelt. Was sich jedoch je nach gewählter Zuordnung ändert, ist der Status dieser Gedanken, denn nun ist es möglich, sie auch dem notgelandeten Piloten zuzuschreiben, der nun schon in jüngeren Jahren über Dinge nachdenkt, die sich bei Saint-Exupéry erst dem sechs Jahre Älteren eröffnen. Damit löst Sfar die bei Saint-Exupéry durch den Altersunterschied recht präzise gestaltete Trennung zwischen reflektierend zurückblickender Erzählerrede und der Rede des erlebenden Ich auf. Diese Verwischung der Grenzen ist nicht nur den spezifischen Darstellungsverfahren der bande dessinée geschuldet, sondern ist auch im Zusammenhang mit der Darstellungsintention zu sehen, die deutlich in den Blick kommt, sobald die Figuren genauer betrachtet werden. Ohne den Ergebnissen der folgenden Überlegungen vorgreifen zu wollen, sei hier schon gesagt, dass die Auflösung der Grenzen zwischen den zu verschiedenen Zeiten unterschiedlichen Bewusstseinszuständen der Erzählerfigur in der Rezeption den Eindruck erzeugt, das erlebende Ich verfüge schon über den Bewusstseinszustand des reiferen Erzählers. Dieses Verwischen der Grenzen zeigt sich daran, dass die Rede des Erzählers lange unidentifizierbar in Form von Textblasen erscheint, die auch (und zunächst vor allem) der Figurenrede zugeordnet werden könnten. Erst spät zeigt sich, dass es eine Stimme ist, die das bildliche Erzählkontinuum aus dem Abstand von sechs Jahren begleitet. Die Stimmen des erzählenden und des erlebenden Ichs, die bei Saint-Exupéry klar getrennt sind, werden bei Sfar wie die Notensysteme einer Partitur räumlich übereinandergeschichtet. Die synchron erfassbare Schichtung ist es, die die Zuordnung der Erzählerrede zur Figur (zumindest bei der Erstlektüre) nahelegt. Allein der Leser, der diese Geschichte kennt, wird beide Stimmen auseinanderhalten können, die Sfar übereinanderschichtet. Die Umsetzung eines schriftsprachlichen narrativen Texts in die ComicForm führt damit auch zu neuen Möglichkeiten der inhaltlichen Interpretation, da die bei Saint-Exupéry durch den Altersunterschied zwischen erzählendem und erzähltem Ich chronologisch weit entfernten und deutlich getrennten Bewusstseinshaltungen simultan dargeboten werden. Was negativ als Aufhebung der genauen Zuordnung vermerkt werden könnte, ergibt positiv gesehen ein neues Spannungsmoment, da nun nicht nur die Frage nach der Veränderung der Einstellung zur Welt verhandelt wird, sondern sich dem Leser auch die Frage stellt, wer in welchem Moment spricht.
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Ordnet man – dies ist bei der Erstlektüre kaum zu vermeiden – die Rede des Erzählers der handelnden Figur zu, kommt es insofern zu einer Veränderung der Handlung, als der Pilot bei Sfar schon in dem Moment, in dem er notlandet, über die Reife und das Reflexionsvermögen verfügt, die er bei Saint-Exupéry erst durch die Begegnung mit dem Prinzen erwirbt. So hadert er von Anfang an weniger mit der Welt und den eigenen Widersprüchen als bei Saint-Exupéry und wirkt in dieser Hinsicht deutlich gesetzter. Dies zerbricht zwar die von Saint-Exupéry entworfene Chronologie, aber es ergibt sich aus Sfars Darstellung ein Gewinn, auf den unten zurückzukommen ist. Neben den narrativen Sprechblasen, deren Retrospektive aufgrund des unklaren Ansatzpunktes ambivalent ist, gibt es auch solche, bei denen keine Verwechslung zwischen der Figurenrede und der narrativen Aussage eintreten kann. Diese Sprechblasen treten im zweiten Hauptabschnitt bei der Erzählung der Kosmosreise des kleinen Prinzen auf. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass dieser Abschnitt narratologisch weniger komplex angelegt ist als die Ich-Erzählung. Die schlichtere Gestaltung dieses Abschnitts bei Saint-Exupéry ist noch in der Umsetzung durch Sfar zu erkennen, der hier nur zwischen Figurenrede und narrativer Rede der vorwiegend neutralen Erzählinstanz zu unterscheiden hat.11
Sprechblasen mit Anführungszeichen Man könnte nun im Einzelnen untersuchen, wie die im Text gegebenen Informationen ins Bild diffundieren oder Textpassagen in Textblasen übersetzt werden. Es ist sicherlich eine lohnende Aufgabe, im Detail zu untersuchen, welche Textpassagen bei Sfar wegfallen, welche hinzuerfunden werden, welche umgeformt und transponiert werden. Um darauf hinzuweisen, dass hier interessante Probleme diskutiert werden können, möchte ich nur ein Detail herausgreifen: In den Sprechblasen bei Sfar tritt mehrfach ein Zeichen auf, das eigentlich an diesem Ort untypisch ist, weil es in der Schriftsprache etwas der Sprechblase Entsprechendes markiert und daher im Comic durch die Sprechblase ersetzt wird: das Anführungszeichen. 11
Daneben treten noch onomatopoetische Textblasen auf, die rein lautliche Informationen wiedergeben, wie in Sfar, Petit prince, S. 9, sowie expressive und exklamative Blasen, die entweder leer bleiben oder ein Ausrufezeichen enthalten und die eine emotionale Erregung – etwa Ärger – signalisieren, die die Figur momentan sprachlos macht. Vgl. Abb. 2 und ebd., S. 90.
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Abb. 4: Sfar, Petit prince, S. 44.
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Anführungszeichen sind in einer Sprechblase auffällig, weil ein Text dadurch, dass er im Comic von einer Sprechblase eingerahmt ist, als Redetext einer Figur erkennbar ist und dieser Figur in der Regel eindeutig zugeordnet werden kann. Sie könnten demnach bei der Umarbeitung eines rein schriftsprachlichen Texts in einen Sprechblasentext wegfallen. In einigen (dem erzählenden Ich zugeordneten) Sprechblasen bleiben diese Anführungszeichen jedoch erhalten – und dies, obwohl die Figuren, denen der in Anführungszeichen gesetzte Text zugeordnet ist, in den Bildern anwesend sind. Die »narrativen« Sprechblasen12 erhalten damit die schriftsprachliche Markierung der direkten Rede aufrecht, obwohl der in Frage stehende Text als einfache Sprechblase der anwesenden Figur direkt hätte zugeordnet werden können. Die Überlagerung von Konventionen des schriftsprachlichen Texts und des Comics deutet darauf hin, dass es Sfar darum gegangen sein könnte, den narrativen Charakter der dem Erzähler-Ich zurechenbaren Sprechblasen deutlich herauszustellen und nicht etwa jeden Hinweis auf den Ursprungstext und auf dessen Erzählkonfiguration tilgen zu wollen, sondern auf die narrative Konstellation des Ausgangstexts Bezug zu nehmen.13
Die Gestaltung der Figur des Piloten Sfar setzt auf seinen Bildern – und dies ist wohl die auffälligste Veränderung gegenüber dem Text und den Illustrationen von Saint-Exupéry – neben dem kleinen Prinzen den notgelandeten Piloten in Szene, der auf ca. 260 Bildern erscheint. Die Darstellung des erlebenden Ichs (und des Ich-Erzählers) jeweils als handelnde Figur hebt diese aus ihrer diffusen auktorialen Ungreifbarkeit hervor, in der sie bei Saint-Exupéry als Erzählinstanz verbleibt. Denn dort erfährt man zwar einiges über den unbefriedigend verlaufenen Lebensweg des Piloten und über seine Resignation, jedoch kaum etwas Konkretes über die Interaktion mit dem Prinzen. Die in der Originalpublikation von Saint-Exupéry enthaltenen Illustrationen zeigen nie den Ich-Erzähler, sondern immer nur, was er sieht. In den Entwürfen gibt es allerdings ein Aquarell, auf dem Saint-Exupéry ein Körperteil des Piloten darstellt. 12 13
Sfar, Petit prince, S. 40, 52, 76, 85, 87, 88, 89. Ausnahmsweise werden Anführungszeichen auch zur Kennzeichnung eines Buchtitels, von Wörtern, nach deren Bedeutung gefragt wird, oder zur Markierung der Rede von anderen Figuren oder eigener Äußerungen innerhalb der Rede einer Figur verwendet. Ebd., S. 1, 79, 17, 32.
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Abb. 5: Sfar, Petit prince, S. 33.
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Abb. 6: Entwurf für Illustration des Petit prince (Album Saint-Exupéry, S. 247, Abb. 55).
Auf diesem Entwurf ist am Bildrand eine Hand zu sehen, die einen Hammer schwingt. Die Position und die Haltung der Hand verraten, dass sie der Figur zuzuordnen ist, auf deren Blickwinkel die Darstellung zurückverweist. Nimmt man an, dieses Aquarell zeige die gleiche Blickkonstellation wie die übrigen von Saint-Exupéry gestalteten Illustrationen, so liegt die Schlussfolgerung nahe, dass bei dieser Darstellung die Hand des Piloten ins Blickfeld hereingenommen wurde. Dies ist der einzige bildliche Hinweis auf die körperliche Anwesenheit der Erzählerfigur in den Illustrationen bei Saint-Exupéry. Sfar könnte auf dieses Aquarell Bezug genommen haben, denn er bildet den Piloten mehrfach mit einem Werkzeug in der Hand ab. Deutet SaintExupéry vorsichtig die körperliche Präsenz des Piloten an, so geht Sfar konsequent in dieser Richtung weiter und entwirft die vollständige Figur, die er mit der Physiognomie Saint-Exupérys ausstattet. Diese Entscheidung, der fiktiven Figur das Gesicht Saint-Exupérys zu leihen, wird in der Kritik überwiegend positiv – als Hommage – gewertet. Aus narrationstheoretischen Gründen erscheint diese Entscheidung allerdings weniger glücklich, denn hier wird eine Identifikation von Figur und Autor suggeriert, die in der Literaturanalyse als naiv gilt. Die Behauptung einer Homologie zwischen einem Autor und seiner Figur verstellt den Blick auf die spezifischen Darstellungsbedingungen von fiktionaler Literatur. Nun ist
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Sfars Anliegen zwar alles andere als ein literaturanalytisches, und er ist daher frei von literaturwissenschaftlichen Vorsichten, dennoch erscheint die nahegelegte Ähnlichkeit als ein problematischer Kunstgriff, weil Sfars Werk als eine Deutung des Ausgangswerks gelesen werden kann und ohne Not die Identifikation von Figur und Autor festschreibt, die Saint-Exupéry bewusst offen lässt. Abgesehen von diesen Bedenken ist zur Darstellung der Figur festzuhalten, dass Sfar eine sehr lebendige und facettenreiche Gestaltung der Figur und besonders des Gesichts gelingt. Überzeugend differenziert er auch zwischen den beiden Altersstufen, denn der Pilot wird bei seiner Notlandung und – am zurückweichenden Haaransatz erkennbar – als reiferer Mann sechs Jahre später ins Bild gesetzt. Sfar schafft eine Figur, die über die Fähigkeit verfügt, sich auch in Momenten der Gefährdung dem spontanen Spiel zuzuwenden, die phantasievoll herausfordernde Momente meistert und etwa mit den emotionalen Ausbrüchen des kleinen Prinzen sensibel umgeht. Sfar zeigt eine Figur, die fähig ist, zu kommunizieren und zu interagieren, Trost zu spenden und phantasievolle Geschichten zu erfinden. Damit haucht Sfar dem eher introvertierten und der Resignation zuneigenden erlebenden Ich, wie es bei Saint-Exupéry gezeichnet wird, neues Leben ein und zeigt es in konzentrierter Haltung oder ausgelassen mit dem Prinzen herumtollend. Er schafft der Figur eigene Handlungsmöglichkeiten, indem er sie aus dem Status einer durch den zurückblickenden, auktorial angelegten Erzähler erinnerten Figur (bei SaintExupéry) in eine handelnde Figur überführt, die er auf diese Weise von den Bewertungen des Erzählers emanzipiert und welcher er die Zukunftsoffenheit zurückgibt, die die radikal an die Erzählgegenwart geknüpfte Darstellungsweise des Comics impliziert. Zwar bleibt – wie dargestellt – die Erzählstimme präsent, die die dem Original entnommene chronologische Staffelung in Erinnerung hält, für den dargestellten Handlungsausschnitt erhält die Figur jedoch eine Handlungsfreiheit zurück, die bei der im Rückblick erzählten Handlung nicht gegeben wäre. Die Figur gewinnt nicht nur an Handlungsfreiheit, sie wird durch Sfar auch hinsichtlich ihrer Psychologie umgebaut: Die Fixierung auf die durchweg melancholischen Einlassungen des (späteren) Ich-Erzählers, der sich unter den Erwachsenen einsam und unverstanden fühlt, wird bei Sfar zurückgenommen. Der hier dargestellte Pilot affirmiert beispielsweise gegenüber dem Prinzen mit großer Gelassenheit, dass er zur Erwachsenenwelt gehört, auch wenn dies die Figur bei Saint-Exupéry gerade mit aller Kraft negiert. Dort empfindet der Erzähler Widerwillen bei dem Gedanken, daß er unter Erwachsenen leben müsse. »J’ai beaucoup vécu chez les grandes per-
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Abb. 7: Sfar, Petit prince, S. 105.
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sonnes. Je les ai vues de très près. Ça n’a pas trop amélioré mon opinion.« (Kap. I) Als der Prinz den Piloten bei Sfar fragt, warum er die Welt nach abstrakten Größen beurteile, antwortet dieser ohne eine Spur von Selbstmitleid gerade das Gegenteil von dem, was er bei Saint-Exupéry sagt: – Pardonne-moi. J’ai besoin de donner des noms aux choses, des numéros, de savoir leur taille. Si ça continue, je vais te demander combien elle coûte, ta planète. Là où j’habite, si je dis »j’ai vu une maison de cent mille francs«, on me répond: »Que c’est joli.« […] – Pourquoi? – Parce que je crois que je suis une grande personne. (Sfar, Petit prince, S. 17, meine Hervorhebungen)
Bei Saint-Exupéry ist eine derart gelassene Einstellung zum Erwachsenendasein erst dem gereiften Erzähler möglich, er gewinnt sie durch die Zuwendung zum Prinzen. Im Moment der Begegnung mit dem Prinzen allerdings hadert er noch mit seiner Rolle als Erwachsener. Diese Charakterisierung wird bei Sfar auf den Kopf gestellt. Seine Figur ist von vornherein reifer angelegt. Darauf scheint auch die Ambiguierung der Rede des älteren Erzählers hinzudeuten: Denn wenn bei Sfar schon die jüngere Inkarnation des Piloten sich – vor der Begegnung mit dem Prinzen – die Gedanken machen kann, die bei Saint-Exupéry erst seiner späteren Inkarnation möglich sind, dann spricht auch nichts dagegen, dass die Figur schon im Moment der Notlandung insgesamt deutlich reifer angelegt ist, als dies bei Saint-Exupéry der Fall ist.
Die Gestaltung der Figur des Prinzen Auch der Prinz, der auf ca. 550 Bildern figuriert, bekommt ein neues Erscheinungsbild. Er wird weniger androgyn entworfen. Allein seine grüne Kleidung mit dem fliegenden Schal entspricht in etwa der Figur bei SaintExupéry. Bei Sfar erhält er einen kleineren Körper und einen überproportional großen Kopf, der ihm ein deutlich kindlicheres Aussehen verleiht als seinem Pendant bei Saint-Exupéry. Die übergroßen blauen Augen, die bisweilen sogar noch vergrößert werden14 und die an die Darstellung von Augen im Manga erinnern, verleihen dieser Figur die Möglichkeit eines breiten Aus14
Ebd., S. 68.
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drucksrepertoires. Die Figur wirkt wie ein kleiner – etwas altkluger – Junge von vier Jahren und nicht wie der schon adoleszente Prinz bei Saint-Exupéry. Auf die originale Figur scheint neben der Kleidung allein der Schatten hinzuweisen, der schmaler auszufallen scheint, als es bei der stämmiger angelegten Figur Sfars zu erwarten wäre.15 Zwar ändert sich der Blick auf die Figur des Prinzen gegenüber SaintExupéry nicht radikal, da sie wie im Originaltext in der Außensicht gezeigt wird, aber die Figur gewinnt deutlich an Konturen: Sie erhält ein weitaus größeres Spektrum an Handlungsmöglichkeiten als bei Saint-Exupéry. Diese Neuakzentuierung zeigt sich daran, dass auch der Petit Prince unmittelbar zum Binnenerzähler werden kann (Abb. 8): Während bei Saint-Exupéry ein neutraler Erzähler die Episode mit dem einfallsreichen Händler (Kap. XXIII) auktorial darstellt, wird bei Sfar der Prinz zum Erzähler dieser Episode. An dieser Stelle wird herausgestellt, dass die Episoden seiner Reise nur durch den Prinzen erzählt worden sein können, während dies bei Saint-Exupéry zwar erwähnt, aber in der auktorialen Erzählsituation nicht vorgeführt wird. Damit erscheint die Figur des Prinzen gegenüber dem auktorialen Erzähler bei Saint-Exupéry emanzipiert.
Ambiguierung und Desambiguierung Die Analyse der Figurengestaltung zeigt, dass die zentralen Figuren bei Sfar starken Veränderungen unterworfen werden, die sich jedoch nicht nur zum Nachteil dieser Figuren auswirken, denn in dem Maße, wie der Zeichner und Autor sich Freiheiten bei ihrer Gestaltung nimmt, gewinnen sie gegenüber der Charakterisierung bei Saint-Exupéry deutlich an Handlungsmöglichkeiten. Der Pilot verhält sich dem Prinzen gegenüber wie ein Erwachsener zu einem Kind. Der Prinz hingegen wird als Kind entworfen und entgeht damit der leicht melancholischen Charakterisierung bei Saint-Exupéry. An dieser Stelle wird deutlich, dass Sfar die Begegnung eines mit dem Verlauf seines Lebens hadernden Piloten im Alter von vielleicht dreißig Jahren mit einem melancholischen präpubertären androgynen Knaben in eine Vater-KindBeziehung umdeutet und damit mögliche ambivalente Zwischentöne dieser Begegnung ausblendet. Auf dieser Basis wird die für beide Figuren zentrale initiatorische Nachtwanderung zu einem esoterischen Erlebnis desambiguiert, das sie seelisch stärkt. Aufgrund dieser in Hinsicht auf das Lebensalter und die innere Reife vereindeutigenden Gestaltung kann das Verhältnis 15
Vgl. ebd., S. 10.
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Abb. 8: Sfar, Petit prince, S. 86.
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zwischen den beiden Protagonisten bei Sfar ganz anders entfaltet werden, als es im Originaltext angelegt ist: Es entsteht mitunter eine körperliche Nähe zwischen den beiden Protagonisten, die nur in diesem Vater-KindVerhältnis ohne Hintergedanken möglich ist. Sfar gestaltet Spielszenen, die den Prinzen als vierjährigen Knaben und den Piloten in der Vaterrolle zeigen (Abb. 10). Sfar erfindet Bilder, die die Figuren bei Aktivitäten zeigen, die – wie das Spielen – mit der im Grunde bedrohlichen Situation nicht immer konvergieren, dafür aber eher mit der Botschaft des Texts, der ein gelassenes und spontanes Verhalten zur Welt und zur Mitkreatur nahelegt. Auch an weiteren Figuren werden deutliche Veränderungen gegenüber Saint-Exupéry erkennbar, die sich auch auf die Beziehungen auswirken, die der kleine Prinz zu ihnen aufbaut. Dies wird besonders deutlich an der Blume, die der kleine Prinz auf seinem Planeten pflegt. Sie wird von Sfar als ein Wesen dargestellt, das in einer Hülle aus Blütenblättern eine Miniatur einer verführerischen Frau verbirgt. Diese Figur wird als stolz und kokett dargestellt. Die Anthropomorphisierung der Blüte in Form dieser jungen Frau begründet zum einen die Faszination, die der Prinz für diese Blume empfindet, vereindeutigt zum anderen die Rolle der Blume für den Prinzen und desambiguiert damit auch die sexuelle Orientierung des Prinzen. Einige Figuren bleiben weitgehend erhalten, wie der König, der Säufer, der Gaslaternenmann. Der businessman wird erneut stark verändert. Die schlichte Darstellung dieser Figur bei Saint-Exupéry, die hinter einem Tisch sitzt und auf einem Blatt arabische Ziffern addiert, wird ersetzt durch eine eher komplexe Anlage dieser Szene.16 Ein kaum mehr menschenähnliches Roboterwesen mit fünf Augen sitzt in einem anthropomorphen Raumschiff und schreibt mit einer automatisierten Feder Zahlen im Binärcode. Das eigentümlich Bedrohliche dieses Zahlenfetischisten wird durch die Maschinenähnlichkeit noch einmal potenziert, während bei Saint-Exupéry eher der Eindruck entsteht, die Figur sei menschlich beschränkt. Sfar, der sich bei der Ausgestaltung der Figuren viele Freiheiten nimmt, gelingt es, die Figuren und deren Situationen auf gelungen phantasievolle Weise zu aktualisieren.
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Saint-Exupéry, Petit prince, Kap. XIII.
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Abb. 9: Sfar, Petit prince, S. 39.
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Erzählperspektive Viele der beschriebenen Veränderungen der Darstellung erklären sich durch den Medienwechsel, der zu einer grundsätzlichen Umstellung der Erzählperspektive führt: Verschiebt sich die Erzählperspektive bei Saint-Exupéry in den verschiedenen Textabschnitten dadurch, dass zwei unterschiedlich angelegte Erzählinstanzen existieren,17 so werden im Falle des bildgebundenen Mediums Comic alle sprachlich in Erscheinung tretenden Erzähler ausnahmslos einer weiteren Erzählinstanz unterworfen, die die Inszenierung der Bilder steuert. Denn die Bilder liefern nicht nur eine Auswahl der dargestellten Dinge, sondern legen auch einen Blickwinkel fest, unter dem das Dargestellte betrachtet werden kann. Zudem wird durch die Bilder auch der Text, der als Textblase auf dem Bildfeld platziert ist, den Figuren zugeschrieben. Diese zusätzliche Erzählinstanz, die eine Auswahl der gezeigten Landschaften, Gegenstände und Figuren sowie des Blickwinkels, unter dem sie gezeigt werden, vornimmt, entwirft die Szene von einem Blickpunkt aus, der dort liegt, wo eine Kamera – oder eben das Auge des Betrachters – positioniert sein müsste, um in einer wirklichen Szene das entsprechende Bild zu generieren. Dieser ganz neue Beobachtungsstandpunkt ist aus der Perspektive der erlebenden und auch aus der der erzählenden Figur ausgelagert und in die eines neutralen Beobachters überführt, der die Figuren gleichsam von außen betrachtet. Gegenüber der schriftsprachlichen Narration kommt es im Medium Comic durch diese weitere Erzählinstanz zu einem grundsätzlichen Perspektivwechsel: Denn die – fast trivial wirkende – Tatsache, dass wir den Piloten als Figur sehen, verändert die gesamte Darstellung. War die Erzählung bei Saint-Exupéry durch eine Ich-Erzählung gerahmt, so schwindet diese bei Sfar zwar nicht, sie wird aber durch die objektivierende Wirkung der Bilder in eine quasi neutrale Erzählweise eingebettet und von dieser gerahmt.18 Diese neue Rahmung hat insofern Auswirkungen auf die dargestellten Hauptfiguren, als durch den Zwang zur Darstellung der Gegenwart die Rolle des sich erinnernden Erzählers relativiert wird und die beiden Hauptfiguren ihm gegenüber an Autonomie und an Profil gewinnen. Die mediale Erzähl17
18
Zur Erinnerung: Es handelt sich um den gereiften Piloten, der die zurückliegende Begegnung erzählt und das eigene Leben kommentiert, sowie um eine neutrale Erzählinstanz, die die Erlebnisse des Prinzen auf seiner kosmischen Reise szenisch darstellt. Durch den Medienwechsel überträgt Sfar eine Erzählweise und eine Erzählperspektive, die Saint-Exupéry für die erlebnisreiche Reise des Prinzen reserviert hat, auf den gesamten Text.
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konfiguration der bande dessinée entreißt die Figuren der rahmenden Erinnerung und schreibt ihnen die Zukunftsoffenheit der Erzählgegenwart zu. Auf diese Weise erhalten die Figuren ein Eigenleben und die Fähigkeit zum Dialog. Der Gewinn an relativer Autonomie gegenüber einer kontrollierenden Erzählinstanz ist auch daran erkennbar, dass neue Episoden erfunden werden können, die die Interaktion zwischen den Figuren zeigen. Solche hinzuerfundenen Episoden können einen eigenen, ebenfalls neu erfundenen Text haben19 oder aber ohne Worte auskommen, wie die Sequenz, die das gemeinsame Spielen des Piloten und des kleinen Prinzen zeigt. Der tiefere Sinn der Eingangssequenz von Sfars bande dessinée mag genau darin liegen, dass sie diesen Zuwachs an Autonomie signalisiert: Dort tritt der Pilot in einen Dialog mit einer Schlange, die sich aus dem Rauch seiner Zigarette formt. Diese Schlange macht verschiedene Kapriolen, greift den Piloten spielerisch an, stellt dem Piloten Fragen und antwortet ihm. Schließlich löst sich diese Figur auf – fast möchte man meinen: aus eigener Entscheidung. An dieser Figur wird exemplarisch vorgeführt, dass die Versetzung in die bande dessinée und damit die Einführung einer für das Bild verantwortlichen Erzählinstanz die Abhängigkeit der Geschichte vom Ich-Erzähler relativiert und den dargebotenen Dingen ein von dieser Instanz nicht mehr vollständig kontrollierbares Eigenleben ermöglicht. Genau dies geschieht in den zahlreichen hinzuerfundenen Episoden. Es ist nicht entscheidend, dass dabei auch unerwartete und von einem realistischen Darstellungsstandard aus gesehen unwahrscheinliche Dinge erzählt werden. Dies gehört zu den prinzipiellen Vorentscheidungen des Autors. Entscheidend ist, dass das erlebende und später auch das erzählende Ich als handelnde Figuren sichtbar werden und dass das Erzählte nun vor allem als Handlung dargestellt wird. Sfar kann trotz der Einführung dieser rahmenden Erzählinstanz an dem monologischen Erzählen des Ich-Erzählers festhalten, muss dazu aber zu dem Mittel der narrativen Textblase greifen, die seltsam erratisch wirkt, weil sie in die Gegenwart des Bildes eine Stimme aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort integriert. Die Integration des schriftsprachlichen Erzählsystems in das bildgebundene führt auch dazu, dass bisweilen die gezeigte Handlung und der dazugehörige Text beziehungslos aneinander vorbeilaufen.20 Diese partielle Unabhängigkeit von Ton- und Bildspur – die eine gibt Gedanken aus dem Off wieder, die andere bildet die in jedem Bild gegenwärtige Situation ab – lässt erkennen, dass Sfar eine moderne Wahrnehmungskonstellation voraussetzt, die darin geübt ist, unterschiedliche Sinnes19 20
Siehe etwa das Funker-Spiel. Sfar, Petit prince, S. 23. Vgl. ebd. S. 4, 26.
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Abb. 10: Sfar, Petit prince, S. 19.
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eindrücke wie in einer Partitur übereinander geschichtete Stimmen simultan wahrzunehmen und die Dissoziation von Stimmen, die divergente Verläufe nehmen und Dissonanzen erzeugen, als positive Reize zu verbuchen.
Sfars Bezugnahmen auf Saint-Exupérys Illustrationen Sfar integriert viele der Bildideen Saint-Exupérys in das von ihm geschaffene visuelle Erzählkontinuum. Zwei Strategien der Integration lassen sich unterscheiden: Sfar übernimmt zum einen mit leichten Veränderungen viele Figuren und räumliche Konstellationen von Saint-Exupéry; so zeigt er etwa den Prinzen auf seinem Asteroiden. Die Darstellung fast aller Figuren (König, Gaslaternenmann, Fuchs, Rose, wilde Zugvögel), denen der kleine Prinz begegnet, leitet Sfar von Saint-Exupérys Vorgaben ab, schmückt sie aber weiter aus und fügt so manches Detail hinzu – etwa die seltsam ausgefranste Nase des Königs. Zum anderen übernimmt er die Illustrationen unverändert in die neue bildliche Diegese und situiert sie dort wieder als Graphiken, die aus der Feder seines Protagonisten stammen. Damit greift er ein Verfahren auf, das Saint-Exupéry vor ihm verwendet hat, indem er die meisten seiner Illustrationen als Werke seines Protagonisten ausgibt. In der Eingangssequenz werden bei Sfar die Originalzeichnungen Saint-Exupérys während des Gesprächs zwischen Pilot und Rauchschlange von der Schlange pantomimisch dargestellt oder als Werke des Piloten ausgegeben, der sie gezeichnet hat.21 Als eigenständige Graphiken erscheinen in der Diegese mehrere Illustrationen, darunter die der Schlange, die einen Elefanten verdaut,22 sowie die einer Kiste, in der vermeintlich ein Schaf wohnt.23 Die Illustration, die den Planeten zeigt, der mit Baobab-Bäumen überwuchert ist, wird zweimal in verschiedenen Funktionen eingesetzt: Zum einen ist sie die Vorlage für eine Bildsequenz, die einen Alptraum des kleinen Prinzen darstellt,24 zum anderen erscheint das Bild nochmals, diesmal als Zeichnung des Piloten, der eben den von Baobabs befallenen Planeten für den kleinen Prinzen skizziert.25 Indem er die Entstehung dieser Zeichnung darstellt, illustriert Sfar die Behauptung Saint-Exupérys, seine Zeichnungen seien in der Wüste entstanden. 21 22 23 24 25
Vgl. Abb. 3: 1. Bild bzw. 6. Bild. Ebd., S. 7, 8. Ebd., S. 9, 10. Ebd., S. 20. Ebd., S. 25.
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Saint-Exupérys Porträt des kleinen Prinzen Eine Illustration Saint-Exupérys spart Sfar demonstrativ aus: das Porträt des kleinen Prinzen.26 Sfar übergeht dieses Porträt, das eine ganz andere Gestaltung des kleinen Prinzen nahelegen würde, und gestaltet in seiner bande dessinée eine eigene Vision der Figur. Die Begründung dafür liefert aber schon Saint-Exupéry, dessen Ich-Erzähler herausstellt, es sei ihm bei seinem Wüstenaufenthalt nicht gelungen, ein angemessenes Porträt des Prinzen zu gestalten. Das im Buch abgedruckte Bild sei erst im Nachhinein entstanden und könne daher nicht genau sein. Voilà le meilleur portrait que, plus tard, j’ai réussi à faire de lui. Mais mon dessin, bien sûr, est beaucoup moins ravissant que le modèle. Ce n’est pas ma faute. J’avais été découragé dans ma carrière de peintre par les grandes personnes, à l’âge de six ans, et je n’avais rien appris à dessiner, sauf les boas fermés et les boas ouverts.27
Sfar zieht aus dem Eingeständnis des Scheiterns durch den Ich-Erzähler Saint-Exupérys die Rechtfertigung dafür, ein eigenständiges Erscheinungsbild des Prinzen zu entwerfen und das von Saint-Exupéry ausdrücklich als inauthentisch bezeichnete Abbild zu übergehen. Das Eingeständnis der künstlerischen Ungeübtheit durch die Erzählerfigur bei Saint-Exupéry rechtfertigt damit Sfars Bilderfindung, die durch mehrere Hundert Einzelansichten dekliniert wird.28
Schlussfolgerungen Sfars Adaptation des literarischen Werks als bande dessinée bedeutet keinen Verlust an Textgehalt, sondern bereichert den Ausgangstext durch eine interessante Interpretation. Wie bei anderen gelungenen Adaptationen literarischer Texte als Filme oder als Theaterstücke entstehen neue Sichtweisen, neue Akzentuierungen bekannter Stoffe, die die Verluste kompensieren können, die mit dem Medienwechsel einhergehen. Bemerkenswert bei Sfar ist die Art und Weise, in der er auf die Vorgaben des Ursprungstexts sensibel antwortet; dies reicht von der Freiheit bei der Gestaltung der beiden Prota26 27
28
Saint-Exupéry, Petit prince, Kap. II. Ebd., meine Hervorhebungen. Bei Sfar klingt dies so: »J’essaie de faire le portrait le plus ressemblant possible. Je n’y arrive pas.« Sfar, Petit prince, S. 18. Dass damit Saint-Exupéry implizit als schlechter Zeichner überführt wird, ist eine der schiefen Konsequenzen, die aus Sfars Kunstgriff folgen, die Figur mit dem Autor Saint-Exupéry zu identifizieren.
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gonisten bis hin zur Integration der Bilder seines Vorgängers. Während die illustrierenden Bilder bei Saint-Exupéry zumeist den Blick des Erzählers auf das schriftlich Erzählte wiedergeben oder aber die Zeichnungen des Piloten gleichsam als Dokumente präsentieren, haben die Bilder bei Sfar die Funktion, die gesamte Situation mit allen beteiligten Protagonisten zur Darstellung zu bringen. Was bei Saint-Exupéry häufig nur angedeutet wird, weil der Text als Träger der Darstellung fungiert, wird in den Bildern Sfars detailliert ausgeführt, wie man an dem Vergleich von Saint-Exupérys elliptischem Bild der Wüste mit der farblich opulenten Darstellung der Wüste bei Sfar erkennen kann.29 Sfars Adaptation öffnet einen Spielraum, in dem neue Nuancen des ursprünglichen Texts in den Blick kommen und in dem mit Eigenheiten des Ausgangstexts gespielt werden kann. Dem Text wird eine Variante an die Seite gestellt, die genügend eigenständig ist, um zu überdauern, und doch in den wesentlichen Zügen den Ausgangstext respektiert. Sfar aktualisiert die Geschichte des kleinen Prinzen, der auf eine ansprechende Weise konkret wird. Wenn die Figur und die erzählte Geschichte an Ambiguität verlieren, so wird dies kompensiert durch die erfrischende Präsenz der Figur. Eine Präsenz, die in einer Replik auch deutlich herausgestellt wird, als der Petit Prince dem Piloten wie ein Kind im vertrauensvollen Spiel um den Hals fällt und ruft: »Je suis là en vrai.«30
Literatur Album Saint-Exupéry. Iconographie choisie et commentée par Jean-Daniel Pariset et Frédéric d’Agay. Paris 1994. Saint-Exupéry, Antoine de, Le petit prince. Avec les dessins de l’auteur. New York 1943. Sfar, Joann, Le petit prince. D’après l’œuvre d’Antoine de Saint-Exupéry. Paris 2008.
29
30
Vgl. Saint-Exupéry, Petit prince, Kap. XXVII, sowie Sfar, Petit prince, S. 9, 18 oder 28. Sfar, Petit prince, S. 18.
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Teil II In den Spuren literarischer Schreibweisen: Biographie, Historiographie, Reiseerzählung
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Lars Banhold (Bochum)
Authentifizierung und Narration in Reinhard Kleists Cash – I See a Darkness
Biographie und die Verwendung biographischer Motive im Comic stellen schon lange einen beliebten Topos dar. Dabei weisen biographische Comics einige grundsätzliche Probleme auf: Zum einen steht die Biographie als Gattung im Blickfeld verschiedener aneinander grenzender Disziplinen, welche sie zumindest in Nuancen divergierend definieren. Für die folgende, in erster Linie literaturwissenschaftlich geprägte Analyse soll sie bestimmt werden als: »künstlerische oder wissenschaftliche Darstellung des Lebens einer historischen Person«.1 Das bedeutet, dass der Begriff Biographie nicht etwa, wie in der Soziologie, für das vermeintlich reale, außertextliche Leben steht, sondern für dessen Rekonstruktion und Darstellung; also für den Versuch des Biographen, aus historisch verbürgten Fakten – Text-, Bild- oder sonstige Quellen, ebenso wie Anekdoten – für das Leben einer realen Person eine Form kohärenter Narration und Identität zu produzieren. Des Weiteren sind dem Comic als narrative Kunstform formal Prämissen eigen. Im Gegensatz zu anderen narratologischen Betrachtungsweisen des Comics2 soll hier die These vertreten werden, dass Comics grundsätzlich ein narrativer Charakter immanent ist. So weisen selbst vermeintlich rein deskriptive Comic-Texte aufgrund ihres dramatischen Modus auf der Darstellungsebene stets auch eine Narration auf.3 Der dramatische Modus des Comics erklärt sich nicht zuletzt aus der zeitlichen Dimension des Panels. Bereits Scott McCloud beschreibt, dass die im Panel dargestellten Gescheh1
2
3
Christian Klein, »Lebensbeschreibung als Lebenserschreibung? Vom Nutzen biographischer Ansätze aus der Soziologie für die Literaturwissenschaften«, in: Ders., Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar 2002, S. 71. Hier sei als Beispiel genannt: Nicole Mahne, »Comic«, in: Dies., Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen 2007, S. 44–76. Als Beispiel sei Scott McClouds Understanding Comics genannt. Neben den theoretischen Informationen erzählt der Comic immer auch, dass die McCloud-Figur dem Leser diese vermittelt, sich dabei bewegt oder sonstige Nebentätigkeiten ausführt. Diese These stammt nicht allein vom Autor, sondern ist zusammen mit Christian Bachmann entworfen worden.
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nisse sich nicht in einen einzelnen Augenblick abspielen, sondern vom Leser stets als Vorgänge mit eigener Zeitdimension wahrgenommen werden.4 Dies resultiert sowohl aus der Zeitlichkeit eventuell abgebildeter Schrift als auch aus Bewegungs- und Fließlinien, Phasen- und sonstigen Bewegung implizierenden Darstellungen.5 Zudem fordern Einbettung in Sequenzen und Panelgestaltung den Leser zur Folgerung einer Narration mit entsprechender zeitlicher Dauer heraus. Der Comic als Kunstform weist, neben allen deskriptiven Elementen, demnach immer auch szenische Aspekte auf: Er zeigt nicht nur, sondern stellt dar und fiktionalisiert entsprechend auch stets. Ein biographischer Comic kann demnach nicht im strengeren Sinne als »wissenschaftliche Darstellung des Lebens einer historischen Person« erscheinen. Vielmehr ist sein Metier die künstlerische Lebensdarstellung. Natürlich sind beide Aspekte nicht absolut zu trennen, da selbst wissenschaftlichen Biographien stets ein gewisser Fiktionalisierungsgrad – insbesondere durch emplotments – immanent ist. Zudem verlangt auch jede künstlerische Biographie ein Mindestmaß an Referenzialität auf eine historische Wirklichkeit. Soll die Lebensgeschichte einer historischen Person in Form eines szenischen Mediums wie des Comics wiedergegeben werden, so müssen demnach zwei Grundvoraussetzungen erfüllt werden: Zum einen muss eine Referenz auf historische Wirklichkeit vermittelt, zum anderen das Referierte zu einer bündigen, ästhetischen Narration geformt werden.6 Anhand eines konkreten Beispiels, des Comics I See a Darkness von Reinhard Kleist, welcher die Lebensgeschichte des Sängers Johnny Cash nacherzählt, sollen folgende Formen der Umsetzung von Referenzialität – beziehungsweise Authentifizierung7 – nachvollzogen werden: der ikonische Verweis, die Transformation einer Bildquelle zum narrativen Panel und die metaphorische Narration autobiographischer Wahrnehmung. Zudem soll der speziellen Integration von Johnny Cashs Werk in die histoire Aufmerksamkeit geschenkt werden. 4 5 6
7
Vgl. Scott McCloud, Understanding Comics. New York 1994, S. 94–97. Mahne, Transmediale Erzähltheorie, S. 51–57. Wagner-Egelhaaf beschreibt als Kennzeichen der Autobiographie eine Spannung zwischen Referenz und Performanz, die sich an dieser Stelle ohne weiteres für die Biographie in Comic-Form übernehmen lässt (vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000). Wenn im Folgenden von Authentifizierung oder Authentizität die Rede ist, so nicht im faktualen Sinne historischer Korrektheit, sondern in einem rhetorischen Sinne als Erzeugung eines Wirklichkeitseffekts, die sich in diesem Fall allerdings auch ihrer artifiziellen Natur bewusst ist.
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Was bei der Frage nach der Authentifizierung durch die Referenz auf historische Wirklichkeit zunächst ins Auge fällt, sind Ähnlichkeitsbeziehungen, also ikonische Verweise der Figuren auf ihre historischen Vorbilder. Bereits auf Seite 22 von I See a Darkness findet sich die erste Darstellung der Figur eines Jungen, der im Zuge eines Dialogs als Johnny Cash benannt wird. Drei Seiten später stellt ein Mammutpanel die gesamte Familie Cash vor.8 Vergleicht man diese Darstellung des jungen Cash mit einem entsprechenden Photo,9 so wird schnell klar, dass auch ohne die Benennung der Figuren durch Captions oder Dialoge eine Referenz zwischen Figur und historischer Person durch die Ähnlichkeitsbeziehung konstruiert wird: die abstehenden Ohren, das kurze Kinn, der leichte Überbiss, der dadurch bedingt etwas schiefe Mund, die große Stirn – all das zeigt, dass Kleists Zeichnung durchaus den Anspruch hat, ikonisch auf den jungen Johnny Cash zu verweisen; zudem handelt es sich um Merkmale, die den historischen Cash noch als Erwachsenen auszeichneten. Dies mag zwar belanglos scheinen, ist allerdings für die Vermittlung von Authentizität von nicht zu unterschätzender Bedeutung und zieht sich in der Darstellung vieler Figuren durch den gesamten Comic. Dass der ikonische Verweis jedoch keine zwingende Methode des biographischen Comics ist, kann natürlich am deutlichsten am Beispiel von Art Spiegelmans Maus beobachtet werden. Der ikonische Verweis beschränkt sich zum Zwecke der Authentifizierung zudem nicht auf Figuren und die ihnen zugrunde liegenden Personen, sondern betrifft auch die Illustration des Handlungsraums. Deutlich wird dies unter anderem an der Darstellung des Hauses der Familie Cash in Dyess, Arkansas,10 welche sich auf eine veröffentlichte Photographie desselben11 bezieht. Die ikonischen Verweise in Bezug auf historische Personen scheinen als Methode noch trivial, da die Wahrscheinlichkeit recht groß ist, dass dem Leser das Aussehen Johnny Cashs, June Carters, Elvis Presleys oder Bob Dylans bekannt ist und er somit die Figuren auch ohne namentliche Nennung erkennt und eine Referenz auf die historische Realität wahrnimmt – dieses Wissen vielleicht sogar vorausgesetzt wird. Die Darstellung eines Hauses dürfte jedoch auch ohne die offensichtliche Ähnlichkeit die Vermittlung von Wahrhaftigkeit des Erzählten kaum beeinträchtigen. An dieser Stelle muss auf den Paratext des Comics verwiesen werden: Durch eine an8 9 10 11
Reinhard Kleist, Cash. I See a Darkness. Hamburg 2006, S. 25. Stephen Miller, Johnny Cash. The Life of an American Icon. London 2003. Kleist, Cash, S. 23. Miller, Johnny Cash, 1. Photoverzeichnis, Photo 2, unpag.
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gehängte Bibliographie gibt Kleists Text seine Quellen an und erhöht so seinen Authentizitätsanspruch. Vergleicht man die Bildquellen dieser Veröffentlichungen mit Kleists Comic, wird der Umfang, in welchem er sich der ikonischen Verweise bedient, offensichtlich. Dies sticht vor allem in Kleists Darstellung des berühmten Konzerts im Staatsgefängnis von Folsom 1968 hervor, deren Panels zu einem großen Teil direkt Bildquellen aus Johnny Cash at Folsom Prison von Michael Streissguth zitieren12 – auf die Technik des Bildzitats wird später genauer eingegangen. Die comicspezifische Bedeutung der ikonischen Verweise wird beim Vergleich mit anderen Kunstformen offensichtlich. Ein Jahr vor der Veröffentlichung von I See a Darkness erschien in den USA James Mangolds biographischer Spielfilm Walk the Line.13 Ein ikonischer Verweis wie im Comic ist hier nicht möglich, stattdessen stellt der Schauspieler Joaquín Phoenix Johnny Cash dar. Authentifizierung durch Ähnlichkeit findet sich hier entsprechend in einer abstrakteren Form: Frisur und Kleidung sowie Gestik und Mimik des Schauspielers sind vom historischen Vorbild übernommen, eine direkte ikonische Ähnlichkeitsbeziehung besteht allerdings nicht. Zwar kann beim Casting des entsprechenden Schauspielers auf Analogien in der Erscheinung geachtet werden; ein tatsächlicher ikonischer Verweis, wie er im Comic möglich ist, bleibt dem Film allerdings in der Regel verwehrt. Weitaus abstrakter findet sich in Arne Nobels Inszenierung A Tribute to Johnny Cash (Premiere: 14. März 2008) am Schauspielhaus Bochum die Darstellung Johnny Cashs parallel durch zwei Schauspieler, insbesondere Oliver Möller. Letzterer wechselt von der Rolle des jungen Johnny Cash zu Bob Dylan durch eine vor dem Publikum vollzogene Änderung der Frisur, Öffnung des Hemdes, Entfernung des Sakkos und das Aufsetzen einer dunklen Sonnenbrille. In diesem Fall wird die Zeichenhaftigkeit jener Accessoires, die eine Ähnlichkeitsbeziehung generieren sollen, offen gelegt. Es wurde bereits oben darauf hingewiesen, dass I See a Darkness neben dem ikonischen Verweis der Figuren auf ihre historischen Vorbilder auch Bildquellen auf verschiedene Weisen zitiert und in den discours übernimmt. So wird die Hochzeit von Johnny Cash und Vivian Liberto14 durch ein Panel erzählt, das die einander anschauenden Eheleute zeigt, während der Bräutigam seinen Arm um die Braut legt. Anstatt authentisches Bildmaterial der Hoch12
13 14
Michael Streissguth, Johnny Cash Live in Folsom Prison. The Making of a Masterpiece. Cambridge 2004. James Mangold, Walk the Line. Fox 2000 Pictures 2005. Kleist, Cash, S. 45, Panel 1.
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zeit zu zitieren, bedient sich Kleist der Photographie einer Preisverleihung Mitte der 1950er.15 Der Text zitiert also hier eine Bildquelle nicht, um das auf der Photographie dargestellte Ereignis zu erzählen, sondern um mit der Darstellung eines anderen historischen Moments Authentizität zu suggerieren. Diese Form des Zitats soll an dieser Stelle als »indirektes Bildzitat« bezeichnet werden. Als für die Produktion von Wirklichkeitseffekten wirkungsvoller bieten sich jedoch »direkte Bildzitate« an – also die direkte Übernahme von Bildern. In Kleists Comic bedeutet das vor allem das Zitieren von Photos, welche in der Erzählung den auf dem Photo dargestellten Moment nacherzählen. Ein offensichtliches Beispiel stellt die Szene um Johnny Cashs Verurteilung dar, welche durch ein berühmtes Photo in einem Bericht des Tennessean vom 29. Dezember 1965 (Abb. 1) dokumentiert wurde. Kleist fügt in die Panelfolge, welche einen Dialog zwischen Johnny und Vivian Cash nach der Verhandlung erzählt, eine gezeichnete Version dieser Photographie als Panel ein (Abb. 2). Der Text verweist hiermit also auf das bekannte Photo als Bildquelle und beglaubigt so scheinbar, dass der Gang auf der Treppe des Gerichtsgebäudes genau so erzählt wird, wie er im Falle des historischen Johnny Cash tatsächlich vonstatten ging. Dass dieser Verweis auf die Photographie, insbesondere die Pressephotographie, eine derart wirkungsvolle Authentifizierung erzeugt, liegt in der Natur des »photographischen Referenten« nach Barthes, gemeint ist »nicht die möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie g[ä]be (non pas la chose facultativement réelle à quoi renvoie une image ou un signe, mais la chose nécessairement réelle qui a été placée devant l’objectif, faute de quoi il n’y aurait pas de photographie)«.16 Beachtenswert ist zudem die von Kleist vorgenommene Erweiterung des Gezeigten. Am linken Rand seines den photographierten Moment darstellenden Panels (Abb. 2, Panel 1) ergänzt er eine Reihe von entfernten Photographen. Die Szenerie zeigt also nicht nur, dass es sich um einen photographierten Moment handelt, sondern auch, dass der Photograph – oder die Kamera an sich – eine marginalisierte Stellung im Geschehen hat und nur eine räumliche Perspektive auf das Geschehen einnimmt. Was die dargestellten Photographen aufnehmen, ist nicht das, was der Photograph des zitierten Bildes aufgenommen hat – und 15 16
Miller, Johnny Cash, 1. Photoverzeichnis, Photo 6, unpag. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Übers. von Dietrich Leube. Frankfurt am Main 1985, S. 86. Roland Barthes, La chambre claire. Note sur la photographie. Paris 1980, S. 120.
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Abb. 1: Photo aus dem Tennessean vom 29. Dezember 1965, zit. nach: Stephen Miller, Johnny Cash. The Life of an American Icon. London 2003, 1. Photoverzeichnis, Photo 16, unpag.
trotzdem kann man über diese hypothetischen Photos ebenso sagen: »Es-istso-gewesen (Ça-a-été)«.17 Noch während Kleists Text also das Erzählte durch das Bildzitat authentifiziert, unterwandert er diesen Vorgang gleichzeitig, indem er die Beschränkungen von Photographie als Darstellungen von historischer Realität andeutet. Die Bedeutung der Transformation von der Bildquelle zum Panel für die Beziehung von Comic und Biographie erschöpft sich allerdings nicht allein in ihrem ikonischen Verweischarakter. Ein formal interessanterer Aspekt ist die Ästhetisierung beziehungsweise Fiktionalisierung. Oben wurde bereits die zeitliche Dimension des Panels beschrieben. Nicole Mahne schreibt: »Im Vergleich zur Fotografie bildet das einzelne Comic-Bild nicht zwangsläufig isolierte Augenblicke ab, sondern synchronisiert Ereignisse mit unterschied17
Barthes, Die helle Kammer, S. 87. Barthes, La chambre claire, S. 120.
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Abb. 2: Kleist, Cash, S. 113, Panel 2–4.
licher zeitlicher Ausdehnung auf einen statischen Moment«.18 Natürlich sind auch der Photographie in der Regel narrative Implikationen immanent. Als Darstellung eines bestimmten Moments führt sie notwendigerweise stets einen Kontext mit sich, d. h. zeitliche und räumliche Elemente, die außerhalb der Abbildung stehen. Dies kann im Betrachter oder Leser beim studium19 eine narrative Rekonstruktion dieses Kontexts evozieren. Die Transforma18 19
Mahne, Transmediale Erzähltheorie, S. 51. Barthes, Die helle Kammer, S. 35. Barthes, La chambre claire, S. 48.
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tion von Photographie zum Panel nutzt dieses narrative Potenzial und erweitert es. Die Darstellung des auf der Photographie Gezeigten bildet als Panel entsprechend eine eigene zeitliche Dauer aus, während die Eingliederung in Panelsequenzen ein Davor und Danach offenbart und so einen Teil des Kontexts manifest werden lässt, der durch closure20 mit dem Gezeigten verbunden wird. In der Kunstform des Comics ist also schon eine Methode der Biographie vorgegeben: Wie der Biograph aus eventuellen Bildquellen emplotments entwickelt, indem er die im Bild abgelegten Narrationen herausarbeitet, werden Bildquellen durch die Umwandlung in Panels selbst in einem größeren Maße narrativ. Zugleich wird in I See a Darkness die Beziehung zu den Bildquellen vom Comic selbst reflektiert. Kleist selbst zitiert, wie bereits erwähnt, direkt die Photographie eines Berichts des Tennessean und erzählt im folgenden Panel, wie das Verlassen des Gerichtsgebäudes photographiert wird. Das wiederum darauf folgende Panel zeigt eine stilisierte, körnigere Version des Zitats. Es handelt sich um die Darstellung des zuvor zitierten Photos – wohlgemerkt nicht des photographierten Moments –, dessen Geschichte in einem überlagernden Caption schriftlich erzählt wird. Kleist setzt allerdings nicht das Originalphoto an diese Stelle der Sequenz. Stattdessen zeigt er ein Panel (im Folgenden Panel 2 genannt), das die Photographie eines vorherigen Panels (Panel 1) darstellt. Panel 1 erzählt einen Moment aus Johnny Cashs Leben, indem es ein Photo als Quelle zitiert, welches diesen Moment festgehalten hat. Panel 2 stellt innerhalb der Diegese wiederum besagtes Photo dar, indem es Panel 1 zitiert. Als Darstellung des Photos erzählt es selbst nicht mehr direkt, sondern überlässt dies dem angehängten Textfeld. Es ist der Ordnung der Narration als überzeitliches Artefakt enthoben. Zudem besitzt es keinen Rahmen und fällt somit aus der Sequenz und der zuvor erzählten Szene. Einen weiteren Aspekt, der die aktive Narration der in Panels umgewandelten Bildquellen bedingt, stellt die Cartoonisierung dar – Cartoon ist hier im Sinne Scott McClouds21 beziehungsweise der psychosemiotischen Erweiterung des Begriffs durch Stephan Packard22 gemeint. Die Cartoonisierung der Figuren bedingt eine imitative Körperimagination des Rezipienten. Dies ›belebt‹ das Gezeigte nicht nur (und verleiht ihm auch dadurch wieder eine eigene Zeitlichkeit und einen Kontext), sondern gliedert, so Packard, den 20 21 22
McCloud, Understanding Comics, S. 63. Ebd., S. 29–33. Stephan Packard, Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Göttingen 2006.
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Comic zudem syntaktisch.23 Anders als ein schlicht in die Panelsequenz eingefügtes Photo weist das cartoonisierte Bildzitat durch seine »Belebung« eine zusätzliche Zeitlichkeit auf und entwickelt so eine konkretere narrative Dimension. Zu Beginn wurde als eine der Grundvoraussetzungen biographischer Comics die Fähigkeit definiert, etwas so Komplexes wie ein real gelebtes Leben zu einer bündigen, ästhetischen Narration zu formen. Wiederholt greift I See a Darkness hierfür auf eine simple Technik zurück, indem die eigentliche Lebensgeschichte in die Erzählung eines Erinnerungsvorgangs eingebettet wird. Hier ähnelt der Comic seinen Nachbarmedien Film und Drama: Der größte Teil des Films Walk the Line stellt den Erinnerungsvorgang des 35-jährigen Cash dar, welcher vor seinem Konzert am 13. Januar 1968 sein Leben Revue passieren lässt.24 Erst nach einer knapp 100-minütigen Analepse kehrt der discours zu diesem Zeitpunkt zurück und erzählt in den verbleibenden 15 Minuten die folgenden Geschehnisse bis zum Happy End einer glücklichen Familiengründung von Cash und Carter. Auch A Tribute to Johnny Cash am Bochumer Schauspielhaus zeigt einen gealterten Cash – gespielt von Thomas Anzenhofer – der retrospektiv sein Leben erzählt und das Publikum an seinen Erinnerungen teilhaben lässt, welche wiederum von Schauspielern szenisch dargestellt werden. Ebenso endet I See a Darkness mit einer Erinnerungssequenz des greisen Cash, welche jedoch lediglich 15 Seiten – plus einer achtseitigen Songpassage – einnimmt. Der Rest des Comics bedient sich mit einer Figur, die den historischen Gefängnisinsassen und Sänger Glen Sherley darstellt, einer anderen »erinnernden« Erzählinstanz. Sherley wird zu Beginn als Cash-Fan eingeführt, der im Folsom Prison jede Information zu seinem Idol sammelt und versucht, diese zu einer stringenten Geschichte zusammenzusetzen. Hierbei wird die vom Comic dargestellte Lebensgeschichte nach zwei Grundmotiven strukturiert, deren sich auch Walk the Line und A Tribute to Johnny Cash bedienen: Diese Motive sind die hindernisreiche, jedoch glücklich endende Liebesgeschichte, die zwischen Johnny Cash und June Carter konstruiert wird, und der Fall beziehungsweise die anschließende Errettung des vom drogenbedingten Wahnsinn befallenen Genies Cash. Während die Ähnlichkeit zwischen Film und Drama durch direkten Einfluss erklärt werden könnte, lässt die zeitliche Nähe der Erscheinungstermine von Walk the Line und I See a Darkness darauf schließen, dass beide Texte unabhängig voneinan23 24
Ebd., S. 121–132. Walk the Line, 00. 02. 44 h.
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der zur gleichen Struktur gefunden haben. Dies erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass sowohl die hindernisreiche Liebesgeschichte als auch das Motiv des drogensüchtigen und wahnsinnigen Genies in der Popkultur paradigmatische Topoi sind. Zudem reflektiert der Comic selbst das Genre der Biographie und sein eigenes Vorgehen, inklusive der Dialektik, sowohl historischer Realität verpflichtet zu sein als auch narrative Zwänge und (in diesem Fall) das idealisierte Image des Popstars bedienen zu wollen. Durch die Erzählinstanz Sherleys werden hierfür Teile der Authentifizierungsstrategien reflektiert: »Hab alles gesammelt, was ich in die Finger kriegen konnte. Photos, Artikel, Interviews. Ich wollte wissen, wer das ist, der da singt. / So habe ich mir ein Bild gemacht von diesem Mann, ihn kennen gelernt. Ab und zu musst du nur zwischen den Zeilen lesen. Dann hast du die wahren Geschichten.«25
Über den Realitätsanspruch dieser vermeintlich wahren Geschichten und seine eigenen narrativen Strategien macht sich Kleists Sherley allerdings keine Illusionen. So sagt er im direkten Anschluss an das vorherige Zitat: »Am Ende sind es die Geschichten, die bleiben, nicht die Fakten. Und Geschichten müssen erzählt werden«.26 So bestreitet die Figur Sherley für seine Erzählung – und entsprechend auch für den gesamten Comic – einen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch. Seine Erzählung ist nicht im engeren Sinne historisch korrekt, sondern authentisch. Die Funktion Sherleys als erzählende Instanz eines Comic-Texts ist natürlich nicht unproblematisch. Der dramatische Modus, der oben als dem Comic grundsätzlich immanent festgestellt wurde, macht die Distanz eines klassischen Erzählers, wie er sich in der Literatur findet, unmöglich. Durch overlapping dialogue und Szenen, die Sherley zu einem der restlichen histoire folgenden Zeitpunkt zeigen, wird suggeriert, dass es sich bei der Haupthandlung um szenische Darstellung der Erzählung Sherleys handelt. Diese Erzählsituation dreht sich jedoch spätestens gegen Ende des Texts um, wenn Johnny Cash zum Biographen des inzwischen verstorbenen Sherley wird, nachdem beide bereits von Beginn an als Doppelgängerfiguren inszeniert wurden. Tatsächlich wird die Erzählsituation noch früher gebrochen, so zum Beispiel in einer Episode, die in einer Sequenz aus vier Panels mit wechselnder Perspektive erzählt wird.27 Das erste Panel beginnt mit einer Darstellung von 25 26 27
Kleist, Cash, S. 92, Panel 4 und 5. Ebd., Panel 6. Ebd, S. 122.
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Johnny Cashs Gesicht – in filmtheoretischer Terminologie könnte man von einer Großaufnahme sprechen. In einem subject-to-subject-Übergang wird im Darstellungsraum die Perspektive der Figur Cash, welche auf ihrer von ihr selbst nicht fokussierbaren Hand Käfer wahrnimmt, erzählt. Dieser Übergang wiederholt sich in den folgenden Panels erneut: Wieder sieht der Rezipient eine Großaufnahme Cashs und wieder wechselt die Perspektive auf Cashs Hand, die nun in einem zerfallenen Panelrahmen mit Insekten übersät ist. An dieser Stelle übernimmt die Darstellungsebene nicht nur den physischen Blickwinkel der Figur, sondern spiegelt metaphorisch zugleich ihr psychisches Innenleben. So handelt es sich bei dieser Szene, welche Johnny Cashs letztes Konzert in der Grand Ole Opry erzählt, um einen historisch verbürgten Moment. Cash selbst gibt als Grund für seinen Ausfall in der Grand Ole Opry allerdings an, dass er aufgrund eines Zitterns nicht in der Lage war, das Mikrophon aus seiner Halterung zu entnehmen und daraufhin die Beherrschung verlor.28 Die im Comic dargestellte Halluzination der Insektenbisse ist einer anderen Anekdote entnommen. Cash selbst verdeutlicht seinen Geisteszustand während eines späteren, kurzen Rückfalls in die Medikamentenabhängigkeit Anfang der 1980er ebenfalls anhand einer Halluzination über eine Spinne auf seiner Hand.29 In einer späteren Szene, welche Cashs Amphetamin-Entzug erzählt, lenkt Kleist die Perspektive wesentlich konsequenter auf die subjektive Wahrnehmung des fiktiven Cash. Dieser schreibt über seine Entzugserscheinungen: Then all of a sudden a glass ball would begin to expand in my stomach. My eyes were closed, but I could see it. It would grow to the size of a baseball, a volleyball, then a basketball. And about the time I felt that ball was twice the size of a basketball, it lifted me up off the bed […] It lifted me off the bed to the ceiling, and when it would go through the roof, the glass ball would explode and tiny, infinitesimal slivers of glass would go out into my bloodstream from my stomach.30
In seiner Autobiographie greift Cash also auf eine metaphorische Beschreibung zurück, um einen Zustand beziehungsweise eine subjektive Empfindung zu vermitteln, die in einer rein denotativen Form nicht adäquat zu artikulieren wäre. Kleists Comic übernimmt diese Rhetorik in seinen dicours, indem er Cashs Metapher auf die Darstellungsebene überträgt und dem Leser zeigt, wie aus einem bettlägerigen Patienten tatsächlich ein Geflecht aus Blutbahnen wird und sich der oben zitierte Vorgang vollzieht (Abb. 3 und 4). 28 29 30
Johnny Cash, The Man in Black. Grand Rapids, MI 1975, S. 98–99. Johnny Cash/Patrick Carr, Cash. The Autobiography. San Francisco 1997, S. 177. Cash, Man in Black, S. 145.
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Abb. 3: Kleist, Cash, S. 144, Panel 5–7.
An diesen Stellen wird spätestens klar, dass eine feste, interne Fokalisierung auf die Figur Sherleys nicht aufgeht, sondern es sich mindestens um eine variable Fokalisierung handeln muss, welche zwischen den Perspektiven Sherleys und Cashs wechselt. Auch sollte festgehalten werden, dass die Figur Sherley zum Zeitpunkt seiner Erzählung nach der Logik der Diegese weder von den Einzelheiten der Geschehnisse gewusst haben noch ihr eine der metaphorischen Beschreibungen Cashs bekannt gewesen sein könnte. Die unvermittelte Übertragung metaphorischen Erzählens auf die Darstellungsebene lässt sich vielleicht am besten mit dem Konzept des Bewusstseinsstroms vergleichen – einer Technik also, die den Anspruch einer faktualen Erzählung obsolet werden lässt. Das Ergebnis ist ein dreigeteilter discours: Erstens stellt der Text mit Glen Sherley einen fiktiven Biographen als Erzählinstanz bereit, zweitens setzt die Fokalisierung auf die Figur Cashs jenseits
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Abb. 4: Kleist, Cash, S. 145.
des von Sherley Erfahrbaren diesen Erzähler zumindest zeitweilig außer Kraft. Schließlich kennzeichnet der Paratext – insbesondere die Literaturangaben im Anhang – I See a Darkness eindeutig als Analogon verschiedener klassisch-biographischer Texte. Selbst die metaphorische Darstellungsebene authentifiziert sich durch den paratextuellen Verweis auf Hypotexte, ohne sich jedoch als explizites Zitat oder Kommentar auszugeben. Zu den relevantesten Mythen der Popmusik gehört die angenommene Verbindung zwischen der Person des Singer-Songwriters und den Texten seiner Lieder. Ähnlich wie der romantische Geniebegriff teilweise bizarre Kausalverbindungen zwischen Autor und Text beziehungsweise eine Überbewertung biographischer Lesarten produzierte, wird im Bereich der Popmusik die Einheit von Künstler und Songtexten unterstellt, besonders wenn der Sän-
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ger auch Autor der Texte ist. Johnny Cash selbst schreibt zu den Reaktionen, die sich noch in den 1990ern auf sein Frühwerk finden: … the same few questions people have been asking me for forty years […] Why was I in prison? I never was. That idea got started because I wrote and sang »Folsom Prison Blues«, my 1955 Hit, from the perspective of a convicted […] In fact, I’ve never served any time at all in any correctional institution anywhere31
Diese biographische Lesart hat auf zwei Ebenen Konsequenzen: Zum einen wird das in den Songs Erzählte scheinbar authentifiziert, zum anderen wird jedoch auch durch eben diese vermeintlich authentifizierten Songs eine persönliche Verbindung zum Sänger vorgetäuscht – und eine Möglichkeit, sein Leben durch sein Werk zu rekonstruieren. Bei der Rekonstruktion der Geschichte Johnny Cashs durch die Erzählinstanz Glen Sherley übernimmt auch Kleist die Texte verschiedener CashSongs nicht nur als innerhalb der Diegese gesungene Lieder – wie es im Falle des Songs »Hurt« der Fall ist32 – sondern auch als Darstellung von Episoden, die von der authentischen Lebensgeschichte nicht immer auf den ersten Blick zu unterscheiden sind. Dazu gehört bereits der Prolog.33 Dieser erzählt, wie eine Figur, die ikonisch auf den historischen Cash verweist, in die Glücksspielstadt Reno fährt, dort einen Mann erschießt und ihm beim Sterben zusieht, nur um kurz darauf festgenommen und ins Staatsgefängnis Folsom gebracht zu werden. Dass es sich nicht um eine authentische Szene aus dem Leben des historischen Cash handelt, wird spätestens klar, wenn Glen Sherley seinem Mithäftling erklärt, dass Cash nie wirklich in Haft war.34 Der Cash-Kenner erkennt in der Prolog-Szene jedoch schon vorher die Illustration des bekannten Songs »Folsom Prison Blues«,35 in dessen zweiter Strophe es heißt: »But I shot a man in Reno / Just to watch him die«. Der Wechsel zwischen auf Historie referierender Biographie und Darstellung von Songtexten wiederholt sich insgesamt sechsmal. Mit Ausnahme der Sequenz zum Song »Ballad of Ira Hayes«36 verweisen die Protagonisten der Songs stets ikonisch auf Johnny Cash. Dies gilt für den jungen Billy Joe aus »Don’t Take Your Guns to Town«37 ebenso wie für den »Boy Named Sue« 31 32 33 34 35 36
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Cash/Carr, Autobiography, S. 56. Kleist, Cash, S. 190–191. Ebd., S. 7–12. Ebd., S. 18. Johnny Cash, »Folsom Prison Blues«, Sun Records 1955. Kleist, Cash, S. 114–117. – Johnny Cash/Peter LaFarge, »The Ballad of Ira Hayes«, Columbia Records 1972. Kleist, Cash, S. 69–73. – Johnny Cash, »Don’t Take Your Guns to Town«, Columbia Records 1971.
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aus dem gleichnamigen Lied,38 den Mörder Willie Lee im »Cocaine Blues«39 und die namenlosen Protagonisten von »Big River«40 und »Ghost Riders in the Sky«.41 Letzterer bekommt bei der Darstellung der Textzeile »As the riders loped on by him, he heard one call his name« folgerichtig Cashs Vornamen. Interessant ist im letzten Fall zudem, dass dieser Song an einem Punkt erzählt wird, an dem Sherley nicht mehr als Erzählinstanz fungiert. Vielmehr wird hier eine prämortale Vision Cashs suggeriert, der sich selbst im Angesicht seines nahenden Todes mit dem Protagonisten des alten Country-Songs identifiziert – sich also auch selbst in sein Werk hineinliest. In den Darstellungen der Songs erscheinen Cashs Doppelgänger meistens wesentlich stärker cartoonisiert. Dies ist zum einen als formale Spiegelung der Tatsache zu sehen, dass die entsprechenden Lieder – wie viele Country- und vor allem Cash-Songs – in ihrem musikalischen Aufbau eher simpel und dynamisch, in ihren Texten oft autodiegetisch sind. Zum anderen fordern die Figuren als offenere Cartoons weitaus mehr zur Identifikation durch den Rezipienten heraus.42 Dies entspricht auf der formalen Ebene der Tatsache, dass innerhalb der Diegese der Erzähler Glen Sherley sich mit Johnny Cash durch dessen Songs identifiziert. Abschließend bleiben also folgende Ergebnisse festzuhalten: Auf Grund ihres dramatischen Modus sind biographische Comic-Texte in erster Linie als künstlerische Biographien zu betrachten. Trotzdem steht der Comic, wie jede Form biographischer Literatur, im Spannungsfeld zwischen historischer Referenz und narrativer Performanz. Als wirkungsvolles Mittel der Authentifizierung fungiert der ikonische Verweis in seiner Eigenschaft als Referenz auf historische Personen und Orte. Er kann im Comic wesentlich direkter angewandt werden als in anderen szenischen Kunstformen. Als vergleichbare Authentifizierungsstrategie dient das Bildzitat, welches im Falle von I See a Darkness sowohl direkt als auch indirekt auftreten kann, wobei das direkte Bildzitat sehr viel stärker auf historische Realität referiert.
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Kleist, Cash, S. 94–100. – Johnny Cash/Shel Silverstein, »A Boy Named Sue«, Columbia Records 1969. Kleist, Cash, S. 163–167. – Johnny Cash/T. J. Arnall, »Red«, »Cocaine Blues«, Columbia Records 1968. Kleist, Cash, S. 58–60. – Johnny Cash, »Big River«, Sun Records 1957. Kleist, Cash, S. 198–206. – Johnny Cash/Stan Jones, »(Ghost) Riders in the Sky«, Columbia Records 1979. Vgl. Packard, Anatomie des Comics, S. 141–146.
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In Hinblick auf Referenzialität und narrativen Charakter des Comics stellt sich insbesondere die Transformation von Bildquelle zu Panel als interessant dar. Diese Technik nutzt das narrative Potential von Photographien. Vor allem durch die (Re-)Konstruktion eines Kontexts, die Einbettung in Panelsequenzen und Cartoonisierung der transformierten Bildquelle wird den Darstellungen eine eigene Zeitlichkeit verliehen. Dies betont die bereits in der Quelle immanenten narrativen Eigenschaften. Im Falle von Kleists CashComic geht diese Technik zudem mit einer gewissen Selbstreflexion einher, welche zusätzlich den artifiziellen Modus des biographischen Comics thematisiert. Auf der Ebene der Erzählung wird eine solche Selbstreflexion der künstlerischen Biographie zudem durch die Einführung eines Erzählers ergänzt, der sein eigenes Vorgehen als Biograph – und damit zusammenhängende Probleme – thematisiert. Über Rückgriffe auf bekannte Motive – im vorliegenden Fall auf die Liebesgeschichte und die Sucht beziehungsweise die Heilung, hier vielleicht sogar Erlösung – kann ein so komplexes Gebilde wie eine Lebensgeschichte narrativ strukturiert werden. Neben der selbstreflexiven Instanz der Biographen-Figur als Erzähler kann durch eine Form von metaphorischem discours die Psyche einer Figur auf der Darstellungsebene comicspezifisch erzählt werden, ohne dass abstrakte Erfahrungen oder Emotionen in Schriftsprache artikuliert werden müssen. Im Falle einer gezeichneten Figur, die auf eine historische Person verweist, kann die Auswahl belegter autobiographischer Metaphern zudem eine weitere Authentifizierungsstrategie darstellen. Die oft unterstellte Verbindung von Kunstwerk und Künstler thematisiert I See a Darkness durch die Übertragung des ikonischen Verweises – und in einem Fall sogar des Vornamens – in kleine korrelative Erzählungen von Songinhalten. Überhaupt macht der hohe Grad, in dem Kleist nicht nur über die Biographie als erzählende Rekonstruktion von Leben durch den Biographen, sondern auch seine eigenen Techniken der Authentifizierung reflektiert oder beides zumindest offen legt, I See a Darkness zu einem für die Analyse biographischer Comics fruchtbaren und repräsentativen Text.
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Literatur Primärliteratur Cash, Johnny, The Man in Black. Grand Rapids, MI 1975. Cash, Johnny/Patrick Carr, Cash. The Autobiography. San Francisco 1997. Kleist, Reinhard, Cash. I See a Darkness. Hamburg 2006.
Sekundärliteratur Barthes, Roland, La chambre claire. Note sur la photographie. Paris 1980. Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Übers. von Dietrich Leube. Frankfurt am Main 1985. Klein, Christian, »Lebensbeschreibung als Lebenser schreibung? Vom Nutzen biographischer Ansätze aus der Soziologie für die Literaturwissenschaften«, in: Ders., Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar 2002, S. 69–86. Mahne, Nicole, »Comic«, in: Dies., Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen 2007, S. 44–76. Mangold, James, Walk the Line, Fox 2000 Pictures 2005. McCloud, Scott, Understanding Comics. New York 1994. Miller, Stephen, Johnny Cash. The Life of an American Icon. London 2003. Packard, Stephan, Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Göttingen 2006. Streissguth, Michael, Johnny Cash Live in Folsom Prison. The Making of a Masterpiece. Cambridge 2004. Wagner-Egelhaaf, Martina, Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000.
Lieder Cash, Johnny, »Folsom Prison Blues«, Sun Records 1955. Cash, Johnny, »Big River«, Sun Records 1957. Cash, Johnny/T. J. Arnall, »Red«, »Cocaine Blues«, Columbia Records 1968. Cash, Johnny/Shel Silverstein, »A Boy Named Sue«, Columbia Records 1969. Cash, Johnny, »Don’t Take Your Guns to Town«, Columbia Records 1971. Cash, Johnny/Peter LaFarge, »The Ballad of Ira Hayes«, Columbia Records 1972. Cash, Johnny/Stan Jones, »(Ghost) Riders in the Sky«, Columbia Records 1979.
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Stefan Höppner (Freiburg)
Ohne Worte Erzählweisen des Fremden in Shaun Tans The Arrival
For me, that’s what creativity is – playing with found objects, reconstructing things that already exist, transforming ideas or stories I already know. It’s not about the colonization of new territory, it’s about exploring inwards, examining your existing presumptions. Shaun Tan1
I Als in den 1970er Jahren der Begriff graphic novel für eine bestimmte Art von Comics auftauchte,2 hatte das langfristig eine doppelte Wirkung. Auf der einen Seite schuf man einen prägnanten Terminus für künstlerisch hochwertige, thematisch anspruchsvolle und erzählerisch komplexe Comics, die sich außerhalb der etablierten Genres und Formen bewegen und sich auch auf thematisch schwieriges Terrain begeben. Solche Comics existierten natürlich längst vor dieser Zäsur, aber Eisners Begriff wirkte wie ein Etikett, das vorher als divergent wahrgenommene Werke in eine gemeinsame Kategorie fasste.3 Auf lange Sicht stimulierte die neue Bezeichnung aber auch die Produktion solcher »anspruchsvollen« Comics, schuf mediale Aufmerksamkeit und damit letztlich auch einen Markt an der Grenze zwischen ›hoher‹ und
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Shaun Tan, Originality and Creativity: Paper for ALEA Hobart Conference, May 2001, S. 5, http://www.shauntan.net/essay2.html (Stand: 15. 12. 2009). Meistens wird die Erfindung des Begriffs Will Eisner zugeschrieben, der ihn für die Vermarktung seines Albums A Contract with God (1978) gebrauchte. Wie Hillary Chute zeigen kann, ist die Überlieferungsgeschichte etwas komplizierter und lässt sich bis ins Jahr 1964 zurückverfolgen, vgl. Hillary Chute, »Comics as Literature? Reading Graphic Narrative«, in: Proceedings of the Modern Language Association of America (PMLA) 123/2008, 3, S. 452–465, hier S. 453 und 462. Chute hält ihn allerdings für irreführend, da auch nichtfiktionale Comics unter diesem Etikett vermarktet werden; sie schlägt stattdessen das neutralere »graphic narrative« vor; vgl. ebd., S. 453.
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›populärer‹ Kultur. In diesem Zuge findet die graphic novel auch erhöhte Aufmerksamkeit im Feuilleton.4 Dies gilt insbesondere für Deutschland, wo der Comic bisher keinen herausgehobenen kulturellen Stellenwert besaß, anders als etwa in den USA, Japan oder dem franko-belgischen Raum. Dies ist die eine Seite des Effekts. Die andere Seite zeigt sich in der Literaturwissenschaft. Vom Center for Contemporary Cultural Studies in Birmingham und ähnlichen Institutionen ausgehend, prägten die Cultural Studies bereits seit den 1970er Jahren britische und dann auch amerikanische Universitäten. Doch erst in den späten 1990er Jahren erreichte der ›Cultural Turn‹ auch die Germanistik. Damit verbunden ist eine höhere Aufmerksamkeit für den medialen Charakter der Literatur (im Sinne von Marshall McLuhans Medienbegriff) und damit auch für das Verhältnis der Literatur zu anderen, konkurrierenden Medien. In diesem Zuge hat sich auch die deutschsprachige Literaturwissenschaft verstärkt dem Comic zugewandt; eine vergleichbare Auseinandersetzung fand zuletzt in den frühen 1970er Jahren statt, damals meist unter dem kulturkritischen Vorzeichen einer epigonalen Adorno- bzw. Marx-Rezeption, nach der Comics gern pauschal als entfremdete Produkte einer kapitalistischen bis faschistoiden »Kulturindustrie«, als reine »Massenzeichenware«5 abgetan wurden. Das derzeitige Forschungsinteresse scheint sich vor allem auf zwei Punkte zu konzentrieren. Zum einen verstehen sich sowohl (Prosa-)Literatur als auch Comic als erzählende Medien; damit wird ein Vergleich der Erzählverfahren interessant. Zum anderen rücken die Übertragungen von einem Medium ins andere in den Blickpunkt. Das betrifft natürlich die Adaptation von literarischen Texten oder von Autorenbiographien im Comic,6 ebenso aber die Transformation von Comics in andere Medien. Kulturkritische Aspekte oder die Behauptung, eines der beiden Medien stehe pauschal höher als das andere, finden sich in der Regel nicht mehr. Dies aber hat mit dem Anspruch zu tun, den Eisner im Begriff der graphic novel formuliert. Damit postuliert er nicht nur einen Comic, der »wie ein Roman« erzählen soll, sondern formu4
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Vgl. dazu Stephan Ditschke, »Comics als Literatur: Zur Etablierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton seit 2003«, in: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hrsg.), Comics: Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009, S. 265–280. Vgl. etwa dieses programmatisch betitelte Buch: Wiltrud Ulrike Drechsel/Jörg Funhoff/Michael Hoffmann, Massenzeichenware: Die gesellschaftliche und ideologische Funktion der Comics. Frankfurt am Main 1975. Vgl. zu diesem Gebiet zuletzt: Monika Schmitz-Emans, Literatur-Comics: Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur. Berlin, Boston 2012.
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liert auch den Anspruch, den Comic auf Augenhöhe mit dem Roman zu betrachten. Damit ist überhaupt nicht geklärt, was denn das ›Literarische‹ der graphic novel ausmacht und was jeweils die Kriterien für eine Vergleichbarkeit in der Bewertung beider sein sollten.7 Ebenso wenig ist damit festgelegt, worin sich die graphic novel – wenn überhaupt – vom ›gewöhnlichen‹ Comic unterscheidet, oder ob es sich gar, zumindest bei einem Teil der so bezeichneten Werke, um ein reines Etikett zu Marketingzwecken handelt. Vielmehr ist damit ein ebenso grundlegender wie vager künstlerischer Anspruch formuliert, der seit der Jahrtausendwende eine wachsende Zahl literaturwissenschaftlicher Studien wie die in diesem Buch versammelten inspiriert. Die vorliegende Arbeit widmet sich der vielfach preisgekrönten graphic novel The Arrival des australischen Künstlers Shaun Tan, die seit ihrer Veröffentlichung 2006 weltweiten Zuspruch sowohl seitens der Kritik als auch beim Publikum erfahren hat. Auf 128 Seiten erzählt Tan die Geschichte eines Familienvaters, der als Einwanderer in eine fremde Kultur kommt und dort seinen Platz zu finden versucht. Was ihm dabei widerfährt, ist typisch für das Leben vieler realer Migranten: Die namenlose Hauptfigur (Abb. 1)8 setzt sich mit den Einwanderungsbehörden auseinander, findet eine bescheidene Unterkunft und wird von Heimweh nach der zurückgelassenen Familie geplagt. Der dunkelhaarige Mann mit westlichen Zügen sucht nach Arbeit, kann die Schrift des Landes nicht lesen und droht schon an der Benutzung der Verkehrsmittel zu scheitern. Schon das Titelbild, auf dem die Hauptfigur ihrem künftigen, hundeartigen Haustier gegenübersteht, weist exemplarisch auf diesen Konflikt hin: Die als ›westlich‹ und ›normal‹ konnotierte Hauptfigur ist verwundert und erstaunt über die fremde Welt, in der sie ihren Weg finden muss und deren Funktionsweise sich ihr nur langsam erschließt. Trotzdem helfen ihr andere Menschen, die selbst als Einwanderer gekommen sind und ihr ihre eigene Geschichte mitteilen. Ein glückliches Ende findet die Handlung dadurch, dass der Protagonist seine Frau und seine Tochter zu sich holen kann. Das Kind lebt sich schnell ein und kann anderen Fremden die Hilfe zuteil werden lassen, die der Vater zuvor empfangen hat. 7
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Vgl. dazu unter anderem Chute, »Comics as Literature?«, sowie Jan Baetens, »Graphic Novels: Literature Without Text?«, in: English Language Notes 46/2008, 2, S. 77–88. Eine andere, verwandte Frage ist, ob feste Kriterien für die Abgrenzung der graphic novel gegenüber dem ›normalen‹ Comic existieren; vgl. dazu Johanna Drucker, »What Is Graphic About Graphic Novels?«, in: English Language Notes 46/2008, 2, S. 39–55. Alle Seitenangaben folgen der französischen Ausgabe: Shaun Tan, Là où vont nos pères. Paris 2008, der auch die Abbildungen entnommen sind.
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Abb. 1: Titelbild von The Arrival.
Die überwältigende Resonanz auf The Arrival hat wohl vor allem zwei Gründe: Zum einen die künstlerisch hochwertige Ausführung, die sich auf einem Markt durchsetzen konnte, auf dem die graphic novel als ›anspruchsvolle‹ Unterart des Comics bereits eine etablierte Gattung ist. Zum anderen prägt das universale Thema der Migration praktisch alle westlichen und asiatischen Gesellschaften, in denen The Arrival publiziert wurde, ob sie nun primär Einwanderungs- oder Auswanderungsgesellschaften oder beides sind. Im Folgenden geht es vor allem um die Darstellung der Begegnung zwischen dem Auswanderer und der fremden Kultur, in die er sich begibt. The Arrival kombiniert Zitate aus einem populären Bilderrepertoire, das man im Westen mit der Auswanderung vor allem in die USA verbindet, mit einer fremden Kultur, deren einzelne Elemente zwar aus Bekanntem abgeleitet, aber so radikal verfremdet sind, dass die gezeichnete Kultur keiner der uns bekannten gleicht – und gerade darin eine universelle Signifikanz gewinnt. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei dem bewussten Verzicht auf sprachliche Gestaltungsmittel innerhalb der Panels gelten. Es soll gezeigt werden, dass es gerade der Verzicht auf jeglichen Text ist, der den wichtigsten Faktor einer strukturellen Offenheit für mögliche Rezipienten darstellt. Es ist diese
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Offenheit, die es potenziell allen Rezipienten erlaubt, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren, gleichgültig welcher Kultur er oder sie angehört. Zu den verwandten Aspekten, die hier ebenfalls besprochen werden, gehören die gestalterische Annäherung an das Medium der Fotografie und der Einsatz von Zitaten aus der bildenden Kunst. Zum Abschluss werde ich noch einen kurzen Blick auf die Rolle der erzählten Lebensgeschichten innerhalb von The Arrival werfen, in denen – so meine These – die graphic novel über sich selbst als erzählendes Medium reflektiert.
II Shaun Tan wurde 1974 in Westaustralien geboren und wuchs in einem Vorort der Stadt Perth auf. Beeindruckt von Science-Fiction-Autoren wie Isaac Asimov, Ray Bradbury und Arthur C. Clarke,9 begann er als Teenager zunächst, selbst Geschichten zu schreiben,10 verlegte sich dann aber auf die Illustration von SF- und Horror-Stories in kleinen Zeitschriften.11 Nach der Schule schrieb er sich an der University of Western Australia ein, wo er Englisch und Kunstgeschichte studierte. Dass er sich dort eher auf die Kritik und Theorie als auf die Praxis von Kunstwerken konzentrierte, prägte seine künstlerische Vorgehensweise sehr stark:12 »It was more or less training to be an academic rather than an artist.«13 Ein eigentliches Kunststudium lehnte er unter anderem deshalb ab, weil ihm das Kunstverständnis seiner Kommilitonen zu mimetisch war: »I realised that art is about distortion and fabrica9
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Frances Atkinson, »Drawn to the image«, in: The Age, 27. 01. 2007, http:// www.theage.com.au/news/books/tan-drawn-to-the-image/ 2007/01/26/1169594478896.html (Stand: 15. 12. 2009). »I have a small pile of rejection letters as testament to this ambition« (Karen Haber, »Shaun Tan: Out of Context«, in: Locus 12/2001, unpag. http://www.locus mag.com/2001/Issue12/Tan.html; zit. nach: »Shaun Tan«, http://en.wikipedia. org/wiki/Shaun_Tan [Stand: 15. 12. 2009]). Anonym, »Shaun Tan: Biography«, in: http://www2.scholastic.com/browse/ contributor.jsp?id=3747039 (Stand: 15. 12. 2009). »One effect of writing so many critical essays in college is that I now approach illustration projects with a greater emphasis on research […] I […] generally invest far more time into preliminary conceptual work, mapping out ideas and testing alternatives rather than jumping straight into painting final images.« (Chuan-Yao Ling, »A Conversation with Illustrator Shaun Tan«, in: World Literature Today 825/2008, S. 44). Craig Malyon, »Illustrator and Graphic Designer – Shaun Tan«, in: Charles Sturt University: Visual Arts: Course Requirements: Case Studies, o. J., http:// www.hsc.csu.edu.au/visual_arts/requirements/case_studies/illustrator_graphic_designer/122232ShaTanCDoc5.html (Stand: 15. 12. 2009).
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tion not necessarily reportage.«14 Gleichzeitig arbeitete Tan jedoch weiter an der Vervollkommnung seines Zeichenstils, nach wie vor als Autodidakt. Nach seinem Abschluss 1995 versuchte Tan Arbeit als Illustrator zu finden, zunächst ohne Erfolg, bis ihn zwei Jahre später der Verlag Lothian Books bat, Texte des Autors Gary Crew mit Bildern zu versehen.15 1999 erschien Tans erstes eigenes Buch, The Lost Thing, dem 2001 The Red Tree folgte. Beide Werke umfassen je 32 Seiten und verstehen sich als Bilderbücher. Das heißt, sie arbeiten anders als The Arrival mit einer Kombination von Bild und Text. Dabei ist der Text wie im Bilderbuch üblich neben bzw. unter dem Bild, nicht im Bild angeordnet.16 Dass es sich um Bilderbücher handelt, heißt nicht, dass sie ausschließlich oder gar vorwiegend für Kinder gemacht sind. Auf diese Rezeptionshaltung stieß Tan jedoch bei Lesern und Kritikern immer wieder, so dass er in vielen Interviews klarstellen musste, dass seine Arbeiten auf ein breiteres Publikum zielen: There is no reason why a 32-page illustrated story can’t have equal appeal for teenagers or adults […] After all, other visual media such as film, television, painting or sculpture do not suffer from narrow preconceptions of audience. Why should picture books? It is interesting to observe that when I paint pictures for gallery exhibitions, I am never asked who I am painting for.17
Nach seinem Selbstverständnis befragt, antwortet Tan, dass es zwei Stränge in seinem Werk gebe: One has more to do with sketching and painting from life, trying to represent things I see around me. The other is a playful exploration of imaginary worlds – places I don’t see in front of me, but which have strong emotional or conceptual parallels to lived experience, much like dreams. The latter forms the basis of my illustrated books, which are probably best described as speculative fiction.18 14 15
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Atkinson, »Drawn to the image«. Das Ergebnis waren eine Serie, After Dark, sowie die beiden Bücher The Viewer und Memorial (vgl. ebd.). Das heißt, weder The Lost Thing noch The Red Tree sind Comics, insofern die Bilder nicht für sich stehen, sondern erst im Zusammenspiel mit dem Text außerhalb des Panels den vom Autor intendierten Plot ergeben. Shaun Tan, »Picture Books: Who Are They For?«, http://www.shauntan.net/essay1.html, S. 1–2 (Stand: 15. 12. 2009). In einem anderen Interview heißt es: »I am a little wary of labels, because they don’t adequately explain what I do, or my motivation (true for most artists I think). I’m often tagged as a children’s author and illustrator, though I’ve never produced a book particularly aimed at young readers; my interest is simply in universal stories that can be understood by anyone, regardless of age or background« (Anonym, »Interview with Illustrator Shaun Tan«, in: The Australian Edge, Oktober 2008, http://www.australianedge.net/2008/10/interview-with-illustrator-shaun-tan [Stand: 15. 12. 2009]). Anonym, »Shaun Tan: Biography«.
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Auch Tans drittes eigenes Projekt begann als Bilderbuch mit Text, in dem ein alter Einwanderer seine Erfahrungen Revue passieren lassen sollte.19 Doch aus 32 Seiten wurden schließlich 128, und mit der Entscheidung, auf jeden Text zu verzichten, wuchs die Anzahl der nötigen Bilder. Aber nicht nur deren Zahl wuchs, sondern auch der Aufwand bei der Herstellung. Für die ungefähr 900 Panels des Buches fertigte Tan insgesamt 4000 Zeichnungen an. Die Falten, Flecken und Risse auf vielen der einzelnen Bilder wurden digital hinzugefügt. Die Zeichnungen selbst sind mit normalen Bleistiften ausgeführt. Farben und Oberflächenstruktur wurden ebenfalls digital nachbehandelt, um den charakteristischen Sepiaton zu erreichen.20 Um die Interaktionen zwischen den einzelnen Figuren möglichst realistisch darstellen zu können, richtete Tan im Haus seiner Eltern ein Zimmer mit Pappkulissen ein, in dem er die einzelnen Szenen von Freunden und Familienmitgliedern ausagieren ließ, um die endgültigen Zeichnungen schließlich nach photographischen Standbildern anzufertigen.21 Statt, wie bei seinen vorherigen Büchern, nach zwei Jahren zum Ende zu kommen, arbeitete Tan fast vier Jahre an The Arrival. Hatte Shaun Tan mit seinen früheren Büchern bereits in Australien Anerkennung gefunden, bedeutete The Arrival seinen internationalen Durchbruch. Die graphic novel wurde von der Kritik allgemein begeistert aufgenommen und in zahlreichen Ländern veröffentlicht.22 Dazu kam hym-
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Ling, »Conversation with Shaun Tan«, S. 45–46. Angaben nach: Atkinson, »Drawn to the image«; Zack Smith, »After The Arrival: Talking to Shaun Tan«, in: Newsarama 26. 10. 2007, http://forum.newsarama.com/showthread.php?t=134270 (Stand: 12. 12. 2009). Angaben nach: Shaun Tan, »Picture Books: The Arrival«, http://www.shauntan.net/books/the-arrival.html (Stand: 15. 12. 2009); Smith, »After The Arrival«; »The Arrival: November 9, 2007 Podcast«, Public Radio International: PRI’s The World, http://www.theworld.org/?q=node/13925 (Stand: 15. 12. 2009). Mit solchen Arbeitstechniken – der Arbeit nach Fotografien und der digitalen Nachbearbeitung von Bildern – steht Tan nicht allein. Ein anderes Beispiel ist Jon J. Muths Adaptation von Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) als graphic novel, die komplett auf Fotografien der nachgestellten Filmhandlung basiert; vgl. Jon J. Muth, M – Eine Stadt sucht einen Mörder. Ludwigsburg 2008. Im Unterschied zu Tan fertigt Muth seine Panels jedoch nicht nur nach dem Vorbild der Fotografie an, sondern übermalt die Fotografien selbst. Stellvertretend für die vielen begeisterten Besprechungen sei hier nur die New York Times zitiert: »Reading The Arrival feels like paging through a family treasure newly discovered up in the attic« (Gene Luen Yang, »Stranger in a Strange Land«, in: New York Times, 11. 11. 2007, http://www.nytimes.com2007/11/11/books/ review/Yang-t.html [Stand: 15. 12. 2009]).
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nisches Lob von berühmten Kollegen wie Art Spiegelman und Marjane Satrapi.23 Zu den vielen Preisen, die das Buch erhielt, gehören der New South Wales Premier’s Literary Award (2006), der World Fantasy Award (2007), der Prix du mellieur album auf dem Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême (2008), die Nominierung für den Deutschen Jugendbuchpreis 2009 sowie der Astrid Lindgren Memorial Award 2011.24 2010 war Tan Ehrengast der 68. World Science Fiction Convention in Melbourne.25 Eine Theaterfassung von The Arrival war bereits vor Fertigstellung des Buches in Australien zu sehen,26 und nach einem Interview von 2007 gibt es bereits Überlegungen zu einer Filmversion.27 Daneben lieferte Tan Entwürfe für die Animationsfilme Horton Hears A Who (2008) nach Dr. Seuss und WALL·E (2008). Im gleichen Jahr führte er Regie bei der animierten Umsetzung seines Buches The Lost Thing und gewann damit 2011 einen Oscar für den besten animierten Kurzfilm.28
III Trotz aller verfremdenden Elemente in The Arrival gibt es einen autobiographischen Kern der Geschichte. Das wichtigste Migrationserlebnis in Tans Familie ist die Geschichte seines eigenen Vaters, der in Malaysia als Mitglied der chinesischen Minderheit geboren wurde und in den 1960er Jahren als junger Mann nach Australien kam. Viele Details des Buches basieren auf seinen Erfahrungen. Doch Tan möchte das Buch ausdrücklich nicht auf diese Perspektive beschränkt wissen. Schließlich habe er durch seine Mutter einen anglo-irischen Hintergrund, seine Lebensgefährtin sei aus Finnland,29 zudem sei Australien insgesamt ein Einwanderungsland.
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Smith, »After The Arrival«. Gleichzeitig nominiert war Tans bisher letztes – und wohl bestes – Bilderbuch Tales from Outer Suburbia (2008), das dann in der Kategorie Bilderbuch ausgezeichnet wurde. Angaben nach http://en.wikipedia.org/wiki/Shaun_Tan (Stand: 15. 12. 2009) sowie http://de.wikipedia.org/wiki/Shaun_Tan (Stand: 15. 12. 2009). Shaun Tan, »The Arrival: A Theatre Production«, http://www.shauntan.net/ film/the-arrival-theatre.html (Stand: 15. 05. 2009). Smith, »After The Arrival«. Vgl. Alix, »Interview with Shaun Tan«, BDtheque, 31. 10. 2011, http:// www.bdtheque.com/interview-shaun-tan-vo-200.html (Stand: 12. 03. 2012). Ebd.
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Deshalb gehe es um mehr, nämlich um Migration als universelle Erfahrung.30 Das erste ganzseitige Panel des Buches zeigt die namenlose Hauptfigur, noch in ihrer alten Heimat, mit einem typischen Reisekoffer, wie er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Millionen und Abermillionen Händen getragen wurde. Keiner von den Gegenständen in diesem Raum ist ungewöhnlich, die Einrichtung etwas ärmlich, viele der Gegenstände, die auf neun kleineren Panels im Detail gezeigt werden (S. 3), sind abgenutzt. Von den Tassen sind bereits kleinere Stücke des Porzellans abgesprungen. Frau und Tochter begleiten den Auswanderer zum Zug. Spätestens hier scheint die Geschichte nicht mehr in der Gegenwart zu spielen. Der Zug, der ihn fortbringt, wird von einer Dampflokomotive gezogen, und das Schiff, mit dem er in das ferne Land reist, ähnelt eher einem Ozeanriesen aus der Zeit der Titanic als einem heutigen Transatlantik-Liner (S. 26).31 Nach der Ankunft im fremden Hafen gehen die ärmlichen Passagiere von Bord und müssen sich einer hochbürokratischen Aufnahmeprozedur unterziehen. Sieht man einmal von der Uniform des Ausrufers ab, dann sind die Motive dieser Bilder wohl vertraut. Man assoziiert sofort Ellis Island und die großen europäischen Auswanderungswellen in die USA vor gut hundert Jahren. Tatsächlich bilden Ellis Island und New York um 1900 den wichtigsten Referenzpunkt für The Arrival. Bilder und Bücher, die teilweise direkt aus der Sammlung des Ellis Island Immigration Museum stammten,32 gehörten zu Tans wichtigsten Inspirationsquellen.33 30
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Damit entscheidet sich Tan implizit gegen eine dezidiert postkoloniale Interpretation der Migration, wie sie ohne weiteres möglich gewesen wäre. Sein Protagonist ist kein hybrides Subjekt im Sinn einer postkolonialen Theorie, wie sie etwa Homi K. Bhabha formuliert und wie es Monica Chiu exemplarisch anhand der autobiographischen Comics Persepolis (2003) von Marjane Satrapi und Citizen 13660 (1946) von Miné Okubo untersucht, vgl. Monica Chiu, »Sequencing and Contingent Individualism in the Graphic, Postcolonial Spaces of Satrapi’s Persepolis and Okubo’s Citizen 13660«, in: English Language Notes 46/2008, 2, S. 99–114. Zu The Arrival als Comic über das Phänomen der Einwanderung vgl. auch Michael D. Boatright, »Graphic Journeys: Graphic Novels’ Representations of Immigrant Experiences«, in: Journal of Adolescent and Adult Literacy 53 (2010), S. 468–476. Ein Panel, auf dem die zusammengekauerten Auswanderer an Deck eines Schiffes zu sehen sind (S. 21), basiert auf dem Gemälde Going South von Tom Roberts (1886), das sich in der National Gallery of Victoria, Australien, befindet; vgl. Shaun Tan, »Note de l’auteur«, in: Là où vont nos pères. Paris 2008, unpag. Vgl. Tan, »Note de l’auteur,« unpag. »One of my main sources for visual reference was New York in the early 1900s, a great hub of mass-migration for Europeans. A lot of my ›inspirational images‹ blu-tacked to the walls were old photographs of immigrant processing in Ellis
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Ebenso erinnert der Anblick des Hafens (Abb. 2) an New York – sowohl die Skyline im Hintergrund als auch die beiden Statuen, denen Tan selbst »some sisterhood with the statue of liberty«34 attestiert. Die Verweise auf New York verankern Tans Erzählung fest im etablierten medialen Kontext des Themas Migration. Die Einfahrt in den Hafen lässt sich als bewusste Kontrafaktur zu Franz Kafkas Romanfragment Der Verschollene (1912/13) lesen, einem der wichtigsten literarischen Echos der europäischen Auswanderung um 1900. Auch Kafka verfremdet die vom elsässischen Künstler Frédéric-Auguste Bartholdi entworfene und 1886 offiziell eingeweihte Statue in den berühmten Eingangssätzen des Romans: Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.35
Wo bei Kafka das drohende Schwert anstelle der Fackel auf Roßmanns künftigen Fall innerhalb der Einwanderungsgesellschaft hindeutet, suggeriert Tans Einfahrt in den Hafen einen sehr viel freundlicheren Ort: Zwei menschliche Figuren auf Booten voller Waren kehren sich einander zu und reichen sich die Hand. Der linke Koloss hat einen Koffer im Boot; sehr wahrscheinlich ist er selbst ein Migrant, und der andere begrüßt ihn im neuen Land. Auf Arm und Schulter sitzen die Tiere, mit denen sie zusammenleben. Die Statue und der sie umgebende Hafen bilden zudem einen deutlichen Kontrast zu der Beengtheit der Überfahrt sowie zur Kleinteiligkeit der bürokratischen Aufnahmeprozedur im neuen Land. Tan stellt sich hier nicht nur in eine mediale Tradition, er erleichtert so auch die Identifikation seiner westlichen Leser mit der Geschichte des Einwanderers.36 Das gilt gerade für die Gesellschaften Westeuropas, die aus der
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Island, visual notes that provided underlying concepts, mood and atmosphere behind many scenes that appear in the book« (Tan, »Picture Books: The Arrival«, unpag.). Vgl. Tan, »Note de l’auteur«, unpag. Tan, »Picture Books: The Arrival«, unpag. Franz Kafka, Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt am Main 1983, S. 7. Für eine exemplarische Analyse der Stadt New York und insbesondere der Symbolik der Statue in Kafkas Roman vgl. Werner Frick, »Kafkas New York«, in: Ders./Gesa von Essen/Fabian Lampart (Hrsg.), Orte der Literatur. Göttingen 2002, S. 266–293. Vgl. Boatright, »Graphic Journeys,« S. 470–471.
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Abb. 2: The Arrival, S. 24–25.
historischen Perspektive die größten Zahlen an Auswanderern in die USA aufzuweisen haben.37 Durch diese historisierende Perspektive wird gerade für europäische Rezipienten zunächst historische Distanz erzeugt. Auf diese Distanz weist auch der französische Titel Là où vont nos pères hin – der Ort, an den unsere Väter gegangen sind, nicht wir. Paradoxerweise erleichtert aber gerade diese Distanz für viele westliche Rezipienten der Gegenwart zunächst den Akt der Identifikation, weil sie das Thema der Migration von der aktuellen Situation ablöst, in der die meisten westlichen Gesellschaften das Ziel von Einwanderung sind und den tatsächlichen Einwanderern nicht selten feindselig begegnen. Ähnliches leistet die Gestalt des Protagonisten, der als männlicher, weißer Durchschnittseuropäer erscheint.38
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Besonders Deutschland, von wo insgesamt bis zu 7 Millionen Menschen dort einwanderten, der größte Teil von ihnen zwischen 1840 und 1910. Zu den statistischen Daten vgl. Wolfgang Helbich, »Alle Menschen sind dort gleich …«: Die deutsche Amerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf 1988, S. 54. Eine Aufschlüsselung nach Jahren (1830–1915) findet sich ebd., S. 20. Tans Wahl eines weißen, männlichen Protagonisten kann allerdings auch kritisch gesehen werden, nämlich als einseitige Bevorzugung einer westlichen Perspektive
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Auch die Anlehnung an die Fotografie spielt eine zentrale Rolle. Um diesem Medium nahezukommen, verzichten Tans Zeichnungen nämlich nicht nur auf Sprechblasen und Blocktext, sondern auch auf andere typische Gestaltungsmittel des Comics, wie etwa speedlines und visualisierte Klangeffekte.39 Nach allgemeinem Verständnis ist auf der Fotografie stets ein (unendlich kurzer) Zeitpunkt abgebildet, während sprachliche Elemente und Bewegungslinien im Comic-Panel den Eindruck einer Zeitspanne erwecken.40 Genau genommen besteht ein solcher Kontrast gar nicht: Ein Foto wird stets innerhalb einer bestimmten Zeitspanne aufgenommen. Nur ist diese Belichtungszeit bei einer (heutigen) Fotografie so kurz, dass diese Tatsache von den Rezipienten im Allgemeinen vernachlässigt wird. Die bewusste Nähe zur Fotografie – Tan selbst bezeichnet seine Vorgehensweise als »photo-realistic«41 – erhöht den Eindruck der Authentizität des Abgebildeten. Dazu kommen selbstverständlich der charakteristische Sepiaton von Tans Bildern sowie ihre grobkörnige, teilweise leicht unscharfe Gestaltung. Beides lässt an Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts, aber auch an frühe Filmaufnahmen denken. Tan vollzieht diese Annäherung ganz bewusst. Nicht umsonst vergleicht er seine Darstellungsweise mit der eines Stummfilms.42 Das hat nicht nur mit der (behaupteten) Authentizität des fotografischen und filmischen Bildes zu tun, sondern auch mit der Nähe zum Tan vertrauten Medium des Bilderbuches. Aus seiner Sicht ist ein Fotoalbum nichts anderes als ein Bilderbuch, bei dem wir den kontinuierlichen Verlauf der Biographie zwischen den Bildern erst selbst konstruieren.43 Tan äußert sich nicht explizit darüber, ob es ihm dabei primär um eine Konstruktion durch den Zusammensteller oder den Rezipienten eines Fotoalbums geht. Aufgrund des privaten Charakters, den solche Alben in der Regel haben, ist diese Frage auch sekundärer Natur; eine solche Konstruktion einer story erfolgt sowohl durch den Produzenten wie auch durch den Rezipienten. Wenn diese beiden nicht ohnehin identisch
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und damit einer westlichen Leserschaft; Gleiches gilt für die Wahl eines männlichen Protagonisten; vgl. Boatright, »Graphic Journeys,« S. 471. Vgl. Yang, »Stranger in a Strange Land«. Vgl. McCloud, Understanding Comics. The Invisible Art. Northampton 1993, S. 94–98. Nicolas Verstappen, »Shaun Tan«, in: du9 – L’autre Bande Dessinée, 1/2008, http:// du9.org/Shaun-Tan,922 (Stand: 15. 12. 2009). Mit dieser Bezeichnung verweist Tan zudem auf die fotografischen Vorlagen zurück, mit deren Hilfe er The Arrival erstellt hat. »The story had to flow smoothly like a silent film, where previously I was used to telling a story like a slide show – just illustrating key scenes and letting the reader ›join the dots‹« (Smith, »After The Arrival«). Tan, »Picture Books: The Arrival«.
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sind, sind es allenfalls divergierende biographische Erzählungen, die sie aus der Sequenz der Abbildungen konstruieren. Was Tan hier einer verbreiteten Rezeptionshaltung gegenüber der Fotografie attestiert, ist nach Scott McCloud aber auch eine zentrale Eigenschaft des Comics. Wenn wir als Rezipienten einer Abfolge von Fotos einen kohärenten Handlungsablauf unterlegen, produzieren wir das, was McCloud »closure« nennt, eine mentale Vervollständigung von Sinneseindrücken: Comic panels fracture both time and space, offering a jagged, staccato rhythm of unconnected moments. But closure allows us to connect these moments and mentally construct a continuous, unified reality. […] In a very real sense, comics is closure.44
Tan wendet diese Beobachtungen nun auf sein Buch an:45 In The Arrival, the absence of any written description also plants the reader more firmly in the shoes of an immigrant character. There is no guidance as to how the images might be interpreted, and we must ourselves search for meaning and seek familiarity in a world where such things are either scarce or concealed. Words have a remarkable magnetic pull on our attention, and how we interpret attendant images: in their absence, an image can often have more conceptual space around it, and invite a more lingering attention from a reader who might otherwise reach for the nearest convenient caption, and let that rule their imagination.46
Durch den Verzicht auf die üblichen sprachlichen und graphischen Stilmittel innerhalb des einzelnen Panels wird, so Tan, auch der übliche Zeitfluss der Gattung aufgehoben. Er selbst nennt seine Erzählweise a linear progression without the restriction of time. When the element of time is inherently present […], it doesn’t have the kind of set pace or meter that you might find with written language, spoken word, theater, or film. Some readers can move quite quickly through each part of the book – as though it were a short story – while other readers seem to take several hours.47
Für den Rezipienten bedeutet diese Offenheit der Panels Freiheit und Desorientierung zugleich. Wir finden uns als Leser von The Arrival in einer ähnlichen Situation wieder wie der Protagonist, insofern wir den Handlungen, der Schrift, den Gebäuden, Tieren und Lebensmitteln erst einen Sinn, eine Funktion unterlegen und dann unsere Annahmen über ihre Bedeutung verifizieren 44 45
46 47
McCloud, Understanding Comics, S. 67. Genau genommen, handelt es sich um einen Chiasmus. Nach außen argumentiert Tan so, als habe er eine Beobachtung an Fotos gemacht, die er nun auf den Comic anwende. Wahrscheinlicher ist aber, dass er McClouds Beobachtungen zum Comic übernimmt und dann auf die Fotografie anwendet. Tan, »Picture Books: The Arrival«. Ling, »A Conversation with Illustrator Shaun Tan«, S. 46.
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müssen. So ergibt sich eine Analogie zwischen der Bewegung des (für uns) vertraut aussehenden Mannes durch eine oft surreal wirkende Kultur und den hermeneutischen Operationen, die wir im Akt der Rezeption vollziehen.48
IV Es wäre aber ein Irrtum, zu meinen, dass es nur um Rezipienten in westlichen Kulturen gehe – im Gegenteil will The Arrival ja gerade die Erfahrung der Migration und der Fremdheit als universale Erfahrung darstellen. Auch wenn der Anfang der Erzählung über weite Strecken an etablierte visuelle Codes anknüpft, werden diese spätestens mit der Ankunft in Frage gestellt. Die Fremdartigkeit wie der außerordentliche Reiz der anderen Kultur liegen in ihren monochrom dargestellten Stadtlandschaften (vgl. Abb. 3). 48
Dass diese Geschichte dabei auf die meisten Rezipienten so kontemplativ wirkt, hat seinen Grund nicht zuletzt wieder in der Nähe zur Fotografie. Durch den Verzicht auf Text, Bewegungslinien und Geräusche wird jedes Nacheinander von Zeit innerhalb der Panels herausgenommen. Da so jede Information über den verstreichenden Zeitraum im einzelnen Panel fehlt, so Scott McCloud, kann es »a sense of timelessness« produzieren. »Because of its unresolved nature, such a panel may linger in the reader’s mind« (McCloud, Understanding Comics, S. 102). Zur Zeitdarstellung im Panel vgl. ausführlich ebd., S. 94–117, sowie Günter Dammann, »Temporale Strukturen des Erzählens im Comic«, in: Michael Hein/Michael Hüners/ Torsten Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comic. Berlin 2002, S. 91–101, und Daniele Barberi, »Zeit und Rhythmus in der Bilderzählung«, in: ebd., S. 125–142. Dammann kennt vier Typen von Bewegungsabläufen innerhalb des Panels: »1. Synchronisierung von Sukzession in der Abbildung; 2. Rhetorik der Metonymie (genauer: der Synekdoche) innerhalb der Abbildung; 3. Verwendung comicspezifischer Bewegungszeichen; 4. Aufnahme von Dialog- oder Monologtext als Figurenrede in Blasen oder im Blocktext« (Dammann, »Temporale Strukturen«, S. 93). Von diesen vier Typen kommen 3. und 4. in The Arrival nicht vor, während es sich bei den anderen beiden um Zweifelsfälle handeln würde. Zwar lässt sich die Handlung in einzelnen Panels als ein Nacheinander von Handlungen der einzelnen Figuren auffassen (1.), und wenn eine Figur in einer Handlung gezeigt wird (2.), ist anzunehmen, dass sie Teile dieser Handlung auch zuvor und danach ausführt. Dies wird aber durch Tans »fotografische« Darstellungstechnik konterkariert, denn nach konventioneller Auffassung fängt die Fotografie immer nur einen einzelnen Moment, einen Punkt in der Zeit ein. Auch wenn es sich dabei in Wirklichkeit um eine Zeitspanne handelt, ist sie sehr viel kürzer als viele der im einzelnen Panel eines Comics üblicherweise dargestellten Handlungen. Dass Tan daneben die Darstellung der Zeit auf der Ebene der Sukzession von Panels und ihrer Größe rhythmisch gestaltet (die anderen beiden Ebenen bei Dammann), steht selbstverständlich außer Frage.
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Abb. 3: The Arrival, S. 34–35.
Natürlich besteht Ähnlichkeit sowohl zu existierenden Städten wie zu utopischen Städten in Film und Literatur, insbesondere zur Stadtlandschaft von Fritz Langs Metropolis (1927), eine Referenz, die durch die Nähe von The Arrival zu frühen Fotografien und Filmaufnahmen noch verstärkt wird. Aber die Kunst liegt für Tan eben darin, ein setting zu erschaffen, das sowohl bekannte als auch unbekannte Elemente enthält: »What is original is not the ideas themselves, but the way they are put together.«49 Im Zusammenhang mit der Entzifferung seiner fremdartigen Welten spricht Tan von einer »visual literacy«, die doppelter Natur sei. Auf der einen Seite gehe es um das Erkennen und Einordnen bekannter Objekte. Es gibt jedoch noch eine zweite Art dieser »visual literacy«, und zwar one that works through playful questioning, enigma and absurdity. […] This can be read as the world of imagination and open-ended meaning. […] Nothing actually belongs here – or more to the point, the question of belonging is kept open, like a back alley exit.50 49 50
Shaun Tan, »Originality and Creativity«, unpag. (S. 1). »This action is something we do all the time, a passive decoding that allows us to manage our day to day lives, particularly as responsible adults, to recognise rela-
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Es ist diese Doppelnatur, die die Stadtlandschaften von The Arrival auszeichnet. Entscheidend für ihre Gestaltung ist, dass sie für alle potenziellen Rezipienten gleichermaßen fremd und enigmatisch bleibt. In Tans eigenen Worten: I wanted to create a fictional place equally unfamiliar to readers of any age or background (including myself). […] That said, imaginary worlds should never be ›pure fantasy‹, and without a concrete ring of truth, they can easily cripple the reader’s suspended disbelief, or simply confuse them too much. I’m always interested in striking the right balance between everyday objects, animals and people, and their more fanciful alternatives.51
Wie bei den Handlungsabläufen kommt es auch hier auf die strukturelle Offenheit der gezeichneten Landschaft an: Der konkrete Bezug auf bestimmte reale Menschen oder Orte wird vermieden, allenfalls kehren sie in verfremdeter Form wieder, wie die Skyline von New York. Dabei ist die Gestaltung keineswegs chaotisch oder beliebig, sondern Tan suggeriert eine gewisse Einheitlichkeit im Design der fremdartigen Gebäude, Tiere und Pflanzen, um den Eindruck einer in sich konsistenten Kultur zu vermitteln.52 Dennoch bleibt der Anblick dieser fremden Kultur – auch das ist Absicht – stets desorientierend für den Protagonisten wie für den Rezipienten: »I had some notions of a place where birds are merely ›bird-like‹ and trees ›tree-like‹; where people dress strangely, and ordinary street activities are very peculiar. This is what I imagine it must be like for immigrants.«53 Dass die Geschichte, zumindest idealerweise, für alle Rezipienten verständlich ist, hat aber nicht nur mit der ostentativen Fremdheit der gezeigten Welt zu tun, sondern auch damit, dass, so Monika Schmitz-Emans, die Form der Bild-Erzählung allen möglichen Kulturen auf allen Erdteilen vertraut ist und darum der Comic-Erzähler sich allein durch sein Darstellungsmedium bereits in eine transnationale und epochenübergreifende Darstellungstradition einfügt.54
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tionships between things and events as efficiently as possible. However, this kind of ›closed reading‹ can go too far to the extent that it makes alternatives invisible, and anything unfamiliar is dismissed as foreign, useless and unwelcome« (Tan, »Picture Books: Who are they for?«, unpag. [S. 5]). Tan, »Picture Books: The Arrival«, unpag. Joe Swabey, »The Shaun Tan Interview«, The Comics Journal 289 (2008), http:// archives.tcj.com/index.php?option=com_content&task=view&id=813& Itemid=48n.pag. (Stand: 15. 12. 2009). Tan, »Picture Books: The Arrival«, unpag. Monika Schmitz-Emans, »Weltliteratur im Comic: Kunstform einer globalisierten Bilderwelt?«, in: Ulfried Reichardt (Hrsg.), Die Vermessung der Globalisierung: Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Heidelberg 2008, S. 273–298, hier S. 277.
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Damit soll nicht bestritten werden, dass Comics in kulturell unterschiedlichen »kunst- und mentalitätsgeschichtlichen Kontexten« entstehen und dass genaue Analysen »kulturell differente Wahrnehmungsweisen und Erzähltraditionen« an den Tag bringen.55 Dennoch scheint Tan implizit davon auszugehen, dass ein globaler visueller Code des Comics existiert, der die Grundlage für seine verschiedenen kulturellen Ausformungen bildet. Dass es in The Arrival nicht nur um die Perspektive weißer, westlicher, männlicher Einwanderer geht, wird aber auch im Buch selbst auf zweierlei Weise deutlich: Zum einen, indem Tan im Vorsatz des Buches eine Vielzahl von gezeichneten Porträts abdruckt (Abb. 4), die für Einwanderer aller Kulturen, Zeiten, Hautfarben und beider Geschlechter stehen sollen. Hier sehen wir 16 der insgesamt 60 Gesichter. Im kleinen Kind in der dritten Reihe links hat Tan sich selbst porträtiert,56 unter ihm könnte der Emigrant Heinrich Heine (1797–1856) abgebildet sein, der einen Großteil seines Lebens im unfreiwilligen Pariser Exil verbrachte. Auch Tans Vater ist auf diesen Seiten abgebildet. Damit werden die Erfahrungen des weißen, männlichen, ›europäischen‹ Protagonisten noch vor Beginn der eigentlichen Handlungen in einen größeren, allgemein-menschlichen Kontext gestellt. Zum anderen geschieht diese Universalisierung, wenn der Protagonist im neuen Land anderen Einwanderern begegnet, die ihm in Rückblenden ihre Geschichte erzählen. Die Gestaltung dieser Rückblenden ist übrigens sehr interessant gelöst: Auch sie sind im selben fotorealistischen Stil gezeichnet. Aber statt, wie die Haupthandlung, Fotos nur zu ähneln, sind sie digital mit vergilbten, eingerissenen, geknickten Rahmen versehen, wie man sie eben von alten Familienfotografien her kennt. Dadurch erscheinen sie älter, beschädigter, fragmentarischer als der Hauptstrang und drücken die zeitliche Distanz zwischen Rahmenhandlung und Binnenerzählung aus, wobei sich die Beschädigungen auch metonymisch deuten lassen, nämlich als bildlicher Ausdruck einer mühsamen Rekonstruktion des Erzählten durch die jeweiligen Figuren. 55
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Dabei sind aus der Sicht eines westlichen Rezipienten vor allem die japanische Manga-Kultur, ihr Figuren-, Gattungs- und Handlungsrepertoire sowie ihre visuellen Codes erklärungsbedürftig. Einführend dazu vgl. McCloud, passim, Jens R. Nielsen, »Leben mit der Bombe: Der Manga als graphische Erzählform«, in: Text + Kritik Sonderband: Comics, Mangas, Graphic Novels. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Andreas C. Knigge, München 2009, S. 195–210, sowie ausführlich Miriam Brunner, Manga – Faszination der Bilder: Darstellungsmittel und Motive. München 2009. Vgl. http://www.shauntan.net/about.html (Stand: 15. 12. 2009).
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Abb. 4: The Arrival, Vorsatz (Ausschnitt).
Ähnlich universal verstehbar sind die Gründe, aus denen die Auswanderer ihre Heimat verlassen. Bei einigen ist die Darstellung sehr direkt: Ein Mädchen mit ostasiatischen Gesichtszügen flieht vor unerträglichen Arbeitsbedingungen, die Heimat eines alten Mannes ist durch einen Bürgerkrieg verwüstet. Manchmal erfolgt die Darstellung jedoch auch auf allegorische Art und Weise. Ein Gemüsehändler, mit dem der Protagonist sich anfreundet, ist folgender Situation ausgesetzt (Abb. 5): Wir wissen natürlich nicht, wer mit diesen Einäugigen genau gemeint ist, außer dass sie Menschen in einer europäisch aussehenden Stadt aufsaugen und nur eine dunkle, geometrisch-abstrakt wirkende Einöde zurücklassen (Abb. 6).
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Abb. 5: The Arrival, S. 68–69 und Abb. 6: The Arrival, S. 71.
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Was Tan im Sinn hatte, waren in erster Linie Nationalsozialismus und Kommunismus. In mehreren Interviews referiert der Künstler die Aussage eines rumänischen Flüchtlings, der die Ceau¸sescu-Jahre in seinem Land so beschreibt, als seien Lebendigkeit und Kultur aus allen Dingen »ausgesogen« worden; selbst der Gesang der Vögel sei verstummt.57 Entscheidend ist aber nicht, um welches Land es sich genau handelt, sondern dass diese Erfahrung an jedem Ort und zu jeder Zeit Menschen dazu bringen kann, ihr Land zu verlassen und in ein anderes zu fliehen – und dass diese Flucht legitim ist. Die beiden oben stehenden Panels sind zudem ein exzellentes Beispiel für die Art und Weise, in der der studierte Kunsthistoriker Tan Zitate aus der Kunstgeschichte einsetzt. Die Stadtlandschaft im ersten Panel ist deutlich an das Italien der Renaissance angelehnt. Im Zentrum, beinahe am hellsten Punkt des Bildes, erkennt man das Hauptportal des Doms von Florenz. Dagegen erinnert das zweite Panel an Tendenzen kubistischer und expressionistischer Malerei des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere an Zeichnungen Lyonel Feiningers. Die nahe liegende Deutung ist diese: Eine organische, kulturell hoch stehende Gesellschaft mit langer Tradition wird durch eine dunkle, lebensfeindliche ersetzt, in der man sich nur noch als Individuum, allenfalls als Paar retten kann. Für eine korrekte Interpretation ist es nicht notwendig, bestimmte Kunstwerke oder Künstler zu kennen. Es geht nicht darum, das Zitat als solches zu identifizieren oder Kritik an einer kunstgeschichtlichen Entwicklung von der ›menschlichen‹ Kunst der Renaissance zur ›abstrakten‹ Moderne zu üben. Vielmehr werden die visuellen Zitate – wie schon bei der oben beschriebenen Überfahrt – im Dienst der Erzählung eingesetzt und sind auch ohne die genannten Kenntnisse zu entziffern. Wer allerdings die direkten oder verfremdeten Zitate als solche erkennt, erhält einen Resonanzraum, in dem die Verweise an zusätzlicher Tiefe gewinnen.
V In The Arrival gibt es keine Abenteuer außer denen des Alltags, keine dramatischen Ereignisse außer dem, seine Heimat verlassen zu müssen. In der Tat sind es genau die alltäglichen Vorgänge im Leben des Einwanderers, für die sich die graphic novel interessiert. Sprachschwierigkeiten, Heimweh, Armut, Arbeitssuche, Abstieg in der sozialen Hierarchie relativ zur Herkunftsgesellschaft – dies sind die zentralen Probleme, denen alle oder doch sehr viele 57
Vgl. z. B. Atkinson, »Drawn to the image«; Smith, »After The Arrival«.
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Abb. 7: The Arrival, S. 28.
reale Einwanderer ausgesetzt sind und folglich diejenigen, die auch Tans namenlose Hauptfigur durchlebt, mit deren Perspektive wir uns identifizieren. Dies gelingt, indem Tan auch die alltäglichsten Objekte im Design seiner anderen Kultur verfremdet, wie beim Entziffern einer Landkarte (S. 40) oder bei der Begegnung mit den fremdartigen Lebensmitteln des anderen Landes (S. 62–65). Etwas ausführlicher möchte ich die Begegnung mit dem fremden Alltag und ihre Darstellungsweise an einem Beispiel illustrieren, nämlich bei der Ankunft in der Eingangshalle (Abb. 7), bei deren Gestaltung Tan deutlich auf das Material aus Ellis Island zurückgreift, zumal in der unteren Hälfte. Mit diesem ganzseitigen Panel kippt The Arrival endgültig von einer mimetischen Darstellungsweise, die sich an Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts orientiert, zur gezielten Verfremdung. Erinnert die untere Hälfte des Bildes, von den Schriftzeichen abgesehen, noch stark an die historischen Bilder aus Ellis Island, ist die obere bereits von den fremdartigen Gebäuden der anderen Kultur dominiert, die zwar an Kühltürme oder Schornsteine erinnern, deren genaue Funktion jedoch nicht zu bestimmen ist. Darauf folgt eine Sequenz von drei Seiten zu je zwölf gleich großen, quadratischen Panels, in denen die Aufnahmeprozedur festgehalten ist.
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Offenbar handelt es sich hier (Abb. 8) um die Überprüfung körperlicher Gesundheit. Dabei sind sowohl die Hauptfigur als auch das medizinische Personal nur unvollständig zu sehen. Jedes Panel zeigt eine andere Perspektive. Ihre Abfolge drückt so das Unverständliche, Desorientierende aus, das die Prozedur für die Figur annimmt. Der Einwanderer ist dabei immerhin noch zu erkennen, von den anderen Figuren sehen wir jeweils nur die Hände. Während der Sinn der einzelnen Untersuchungen noch ziemlich evident ist, sind es die Aufschriften der Aufkleber nicht. Bedeuten sie, dass er den Test bestanden hat, oder gerade das Gegenteil? Stehen dort Werte einer Skala? Und selbst der Sinn der Untersuchung im Panel unten links ist nicht ganz klar: Handelt es sich um einen Seh- oder einen Lesetest? Wenn ich als Interpret Ersteres für wahrscheinlicher halte, lässt sich das nur aus dem Kontext der anderen Untersuchungen schließen. Auf den nächsten zwölf Panels (Abb. 9) sehen wir den mit Stickern behängten Protagonisten offenbar beim Interview mit einem Einwanderungsbeamten. Die gleichbleibende Perspektive deutet auf die Länge des Gesprächs; zugleich nehmen wir als Rezipienten die vermutliche Perspektive des Bürokraten ein, leicht von oben herab. Die starre Perspektive des imaginären Betrachters auf den sich händeringend bemühenden Mann deutet darauf hin, dass sich der Bürokrat von der Geschichte des Mannes nicht beeindrucken lässt, die Gesten des Mannes auf die Beschwerlichkeit der Unterredung. Auf dem zweiten Panel sieht man, dass der Befragte offenbar Schwierigkeiten hat, die Fragen zu verstehen, das dritte drückt seine Ratlosigkeit aus. Dann gibt er offenbar eine längere Antwort, verweist auf seine Familie, vielleicht um seinen Wunsch nach Einwanderung zu begründen; am Ende wirkt er einfach verzweifelt. Schließlich wird ihm sein Dokument ausgehändigt, was sich als komplizierte bürokratische Prozedur gestaltet. Wir sehen auf den folgenden Panels (Abb. 10) lediglich die Hände des Beamten, der die notwendigen Arbeitsgänge vollzieht; der bürokratische Apparat bleibt anonym, die einzelnen Schritte nur halb verständlich. Der Vorgang wirkt ähnlich langsam und gedehnt wie die Befragung. Die Tatsache, dass in jeder Zeile ein neuer Arbeitsschritt dargestellt wird, und die leicht unterschiedliche Farbgebung zeigen aber zumindest, dass der Prozess voran geht. Danach hält der Protagonist sein Dokument in den Händen (S. 32) und ist bereit, sich in die neue Gesellschaft einzugliedern.
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Abb. 8: The Arrival, S. 29.
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Abb. 9: The Arrival, S. 30.
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Abb. 10: The Arrival, S. 31.
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VI So viel Wert Shaun Tan auf die Darstellung des Alltags von Fremden legt, hat er doch auf ein Element dieses Alltags verzichtet: auf die Erfahrung von Rassismus und Ausgrenzung. Der namenlose Held des Buches trifft faktisch fast ausschließlich auf hilfsbereite Einwohner, viele von ihnen selbst Immigranten. Ob nun ein Lebensmittelhändler, ein Kollege am Fließband der Fabrik, in der er schließlich Arbeit findet, oder seine hilfsbereite Vermieterin: Sie heißen ihn willkommen, nehmen ihn mit zu sich nach Hause oder auf Spaziergänge. Zwar verliert er zwei Mal seine Arbeit, dies aber nicht aus Feindlichkeit gegen ihn. Beim ersten Mal hängt er Plakate verkehrt herum auf, weil er die Schrift nicht entziffern kann, beim zweiten Mal arbeitet er als Paketbote und kann ein Päckchen nicht zustellen, weil ihn unerwartet ein riesiges vogelartiges Monster aus dem Garten des Hauses verjagt. Im Großen und Ganzen gelingt es ihm jedoch, sich in die neue Gesellschaft einzugliedern, und als er im sechsten und letzten Kapitel seine Familie nachholen kann, ist die Balance vom Anfang in einer neuen, harmonischeren Form wiederhergestellt. Das letzte, ganzseitige Panel zeigt die Tochter und das hundeartige Wesen vom Titelbild, wie sie einer neu angekommenen, orientierungslosen Frau den Weg zeigen und damit die positiven Erfahrungen weitergeben, die die Hauptfigur und ihre Familie bis zu diesem Zeitpunkt erworben haben.58 Dies ist eindeutig positiver als das, was vielen Migranten tatsächlich in ihrem Ankunftsland widerfährt. Das gilt auch für Shaun Tan und seine Familie. Sein Vater war nach der Ankunft aus Malaysia durchaus Anfeindungen ausgesetzt, und auch der gebürtige Australier Tan wurde als Teenager in Perth oft genug mit der Frage konfrontiert, woher er komme und warum er so gut Englisch spreche.59 Tatsächlich beschreibt Tan Australien als »a country (like many others) where immigration is a political issue plagued by misunderstanding and undercurrent racism«.60 Es existieren frühe Entwürfe, in denen dieses Thema verarbeitet ist. Geplant war eine Gruppe Clan-artiger Figuren, die den Einwanderer auf offener Straße attackiert; in späteren Panels sollte das mit einem Traum überblendet werden, in dem die namenlose Hauptfigur von einer riesigen Schlange verschluckt wird. Letztlich hat sich 58
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Dieses Panel ist auch das Gegenstück zu der bereits erwähnten Sequenz, in der es dem namenlosen Einwanderer nicht gelingt, eine Landkarte zu entziffern (S. 40). Dass seine Tochter der Neuangekommenen so selbstverständlich weiterhelfen kann, setzt ja voraus, dass sie die Zeichen auf der Landkarte lesen kann. Tan, »Picture Books: The Arrival«, unpag. Verstappen, »Shaun Tan«, unpag.
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Tan aber gegen diese Lösung entschieden. Die Darstellung erwies sich als zu kompliziert, entscheidend war jedoch ein anderer Grund: I wanted […] more a vision of how things should be, rather than how they are. I think that that’s also a better way to combat xenophobia, by showing how inappropriate it is, particularly by adopting the point of view of a newly arrived immigrant.61
So gesehen, ist The Arrival im doppelten Sinn ein utopisches Buch: Zum einen zeigt Tan die reale Gesellschaft in verfremdeter Form, um den Rezipienten in Form eines Kunstwerks, der graphic novel, die Reflexion über die eigene Gesellschaft und die individuelle Position dazu zu ermöglichen. Das hat sie mit der utopischen Literatur seit Thomas Morus gemeinsam. Auf der anderen Seite entwirft The Arrival ein mögliches Bild davon, wie eine Gesellschaft mit der Migration umgehen sollte und wie es ist, sich als Migrant in einer fremden Gesellschaft zu bewegen.
VII Welche Rolle aber spielen die Literatur und das Erzählen in The Arrival ? Zumindest der erste Teil der Frage mag paradox erscheinen, denn Literatur als solche scheint in The Arrival fast völlig abwesend zu sein. Bücher spielen keine prominente Rolle, und selbst wenn man die Doppelstatue im Hafen als Kontrafaktur nicht nur der tatsächlichen Freiheitsstatue, sondern auch ihrer Verfremdung bei Kafka interpretieren kann, ist beides für das Verständnis von Tans graphic novel nicht unbedingt notwendig. Auch die Schrift spielt nur eine untergeordnete Rolle: Die einzigen Schriftzeichen, die klar zu erkennen sind, sind die der anderen Kultur, die für den Protagonisten anfangs, für uns aber bis zum Ende unlesbar bleiben. Allerdings gibt es Briefe, die die Verständigung mit der Heimat ermöglichen, und in der ersten Binnenerzählung wird ein Mädchen beim Lesen eines Buches gezeigt (S. 57). Dass sie gerade dies nicht darf, trägt wesentlich dazu bei, sie zur Flucht zu bewegen. Tatsächlich ist das Buch der einzige vertraute Gegenstand, der sie auf die Reise begleitet (S. 59). Während aber schriftliche Kommunikation nur am Rande vorkommt, rückt die mündliche ins Zentrum der Aufmerksamkeit, und zwar in Form der drei eingeschobenen Binnenerzählungen. Wenn die ostasiatisch aussehende Frau, der Gemüsehändler und der alte Kollege ihre Geschichte berichten, so ist dies zwar – in Form alter, beschädigter Fotos – zeichnerisch 61
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dargestellt, innerhalb der diegetischen Welt der Handlung handelt es sich jedoch um mündliche Erzählungen. Dem Erzählen kommt also eine zentrale, lebens- und identitätsstiftende Rolle zu. Damit reflektiert The Arrival nicht zuletzt auf sich selbst als Erzählung. Meiner Meinung nach wird das Buch damit aber weder zum Meta-Comic62 noch zum Comic über Literatur. Vielmehr verweist es auf das Erzählen als Konstante des menschlichen Lebens, als Gemeinschaft stiftendes Erlebnis, aber auch als gemeinsame Wurzel von Literatur und Comic.63 Anders liegt der Fall bei Tans theoretischen Äußerungen: Hier bezieht er sich häufig auf literarische Autoren und Texte, was bei einem studierten Literaturwissenschaftler nicht verwundert. So legitimiert er in theoretischen Essays seine Positionen mit dem expliziten Verweis auf Autoren wie Milan Kundera64 und operiert bei der Beschreibung seiner Kunst mit aus der Literaturwissenschaft entlehnten Metaphern wie »speculative fiction« und »visual literacy«. Neben den visuellen Quellen liefern Texte auch wichtiges Material für die Konzeption von The Arrival, weit über die mögliche (punktuelle) Kafka-Referenz hinaus. Neben den Erinnerungen seines Vaters nennt Tan als wichtigsten Anstoß eine Kurzgeschichte des Autors Thomas Arthur Guy Hungerford, Wong Chu and the Queen’s Letterbox (1977), in der die Isolation und Fremdheit chinesischer Wanderarbeiter in Westaustralien geschildert wird.65 Im (französischen) Nachwort zu The Arrival verweist Tan zudem auf zwei nicht-fiktionale Textsammlungen mit Erfahrungsberichten von Migranten in Australien.66 Und last but not least vollbringt The Arrival als graphic novel etwas, was auch viele künstlerisch gelungene Texte der Literatur vermögen. Indem dieses Buch uns vermittels seiner Erzählweise in die Position der hier beschriebenen Migranten versetzt, lässt es uns über unsere eigene Position innerhalb der Gesellschaft reflektieren. Indem es aber zum einen eine für alle Leser gleichermaßen fremde Kultur beschreibt und zum anderen ohne geschrie62
63
64 65 66
»Auf dem Weg über Geschichten und Geschichtenerzählen ›erfindet‹ sich und begründet sich das ästhetische Medium Comic selbst. Diese Vorgehensweise erinnert an analoge Strategien literarischer Autoreflexion« (Schmitz-Emans, »Weltliteratur im Comic«, S. 287). Zum Konzept des Meta-Comic vgl. ebd., S. 280–289. Nicht zufällig ist Tan, wie etwa in seinem neuesten Buch Tales from Outer Suburbia, sowohl ein Meister des Textes und des Bildes als auch ihrer Synthese im Bilderbuch. Tan, »Picture Books: Who are they for?«, unpag. Tan, »Picture Books: The Arrival«, unpag. Tan, »Note de l’auteur«, unpag. Es handelt sich um folgende Texte: Wendy Lowenstein und Morag Loh, The Immigrants. Melbourne 1977, sowie Will Davies und Andrea dal Bosco (Hrsg.), Tales from a Suitcase. Melbourne 2001.
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bene Sprache auskommt, verfügt es als graphic novel jedoch über eine größere Reichweite als »normale Literatur«. Auch diese Reichweite mag nicht universal sein. Aber sie ist nicht an eine bestimmte Sprache im engeren Sinne gebunden, sondern an etwas, was Tan »visual literacy« nennt: nämlich an die Vertrautheit mit den visuellen Codes des Comics. Und diese dürften, wenigstens in ihren Grundzügen und trotz aller kulturspezifischen Differenzen, etwa zwischen der amerikanischen, der franko-belgischen und der japanischen Tradition, heute eine größere Reichweite besitzen als jede Nationalsprache.67
Literatur Primärliteratur Davies, Will/Andrea dal Bosco (Hrsg.), Tales from a Suitcase. Melbourne 2001. Kafka, Franz, Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit. Frankfurt am Main 1983. Lowenstein, Wendy/Morag Loh, The Immigrants. Melbourne 1977. Muth, Jon J., M – Eine Stadt sucht einen Mörder. Ludwigsburg 2008. Tan, Shaun, »The Arrival: A Theatre Production«, http://www.shauntan.net/film/ the-arrival-theatre.html (Stand: 15. 05. 2009). Tan, Shaun, Là où vont nos pères. Paris 2008. Tan, Shaun, »Note de l’auteur«, in: Ders., Là où vont nos pères. Paris 2008, unpag. Tan, Shaun, »Picture Books: The Arrival«, http://www.shauntan.net/books/thearrival.html (Stand: 15. 12. 2009). Tan, Shaun, »Picture Books: Who Are They For?«, http://www.shauntan.net/ essay1.html, S. 1–2 (Stand: 15. Dezember 2009). Verstappen, Nicolas, »Shaun Tan«, in: du9 – L’autre Bande Dessinée, 1/2008, http://du9.org/Shaun-Tan,922 (Stand: 15. 12. 2009).
Sekundärliteratur Alix, »Interview with Shaun Tan«, BDtheque, 31. Oktober 2011, http://www.bdthe que.com/interview-shaun-tan-vo-200.html (Stand: 12. 03. 2012). Anon., »Interview with Illustrator Shaun Tan«, in: The Australian Edge, Oktober 2008, http://www.australianedge.net/2008/10/interview-with-illustrator-shaun-tan (Stand: 15. 12. 2009). 67
Für eine kunstwissenschaftliche Untersuchung zu The Arrival, die erst nach Fertigstellung dieses Artikels entstand, siehe Sarah Wildeisen, »Poesie des Befremdens: Eine bildästhetisch-narratolologische Analyse von Shaun Tans Ein neues Land«, Magisterarbeit, Freie Universität Berlin 2011. Zudem entsteht derzeit am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Regensburg eine weitere Abschlussarbeit zu dieser graphic novel (persönliche Mitteilung von Annette Gradl, E-Mail vom 3. Februar 2012).
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Anon., »Shaun Tan: Biography«, in: http://www2.scholastic.com/browse/contribu tor.jsp?id=3747039 (Stand: 15. 12. 2009). Atkinson, Frances, »Drawn to the image«, in: The Age, 27. Januar 2007, http:// www.theage.com.au/news/books/tan-drawn-to-the-image2007/01/26/1169594 478896.html (Stand: 15. 12. 2009). Baetens, Jan, »Graphic Novels: Literature Without Text?«, in: English Language Notes 46/2008, 2, S. 77–88. Barberi, Daniele., »Zeit und Rhythmus in der Bilderzählung«, in: Michael Hein/ Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comic. Berlin 2002, S. 125–142. Boatright, Michael D., »Graphic Journeys: Graphic Novels’ Representations of Immigrant Experiences«, in: Journal of Adolescent and Adult Literacy 53 (2010), S. 468–476. Brunner, Miriam, Manga – Faszination der Bilder: Darstellungsmittel und Motive. München 2009. Chiu, Monica, »Sequencing and Contingent Individualism in the Graphic, Postcolonial Spaces of Satrapi’s Persepolis and Okubo’s Citizen 13660«, in: English Language Notes 46/2008, 2, S. 99–114. Chute, Hillary, »Comics as Literature? Reading Graphic Narrative«, in: Proceedings of the Modern Language Association of America (PMLA) 123/2008, 3, S. 452–465. Dammann, Günter, »Temporale Strukturen des Erzählens im Comic«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comic. Berlin 2002, S. 91–101. Ditschke, Stephan, »Comics als Literatur: Zur Etablierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton seit 2003«, in: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hrsg.), Comics: Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009, S. 265–280. Drechsel, Wiltrud Ulrike/Jörg Funhoff/Michael Hoffmann, Massenzeichenware: Die gesellschaftliche und ideologische Funktion der Comics. Frankfurt am Main 1975. Drucker, Johanna, »What Is Graphic About Graphic Novels?«, in: English Language Notes 46/2008, 2, S. 39–55. Frick, Werner, »Kafkas New York«, in: Ders./Gesa von Essen/Fabian Lampart (Hrsg.), Orte der Literatur. Göttingen 2002, S. 266–293. Haber, Karen, »Shaun Tan: Out of Context«, in: Locus 12/2001, unpag., http:// www.locusmag.com/2001/Issue12/Tan.html; zit. nach: »Shaun Tan«, http:// en.wikipedia.org/wiki/Shaun_Tan (Stand: 15. 12. 2009). Helbich, Wolfgang, »Alle Menschen sind dort gleich …«: Die deutsche Amerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf 1988. Ling, Chuan-Yao, »A Conversation with Illustrator Shaun Tan«, in: World Literature Today 825/2008, S. 44. Malyon, Craig, »Illustrator and Graphic Designer – Shaun Tan«, in: Charles Sturt University: Visual Arts: Course Requirements: Case Studies, o. J., http://www.hsc.csu. edu.au/visual_arts/requirements/case_studies/illustrator_graphic_designer/ 122232ShaTanCDoc5.html (Stand: 15. 12. 2009). McCloud, Understanding Comics. The Invisible Art. Northampton 1993. Nielsen, Jens R., »Leben mit der Bombe: Der Manga als graphische Erzählform«, in: Text + Kritik Sonderband: Comics, Mangas, Graphic Novels. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Andreas C. Knigge, München 2009, S. 195–210.
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Schmitz-Emans, Monika, Literatur-Comics: Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin, Boston 2012 Schmitz-Emans, Monika, »Weltliteratur im Comic: Kunstform einer globalisierten Bilderwelt?«, in: Ulfried Reichardt (Hrsg.), Die Vermessung der Globalisierung: Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Heidelberg 2008, S. 273–298. Smith, Zack, »After The Arrival: Talking to Shaun Tan«, in: Newsarama, 26. 10. 2007, http://forum.newsarama.com/showthread.php?t=134270 (Stand: 12. 12. 2009). Smith, Zack, »After The Arrival«; »The Arrival: November 9, 2007 Podcast«, Public Radio International: PRI’s The World, http://www.theworld.org/?q=node/13925 (Stand: 15. 12. 2009). Swabey, Joe,»The Shaun Tan Interview«, The Comics Journal 289 (2008), http:// archives.tcj.com/index.php?option=com_content&task=view&id=813& Itemid=48n.pag. (Stand: 15. Dezember 2009). Tan, Shaun, Originality and Creativity: Paper for ALEA Hobart Conference, May 2001 http://www.shauntan.net/essay2.html (Stand: 15. 12. 2009). Wildeisen, Sarah, »Poesie des Befremdens: Eine bildästhetisch-narratolologische Analyse von Shaun Tans Ein neues Land«, Magisterarbeit, Freie Universität Berlin 2011. Yang, Gene Luen, »Stranger in a Strange Land«, in: New York Times, 11. November 2007, http://www.nytimes.com/2007/11/11/books/review/Yang-t.html (Stand: 15. 12. 2009).
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Dorothy Figueira (Athens, Georgia)
Guts and Glory Representations of History in Indian Comic Books
In recent years, I have been astonished by truly odd museum exhibits and the political correctness of their representations of history. I recall visiting the antiquities wing in an ethnology museum in Leiden and noting how Egyptian religion was explained in terms that had little to do with Egypt and much to do with Dutch multicultural discourse. Mummies were people just like us, albeit dead and mummified. We should understand our commonality with the ancient Egyptian dead because we currently live among other communities with different lifestyles. The thematic of the entire museum was simple: we should cultivate tolerance for cultural differences. I thought back to the Leiden mummies last summer when I visited the blockbuster exhibit in Berlin on Babylon. This exhibit had an elaborate merchandising campaign, with souvenirs emblazoned with the catchy marketing slogan: »Keine Hure, kein König und kein Turm.« Infant T-shirts were decorated »Baby-lon.« Here too, multicultural and politically correct ideology provided the operative strategy. Underlying the exhibit was the political thesis that our misconceptions regarding Babylon directly influenced recent misguided American quests for weapons of mass destruction in Iraq. Proof was to be found in the nakedness of Theda Bara on the American silent screen. In all these exhibits, the message was clear – we should take the Other more seriously than we do, even if the expositions themselves teach us little substantive about these cultures beyond a series of postmodern clichés gleaned from popular culture. These reflections have brought me to the topic at hand – if museum curators have become so trendy and dumbed-down in their presentations of history, how then does traditionally less high-brow cultural production deal with historical events? As the focus of my investigation, I have chosen to examine Indian comic books. I limit my discussion to the Amar Chitra Katha comics first published in Delhi in the 1970’s and still popular in India and in the Indian diaspora community today. Amar Chitra Katha or »immortal picture stories« is a comic book series founded in 1967 by Anand Pai whose early career in comic book production and, especially, in disseminating »The Phantom« comic series in India ideally
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suited him for this venture.1 Initially, the ACK were produced monthly (and later, fortnightly) in a 32-page format. Their purchasers were and continue to be Hindu, middle class, educated parents who, although they send their children to English-medium schools, still want them to be knowledgeable about their culture.2 The inspiration for these comics was their founder’s concern that Indian children were not as familiar with their mythological heritage as they were with that of ancient Greece and Rome. ACK was launched at a time when Indian society was moving away from the joint family system due to socioeconomic constraints and urbanization. Pai felt that the cultural heritage, often passed down by grandmothers, was no longer being conveyed within the more fragmented familial structure. ACK was devised as a replacement for this quickly-becoming outmoded form of socialization.3 Grandparents would, however, play a key role in the marketing of these comics. They became a significant target group for subscriptions as well as characters themselves in the historical comics dealing with the colonial period. A key theme in this series was the suffering of the elder generation under the British yoke (ACK #348, inside front cover). In short, ACK assumed the role of the absentee grandparent, marketed itself to this grandparent, and made the oppression of this same grandparent a subject of its narrative. ACK began treating the ancient Hindu myths and then branched out to include Hindu kings, medieval poets, Buddhist literature, modern Hindu sages, Jain scriptures, and colonial freedom fighters. All the comics, whether historical or mythological, revolve around a central character. As the series developed, it purportedly sought to cut across the barriers of caste, community, region, and language in order to educate future citizens in a secular and democratic India. Toward this end, Pai felt the comics should not expose young readers to violence, prejudice, sexual license, or superstition. Pai’s Sanskrit maxim for the comic books made this pedagogical aim clear: 1
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John Stratton Hawley, »The Saints Subdued: Domestic Virtue and National Integration in Amar Chitra Katha,« in: Lawrence Babb/Susan Wadley (eds.), Media and the Transformation of Religion in South Asia. Philadelphia 1995, p. 129. Every issue is first produced in English and then translated into other Indian regional languages. In the mid-80’s, at the height of their popularity, they appeared translated into Bengali, Marathi, Assamese, Gujarati, Punjabi, Kannada, Telegu, Tamil, Sanskrit and Urdu. At this time, they were also translated into French, Spanish, German, Swahili, Fijian, Indonesian, and Serbo-Croat, presumably to suit a new generation living in the Indian diaspora. In fact, on the website (www.amarchitrakatha.com) there is a grandparent association catering to Indian-American children.
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»satyam br¯uy¯at priyam br¯uy¯at m¯a br¯uy¯at satyam apriyam« or »you must tell the truth, you must tell what is pleasant and what is unpleasant just because it is true, you need not say it«.4 This policy found favor with parents and grandparents and ACK has experienced tremendous success. By 2005, some 90 million copies of the comics had been sold.5 The series’ popularity is due to several factors. Comic books are cheap and, until recently, more available to the poor than cinema and television. They attract an unusually large number of readers in India. Comics fit easily into the Hindu tradition of painted folklore where heroic stories are painted on large cloth scrolls. These continuous series paintings are displayed in villages throughout India where professional singers entertain illiterate rural populations.6 Comics also imitate the style of religious posters which have traditionally provided lower-caste devotees, who were barred from entering temples on the grounds of social status, access to deities.7 They are also influenced by the paintings of Raja Ravi Varma (1848–1906),8 whose style has been integrated into Indian calendar art. Hindi-language cinema, with its simplistic portrayal of villains and heroes, has also informed comic book illustrations. In particular, comics share the racist and casteist representations found in Indian films. In both mediums, demons always have dark complexions, curly hair and non-aquiline noses.9 Just as actresses and actors in Bollywood are idealized, so too are comic book characters flat, two dimensional and static figures. In both Indian films and ACK, humans appear uniform. Heroes are muscular, fair-skinned, blank faced, and classically proportioned; heroines are big breasted, slim-waisted, regular featured, and fair (cf. ACK #37/#536, p. 7).10 4 5
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Hawley, The Saints Subdued, p. 128. The number of volumes sold figures prominently on the front inside cover of each volume. O. P. Joshi, »Contents, Consumers and Creators of Comics in India,« in: Alphons Silbermann/H. D. Dyroff (eds.), Comics and Visual Culture. Munich 1986, p. 215. H. Daniel Smith, »Impact of ›God Posters‹ on Hindus and their Devotional Traditions,« in: Babb/Wadley (eds.), Media and the Transformation of Religion. pp. 24–50. A painter known for his representation of characters, mostly lovely sari-clad heroines, from the Sanskrit epics. He depicted Indian subjects in European academic style. For a discussion of the televised Ramayana, see Philip Lutgendorf, »All in the (Raghu) Family: A Video Epic in Cultural Context,« in: Babb/Wadley (eds.), Media and the Transformation of Religion. pp. 217–53. In the Nehru comic, there is an initial scene where the young Nehru is assaulted by British authorities because his sister is so white she is thought to be a kidnapped English child (#136/#700: 1991.2).
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Fig. 1: ACK #608, p. 22.
Stylistically, Indian comics provide a cheaper and more accessible format for stereotypical representations that were already widely disseminated in Indian popular culture. What made the ACK comics unique, however, was the authority they came to wield. Their creator, Anand Pai, has always been a stickler for textual and visual details. Quite early on, readers came to view ACK as authentic renderings of Indian traditional lore and history. Introductory material to contextualize the comic plots and a scholarly apparatus were gradually included in the series. Thanks to Pai’s marketing efforts and the purported authenticity of the narrative, schools became important subscribers. The ACK comics have been so fully integrated into the secondary school system that they are often used as textbooks. Educators have touted them as learning tools, claiming that reading ACK not only improves grades, but makes learning enjoyable. ACK has also been fully endorsed by the state. In a speech given in 1978, the Minister for Education asserted that ACK promoted national integration. In 1998, the then Prime Minister of India even hosted a release party in his home for the March to Freedom series and made it compulsory in the ninth standard.11 The ACK comics are created by teams of writers and artists. All comics are approved by Pai and his editorial staff for content and artistic value. The comics are designed so that the narrator’s voice runs across the top or the bottom of the panels and the word balloons appear within the panels to convey 11
Karline Marie McLain, Whose Immortal Picture Stories? Amar Chitra Katha and the Construction of Indian Identities. Dissertation (Univ. of Texas at Austin) 2005, p. 57. For further information, see Kushalrani Gulab, »Illustrated History of India,« in: Asian Age 1998, 23 (Sept. 13), Surekha Kadapu-Bose, »Uncle Pai’s Classics«, in: The Week 1993, 46 (Sept. 13).
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dialogue. These balloons can either convey speech or thoughts; their purpose is to move the story forward. The individual artists are given pages with the panel divisions already positioned, the narrative text and scripted dialogue already in place, as well as detailed written instructions by the scriptwriters telling the artists what to draw in each panel. Clearly the text is primary in this production process; it is written first and the artist is assigned a specific role in relation to language.12 In comic theory terms, ACK is word specific: the pictures are meant to illustrate but are not intended to add much to a largely complete text. Ideally, the artist aims for synchronicity between the visual templates and the story boards.13 The historical comics differ from the mythologically-themed comics in that their panels tend to be static with considerable narrative, often consisting of excerpts from proclamations, letters, speeches, newspaper articles, and other historical source material. In contrast, the mythological comics in the series stress vivid pictures and active panels.14 Although ACK’s aim is to be comprehensible and informative for children, its message is in no way naive. In fact, these comics present a clear ideology that is directed primarily at adult conservative Hindus. They promote the myth of a democratic India where all the world’s religions peacefully coexist. Post-independence India is made to epitomize the ideal of unity in diversity. However, upon closer inspection, one realizes that while other traditions, such as those of the Moslems, Sikhs, Jains, and Buddhists, are represented in the pages of ACK, their specificity is nowhere apparent. These various religions appear modeled after Hinduism. Moreover, there is a considerable blurring of the distinction between what is Indian and what is Hindu.15 Even when depicting representatives from non-Hindu traditions, the narrative voice is clearly high-caste Hindu. The theme of a seamless national integration is further belied by the rather idiosyncratic choice of historical personages selected to represent the various religious groups comprising this idyllic India. Historical figures who were very sectarian in their outlook and actions are presented in these comics first and foremost as fighters for the rights of all Indians. They are described often in hagiographic terms,16 even when their biographies belie such depictions. 12 13
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McLain, Whose Immortal Picture Stories?, p. 249. Artists note that they delete text, if they feel that the picture they have created is sufficient to convey meaning. In practice, therefore, the comics seem to follow an even more desirable model of composition – where the words and pictures are interdependent (ibid., p. 250). Especially in the Mahabharata series. Hawley, The Saints Subdued, p. 128. Ibid., p. 107.
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Fig. 2: ACK #23, p. 5.
To illustrate this point, let us examine the first volume of the series devoted to the Maratha king Shivaji (ACK #23), who was famous for battling the Mughal Empire and founding an independent Maratha kingdom in 1674. In this comic, Shivaji is homogenized into a superhuman symbol of nationalist history.17 Pai presents him not as a regional figure, but as a national hero and a great liberal who fought for all India. It must be noted that Shivaji’s history is highly contested. In post-independence India, he is a key figure around which militant Hindu factions have mobilized. The image of Shivaji became so politicized by Hindu fundamentalists that a recent book on him18 that cast aspersions on his parentage was greeted with death threats to the publisher and author, the firebombing of the library where the research was conducted, and legal actions against those even tangentially involved in its research and publication. Shivaji has come to symbolize the valiant Hindu who stands up to Moslem tyranny and defeats Islam’s threat to Hindu hegemony. His name and image are used by radical Hindus to rally the faithful in present-day confrontations with Moslems. When Hindu fundamentalists stormed the Babri Masjid in the early 90’s and demolished the mosque that was purportedly built on the site of the god Rama’s birthplace and during the ensuing communal violence of the last twenty years, Hindus have consistently fought in the name of Shivaji. It is, therefore, significant that ACK chose to make Shivaji the subject of its first historical comic. It is also significant that the plot of the Shivaji comic centers on his killing of his Moslem rival, Afzal Khan. In light of the violence ignited by the Babri Masjid demolition, it is no accident that the Shivaji 17 18
McLain, Whose Immortal Picture Stories?, p. 159. James W. Laine, Shiviji: Hindu King in Islamic India. New York 2003.
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Fig. 3: ACK #23, p. 9.
comic begins with Afzal Khan’s plans to demolish Shivaji’s favorite temple to the goddess Bhavani. In this comic, Afzal Khan is portrayed as an invading and plundering Moslem iconoclast. He stands in sharp contrast to Shivaji, the devout Hindu who is merely defending his faith and the Indian peoples’ land. Shivaji is, therefore, not just the regional despot that history might portray, but a national hero battling Moslem aggressors. In fact, in the final full page panel of the comic, Shivaji is enthroned as the »peoples’ king«.19
Fig. 4: ACK #23, p. 32. 19
This panel reproduces exactly the last page of the comic devoted to the mythological king and Hindu god Rama (#15: 1970) – the same god whose purported birthplace initiated the communal violence against Moslems in Ayodhya in the 1990’s.
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Fig. 5: ACK #678, p. 21.
Just as its heroes are idealized, so too are the enemies of India stereotyped. The British, for example, are depicted in totally negative terms. They are universally portrayed as caricatures, arrogant and ugly, while Indians appear as honorable and oppressed. There is no mention whatsoever of Indians who participated in the British system.20 In fact, ACK presents colonial India as uniformly united in its battle against British rule. The farmers, traders, professionals, rajas, and nawabs are depicted as rising up together against the British oppression (ACK #348, p. 24). It is also interesting to note which freedom fighters have been immortalized in these comics. Mahatma Gandhi was absent from the series for a long time, some 20 years, before a comic was devoted to him in the late 1980’s. It was not until quite recently that Nehru got his own comic. Conspicuously absent from the pantheon of freedom fighters are any of the Moslem makers of modern India. These delays and omissions are clearly intentional. »Outsiders« to the Hindu fold, such as untouchables,21 Jain saints, and Mughal kings might have their own comics. But, these comics tend to be mostly didactic in nature.22 Their message is simple: All religious groups make up modern India and all these non-Hindus act together in solidarity with Hindus.23 An example of this nationalist myth can be seen in the comic devoted to 20
21
22 23
Frances W. Pritchett, »The World of Amar Chitra Katha in Media and in the Transformation of Religion in South Asia,« in: Babb/Wadley (eds.), Media and the Transformation of Religion, p. 91. Among untouchable heroes, one can count Babasaheb Ambedkar (ACK #188), Guru Ravidas (ACK #350) and Narayana Guru (ACK #403). These comics do not dwell on horrific Hindu abuses of untouchables. In particular, see the comic devoted to the Buddha. Pritchett, »The World of Amar Chitra Katha«, p. 92.
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Fig. 6: ACK #200, p. 32.
Akbar, who, we are told, is best known for having spread the message that all religions are equal. Akbar’s comic focuses on his tolerance and accommodating policies (ACK #200, p. 21). He bequeathed to India his ideal of a unified country harboring diverse religions and cultures.24 Akbar is made to stand in sharp contrast to Aurangzeb, who is presented as an orthodox puritan (ACK #232). Aurangzeb is also juxtaposed to his eldest brother, Dara Shukoh, the favorite son of Shah Jahan. Whereas Dara Shukoh is presented as an ardent follower of a liberal Moslem saint, Aurangzeb is portrayed as zealot imposing uniformity on his people through forced conversion (ibid., p. 6).25 While Dara Shukoh is depicted translating the Upanishads into Persian, Aurangzeb is shown plotting his brother’s downfall.26 Dara Shukoh is clearly represented as what ACK accepts as a Moslem hero – someone who is heterodox, syncretistic, and a good brother. ACK opposes him to the Sharia-oriented orthodox antihero Aurangzeb, who treacherously defeats his brother and forces a puritanical and anti-Hindu reign on India. The message here is clear: the good Moslem lost to the bad Moslem and it is the latter whose legacy haunts India in modern times. However, the larger, and more pernicious, message is that Moslem rulers are orthodox and intolerant.27 24 25
26 27
McLain, Whose Immortal Picture Stories?, p. 220. The comic devoted to Guru Tegh Babadur also condemns the forced conversion of the 9th Sikh Guru (ACK #114/#694, p. 24, p. 26). In this comic, the Guru is beheaded by Aurangzeb because he refuses to convert to Islam. Nevertheless, he is, we are told, remembered with love and admiration by all the people (ACK #114/#694, p. 31; McLain, Whose Immortal Picture Stories?, p. 226). Ibid., p. 223. Ibid., p. 231. This thesis is not only found in such low forms of historiography, but even in more »enlightened« schools of thought, such as Subaltern Studies. The historian Gyanendra Pandey sees communalism as a colonial construction (Gyanendra Pandey, Subaltern Studies VI. Delhi 1989, pp. 132–68).
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Religious tolerance is, of course, a desirable trait to be taught to young readers and a necessary element of Pai’s vision of secularism. The historical »visionaries« and »bravehearts« celebrated in the pages of these comics all promote a syncretistic form of political authority.28 Moreover, ACK casts this modern concept of the secular state backwards into the past to show how India is indebted neither to the British nor the Mughals for its tolerance and democratic heritage.29 This myth of an historically ecumenical India can also be seen in the comic devoted to Ranjit Singh (ACK #49), who, as we are told on the inside cover, was broad-minded and secular. He is presented not as someone who established a Sikh state, but rather as the founder of a Punjab state where Sikhs, Hindus and Moslems have equal rights.
Fig. 7: ACK #49, p. 16.
The projection of a tolerant secularism onto Indian history, while not accurate, is understandable, given the comics’ target audience of children. What is less justifiable was Pai’s decision to devote comics to historical figures primarily known for espousing violence and hatred. For example, Pai devoted a comic to Subhas Chandra Bose, who fought valiantly with the Japanesebacked Azad Hind Fauz (sic) (ACK #360, pp. 29–30) and actively sought to build an alliance with Hitler. The comics do not address what was at stake had the Germans or Japanese won the war. There is also no mention of Japanese or German imperial ventures instigating the conflict. The war is merely presented as an opportunity taken by certain Hindu patriots to force the British to leave India. British colonialism is the only operative evil to be defeated. The only statement re-
28
29
The non-mythological comics have been set apart from the mythology-based comics with subtitles such as »Bravehearts« and »Visionaries.« McLain, Whose Immortal Picture Stories?, p. 230.
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Fig. 8: ACK #544, p. 26.
garding the conflict was that the allies emerged victorious. Indian children never learn from ACK what the allies were fighting for. The Bose comic is not unique in its bias. It merely highlights the trend in these comics to champion in an unproblematized manner violent revolutionaries.30 Every Hindu who ever assassinated a colonial official or detonated a bomb is celebrated in the pages of ACK.
Fig. 9a and b: ACK #262/#721; fig. 9c: p. 5, #645, p. 20.
These attacks are always presented as acts of retaliation for initial insults and atrocities committed by the British, as in the case of Rash Behari Bose’s attempt on the life of Viceroy Hardinge (ACK #626/#721, p. 5), Tilak’s response to the shooting of Rand (ACK #645, p. 20), Chandra Shekhar Azad’s (ACK #142/#686, p. 16) and Bhagat Singh’s (ACK #234/#608, p. 18) revenge of Lal Lalpat Rai’s death (ACK #142/#686, p. 16) or Dinghri’s assassination of Lord Whyllie (ACK #309/#678, p. 7). 30
Long before the Gandhi comic book ever appeared, ACK featured a number of violent revolutionaries like Bose, Chandra Shekhar Azad (#142: 1977), Bagha Jatin (#136: 1978), Bhagat Singh (#234: 1981), Rash Behare Bose (#262: 1982), Senapati Bapat (#303: 1984), Khudiram Bose (#364: 1986).
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Fig. 10a (top): ACK #142/#686, p. 16; and 10b (bottom): ACK #309/#678, p. 7.
Among these »visionaries« as ACK calls them, perhaps the most shocking figure is Veer Savarkar (ACK #309), the founder of the Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), a Hindu militant organization modeled after the Hitlerjugend. Although even today Savarkar’s writings are outlawed in India because of their incendiary nature, he is a comic book hero thanks to ACK. Savarkar’s comic does not focus on his early terrorist career, but puts him in the Andamans as exiled revolutionary. We see his suffering and heroic resistance, not the bomb-making, racist speech agitation, and his trial for having instigated Gandhi’s assassination. In comic book form, Savarkar appears merely as a devoted and active participant in the struggle for freedom (ACK #309, p. 32), not a communalist firebrand. It is clear that ACK intentionally promotes those »heroes« who opted for the revolutionary and violent path. It lionizes those revolutionaries who rejected the main stream of the independence struggle represented by Gandhi and the Congress party. In the name of so-called peace and non-violence,31 31
The use of the Bhagavad Gita in the Tilak comic book was cited as a justification for the commission of violent acts as opposed to Gandhi’s use of the Bhagavad Gita
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Fig. 11: ACK #136/#548, p. 28.
Congress shut out the contributions of those who advocated violence.32 ACK rights this wrong by celebrating the alternative stream of the independence struggle – those who took the path of violence. The inexplicable delay in the launching of the Gandhi comic (ACK #414) only makes sense in the context of the series’ focus on violent historical figures. Clearly the intent was to valorize the more militant stream of the independence struggle and, perhaps, even call into question Gandhi’s role as a leader of the nation. The focus on violence as a viable (if not preferable) alternative to the failure of Gandhian non-violence occurred even before ACK dealt with Gandhi directly. In several issues where the Jallianwala Bagh massacre is described, it is presented as a logical response on the part of the British to Gandhi’s politics,33 rather than the unwarranted attack on an unarmed crowd by British soldiers under orders of their commanding officer. Although not supported by historical fact, ACK makes a direct causal connection between Gandhi’s call for boycott and the massacre (ACK #136/#548, p. 28; #436/#700, p. 27; see also #414, pp. 30–31). In doing so, ACK challenges not only Gandhi’s strategies in dealing with the British but also the general viability of the non-violent approach. Violence is a central component of the comic book genre, so it is not surprising to find it in the pages of ACK. However, we must remember Pai’s mission
32 33
not as an historical text interpreted to justify warfare but rather as an allegory. We might mention here a similar use of this text by World War I soldiers and Nazis, see Dorothy Figueira, The Exotic: A Decadent Quest. Albany, N.Y. 1995. McLain, Whose Immortal Picture Stories?, pp. 277–78. See in this respect, the comic devoted to Rabindranath Tagore, where Gandhi’s call for a general strike is presented as the direct cause of the massacre.
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Fig. 12: ACK #414/#650, p. 59.
statement not to subject his readers to what is unpleasant. Clearly his need to depict every colonial assassin or revolutionary overrode this mandate and served some larger purpose. A similar discrepancy between the avowed pedagogical philosophy and ideology that is actually thematized can be also seen on the level of narrative. According to W. J. T. Mitchell, the general task of the comic-book reader is to examine the inconsistencies that may exist between text and image34 and assess the effect they may have upon meaning. In the Gandhi comic, a marked disconnect can be seen between the text and the visual representations that accompany it. For example, in those panels depicting Gandhi’s assassination, neither Gandhi nor his assassin, Nathuram Godse, are the central focus of the event. 34
W. J. T. Mitchell, Picture Theory. Chicago 1996, pp. 90–91.
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Fig. 13: ACK #382/#733, p. 29.
Godse is not even named in the comic. He is certainly not portrayed as an orthodox Hindu. Rather, the attack itself is depicted as a free-floating act with the focus placed on the image of the gun. Gandhi’s assassination is presented as a dry statement of fact. The reader is left to draw his/her own conclusions. Neither the text nor the visuals evoke any condemnation of the event. Another depiction of Gandhi’s assassination appears in the comic devoted to the industrialist Birla (ACK #382), in whose house it occurred. Here too the focus is on the gun and the bullet’s trajectory rather than the recipient or the actor.35 Given the choice of the historical characters and the manner in which Hindu radical militancy is treated, one can say that assassination becomes a nodal point of modern Indian history in ACK. In these comics, Gandhian non-violence is totally devalorized to the extent that it is uniformly rewarded with violence. The comic-book depictions of Gandhi’s assassination even eliminate the shooter’s identity. The comic tersely relates how the message of non-violence did not »please everyone« (ACK #414/#650, p. 59). The comics propose Gandhi’s philosophy of non-violence that led to his death, not Hindu fanaticism. It is even suggested that Gandhi was to blame for his own murder because he coddled the Moslems.36 Let us not forget that indulging Moslem exceptionalism is a standard complaint of Hindu fundamentalists and it has resurfaced in more recent justifications for Hindu violence against Moslems. Hindus are never to blame; they are merely exasperated by the constant appeasement of Moslems by some government authority.37 Just 35 36 37
McLain, Whose Immortal Picture Stories?, p. 289. Ibid., p. 292. In the Shah Bano case, Prime Minister Rajiv Gandhi introduced a bill that in accordance with Islamic law gave Moslem women maintenance for the iddat period only. Gandhi maintained that the bill would further secularism in India by insuring religious communities of fundamental rights. The Hindus were outraged and saw the bill as a step backwards from the uniform civil code stipulated by the Constitution (ibid., p. 242).
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as ACK denies that Hindu fanaticism led to Gandhi’s assassination, so too can the fanatic elements of recent Hindu revivalism (of which ACK is a part) be glossed over. It is important for us to put this comic-book treatment of violence in its proper context. When these comics were being written in the 1980’s and 90’s, Hindu fundamentalists were turning a blind eye to, if not actively fomenting, communal violence for which they have yet to be held accountable. Thousands of non-Hindus have died in this violence. These comics reflect the political reality of their time. They offer a Hindu nationalist rewriting of history and a script for today’s continued religious violence. ACK voices a discourse of pseudo-secularism, champions unity in diversity, and celebrates heroes who are deemed tolerant. At the same time, however, it promotes militant syndicated Hindu fundamentalism or Hindutva. In this script, Hindus feel under siege; they believe their community is attacked by proselytizing religions like Islam and Christianity and by liberal advocates of secularism who pander to minority populations. In these comics, even the most rabid Hindu nationalists, Nazi sympathizers such as Bose and Savarkar, and regional despots such as Shivaji are whitewashed into unproblematized heroes. Hindutva flourishes in an increasingly hegemonic narrative of Indian national culture created by middle-class Hindus and found not only in ACK, but also in Bollywood and in the Indian television presentations of the great Sanskrit epics. These various forms of hypertext conflate myth with historical events, blurring the distinction between what happened and what we need to believe in order to justify our current behavior. Once myth and history are conceived as complementary rather than oppositional, everything is possible. The comics we have discussed here can be read then not only in light of the Hindu fundamentalist orientation of their creator and his readers, but also as providing a script for a very specific vision of Indianness to be consumed by Indian elite children, their parents, and grandparents and even their diaspora cousins in Europe and America.
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Lokamanya Tilak, #219/#645 (1980), Script: Indu J. Tilak, Illustrations: Dilip Kadam, Cover: P. G. Sircar. Dara Shukoh and Aurangzeb, #232 (1981), Script: Coom Chinoy, Illustrations: Ram Waeerkar, Cover: C. M. Vitankar. Bhagat Singh, #234/#608 (1981), Script: Rajinder Singh Ray and Subha Rao, Illustrations: Dilip Kadam, Cover: Pratap Mulick. Rash Behari Bose, #262/#721 (1982), Script: Satyavratat Ghosh/Luis M. Fernandes, Illustrations: Souren Roy, Cover: C. M. Vitankar. Senapati Bapat, #303 (1984): Script: Gayatir Madan Dutt, Illustrations: G. R. Naik. Veer Savarkar, #309/#678 (1984), Script: Appaswami/Subha Rao, Illustrations/ Cover: Ram Waeerkar. March to Freedom 1: Birth of the Indian National Congress, #348 (1986), Script: Subha Rao, Illustrations/Cover: Ram Waeerkar. Guru Ravdas, #350 (1986), Cover: R. S. Umrotkar. March to Freedom 2: A Nation Awakes, #356 (1986), Script: Subha Rao, Illustrations/ Cover: Ram Waeerkar. March to Freedom 3: Saga of Indian Revolutionaries, #360 (1986), Script: Subha Rao, Illustrations/Cover: Ram Waeerkar. Khudiram Bose, #364 (1986), Script: Subha Rao, Illustrations: Souren Roy, Cover: R. S. Umrotkar. Ghanshyam Das Birla, #382/#737 (1987), Script: Yagya Sharma, Illustrations: Ramanand Bhagat. Narayana Guru, #403 (1988). Mahatma Gandhi I: The Early Years, #414/#650 (1989), Script: Gayatri Madan Dutt, Illustrations: Souren Roy, Cover: R. S. Umrotkar. Jawaharlal Nehru, #436/#700 (1991), Script: Margie Sastry, Illustrations: Yusuf Bangalorewalla (aka Yusuf Lien), Cover: R. S. Umrotkar.
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Teil III Artistiken des Zitierens
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Transformation und Aneignung
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Hans-Joachim Backe (Bochum)
Transformation und Aneignung Literarische Prätexte in Moores und Gibbons’ Watchmen
Als DC Comics im Oktober 1987 den zwölften und letzten Band einer Miniserie mit dem Titel Watchmen veröffentlichte, hatten Autor Alan Moore und Zeichner Dave Gibbons bereits mehrfach in Interviews den selbstgesetzten Anspruch formuliert, nichts weniger als ein Meisterwerk zu schaffen. Der Moby Dick des Superheldengenres sollte es sein, eine graphic novel, die einer great American novel an Gewichtigkeit und Dichte ebenbürtig sei.1 Dieser Anspruch schlägt sich sowohl in Inhalt als auch Form nieder. Watchmen ist ebenso der Höhepunkt des Superhelden-Comics wie sein Abgesang. Auf über 380 Seiten wird die Frage erörtert, wie sich unsere Welt entwickelt hätte, wenn es in ihr tatsächlich Superhelden geben würde. Überaus menschliche Helden sind dabei mindestens ebenso sehr in moralische Probleme verstrickt wie in Verbrechen und Ermittlung. Um sie herum entwickeln die Autoren ein Spiegelkabinett von textinternen und intertextuellen Verweisen, das Geschehnisse und Reflexionen zu gleichen Teilen in die Populär- und Hochkultur einordnet. Anhand von zwei literarischen Quellen möchte ich hier demonstrieren, welche Verfahren von Transformation und Aneignung sich in Watchmen beobachten lassen.2 Zunächst werde ich einen skizzenhaften Überblick der Inhalte und Ästhetik geben, um dann an einem Beispiel darzustellen, wie populärkulturelle und literarische Motti den Kapiteln sowohl Titel als auch Strukturen und Metaphern vorgeben. Neben diesen punktuellen Bezugnahmen ist das übergreifende »Meta-Motto« des Bandes, das berühmte JuvenalZitat »Wer bewacht die Wächter?« (»Quis custodiet ipsos custodes?«), natürlich von herausgehobener Bedeutung, weshalb der letzte Teil dieser Untersuchung aufzeigen wird, auf welche Weise es Konstruktion und Lesart des 1
2
Vgl. das Interview: Vincent Eno and El Csawza meet comics megastar Alan Moore, 2006, http://www.johncoulthart.com/feuilleton/2006/02/20/alan-moore-interview-1988/ (Stand: 22. 12. 2009; zuerst in: Strange Things Are Happening, 1/1988, S. 2). Eine Betrachtung der hier angesprochenen Aspekte im Rest von Watchmen findet sich in Hans-Joachim Backe, Under the Hood. Die Verweisstruktur der Watchmen. Essen, Bochum 2010.
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Textes prägt. Ich werde zeigen, dass – genau wie bei einem postmodernen Roman – auch in Watchmen eine Überdeterminierung und Mehrfachkonnotation von Zeichen stattfindet, die durch ihren Zitatcharakter mehrere gleichzeitige Bedeutungen nicht nur zulässt, sondern unvermeidlich und unübersehbar macht.
Inhalte und Ästhetik Zu den Inhalten und Strukturen der Watchmen sei hier nur gesagt, dass der Text in einer parahistorischen3 Variante unserer Realität angesiedelt ist, in der 1938 das Erscheinen der ersten Superhelden-Comics einige Menschen dazu animiert, selbst als kostümierte Verbrechensbekämpfer aktiv zu werden. 1959 ereignet sich die zweite maßgebliche Abweichung von unserer Realität, als der Physiker Jon Osterman bei einem Experiment in ein beinahe allmächtiges Wesen verwandelt wird. Im Gegensatz zu den fiktionalen Universen anderer Superhelden-Comics, in denen etliche Figuren mit quasigöttlichen Fähigkeiten nebeneinander existieren, verändert die Existenz des verwandelten Osterman die gesamte Welt. Unter dem Namen ›Dr. Manhattan‹ stabilisiert er als ›Superwaffe‹ Amerikas den Ost-West-Konflikt und gewinnt im Alleingang den Vietnamkrieg. Außerdem macht er die Vigilanten obsolet. Wie es einer von ihnen in einem Gespräch mit Osterman formuliert: »With someone like you around, the whole situation changes. You can do anything. All I got to offer is a good left hook.«4 Nach Protesten von Bürgerrechtlern setzen sich die restlichen Vigilanten 1977 entweder zur Ruhe, arbeiten für die Regierung oder gehen in den Untergrund. Einer von ihnen, Adrian Veidt, entwickelt aufgrund des Studiums der Fähigkeiten Dr. Manhattans Elektroautos und Zeppeline, was den mutmaßlichen »world’s smartest man« zum reichsten Mann der Welt macht. Vor diesem Hintergrund entspinnt sich im Jahr 1985 die eigentliche Handlung mit dem Mord an einem der Helden, dem Comedian. Einer seiner Kollegen, der militante, kompromisslose Rorschach, vermutet eine Mordkampagne gegen die noch lebenden Superhelden und beginnt Ermittlungen. Als man ihm einen Mord anhängt, befreien ihn seine ehemaligen Verbünde3
4
Uwe Durst, »Zur Poetik der parahistorischen Literatur«, in: Neohelicon 2/2004, XXXI, S. 201–220. Watchmen wird nach der Gesamtausgabe zitiert: Alan Moore/Dave Gibbons, Watchmen. New York 1987, hier IV, S. 15; die Angaben beziehen sich im Folgenden (der Zählung im Text folgend) jeweils auf das Kapitel und die Seite.
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ten Nite Owl und Silk Spectre aus dem Gefängnis, während Dr. Manhattan durch ein Komplott ins Exil getrieben wird. Das plötzlich entstehende Machtvakuum verleitet die UdSSR zur Invasion in Afghanistan und bringt die Welt über Nacht an den Rand des Atomkriegs. Die Ermittlungen von Rorschach und Nite Owl entlarven schließlich Adrian Veidt als Mörder des Comedian. Er enthüllt ihnen daraufhin seinen Plan zur Rettung der Welt vor der unausweichlichen Vernichtung durch das atomare Wettrüsten. Um die USA und die UdSSR zur Kooperation zu bewegen, hat er einen verheerenden Anschlag auf New York inszeniert, der wie ein Angriff Außerirdischer wirken soll und die halbe Bevölkerung der Stadt das Leben kostet. Als sie erkennen müssen, dass Veidts Plan nicht mehr aufzuhalten ist, beschließen die Superhelden, Stillschweigen zu bewahren, damit die Opfer nicht umsonst waren. Nur Rorschach, dessen Weltanschauung keinen Raum für Kompromisse lässt, will der Öffentlichkeit die Wahrheit offenbaren. Dr. Manhattan tötet ihn deshalb zwar, verweigert Veidt aber dennoch Zustimmung und Absolution,5 und es bleibt offen, ob sein Plan Erfolg haben wird. Ein Kaleidoskop von Antihelden, der Verzicht auf einen Superschurken im eigentlichen Sinn und der offene, pessimistische Schluss sind bewusste Brüche mit der Tradition des Superhelden-Comics. Auch wenn sich die Figuren an den Mitte der 1960er Jahre von Charlton Comics eingeführten »Action Heroes« orientieren, für deren Gestaltung Spider-Man-Zeichner Steve Ditko die Hauptverantwortung hatte, differenzieren und radikalisieren Moore und Gibbons deren Wesenszüge und Weltanschauungen, um eine breit gefächerte Moraldiskussion zu ermöglichen. Auch grafisch stellt Watchmen eine Exploration der Konventionen des Superhelden-Comics dar. Als Grundgerüst dient ein festes Raster von drei mal drei Panels, dessen Statik jedoch immer wieder durchbrochen wird. Gibbons’ Linienführung ist die des klassischen Superhelden-Comics – die er schon durch seine Erfahrung als Zeichner von Green Lantern und Superman perfektioniert hatte –, wird allerdings durch John Higgins’ auf Sekundärfarben basierende Kolorierung merklich verfremdet. Ikonische Primärfarbkombinationen wie Supermans Blau-Rot-Gelb sind so gut wie nicht zu finden, und selbst der Einsatz einzelner Primärfarben ist spärlich und bewusst. Grafische Elemente wie das visuelle Leitmotiv der graphic novel, der leuchtend gelbe Smiley-Button des Comedian, werden dadurch besonders deutlich hervorgehoben. Der leitmotivische Einsatz von Farben und Formen des Superhelden-Comics wird in Watchmen auf die Spitze getrieben und kritisch reflektiert – nicht zuletzt im Motiv des Spiegels und Zerrspiegels, 5
Ebd., XII, S. 27.
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das sich auf der grafischen, sprachlichen und handlungsstrukturellen Ebene findet. Gerade diese übergreifende Kopräsenz von Konzepten auf allen Gestaltungsebenen macht deutlich, wie eng und bewusst die Zusammenarbeit von Zeichner, Autor und Kolorist verlaufen ist.
Die Kapitel-Motti Jedes Kapitel von Watchmen hat ein titelgebendes Motto, das durch Bezugnahme auf real existierende Musik oder Literatur aus dem Text heraus verweist. Diese Motti sind am Ende jedes Kapitels anstelle des letzten Panels angeordnet und somit gleichzeitig Teil des Comics und deutlich hervorgehobener Paratext. Die Titel der Kapitel sind kurze, enigmatische Auszüge aus den Motti, häufig nicht mehr als zwei oder drei Worte, die eher eine Stimmung evozieren oder ein Rätsel stellen als einen Schlüssel zum Verständnis zu geben – das übernehmen die vollständigen, mit Nachweis versehenen Motti am Kapitelende, die häufig als eine Art ›Auflösung‹ fungieren. Ihre Quellen sind ebenso divers wie ihre Verwendung, die sich zwischen inhaltlichem Vorwurf, Folie und ästhetischem Leitmotiv bewegen. Fünf Kapitel nutzen Pop-Songs, drei zitieren Nietzsche, Jung und Einstein, zwei weitere die Bibel und die übrigen beiden literarische Quellen. Die verschiedenen Verwendungsweisen seien hier der Kürze halber an einem Beispiel paradigmatisch demonstriert. Das Motto des fünften Kapitels ist eines der beiden, die einer literarischen Quelle entstammen: William Blakes The Tyger.6 Die für Blake typische organische Verbindung von einander reflektierenden und durchdringenden Text- und Bildbestandteilen ist selten deutlicher als in diesem Gedicht. In der einfach scheinenden Form eines Lehrgedichts sinniert Blake über die Güte Gottes, exemplifiziert an der Frage, ob der Schöpfer des Lamms auch der des blutrünstigen Tigers sein könne. Die Inhalte des Gedichts haben viele, einander häufig diametral entgegengesetzte Interpretationsansätze hervorgebracht, die zum Teil im Kontext der Watchmen fruchtbar gemacht werden könnten – die von John Grant7 aufgezeigte politische Konnotation des Tigers als Symbol für die Skrupellosigkeit der französischen Revolutionsregierung böte sich beispielsweise an. Doch bereits die Struktur von Blakes Gedicht erweist sich als formgebendes Element für die graphic novel. 6 7
Die andere ist Percy Shelleys Ozymandias. John Grant, »This is Not Blake’s ›The Tyger‹ (With Apologies to Rene Magritte)«, in: The Iowa Review, 19/1989, 1, S. 113–155.
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Abb. 1: William Blake, »The Tyger«, in: Ders.: Songs of Experience. London 1794.
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Der Titel des fünften Kapitels ist »Fearful Symmetry«, ein Teil der vierten Zeile von Blakes Gedicht – der Teil, der die scheinbare sprachliche Banalität des Textes ebenso untergräbt wie seine eigene Aussage. Tyger! Tyger! burning bright In the forests of the night, What immortal hand or eye Could frame thy fearful symmetry?8
Das Durchbrechen des strengen Reimschemas mit dem Augenreim der ›ei‹-›i‹-Folge am Ende der dritten und vierten Zeile wirft die Frage auf, welche Symmetrie es denn sei, die für das lyrische Ich eine »fürchterliche« ist: diejenige, die voll realisiert ist, oder vielmehr diejenige, die nur so scheint. Bezieht man Blakes zum Gedicht gehörende Grafik mit ein, werden weitere Diskrepanzen deutlich. Handelt das Gedicht von Symmetrie, ist der Bildaufbau bewusst und vollständig asymmetrisch gestaltet, mit dem Tiger am Fuß des von rechts nach links rankenden Baumes. Und das Tier selbst, dessen »schreckliche Symmetrie« der Text beschreibt, erscheint im Profil, so dass die Symmetrie seines Körpers oder seiner Fellzeichnung dem Betrachter verborgen bleibt. Hinzu kommt, dass der lächelnde, rundliche Tiger der Zeichnung so gar nicht die blutrünstige Bestie darstellt, von der das Gedicht spricht. Watchmen leitet aus dieser Konstruktion nun ein Inhalts- und Formprinzip für das entsprechende Kapitel ab. »Fearful Symmetry« thematisiert Spiegelungen (etwa in Pfützen oder Glasscheiben), Spiegelbildlichkeit (in den ohnehin omnipräsenten Rorschach-Bildern) und Parallelismen (wie das Verschlingen eines Vogels durch den Schiffbrüchigen im Binnen-Comic9 und Nite Owls Mittagessen). Entscheidend ist aber das Panel-Layout des Kapitels, das zunächst den Eindruck erweckt, streng spiegelbildlich aufgebaut zu sein. Tatsächlich ist es aber, ebenso wie Blakes Bild-Gedicht, eine Aneinanderreihung von Variationen auf das Thema Spiegelbildlichkeit. In der Mitte des Kapitels, wo die beiden Hälften aufeinandertreffen, zeigt sich dies bereits deutlich. Die Szene, in der Adrian Veidt von einem Killer angegriffen wird – der, wie sich später herausstellt, von ihm selbst als Ablenkungsmanöver angeheuert worden ist – bildet das Zentrum des Kapitels. Bereits das Layout dieser zentralen Splash-Page dekonstruiert aber jede strenge 8 9
William Blake, »The Tyger«, in: Ders.: Songs of Experience. London 1794, S. 42. Eine der elaboriertesten Reflexionen des Textes kommt dadurch zustande, dass in einer mise-en-abyme-Konstruktion eine der Figuren einen Comic liest, dessen Panels und Sprechblasen abgebildet werden und zu weiten Teilen der Haupthandlung eine ironische Parallele bilden.
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Symmetrie und ironisiert sie vielfach. Von besonderer Bedeutung ist der Handlungsort, das Atrium von Veidts Bürogebäude mit seinen Seerosenteichen. Das Wasser der Teiche bildet eine zusätzliche, intradiegetische Reflexionsebene, deren unruhige Oberfläche aber die reflektierten Gegenstände verzerrt und scheinbar inkorporiert – die Spiegelung des Kopfes von Veidts Gegner erscheint beispielsweise wie eine Wasserpflanze unter der Oberfläche. Zur scheinbar gleichmäßigen horizontalen Spiegelung kommt somit die verzerrte vertikale Spiegelung, und diese Dimensionen von Wiederholung, Adaption und Permutation werden in den Panels des Kapitels komplett durchexerziert. So existieren zahlreiche Analogien, sowohl was die Gegenstände einzelner Panels angeht, als auch deren Anordnung oder Farbgebung, aber echte Spiegelbildlichkeit wird nur punktuell erreicht. Die erste und letzte Seite des Kapitels machen dies deutlich, wenn Rorschachs Besuch bei seinem alten Erzfeind Moloch mit der Flucht aus dessen Wohnung vor einem Polizeizugriff parallelisiert wird. Das erste und letzte Panel sind weitgehend identisch und ersetzen lediglich Rorschachs Spiegelung durch seinen Hut, der nach der Verhaftung dort zurückbleibt. Das zweite und vorletzte Panel führen dies weiter, wenn Rorschachs entschiedenen Schritten am Beginn seine leblosen Füße in derselben Pfütze gegenübergestellt werden. Auch der Rhythmus der Panels ist identisch, wie an der Farbgebung zu erkennen ist, die durch eine blinkende Neonreklame zwischen Rot und Blau changiert. Dennoch ist die Spiegelstruktur nicht sklavisch durchgehalten, sondern wird stellenweise vernachlässigt und stattdessen durch Elemente wie die Pfützen auf der Ebene des Abgebildeten aufgegriffen. Der endgültige Verlust der Symmetrie besteht schließlich in Rorschachs »Gesichtsverlust«. Seine Maske mit dem Rorschachmuster ist zwar ständig im Fluss, zeigt immer wieder neue Formen, doch die Dichotomie des Schwarz-Weiß und dessen symmetrische Aufteilung bleiben stets gleich. Rorschachs persönliche Philosophie manifestiert sich in dieser Maske und verbindet damit Moral und Ästhetik: »Black and white. Moving. Changing shape … but not mixing. No gray. Very, very beautiful.«10 Erst bei seiner Verhaftung am Ende des Kapitels wird diese Ordnung im Chaos aufgebrochen. Der Fußtritt eines Polizisten lässt das Muster zerbersten, und unmittelbar danach wird Rorschach gewaltsam seine Maske abgenommen. Die kulturelle, künstlerische Oberfläche mit ihrer behutsam arrangierten Symmetrie und ihren Dichotomien wird entfernt und bringt ein hässliches, aber durch und durch menschliches Gesicht zum Vorschein. Die auf diese Weise herge10
Moore/Gibbons, Watchmen, VI, S. 10.
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Abb. 2: Watchmen, Kap. V, S. 14–15.
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Abb. 3: Watchmen, Kap. V, S. 28.
stellte Verbindung von Text-Bild-Beziehungen, von Ethik und Ästhetik und künstlerischer und metaphysischer Schöpfung ist ebenso typisch für William Blake, wie sie es für Watchmen ist.
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Das Juvenal-Zitat Zusätzlich zu all den bislang angesprochenen punktuellen Verweisen ist da aber noch das Meta-Motto des Bandes, das Juvenal-Zitat, das zunächst einmal auf die gleiche Weise eingesetzt wird wie die Kapitelzitate. Der Begriff Watchmen bildet den Titel der graphic novel und resoniert auf mehreren Ebenen durch den Text, von der Verwendung als Sammelbezeichung für die Superhelden bis hin zur Verbindung mit dem Symbol der »Doomsday Clock«, die die Nähe zur atomaren Apokalypse versinnbildlicht und die auf dem Cover jedes Kapitels zu sehen ist. Am Ende des Textes steht schließlich das vollständige Zitat, doch zwei Umstände seiner Verwendung unterscheiden es von den übrigen Zitaten. Einerseits steht es nicht nur in der englischen Übersetzung – »Who watches the watchmen?« –, sondern auch im lateinischen Original, und andererseits ist es nicht nur, wie bei Motti üblich, durch Nennung von Autor und Titel nachgewiesen, sondern mitsamt präziser Angabe von Buch und Vers. Darüber hinaus wird ein weiterer Bogen geschlagen, wenn darauf verwiesen wird, dass das Zitat auch dem Bericht der »Tower Commission« zur Iran-Contra-Affäre vorangestellt ist. Spätestens hier werden sowohl die Wichtigkeit der Zitate als auch die Bewusstheit, mit der diese verwendet werden, überdeutlich, denn durch die Art des Nachweises wird nachdrücklich betont, dass für das Zitat drei mögliche Lesarten existieren. Die einfache Lesart nimmt das Zitat als grundlegende, philosophische Fragestellung an sich, losgelöst von allen Beziehungen: »Wenn es Wächter gibt, wer bewacht diese? Wem ist die Politik Verantwortung schuldig, wem die Exekutive? Wer kann für globale Probleme geradestehen?« Die zweite Lesart ist durch ihre Bezugnahme auf das Zeitgeschehen sehr viel konkreter. Durch die Erwähnung des »Tower Commission Report« wird die jahrhundertealte Frage zur zeitgenössischen Politik und zur Lebenswirklichkeit der Leser ins Verhältnis gesetzt. Diese Aktualisierung der Fragestellung betont, dass nicht nur im Superhelden-Comic ein Machtmensch wie Adrian Veidt seiner Hybris erliegen kann – in der Realität passieren solche Dinge ebenfalls. Indem der Iran-Contra-Prozess referenziert wird, erlangt das Zitat Appellcharakter, wenn es einen Jedermann wie Oliver North in die Nähe eines Comic-Schurken rückt, mahnt es doch auf diese Weise zur Übernahme von sozialer und politischer Verantwortung. Die Einbeziehung Juvenals erscheint aus dieser Sichtweise als wenig mehr denn ein Verweis darauf, dass es sich hierbei um ein Problem handelt, das so alt ist wie politisch organisierte Hochkulturen und das die Kunst schon immer angesprochen hat. Die dritte Lesart ist schließlich diejenige, die wir wahrscheinlich an den Text herantragen würden, wenn es sich dabei um einen postmodernen Pro-
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sa-Roman handelte, nämlich der unmittelbare Rückgriff auf den Text von Juvenals Satiren. Vergleicht man Juvenal mit Watchmen, gibt es einige auffällige Parallelen, die man bei einem Autor wie Moore, der seine Belesenheit mit The League of Extraordinary Gentlemen mehr als unter Beweis gestellt hat, nicht vernachlässigen kann.11 Nimmt man also eine aktive Juvenal-Rezeption Moores an, so wirft dies ein verändertes Licht auf einige Aspekte des Textes, vor allem des Schlusses. Denn entgegen der landläufigen Annahme bezieht sich Juvenal in seiner Frage eben nicht auf das Militär oder die Politik. Der Kontext ist vielmehr ein privater. In einem Zeitalter der Dekadenz und des Sittenverfalls, der Maßlosigkeit und Missachtung der alten Riten12 fragt sich ein junger Mann, wie er sich der Treue seiner Frau versichern könne, und erhält zum Rat, sie bewachen zu lassen, worauf der Erzähler die Frage stellt: »wer wacht über die Wächter / selber?«.13 Vor diesem Hintergrund erscheint das Juvenal-Zitat der Watchmen weniger eindeutig als erwartet. Doch aus dem Rückgriff auf Juvenal erwächst nicht nur die Verschiebung des Fokus von der politischen auf die private Ebene. Der römische Dichter verbindet seine explizite Sozialkritik vielfach mit ästhetischen Aussagen. Bereits in der ersten Satire, die als programmatisch für alle folgenden gelten kann, ist sein eigentlicher Aufhänger Frustration über die derivative und niveaulose Kunst anderer. So beginnt der Text mit der Schreckensvision, stets nur zum Hören verdammt zu sein,14 wo das Publikum und die geschmacklosen, verschwenderischen Mäzene15 doch gewohnt sind, Gleiches zu erwarten vom besten und vom schlechtesten Dichter.16 Die Intrigen der talentlosen Schauspieler und Dichter sind aber nur 11
12
13 14 15 16
Dass es sich bei Moore um einen ungemein belesenen und intensiv recherchierenden Autor handelt, macht ein flüchtiger Blick in seine noch immer andauernde Arbeit an The League of Extraordinary Gentlemen deutlich. Besonders im zweiten Band, der ebenso wie Watchmen ausführliche Prosateile beinhaltet, zeigt sich Moore als Kenner und Liebhaber klassischer wie viktorianischer Literatur, deren Inhalte er nicht nur zu einer zusammenhängenden Geschichte im eigentlichen Comic, sondern auch zu einem Paratext in Form eines Reiseführers durch die Welt der literarischen Fantastik verwebt. Juvenal wird hier nach der Übersetzung von E. C. J. von Siebold zitiert: Juvenal, »Satiren«, in: Werner Krenkel (Hrsg.), Römische Satiren in einem Band. Berlin, Weimar 1990, S. 329–450, vgl. hier Z. 290–310. Die Angaben beziehen sich im Folgenden auf Kapitel und Zeile der Aufbau-Ausgabe. Juvenal, Satiren, VI, 346–348. Vgl. ebd., I, 1. Vgl. ebd., I, 32. Vgl. ebd., I, 14.
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ein Spiegel der Gesellschaft, die sie hervorbringt. Juvenal spricht von heiratenden Eunuchen, obszönen und vermännlichten Schauspielerinnen, Neureichen und Betrügern, die ihr Vermögen zur Schau stellen,17 aber auch vom gewöhnlichen Ehemann, Vater oder Vormund, der sein Mündel prostituiert,18 weil er sein Geld auf der Rennbahn verprasst hat, und von dessen Frau, die ihn schließlich verlässt.19 Obwohl er ein Kenner und Liebhaber der Epen ist,20 urteilt Juvenal: »Schwer ist’s da, keine Satire zu schreiben«.21 Die Zeit, Heldenepen zu singen, sei vorbei.22 Wenn er in der sechsten Satire auf die Frauen und ihr Verhältnis zu den Männern zu sprechen kommt, finden sich (vor allem zu Anfang) zahlreiche offen misogyne Standpunkte. So rät er dem Freund statt zur Ehe zum Strick oder zum Sprung aus Fenstern oder von Brücken, oder doch wenigstens zur Knabenliebe: [H]ältst du für besser es nicht, daß neben dir ruht der Knabe, er, der des Nachts nicht keift, nicht Dienste verlangt für die Mühe, wenn er zur Seite dir liegt, auch nimmer Beschwerden erhebet, wenn du die Manneskraft schonst und nicht keuchst, so viel er es fordert?23
Seine Begründung ist einfach: Die Frau sei unfähig zur Treue. Vor allem für die Stadtfrau sei die Beschränkung auf nur einen Mann so wie das Leben mit nur einem Auge.24 Doch schon hier beginnt der Umschwung in seiner Argumentation, denn es heißt, die Frauen seien nicht von Natur aus so. Während im Goldenen Zeitalter noch Gerechtigkeit und Keuschheit herrschten, wurden diese von den Göttern im Silbernen Zeitalter bereits durch den Beischlaf mit sterblichen Frauen missachtet, so dass letztere nun – im Ehernen Zeitalter – verdorben seien.25 Deshalb sieht Juvenal die Sünden aus Wollust auch als das geringste Übel an,26 dem ja schließlich auch die Götter erlegen waren, und findet selbst für die Ausschweifungen Messalinas, die sich jedem Mann hingibt, noch Verständnis. Die tratschende, trinkende und gewalttätige Nachbarin imitiert
17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
Vgl. ebd., I, 22–29. Vgl. ebd., I, 46. Vgl. ebd., I, 79. Vgl. ebd., I, 7–9. Ebd., I, 30. Ebd., I, 52. Ebd., VI, 34–37. Vgl. ebd., VI, 53. Vgl. ebd., VI, 1–55. Vgl. ebd., VI, 135.
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seiner Ansicht nach nur die schlechten Seiten der Männer,27 während die vernünftige Mittelstandsfrau keine andere Wahl habe, als zugleich liebliche Gattin und athletische Kämpferin zu sein und sich deshalb zwischen Gladiatorentraining und Kosmetik zu zerreiben.28 Wirklich verwerflich sind nur der geizige Mann, der eine reiche Frau heiratet, oder der reiche Mann, der eine schöne Frau kauft, der Hochmut und Stolz von wohlgeborenen und tugendhaften Frauen wie der von den Göttern bestraften Niobe, und Schwiegermütter, die zum eigenen Vorteil die Töchter verderben und diese gegen Mann und Liebhaber zugleich ausspielen.29 Und die Produkte all dieser gescheiterten Beziehungen, die außerehelichen Kinder, bedenkt Juvenal mit uneingeschränktem Mitleid.30 All diese Elemente finden sich auch in Watchmen an prominenter Stelle, auch wenn sie für gewöhnlich vom (wortwörtlich) globalen Kontext normalerweise in den Hintergrund gedrängt werden. Die Vorstellung von vergangenen Zeitaltern, in denen Individuen von größerer Integrität und Moral lebten, findet sich ganz unmittelbar in den Erinnerungen der Figuren aus der ersten Superhelden-Generation. Hollis Mason und Sally Jupiter leben völlig in einer größtenteils verklärten Vergangenheit, für die auf symbolischer Ebene das Parfum »Nostalgia« – auch ein Produkt Veidts – und seine omnipräsente Werbung stehen. (Dass es den Duft in einer Herren- und einer Damenvariante gibt und dass sich niemand seinem Reiz entziehen kann, selbst der kompromisslose Rorschach nicht, sind nur zwei der Aspekte, mit denen Nostalgie hier ironisiert wird). Auf einer Meta-Ebene beschäftigt sich der Text mit einer anderen Form von Nostalgie, dem Zeitalter-Denken der Superheldencomic-Geschichte. Vor allem im Anhang zum fünften Kapitel wird die Geschichte des eigenen Mediums anhand der fiktiven Werkschau des existierenden Autors Joe Orlando reflektiert, und ebenfalls ironisch gebrochen. Die Rolle der Frauen ist ebenfalls weit aufgefächert und folgt den bei Juvenal entworfenen Typen. Janey Slater, die erste Freundin Jon Ostermans, steht für die zugunsten einer Jüngeren abgelegte Liebhaberin, die sich zur scheinbar undankbaren Matrone entwickelt, was schon bei Juvenal als Schuld des Mannes entlarvt wird und das deutlichste Indiz für die überaus menschliche Schwäche des Übermenschen Dr. Manhattan ist. Sally Jupiter steht für die verheiratete Frau, die einerseits von ihrem Mann ausgenutzt und 27 28 29 30
Vgl. ebd., VI, 420–450. Vgl. ebd., VI, 247–265. Vgl. ebd., VI, 231–242. Vgl. ebd., IV, 600.
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künstlerisch prostituiert wird, ihn andererseits aber selbst auch manipuliert, betrügt und schließlich verlässt. Ambivalent im Verhältnis zu ihrem Mann, wird sie für ihre Tochter Laurie zum Äquivalent von Juvenals böser Schwiegermutter. Laurie wird von ihr zur Nachfolgerin erzogen, muss in die Rolle der sexualisierten Silk Spectre hineinwachsen, ob sie es will oder nicht. Ihre ständige Fremdbestimmtheit und ihr mühsamer, sie aufzehrender Spagat zwischen schöner Frau und Kämpferin stehen unverkennbar in Juvenals Tradition der Gattin als Gladiatorin. Besonders der Schluss rückt die private und weibliche Dimension der Geschehnisse in den Vordergrund – interessanterweise über den Umweg der Psychologie Rorschachs. Dessen pathologischer Wunsch nach absoluten moralischen Kategorien wird vom Gefängnispsychologen als Trauma entlarvt, das er von der Ungerechtigkeit und der Gewalttätigkeit seiner Mutter, einer Prostituierten, davongetragen hat. Doch nicht nur, dass der psychisch instabile Vigilant, der am Ende für seine Überzeugungen stirbt, ein ungewolltes, illegitimes Kind ist, passt in den Kontext des Juvenal-Prätextes. Der eigentliche Auslöser dafür, dass Rorschach zum Vigilanten wurde, ist ebenfalls mit einem traumatischen Frauenschicksal verbunden. Rorschach schneidert als junger Mann ein Kleid für eine junge Italo-Amerikanerin, die Opfer eines brutalen Verbrechens wird, und zwar im Beisein Dutzender Nachbarn, die ihr nicht zur Hilfe kommen. Dieser historisch verbürgte Vorfall – das Opfer hieß Kitty Genovese – ist bis heute in Psychologie-Lehrbüchern zu finden. Für Rorschach ist dieser Vorfall ein Zeichen, dass etwas getan werden muss, um die Gesellschaft zu verändern. Sein Ansatz ist der, das Verbrechen direkt auf der Straße zu bekämpfen, und doch will er auf lokaler Ebene nichts anderes als Adrian Veidt auf globaler: den Zusammenhalt zwischen den Menschen mit Gewalt stärken. Am Ende des elften Kapitels kommt es unmittelbar vor dem Moment, in dem Veidts Angriff halb New York zerstört, am Epizentrum der Explosion zu einem handgreiflichen Streit unter Liebenden, der Taxifahrerin Josephine und ihrer Freundin Aline. Nur Augenblicke vor Veidts Anschlag, der die Menschheit aus ihrer Dummheit und Lethargie aufrütteln soll, wiederholt sich die Kitty-Genovese-Situation aber eben nicht. Alle Umstehenden, vor allem vier Nebenfiguren der Geschichte – der Gefängnispsychologe und seine Frau sowie der Zeitungsverkäufer und sein jugendlicher Stammkunde – eilen zu Hilfe und versuchen, den Streit zu schlichten. Dabei öffnet sich im Moment der Explosion der Koffer des Psychiaters, und seine Rorschachtests verteilen sich über den Streitenden. Als die Explosion alle Anwesenden tötet, sind somit gleichzeitig Veidt und Rorschach symbolisch präsent – und das, während die Handlungen der Menschen ihrer beider Pessimismus widersprechen.
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Am Ende des Textes stehen damit der Unsicherheit über die politische Zukunft das private Glück von Nite Owl und Silk Spectre gegenüber, ebenso wie die Liebe von Sally Jupiter zum Comedian und die persönliche Isolation von Veidt und Dr. Manhattan, die im gewaltsamen Tod Rorschachs noch überboten wird. Einzelgänger haben in der Welt der Watchmen keine Zukunft mehr, selbst im Weltbild des Visionärs Veidt nicht. Dessen durch den gesamten Text präsentes Parfum »Nostalgia« wird abgelöst durch ein neues Produkt mit Namen »Millennium«, und während die Ikonografie für »Nostalgia« das mit seinen Erinnerungen alleingelassene Individuum betont, zeigt die neue Kampagne ein entschlossen in die Zukunft blickendes Paar. Diese dritte Lesart der Funktion des Juvenal-Zitats macht deutlich, dass es in Watchmen als ein in typisch postmoderner Manier überdeterminiertes Zeichen fungiert. Keine der Lesarten ist für sich genommen befriedigend oder insofern privilegiert, als sie andere Bedeutungsdimensionen ausschließen oder abwerten könnte. Das Zitat ist aber auch nicht willkürlich gewählt. Es ist ein Bedeutungsträger, aber ein polyvalenter. Es ist kein Deutungsschlüssel, der die Offenheit des Kunstwerks auf eine implizierte Autorintention reduzieren könnte. Ganz im Gegenteil geben uns Moore und Gibbons damit einen Universalschlüssel, der ein ohnehin schon komplexes und vielschichtiges Werk in weitere Richtungen öffnet.
Literatur Primärliteratur Juvenal (d.i. Decimus Iunius Iuvenalis), »Satiren«, in: Werner Krenkel (Hrsg.), Römische Satiren in einem Band, Berlin,Weimar 1990, S. 329–450. Moore, Alan/Dave Gibbons, Watchmen. New York 1987.
Sekundärliteratur Atkinson, Doug, The Annotated Watchmen, 1999, 22. 01. 2007, http://www.capnwacky. com/rj/Watchmen/ (Stand: 30. 11. 2009). Cooke, Jon B., »Toasting Absent Heroes. Alan Moore discusses the CharltonWatchmen Connection«, in: TwoMorrows. 2003, http://www.twomorrows.com/ comicbookartist/articles/09moore.html (Stand: 30. 11. 2009). Coulthart, John, »Interview: Vincent Eno and El Csawza meet comics megastar Alan Moore«, http://www.johncoulthart.com/feuilleton/2006/02/20/alan-mooreinterview-1988/ (Stand: 07. 03. 2012). Durst, Uwe, »Zur Poetik der parahistorischen Literatur«, in: Neohelicon XXXI, 2/2004, S. 201–220.
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Grant, John, »This is Not Blake’s ›The Tyger‹ (With Apologies to Rene Magritte)«, in: The Iowa Review. Winter 1989, 19, 1, S. 113–155. Keppler, Nick, »Secret Origins! Connecticut-based Charlton Comics’ Link to the First Blockbuster of 2009«, in: Fairfield County Weekly, 5. 3. 2009, http://www.fair fieldweekly.com/article.cfm?aid=11965 (Stand: 30. 11. 2009). McCloud, Scott, Comics richtig lesen. Hamburg 1994.
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»se io dico il nome Nemo …« Zitatästhetik in italienischen Gegenwarts-Comics
I. Vorüberlegungen In einem kleinen Essay aus den frühen 1980er Jahren1 kommt Umberto Eco zum Ergebnis, dass der Comic längst volljährig und somit gelehrt, kultiviert, ästhetisch anspruchsvoll, metalinguistisch und experimentell geworden sei. Insofern gehe es auch nicht mehr darum, den Comic vor einem lange Zeit dominanten Verständnis als Teil der Populärkultur und seiner oftmals damit verbundenen impliziten kulturellen Abwertung zu retten.2 Vielmehr gelte es, die Aufmerksamkeit auf die Evolution seiner Genres, Themen und Techniken zu richten. Eco kann mit eigenen Versuchen aus den 1960er Jahren, Zeitstrukturen in Superman-Comics mit Begrifflichkeiten der philosophischen Phänomenologie zu erläutern,3 als einer der Pioniere der Comic-Forschung gelten. Vielleicht gerade deshalb verwahrt er sich gegen vorschnelle 1
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Umberto Eco, »Quattro modi di parlare di fumetto«, 1999, http://www.fucine. com/article.php?url=archivio/fm09/eco.htm&articleid=153 (Stand: 03. 03. 2010). Der Aufsatz wurde, so die Angabe auf der Homepage, ursprünglich publiziert in: La Cappella Underground/Comune di Trieste/Associazione Italo-Francese (Hrsg.), Claire Bretécher. Il disegno del fumetto. Trieste o. J. (wohl 1984). Es handelt sich dabei um den Katalog einer Ausstellung, die um 1983 in verschiedenen Städten (Rom, Bologna, Florenz, Livorno, Triest) gezeigt wurde, wobei die jeweils entsprechenden Katalogveröffentlichungen allesamt ohne Jahresangabe sind. – Eco nennt vier Ansätze der Comic-Forschung: Es gebe erstens Untersuchungen über den Comic als Medium; zweitens über bestimmte Comics in soziologischer Perspektive; drittens solche, in denen Comics wie Literatur behandelt würden (als ob es sich dabei um die Ilias handle); und viertens eine Art, über Comics zu sprechen, bei der die Tatsache, dass es sich um das Medium Comic handle, aus dem Blick gerate, weil die Aufmerksamkeit auf das verwendete literarische Genre konzentriert werde. Vgl. Thierry Groensteen, »Why Are Comics Still in Search of Cultural Legitimization«, in: Jeet Heer/Kent Worcester (Hrsg.), A Comics Studies Reader. Jackson 2009, S. 3–11. Umberto Eco, Apocalittici ed Integrati. Comunicazioni di massa e teorie della cultura di massa. Milano 1994 (11964; dt. Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt am Main 1992), S. 219–261, bes. S. 234–237.
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Ansätze, Comics mit den Produkten einer kanonisierten Hochkultur gleichzusetzen und damit die Möglichkeiten der präzisen Analyse eines Mediums, für das populärkulturelle Elemente nach wie vor konstitutiv sind, vorschnell zu verspielen. Der Essay ist im Umfeld einer in Italien in den 1980er Jahren nach Ecos Auskunft zwar leider noch nicht volljährigen,4 aber doch bereits existierenden critica del fumetto zu sehen, deren heutige Ausdifferenzierung die Warnungen, das wissenschaftlich-kritische Sprechen über den Comic nur den Fans zu überlassen, nicht mehr ganz aktuell erscheinen lässt. Spätestens im vergangenen Jahrzehnt ist der Comic auch in Deutschland zum Gegenstand der in ihrem Selbstverständnis medien- und kulturwissenschaftlich erweiterten philologischen Disziplinen avanciert5 und wird entsprechend als populärkulturelles und hybrides Medium zwischen Literatur, Film, Malerei und anderen Medien untersucht. Solche Veränderungen im Dreiecksverhältnis Comic – Literatur – Literaturwissenschaft konstatiert auch Monika Schmitz-Emans in der Einführung zu diesem Band. Ihr dritter Vorschlag zur Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Comic läuft darauf hinaus, die Funktionsübernahmen bestimmter bislang als genuin ›literarisch‹ kodierter Funktionen in den Comic als Indiz dafür zu sehen, dass dieser immer mehr als Literatur verstanden werde. Entsprechend könne man bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Literatur und Comic, so der vierte Punkt ihrer Vorüberlegungen, gattungsgeschichtliche und gattungsästhetische Vergleichsmöglichkeiten produktiv nutzen.6 Zur Fundierung einer solchen Fragerichtung kann Scott McClouds mittlerweile praktisch kanonische Definition des Comics – »[z]u räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung auf den Betrachter erzeugen sollen«7 – herangezogen werden. Die für den Comic spe4
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»Bisogna infatti attendere […] che diventasse maggiorenne la critica del fumetto.« Eco, »Quattro modi di parlare di fumetto«. Vgl. folgende unlängst erschienenen Bände: Heinz Ludwig Arnold/Andreas C. Knigge (Hrsg.), Comics, Mangas, Graphic Novels. München 2009, sowie Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hrsg.), Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009. Weitere Publikationen nehmen Geschichte, Theorie und Ästhetik des Comics in den Blick: Andreas Platthaus, Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte. Berlin 1998; Michael Hein/ Michael Hühners/Torsten Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comic. Berlin 2002; Martin Schüwer, Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier 2008. Vgl. die Einführung zu diesem Band. Scott McCloud, Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Hamburg 2001, S. 17 (Understanding Comics. New York 1993).
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zifische Verknüpfung von »Schriftsprache und Bildmaterial«8 erlaubt verschiedene Fragerichtungen, unter denen seine Analyse als »narratives Medium«9 ein wichtiger Ansatzpunkt ist. Die Erweiterung von narrativen Genres, deren Spielräume nicht nur, aber doch vorwiegend in einer langen literarischen Tradition geprägt wurden, im Medium des Comics – das ist der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, die ich mit einem schlichten Befund eröffnen möchte: In populären italienischen Comics der letzten Jahrzehnte finden sich vielfältige Varianten von Zitaten und Zitattechniken. Zitiert wird extensiv aus einer langen Tradition populärer Literatur, aber auch aus der kanonisierten Hochliteratur, und das in unterschiedlichsten Graden der Ausführlichkeit. Zitiert wird ebenso aus anderen visuellen Medien, meist aus Filmen, aber auch aus der Malerei, und nicht zuletzt aus anderen Comics. All diese Zitatvarianten erscheinen in unterschiedlichster Quantität und Qualität. Die Analyse der Beispiele soll mit den folgenden Hinweisen vorstrukturiert werden. (1) Die Comics, auf die sich meine Beobachtungen beziehen, erscheinen allesamt im Verlag Sergio Bonelli in Mailand, der für den italienischen Markt von großer Bedeutung ist.10 Bei Sergio Bonelli entstehen seit Jahrzehnten viele der wichtigsten italienischen Comic-Figuren und die dazugehörigen, in der Regel monatlichen Serien, die allerdings oftmals um Sonderhefte erweitert werden – z. B. um die beliebten Giganti. Im Gegensatz zu den kleineren, monatlich erscheinenden Nummern (im DIN-A5-Format) handelt es sich dabei um Alben im DIN-A4-Format, mit Geschichten von etwa dreifacher Länge gegenüber den monatlichen Serienfolgen, die ihrerseits in der Regel 98 Seiten mit durchschnittlich fünf bis sechs Panels pro Seite umfassen. Im Folgenden betrachte ich Beispiele aus drei dieser Serien – Martin Mystère, Dylan Dog und Nathan Never –, die seit den 1980er Jahren entwickelt wurden. Auch wenn die Comics anfangs ein Phänomen der Jugendkultur gewesen sein mögen, verfügen sie in Italien mittlerweile allein aufgrund ihrer jahrzehntelangen Laufzeit und der damit einhergehenden generationellen Vertikalität der Leserschaft über ein breites Publikum. Hinzu kommt, dass die Serien zeichnerisch und erzählerisch ambitioniert sind und mit den Jahren immer häufiger auch aktuelle gesellschaftliche und soziale Diskussionen aufgreifen und somit Comics produzieren, die keineswegs nur auf eine jugend-
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10
Nicole Mahne, Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen 2007, S. 45. Vgl. »Einleitung«, in: Hein/Hüners/Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comic, S. 13. Vgl. http://www.sergiobonellieditore.it (Stand: 01. 03. 2010).
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liche Leserschaft zugeschnitten sind.11 Die Beobachtung, dass Zitate – als »Form der indirekten Kommunikation, bei der Elemente oder Strukturen aus anderen Artefakten übernommen werden«12 – eine bedeutende Rolle in diesen Comics spielen, erlaubt zunächst Folgerungen über den Differenzierungsgrad der Zitiertechniken und der damit verbundenen Mittel der Herstellung von Beziehungen mit anderen Texten oder Medien. Es scheint hier nicht darum zu gehen, das Erzählen im Comic durch den Bezug auf kanonisierte Bereiche einer literarischen oder populären Geschichtentradition zusätzlich zu legitimieren, sondern ausschließlich um die Verfeinerung und Erweiterung einer für den Comic zentralen Erzähl- und Darstellungstechnik, bei der sich das Zitat [a]uch nach der Sprengung des Monopols druckschriftlicher Kommunikate durch plurale Massenmedien […] als basaler, die unterschiedlichen diskursiven Felder verbindender Mechanismus der Rezeption, Verarbeitung, Zirkulation und Speicherung von Texten [erweist].13
Dabei scheinen auch Veränderungen und Neuerungen im Repertoire des Zitats im Comic einem Wechsel von Konventionalisierung und Innovation zu unterliegen, der an die Geschichte literarischer Genres und ihrer Techniken und Verfahrensweisen erinnert. (2) Aber inwiefern sind bestimmte Zitattechniken für den Comic spezifisch und inwiefern greifen sie Verfahrensweisen auf, die für die in Comics kombinierten Genres sequentiellen Erzählens typisch sind? Martin Mystère schließt an die Tradition der Abenteuergeschichten an, Dylan Dog an Horror und Splatter,14 und Nathan Never ist ein Science-Fiction-Comic. In jedem der drei Fälle spielen Überblendungen, Kombinationen und ÜberschneidungsPhänomene eine entscheidende Rolle. Zentrale Texte eines bestimmten Genres (etwa der Science-Fiction) werden zitiert und diese Anleihen dann im Lauf der Serie thematisch und strukturell ausgeweitet. Wie solche Phä11
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Das wird gerne mit Bezug auf Dylan Dog bemerkt (vgl. Art. »Dylan Dog«, in: Slumberland. L’enciclopedia del fumetto on-line, 2003, http://www.slumberland.it/contenuto. php?tipo=fumetto&id=2&nome=Dylan_Dog; Stand: 01. 03. 2010), gilt aber mindestens ebenso für Nathan Never (vgl. Marco Gianotti, Il mondo di Nathan Never. Roma 2006), vielleicht nur punktuell für Martin Mystère. Andreas Böhn, Art. »Zitat«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur, 3. Aufl., Stuttgart, Weimar 2007, S. 843. Rudolf Helmstetter, Art. »Zitat«, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 896–899, hier S. 896. Vgl. Antonella Nardi, »Reportage aus dem Jenseits oder Dylan Dogs multimedialer Horror«, in: Zibaldone 17: Fumetti – Comics in Italien. München 1994, S. 67–84.
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nomene, die im Übrigen auch für Erzählverfahren der literarischen Postmoderne typisch sind, im Horizont der medialen Regeln des Comics gestaltet werden können, wird im Folgenden ausgehend von Nathan Never und dann mit Blick auf die beiden anderen Serien untersucht. (3) Zu fragen ist zudem nach dem intermedialen Charakter der verwendeten Zitate. Auch wenn der Bezug auf literarische Texte ein Mittel sein mag, Gattungstraditionen aufzugreifen und zugleich deren ästhetische Spielräume zu erweitern, wird doch in den behandelten Beispielen sichtbar, dass diese Bezüge selten auf Text-Text-Zitate beschränkt bleiben. Vielmehr werden mediale Qualitäten in den Zitaten gewissermaßen mittransportiert. Bereits die literarischen Zitate sind oftmals interpiktural erweitert, etwa indem kanonische Illustrationen integriert werden. Ebenso sind Elemente aus der Filmgeschichte Ausgangspunkte für solche medialen Amplifikationen, daneben auch Zitate oder Zitatkonglomerate aus der Malerei. Literarische Zitate sind ein wichtiger Bestandteil für die Konstitution des Comics, aber sie durchlaufen häufig bereits im Prozess des Zitierens medienspezifische Transformationen. Bei der Betrachtung der verschiedenen Zitatbeispiele werden deshalb andere mediale Kontexte zumindest ausblicksweise mit einbezogen. Im Comic wird die Zusammenführung, Abstimmung und Neu-Austarierung sprachlicher und visueller Elemente unter den Bedingungen einer stark visuell orientierten Kultur praktiziert. In der basalen Terminologie zur Erfassung intermedialer Phänomene, die Irina Rajewsky vorgeschlagen hat, müsste man die Zitate sowohl im Horizont von TextText- als auch unter dem Vorzeichen von Text-Bild-Beziehungen beschreiben,15 wobei Einzelreferenz und Systemreferenz in der Regel aufeinander aufbauen.16
II. Zitatvarianten Die erste der drei erwähnten Comic-Reihen, auf die hier eingegangen wird, ist Nathan Never, erfunden 1991 von Michele Medda, Antonio Serra, Bepi Vigna und Claudio Castellini. Die Figur Nathan Never arbeitet als Special Agent in einer Megalopolis des 22. Jahrhunderts für eine private Sicherheitsagentur, die klassische Kriminalfälle ebenso wie Aufträge mit problematischen politischen und wirtschaftlichen Implikationen übernimmt. Nathan Nevers 15 16
Vgl. Irina Rajewsky, Intermedialität. Tübingen, Basel 2002, S. 15–16. Vgl. Rajewsky, Intermedialität, S. 19, sowie Ulrich Broich/Manfred Pfister, Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 48–58.
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Charakter ist melancholisch: Immer wieder kommentiert er die in seiner Gegenwart irreparable ökologische und kulturelle Zerstörung; er liebt die praktisch nicht mehr vorhandene freie Natur, sammelt fast vollständig verschwundene Bücher und zieht es sogar vor, diese materiell und nicht am Bildschirm zu lesen. Und daher kommt es auch, dass folgender Dialog eine ganz bestimmte Richtung nimmt: »… se io dico il nome Nemo a voi non viene in mente nulla?« – »… wenn ich den Namen Nemo ausspreche, fällt Ihnen dabei nichts ein?«: Die Frage wird Nathan Never von Doktor Kelvan gestellt, der in einem auch für das 22. Jahrhundert höchst avancierten Institut an der Erforschung neuer Krankheiten und der Herstellung neuer Medikamente arbeitet und sich aus nicht näher erläuterten Gründen bedroht fühlt. Nathan Never ist für seinen Schutz zuständig und versucht, mehr über die mysteriöse Bedrohung und vor allem über Kelvan zu erfahren, der seinerseits an Nevers Biographie ungewöhnliches Interesse zeigt. In dieser Situation nach dem Namen Nemo gefragt zu werden, ist seltsam – denn es handelt sich dabei, wie man im zweiten Panel lesen kann, um Nathan Nevers Sicherheitscode für die geschützte Kommunikation bei seiner Agentur, der geheim ist – weshalb er eine andere Antwort gibt: »Nun, ich denke dabei an Kapitän Nemo«. Natürlich hat Dr. Kelvan nie von Kapitän Nemo gehört, denn im 22. Jahrhundert hat Literatur, besonders in gedruckter Form, an Bedeutung verloren, und Nathan Never gehört aufgrund seiner Leidenschaft für antiquarische Bücher zu den wenigen, die noch alte Romane kennen. Bemerkenswert in Bezug auf die hier gezeigten Panels ist zunächst, dass es sich um die einfache Form eines Wort-Zitats handelt: Zitiert wird ein zentraler Name aus einem anderen Text bzw. aus anderen Texten – nämlich aus den auch gleich im Anschluss erwähnten Romanen Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer (Vingt mille lieues sous les mers, 1870) und Die geheimnisvolle Insel (L’île mystérieuse, 1875) von Jules Verne, die auf diese Weise in Bezug zu den Geschichten um Nathan Never gesetzt werden. Auch die Erläuterung verbleibt zunächst im medialen Horizont der Literatur – das Zitat wird erklärt, indem Nathan Never Kelvan die Geschichten um Kapitän Nemo und seine Nautilus erzählt. Die Texte Vernes werden durch explizite Nennung in die erzählte Welt Nathan Nevers integriert. Parallel findet man visuelle Zitate der berühmten und für die bildliche Repräsentation des Romans kanonischen Illustrationen aus der Erstausgabe, wodurch das sprachliche um ein bildliches Zitat erweitert wird. In den ersten beiden Panels fragt Kelvan nach der Geschichte Nemos, und Nathan Never beginnt zu erzählen; im dritten, die Seitenbreite füllenden Panel wird der Roman durch zwei der leicht modifizierten Illustrationen zitiert.
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Abb. 1 und 2: Nathan Never, Doppio Futuro, Albo gigante Nr. 1, Mailand 1995, S. 109.
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Abb. 3: Nathan Never, Doppio Futuro, Albo gigante Nr. 1, Mailand 1995, S. 110.
Bemerkenswert ist nun, dass dieses kurze Zitat nicht für sich stehen bleibt, sondern den Beginn einer ganzen Kette von Zitaten bildet, die sich in dieser und vor allem in den folgenden Geschichten akkumulieren und narrativ produktiv gemacht werden. Mit der Erwähnung Nemos und der entsprechenden Bücher von Jules Verne wird nicht nur ein Signal gegeben, mit dem die Nathan Never-Serie in die Tradition der Science-Fiction-Literatur gestellt wird. Die Romane werden von nun an zugleich als Prätext in die Geschichte Nathan Nevers integriert. Denn so wenig Doktor Kelvan von Jules Vernes Nemo weiß, so wenig ist es ein Zufall, dass er den Namen kennt: Kelvan kommt nämlich seinerseits aus Nathan Nevers Zukunft, in der nach einem vernichtenden Krieg gegen die cyborghaften tecnodroidi eine Ära des Friedens und des wissenschaftlichen Fortschritts eingekehrt ist. Aus der Zeit vor dem Krieg sind nur wenige Dokumente erhalten, überliefert wurde allerdings der Name des Helden, der gegen die Technodroiden gekämpft hat: Nemo.
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Abb. 4 und 5: Jules Verne, Vingt mille lieues sous les mers (dt. Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, 2 Bde., Zürich 1966), Illustrationen von Alphonse de Neuville, Bd. I, S. 258; Bd. II, S. 102.
Kelvan hat nun entgegen aller chronologischen Wahrscheinlichkeit den Verdacht, dass Nathan Never mit diesem Helden identisch sein könnte. Erwartungsgemäß wurde dann in den nächsten Jahren der Serie nach und nach erzählt, wie es dazu kam, dass in der Zeit der Kriege gegen die Cyborgs ein zweiter Nathan Never – nämlich ein Klon des ersten – agieren kann. Dieser Nathan Never der Zukunft nennt sich Nemo und führt mit seiner Tochter Dakkar – der indische Name Kapitän Nemos bei Jules Verne, der zweite Bezug zum Verne-Kosmos, den Kelvan bereits im Gespräch anzitiert – den Widerstand gegen die Cyborgs. In den Geschichten um diesen Nemo-Nathan Never nun werden nicht mehr nur Namen und Figuren, sondern – hier wiederum mit Bezug auf die Original-Illustrationen verdeutlicht – Themen, Handlungssequenzen und Strukturen aus den Romanen Vernes zitiert: So wird ein Schiff mit dem Namen Nautilus gebaut, von dem aus der Krieg geführt wird; eine ganze Geschichte – das Album, dem die Abbildungen 8 und 9 entnommen sind – basiert auf der Handlung von Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer; es kommt zu Unterwasserspaziergängen, gefallene Gefährten werden wie bei Verne in einem Unterwasserbegräbnis bestattet;
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Abb. 6 und 7: Verne, Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Bd. I, S. 231; S. 368 (dt. Ausgabe)
schließlich werden Schiffbrüchige aufgenommen, in diesem Fall Opfer des Krieges, und begegnen Nemo-Never, der nach dem Verlust seiner Tochter gerade eine Phase äußerster Misanthropie durchlebt und sich weigert, weiter zu kämpfen. Auch auf dieser Ebene der Integration des Verne’schen Textes in den Comic sind sprachliche und visuelle Zitate komplementär. Parallel finden Überblendungen mit anderen Texten und Medien statt, was man hier an einem kleinen Detail erkennen kann: Die zylinderförmig abgerundete Form des Unterwassersarges kennt man eher aus kosmischen Bestattungszeremonien, die ins Star Trek-Universum gehören. So weit zum Komplex der Zitate, die von der ersten kleinen Erwähnung im Gespräch mit Kelvan zu einem handlungsleitenden Motiv der Nathan-Never-Serie werden. Bei alledem sind die Jules-Verne-Bezüge nur ein besonders prägnantes Beispiel für die Vielfalt der Zitiertechniken in den Nathan-NeverComics. Das wird umso deutlicher, wenn man die Ebene der intertextuellen und interpikturalen Bezüge verlässt und sich fragt, ob auch metatextuelle Reflexionen oder Kommentare in dieser Konstellation einen Platz haben. Auch für die Beantwortung dieser Frage eignet sich der Nemo-Komplex. Schon der Nautilus des Verne’schen Nemo ist nicht nur Inbegriff techni-
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Abb. 8 und 9: Nathan Never, Odissea nel Futuro, Albo gigante Nr. 2, Mailand 1996, S. 160 (unten).
schen Fortschritts, sondern auch ein Speicher des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit, die der Einzelgänger Nemo hinter sich gelassen hat. Die Bibliothek des Verne’schen Nautilus findet sich natürlich auch auf Nathan Nevers Schiff, und auch hier ist die Bibliothek ein Anlass, selbstreflexive Signale zu setzen und den Comic in literarischen und in anderen medialen Traditionen zu verorten. Die Szene (Abb. 11) zitiert den ersten großen Rundgang Nemos mit Professor Arronax durch den Nautilus: Die Schiffbrüchige Susan Strong entdeckt den Nathan Never der Zukunft, der nunmehr ganz ›Nemo‹ geworden ist und, anstatt den Widerstand gegen die Cyborgs zu führen, in seiner Unterwasserbibliothek sitzt und liest. Aufmerksamkeit verdienen die schriftlichen, aber auch die visuellen Signale in dieser Szene. Einmal mehr wird die Gelegenheit genutzt, die Parallelen zum Star Trek-Kosmos anzudeuten
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Abb. 10: Verne, Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Bd. I, S. 143.
(Abb. 11, oberstes Panel, links). Noch aussagekräftiger ist Nemo-Nevers Gang ans Bücherregal (Abb. 11, unterstes Panel). Hier wird nicht nur andeutungsweise einmal mehr die Herkunft der Geschichten aus der Tradition der Science-Fiction und Abenteuerliteratur unterstrichen – manche Titel kann man erkennen bzw. in diese Richtung deuten –, sondern auch die aus der Sicht der Zukunft in der fiktiven Welt von Nathan Never selbstverständliche Etablierung des Comics als Literatur konstatiert. In den Vitrinen finden sich auch Comic-Bücher, vor allem aber ist es ein besonders wertvolles Exemplar von Martin Mystère, das unter der Glashaube in Nemos Leseecke zu finden ist (Abb. 11, linkes mittleres Panel). Eine der Vorgänger-Serien von Sergio Bonelli wird also hier als wertvollstes Stück der historischen Bibliothek Nemos markiert. Diese literarische Art der zitathaften Integration eines anderen Textes eröffnet zugleich auch eine in die Comic-Handlung eingelagerte mediengeschichtliche Reflexion. Der Verlust der gedruckten Bücher und damit auch der Comics, die in der Welt Nathan Nevers wertvolle Artefakte einer früheren Phase der Mediengeschichte darstellen, wurde 1995 in einer anderen Folge der Serie unter dem Titel La biblioteca di Babele ausführlich thematisiert. Im Anschluss an ein Umweltgesetz, das die komplette Umwandlung der gedruckten in digitalisierte Archive forciert, findet in Nathan Nevers Vergangenheit – der Zukunft aus Sicht der Leser – eine Art Bücherverbrennung aus ökologischer Korrektheit statt, was
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Abb. 11: Nathan Never, Odissea nel Futuro, Albo gigante Nr. 2, Mailand 1996, S. 127.
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Abb. 12: Nathan Never, La biblioteca di Babele, Albo mensile Nr. 50, Mailand 1995, S. 111.
dazu führt, dass Gruppen von Bibliophilen eine immense geheime Bibliothek anlegen, in der möglichst alle Bücher der Menschheit gesammelt werden. Das ist eine kleine mediengeschichtliche Spekulation, in der das Ende der Gutenberg-Galaxis pessimistisch als Beginn eines neuen, nunmehr technologischen Mittelalters gezeichnet wird – übrigens, wie man aus dem Vorsatz zu der Folge erfahren kann, in Anlehnung an ein Buch des französischen Populär-Soziologen Alain Minc, Le Nouveau Moyen Âge, aus dem Jahr 1994. Diese Reflexion wird dann in der Geschichte fortgesponnen. Auch in Nathan Nevers Gegenwart existiert diese Bibliothek noch in ihrem materiellen Zustand, nur weiß niemand mehr, wo sie sich befindet. Dennoch hat eine Reihe von geheimbundhaft organisierten Privilegierten zur virtuellen Version der Bibliothek Zugang, unter ihnen ein Professor Modem. Der Professor nutzt seine Privilegien freilich überraschenderweise nicht zu Forschungszwecken, sondern zur virtuellen Simulation einer gemütlichen Leseecke, in der er dann einen weiteren Architext der phantastischen Literatur liest – Borges Fiktionen. Das Szenario, wohl in erster Linie Ausdruck eines für die Mitte der 1990er Jahre nicht untypischen Kulturpessimismus der Autoren und Zeichner angesichts des beginnenden digitalen Zeitalters, demonstriert eine erneute Erweiterung der Möglichkeiten, Literatur in Comics zitathaft zu funktionalisieren. Zumindest im Horizont eines Science-Fiction-Universums kann der Bezug auf Literatur auch Anlass dazu werden, in einem Comic über Möglichkeiten und Tragweite des Mediums Buch nachzudenken. Am Beispiel des von Jules Vernes ausgehenden Zitatkomplexes lässt sich also verfolgen, wie aus der bloßen Erwähnung eines gattungsgeschichtlich zentralen Texts Handlungselemente und Strukturen entwickelt werden, die innerhalb des seriellen Fortgangs eines Comics eine immer weitere Ausge-
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Abb. 13: Nathan Never, La biblioteca di Babele, Albo mensile Nr. 50, Mailand 1995, S. 59–60.
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Abb. 14: Nathan Never, La biblioteca di Babele, Albo mensile Nr. 50, Mailand 1995, S. 59–60.
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Abb. 15: Nathan Never, Contagio, Albo mensile Nr. 48, Mailand 1995, S. 58.
staltung erfahren. Zudem liefert der Bezug auf Vernes Nemo eine Plattform für metatextuelle Kommentare, in denen das Medium Comic seinen Status im Verhältnis zur Literatur reflektiert. Die Bezugnahme auf Literatur kann so auch zu mediengeschichtlichen Spekulationen über die Buch- und Lesegeschichte und damit zu einer Integration populärwissenschaftlicher oder wissenschaftlich-theoretischer Debatten führen. Literatur spielt in diesen Science-Fiction-Comics also eine wichtige Rolle. Die angeführten Zitate ließen sich mühelos verlängern und erweitern, und ihre Funktionen sind überaus vielfältig. Bei aller Prominenz der literarischen Bezüge stellen sie freilich nur einen medialen Referenzrahmen für den Comic dar. Denn sie sind flankiert von Zitaten aus visuellen Medien – vor allem aus dem Film, aber auch aus Fotografie und Malerei. Nur auf zwei dieser Zitatkomplexe, die für den Rahmen der Serien konstitutiv sind, möchte ich hier noch hinweisen, um die Verschiebung und Relativierung der literarischen Zitatformen zu verdeutlichen. Die Megalopolis, in der Nathan Never zumindest vor seiner Zukunft als Nemo lebt, hat ihren Ursprung da, wo ihn viele Städte der Zukunft haben, nämlich in Fritz Langs Metropolis (1927); vor allem aber kommen die von Dunkelheit und Dauerregen geprägten Straßenschluchten der Mega-City aus Ridley Scotts Blade Runner (1982): Das ist die Plattform, auf der alle anderen Zitatkomplexe auflagern und die zugleich von diesen weitgehend überblendet wird. Literatur hat in Nathan Never als Medium der Bezugnahme zwar eine wichtige Funktion, wird aber eingerahmt und verschoben von medialen Referenzen anderer Art. Der Ausgangsbefund einer hohen Dichte und Vielfalt von literarischen Zitatformen in diesen populären und kommerziellen Comics ist damit illustriert; dennoch möchte ich die Reihe meiner Beispiele
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noch ein wenig erweitern und zugleich zeigen, dass die jahrzehntelange Serienproduktion der hier vorgestellten Comics tatsächlich aus der dauernden und extensiven produktiven Verwertung literarischer Traditionen immer wieder überraschende Anregungen zieht. Dass die Autoren dabei auch vor den ältesten epischen Traditionen nicht haltmachen, zeigt das nächste Beispiel, das für sich genommen nur ein Ausschnitt aus einem ganzen Komplex von Geschichten ist, in denen die germanisch-nordische Mythologie Martin Mystères in in unserer Gegenwart angesiedelte Abenteuer eingeschrieben wird. Die Serie Martin Mystère wurde im Jahr 1982 von Alfredo Castelli und Giancarlo Alessandrini erfunden; der Held lebt im zeitgenössischen New York und ist als »Detektiv des Unmöglichen« seit fast drei Jahrzehnten mit den Geheimnissen der Menschheitsgeschichte befasst. Ein Album beginnt mit der mehrseitigen bebilderten Nacherzählung der Schöpfungsgeschichte der Edda: Der literarische Text wird hier in langen, ganze Sequenzen von Panels umfassenden Zitaten in die Handlung des Comics transferiert. Freilich nimmt diese dann einen anderen Gang: Über viele Umwege – die Edda-Schöpfungsgeschichte wird durch eine entmythologisierte Version überschrieben, die Odin, den es freilich ebenso wie die anderen Götter dennoch gibt, sehr genau kennt – kommt die Geschichte bei Martin Mystère an, der zu Nachforschungen nach Island reist und dort, auf den Straßen von Reykjavik, ohne es zu wissen, dann auch einem der himmlischen Akteure in menschlicher Gestalt begegnet: Martin meint natürlich, Odin sei ein verkleideter Führer für Touristen; das Zitat der Figur erscheint somit gedoppelt, einmal auf der Ebene der Geschichte und einmal auf der des Lesers, der den echten Odin zu identifizieren meint (am Ende war es sogar nur eine als Odin verkleidete andere Figur aus dem alten Götterhimmel). Wichtig ist an dem Zitat, dass hier nicht nur der Mythos als Text aufgegriffen, sondern auch die gesamte spätere Ikonographie des Wanderers Odin – oder Wotan – zitiert wird. Im weiteren Verlauf der Geschichte werden die nordisch-germanischen Mythen um verwandte Motive aus anderen Mythen erweitert. Oberon tritt auf, irgendwo in einer Villa in der Schweiz lebt der verstoßene Loki und sinnt auf Rache, Morgana aus der Artus-Sage ist ein Männern ihre Lebensenergie aussaugender Vamp – und schließlich wird klar, dass der ganze Götterhimmel in einer sehr interkulturellen und synkretistischen Form weiterexistiert.17 17
Vgl. Martin Mystère, L’isola di ghiaccio e di fuoco, Albo gigante Nr. 6, Mailand 2000, S. 11 (Nornen), S. 198 (Oberon), S. 207 (›interkultureller‹ Götterhimmel).
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Abb. 16: Martin Mystère, L’isola di ghiaccio e di fuoco, Albo gigante Nr. 6, Mailand 2000, S. 5.
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Abb. 17: Martin Mystère, L’isola di ghiaccio e di fuoco, Albo gigante Nr. 6, Mailand 2000, S. 184.
Funktional ist diese Erweiterung der Edda-Zitate vergleichbar mit der Funktion der Jules-Verne-Bezüge in Nathan Never. Allerdings ist dieses Zitat auf allen Ebenen – Figuren, Handlung, Geschichte – noch viel deutlicher von Verfahren der Amplifikation und Kombinatorik beherrscht; hier wird der Mythos global nacherzählt und als Rahmen der Abenteuer des ComicHelden installiert. Die Geschichten nehmen den Charakter ausformulierter Zitate an. In Martin Mystère findet sich auch ein Beispiel für eine Geschichte, die maßgeblich auf visuellen Zitaten beruht: Martin Mystères Ausflug in die Welt des Maurits Cornelis Escher. Er beginnt damit, dass in der realen Wirklichkeit die verwirrenden Objekte Eschers auftauchen (Abb. 20), und führt dann sehr bald zu einem Besuch der Alhambra in Cordoba, wo Martin Mystère zunächst die Mosaiken bewundert und dann zufällig den Eingang zum »mondo di Escher« findet – bzw. zu der Welt, die Escher nach seinem Besuch
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Abb. 18: Martin Mystère, Il mondo di Escher, Speciale Nr. 15, Mailand 1998, S. 22.
der Alhambra, so die biographische Fiktion des Comics, im Jahr 1936 zu seinen berühmten Gemälden inspiriert haben soll. In der Geschichte irrt Martin Mystère nun durch die Escher’schen Szenarien, um dann am Ende glücklich den Ausgang zu finden. In diesem Fall werden rein visuelle Zitate in eine Geschichte überführt. Die Beziehung des Comics zur Literatur mag mit solchen Beispielen an ihre Grenzen kommen, aber sie vermögen zu zeigen, dass der Comic bei der Frage nach der zitathaften Bezugnahme eben nicht auf literarische Texte beschränkt bleibt, sondern von vornherein medienüberschreitend operiert. Ausgedehnte literarische Einzeltextreferenzen sind ein wichtiges Element des Comics, aber sie sind eingerahmt von kaum hierarchisierbaren systemreferenziellen Bezügen auf andere Medien. Auch deshalb möchte ich zum Abschluss meiner Beispielreihe noch eine Variante für ein mediales Zitat anführen, das sehr prominent platziert ist
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Abb. 19: Martin Mystère, Il mondo di Escher, Speciale Nr. 15, Mailand 1998, S. 107.
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und, im Unterschied zu den meisten der bislang vorgestellten Fälle, keine narrative Struktur aufnimmt. Das Beispiel findet sich in Dylan Dog, der 1986 von Tiziano Sclavi und Angelo Stano geschaffen wurde und zumindest in Italien Kultstatus erlangt hat. Dylan Dog ist ein junger Mann, der in London wohnt und dort zusammen mit seinem Assistenten übernatürliche Phänomene untersucht – »indagatore dell’Incubo« ist seine Berufsbezeichnung –; er begegnet dabei Phänomenen, die zwischen Horror und Splatter angesiedelt sind, und seine oft wechselnden Beziehungen zu jungen Frauen führen immer wieder zu romantisch-melodramatischen Situationen. Die beiden Hauptfiguren der Serie beziehen sich erkennbar auf Kinostars.18 Für Dylan Dog stand der englische Schauspieler Rupert Everett Modell. In der Figur des Francesco Dellamorte aus Michele Soavis Horrorfilm Dellamorte Dellamore aus dem Jahr 1994, dessen literarische Vorlage wiederum von Tiziano Sclavi stammt und Motive aus der Comic-Serie aufgreift, fanden Vorbild und Figur wieder zusammen. Bei seinen Fällen wird Dylan Dog von einem Assistenten begleitet, der eine Reinkarnation von Groucho Marx ist. Dessen Figur erscheint als Dauer-Zitat – er ist ständig präsent und rettet in der Regel durch eher unkoordinierte Aktionen Dylan Dog das Leben. Im ersten der beiden Panels erscheint Groucho – Dylan Dog wird nachts zu einem Auftrag gerufen – nicht nur im Nachthemd, also einem der bekannten Groucho-Gewänder, sondern er formuliert auch Groucho-typische Paradoxe und Wortspiele. Deutlich wird dabei, dass der Groucho in Dylan Dog mehr als nur das Zitat eines filmisch vorgeprägten Schauspieler-Charakters ist. Der Comic nimmt eine bereits multimedial kodierte Kunstfigur auf, deren Präsenz von Kinofilmen über Radio und Fernsehen bis zu Buchveröffentlichungen reicht (darin der komischen Figur Woody Allens nicht unähnlich). Der Comic bedient sich dieser nicht mehr auf ein Medium reduzierbaren Figur. Ein in sich multimediales Phänomen wird als Zitat in den intermedialen Rahmen der Serie integriert.
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Vgl. Nardi, »Dylan Dogs multimedialer Horror«, S. 67–68, und Thomas Fröhlich, »Mein Name ist Dog … Dylan Dog«, 2007, http://www.evolver.at/stories/ Dylan_Dog_Comic_Tiziano_Sclavi/ (Stand: 01. 03. 2010).
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Abb. 20 und 21: Dylan Dog, Albo gigante Nr. 16, Mailand 2007, S. 6 u. S. 165.
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III. Resümee Die Häufigkeit und die Variationsbreite von literarischen Zitaten in den betrachteten Comic-Serien erlauben einige Schlüsse über den Ausdifferenzierungsgrad dieses erzählerischen Instruments. Wollte man die Vielfalt der hier betrachteten Beispiele unter eine Überschrift stellen, dann könnte man von einer Tendenz zur Polyfunktionalität des Zitats sprechen. Zitate eröffnen textuelle und mediale Referenzmöglichkeiten. Man kann das an der Ausweitung der einfachen Namensnennung, mit der ich begonnen habe, zu einer handlungs- und strukturbestimmenden Referenz für weite Teile der Erzählserie beobachten; die synkretistische Mythen-Fortschreibung in Martin Mystère ist eine Kombination solcher strukturhomologer Zitatnetze. Natürlich haben Zitate aus literarischen Texten weiterhin die Funktion, den Comic in bestimmte literarische Gattungstraditionen einzubinden. Aber auffälliger sind Erweiterungen, die oftmals durch Überkreuzungen von Zitaten aus verschiedenen medialen Kontexten erzeugt werden. Auch bei visuellen Zitaten stehen in der Regel Narrationen oder Elemente aus größeren, auch seriellen Erzählzusammenhängen im Vordergrund. Das kann man bei der Übernahme der Illustrationen aus den Jules-Verne-Texten ebenso verfolgen wie bei Zitaten aus der Malerei oder aus Filmen. Im Fall der Escher-Bezüge in Martin Mystère werden Bildzitate Bestandteile der Narration, wobei zugleich wichtige Elemente der Geschichte aus der Biographie Eschers, also letztlich aus einem nichtfiktionalen literarischen Textzusammenhang adaptiert werden. Noch ausgeprägter gilt das für die mediengeschichtliche Fortschreibung einer populärwissenschaftlichen Untersuchung, wie sie in der Nathan NeverGeschichte zu beobachten ist, die eine Reflexion über das Ende des Mediums Buch darstellt. Zitate fungieren also als zentrale Instrumente der Erweiterung narrativer Spielräume in den Comics. Ausgehend von Zitaten, die eine Text-Text-Referenz herstellen, bilden sich Formen einer Variationsästhetik, in der Namen, Figuren und Räume, vor allem aber Handlungsstrukturen aus dem literarischen Text in den Comic transplantiert werden können. Dabei kann selbst eine Kunstfigur wie Groucho Marx, die in verschiedenen Medien gleichermaßen präsent ist, als Dauerzitat in die Strukturen einer Geschichte integriert werden. Man kann also von Strategien der Verfeinerung und Erweiterung der Funktionen des Zitats sprechen, die sowohl in Bezug auf die zitierten Inhalte als auch auf die Varianten der Zitattechnik die ästhetischen Möglichkeiten des seriellen und kommerziellen Comics entscheidend prägen. Auf diese Weise werden neue Möglichkeiten der Bezugnahme zwischen Literatur und Comic eröffnet.
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Die so entstehenden Comic-Erzählungen eröffnen eine doppelte Rezeptionsperspektive. Zum einen sind sie ganz wörtlich im Horizont des jeweiligen Träger-Genres als Science-Fiction oder Detektiv-, Abenteuer- oder Horrorgeschichte zu lesen. Zum anderen aber handelt es sich um elaborierte, intertextuell und intermedial organisierte, selbstreflexive Zitat- und Anspielungssysteme – Konfigurationen, die aus dem Inventar der literarischen Postmoderne stammen und auch in diesem Kontext untersucht werden könnten. Mit fast jeder Serien-Fortsetzung werden die Rahmenbedingungen und die ästhetischen Spielräume, die durch die Adaption dieser Genres gesetzt sind, neu erprobt und erweitert – und somit die ursprünglich literarischen Genres unter den Bedingungen der medialen Möglichkeiten des Comics beständig modifiziert und neu bestimmt.
Literatur Primärliteratur Dylan Dog, Albo gigante Nr. 16, Mailand 2007. Martin Mystère, L’isola di ghiaccio e di fuoco, Albo gigante Nr. 6, Mailand 2000. Martin Mystère, Il mondo di Escher, Speciale Nr. 15, Mailand 1998. Nathan Never, Doppio Futuro, Albo gigante Nr. 1, Sergio Bonelli Editore, Mailand 1995. Nathan Never, Contagio, Albo mensile Nr. 48, Mailand 1995. Nathan Never, La biblioteca di Babele, Albo mensile Nr. 50, Mailand 1995. Nathan Never, Odissea nel Futuro, Albo gigante Nr. 2, Mailand 1996. Verne, Jules, Vingt mille lieues sous les mers [1869/70; dt. Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, 2 Bde., Zürich 1966].
Sekundärliteratur Arnold, Heinz Ludwig/Andreas C. Knigge (Hrsg.), Comics, Mangas, Graphic Novels. München 2009. Böhn, Andreas, »Zitat«, in: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur, 3. Aufl. Stuttgart, Weimar 2007, S. 843. Broich, Ulrich/Manfred Pfister, Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985. Ditschke, Stephan/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hrsg.), Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009. »Dylan Dog«, in: Slumberland. L’enciclopedia del fumetto on-line, 2003, http://www. slumberland.it/contenuto.php?tipo=fumetto&id=2&nome=Dylan_Dog (Stand: 01. 03. 2010). Eco, Umberto, Apocalittici ed Integrati. Comunicazioni di massa e teorie della cultura di massa. Milano 1994 (11964; dt. Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt am Main 1992).
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Eco, Umberto, »Quattro modi di parlare di fumetto«, 1999, http://www.fucine.com/ article.php?url=archivio/fm09/eco.htm&articleid=153 (Stand: 03. 03. 2010) [ursprünglich publiziert im Ausstellungskatalog: La Cappella Underground/Comune di Trieste/Associazione Italo-Francese (Hrsg.), Claire Bretécher. Il disegno del fumetto, Trieste o. J. (wohl 1984)]. Fröhlich, Thomas, »Mein Name ist Dog … Dylan Dog«, 2007, http://www.evolver. at/stories/Dylan_Dog_Comic_Tiziano_Sclavi/ (Stand: 01. 03. 2010). Groensteen, Thierry, »Why Are Comics Still in Search of Cultural Legitimization«, in: Jeet Heer/Kent Worcester (Hrsg.), A Comics Studies Reader. Jackson 2009, S. 3–11. Hein, Michael/Michael Hühners/Torsten Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comic. Berlin 2002. Heer, Jeet/Kent Worcester (Hrsg.), A Comics Studies Reader. Jackson 2009. Helmstetter, Rudolf, Art. »Zitat«, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 896–899. Mahne, Nicole, Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen 2007. McCloud, Scott, Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Hamburg 2001, S. 17 (Understanding Comics, New York 1993). Nardi, Antonella, »Reportage aus dem Jenseits oder Dylan Dogs multimedialer Horror«, in: Zibaldone 17: Fumetti – Comics in Italien. München 1994, S. 67–84. Schüwer, Martin, Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier 2008. Platthaus, Andreas, Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte. Berlin 1998. Rajewsky, Irina, Intermedialität. Tübingen, Basel 2002. Schmitz-Emans, Monika, Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur. Unter Mitarbeit von Christian A. Bachmann. Berlin, Boston 2012. Sergio Bonelli, Homepage des Verlages, http://www.sergiobonellieditore.it (Stand: 01. 03. 2010).
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Monika Schmitz-Emans (Bochum)
Orpheus und der Comic Dino Buzzatis Poema a fumetti und der Auftritt des Orpheus bei Martin tom Dieck und Jens Balzer in New Adventures of Incredible Orpheus (The Return of Deleuze)
Orpheus als mythischer Repräsentant der Kunst: Reflexionsfigur des Poetischen Seit der Antike ist Orpheus als Patron verschiedener Künste betrachtet worden: Er gilt als früher Repräsentant von Dichtung und Musik, und von der Renaissance bis zur Moderne fungiert er als Lieblingsprotagonist poetologischer Lyrik. Programmatische Rückgriffe auf die Geschichte des Orpheus erfolgen vor allem dort, wo es um neue Kunstformen und deren Selbstverständnis geht: Die Begründung und Frühgeschichte der Oper steht im Zeichen der autoreflexiven Gestaltung des Orpheus-Mythos (durch Peri, Monteverdi, Sartorio und andere Komponisten nebst ihren Librettisten);1 die Operette steht unter dem Patronat des in einen burlesken Kontext versetzten mythischen Sängers (auf die Entstehung von Offenbachs Orphée aux enfers datiert man den Beginn der Operette) – und Orpheus-Geschichten werden bis heute zum Anlass der Erprobung innovatorischer Schreibweisen genommen (z. B. von Arno Schmidt, Robert Schneider und Jean Echenoz). Wenn Orpheus seit der Antike mythischer Repräsentant der Dichtung und Musik ist, so vor allem mit Blick auf zwei Kernepisoden des Mythos: erstens die Hadesfahrt und zweitens die Bezähmung der wilden Natur im Gesang. Orpheus singt vor einem Auditorium von Tieren und (wilden) Menschen, bewegt selbst das Unbewegliche (die Bäume sollen zu Orpheus gekommen sein, um ihn zu hören), bannt die Naturgewalten.2 In Dokumenten der 1
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In Claudio Monteverdis »Favola in musica« L’Orfeo ist es eingangs die Allegorie der Musik (»musica«) selbst, die sich zu den Hörern begibt, um ihnen die Geschichte des Orpheus vorzustellen und zugleich die von ihr repräsentierte Tonkunst zu bespiegeln. Mit dem Abstieg des Orpheus in die Unterwelt als einer Überwindung der ansonsten unüberschreitbaren Grenze zwischen Leben und Tod verbindet sich die an die Kunst selbst gerichtete Erwartung einer Transgression zwischen diesseitig-alltäg-
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romantischen Musikästhetik fungiert Orpheus als Schlüsselfigur, die das »Geisterreich« der Kunst zugänglich macht.3 Moderne Orpheus-Figuren erleben demgegenüber auch komisch-groteske, skurrile oder triviale Abenteuer, und sie scheitern öfter, als dass sich die Macht ihrer Kunst bewiese. Auch als Scheiternder bleibt Orpheus die mythische Personifikation der Kunst, und in den Gestaltungen und Umgestaltungen seiner Geschichte kommt die Auseinandersetzung der Kunst bzw. der Künste mit sich selbst zum Ausdruck. Von Ästhetikern ist immer wieder an Orpheus und die Ursprünge von Dichtung und Musik erinnert worden.4 Exemplarisch für die Deutung des Orpheus als Reflexionsfigur der Dichtung in der Moderne sind die poetologischen Überlegungen Maurice Blanchots, in denen er den Sänger, die Gestalt der Eurydike und den »Blick des Orpheus« kommentiert.5 Orpheus steht hier für die Macht der Kunst, ins Dunkel vorzudringen, dorthin, wohin man sonst nicht gelangt. Eurydike ist ein Sinnbild für das letzte und eigentliche Ziel künstlerischen Bemühens – und dieses Ziel ist nicht erreichbar.6
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licher Sphäre und einer (wie auch immer genau zu bestimmenden) anderen Welt. Mit der Szene des die Bestien und die Steine rührenden Orpheus verknüpft ist die Vorstellung einer Macht der Kunst, welche auf deren Kraft beruht, an das innerste Wesen der Dinge selbst zu rühren und allenthalben Resonanz zu erzeugen. Vgl. E. T. A. Hoffmann, »Kreisleriana«, in: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814, Bd. 2/1, hrsg. v. Hartmut Steinecke u. Wulf Segebrecht. Frankfurt am Main 1985–2004, S. 2 (»Beethovens InstrumentalMusik«). Vgl. etwa George Steiner, »Der Dichter und das Schweigen«, in: Ders., Sprache und Schweigen. Frankfurt am Main 1973 (zuerst als Language and Silence. Essays on Language, Literature, and the Inhuman. New York 1967), S. 90–117, S. 98–99. Maurice Blanchot, »Der Blick des Orpheus«, in: Wolfgang Storch (Hrsg.), Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann. Leipzig 1997, S. 201–208, hier S. 201. Der Umgang mit dem Orpheus-Stoff ist bei aller Heterogenität im 19. und besonders im 20. Jahrhundert vielfach durch eine Tendenz zur Vermenschlichung der mythischen Figur charakterisiert: Orpheus wird in ein zeitgeschichtliches Milieu versetzt, in eine hadesartige Gegenwart. Mit Orpheus geht es auch dann, wenn er vor der Kulisse einer zeitgenössischen Groß- oder Kleinstadt auftritt, um die Frage nach der Beziehung zwischen Kunst, Leben und Tod. Vor allem die Hadesfahrt wird immer wieder zur Projektionsfläche autoreflexiver Bedeutungszuweisungen: Die Kunst überschreitet die Grenze zwischen Leben und Tod, wie Orpheus. Sie vermag, Leben und Tod zugleich in den Blick zu nehmen, den engen Zusammenhang zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Schatten zu verdeutlichen – was aus moderner Perspektive vielfach darauf hinausläuft, die Menschenwelt als hohles substanzloses Schattenreich zu entlarven. Einerseits sind die modernen Orpheus-Figuren vielfach Gestalten, in denen sieh die problematischen Seiten der dichterischen Existenz bespiegeln – und zwar unter ver-
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Dino Buzzatis Orpheus Mit seinem Poema a fumetti7 (1969) arrangiert Dino Buzzati einen weiteren Auftritt des Orpheus als Patron einer neuen Kunstform. Er wählt als Protagonisten seines »poema a fumetti« eine moderne Orpheus-Figur: den Liedermacher (»cantautore moderno«) Orfi, dessen Geschichte in Text und Bildern erzählt wird. Buzzati war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler, und er betrachtete beide Formen der künstlerischen Arbeit als im Grunde identisch; mit beiden gehe es ihm um das Erzählen von Geschichten.8 Buzzatis Protagonist Orfi beobachtet eines Abends, wie seine Geliebte Eura durch ein geschlossenes Tor in der Mauer an der Via Materna verschwindet. Bald darauf erfährt er von Euras Tod. Verzweifelt begibt er sich an den Ort ihres Verschwindens, wo ihm ein geheimnisvoller Fremder dabei hilft, selbst die durch die Mauer gezogene Grenze zu überschreiten. Jenseits der Mauer empfängt ihn eine im Stil des erotischen Pop-Comic gezeichnete Frau und geleitet ihn zum Herrn der Totenwelt. Dieser gestattet ihm, nach Eura zu suchen und sie sogar mitzunehmen, wenn das gemeinsame Verlassen des Totenreiches binnen einer gesetzten Frist gelingt. Orfi durchstreift das Totenreich und erfährt, unter welchen Bedingungen man hier existiert.
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schiedenen Akzentuierungen: Der Dichter erscheint deklassiert, er prostituiert sich (wie Georg »Orje« Düsterhenn in Arno Schmidts Caliban über Setebos), er ist nutzlos, bewirkt nichts, wird missverstanden, ausgeschlossen, lächerlich gemacht. Andererseits wird Orpheus in der Rolle dessen, der Kunst und vor allem Dichtung repräsentiert, nachdrücklich bestätigt – und an ihn knüpfen sich dann auch wieder alle Hoffnungen, die dieser entgegengebracht werden. So schreibt Peter Sloterdijk in seiner Poetik-Vorlesung Zur Welt kommen – zur Sprache kommen: »[…] es gibt für die Situation der Literatur kein stärkeres Bild als das des ungeduldigen Sängers Orpheus, der mit einer beinahe lebenden Verstorbenen im Rücken die Todeszone durchwandert, dem Tag entgegen. […] Ihm steht eine Todeserfahrung zwischen die Schulterblätter geschrieben, die ihn für immer zwingt, von etwas Verlorenem zu singen. Mit Eurydike bei den Schatten macht er eine Erfahrung, die für jede Literatur, die sich aussetzt, gültig bleibt. Solange er sie kraft seines poetischen Begehrens hinter sich tagwärts, weltwärts, sprachwärts mit sich führt, solange er sich nicht umwendet, um sie zu besitzen, solange besiegt er das, was Menschen sonst sprachlos macht und zur Unterwerfung verführt, den Tod. Dadurch wird Orpheus zum ersten Zeugen der Poesie – zum Redner gegen den Tod und gegen die Sprachlosigkeit.« (Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – zur Sprache kommen. Frankfurt am Main 1988, S. 28). Buzzati, Dino, Poema a fumetti, Mailand 1969 (dt.: Orphi und Eura, Berlin 1970). »[…] dipingere e scrivere per me sono in fondo la stessa cosa. Che dipinga o che scriva, io perseguo il medesimo scopo, che è quello di raccontare delle storie« (Dino Buzzati, »Un equivoco«, in: Dino Buzzati, pittore. Con »un equivoco« di Dino Buzzati e un testo critico di Bruno Alfieri. Mailand 1967, S. 7).
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Es gibt keine Zeit mehr, alles ist ewig, damit aber ist den Bewohnern des Totenreichs all das genommen, was das Leben ausmacht:9 Empfindungen und Sehnsüchte, Ängste und Passionen haben stets einen Zeitbezug, weil sie auf Vergangenes oder Zukünftiges gerichtet sind. Doch die Toten sind aus der Zeit herausgetreten, darum unfähig zu Passion, Anteilnahme, positiven oder negativen Emotionen, stattdessen der endlosen Langeweile und Indifferenz verfallen. Orfi besingt die Dinge, die zum Leben gehören, und erinnert sein Auditorium damit zumindest an das, was es verloren hat. Als Orfi mit dem Singen aufhören will,10 fordern ihn die Zuhörer auf fortzufahren,11 und er singt weiter von dem, was die Toten nicht mehr haben.12 Er erzählt mit seinen Liedern schauerliche, traurige, aufregende und melancholische Geschichten, voller Passion, voller Phantastik, voller Abenteuer, voller Erotik. Schließlich singt er vom Gott, den es im Reich der Toten nicht mehr gibt und der im Reich der Lebenden viele verschiedene Gesichter hat. Die Mortifikation der Totenwelt – die im Wesentlichen eine psychische und emotionale Erstarrung ist – erweist sich als irreversibel. Auch die Hoffnung ist tot, und als Orfi Eura findet, vermag er in ihr nicht die Hoffnung und Kraft zu erwecken, deren es zur Rückkehr in die Welt der Lebenden bedürfte. Orfi verlässt das Schattenreich allein. Nach Euras Verlust in die Welt der Lebenden zurückgekehrt, sagt ihm der Unbekannte, alles sei nur ein Traum gewesen.13 Aber Orfi findet in seiner geballten Hand einen Ring, den ihm Eura gegeben hat. Buzzati erzählt Orfis Geschichte – die in der französischen Übersetzung in Anspielung auf Offenbachs Orphée aux enfers übrigens Orfi aux enfers heißt – auf gut 200 Seiten als Text-Bild-Sequenz im Stil des Pop-Comics: farbig, dabei aber abgestimmt auf die Idee der für das Totenreich prägenden Monotonie, die sich visuell vielfach als Monochromie darstellt. Der Text ist ein Langgedicht ohne Reime, in das mehrfach die Lieder des Sängers Orfi als Gedichte im Gedicht integriert sind. Buzzatis Œuvre widmet sich insgesamt dem auch im Orfi-Comic dominierenden Themenkomplex um Zeitverfallenheit und Endlichkeit, der Gebrechlichkeit der Dinge, der allgegenwärtigen Bedrohung durch undurchschaubare Mächte, der irrationalen Angst vor Unvorhersehbarem, Schrecklichem, Monströsem. Immer wieder handeln seine Texte von Krank9
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Es gibt – wie es heißt – im Totenreich keine Gärten, keine Berge und Eisenbahnen, keine Kriege, keine Soldaten und keinen Ruhm, keine Träume, keine Sünden, keine Liebe und keine Enttäuschung. Vgl. Buzzati, Poema, S. 153. Vgl. ebd., S. 154–155. Vgl. ebd., S. 156–161. Vgl. ebd., S. 231.
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heit und Tod, existenzieller Verunsicherung und Hoffnungslosigkeit. Literarisch bestehen enge Affinitäten zu Kafka; wie dieser versetzt Buzzati seine Figuren vielfach in verstörende Situationen, oft unter Akzentuierung des Bruchs mit einer vorangehenden falschen Sicherheit. Mysteriöse Zeichen verweisen in seinem gelegentlich phantastischen Œuvre auf rätselhafte Schicksalsmächte; das einbrechende Unheil hat dabei oft groteske Züge. Der Orfi-Comic behandelt mit dem Thema Tod das zentrale Thema dieses Autors – unter Akzentuierung der besonderen Beziehung, die der Dichter zum Tod hat. Dieser ist für die Nähe des Todes und die Transzendenzlosigkeit der Welt in besonderem Maße sensibilisiert, kann an ihr allerdings nichts ändern. Buzzatis Bildreservoir enthält Reminiszenzen an die Bilderwelt der Schauerliteratur und ihrer Visualisierungen, an die Darstellung von Totenreichen und verödeten Räumen des Diesseits, an Leid, Schmerz und Schrecken. Eine für das Comic-Poem repräsentative Passage ist die Eingangssequenz: Sie zeigt als den Schauplatz der im folgenden dargestellten Ereignisse eine mysteriöse, von einer Mauer umgebene Villa in der Via Materna, die den Ort markiert, wo der Hades – mitten in Mailand und doch zugleich eine Gegenwelt – situiert ist. Diese Villa soll merkwürdigen Metamorphosen unterliegen, und deren visuelle Darstellung verdeutlicht den heterotopischen Charakter des Schauplatzes. Buzzati zeichnet sie in ostentativer Anlehnung an Schauplätze der Schauerliteratur – als ein Bildzitat, an dem er zugleich seine eigene Verwandlungskunst demonstriert, insbesondere die Möglichkeit, zeichnend aus einem Gebäude, wie man es aus der Alltagswelt kennt, einen phantastischen Raum zu machen. Ein origineller Bildeinfall ist die Darstellung des Herrn der Totenwelt als leere Jacke. Mit diesem Einfall knüpft Buzzati an eine literarische und kunstgeschichtliche Tradition der Darstellung mysteriös-verdächtiger Figuren an; man könnte an Chamissos Peter Schlemihl und an H. G. Wells’ The Invisible Man, aber auch an Bulgakovs Der Meister und Margarita erinnern. Buzzati verkleidet den das Totenreich repräsentierenden »diavolo custode«; er zeigt ihn nicht. Die Un-Gestalt verweist indirekt auf die Undarstellbarkeit des Todes – und darauf, dass experimentelle Darstellungsformen wie die des Poema a fumetti sich bei aller Erschließung neuer Gestaltungsmöglichkeiten doch der Grenzen des Darstellbaren gleichwohl stets bewusst sind. Buzzatis Orfi-Comic ist Kunst über Kunst: Sein Protagonist ist ein DichterSänger; sein Titel ist eine (neue) Gattungsbezeichnung.14 Durch Rahmungs14
»Poema a fumetti« ist nicht nur als Titel, sondern auch als Gattungsbezeichnung deutbar, und wenn ein Werk den Namen einer Kunstgattung trägt, reklamiert es damit für sich implizit exemplarischen und programmatischen Charakter.
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Abb. 1: Die mysteriöse Villa in der Villa Materna zeigt verschiedenen Betrachtern verschiedene Gesichter (Buzzati, Poema, S. 28–29).
Abb. 2: »Spiegazione dell’aldilà«: Der »diavolo custode« erklärt Orfi das Jenseits und bittet Orfi zu singen (Buzzati, Poema, S. 86–87).
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Abb. 3: »ALLORA ORFI HA COMINCIATO A CANTARE / le cose che voi non avete più / sono queste che volete ascoltare / anche se malinconiche? che non avete più perché da voi non esiste l’ultima porta / e mentre cominciava a cantare guardò fuori / giù nella strada vide la gente che andava / camminava marciava andavano varciavano erano / in tanti tantissimi forse in mezzo c’era anche lei (…)« (Buzzati, Poema, S. 126–127).
strukturen, wie sie bei der Darstellung von Gedichten als ›Werken im Werk‹ eingesetzt werden, kommt es zu expliziten Thematisierungen des Gesangs. Buzzati greift die mit Orpheus von jeher assoziierten Erwartungen an die Kunst auf: die Idee einer künstlerisch vollzogenen Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod, Diesseits und ›anderer‹ Welt – sowie den Topos einer magisch-fesselnden und bannenden, bezähmenden und rührenden Wirkung aufs Auditorium, in welcher sich die Macht der Kunst bekundet. Orfi ist ein Grenzgänger – und so, wie er aus der Welt der Lebenden in die der Toten eintritt, durchdringen seine Lieder als Kunstwerke im Werk den imaginären Raum, in dem seine Geschichte spielt. Auch die vielen intertextuellen Anspielungen und Bildzitate tragen dazu bei, das Moment künstlerischer Selbstreflexion zu betonen. Buzattis Poema a
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fumetti hat viele Wegbereiter:15 Angeknüpft wird an dichterische Darstellungen des Orpheus als scheiternde Figur in einer finsteren und erbärmlichen Welt (etwa bei Yvan Goll, Joseph Brodsky, Tennessee Williams), einem säkularen, entmythisierten Hades. Motivliche Analogien zu anderen OrpheusTexten der Moderne bestehen insbesondere durch die Situierung des Hades an der immer nahen, wenn auch den meisten Menschen unsichtbaren ›Rückseite‹ der Alltagswelt. Das Totenreich erscheint als Reversseite der Welt der Lebenden – die sich in ihm bespiegelt (ähnlich wie bei Sartre, Cocteau oder Echenoz). Der ästhetikgeschichtliche Kontext, in dem das Poema a fumetti entsteht, steht im Zeichen der Aufwertung bzw. des wachsenden Selbstbewusstseins der Popkultur, ihrer Sprachen und ihrer thematischen Interessen. Der ausdrücklich als Liedermacher (»cantautore«) ausgewiesene Orfi ist gerade unter diesem Aspekt das musikalische Pendant des Comic-Zeichners Buzzati. Mit der Situierung der Handlung in einer heterotopischen Hades-Welt wird ironisch auch auf die vermeintliche ›Unter‹-Welt der sogenannten ›Sub‹-Kultur angespielt, die eben nicht mehr einfach ›unten‹ zu verorten ist.16 Reflexionen zum Thema Popkultur und Experimente mit der Sprache der Popkultur stehen in den 1960er Jahren im Zentrum des Interesses von Künstlern und Theoretikern der Kunst. Andy Warhol, der die Sprache des Comics auf programmatische Weise in die bildende Kunst implantiert, wirkt stilbildend auf eine ganze Generation. Experimentelle Schriftsteller wie Rolf Dieter Brinkmann arbeiten u. a. mit Comics und stellen diese an die Seite ande15
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Die Bildgeschichte spielt zum einen auf eine lange literarische Tradition der Darstellung von Jenseitsreisen an (darunter auf Dantes Divina Commedia als die wohl prominenteste), sie enthält aber auch viele Bildzitate. Die Idee einer Passage durch ein geschlossenes Tor (Buzzati, Poema, S. 55) erinnert an die Verfilmung von Cocteaus Orphée, wo man durch einen Spiegel ins Totenreich gelangt, aber auch an Carrolls Darstellung des Einstiegs in eine Gegenwelt durch einen Spiegel (Through the Looking-Glass). Andere Bildmotive erinnern an die Kafka-Verfilmung von Orson Welles (The Trial; vgl. Buzzati, Poema, S. 76), an Murnaus Nosferatu-Film, an Bilder Wilhelm Buschs, Edvard Munchs (Buzzati, Poema, S. 126), Salvador Dalís (ebd., S. 51). (Die wichtigsten Künstler, auf die die Bildsprache des Poema anspielt, werden in der Buchausgabe auch ausgewiesen). Auch in jüngeren Comic-Büchern präsentieren sich der Comic als Kunstgattung und das Lied (Chanson, Song) als Verbündete: So werden in französischen Comic-Reihen (wie … en bandes dessinées) Chansonniers, Folk- und Rockmusiker an die Seite kanonisierter Lyriker gestellt (Brel, Dylan). Dem Country- und Folksänger Johnny Cash ist ein erfolgreiches Comic-Porträt gewidmet worden. Der Abstieg Johnny Cashs in die Gegenwelt eines Staatsgefängnisses ist dabei schon Bestandteil der Selbstmythisierung dieses Sängers – auf die seine Comic-Biographie dann aufbauen kann (vgl. dazu den Beitrag von Lars Banhold in diesem Band).
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rer Formen poetischer Gestaltung. Viele literarische Autoren betonen ihre nachhaltige Prägung durch Phänomene der populären Kultur, explizit auch durch den Comic – darunter Italo Calvino, der in seinen Schreibexperimenten und Selbstkommentaren Hommagen an den Comic verfasst (mit den Cosmicomiche und mit den Tarock-Geschichten). Eine ganze Reihe von Schriftstellern, darunter etwa auch Oulipisten wie Georges Perec, verwenden montierte Versatzstücke aus dem alltags- und popkulturellen Bereich. Buzzatis ostentativ zitierender graphischer Stil erinnert an diese Tendenzen einer Stilinnovation, die nicht nur ein ästhetischer Aufbruch sein sollte, sondern sich nicht zuletzt als Beitrag zu einer Reform oder Revolution von Lebens- und Wertordnungen verstand. Sein Poema verhält sich als Künstlergeschichte reflexiv zu ihnen – und bezieht durch die Erzählung einer Geschichte über die Hinfälligkeit aller Dinge eine Position, die sich dem auf die Macht der Kunst setzenden Optimismus seiner Generation diametral entgegengesetzt verhält.
Deleuze und Orpheus bei Martin tom Dieck und Dirk Balzer Martin tom Dieck und Jens Balzer haben mit Salut, Deleuze! (zuerst 1998)17 und dem Fortsetzungsband New Adventures of Incredible Orpheus – The Return of Deleuze (dt.: Neue Abenteuer des unglaublichen Orpheus, 2001) zwei Comic-Bücher vorgelegt, deren Geschichten das Herriman’sche Prinzip der variierenden Wiederholung variierend wiederholen. Salut, Deleuze! erzählt die Geschichte des an seinem Hütchen erkennbaren Gilles Deleuze bei seiner Überfahrt über den Styx und seiner Ankunft im Hades. Charon, gerade dabei, ein Buch zu lesen, bringt ihn ins Reich der Finsternis, wo er von Barthes, Lacan und Foucault begrüßt wird, während Charon – mit dem er unter anderem über sein Wirken als Philosoph gesprochen hat – sich im Boot entfernt. Dies alles ereignet sich, im Einzelnen modifiziert, fünfmal, wobei der Wiederholungscharakter der Ereignisse auch in Dialogen explizit reflektiert wird. Das von Charon gelesene Buch trägt wechselnde Titel: Einmal New Adventures of Incredible Orpheus, einmal Différence et Répétition von Gilles Deleuze.18 17
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Martin tom Dieck/Jens Balzer, Salut, Deleuze!. Zürich 2000 (zuerst Brüssel 1998), und Dies., Neue Abenteuer des unglaublichen Orpheus. Zürich 2001; dazu die Beilage: Interpretationen und Kommentare zu ›Salut Deleuze!‹ und ›New Adventures of Incredible Orpheus (The Return of Deleuze)‹. Gilles Deleuze, Différence et répétition. Paris 1968; dt.: Differenz und Wiederholung. München 1992.
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Die Neuen Abenteuer des unglaublichen Orpheus spielen ebenfalls im Totenreich. Akteure sind wieder Deleuze und seine Freunde, die sich u. a. darüber unterhalten, wie oft sie ihn schon erwartet und mit »Salut Deleuze!« begrüßt haben.19 Zudem trifft man auf Ignatz Mouse,20 umgeben von Ziegelsteinen, der durch sein bloßes Erscheinen andeutet, dass sich tom Diecks und Balzers Geschichte als »Wiederholung« von Herriman versteht. (Auch wird Deleuze einmal als »Krazy Deleuze« porträtiert, der einen Stein an den Kopf geworfen bekommt,21 und wir sehen »Offissa Foucault« im Gefängnis von Coconino County, auf dem nun »Überwachen und Strafen« steht.) Die einzelnen Abschnitte der sich wiederum in Variationen eines Grundmusters abspielenden Geschichte beginnen, wie im ersten Band, mit der (angesichts des Eintreffens im Hades etwas kurios klingenden) Feststellung »Schön ist es hier / Schöner als ich dachte«. Diesmal rudert Deleuze mit Lacan über das unterweltliche Gewässer – und man unterhält sich über Ewigkeit und Wiederholung, sich wiederholende Wiederholungen und Wiederholungszwänge. Da erscheint der Sänger Orpheus. Er ist auf der Flucht vor den Mänaden und bringt sich im Boot der beiden Philosophen in Sicherheit. Nachdem man gemeinsam den Mänaden entkommen ist und Orpheus eine Augenbinde angelegt hat, damit er ohne Schaden mit Eurydike zusammentreffen kann, begibt sich die Bootsbesatzung ans (andere) Ufer. Neben den Philosophenkollegen wartet dort auch Orpheus’ Frau; das Paar begrüßt sich leidenschaftlich und entfernt sich im Boot. Im anschließenden, von derselben Uferlandschaft ausgehenden Episode sind es Deleuze und Lacan, die um Aufnahme in das von Orpheus und Eurydike gesteuerte Bott bitten; diesmal verfolgen die Mänaden .22 Am Ende der neuerlichen Überfahrtsepisode (und am Ende des Buchs) wiederholt Eurydike viermal dieselbe Bemerkung über einen baldigen Aufbruch, und nochmals gerät Charons Lesetisch in den Blick, auf dem die New Adventures of Incredible Orpheus liegen. Wie George Herrimans Cartoons sind die Deleuze-Episoden von tom Dieck und Balzer ein autoreferenzieller Comic, mit dem es um das Prinzip der variierenden Wiederholung als konstitutiv für den Comic geht.23 Reprä19 20 21 22 23
Tom Dieck/Balzer, Salut, Deleuze!, S. 7. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 50. Zu den frühen ostentativ autoreferenziellen Comics gehören die von George Herriman gezeichneten, so originellen wie komischen Krazy Kat-Episoden. Komik und Autoreferenzialität der Geschichten um Krazy Kat, Offissa Pupp und Ignatz Mouse beruhen auf dem Prinzip der variierenden Wiederholung: Die Figuren sind durch stereotype Verhaltensmuster charakterisiert, in deren Folge sich bestimmte
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sentant dieses Prinzips ist Deleuze, der Protagonist des Comics, dessen reales Vorbild die Idee der Wiederholung zum Kernthema seines philosophischen Œuvres gemacht hat. Umgesetzt wird das Prinzip der variierenden Wiederholung durch die entsprechend arrangierte Episodenfolge in beiden Bänden. Die in den Deleuze-Comics ebenfalls auftretende Figur des Orpheus hat Teil am Spiel der Wiederholungen, dessen Akteure die Bewohner der Unterwelt sind. Damit steht Orpheus auf einer Stufe mit den anderen; er vermag sich nicht über sie zu erheben. Die durch ihn repräsentierte Kunst ist selbst nichts anderes als eine Kunst der Wiederholung. Beide Comic-Bücher sind voller Anspielungen auf die Gedankenwelten und Werke der auftretenden Philosophen24 sowie (vor allem im zweiten Band) auf die Geschichte des Comics. Deleuzes Protagonistenrolle in einem Comic über Wiederholung erscheint auf anspielungsreiche Weise motiviert; »Différence et Répétition« taucht ja auch als Titel (wiederholt) auf.25 Einen konsequenten Philosophen der Immanenz26 auf eine Jenseitsreise zu schicken, ist ein per se ironischer Grundeinfall. Allerdings ist das Jenseits ja auch kein typisches Jenseits, denn erstens fehlt ihm das Diesseits, und zweitens geht hier alles genau so weiter wie gehabt, und zwar endlos.27 Orpheus ist bei
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Grundszenen in Variationen immer wieder abspielen: Krazy Kat wirbt vergebens um Ignatz, Ignatz bewirft Krazy Kat mit einem Stein, Offissa Pupp steckt Ignatz ins Gefängnis. Durch die ständigen Repetitionen macht Herrimans Comic (autoreferenziell) auf das ›Gesetz der Serie‹ als konstitutiven Faktor für Genese und Rezeption des Cartoons aufmerksam. Er verdeutlicht durch Überzeichnung, dass die Wiedererkennbarkeit stereotyp gezeichneter, oft durch bestimmte markante Attribute ausgewiesener Figuren und Verhaltensmuster für diese Form der Bilderzählung konstitutiv ist. Über die Deutung der Wiederholungs-Idee im Sinn der Gattungsreflexion hinaus kann Krazy Kat aber auch als komisch-melancholischer Kommentar zur conditio humana gelesen werden – als Hinweis auf die das Miteinander der Menschen prägende ewige Wiederkehr des ziemlich Gleichen. So werden Wunschmaschinen produziert, und es wird auf die These vom Tod des Subjekts angespielt. Für Deleuze gehören Differenz und Wiederholung zusammen; das eine ist Kehrseite des anderen. »Wiederholung ist das Vermögen der Differenz, nicht weniger als Differenz das Vermögen der Wiederholung ist.« (Deleuze, Differenz, S. 42). Deleuzes Denken der Differenz richtet sich gegen die Philosophie des Allgemeinen, insbesondere gegen den Platonismus. Vgl. Röttgers, Kurt: »Deleuze«, in: Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hrsg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt 2009, S. 106–114. Vgl. auch Josef Früchtls Kommentar im Beiheft zu New Adventures of Incredible Orpheus unter dem Titel »Die ewige Wiederkehr – ein Witz«. Zu Martin tom Diecks Comic »The Return of Deleuze« (zuerst in: FAZ (Berliner Ausgabe), 15. 03. 2001), S. 9: »Man befindet sich, wie es in schöner Gruseligkeit heißt, in der Unterwelt.
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tom Dieck und Balzer in das Spiel der ewigen variierenden Wiederholungen eingebunden: durch sein Verhalten bzw. das, was er als Fliehender, als Sänger und als Ehemann erlebt – und durch seine Äußerungen. Denn zwar sprechen er, Eurydike und die Mänaden griechisch, aber was sie sagen, entspricht dem, was die anderen auf Deutsch (bzw. auf Französisch) sagen. (»Schön ist es hier« heißt bei Orpheus: »π κ « und für »Schöner als ich dachte« steht: »K ν «).28 Die Zweisprachigkeit der Dialoge gibt Anlass, auch und gerade das Übersetzen als variierende Wiederholung zu bespiegeln. Zudem kommt es zu Verschlingungen des zweisprachigen Diskurses, mit denen das Thema Wiederholung variiert wird: Lacan fragt Deleuze, was Orpheus und Eurydike gesagt haben, worauf Orpheus Deleuze fragt, was Lacan gesagt habe, worauf Deleuze antwortet, Lacan habe gesagt: »Was hat er gesagt?« etc. (vgl. S. 53). Nicht nur Deleuze ist mit Wiederholungen konnotiert, sondern auch der Hades. Hier gibt es keinen Fortschritt, keine Entwicklung; das Immergleiche wiederholt sich in Variationen. Davon berichten gerade moderne Hades-Geschichten, etwa Au piano von Jean Echenoz. In modernen Höllen- bzw. Jenseitsdarstellungen spielen Wiederholungsphänomene und die mit ihnen verbundene Stagnation eine zentrale Rolle. In Sartres Das Spiel ist aus gelingt es den vom jenseits beurlaubten Protagonisten nicht, den Wiederholungszwängen zu entkommen, obwohl sie dies wieder lebendig machen könnte. In Herrimans Krazy Kat erscheint die Welt des Comics als eine Art Hölle. Der autoreferenzielle Charakter der Deleuze-Comics macht ihre Komik aus. Joseph Vogl erinnert an einen gemeinsamen Grundzug von Comic-Welten, HadesVorstellungen und Slapsticks: Alle drei stehen im Zeichen der Wiederkehr des Immergleichen. Im Hades gibt es keine Entwicklung, und Comic-Figuren sind durch ihre Wiedererkennbarkeit konstituiert.29 Dieser Deutungsan-
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Aber (siehe Nietzsche) es ist hier nicht viel anders als in der oberen Welt. Man hat ein Auto (das aussieht wie dasjenige, von dem Barthes überfahren worden ist) und ein Zuhause. Die Freunde tun, was sie im ersten Leben auch schon getan haben.« Tom Dieck/Balzer, New Adventures, S. 48. Vgl. den Kommentar von Joseph Vogl (»Deleuze aux Enfers«, Beilage zu New Adventures of Incredible Orpheus, S. 13–14, zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Berliner Ausgabe), 14. 03. 2001): Vogl deutet die Deleuze-Comics als parodistisch. Der parodistische Effekt beruht ihm zufolge auf Wiederholungsstrukturen: Wer immer wieder dasselbe zu sagen bekommt, ist eine Karikatur seiner selbst. Der den (gezeichneten) Figuren im Comic auferlegte Wiederholungszwang ist zum einen Comic-spezifisch, da Comic-Figuren durch ihre wiedererkennbaren Siglen und Attribute, Äußerungen und Erscheinungsbilder geprägt sind und Comic-Serien Sequenzen von Variationen über Grundmuster sind. Er entspricht zum anderen der Vorstellung, in der Hölle sei man zur Stagnation und Wiederho-
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satz wird durch die zitathaften Anspielungen auf Herriman gestützt. Aber die Anspielungen auf Deleuze lassen darüber hinaus darauf schließen, dass es mit der skurrilen Orpheus-Bildgeschichte eben nicht nur um Wiederholung im Comic geht und dass der spezifische ›Realismus‹ von Comics darauf beruht, gleichförmige Figuren gleichförmige Abenteuer erleben zu lassen – mit höllischer Konsequenz.
Orfi und Deleuze-Orpheus: Bilanzierender Vergleich Vergleicht man Buzzatis Orpheus-Geschichte mit der tom Diecks und Balzers unter dem Aspekt einer impliziten Selbstauslegung des Comics, so fällt mehrerlei auf: – Bei Buzzati liegt die Betonung darauf, dass der als Cantautore porträtierte Orpheus damit zum Patron auch zeitgenössisch-subkultureller Kunstformen und Kunstpraktiken wird. Orpheus’ poetisches Wirken kann sich, so die implizite These, in Rocksongs, Pop-Balladen und Comics ebenso manifestieren wie in kanonisierten lyrischen Texten und musikalischen Werken. – Bei tom Dieck/Balzer wird durch Bild- und Figurenzitate die Bedeutung wichtiger Vorläufer aus der Comic-Geschichte betont (neben Herrimans Krazy Kat gehören auch Lucky Luke und die Peanuts zu den zitierten Referenzen). Arrangiert wird ein Meeting zwischen Vertretern der ComicGeschichte und denen der jüngeren Philosophie, bei welchem sich die philosophisch-reflexive Dimension des Comics daran zu erkennen gibt, dass der Comic sich mit eben dem Themenfeld beschäftigt, das auch die Philosophen beschäftigt (und das ›sein‹ genuines Thema ist): mit Wiederholung und Differenz. Vergleicht man Buzzatis Orpheus-Geschichte mit der tom Diecks und Balzers unter dem Aspekt einer impliziten Modellierung der durch Orpheus repräsentierten Kunst, so liegen die Akzente wiederum anders: lung verurteilt. Vogl geht noch einen Schritt weiter, indem er den durch Wiederholungen konstituierten Comic in eben dieser Eigenschaft zum Inbegriff – oder wenn man so will zur mise-en-abyme – einer Kultur macht, die selbst auf Wiederholungen beruht (und deren Repräsentant Orpheus ist): »Kultur heißt Zusammenkürzen und Reproduzieren, Parodieren und Persiflage: Orpheus in der Unterwelt, Deleuze & Co. im Cartoon. Das Genre von Comic oder Cartoon wäre demnach als elementares Datum im Vollzug jener Kultur zu sehen, die Deleuze und Dallas zusammenbringt […]. Was einmal irgendwie ernsthaft geschehen war, ereignet sich zum zweiten Mal immer als Farce.« (Ebd., S. 13–14).
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– Buzzati porträtiert in Orfi eine Kunst der Grenzüberschreitung, die sich in Sphären vorwagt, welche der Alltagserfahrung unzugänglich sind, eine Kunst der Artikulation und Reflexion menschlicher Grunderfahrungen, eine Kunst, die mit dem Tod noch das schlechthin Undarstellbare in Bilder kleidet, eine Kunst, die an Verlorenes erinnert und Unabwendbares beklagt. Insofern sich Orfi bei aller emotionalen Teilnahme am Tod Euras als Sänger doch distanziert verhält, das Dasein im Totenreich zu seinem Gegenstand macht, selbst aber dem Totenreich nicht angehört, steht er (dem das ungewöhnliche Privileg eines temporären Einblicks in den Hades gewährt wird) für eine Kunstauffassung, die ihrer Grundkonzeption nach noch zum metaphysischen Zeitalter gehört: Kunst erscheint als offenbarende Darstellung einer auf der Basis poetischen Wissens erfassten Wahrheit und dabei als Beobachterin der Gebrechlichkeit der Welt (oder anderer mitgeteilter Wahrheiten) von höherem Niveau her. Orfis Sonderexistenz als Künstler manifestiert sich ja bereits darin, dass ihm das Recht der beiderseitigen Grenzüberschreitung zwischen Diesseits und Totenreich zugebilligt wird und er auf diese Weise zu Einsichten gelangt, die anderen verborgen sind. – Der Unglaubliche Neue Orpheus Balzers und tom Diecks ist ein postmetaphysischer Orpheus. Er vertritt kein sich über die eigenen Gegenstände erhebendes Wissen, keine das Wissen der anderen transzendierende Wahrheit. Vielmehr wiederholt er variierend dieselben Grundmuster wie sie – handelnd und sprachlich. Die Hierarchie zwischen Alltagswissen und poetischem Wissen ist ebenso kassiert wie die Differenz zwischen Diesseits und Jenseits: Bei tom Dieck und Balzer sehen wir nur das Jenseits, dessen Geschichte sich zirkulär abspielt. Auch der Gesang des Orpheus kann nirgendwo anders stattfinden als in diesem Zirkel, auch er unterliegt dem Prinzip der variierenden Wiederholung auf immergleichem Niveau. Vergleicht man Buzzatis Orpheus-Geschichte mit der tom Diecks und Balzers unter dem Aspekt einer impliziten Selbstauslegung des Comics als Kunst, so ergibt sich wiederum ein differentieller Befund: – Buzzati reiht seinen Pop-Orpheus selbstbewusst in die lange Geschichte derjenigen Orpheus-Figuren ein, in denen sich die traditionsreichen Kunstformen und ihre kanonisierten Vertreter bespiegelt haben. – Tom Dieck und Balzer diagnostizieren die Einbindung auch der Kunst in das Spiel der differenzierenden Repetitionen. Für beide Orpheus-Bildgeschichten ist der Bezug zu Vorläufern wichtig (werden diese doch ›wiederholt‹): Für die Buzzatis vor allem der Bezug zur kunst- und filmgeschichtlichen Tradition, vor deren Hintergrund der Comic sich selbst
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profiliert, für tom Dieck/Balzer dagegen der Bezug zur poststrukturalistischen Philosophie. Die implizite These: Comic und philosophisches Denken befinden sich in einem engen Bündnis und nehmen gemeinsam Teil am Spiel der Wiederholungen. Balzers und tom Diecks Deleuze-zitierende (wiederholende) Hommage an die Wiederholung ist ein Anlass, nochmals gezielt zu fragen, welche Impulse dieser Anschluss an Deleuzes Philosophie der Wiederholung für eine Ästhetik des Comics bieten kann – für den Comic als eine durch Wiederholungen geprägte Darstellungsform, für den Comic als Kunst des Zitats, für den Comic als eine ›literarische‹ oder doch literaturaffine Bilderzählung.30 Gerade anlässlich von Bildgeschichten, die die Orpheus-Figur herbeizitieren, liegt diese Frage wohl nahe, ist diese doch in mehrfacher Hinsicht dadurch charakterisiert, dass sie wiederkehrt: Orpheus kommt zurück aus dem Hades, er fährt mit dem Singen auch nach seinem Tod fort – und er tritt immer wieder auf, wo es um die Selbstbespiegelung von Künsten, um Gründungsmythen der Kunst, um die Wiederholung des Mythos unter modifizierten Rahmenbedingungen geht. Die Orpheus-Geschichte hat zum Thema »Wiederholung« aber noch eine weitere Affinität, denn sie ist – wie auch die Wiederholung – zugleich (bzw. abwechselnd, je nach spezifischer Ausformulierung) beruhigend und schrecklich: schrecklich, weil sie von Unterwelt, Verlust, Tod und Zerstückelung handelt, beruhigend, weil sie zugleich von Wiederkünften und Kontinuitäten erzählt. Auch Wiederholungen haben ein sowohl verstörendes als auch beruhigendes Potenzial.31 Deleuze – und dies dürfte seiner Rezeption durch Künstler und Schriftsteller zuträglich sein, weil es eine Affinität zu künstlerisch-literarischen Darstellungsformen begründet – thematisiert ›Wiederholung‹ nicht bloß, er inszeniert sie zugleich performativ, indem er in verschiedenen Schriften aus wechselnden Perspektiven auf dieses Thema zurückkommt.32 Zugleich – und auch dies 30
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Vogl (»Deleuze aux Enfers«) und Frahm (Die Sprache des Comics. Hamburg 2010) haben diese Frage bereits erörtert. Frahm bezieht sich nicht nur auf Deleuze, sondern auch bereits auf die Deleuze-Hommage von Balzer und tom Dieck. Explizit ausformuliert findet sich diese Einsicht bei Kurt Röttgers, »Es wiederholt sich«, in: Friedrich Balke/Marc Rölli (Hrsg.), Philosophie und Nicht-Philosophie. Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen. Bielefeld 2011, S. 209–225, hier S. 209. Vgl. ebd., S. 211: »Bei Deleuze, und das hat mit seiner Theorie der Wiederholung zu tun, wiederholt sich die Wiederholung unter variierender Gestalt und Begrifflichkeit, also nicht nur als ›répétition‹, sondern vor allem auch als ›(éternel) retour‹ oder als Ritornell. Deleuzes – von Vogl übersetzte – Schrift »Différence et répétition« steht im Zeichen wiederholend-modifizierenden Anknüpfens an die philosophiegeschichtliche Tradition, insbesondere an Nietzsche und die Lehre von der
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kommt einem künstlerisch-produktiven Interesse an seinem Denken wohl sehr entgegen – akzentuiert er den Zusammenhang zwischen Wiederholung und Modifikationen als einen keineswegs kontingenten, sondern inneren Zusammenhang: Wiederholtes ist nicht einfach ›dasselbe noch einmal‹, es ist ›dasselbe, anders‹.33 (Schon bei Kierkegaard findet sich die Einsicht formuliert, dass sich nichts identisch wiederholen lässt. »Das einzige, was sich wiederholte, war die Unmöglichkeit einer Wiederholung«, so heißt es in »Die Wiederholung«.)34 Wiederholung im deleuzianischen Sinn ist ferner nicht die repetierende Variation eines vorgängigen Allgemeinen, eines Ur- oder Grund-Musters, einer vorgeordneten Matrix, sondern sie ist ein Prozess des ständigen bzw. immer wieder erfolgenden Anschließens einer Gestaltung an die andere auf derselben Ebene; sie folgt – so Kurt Röttgers über Deleuze – »der Logik des Anschlusses, also der Konjunktion«.35 Auch Comics folgen – wie die Beiträge dieses Bandes und unter ihnen zuletzt die Orpheus-Comics illustrieren – einer »Logik des Anschlusses« und der »Konjunktion«: des Anschlusses an einen Traditionsraum von Texten und Bildern, von literarischen und bildkünstlerischen Darstellungsformen und Verfahrensweisen. Die vollzogenen Anschlüsse lassen sich – es sei nochmals, wiederholend, betont – nicht als einfach verdoppelnde Repetitionen beschreiben; sie sind modifizierend und interpretativ, wie Zitate, und oft sind sie Zitate im konkreten Sinn. Die Frage nach einem ›Originaltext‹ und einer ›Originalbedeutung‹ lassen sie bei ihrem produktiven Zitatspiel ebenso hinter sich wie die nach ›identischen Originalen‹ der wiederholt und sich wiederholend auftretenden Figuren. Auch die Frage nach einer ›Identität‹ des Literarischen selbst erscheint falsch gestellt. Literatur ist, was man als Literatur liest und was als ›literarisch‹ beschrieben wird. Der Comic-Leser mag seine Lektüren als die einer um eine neue Spielform erweiterten ›Literatur‹ lesen – oder als Beschäftigung mit einer neuen, an die Seite der ›Literatur‹
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Ewigen Wiederkehr, aber auch an David Hume, Immanuel Kant und Henri Bergson. – Auch Kierkegaard arbeitet bereits mit der performativen Inszenierung von Wiederholung als Textstruktur; vgl. dazu ebd., S. 218. Entsprechend interpretiert Deleuze die »Ewige Wiederkehr des Gleichen« bei Nietzsche. Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie. München 1976, S. 53: »In der Ewigen Wiederkunft kehrt nicht Ein-und-Dasselbe zurück, sondern ist die Wiederkunft selbst das Eine, das allein vom Diversen und von dem sich Unterscheidenden ausgesagt wird.« Søren Kierkegaard (unter dem Pseudonym Constantin Constantius), »Die Wiederholung«, in: Ders., Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst. Hrsg. von Hermann Diem u. Walter Rest. München 1976, S. 327–440, hier S. 378. Röttgers, »Es wiederholt sich«, S. 216.
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tretenden Kunst des Erzählens und Zitierens. Beide Haltungen sind – zieht man die Flexibilität und Verhandelbarkeit von Gattungsbegriffen in Betracht – wieder einmal ›dasselbe, anders …‹. Ob man den Comic nun als ›andere Literatur‹ betrachtet oder als ein ›Gegenüber der Literatur‹, es gilt auch hier: Das einzige, was sich wiederholt, ist die Unmöglichkeit einer Wiederholung.
Literatur Primärliteratur Blanchot, Maurice, »Der Blick des Orpheus«, in: Wolfgang Storch (Hrsg.), Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann. Leipzig 1997, S. 201–208. Buzzati, Dino, »Un equivoco«, in: Dino Buzzati, pittore. Con »un equivoco« di Dino Buzzati e un testo critico di Bruno Alfieri. Mailand 1967. Buzzati, Dino, Poema a fumetti. Mailand 1969 (dt.: Orphi und Eura, Berlin 1970). tom Dieck, Martin/Jens Balzer, Salut, Deleuze!. Zürich 2000 (zuerst Brüssel 1998). tom Dieck, Martin/Jens Balzer, Neue Abenteuer des unglaublichen Orpheus – Return of Deleuze. [mit Beilagenheft] Zürich 2001. Hoffmann, E. T. A., »Kreisleriana«, in: Ders., Sämtliche Werke in sechs Bänden. Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814, Bd. 2/1, hrsg. v. Hartmut Steinecke u. Wulf Segebrecht. Frankfurt am Main 1985–2004.
Sekundärliteratur Deleuze, Gilles, Différence et répétition. Paris 1968; dt.: Differenz und Wiederholung. München 1992. Deleuze, Gilles, Nietzsche und die Philosophie. München 1976. Frahm, Ole, Die Sprache des Comics. Hamburg 2010. Kierkegaard, Søren (unter dem Pseudonym Constantin Constantius): »Die Wiederholung«, in: Ders., Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst. Hrsg. von Hermann Diem u. Walter Rest, München 1976, S. 327–440. Röttgers, Kurt, »Deleuze«, in: Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hrsg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch. Darmstadt 2009, S. 106–114. Röttgers, Kurt, »Es wiederholt sich«, in: Friedrich Balke/Marc Rölli (Hrsg.), Philosophie und Nicht-Philosophie. Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen. Bielefeld 2011, S. 209–225. Steiner, George, »Der Dichter und das Schweigen«, in: Ders., Sprache und Schweigen. Frankfurt am Main 1973 (zuerst als Language and Silence. Essays on Language, Literature, and the Inhuman. New York 1967).
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Dr. Hans-Joachim Backe ist wissenschaftlicher Assistent an der RuhrUniversität Bochum. Studium der Komparatistik, Anglistik, Amerikanistik an der Universität des Saarlandes. Er ist Vorsitzender des Research Committee for Literature in the Digital Age der International Comparative Literature Association. Publikationen (Auswahl): Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung (2008), Under the Hood. Die Verweisstruktur der Watchmen (2010), (Hrsg. mit Manfred Schmeling) From Ritual to Romance and Beyond. Comparative Literature and Comparative Religious Studies (2011). Lars Banhold, M.A., ist Promovend und Lehrbeauftragter der American Studies sowie Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (Ruhr-Universität Bochum); Stipendiat der »Ruhr-University Research School« und Promotionsstudent am »RuhrCenter of American Studies«. Studium der Komparatistik und Geschichte in Bochum. Publikationen (Auswahl): Batman. Konstruktion eines Helden (2008). Dorothy Figueira, Ph.D., ist Professorin für Comparative Literature an der University of Georgia in Athens. Studium der Religionsgeschichte und Theologie in Paris und Harvard. 1985 Promotion in Comparative Literature an der University of Chicago; Gastprofessuren in Lille und Kalkutta. Ehrenvorsitzende der International Comparative Literature Association (ICLA) und ehemals Vorsitzende der American Comparative Literature Association (ACLA) und der Southern Comparative Literature Association (SCLA). 2008–2011 Herausgeberin von The Comparatist, zur Zeit Herausgeberin der Recherche litteraire/Literary Research. Publikationen (Auswahl): Translating the Orient (1991), The Exotic: A Decadent Quest (1994), (Hrsg.) La Production de l’Autre (1999), Aryans, Jews and Brahins (2002), (Hrsg.) Cybernetic Ghosts (2004); Otherwise Occupied: Theories and Pedagogies of Alterity (2008), (Hrsg. mit M. Maufort) Theatres in the Round: Multi-Ethnic, Indigenous, and Intertextual Dialogues in Drama (2011). Dr. Dietrich Grünewald ist Professor für Kunstwissenschaft/Kunstdidaktik an der Universität Koblenz-Landau; Lehramtsstudium (Gießen), Promotion 1976, Habilitation 1989, apl. Prof. 1985 (Dortmund), 1986–1990 Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kunsterzieher, seit 1991 Mit-
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herausgeber von Kunst + Unterricht, seit 2005 1. Vorsitzender der ComFor (Gesellschaft für Comicforschung). Publikationen zum Bereich Comic (Auswahl): Comics. Kitsch oder Kunst? Die Bildgeschichte in Analyse und Unterricht. Ein Handbuch zur Comic-Didaktik (1982), Wie Kinder Comics lesen (1984), Vom Umgang mit Comics (1991), Comics (2000), (Hrsg.) Struktur und Geschichte der Comics. Beiträge zur Comicforschung (2010). Dr. Achim Hölter ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Studium der Germanistik, Mediävistik, Philosophie, Romanistik und Allgemeinen Literaturwissenschaft an den Universitäten Wuppertal und Düsseldorf. 1988 Promotion, 1993 Habilitation an der Bergischen Universität Wuppertal, 1997–2009 Lehrstuhlinhaber für Komparatistik an der Universität Münster. 2005–2011 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL). Publikationen (Auswahl): Die Bücherschlacht (1995), (Hrsg.) Marcel Proust. Leseerfahrungen deutschsprachiger Schriftsteller von Theodor W. Adorno bis Stefan Zweig (1998), Frühe Romantik – frühe Komparatistik. Gesammelte Aufsätze zu Ludwig Tieck (2001), (Hrsg. mit V. Pantenburg u. S. Stemmler) Metropolen im Maßstab. Literarisches und filmisches Erzählen mit dem Stadtplan (2009), (Hrsg. mit M. Schmitz-Emans) Wortgeburten (2009), (Hrsg. mit L. Bluhm) Produktive Rezeption. Beiträge zur Literatur und Kunst im 19., 20. und 21. Jahrhundert (2010), (Hrsg.) Comparative Arts. Universelle Ästhetik im Fokus der Vergleichenden Literaturwissenschaft (2011), (Hrsg. mit R. Zymner) Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis (2012). Dr. Eva Hölter studierte Germanistik, Anglistik und Geschichte an der Universität Wuppertal und promovierte 2001 mit der Dissertation Der Dichter der Hölle und des Exils – Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption. Nach Hospitanzen im Presse- und Museumsbereich 2000–2001 Pressestelle des Düsseldorfer Schauspielhauses, 2002–2003 Persönliche Referentin des Rektors an der Universität Düsseldorf. 2004 Wechsel an die Deutsche Oper am Rhein als Assistentin des Geschäftsführenden Direktors, seit 2009 Persönliche Referentin des Generalintendanten. Publikationen u. a. zu Dante im Kino und zur deutschen Dante-Rezeption im 19. Jahrhundert. Dr. Stefan Höppner lehrt seit 2005 an der Universität Freiburg, seit 2008 als Wissenschaftlicher Assistent. Studium der Germanistik und Geschichte in Göttingen, Santa Barbara/Kalifornien, Freiburg und Basel. 1997–2001 Graduiertenstudien an der University of Oregon, 2004 Promotion in Göt-
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tingen mit der Arbeit Zwischen Utopia und Neuer Welt: Die USA als Imaginationsraum im Erzählwerk von Arno Schmidt (2005). Derzeit in der Schlussphase einer Habilitation zum Thema Romantische Grenzgänger: Zwischen Poesie und Literaturwissenschaft. Daneben Arbeiten zur Gegenwartsliteratur, zur Goethezeit, zur utopischen Literatur, zum deutschen USA-Bild und zur Popkultur. Gemeinsam mit Jörg Kreienbrock Herausgabe des Bandes Die amerikanischen Götter: Transatlantische Prozesse in der deutschsprachigen Popkultur seit 1945 (im Druck). Dr. Fabian Lampart ist akademischer Rat auf Zeit am deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.; Buchveröffentlichungen in Auswahl: Zeit und Geschichte. Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans bei Scott, Arnim, Vigny und Manzoni (2002), (Hrsg. mit W. Huntemann, M. Klentak-Zabłocka, Th. Schmidt) Engagierte Literatur in Wendezeiten (2003), (Hrsg. mit K. Bremer, J. Wesche) Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein (2007), (Hrsg. mit M. Gragnolati, F. Camiletti) Metamorphosing Dante. Appropriations, Manipulations, and Rewritings in the Twentieth and Twenty-First Centuries (2010), (Hrsg. mit L. Jappe, O. Krämer) Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurengestaltung (2012), Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960 (ersch. 2012). Dr. Rolf Lohse ist Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Studium der Romanistik, Anglistik und der Kinowissenschaften in Berlin, Paris und Toulouse. Aktuelles Forschungsprojekt zum italienischen Theater der Renaissance. Publikationen: »Pour lire sous la douche«. Das Komische in den Werken des Humoristen Pierre Henri Cami (2001), Postkoloniale Traditionsbildung: Der frankokanadische Roman zwischen Autonomie und Bezugnahme auf die Literatur Frankreichs und der USA (2005), Ingenieur der Träume. Medienreflexive Komik bei Marc-Antoine Mathieu (2008). Andreas Platthaus ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Ehrenmitglied der D.O.N.A.L.D. Unter seinen Publikationen finden sich zahlreiche Bücher und Aufsätze, beginnend mit Im Comic vereint – Eine Geschichte der Bildgeschichte (1998) und bislang endend mit Wilhelm Busch – Der Kuchenteig (2010). Dr. Monika Schmitz-Emans ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Studium der Germanistik, Philosophie, Italianistik und Pädagogik in Bonn. 1984 Promotion zu Jean Paul, 1992 Habilitation zu Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens in Bonn. 1999–2005
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Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL), seit 2005 Mitglied der Academia Europea, seit 2007 Präsidentin der Jean-Paul-Gesellschaft. Gastdozenturen in Japan und den USA. Publikationen (Auswahl): Schnupftuchsknoten oder Sternbild. Jean Pauls Ansätze zu einer Theorie der Sprache (1984), Die Sprache der modernen Dichtung (1997), Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1999), Fragen nach Kaspar Hauser. Entwürfe des Menschen, der Sprache und der Dichtung (2007), Poetiken der Verwandlung (2008), (Hrsg. mit G. Lehnert) Visual Culture (2008), (Hrsg.) Literature and Science / Literatur und Wissenschaft (2008); Franz Kafka. Epoche – Werk – Wirkung (2011), Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur (2012).